Madrid bewegt: Die Revolution der Movida 1977-1985 9783964562050

Dieses Buch schildert sowohl das Kunstschaffen als auch den Lebensstil in der sogenannten Movida Madrileña. Dabei stützt

140 83 18MB

German Pages 222 Year 2009

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
I Einleitung
I.1 HISTORISCHER KONTEXT
I.2 ÜBER DIESES BUCH
II Kulturelle Praxis als Innovation: Konzepte der Aktionskunst als Denkmodell zur Analyse der Movida
II.1 AKTIONSKUNST UND EINIGE WICHTIGE MANIFESTATIONEN
II.2 KONZEPTE DER INNOVATION UND DES PROTESTES
II.3 AKTIONSKUNST ALS GESAMTKUNSTWERK? EINE DEFINITION
III Die Movida Madrileña
III.1 BEGRIFFSKLÄRUNG
III.2 MERKMALE DER MOVIDA MADRILEÑA
III.3 DREI PHASEN EINER STÜRMISCHEN ENTWICKLUNG
III.4 VERSUCH EINER DEFINITION
IV Künstlerische Praxis in der Movida
IV.1 AUFLÖSUNG DER GATTUNGSGRENZEN
IV.2 DILETTANTISMUS ALS KUNSTPRINZIP
IV.3 AUSWEITUNG DES KUNSTWERKS AUF KÜNSTLER, PUBLIKUM UND RAUM
V Soziale Praxis in der Movida
V.1 NEUE SOZIALE CODES
V.2 ERNEUERUNG DES VERHÄLTNISSES VON KÜNSTLER UND ZUSCHAUER
V.3 ABLEHNUNG DES BÜRGERLICHEN
V.4 VERSCHMELZUNG VON KUNST UND LEBEN
VI Die Movida, eine sozio-kulturelle Revolution?
VI.1 REVOLUTIONIERUNG DER KÜNSTLERISCHEN PRAXIS: EIN NEUER KUNSTBEGRIFF
VI.2 REVOLUTIONIERUNG DER SOZIALEN PRAXIS: EIN NEUER GESELLSCHAFTSBEGRIFF
VI.3 DIE MOVIDA - MOTOR DES WANDELS
VII Quellenverzeichnis
VII.1 PRIMÄRQUELLEN
VII.2 SEKUNDÄRQUELLEN
VIII Anhang
VIII.1 ZUSÄTZLICHE ABBILDUNGEN
VIII.2 E-MAIL VON MERCEDES GUILLAMÓN, 3.7.2007
VIII.3 LA LUNA DE MADRID, NR. 9/10, JULI/AUGUST 1984: TITELBLATT, INHALTSANGABE UND PATTY-DIPHUSA-KOLUMNE
Verzeichnis der besprochenen Werke
Personenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Madrid bewegt: Die Revolution der Movida 1977-1985
 9783964562050

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Julia Nolte

Madrid bewegt Die Revolution der Movida 1977-1985

Editionen der Iberoamericana Serie A: Literaturgeschichte und -kritik Serie B: Sprachwissenschaft Serie C: Geschichte und Gesellschaft Serie D: Bibliographien

Herausgegeben von Mechthild Albert, Waither L. Bernecker, Enrique García Santo-Tomás, Frauke Gewecke, Aníbal González, Jürgen M. Meisel, Klaus Meyer-Minnemann, Katharina Niemeyer

C: Geschichte und Gesellschaft, 13

Julia Nolte

Madrid bewegt. Die Revolution der Movida 1977-1985

Vervuert Verlag • 2009

Bibliographic information published by Die Deutsche Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.ddb.de

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von "ProSpanien", dem Programm für kulturelle Zusammenarbeit des spanischen Kulturministeriums

Alle Rechte vorbehalten © Vervuert Verlag, 2009 Elisabethenstr. 3-9 - D-60594 Frankfurt am Main Tel.: +49 69 597 46 17 Fax: +49 69 597 87 43 [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 978-3-86527-408-3 Depósito legal: SE-2957-2009 Printed by Publidisa Umschlag: Michael Ackermann Titelbild: © Ouka Leele, Peor Imposible, 1985 Printed in Spain The paper on which this book is printed meets the requirements of ISO 9706

Inhalt

VORWORT (Klaus Dirscherl) I

II

9

EINLEITUNG

11

1.1 1.2

11 15

Historischer Kontext Über dieses Buch

KULTURELLE PRAXIS ALS INNOVATION: KONZEPTE DER AKTIONSKUNST ALS DENKMODELL ZUR ANALYSE DER MOVIDA

19

II. 1

Aktionskunst und einige wichtige Manifestationen II. 1.1 Happening und Performance II. 1.2 Fluxus

20 23 26

II. 1.3 Wiener Aktionismus II. 1.4 Joseph Beuys Konzepte der Innovation und des Protestes 11.2.1 Künsderische Innovation durch Aktionskunst 11.2.1.1 Erneuerung des Gattungsbegriffs 11.2.1.2 Erneuerung des Begriffs vom Künsder Erneuerung des Werkbegriffs 11.2.1.3 11.2.2 Soziale Innovation durch Aktionskunst 11.2.2.1 Erneuerung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer 11.2.2.2 Ablehnung des Bürgerlichen 11.2.2.3 Verschmelzung von Kunst und Leben Aktionskunst als Gesamtkunstwerk? Eine Definition

31 32 36 36 36 37 40 43

11.2

11.3

44 44 45 46

6 I I I D I E MOVIDA MADRILEÑA

111.1 111.2

111.3

111.4

49 54 55 56

111.2.3 Spaß haben 111.2.4 Apolitisch oder antipolitisch? Unverfrorenheit als „postura política" 111.2.5 „Tú quieres, tú puedes": Dilettantismus aus Prinzip 111.2.6 Interdisziplinarität 111.2.7 Grenzverletzung und Grenzüberschreitung Drei Phasen einer stürmischen Entwicklung 111.3.1 Explosion im Untergrund (1977-1980) 111.3.2 Massenhafte Verbreitung und Institutionalisierung (1980-1985) 111.3.3 Spaltung und Weiterwirken in der dominanten Kultur bzw. im Untergrund 111.3.4 Visualisierung der Entwicklungsphasen Versuch einer Definition

57

I V KÜNSTLERISCHE PRAXIS IN DER MOVIDA

IV. 1

IV.2 IV.3

V

49

Begriffsklärung Merkmale der Movida Madrileña 111.2.1 Ausgangspunkt Jugend 111.2.2 Offenheit gegenüber fremden Einflüssen

58 61 63 63 64 64 66 70 71 72 75

Auflösung der Gattungsgrenzen IV. 1.1 Alles Multitalente? IV. 1.2 Gemeinsam zum interdisziplinären Kunstwerk IV. 1.3 Parodie künstlerischer Manifestationen Dilettantismus als Kunstprinzip

75 76 88 93 100

Ausweitung des Kunstwerks auf Künsder, Publikum und Raum . IV.3.1 Selbstinszenierung als künstlerische Praxis IV.3.2 Das Publikum ist Teil des Kunstwerks IV.3.3 Raum als Bestandteil des Kunstwerks

109 109 117 122

SOZIALE PRAXIS IN DER MOVIDA

129

V.l

Neue soziale Codes V. 1.1 Spielen mit Stilen: Der Look der Movida V.l.2 Eine eigene Sprechweise

129 131 138

V.l.3 Verhaltensweisen Erneuerung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer Ablehnung des Bürgerlichen V.3.1 Styling, Drogen, Sexualität: Der Umgang mit dem Körper als Ausdruck von Protest . . .

141 145 146

V.2 V.3

146

7 V.3.2

V.4

Alternative Lebensformen

V.3.3 Auflösung der sozialen Grenzen V.3.4 Parodie der bürgerlichen Gesellschaft Verschmelzung von Kunst und Leben V.4.1 Integration fremder künstlerischer Einflüsse V.4.2 Das Alltägliche in der Kunst

VI Die Movida, eine sozio-kulturelle Revolution? VI. 1

VI.2 VI.3

177

Revolutionierung der künstlerischen Praxis: Ein neuer KunstbegrifF

177

VI. 1.1 Gattung als Handlungsfreiraum VI. 1.2 Künstlerin sein heißt Teil eines Ereignisses sein

177 179

VI. 1.3 „Todo era arte. Fany era arte." Revolutionierung der sozialen Praxis: Ein neuer GesellschaftsbegrifF Die Movida - Motor des Wandels

180

VII Quellenverzeichnis VII. 1 Primärquellen VII.2

154 158 164 166 167 171

Sekundärquellen

VIII Anhang

183 191 197 197 201 207

VIII. 1 Zusätzliche Abbildungen

207

VIII. 1.1 Das fanzine Mmmua!! Nr. 9 VIII. 1.2 Weitere Untergrund-Veröffentlichungen VIII. 1.3 Diego de Silva y Veläzquez, Las Meninas, Öl/Leinwand, 310 x 2 7 6 cm, 1656 VIII.2 E-Mail von Mercedes Guillamön, 3.7.2007

207 211

VIII.3 La Lima de Madrid, Nr. 9/10, Juli/August 1984: Titelblatt, Inhaltsangabe und Patty-Diphusa-Kolumne Verzeichnis der besprochenen Werke Personenverzeichnis Abbildungsverzeichnis

212 213 214 217 219 220

Vorwort

Kunstpraktiken, die verwirren und provozieren, haben oft ein kurzes, wenn auch viel beachtetes Leben. Um das Nachleben ist es dann zumeist weniger gut bestellt. Da geht es der Movida Madrileña nicht anders, allzumal sie sich ja bewusst zwischen die Stühle aller Disziplinen setzte und es deshalb schwer hat, von der immer noch weit verbreiteten monodisziplinären Wahrnehmung moderner Kunst- und Literaturkritik entsprechend gewürdigt zu werden. Da kommt ein Buch wie Julia Noltes Madrid bewegt zum rechten Zeitpunkt und bringt neuen Schwung in die Wahrnehmung dieser weiß Gott anarchischen Gruppierung von bewusst dilettierenden Malern, Fotografen, Schriftstellern, Filmemachern und Lebenskünsdern. Denn Julia Nolte stellt sich mit viel empirischer Sorgfalt und konzeptueller List der eigendichen Herausforderung, der sich jede Studie über die Movida-Akteure-Autoren-Artisten gegenüber sieht. Wie nutze ich den offensichtlichen Zufallscharakter der noch auffindbaren Dokumente, die nicht selten bloß Nebenprodukt des eigentlichen Tuns der Movida sind, und rette — in ihrer heutigen kritischen Rekonstruktion — etwas vom unmittelbaren Aktcharakter der künstlerischen Praxis dieser beeindruckenden Chaostruppe, welche die Movida zweifelsohne fiir das zeitgenössische Spanien, aber auch für sich selbst darstellte? Allein die Sicherung von wertvollem Datenmaterial verdient höchste Bewunderung: Ein Teil der Akteure ist fiir Interviews nicht mehr zugänglich oder nicht verlässlich in ihrer Auskunftsbereitschaft, einige leben auch nicht mehr (der harte Drogenkonsum eines großen Teils der Gruppe verlangte seinen Wegzoll). Trotzdem gelang es Julia Nolte, eine Reihe wichtiger Zeitzeugen und Akteure-Autoren-Artisten intensiv zu befragen und ihre noch erhaltenen Aussagen und Dokumente zu sichern und zu studieren. Soweit ich sehe, legt sie damit die erste Gesamtdarstellung der Movida vor, die dreierlei zentrale Erfordernisse an eine solche Studie erfüllt: Einerseits schlägt sie eine historische Einordnung vor, die überzeugt, andererseits trägt sie wertvolle Dokumente über die bereits gesicherten hinaus zusammen, bevor sie

10

Madrid

bewegt

endgültig in der Unordnung aufgelöster Wohngemeinschaften verschwinden, und drittens legt sie einen ersten überzeugenden gesamtkunst- und sozialhistorischen Interpretationsversuch dieses hoch interessanten Phänomens der spanischen Transición vor. Konzeptuell inspiriert sie sich dabei an der Aktionskunst der fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die u.a. in Joseph Beuys gipfelten. Denn vieles, was die Movida macht, sucht offenkundig, die Spontaneität der Performance mit der ironischen Reflektiertheit postmoderner Kunst zu verbinden. Das Konzept vom Künstler, der klassische Werkbegriff, aber auch das Verhältnis von Künstler und Betrachter werden radikal in Frage gestellt und teilweise erneuert, teilweise spaßeshalber oder auch ernsthaft ad absurdum geführt. Bei aller Kunstbesessenheit ist nicht zu vergessen, dass ftir die Akteure-AutorenArtisten der Movida, wie schon für Beuys, ihre künsderische Praxis immer auch eine gesellschaftliche sein wollte. Sie verstanden sich nicht als bloße Künsder, sondern als Menschen, die ihr künstlerisches Tun bewusst dilettantisch betrieben und es immer wieder selbst in Frage stellten und ironisierten, um aus der eigenen ,Lapalisierung' einen erneuten Provokationsanlass und einen erneuten Kreationsimpuls zu schaffen. Die Movida-Akteure plädierten fiir die ,Veralltäglichung' der Kunst und diese gelang ihnen — innerhalb ihres eingestandenermaßen limitierten Zirkels — erstaunlich gut. Der kulturelle und gesellschaftliche Erfolg eines Teils dieser Akteure, die modische Akzeptanz bestimmter sozio-kultureller Praktiken, die zunächst marginal waren, dann aber in einer breiteren Offendichkeit Gefallen fanden, bedeuteten aber gleichzeitig auch das Ende der Movida. Denn wenn das Provokationspotenzial von sozio-kultureller Aktion immer wieder bis ans Ende ausgereizt wird, kommt eines Tages der Moment, an dem entweder die Öffentlichkeit diese Provokationen nicht mehr wahrnimmt oder sie als ihre eigenen Usancen übernimmt. So gesehen sorgt die Movida Madrileña für eine Umsetzung vieler gesellschaftlicher und künsderischer Sehnsüchte, welche die spanische Bevölkerung als Teil der politischen Transición erwartete, die damals aber nur ein sehr kleiner Kreis von Künstlern und Literaten zu verwirklichen in der Lage war. Die Movida Madrileña gehörte zweifelsohne dazu. Professor Dr. Klaus Dirscherl Institut für Interkulturelle Kommunikation an der Universität Passau 2.11.2008

I Einleitung

I.L HISTORISCHER KONTEXT

Die Movida entsteht in einer Zeit des Umschwungs. Sowohl auf politischer Ebene als auch in gesellschaftlicher und das Kunstschaffen betreffender Hinsicht finden nach dem Ende der Franco-Diktatur tief greifende Änderungen in Spanien statt. Politisch gesehen durchläuft das Land zwischen 1975 und 1982 einen Prozess der Neustrukturierung — von der Diktatur unter General Francisco Franco zu einer liberal-parlamentarischen Monarchie unter König Juan Carlos de Borbón. 1 Dieser Demokratisierungsvorgang hat nicht den Charakter eines Umsturzes, sondern den eines friedlichen, allmählichen Übergangs und wird daher „Transición" (Ubergang) genannt. Als 1977 mit Kaka de Luxe die erste spanische Punkband gegründet wird, ist dies auch das Jahr der ersten demokratischen Wahlen seit 1936; politische Parteien und Gewerkschaften werden legalisiert und die Zensur wird offiziell abgeschafft. Die Verfassung von 1978 garantiert Grundrechte wie Pressefreiheit, künstlerische Freiheit und die rechtliche Gleichheit von Frau und Mann, außerdem erkennt sie die kulturelle und sprachliche Vielfalt Spaniens an. Mit der Religionsfreiheit geht die Trennung von Staat und Kirche einher, 1981 wird die Ehescheidung eingeführt, 1984 wird Abtreibung legalisiert. Die politischen Reformen gehen Hand in Hand mit der Liberalisierung der Gesellschaft. Bereits in der Spätphase des Franquismus begann sich als Folge von Tourismus, Industrialisierung und Urbanisierung eine moderne, säkularisierte Gesellschaft in Spanien herauszubilden. Insofern sind die politischen Neuerungen der Transición ein Gleichziehen mit der gesellschaftlichen Ent-

1

1975 ist das Todesjahr des Diktators; bei den Parlamentswahlen von 1982 übernimmt die so-

zialistische Arbeiterpartei P S O E die Regierung von der Union der demokratischen Mitte ( U C D ) , womit sich das Funktionieren der Demokratie erweist.

12

Julia Nolte

wicklung seit Mitte der 60er Jahre. 2 Die Reformen sind aber auch Wegbereiter von weitergehendem gesellschaftlichem Wandel, denn sie schaffen Freiheiten und Rechte, die ein Aufblühen von Individuen ermöglichen, wie es im Franquismus nicht möglich war. Dies gilt vor allem für Frauen: In der Diktatur dem Mann in allen Belangen untergeordnet, können sie nun beginnen, ihre Gleichberechtigung in der Familie und in der spanischen Gesellschaft durchzusetzen. Der gesellschaftliche Wandel wird auch dadurch vorangetrieben, dass sich das Land äußeren Einflüssen öffnet. Sichtbar ist dies zum Beispiel am Outfit der jungen Großstädterinnen: Von ihren Londonreisen bringen sie Lederjacken, schwarzen Nagellack und gefärbte Haare mit und erregen damit in der Heimat Aufsehen. Nicht nur der Kleidungsstil, auch der Umgang mit dem Körper und mit Sexualität verändert sich. Im Februar 1978 öffnet in Madrid Spaniens erster Sex Shop — um fünf Monate später von den Behörden wieder geschlossen zu werden.3 Konservative beobachten die Vorgänge mit Argwohn. So fordert ein Stadtrat der konservativen Partei Alianza Popular in Madrid den Einsatz von Polizei, um ausländische Touristinnen davon abzuhalten, sich in Springbrunnen zu erfrischen und dadurch „situaciones de escándalo público" auszulösen. Der Bürgermeister Enrique Tierno Galván soll ihm geantwortet haben: „Deduzco de sus palabras que las turistas se bañan ligeras de ropa. No se preocupe usted, que yo mismo vigilaré muy de cerca." 4 Tierno Galván ist es auch, der das gesellschaftliche Leben in der Hauptstadt nach 1979 in dem Sinne erneuert, dass er die im Franquismus unterbrochene Tradition der Volksfeste wieder aufleben lässt. Es wird nicht mehr verboten, sondern gefördert, dass sich die Bevölkerung öffentlich amüsiert. Die Öffnung des Landes zeigt sich insbesondere im Kulturleben: Ausländische Kinofilme werden zugelassen; 1976 treten die Rolling Stones in Spanien auf; 1983 hat Andy Warhol seine erste Ausstellung in Madrid, ein Jahr später zeigt sich Joseph Beuys mit seinen Werken.5 1978 werden zum ersten Mal Ge-

2

Vgl. Walther L. Bernecker, Carlos Collado Seidel, „Einleitung", in: Walther L. Bernecker,

Carlos Collado Seidel (Hrsg.), Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokra-

tie 1975-1982,

München 1993, S. 7-25, S. 12.

3

Vgl. John Hooper, The New Spaniards, London 1995, S. 155.

4

Vgl. A. Grijelmo, „La democracia en los ayuntamientos", in: O.A., Memoria de la transición,

Madrid: El País, 1995, S. 247, zitiert nach: Héctor Fouce Rodríguez, 'Elfuturo ya está aqui' música

pop y cambio cultural en España. Madrid 1978-1985, 5

Madrid 2002, S. 73.

Vgl. Miguel Fernández-Cid, Artistas en Madrid.

drid,1993, S. 225.

Años 80, Madrid: C o m u n i d a d de M a -

I. Einleitung

13

mälde aus dem Prado an Museen im Ausland verliehen. Die Rückkehr der Exilkunst geschieht symbolisch 1981, als Pablo Picassos Guernica aus dem Museum of Modern Art in New York nach Madrid gebracht wird,6 sowie zwischen 1976 und 1984 mit der Rückkehr von Künstlern wie Salvador de Madariaga, Rafael Alberti, Eduardo Arroyo und Denkerinnen wie Maria Zambrano. Während die politische Transición 1982 abgeschlossen ist, dauert die kulturelle Erneuerung nach dem Ende der Franco-Diktatur bis Ende der 80er Jahre. Dies liegt daran, dass die politischen Reformen Vorrang haben und erst relativ spät mit der Neuregelung des Kulturlebens begonnen wird. Die meisten Umstrukturierungen geschehen erst nach dem Regierungswechsel 1982 unter den Sozialisten: 1983 wird mit dem Centro para la Difusión de la Música Contemporánea eine Institution zur Verbreitung zeitgenössischer Musik gegründet; bis 1989 werden im ganzen Land Konzertsäle errichtet oder wieder aufgebaut, es werden Musikschulen und Orchester gegründet; die Schließungen der Editora Nacional und des Instituto Nacional del Libro Español führen zu einer Liberalisierung des Buchmarktes; 1990 wird ein Museum für zeitgenössische Kunst in Madrid eröffnet, das Museo de Arte Reina Sofía.7 Nur im Film kommt es schon früh zu institutionellen Veränderungen, etwa mit der Einrichtung eines Filmressorts beim Kulturministerium 1978. 8 Im Gegensatz zu denjenigen Künstlerinnen, die sich durch Regellosigkeit und Nichtbeachtung entmutigen lassen (im Vordergrund stehen in Spanien Künstlerinnen, die aus dem Exil zurückkehren und solche, die bereits in den 1960er Jahren die Kulturlandschaft dominierten), nutzt eine Gruppe von jungen Leuten in Madrid den Moment und wird kreativ. Unbeachtet von Öffentlichkeit, Wirtschaft und Politik revolutionieren diese Leute seit 1977 die künstlerische und soziale Praxis und kreieren damit das, was später Movida genannt

6

Zur Bedeutung von Guernica als nationale Ikone vgl. Edward Lucie-Smith, Bildende Kunst

im 20. Jahrhundert, Köln 1999, S. 167. 7

Dies ist insofern bedeutungsvoll, als moderne Kunst während der Diktatur von Kritikern

verhöhnt und vom Regime ignoriert oder verboten wurde. 1964 eröffnete Picassos enger Freund und ehemaliger Sekretär Jaume Sabartes ein geheimes Picasso-Museum in einem Altstadthaus in Barcelona. Ansonsten konnte man moderne Kunst nur in Cuenca anschauen, wo ein Maler das Museum of Abstract Spanish Art eingerichtet hatte. Dort trafen sich auch Künstlerinnen, darunter Antoni Täpies und Eduardo Chillida; vgl. E. Ramön Arango, Spain. Democracy Regained, Boulder/San Francisco/Oxford 2 1995, S. 269f. 8

Zum Kulturschaffen in der Franco-Diktatur vgl. Hans-Jörg Neuschäfer, Macht und Ohn-

macht der Zensur. Literatur, Theater und Film in Spanien (1933-1976), Stuttgart 1991.

14

Julia Nolte

w i r d . Im M a d r i d e r U n t e r g r u n d findet die explosionsartige E n t f a l t u n g des künstlerischen Schaffens statt, d i e von B e o b a c h t e r i n n e n der Transición gewöhnlich vermisst wird. 9 Madrid salía, en general España y Madrid como capital, salía de una situación un poco gris. Y entonces coincide justo con la transición. Es un poco como una ciudad sin ley. No hay normas, los bares no tienen horas de cierre, hay muchísima vida en la calle, había muchas cosas por hacer, estaba todo por legislar. Entonces había mucha, mucha energía, muchas ganas de hacer cosas y ahí coincidimos una serie de personas que nos conectamos entre sí. 10 So spricht die Musikerin A n a C u r r a von den Anfangsjahren der Transición. Filmregisseur Pedro Almodóvar, der 1 9 7 8 in M a d r i d seinen ersten S p i e l f i l m dreht, nennt die Jahre zwischen Abschaffung der Zensur u n d Regierungswechsel die besten, weil wirklich freien: Pero hay algo cierto: se puede hablar de la gente que trabajamos en Madrid haciendo cosas muy modernas en unos años muy determinados, 1977-1982. Los años de la UCD, que han sido los grandes años de Madrid, cuando la ciudad era libre de verdad. Fue una coincidencia histórica que estuviera la UCD en el Gobierno — yo creo que lo que pasaba es que no había Gobierno y la ciudad salía ganando. Los grandes cambios llegaron entonces. 11 Der künstlerische Freiraum w i r d i m Verlauf der Transición einerseits erweitert, indem die Zensur a b n i m m t , eine kulturelle Infrastruktur u n d Fördermittel zur V e r f ü g u n g gestellt w e r d e n u n d i n d e m der K u l t u r m a r k t a u s g e b a u t wird. Andererseits w i r d der Freiraum aber auch eingeschränkt, weil die Kreativität durch Gestalterinnen von Fernseh- u n d Radioprogrammen, durch Förderrichtlinien u n d Verkaufszahlen in Bahnen gelenkt wird.

Konkret von Javier Tusell und Genoveva Garcia Queipo de Llano in ihrem Aufsatz „Die Kultur in der Zeit des politischen Umbruchs", in: Walther L. Bernecker, Carlos Collado Seidel (Hrsg.), Spanien nach Franco. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie 1975-1982, München 1993, S. 231-247, S. 232; Tusell war in der Regierung von Adolfo Suärez (UCD) Generaldirektor für das Kulturwesen. 10 Gesprächsprotokoll des Interviews mit Ana Curra vom 24.5.2006, Madrid - Passau, S. lf. 11 Almodövar, zitiert nach: Nuria Vidal, El eine de Pedro Almoddvar, Barcelona: Destino, 1989, S. 39f. 9

I. Einleitung

15

1 . 2 Ü B E R DIESES BUCH

Dieses Buch betrachtet den Freiraum, der in Madrid durch den Wegfall der Franco-Diktatur entsteht. Das Augenmerk liegt dabei nicht auf dem bereits vielfach thematisierten politischen Wandel, sondern auf den gesellschaftlichen und künstlerischen Neuerungen. Untersucht wird deren Zusammenspiel, d.h. die Vereinigung sozialer und künstlerischer Praktiken oder - andersherum formuliert — die Auflösung von konventionellen Grenzen, die zwischen diesen Praktiken bestehen. Grenzverletzung und Grenzüberschreitung (zusammengenommen das zentrale Merkmal der Movida) kann eine Grenzerweiterung zur Folge haben. Hierin besteht das Innovationspotenzial der Movida, das in dieser Studie herausgearbeitet wird. Es wird nachgewiesen, dass die Movida den Kunstbegriff erweitert, soziale Verhaltensweisen erneuert und auf diese Weise revolutionär ist. In Kapitel II wird die theoretische Grundlage für die Untersuchung der Movida gelegt: Aus der Betrachtung wichtiger Manifestationen von Aktionskunst werden „Konzepte der Innovation und des Protestes" entwickelt, mit denen sich die ästhetischen und sozialen Merkmale der Movida erklären lassen. Dabei handelt es sich um die Begriffe von Gattung, Künstler und Werk einerseits sowie um die Erneuerung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer, die Ablehnung des Bürgerlichen und die Verschmelzung von Kunst und Leben andererseits. Diese Vorgehensweise ermöglicht die strukturierte Betrachtung eines bislang zwar beschriebenen, nicht aber gedeuteten Phänomens. Die Bezugnahme auf die mittlerweile etablierte Kunstform Aktionskunst ist gleichzeitig der Versuch, die Movida kunsthistorisch einzuordnen. In Kapitel III werden nach einer Begriffsklärung die Merkmale der Movida herausgearbeitet, um in Abgrenzung zu bestehenden Meinungen zu einer Definition dessen zu gelangen, was als Movida bezeichnet wird. Die Hauptteile IV und V untersuchen die künstlerische bzw. die soziale Praxis der Movida. Dies geschieht in der Uberzeugung, dass sich die Movida nur in ihrer Gesamtheit begreifen lässt und nicht, indem man sie als Kunstform oder als Lebensstil auffasst. Die Gliederung dieser Kapitel greift die „Konzepte der Innovation und des Protestes" auf: Es wird der Umgang der Movida mit den in Kapitel II eingeführten Analysekategorien untersucht, wobei in Kapitel V die „Prägung neuer sozialer Codes" das Analysemodell ergänzt. Es wird also nicht nach Kunstgattungen (Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Literatur, Musik, Fotografie, Film) oder sozialen Gruppen (tribus) innerhalb der Movida unter-

Julia Nolte

16

gliedert. Stattdessen wird eine gemeinsame Praxis offengelegt und dadurch die verwirrende Vielfalt an Ausdrucksformen und Akteurinnen lesbar gemacht. Der Ereignischarakter der Movida macht es unmöglich, sie mit Methoden konventioneller Kunstkritik, die sich am objektgebundenen Werk orientieren, zu deuten. Zwar hat die Movida konservierungsfähige Relikte hinterlassen, von denen sich die Mehrzahl auf ihre 'Gemachtheit' untersuchen lässt: Gemälde, Fotografien, Fotoarbeiten, Filmplakate, Plattencover, Lieder und Liedtexte, Gedichte, Kolumnen, Comics, Zeitschriften und fanzines12,

Spielfilme, Videomit-

schnitte von Performances, Zeitungsartikel und Kleidungsstücke. D o c h diese Relikte sind lediglich greifbare Überreste der Aktion 'Movida'. Aus dem Entstehungszusammenhang gerissen verändern sie ihre Bedeutung. Daher ist die Movida nicht gleichzusetzen mit der Summe ihrer Relikte. Dieser Schwierigkeit begegnet die Studie, indem sie Aussagen von MovidaAkteurlnnen auf die Praktiken der Movida hin auswertet und einbezieht. Z u m einen stammen die Aussagen aus den späten 1970er und frühen 80er Jahren: Sie sind Interviews in Zeitschriften wie La Luna de Madrid und Dezine entnommen. 13 Z u m anderen beziehe ich mich auf nachträgliche Äußerungen, in denen Beteiligte ihre Erinnerungen schildern: Sie finden sich zum Beispiel bei Nuria Vidal, Maria Antonia Garcia de Leon und Teresa Maldonado; 1 4 Pedro Almodövar hat seine Sicht der Ereignisse 1991 im Vorwort zu seinem Buch Patty Diphusa y otros textos festgehalten; die C o m u n i d a d de Madrid hat Erinnerungen von Zeitzeuginnen veröffentlicht, nennenswert ist Clausura, ein Ausstellungs-

12

Magazine oder Heftchen, die von kreativen Cliquen, Bands etc. mit einfachsten Mitteln ge-

macht, vervielfältigt und an Gleichgesinnte verteilt oder billig verkauft werden. Sie behandeln alle möglichen Themen, welche die Macherinnen interessieren und die in kommerziellen Medien keinen Platz haben. 13

Während La Luna de Madrid im Zeitschriftenarchiv der Biblioteca Nacional archiviert ist,

gelangt man an die Untergrund-Veröffentlichungen der Movida nur über private Sammlerinnen. Im Anhang finden sich Fotos einer Ausgabe des fanzines MmmuaU sowie von verschiedenen Comics der Cascorro Factory aus der Sammlung von Alberto Garcia-Alix, der diese Comics gemeinsam mit Ceesepe herausgab. Ceesepe hat Scans von Titelblättern auf seine H o m e p a g e http://www.ceesepe.net gestellt. Auf dem Rastro finden sich heute keine fanzines der Movida, es gibt dort aber Händlerinnen, die für ca. 2 Euro alte Ausgaben des El Vibora aus Barcelona verkaufen, ein Comic, für das auch Movida-Akteurlnnen wie Ceesepe zeichneten (auch diese Zeitschrift ist in der Biblioteca Nacional vorhanden). 14

Vidal 1989; Maria Antonia Garcia de León/Teresa Maldonado, Pedro Almodóvar, la otra

España cañl. Sociología y crítica cinematográficas, Ciudad Real: Biblioteca de Autores y Temas Manchegos, 1989.

17

I. Einleitung

katalog v o n 1 9 9 2 zu L e b e n u n d W e r k v o n J u a n u n d E n r i q u e C o s t u s ; eine einzigartige I n t e r v i e w s a m m l u n g , in der c a . 2 0 A k t e u r i n n e n u n d B e o b a c h t e r i n n e n d e r M o v i d a in G r u p p e n g e s p r ä c h e n ausfuhrlich zu W o r t k o m m e n , ist das B u c h Sólo se vive una vez. Esplendor

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madrileña

von J o s é Luis G a -

llero aus d e m J a h r 1 9 9 1 . E s ist allerdings eine reine D o k u m e n t a t i o n u n d liefert keinerlei D e u t u n g s a n s a t z . P r o b l e m a t i s c h d a r a n ist a u c h , dass es die E x i s t e n z materieller Relikte ignoriert u n d die M o v i d a a u f ein rein m ü n d l i c h überliefertes P h ä n o m e n („un f e n ó m e n o d e t r a n s m i s i ó n o r a l " ) 1 5 r e d u z i e r t . D i e g e n a n n t e n Q u e l l e n w e r d e n ergänzt d u r c h Interviews, die ich im M a i 2 0 0 6 m i t drei zentralen A k t e u r i n n e n d e r M o v i d a geführt habe: m i t O u k a Lele 1 6 , A n a C u r r a u n d Alb e r t o Garcia-Alix. Z u d e n w e n i g e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n F o r s c h u n g s a r b e i t e n ü b e r die M o v i d a zählen die D o k t o r a r b e i t v o n H é c t o r F o u c e , d e r sich a u f die A n a l y s e v o n P o p songs konzentriert, weil er die M o v i d a als „pluralidad de culturas musicales" o d e r „ c o n j u n t o de f e n ó m e n o s culturales, articulados p o r la m ú s i c a " versteht, 1 7 sowie die B e t r a c h t u n g e n v o n B e r n a r d Bessière. 1 8 E r w ä h n t seien a u c h N o ë l Valis, 1 9 G é rard I m b e r t u n d das „Dossier L a M o v i d a M a d r i l e ñ a " in den Cuadernos americanos

15

Hispano-

v o m J u n i 2 0 0 3 . 2 0 B e m e r k e n s w e r t ist die T i t e l g e s c h i c h t e des El

Pais

José Luis Gallero, „Presentación", in: José Luis Gallero, Sólo se vive una vez. Esplendor y rui-

na de h movida madrileña, Madrid: Árdora, 1991, S. 9-13, S. 10. 16

Ouka Lele schreibt sich seit 2000 mit einem dritten „e": Ouka Leele. Ich verwende die

Schreibweise aus der Zeit der Movida. 17

Fouce 2002, S. 58 und 308; im Internet ist die Doktorarbeit unter http://www.ucm.es/

BUCM/tesis/inf/ucm_t26537.pdf abrufbar; auch in einem späteren Internetaufsatz hebt er die Musik als dominante kulturelle Praxis der Movida hervor, vgl. Héctor Fouce Rodríguez, „La cultura juvenil como fenómeno dialógico: reflexiones en torno a la movida madrileña", in: Cuadernos de Información y comunicación digital, Nr. 5, o.J., S. 1 (http://www.ucm.es/info/per3/cic/cic5arl6.htm, Abruf: 16.9.2005). 18

Bernard Bessière, La culture espagnole. Les mutations de l'après-franquisme (1975-1992), Pa-

ris: L'Harmattan, 1992, darin das achte Kapitel „Madrid acteur et témoin des mutations culturelles" sowie Bernard Bessière, Histoire de Madrid, Paris: Fayard, 1996, darin das Kapitel „Les années Movida: le Madrid de Juan Carlos et de Tierno Galván" (S. 281-303). 19

Noël Valis kannte Enrique Tierno Galván persönlich. Sie untersucht die Movida, v.a. die

Gemälde von Costus, auf ihre Kitsch-Elemente, vgl. The Culture of Cursilería. Bad Taste, Kitsch, and Class in Modern Spain, Durham/London 2002, darin das letzte Kapitel „Coda: The Metaphor of Culture in Post-Franco Spain". 20

Gérard Imbert, Los discursos del cambio. Imágenes e imaginarios sociales en la España de la Tran-

sición (1976-1982),

Madrid: Akal, 1990 sowie Gérard Imbert, „Mythologies nocturnes: la ville

comme parcours. Le Madrid de la 'movida'", in: Les mythologies hispaniques dans la seconde moitié du

18

Julia Nolte

Semanal vom 1. Mai 2005, in der Iker Seisdedos schildert, was „25 Jahre später" - so die Uberschrift - aus bekannten Movida-Akteurlnnen geworden ist. Kapitel VT kommt zu dem Schluss, dass die Movida eine Revolution ist, in dem Sinne, dass sie die künstlerische und soziale Praxis in Spanien erneuert. Als Fazit zu den Hauptkapiteln wird in VI.l der Kunstbegriff und in VI.2 der Gesellschaftsbegriff der Movida entwickelt, um abschließend in VI.3 ihr Innovationspotenzial zu würdigen. Damit ermöglicht dieses Buch einen neuen Blick auf die Movida, der bisher keine oder nur eine geringe Bedeutung für die kulturelle Entwicklung Spaniens nach 1975 zuerkannt worden ist. Dazu beigetragen haben ihr schwer rekonstruierbarer Ereignischarakter, das Fehlen einer gemeinsamen Ausdrucksform und sicherlich auch die Unbekümmertheit ihrer Akteurinnen: Sie handeln ohne konventionelle künstlerische Ausbildung, ohne theoretisches Manifest, ohne Respekt vor Tabus und Traditionen - und mit dem größten Vergnügen.

XXe siècle. Actes du colloque

international

Dijon 22-23 novembre

1985, Hispanistica XX, Band 3, Di-

jon 1985, S. 307-318; Rafael Escalada/Guzmán Urrero Peña/Emilio Carlos García Fernández/Pedro Almodóvar, „Dossier La Movida Madrileña", in: Cuadernos 2003, S. 7-50.

Hispanoamericanos,

Nr. 636, Juni

II Kulturelle Praxis als Innovation: Konzepte der Aktionskunst als Denkmodell zur Analyse der Movida

Aktionskunst stößt nicht selten auf Unverständnis und Ablehnung. Dies liegt wohl nicht nur an der ihr eigenen künstlerischen Praxis, sondern auch daran, dass Aktionskunst soziale Praktiken mit sich bringt, die den konventionellen Verhaltensregeln widersprechen - man denke an die Selbstverletzungen der Wiener Aktionisten oder an Ken Friedmans Restaurant Event, bei dem eine Akteurin oder ein Akteur in einem piekfeinen Restaurant auf formvollendete Weise nichts als ein Glas Wasser konsumiert. Auch die Zertrümmerung von Klavieren und Geigen bei Fluxus-Aktionen ist ein Zeichen für die Ablehnung des Bürgerlichen — ein Konzept, das zum sozialen Innovationspotenzial von Aktionskunst beiträgt (II.2.2.2). Soziale Innovation geschieht auch durch die Erneuerung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer (II.2.2.1) sowie durch die Verschmelzung von Kunst und Leben (II.2.2.3). Aktionskünstlerinnen praktizieren künstlerische Innovation, indem sie die Konventionen der Kunst brechen: Sie setzen sich über die Trennung der Ausdrucksformen hinweg und konstituieren die Aktion als neue Gattung (II.2.1.1), sie vertreten eine neue Auffassung vom Künstler-Sein (II.2.1.2) und erneuern den traditionellen Werkbegriff (II.2.1.3). Es geht in diesem Kapitel nicht um eine Darstellung von Aktionskunst, sondern darum, aus der Beschreibung einiger ihrer Manifestationen Kategorien zu entwickeln, die ich in den Kapiteln IV und V fiir die Untersuchung der Movida verwende. Es soll nicht gezeigt werden, dass die Movida möglicherweise Aktionskunst ist. Vielmehr bietet die Gegenüberstellung der beiden Praktiken, die in der Tat Parallelen aufweisen, eine Möglichkeit zur Erklärung ästhetischer und sozialer Merkmale der Movida. Der Umgang von Aktionskunst mit künstlerischen und sozialen Konventionen liefert ein Denkmodell, mit dem man die Movida interpretieren kann.

20

Julia Nolte

I I . 1 AKTIONSKUNST UND EINIGE WICHTIGE MANIFESTATIONEN

Aktionskunst entwickelt sich ab 1959 etwa zeitgleich innerhalb einer internationalen Bewegung mit einer großen Anzahl von Künstlerinnen, wobei sich Zentren in den USA (Happening), Deutschland (Fluxus) und Frankreich (Nouveaux Réalistes) befinden. 1959 führt Allan Kaprow die ersten öffentlichen Happenings in New York durch; 1960 hat Yves Klein in Paris seinen Auftritt mit nackten Frauen, die sich zu Musik erst in blaue Farbe und dann auf weißes Papier legen; 1962 findet eine mehrteilige, programmatische Fluxus-Veranstaltung in Wiesbaden statt. Im gleichen Jahr beginnen in Wien die sogenannten Aktionisten, allen voran Otto Mühl, Hermann Nitsch und Günter Brus, mit ihren spektakulären Aktionen. 1 Fast gleichzeitig finden auch in Italien (Giuseppe Desiato), in Osteuropa (Milan Knízák, Tadeusz Kantor) und in Japan schon seit 1955 (Gruppe Gutai) Aktionen statt.2 Nicht überall kann sich Aktionskunst frei entfalten. „Totalitäre Regimes, ob links oder rechts, haben für diese Art von Kunst kein Verständnis", schreibt Elisabeth Jappe, „entweder weil sie sozial engagiert und damit kritisch eingestellt ist oder weil sie formal gegen die Konventionen verstößt und dadurch automatisch als subversiv eingestuft wird." 3 In Spanien werden während der FrancoDiktatur neue Tendenzen in der Kunst verhindert oder bekämpft. Esther Ferrer, geboren 1937 in San Sebastián, ist eine der wenigen, die Mitte der 60er Jahre beginnt, Performances zu machen, ab 1967 als Mitglied der Gruppe ZAJ: 4 Z A J war d a m a l s die einzige G r u p p e , die solche K u n s t machte. In S p a n i e n war das g a n z u n b e k a n n t . Trotz der Schwierigkeiten f ü r die Künstler, in F r a n c o - S p a n i e n zu

1

Vgl. Uwe M. Schneede, Die Geschichte der Kunst im 20. Jahrhundert. Von den Avantgarden bis

zur Gegenwart, München 2001, S. 210. 2

Vgl. Elisabeth Jappe, Performance - Ritual - Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa,

München/New York 1993, S. 17; zur Gruppe Gutai s. auch Karin Thomas, Bis heute. Stilgeschich-

te der bibienden Kunst im 20. Jahrhundert, Köln

10

1998, S. 245 und Schneede 2001, S. 203.

' J a p p e 1993, S. 56. 4

ZAJ oder Zaj (das Wort hat ursprünglich keine Bedeutung) wurde 1964 von den Komponisten

Juan Hidalgo, Walter Marchetti und Ramón Barce in Madrid gegründet. Hidalgo und Marchetti hatten Anfang der 60er Jahre John Cage kennengelernt, der sie beeinflusste und dessen Stücke sie später aufführten; vgl. Anne Thurmann-Jajes,

„Printed

in Spain",

auf:

http://www.nmwb.de/

x_interkat/a_pris/3_texl.htm, Abruft 28.6.2007, S. 3 sowie Ramón Barce, „Meine musikalische Tätigkeit in der Gruppe ZAJ", auf http://www.nmwb.de/x_interkat/a_pris/3_tex4.htm, Abruf: 28.6.2007, S. 1.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

21

arbeiten, machten wir alles Mögliche, aber nie in den offiziellen Circuits. Sie wollten uns nicht, und wir wollten sie noch weniger. Im Spanien der 60er und 70er Jahre wurde diese Art von Tätigkeit automatisch als Protest gegen das Regime betrachtet. Das bedeutete aber auch, dass ein Publikum vorhanden war, das bereit war, sie zu akzeptieren, selbst wenn sie sie nicht verstand. Wir nannten unsere Aktivitäten 'Konzerte', weil das die einzige Art von Veranstaltung war, die nicht der Zensur unterlag. Das passte uns sehr gut. 5 G e m e i n ist den verschiedenen Ausprägungen von Aktionskunst, dass Produktion und Rezeption größtenteils zusammenfallen. 6 Außerdem zielen diese „ F o r m e n künstlerischer Direktmitteilung" 7 nicht selten darauf ab, das Publik u m in körperliche und seelische Bedrängnis zu bringen, u m es z u m Mitdenken und Mitfühlen anzuregen. D i e Vermehrung der Aktionskunst lässt sich erklären als Reaktion a u f eine Zeit, in der die j u n g e G e n e r a t i o n mit alten Verhaltensmustern bricht — auf gesellschaftlicher ebenso wie auf künsderischer Ebene: Studentenunruhen gab es nicht erst 1968, und sie betrafen auch nicht nur die Studenten. Sie waren Zeichen eines tief greifenden Strukturwandels der Gesellschaft, in die eine Generation hineinwuchs, die sich vom Trauma des Zweiten Weltkriegs nicht mehr unter Druck setzen lassen wollte für ihre Wünsche nach neuen Freiheiten. In der Kunst formulierte sich diese Stimmung in einer explosionsartigen Vermehrung von Aktionen, Happenings, Events. Die gemeinsame Absicht all dieser Aktivitäten war eine Abrechnung mit den alten, erstarrten Darstellungsformen der Kultur überhaupt. 8 Diese Absicht verfolgen nicht erst die Aktionskünstlerinnen. Von grundlegender Bedeutung für das Entstehen der Aktionskunst sind die historischen europäischen Avantgardebewegungen: Futuristen, D a d a i s t e n u n d Surrealisten hatten die Aktion als wirkungsvolles Darstellungsmittel entdeckt — nicht nur um auf sich und ihre Probleme aufmerksam zu machen, sondern auch im Sinne

5

Ferrer, zitiert nach: Jappe 1993, S. 56.

6

Vgl. Edith Almhofer, Performance Art. Die Kunst zu leben, Wien/Köln/Graz 1986, S. 12; es

gibt auch Aktionen mit Vorbereitung, z.B. von Kaprow, der den Begriff'Happening' kritisiert, weil er suggeriert, dass etwas einfach so passiert. 7

Almhofer 1986, S. 12.

8

Jappe 1993, S. 17.

22

Julia Nolte

autonomer künstlerischer Arbeiten.9 Mit ihren interdisziplinären Experimenten und ihren gesellschafts- und kunstkritischen Programmen waren die Avantgardistinnen die ersten, die den damals gängigen Kunstbegriff kritisierten und an einer Aufhebung der Gattungsgrenzen arbeiteten.10 Hervorzuheben unter den Dadaisten und Surrealisten ist der französisch-amerikanische Maler Marcel Duchamp (1887-1968). Er erklärte banale Gebrauchsgegenstände zu Kunstwerken {Ready-mades) und definierte damit nicht nur den Werkbegriff, sondern auch den Begriff vom Künstler neu. Die Künstlerin/der Künstler war nun niemand mehr, der Abbilder schafft, sondern jemand, der Kontexte verändert. Das wohl bekannteste Beispiel ist das von Duchamp mit „R. Mutt" und der Jahreszahl „1917" signierte Pissoirbecken (Fountain). Dem Serienprodukt wird eine Signatur, die ein Werk als einzigartig ausweist, verpasst. Damit stellt Duchamp die Vorstellung vom Wesen der Kunst als individuelles Schaffen einmaliger Werke, wie sie sich seit der Renaissance herausgebildet hat, provokatorisch in Frage. „Der Akt der Provokation selbst", schreibt Peter Bürger, „nimmt die Stelle des Werks ein."11 Ihre Geburtsstunde hat die Aktionskunst aber nicht in der Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, sondern — durch John Cage (1912-1992) — in der Experimentalmusik. Deren kreatives Zentrum befindet sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an der New York School for Social Research, wo der Schönberg-Schüler Cage Kurse für elektronische Musik gibt und in seine eigenen Kompositionen Zufallsgeräusche und Klangeffekte aus dem Alltag hineinnimmt. Cage ist es auch, der die Einbeziehung des Publikums in Kunstaktivitäten propagiert und die Aufhebung der Trennung von Musik, Tanz, Theater und Bildender Kunst vorantreibt. Hier knüpfen Happening, Performance und Fluxus-Aktion an.12 5

Vgl. Jappe 1993, S. 9; auch wenn Aktionskunst und Performance als typische Kunstformen

des 20. Jahrhunderts gelten, hat es bereits in früheren Zeiten immer wieder Beispiele von Aktionen einzelner Menschen gegeben, die eine Idee demonstrieren wollten und dafiir eine auffallende, sichtbare Form wählten. Soziale Kritik war die Triebfeder bei Diogenes, dessen überlieferte Aktionen an heutige Performances erinnern: Aus Protest gegen die Athener Überflussgesellschaft ging er z.B. am helllichten Tage mit einer Laterne durch die Stadt auf der Suche nach einem vernünftigen Menschen, vgl. Jappe 1993, S. 10; ein gewöhnliches Ritual (Nachtwächter geht mit Laterne durch die Stadt) wird in einen neuen Kontext gestellt, nämlich den des Tages, und erfährt dadurch einen Bedeutungswandel. 10

Vgl. Almhofer 1986, S. 12.

" Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M. 1974, S. 77. 12

Vgl. Thomas 1998, S. 243.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

II.1.1 Happening und

23

Performance

Inspiriert von den leer gelassenen weißen Leinwänden Robert Rauschenbergs, mit dem John Cage um 1950 eng zusammenarbeitet, komponiert der amerikanische Musiker 1952 das Klangstück 4'33. In diesem Stück hat eine Pianistin oder ein Pianist vier Minuten und 33 Sekunden lang auf dem Podium zu sitzen, ohne dabei die Tasten des Klaviers zu betätigen. Der Klang des Stücks besteht allein aus den Geräuschen, die das Publikum hustend, protestierend oder Beifall klatschend verursacht. Weil in diesem Stück Kunst und Leben exemplarisch verschmelzen, indem Alltagsgeräusche zu Musik erklärt werden, bezeichnet Karin Thomas dieses Stück als das erste Happening.13 Häufiger werden 18 Happenings in 6Parts genannt, die der mit Cage befreundete amerikanische Maler Allan Kaprow (1927-2006) 1959 in der New Yorker Reuben Gallery durchführt: Agiert wird in einem Ambiente aus bemalten Plastikbahnen, Objekten, Filmen, Dias, Musik und Geräuschen. Dabei werden die Zuschauerinnen zu Mitwirkenden, die bestimmten Instruktionen zu folgen haben.14 Diese ersten Happenings weisen bereits die Merkmale auf, die bis heute als Hauptcharakteristika dieser Kunstform gelten: die Verschmelzung von Kunst und Leben (im Falle der 18 Happenings in 6Parts), die Überschreitung der Gattungsgrenzen sowie die Einbeziehung der Zuschauerinnen in den Werkprozess. Die Verschmelzung von Kunst und Leben theoretisierte Kaprow folgendermaßen: Die Grenze zwischen Happening und täglichem Leben sollte so flüssig wie unbestimmbar gehalten bleiben. [...] Die Komposition aller Materialien, Aktionen, Bilder und ihrer Raumzeitbezüge sollte in einer so kunsdosen wie praktischen Weise erfolgen.15

Für die Aufführungspraxis bedeutet dies, dass Happenings nicht geprobt und nur einmalig von Nicht-Professionellen aufgeführt werden. Es handelt sich um ein improvisiertes Geschehen. Die 18 Happenings in 6 Parts beschränken sich nicht auf Material aus einer Kunstgattung, sondern kombinieren Material aus allen Kunstformen zur neuen Gattung Happening. Als Fundus dienen dabei Gemälde, Filme, Dias, Musik, Geräusche sowie angefertigte Objekte und vorgefundene Gegenstände, die im Vgl. Thomas 1998, S. 243. Vgl. Schneede 2001, S. 202. 15 Kaprow, zitiert nach: Thoraas 1998, S. 244.

13 14

Julia Nolte

24

Rahmen eines darstellenden Spiels in Bewegung versetzt werden. Es ergibt sich eine Collage aus Ereignissen.16 Was das dritte Merkmal, die Einbeziehung der Zuschauerinnen in den Werkprozess, betrifft, beobachtete Susan Sontag beim Besuch von New Yorker Happenings u.a. von Kaprow: Das Ereignis scheint darauf angelegt, das Publikum zu ärgern und zu beschimpfen. Es kann geschehen, dass die Darsteller das Publikum mit Wasser bespritzen oder Pennies und Reinigungsmittel, die wie Niespulver wirken, unter die Zuschauer werfen. U n d es kann auch vorkommen, dass einer der Akteure einen ohrenbetäubenden Lärm auf einem Ölkanister macht oder eine Acetylenfackel in Richtung auf die Zuschauer schwenkt. Das Publikum kann in die Lage versetzt werden, unbequem in einem überfüllten R a u m stehen oder um einen Platz auf Brettern kämpfen zu müssen, die über knöcheltiefen Wasserlachen liegen. Es wird keinerlei Versuch unternommen, dem Wunsch des Publikums, alles zu sehen, entgegenzukommen. Ja, der Erfüllung dieses Verlangens wird oft bewusst entgegengearbeitet, indem ein Teil der Vorgänge sich im Halbdunkel abspielt oder verschiedene Dinge gleichzeitig in getrennten Räumen stattfinden. 1 7

Dieser Schilderung lässt sich entnehmen, dass Happening-Künstlerinnen alle Register ziehen, um ihre Zuschauerinnen daran zu hindern, 'gute' Zuschauerinnen zu sein, die den Schaffensprozess und dessen Ergebnis in stiller Ehrfurcht betrachten und beklatschen. Happenings zielen darauf ab, das Publikum aus seiner passiven Empfängerrolle zu reißen. Es soll reagieren, ins Geschehen eingreifen. Um das zu erreichen, wird mit seinen Erwartungen gebrochen. Die aus der Partizipation resultierende Unvorhersehbarkeit des Ablaufs wird nicht nur in Kauf genommen, sondern hat sich im Laufe der Zeit zu einem wesentlichen Faktor von Happenings entwickelt.18

16 Vgl. Thomas 1998, S. 15 und Susan Sontag, Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, München/Wien 1980, S. 262. 17 Sontag 1980, S. 259; Susan Sontags 1962 erstmals veröffentlichter Artikel „Happenings: An An of Radical Juxtaposition" ist der erste größere Artikel, der seitens der Kunstkritik über Happenings erscheint. Philip Ursprung merkt an, dass Sontag damit zwar ein grundlegendes Interpretationsmodell liefert. .Allerdings hat der Aufsatz durch das Insistieren auf dem aggressiven, ja destruktiven Element der Happenings die Interpretation auch einseitig fixiert." (Philip Ursprung, Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening, Robert Smithson und die Land Art, München 2003, S. 105). 18 Vgl. Thomas Dreher, „Après John Cage': Zeit in der Kunst der sechziger Jahre — von FluxusEvents zu interaktiven Multi-Monitor-Installationen", in: Ulrich Bischoff (Hrsg.), Kunst als Grenzbe-

II. Kulturelle Praxis als Innovation

25

Anfangs allerdings tut sich das Publikum schwer mit dem „rigorosen existenziellen Ausgesetztsein" 19 , welches das Erleben eines Happenings mit sich bringt. In ihrem grundlegenden Aufsatz berichtet Susan Sontag, dass sich bei den Happenings in New York zu Beginn immer die gleichen Leute begegneten, bevor sich der Kreis der Eingeweihten weitete. Auch das Interesse der etablierten Kultureinrichtungen wuchs erst allmählich, sie nahmen Happenings nur zögerlich ins Programm auf. In den frühen Jahren finden Aktionen daher nur in Ateliers, nicht kommerziellen Galerien und kleinen Theatern statt, 20 deren Betreiberinnen sich nicht davor scheuen, Kunst zu zeigen, die man weder an die Wand hängen, noch handeln oder sammeln kann (wie ein Gemälde) und die sich nicht auf vergleichbare Art wiederholen lässt (wie ein Theaterstück). Im Laufe der 1960er Jahre entwickeln sich Happenings u n d andere Aktionsformen zu einer Modeerscheinung. „Happening! wird derzeit so oft gerufen, wie Party-Gäste Gläser umkippen", notiert Jürgen Becker 1968. 21 Möglicherweise hat dieser Stimmungswandel seinen G r u n d darin, dass die berauschende Wirkung erkannt wird, die vom Gemeinschaftserlebnis Happening ausgeht. In diese Richtung weist folgendes Zitat des französischen Happening-Künstlers Jean-Jacques Lebel (geb. 1936), der einen Vergleich mit bewusstseinserweiternden Drogen anstellt: [They produce] an intensely receptive state of mind [akin to hallucinatory experiences after taking LSD or similar drugs and] create a mood in which each person dreams the dream of the others; the Happening is the concretization of a collective dream and a vehicle of intercommunication.22

schreitung. John Cage und die Moderne, München 1991, S. 57-74, S. 60; die Eckpunkte des Geschehens sind i.d.R. in einem .Aktionskonzept" markiert, das allerdings durch Eingriffe des Publikums oder spontane Handlungen der Akteurinnen jederzeit außer Kraft gesetzt werden kann. " J a p p e 1993, S. 19. 20

Vgl. Jappe 1993, S. 18.

21

Jürgen Becker, „Vorwort", in: Jürgen Becker/Wolf Vostell (Hrsg.), Happenings. Fluxus, Pop

Art, Nouveau Réalisme, Reinbek bei Hamburg 3 1968, S. 7-18, S. 7; diese Pionierpublikation, die erstmals 1965 veröffendicht wurde, enthält wichtige Zeitdokumente: Fotos und Auffuhrungslisten von Happenings, Briefe, Aufsätze, Reden von Happening-Künsderlnnen sowie Zeitungsartikel, die verständnislose Reaktionen der Öffentlichkeit belegen. 22

Lebel, zitiert nach: Günter Berghaus, „Happenings in Europe. Trends, Events and Leading

Figures", in: Sandford, Mariellen R. (Hrsg.), Happenings andother acts, London 1995, S. 310-388, S. 353.

26

Julia Nolte

Sowohl Beckers als auch Lebeis Beobachtung deutet auf die Schwierigkeit hin, den Begriff'Happening' eindeutig zu definieren. Allgemein formuliert lässt sich in Anknüpfung an Lebel sagen: Das Happening ist ein Raum, in dem man mit anderen ohne Vorkenntnisse und ohne Rücksicht auf Konventionen etwas entstehen lassen kann. Es bietet damit etwas, das herkömmlichen Kunstformen fremd ist. Mit wachsender Zuschauerzahl wird der Anteil derer, die ein Happening aktiv mitgestalten können geringer. Hier setzt eine Aktionsform an, die nicht auf Mitwirkung des Publikums basiert (auch wenn Reaktionen hervorgerufen werden sollen): die Performance. Generell lässt sich für diese Aktionsform festhalten: Durch die fehlenden Handlungsmöglichkeiten der Zuschauerinnen ähnelt die Performance einer Theaterauffuhrung mehr als es das Happening tut. Das Wort „Performance" als Bezeichnung für die Aktionen von bildenden Künstlerinnen oder Tänzerinnen kam in den frühen 70er Jahren aus den USA nach Europa. Seitdem hat sich diese Form der Aktionskunst so vielfältig entwickelt, dass Performance heute ein Uberbegriff ist für alle Formen von Kunst, in denen der Schwerpunkt auf der Handlung liegt. Ziel dieser Arbeiten ist nicht primär, einen Kunstgegenstand hervorzubringen, sondern einen Prozess darzustellen, der die Grenzen der Kunstgattungen überschreitet. 23 Da auch bei Happenings der Schwerpunkt auf der Handlung liegt und auch sie einen grenzüberschreitenden Prozess darstellen, müsste man dieser Definition von Performance noch hinzufügen: „und dabei die Zuschauerinnen nicht in den Werkprozess einbezieht".

II. 1.2 Fluxus Ebenfalls um 1960 entstand Fluxus. Dieser Zusammenschluss entsprang einer Initiative des aus Litauen stammenden Amerikaners George Maciunas (1931-1978). 2 4 Fluxus heißt soviel wie „Fluss", „das Fließende", „Zusammenfließen". Ein passender Name für eine Gruppe von Künstlerinnen, die interdisziplinär arbeitete, alles Starre bekämpfte, die außerdem immer ausgesprochen international war und sich (allerdings erst in späteren Jahren) weder als feste Gruppe noch als fest umrissene Kunstform betrachtete. 25 Maciunas hatte den

" V g l . Jappe 1993, S. 9. 24

Vgl. Lucie-Smith 1999, S. 289.

25

Jappe 1993, S. 19f.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

27

Begriff'Fluxus' als Titel einer Veröffentlichungsreihe zu Experimentalmusik gewählt. Journalistinnen übertrugen den Namen dann auf die aus dieser Musik abgeleiteten Aktionen. 26 Öffentliche Fluxus-Veranstaltungen fanden in der gesamten westlichen Welt statt, in Wiesbaden, Düsseldorf, Wuppertal, Kopenhagen und Amsterdam, London, Paris und New York.27 Die meisten Aktionen gab es allerdings in Deutschland. Hier befand sich ab 1961 der Kern von Fluxus in Gestalt des in Wiesbaden stationierten Maciunas und des damals in Köln lebenden südkoreanischen Musikers und Komponisten Nam June Paik (1932-2006). Zu den Fluxus-Künstlern gehörten auch die Deutschen Tomas Schmit (1943-2006) und Wolf Vostell (19321998), der Schweizer Daniel Spoerri (geb. 1930), der Franzose Robert Filliou (1926-1987) und der Däne Arthur Kopeke (1928-1977) 28 sowie der amerikanische Komponist La Monte Young (geb. 1935), der in Darmstadt bei dem führenden Experimentalmusiker Deutschlands, Karlheinz Stockhausen (1928-2007), studiert hatte. Dadurch dass sich an Fluxus-Veranstaltungen in Europa immer auch amerikanische Künstlerinnen beteiligten, bildete Fluxus eine wichtige Verbindung zwischen den Avantgarden auf dem europäischen Kontinent und denen in den USA. 29 Mit seinen Konzerten und den Events (die jeder aufführen kann, der den auf kleinen Karten verbreiteten Anweisungen der Autorinnen folgt) knüpfte Fluxus an die Praktiken und Theorien des italienischen Futurismus an. Der Mittler war wie beim Happening John Cage, der mit dem Futurismus vertraut war und an dessen New Yorker Kompositionskursen in den fünfziger Jahren spätere Fluxus-Künstler wie George Brecht, AI Hansen und Dick Higgins teilnahmen. 30 Die Parallelen zwischen Happening und Fluxus (Entstehungszeit, Wurzeln in Cages Experimentalmusik, die Aktion als Vermittlungsform) führten dazu, dass sich Künstlerinnen beider Richtungen gegenseitig zu Vorträgen und Auffuhrungen einluden, gemeinsam Festivals organisierten sowie in den Veranstaltungen auf bestehende Aktionen der anderen Bewegung Bezug nahmen. Verschiedene Künstlerinnen rechneten sich beiden Bewegungen zu. So entstand

26

Vgl. Thomas 1998, S. 243.

27

Vgl. Schneede 2001, S. 207.

28

Vgl. Schneede 2001, S. 207.

29

Vgl. Lucie-Smith 1999, S. 289.

30

Schneede 2001, S. 207.

28

Julia Nolte

ein lose geknüpftes internationales Beziehungsnetz, das als eine Art „Schattenkunstwelt"31 fungierte: als Alternative zu den etablierten Netzwerken von Galerien, Sammlern und Museen. Im Unterschied zum Happening spielt das Publikum bei Fluxus-Aktionen keine gestalterische Rolle.32 Akteurinnen und Publikum sind voneinander getrennt. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass im Gegensatz zum vorwiegend theatralischen Geschehen der Happenings bei Fluxus-Konzerten der Klang dominiert. 33 Darauf deutet schon die Bezeichnung der Aktionen als „Konzerte" hin. Ihr Ablauf folgt wie in der Musik einer Partitur, in der ein Handlungskonzept markiert ist, auf dessen Grundlage bei der Aktion improvisiert wird.34 Die eingesetzten Musikinstrumente dienen allerdings nicht der Erzeugung von Melodien, sondern von Geräuschen: In seinem Piano Piece No. 13 nagelte Maciunas Taste für Taste eines Klaviers fest. Phil Corner zertrümmerte in Piano Activities von 1962 einen Flügel. In Maciunas' Onefor Violin Solo hebt die oder der Aufführende langsam und konzentriert eine Geige und zerschmettert sie dann in Sekundenschnelle auf einem Tisch.35 Bei Fluxus-Aktionen geht es nicht nur darum, den fetischisierten Umgang mit Musikinstrumenten zu enttabuisieren. 36 Nach dem dadaistischen Antikunst-Vorbild wird in Zertrümmerungsaktionen von Klavieren und Geigen mit dem traditionellen Klangrepertoire der Musik gebrochen. Es entsteht „unverbrauchtes akustisches Material" 37 , das von manchen Hörerinnen nicht als Klang, sondern als Lärm empfunden wird, weil es außerhalb konventioneller Tonsysteme liegt. Eine weitere Neuerung gegenüber konventioneller Musik (und zugleich eine Gemeinsamkeit mit Cages Experimentalmusik) besteht darin, dass Fluxus-Künstlerlnnen Alltagsgeräusche als Kunst deklarieren — wenn z.B. in Drip Event von George Brecht eine Akteurin oder ein Akteur auf eine Leiter steigt und aus einer Kanne Wasser in eine Schale schüttet, die auf dem

31

Ursprung 2003, S. 98.

32

Vgl. Jappe 1993, S. 19.

33

Vgl. Thomas 1998, S. 244.

34

Vgl. Thomas 1998, S. 14.

35

Vier Fotos, die den Verlauf dieser Aktion dokumentieren, aufgeführt von Nam June Paik im

Jahr 1962, finden sich in Ulrich Bischoff (Hrsg.), Kunst als Grenzbeschreitung. John Cage und die Moderne, München 1991, S. 76. 36

Vgl. Schneede 2001, S. 207.

37

Thomas 1998, S. 244.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

29

Boden steht.38 Hier findet sich wieder die für Aktionen typische Verschmelzung von Kunst und Leben. Fluxus-Aktionen beschränken sich jedoch nicht auf das Handlungsfeld Musik. Alles kann Bestandteil eines Konzertes oder Events werden: ein Nachttopf, ein halber Liter Tinte und eine lange Rolle Papier (zur Durchführung von La Monte Youngs Composition 1961 no. 29)39 ebenso wie ein Streichholz (Yoko Ono: „Light a match and watch tili it goes out") oder ein Gedanke (Ben Vautier: „Höre einen Moment auf zu denken").40 Den interdisziplinären Charakter von Fluxus spricht u.a. Joseph Beuys an, wenn er sagt: „Es gab nicht dieses ausgesprochene Spezialistentum."41 Bei aller Vielfalt — es gab etwas, das Fluxus-Aktionen verband und was Maciunas folgendermaßen formulierte: Fluxus-Aktionen sollten „einfach, amüsant, nicht prätentiös sein, bedeutungslos, keinerlei Fertigkeit oder zahllose Proben verlangen, keinen Sachwert oder institutionellen Wert haben".42 Zum einen ist diese Aussage ein Affront gegen ein Kunstverständnis, das den Wert eines Werkes an seiner Ernsthaftigkeit, der Qualität seines Materials oder seiner Verkaufs- und Ausstellungsfähigkeit misst. Bei Fluxus gilt das Werk im herkömmlichen Sinne nichts mehr. Was zählt, ist die schöpferische Idee — und eine Idee kann jeder haben. Zum anderen richtet sich diese Aussage gegen die Auffassung, dass die Güte einer Künstlerin oder eines Künstlers in deren/dessen Beherrschung von Techniken liegt. Bei Fluxus tritt die Person der Künstlerin/des Künstlers in den Hintergrund. 1964 empfiehlt Maciunas seinem südfranzösischen Kollegen Ben Vautier: „(Wenn Sie können,) signieren Sie nichts — schreiben Sie sich nichts zu — entpersonalisieren Sie sich!" 43 Die Künstlerin/der Künstler wird anonymisiert und entmystifiziert. Dazu gehört es auch, auf ex-

38 Auch Drip Music genannt. Dieses Stück führte Dick Higgins 1962 beim Wiesbadener Festum Fluxorum auf. Durch diese Veranstaltung wird die Fluxus-Bewegung in Europa etabliert, vgl. Thomas 1998, S. 244. 39

Vgl. die Auffiihrungsliste zum Festum Fluxorum

in Becker/Vostell (Hrsg.) 1968, S. 204; in

Aufftihrungslisten sind die Materialien aufgeführt, die Fluxus-Künstlerlnnen für ihre Aktionen brauchen, außerdem Titel, Dauer und beteiligte Akteurinnen. 40

Ono, Vautier, zitiert nach: Schneede 2001, S. 208.

41

Beuys, zitiert nach: Götz Adriani/Winfried Konnertz/Karin Thomas, Joseph Beuys, Köln

1994, S. 51. 42

Maciunas, zitiert nach: Schneede 2001, S. 208.

43

Maciunas, zitiert nach: Thomas Kellein, „Fluxus — Ein Nachtrag zum Pop?", in: Livingstone,

Marco (Hrsg.), Pop Art, München 3 1994, S. 226-229, S. 226.

30

Julia Nolte

zentrische Kleidung und Gebärden zu verzichten. Wenn Fluxus-Künstlerlnnen einen Flügel zersägten, taten sie das in dunkler, formeller Kleidung, schweigend und ohne Aggressivität. In so einer Situation stehen ein konventionelles Auftreten und der konventionelle Rahmen des Konzerts im Widerspruch zu den begangenen Regelverstößen. Dieses Brechen mit Erwartungen intensiviert die schockierende Wirkung von Fluxus-Aktionen. D a s Brechen mit Erwartungen ist z.B. T h e m a des Restaurant Event von Ken Friedman (geb. 1949 in Connecticut/USA) aus dem Jahr 1964: Zieh dich so schlecht wie möglich an. Trage alte Klamotten, abgeschabte Schuhe und einen alten Hut. Geh in ein elegantes Restaurant. Benimm dich sehr vornehm mit feinsten Manieren. Lass dir einen guten Tisch geben. Gib dem Oberkellner ein gutes Trinkgeld und setze dich. Bestelle ein Glas Wasser. Trink das Wasser, gib dem Kellner und den anderen Mitgliedern des Personals reichliche Trinkgelder und gehe hinaus.44 Hier wird der ironisch-provokative Charakter von Fluxus deutlich, mit dem nicht nur die kulturelle, sondern auch die herrschende soziale Praxis kritisiert wird. Die Akteurin/der Akteur mokiert sich in diesem Fall über gesellschaftliche Rituale, indem sie/er sich in den konventionellen Rahmen eines Restaurantbesuchs begibt, u m dessen Regeln auf formvollendete Weise zu verletzen. M a n kann also sagen, Fluxus ist weniger eine fest umrissene Kunstform als vielmehr eine Lebenshaltung. Die von Fluxus geprägte „Art, Dinge zu tun" 4 5 (Friedman) hat das Ende der von Maciunas koordinierten Phase überdauert. 46

" J a p p e 1993, S. 20f. 45

Ken Friedman 1990 in der Wiener Zeitschrift Freibord: „Fluxus ist der Name für eine Art,

Dinge zu tun. Fluxus ist eine aktive Philosophie der Erfahrung, die sich eine künstlerische Form gibt... Es ist weder eine Gruppe noch eine Kunstrichtung... es gibt weder einen gemeinsamen Stil noch Ideen oder Aktionen, die von allen geteilt werden... Es gibt viele unterschiedliche Bereiche, in denen jeweils mehrere von uns tätig sind: Malerei und Skulptur, Architektur, Design, Performances und Events", zitiert nach: Jappe 1993, S. 21. 46

Über das Auseinanderbrechen der Fluxus-Gruppe wegen interner Streitereien Ende der 60er

Jahre s. Kellein 1994, S. 227. Zum Weiterwirken von Fluxus schreibt Jappe 1993, S. 21f., dass man in der Performance-Kunst der 80er Jahre immer wieder auf „alte Fluxushasen" stoße, die mit Künstlerinnen zusammenarbeiten, die zur historischen Fluxus-Zeit noch nicht einmal lesen und schreiben konnten. In den frühen 90er Jahren habe Fluxus besonders in Deutschland, Polen, Italien, Frankreich und Kanada geblüht.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

31

11.1.3 Wiener Aktionismus Der Wiener Aktionismus ist die radikalste Form der Aktionskunst. Im Gegensatz zu Fluxus, wo alles auf die knappste und nach Möglichkeit beiläufigste Idee reduziert wurde, suchte man in Wien den größten Aufwand und spektakuläre Mittel.47 Der Wiener Aktionismus war, zumindest in den ersten, entscheidenden Jahren, auf die Stadt Wien und auf wenige Künstler beschränkt. Durch die Ortsgebundenheit, die fehlende Einbeziehung des Publikums, aber vor allem durch die Thematik unterscheidet sich der Wiener Aktionismus vom Happening: Hier geht es fast ausschließlich um die Befreiung von religiösen und sexuellen Tabus (in Wien, geografisch, politisch und gesellschaftlich von Paris und anderen Kulturzentren weit entfernt, war die Kontrolle durch die Gesellschaft in den 60er Jahren noch sehr stark). Der Tabubruch geschieht durch Verletzung körperlicher und religiöser Schamgefühle. Ein Beispiel dafür ist bereits die erste Aktion des Wiener Aktionismus, die Ende 1962 stattfindet: Hermann Nitsch (geb. 1938) in einem seiner Abreaktionsspiele, mit einem weißen Hemd bekleidet, lässt sich vor einem weißen Tuch wie gekreuzigt an einer Wand festbinden und von Otto Mühl (geb. 1925) mit Blut beschütten.48 Neben dem Orgien-Mysterien-Theater von Nitsch und Mühls erotisch-animalischen Ritualen werden dem Wiener Aktionismus die Selbstübermalungen und Selbstverstümmelungen von Günter Brus (geb. 1938) und Rudolf Schwarzkogler (1940-1969) zugerechnet, die bei letzterem bis zur Selbstzerstörung durch Selbstmord führten. Dem geistigen Klima des Wiener Aktionismus verwandt sind auch die Gesichtsdeformationen und die Körperbemalungen von Arnulf Rainer (geb. 1929), sodass sich beim Wiener Aktionismus Vorstufen der Body Art finden.49 Noch stärker als die Happenings in den USA und die späteren Performances instrumentalisieren die Wiener Aktionisten den Körper als Gegenstand der Aktion. Dadurch kompensieren sie seine fehlende Repräsentanz in der informellen Malerei.50 Andere Deutungsansätze sehen im Wiener Aktionismus ein

47

Schneede 2001, S. 212.

48

Vgl. Schneede 2001, S. 212.

49

Die Body Art entwickelt sich in den späten sechziger Jahren zu einer eigenständigen Stil-

richtung innerhalb der Aktionskunst, vgl. Thomas 1998, S. 246. 50

Vgl. Johannes Lothar Schröder, Identität, Überschreitung, Verwandlung. Happenings, Aktio-

nen und Performances von Bildenden Künstlern, Münster 1990, S. 206.

32

Julia Nolte

orgiastisches Aktionsspiel zur Befreiung verdrängter Aggressivität;51 eine Sensibilisierung und Erweiterung der Erlebnisfähigkeiten;52 einen künstlerischen Kampf ftir die totale Freiheit, da der Mensch „nur im erlebenden Durchmessen dionysischer Triebdurchbrüche die volle Bewusstwerdung vom Menschsein erlangen kann" 53 ; ein Symbol für die „Geschmacklosigkeit der Gesellschaft und vielleicht auch für die ungesühnte Schuld im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg"54. Andererseits weckten die beklemmenden Aktionen, bei denen häufig Blut, Kot, Harn und Tierinnereien eingesetzt wurden, nicht nur in Österreich Unverständnis. Ein Hörspiel mit quiekenden Schweinen im Schlachthof z.B. konnte im WDR nur von langer Expertendiskussion begleitet gesendet werden.55

II. 1.4 Joseph Beuys Die sozial-wirksame Komponente von Kunst, die in Fluxus enthalten ist, wird in außerordentlichem Maße von Joseph Beuys (1921-1986) thematisiert, dessen erste Experimente mit Aktionskunst im Rahmen von Fluxus-Veranstaltungen stattfanden. Eines seiner Hauptthemen war die Beantwortung der Frage, wie Kunst die Gesellschaft verändern kann. Wie die amerikanischen Happening-Künstlerinnen und zuvor die Futuristen und Dadaisten präsentierte Beuys mit seinem Körper einen zuvor erdachten Handlungsablauf vor eigens dafür geladenem Publikum. Einfluss auf die Beuysschen Aktionen hatten auch die sich um 1960 im Rheinland erneuernden Auffiihrungspraktiken (Fluxus), vor allem die musikalischen Ereignisse in Köln mit John Cage, Nam June Paik und Mauricio Kagel (1931-2008). Präparierte Klaviere, Alltagsgeräusche (d.h. Realklänge) und Filmprojektionen wurden hier bereits wie später von Beuys eingesetzt. Beuys gab mit dieser Fortsetzung wesentliche Impulse für die Entwicklung der Performance der 70er Jahre.56 Im Unterschied zu Fluxus-Aktionen, in denen die Künstlerin/der Künstler anonymisiert und entmystifiziert werden sollte, ist in Beuys' Aktionen der Au51

Vgl. Thomas 1998, S. 246.

" V g l . Schneede 2001, S. 212. 53

Thomas 1998, S. 246.

54

Lucie-Smith 1999, S. 288.

55

Vgl. Jappe 1993, S. 22.

56

Vgl. Jappe 1993, S. 23.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

33

tor nicht wegzudenken. Menschen, die Beuys positiv erlebt haben, betonen sein Charisma, sein ansteckendes Lachen, seine Fähigkeit, Menschen mitzureißen und an sich selbst glauben zu lassen. 57 Kritisiert wird u.a. Beuys' Egozentrik und dass er seine Mitstreiterinnen ungenannt ließ. 58 Jedenfalls war Beuys' Ausstrahlung Teil seines Werkes. Das macht es schwer, die Faszination, die seine Aktionen auf viele ausgeübt haben müssen, beim Betrachten der Relikte jener Aktionen (Fotos, Filmaufnahmen, verwendete Objekte) nachzuempfinden. 59 Zur Mystifizierung seiner Person trug auch seine Vergangenheit als Flieger im Zweiten Weltkrieg bei: Angesprochen auf die Verwendung der Materialien Fett und Filz in seinen Arbeiten, berichtete Beuys, Tartaren hätten ihn nach seinem Flugzeugabsturz über der Krim mit Fett eingerieben und in Filz gewickelt und ihn so vor dem Erfrierungstod gerettet.60 Er begründete sein Werk aus der eigenen Lebenspraxis mit dem Ziel, die Einheit von Kunst und Leben vor Augen zu fuhren. 61 In der öffendichkeit war vom Künstler Beuys mindestens so viel die Rede wie von seinem Werk. Thomas Crow nennt den Personenkult um Joseph Beuys „keine erfreuliche Nachricht für alle, die gehofft hatten, dass Selbstdarstellung und Personenkult als Modell für künsderischen Erfolg endlich ausgedient hätten" 62 . Beuys' Sinn fiir Selbstinszenierung spiegelte sich in seiner Kleidung: Er trug stets Jeans und Funktionsweste, dazu einen grauen Filzhut der Marke Stetson. Seine immer gleiche Kleidung wird mit den Gewändern von Priestern und Schamanen verglichen, 63 da auch Beuys sie bei ritualhaften Handlungen, näm-

57 Z.B. Uwe M. Schneede, Joseph Beuys, die Aktionen. Kommentiertes Werkverzeichnis mit fotografischen Dokumentationen, Ostfildern-Ruit bei Stuttgart 1 9 9 4 , S. 13 oder Thomas Crow, Die Kunst der sechziger Jahre. Von der Pop-art zu Yves Klein und Joseph Beuys, Köln 1 9 9 7 , S. 1 3 3 oder

Jappe 1 9 9 3 , S. 23. 58

SoziDuMonts Begrifßle-

Etwa die Autorinnen bzw. Mitautorinnen von programmatischen Texten zur Idee der

alen Plastik-, vgl. Barbara Lange, „Soziale Plastik", in: Hubertus Butin xikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln 2 0 0 2 , S. 2 7 6 - 2 7 9 , S. 2 7 9 .

(Hrsg.),

59

Andererseits können Fotos von Aktionen auch effektvoller sein als die Aktionen selbst.

60

Crow 1 9 9 7 , S. 137: Trotz mancher unwahrscheinlicher Details (z.B. dass jemand mit einer

Kamera bereitgestanden hätte, um das Ereignis aufzunehmen), garantierte Beuys' Charisma, dass er für seine zahlreichen Anhänger glaubwürdig blieb. 61 Uwe M. Schneede, „Nachwort", in: Monika Angerbauer-Rau, Beuys Kompass. Ein Lexikon zu den Gesprächen von Joseph Beuys, Köln 1 9 9 8 , S. 6 1 8 - 6 3 0 , S. 6 2 4 ; exemplarisch genannt sei die Werkgruppe Werklauf - Lebenslauf, in der Beuys die Stationen seines Lebens (Geburt, Kommu-

nion, Einschulung etc.) als Kunstwerk deklariert. 62

Crow 1 9 9 7 , S. 133.

63

Vgl. Schneede 1 9 9 8 , S. 6 2 2 .

34

Julia N o l t e

lieh seinen Aktionen, trug. Auch Fluxus-Künstler traten mit Hut auf, aber bei gemeinsamen Aktionen war Beuys der einzige, der nicht im dunklen Anzug agierte und sich dadurch von den anderen abhob. Somit dokumentiert die Kleidung auch seine Außenseiterstellung bzw. seine Besonderheit. Kleidung hat hier die Funktion eines Marken- oder Erkennungszeichens, das dazu dient, den Künstler und seine Ideen in der Öffentlichkeit zu verbreiten.64 Andererseits übernimmt die Kleidung bei Beuys auch eine ästhetische Funktion. Denn wie das Denken und Sprechen ist das Sich-Kleiden für Beuys eine Form von Kreativität, die jeder Mensch ausüben kann. 65 In diesem Zusammenhang formulierte er: „Ich selbst bin in diesem Moment das Kunstwerk. Ich deute nur eine Entwicklungsrichtung an, dass an dieser Realisation, die Welt zu einem Kunstwerk zu machen, potenziell jeder Mensch teilhaben kann." 66 Person und Werk sind bei Beuys eine Einheit. Dazu Uwe Schneede: Wer nur die Zeichnungen und nicht die Weltanschauung, nur das skulpturale Vermögen und nicht die Vision oder aber nur die vermittelnde Rede und nicht die künstlerische Radikalität will, vermag die Einzigartigkeit der Person und des Werks nicht zu fassen, weicht auch vor dem Gesamtentwurf aus. Denn Zeichnen, Formen, Sprechen, Handeln - Praxis und Theorie - bildeten bei Beuys eine untrennbare, charakteristische Einheit. Wie Werk und Person, Auftritt und Leben bei ihm eine Einheit waren. 6 7

Neben Beuys' Hang zur Selbstinszenierung sind zwei seiner zentralen Ideen hilfreich für die Erklärung der künstlerischen und sozialen Praxis in der Movida. Sie betreffen erstens den Begriff vom Künstler und zweitens die soziale Wirksamkeit von Kunst. Zu erstens: Wie die Futuristen und wie der FluxusKünstler Maciunas vertrat Beuys die Ansicht, Kreativität könne auf alle Lebensbereiche übertragen werden, und alle Menschen könnten an ihr teilhaben. „Jeder", so Beuys' ebenso berühmte wie umstrittene Aussage, „ist ein Künstler."

Schneede 1998, S. 622. Beim Denken und Sprechen wird etwas geformt, nämlich Gedanken und Luft. Deswegen sind beide Vorgänge für Beuys Plastik und zu betrachten wie Kunstwerke. Beuys: „Wenn ich spreche, dann kommen immer - das sehe ich direkt vor mir - Blasen heraus, jedenfalls Formen, Schallwellen usw."; vgl. Schneede 1998, S. 619. 64 65

66 Beuys, zitiert nach: Cecilia Liveriero Lavelli, „Hut", in: Harald Szeemann (Hrsg.), Beuysnobiscum, Dresden 1997, S. 190-195, S. 191. a Schneede 1998, S. 629.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

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Kunst galt ihm als Volksvermögen, nicht als elitäre Disziplin.68 Virtuosentum lehnte er ab. Dies wird deutlich z.B. in folgender Aktion, in der Beuys den Künstlerbegriff neu definiert: Er stellte zwei mechanische Spielzeugfiguren, die über ein aufziehbares Laufwerk verfügten, auf einen Flügel (der im übrigen geschlossen war), [...] und setzte sich feierlich ans Instrument. Beuys selbst tat nichts, außer darauf zu warten, dass der Federmechanismus der beiden Figuren - ein Trommler und ein Musikant, der ein Becken zusammenschlägt — abgespielt war. Die ganze Vorführung dauerte ungefähr zwanzig Sekunden. 6 9

Der Künstler hat die Autorität, zu Kunst zu erklären was er will und sei es noch so banal. Anstatt auf dem Flügel zu musizieren, benutzt er ihn als Unterlage fiir das Abspielen zweier Spielzeugfiguren — etwas, das jedes Kind kann. Zu zweitens, nämlich zur sozialen Wirksamkeit von Kunst, wie sie in Beuys' Konzepten Soziale Plastik bzw. Erweiterter Kunstbegriffenthalten ist: Für Beuys implizierte der Begriff Plastik sowohl das Formen von Materialien als auch das Formen von Ideen. Jeder formgebende Prozess, der von Chaos zu Struktur führt, war für Beuys eine Plastik, wobei die wichtigste Plastik die Entwicklung von Bewusstsein fiir die Schaffenskraft in der Gesellschaft ist. Dies ist die Soziale Plastik. Damit die Kunst ein nützliches Instrument im Prozess dieser Bewusstwerdung sein kann, muss sie die statischen Grenzen von traditioneller Malerei und Skulptur überwinden und jedem Menschen eine Form bieten, schöpferisch tätig zu werden. Die Kunst muss also eine Form annehmen, die offen für ständige Erneuerung ist und in der alle denkbaren Ausdrucksmöglichkeiten Raum haben. Dafür eignet sich am besten die Aktion.70 Dann kann die Kunst ihre Aufgabe erfüllen, nämlich die Gesellschaft zu verändern oder, wie Beuys sagte, „die Gesellschaftsordnung wie eine Plastik zu formen". 71 Beuys über seinen Erweiterten Kunstbegriff. Crow 1997, S. 135. Crow 1997, S. 136; für die Betrachtung der Movida nicht relevant ist das Künstlerverständnis, das aus anderen Aktionen spricht, z.B. aus Sibirische Symphonie 1. Satz, in der Beuys erstmals mit einem toten Hasen agiert. Hier tritt der Künstler als Träger heilender Kräfte und Bewahrer von Mythen auf. 68

69

Vgl. Berghaus 1995, S. 328. Beuys: „Die Gesellschaftsordnung wie eine Plastik zu formen, das ist meine und die Aufgabe der Kunst"; zitiert nach: Hiltrud Omzn, Joseph Beuys. Die Kunst auf dem Weg zum Leben, München 2 1998, S. 7. 70 71

Julia Nolte

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Es handelt sich einfach u m dieses für viele Leute immer noch schwer zu verstehende Prinzip, dass Kunst heute nicht mehr Kunst sein kann, wenn sie nicht in das Herz unserer vorgegebenen Kultur hineinreicht und dort transformierend wirkt..., d.h. eine Kunst, die nicht die Gesellschaft gestalten kann und dadurch natürlich auch in die Herzfragen dieser Gesellschaft, letztendlich in die Kapitalfrage hineinwirken kann, ist keine Kunst. D a s ist die Formel. 7 2

II.2 KONZEPTE DER INNOVATION UND DES PROTESTES

II.2.1 Künstlerische Innovation durch

Aktionskunst

Wie wir gesehen haben, bricht Aktionskunst mit den Konventionen der Kunst, indem sie die geltenden Begriffe von Gattung, Künstler und Werk in Frage stellt und teilweise außer Kraft setzt. Im Folgenden wird dargestellt, wie diese Begriffe durch die Aktionskunst erneuert werden, um daraus Analysekategorien für die Untersuchung der Movida zu gewinnen. II.2.1.1 Erneuerung des Gattungsbegriffe Der Begriff 'Gattung' kann im Hinblick auf die Kunst definiert werden als das „Kontinuum der künstlerischen Tradition, in der [ein Kunstwerk] steht". 73 Herkömmlicherweise wird unterschieden zwischen vier künstlerischen Traditionen: Literatur, Bildende Kunst, Darstellende Kunst und Musik. Mit der Entwicklung zusätzlicher Ausdrucksmittel kamen im 19. Jahrhundert Fotografie (als lange umstrittene Gattung) 7 4 und Film hinzu. Einer dieser Gattungen werden Kunstprodukte in der Regel zugeordnet. Die genannte Definition geht davon aus, dass ein Kunstwerk aus nur einer künstlerischen Tradition hervorgeht und zeugt damit von der „ziemlich altmodisch anmutende[n] Vorstellung strikter Grenzen zwischen den verschiedenen Disziplinen [...] (eine Thematik, mit der sich Gotthold Ephraim Lessing bereits im 18. Jahrhundert beschäftigt hatte)" 75 .

Beuys, zitiert nach: Schneede 1998, S. 624. Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 6, Stuttgart 2005, S. 528. 72 73

74 Vgl. Karlheinz Barck/Martin Fontius/Dieter Schlenstedt u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 3, Stuttgart 2001, S. 558. 75 Crow 1997, S. 109.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

37

Doch wie ist es einzuordnen, wenn sich jemand in der Rolle eines Transvestiten auf eine Bühne stellt und einen selbst komponierten Punksong darbietet, während hinter ihm ein Experimentalfilm über eine Leinwand flackert (wie es Pedro Almodóvar in den 70er Jahren in Madrid tut bei der Aufführung von Monja, jamón?. Ist dies Darstellende Kunst oder Musik oder Film? Seit Entstehen der europäischen Avantgarden im frühen 20. Jahrhundert werden Kunstprodukte erzeugt, die sich nicht eindeutig einer Gattung zuordnen lassen, weil sie Elemente verschiedener Kunstformen enthalten. Damals setzte mit den Futuristen, Dadaisten und Surrealisten die Überschreitung der Gattungsgrenzen ein, die seit den 1960er Jahren von Aktionskünsderlnnen weiter vorangetrieben wird. „Die zeitgenössische Kunst hat ihre traditionellen Grenzen überschritten", schrieb Allan Kaprow 1961.76 Die Innovation von Aktionskünstlern wie ihm liegt zum einen darin, mit einer interdisziplinären Kunstpraxis die Hierarchisierung der künsderischen Gattungen unter der Vorherrschaft der Malerei aufgehoben zu haben. Und zum anderen darin, bestehende Gattungen zu einer neuen, übergreifenden Gattung verschmolzen zu haben: zur Gattung Aktionskunst.77 Da keine allgemein gültigen Regeln flir die Kombination der Ausdrucksformen zu Aktionskunst existieren, entwickelt sich diese Kunstform in vielgestaltigen Ausprägungen. Die daraus resultierende Offenheit ist im Grunde eine Absage an den Begriff'Gattung', der ja ursprünglich ein Kontinuum bezeichnet. Bei Aktionskunst geht es im Gegensatz dazu um ständige Erneuerung, mit der verhindert werden soll, dass eine bestimmte Praxis zur künstlerischen Tradition wird. Aktionskunst definiert den Gattungsbegriff folglich neu: Gattung ist der Freiraum, der die gleichberechtigte und regellose Kombination künstlerischer Traditionen und Alltagspraktiken ermöglicht. II.2.1.2 Erneuerung des Begriffs vom Künstler Was ist ein Künstler?78 Nach herrschender Auffassung ist ein Künstler jemand, der ein außergewöhnliches kreatives Talent besitzt, es durch jahrelange Studien perfektioniert und dafür einsetzt, ein nie da gewesenes Werk zu schaffen. Die Einzigartigkeit seines Werkes unterscheidet den Künstler vom Inter-

76

Kaprow, zitiert nach: Schneede 2001, S. 210.

77

Vgl. Schneede 2001, S. 210; er gibt der neuen Gattung den Namen „Happening".

78

U m den Lesefluss zu erleichtern, wird bei der Untersuchung des Begrifft vom Künstler nur

die männliche Form verwendet.

Julia Nolte

38

preten (in der Musik) bzw. vom Nachahmer (in den anderen Künsten) sowie vom Handwerker. 79 Die Aktionskunst vertritt einen anderen Künstlerbegriff. Bei Aktionen liegt die Güte des Künstlers nicht in der Beherrschung von Techniken, sondern in seiner Fähigkeit, künstlerische Medien und Alltagsgegenstände auszuwählen, zu kombinieren und in Bewegung zu versetzen. „Keinerlei Fertigkeit oder zahllose Proben" (Maciunas) werden von ihm verlangt. Cage erwartete von seinen Schülerinnen sogar, dass sie alles bisher Gelernte vergäßen. Dick Higgins erinnert sich an eine seiner ersten Unterrichtsstunden bei dem Experimentalmusiker: 'Ist hier jemand, der niemals vorher irgendeine Musik komponiert hat?' Verschiedene Hände gingen hoch. 'Ist einer unter euch, der Musik nicht lesen kann?' AI Hansen erhob seine H a n d . 'Gut', sagte Cage zu Hansen, 'wenigstens d u musst nichts verlernen.' 80

Von daher geht die Erneuerung des Künstlerbegriffs durch die Aktionskunst mit einem bewussten Dilettantismus in der Kunstpraxis einher. Virtuosentum wird von Aktionskünstlerinnen abgelehnt. Sie propagieren stattdessen das kreative Potenzial eines jeden (Beuys: „Jeder ist ein Künstler"). Ein weiterer Unterschied zur herkömmlichen Auffassung besteht darin, dass das Künstler-Sein in der Aktionskunst nicht an die Schaffung eines greifbaren Werkes geknüpft ist. Hier heißt Künstler-Sein gestalten — was auch immer: Ein Künstler ist ein „selbstbestimmtes, schöpferisches Wesen, dessen Naturbestimmung die Gestaltung ist. Nichts wird von dieser Gestaltung ausgeklammert", schreibt Johannes Stüttgen 1988. 81 Wie schwer sich die Gesellschaft damit tut, jemanden, der kein Endprodukt abliefert, als echten Künstler anzuerkennen, belegt die Definition des Kunst-Brockhaus. Hier wird unterschieden zwischen Das war nicht immer so. Von den altorientalischen Hochkulturen bis ins Mittelalter hinein wurden Künstler als Handwerker angesehen (mit Ausnahme einiger Künstlerpersönlichkeiten, die heroisiert wurden). Eine höhere Wertschätzung erfuhren sie erst seit dem Auftreten von Signaturen im 11. Jahrhundert, die sie aus ihrer Anonymität herausführten. Zu ihrer steigenden Anerkennung trugen in der Renaissance die Gründung der ersten Akademien und das Entstehen von Künstlerbiografien bei, vgl. Der Kunst-Brockhaus. Erster BandA-K, Wiesbaden 1983, S. 663f. und Margot Wittkower/Rudolf Wittkower, Künstler - Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 2 1989, S. 13. 75

Higgins, zitiert nach: Schneede 1994, S. 10. Johannes Stüttgen, Zeitstau. Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys. Sieben Vorträge im Todesjahr von Joseph Beuys, Stuttgart 1988, S. 40f. 80 81

II. Kulturelle Praxis als Innovation

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dem „Künstler", der „Tätigkeiten ausübt" und dem „bildenden Künstler i.e.S.", der „ein Werk [...] schafft": Künstler, jeder Mensch, der bestimmte von der Gesellschaft als künstlerisch empfundene Tätigkeiten ausübt, i.e.S. der bildende K., der in einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit Vorstellungs- und Formkraft ein Werk mit ästhet. Anspruch schafft.82 Anders als ein „bildender Künstler" kann ein „Künstler" dem Brockhaus zufolge jeder Mensch sein, Vorstellungs- und Formkraft benötigt er dafür nicht und einem ästhetischen Anspruch muss er nicht genügen. D e m „Künstler" sind hier die negativ konnotierten Bedeutungsmerkmale Beliebigkeit, Willkür, Vergänglichkeit, Körperarbeit zugeordnet, 83 während der „bildende Künstler" mit positiven Semen versehen ist: mit Kopfarbeit und Intellekt, Qualität, Beständigkeit. 8 4 N o c h in der zweiten, völlig neu bearbeiteten Auflage des KunstBrockhaus von 2 0 0 1 ist das Künstlertum an das „Schaffen neuer Kunstwerke" geknüpft und es wird bemerkt: „Traditionell bezeichnet der Begriff im engeren Sinn meist nur den bildenden Künstler (Maler, Grafiker, Bildhauer), auch den darstellenden Künstler (Schauspieler, Regisseur). 85 Künstler sind rätselhaft: Nicht-Künstler verstehen oft nicht, woher sie ihre Inspiration nehmen, wovon sie leben oder was sie mit ihren Kunstwerken sagen wollen. Deswegen stehen Künstler oft am Rande der Gesellschaft. 86 Die Einzigartigkeit, die ihren Werken zugesprochen wird, verstärkt die Sonderstellung noch. Sie versieht die Künstler mit einem „Heiligenschein des Mystisch-Undurchdringlichen [...], der der Gesellschaft jedes Mitspracherecht an ihrer Existenz und ihrem Schaffen verweigert" 87 . Im KünstlerbegrifFder Aktionskunst hin-

82

Der Kunst-Brockhaus

1983, S. 663f.; in der aktualisierten Taschenbuchausgabe von 1987 ist

der Eintrag zu 'Künstler' identisch. 83

Enthalten in folgenden Wörtern: „jeder", „als künstlerisch empfunden", „Tätigkeit", „ausübt".

84

Enthalten in folgenden Wörtern: „Vorstellungskraft", „Werk", „mit ästhetischem An-

spruch". 85

Der Brockhaus Kunst. Künstler, Epochen, Sachbegriffe, Mannheim 2 2001, S. 630.

86

Die gesellschaftliche Absonderung der Künstlerinnen begann im 19. Jahrhundert als Folge

der in der Romantik geprägten Bewertung des Künstlertums als Boheme mit eigenen Spielregeln. Der Geniekult des späten 18. Jahrhunderts verstärkte diese Entwicklung noch, vgl. Der KunstBrockhaus

1983, S. 6 6 3 f.; zur Außenseiterrolle von Künstlerinnen vgl. Wittkower/Wittkower

1989. 87

Alphons Silbermann, „Vorwort zur zweiten deutschen Ausgabe", in: Margot Wittkower/Ru-

dolfWittkower, Künstler - Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 2 1989, S. 7-10, S. 7.

Julia Nolte

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gegen werden die Rezipientlnnen dazu aufgefordert, am Schaffensprozess mitzuwirken, also selbst Künstlerinnen zu sein. Sie tragen zur Einzigartigkeit des Werkes bei. Das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen aktivem Künstler und passivem Rezipienten wird aufgelöst. 88 Dies fuhrt dazu, dass der Künstler vom Sockel gehoben wird. Es gibt aber auch eine Parallele zwischen dem herkömmlichen Künstlerbegriff und dem, wie er in der Aktionskunst postuliert wird: Die Verhaltensweise des Künstlers ist für seine Identität als solcher entscheidend. Fluxus-Künstler z.B. definieren sich über eine „Art, Dinge zu tun" (Friedman) und heben sich dadurch ab von anderen Künstlern und Nicht-Künstlern. Dass ihr Verhalten und auch ihre Kleidung sie zu Außenseitern sogar innerhalb der eigenen Kunstrichtung machen kann, wird deutlich am Beispiel Joseph Beuys. Im öffentlichen Umgang mit ihm steigert sich die Beachtung zu einem Personenkult, wie er eher für Popstars als fiir bildende Künstler kennzeichnend ist.

Es ergibt sich als Künstlerbegriffder Aktionskunst: Ein Künstler ist jeder Mensch, der allein oder mit anderen kreativ ist, unabhängig von den Erwartungen der Gesellschaft, was seine Veranlagung betrifft, seine Ausbildung oder die Gestalt, die seine Kreativität annimmt. WAS er schafft, ist dabei nicht wichtiger als WIE er es schafft. II.2.1.3 Erneuerung des Werkbegrififs Das Wort „Kunstwerk" lässt sich erstmals in der frühen Neuzeit als Synonym für „Kunstarbeit" nachweisen. In der Aufklärung bedeutet es das künstliche Menschenwerk im Gegensatz zum Werk der Natur, bis es Ende des 18. Jahrhunderts seine definitive Bestimmung als Produkt der schönen Künste erhält, dessen Bestimmung es ist, Erfahrung darzustellen und zu vermitteln. 8 9 M i t „Werk" wurde und wird zuallererst Gegenständlichkeit verbunden. 90 Es wird erwartet, dass ein Kunstwerk einen materiellen Eigenwert besitzt: Je wertvoller das von der Künstlerin oder vom Künstler verwendete Material, desto wertvoller das Kunst-

88

Vgl. Kristine Stiles, „Unverfälschte Freude: Internationale Kunstaktionen", in: Schimmel,

Paul (Hrsg.),

Out of actions. Zwischen Performance und Objekt. 1949-1979, Wien 1 9 9 8 , S. 2 2 7 Cut Piece, bei dem die Künstlerin den passiven

329, S. 2 7 8 ; Stiles nennt als Beispiel Yoko Onos

Part übernimmt, während die Rezipientlnnen die aktive Rolle spielen, indem sie Stücke ihrer Kleidung abschneiden. 89

Vgl. Barck/Fontius/Schlenstedt u.a. (Hrsg.) 2 0 0 5 , S. 5 2 l f .

90

Vgl. Barck/Fontius/Schlenstedt u.a. (Hrsg.) 2 0 0 5 , S. 5 2 1 .

II. Kulturelle Praxis als Innovation

41

werk (Ein Gemälde auf Leinwand wird höher geschätzt als eines auf Karton, eine Bronzestatue höher als eine aus Gips). Außerdem ist die Konservierbarkeit im traditionellen Werkverständnis ein Merkmal von Kunstwerken, denn nur Dinge, die sich aufbewahren lassen, eignen sich zur Ausstellung, zur Wiederholung, zum Verkauf. Auch der SchafFensprozess ist entscheidend für die Anerkennung als Kunstwerk. Kunstwerke entstehen traditionellerweise fern der Öffentlichkeit und sind das Ergebnis eines nicht selten qualvollen Prozesses des Ringens um die einzig richtige Linie, das einzig treffende Wort, den perfekten Akkord oder Bildaufbau. Eine Abkehr von diesem traditionellen Werkbegriff vollzieht sich in den 1960er Jahren mit der Aktionskunst. „Der Fehler fängt schon an, wenn einer sich anschickt, Keilrahmen und Leinwand zu kaufen", formulierte Beuys die neue Uberzeugung. Kunst war nicht mehr gebunden an bestimmte Materialien, Bild- oder Tonträger. Plötzlich konnte alles zum Werk werden: [W]enn man Zahlen addierte (Hanne Darboven), ein Stück roher Leinwand an die Wand nagelte (Jannis Kounellis), den Galerieraum mit Erde auffüllte (Walter De Maria), gestreifte Tapeten klebte (Daniel Buren), eine präparierte Leinwand auf dem Dach eines Autos durch wechselnde Wetter fuhr (Yves Klein), [...] einen Fettkeil auf einen alten Küchenstuhl setzte (Beuys), [...] handelsübliche Neonröhren an der Wand anbrachte (Dan Flavin), [...], eine Menge alter Autoreifen in einen Innenhof warf (Kaprow) [...].91

Aktionskunst bezieht ihren Wert nicht aus dem Eigenwert der verwendeten Materialien; ein Werk ist nicht wertvoller, weil es aus einem besonders teuren Material hergestellt ist. Ein Eimer Wasser eignet sich ebenso gut als Werkstoff für eine Aktion wie die Socke eines Akteurs oder Straßenlärm, der durch ein geöffnetes Fenster dringt. Materielles und Nicht-Materielles wird gleichermaßen verwendet. Damit verliert der „überkommene Kanon der Materialien - Stein, Bronze, Holz" 9 2 seine Bedeutung. Der kreative Akt besteht nicht mehr in der Veränderung der Materialien, sondern in ihrer unerwarteten Kombination und darin, sie in einen Kontext zu setzen, in dem sie üblicherweise nicht erscheinen (Straßenlärm gehört für viele auf die Straße, nicht in den Konzertsaal). Aus dieser Umwertung, bei der etwas zuerst kaum Beachtetes und als profan Diskrimi-

91 92

Schneede 2001, S. 216. Schneede 2001, S. 222.

Julia Nolte

42

niertes in den Kontext der Kunst transferiert und dabei als interessant und ungewöhnlich erkannt wird, ergibt sich eine Innovation.93 Auch der Körper der Akteurinnen ist Bestandteil der Aktion und wird von manchen Künstlerinnen zum Kunstwerk erklärt. Von Bruce Nauman z.B., der das menschliche Spucken in einer Serie von Fotografien der Performance Selfportra.it as Fountain (1966) zur Skulptur stilisierte.94 Oder von Gilbert & George (Gilbert Proersch, geb. 1943, und George Passmore, geb. 1942), die sich zu Living Sculptures erklärten in der Uberzeugung, dass es keine Grenze zwischen Leben und Kunst gebe und dass jede ihrer Alltagshandlungen als Kunstwerk anzusehen sei.95 „Diese ganzen Aktionen", sagte Beuys, „waren ja wichtig, um den alten Kunstbegriff zu erweitern. So weit, so groß wie möglich zu machen, dass er jede menschliche Tätigkeit umgreifen kann."96 Die Verwendung der Worte „Tätigkeit" und „Handlung" sowie die Bezeichnung dieser Kunstform als ,Aktion" deuten daraufhin: Im Gegensatz zu einem Gemälde, Film, Musik- oder Theaterstück ist eine Aktion nicht das Endprodukt eines Schöpfungsprozesses. Das Werk ist der Schöpfungsprozess selbst — ein Vorgang, der nicht wie herkömmlich hinter den geschlossenen Türen eines Ateliers, Studierzimmers oder Filmstudios stattfindet, sondern an frei zugänglichen Orten wie alten Fabriketagen, Kellern, leer stehenden Geschäften oder auf der Straße. Das Werk entsteht im Zusammenspiel mit und als Reaktion auf Raum und Zeit, inklusive der Menschen und Gegenstände, die sich darin befinden. In der Aktionskunst wird das Kunstwerk folglich

93

Barck/Fontius/Schlenstedt u.a. (Hrsg.) 2001, S. 570: „Freilich wird, was aus der Trivialkul-

tur in den Kunstkontext gelangt, nicht 'an sich' aufgewertet, sondern allein das Kunstwerk, das das ehedem Triviale zum Sujet hat, findet die Anerkennung und wird in einen Kanon aufgenommen. Nach Duchamp sind Pissoirs oder Schneeschaufeln also immer noch keine Gegenstände der Hochkultur; doch ist ihm damit eine Provokation gelungen, sodass man seine Arbeit als stark innovativ und originell empfand und deshalb als Kunst würdigt." 94

Mit dieser Performance ehrte Nauman gleichzeitig den Erfinder des Ready-made,

weil er sei-

nen Körper mit dem legendären Urinal gleichsetzt, dem Duchamp 1917 den Titel Fountain

gege-

ben hatte. Außerdem machte sich Nauman in dieser Performance über die selbstherrlichen Performances z.B. von Yves Klein und Joseph Beuys in den frühen 1960er Jahren lustig, vgl. Crow 1997, S. 173f. 95

Vgl. Lucie-Smith 1999, S. 274.

96

Beuys, zitiert nach: Schneede 1994, S. 8; ein Beispiel aus Deutschland ist Gerhard Richters

berühmte Performance Leben mit Pop von 1963: Richter und Konrad Fischer (vorher Lueg) griffen Manzonis Idee des Magischen

Sockels auf und stellten sich und andere, ebenfalls zu Skulpturen er-

klärte Objekte auf einen Sockel, vgl. Crow 1997, S. 173f.

II. Kulturelle Praxis als Innovation

43

nicht als Objekt, sondern als Ereignis 97 oder Kette von Ereignissen definiert. Das Werk existiert nur solange das Ereignis bzw. die Ereignisfolge andauert, ist also nicht zu bewahren, nicht auszustellen und nicht zu handeln; es entzieht sich im Nachhinein authentischer Kritik. Damit scheren die Aktionen aus der Ausstellungspraxis aus: 98 Sie sprengen die traditionelle Beschränkung der Bildenden Kunst durch „white walls, the tasteful aluminium frames, the lovely lighting, fawn gray rugs, cocktails, polite conversation" 99 (Kaprow). Anstelle von Endprodukten hinterlassen Aktionen Relikte. Diese bestehen wie die Aktionen selbst aus Materiellem und Nicht-Materiellem: Verwendete Materialien und Objekte, Dokumente wie Fotos, Videoaufnahmen, Medienberichte und Äußerungen der Künstlerinnen zählen ebenso dazu wie Erinnerungen von Beteiligten an die Aktion 100 und Erfahrungen, die sie währenddessen gemacht haben. 101

Es ergibt sich als Werkbegriff der Aktionskunst: Ein Kunstwerk ist kein Objekt, sondern jede menschliche Handlung („Ereignis/Ereignisfolge"), die stattfindet im Zusammenspiel mit (Happening) und/oder als Reaktion auf (Performance) Raum und Zeit, inklusive der sich darin befindlichen Menschen und Gegenstände. Ziel des Kunstwerks ist es nicht, Erfahrung darzustellen, sondern Erfahrung zu ermöglichen. II.2.2 Soziale Innovation durch Aktionskunst Aktionskünstlerinnen erneuern nicht nur die künstlerische, sondern auch die soziale Praxis, und zwar indem sie (1) das Verhältnis von Künstler und Zuschauer erneuern, (2) mit gesellschaftlichen Konventionen brechen und alternative Verhaltensweisen aufzeigen sowie (3) Kunst und Leben zu einer Einheit verschmelzen.

Vgl. Ursprung 2003, S. 243. Vgl. Uwe M. Schneede, „Aktion", in: Harald Szeemann (Hrsg.), Beuysnobiscum, 1997, S. 23-31, S. 23f. 99 Kaprow, zitiert nach: Ursprung 2003, S. 107. 100 Vgl. Schneede 1997, S. 23f. 101 Vgl. Schröder 1990, S. 215. 97

98

Dresden

44

Julia Nolte

11.2.2.1 Erneuerung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer Die traditionelle Rolle des Zuschauers wird in der Aktionskunst revolutioniert. Passive Zuschauerinnen sind unerwünscht, stattdessen will Aktionskunst das Publikum aufrütteln, damit es mitdenkt, mitfühlt, reagiert und — im Falle des Happening - in das Geschehen eingreift. Die Veränderung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer spiegelt einen tief greifenden Strukturwandel in der Gesellschaft: weg von Bevormundung durch Eltern, Partnerinnen, Lehrerinnen, Vorgesetzte, Politikerinnen etc. hin zu Selbstbestimmung und Eigeninitiative. Möglicherweise fördert die neue Aufführungspraxis den gesellschaftlichen Strukturwandel aber auch, weil die Zuschauerinnen lernen, Schaffensprozesse aktiv zu begleiten und nicht nur Ergebnisse hinzunehmen. Somit können sie auch in der Gesellschaft anders agieren. Hierin liegt ein Teil der sozialen Innovationskraft der Aktionskunst. 11.2.2.2 Ablehnung des Bürgerlichen Aus den Aktionen spricht, wie aus jeder Avantgarde, die Ablehnung des Bürgerlichen. Wie die Beispiele in Kapitel II. 1 gezeigt haben, parodieren Aktionskünsderlnnen das sozial erwünschte Verhalten, z.B. bei Konzerten, beim Gebrauch von Musikinstrumenten oder im Restaurant. Sie behandeln Tabuthemen wie Religion und Sexualität auf schamlose Weise. Beim Austesten der körperlichen Grenzen schrecken die Wiener Aktionisten sogar vor Selbstverletzung nicht zurück. Aktionen bieten Künsderlnnen und Publikum den Raum für hemmungsloses Ausprobieren und damit eine Gelegenheit, nicht anständig, maßvoll und selbstbeherrscht zu sein, wie es die Gesellschaft von ihren Mitgliedern erwartet. Im Aktionsraum der Akteurinnen gelten die bürgerlichen Tugenden nicht als Verhaltensnormen. Wenn Fluxus-Künstlerlnnen in ihrer Experimentierfreude „das Ende aller Traditionen"102 (Beuys) verkünden, rütteln sie an einem weiteren Fundament des Bürgertums: Die Tradition entfällt als Ausgangspunkt und Maßstab für künstlerisches Schaffen ebenso wie als Rechtfertigung, bestimmte Verhaltensweisen beizubehalten.

102

Beuys, zitiert nach: G e o r g J a p p e , Beuys packen. Dokumente

1968-1996,

R e g e n s b u r g 1996,

S . 2 4 3 : „ D i e ganze Fluxus-Idee war ja das E n d e aller Traditionen. Also nicht mehr, dass eins a u f d e m andren a u f b a u t , Mozartelemente bei Beethoven usw., das m u s s aus der Z u k u n f t k o m m e n , so etwa nach der Idee: die W i r k u n g ist eher sichtbar als die Ursache."

45

II. Kulturelle Praxis als Innovation

Beuys ist der Aktionskünstler, der die Ablehnung des Bürgerlichen in besonderem Maße verkörpert: Er trägt täglich die gleiche Kleidung; er lehnt das Virtuosentum ab; er widersetzt sich der Numerus-Clausus-Regel der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf, indem er seine Bildhauerei-Klasse für alle Studentinnen öffnet und verliert daraufhin seine Professorenstelle. Mit ihrer offenkundigen Ablehnung des Bürgerlichen fordern die Aktionskünstlerinnen dazu heraus, Bestehendes zu hinterfragen. Gleichzeitig zeigen sie alternative Verhaltensweisen auf. Hierin liegt ein weiterer Teil ihrer sozialen Innovationskraft. II.2.2.3 Verschmelzung von Kunst und Leben Kunst wurde über Jahrhunderte hinweg in Abgrenzung zur Natur definiert: Etwas ist künsAich im Gegensatz zu natürlich. Das heißt, Kunst wird vom Menschen gemacht und ohne den Schritt der Bearbeitung durch eine Künstlerin oder einen Künstler kann nichts bereits Vorhandenes zu Kunst werden. Diese Trennung galt auch für Tätigkeiten: Es gab natürliche bzw. alltägliche Tätigkeiten und es gab künstlerische Tätigkeiten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verstoßen die Avantgardisten gegen diese Konvention, indem sie eine Identität von Kunst und Leben propagieren: „Art is a way of life" (Cage). Die Aktionskunst etabliert die Forderung nach einer Verschmelzung von Kunst und Leben als ihr zentrales Wesensmerkmal. Dies ist innovativ, nicht nur, weil die Verschmelzung einen Konventionsbruch darstellt, sondern auch, weil die Bedeutung von Werkstoffen und Künstlerinnen relativiert wird. Plötzlich ist der Klang einer Oboe nicht mehr wertvoller als das Knarren einer Tür. Ein Stück Marmor ist kein besserer Werkstoff als ein Eimer Wasser und ein Künstler mit Professorentitel nicht besser als jeder andere. Der deutsche Maler, Montagekünstler und Dadaist Kurt Schwitters (1887-1948) formuliert diese Überzeugung 1920 so: „Das Material ist so unwesentlich wie ich selbst. Wesentlich ist das Formen." 103 Eine Überzeugung, welche den Kunstbegriff für alles, jede und jeden öffnet. Innovationspotenzial liegt außerdem in der Forderung, dass die Kunst sich auf das Leben auswirken muss. Die Aktionskünstlerinnen stellen sich (wie die Avantgardisten) gegen die Vorstellung einer l'artpour l'art, derzufolge die Kunst Kurt Schwitters, „Merz", in: Kurt Schwitters, Das literarische Friedhelm Lach, Band 5, Köln 1981, S. 74-82, S. 76. 105

Werk. Herausgegeben

von

Julia Nolte

46

allein um ihrer selbst Willen existiert. Die Annahme, dass eine Kunst, die einen Zweck erfüllt, keine Kunst ist, wird von den Aktionskünstlerinnen umgekehrt: „Eine Kunst, die nicht die Gesellschaft gestalten kann, [...] ist keine Kunst" (Beuys).

I I . 3 AKTIONSKUNST ALS GESAMTKUNSTWERK? EINE DEFINITION

Für seine Definition von Aktionskunst hat der Aktionskünstler und -theoretiker Joseph Beuys einen im späten 19. Jahrhundert ausgebildeten Begriff verwendet: „Das Ganze ist ein Gesamtkunstwerk unter der Methode des Theaters [...]." 104 Einerseits besticht dieser Ansatz, weil sich damit die Möglichkeit eröffnet, mit nur einem Wort die immense Vielfalt der Aktionen unter einen Hut zu bringen. Aktionskunst gleich Gesamtkunstwerk. Andererseits ist es unbefriedigend, einen Begriff mit einem anderen zu definieren, der seinerseits nicht abschließend geklärt ist. Die Reibung von Aktionskunst' an 'Gesamtkunstwerk' ist jedoch nützlich, weil sie den Wesenskern dieser Kunstform zum Vorschein bringt und damit eine Definition ermöglicht. Dem Kunst-Brockhaus zufolge meint 'Gesamtkunstwerk' „die Vereinigung aller Künste (Dichtung, Musik, Bildende Kunst, Schauspielkunst, Tanz) in einem einheitl. Ganzen" 105 . Der Begriff geht auf Richard Wagner zurück, der darunter seine Musikdramen verstand. Mit der Zusammenführung der Künste wollte er einen gesellschaftlichen Transformationsprozess auslösen: Die Kombination sollte in Bereiche des „Noch-nicht-Gesehenen, Noch-nicht-Gehörten" vordringen und dadurch im Publikum zu einer Erfahrung werden und weiterwirken. Auf diese Weise sollte das Gesamtkunstwerk das verfestigte Gefuge der Gesellschaft aufweichen. 106 'Gesamtkunstwerk' bezeichnet also ursprünglich nicht nur die Integration der Gattungen, wie die Brockhaus-Definition suggeriert, sondern auch die Integration von Kunst und Leben, nämlich durch die Fähigkeit eines Kunstwerks, ins Leben hineinzuwirken.

104

Beuys, zitiert nach: Schneede 1997, S. 30.

105

Der Kunst-Brockhaus.

Aktualisierte

Taschenbuchausgabe

in 10 Bänden, Band 3, Mann-

heim/Wien/Zürich 1987, S. 334. 106

Wagner entwickelte den Begriff'Gesamtkunstwerk' in seinen Züricher Schriften (1849-

51), vgl. Barck/Fontius/Schlenstedt u.a. (Hrsg.) 2001, S. 731; vgl. auch Der Brockhaus Kunst. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart, Mannheim 2003, S. 120f.

Moderne

II. Kulturelle Praxis als Innovation

47

Auch Aktionskunst will Erfahrung ermöglichen und so die Gesellschaft verändern. Dabei zielt sie aber im Gegensatz zum Gesamtkunstwerk nicht auf die Vereinigung aller Künste, sondern auf die Vereinigung von Künsten einerseits sowie Objekten und Tätigkeiten des Alltags andererseits. Die Integration von Kunst und Leben steht bei der Aktionskunst im Vordergrund. Vielleicht liegt dies daran, dass immer neue Bereiche erschlossen werden müssen, um Nochnicht-Gesehenes und Noch-nicht-Gehörtes hervorzubringen und dadurch Reaktionen hervorzurufen. Das Ausdrucksrepertoire der Künste genügt dafür nicht mehr, weshalb das Leben herangezogen wird. Beuys hebt die „Methode des Theaters" zu Recht als Charakteristikum der Aktionskunst hervor, denn egal was sie vermittelt, sie tut es über das Prinzip der Handlung. Das Darstellende Spiel bzw. die Handlung ist fiir Aktionskunst das, was im Zusammenhang mit dem Gesamtkunstwerk „Ordnungsmacht" genannt wird. Ihr haben sich die einzelnen Komponenten unterzuordnen, damit ein einheitliches Ganzes entsteht. Die Ordnungsmacht ist in der Regel eine dominante Gattung. Bei der gotischen Kathedrale etwa - das Paradebeispiel für ein Gesamtkunstwerk, obwohl sich hier nicht alle Gattungen vereinigen - ordnen sich verschiedene Gattungen der Bildenden Kunst (Malerei, Ornament und Skulptur) der Architektur unter. Die Ordnungsmacht muss aber keine Gattung sein. Bei Kurt Schwitters etwa ist das verbindende Element ein gemeinsamer Aktionsraum: Die sogenannte Merzbühne ist die Klammer, die alle Kunstformen und alle denkbaren Materialien zur künstlerischen Einheit, zum von Schwitters angestrebten „Merzgesamtkunstwerk" zusammenfasst: Die Merzbühne kennt nur die Verschmelzung aller Faktoren zum Gesamtwerk. Materialien für das Bühnenbild sind sämdich feste, flüssige und luftförmige Körper, wie weiße Wand, Mensch, Drahtverhau, Wasserstrahl, blaue Ferne, Lichtkegel. [...] Materialien für die Partitur sind sämtliche Töne und Geräusche, die durch Violine, Trommel und Posaune, Nähmaschine, Ticktackuhr, Wasserstrahl usw. gebildet werden können. 107

Auch mehrere Ordnungsmächte sind denkbar: In der dadaistischen Konzeption des Gesamtkunstwerks 'Cabaret Voltaire' bieten ein gemeinsamer Veranstaltungsort und ein vorgegebenes Motto Zusammenhalt. 1 0 8

107

Schwitters, zitiert nach: Barck/Fontius/Schlenstedt u.a. (Hrsg.) 2001, S. 779f.

108

Almhofer 1986, S. 26: „Das allabendlich wechselnde Programm des Cabaret Voltaire [...] prä-

sentierte sich als eine lose Reihung einzelner Nummern - Lesungen, Gesang- und Tanzdarbietungen,

Julia Nolte

48

Zu Beginn dieses Unterkapitels hieß es, dass der Begriff 'Gesamtkunstwerk' nicht abschließend geklärt sei. Obwohl darunter im Allgemeinen die Integration mehrerer (wenn nicht aller) Gattungen der Kunst verstanden wird, 109 besteht keine Einigkeit über die Verwendung des Begriffs. Er sei „zu einer leeren Worthülse verkommen, scheinbar immer dort am Platze, wo man eine künstlerische Ensemblewirkung charakterisieren will", wird im Brockhaus Moderne Kunst kritisiert.110 Die nicht namentlich genannte Verfasserin/der Verfasser dieser Kritik bestreitet, dass z.B. die Selbstinszenierung eines Künstlers wie Pablo Picasso ein Gesamtkunstwerk sei, auch wenn sie in der Kunstliteratur so bezeichnet würde. Dies verkennt meiner Meinung nach, dass sich hier tatsächlich mehrere (wenn auch nicht alle) Kunstgattungen verbinden: Der Künstler verwendet für seine Selbstinszenierung Fotos, Videoaufnahmen, Selbstporträts, sprachliche Äußerungen, den Klang seiner Stimme etc., vereint durch das gemeinsame Thema der eigenen Person. Es ist also sogar die für das Gesamtkunstwerk charakteristische Ordnungsmacht vorhanden. Ich vermute, dass die Begriffsverwirrung daher rührt, dass 'Gesamtkunstwerk' in der Vorstellung vieler immer noch an ein greifbares oder zumindest wiederholungsfähiges Werk gebunden ist. Dies zeigt ja auch die Aufzählung der Künste, aus denen sich dem Brockhaus von 1987 zufolge ein Gesamtkunstwerk zusammensetzen kann: Dichtung, Musik, Bildende Kunst, Schauspielkunst, Tanz. Ich schlage daher vor, Aktionskunst in Anlehnung an Beuys zu definieren, ohne aber den Begriff'Gesamtkunstwerk' zu verwenden: Aktionskunst ist die Vereinigung von Künsten und Leben in Form von Handlungen mit dem Ziel, Erfahrung zu ermöglichen (nicht abzubilden) und dadurch die Gesellschaft zu verändern. Diese Definition erscheint mir treffend, weil sie die Aktionskunst als Kunstform konstituiert, die (1) Grenzen überschreitet, sowohl zwischen den Gattungen als auch zwischen Kunst und Leben, sie also als interdisziplinäre Kunstform sieht; (2) nicht objektgebunden ist, sondern aus Handlungen bzw. Ereignissen besteht; (3) die Zuschauerinnen einbezieht und dadurch zu Mit-Akteurlnnen macht; (4) sich vom Abbildcharakter distanziert; (5) sich zu einem Zweck bekennt und nicht nur um ihrer selbst willen existieren will. Diese Eigenschaften können ergänzend zur Definition als Merkmale von Aktionskunst gelten. Vorträge, Ausstellungen - , die jeweils zu einem dem gesamten Abend übergeordneten Motto Stellung nahmen. Die verschiedenen Künstler(innen) trugen ihre Werke selbst vor und improvisierten gewisse Passagen [...]." 109

Vgl. Schneede 1997, S. 29f.

110

Der Brockhaus Moderne Kunst, S. 120f.

III Die Movida Madrileña

Was ist die Movida? Oder was war die Movida? Es besteht weder Einigkeit über das Wesen der Movida noch über die Dauer ihrer Existenz. Daher ist es sinnvoll, bei der Annäherung an dieses Phänomen zunächst von der Wortbedeutung auszugehen (III. 1), um dann seine Hauptmerkmale herauszuarbeiten (III.2). III.3 schildert die Entwicklungsphasen mit ihren unterschiedlichen Maximen und Impulsgeberinnen, welche die Movida aus dem Untergrund an die Öffentlichkeit und teilweise zurück in den Untergrund beförderten. Ziel ist es, zu einer Definition der Movida zu gelangen (III.4).

I I I . 1 BEGRIFFSKLÄRUNG

„Movida" heißt nicht Bewegung. Bewegung heißt auf Spanisch „movimiento". „Movida" ist ursprünglich die weibliche Partizipform von „mover" (bewegen) und bedeutet verwackelt (Foto), schnell (Musik) und bewegt/lebhaft. Aus dem spanisch-deutschen Wörterbuch von 2003 geht außerdem hervor, dass „movida" umgangssprachlich für „el ambiente" (die Szene) verwendet wird oder im Ausruf „¡Qué movida!", um zu sagen: „Was für ein Durcheinander!" und „Was für eine Bombenstimmung!" 1 Bis heute heißt „ausgehen" in Spanien „ir de movida". Sowohl das Adjektiv als auch die Verwendungskontexte des Substantivs enthalten eine dynamische Komponente, die darauf hinweist, dass es in der Movida um das Sich-Bewegen, Aktivsein, Für-Wirbel-Sorgen geht.2 Dies bestä-

1

Vgl. Pons Großwörterbuch für Experten und Universität. Spanisch-Deutsch.

Deutsch-Spanisch,

Stuttgart 2003, S. 558. 2

Vgl. Fouce 2002, S. 22. Man könnte „Movida Madrileña" daher mit „Madrider Wirbel"

übersetzen. Hooper 1995, S. 344 hat sich für „the Madrid scene" als englische Übersetzung entschieden, wobei hier die dynamische Bedeutungskomponente verloren geht.

Julia Nolte

50

tigt Paloma Chamorro, Direktorin u.a. der Fernsehsendung La Edad de Oro (Televisión Española ( T V E ) ) , wenn sie sagt: „La Movida eran unas ganas enormes de echar a andar. [...] M a d r i d irradia o irradiaba unas extrañas energías." 3 D i e substantivische Verwendung des Wortes „ m o v i d a " im Z u s a m m e n h a n g mit Tätigkeiten, die Vergnügen bereiten, wurde mit großer zeitlicher Verzögerung 2 0 0 1 von der Real Academia Española in ihrem Diccionario

de la Lengua

Española für offiziell erklärt: Hier wird als umgangssprachliche B e d e u t u n g für „ m o v i d a " erstmals „Juerga, diversión" (Gaudi; Spaß, Unterhaltung) aufgeführt. 4 In den zwei vorhergehenden Ausgaben, 1 9 8 4 u n d 1 9 9 2 , ist diese B e d e u t u n g noch nicht enthalten. 5 D a s heißt, die Movida schuf sich ihre Bezeichnung selbst und betonte dabei das Vergnügen als ihr zentrales Merkmal (Vgl. III.2.3). Heute ist „ m o v i d a " nicht nur positiv belegt, sondern es wird auch mit Krawall, Aufruhr, Tumult, L ä r m und generell mit problematischen Situationen in Verbindung gebracht: Im Diccionario

de la Lengua Española der Real Academia

von 2 0 0 1 erscheinen als weitere Bedeutungen von „ m o v i d a " erstmals „Asunto o situación, generalmente p r o b l e m á t i c o s " sowie „ c o l o q . A l b o r o t o , j a l e o " . D i e s m a g auf die negativen Effekte eines ausufernden Nachtlebens zurückzufuhren sein. Auch im Sprachgebrauch des Untergrunds ist „ m o v i d a " konfliktbehaftet: D a s Wort wird ursprünglich als Bezeichnung für Drogenbeschaffung u n d Drogenkonsum verwendet. A n a Curra, als Pianistin der Bands Pegamoides, Parálisis Permanente u n d Seres Vacíos eine zentrale Akteurin der M o v i d a , bestätigt dies, wenn sie berichtet: Para mí la movida era una expresión. Para mí originariamente decir 'movida' era 'Vamos a hacernos una movida', sobre todo 'Vamos a coger algo de droga, 'Vamos a pillar'. Una movida era hacernos algo o incluso 'Vamos a hacernos algo divertido'.6 In den Aussagen von Beobachterinnen und Akteurinnen der M o v i d a dominieren zwei Versionen v o m Auftauchen des Begriffs in der Öffentlichkeit. Version A: J o s é M a n u e l C o s t a , M o d e r a t o r des staatlichen Fernsehsenders T V E

Chamorro, zitiert nach: José María Plaza, Corazón Agatha, Barcelona: Plaza&Janés, 2000, S. 42. Diccionario de la Lengua Española, Band 2, Madrid: Real Academia Española, 22 2001, S. 1546. 5 Vgl. Diccionario de la Lengua Española, Band 2, Madrid: Real Academia Española, 201984, S. 933 und Diccionario de la Lengua Española, Madrid: Real Academia Española, 211992, S. 997; s. auch V. 1.2. 6 Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 2. 3

4

III. Die Movida Madrileña

51

sprach als erster öffentlich von einer „movida madrileña", und zwar in der zweiten Hälfte des Jahres 1980 in seiner in Barcelona produzierten Sendung Musical Express.7 Auch die Madrider Galeristin Marta Moriarty ist der Meinung, dass „movida" als Bezeichnung eines Madrider Phänomens, ja sogar „Definition für Madrid" seinen Ursprung in Barcelona hat: „La palabra movida, como [...] fenómeno, como definición de Madrid, aparece en Barcelona. En Madrid utilizábamos mucho, coloquialmente, la expresión qué movida. Los de Barcelona, horrorizados, nos llamaban los de la movida." Was hier anklingt, nämlich die negative Konnotation des Begriffs, wird von Agustín Tena, Journalist und Schriftsteller, offen ausgesprochen: „La movida fes una] denominación que no me complace porque fue lanzada por un periodista barcelonés con ánimo peyorativo [...]." 8 Der Begriff 'Movida Madrileña' steht dieser Version zufolge in der Tradition der Konkurrenz zwischen der Hauptstadt des franquistischen Zentralstaats und der Hauptstadt Kataloniens. Bernard Bessière sieht die Movida denn auch als Revanche Madrids an Barcelona: Il faut aussi envisager l'essor de la Movida madrileña comme une revanche prise sur Barcelone, la grande et belle rivale catalane. Tout au long de son histoire, Madrid avait acquis une réputation d'obsolescence et de conservatisme culturel face à Barcelone, ville de toutes les innovations. Curieusement, la tendance s'est récemment inversée: lorsque les années quatre-vingt s'achèvent, après le renforcement du statut d'autonomie de la Catalogne, Barcelone, qui aura eu le tort de s'isoler du reste de la culture espagnole, et, ce faisant, de s'être partiellement appauvrie, a une image inédite où un nationalisme exclusif voire discriminatoire contredit la tradition d'extrême tolérance que la ville avait perpétuée. À l'inverse, l'image de Madrid se modifie considérablement car, sans renoncer à son propre fonds culturel, la ville s'est ouverte en grand aux courants les plus novateurs et les plus divers, qu'ils viennent des périphéries du pays ou de l'étranger.9 Version B lautet: Der Begriff wurde schon früher in Madrid geprägt, nämlich seit Mitte der 70er Jahre durch den Musikkritiker und Radiomoderator Jesús Ordovás als Bezeichnung für „kulturelle Randereignisse", und wurde seit den

7

Vgl. Ausschnitt aus einem Interview mit Alaska y los Pegamoides in der Zeitschrift Dezine,

Nr. 5, Oktober 1980, abgedruckt in: José Luis Gallero, Sólo se vive una vez. Esplendor y ruina de la movida madrileña, Madrid: Árdora, 1991, S. 56. 8

Tena, zitiert nach: Gallero 1991, S. 286.

9

Bessiére 1996, S. 295.

52

Julia Nolte

80er Jahren u.a. durch den Schriftsteller Francisco Umbral auf Mainstream-Ereignisse erweitert.10 Hierzu nimmt Ordovás wie folgt Stellung: [A] mediados de los años 70, firmaba una columna en el semanario Disco Exprés en la que hablaba de 'movidas' para referirme a conciertos, actuaciones, fiestas, exposiciones fotográficas, festivales y todo tipo de acontecimientos marginales organizados por gente del pop y del rock... Conforme ese tipo de movidas -término que recogí del ambiente- fueron haciéndose oficiales, hasta el punto de ser patrocinadas por los Ayuntamientos, alguien, que presumo debió de ser Francisco Umbral, lo llamó La Movida. A partir de ese momento el término pasó a provincias y todo lo que ocurría en Madrid que tuviera que ver con el mundo del pop y el rock era parte de La Movida..." Unabhängig davon, ob der Begriff in Barcelona oder Madrid geprägt wurde, stimmen beide Versionen darin überein, dass der Begriff 'Movida' aus der Nacht- und Künstlerszene stammt und von Journalistinnen aufgegriffen wurde als Bezeichnung für die sozio-kulturellen Ereignisse im Madrid der späten 70er und frühen 80er Jahre. Hier wird bereits die tragende Bedeutung der Medien für den Verlauf der Movida deutlich (Vgl. III.3.2). In beiden Versionen wird betont, dass der Begriff im Zusammenhang mit der Stadt Madrid entsteht. Um den Ursprungsort hervorzuheben und die Madrider Movida von denen in anderen spanischen Großstädten abzugrenzen, wird häufig der Zusatz „Madrileña" gebraucht. 12 Abschließend eine kritische Betrachtung des Begriffs: Wie bei der Eroberung eines Kontinents oder beim Kauf eines Haustiers ist auch im Falle der Movida die Namensgebung der Moment, in dem äußere Kräfte einen Besitzanspruch durchsetzen. Hier sind es die Medien, die Politik und die Kulturindustrie, welche die Movida für ihre Zwecke vereinnahmen. Fouce vergleicht die Schaffung des Begriffs 'Movida' mit einer Etikettierung, bei der die

10

Zur Beziehung zwischen Umbral und der Movida s. Julia Nolte, „Francisco Umbral - ob-

servador de la Movida", Vortrag beim ColU/que International

Francisco

Umbral.

Un écrivain

face a

son temps in Pau/Frankreich, 19.10.2007. 11

Ordovás, zitiert nach: Gallero 1991, S. 280f.; Fouce 2002, S. 22 schreibt davon abwei-

chend, Gonzalo Garrido von Onda Dos sei verantwortlich fur die Verbreitung des Begriffs, auch er ein Journalist. 12

Diese Studie betrachtet die Madrider Movida - als das Ursprungsphänomen - und verwen-

det „Movida" und „Movida Madrileña" synonym.

III. Die Movida Madrileña

53

vielfältigen Aktivitäten des Moments in ein Wort gepresst werden, das den Einzelprodukten aufgeklebt wird, um sie vermarktungsfähig zu machen. 13 Tatsächlich ist „Movida" nicht nur die Bezeichnung für eine sozio-kulturelle Praxis, sondern (immer noch) ein wirkungsvoller Markenname, wie eine Fülle von Produkten belegt, die mit dem Aufdruck „Movida" Nostalgie verkaufen. Auffällig ist, dass alle diese CDs, DVDs, Chroniken und Memoiren eine bestimmte Ästhetik imitieren: Collagen von Schwarz-Weiß-Fotos, die Verwendung der Farben Pink, Gelb, Hellgrün und Hellblau für die grafische Gestaltung und der Gebrauch unterschiedlicher Schrifttypen in einem Dokument bewirken eine Mischung aus fanzine-Ast\itx\V. und Pop Art. Auf den Hüllen werden immer die gleichen Gesichter gezeigt, u.a. von Alaska, Almodövar und von den Mitgliedern der Bands Nacha Pop und Radio Futura. 14 Beides ist und wird weiterhin in den Köpfen der Konsumentinnen mit den 80er Jahren und insbesondere mit der Movida verknüpft. Vor diesem Hintergrund ist wohl Iker Seisdedos' Fluch zu verstehen, wenn er „Movida" ein „verdammtes Wort" nennt, „das seine Protagonisten irritiert und allen anderen Sterblichen einen Dienst erweist".15 In der Tat irritiert das Wort „Movida" die Protagonistinnen. Es wurde bereits Agustin Tena zitiert mit den Worten: „Die Bezeichnung movida gefällt mir nicht". Damit ist er nicht allein. Die Movida-Akteurlnnen benutzen das Wort zwar, lehnen es aber als Bezeichnung ihres Tuns ab, weil sie darin eine Bevor-

13

Vgl. Fouce 2002, S. 21.

14

Siehe z.B. La Movida de los 80, colección archivos de rtve, Madrid: EMI Music Spain, 2005,

eine D V D mit Musikvideos, Playback-Auftritten und Interviewausschnitten von 17 Bands aus dem Umkreis der Movida aus dem Archiv des staadichen Fernseh-/Radiosenders rtve. Ein Drittel der Aufnahmen stammt allerdings aus den Jahren nach 1985; 20 años de Movida, Madrid: EMI-Odeon, 2003, eine C D mit 19 Liedern (darunter unverständlicherweise auch Entre dos tierras der movidafremden Gruppe Héroes del Silencio von 1990) mit Texten von Jesús Ordovás; La edad de oro del pop

español, Madrid: D R O East West/BMG Music Spain 2001/2002. Track 01 der ersten C D dieser Serie besteht aus den Liedern Rosario und Toca el pito von Kaka de Luxe. Aus dieser Tatsache scheint die Überzeugung zu sprechen, dass das Goldene Zeitalter der spanischen Popmusik mit Kaka de Luxe begann. Siehe auch die Ästhetik der Titelblätter folgender Bücher: José Manuel Lechado, La Movida.

Una crónica de los 80, Madrid: Algaba, 2005; Gallero 1991; Juan Carlos de Laiglesia, Ángeles de neón. Fin de Siglo en Madrid (1981-2001),

Madrid: Espasa Calpe, 2003; Rafael Cervera, Alaska y otras histo-

rias de la movida, Barcelona: Plaza&Janés, 3 2002. 15

Auch ihm, nebenbei bemerkt, denn es beschert Seisdedos im Mai 2005 die Titelgeschichte

in der Wochenendbeilage von ElPais: Iker Seisdedos, „Lo que hicimos con la movida", in: El País

Semanal, Nr. 1492, 1.5.2005, S. 49-61, S. 53: „[L]a dichosa palabra, que irrita a parte de sus protagonistas y hace un servicio al resto de los mortales [...]."

54

Julia Nolte

mundung sehen. Pedro Almodóvar etwa: „Con la palabra 'movida' no sé bien a qué se refieren. Es un término que nosotros nunca aceptamos. Es difícil hablar de ello, porque nunca nos hemos reconocido en su definición. Lo de la 'movida' es una creación de los medios de información." 16 Die Ablehnung resultiert auch aus der Erfahrung, dass die Magie der Movida endete als sie beim Namen genannt wurde. Diesen Gedanken legt Ana Curra nahe: No sé lo que es realmente [la movida], por qué la gente le puso ese nombre, sobre todo los socialistas luego en el poder. Lo utilizaron un poco porque empezó a triunfar como acontecimiento, como hecho sociocultural, entonces para venderla hacia fuera. Pero en el momento en que fue empezar a utilizarlo para mí desapareció. A partir del año 83 para mí empezó a caerse la movida en lo que fue lo genial de la movida, que fue aquella corriente eléctrica que circulaba por la calle que nos conectaba y que era totalmente creativa.17 Die Movida als elektrischer Strom, der durch die Straßen Madrids und die Adern ihrer Bewohnerinnen zuckt und die Kreativität zum Glühen bringt — mit diesem Bild schließe ich das Unterkapitel ab und wende mich der Frage zu, was sich hinter dem Begriff verbirgt.

I I I . 2 MERKMALE DER MOVIDA MADRILEÑA

Die Movida zeichnet sich durch sieben Merkmale aus: (1) Sie geht von jungen Leuten aus, (2) fremde Einflüsse werden integriert, (3) ihre Akteurinnen wollen Spaß haben, (4) sie ist antipolitisch, aber nicht apolitisch, (5) ihre Akteurinnen stellen einen bewussten Dilettantismus zur Schau, (6) sie ist interdisziplinär sowie (7) grenzverletzend und grenzüberschreitend. Diese Merkmale werden im Folgenden skizziert, um in den Hauptteilen IV und V auf diejenigen von ihnen zurückzukommen, die von besonderer Bedeutung für die soziale und künstlerische Praxis der Movida sind.

16

Almodóvar, zitiert nach: Vidal 1989, S. 39.

17

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 2.

III. Die Movida Madrileña

55

III.2.1 Ausgangspunkt Jugend Nicht ganz Madrid beteiligt sich an der Movida. Die künstlerische Aktivität und die neuen Verhaltensweisen gehen aus von einer Gruppe von 150 bis 200 Leuten (die Aussagen der Beteiligten weichen voneinander ab, aber mehr als 200 werden nie genannt). „Éramos cuatro gatos, jóvenes y alocados, aunque había mucha gente alrededor. Pero, en el fondo, éramos doscientas personas metiendo barullo. El resto seguía con sus bancos, sus oficinas, su universidad sin enterarse...", erinnert sich Marta Moriarty.18 Zu diesen „Jungen und Verrückten" gehören Menschen im Alter zwischen 14 und Anfang 30: Schülerinnen, Studentinnen und Künstlerinnen, die zu Beginn der Movida nicht von ihrer Kunst leben können. Eine Sonderstellung innerhalb der Movida nehmen einige Journalistinnen und Galeristinnen ein, weil sie die Movida zu ihrem Beruf machen und trotzdem im Kreis der Movida-Akteurlnnen akzeptiert sind (z.B. die Fernsehjournalistin Paloma Chamorro, der Radiomoderator Jesús Ordovás sowie die Galeristinnen Fernando Vijande und Marta Moriarty). Simon Frith vertritt 1978 die Meinung, „youth is ended by marriage and a steady job, by 'settlingdown, whether thisoccursat 18 or 30." 1 9 In diesem Sinne sind praktisch alle Mitglieder der Ausgangsgruppe der Movida jung — unabhängig von ihrem tatsächlichen Alter. Denn einen langfristigen Arbeitsplatz und eine feste Beziehung haben die wenigsten von ihnen. Eine Ausnahme ist die aus Argentinien stammende Sängerin Rubi von Rubi y los Casinos, die 1977, zu Beginn der Movida, verheiratet ist und eine dreijährige Tochter hat. 20 Ihren größten Hit landet sie allerdings mit einem Lied, in dem sie singt, ihr Freund sei Beatmusiker: „Yo tenía un novio que tocaba en un conjunto beat." Man kann aber nicht nur sagen, wann die Jugend endet, sondern auch, wann sie stattfindet. Jugend ist eine Phase des Ausprobierens. Man befindet sich in einem Raum zwischen der mehr oder weniger behüteten Kindheit und dem Erwachsenendasein. In diesem Raum kann man experimentieren mit dem eigenen Aussehen, den eigenen Fähigkeiten, mit Sinneseindrücken etc. Die Movida bietet Gelegenheit zu derartigen Experimenten, sie ist also eine Phase des Jungseins, der Pubertät. Diejenigen, die sich daran beteiligen, leben ihre Jugend aus oder - im Falle der Älteren - holen nach, was im Franquismus nicht möglich war. 18

Moriarty, zitiert nach: Plaza 2000, S. 45.

,s

Simon Frith, The sociology of rock, London 1978, S. 25.

20

Vgl. Seisdedos 2005, S. 58: „Rubi llegó de Argentina en 1976, huyendo de la dictadura de

Videla, con su marido, el difunto Joe Borsani, y su hija de dos años, Juana."

56

Julia Nolte

III.2.2 Offenheit gegenüber fremden Einflüssen Die Movida geht nicht nur von Menschen aus, die im besprochenen Sinne jung sind. Ein weiteres Merkmal dieser Menschen ist, dass sie nicht aus Madrid stammen müssen. Die bekanntesten Akteurinnen der Movida kommen von außerhalb: Alaska, geboren 1963 in Mexiko, zieht 1973 nach Madrid, als ihre Familie aus dem Exil zurückkehrt, vier Jahre später ist sie hier Mitbegründerin von Kaka de Luxe; Pedro Almodóvar kommt aus der Extremadura in die Großstadt, wo er sich u.a. als Sänger von Almodóvar&McNamara und Filmregisseur einen Namen macht. Das Künstlerpaar Juan und Enrique Costus zieht 1975 aus Cádiz nach Madrid. Die Stadt zeigt eine auffallende Offenheit gegenüber fremden Einflüssen. Jesús Ordovás beschreibt das Ambiente, das Ende der 70er Jahre in Madrid herrscht: El ambiente es propicio para todo tipo de propuestas y aventuras. Madrid demuestra que es una ciudad abierta que recibe a los extraños con naturalidad y curiosidad, dejando hacer e interesándose más por lo que uno hace que por las razones o sinrazones que le impulsan a despuntar.21 Es gibt aber auch heftige Kritiker der Madrider Offenheit, wie Javier Marias, der anprangert, dass sich die gebürtigen Madrider von den „hartnäckigen, ehrgeizigen, durchtriebenen Fremden" die Zügel aus der Hand nehmen lassen. Dabei scheint die Enttäuschung durch, in der eigenen Stadt als Schriftsteller nicht genügend Wertschätzung zu erfahren: Pero la mayor tontería consiste, sin duda, en esa extraordinaria pasividad, nunca vista en ningún otro sitio, con que [...] se le permite [a los forasteros tenaces, ambiciosos y arteros] [...] ascender indefinidamente y hacerse el dueño de la noche, de los periódicos, de la movida, de la televisión, de los negocios, de la alcaldía, de la radio, del cine, de la música y de cuantas cosas y actividades se ofrecen y desarrollan en la ciudad. [...] Madrid no está orgulloso de lo que produce, quizá porque produce mu21

Jesús Ordovás, „Madrid Pop", in: Lolo Rico (Hrsg.), Madrid Hoy, Madrid: Comunidad de

Madrid, 1987, S. 258-261, S. 259. Ordovás weist in seiner Historia de la música pop española, Madrid: Alianza, 1987, S. 193 daraufhin, dass der Prozess der Öffnung nicht erst in der Movida einsetzt, sondern bereits in den 1950er Jahren: „Sucesivas y complementarias invasiones de andaluces, gallegos, castellanos, aragoneses, mejicanos y cubanos en los años cincuenta y sesenta habían ido cambiando Madrid, dándole un aire cosmopolita, una aureola de ciudad mundana y abierta a todo tipo de influencias."

III. Die Movida Madrileña

57

cho y patrocina más, pero lo cierto es que a nadie le importa en esta ciudad de dónde venga nadie.22 In der Tat kommt es in der Movida nicht darauf an, wo jemand herkommt und auch nicht, wie Ordovás schreibt, aus welchem Grund sie oder er etwas tut. Was zählt, ist, dass etwas geschieht. Eine Bevorzugung einzelner, wie Marias sie implizit fordert, widerspricht dem integrativen Wesen der Movida. Zum ersten Mal seit 40 Jahren hat in Madrid nicht mehr nur die Zentralgewalt das Sagen; jeder darf mitreden. Madrid übt sich in Demokratie. Wie die Jugend zwischen Kindheit und Erwachsensein ist die Movida die Phase des Experimentierens und der Selbstfindung zwischen Franco-Diktatur und parlamentarischer Monarchie.

III.2.3 Spaß haben ,,[L]as cosas se hacían porque era divertido hacerlas," 23 sagt Pedro Almodóvar über die Handlungsmotivation von Movida-Akteurlnnen. Man tut etwas, weil es Spaß macht und nicht etwa, weil es vernünftig ist oder Geld einbringt. Aber was macht Spaß? Selbstverständlich bringt jedem etwas anderes Spaß, und auch die Movida-Akteurlnnen werden sich nicht auf identische Weise amüsiert haben. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass wie in jeder Jugendkultur die Suche nach Spaß auch im Kern der Movida liegt. Als rebellisches Element, als Teil eines Gegenentwurfs zum Leben der Erwachsenen, weil Spaß etwas ist, was sich Erwachsene aus Pflicht-, Verantwortungs- und Risikobewusstsein oft versagen. „The essence of rock [...] is fun", schreibt Simon Frith und kritisiert die Tendenz unter Soziologinnen, Spaß als etwas Irrelevantes bei der Betrachtung von Popkultur abzutun. 24 Im Umgang mit der Movida wird Spaß fast nie wertfrei als Kennzeichen oder positiv als Qualität, sondern

22

Und weiter: „Por centrarse en el medio que más conozco, el literario, de los numerosísimos

escritores que en la actualidad figuran, suenan, venden o son elogiados (la mayoría de ellos residentes en Madrid), sólo se me ocurren cuatro que en verdad sean madrileños: Juan Benet, Juan García Hortelano, Rosa Montero y Luis Antonio de Villena." Javier Marías, „El aborigen", in: Lolo Rico (Hrsg.), Madrid Hoy, Madrid: Comunidad de Madrid, 1987, S. 212-215, S. 213f.; Marías ist einer von 100 Künsderinnen (davon 36 gebürtige Madriderinnen), die in dieser 389-seitigen Veröffentlichung der Comunidad de Madrid zu Wort kommen. 23

Almodóvar, zitiert nach: Gallero 1991, S. 219.

24

Vgl. Frith 1978, S. 206.

58

Julia Nolte

fast immer negativ als Unreflektiertheit, Oberflächlichkeit oder Desinteresse für die innenpolitischen Ereignisse der Zeit ausgelegt.25 Dabei wird das subversive Potenzial von Spaß verkannt: In der Movida wird Lust ausgelebt — etwas, das im National-Katholizismus öffentlich und mit gutem Gewissen nicht stattfinden durfte. Insofern dient die Suche nach Spaß auch der Abgrenzung von der Franco-Diktatur.

III.2.4 Apolitisch oder antipolitisch? Unverfrorenheit als „posturapolitica " Eine herrschende Meinung besagt, dass die Movida apolitisch sei.26 Das Phänomen sei nicht politisch motiviert, sondern auf Spaß ausgerichtet, ganz so als schließe das eine das andere aus. Als Anzeichen für politisches Desinteresse werden genannt: kein gemeinsames Manifest, keine politischen Forderungen, keine Demonstrationen als Reaktion auf den fehlgeschlagenen Putschversuch vom 23. Februar 1981, keine ehemaligen Widerständlerinnen in den Reihen der Movida-Akteurlnnen. 27 Manche fuhren entschuldigend an, keine Meinung zu vertreten sei so kurz nach dem Ende der Diktatur Selbstschutz gewesen: So habe man sich unbequeme Fragen erspart. Außerdem hätten die „fachas" noch die Straßen kontrolliert, „dando palizas y disparando a la gente"28.

25

Vgl. z.B. Moncho Alpuente, „Madrid 1975-1985: la décade (sic) prodigieuse", in: Villa de Madrid, 4.12.1985, S. 3. 26 Vernon und Morris schreiben der Movida „claims to apoliticism" zu (Kathleen M. Vernon/Barbara Morris, „Introduction: Pedro Almodóvar, Postmodern Auteurin: Kathleen M. Vernon/Barbara Morris (Hrsg.), Post-Franco, postmodem. Thefilms ofPedro Almodovar, Westport, CT 1995, S. 1-23, S. 6). Diego Manrique nennt sie eine „quinta despolitizada" (Diego A. Manrique, „Lo que hicimos con la movida", in: El País Semanal, Nr. 1492, 1.5.2005, S. 44-48, S. 46), Walther L. Bernecker eine „apolitische Bohème" (Walther L. Bernecker/Hans-Jürgen Fuchs/Bert Hofmann u.a., Spanien-Lexikon. Wirtschaft, Politik, Kultur, Gesellschaft, München 1990, S. 422); vgl. auch Ulrich Winter, „Spaniens Intellektuelle: Eine neue Diskussionskultur und die Debatte um Identitäten und 'Erinnerungsorte' (1976-2002)", in: Walther L. Bernecker/Klaus Dirscherl (Hrsg.), Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfiirt am Main 42004, S. 631-655, S. 640f. 27

Vgl. z.B. Gonzalo García Pino, in: Gallero 1991, S. 54. Lechado 2005, S. 25; der gleiche Autor bemüht eine Teilung der Movida in eine Pop-Strömung und eine Rock-Strömung und stellt die pauschale und nicht haltbare Behauptung auf, im Gegensatz zu den Poppern seien die Rocker „bastante implicad[os] en movimientos políticos de carácter progresista". 28

III. Die Movida Madrileña

59

Übersehen wird dabei das subversive Potenzial, wie es etwa in der Suche nach Spaß, im Bekenntnis zu Homosexualität und auch in der Integration fremder Einflüsse (Vgl. V.4.1) oder im Parodieren bestehender sozialer und künstlerischer Manifestationen (Vgl. V.3.4 und IV. 1.3) enthalten ist. In diesen Praktiken drückt sich sehr wohl eine kritische Haltung gegenüber einer Politik aus, die sie jahrzehntelang verbot. Richtig ist allerdings, dass sich keine gemeinsame politische Richtung der Movida benennen lässt. Die Movida-Akteurlnnen bilden eine äußerst heterogene Gruppe, nicht nur was Alter, soziale und geografische Herkunft betrifft, sondern auch was die politische Einstellung angeht. Es gibt unter ihnen Menschen, die von sich sagen, sich nicht für Politik zu interessieren (z.B. Ana Curra) genauso wie Menschen, die rechtsradikale Schriften verfassen (z.B. El Zurdo) oder eine Zeit lang dem Marxismus anhängen (z.B. Alaska). Trotzdem ist es nicht ausgeschlossen, dass diese Leute in einer Band zusammenspielen (z.B. in Kaka de Luxe und Alaska y los Pegamoides). Daneben gibt es Leute, die nicht für etwas Bestimmtes, sondern gegen etwas sind, z.B. Borja Casani. Es ist verwunderlich, dass ausgerechnet der Chefredakteur von La Luna de Madrid (die Zeitschrift der Movida, von der gesagt wird, sie sei ihr Sprachrohr gewesen) gegen die Demokratie wettert: La democracia no hay que mitificarla. La democracia es un régimen asqueroso, repugnante, intrínsecamente perverso. Tiene todos los condicionantes que hacen esclavos a los ciudadanos. [...] ¿Qué es realmente la democracia? Es el sistema político que garantiza la hegemonía económica del capitalismo y del dios dinero.29 Man kann also nicht davon ausgehen, dass alle Movida-Akteurlnnen die Demokratie befürworten. Auch ist nicht belegbar, dass die Movida „generell links gerichtet" sei, wie Lechado behauptet.30 Zwar wird oft das Wohlwollen des sozialistischen Bürgermeisters Tierno Galván für die Movida hervorgehoben, doch die Akteurinnen führen den Kreativitätsschub in Madrid - der schon 1977 und nicht erst 1979 mit Tierno Galváns Wahl einsetzt — nicht auf eine Regierung, sondern auf das Fehlen einer Regierung zurück. 31 Für die politische Orientierung der Movida lässt sich sagen: Es ist gleichgültig, ob man eine politische Meinung vertritt oder nicht und, wenn ja, welche.

25

Casani, zitiert nach: Gallero 1 9 9 1 , S. 3 5 .

30

Lechado 2 0 0 5 , S. 26.

31

Vgl. Zitate von Curra und Almodovar in der Einleitung.

60

Julia N o l t e

Zumindest ein Konsens scheint aber in der Movida zu bestehen: Jede/r sollte das tun dürfen, was sie/er tun will, unabhängig vom geltenden politischen System. Dazu gehört die freie Entscheidung, welche Musik man hören will und wie man die Haare trägt — auch dies eine Form der Meinungsäußerung. Alaska: Yo era muy consciente de la realidad cubana y sabía que en Cuba no había discos de los Beatles, ni de Alice Cooper, ni podías llevar el pelo largo o pendientes si eras hombre, y para mí eso era lo más importante. Eran los puntos que más me interesaban. Por tanto no me interesaba Franco ni me interesaban los comunistas. Los veía igual. 3 2

Die Movida ist nicht apolitisch, sondern antipolitisch. Die Movida-Akteurlnnen verweigern die übliche oder von ihnen erwartete Form des politischen Diskurses. Auf den Putschversuch vom 23. Februar 1981 reagieren sie weder mit Protestliedern oder Konzerten, auf denen sie ihre Ablehnung ausdrücken, noch mit Sondernummern ihrer Zeitschriften, wie der Musikjournalist Diego Manrique bedauert.33 Stattdessen verkleiden sie sich als Oberstleutnant Tejero und überfallen Bars wie jener zuvor den spanischen Kongress. Borja Casani erinnert sich an diese lebhafte Variante der politischen Karikatur: „Eran los carnavales. Había un montón de gente disfrazada de Tejero. Todo el mundo gritaba, en pleno paroxismo, lo mismo que había dicho Tejero: '¡Manos arriba, todos al suelo!'... Lo repetíamos como si estuviéramos grillados." 34 Der Oberstleutnant wird degradiert und sein Handeln durch den Kontext der Bar, die ständige Wiederholung seines Befehls und, wie unschwer vorstellbar, durch die Art des Vortrags lächerlich gemacht. Einen weiteren Beleg ftir die Verweigerung des etablierten politischen Diskurses in der Movida liefert Juan Carlos de Laiglesia mit seiner Schilderung folgender Begebenheit in der Bar Teide: Los gays siempre han sido los tíos que más han puesto, los adelantados, los más banderas, los más radicales, los más propagandistas. Recuerdo una escena de Fabio de Miguel. Un día, en el Teide, llegó el típico gay de barbita para que le firmara una especie de manifiesto. Entonces, Fabio rompió el papel y le dijo: 'Killer, tío, Killer', como diciendo: 'Déjate de maiiconadas de firmas'... Fabio no era solidario ni con los

32 Alaska, in: Mario Vaquerizo, Alaska, Valencia: La Máscara, 2001, S. 29, zitiert nach: Fouce 2002, S. 61. 33 Vgl. Manrique 2005, S. 46. 34 Casani, zitiert nach: Gallero 1991, S. 30.

III. Die M o v i d a Madrileña

61

supuestamente suyos. Siempre me pareció una postura muy fuerte, mezcla de histrionismo y de valentía. Para mí, un gesto de la movida. 35

Fabio McNamara, bekanntester Transvestit der Movida, lehnt es ab, seine Unterschrift unter das Manifest eines anderen Schwulen zu setzen. Ich denke, dahinter verbirgt sich nicht politisches Desinteresse oder mangelnde Solidarität, sondern die Überzeugung, dass der Weg der Unterschriftensammlung nicht der richtige sei; dass man das eigene Anderssein leben müsse anstatt dafür bei Politikerinnen Erlaubnis einzuholen. Die Unverfrorenheit, mit der die Movida-Akteurlnnen gesellschaftliche und politische Konventionen brechen (deswegen ¿»^politisch, gegen Politik), bezeichnet Almodóvar zu Recht als „postura política"36.

III.2.5 „ Tú quieres, tú puedes": Dilettantismus aus Prinzip Die Movida wird nicht von Menschen mit einer konventionellen künstlerischen Ausbildung getragen. „Yo por ejemplo iba a hacer la carrera de Bellas Artes pero no la hice porque en ese momento me estaba interesando muchísimo lo que estaba pasando en Madrid", sagt Ouka Lele. „Y aprendíamos más entre nosotros, queríamos vivirlo, entonces estar en una escuela estudiando no era lo que queríamos." 37 Die Movida ist eine alternative Schule, in die man auch ohne Vorkenntnisse aufgenommen wird. Diese Schule mit Lernort Madrid kommt ohne diplomierte Lehrkräfte und mit knappen technischen und finanziellen Mitteln aus, indem ihre Angehörigen improvisieren und sich zum Dilettantismus bekennen. Niemand verfolgt darin das Ziel, die Grundlage für Professionalität zu schaffen.38 In Ana Curras Worten: Entusiasmo, vitalidad. T ú quieres, tú puedes. Era un poco el decir: 'Si quieres hacer esto, súbete a un escenario ya, atrévete.' Porque realmente profesionalidad, ninguna y medios, menos todavía. Cada vez que acaba un concierto, el primer comentario es: '¿Han sonado?' Hoy en día todo el mundo suena en un concierto porque el equipo

35

de Laiglesia, zitiert nach: Gallero 1991, S. 274.

36

Almodóvar, zitiert nach: Gallero 1991, S. 219: „La frivolidad se convertía casi en una postu-

ra política, en un modo de enfrentarse a la vida que rechazaba absolutamente la pesadez." 37

Gesprächsprotokoll des Interviews mit Ouka Lele vom 7.5.2006, Madrid, S. 4.

38

Casani: „Nadie estaba buscando sentar las bases de su profesionalidad", zitiert nach: Gallero

1991, S. 28.

Julia Nolte

62

está. No había técnicos de sonido. Muchas veces ibas a tocar y no conseguías que sonase el equipo, ¿sabes? N o conseguías tocar porque al final se rompía, los bajos no iban, no se sabían conectar los cables. O sea, el primer comentario: '¿Han sonado?' Pues sí, han sonado. Han sonado incluso bien. 39

Den Probencharakter der Movida unterstreicht auch eine Modenschau mit Kleidern von Pepe Rubio, die 1980 in der Disko Pacha unter dem Titel „Ejercicio para una colección" veranstaltet wird: Pepe Rubio recuerda que eran noventa personas en escena [...] en una rara mezcolanza que incluía, juntos y revueltos: miembros del Ballet Nacional, jugadores de baloncesto, travestis, la mujer de Alfonso Fraile, veinte modelos semiprofesionales, doce fotógrafos que participaban dentro del desfile [...], un enano, varias folclóricas... El público, que llenaba un local que hasta hacía poco tiempo había sido un teatro, también era una rara mezcla de ambientes y clases sociales, desde la aristocracia más abierta a lo underground, desde Cuqui Fierro a las Costus, aquella pareja de pintores homosexuales que fueron el centro de la Movida, y en donde no sorprendió la presencia de Tino Casal, pero sí, quizá, la de Brian Ferry, el atractivo cantante de Roxy Music. 40

Das Laienhafte wird zur Schau gestellt, sowohl im Titel der Veranstaltung, die eine „Übung für eine Modenschau" und keine Modenschau ankündigt, als auch durch die Zusammenstellung der Modelle: Halbprofis neben Balletttänzerinnen, Basketballspielerinnen, Transvestiten und ein Liliputaner. Hier wird kein Schönheitsideal präsentiert und kein festes Bild von Mann und Frau, die Fotografinnen defilieren gemeinsam mit den Modellen anstatt sie zu fotografieren; im Publikum befinden sich Vertreterinnen aller sozialen Klassen. Insofern verstößt dieses Spektakel gleich gegen vier Konventionen des Modebetriebs und ist damit ein Beispiel dafür, wie in der Movida bewusster Dilettantismus zur Verletzung bestehender künstlerischer und sozialer Ordnungen sowie zur Provokation ihrer Verfechterinnen eingesetzt wird.

39

Vgl. Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 9.

40

Plaza 2000, S. 26; Modedesign schließe ich aus meiner Betrachtung aus, weil mich nur die

Mode der Straße interessiert, und zwar im Rahmen der sozialen Praxis (Vgl. V . l . l ) .

III. Die Movida Madrileña

63

111.2.6 Interdisziplinarität Die Movida ist vor allem für ihre musikalischen Erzeugnisse bekannt. Dabei ist sie ein interdisziplinäres Phänomen, das soziale Praktiken nicht nur mit Musik, sondern auch mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen vereint: Literatur (Comic, Kolumne, Liedtext, fanzinè), Malerei, Plastik, Fotografie und Film. Bessière nennt sie deswegen „élan créatif [...] de caractère pluriforme" 41 . Eine Besonderheit der Movida ist, dass sich die Akteurinnen nicht darauf beschränken, eine Ausdrucksform beizusteuern, sondern dass sie den Mut haben, sich verschiedener Ausdrucksformen zu bedienen. Ouka Lele zum Beispiel, heute als Fotografin international bekannt, nennt sich selbst „artista que toca muchas Cosas"42. Zur Zeit der Movida drapiert sie Menschen und Gegenstände im Raum, fotografiert sie und koloriert die Fotos nach der Entwicklung mit Aquarellfarben; bei einer ihrer Ausstellungseröffnungen agiert sie im selbst entworfenen Kostüm - sie praktiziert eine Mischung aus Installation, Fotografie, Malerei und Theater (Vgl. IV. 1.1 ). Die Akteurinnen arbeiten interdisziplinär und praktizieren somit das, was auch die Movida als Ganzes kennzeichnet.

111.2.7 Grenzverletzung und Grenzüberschreitung Das siebte Merkmal der Movida ergibt sich als Konsequenz aus den Merkmalen 1 bis 6: Verletzung und Überschreitung von Grenzen. Ausgetestet werden die Grenzen der eigenen Fähigkeiten und des Körpers, indem man so viel wie möglich ausprobiert (1). Verletzt werden die Stadtgrenzen, indem man Zugereiste integriert (2). Auch die Integration fremder Einflüsse in Form von Musik, Comics, Kleidungsstilen, Lebensformen aus England und Nordamerika (Vgl. V.4.1) gehört zu dieser Form der Grenzverletzung. Die Suche nach Spaß (3) verletzt sowohl gesellschaftliche als auch künstlerische Grenzen oder Konventionen, weil sie dem geforderten Ernst zuwiderläuft. Politische Konventionen werden gebrochen, indem sich die Akteurinnen dem politischen Diskurs verweigern (4). Bewusster Dilettantismus (5) schließlich verletzt bürgerliche Qualitätsmaßstäbe und überschreitet auf diese Weise Grenzen. Die Verfechterinnen eines traditionellen Kunstbegriffs, der Kunst nach Ausdrucksformen kategorisiert, werden zusätzlich provo-

41

Bessière 1992, S. 194.

42

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 4.

64

Julia Nolte

ziert durch das interdisziplinäre Kunstschaffen in der Movida (6), mit dem Gattungsgrenzen überschritten werden (Vgl. IV. 1). Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen können eine Grenzerweiterung zur Folge haben. Hierin besteht das Innovationspotenzial der Movida.

I I I . 3 DREI PHASEN EINER STÜRMISCHEN ENTWICKLUNG

Die Entwicklung der Movida spielt sich in drei Phasen ab: Einer etwa dreieinhalbjährigen Phase der Explosion im Untergrund (1977-1980) folgt eine gut fünf Jahre währende zweite Phase der massenhaften Verbreitung und Institutionalisierung (1980-1985). Danach spaltet sich die Movida und wirkt weiter, teils in der dominanten Kultur, teils wie zu Beginn im Untergrund. 43 Die Phasen unterscheiden sich durch ihre Impulsgeberinnen, Merkmale und Maximen. 44

III.3.1 Explosion im Untergrund

(1977-1980)

Die Tatsache, dass es keinen Gründungsakt und kein Manifest der Movida gibt, macht es schwierig, ein Anfangsdatum zu benennen. Jesús Ordovás behilft sich damit, dass er das Finale des ersten Madrider Rockwettbewerbs Trofeo Villa de Madrid de Música Rock am 15. Mai 1978 angibt.45 Bei diesem Ansatz kommt zu kurz, dass die teilnehmenden Bands schon vorher öffentlich auftreten und die Musikszene beeinflussen. Geeigneter erscheint der Vorschlag von Hooper. Er gibt

43

In der Literatur hat sich bisher kein Konsens gebildet, was die Anzahl der Entwicklungspha-

sen und ihre Dauer betrifft. Der Beginn der Movida wird meist in den späten 1970er Jahren gesehen. In der Regel werden - abweichend von meiner Auffassung - zwei Phasen benannt, deren zweite 1985 mit einem Ende bzw. Niedergang der Movida abschließt. Vgl. Borja Casani, in: Gallero 1991, S. llf.; Miguel Trillo, in: Gallero 1991, S. 54f.; Vernon/Morris 1995, S. 8f.; Hooper 1995, S. 344; Bessiére datiert den Beginn des Niedergangs etwas später, nämlich auf 1986 (Bessiére 1996, S. 291). 44

Ziel dieses Unterkapitels ist es nicht, eine Chronologie der Movida zu erstellen; s. dafür z.B.

Fouce 2002, S. 385-390, Gallero 1991, S. 338-343, Ordovás 1987, S. 209-244. 45

Vgl. Jesús Ordovás, La Revolución

Pop, Madrid: Calamar, 2 20 03, S. 27; der Wettbewerb

wurde von der Stadtverwaltung der UCD organisiert, Ordovás war Jurymitglied. Kaka de Luxe gewann dabei den zweiten Platz.

III. Die Movida Madrileña

65

1977 an, also das Jahr, in dem Spanien wieder eine Demokratie wurde.46 Dies ist sinnvoll, weil mit Einführung der Demokratie der Freiraum geschaffen wird, in dem sich die Movida entfeiten kann. José Manuel Lechado gibt berechtigterweise zu bedenken, dass die Movida nichts war „que surgiera de la nada, y menos aün de la noche a la manana" 47 . Wenn man die Movida als Explosion angestauter Freiheitssehnsucht nach britischem Vorbild versteht, könnte man ihre Anfänge irgendwann nach 1964 ansetzen, als sich die Rockkultur in London etabliert hatte. Zwei Ereignisse sprechen jedoch dafür, dass 1977 den Anfang des Entstehens einer neuen Subkultur markiert, die später den Namen Movida erhält. In diesem Jahr findet in Madrid der erste dokumentierte Auftritt einer Punkband statt: Kaka de Luxe spielt im Pub People, wo es zuvor nur Rock-Konzerte gegeben hatte. 48 Kaka de Luxe gilt als „grupo originario"49 und „motor de explosión" 50 der Movida, weil sie der spanischen Musik und Mode eine neue Richtung gibt. Außerdem gründen Alberto Garcia-Alix und Ceesepe 1977 die Cascorro Factory, in der sie nordamerikanische Underground-Comics ins Spanische übersetzen.51 So werden britischer und amerikanischer Underground zu Bezugssystemen. In der ersten Phase geht die Hauptinitiative von einzelnen Personen aus, die in Madrid ein neues kulturelles Panorama schaffen. Stellvertretend für zahlreiche Bands, die in dieser Zeit entstehen, wurde Kaka de Luxe genannt, bestehend aus Alaska, El Zurdo, Manolo Campoamor, Carlos Berlanga, Enrique Sierra und Nacho Canut 52 . Zu den Initiatorinnen gehören auch die als Fotografinnen bekannt gewordenen Ouka Lele, Alberto Garcia-Alix und Pablo Pérez-Minguez sowie die Maler Ceesepe und Costus. Zu nennen sind auch Pedro Almodóvar und Fabio McNamara. Sie alle zählen zum sogenannten harten Kern der Movida (Vgl. 46

Vgl. Hooper 1995, S. 344.

47

Lechado 2005, S. 15.

48

Vgl. Ordoväs 1987, S. 217.

49

Fouce 2002, S. 16.

50

Ordoväs 2003, S. 28; Ordoväs zitiert El Zurdo, der die Bedeutung von Kaka de Luxe vor al-

lem darin sieht, dass die Band die entstehende Plattenindustrie für sich gewann und damit anderen Punkbands den Weg ebnete. 51

Vgl. Gesprächsprotokoll des Interviews mit Alberto Garcia-Alix vom 6.5.2006, Madrid, S.

8; auch Ouka Lele, die mit Garcia-Alix befreundet war, gibt als Beginn der Movida die Gründung der Cascorro Factory an. Von dem Kaka-de-Luxe-Konzert im People hatte sie hingegen nichts gehört, was daraufhinweist, dass jede/r die Movida mit Ereignissen aus dem eigenen Umfeld verknüpft, vgl. Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 9. 52

und Pablo Martinez am Schlagzeug; ebenfalls zeitweise in der Band waren u.a. Bernardo Bo-

nezzi und Javier Furia.

66

Julia Nolte

V. 1.3). Auch Jugendliche, die auf dem Rastro ihre selbst gemachten fanzines sowie Comics, Schallplatten etc. verkaufen, gehören zu den Impulsgeberinnen in dieser Anfangsphase der Movida, ebenso wie die Gründerinnen von Nachtlokalen und Bars wie Pentagrama (1976), La Via Lactea (1979) und El Sol (1979). In dieser ersten Entwicklungsphase entsteht in Madrid eine Subkultur mit eigenen Codes (Kleidungsstil, Sprechweise, Verhaltensweise) und eigenen Kommunikationskanälen (fanzines, Nachtlokale, Flohmarkt), die nur einem Kreis von Eingeweihten verständlich und zugänglich sind. Diese Subkultur hat keinen Namen. Ihre Maxime lautet: Spaß haben, experimentieren, sich selbst verwirklichen.

III.3.2 Massenhafte Verbreitung und Institutionalisierung

(1980-1985)

Die Bezeichnung „Movida" taucht 1980 in den Medien auf (Vgl. III. 1). In dem Moment, als das Phänomen einen Namen hat, ist es greifbar und vermarktbar. Es beginnt die zweite Phase, nämlich die der Institutionalisierung und massenhaften Verbreitung der Movida über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus (1980-1985). Die Maxime in dieser Entwicklungsphase lautet: Gewinnmaximierung und größtmögliche Bekanntheit. In dieser Phase gehen wichtige Impulse von den Medien aus, vor allem von den unabhängigen Radiosendern, die nun in Spanien entstehen und immer mehr Gruppen bekannt machen. Ab 1983 haben die Movida-Akteurlnnen ihre eigene Bühne im staatlichen Fernsehen: In diesem Jahr geht La Edad de Oro von und mit Paloma Chamorro im staatlichen Fernsehen TVE auf Sendung, außerdem werden die Musiksendungen Tocata, Caja de ritmos und Pista Libre ausgestrahlt. Europäische und nordamerikanische Printmedien schicken Korrespondentinnen, um von der Madrider Movida zu berichten. Reportagen erscheinen z.B. in Rolling Stone, Newsweek, Le Monde, Le Nouvel Observateur und The New York TimesP Besonders groß ist das internationale Medieninte53

Vgl. Fouce 2002, S. 20; Plaza 2000, S. 55f.: „El poderoso New York Times afirmaba que tras

la irrupción de la Movida 'ha renacido la tradición de vanguardia que una vez encabezaron Picasso y García Lorca'. Unas semanas después publicaba en sus páginas una guía de Madrid para el turista norteamericano, donde junto al Museo del Prado, la plaza Mayor, zona de los Austrias y las oportunas direcciones gastronómicas y culturales, aconsejaba también un recorrido por los lugares de la Movida: salas y bares informales, galerías, las tiendas de Sybila y Ágatha Ruiz de la Prada, exponentes de lo último en moda."

III. Die Movida Madrileña

67

resse ab 1984, schreibt Diego Manrique: „Puede que ni la muerte de Franco ni la transición convocaran en España a tantos periodistas, equipos de televisión, cazadores de tendencias." 54 Zehn Jahre nach dem Tod des Diktators wird die Movida als Symbol des neuen Madrids und des modernen Spaniens dargestellt. Bei ihrer Ankunft in Madrid erhalten die Journalistinnen eine Liste mit Anlaufpunkten, an denen die Movida angeblich zu finden sei. Genannt werden sowohl Orte als auch Vertreterinnen der Movida (u.a. Pentagrama, RockOla, Costus, Almodóvar, Alaska) - ein Hinweis darauf, dass die Movida zu diesem Zeitpunkt bereits institutionalisiert ist.55 Die wachsende Bekanntheit der Künstlerinnen wird genutzt von Plattenfirmen, z.B. von Hispavox, die 1980 die Madrider Bands Radio Futura, Alaska y los Pegamoides, Ejecutivos Agresivos und Nacha Pop unter Vertrag nimmt; 56 von Geschäftsleuten wie dem Galeristen Fernando Vijande, der serienweise Gemälde von Costus kauft. Der Kulturbetrieb ist in dieser Phase ein Impulsgeber, weil er vermarktbare Tendenzen im Kunstschaffen aufspürt und verstärkt, weil er sie mit Geld belohnt. In besonderem Maße gilt dies für die Plattenindustrie. Das Lied Bailando von Alaska y los Pegamoides z.B., der spanische Sommerhit 1982, wird nicht nur auf Spanisch, sondern auch auf Englisch für den englischsprachigen Markt eingespielt. Die Movida wird zur Marke, zur „etiqueta identificable"57, die exportierbar ist. Die Kommerzialisierung des Phänomens wird häufig kritisiert, zum Beispiel von Manrique: „El coge-el-dinero-y-corre se impuso como modelo ético. Las multinacionales impusieron su poderío y se llevaron las flores de la independencia [...]." 58 Einfluss auf das Geschehen nimmt nun auch die Politik in Form der sozialistischen Stadtverwaltung unter dem Madrider Bürgermeister Enrique Tierno Galván. Beispiele für die öffentliche Förderung sind Gratiskonzerte, Musik-

wettbewerbe, Buchveröffentlichungen und Ausstellungen wie Madrid,

Madrid,

Madrid, eine retrospektive (!) Ausstellung, die 1984 im Centro de la Villa stattfindet. Als Beleg für die Tolerierung von Drogenkonsum durch die Stadtverwaltung wird stets Tierno Galváns Ansage auf einem Musikfestival im Palacio

Manrique 2005, S. 46. Miguel Trillo bemerkt: „Nadie decía nada, salvo las personas que necesitaban promocionarse o les gustaba salir, Almodóvar, Alaska, Ouka Lele....", zitiert nach: Gallero 1991, S. 54f. 56 Vgl. Fouce 2002, S. 18. 57 Fouce 2002, S. 19. 58 Manrique 2005, S. 48. 54 55

Julia Nolte

68

de D e p o r t e s genannt: ,,[A] colocarse, y el q u e no esté colocado, q u e se coloque." 5 9 Im Gegenzug muss sich die Politik vorwerfen lassen, die M o v i d a zu benutzen, u m das Image der Stadt zu verbessern (bis 1 9 7 6 die Schaltzentrale der faschistischen Diktatur) und j u n g e Wählerinnen für sich zu gewinnen. 6 0 Ein weiterer Vorwurf lautet, unter der Regierung der ehemaligen Opposition (also d e m P S O E ) habe sich im U m g a n g mit der M o v i d a die Institutionalisierung von Kultur wiederholt, die Franco praktizierte. 61 Welch absurde Z ü g e die Vermarktung der Movida durch die Politik auch nach Ende der zweiten Entwicklungsphase noch annehmen konnte, illustriert ein Austausch, der im Rahmen der Städtepartnerschaft zwischen Madrid und dem damals ebenfalls sozialistisch regierten Vigo organisiert wurde. Der Besuch von Madrider Lokalpolitikerinnen und Movida-Akteurlnnen fand statt im September 1986 unter dem Motto „Encuentros en las vanguardias: Madrid se escribe von V de Vigo". La Comunidad fletó un tren especial, con barra libre en el vagón restaurante, y embarcó a unas 60 personas, entre ellas el presidente Leguina y varios de sus consejeros. Entre las actividades del encuentro, se celebró un concierto con la participación de Siniestro Total, Gabinete Caligari y Los Nikis y una exposición en torno a parte del material de la exposición Madrid, Madrid, Madrid [...]. Los excesos, el cansancio acumulado y, en algunos casos, el síndrome de abstinencia producido porque 'en Vigo había mucha movida de perico, de costo, pero el caballo, realmente... estaban bastante desasistidos' se concentraron en el último acto del encuentro, un banquete oficial en el Palacio de Quiñones de León. Ya a los postres, mientras los políticos proponían continuos brindis ajenos al cansancio de los participantes, Fabio McNamara, accidentalmente, lanzó una copa que fue a impactar en la mejilla de una de las participantes, provocándole un corte que sangraba abundantemente. A partir de ese momento se produjo una desbandanda entre los comensales, mientras que la policía llegaba a detener a McNamara, los políticos se escabullían, 'incluso algunos querían vengar la afrenta... Una situación absolutamente surrealista. Todo el mundo tirando las chinas'. [...] La consecuencia de aquella desbandada final fue la negativa del presidente Leguina a celebrar la segunda parte del encuentro, que debería haber sido Vigo se escribe von M de Madrid 62

55

Zitiert nach: Manrique 2005, S. 46. Dieser Satz bedeutet sowohl „Bitte Platz nehmen, und

der, der noch keinen hat, suche sich einen!" als auch „Der, der noch keine Drogen genommen hat, nehme welche!", vgl. V. 1.2. 60

Vgl. Fouce 2002, S. 8f. und 308f.

61

Vgl. Vernon/Morris 1995, S. 6.

62

Fouce 2002, S. 75f.; die eingeschobenen Zitate stammen von Quico Rivas, zitiert nach: Gallero

1991, S. 103f.

III. Die Movida Madrileña

69

Zwei weitere Details sind in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Die Movida-Vertreterinnen wurden für ihre Teilnahme bezahlt. 63 Beim U m z u g durch die Stadt wurden Schaulustige von einer Polizeieskorte über Megafon gewarnt: „¡Atención! Pasa la movida." Einen offiziellen Charakter gibt sich die Movida aber auch selbst, indem sie sich eigene Institutionen schafft: die Zeitschrift La Luna de Madrid (gegründet 1983) beispielsweise; oder das Musiklokal Rock-Ola (1981), von Pedro Almodóvar „Universität der Movida" genannt, wohl weil man hier mit Gleichgesinnten zusammenkam und lernte, welche Kunst, Musik, Mode, Leute und Drogen im Trend lagen. Von diesen beiden Institutionen sowie von der Fernsehsendung La Edad de Oro macht sich die Movida abhängig, hier existiert sie, über sie definiert sie sich. Deswegen erschüttert sie die Schließung dieser drei zentralen Aktionsräume im Jahr 1985. Die Grüppchen zerstreuen sich, und das Gemeinschaftsgefühl löst sich auf in „mil aventuras particulares" 64 . 1985 bietet sich auch deswegen als Endpunkt der zweiten Phase an, weil ein Teil der Movida-Akteurlnnen seine Aktivitäten in diesem Jahr von der Stadt löst und damit die Madridgebundenheit als Merkmal aufgibt: Alaska+Dinarama (eine Nachfolgeformation von Kaka de Luxe) ist eine der Bands, die in diesem Jahr ihre erste große Spanientournee macht, in ihrem Fall durch 125 Städte; auf der Suche nach neuer Inspiration lösen Costus ihr Wohnatelier in der Calle de la Palma 14, die sogenannte Casa Costus, auf und ziehen nach Mexiko-Stadt.- Letztlich habe der eruptive Charakter der Movida nicht ewig dauern können, merkt Hans-Jörg Neuschäfer an und zitiert Pedro Almodóvar, der seine Patty Diphusa schon 1984 bedauern ließ, dass das spontane Spiel zur Institution geworden war: „Todo son fiestas, todo es sexo [...]. Pues no. Los juegos dejan de serlo cuando se convierten en una manifestación cultural."65 Zusammenfassend ergeben sich als Merkmale der zweiten Entwicklungsphase: Präsenz in den Medien, Vermarktung der Movida, Förderung bzw. Instrumentalisierung durch die Politik, Verbreitung über Stadt- und Landesgrenzen hinaus, Schaffung eigener Institutionen, Abflauen des eruptiven Charakters.

61

D e r A u s f l u g h a b e die S t a d t M a d r i d 15 0 0 0 0 0 0 Pesetas, d . h . ca. 9 0 0 0 0 E u r o g e k o s t e t ,

schreibt L e c h a d o 2 0 0 5 , S . 139f.: „ E n una época en la q u e ya empezaban a asomar los primeros casos de corrupción del d e n o m i n a d o felipismo, [...] este fiasco en particular f u e un poco la puntilla." 64

M a n r i q u e 2 0 0 5 , S. 4 8 .

65

Vgl. H a n s - J ö r g Neuschäfer, „Aufbrüche. A n m e r k u n g e n zur spanischen Literatur nach 1 9 7 5

u n d Hinweise zur B e n u t z u n g des vorliegenden B a n d e s " , in: Dieter I n g e n s c h a y / H a n s - J ö r g N e u schäfer (Hrsg.), Aufbrüche.

Die Literatur Spaniens seit 1975, Berlin 2 1 9 9 3 , S. 9 - 1 6 , S. 16.

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70

III.3.3 Spaltung und Weiterwirken in der dominanten Kultur bzw. im Untergrund Ist die Movida 1985 zu Ende? Nein. Sie spaltet sich in ihre konsensiahigen Elemente einerseits und ihre nicht konsensfähigen Elemente andererseits. Die konsensfahigen Elemente sind zu diesem Zeitpunkt in die dominante Kultur übergegangen, wo einige bis heute weiterwirken. Hierzu zählen z.B. ein vielfältiges Nachtleben, eine im weltweiten Vergleich hohe Akzeptanz Homosexueller,66 die Beliebtheit spanischsprachiger Popmusik und die Organisation von Gratiskonzerten durch die Stadtverwaltung bis in die 90er Jahre hinein.67 Außerdem lebt die Movida weiter in der Malerei, Fotografie, Musik und im Kino nach wie vor tätiger, inzwischen anerkannter Künsderlnnen: Ouka Lele stellt 1987 im Museo Español de Arte Contemporáneo in Madrid aus und 1991 im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia; seit 1988 sind ihre Werke u.a. in Paris, Tokio, London, Antwerpen und Rom gezeigt worden. Alberto Garcia-Alix erhält 1999 den Premio Nacional de Fotografía, Pedro Almodovar wird 2002 der Oscar 'Bestes Drehbuch' für Hable con ella verliehen. Alaska und Nacho Canut machen heute unter dem Namen Fangoria Elektropop, und die Band Nacha Pop hat sich 2007 nach neunzehnjähriger Trennung für eine Sommertournee durch Spanien wieder zusammengefunden. 68 Im Unterschied zu Phasen I und II verbindet die Künstlerinnen allerdings kein gemeinsamer Lebensstil mehr. Ouka Lele: La movida existe pero ya no como antes, que había una forma de vida. Ahora cada uno está más aislado, más solo. Cada uno está investigando en su casa o su estudio. Pero cuando nos encontramos nos reconocemos. El espíritu está ahí. 69

Diese Aussage deckt sich mit Bessières Einschätzung: ,,[L]a plupart des créateurs et des artistes qui l'ont animée poursuivent aujourd'hui leur œuvre mais à titre individuel."70 66

Im Juli 2005 änderte die sozialistische Regierung unter Regierungschef José Luis Zapatero

Artikel 44 des Código Civil, der nun allen Ehepaaren gleich welcher geschlechtlichen Zusammensetzung identische Rechte einräumt. Diese Neuerung machte Spanien zum ersten Land der Welt, in dem Homosexuelle nicht nur heiraten, sondern auch Kinder adoptieren dürfen. 67

Die dadurch entstehende Konkurrenz sieht Fouce als Grund dafür, dass viele Veranstal-

tungsräume im Verlauf der Movida schließen, vgl. Fouce 2002, S. 308f. 68

Vgl. Diego A. Manrique, „Nacha Pop, segunda parte", in: El País Semanal, o.Nr., 17.6.2007,

S. 19-22. 65

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 8.

70

Bessière 1996, S. 29.

III. Die Movida Madrileña

71

Die nicht konsensfähigen Elemente der Movida verschwinden gegen 1985 wieder im Untergrund. Hierzu zählen der öffendiche Konsum harter Drogen, sadomasochistische Praktiken sowie das allgemein sichtbare Agieren von Transvestiten (für eine breite Öffentlichkeit sichtbar nur noch in der Fiktion, etwa in Almodövars Spielfilmen). Impulsgeberinnen und Merkmale sind hier subkulturspezifisch wie in Phase I und für Nicht-Eingeweihte nur zu erkennen, wenn Medien und Mode sie ans Licht zerren, um sie zur Integration in die dominante Kultur anzubieten.

III.3.4 Visualisierung der

Entwicklungsphasen

Die Entwicklungsphasen der Movida lassen sich folgendermaßen visualisieren: Institutionalisierungsgrad und Öffentlichkeitsgrad konsens- und nicht konsensfähiger Elemente der Movida

^1985

Grad der Öffnung der Gesellschaft durch die Movida

y 1977

1977

1980

1985

Zeit

I Movida i.e.S. Movida i.w.S. konsensfähige Elemente des Gesellschafts- und Kunstbegriffs der Movida nicht konsensfähige Elemente des Gesellschafts- und Kunstbegriffs der Movida

Abb. 1: Drei Entwicklungsphasen der Movida

72

Julia Nolte

Der untere Pfeil steht für nicht konsensfähige, d.h. subkulturelle Elemente, der obere für konsensfähige Elemente. Zusammengenommen stellen sie den Inhalt der Movida dar. Da sich in Spanien bereits seit den 1960er Jahren eine Subkultur heranbilden konnte, setzt der Doppelpfeil nicht im Nullpunkt an, sondern bei Punkt y 1977 - Phase zwei markiert einen kurzen Moment, in dem in Spanien subkulturelle Elemente öffentlich in der Gesellschaft sichtbar sind: Beide Pfeile passieren die Grenze zwischen Subkultur und dominanter Kultur. Auf der y-Achse ist der Grad von Institutionalisierung und Öffentlichkeit der Movida ablesbar. In ihrem Verlauf wächst dieser Wert und erreicht 1985 sein Maximum. An diesem Punkt (y 1985 ) ist die Aufnahmebereitschaft der dominanten Kultur erschöpft und nicht konsensfähige Elemente werden in den Untergrund zurückgestoßen, wo sie ihrer erneuten Entdeckung und möglichen Integration entgegengehen (daher steigt der untere, schwarze Pfeil ab 1985 wieder an). Am Unterschied zwischen y 1977 und y 1985 ist ablesbar, dass nach Ablauf der Phase II mehr Elemente konsensfähig sind als zu Beginn: Der obere, gepunktete Pfeil verläuft ab 1985 auf einem höheren Niveau, weist also einen höheren Grad an allgemeiner Akzeptanz auf. Der Abstand zwischen y m 7 und y 19g5 visualisiert die zwischen 1977 und 1985 durch die Movida bewirkte Öffnung der dominanten Kultur.

I I I . 4 VERSUCH EINER DEFINITION

Das Konzept 'Movida' bezeichnet eine sozio-kulturelle Praxis, die von jungen, d.h. ungebundenen und experimentierfreudigen Spanierinnen („Akteurinnen") zunächst in Madrid, dann auch in anderen spanischen Großstädten entwickelt und verbreitet wird. Sie ist gekennzeichnet durch folgende Merkmale: Integration fremder Einflüsse: Zugereiste werden einbezogen; englische und nordamerikanische Musik, Comics, Kleidungs- und Lebensstile dienen als Bezugspunkte bei der Schaffung neuer Lebens- und Ausdrucksformen. Suche nach Spaß: Die Akteurinnen tun, was ihnen Spaß macht, und leben ihre Lust hemmungslos aus. Verweigerung des etablierten politischen Diskurses: Die Akteurinnen sind antipolitisch.

III. Die Movida Madrileña

73

Bekenntnis zum Dilettantismus: Die Akteurinnen legen keinen Wert auf eine konventionelle künstlerische Ausbildung, sondern lernen voneinander und durch Ausprobieren. Interdisziplinäres Kunstschaffen über Gattungsgrenzen hinweg. Grenzverletzung und Grenzüberschreitung: Die Akteurinnen überschreiten konventionelle Grenzen in ihrem Leben und Kunstschaffen. Die Entwicklung dieser sozio-kulturellen Praxis verläuft in drei Phasen: Sie entfaltet sich explosionsartig im Untergrund seit 1977 (Phase I), wird ab 1 9 8 0 massenhaft verbreitet durch Medien, Kulturbetrieb, Politik und eigene Institutionen (Phase II) bis zur Spaltung im Jahr 1985. Danach wirken die konsensfähigen Elemente der Movida in der dominanten Kultur weiter, während die nicht konsensfähigen Elemente wieder im Untergrund verschwinden (Phase III). Für die Definition der Movida ergibt sich aus der Betrachtung der Entwicklungsphasen: Phase I stellt die Movida im engeren Sinne dar, als die sozio-kulturelle Praxis, die sich im Madrider Untergrund herausbildet. Phasen I, II und III zusammengenommen stellen die Movida im weiteren Sinne dar, als die Einfuhrung neuer Werte und Praktiken in der spanischen Gesellschaft und Kultur.

IV Künstlerische Praxis in der Movida

Die Untersuchung der künstlerischen Praxis in der Movida geschieht anhand von Relikten. Betrachtet werden Fotoarbeiten, Popsongs, Gemälde, eine Installation mit Gedicht, Fotografien, Spielfilme, der Videomitschnitt einer Performance, ein Filmplakat, ein Plattencover, Dokumente von Aktionen sowie Erinnerungen von Beteiligten. Dabei werden weder alle Kunstwerke betrachtet, die in der Movida entstanden, noch wird in chronologischer Reihenfolge vorgegangen. Dies soll kein Katalog von Movida-Werken sein. Wesentliche künstlerische Aktivitäten werden herausgegriffen, um an ihnen beispielhaft die Kunstpraxis der Movida aufzuzeigen. Die Beispiele sind jedoch nicht als stellvertretend für die Musik der Movida, die Bildende Kunst, das Kino der Movida usw. zu verstehen, denn es gibt nicht eine Musik und Kunst oder ein Kino der Movida. Dafiir sind die Kunstprodukte zu verschieden. Vielmehr wird eine gemeinsame Praxis hinter den künstlerischen Aktivitäten aufgedeckt, um die Movida als Ganzes zu beschreiben und so zu ihrem Wesenskern vorzudringen. Die gemeinsame Praxis findet sich im Umgang mit den in Kapitel II eingeführten Begriffen von Gattung (IV. 1), Künstler (IV.2) und Werk (IV.3).

IV. 1 AUFLÖSUNG DER GATTUNGSGRENZEN „En aquella época no sólo quería ser fotógrafa sino que quería serlo todo a la vez." - Ouka Lele1

In der künstlerischen Praxis der Movida findet eine Überschreitung und Auflösung von Gattungsgrenzen statt. Dies geschieht erstens, indem ihre Ak1

O u k a Lele, in: La Luna de Madrid, Nr. 11, Oktober 1984, zitiert nach: Gloria Collado

(Hrsg.), Madrid años ochenta. Imágenes de la movida, Madrid: Ministerio de Asuntos Exteriores de España, 1994, S. 7.

76

Julia Nolte

teurlnnen sich für ein Werk verschiedener künstlerischer Ausdrucksformen bedienen; zweitens durch Verflechtungen zwischen den Akteurinnen, die gemeinsam interdisziplinäre Kunstwerke anfertigen, indem die einzelnen Personen eine oder mehrere Ausdrucksfbrm/en beisteuern; und drittens durch Parodie: Bestehende Ausdrucksformen werden genutzt, aber gegen die Konventionen verwendet und damit gesprengt.

IV. 1.1 Alles

Multitalente?

In der Movida greifen traditionelle Bezeichnungen wie „Musikerin", „bildender Künstler", „Fotografin", „Filmemacher" nicht, weil sich die Akteurinnen nicht auf eine Kunstform beschränken. Es gibt keine abgesteckten Betätigungsfelder. Ouka Lele etwa versteht sich entgegen der öffentlichen Auffassung nicht als Fotografin, sondern als „Künstlerin, die viele Dinge anfasst": Me llamaban fotógrafa pero nunca me ha gustado mucho porque yo me he sentido más bien artista que toca muchas cosas. Pero sólo fotógrafa no. Y yo tampoco sé toda la técnica fotográfica. Sé justo lo que yo necesito para lo que yo quiero hacer.2

Ebenso wenig wie „Fotografin" als Bezeichnung für Ouka Lele passt, erfasst „Filmregisseur" die vielfältigen Aktivitäten von Pedro Almodóvar in den 70er Jahren: Almodóvar por estos años [...] trabajó como extra en teatro y cine, formó parte del grupo de teatro Los Goliardos, escribió fotonovelas, creó el personaje de Patty Diphusa en La Luna de Madrid. Siguió haciendo cortos en Super 8 [...]. Además componía letras de canciones y actuaba junto a Fabio McNamara (hoy Fabio de Miguel) en el RockOla de Madrid, donde conoció parte de la Variopinta fauna' de que se nutre en sus guiones.3

Vielfachbetätigung ist nicht einigen wenigen Tausendsassas vorbehalten, sondern eine weit verbreitete Praxis in der Movida. „En todos los grupos madrileños de la nueva ola hay algún pintor, fotógrafo, escritor, diseñador o escultor", schreibt Jesús Ordovás, wobei er diese Begriffe losgelöst von der herkömm2

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 4. Holguin, Pedro Almodóvar, Madrid: Cátedra, 1994, S. 37.

3 Antonio

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

77

liehen Definition verwendet.4 Denn keines der Bandmitglieder, die er als Beispiele nennt, hat eine Ausbildung in Malerei, Fotografie, o.ä. In der Movida sei es „sehr häufig" gewesen, jemanden beim Musikmachen kennenzulernen und ihn später zu Hause ein Bild malen zu sehen, berichtet mir Ouka Lele im Interview. „Probábamos un poco todo. Y nos atrevíamos un poco con todo. Yo creo que también era el momento en que todos nos juntábamos y compartíamos, aprendíamos unos de los otros."5 Ein besonderes Talent war dafür nicht nötig. Es ging nicht darum, Meisterschaft in einer Ausdrucksform zu entwickeln, sondern darum, so viel wie möglich auszuprobieren. Man wollte experimentieren und sich nicht festlegen lassen auf eine Ausdrucksform. Dieses Bemühen spiegelt sich in Berufsbezeichnungen, die sich Movida-Akteurlnnen in einer Veröffentlichung der Comunidad Madrid geben, die 1987 unter dem Titel Madrid Hoy erscheint mit der Intention, das Kulturschaffen der Stadt zu dokumentieren. 6 Herminio Molero stellt sich darin als „Pintor, Músico y Actor" vor,7 Paz Muro nennt sich „Pintora y Artista Conceptual" und Fabio bzw. Fanny McNamara bezeichnet sich als „Plástico-Polifacético". Das Festlegen auf Berufsbezeichnungen (seien es auch neuartige) ist ein Kennzeichen für das Ende der Untergrund-Phase der Movida.8 EI Zurdo, der sich in Madrid Hoy als Schriftsteller ausgibt, ist Mitbegründer einer Gruppe, die als Keimzelle der Movida gilt. Da die Struktur der Keimzelle immer auch die Struktur dessen prägt, was daraus wird, soll La Liviandad del Imperdible bzw. die spätere Punkband Kaka de Luxe als weitere Vertreterin ei4

Ordovás 2003, S. 89: „En Kaka de Luxe: Carlos Berlanga, Manolo Campoamor, Fernando

Márquez El Zurdo y la propia Alaska. En Radio Futura, Herminio Molero, Santiago Auserón, Luis Auserón, El Hortelano -autor de la historia gráfica de La Estatua del Jardín Botánico-, En Las Chinas, Miluca, Luna y José. En Polanski y el Ardor, Pejo. En Almodóvar & McNamara, Pedro y Fabio. En Los Coyotes, Víctor Abundancia, en la UVI, Manolo...". 5

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 4.

6

Lolo Rico, Madrid Hoy, Madrid: Comunidad de Madrid, 1987; die Berufsbezeichnungen

finden sich am Buchende im Teil „Guía", S. 382-389. 7

Herminio Molero ist ein Pop-Art-Maler, der von Elektronik fasziniert ist und die Band Ra-

dio Futura gründet, gemeinsam mit Santiago Auserón, einem Diplom-Metaphysiker, vgl. Ordovás 2003, S. 115. 8

Dieses Buch ist ein Zeichen dafür, dass die Movida die alternativen Kanäle verlässt und damit ih-

ren Status als Subkultur aufgibt. Als die Comunidad de Madrid 1987 Madrid Hoy herausgibt, macht sie den Untergrund über herkömmliche Kanäle publik. Die Untergrund-Künsderlnnen sind an der Oberfläche angelangt, wenn sie den Behörden bekannt sind, bzw. der Fernsehmoderatorin Lolo Rico, die sie mit der Koordination des Buches beauftragt haben.

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ner gattungsübergreifenden Kunstpraxis genannt werden. El Zurdo über den Ursprung der Gruppe, zu deren Kern auch Alaska, Carlos Berlanga und Nacho Canut gehörten: A primeros de octubre de 1977, el colectivo LA LIVIANDAD DEL IMPERDIBLE, dedicado a teorizar sobre punk y futurismo entre otras labores, se disuelve cuando estaba a punto de realizarse como grupo musical [...]. La ruptura se produjo con el primer boletín del colectivo aún en la imprenta. El motivo: la diferencia de criterios entre los miembros sobre si el tema PERO Q U E PÚBLICO MÁS T O N T O T E N G O era Arte o una estupidez. [Trás la ruptura] enfilamos rutas más banales y speédicas, abandonando la trascendencia intelectualoide anterior [...] para hacer pura y simplemente un grupo de punk. 9

Dass aus dem „Kollektiv kultureller Aktion" die Punkband Kaka de Luxe wurde, schreibt El Zurdo den technischen Gegebenheiten und nicht etwa besonderer musikalischer Begabung zu — sie hätten kein Drehmaterial gehabt, sonst hätten sie sich sicher dem Filmemachen gewidmet.10 Auch Ouka Lele vermittelt eine gewisse Beliebigkeit, wenn sie sagt: ,,[Y]o empecé pintando y entonces luego empecé a hacer fotos, y como me gustaba pintar decidí pintar las fotos."11 Ihr Rappelle-toi, Bárbara (Los leones de la Cibeles, Atalanta e Hipómenes) dient als Beispiel für die gattungsiibergreifende Kunstpraxis in der Movida. In dieser nachträglich kolorierten Fotografie von 1987 vereinen sich Fotografie, Malerei und Theater.

9

Mit diesen Worten beginnt Fernando Márquez sein Buch Música moderna, Madrid: La ban-

da de Moebius, 1981, S. 11. 10

„En realidad, los KAKA éramos un grupo tan cinèfilo como musical. Si hubiéramos tenido

material de rodaje a nuestra disposición, tal vez la ' N U E V A O L A M A D R I L E Ñ A ' hubiese sido más 'nouvelle vague' (Truffaut y Chabrol, supongo, más que Godard) que 'new wave' y nuestro mentor Jesús Ordovás habría devenido en crítico cinematográfico", El Zurdo, „Madrid, cine a cine. Momentos estelares de mi humanidad como espectador", in: Lolo Rico (Hrsg.), Madrid Hoy, Madrid: Comunidad de Madrid, 1987, S. 378-379, S. 379. " Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 4.

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

79

Ouka Lele, Rappelle-toi, Bárbara (Los leones de la Cibeles, Atalanta e Hipómenes), 1987.12 Zu sehen ist ein Springbrunnen, in dessen Mitte eine Statue der Fruchtbarkeitsgöttin Kybele auf einem von zwei Löwen gezogenen Wagen thront. Das untere Bilddrittel ist ausgefüllt mit Stoffbahnen, die am Fuße des Springbrunnens drapiert sind. Auf den Stoffbahnen und dem Springbrunnen posieren Menschen. Bemerkenswert ist zum einen die Ruhe, die das Bild ausstrahlt. Sie überrascht, weil der Springbrunnen der Cibeles üblicherweise zu jeder Tageszeit und noch mitten in der Nacht vom Verkehr umtost wird: Er ist der Mittelpunkt eines vielspurigen Kreisverkehrs im Madrider Stadtzentrum. Autos sind zwar auf der Fotografie zu sehen, doch sind es in unmittelbarer Nähe des Springbrunnens nur neun und diese verschmelzen wie die weiter entfernten Autos farblich mit dem Hintergrund. Dadurch werden sie aus der ersten Wahrnehmung der Betrachterinnen ausgeblendet. Die Ruhe wird außerdem erzeugt durch die Posen der Fotomodelle: Manche liegen leblos am Boden, andere scheinen wie eingefroren. Zum anderen ist die Farbgebung interessant. Manche Teile sind wirklichkeitsgetreu abgebildet - die Bäume, die Häuser, das Wasser, der Springbrun12

Quelle: Holguin 1992, S. 179.

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nen. Andere Elemente sind mit wirklichkeitsfremden Farben lasiert, das Stadttor im Hintergrund etwa ist türkis und die Autos sind alle gleichfarbig braun, während die Menschen Hautfarben von bläulich bis ockerfarben aufweisen. Der Himmel wirkt nicht koloriert, sondern gemalt. Es entsteht ein Verfremdungseffekt, den Rafael Gordon als surrealistischen Einfluss im Werk von Ouka Lele bezeichnet. 13 Auffallig ist außerdem, dass das Bild voller Widersprüche steckt: D a ist der Widerspruch zwischen wirklichkeitsgetreuer und verfremdender Farbgebung sowie zwischen fotografierter Architektur und einem gemalten Himmel; zwischen den Autos und den Menschen, die mit Lendenschurz oder Tunika bekleidet sind als wären sie aus der Antike ins 2 0 . Jahrhundert gebeamt worden und versehentlich mitten in diesem Kreisverkehr gelandet (Technik vs. Ursprünglichkeit); die Ruhe, die das Bild ausstrahlt, passt nicht zu der Kampfhandlung, die dargestellt wird. Die transportierte Stimmung, die Farbgebung und die offensichtlichen Widersprüche verwirren die Betrachterinnen. Ist es eine Fotografie? Ist es ein Gemälde? Ist es Wirklichkeit oder Fiktion? Das Bild fordert dazu auf, seine Widersprüche zu lösen und dadurch eine Geschichte herauszulesen, die es scheinbar erzählen will. „Yo creo que mi obra es muy teatral y muy literaria", sagt Ouka Lele. „Es algo que yo cuento. Es literatura. En imagen. D e hecho, ahora estoy escribiendo también. Tengo un libro de poesía publicado." 1 4 Die Geschichte, die Ouka Lele in dieser Fotoarbeit erzählt, ist die von Atalanta und Hippomenes, zwei Liebenden, die der Legende nach von Kybele in Löwen verwandelt wurden und fortan deren Streitwagen zogen. 15 Es steckt aber noch eine andere Geschichte hinter dem Bild, und zwar die seiner Entstehung. Mit Blick auf eine gattungsüberschreitende Kunstpraxis ist sie von besonderem Interesse. Ouka Lele schildert den Entstehungsprozess im Interview: Ouka Lele: Se paró todo el tráfico, todo Madrid atascado ahí. Fui a hablar con el alcalde y le conté la historia que quería hacer y me dió permiso y pararon todo el tráfico. Y yo estaba ahí con una grúa, había un camión con maquilladores, con vestuario. Luego llegó otro camión y trajo un árbol y lo plantó dentro de la fuente.

13 Vgl. Rafael Gordon, .Antenas y raíces", in: Ouka Leele, Ouka Leele, Biblioteca de Fotógrafos Españoles, Band 51, Madrid: La Fábrica, 2004, o.S. 14 Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 6f.; die Gedichte wurden 2005 veröffentlicht unter dem Titel Poesía en carne viva im Madrider Verlag Adantis, www.edicionesadantis.com. 15 Auf dem Brunnen sind allerdings zwei Löwen dargestellt, nicht ein Löwe und eine Löwin.

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Julia Nolte: ¿Fue fácil convencerle al alcalde? Ouka Lele: Sí, sí. Me decía que sí y dijo 'Vamos a parar todo el tráfico' y yo 'Cómo vamos a parar el tráfico' y él 'Sí, sí, sí'. Julia Nolte: ¿Recuerdas cómo fue? ¿Había mucha gente mirando? Ouka Lele: Sí. Estaba todo lleno de coches parados, mucha gente que llegaba y luego había un fotógrafo que alquiló un helicóptero e hizo fotos desde arriba también. Con cada personaje tenía que ensayar para que todos supieran lo que tenían que hacer. Y luego que me subiera a una grúa, una de esas grúas de cine, ¿no? Como ya estaban todos colocados con un micrófono les hablaba. Todos mirando, para que cada uno supiera lo que tenía que hacer. Julia Nolte: ¿Se movían? Ouka Lele: No. Y este año quiero intentar hacer otra foto en Cibeles pero esta vez con movimiento, con cine.16 Aus der Betrachtung des Bildes und der Schilderung seiner Entstehung lassen sich folgende Schlüsse für die künstlerische Praxis ziehen: (1) Ouka Lele widersetzt sich dem traditionellen Verständnis von Fotografie, indem sie den Brunnen nicht wirklichkeitsgetreu abbildet, sondern verfremdet. 17 Damit erweitert sie die Ausdrucksmöglichkeiten der Fotografie. (2) Die Künstlerin kombiniert Fotografie und Malerei, 18 indem sie das Schwarz-Weiß-Foto nach der Entwicklung koloriert, „con acuarelas líquidas, con mucha paciencia y con un trapito para secar" 19 . Heutzutage fotografiert sie und malt, beides unabhängig voneinander. Das Kombinieren der zwei Ausdrucksformen gehört also in die Phase des Ausprobierens, welche die Movida darstellt. (3) Rappelle-toi, Bárbara weist ein ausgeprägtes filmisches Element auf: Wie bei einem Filmdreh gibt es im Werkprozess

IC

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 3.

17

Rappelle-toi, Bárbara reiht sich ein in eine Ende der 70er Jahre begonnene Folge von bild-

lichen Gedankenspielen der Künstlerin: Was wäre, wenn ich zum Friseur ginge und wieder käme mit einem Tintenfisch auf dem Kopf (Peluquería, 1979)? Was wäre, wenn die Decke von meinem gedeckten Frühstückstisch weggezogen würde (La Bananne Rose, 1981)? Was wäre, wenn ich eine Vase fallen ließe und die Blumen darin schwerelos wären (Retrato con jarrón, 1982)? Oder eben: Was wäre, wenn sich auf dem Cibeles-Brunnen Halbnackte tummeln würden? Die genannten Werke geben bildliche Antworten auf solche Fragen. 18

Gordon 2004, o.S. sieht in Rappelle-toi, Bárbara das beste Beispiel für „su propuesta de in-

tegrar en una fotografía de nuestro tiempo las posibilidades expresivas de los grandes maestros de la pintura". 19

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 4.

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einen Wagen für Kostüme und Schminktische. Das Bild wird von einem Kran aus aufgenommen. Von dort gibt die Künstlerin den Darstellerinnen per Megafon Regieanweisungen. Vorher wurde geprobt. Nicht nur im Schaffensprozess, sondern auch im Endprodukt ist ein filmisches oder theatralisches Element angelegt: 20 Das Foto ist wie ein Theaterstück oder Film, dessen Szenen bzw. Sequenzen alle gleichzeitig und im Stillstand gezeigt werden. Handelt es sich um eine Aktion? Nein. Rappelle-toi, Barbara erfüllt nicht die Merkmale von Aktionskunst. Zwar werden hier Gattungsgrenzen überschritten, doch geschieht dies zu dem Zweck, ein Bild zu erzeugen und nicht um der Handlung willen. Der traditionelle Werkbegriff wird nicht angetastet. Die Fotografie ist nicht das beiläufige Relikt einer Aktion, sondern das Endprodukt eines bis ins Detail geplanten Schaffensprozesses (Erlaubnis einholen, Straße sperren lassen, technische Geräte antransportieren, Baum pflanzen, Stoff drapieren, Darstellerinnen anweisen, Kolorieren der Fotografie). Hier ist nichts dem Zufall überlassen. Der Schaffensprozess wird von einer einzigen Person bestimmt (Ouka Lele), jede Abweichung von ihrer Vorstellung korrigiert sie sofort über Megafon. Es gibt also keine Eingriffnahme durch Mit-Akteurlnnen, auch dies unterscheidet das Ereignis auf der Cibeles von einer Aktion wie sie etwa im Rahmen einer Performance ablaufen könnte. Man kann sich vorstellen, dass die umstehenden Schaulustigen schockiert, empört, vielleicht auch belustigt waren, als sie dieses Madrider Wahrzeichen derart umfunktioniert sahen. 21 Der Vorgang hatte so viel Ereigniswert, dass es ein Fotograf für lohnenswert hielt, einen Hubschrauber zu mieten, um es aus der Luft zu dokumentieren. Man kann also davon ausgehen, dass das Publikum aus seiner passiven Betrachterrolle herausgerissen wurde. Aber von einer Einbeziehung der Zuschauerinnen in den Werkprozess kann nicht die Rede sein. Nichtsdestotrotz lässt sich sagen, dass Ouka Lele an der Auflösung der Gattungsgrenzen arbeitet, indem sie in ihren Werken Fotografie, Theater und Malerei kombiniert. Ein weiteres Beispiel für eine gattungsübergreifende Kunstpraxis sind die Temas de arquitectura nacional y otros monumentos (1978) von Costus. Hinter diesem Pseudonym verbergen sich Enrique Naya und Juan Carrero, die von 1975 bis 1985 gemeinsam in Madrid wohnen und künstlerisch aktiv sind. In genanntem Werk verbinden sie Malerei, Literatur und Musik in einer Installation

20

Einen „cierto grado de teatralización" macht auch Fernández-Cid 1993, S. 63 bei Ouka Lele aus.

21

Die Kybele/Cibeles ist eine Stadtpatronin von Madrid neben der christlichen Maria de la

Almudena und dem Heiligen Isidro.

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zu einem gattungsübergreifenden Kunstwerk, das noch am Tag der Eröffnung wegen seiner vermeintlichen Unzüchtigkeit geschlossen wird: Enrique Costus: [L]os monumentos eran Estrellita Castro, Juanita Reina, Marujita Díaz, Carmen Sevilla... y las arquitecturas nacionales eran Lola Flores y un torero en silueta a tamaño natural, cuatro mantillas que eran los momentos de la corrida, y bueno... unas cositas graciosas. Juan Costus: La España kitsch. Enrique Costus: En lugar de catálogo hicimos una poesía muy cachonda que era 'Santa Agueda de la Albahaca virgen y mártir', y mientras leías veías la exposición y escuchabas la música de folclore total, muy andaluz todo, y con ropa tendida, la sala era un cutrerío y nosotros lo que hicimos fue aumentarlo, y lo convertimos en un lavadero, que fue un escándalo, claro, y nos lo cerraron y todo. Juan Costus: Sí, nos la clausuran el primer día por impúdica. 22 Der Verstoß gegen die 'guten Sitten findet auf zwei Ebenen statt. Z u m einen widerspricht das Dargebotene der konventionellen Präsentationsform. Hier werden Gemälde in einem R a u m präsentiert, der einem Abstellraum oder einer Wäschekammer ähnlicher ist als einer Galerie. Z u m anderen werden Religion und Volksvergnügen auf eine Stufe gestellt. Das von Costus verfasste Gedicht

dedicado a la memoria de SANTA ÁGUEDA DE LA ALBAHACA vilgen [sie] y mártir (auf Deutsch: gewidmet der Erinnerung an die HEILIGE AGUEDA DES BASILIKUMS Jungfrau und Märtyrerin) steht wie ein Motto über der Ausstellung und etabliert einen religiösen Kontext, in dem Copla-Sängerinnen und Toreros zu Heiligen erhoben werden.

22

Carrero, Naya, zitiert aus einem Interview, das Manolo Cáceres 1982 mit ihnen führte: Ma-

nolo Cáceres, „Primavera de 1982, en la azotea de Monte Esquinza 14, Madrid", in: Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antològica, Madrid: Comunidad de Madrid, S. 112-117, S. 112f.; die in dieser Veröffentlichung unter dem Ausstellungstitel abgebildeten Werke decken sich nur zum Teil mit den von Enrique Costus im Interview genannten. Abgebildet sind nur Carmen Sevilla, 65 x 50 cm, Pareja flamenca, 70 x 50 cm, Paquita Rico, 70 x 50 cm, Quinto con marmota, 65 x 50 cm (alle Enrique Naya, 1978, Acryl/Pappe), vgl. ebenda S. 25-28.

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Julia Nolte dedicado a la memoria de SANTA A G U E D A D E LA ALBAHACA vilgen [sic\ y mártir 23

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Palacios orientales, almenas de mosaicos, torres de oro de perlas, gargantillas tornasoles de abanico, algodón de nube blanca a mis pies me lo pusiste como prenda de pasión. Los quereres que me dabas pa que fuera sólo tuya, pero estaba consagrada al sagrado corazón. De mis claustros me sacaste violando tornos y rejas levantándome los hábitos sin hacer caso a mis quejas. Elevé los ojos al cielo y fue pronta la respuesta: Águeda de las Albahacas, la más preciosa tornera, si te fugas con el chulo serás La Tonadillera. Reinando en lo que escuchara dos lágrimas dejé caer, comprendí en un momento lo que decía la voz y volviéndome a mis rezos rechacé [«£•] la petición: 'No me tientes mal cristiano, no seas mi perdición, que el fuego que a mí me inflama, sólo se lo ofrezco a Dios'. Al chillar como una fiera, la Virgen se apareció: 'Limpia tu cara, hija mía, aquí tienes mi perdón, que tu alma está tan limpia como lavar con Colón'. 'Lléveme usted al cielo Madre, ¿qué es lo que aquí hago yo? Si me han roto las bajeras, la faja y sujetador?'. 'No te preocupes hija mía, que ya baja el ascensor que te llevará a los altares en sólo apretar un botón, y en donde cayó tu sangre en forma de chorreón brotará una fuente santa que colmará todos los males que causa el mal de amor...'

Das Gedicht verstärkt den Eindruck eines möglicherweise als respektlos empfundenen Umgangs mit Religion. Es schöpft aus dem Vokabular mystischer Dichtung wie ein Ausstellungskatalog aus den Bildern eines Künstlers (Das Gedicht sollte Costus zufolge den Katalog ersetzen): „Prenda de pasión" (V. 4), „elevé los ojos al cielo" (V. 9), „dos lágrimas dejé caer" (V. 12), „perdición" (V. 15), „fuego que a mí me inflama" (V. 16), „alma limpia" (V. 19), „fuente santa" (V. 25) sind 23 Quelle: Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antològica, Madrid: Comunidad de Madrid, 1992, S. 26.

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Wörter und Phrasen, die dem Text einen salbungsvollen, pathetischen Ton verleihen. Besonders unzüchtig dürften die Verse 7 und 8 auf das empörte Publikum gewirkt haben, wird hier doch geschildert, wie sich eine Nonne (widerstrebend) einem Mann hingibt: De mis claustros me sacaste violando tornos y rejas levantándome los hábitos sin hacer caso a mis quejas Provokativ sind auch Verse 18 bis 21, in denen die Jungfrau Maria der Sünderin Absolution erteilt und Agueda eine todesmutige Antwort gibt: 'Limpia tu cara hija mía, aquí tienes mi perdón que tu alma está tan limpia como lavar con Colón.' 'Lléveme usted al cielo Madre, ¿qué es lo que aquí hago yo? Si me han roto las bajeras, la faja y sujetador?' Die reine Seele wird verglichen mit einem mit Waschmittel der Marke Colón gewaschenen Kleidungsstück. Die göttliche Vergebung ähnelt in ihrer Vertraulichkeit („hija mía", „aquí tienes" (V. 18)) der Empfehlung eines Werbespots, etwa einem „Seien Sie unbesorgt, Colón beseitigt auch den hartnäckigsten Schmutz". Die Antwort der Sünderin ist ebenso weltlich gefärbt: Matratzenschonbezug, Korsett und B H sind ihr offensichtlich so wichtig, dass deren Beschädigung ihrem Leben den Sinn raubt (V. 20f.). Im Gegenzug für den Verzicht auf eine weitere körperliche Verbindung mit dem Mann wird sie heilig gesprochen - nach ihrem Tod, in den sie mit dem Fahrstuhl fährt (V. 22f.). Es soll nicht unbemerkt bleiben, dass die Ausstellung der spanischen Populärkultur nicht nur huldigt, sondern ihr auch einen Seitenhieb verpasst. Es wird am Fundament der „Themen der Nationalarchitektur und andere Monumente", so der Titel der Installation, gerüttelt, wenn Costus im Gedicht das TonadilleraSein mit Verdammnis gleichsetzen: „Wenn du mit dem Aufschneider fliehst, wirst du die Tonadillera sein", warnt eine himmlische Stimme (V. 11); daraufhin die Nonne zum Mann: „Führe mich nicht in Versuchung, schlechter Christ, sei nicht mein Verderben" (V. 15). Die Aussicht, an seiner Seite tonadillas, d.h. heitere andalusische Volkslieder, zu verfassen und zu singen, löst bei ihr einen Schreikrampf aus (V. 17). Lieber schenkt sie ihre Leidenschaft Gott (V. 16). Auch Pedro Almodóvar, heute vor allem bekannt als Filmregisseur, erzeugt mit seiner Vielfachbetätigung gattungsübergreifende Kunstwerke. Z u m Beispiel Monja jamón, einen Punksong, den er mit Fabio M c N a m a r a aufführt,

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während im Hintergrund Filmaufnahmen auf eine Großleinwand projiziert werden. Die beiden Männer präsentieren sich geschminkt, die Augen schwarz, die Lippen rot. McNamara trägt zur engen Lederhose eine Torerojacke, deren goldene Pailletten im Scheinwerferlicht glitzern, das Haar ist hochgegelt zum H a h n e n k a m m . Almodóvar sieht mit seinen Hängeohrringen und d e m Einkaufswägelchen aus wie die Karikatur einer Hausfrau, die sich zum Einkaufen schick gemacht hat. Seine Gesten entsprechen dieser Rolle. Es vereinen sich Text, Musik, Film und Darstellendes Spiel. Monja jamón24

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Esto es una monja, ¿ques que sé? y esto es un jamón, ¿ques que sé? Ele ese de ¿ques que sé? causa la metamorfos. Monja, monja, monja jamón, jamón, jamón. Monja, monja, monja jamón, jamón, jamón. Monja, monja, monja jamón, jamón, jamón. Monja, monja, monja jamón, jamón, jamón. [-] Esto es una monja - travestí y esto es un jamón — travestón. Ele ese de — maricón causa la metamorfosss...

24

P. Almodóvar/F. de Miguel/B. Bonezzi/C. Berlanga, Monja jamón, 1983; zu viert hatten sie

die Band Black Kiss Dolls, die ein Demotape mit den Titeln Suck it to me und Gran ganga aufnahm. Beide wurden komponiert für Almodóvars zweiten Film Laberinto de Pasiones. Aus den Black Kiss Dolls wurde das Duo Almodóvar&McNamara, dessen kurze Diskografie aus drei Schallplatten besteht: zwei Maxisingles (La Gran Ganga und SatanaSA) und die LP ¡Cómo está el servicio... de señoras!. Vgl. Holguín 1994, S. 265f.

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Monja, monja, monja jamón, jamón, jamón. Monja, monja, monja etc.

Der Liedtext basiert auf einem Wortspiel: Vertauscht man die Silben des spanischen Wortes für „Nonne", ergibt sich das Wort „Schinken". „Mon-ja" wird zu „ja-mon". Bei dieser Umwandlung verschiebt sich die Betonung von der ersten Silbe zur zweiten, was einen komischen Effekt hervorruft, weil der Sprechgesang dadurch holperig und gehetzt wirkt. Die Textzeilen werden immer abwechselnd von den beiden Männern vorgetragen, wobei nur bei der Refrainzeile „Monja, Monja, Monja" eine Melodie auszumachen ist. Der Rest wird gesprochen oder geschrien. Der Einfluss des Punk ist auch erkennbar an der Schlichtheit von Liedform (ABCBC ABCBC) und Instrumentierung (Schlagzeug, E-Gitarre und Bass). In der dritten Strophe wird das Vokabular um die Worte „travestí" (V. 16), „travestón" (V. 17) und „maricón" (V. 18) erweitert. Die Droge LSD bewirkt eine Metamorphose (Verse 7 und 19), wobei unklar ist, ob sich durch sie der Schwule in einen Transvestiten verwandelt oder die Nonne in Schinken bzw. andersherum. Passend zum Liedtext werden auf der Leinwand abwechselnd Aufnahmen von Nonnen und Schlachterhänden gezeigt, erstere beim Nähen, Klöppeln und Schreiten, letztere beim Zerlegen von Fleisch. Die Gegenüberstellung von Nonnen und Fleisch ist skandalträchtig, weil mit ihnen Enthaltsamkeit und Fleischeslust symbolhaft aufeinanderprallen. Die Bilder auf der Leinwand lassen sich im Live-Mitschnitt nicht deutlich erkennen, deswegen wurden sie zwischen die Einstellungen des Mitschnitts geschnitten. Dies gibt der Aufnahme den Charakter eines Musikvideos. Es wurde 1983 in der Fernsehsendung La Edad de Oro übertragen. Offensichtlich wurde die Aufführungssituation künstlich hergestellt: Das Publikum besteht nur aus Männern in hellen Hemden, die sich wie auf Kommando der Bühne nähern, nachdem die Kamera schon läuft. Sie stehen dann bewegungslos am Bühnenrand und applaudieren verhalten, nachdem der letzte Ton verklungen ist. Bemerkenswert ist auch, dass keine Band auf der Bühne steht. An ihrer Stelle befindet sich an einem zentralen, für alle sichtbaren Platz ein Tonbandgerät. Es wurde kein Versuch unternommen zu kaschieren, dass es sich um ein Playback handelt (Vgl. IV.2).

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IV. 1.2 Gemeinsam zum interdisziplinären

Kunstwerk

Die gattungsübergreifende Kunstpraxis der Movida offenbart sich nicht nur in der Tätigkeit einzelner Personen, sondern auch in ihrer Zusammenarbeit (wie in IV. 1.1 bereits angeklungen ist — zwei der drei Beispiele wurden von Künsderteams ausgeführt). Gemeinsam schaffen sie interdisziplinäre Werke, indem jede eine oder mehrere Kunstform/en beisteuert. Dabei ist es nicht so, dass von einer Person immer nur eine Kunstform abgefragt würde. Carlos Berlanga zum Beispiel tritt in Almodóvars erstem Spielfilm Pepi, Luci, Born y otras chicas del montón (1980) als Bandmusiker auf, spielt in dessen erster Band Black Kiss Dolls und schreibt mit Almodóvar Lieder. Er entwirft aber auch das Filmplakat fair Almodóvars späteren Film Matador (1986) sowie den Nachspann zum Fernsehfilm Trailer para amantes de lo prohibido (1985). 25 Besonders deutlich wird die Verflechtung der Akteurinnen in Pepi, Luci, Born y otras chicas del montónIn Pedro Almodóvars erstem Film in professionellem 35-mm-Format vereinen sich Film, Musik, Malerei und Comic zu einem „underground crossover"27. Underground ist dieser Film zum einen wegen seiner Behandlung von Tabuthemen. Es geht um die Selbstverwirklichung dreier Frauen: Die arbeitslose Pepi (Carmen Maura) lebt vom Geld ihres Vaters in den Tag hinein bis sie ihre wilden Fantasien als „creativa publicitaria" in einer Werbeagentur verwirklicht (Sie will u.a. eine Spielpuppe entwickeln, die schwitzen und menstruieren kann sowie einen Schlüpfer, der Urin aufsaugt); ihre Freundin Bom (Alaska) ist eine sadistische Bandleaderin und geht eine Beziehung zur ca. 40 Jahre alten Masochistin Luci (Eva Siva) ein. Luci verlässt ihren Ehemann (Félix Rotaeta), einen ehemaligen Franco-Anhänger und Polizisten, um Boms groupie zu sein. Auch in der Durchführung ist Pepi, Luci, Bom ein Underground-Produkt. Almodóvar arbeitete zu dieser Zeit noch hauptberuflich als Angestellter bei der spanischen Telefongesellschaft Telefónica, des-

25

Vgl. Holguin 1994, S. 165 und 185.

26

In Laberinto de Pasiones, seinem zweiten Spielfilm, fuhrt Almodövar diese Praxis fort: Ouka

Lele entwarf dafür die Hüte, der Maler Guillermo Pörez Villaita bemalte die Wände in Sexilias Zimmer und Fabio McNamara singt gemeinsam mit Almodövar, vgl. Garcia de Leön/Maldonado 1989, S. 184. Javier P. Grueso, Carlos Berlanga und Fabio McNamara stellten eigene Bilder zur Verfügung, die im Film auftauchen, vgl. Holguin 1994, S. 165 und 185. 27

Paul Julian Smith, „Pepi, Luci, Bom and Dark Habits-, Lesbian Comedy, Lesbian Tragedy",

in: Kathleen M. Vernon/Barbara Morris (Hrsg.), Post-Franco, postmodern. The films of Pedro Almodövar, Westport, C T 1995, S. 25-39, S. 29.

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wegen konnte nur nachts oder am Wochenende gedreht werden. Carmen Maura und Felix Rotaeta trieben das Geld für den Dreh - eine halbe Million Peseten, d.h. ca. 3000 Euro - im Freundeskreis auf. 28

Ceesepe, Filmplakat zu Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón, 1980. Das Filmplakat ähnelt einem Comic darin, dass es in Einzelbilder (sogenannte panels) aufgeteilt ist und Sprechblasen sowie Geräuschwörter enthält. Gleichzeitig bricht es jedoch mit den formalen Konventionen dieser literarischen Gattung. 2 9 Die elf Einzelbilder werden nämlich nicht verknüpft, weder bildlich, weil keine Bildelemente wiederholt werden, noch textuell, weil kein Text vorhanden ist. Eine Ausnahme von der fehlenden bildlichen Verknüpfung stellen die zwei panels rechts unten dar, in denen sich ein Mann als Felix Rotaeta vorstellt, um der angesprochenen Frau im nächsten panel eine Ohrfeige zu 28 Vgl. Redebeitrag des Schriftstellers Diego Galán auf der DVD Pepi, Lud, Bom aus der El/Wi-Reihe; die Filmbesprechung im Hinblick auf Dilettantismus erfolgt in IV.2. 29 Zu formalen Konventionen des Comics vgl. Ricarda Strobel, „Text und Bild im Comic", in: Klaus Dirscherl (Hrsg.), Bild und Text im Dialog, Passauer Interdisziplinäre Kolloquien, Band 3, Passau 1993, S. 377-395, S. 382-387.

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verpassen. Hier wird auf die Filmhandlung Bezug genommen. Die Sprechblasen werden entgegen der Konvention verwendet, indem sie anstelle von Text die Namen der abgebildeten Schauspieler enthalten. Die Verwendung von panels, Sprechblasen und Geräuschwörtern dient Ceesepe nicht dazu, ein Comic zu kreieren, sondern einen Look, der fiir das Bildungsbürgertum ein Alifront ist.30 In seiner subversiven Kritik des Bürgerlichen entspricht das Plakat dem Film. Die im Film verwendeten Zwischentafeln stammen von Guillermo Pérez Villalta. Sie erinnern an fanzines, denn sie sind mit der Hand gezeichnet und geschrieben, die Buchstaben sind unterschiedlich dick und groß und nicht auf horizontalen Linien angeordnet. Die Zwischentafeln übernehmen in Pepi, Lud, Born die Funktion der Textfelder im Comic: Sie verknüpfen Filmsequenzen (beim Comic werden panels verknüpft), indem sie Zeit- oder Handlungssprünge markieren: „Pepi estaba sedienta de venganza", „A la mañana siguiente Pepi recibe su primera lección", „También el policía supo lo que era estar sediento de venganza". Im Unterschied zum Textfeld des Comics sind die Zwischentafeln in Pepi, Lud, Born aber überflüssig für das Verstehen der Handlung. Es gilt das gleiche wie für das Plakat: Die formalen Konventionen des Comic werden unterwandert. Nachdem Luci ihren Mann verlassen hat, zieht sie bei Bom ein, die in der Wohnung zweier schwuler Maler wohnt. In der außerfilmischen Wirklichkeit ist dies das Wohnatelier von Juan und Enrique Costus, die sich im Film selbst spielen. An den Wänden hängen verschiedene ihrer Gemälde, sichtbar für das Filmpublikum sind u.a. das Porträt der Franco-Witwe Carmen Polo,31 Caños de la Meca 2 und 5 32 sowie verschiedene Gemälde aus der Serie La Marina te llawa33. Die Marinas sind Abbildungen von Plastikpuppen in Flamencokleidern, wie sie viele spanische Haushalte zieren und wie sie von Urlauberinnen als Spanien-Andenken gekauft werden. Smith sieht in dieser Motivwahl „the postmodern cult of the ready-made"34 und damit Bezüge zu Duchamp und der historischen Avantgarde. In der Überdimensionierung — die Gemälde sind 2,44 Meter hoch - liegt eine Parodie dessen, was im Franquismus und darüber hinaus als typisch Spanisch gilt. 30

Das nämlich sieht im Comic ein Sinnbild für Kulturverfall und Verblödung der Jugend sowie

eine Bedrohung fiir die Vorherrschaft des Wortes gegenüber dem Bild, vgl. Strobel 1993, S. 377. 31

Enrique Naya, Carmen Polo, Viuda de Franco, Acryl/Spanplatte, 150 x 1 5 0 cm, 1978.

32

Enrique Naya, Caños de la Meca 2, Acryl/Spanplatte, 240 x 120 cm, 1979 und Enrique

Naya, Caños de ta Meca 5, Acryl/Spanplatte, 100 x 122 cm, 1980 33

alle Costus, Acryl/Spanplatte, 244 x 122 cm, 1980.

34

Smith 1995, S. 29.

IV. Künstlerische Praxis in der Movida Auch das Porträt von Carmen Polo ist eine Parodie.35 Die mit Schmuck behängte Franco-Witwe zeigt darauf lächelnd ihre großen Zähne, die Hand huldvoll zum Gruße gehoben. Malstil, Farbwahl und das Thema 'Prominentenbild' entsprechen der nordamerikanischen Pop Art. Der Titel der Serie, aus der dieses Gemälde stammt (Paso trascendental: Del Diez Minutos al Hola), legt nahe, dass ein Foto aus einer Klatschzeitschrift als Zeichenvorlage diente. Eine Ikone des Franquismus wird zur Pop-Ikone in einer Parodie des Führerkultes bzw. des Prominentenkultes, der nach Regimeende fortbesteht. Ausgerechnet unter diesem Porträt steht das Sofa, auf dem Pepi, Luci und Bom Kokain schnupfen, Pornocomics lesen und überlegen, wie sie ihr gemeinsames Leben verfilmen.

Auf dem Sofa in Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón: links Bom, daneben Pepi; im Hintergrund das Gemälde Carmen Polo, Viuda de Franco.36 Sie funktionieren das Sofa um, von einem Ort des gesitteten Kaffeekränzchens zum Ort alternativer Lebensformen - der Nationalkatholizismus in Gestalt seiner 35

Quelle: Carrero/Naya 1992, S. 46.

36

Quelle: http://www.clubcultura.com/clubcine/clubcineastas/almodovar/pepi/images/pe-

pigr4.jpg, Abruf: 28.6.2007.

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First Lady muss tatenlos zusehen. Das Bürgerliche wird in Pepi, Luci, Born sowohl auf der Handlungsebene als auch in den Gemälden parodiert,37 sodass die Provokation durch die Integration von Malerei verstärkt wird. Die musikalische Komponente wird beigesteuert von Alaska und ihrer Band Pegamoides. Alaska spielt die Gitarristin Bom, ihre Band heißt im Film „Bomitoni", wobei das „B" wie „V" ausgesprochen wird, was an das Verb „vomitar" (sich übergeben) erinnert. Sie spielen zwei eigene Stücke: Den Pop-Rock-Song Muy cerca de ti und das punkige Murciana. Auch andere musikalische Stilrichtungen sind im Soundtrack enthalten, weshalb Holguin die Filmmusik von Pepi, Luci, Bom zu Recht als Collage bezeichnet.38 Pedro Almodóvar: La canción de los títulos de crédito se llama Little Neals, la canta una chica inglesa

que salía en Rocky Horror Picture Show. Por cierto que uno de los sitios más de moda en Nueva York se llama Neals y es de ella. Hay también un pasodoble, Mi loca juventud, cantado por una flamenca, un trozo de zarzuela, discos de aquí y de allá y dos canciones de Alaska.39

Die Musik schafft hier nicht nur eine Klangkulisse. Sie wird mit verschiedenen Lebensentwürfen verknüpft und stiftet dadurch Sinn: Die Welt der drei Frauen klingt nach Pop, Punk und Rock und damit nach Neuentdeckung und Aufbruch. Sequenzen, in denen Lucis Ehemann im Mittelpunkt steht, sind mit Bolero unterlegt und dadurch aufgeladen mit der Bedeutung Tradition. 40 Die beiden Welten werden in der Schlusssequenz zusammengeführt. Luci ist zu ihrem Mann zurückgekehrt, nachdem er sie krankenhausreif geschlagen hat und dies die Art der Behandlung ist, die sie sich wünscht. Pepi und Bom gehen zum Klang eines Boleros über eine Autobahnbrücke und schmieden Zukunftspläne. Bom: El pop ha pasado de moda, no se lleva. Tengo que buscar otro estilo y no veo nada claro. Pepi: Sí. Y en eso ya he pensado yo. ¿Por qué no te haces cantante de boleros? [...] Bom: Me encantaría. [...] ¿Pero tú crees que yo sabré?

Zur Parodie der bürgerlichen Gesellschaft in Pepi, Lud, Bom vgl. auch V.3.4. Vgl. Holguin 1994, S. 192. 39 Almodövar, zitiert nach: Vidal 1989, S. 36. 40 Etwa die Sequenz, in welcher der Ehemann Luci auf der Straße vor ihrem Haus widerstrebend Geld fiir Einkäufe gibt. 37

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Pepi: Desde luego, autenticidad no te va a faltar, y es lo importante. [...] Bom: ¡Uffl, cuántos cambios para un sólo día. Pepi: Anímate. Ante ti se abre una nueva vida. Bom: Ante ti también. Pepi: Eso espero.

Indem Bom mit dem Gedanken spielt, anstelle von Popsongs in Zukunft Boleros zu spielen, entdeckt sie eine traditionelle spanische Ausdrucksform für sich. Der Film beginnt mit Rock und endet mit Bolero, vielleicht in der Hoffnung, dass die neue Generation die alten Domänen erobern wird.

IV. 1.3 Parodie künstlerischer Manifestationen Parodie ist gängige Praxis in der Movida und stellt eine weitere Form der Auflösung von Gattungsgrenzen dar. Denn indem traditionelle Ausdrucksformen parodiert, also gegen die Konventionen verwendet werden, werden sie ausgehöhlt und zerstört. Dies ist in zahlreichen Kunstprodukten der Movida der Fall: Ein Stilmittel des antiken Dramas liefert die Struktur für einen Rocksong (Almodóvar&McNamara, Gran Ganga), ein Plattencover bedient sich eines Veldzquez-Gemäldes (Ouka Lele, Peor Imposible), ein homoerotisches Porträt tarnt sich als Heiligenbild (Costus, Cristo de la Vega). In all diesen Fällen werden die Vorlagen unterwandert, indem ihre Vermittlungsform übernommen, aber mit fremden Inhalten gefüllt wird. Die Vorlage wird geweitet bis sie platzt.

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o Ouka Lele, Peor Imposible, 198541 Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die Fotoarbeit Peor Imposible als Paraphrasierung von Diego Velazquez' Las Meninas aus dem Jahr 1656 (Abbildung s. Anhang). Ouka Lele stellt darin die berühmte Ankleideszene der Infantin Margarita nach, an einem Strand auf Mallorca. Das Foto hat sie im Nachhinein in leuchtenden Farben koloriert. Anstelle höfischer Gewänder tragen die abgebildeten Menschen sackartige Kleider, die nur in ihrer Form an die prunkvolle, historische Vorlage erinnern. Der Hund aus dem Original wird zu einem nackten Mann mit strubbeligen Haaren, der auf allen Vieren im Sand kauert und die 41 Ohne Werkangaben, Quelle: Ouka Lele, Fotografía 1976-1987, Madrid: Ministerio de Cultura, 1987, S. 53; für das Plattencover wurde am unteren Bildrand in schwarzer Schrift „Peor Imposible - Passión" eingefügt, s. http://cgi.ebay.ie/PEOR-IMPOSIBLE-LP-PASSION-P-R-O-MO-FOTO-OUKA-LELE JW0QQcmdZViewItemQQitemZ290063571194#ebayphotohosting, Abruft 5.3.2007.

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Zähne fletscht. Die Ähnlichkeit mit den Meninas wird vor allem durch den Bildaufbau erzeugt, der dem altmeisterlichen Gemälde offensichtlich entlehnt ist: Der nackte Punker liegt auf der den Betrachterinnen am nahe gelegensten Bildebene. Durch seine Nacktheit und seine geduckte Haltung unterscheidet er sich von den anderen Figuren im Bild. Er scheint das Geschehen hinter sich mit seinem grimmigen, angeekelten Gesichtsausdruck zu kommentieren: „Peor imposible", schlechter geht 's nicht. Die Figuren auf der zweiten Bildebene sind in unnatürlichen Posen eingefroren, erstarrt in steifer Würde. Auf der dritten Bildebene befinden sich ein Maler (erkennbar an Pinsel und Palette) und zwei weitere Figuren; dahinter, auf einer vierten Bildebene, posiert eine zehnte Person. Es ist nicht zu übersehen, dass alle abgebildeten Personen sowohl mit ihrer Position im Bild als auch mit ihrer Haltung die Figuren der Vorlage imitieren. Nicht verarbeitet sind die Prinzessinneneltern, die im Original im Spiegel an der Wand und damit auf der vierten Bildebene reflektiert werden (wohl, weil dies zwei Personen zu viel gewesen wären — die Band hatte zehn Mitglieder). Eine weitere Abweichung liegt darin, dass Ouka Lele sich nicht selbst dargestellt hat wie Velázquez, der sich als Maler im Bild selbst porträtiert. Zusammengenommen mit seinem Titel kann man die Fotoarbeit als Kommentar zum Zustand der Gesellschaft lesen: Auf einer der Fotografin nahestehenden Ebene befindet sich eine Minderheit, die durch ihr Außeres und ihr Verhalten von der Norm abweicht. Dies sind die Movida-Akteurlnnen in Gestalt des nackten Punkers. Auf einer zweiten Bildebene befindet sich die starre, gelähmte Mehrheit, bemüht, alte Normen und Ideale aufrechtzuerhalten. Auf einer dritten Bildebene finden sich als Beobachterinnen der grotesken Szenerie die traditionelle Kunst (symbolisiert durch den Maler ohne Leinwand) sowie Kirche und möglicherweise das Militär (im Original eine Nonne und ihr Begleiter). Ouka Lele bestreitet im Interview, dass hinter ihrer Fotografie eine kritische Aussage steht. Die Band mit dem selbstironischen Namen Peor Imposible habe sich einfach in dieser Form für ihr Plattencover fotografieren lassen wollen: Ouka Lele: Ahí es que era el grupo de música, querían salir como Las Meninas en la fotografía. Se habían hecho la ropa y todo y fuimos a Mallorca porque ellos eran de Mallorca y con su ropa y todo cada personaje está colocado igual que en el cuadro de Las Meninas. [Querían la fotografía] para la portada de su disco. Yo elegí el sitio y les coloqué. Hicimos muchas fotos aquel día. Julia Nolte: ¿Lo hiciste simplemente porque lo querían o te gustó que fuera una burla de lo tradicional, de lo clásico?

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Julia Nolte Ouka Lele: No. Es que ellos querían eso. Ellos decían 'Nuestro sueño es ser Las Meninas , entonces. Para mí es un trabajo hecho por encargo.

Ob beabsichtigt oder nicht, Peor Imposible ist lesbar als Form der Appropriaalso als Aneignung eines existierenden Kunstwerks mit subversivem Effekt. Velázquez' berühmtes Gemälde wird paraphrasiert mit dem Ergebnis, dass es überholte Gesellschaftsstrukturen offenlegt. Zum zweiten Beispiel: Das Lied Gran ganga, das Almodóvar in seinem Spielfilm Laberinto de pasiones verwendet, parodiert die Verwendung eines Chors, wie sie im antiken Drama praktiziert wird. Es folgt dem traditionellen Muster: Ein verzweifelter Held stellt eine existenzielle Frage, die ein Chor für eine übergeordnete Entscheidungsinstanz wiederholt. In diesem Fall handelt es sich um die Fragen eines Mannes, der vor lauter Schlussverkauf, Luxus und Sex nicht weiß, wo ihm der Kopf steht. tion'i2,

Gran ganga43 Vivo en continua temporada de rebajas sexo, lujo y paranoia. Ése ha sido mi destino. 5

¿Quién soy yo? y ¿a dónde voy? ¿Quién es él? y ¿a dónde va? ¿De dónde vengo?

42 Lucie-Smith 1999, S. 368\ Appropriation meint die Reproduktion oder Paraphrasierung existierender Kunstwerke meist aus subversiven Gründen. Ouka Lele steht damit in einer Tradition von Künstlern wie Marcel Duchamp, der Appropriation praktizierte, als er Leonardo da Vincis Mona Lisa mit Schnurr- und Spitzbart versah. Ein weiteres Beispiel fiir eine gleich zweifache Appropriation in der Movida findet sich in Almodóvars Spielfilm Pepi, Lud, Bomr. Ceesepe paraphrasiert im Abspann Pablo Picassos Les Demoiselles d'Avignon (1907), das wiederum Paul Cézannes Cinq Baigneuses (1885-87) paraphrasiert, vgl. Holguin 1994, S. 152f. 43 P. Almodóvar/B. Bonezzi, Gran ganga, 1982; auf der CD Almodóvar&McNamara, ¡Cómo está el servicio de señoras!, Madrid: Discos Lollipop 2005 (eine Wiederveröffentlichung der Originalaufnahmen von 1982/83 bei Discos Victoria) finden sich zwei Versionen von Gran ganga: die eingespielte Fassung von 1982/83 sowie der Live-Mitschnitt vom Konzert in Rock-Ola am 7.1.1983.

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y ¿Qué planes tengo? ¿De dónde viene? y ¿Qué planes tiene? Gran Ganga, Gran Ganga soy de Teherán. Gran Ganga, Gran Ganga él es de Teheran. Calamares por aquí boquerones por allá. Mi vida es puro vicio y esto me saca de quicio. Y así voy y vengo y por el camino me entretengo. ¡Muéstrate ya! Estoy aquí. ¡Muéstrate ya! Él está aquí. Te estoy buscando, búscame a mí. Te está buscando, búscale a él. Gran Ganga, Gran Ganga etc.

Die traditionelle Gattung wird sowohl inhaltlich als auch auf der Ebene der Vermittlung gesprengt. Zur inhaltlichen Komponente: Der Sprecher strebt von einer „lasterhaften" Vergnügung zur anderen (Verse 19, 21 f.) und findet doch keine Erfüllung, denn gegen Liedende sucht er immer noch: „Te estoy buscando", ich suche dich, sagt er zu einem unbestimmten Angesprochenen (V. 28). Dass er die Suche nicht aktiv angeht, sondern es vorzieht gefunden zu werden, wird in der darauffolgenden Liedzeile klar. Dort heißt es „búscame a mí", suche mich. Der Sprecher nimmt lieber Angebote wahr, er konsumiert, was ihm geboten wird. Eine Betrachtung der im Liedtext angelegten Isotopien [Konsum] und [Sinnsuche] legt nahe, dass sich der Sprecher über den Konsum definiert. Er existiert, solange er Ware, Vergnügen und Körper konsumiert. Die Fragen des Sprechers sind nicht als philosophische Sinnfragen zu verstehen wie sie ein

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antiker Held formulieren würde, sondern als Überlegungen eines unter Sozialstress Stehenden. Der Sprecher sorgt sich um seinen Kleidungsstil (Wer bin ich? (V. 5)) und seinen überfüllten Terminkalender („Wohin gehe ich?" (V. 6), „Woher komme ich und welche Pläne habe ich?" (V. 9f.)). Der Chor greift die Alltagssorgen des Sprechers auf und unterstützt ihn auf der Suche nach dem nächsten Angebot: „Muéstrate ya, estoy aquí", verlangt der Sprecher, „Muéstrate ya, él está aquí", bekräftigt der Chor (Verse 24-27). „Te estoy buscando, búscame a mí", verlangt der Sprecher, „Te está buscando, búscale a él", bekräftigt der Chor (Verse 28-31). 44 Er ist zwar auch hier eine übergeordnete Instanz, welche die Sorgen des Sprechers weitergibt, aber anstelle von Kontakt zu einem Gott hat dieser Chor wohl eher den direkten Draht zu Stilberaterinnen und Partnervermittlungen. Die traditionelle literarische Form wird unterwandert mit einer unpassenden Thematik. Unpassend, weil sie dem Alltag der modernen Madriderinnen entnommen ist, die von Geschäft zu Geschäft eilen (V. lf.) und von einer Bar zur anderen (V. 17f.), und dies dem der Gattung inhärenten Ernst widerspricht. Hohes Pathos wird verwendet für die Vermittlung eines nach traditionellem Verständnis niederen Sprechgegenstandes. Auf der Vermittlungsebene erfolgt die Parodie textuell, klanglich und bildlich. Der Sprecher heißt „Gran Ganga" als handele es sich dabei um den Titel eines orientalischen Fürsten und nicht um die umgangssprachliche Bezeichnung für „Schnäppchen"; die Wiederholung wird als Stilmittel übertrieben eingesetzt (der Chor wiederholt fast den gesamten Text des Vorsängers) und wirkt dadurch lächerlich. Klanglich gesehen verleiht die nasale Stimme Almodóvars dem Lied einen orientalischen aber auch salbungsvollen, pathetischen Klang. Visuell drückt sich die Parodie in unpassender Kleidung aus. Almodóvar und McNamara sehen nicht aus wie Menschen, die sich ernsthaft auf Identitätssuche befinden (oder doch?): Bei der Live-Darbietung von Gran ganga in der Sala Rock-Ola am 7.1.1983 trägt McNamara ein knappes Lacklederleibchen und Almodóvar einen geblümten Morgenrock.

44 Der Chor besteht aus Ana Curra, Carlos García Berlanga, Javier Pérez Grueso und Freunden, vgl. Booklet zur CD /Cómo está el servicio de señoras! von Almodóvar&McNamara. Beim Auftritt in Rock-Ola am 7.1.1983 übernimmt McNamara den Part des Chors.

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Costus, Cristo de la Vega, Acryl/Sperrholz, 120 x 120 cm, 198145 Das dritte Beispiel fiir eine parodistische Kunstpraxis in der Movida stammt von Costus. Cristo de la Vega zeigt einen Menschen, der an ein unsichtbares Kreuz genagelt ist. In seinen blutüberströmten Händen und Füßen stecken Nägel. Sein Kopf ist zur Seite geneigt, der Mund leicht geöffnet. Das Geschlechtsteil ist von einem weißen Tuch verdeckt. Ein Farbstrudel aus Rot, Gelb, Blau, Schwarz, Weiß und Lila bildet den Hintergrund, wobei die Leinwand so bemalt ist, dass eine Ecke nach unten zeigt. Der Titel des Gemäldes suggeriert eine Christus-Darstellung. Bei der Betrachtung entsteht allerdings nicht der Eindruck, hier einen zu Tode gepeinigten Jesus vor sich zu haben. Die Figur, deren Ähnlichkeit mit Juan Costus unverkennbar ist, scheint sich weniger in Todesschmerz zu befinden als in einem Zustand sexueller Ekstase. Darauf deuten die Stellung der rechten Hand, der Gesichtsausdruck sowie der psychedelische Bildhintergrund, der einen Rauschzustand nahelegt. Das über das Geschlechtsteil drapierte Tuch dürfte wohl weniger der Pietät als dem Zweck dienen, die Männlichkeit der Figur zu verdecken und die Illusion länger aufrechtzuerhalten, dass es sich um eine Frau handelt. Die androgyne Ausstrahlung wird

45

Quelle: Carrero/Naya 1992, S. 75.

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durch die schmale Taille der Figur verstärkt und dadurch dass die Darstellung keine Körperbehaarung erkennen lässt. Diesen Eindruck muss auch Fabio M c N a m a r a gehabt haben, der das Gemälde deshalb zu seinem Lieblingsbild erkor. Er fühlt sich von der „Plastizität des Fleisches und der Sinnlichkeit der geschwungen Formen" angesprochen, schreibt er 1992: [E]s mi favorito. En él las leyes de la física se tornan irreales, la Cruz es invisible, el cuerpo está clavado en el aire, está flotando en el espacio. [...] El fondo es un torbellino de color, es el espacio que intenta absorber, como un remolino, la figura. Esta ya no sufre pues ha alcanzado su meta: la muerte y la eternidad. Es de destacar en el cuerpo de Juan, la plasticidad de la carne y la sensualidad de sus formas onduladas que le dan un cierto aire andrógino y misterioso [...].46 Costus verwenden die typischen Elemente eines Jesusbildes (Bildtitel, Körperhaltung, Nägel, Keuschheitstuch) u m zu kaschieren, dass es sich tatsächlich um ein homoerotisches Porträt handelt. Dadurch dass hier Juan Costus Modell stand, ist eine weitere Lesart möglich: Sie versteht den Schwulen als den Gekreuzigten, von der Gesellschaft Angeklagten und Gerichteten. Dieses Unterkapitel hat nicht nur gezeigt, wie durch Parodie bestehende Ausdrucksformen gesprengt werden, sondern auch, dass eine kritische Lesart der Kunstprodukte der Movida möglich ist. Hinter der Spaßfassade befindet sich ein explosives, subversives Potenzial.

I V . 2 DILETTANTISMUS ALS KUNSTPRINZIP

Yo les admiraba a los Pegamoides porque era una actitud que te trasmitía mucha valentía. Yo necesitaba eso y cuando lo descubrí para mí fue todo lo que me faltaba aprender. Lo que no me habían enseñado en el conservatorio me lo enseñaron ellos. Lo que fue tener una idea y en ese mismo momento plasmarla y sacar algo con otros cuatro en el local de ensayo para mí era realmente creativo. Y bueno, era muy divertido, porque yo con ellos no empleaba terminología musical. Decíamos: 'Damos la vuelta esta cuatro veces y empezamos otra vez en la palabra rosa puñeta'. Ellos no hablaban de compases ni de tonalidades ni de harmonías ni de nada. Era divertido.47

46

McNamara, „Costus", in: Carrero, Naya 1992, S. 73f., S. 74.

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Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 9.

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Als Ana Curra als Keyboarderin bei Alaska y los Pegamoides anfängt, hat sie neben der Schule sechs Jahre lang klassisches Klavier am Konservatorium gelernt. Sie ist die einzige der Band, die ein Instrument beherrscht, 48 und eine der wenigen Movida-Akteurlnnen, die eine künstlerische Ausbildung haben. 49 Fast alle lernen durch Ausprobieren, so auch Ouka Lele, Alaska, Alberto GarciaAlix, Pedro Almodóvar, Fabio McNamara und Eduardo Benavente. Fragt man Ouka Lele, was sie fotografieren würde, wenn sie die Movida abbilden wollte, antwortet sie: Así como una escenografía dentro de una gran habitación y gente joven investigando en las diferentes artes. Porque toda la gente de la movida yo creo que se ha atrevido a hacer cosas que no sabían lo que iban a hacer, probar, experimentar, investigar.50 Die Experimentierfreude ist ein Charakteristikum der Movida. Sie drückt sich aus in der Vielfachbetätigung ihrer Akteurinnen (vgl. IV. 1.1) und geht einher mit Dilettantismus. O b absichtlich oder aus Notwendigkeit - in jedem Fall ist der Dilettantismus eine Absage an das Expertentum, an die Virtuosität. Für die Movida gilt, was Martin Büsser im Zusammenhang mit dem Entstehen von Punk und NewWave in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre anmerkt: „Aus der Not, also dem Dilettantismus, wurde eine Tugend gemacht: Er galt im Gegensatz zur etablierten Kultur als die echtere, ursprünglichere Ausdrucksform, war

48

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 13: „Todos aprendieron sobre la marcha. Autodidactas

todos, todos." 45

Weitere Ausnahmen: Costus studieren zunächst an der Escuela de Artes Aplicadas de Cádiz,

wo sie sich 1974 im Dekorationskurs kennenlernen, und 1976 in Madrid an der Escuela de Artes y Oficios, wo sich Enrique auf Zeichentrickfilm und Juan auf Werbezeichnen spezialisiert, vgl. Antonio Sánchez Casado, „Cronología", in: Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antològica, Madrid: Comunidad de Madrid, 1992, S. 219-234, S. 219; Bernardo Bonezzi kann schon mit sechs Jahren Gitarre spielen, ist mit 13 Jahren Bandleader der Zombies und nimmt mit 15 seinen selbstkomponierten Hit Groenlandia auf, vgl. Seisdedos 2005, S. 55; Radio Futura gilt als Intellektuellenband, deren „theoretisches Bewusstsein" von Luis Puig und Jenaro Talens hervorgehoben wird: „Radio Futura no era sólo uno de los grupos de mayor impacto de toda una década pródiga en cambios, sino uno de los pocos, si no el único, con conciencia teórica de lo que estaba haciendo"; Luis Puig/Jenaro Talens, „Los motivos del rock. La propuesta sonora de Santiago Auserón", in: Santiago Auserón, Canciones ile Radio Futura. Con prólogo de Luis Puig y Jenaro Talens, Valencia: Pre-Textos, 1999, S. 7-22, S. 19. 50

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 1.

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sozusagen Antikunst, eine Kultur, die sich dem Elitären und Erhabenen verweigerte, also auch dem Virtuosentum [...]." 51 Das Bekenntnis zum Dilettantismus und die darin enthaltene Provokation spiegeln sich auf musikalischer Ebene zum Beispiel in den Bandnamen. Peor Imposible (Schlechter Geht 's Nicht), Kaka de Luxe, Parálisis Permanente (Querschnittslähmung), Siniestro Total (Totalschaden), Zombies, Seres Vacíos (Leere Wesen) - mit derartigen Namen werten sich die Bands selbst ab, gleichzeitig aber auch das Publikum und die Plattenfirmen, die ihnen Beachtung schenken.52 Almodóvar&McNamara inszenieren ihre Amateurhaftigkeit nicht im Namen, sondern beim Auftritt: Das Playbackgerät steht für alle sichtbar mitten auf der Bühne (vgl. die Analyse von Monja jamán in IV. 1.1), und Almodóvar pflegt die Bühne zu betreten, „ataviado con bata y zapatillas con pompón, rulos y medias hasta las rodillas, como un ama de casa atacada de los nervios y la olla en el fuego" 53 . Die beiden unternehmen gar nicht erst den Versuch, professionell zu wirken. Das gilt auch für ihre Musik, die Sprechgesang mit Keyboard und Schlagzeugcomputer verbindet und sich einfacher Klangeffekte bedient (z.B. ein künstlich wirkender Wind und eine nasale Stimme, um dem Lied Gran ganga einen orientalischen Klang zu verleihen). Indem sie zu ihren mangelnden technischen Möglichkeiten und Fähigkeiten stehen, erwerben sich die beiden Respekt - wenn nicht für ihre musikalische Leistung so doch für ihre Unverfrorenheit. Marcos Ordóñez: L o de Almodóvar y M c N a m a r a es un bromazo de mucho cuidado, al q u e tampoco hay que buscarle excesivas justificaciones: o los tomas c o m o son o te alejas encogiéndote de hombros. Personalmente, la estética cutre acaba repateándome los hígados, y la sordidez por la sordidez nunca me ha estimulado demasiado, pero el saludable descaro de esta pareja les libra, por un pelo, de caer en el patetismo [...]. 5 4

51

Martin Büsser, „Gimmie Dat Old Time Religion. Pop-Werte im Wandel", in: Peter Kem-

per/Thomas Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hrsg.), 'Alles so schön bunt hier'. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute, Stuttgart 1999, S. 34-42, S. 37f. 52

Das Bekenntnis zum Dilettantismus ist auch dem Punk eigen: Johnny Rotten verkündet,

„We want to be amateurs", und die Bands geben sich Namen wie the Unwanted, the Rejects, the Clash, the Worst, vgl. Dick Hebdige, Subculture. The meaning of style, London/New York 2002, S. 109f. 53

Holguin 1994, S. 265f.

54

Ordönez im Mai 1983, zitiert nach: Vidal 1989, S. 40f.

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Almodóvar praktiziert den bewussten Dilettantismus auch auf filmischer Ebene, etwa in Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón. Seinen ersten Spielfilm drehte er in 18 Monaten (1979-1980) mit einem winzigen Budget. Der Ton ist gedämpft, das Bild grobkörnig, weil es von 16 mm auf 35 mm vergrößert wurde.55 Vidal schreibt, dies sei der schlechteste Film des spanischen Kinos, was die technische Umsetzung betrifft, lobt aber die Vielfalt der darin enthaltenen cinematografischen Ideen.56 Es stellt sich die Frage, in welchem Maße die Realisierung das Ergebnis einer absichdichen Technik oder finanzieller Notwendigkeit ist.57 Figuren die Köpfe abzuschneiden, noch dazu, wenn sie gerade sprechen (z.B. dem Regisseur selbst, der bei einer Party als Spielleiter von „Erecciones Generales" auftritt), ist jedenfalls keine Frage des Budgets, sondern geschieht bewusst — oder aus Versehen.58 Denkbar ist, dass Almodóvar es bei seinem ersten Spielfilm noch nicht besser kann. Paul Julian Smith hat die Erzählstruktur des Films untersucht und festgestellt, dass die Sequenzen auf der Party, im Nachtclub und beim Konzert von Bomitoni improvisiert zu sein scheinen, tatsächlich aber bis ins Detail dem Drehbuch entsprechen.59 Dies spricht dafür, dass der amateurhafte Anschein beabsichtigt ist. Manche Sequenzen sind allerdings in der Tat improvisiert, z.B. wenn der Transvestit Fabio McNamara, der im Film sich selbst spielt, den Postboten verführen will. Es entsteht in jedem Fall der Eindruck von Authentizität. Das Filmpublikum denkt, so sei es in der Movida wohl zugegangen. In der Tat enthält Pepi, Luci, Bom zahlreiche dokumentarische Elemente,60 weshalb es gerechtfertigt ist, den Film eine „authentisch pulsierende Leinwandnachbildung

55

Vgl. Garcia/Maldonado 1989, S. 240 und Smith 1995, S. 26.

Vidal 1989, S. 271: „la peor película del cine español en cuanto a realización". 57 Vgl. Smith 1995, S. 26. 58 Wollte man das Abschneiden des Kopfes als bewusste Technik deuten, könnte man darin eine Kritik am demokratischen Wahlprozess erkennen, etwa den Vorwurf der Kopflosigkeit. 55 Vgl. Smith 1995, S. 27. 60 Dokumentarische Elemente sind (1) die Verwendung von Laienschauspielerinnen in der Rolle, die sie auch in der Movida innehaben, etwa Alaska als Guitarristin Bom oder Fabio McNamara als Transvestit; (2) Techniken, die an einen Dokumentarfilm erinnern, etwa Verwendung eines Moderators (Pepi); (3) Originalschauplätze der Movida als Drehorte, z.B. die Casa Costus. Die Kombination von dokumentarischen und fiktiven Elementen hat in der Movida die Funktion, der Subkultur an die Öffentlichkeit zu verhelfen, vgl. Julia Nolte, „La Movida - documento y ficción de una nueva realidad", Vortrag beim Deutschen Hispanistentag 2007 in der Sektion Docuficción 56

- ¿una tendencia transmediática

en la cultura española actualDresden

30.3.2007.

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der legendären movida"61 zu nennen. Dass der Film nicht nur als repräsentativ für die damalige Zeit, sondern auch für das damalige Kinoschaffen angesehen wird, belegt die Tatsache, dass El-País-Redakteurlnnen ihn im Jahr 2003 in die DVD-Reihe Uti país de eine aufnahmen.62 Schon 1989 sagte Pedro Almodóvar, dass Pepi, Luci, Bom ein Klassiker der Nachtvorfuhrungen sei: D e cualquier forma, tengo un vínculo muy sentimental con ella por ser la primera y por lo que significó. Es un clásico de las sesiones de madrugada, la gente la ha visto un montón de veces y se ha convertido en una película de culto. 63

Als Kultfilm gilt auch Arrebato (1979) von Iván Zulueta. Dieser Film über den Untergang eines heroinabhängigen Filmemachers wird heute als „emblema de la movida" und „culto" bezeichnet,64 blieb zur Entstehungszeit jedoch erfolglos. Zulueta führt dies auf die schlechte technische Durchfuhrung zurück: Tuvo una difusión frustrante. En Madrid se estrenó fatal, y cuando la llevamos al extranjero fue recibida con reproches como 'está usted equivocado en cada uno de los planos'. H u b o gente que llegó a creer que la película nunca había existido. Q u e era una leyenda urbana. 6 5

Die Wahl eines bestimmten Diskurses geschieht nicht nur absichtlich, sondern auch aus Notwendigkeit heraus. Dies wird besonders deutlich bei der Band Kaka de Luxe. Die Band gilt als bahnbrechend für die Entwicklung der spanischen Popmusik, aber gleichzeitig wird von ihr gesagt, dass ihre Musikerinnen nicht gut gewesen seien.66 Lechado schreibt ihren Erfolg der Tatsache zu, dass

Klaus-Peter Walter, „Die spanische Kinokultur der Gegenwart", in: Walther L. Bernecker/Klaus Dirscherl (Hrsg.), Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main 4 2004, S. 725-765, S. 736. 61

62 In dieser DVD-Reihe verkaufte die spanische Tageszeitung El País im Jahr 2003 und in einer zweiten Reihe 2004 die ihrer Meinung nach besten spanischen Kinofilme als Beigabe zur Zeitung. Pepi, Luci, Bom wurde als 19. Film in der ersten Reihe verkauft.

Almodóvar, zitiert nach: Vidal 1989, S. 38. Seisdedos 2005, S. 59. Auch dieser Film wurde in die DVD-Reihe Un país de eine aufgenommen, allerdings erst in die zweite Reihe als Nr. 42. 63

64

Zulueta, zitiert nach: Seisdedos 2005, S. 59. Dies war Zuluetas letzter Film. Danach machte er Gelegenheitsarbeiten für das Fernsehen und entwarf Kinoplakate. Derzeit erholt er sich Seisdedos zufolge allmählich von seiner Drogensucht. 65

66

Lechado 2005, S. 51f.: „no eran buenos músicos".

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sie witzig waren und die ersten, die eine neue Popkultur nach Spanien brachten. Alaska, die Gitarristin von Kaka und Sängerin der Pegamoides, gibt offen zu, dass sie sich für den Punk entschied, weil hier ihrer Meinung nach vier Akkorde genügten, um sich damit auf der Bühne präsentieren zu können: [E]l punk te permitía subir a un escenario y ser como Los Ramones, porque con tocar cuatro acordes y hacer lo que quieres hacer más o menos bien no necesitas ser tan maravilloso como Bowie o Lou Reed. [...] N o teníamos ninguna posibilidad de ser tan glamourosos ni sexys a los trece o catorce años y el punk era mucho más fácil y cercano [que el glam]. 6 7

Ihr Bandkollege El Zurdo nennt den Punk ein ,Alibi" dafür, nicht spielen zu können („El punk fue una coartada por no saber tocar"), 68 und Eduardo Benavente mag den Klang einer verzerrten E-Gitarre, weil er seiner Meinung nach, Unfähigkeit kaschiert: ,Antes [de entrar en Kaka de Luxe] yo creía que había que estudiar para poder tocar, pero con una guitarra eléctrica y un pedal, no se nota si sabes o no y suena muy bien." 69 Die Lieder der Band seien Zufallsprodukte, sogar Fehlschläge gewesen, sagt Alaska: D e hecho, las canciones de Kaka de Luxe son como intentos fallidos de lo que quieres hacer, o al menos una primera puesta en escena. Porque aunque seguimos pensando que no hace falta saber tocar bien un instrumento ni cantar bien para hacer un grupo, hace falta un mínimo; por lo menos para hacer lo que tú quieres hacer. Es como dibujar y no saber, pues siempre te encuentras un poco frustrado. Porque tú querías a lo mejor hacer una cara; no querías ser directamente cubista. T ú querías a lo mejor hacer otra cosa, pero no te queda más remedio. Y eso es un poco Kaka de Luxe, la idea de intentar hacer un tipo de música, un tipo de canciones que siempre se quedaban en algo que no era exactamente lo que tú querías. 7 0

Die Beschränktheit der eigenen Fähigkeiten ist den Bandmitgliedern bewusst und trotzdem schreiben sie ein Lied wie Pero qué público más tonto tengo (Was ftir ein blödes Publikum habe ich), womit sie sich in die Punktradition der Publikumsbeschimpfung einreihen. Alaska, zitiert nach: Ordoväs 2003, S. 28. El Zurdo, zitiert nach: Ordovas 2003, S. 29. 69 Benavente, zitiert nach: Ordoväs 2003, S. 70. 70 Alaska, zitiert nach: Ordoväs 2003, S. 28. 67

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Julia Nolte Pero qué público más tonto tengo71 Decididamente,

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no sé por qué aguanto a esta gente Q u e la tengo enfrente y que maldita la gracia que me hace seguir En esta palestra aguantando a un montón de bobos A un montón de lelas y que maldita la gracia que me hace seguir Es insuficiente, no os pienso seguir la corriente No os ponéis calientes Y que maldita la gracia que me hace seguir Pero que público más tonto tengo Pandilla fina me ha caído a mí De los dioses heredero directo Y soportando vuestras feas caras de gilis Pero que público más tonto tengo Pero qué público más anormal Yo estoy aquí y canto lo que quiero Y si queréis más dejo de cantar Yo no os aguanto Cada vez que os veo vomito en alto el asco que me dáis Os mando al guano y me quedo tan fresco Yo sigo aquí vosotros ahí estáis

D a s Nicht-Können der Musiker wird schon nach elf Takten offensichtlich, als das Lied abgebrochen u n d noch einmal neu b e g o n n e n wird, weil Schlagzeug und E-Gitarre im T e m p o nicht zueinander fanden. Im weiteren Verlauf des Liedes wird das Schlagzeug immer schneller; der Bass ist nur manchmal zu hören, so als habe das Verstärkerkabel einen Wackelkontakt; die Lautstärke der

71

O. Gara/F. Márquez/C. G. Berlanga/E. Sierra, Pero que público más tonto tengo, 1978.

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einzelnen Instrumente ist nicht aufeinander abgestimmt — die Aufnahme klingt, als habe die Band einen Kassettenrekorder im Probenraum mitlaufen lassen. Auf textueller Ebene wird eine Opposition aufgebaut zwischen dem selbstherrlichen Sänger „hier" und seinem verabscheuungswürdigen Publikum „dort" („Yo sigo aquí/vosotros ahí estáis", V. 26f.). Der Sänger bezeichnet sich als direkten Erben der Götter (V. 15), der tut, was er will (Verse 10 und 19) und der das ihn begehrende Publikum („No os ponéis calientes", V. 11) in seiner Gewalt hat: Er schickt es zum Teufel (V. 24) und hört auf zu singen, wenn es mehr will (V. 20). Das Publikum wird beschimpft u.a. als Haufen von Idioten (V. 6) und Blödmännern (V. 7), deren „hässliche Pennergesichter" (V. 16) kaum zu ertragen sind und die beim Sänger heftigen Brechreiz auslösen („vomito en alto el asco que me dais", V. 23). Der Widerspruch zwischen dilettantischer Vortragsweise und übersteigerter Selbstdarstellung lässt mehrere Schlüsse zu. Zum einen spricht er für ein großes Selbstbewusstsein der Band, möglicherweise auch für Selbstironie. Schließlich hätte die Band den Patzer ja aus der Aufnahme herausschneiden können. So aber nimmt sie es sich heraus, selbst den Einsatz zu verpassen und trotzdem andere blöd zu nennen. Zum anderen kann das Lied als Satire auf selbstherrliche Stars und willenloses Publikum gedeutet werden. Fouce: Más allá del gusto punk por la provocación, no podemos olvidar que estos rasgos han caracterizado a las grandes estrellas del rock, idolatradas por sus públicos pero capaces de dar conciertos de media hora o de dejarlos sin concluir porque el público tiraba cosas (como hizo Lou Reed en aquellos años en un concierto que acabó con incidentes en Madrid). 7 2

Trotz ihres offenkundigen Dilettantismus fand die Band eine Plattenfirma. Mariscal Romero, Produzent an der Spitze des Plattenlabels Chapa Discos, produzierte Kaka de Luxe, weil es ihn amüsierte: [Tjambién grabé a Kaka de Luxe, porque era un concepto nuevo v divertido. Pero lo que siempre he apoyado es la música que se hace en los locales con trabajo y virtuosismo. Nunca he apoyado la auténtica basura de la moda, del traje nuevo, de pintar la mona. Y de hecho yo tuve en mis manos la movida. Y la grabé, porque me divertía. M e divertí mucho grabando las maquetas de Kaka de Luxe. M e parecía genial

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Fouce 2002, S. 224f.

108

Julia Nolte aquel tipo llamado El Zurdo, que era un inepto, que no cantaba, no tenía voz, era una auténtica basura y Campoamor cantando 'Me voy al Rastro, me dan de hostias pero me aburro'. Era terrible. ¿Dónde estaba la alegría del nuevo pop? Pero a mí me divertía el mensaje.73

Es fällt auf, dass die in diesem Unterkapitel angesprochenen Werke von Kritikerinnen und sogar von den Künstlerinnen selbst negativ bewertet werden. Romero gebraucht für Kaka de Luxe die Wörter „basura" (Müll), „inepto" (Taugenichts), „terrible" (schrecklich). Lechado schreibt, die Bandmitglieder seien nicht gut gewesen („no eran buenos"), und Alaska nennt die Stücke der Band „intentos fallidos" (Fehlschläge). Vidal schreibt, der Film Pepi, Luci, Bom sei der schlechteste überhaupt („la peor") und enthalte haarsträubende Defekte („defectos espeluznantes")74. Almodóvars musikalische Unternehmungen mit McNamara werden von Ordóñez mit „bromazo" (schlechter Scherz), „estética cutre" (billige Ästhetik) und „sordidez" (Obszönität) umschrieben. Auf der anderen Seite der Werteskala werden von denselben Leuten am häufigsten Worte verwendet, die den Bedeutungsfeldern Mut (Curra: „valentía"; Ouka Lele: „atrevido"; Ordóñez: „saludable descaro"), Ideenreichtum (Curra: „creativo", „ideas"; Vidal: „cantidad de ideas", „imaginación"75; Ouka Lele: „probar, experimentar, investigar"; Romero: „genial") und Neuheit (Romero: „concepto nuevo"; Lechado: „fueron los primeros"76) zugeordnet werden können. Die zwei Worte jedoch, die von Leuten wie Curra und Romero, welche die Movida miterlebten, am häufigsten genannt werden, sind „divertido" und „divertirse". Romero, der so heftig über Kaka de Luxe herzieht, verwendet es in obigem Zitat gleich viermal als wolle er damit rechtfertigen, warum er sie produzierte. Er folgt damit einem üblichen Denkmuster: Dilettantismus und Spaß scheinen miteinander verknüpft zu sein. Man sagt zum Beispiel: „Ja, ich spiele Klavier, aber nur zum Spaß." Das „nur" deutet an, dass man den Spaß als Entschuldigung für mangelnde Qualität anfuhrt. Wieso kann etwas nicht Spaß machen und trotzdem 'gut' sein? Oder 'gut' sein, gerade weil es Spaß macht. In der Movida ist das möglich. Qualität wird neu definiert: Ein künstlerisches Produkt ist 'gut', solange es mutig und neu ist, voll Ideen steckt und Produzentinnen und Rezipientlnnen Spaß bringt. Die technische Ausfuhrung hingegen ist zweitrangig. Analog gilt für

73

Ordoväs 2003, S. 20f.; Unterstreichungen durch Julia Nolte.

74

Vidal 1989, S. 271.

75

Vidal 1989, S. 271.

76

Lechado 2005, S. 51f.

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

109

den Künstlerbegriff der Movida: Eine Künsderin/ein Künsder muss keine Techniken beherrschen, sondern den Mut haben, sich auszuprobieren, neue Ideen zu entwickeln und diese mit Spaß umsetzen.

IV. 3 AUSWEITUNG DES KUNSTWERKS AUF KÜNSTLER, PUBLIKUM UND RAUM .Actuábamos con libertad, no había prohibición alguna. Todo era arte, Fany era arte. Todos estábamos nadando en una euforia gracias al arte." - Capi 7 7

IV.3.1 Selbstinszenierung als künstlerische Praxis Selbstinszenierung ist ein zentraler Bestandteil der kulturellen Praxis der Movida. Sie spricht aus der Verhaltensweise und dem Aussehen der Akteurinnen (hierzu vgl. die Untersuchung der sozialen Praxis in V. 1.1, V. 1.3 und V.3.2) ebenso wie aus ihrer Art, Kunst zu erzeugen. Die Akteurinnen entwerfen sich selbst als wären sie Kunstwerke, die es zu erschaffen gilt. Zwei Formen der Selbstinszenierung prägen die künsderische Praxis der Movida: (1) Pseudonyme und (2) Künsderporträts. Zu (1): Eine Form künstlerischer Selbstinszenierung in der Movida ist die Verwendung von Pseudonymen. Es ist auffällig, dass fast alle bekannten MovidaAkteurlnnen einen Künstlernamen tragen: Olvido Gara nennt sich Alaska', Bárbara Allende Gil de Biedma 'Ouka Lele', Fabio de Miguel ist 'Fabio McNamara'. Carlos Sánchez Pérez fügt die Anfangsbuchstaben seiner Namen (auf Spanisch: „ce", „ese", „pe") zu 'Ceesepe' zusammen, 78 'Sybilla' ist der Künstlername der Modedesignerin Sybilla Sorondo (geb. 1963 in New York), die 1983 eine Maßschneiderei in Madrid eröffnet und ihre erste Kollektion präsentiert. 79 'Costus' steht für Enrique Naya und Juan Carrero. 'Ana Curra' heißt ursprünglich Ana Isabel Fernández80 und 'Capi' (auch 'Tass' und 'Tana') kommt von Capitán und

77

Capi über die Casa Costus, in: Capi, „La calidad de la pintura con el paso del tiempo", in:

Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antolégica, Madrid: C o m u n i d a d de Madrid, 1992, S. 39f., S. 40. 78

Vgl. Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 9 sowie Bessiére 1992, S. 409.

79

Vgl. Sorondos Lebenslauf auf http://www.alinavida.com, Abruf: 29.6.2007.

80

Curra ist eigentlich ein Spitzname für Francisca. Ihre Mutter nannte sie Curra, weil ihr Ana

Isabel nicht gefiel — diesen Namen hatte der Vater ihr gegeben. Der Moderator Jesús Ordovás benutzte Curra im Radio als Zusatz zu ihrem eigentlichen Vornamen, u m sie von einer anderen

110

Julia Nolte

ist das Pseudonym von Miguel Angel Arenas.81 Fernando Márquez wird nur 'El Zurdo' genannt, Marta und Lola 'Moriarty' von der Galería Moriarty heißen mit bürgerlichen Namen Marta Villar und Lola Fraile.82 Die Pseudonyme dienen zum einen der Formung des eigenen Images. Auffällig ist der englischsprachige Anklang in Namen wie Alaska, Ceesepe, McNamara, Moriarty oder auch Rossy de Palma. Kaka de Luxe schreiben sich nicht „Caca", wie es der spanischen Schreibweise entsprechen würde, sondern benutzen zwei „K", damit ihr Name fremder aussieht. Das Fremde ist attraktiv. Ein Running Gag in Pepi, Luci, Bom ist der Satz „I know you from New York", den Fabio McNamara - mit starkem spanischen Akzent — als Anmache verwendet. Fabio McNamara inszeniert sich nicht nur im Film als glamouröser Transvestit, er spielt diese Rolle auch im Fotostudio, auf Parties, und wenn er die Pegamoides auf der Bühne ankündigt. Fabio de Miguel, Fabio McNamara, Fanny - drei Namen fíir „el personaje más Roxy-Punk-Killer-Funk-Heavy-Pop y Glam de la Movida Madrileña", wie er sich nennt. 83

Pablo Pérez-Minguez, Fotografie von Fabio McNamara mit Alaska y los Pegamoides in der Umkleide der Sala Marquee, 1981. Von links nach rechts: Nacho Canut, Alaska, Eduardo Benavente, Fabio McNamara, Carlos Berlanga, Ana Curra. 84 Musikerin namens Ana zu unterscheiden. So wurde 'Ana Curra' weiterverbreitet, vgl. Gesprächsprotokoll Curra 2006, S . U . 81

Vgl. Capi, „Entrevistado por Jhon Kiss", in: Lolo Rico (Hrsg.), Madrid Hoy, Madrid: Co-

munidad de Madrid, 1987, S. 68-71, S. 68. 82

Vgl. Lechado 2005, S. 203.

83

Fabio 'Fanny' de Miguel, „Entrevistado por Luis Lamas", in: Lolo Rico (Hrsg.),

Hoy, Madrid: Comunidad de Madrid, 1987, S. 130-133, S. 130. 84

Quelle: Manrique 2005, S. 47.

Madrid

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

111

Dass die Namensgebung Teil eines Selbst(er)findungsprozesses ist, wird auch deutlich an der Geschichte von Rosa Elena García Echave, die aus Palma de Mallorca nach Madrid kommt, wo sie zu 'Rossy de Palma' wird: [L]legó a Madrid sin un duro. [...] Era cantante de Peor Imposible, un grupo de Mallorca que suplía las carencias musicales con desparpajo y un nombre que ahuyentaba las falsas esperanzas. 'Pese a las penurias, era una época en la que me sentía volar. Y eso que yo no era de las que se drogaban. De día, ensayos, y al caer el sol, trabajos como camarera en los locales más variopintos. En éstas, una noche se le cruzó Pedro Almodóvar. Al día siguiente era la actriz que aparece en los créditos de La ley del deseo como Rossy von Donna. Una presencia que lograba levantar murmullos en la sala de cine. El diseñador Manuel Piña la bautizó de nuevo, y voild, Rossy de Palma, el personaje, estaba creado.85 Mit der Wahl eines Pseudonyms geht der Entwurf einer Rolle einher. Maskierung und Verkleidung seien typische Stilmittel der 1980er Jahre gewesen, schreibt Sabino Méndez, Gitarrist der Band Loquillo y los Trogloditas aus Barcelona, in seiner Crónica personal de los ochenta: „Te inventabas un personaje irreal, repleto de glamour y menos aburrido que aquel que ocupabas en la vida cotidiana. A través de ese personaje hablabas y tus pequeñas preocupaciones llegaban al receptor envueltas en un halo mítico, enfatizadas." 86 Die Annahme einer alternativen Identität dient also der Abgrenzung von der bürgerlichen Existenz. Das Leben in der Movida findet getrennt von Arbeitsalltag und Familienleben statt und verlangt daher nach einem anderen Namen, meint Mercedes Guillamón. Sie spielte die Masochistin Luci in Pepi, Luci, Bom unter dem Pseudonym 'Eva Siva', wie sie mir in ihrer E-Mail vom 3. Juli 2007 bestätigte.87 El motivo de tener un pseudónimo es que nos parecía en aquellos momentos que el mundo real y cotidiano no tenía nada que ver con el mundo fantástico de la movida, en la que de alguna manera y de forma espontánea cada uno interpretábamos un papel cuando salíamos a la calle, fuera de nuestras obligaciones laborales o de nuestro entorno familiar.88

85

Seisdedos 2005, S. 56.

86

Sabino Méndez, Corre, rocker. Crónica personal de los ochenta, Madrid: Espasa Calpe, 2004,

S. 81f. 87

Auf der offiziellen Homepage von Pedro Almodóvar (http://www.clubcultura.com) wird

fälschlicherweise angegeben, dass 'Eva Siva' Ana Curra sei. 88

Mercedes Guillamón in ihrer E-Mail vom 3.7.2007, s. Anhang.

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Über das von ihr angesprochene familiäre Milieu gibt die heutige Direktorin des Teatro Calderón in Valladolid allerdings keine Auskunft. Es sei viel Zeit vergangen und besser, nicht von Dingen zu sprechen, „que no aportan nada sustancial al hecho de referencia"89. Ich hatte sie gefragt, ob es stimmt, dass ihr Vater ein hochrangiger Beamter war und sie ein Pseudonym benutzte, damit er ihretwegen keine Schwierigkeiten bekäme. Auch wenn sich diese kursierende Behauptung nicht verifizieren lässt, kann man annehmen, dass die Verwendung von Pseudonymen in der ersten Entwicklungsphase der Movida nicht nur der Selbstinszenierung und der Abgrenzung vom Bürgerlichen dient, sondern auch ein Bemühen um Anonymität spiegelt. Die Movida-Akteurlnnen zeigen damit ein subkulturelles Verhalten, das an die Graffiti-Malerinnen der 1980er Jahre in New York erinnert.90 Wie jene behalten viele Movida-Akteurlnnen ihre Decknamen bei, als sie in der zweiten Entwicklungsphase von Medien, Musikproduzentlnnen, Galeristinnen etc. entdeckt werden und in der Folge an die Öffendichkeit gelangen. Die Pseudonyme sind zu Teilen der Persönlichkeit und zu ihren Markenzeichen geworden. Zu (2): Eine weitere Form der künstlerischen Selbstinszenierung in der Movida ist das Porträt. Die Künstlerinnen malen oder fotografieren sich selbst oder einander und stilisieren sich dadurch zu Kunstwerken. ,,[C]uando nos cansábamos del estudio de la Palma nos íbamos a mi estudio fotográfico para seguir inmortalizándonos", schreibt Pablo Pérez-Mínguez, der das Madrid der Movida fotografisch dokumentierte. 9 ' Er verewigte beispielsweise Juan Costus:

Mercedes Guillamón in ihrer E-Mail vom 11.7.2007. Vgl. Thomas 1998, S. 360. 91 Pablo Pérez-Mínguez, „Dos años con Costus (1980-1982)", in: Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antològica, Madrid: Comunidad de Madrid, 1992, S. 107-109, S. 107. 85

90

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

113

Bei dieser Fotografie ist zunächst unklar, was hier eigendich präsentiert werden soll - die Skulptur oder der Künstler. Sie nehmen den gleichen Bildraum in Anspruch und haben den gleichen Abstand zur Kamera. Dadurch dass Juan Costus in die Kamera schaut, die Skulptur ihr hingegen den Rücken zeigt, wird die Bedeutung des Künsders hervorgehoben. Er hat die Hände dergestalt auf Schulter und Gesäß der Skulptur gelegt, dass der Eindruck entsteht, die beiden würden sich umarmen. Der Künsder und sein Werk bilden eine Einheit. Die Umarmung deutet noch etwas anderes an: Hier wird nicht nur der Künsder inszeniert, sondern auch seine Homosexualität. Die Hand auf dem Gesäß der männlichen Skulptur in Verbindung mit der geneigten Kopfhaltung, dem offenen Haar, dem leicht geöffneten Mund, einer

92

Quelle: Rico 1987, S. 98. Bildangaben ließen sich nicht finden. Vermutlich stammt der grü-

ne Akt von Juan Costus, weil dieser die Angewohnheit hatte, seine Skulpturen/Plastiken in einer grellen Farbe einzufärben, etwa die orangefarbenen Tiergestalten, die er bei der Ausstellung Bichos im Dezember 1984 in der Galería Sen zeigte, vgl. Carrera/Naya 1992, S. 138.

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schmeichelhaften Beleuchtung und einem Bildausschnitt, der erst knapp über dem Geschlecht des Künsders endet, markieren eine homoerotische Komponente — eine Ausstrahlung, welche die Skulptur (ein biederer Akt, nur eben in Grün) fiir sich genommen nicht besitzt. Hier unterstreicht die Inszenierung der Künsderpersönlichkeit eine Bedeutung, die das künsderische Produkt nur unzureichend transportiert.93 Weitere Beispiele fiir Bildnisse von Movida-Akteurlnnen sind Arbeiten von Ouka Lele wie Ceesepe (1984), Retrato delfotógrafo Alberto García-Alix (1986), Re-

trato de Sybilla (1985), Retrato de Ana Curra (1986), Retrato de Bibi Andersen (1986). 9 4 Die Kiinsderin inszeniert sich auch selbst, zum Beispiel bei ihrer ersten Ausstellung in Madrid, 1980 in der Galería Redor, die den Charakter einer Aktion hat. Sie erscheint in einem Kostüm, das an den Balg einer alten Fotokamera erinnert, auf dem Kopf trägt sie ein totes Ferkel, in dessen Augenhöhlen Glühbirnen blinken: La primera [exposición] que hizo en Madrid que era la de la peluquería yo iba con un cerdito muerto en la cabeza que le había metido bombillas en los ojos. Lo compré en un restaurante. Iba con el cerdito, las bombillas y un interruptor para encender las bombillas. Y luego me había hecho un vestido que era un fuelle como si fuera un fuelle de una máquina de fotos. El vestido era así. Era un poco con aros hacía así, negro así, estaba muy bien. Y así fue la primera exposición y luego de ahí me fui al Sol con el cerdito y en el Sol proyecté un Super-8 sobre la peluquería, un cortometraje que había hecho.95 In dieser Aktion werden die Gattungsgrenzen überschritten, indem Fotografie, Malerei, Film und Darstellendes Spiel kombiniert werden. Dies geschieht

93

Das Foto ist Teil der vierseitigen Selbstdarstellung von Juan Costus in Madrid Hoy, vgl. Rico

1987, S. 94-101. Wie die Darstellung von Enrique Costus ist auch Juans Präsentation auffallend körperbezogen und weniger werkbezogen. In kleinem Format sind Gemälde abgedruckt, die Costus voneinander angefertigt haben. Als Hintergrund dienen ganzseitige Fotos, welche die beiden mit wehenden Haaren und offenen Hemden in der Steppe zeigen. Abgedruckt sind auch zwei Gedichte, die Fabio McNamara über die beiden geschrieben harte. Die Künsder präsentieren sich als Gegenstand von Kunst und weniger als Kunstschaffende. 94

Vgl. Ouka Lele 1987: Ceesepe S. 27, Alberto García-Alix S. 71, Sybilla S. 30, Ana Curra S.

42, Bibi Andersen S. 42 (Die transsexuelle Schauspielerin aus Tanger/Marokko nennt sich heute Bibiana Fernández, vgl. Seisdedos 2005, S. 49.). 95

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 10. Das Nachdokal Sol befindet sich in einer klei-

nen Straße, die von der Calle de Jardines abgeht, an der Metrostation Sevilla. Ouka Lele: „El Sol está todavía muy bien. Está igual que antes."

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

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um der Handlung willen, nicht um ein objektgebundenes Werk herzustellen. Das Werk ist ein Prozess, der allerdings keine Mitwirkung der Anwesenden im Ausstellungsraum, im Nachtlokal und auf der Straße vorsieht. Sie beeinflussen Ouka Leles Handlung höchstens indirekt durch ihre Anwesenheit und Reaktionen (es handelt sich also um eine Performance und nicht um ein Happening). Die ausgestellten Bilder sind einerseits Relikte dieser Aktion, können andererseits unabhängig von der Aktion als Kunstwerke gelten.

Ouka Lele im selbstentworfenen Kleid bei ihrer Ausstellungseröffnung 1980 9 6 und eine Arbeit aus der Serie Peluquería, 1979 9 7 An diesen Abbildungen lässt sich nachvollziehen, wie die Künstlerin in der Aktion mit ihren Kunstwerken verschmilzt. Würde man das Schwarz-WeißFoto kolorieren, könnte es Bestandteil der ausgestellten Serie Peluquería sein: Die kolorierten Fotografien zeigen Personen, die wie Ouka Lele ein Tier oder Obst bzw. Alltagsgegenstände auf dem Kopf tragen: einen Tintenfisch, Äpfel, Zitronen, Schuhe, ein Bügeleisen, eine Lampe o.ä. Ouka Lele inszeniert sich in ihrer Aktion als lebendes Kunstwerk.

96

Quelle: Ouka Leele 2004, ganzseitiges Foto zu Beginn des Buches; in der Bildbeschriftung

heißt es, dieses Foto sei auf der Ausstellungseröffnung im Museo Español de Arte Contemporáneo 1987 entstanden. Ein Foto der Künstlerin in diesem Kleid wurde aber schon in der ersten Ausgabe der Madrider Kino- und Kulturzeitschrift Dezine abgedruckt, Dezine, Nr. 1, Mai 1980, S. 62. 57

Quelle: Ouka Leele 2004, o.S., Abbildung Nr. 2.

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Ein mit filmischen Mitteln erzeugtes Selbstporträt findet sich z.B. in Pedro Almodövars zweitem Spielfilm Laberinto de Pasiones (1982): Der Regisseur selbst und Fabio McNamara treten als Sänger auf, genauso wie sie es im wirklichen Leben als Almodövar&McNamara u.a. in der Sala Rock-Ola taten — Almodövar in taillierter Lederjacke und Netzstrumpfhose, McNamara im Glitzerkleid mit Nietengürtel. Porträts von Movida-Akteurlnnen wurden auch von international bekannten Künstlern angefertigt: Der amerikanische Fotograf Robert Mapplethorpe, bekannt für seine formal strengen Aufnahmen der sadomasochistischen Schwulenszene,98 machte Porträtfotos von Juan und Enrique Costus," und Andy Warhol fertigte 1982 einen Siebdruck des Madrider Galeristen Fernando Vijande im Stile seiner Monroe-Porträts.100 Fazit: In jedem der besprochenen Fälle schafft die Selbstinszenierung zusätzliche Bedeutung. Ein Pseudonym kann über seinen Klang, seine Schreibweise und die Assoziationen, die dadurch geweckt werden, seine Trägerin oder seinen Träger zum Beispiel als exotisch erscheinen lassen (Ouka Lele) oder als verwegen (Kaka de Luxe). Es kann intertextuelle Bezüge herstellen wie im Falle von Alaska, die ihren Künstlernamen dem Lied Caroline says (II) von Lou Reed entnimmt und damit die darin geschilderte Todesmutigkeit und ein enthaltenes sadomasochistisches Potenzial auf sich überträgt.101 Diese Wirkungen können im Porträt auf visueller Ebene verstärkt werden, egal ob es sich dabei um ein Gemälde, eine Fotografie, eine Aktion oder eine filmische Darstellung handelt. Außerdem kann ein Porträt die abgebildete Person als Teil einer internationalen Kunstströmung erscheinen lassen, wenn es von einem bekannten Künstler wie Mapplethorpe oder Warhol angefertigt ist. Dahinter steht die Hoffnung, dass sich der Ruhm der Porträtistin oder des Porträtisten auf die porträtierte Person und ihr Schaffen überträgt. Wenn sich Fernando Vijande von Warhol abbilden lässt, heißt das für Betrachterinnen des Porträts, „Dieser Mann hat gute Kon-

98

Vgl. Lucie-Smith 1999, S. 329.

99

Vgl. Carrero/Naya 1992, S. 208f.

100

Vgl. Holguin 1992, S. 29.

101

Alaska entnahm ihren Künstlernamen dem Lied Caroline says (II) von Lou Reed, um damit

ihre ersten Beiträge für fanzines zu signieren. Darin heißt es in spanischer Übersetzung: „Mientras se levanta del suelo Carolina dice/¿Por qué me pegas? no es nada divertido/Mientras se arregla un ojo Carolina dice/Deberías aprender más sobre ti mismo/Pensar algo más que sólo Yo/Pero no tiene miedo a morir/Todos sus amigos la llaman Alaska." Dieser Liedtext wurde 1975 von Eduardo Haro in seinem Buch Gay Rock (erschienen im Verlag Júcar) abgedruckt, vgl. Ordovás 2003, S. 27.

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takte zur Kunstszene, dieser Mann hat Geld, dieser Mann ist ein erfolgreicher Galerist, ich kann seinem Urteil vertrauen und ein Bild bei ihm kaufen". Die Selbstinszenierung ist also eine Vermarktungsstrategie. Die genannten Qualitäten färben auf die künsderischen Produkte ab, die durch die Selbstinszenierung ihrer Produzentinnen einen exotischen, verwegenen, sadomasochistischen, internationalen oder sonst wie gearteten Beigeschmack erhalten und dadurch für bestimmte Empfangerinnen interessant werden. Am Beispiel der Fotografie von Juan Costus mit einem grünen Akt wurde deutlich, dass der Künstler mit Hilfe von Selbstinszenierung eine Bedeutung schaffen kann, die sein Kunstwerk nur unzureichend transportiert, in diesem Falle eine homoerotische Komponente. Insofern ergänzen sich in der künstlerischen Praxis der Movida Selbstinszenierung und Dilettantismus.

IV.3.2 Das Publikum ist Teil des Kunstwerks „El verdadero espectáculo era el de un público ávido de reconocerse, definirse y empujarse a sí mismo hacia un mundo desconocido y fascinante." 102 Mit diesen Worten deutet Borja Casani auf ein weiteres Charakteristikum der künstlerischen Praxis der Movida hin: Das Publikum ist Teil des Kunstwerks. Die Betrachterinnen rücken in den Kunstprodukten der Movida ins Scheinwerferlicht: Sie werden in Liedtexten besungen (z.B. von Kaka de Luxe in Pero qué público más tonto tengo), sie stehen Modell ñir Gemälde oder spielen in Filmen mit. In Costus' Valle de los Caídos standen Movida-Akteurlnnen Modell fiir die malerische Verarbeitung eines Bürgerkriegsdenkmals, das Franco von Zwangsarbeiterinnen nahe Madrid in den Fels hauen ließ. Die Gemäldeserie, die den gleichen Namen wie das Denkmal trägt (Tal der Gefallenen), umfasst 26 Großformate und thematisiert die Architektur und die Skulpturen des Monuments.103 Der Glam-Rocker Tino Casal posierte für das Bild Caudillo-. Es zeigt ihn in schwarzem Lederblouson, mit wehendem langem Haar und roter Fahne vor der Madrider Sierra. In den blauen Himmel ragt hinter ihm das Kreuz des 102

Casani über das Publikum in Rock-Ola, El Sol, La Vía Láctea, Morasol, El Baile, in: Borja

Casani, o.T., in: Lolo Rico, (Hrsg.), Madrid Hoy, Madrid: Comunidad de Madrid, 1987, S. 76-81, S. 78. 103

Die Gemälde entstanden zwischen 1980 und 1987, wobei Enrique Costus die detailge-

treuen, wie Fotografien wirkenden Figuren malte und Juan Costus die Hintergründe. Die meisten sind Hochformate von 240 x 180 cm, 215 x 110 cm oder 244 x 122 cm.

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Monuments.104 Auch die Ähnlichkeit vieler anderer Figuren der Serie mit bekannten Movida-Akteurlnnen ist nicht zu verkennen: San Juan Evangelista hat neben dem Vornamen auch Gesicht und Körper von Juan Costus. Dessen Hund Lala ist San Marcos Evangelista „El León que ruge en el desierto ". In Cristo de la Misericordia und Capilla del Altísimo schwebt Juan Costus, nackt bis auf ein Lendentuch, schwerelos im Bildraum. Auf letzterem Gemälde befinden sich zu seinen Füßen Enrique Costus und Herminio Molero. San Lucas Evangelista „La Inspiración Divina" wird dargestellt von Fabio McNamara, der auch fiir Fortaleza (Stärke) Modell stand — mit Perücke und Flamencokleid. Ana Curra posiert in kniehohen, mit Nieten besetzten Stiefeln für Templanza (Enthaltsamkeit), Paz Muro fiir Prudencia (Vernunft). Auch Alaska ist in der Serie verewigt: Sie hält als Piedad (Frömmigkeit) und Patria (Vaterland) jeweils einen sterbenden Mann mit Stigmata im Schoß - zwei Gemälde, die im Abstand von fünf Jahren entstanden und dennoch praktisch identisch sind was Motiv, Bildaufbau, Farbgebung und Malweise betrifft. Nur die Frisur der Porträtierten ändert sich: Während Alaska auf dem Bild der Piedad von 1981 einen pink gefärbten Irokesenschnitt trägt, hat sie als Patria 1986 eine offene Lockenmähne.

Costus, Piedad, Acryl/Sperrholz, 180 x 240 cm, 1981105 Der Diktator als Rocker? Die Stärke personifiziert von einem Transvestiten und die Frömmigkeit von einer Punkerin mit Irokesenschnitt? Das Vaterland eine Frau mit auffälligem Make-up und schwarz lackierten Fingernägeln? Die Erzengel 104 Costus, Caudillo, Acryl/Sperrholz, 240 x 240 cm, 1985, Diptychon; Abbildung s. Carrero/Naya 1992, S. 102f. 105 Quelle: Carrero/Naya 1991, S. 86.

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als muskulöse Zwanzigjährige mit freiem Oberkörper und enger Jeans bzw. in Unterhose und Tennissocken? 106 Die Kombination von Bildinhalt und Bildtitel in Valle de los Caídos kann als respekdos und beleidigend empfunden werden. Provokativ ist die Bilderserie auch deshalb, weil Costus sich mit dem Franco-Monument an ein Tabu heranwagen. Sie schreiben: ,,[S]u virginidad [lo hace aún más atractivo], pues nadie se ha atrevido con el monumento, viéndolo como una exaltación del franquismo." Unter dem Namen - man könnte auch sagen Deckmantel — von Helden und Konzepten des Nationalkatholizismus zelebrieren Costus und ihre Modelle einen Körper- und Modekult, der nicht selten eine erotische Komponente aufweist. 107 Die Originalvorlage wird umgedeutet, unterwandert. Es handelt sich um einen weiteren Fall von Appropriation (Vgl. IV. 1.3). In seiner Subversivität ist Valle de los Caídos keinesfalls so unpolitisch, wie es die Maler im Begleittext zur Serie glauben machen wollen: ,,[N]o hemos tocado en ninguna forma ni la política, ni el recuerdo del dictador." 108 Als Modelle für Costus haben die Akteurinnen kaum Einfluss auf das künstlerische Endprodukt. Sie prägen es bestenfalls mit ihrer Kleidung und mit Posen, die sie den Malern möglicherweise anbieten. Dass jedoch die individuelle Verhaltensweise der Modelle keinen Effekt auf die Gemälde hatte, beweist die Tatsache, dass die Bestandteile der Costus-Serie (über eine Entstehungszeit von sieben Jahren hinweg) nicht im Stil voneinander abweichen. Eine weitergehende Einbeziehung des Publikums erfolgt in Almodóvars Film Pepi, Luci, Bom. Hier sind die Movida-Akteurlnnen und späteren Zuschauerinnen am Schaffensprozess beteiligt. Denn in Ermangelung professioneller Schauspielerinnen sucht sich der Regisseur die Mehrzahl seiner Filmfiguren in der außerfilmischen Wirklichkeit: Er baut die Menschen aus seiner Umgebung in die Handlung ein und lässt sie sich selbst spielen. 109 „Pepi, Luci,

106

San Gabriel, San Miguel, San Rafael, Azrael, alle Costus 1982, Acryl/Sperrholz, 244 x 122

cm; Abbildungen s. Carrero/Naya 1992, S. 98-101. 107

Besonders deutlich bei San Gabriel, ein Erzengel mit freiem Oberkörper und Jeans, deren

Hosentür offen ist, vgl. auch Bildbesprechung von Costus Cristo de la Misericordia in IV. 1.3. 108

Vgl. Carrero/Naya 1992, S. 76.

109

Eine Ausnahme ist Carmen Maura, neben Félix Rotaeta die einzige professionelle Schauspiele-

rin in Pepi, Luci, Bom. Sie spielt die modernste Frau von Madrid, die sie in Wirklichkeit nicht war: „Yo [...] iba comprendiendo que aquello era jauja. [...] Cada día era una cosa más graciosa, más rara. Además estaba la ropa, y los peinados. Me encantaban. Nunca me he encontrado tan guapa y divertida como en Pepi,... Yo entonces era una parada que no sabía qué ponerme y si iba de progre era peor. Y, de repente, me vestían de chica fantástica, la más moderna de Madrid", zitiert nach: Vidal 1989, S. 19.

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Bom y otras chicas del montón [...] was like the amateur Super-8 endeavors that preceded it, made with, by, and for his friends and acquaintances living in the epicenter of the Madrid Movida", schreibt Wendy Rolph.110 Aus dem gleichen Grund, nämlich weil sie keine professionellen Darstellerinnen bzw. Modelle bezahlen konnten, dürften Costus ihre Freunde und Bekannten gemalt haben. Folgende Movida-Akteurlnnen wirken in Pepi, Luci, Bom mit: Juan und Enrique Costus spielen ein Malerpärchen; Alaska spielt die Gitarristin der Band Bomitoni; die Band wird von den Pegamoides gespielt (die auch in der außerfilmischen Wirklichkeit Alaskas Band sind); Fabio McNamara stellt einen Transvestiten dar, der in der Wohnung der Maler ein- und ausgeht und Bomitoni auf der Bühne ankündigt. Diese Personen spielen also sich selbst. Ihre Einflussnahme auf das Kunstprodukt ist größer als im Beispiel der Gemäldeserie, wo die Modelle in künstlichen Posen verharren. McNamara zum Beispiel: Im Gegensatz zu seiner Eigenschaft als Modell für Costus ist er in diesem Film ein selbstständiger Darsteller - als er seinen Text vergisst, improvisiert er, das heißt, er verändert die vom Regisseur vorgesehene Fassung nach eigenem Gutdünken. Die daraus entstandene Sequenz (McNamara versucht, einen Postboten an der Haustür der Casa Costus zu verführen) wurde nicht etwa herausgeschnitten und neu gedreht, sondern blieb Bestandteil des Endproduktes. Dadurch, dass die Movida-Akteurlnnen sich selbst spielen, wird eine Identität von Rolle und Wirklichkeit (von Kunst und Leben) erzeugt. Die Verschmelzung geht bei Alaska so weit, dass sie beim Dreh keine Kostüme trägt, sondern ihre eigene Kleidung. Im Nachhinein ist sie überzeugt davon, dass sie die Rolle der Bom nur bekam, weil sie die passende Garderobe dafür hatte. In beiden Werkbeispielen ist die Einbeziehung des Publikums in die Kunst zuallererst eine Notwendigkeit. Sie ist aber auch das Anknüpfen an eine revolutionäre Ästhetik, welche die Grenze zwischen Publikum und Künstler stellvertretend für die Trennung von Kunst und Leben thematisiert.111 Wie am Beispiel Pepi, Luci, Bom deutlich wurde, prägt das Publikum mit seinen Handlungen die Gestalt der künstlerischen Produkte, die in der Movida entstehen. Die Zuschauerinnen prägen aber auch die Gestalt der Movida selbst, denn sie bestimmen eine neue soziale und künstlerische Praxis als Anwesende in 110 Wendy Rolph, „Afterword: From Rough Trade to Free Trade: Toward a Contextual Analysis of Audience Response to the Films of Pedro Almodóvar", in: Kathleen M. Vernon/Barbara Morris (Hrsg.), Post-Franco, postmodern. The films of Pedro Almodóvar, Westport, CT 1995, S. 171177, S. 172. 111 Vgl. Hebdige 2002, S. 110.

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

121

Szenelokalen, als Trägerinnen bestimmter Kleidung, als Liebhaberinnen bestimmter Musik und Comics etc. In der Movida trägt das Publikum nicht nur zum Entstehen von Kunstprodukten bei, sondern auch dazu, dass ein Freiraum entsteht, in dem experimentiert werden kann. Die künstlerische Praxis der Movida knüpft damit an die Aktionskunst an, denn ein Merkmal von Aktionen ist, dass sie keine Erfahrungen abbilden, sondern Erfahrung ermöglichen (Vgl. II.2.1.2). Man stelle sich zur Verdeutlichung die Casa Costus vor, geschildert von Enrique Costus: [L]a norma de nuestra casa siempre era eso, nosotros pintando y alrededor una fiesta, y encantados, y por eso estaba la casa llena, porque nunca nos ha molestado realmente el mogollón alrededor, pues la casa de bote en bote. Era una época en la que estábamos todos histéricos, no teníamos ninguno un duro, todo era más bonito, se veían las cosas con otros ojos.112 In der Casa Costus gibt es keine passiven Zuschauerinnen. Selbst wenn die Besucherinnen dort kein greifbares Kunstwerk erzeugen, sind sie doch Senderinnen, weil sie mit ihrer Präsenz einen kreativen Raum entstehen lassen, in dem sich eine neue soziale und künstlerische Praxis herausbilden kann. Wie in der Casa Costus gibt es auch in der Movida kein traditionelles Publikum im Sinne von passiven Empfängerinnen künsderischer Mitteilungen (Nur-Empfängerlnnen). Jede Empfängerin und jeder Empfänger ist auch Senderin oder Sender künsderischer und sozialer Mitteilungen. Andernfalls ist sie keine Akteurin bzw. ist er kein Akteur der Movida. Einschränkend muss gesagt werden: Die Ausweitung des Kunstwerks auf das Publikum ist ein Kennzeichen der subkulturellen Movida. Denn mit zunehmendem Bekanntheitsgrad und kommerzieller Vermarktung in der zweiten Entwicklungsphase gibt es immer mehr Nur-Empfängerlnnen. Das Modell des integrierten Publikums wird überlagert vom traditionellen Muster: Rezipierende Zuschauerinnen, welche die Praktiken der Movida nur aus Zeitungsberichten, aus dem Radio oder aus Fernsehsendungen wie La Edad de Oro, Aplauso oder Caja de Ritmos kennen, aber selbst nicht ausüben.

112

Carrero/Naya 1992, S. 114.

122

Julia Nolte

TV.3.3 Raum als Bestandteil

des

Kunstwerks

Die künstlerische Praxis der Movida bezieht nicht nur die Senderinnen und Empfängerinnen künstlerischer und sozialer Mitteilungen in das Kunstwerk ein, sondern auch den Aktionsraum, in dem sie agieren. Die Ortsbezogenheit als Charakteristikum wird schon im Namen deutlich: Movida Madrileña. Die Stadt Madrid ist der gemeinsame Referenzpunkt der künstlerischen Aktivitäten. Sie wird erwähnt in Liedtexten, sie bildet die Kulisse für Fotografien und Spielfilme, und — hierin liegt die Besonderheit - sie wird in das Kunstschaffen integriert. Ouka Lele nutzt bekannte Madrider Monumente als Kulisse für ihre Fotoarbeiten: Madrid {1984) zum Beispiel zeigt eine junge Frau, die ein blutiges Steak aus einer Schachtel zieht, im Hintergrund das Metropolis-Gebäude.113 In Rappelle-toi, Bárbara (Los leones de la Cibeles Atalanta e Hipómenes) arrangiert sie ihre Darstellerinnen auf einem der Madrider Wahrzeichen, dem Brunnen der Cibeles (Vgl. IV. 1.1).114 Hätte sie in einer anderen Stadt gelebt, ihre Kunst hätte andere Formen angenommen, sagt sie. "He nacido en Madrid y yo cuento lo que yo vivo. Entre toda mi obra, mis fotografías son reflejo de mi vida."115 Zahlreiche Liedtexte von Bands der Movida nennen Madrider Stadtviertel oder bestimmte Szenetreffpunkte. Der angeödete Punk aus Pero me aburro (Kaka de Luxe, 1978) geht auf den Rastro, um seine Langeweile zu vertreiben. Nacha Pop verewigen in Chica de ayer (1980) die Musikbar Pentagrama, die sich im Stadtviertel Malasaña befindet. Die meisten Liedtexte verweisen auf Örtlichkeiten, die in Madrids Zentrum (Centro) liegen, „dem Territorium der Movida schlechthin"116. Anders als im Diskurs der Urbanen Rockerinnen wird die Stadt nicht als anonymer, feindlicher Raum geschildert, sondern als eine Ansammlung von Treffpunkten, die der Subkultur Zusammenhalt geben.117 Die Liedtexte nennen nicht nur Treffpunkte der Subkultur, sondern konstruieren auch das Bild der Stadt als Raum für Experimente und Abenteuer. Fouce:

Ouka Lele, Madrid, 1984, vgl. Ouka Lele 1987, S. 28. Vgl. Werkbesprechung in IV. 1.1. 115 Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 4.

1,3

114

116 117

Fouce 2002, S. 265. Vgl. Fouce 2002, S. 265.

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

123

En lo espacial, [la música de la movida\ va a construir la imagen de la ciudad como un espacio caracterizado como lugar de encuentro, de excitación y diversión. El espacio urbano es ante todo un espacio público y común, un espacio compartido en el que poder mirar y ser mirado. [...] Para la movida [...] la ciudad es un espacio descrito en términos positivos; por lo tanto, la proximidad, el estar imbuido de la vida urbana, será celebrado en las canciones.118 In Enamorado de la moda juvenil (1980) von Radio Futura ist die Puerta del Sol nicht nur ein zentraler Platz in Madrid und Spaniens geografischer Mittelpunkt, sondern die Keimzelle einer neuen Generation, die sich selbstsicher (V. 5) und modisch gekleidet (V. 10) durch die Stadt bewegt: Enamorado de la moda juvenil119 [-] al pasar por la Puerta del Sol Yo vi, sí vi

5

10

a la gente joven andar oh sí, yo vi con tal aire de seguridad que yo, sí yo en un momento comprendí que el futuro ya está aquí

Si, yo cai enamorado de la moda juvenil de los chicos, de las chicas, de los maniquis enamorado de ti [...]

Die gleiche Band schildert in Un africano por la Gran Via (1984) die Madrider Prachtstraße als Ort der Selbstfindung, wo der Sprecher seine natürlichen Instinkte ausleben kann, die er bisher verbergen musste (V. 4): Furcht vor Rot bzw. Feuer

118

Fouce 2002, S. 260 und 265.

119

L. Auserón/S. Auserón/J. Pérez/H. Molero/E. Sierra, Enamorado

déla moda juvenil,

1980.

124

Julia Nolte

(V. 5), auf dem Boden kriechen (V. 6), zittern bei Gewitter (V. 7). Es gelingt ihm, sein Innerstes nach außen zu kehren: Der bisher in ihm schlummernde Afrikaner betritt schließlich herausgeputzt ein öfFendiches Café. Das Coming Out ist so gelungen, dass sich der Sprecher danach selbst nicht wiedererkennt - er schildert das Betreten der Cafeteria in der dritten, nicht in der ersten Person (V. 8). Un africano por la Gran Vía120

[...] no sé quien soy ni dónde nací pero llevo un africano dentro de mi, oh si

5

Y todavía estoy oculto en la maleza el color rojo me hace perder la cabeza Soy capaz de arrastrarme por el suelo Y sólo tiemblo cuando tiembla el cielo Con un traje nuevo entra en la cafetería un africano por la Gran Vía [...]

Der Afrikaner steht als Metapher für das wahre Selbst, das Hemmungslose, das Ursprüngliche. Dahinter steckt ein fragwürdiges Bild von Afrikanerinnen als Wilden, die keine gesellschaftlichen Konventionen kennen, auf dem Boden kriechen und sich im Gestrüpp verstecken. Vielleicht fiihlt sich der Sprecher in seiner Umgebung auch deplatziert, anders, ausgeschlossen wie ein Schwarzer inmitten von Weißen. Die Stadt, eigentlich Ort der Zivilisation, wird hier zum Raum für Neuentdeckungen. Die meisten Figuren der frühen Filme von Almodóvar sind den Gestalten des damaligen Madrider Straßenmilieus nachempfunden.121 Holguin spricht daher von einer „recreación de este mundo"122. Auch Szenetreffpunkte der Movida tauchen in den Filmen auf, etwa in der Anfangssequenz seines zweiten Spielfilms, Laberinto de Pasiones (1982), in der Almodóvar das bunte Treiben auf dem Rastro verewigt hat: Die Kamera folgt einem Mann und einer Frau, die

120

S. Auserón/L. Auserón, Un africano porla Gran Via, 1984.

121

Vgl. Vernon/Morris 1995, S. 7.

122

Holguin 1994, S. 59.

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

125

sich unabhängig voneinander durch das Gedränge schieben. Dann folgt die Kamera ihren Blicken — beide interessieren sich mehr für Männerhintern als die Auslagen der Stände. Verewigt wird hier auch die Terrasse des La Bobia, ein von Movida-Akteurlnnen frequentiertes Café auf dem Rastro. Die Stadt wird zudem in den Dialogen thematisiert, wenn Almodóvar eine Figur von Madrid als „la ciudad más divertida del mundo" sprechen lässt.123 Der Regisseur konstruiert in Laberinto de Pasiones ein - nicht ganz ernst gemeintes — Bild von Madrid als spannendster Stadt der Welt: Lo interesante de entonces es que Madrid estaba bullendo. Se hacían mil cosas que nunca se habían hecho y que coincidían con lo que estaba pasando en el resto del mundo. En la película existe esta especie de glorificación de Madrid un poco estúpida que ha habido en los medios de comunicación. Está como una parodia. [...] En aquel mundo eso no se decía pero se pensaba. Se pensaba que Madrid era el centro del universo. En la película eso se expresaba verbalmente por primera vez. Era una broma, pero la gente se lo tomó en serio.124 Die Identifizierung der Movida-Akteurlnnen mit ihrer Stadt geht seiner Meinung nach bis zur Selbstaufgabe. „En Madrid se hacen cosas, de eso no hay duda. Pero está ocurriendo algo muy peligroso, Madrid está tomando conciencia de sí misma", warnt er 1983 in einem Selbstinterview für La Luna de Madrid. „Hay un cierto orgullo de habitar el lugar que habitas. Y esto no procede. Uno ha dejado de sentirse uno mismo para convertirse en ciudad..."125 Almodóvar kritisiert die Symbiose der Künstlerinnen mit ihrer Stadt, weil es sie seiner Meinung nach abhängig und unselbstständig macht. Dabei handelt es sich hier um eine bemerkenswerte Eigenheit der Movida. Im Kunstschaffen der Movida wird der Raum nicht nur reflektiert. (Dass Künstler ihre Umgebung in Kunstwerken verarbeiten/abbilden, ist nichts Neues.) Vielmehr wird der Raum integriert. „Es una prác-

123

Der Dialog lautet: „Dime, ¿es cierto que Riza esti en Madrid? - Si. Tenia ganas de cono-

cerlo. Como dicen que es la ciudad mas divertida del mundo y el es tan moderno", zitiert nach: Vidal 1989, S. 4lf. 124

Almodövar, zitiert nach: Vidal 1989, S. 41f.

125

Pedro Almodövar, „Autoentrevista", in: La Luna de Madrid, Nr. 2, Dezember 1983, zitiert

nach: Collado (Hrsg.)

1994, S. 14. Auch in den Texten für sein

Disco-Punk-Duo

Almodövar&McNamara parodiert er die Madridverherrlichung. Anstatt in die Szenelokale und In-Viertel gehen die zwei Sprecher/Sprecherinnen in Me voy a Usera in die konfliktbehafteten Randbezirke Usera und San Blas, vgl. V.3.1.

126

Julia Nolte

tica que [...] ocupa físicamente el espacio, se apodera de la ciudad [...]" 126 , schreibt Imbert über die Movida. Stadt, Mensch, Handlung und Objekt verschmelzen zum Kunstwerk: zur Aktion. Die dabei entstehenden Kunstprodukte wie Filme, Lieder, Gemälde, Comics etc. sind Relikte dieser Aktion. Im Kleinen ist die Ausweitung des Kunstwerks auf den Raum sichtbar etwa bei Costus. Ihre Gemälde können zwar für sich als Kunstwerke gelten, sie sind aber auch Relikte der Aktion 'Casa Costus' und natürlich der Aktion 'Movida'. Txomin Salazar, ein für seine Gemälde bekannter Movida-Akteur, schildert den Eindruck, den die Einheit aus Raum, Dekoration, Licht, Gemälden, Anwesenden und der Tätigkeit der beiden Maler in der Casa Costus auf ihn machte: El piso, todo pintado de negro e iluminado con luz negra, estaba decorado con esculturas religiosas. Un niño Jesús y un ángel de gran tamaño, repintados con pinturas fosforescentes, brillaban en una clara oscuridad, mientras que un enorme retrato de la viuda de Franco me saludaba con una forzada sonrisa. Enjoyada en exceso, como siempre tuvo por costumbre, se tocaba con una inmensa pamela. Ella presidía el minúsculo salón, abarrotado de originales personajes que yo conocía de vista porque, por su llamativo aspecto, no podían pasar desapercibidos en los locales nocturnos que proliferaban en Madrid. Allí conocí a Alaska, Paloma Chamorro, Fabio de Miguel 'Me Ñ a m a r a , Capi, los Pegamoides, los Zombies, Pedro Almodóvar, el rubito de Radio Futura, la perrita Lala... Lo más brillante era la pintura de Costus, pues estaban creando una serie de gitanas que brillaban en la oscuridad, como la Virgen de Lourdes, por efecto de la pintura fluorescente. D e todos los presentes, lo más evidente era lo blanco de los ojos y el resplandor de sus dientes. Yo estupefacto. 1 2 7

Fasziniert von der Casa Costus muss auch Fernando Vijande gewesen sein, denn er kaufte Costus nach seinem Besuch 1981 die gesamte Gemäldeserie El Chochonismo ab, um damit seine Galerie im Nobelviertel Salamanca zu eröffnen. „Llegó Vijande un día y quedó prendado de nuestros encantos...", sagt Enrique Costus 1982 und Juan ergänzt: „...de la casa, de la movida que había allí." 128 Der Entstehungskontext macht den Reiz der Werke aus, den sie in einer Galerie verlieren. Im Nachhinein faszinieren sie nicht mehr dadurch, dass

Imbert 1990, S. 198. Txomin Salazar, „Clausura", in: Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antològica, Madrid: Comunidad de Madrid, 1992, S. 21f„ S. 21. 126

127

128

Carrero, Naya, zitiert nach: Cáceres 1992, S. 114.

IV. Künstlerische Praxis in der Movida

127

sie Teil einer Aktion sind, sondern dadurch, dass sie Teil einer Aktion waren. Das Gleiche gilt für Relikte der Movida. Ihr Reiz liegt bei nachträglicher Betrachtung in ihrer Referenzfunktion: Sie verweisen auf den Kontext, in dem sie entstanden und können dadurch eine Ahnung vom Madrid der Movida vermitteln.

V Soziale Praxis in der Movida

Die Movida ist kein ungeregelter Raum. Sie ist eine Subkultur, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert. Kenntnis und Anwendung dieser Regeln oder Codes entscheiden darüber, ob jemand dazu gehört oder nicht. Die Codes dienen aber nicht nur der Abgrenzung von der bürgerlichen Kultur, sie erlauben auch, innerhalb der Movida unterschiedliche Gruppen auszumachen: die Rocker etwa und die Punks, die sich durch ihren Look voneinander unterscheiden; oder die Angehörigen des harten Kerns und die „Weicheren", die verschieden risikofreudig sind. Was diese Gruppen verbindet, ist der Umgang mit den in Kapitel II eingeführten Konzepten sozialer Innovation. Denn so unterschiedlich die Akteurinnen und ihre künstlerischen Aktivitäten sind, sie praktizieren doch alle die Erneuerung des Verhältnisses von Künsder und Zuschauer, die Ablehnung des Bürgerlichen sowie die Verschmelzung von Kunst und Leben. Die Aktionskunst liefert also wie in Kapitel IV das Erklärungsmodell für die Betrachtung der Movida. Wie die künstlerische Praxis wird auch die soziale Praxis anhand von Relikten untersucht (Fotografien, Popsongs, eine Kolumne, zwei Spielfilme, Comics, fanzines und Zeitschriften der Movida, Erinnerungen Beteiligter, Kleidungsstücke), wobei sich dieses Kapitel der Thematik wegen stärker als das vorherige auf Aussagen Beteiligter stützt.

V. 1 N E U E SOZIALE CODES

Bei den Movida-Akteurlnnen handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe: Innerhalb der Gruppe bestehen große Altersunterschiede, die Mitglieder kommen aus unterschiedlichen Städten nach Madrid, ihr sozialer Hintergrund ist verschieden und sie betonen ihre Individualität.1 Trotzdem lassen sich

1

Ana Curra warnt vor Generalisierungen: „Yo creo que éramos una serie de individuos que

nos juntábamos. En un momento hicimos una buena química, pero no todos somos iguales. Es un error caer en eso", Gesprachsprotokoll Curra 2006, S. 14.

Julia Nolte

130

Muster aufzeigen, was Kleidung und Haarmode, Sprech- und Verhaltensweisen betrifft. Uber die Verwendung dieser sozialen Codes geschieht die Gruppenbildung, das heißt, über Variablen, auf die man selbst einen Einfluss hat. Bessière nennt diese Variablen „tribale Variablen"2, weil sie zur Bildung von tribus fuhren, den Stämmen der Urbanen Lebenswelt: Mods, Rocker, Punks, Heavies. Sie unterscheiden sich äußerlich im Kleidungsstil und in der Haarmode ihrer Mitglieder und bilden sich in Spanien in der Nach-Franco-Zeit heraus. Le panorama urbain madrilène des années de l'après-franquisme aura été marqué par l'émergence de ce que les sociologues ont regroupé sous le nom générique des 'tribus urbaines'. Tout le secteur centre-ouest de la capitale, de Lavapiés à Chamberí et Moncloa est un puzzle, le plus souvent nocturne, de ces tribus urbaines qui s'attribuent elles-mêmes des noms d'importation américaine ou anglaise.3

Nicht entscheidend sind in der Movida hingegen solche Variablen, die man nicht beeinflussen kann und die in bürgerlichen Gruppen in der Regel großen Einfluss auf den Integrationsgrad einer Person haben: geografische und soziale Herkunft. Die tribus vereinen sich in der Movida zur „textuellen Gemeinschaft" (Fouce). Diese Gemeinschaft bringt ihre eigenen Texte hervor, und man kann nur dazugehören, wenn man über die nötige „textuelle Kompetenz" verfugt, also über die Fähigkeit, die Texte zu lesen. Dies gelingt nur, wenn man die Codes entschlüsseln kann, in denen die Texte vermittelt werden, und wenn man die Kanäle nutzt, über die sie verbreitet werden (Szenetreffpunkte, fanzines, alternative Radiosender etc.). [El] conocimiento compartido canalizado por el texto crea la comunidad textual, a la que sólo se accede a través de la competencia textual necesaria. La base de la nueva cultura radica en esa capacidad textual, que es la que individualiza a la subcultura. [L]a competencia textual es el filtro hacia la pertenencia a la comunidad subcultural. Una competencia que exige ser capaz de seguir el hilo de las transformaciones de los códigos que tienen lugar continuamente, porque la subcultura se enfrenta al lenguaje considerándolo una fuerza maleable.4

2

Bessiere 1 9 9 2 , S. 2 2 0 versteht unter „tribalen Variablen" Kleidung, Haarmode, Fahrzeug-

und Musikgeschmack, im Gegensatz zu den „soziale Variablen" Herkunft und Bildung; der Fahrzeuggeschmack war z.B. in der britischen Mod-Szene von Bedeutung, nicht aber in der Movida. 3

Bessere 1 9 9 2 , S. 2 1 8 ; für den (nicht überzeugenden) Versuch einer Typologisierung der tri-

bus s. S. 2 2 0 . 4

Fouce o.J., S. 3.

V. Soziale Praxis in der Movida

131

Man muss die Texte nicht nur lesen können, sondern auch selbst Texte hervorbringen. Andernfalls ist man lediglich eine Beobachterin oder ein Beobachter der Textgemeinschaft, nicht aber deren aktives Mitglied. Dazu gehört, wie Fouce erwähnt, dass man sich auf dem Laufenden hält über neuste Musik- und Modetrends und weiß, welche Bars, Ateliers etc. gerade angesagt sind. Sonst verliert man den Anschluss an die Szene und scheidet aus. José María Plaza schildert die Bedeutung des Auf-dem-Laufenden-Seins für die Movida: Era una época en la que, al menos para los que vivían en aquellas catacumbas de la Nueva Ola, lo que primaba era 'estar a la última. Y estar a la última era saber lo que se hacía en Nueva York y Londres, pero también -y sobre todo— estar impregnado de una actitud que mezclaba la fascinación por lo nuevo, la creencia en la individualidad y las ganas de divertirse.5

V. 1.1 Spielen mit Stilen: Der Look der Movida „Quitarte el pantalón raído de pana y querer ser guapo, querer ser distinto, era una actitud en sí misma." - Ana Curra 6

In Kapitel IV.3.1 wurde die Selbstinszenierung in Form von Pseudonymen und Künstlerporträts untersucht. Selbstinszenierung ist jedoch nicht nur ein zentraler Bestandteil der künstlerischen Praxis der Movida, sondern auch der sozialen. Im Alltag geschieht sie in der Art, sich zu kleiden und zu frisieren.7 Die Akteurinnen kreieren damit mehr als nur ein äußeres Erscheinungsbild: Sie bringen eine Uberzeugung zum Ausdruck, eine „actitud" (Curra), die genau wie Kleidung und Frisur zum Look gehört.8 Ana Curra nennt die Verbindung von Aussehen und zugrunde liegender Uberzeugung .Ästhetik":

5

Plaza 2 0 0 0 , S. 27f.; der Autor benutzt 'Nueva Ola' als Synonym für die Movida, obwohl

'Nueva Ola' nur eine musikalische Komponente der Movida bezeichnet, nämlich die spanische Pop-Rockmusik der 1970er und 1980er Jahre. 6

Gesprächsprotokoll Curra 2 0 0 6 , S. 6.

7

Auch Tätowierungen und Make-up sind Formen der Körpergestaltung und als solche bedeu-

tungstragend, vor allem in der Punk- und Gothic-Ästhetik sowie letzteres auch im Transvestismus. Für Tätowierungen ist Alberto Garcia-Alix das plakativste Beispiel in der Movida, fur Make-up sind es Alaska und Almodövar&McNamara. Diese Praxis wird in V.3.1 im Rahmen der Ablehnung des Bürgerlichen untersucht.

132

Julia Nolte Para nosotros la estética era muy importante, o sea, salirte de la norma, quitarte el pantalón raído de pana y querer ser guapo, querer ser distinto, era una actitud en sí misma. Significaba una actitud. Hoy día no vale lo mismo porque hoy día eso no te supone ningún esfuerzo porque lo tienes en cualquier tienda. En aquel momento suponía romper con una serie de cosas. Es simplemente el hecho de llevar el pelo de un modo, de vestir de un modo, marcaba unas diferencias máxime cuando estabas rompiendo, trascendiendo lo normal, lo convencional, lo que se hacía, lo que había, ¿sabes? Buscando, estabas investigando, entonces significaba una actitud, era muy importante, el que esa persona vistiese así ya significaba mucho.9

Die Entscheidung gegen eine bestimmte Art von Hose ist gleichzeitig die Ablehnung der Gesellschaft, in der diese Hosen üblicherweise getragen werden. Die Entscheidung für, sagen wir, grün gefärbtes Haar signalisiert Protest, Abgrenzung, Provokation und Selbstbestimmung, weil kein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft grüne Haare hat. Kleidung und Frisur sind bedeutungstragend und damit Zeichen eines Zeichensystems, eines „vestimentären Codes" 1 0 , der sich lesen lässt. In der Terminologie des Schweizer Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure (1857-1913) sind Kleidung und Frisur das signifiant (das Bezeichnende), die Überzeugung, die dahinter steht, ist das signifié (das Bezeichnete)."

signifiant:

grün gefärbte Haare

signifié: Protest, Abgrenzung, Provokation, Selbstbestimmung

Abb. 2: Das vestimentäre Zeichen

8 Ich verwende das englische Wort „Look", weil das deutsche „Aussehen" etwas ist, was man hat (Statur, Haar- und Augenfarbe). Den Look hingegen entwirft man für sich (Kleidung, Frisur, Make-up). 5 Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 6. 10 Roland Barthes, Die Sprache der Mode, Frankfurt am Main 1985, S. 45. "Vgl. Barthes 1985, S. 34f.

V. Soziale Praxis in der Movida

133

Das Bild der Ana Curra aus den 70er und 80er Jahren vor Augen, bat ich sie am 24. Mai 2006 bei einem Telefoninterview, mir ihr jetziges Aussehen zu beschreiben. Sie kam zuerst auf ihr Haar zu sprechen, was die Bedeutung unterstreicht, die sie dem Haar für ihr Image beimisst. Ana Curra: He cambiado. Ahora estoy rubia. Ahora estoy con el pelo blanco platino. Un poco de punta, sabes, el pelo en todas las direcciones pero blanco platino. Hacia arriba en punta. Julia Nolte: ¿A los lados está rapado? Ana Curra: Rapado a los lados, más corto, sí. Julia Nolte: ¿Es muy alta la punta? Ana Curra: Bueno pues, como una mano puesta vertical, cinco dedos. Cierta imagen tengo todavía [lacht].

Einen Eindruck von den Kleidungsgewohnheiten im Madrid der Movida vermitteln Miguel Trillos Fotos. Er schuf damit ein Porträt der damaligen Jugend, sortiert nach tribus.12 Hier Beispiele für die Ästhetiken von Hippies, Rockern und Punks:

Miguel Trillo, Concierto de los Rolling en el Calderón, 1982; Salida de El Gran Musical, 1984

12

Vgl. Collado, Gloria, „La última instantánea", in: Collado (Hrsg.) 1994, S. 4-6, S. 5.

134

Julia Nolte

Miguel Trillo, Frente a Rock-Ola, 1983 13 Trillos Fotos sind in der Regel im Freien vor Diskotheken oder Konzerträumen aufgenommen und zeigen Jugendliche meist zu zweit vor einer Wand platziert. Die Fotos sind versehen mit einer Angabe zu Aufnahmeort und -datum, nicht dokumentiert hingegen ist, wer abgebildet ist. In ihrer Unpersönlichkeit und dem immergleichen Bildaufbau vermitteln die Fotos den Eindruck eines Lehrbuchs zur Artenvielfalt (in dem ja auch immer Männlein und Weiblein abgebildet sind). Diese Fotos wurden Anfang der 80er Jahre über Rockocó in der Jugendszene verbreitet, ein fanzine, das Trillo (im Hauptberuf Lehrer) anonym herausgab.14 Sie zeigen die alltägliche Selbstinszenierung unbekannt gebliebener Movida-Akteurlnnen. Ana Curra beschreibt, welche Mühe mit der Schaffung des eigenen Images verbunden war. Da es weder ausgefallene Kleidung noch Accessoires zu kaufen gab, musste improvisiert werden. Ihre Kleider entwarf sie selbst, ihre Fingernägel malte sie mit schwarzem Edding an. Es que aquí no podías encontrar ni esmalte negro ni ropa. La ropa nos la hacíamos. Yo había mucha ropa de mi madre que cogí y me la arreglaba. Y luego a veces nos íbamos a Almacenes Arias que eran unos almacenes muy baratos que ya no existen y ahí comprábamos ropa, la deshacíamos y la volvíamos a hacer. Todo retales. No ha-

13

Quelle der drei Abbildungen: Rico 1987, S. 354f.

14

Vgl. Collado 1994, S. 5. Der Untertitel des fanzine lautete „Imágenes del Pop-Rock Madri-

leño", später mit dem Zusatz „de los 80" bzw. „de los ochenta". Jede Ausgabe enthielt ein Spezial, das einer tribu gewidmet war: „Especial Mods", „Especial punkis", „Especial Tecno, modernos, siniestros", „Especial rockers y teddys", „Especial heavys y rockeros"; für Abbildungen der Titelblätter s. Carlos López (Hrsg.), La edad de oro del pop español, Madrid: Luca 1992, S. 85.

V. Soziale Praxis in der Movida

135

bía ropa en Madrid, tenías que ingeniártelas. Y eso es una de las cosas creo que nos desarrolló mucho la imaginación, ¿sabes? [...]. En la portada de EL Acto por ejemplo que salgo con unas argollas negras con unas cuerdas negras, unas argollas metálicas, no es un traje pero sí es un diseño, es un diseño sadomasoquista, esto me lo hice yo. Porque no lo encontraba y yo tenía la idea de cómo íbamos a hacer la portada, pero no encontraba eso en ningún sitio. Te vas a Londres y ves muchas tiendas con ese tipo de ropa pero aquí... [N]o tenías dónde conseguir eso, pues compraba cuerda, lo cortaba y me lo hacía.15 Eine Punk-Gothic-Asthetik kennzeichnete Ana Curras Kleidungsstil nicht nur im Studio u n d auf der Bühne, sondern auch im alltäglichen Leben. Folgende A u f n a h m e zeigt Ana Curra 1986, fotografiert von O u k a Lele.

O u k a Lele, Retrato de Ana Curra, 1986 16

15

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 4f.

16

Quelle: Ouka Lele 1987, S. 70.

136

Julia N o l t e

Ich fragte Ana Curra, ob sie sich für das Foto umgezogen hatte. No, yo iba así por la calle, ¿eh? Yo iba así vestida. Eso es lo que diferencia aquellos años de ahora, aunque tuviese los dieciocho, ¿entiendes? Q u e en aquella época salíamos así a la calle, no pasaba nada. Hombre, ibas llamando la atención, ¿eh? N o te voy a decir que no llamases la atención, claro que llamaba la atención. Pero no me importaba, me sentía bien, no me importaba, yo sabía que daba color. Q u e a la gente no le gustaba ver eso, a mí no me importaba. 1 7

Das Bekenntnis zum eigenen Stil kommt einer Mutprobe gleich. Damit kokettiert Capi in einem Selbstinterview, wenn er auf die Frage „¿En qué ocupabais vuestro tiempo?" antwortet: „En dos cosas muy importantes, pensar qué modelo te ibas a poner, y buscar la fórmula de escapar del barrio con el modelo puesto sin que te apedrearan." 18 Die von ihm bevorzugte Kleidung beschreibt er als einen Stilmix zwischen Hippie und Glam-Rocker: ,,[E]ran una mezcla entre hippierockero y glamuroso, con todos los complementos Gay-power que podías encontrar, y mucho toque glitter con unos pigmentos de muy variadas índoles, y sobre todo mucha fantasía." Das Foto, das mit dem Interview abgedruckt ist, zeigt ihn allerdings weder mit langen Haaren noch mit Lederjacke noch besonders glamourös, wie man es nach dieser Beschreibung erwarten könnte. Er trägt ein grünes Hemd unter einer dezent karierten Anzugjacke, in der Hand eine geöffnete goldene Taschenuhr. Dieser scheinbare Widerspruch deutet daraufhin, dass man sich in der Movida nicht auf ein Image festlegen muss. Man kann tragen, was man will. Man kann sich wie Capi an einem Tag als schwuler Glam-Rocker inszenieren, am anderen als Dandy. Der Look der Movida beinhaltet das Spielen mit den Stilen. Ouka Lele, die sich selbst als „inclasificable" bezeichnet, präzisiert: Es que tú podías ser como quisieras. Cada uno iba como quería. C a d a uno se diseñaba a sí mismo. Y había muchas formas de vestirse y de estar, muchos colores. Alberto [García-Alix] por ejemplo tiene una estética muy particular, es algo que ya existe como el rockero, el rock, ¿no? Pero luego hay gente que eran ellos mismos, que no eran nada, ni rockero ni... 1 9

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 4f. Capi 1987, S. 70. 19 Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 6. 17

18

V. Soziale Praxis in der Movida

137

Folgende Abbildung zeigt sie 1984 mit anderen Fotografinnen auf einem Foto fiir La Luna de Madrid ohne Hinweis auf eine Vorliebe für eine bestimmte Ästhetik.20 Nur Alberto Garcia-Alix rechts im Bild ist an seiner Frisur, der Jeansweste und dem nietenbesetzten Gürtel deutlich als Rocker zu erkennen.

Pablo Pérez-Mínguez, Pic-nic de fotógrafos, 1984: Ouka Lele (vorne links), Jesús Peraita, Eduardo Momeñe, Juan Ramón Yuste, Alberto Garcia-Alix (hinten rechts) u.a. im Atelier von Alberto Schommer21 Manchen Kleidungsstücken wird so viel Bedeutung beigemessen, dass sie im Nachhinein Fetischcharakter annehmen. Alberto Garcia-Alix etwa, der fiinf Jahre mit Ana Curra zusammen war, bewahrt deren hochhackige Stiefel aus Leopardenfellimitat auf. Als ich ihn am 6. Mai 2006 in seiner geräumigen Altbauwohnung in der Calle de la Infanta, einer Parallelstraße zur Gran Via, interviewte, waren sie das erste, was er mir aus der Zeit der Movida zeigte: „Te voy a mostrar algo que vas a flipar." Er überlegte, sie sich an die Wand zu hängen - nicht mit Nägeln, sondern in einem Plexiglaskasten, damit sie nicht noch mehr Löcher bekämen. Ana Curra überraschte das nicht, als ich sie am Telefon darauf ansprach. „Si. Las tiene de fetiche", sagte sie. „Me hace ilusión. Pues, él me las pidió, estábamos ya separados y él me dijo 'Oye, Curri, aquí tus botas' y yo dije 'Pues nada, yo te las regalo'. Me hace mucha gracia, las tiene como en su museo particular." Ich fragte sie, was sie von der Movida aufbewahrt.

20 Ouka Leles Selbstinszenierung findet weniger in der sozialen als in der künstlerischen Praxis statt, vgl. ihr Erscheinen mit totem Ferkel auf dem Kopf zu ihrer ersten Ausstellung (IV.3.1) sowie Selbstporträts Autorretrato con agua, 1980 (S. 21), Autorretrato, Esperando a Romeo, 1985 (S. 29), Autorretrato Armónico, 1987 (S. 45), in: Ouka Lele 1987. 21

Quelle: Pablo Pérez-Mínguez, Miradas, Madrid: Fundación Autor, 2005, S. 255.

138

Julia Nolte ¿De cosas materiales? Yo conservo cantidad de cosas, por ejemplo de la época de Alberto todos los diarios de viajes que hacíamos [a Tanger, a Amsterdam], todos los cuadernitos con fotos... lo conservo todo. [...] Y luego, incluso de mi ropa conservo muchas cosas. Las tengo metidas en cajas en el baúl, cosas que ya no me pongo pero que tengo, los primeros vestidos de Alaska y los Pegamoides, que algunos eran como de ciencia ficción, de Star Trek. Porque no siempre fue así vestida. Antes éramos muy, muy, muy alegres vistiendo, ¿sabes? Y luego ya nos volvimos más góticos.22

Die Kleidung wird aufbewahrt, weil sie über sich hinaus deutet. Sie steht für die Mühe und die Fantasie mit der sie her- und zusammengestellt wurde; für den Mut, mit dem sie getragen wurde; ftir die Reaktionen, die sie auslöste — und für den Spaß, den all das brachte.

V. 1.2 Eine eigene Sprechweise Nicht nur ein vestimentärer Code dient Angehörigen einer Subkultur zur Verständigung, sondern auch eine eigene Sprechweise, d.h. eine konventionalisierte Art des Sprechens innerhalb der Subkultur. 23 Die szeneeigene Umgangssprache ist für Außenstehende nicht auf Anhieb zu verstehen und hat daher eine gruppenbildende Funktion. Anders als der Kleidungscode, der eine Subkultur in tribus unterteilt, die sich an unterschiedlichen Kleidungsstilen und Accessoires unterscheiden lassen, wirkt die Sprechweise integrierend, weil sie von Mitgliedern aller tribus verwendet wird. 24 Dies liegt daran, dass sich Jargon besonders häufig im Zusammenhang mit szenetypischen Verhaltensweisen bildet — Verhaltensweisen, die von allen tribus praktiziert werden. In der Movida sind dies vor allem Begriffe rund um Drogenkonsum. Bei Lechado findet sich ein „Breve glosario de jerga para una Movida". 2 5 Von den 30 Ausdrücken, die dort in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt und erklärt sind, beziehen sich 13 auf Drogen und deren Konsum, also fast drei

22

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 5.

23

Vgl. Klaus Dirscherl, Zur Typologie der poetischen Sprechtveisen bei Baudelaire. Formen des Bespre-

chemund Beschreibet^ in den 'Fleurs du Mal', München 1975, S. 31. 24

Vgl. Gemma Herrero, „El coloquio juvenil en los comics marginales", in: Félix Rodríguez

González (Hrsg.), Comunicación y lenguaje juvenil, Madrid: Fundamentos 1989, S. 179-201, S. 199f. 25

Vgl. Lechado 2005, S. 40f.

V. Soziale Praxis in der Movida

139

Viertel. Auch wenn es sich bei diesem Glossar um eine willkürliche Auswahl handelt, kann man aus der vergleichsweise großen Anzahl schließen, dass sich die Kommunikation in der Movida vor allem um Drogenkonsum drehte.26 Schon das Wort „movida" wurde ursprünglich im Zusammenhang mit Drogen verwendet (Vgl. III.l), sagt u.a. Alberto García-Alix: „'Me voy a hacer una movida' y se iba a comprar hachís... 'Tengo una movida' que tenías algo que hacer. Y luego se decía siempre como un comodín."27 Eine übliche Vorgehensweise bei der Schaffung von Umgangssprache ist es, bestehende Worte in einem fremden Kontext zu verwenden und sie dadurch mit neuen Bedeutungen aufzuladen. Das signifiant wird mit einem neuen signifié vtrsch.cn, das nur den Angehörigen der Sprachgemeinschaft bekannt ist. Dadurch kann es zu Aussagen kommen, die für Nicht-Eingeweihte eine Bedeutung haben, fïir Eingeweihte eine andere. In der Movida kam es auf diese Weise zu folgendem berühmten Missverständnis: Der Madrider Bürgermeister eröffnete ein 24-Stunden-Musikfestival, das Radio 3 im Palacio de Deportes veranstaltete, mit folgender Aussage: ,,[A] colocarse, y el que no esté colocado, que se coloque".28 Für Nicht-Eingeweihte bedeutet dies: „Bitte Platz nehmen, und der, der noch keinen hat, suche sich einen!" Im Movida-Jargon jedoch sagte er: „Der, der noch keine Drogen genommen hat, nehme welche!" Das spanische Verb für „unterkommen", „sich hinstellen/seinen Platz einnehmen" wurde im Sprachgebrauch der Movida mit der Bedeutung 'Drogen nehmen' versehen. Bis heute ist man sich nicht einig darüber, ob Tierno Galván wusste, was er da in den Ohren Eingeweihter sagte. Manche behaupten, hier zeige sich seine Nähe zu den Jugendlichen, seine Kenntnis der Szene bzw. - negativ formuliert — mit seiner Aussage habe er sich anbiedern wollen bei den Jugendlichen, indem er ihre Sprechweise verwendete. Andere sind der Meinung, dass der Bürgermeister ahnungslos war.29

26

Die meisten anderen Ausdrücke beziehen sich auf Vergnügung (fünf Wortnennungen) und

Freundschaft (drei Wortnennungen). Anders als man meinen könnte, existieren in der Movida nicht besonders viele szeneeigene Ausdrücke im Zusammenhang mit Sexualität. Im Glossar von Lechado (Lechado 2005, S. 40f.) ist kein einziger aufgeführt, und Francisco Umbral bekennt im Vorwort seines Diccionario Cheli: ,,[A] penas encuentro en él [el cheli] palabras sexuales (las pocas que encuentro las enumero, naturalmente) [...]", Umbral 1983, S. 10. 27

Gesprächsprotokoll García-Alix 2006, S. 5.

28

Tierno Galván, zitiert nach: Manrique 2005, S. 46.

29

Z.B. Manrique 2005, S. 46.

140

Julia Nolte

Die Bildung von Jargon dient nicht nur der Gruppenbildung und gruppeninternen Verständigung, sondern auch dem Protest. Einerseits verstehen die Angehörigen der bürgerlichen Sprachgemeinschaft nicht, wovon die Rede ist. Andererseits wird mit den Konventionen ihrer Sprache gebrochen, deren Vorherrschaft in Frage gestellt. Wenn sich Vertreter der dominanten Kultur wie Tierno Galván die Sprechweise einer Subkultur zu eigen machen, ist dies der Versuch, die Subkultur unter Kontrolle zu bringen. Man gliedert die neuen Bedeutungen bzw. die neuen Wörter in den Sprachgebrauch der dominanten Kultur ein, die Regelverstöße werden zur Norm und verlieren ihr subversives Potenzial. So geschieht es auch mit „colocarse": 1992 druckt die Real Academia Española in der 21. Auflage ihres Diccionario de la Lengua Española die umgangssprachliche Bedeutung des Wortes als „fig. y fam. Causar el alcohol o la droga un estado eufórico".30 Beim Wort „movida" wird die Eingliederung später offiziell: Erst 2001, in der 22. Auflage des genannten Wörterbuchs, werden umgangssprachliche Bedeutungen von „movida" aufgeführt („Juerga, diversión", vgl. III. 1). In dem Maße wie Jargon in die allgemeine Sprache übergeht, verliert er seinen exklusiven Charakter.31 Er wird allgemein verständlich, und die Subkultur verliert dadurch sowohl ein Abgrenzungsmittel als auch ein gruppenbildendes Element. Infolgedessen schafft sich die Subkultur neue Wörter, von denen einige nach einer Weile wiederum in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegliedert werden in einem Vorgang, der an das Entstehen und Vergehen von Mode erinnert.32 Nicht nur die Sprechweise, sondern auch vermittelbare Elemente der sozialen Codes Kleidung, Frisur und Verhalten werden aufgeschnappt, nachgemacht und weiterverbreitet, sie kommen in Mode und irgendwann wieder aus der Mode. Hebdige nennt dies den für das Verhältnis von Subkultur und dominanter Kultur kennzeichnenden „cycle of resistance and defusion": Subcultural deviance is simultaneously rendered 'explicable' and meaningless in the classrooms, courts and media at the same time as the 'secret' objects of subcultural style are put on display in every high street record shop and chain-store boutique. Stripped of its unwholesome connotations, the style becomes fit for public consumption. 3 3

30

Diccionario

de k Lengua Española 1992, S. 359.

Vgl. Herrero 1989, S. 200. 32 Vgl. Imbert 1985, S. 309. 33 Hebdige 2002, S. 130. 31

V. Soziale Praxis in der Movida

141

V.l.3 Verhaltensweisen Der dritte Code, über den Movida-Akteurlnnen kommunizieren, sind bestimmte Verhaltensweisen. „La movida era todo el mundo relacionado por la copa", sagt Borja Casani.34 Bessiére nennt den Konsum harter und weicher Drogen sowie von Coca-Gin und Bier den „point commun" der Szene.35 Unabhängig davon, welches Getränk in der Movida bevorzugt wird — Tatsache ist, dass der Konsum von Alkohol und anderen Drogen (nicht nur) in der Movida gängige Praxis ist. Dafür spricht, dass sich in der Szene eine eigene Umgangssprache im Zusammenhang mit dem Sich-Berauschen bildet (Vgl. V.l.2). Ana Curra berichtet, dass es in der Casa Costus immer Opium gegeben habe und dass sich Partygäste dort und anderswo unverhohlen Heroin spritzten, weil das niemand anstößig gefunden habe. Eher im Gegenteil: „Es que estaba bien visto. En cualquier fiesta nadie se escondía para pincharse."36 Auf künstlerischer Ebene wird der Drogenkonsum zum Beispiel in Filmen reflektiert: In Pepi, Luci, Bom schnupfen Pepi und Luci mit größter Selbstverständlichkeit Kokain auf dem Sofa; Arrebato, gedreht vom ehemals heroinabhängigen Iván Zulueta, zeigt einen Filmemacher bei Film- und Drogenexperimenten. Auch Patty Diphusa, die Protagonistin von Almodóvars Kolumne für La Luna de Madrid, lebt einen nicht enden wollenden Rausch. Casani und Bessiére sprechen dem Drogenkonsum eine integrierende Wirkung zu. Trotzdem ist es keine Voraussetzung, Drogen zu nehmen, um zur Movida zu gehören. Rossy de Palma zum Beispiel sagt: „Pese a las penurias, era una época en la que me sentía volar. Y eso que yo no era de las que se drogaban."37 Und Ouka Lele erzählte mir, sie sei nicht oft in die Casa Costus gegangen, weil es dort harte Drogen gegeben habe. Dennoch gehört sie unbestreitbar zur Kerngruppe der Movida. Dass es nicht nötig war, Drogen zu nehmen, um in der Movida angesehen zu sein, bestätigte mir Ana Curra im Interview. Sie schildert, worauf es stattdessen ankam: Ser distinto, ser diferente, no conformarte con lo normal, con la normalidad. Era un poco decir, bueno, te marcan un camino que has de seguir. Tus padres, la sociedad. Éste es el camino que tienes que seguir, yo quiero ir por otro. Quiero llevar el pelo de 34

Casani, zitiert nach: García/Maldonado 1989, S. 132.

35

Bessiére 1992, S. 220.

36

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 7.

37

de Palma, zitiert nach: Seisdedos 2005, S. 56.

Julia Nolte

142

otra forma, quiero vestir de otra forma. Yo creo que todo eso te obliga a llevar un estilo de vida. Nosotros éramos personas que salíamos, íbamos todos los días a ensayar, yo también iba a la universidad pero luego por la tarde todos los días me iba a ensayar. Y luego después me iba a los locales en que se ponía música y a mí me interesaba. Y luego por la noche había un concierto y si no pues a una fiesta porque salíamos mucho de noche.38 Anderssein braucht Mut. Je größer die Abweichung von der N o r m , je gewagter der Haarschnitt, die Kleidung, die Tat einer Person, desto höher ihr Ansehen in der Movida. Will man den Mut nachvollziehen, den die Movida-Akteurlnnen in ihrer sozialen und künstlerischen Praxis aufbringen, muss man den Handlungskontext berücksichtigen. Risikoreich ist es zum Beispiel für Costus, eine Macarena, die sich die Lippen schminkt, auf die Klotür der Bar La Vía Láctea zu malen, wenn ein paar Straßen weiter die Polizei ihr Büro hat und Sicherheitsstreifen das Stadtviertel kontrollieren. 3 9 Risikoreich ist es für Almodóvar und McNamara, sich geschminkt und in Frauenkleidern auf eine Bühne zu stellen, wenn Männer dafür verhaftet werden, in der Öffentlichkeit H ä n d chen zu halten. 40 Und risikoreich ist es für Paloma Chamorro, den Movida-Akteurlnnen ab 1983 ein unzensiertes Live-Forum in ihrer Sendung La Edad de

Oro zu bieten, wenn der Sender ( T V E ) zur gleichen Zeit das Musikprogramm Caja de Ritmos absetzt, weil es den Song Me gusta ser una zorra der Band Las Vulpess aus Bilbao sendete. 41 An ihrer Risikofreude werden die Akteurinnen gemessen - nicht an ihrem Drogenkonsum und auch nicht am Grad der Professionalität ihrer künstlerischen Äußerungen. Die Akteurinnen, die das größte Risiko eingehen, bilden den harten Kern, die Initialgruppe, von der die Impulse ausgehen. 4 2 Lechado nennt sie die Herausragenden („los destacados") 4 3 und Aufsteiger („el grupo

38

Gesprächsprotokoll C u r r a 2 0 0 6 , S. 6.

39

Für eine A b b i l d u n g s. C a r r e r o / N a y a 1 9 9 2 , S. 2 2 2 .

40

Fernando C o l o m o veranschaulicht in seinem Spielfilm ¿Quéhace

una chica como tú en un si-

tio como éste? ( 1 9 8 0 ) wie Polizisten in Zivil Konzerthallen aufsuchen, u m dort Sittenverstöße zu ahnden. 41

Vgl. F o u c e 2 0 0 2 , S. 19f. Me gusta ser una zorra ist eine spanischsprachige Coverversion des Lie-

des I wanna heyour dog der nordamerikanischen P u n k - R o c k - B a n d T h e Stooges. Las Vulpess sprechen sich darin gegen Liebe u n d für kurze sexuelle Beziehungen aus. C h a m o r r o s S e n d u n g wird mehrfach eingestellt und wiederaufgenommen bis sie 1 9 8 5 endgültig abgesetzt wird, vgl. III.3.2. 42

Begriffe nach M é n d e z 2 0 0 4 , S. 7 8 , der von „núcleo d u r o " u n d „ g r u p o iniciático" schreibt.

43

L e c h a d o 2 0 0 5 , S . 156.

V. Soziale Praxis in der Movida

143

espumoso") 4 4 , während Manrique von der Crème de la Crème der Movida spricht („cogollo") 45 . Borja Casani nennt sie „Bestien" und „Monster": La gente se mezcla con toda naturalidad. Pero, efectivamente, hay un grupo. Un grupo, además, hiperdogmático y duro. Es el núcleo protagonista de los inicios de la movida, al que yo no pertenezco. El grupo de Almodóvar, McNamara, Costus, Paloma Chamorro, Ceesepe, Ouka Lele, García Alix. Toda aquella basca consideraba advenedizo a cualquiera que no perteneciera directamente al núcleo. Primero, porque eran muchísimo más arriesgados que los demás en su forma de vida. Dentro de aquella sociedad hipermediocre, hipergris, ellos iban vestidos alucinantemente, exteriorizaban sus pasiones, hacían en público absolutamente lo que les daba la gana, mientras que los demás eran espectadores. [...] Lo que no hay [ahora] son individualidades tan bestias. No hay personajes como Alaska. Alaska es un monstruo, igual que Almodóvar y Ceesepe. Te quedas alucinado, en el año 70, en el 80 y en el 90. Ahora la gente es mucho más normal, no sé por qué razón...46 Z u m harten Kern gehören Alaska, Pedro Almodóvar, Capi, Ceesepe, Paloma Chamorro, 4 7 Costus, Ana Curra, Fabio M e Ñamara, Ouka Lele, Pablo Pérez-Mínguez und sonen werden in Publikationen über die Movida sowie in da-Akteurlnnen am häufigsten genannt.

Eduardo Benavente, Alberto García-Alix, El Zurdo. Diese PerBerichten von Movi-

Seltener erwähnt werden Tesa Arranz und Bernardo Bonezzi (Los Zombies), Santiago Auserón, Enrique Sierra, Javier Pérez Grueso 'Furia' und Herminio Molerò (Radio Futura), Manolo Campoamor, Antonio Vega (Nacha Pop), Kiki d'Aki (Las Chinas), Sybilla, Guillermo Pérez-Villa!ta, Sigfrido Maru'n-Begué, El Hortelano, Txomin Salazar, Iván Zulueta, Fernando Colomo und Rossy de Palma. 48 Alberto García-Alix erwähnt einen Freund namens El Angel und Ana Curra nennt

44

Lechado 2005, S. 199.

45

Manrique 2005, S. 48.

46

Casani, in: Gallero 1991, S. 2 und 61.

47

Paloma Chamorro ist die einzige Journalistin, die als Angehörige des harten Kerns gelten

kann. Die Journalisten Borja Casani (Gründer von La Luna de Madrid) und Moncho Alpuente (Gründer von Madrid Me Mata) sowie die Radio-Moderatoren Diego Manrique und Jesús Ordovás (Radio 3) spielten nur eine vermittelnde Rolle. Zur vermittelnden Gruppe gehören auch die Galeristinnen Moriarty und der Galerist Vijande. 48

Vgl. Nennungen bei Manrique 2005, S. 48; Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 16; Sánchez

1992, S. 219-234; Manolo Cáceres, „Ausencias", in: Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Expo-

sición antològica, Madrid: Comunidad de Madrid, 1992, S. 161-164, S. 161; Seisdedos 2005.

144

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die Mitglieder der Band Los Escaparates sowie Los Palau, ein schwules Malerpaar, dessen W o h n u n g ihr zufolge ein ähnlicher Treffpunkt war wie die Casa Costus. Dies sind Mitglieder der Gruppe von Movida-Akteurlnnen, die vom harten Kern als „los más blandos" (Ana Curra) oder „los advenedizos" 4 9 (Alaska) bezeichnet werden. Z u den namentlich erwähnten „más blandos" gesellen sich an die 1 0 0 unbekannt gebliebene Akteurinnen (Bandmitglieder, Konzert- und Ausstellungsbesucherinnen, Partygängerinnen etc.). Bei den Movida-Akteurlnnen handelt es sich also insgesamt um eine Gruppe von rund 1 5 0 Personen. 50 Ana Curra: Éramos pocos. Hoy día se dice que eran muchos los que estaban en la movida y no. De los primeros, de cien no pasábamos. [...] Lo que pasa, luego creció mucho y en el 83 éramos muchos, ¿por qué?, porque fuimos un germen que sembró mucho. Y el germen fueron de 100 a 150 personas y nos veíamos en todos los conciertos, en todos los actos que había, en todas las fiestas estábamos las mismas 150 personas, ¿sabes? Siempre éramos los mismos."

45

Alaska benutzt das Wort „advenedizo" (fremd, emporkömmlerisch) zum Beispiel, wenn sie

beschreibt, dass Enrique Costus seine Gäste unterschiedlich behandelte: „[...] Conmigo [Enrique] siempre mantuvo a raya su mal humor y su acidez vitriólica. Ese todo consistía en oirle derramar toda su bilis sobre los demás. Y eso le acarreó muchos odios y rencores, sobre todo por los miembros más 'advenedizos' y lejanos de nuestra 'comunidad'. Los demás habíamos aprendido a capear los temporales y a pensar: 'Enrique es así.'", Alaska, „Lala Costus", in: Juan Carrero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antològica, Madrid: Comunidad de Madrid, 1992, S. I49f., S. 150. 50

Die Zahl 150 nennen sowohl Ana Curra und Ouka Lele mir gegenüber im Interview als

auch Marta Moriarty in: Gallero 1991, S. 135. 51

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 10.

V. Soziale Praxis in der Movida

145

Die Unterscheidung zwischen Harten und Weichen, zwischen Dazugehörigen und Fremden ist im Grunde eine Unterscheidung zwischen Impulsgeberinnen und Midäuferlnnen. Sie ist nicht nur fiir die Movida kennzeichnend, sondern für jede Subkultur: Den echten Rastafäris, Punks, Hippies, Mods wird eine einfallslose Mehrheit von Nachmacherinnen gegenüber gestellt, nämlich der „rasta bandwagon", die „plástic punks", „weekend hippies" und „scooter boys", die einen Stil teilweise kopieren und damit aufweichen.52

V . 2 ERNEUERUNG DES VERHÄLTNISSES VON KÜNSTLER UND ZUSCHAUER

In Kapitel IV.3.2 wurde die Ausweitung des Kunstwerks auf das Publikum untersucht mit dem Ergebnis, dass es in der Movida kein Publikum im herkömmlichen Sinne gibt. Movida-Akteurlnnen sind keine ausschließlich rezipierenden Zuschauerinnen, sondern immer auch Senderinnen sozialer und/oder künsderischer Mitteilungen. Wie in der Aktionskunst sind passive Zuschauerinnen unerwünscht. Stattdessen wird das Publikum provoziert, damit es reagiert und eingreift. Wenn Alaska y los Pegamoides „Was fiir ein blödes Publikum habe ich" singen und ihr Publikum als „Haufen von Idioten" 53 bezeichnen, wollen sie die Hörerinnen damit nicht nur beschimpfen, sondern aufrütteln. Sie sollen dazu gebracht werden, ihre Lebenssituation zu reflektieren und letztlich zu verändern, behauptet Ana Curra: Era un ánimo de provocar a la gente, de sacarla del aturdimiento, del aletargamiento. Era una manera de decirle a la gente 'Reacciona ya', 'Reacciona con lo que te están vendiendo'. Que la vida es otra cosa. Y no todo es gris. Y de color marrón. Que también el color existe y puedes hacer lo que quieras si te lo propones. 54

Die Zuhörerlnnen werden durch den Liedtext mit einer Geisteshaltung konfrontiert, die zur Auseinandersetzung herausfordert: Der Sprecher ist selbstbewusst, unverschämt und aggressiv. Entweder man findet sich in dieser Einstellung wieder und fiihlt sich bestätigt; oder man fühlt eine Sehnsucht in sich geweckt und möchte auch so sein; oder aber man kann mit der Botschaft nichts anfangen und

52

Hebdige 2002, S. 122.

53

Vgl. Liedanalyse von Pero qué público más tonto tengo in IV.2 und IV.3.2.

54

Gesprachsprotokoll Curra 2006, S. 10.

Julia Nolte

146

wendet sich ab. Wie dem auch sei — die Zuhörerlnnen sind gezwungen, Stellung zu beziehen. Die Einbeziehung des Publikums ist ein demokratischer Vorgang. Denn die Rezipientlnnen bekommen kein fertiges Endergebnis präsentiert, sondern sind dazu aufgefordert, den Schaffensprozess aktiv zu begleiten. Sie beeinflussen die Entwicklung der Movida und letztendlich auch die der spanischen Gesellschaft, indem sie sich über die Vielfalt der Lebens- und Ausdrucksformen informieren und ihre Wahl treffen — z.B. fiir eine bestimmte Art der Partnerschaft oder einen bestimmten Musik- und Kleidungsstil. In der Movida werden Verhaltensweisen geprobt, welche die Demokratie von ihren Bürgerinnen erwartet: sich informieren und wählen. Die Erneuerung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer revolutioniert also nicht nur die künstlerische Praxis, sondern auch die soziale Praxis, indem sie den Akteurinnen zu neuer Handlungsfähigkeit verhilft.

V . 3 ABLEHNUNG DES BÜRGERLICHEN

Kennzeichnend für die soziale Praxis der Movida ist die Ablehnung des Bürgerlichen. Sie kommt bereits zum Ausdruck in den Codes der Subkultur: im Kleidungsstil, in einer Geheimsprache, welche die Regeln der bürgerlichen Sprache auf den Kopf stellt, und mit einem Verhalten, das auf Risiko ausgerichtet ist und nicht auf Sicherheit wie es in der bürgerlichen Gesellschaft üblich ist. Das Handlungsprinzip der Movida lautet „no conformarte con lo normal" (Vgl. V.l.3), das heißt, die Akteurinnen definieren sich über die Ablehnung dessen, was als normal gilt. Die Umkehr der bürgerlichen Maßstäbe ist Thema dieses Kapitels und wird untersucht anhand des Umgangs mit dem eigenen Körper, der Pluralisierung der Lebensformen, der Auflösung sozialer Grenzen und der Parodie sozialer Manifestationen.

V.3.1 Styling, Drogen, Sexualität: Der Umgang mit dem Körper als Ausdruck von Protest Eine wichtige Art, mit der bürgerliche Gesellschaften Macht auf ihre Mitglieder ausüben, ist die Kontrolle des Körpers.55 Zu diesem Zweck machen sie zahl-

55

Vgl. John Fiske, Power Plays Power Works, London/New York 1993, S. 57f.

V. Soziale Praxis in der M o v i d a

147

reiche offizielle und inoffizielle Vorschriften: Geradesitzen bei Tisch, keine Drogen, kein Sex vor der Ehe, Schuluniformen, kein Kaugummikauen im Unterricht, keine langhaarigen Männer, keine kurzen Hosen in der Kirche... In der Movida lehnen sich die Akteurinnen gegen derartige Regeln auf und machen mit ihren Körpern was sie wollen: Einige lassen sich tätowieren, andere schminken sich. Viele nehmen Drogen und bekennen sich offen zu ihren sexuellen Neigungen. Im Umgang mit dem eigenen Körper demonstrieren sie ihre Missachtung der bürgerlichen Gesellschaft und revolutionieren die traditionellen Geschlechterrollen. Fragt man Alberto Garcia-Alix, was für ihn die Movida am besten repräsentiert, antwortet er: „El primer tatuaje que tengo." 56

Abb. 4: Alberto Garcia-Alix am 6.5.2006 in seiner Wohnung in Madrid (Foto: Julia Nolte) Seine erste Tätowierung ließ sich Garcia-Alix 1980 oder '81 auf Ibiza machen, weit entfernt vom Sitz der Zentralregierung. Mit der Zeit wurden es so viele, dass sie unter dem hochgeschobenen Pulloverärmel hervorquellen, die

56

Gesprächsprotokoll Garcia-Alix 2006, S. 5.

Julia Nolte

148

Arme hinunter bis auf die Finger und auf einer Halsseite hinauf bis zum Gesicht. Auf die Finger der linken Hand hat er vier Buchstaben tätowieren lassen: N — A — D — A ( N I C H T S ) . Es kommt offenbar nicht so sehr darauf an, was dort steht, sondern dass dort etwas steht. Die Haut dient als Kommunikationskanal für die Demonstration von Macht. Unabhängig vom Inhalt des Tattoos vermittelt es die Botschaft, dass nur man selbst Kontrolle über den Körper und die eigenen Handlungen hat. Diese Botschaft geht auch von der Movida aus. Trotzdem ist das Tätowieren überwiegend bei Rockern anzutreffen und keine generelle Praxis der Movida. Verbreiteter ist es, sich zu schminken. Dies liegt wohl daran, dass sich Make-up wegwischen lässt, was dem experimentellen und spielerischen Charakter der Movida entgegenkommt. Während man sich mit einem Tattoo auf eine Ästhetik festlegt, erlaubt Make-up den Akteurinnen, so oft sie wollen in eine andere Rolle zu schlüpfen: Sie können damit ihre glamouröse Seite unterstreichen, ihre harte, ihre weibliche etc. Das gilt für Frauen ebenso wie für Männer. Fabio McNamara etwa schminkt sich die Lippen rot und die Lider blau in einer plakativen Inszenierung seiner Homosexualität. Am radikalsten in ihrer Gesichtsgestaltung ist Alaska: abrasierte und in einem markanten Spitzbogen nachgezeichnete Augenbrauen, die Augen pechschwarz umrandet, Lippenstift in Lila oder Schwarz. 57 Dem Schönheitsideal des Bürgertums entspricht sie damit sicherlich nicht, und dies ist auch nicht das Ziel. Make-up, wie auch Kleidung, dient den Angehörigen der Subkultur ja gerade nicht dazu, hübsch gefunden zu werden. Vielmehr hat es den Zweck, sich geltenden Vorstellungen von schön und hässlich zu verweigern und eigene Maßstäbe zu setzen. Alaska gelingt dies. Doch als die Asociación de Alta Perfumería y Estética ihr 1984 den Premio Nacional de Maquillaje verleiht,58 ist ihre Ästhetik salonfähig und verliert ihr provokatives Potenzial.59 Drogenkonsum ist in dem Sinne gegenkulturell, dass sich die Konsumentin/der Konsument in einen Rauschzustand versetzt, der sie/ihn die bürgerliche Realität vergessen macht. Während die Wirkung anhält, lebt sie/er in einer Al-

57

Siehe Fototeil in Cervera 2002 zwischen den Seiten 192 und 193. Hier findet sich auch ei-

nes der wenigen Fotos, das Alaska ungeschminkt zeigt. Es entstand 1982 bei einer Fotosession im Atelier von Pablo Pirez-Minguez. 58

Vgl. Ordoväs 1987, S. 235.

59

Dies ist ein weiteres Beispiel für den von Hebdige beobachteten „Zyklus der Ablehnung und

Eingliederung" subkultureller Elemente, wie er in V. 1.2 im Umgang der dominanten Kultur mit subkulturspezifischer Sprechweise dargestellt wurde.

V. Soziale Praxis in der Movida

149

ternativwelt ohne Sorgen, Verpflichtungen und Zeitgefühl. Drogenkonsum hat auch deswegen Protestcharakter, weil die Vertreterinnen der bürgerlichen Kultur davor warnen und ihn verbieten. Im Drogenkonsum liegt keine Besonderheit der Movida. Er ist Bestandteil jeder Subkultur, wobei die Movida nicht an die Hippiekultur der späten 1960er Jahre anknüpft, wo die entspannende und bewusstseinserweiternde Wirkung von Drogen gesucht wurde, sondern an Szenen, die aufputschende Drogen wie Amphetamine bevorzugen (z.B. Warhols Factory, Mods). 60 Der Drogenkonsum spiegelt sich in der künstlerischen Praxis etwa in Spielfilmen (Arrebato, Pepi, Luci, Bom, Laberinto de Pasiones) und Liedtexten. Almodóvar&McNamara widmen den Amphetaminen den Refrain ihres Rock de la farmacia (1983), wenn sie singen: „Rock, rock, rock/rock de la farmacia/rock de las anfetas/rock de las recetas/rock de Transilvania".61 Ihr Titel Me voy a Usera (1983) beginnt mit einem Dialog zweier Prostituierter oder Stricher,62 die sich beim Drogeninjizieren in die Haare kriegen: Me voy a Usera63

5

10

- Tía, no pillo vena, tía - qué mal - qué mal, no me da flash - y tú te has puesto más, tía - que va, que no me da flash - muy mal, muy mal, muy mal - muy chungo - muy mal, muy mal, - muy chungo, muy chungo - creo que me sube ahora

60

Vgl. Fouce 2002, S. 237f.

61

F. de Miguel/B. Bonezzi,

62

Obwohl die Anrede „tia" (Verse 1, 4) sowie die Adjektivendung von „tirada" (V. 21) auf

Rock de la farmacia, 1983.

Sprecherinnen deutet, ist das Geschlecht unklar, wenn man berücksichtigt, dass in der Movida auch mit und von Männern in weiblicher Form gesprochen wird. Das Lied wird von zwei Männern, Almodövar und McNamara, interpretiert, die zu ihren Auftritten stets in Frauenkleidern erscheinen. Dass es sich um Prostituierte oder Stricher handelt, wird daran deudich, dass die beiden im weiteren Verlauf des Liedes beschließen, in den Madrider Randbezirken Usera und San Blas anschaffen zu gehen. 63

P. Almodövar/F. de Miguel/B. Bonezzi, Me voy a Usera, 1983.

150

Julia Nolte - qué bien - ¡uy! que subidón - qué flash - creo que me voy a Usera 15

- vámonos a Usera - vamos a Usera M e voy a Usera a hacer la carrera me quitan el bolso

20

me rajan de arriba abajo me dejan tirada como un estropajo M e voy a San Blas total, qué más da, etc.

Tatsache ist, dass Drogenkonsum in der Movida exzessiv betrieben wurde und zahlreiche Todesfälle mit sich brachte (Autounfall, Uberdosis, Aids), auch wenn deren Zahl nicht bekannt ist und die Ursache oft verschwiegen wird. 64 Besonders hoch war die Sterberate unter Bandmitgliedern. „Muchísima gente de sobredosis se ha caído", sagt Ana Curra und nennt aus ihrem engen Freundeskreis drei Beispiele. Bis 1982 sei halb Madrid drogenabhängig gewesen. 65 Antonio Vega, ehemaliges Mitglied von Nacha Pop, führt dies — wie Ana Curra auch — auf Unwissenheit zurück: Descubrir la heroína fue algo acojonante. N o teníamos precedentes, no se veían yonquis tirados por la calle. Estábamos seguros de haber encontrado la solución para paliar todo lo desagradable de la existencia. Pasaron años antes de comprender que aquello tenía trampa. 6 6

Nicht nur Bandmitglieder waren sich nicht im Klaren über die Folgen von Drogenkonsum. Der Filmemacher Iván Zulueta dachte, die Leute lügen, wenn sie sagen, dass Heroin gefährlich ist:

Vgl. o A „ „La sombra de los desaparecidos", in: El País Semanal, Nr. 1492, 1.5.2005, S. 48. Vgl. Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 7. 66 Vega, zitiert nach: o.A. 2005, S. 48. 64

65

V. Soziale Praxis in der M o v i d a

151

La época que me ha tocado vivir ha consistido en ir descubriendo que todo lo que te han dicho es mentira. Quizás toda juventud se encuentra con que le han mentido. [...] Llegabas al caballo convencido de que no era como decían. Pensabas: 'Seguro que es como el sexo y como todo lo demás.' Pues, por una vez, era verdad. 67

Zum Umgang mit Sexualität: Die bürgerliche Gesellschaft schreibt vor, wie sich ein Mann zu kleiden und zu verhalten hat. Gegen diese Regeln widersetzen sich Männer, wenn sie Röcke, Stöckelschuhe und Lippenstift tragen, wenn sie in einer höheren Tonlage als üblich sprechen und beim Gehen mit den Hüften wackeln. Die beiden Männer, die sich in der Movida am spektakulärsten als Frauen inszenieren sind Pedro Almodóvar und mehr noch Fabio McNamara. Zwei verschiedene Frauentypen dienen ihnen als Vorlage. Während Almodóvar bei seinen Auftritten eine klischeehafte Hausfrauenästhetik simuliert (Morgenrock, Lockenwickler, Einkaufetasche auf Rollen), orientiert sich McNamara am Prostituiertenlook (Netzstrümpfe, Lackleder, Minirock). Im Unterschied zu Almodóvar hat er seiner weiblichen Erscheinungsform einen Namen gegeben (Fabio McNamara oder Fanny McNamara heißt mit bürgerlichem Namen Fabio de Miguel), und er lebt sie nicht nur bei Auftritten des Duos Almodóvar&McNamara, sondern auch im alltäglichen Nachtleben, etwa auf Privatfeiern und bei Fotosessions. In seinem Transvestismus treibt er den Selbstinszenierungsdrang, die Lust an Simulation, Glamour und Provokation, der die soziale und künstlerische Praxis der Movida prägt, auf die Spitze. Sieht man die Improvisationsszene in Pepi, Luci, Bom, in der Fabio McNamara versucht, an der Haustür einen Postboten zu verfuhren, kann man sich vorstellen, dass seine Hemmungslosigkeit ansteckend wirkte. Fabio McNamara, Almodóvar, Costus, Capi und auch weniger sichtbare Homosexuelle sind Impulsgeber der Movida. „Eran deslenguados, brillantes, apoteósicos. Hicieron avanzar la cosa a un ritmo al que no hubiera avanzado si hubieran tenido que ser los machos ibéricos quienes tiraran del asunto", sagt Borja Casani.68 Sie finden sich nicht mit der durch die Gesellschaft festgelegten Geschlechterrolle ab, sondern suchen und leben eine neue Identität. Die Revolutionierung der Geschlechterrollen wird auch von den Frauen in der Movida vorangetrieben. Auch sie inszenieren ihre Sexualität, in ihrer Kleidung und indem sie ungeniert körperliches Begehren zeigen: Ana Curra macht keinen 67

Zulueta, zitiert nach: Gallero 1991, S. 172; Gallero hat seine Interviewsammlung mit fol-

gender Widmung versehen: „Dedicado a todos los que cayeron durante los años ochenta. In memoriam." 68

Casani, zitiert nach: Gallero 1991, S. 20.

Julia Nolte

152

Hehl aus ihrer sadomasochistischen Neigung, z.B. wenn sie sich für das Cover der ersten Platte von Parálisis Permanente, El Acto (Der Akt), in entsprechender Montur fotografieren lässt.69 Von Alaska existiert ein Foto, auf dem sie stolz einen faustgroßen Knutschfleck an ihrem Hals präsentiert.70 Für das Plattencover zu Deseo Carnal (Fleischeslust) von Alaska y Dinarama (1984) posiert sie hinter einem nackten Männerrücken, den sie in einer besitzergreifenden Geste umarmt, die Fingernägel lang und dunkel lackiert. Hier wird eine Frau gezeigt, die sich nimmt, was sie will. Nicht nur im sexuellen Sinne, sondern auch in ihrer Tätigkeit als Leadsängerin einer Band. Sie steht im Rampenlicht, sie ist die Hauptfigur, der Mann hingegen ein kopfloser Statist. In einer Gesellschaft, in der Frauen jahrzehntelang dem Mann untergeordnet waren, ist dies ein heftiger Affront und zeigt den Beginn eines neuen Rollenverständnisses. Die Movida-Akteurinnen agieren selbstbewusst und selbstbestimmt und leben damit das Modell einer Frau, die im Franquismus nicht existieren durfte. Dennoch ist auffällig, dass Frauen nicht die gleiche Präsenz in der Movida haben wie Männer. In Comics, fanzines und Zeitschriften der Movida wird Sexualität ausgiebig thematisiert, allerdings nicht die weibliche. Hier werden nur männliche Sexfantasien ausgelebt, und zwar heterosexuelle und homosexuelle in ein und derselben Veröffentlichung. Für La Luna de Madrid beispielsweise zeichnet sowohl Ceesepe als auch Manuel de Rodrigo: Ceesepe aus der Perspektive eines dominanten, sadistisch anmutenden Heterosexuellen, Manuel de Rodrigo aus Sicht eines Mannes, der offensichtlich eine Vorliebe für stark behaarte Männer hat.71 Von 14 Akteurinnen, die im Nachhinein am häufigsten im Zusammenhang mit der Movida genannt werden, sind vier Frauen (Vgl. V.l.3), das ist ein vergleichsweise hoher Anteil von knapp 30%. Unter den namentlich bekannten „más blandos" machen sie nur 20% aus. Dieses Verhältnis spiegelt sich auch in José Luis Galleros Interviewsammlung Sólo se vive una vez. Esplendor y ruina de la movida madrileña: 20% der 34 Interviewten sind Frauen (unter denen, die für Gallero Fragebögen ausfüllten, sind es sogar nur 15%). Nicht immer werden sexuelle Vorlieben in der Movida so plakativ zur Schau gestellt wie etwa von Fabio McNamara oder Ana Curra. Eine andere gängige Praxis ist die Verschleierung der sexuellen Orientierung. Verschiedene Motive

69

Foto s. P^rez-Minguez 2005, S. 162f. Foto s. Pirez-Minguez 2005, S. 25. 71 Vgl. beispielhaft die Bildgeschichte von Manuel de Rodrigo, o.T., in: La Luna de Madrid, Nr. 4, Februar 1984, o.S. 70

V. Soziale Praxis in der Movida

153

sind denkbar: Die Akteurinnen wollen alles ausprobieren; sie kennen ihre Orientierung noch nicht oder sie trauen sich nicht, sich als homosexuell zu bekennen; sie wollen sich für beide Geschlechter interessant machen; und die wohl wahrscheinlichste Variante: Sie wollen provozieren. Marta Moriarty nennt eine weitere mögliche Erklärung: Los 80, no en Madrid, sino en el mundo, creo que han sido unos años en los que sólo se hablaba de amor entre personas del mismo sexo. Pero no por una cuestión homosexual. Estaba muy de moda mantener una actitud escéptica sobre el amor, la pareja, los compromisos, el matrimonio, la durabilidad de las relaciones. En los 90 entra el sida, el neoconservadurismo, vuelve la familia, los hijos, las bodas. 72

Das Verwirrspiel findet zum Beispiel statt in der bereits erwähnten Gewohnheit, von Männern generell mit dem weiblichen Artikel als „la Fanny" etc. zu sprechen, unabhängig davon, ob sie schwul sind oder nicht. Sexuelle Ambiguität vermittelt auch Almodóvars Kolumne Patty Diphusa. Patty Diphusa, die sich als internationaler Pornostar präsentiert und von sich selbst in der weiblichen Form spricht, erzählt von ihrem ausschweifenden Nachtleben, bei dem sie keine Form von Droge oder Geschlechtsverkehr ablehnt. Illustriert ist die Kolumne bei ihrer regelmäßigen Veröffentlichung in La Luna de Madrid mit Fotos von Fabio McNamara als Transvestit. In der zwölften und letzten Kolumne kommt es zu folgendem Dialog zwischen Figur und Autor, bei dem Patty versucht, ihre/seine sexuelle Identität aufzuklären:73 Patty: En primer lugar, me gustaría saber si soy hombre, mujer o travestón. Pedro: Eres una mujer, naturalmente. Una mujer que no duerme nunca, pero una mujer al fin y al cabo. Patty: ¿Y por qué no duermo? [...] Pedro: ¿Por qué quieres dormir? Patty: No sé. He oído comentar a otros personajes que entre polvo y polvo la gente echa un sueñecito.

72

Moriarty, zitiert nach: Gallero 1991, S. 134.

73

Im Vorwort zu Patty Diphusa y otros textos stellt der Autor 1991 noch einmal klar, dass es sich

bei der Figur Patty um eine Frau handelt: „Entre la cantidad de personajes femeninos que he escrito, Patty se encuentra entre mis favoritos. Una chica con tantas ganas de vivir que nunca duerme, naif, tierna y grotesca, envidiosa y narcisista, amiga de todo el mundo y de todos los placeres, y dispuesta siempre a ver el lado mejor de las cosas." (Almodóvar 1991, S. 10).

154

Julia Nolte Pedro: Tú no lo necesitas, estás llena de vida. El signo de nuestros tiempos es el vértigo, la actividad frenética. Y tú eres una chica típica de nuestro tiempo.74

Ein ausschweifendes Sexualleben wird (vom Autor) als zeitgemäß empfunden. Dass es sich hier nicht nur um Fiktion, sondern auch um eine Spiegelung der Realität handelt, legt ein Blick auf andere Inhalte von La Luna de Madrid nahe: In einer Ausgabe findet sich ein Spiel mit dem Titel El Abortin, die große Abtreibung. 75 Es gewinnt die Person, deren Spielstein als erster die Klinik erreicht. Abtreibung ist neben vorehelichem Geschlechtsverkehr, Verhütung, Homosexualität, Drogenkonsum und einem fordernden Auftreten von Frauen eine Form gegen die Regeln des franquistischen Spaniens zu verstoßen. Der Verstoß findet nicht erst in der Movida statt, aber in der Movida tritt er erstmals an die Öffentlichkeit, wo er sein Konfliktpotenzial entfalten kann.

V.3.2 Alternative Lebensformen Die Movida bietet den Akteurinnen die Gelegenheit, ein Leben auszuprobieren, das von ihrem bürgerlichen Dasein abweicht. Sie leben eine Rolle, die sie fiir sich selbst entwerfen (Vgl. Kapitel IV.3.1 zur Selbstinszenierung). Diese Praxis beinhaltet neben dem künstlerischen auch ein soziales Protestpotenzial: Denn eine Alternative zu leben bedeutet, dass man sich nicht mit der Rolle abfindet, welche die Gesellschaft für einen vorgesehen hat. In der Movida kann man sich ungehindert in alternativen Berufen ausprobieren, beispielsweise als Bandmanager, als Herausgeberin eines fanzines, als Fotograf, Sängerin oder Transvestit. Man braucht dafür nichts, was die bürgerliche Gesellschaft voraussetzen würde: keinen Ausbildungsnachweis, keine Referenzen, kein Geld und noch nicht einmal Talent. Alles ist möglich, solange es überzeugt. Bürgerliche Berufe befinden sich selbstverständlich nicht im Vorstellungsbereich der Movida.76 Sie werden von den meisten Akteurinnen zum Gelderwerb oder gezwungenermaßen weiterverfolgt. Als bei Costus das Geld knapp ist, bezahlen sie ihr Haschisch, indem sie dem Dealer ein Porträt seiner Geliebten malen: 74

Almodóvar 1991, S. 91 f.

75

Abbildung s. Lechado 2005, S. 128.

76

Der Wandel der angestrebten Berufe ist ein Zeichen fiir das, was Garcia de León und Mal-

donado die Umkehr der sozialen Strategien („reconversión de las estrategias sociales") nennen, Garcia/Maldonado 1989, S. 139.

V. Soziale Praxis in der Movida

155

Viendo que el hachish se comía buena parte del presupuesto que tenían para materiales de pintura y el mantenimiento de la casa, propusieron al dealer hacer un intercambio. Pintaban un retrato de la novia a partir de la foto que poseía, y él les pagaba con hachish. Cerraron el anecdótico trato y tuvieron asimismo su primer encargo.77 Sie nutzen die traditionelle Rolle des Porträtmalers, um ihre nicht bürgerliche Existenz als drogenkonsumierendes Malerpaar zu finanzieren. Pedro Almodóvar arbeitet zu dieser Zeit bei der staatlichen Telefongesellschaft Telefónica und kann daher nur nachts und an Wochenenden drehen. McNamara ist in einer Autowerkstatt angestellt, 78 wo er mit Sicherheit nicht in Frauenkleidern erscheint. Alaska ist zu Kaka-de-Luxe-Zeiten gerade einmal 14 Jahre alt und noch schulpflichtig. Ihre größte Angst ist es, von Leuten aus der Szene in der Uniform ihrer französischen Privatschule gesehen zu werden. Kiki d'Aki arbeitet tagsüber in der Bibliothek des Colegio de Médicos, während sie nachts als Leadsängerin der Las Chinas gefeiert wird. 79 Man sieht an diesen Beispielen, dass die Movida-Akteurlnnen zwischen zwei Welten leben. Alkohol und Drogen können den Ubertritt von einer zur anderen erleichtern, daher ihre große Bedeutung in der Movida. Der Entwurf einer Rolle oder Lebensform geht in der Movida mit der Verwendung von Pseudonymen einher (Vgl. IV.3.1). Bürgerliche Namen werden ersetzt durch Namen, die sich die Akteurinnen selbst geben. Das heißt, die Akteurinnen übernehmen eine Aufgabe, die traditionellerweise den Eltern vorbehalten ist. Nicht selten enthält die Namenswahl einen zusätzlichen Seitenhieb gegen die bürgerliche Kultur. Der Name der Band Kaka de Luxe zum Beispiel: Hier wird dem Abfallprodukt des menschlichen Organismus das französische „de luxe" beigefügt als habe es eine Auszeichnung verdient, etwa wie ein hochwertig ausgestattetes Hotelzimmer. Die Band kommentiert mit ihrem Namen bürgerliche Wertmaßstäbe. Ein weiteres Beispiel liefert 'Costus', das Pseudonym von Enrique Naya und Juan Carrero. Es nobilitiert den Madrider Slang-Ausdruck für Haschisch („costo"), indem die Endung ,,-us" angehängt wird. 80 Es

77

Miguel Angel Arenas 'Capi', „La calidad de la pintura con el paso del tiempo", in: Juan Car-

rero/Enrique Naya, Clausura. Exposición antològica, Madrid: C o m u n i d a d de Madrid, 1992, S. 39f., S. 40. 78

Vgl. Lechado 2005, S. 107.

75

Vgl. Seisdedos 2005, S. 54.

80

Der Verweis auf Drogen war allerdings nicht intendiert; Costus geben nämlich an, dass ihr

Pseudonym auf das Verb „coser" (nähen) zurückgeht, weil sie in der Casa Costus wie fleißige

156

Julia N o l t e

handelt sich um die Endung, die im Lateinischen Substantiven männlichen Geschlechts zugeordnet wird. Trotzdem ist in der Movida meist von „Las Costus" die Rede als seien sie weiblichen Geschlechts. Dies fuhrt in die Irre — sind sie nun männlich oder weiblich? Das Spielen mit der sexuellen Orientierung, ein Charakteristikum der Movida, tritt hier erneut zutage (Vgl. V.3.1). Ein weiteres Merkmal der neuen Lebensform ist der Spaß. „Bailando, me paso el día bailando", singen Alaska y los Pegamoides, „Bebiendo, me paso el día bebiendo".81 Aus diesen Liedzeilen sprechen der Wunsch und wohl auch die Gewohnheit, gegen die sozialen Gepflogenheiten den Tag zur Nacht zu machen. Die Zeit der Arbeit soll in eine Zeit des Vergnügens verwandelt werden. Wenn sich die Movida-Akteurlnnen dazu bekennen, dass sie Spaß haben wollen, dann ist dies eine Form der Ablehnung des Bürgerlichen. Denn Spaß und seine Ausprägungen Exzess und Rausch stehen in Opposition zum sogenannten Ernst des Lebens, zur Mäßigung und Selbstkontrolle, welche die Gesellschaft von ihren Mitgliedern erwartet. Mit der Suche nach Spaß geht die Bekämpfung von Langeweile einher. Neue Bars, neue Treffpunkte, neue Drogen, neue Partnerinnen, neue Kleidung etc. sollen ungekannte Glücksmomente verschaffen und verhindern, dass Routine entsteht. Tritt Routine ein, ist Langeweile die gefiirchtete Konsequenz. In folgendem Lied von Kaka de Luxe werden Tätigkeiten, welche die Subkultur eigentlich mit Spaß assoziiert, der Langeweile zugeordnet: Pero me aburro 8 2 Bebo cerveza, me f u m o un porro, tomo anfetas, pero me aburro. Cojo a mi nena, le doy un beso, le echo un polvo, pero me aburro. 5

Soy un tío aburrido, no soy nada divertido. Soy un tío aburrido y me voy a suicidar.

Schneiderlein ständig am Arbeiten gewesen seien. Enrique Costus: „El nombre Costus surgió cuando estábamos cosiendo todo el día, pero no era cosiendo, siempre dibujando o pintando, siempre haciendo algo, costura, costura, y recibíamos a la gente trabajando", zitiert nach: Cáceres 1992, S. 114. 81 I. Canut/C. G. Berlanga, Bailando, 1982. 82 1. Canut, Pero me aburro, 1978.

V. Soziale Praxis in der Movida

157

So verzweifelt ist der Sprecher darüber, dass ihm weder Trinken und Kiffen (V. 1), noch die Einnahme von Amphetaminen (V. 2), noch Geschlechtsverkehr (V. 3f.) Spaß bringen, dass er sich — um seinen Lebenssinn beraubt — umbringen will (V. 6). Überdruss, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung - Gemütszustände, welche die cantautores der Francozeit kennzeichneten83 — sind in der Movida keinesfalls inexistent, sondern verbinden sich, wie hier erkennbar, im Konzept der Langeweile. Im erwähnten Beispiel geschieht dies auf ironische Weise, denn für die Schilderung des Angeödetseins wird eine Rock-'n'-Roll-Struktur gewählt, ein Genre, in dem normalerweise von Genuss gesungen wird. Die Ironie wird auf der Vermittlungsebene verstärkt durch die gleichgültige, schlecht gelaunte Stimme des Sängers, die so gar nicht genussvoll klingt.84 Kaka de Luxe offenbaren mit diesem Lied eine Antihaltung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft, in der die im Text geschilderten Tätigkeiten verboten sind. Sie distanzieren sich aber auch von einer Musik, die nach immer gleichem Schema einer Menschenmasse Vergnügen bereitet. Das Lied spricht schon früh eine Entwicklung an, die in der Movida gegen 1983 tatsächlich einsetzt. Die Party verliert ihre Spontaneität und wird zur Einrichtung, die nicht mehr nur von einer kleinen Gruppe Eingeweihter aufgesucht wird, sondern von jedermann. Was vorher Spaß machte, ist langweilig und damit sinnlos geworden. Vielleicht verdirbt es den Akteurinnen auch den Spaß, dass sie sich über die negativen Folgen von Drogenkonsum und Sex bewusst werden.85 In seiner letzten Kolumne für La Luna de Madrid im August 1984 lässt Pedro Almodövar seine Patty Diphusa verkünden: ADIOS. Ya nada me divierte. Y mucho menos cuando la DIVERSION es MODA. [...] Todo son fiestas, todo es sexo, todo es alegria e inconsciencia. Pues no. Los jue83

Vgl. Fouce 2 0 0 2 , S. 236.

84

Vgl. Fouce 2 0 0 2 , S. 236.

85

Im Jahr 1981 wird der erste Aidsfall in Spanien bekannt, im Laufe der 80er Jahre verbreitet

sich HIV weit, vor allem unter Drogeninjizierenden und (in geringerem Ausmaß) unter Homosexuellen. Zu Beginn der 1990er Jahre sind in Spanien bereits mehr als 1 0 0 0 0 0 Menschen mit Aids infiziert. Ihr Maximum erreicht die spanische Aids-Epidemie 1 9 9 4 mit ca. 7 4 0 0 registrierten Neuinfektionen. Doch obwohl die Zahl der Neuerkrankungen seitdem kontinuierlich sinkt und 2 0 0 4 bei ca. 1 7 0 0 liegt, weist Spanien 2 0 0 6 die höchste Gesamtzahl von Aidsfällen in ganz Europa auf;

Epidemiological Fact Sheets on HIV/Aids and sexually transmitted infections. Spain, Dezember 2 0 0 6 , S. 4 sowie Instituto de Salud Carlos III/Ministerio de Sanidad y Consumo (Hrsg.), Vigilancia Epidemiológica del SIDA en España. Registro Nacional de Casos de Sida. Informe Semestral no. 1, 30.6.2007, Tabelle 7A.

vgl. European Union/World Health Organization/Unicef/UNAIDS (Hrsg.),

Julia Nolte

158

gos dejan de serlo cuando se convierten en una manifestación cultural. Antes, una fiesta era un lugar donde a una le robaban las joyas o el novio, lo cual creaba una tensión, una historia digna de ser vivida. Ahora una fiesta es un plató donde tus antiguas amigas convertidas en momias se pasan la velada posando para fotógrafos amatéis [sie] que después escojen las peores fotos y las publican. ¿A quién van a engañar? En las fiestas últimamente lo único que ocurre son las fotos, y lo siento, a mí no me basta. O sea, paso de fiestas. Y paso de la gente que habla de fiestas, que pinta fiestas en sus comix o que hace fotos en las fiestas y las publica como si aquello importara a alguien.86

V.3.3 Auflösung der sozialen Grenzen In der Movida lösen sich die sozialen Grenzen auf. Dies geschieht zum einen durch die Verflechtung der Akteurinnen: Die Zusammenarbeit von Künstlerinnen hat nicht nur zur Folge, dass die künstlerischen Gattungsgrenzen durchbrochen werden und interdisziplinäre Kunstwerke entstehen (Vgl. IV. 1.2), sondern auch, dass Menschen aus unterschiedlich situierten Familien zusammenkommen, um gemeinsam kreativ zu sein. Im Kleinen ist dies zum Beispiel bei den Pegamoides sichtbar, „donde coincidieron la hija de un exiliado - Alaska - con un Canut y un Berlanga (y con hijos de familias menos significadas; aquello fue una conspiración interclasista)" 87 . Die Band wird als Konspiration und damit als Bedrohung empfunden, weil sich ihre Mitglieder über sozia86

Pedro Almodóvar, „Con Vds: Patti Diphusa", in: La Luna de Madrid, Nr. 9/10, Juli/August

1984, S. 23, Kopie s. Anhang; auffällig ist, dass Patty bzw. Patti, wie sie sich hier schreibt, von „Amateur"-Fotografen und „schlechten" Fotos spricht. In der Movida ging es nicht darum, professionell zu sein und 'gute' Fotos zu veröffentlichen. Die Abweichung vom ursprünglichen MovidaGeist zeigt sich in Pattys Diskurs und nicht nur darin, dass sich Partygäste zurechtmachen, um dem Fotografen aufzufallen. Almodóvar gibt in dieser Kolumne durchaus die Realität wieder, wie man an einem Leserbrief erkennt, der in der April-Ausgabe von La Luna (Nr. 6, 1984) erschienen war, wiedergegeben in Collado (Hrsg.) 1994, S. 18: „Estamos un poco desconcertados porque (no sabemos si por modestia) no habéis publicado nada sobre la maravillosa fiesta del Hotel Palace... Ni en enero, ni en febrero, ni siquiera en marzo... ¡Nosotros, que lo pasamos como NUNCA en la vida...! Contábamos con salir en las fotos, nos compramos una ropa de aquí te espero, se lo dijimos a más amigos, pensando luego en comprar muchos ejemplares de La Luna, y mandarlos a nuestros amigos de Nueva York, Londres etc. para decirles '¿Veis? Ya quisierais vosotros tener una ciudad como la nuestra...'". 87

Manrique 2005, S. 46; Carlos García Berlanga ist der Sohn des berühmten Filmregisseurs

Luis Garcia Berlanga.

V. Soziale Praxis in der Movida

159

le Grenzen hinweg zusammentun und damit die konservative Ordnung, die eine Trennung nach Klassen vorsieht, zerstören. Zum anderen geschieht die Integration verschiedener sozialer Klassen durch die Wahl der Aktionsräume. Die Movida spielt sich hauptsächlich im Madrider Centro ab und damit in einem Raum der Stadt, dessen Bewohnerinnen unterschiedliche Bildungs- und Einkommensniveaus aufweisen.88 In der Regel überwiegen in einem Distrikt entweder Bewohnerinnen mit hohem Bildungs- und Einkommensniveau (Retiro, Salamanca, Chamartín, Moncloa, Chamberí), solche mit mittlerem Bildungs- und Einkommensniveau (Latina, Hortaleza, Barajas) oder solche mit sehr niedrigem Bildungsniveau, von denen viele arbeitslos sind (Carabanchel, Userà, Puente Vallecas, Moratalaz, Villaverde, Villa de Vallecas, Vicálvaro, San Blas). 89 Die Movida-Akteurlnnen haben für ihre Aktivitäten einen Raum gewählt, in dem Begegnung und Austausch stattfinden können, unabhängig von Ausbildung und Einkommen. Auch außerhalb des Centro existiert ein solcher Raum: Das Veranstaltungslokal Rock-Ola an der Avenida de América im Stadtviertel Prosperidad (U-Bahn-Haltestelle Cartagena). In einem Distrikt, in dem überwiegend Menschen mit hohem Bildungsund Einkommensniveau leben (Distrikt Chamartín), ist es ein Treffpunkt für Menschen unterschiedlichster Kleidungsstile und sozialer Herkunft, für Teenies und Leute über 30, für Heterosexuelle ebenso wie für Homosexuelle. Es verbindet sie der Spaß an Live-Musik. Die Vielfalt der Besucherinnen lässt Fabio McNamara an die Arche Noah denken, also an einen mobilen Zufluchtsort, mit dem sich eine Generation auf zu neuen Ufern macht: Estar en Rock Ola era c o m o estar en el Arca de Noé; la mezcla de rockers, rockabillys, mods, punkis, tecnos, nuevos románticos, todos apiñados y encantados, era algo bíblico. Parecía como si en el exterior estuviera el diluvio universal y lo de dentro sirviera para perpetuar la especie. 90

Obwohl Movida-Akteurlnnen über die sozialen Grenzen hinweg gemeinsam aktiv sind, kann man nicht behaupten, dass es in der Movida keine Klas-

88

Außer dem Centro sind solche gemischten Räume Arganzuela, Ciudad Lineal sowie einige

Stadtviertel von Tetuän und Fuencarral, vgl. Bessere 1992, S. 212. Bessiere bezieht sich auf die Einteilung nach sozialen Schichten durch den Sozio-Urbanisten Julio Alguacil. Die Stadt Madrid ist in 21 Distrikte unterteilt, die jeweils aus einem oder mehreren Stadtteilen bestehen. " V g l . Bessere 1992, S. 212. 90

Fabio McNamara, in: SurExprh, Nr. 2, Mai 1987, o.S., zitiert nach: Gallero 1991, S. 389.

160

Julia Nolte

senstruktur gibt. Auch die Movida weist eine Klassenstruktur auf, nur funktioniert sie nach anderen Regeln als die bürgerliche Klassengesellschaft. 91 In der Movida wird nicht wie üblich nach Bildungs- und Einkommensniveau unterschieden, sondern nach „estética". Immer wieder wird dieses Wort von MovidaAkteurlnnen genannt, wenn sie versuchen zu erklären, warum eine/r zum harten Kern gehörte und ein/e andere/r nicht. Die Ästhetik der Movida setzt sich zusammen aus einem Look, einer Sprechweise und einer bestimmten Haltung, die am besten als eine Mischung aus Eigenwilligkeit, Risikofreude und Experimentierlust beschrieben werden kann. Die Mitglieder des harten Kerns bilden die Oberschicht, in dem Sinne, dass sie die Ästhetik (oder die sozialen Codes) nicht nur beherrschen, sondern auch prägen. Sie sind die Trendsetter, sie haben den meisten Einfluss auf die künstlerische und soziale Praxis. Die „mas blandos" konstituieren die Mittelschicht. Sie sind weniger eigenwillig, risikofreudig und experimentierlustig und setzen daher weniger häufig Standards. Ohne jeglichen Einfluss auf die künstlerische und soziale Praxis ist die breite Masse, die den Trends mit Eintritt in die zweite Entwicklungsphase der Movida über die Medien folgt, ohne selbst aktiv zu werden. Sie bildet die Unterschicht. Unter den Angehörigen des harten Kerns besteht ein ausgeprägtes Elitebewusstsein (Vgl. V.l.3). Trotzdem ist die Klassenstruktur der Movida durchlässiger als die der bürgerlichen Gesellschaft, weil man alle Variablen, die über den Aufstieg entscheiden, selbst beeinflussen kann. 92 Es ist also nicht gerechtfertigt, von einer „movida interclasista" zu sprechen wie es Vernon/Morris und Garcia/Maldonado mit Verweis auf Borja Casani tun. 93 Die bürgerliche Klassenstruktur wird zwar aufgebrochen, aber durch eine subkulturelle Klassenstruktur ersetzt. 91

Vgl. Hebdige 2002, S. 74, der ebenfalls der Meinung ist, dass in Jugendkulturen eine Klas-

senstruktur weiterbesteht. 92

Allerdings haben es Leute, die aus wohlhabenden Familien kommen oder die gut verdienen,

leichter, weil sie sich eine E-Gitarre leisten können, eine Plattensammlung haben und Geld für Kleidung und Londonreisen. Geld allein garantiert aber keine Zugehörigkeit. Wenn die Ästhetik nicht gefällt, nützt weder ein Vermögen noch ein Adelstitel (im Unterschied zur bürgerlichen Kultur, wo man sich damit Zugang zu bestimmten Kreisen verschaffen kann), wie die Nichtakzeptanz der Modedesignerin Agatha Ruiz de la Prada in der Movida belegt. 93

Vgl. Garcia/Maldonado 1989, S. 132 und Vernon/Morris 1995, S. 8; beide Autorinnen-

teams zitieren Borja Casani mit den Worten: „La movida era interclasista. [...] Hay un compromiso tribal. La gerne, en vez de reconocerse por clases, se reconoce por tribus (...)•" Dabei wird verkannt, dass die Tribalstruktur in der Movida ebenso durchbrochen wird wie die bürgerliche Klassenstruktur, aber nicht, um sie abzuschaffen, sondern um sie zu ersetzen durch eine Klassenstruktur, die sich über ein Codesystem aus Look, Sprechweise und Verhalten bildet (Vgl. V.l).

V. Soziale Praxis in der Movida

161

Soziale Grenzübertritte finden nicht nur statt, wenn sich Angehörige verschiedener Gesellschaftsschichten zusammentun, sondern auch immer dann, wenn eine Akteurin oder ein Akteur etwas tut, was sie/er nach Auffassung der bürgerlichen Kultur nicht tun dürfte. Bars, Diskos oder Konzerthallen eignen sich besonders gut für Grenzübertritte jeglicher Art, weil hier die Regeln der bürgerlichen Welt teilweise aufgehoben sind. Alkohol und laute Musik senken die Hemmungen, die Leute stehen oder tanzen dicht gedrängt, sodass Körperberührungen nichts Ungewöhnliches sind; jemanden anzusprechen ist nicht verpönt, sondern erwünscht. Diesen Umstand macht sich Fernando Colomo zunutze und wählt ein Musiklokal als Schauplatz für die Thematisierung der sozialen Grenzüberschreitung im Film. ¿Qué hace una chica como tú en un sitio como éste? (1980) schildert die Affäre einer älteren, kleinbürgerlichen Frau mit dem jugendlichen Sänger einer Rockband. Es geht um das Aufeinanderprallen verschiedener Welten wie es charakteristisch ist ftir die Zeit der Movida. Auf der einen Seite befindet sich „una chica como tú": die adrette Friseuse und Mutter von zwei Söhnen (Rosa/Carmen Maura), die durch die Ehe mit einem Polizisten (Félix Rotaeta) an das im Franquismus propagierte Ideal von weiblicher Minderwertigkeit und Hörigkeit gebunden ist. Auf der anderen Seite „un sitio como éste": ein Veranstaltungslokal, in dem ein junger Rocksänger (Toni/Héctor Alterio) mit seiner Band auftritt, wo die Frauen Hosen tragen und wo ausgelassen gefeiert wird. Die titelgebende Frage („Was macht eine Frau wie du an einem Ort wie diesem?") suggeriert: Die beiden passen nicht zusammen. Ein semantischer Raum der Angepasstheit und Unterdrückung wird einem Raum von Hemmungslosigkeit und Freiheit gegenübergestellt. Dazwischen bewegen sich die Heldin und der Held: die Friseuse und der Rocker. Den ersten Kontakt zur neuen Welt bekommt Rosa über ihre Angestellte, die mit dem Bassisten der Band befreundet ist und sie zu einem Konzert im „sitio éste" mitnimmt. Während die Band spielt, sitzt Rosa in Rock und Strickpulli steif auf einem Stuhl und beobachtet, wie die anderen Zuschauerinnen sich bewegen und Spaß haben (u.a. Pedro Almodovar als Statist in der ersten Reihe). Der Film endet mit einem zweiten Konzert der Band. Wieder ist Rosa dabei, diesmal trägt sie Jeans, wippt mit dem Bein und strahlt über das ganze Gesicht. Als das Lied ¿ Qué hace una chica como tú en un sitio como éste?— ihr Lied - zu Ende ist, springt sie von ihrem Platz auf, um ihren Freund, den Sänger, zu küssen. Sie hat die Verhaltensweisen des neuen Raumes übernommen. Weniger reibungslos verläuft ein Besuch des Rockers in der alten Welt, d.h. im Frisiersalon. Er klopft der Chefin auf den Hintern, schreit die Kundinnen

162

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an, damit sie ihm Geld zum Bezahlen geben und bürstet sich die Haare selbst nach hinten, nachdem sie von einer Angestellten sorgsam in Form gebracht wurden. Mit seinen Regelverstößen löst der Rocker Empörung und Angst aus bei den Vertreterinnen des alten Systems, nämlich den älteren Damen, die sich „in diesen Zeiten" gar nicht mehr auf die Straße trauen und meinen, in ihm den Vergewaltiger aus der Zeitung zu erkennen. Ironischerweise ist nicht der 'unverschämte' Rocker sondern der anständige' Ehemann der Vergewaltiger, der auf diese Weise versucht, den Grenzübertritt seiner Frau zu verhindern — sie bringt ihn dafür um. Fernando Colomo: Es un guión, en realidad, un poco anárquico. Está hecha en un momento en que, bueno, en que teníamos como una gran euforia creativa. [...] Tiene algunas escenas un tanto violentas como una violación y bueno, hay que verla dentro de la época en que se rodó. El año 78, es el principio de la democracia, una época de transición, y la película pues nos habla un poco de lo que [...] era aquel mundo, ¿no? Que era un poco el mundo al revés, ¿no?, en donde, digamos, los valores, como considerados oficialmente como correctos, pues en realidad eran de una cierta inmoralidad y sin embargo vemos los personajes marginales pues tenían un código ético, que ya hubieran querido para seguir mucha gente, ¿no?94 Folgende Grafik verdeutlicht — in Anlehnung an das raumsemantische Modell des russischen Literaturwissenschaftlers u n d Semiotikers Jurij Lotman (1922-1993) - die angesprochenen semantischen Räume und die Grenzüberschreitung der Heldin: 95

94

Der Regisseur über seinen Film, in: Fernando Colomo, ¡Quéhace una chica como tú en un si-

tio como éste?, 1980, Madrid: Diario El País, 2003, DVD. 95

Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 311-357.

V. Soziale Praxis in der Movida

163

Raum A

Grenze

Raum B

Frisiersalon/Ehewohnung Ehe

Konventionen und Moral

Rocklokal Verhältnis

Ehefrau/Mutter/Friseuse bewacht durch den Ehemann; seine Waffen: Kindesentfuhrung, Vergewaltigung

Semantisches Potenzial: - am Rande der Gesellschaft - Abenteuer, Spaß - frei, individuell, locker - Kleidung nach Belieben (Leder, Nieten, Hosen, Miniröcke etc.)

Semantisches Potenzial: - bürgerlich - Alltag, Pflicht - unterdrückt, angepasst, verklemmt - Kleidung nach Sitte (Frauen im Rock, Männer im Anzug)

fremdbestimmte Frau

Geliebte/Mutter/Friseuse Band, Publikum

*

selbstbestimmte Frau

Abb. 5: Semantische Räume und Grenzüberschreitung der Heldin in Fernando Colomo, ¿Qué hace una chica como tú en un sitio como éste1980 Raum A ist örtlich gesehen der Frisiersalon oder die Ehewohnung, beziehungstechnisch gesehen ist dieser Raum die Ehe. Hier befindet sich die Hauptdarstellerin zu Beginn des Filmes. Raum B ist das Rocklokal, bzw. das Verhältnis. Hier befindet sich der Sänger während der meisten Zeit des Filmes, eine Ausnahme ist örtlich gesehen sein Besuch im Frisiersalon. Die beiden Räume sind mit gegensätzlichen Bedeutungen oder Sempotenzialen ausgestattet. Diese Opposition macht die Spannung der Handlung aus. Das Ereignis besteht darin, dass die frustrierte Ehefrau Raum A verlässt und Raum B betritt. Dabei überschreitet sie eine unsichtbare Grenze aus Konventionen und Moralvorstellungen, die bewacht wird von ihrem Ehemann, der zugleich ein Symbol für die franquistische Gesellschaft ist. Doch der Ehemann versucht vergeblich, seine Frau am dauerhaften Grenzübertritt, aus seiner Sicht ein Sittenverstoß, zu hindern. Bei der Grenzüberschreitung nimmt sie Teile des semantischen Potenzials aus Raum A mit (ihr Muttersein, ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre Berufstätigkeit), wodurch sich Raum B allmählich verändert: Am Ende des Films sieht man den Rocksänger, wie er mit der Heldin deren

164

Julia Nolte

Kinder von der Schule abholt. Den Soundtrack zu dieser Emanzipationsgeschichte liefert die Madrider Band Burning mit vier Stücken: Rock 'n Roll Mama, Sin tiempo para morir, Jim Dinamita, Qué hace una chica como tú en un sitio como éste. Rockmusik und die dazugehörigen Verhaltensweisen dienen der Protagonistin als Ausweg in ein selbstbestimmtes Leben.

V.3.4 Parodie der bürgerlichen

Gesellschaft

In der Kunstpraxis der Movida werden nicht nur bestehende künstlerische Ausdrucksformen parodiert (Vgl. IV. 1.3), sondern es wird auch die bürgerliche Gesellschaft parodiert. Dabei deutet die Parodie auf Bestandteile der Gesellschaft hin, die Movida-Akteurlnnen besonders ablehnenswert finden, denn Parodie beinhaltet immer auch Kritik am Original. Es handelt sich um das traditionelle Familienbild, um bürgerliche Rituale und kirchliche Vorschriften. Der im vorhergehenden Unterkapitel besprochene Film ¿ Qué hace una chica como tú en un sitio como éste? liefert ein passendes Beispiel. Colomo parodiert darin das traditionelle Familienbild, nach dem der Mann das Sagen hat. In einer grotesken Tischszene sitzen sich die Eheleute gegenüber, der Mann im schwarzen Frack mit roter Fliege und einem Schnurrbart, der ihn aussehen lässt wie einen Zirkusdirektor. Sie erinnert in ihrem bauchfreien Seidenkleid an eine Bauchtänzerin. Zwischen ihnen sitzen Tochter und Sohn. Der Mann darf bei dieser seiner Henkersmahlzeit noch einmal das franquistische Rollenverständnis aus dem Hut zaubern mit Sätzen wie „Todo hombre es un soldado" und „En esta casa, a partir de ahora, todo será como Dios manda". Carmen Maura gibt die willige Ehefrau, welche die Worte ihres Ehemannes mit unschuldigem Augenaufschlag wiederholt und ihm den Zucker in den Kaffee rührt. Hier wird auch das bürgerliche Ritual des gemeinsamen Abendessens Gegenstand von Parodie. Mit übertriebener Unterwürfigkeit lullt sie ihn ein und lockt ihn in ihren Frisiersalon, mit dem sie — und nicht er — den Unterhalt der Familie verdient. „Parece la silla eléctrica", sagt der Vertreter des alten Spaniens noch, bevor die Trockenhaube ihm einen tödlichen Stromstoß versetzt als seine Frau ein Glas Champagner darüber gießt. Die Übertreibung markiert die Parodie: Die Kleidung der Eheleute passt eher zu einem Faschingsball und die Sprache des Tischgesprächs ist zu floskelhaft, um authentisch zu wirken. Bürgerliche Rituale werden von Pedro Almodóvar in Pepi, Luci, Bom parodiert, zum Beispiel das bürgerliche Vorstellungsritual: Pepi ist in der Wohnung

V. Soziale Praxis in der Movida

165

von Luci, um ihre erste Unterrichtsstunde im Stricken zu erhalten. Da klingelt es an der Tür. Pepi öffnet und lässt Bom herein, woraufhin es zu folgendem Dialog kommt: Bom: ¿Quién es ésta? Pepi: Mi profesora de punto. Bom: Cuarentona blandita como a mí me gustan. Huh. Vengo meándome. Pepi: Espera. Aprovecha y háztelo encima de ella. Está caliente y la refrescará. Bom: Un poco difícil sí que va a ser, pero valdrá la pena. Pepi: Seguro. Que yo te ayudo. Súbete a la silla. Levanta la pierna. Luci: Ay, ay.... Bom: Cómo disfrutas. Oye, que no soy una vaca, ¿eh? Pepi: Se acabó. Ya no hay más. Bom: Y tú, ¿de dónde eres? Luci: Yo, de Murcia. Bom: Tú y yo vamos a ser muy buenas amigas. Mit der größten Selbstverständlichkeit wird hier der übliche Händedruck oder Wangenkuss ersetzt durch das Bepinkeln der Person, die es zu begrüßen gilt. Es geht also weniger um das gegenseitige Kennenlernen als um die einseitige Machtdemonstration. Der Witz liegt in der Beiläufigkeit, mit der sich Bom hinterher erkundigt, woher Luci kommt. Carmen Maura, ftir die der Dreh dieser Sequenz die erste Begegnung mit Alaska war, schildert die Reaktionen des Filmteams: A nadie le parecía raro, ni a Pedro, ni a Alaska, ni a Eva, como si toda la vida les hubieran caído meadas encima. Era un mundo muy raro el que rodeaba a Pedro, un mundo que me fascinó cuando empecé a conocerle bien. Era una gente que podía hacer lo que le daba la gana, nadie juzgaba nada, las cosas no se consideraban tonterías, todo el mundo hacía cosas extrañas que a nadie extrañaban. Eso me encantaba. [...] Me lo tomaba todo con naturalidad, y si allí nadie se extrañaba, pues a mí tampoco me extrañaba.96 Nicht nur in der künstlerischen Praxis wird das Bürgertum parodiert, sondern auch in der sozialen Praxis. Ein Beispiel hierfür ist Ana Curra, die ihre

96

Carmen Maura, zitiert nach: Vidal 1989, S. 18f.; ihr Eindruck von Alaska nach der ersten

Begegnung war folgender: „Alaska me parecía supersimpática, superguapa y superdivertida. Tenía quince años. [...] Era muy buena chica, muy disciplinada y obediente."

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Julia N o l t e

Outfits aus alten Kleidern anfertigte. Sie funktionierte u.a. ein Nonnengewand für ihren Gebrauch um und parodiert damit sowohl den Kleidungsstil der Nonnen als auch die zugrunde liegenden kirchlichen Vorschriften. Toda la ropa que llevo en los discos si te lo cuento, alucinas. Una de ellas es como unos ropajes largos así, negros. Eso era un traje de monja que yo tenía de pequeña, que lo pedí a los Reyes porque yo quería ser monja. Y entonces me trajeron un traje de monja, tendría yo siete años o menos. Entonces luego yo ese vestido me lo hacía en plan así túnica, me lo levantaba por un lado, me lo cogía con un imperdible en un lado. O sea que tú imagínate, de dónde lo recuperé. Y ese traje lo había mandado mi madre hacer a las monjas. 9 7

Ana Curra rafft die Kutte mit einer Sicherheitsnadel hoch und zeigt Bein. Damit demonstriert sie ihre Ablehnung gegenüber der Kirche, die Keuschheit und Enthaltsamkeit predigt. Nicht nur, dass sie das Habit verwendet, obwohl sie dazu nicht berechtigt ist. Sie verwendet es in einem unpassenden, weil weltlichen Kontext, nämlich beim Fotoshooting für ein Plattencover.

V . 4 VERSCHMELZUNG VON KUNST UND LEBEN

Die Movida ist die Kombination einer sozialen und einer künstlerischen Praxis. Sie ist weder ein Lebensstil, noch eine Kunstform. Sie ist beides zusammen, nämlich eine Art zu leben und dabei künstlerisch aktiv zu sein. Im Wesen der Movida ist die Verschmelzung von Kunst und Leben also angelegt. In Kapitel IV wurde gezeigt, wie das Leben zum Bestandteil von Kunst wird, indem die Person des Künstlers, das Publikum und der gemeinsame Lebensraum in das Kunstwerk integriert werden. Ergänzend wird an dieser Stelle untersucht, wie Kunst und Leben einander durchdringen (1) in der Integration von britischem und nordamerikanischem Kunstschaffen (Punk, Comic, New Yorker Subkultur der 1960er Jahre, insbesondere Andy Warhols Factory) sowie (2) in der Verknüpfung von bürgerlichem Alltag und Kunst.

97

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 5.

V. Soziale Praxis in der Movida V.4.1 Integration fremder künstlerischer

167

Einflüsse

Das Fremde übt eine starke Anziehungskraft auf Movida-Akteurlnnen aus, denn ihre Lust, sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, ist groß. Das Fremde kann eine neue Droge sein, eine neue Schallplatte oder eine neue Tätigkeit wie E-Gitarre-Spielen. Fremd ist aber auch das Ausland, das den Spanierinnen nach Jahrzehnten der Abschottung im Franquismus wieder offensteht. Das Ausland wird zur Inspirationsquelle sowohl für die künstlerischen Aktivitäten als auch für den Lebens- und Kleidungsstil. Corazones Automáticos, ein Gruppe von Musikkritikern, aus der später die Band Radio Futura hervorgeht, nennt das Fremde „die wahre Kraft" und fordert 1978: Romped con el provincialismo de vuestras conciencias. La esencia del pop es la universalidad. La verdadera fuerza, lo extranjero, es, dentro de cada uno, también lo más cercano.98 Das Streben nach Neuem, Fremden ist gleichzeitig eine Absage an das Alte, Gewohnte. Die neue Generation distanziert sich von der spanischen Vergangenheit, sie stellt sich in eine neue Tradition, indem sie sich Ausprägungen von Popkultur und Politik zu eigen macht, die zeitgleich oder kurz zuvor in anderen Ländern Europas und in Nordamerika existieren: Punk Rock, Glam Rock, die Uberreste der Hippie-Bewegung (in Spanien bekannt als El Rollo), Drogenkultur, Frauenbewegung und Schwulenbewegung." Der britische und nordamerikanische Punk, über Radio, Musikzeitschriften und Fernseher in Musikbars verbreitet,100 findet umgehend sein spanisches Pendant. Fast zeitgleich mit Ramones in New York sowie Sex Pistols und The Clash in London entstehen in Madrid die Corazones Automáticos, Zombies, Kaka de Luxe und Ramoncin.101 Sie imitieren einerseits den Klang der Bands —

Nach Meinung der Corazones Automáticos fehlte dem Festival Canet Rock von 1978 das

98

Fremde: „Falta el trabajo secreto que produciría extranjero' desde dentro [...]", zitiert nach: Fouce 2002, S. 24. 99

Vgl. Vernon/Morris 1995, S. 5.

100

Im Rock-Ola waren im Barbereich Fernseher an der Decke angebracht, die musikalische

Neuheiten aus London zeigten: Videos von The Clash, Damned, Spandau Ballet, Adam Ant, vgl. Méndez 2004, S. 79. " " V g l . Ordovás 1987, S. 195.

168

Julia Nolte

spanische Coverversionen zeugen von dem direkten musikalischen Einfluss. 102 Andererseits kopieren sie den Look ihrer englischen und nordamerikanischen Kolleginnen. Eduardo Benavente: La primera vez que estuve en Londres fue cuando tocamos con Las Modettes, en mayo, en el teatro Martín. Me fui con ellas y estuve allí ocho días. Me llevaron a fiestas donde conocí a los Stray Cats y al Captain Sensible. Y me compré mi segunda cazadora de cuero, porque la primera me la robaron. Ana Curra: Luego, en octubre del 80, fuimos todos juntos a Londres, nos cortamos el pelo a lo Siouxsie y compramos pelucas. Vine muy contenta y muy feliz con mi nueva imagen. Volvimos a Madrid vestidos de negro y con mucho metal colgado y mucha baratija. Ya no llamábamos tanto la atención como antes, que vestíamos de rosa puñeta y naranja fluorescente. Era un escándalo salir a la calle así. Yo cada vez que me acuerdo, no sé cómo me atrevía. Olvido, de pulseras multicolores hasta arriba. Aquella forma de vestir era mucho más escandalosa que la que vino después. 103

Die Punk-Ikone Siouxsie Sioux, von Ana Curra als modisches Vorbild genannt, wurde mit schwarzer Kleidung, schwarzer toupierter Mähne, schwarzem Eyeliner und weiß grundiertem Gesicht zur Begründerin des Gruftie-Looks. 104 Imitiert wird dieser Look u.a. von den Pegamoides, die auf diese Weise dafür sorgen, dass der Tod auch in Madrid in Mode kommt. Plattencover zeigen sie nach der erwähnten Englandreise nicht mehr auf dem Klo wie noch zu Kakade-Luxe-Zeiten, sondern auf dem Friedhof. Der Spielraum wird vom Diesseits auf das Jenseits erweitert. Auch im Auftreten von Tino Casal und Fabio McNamara sind fremde Einflüsse erkennbar, allerdings ist hier nicht der Punk, sondern der nordamerikanische Glam-Rock mit den theatralischen Auftritten, den Glitzerkostümen und der sexuellen Ambiguität einer Ziggy Stardust (alias David Bowie) Referenzpunkt. Eine Inspirationsquelle sowohl für den Kleidungsstil als auch für das künstlerische Schaffen sind auch Comics. Ana Curra berichtet, bevor sie Anhängerin 102 Zum Beispiel: Divina (Los bailes de Marte) von Radio Futura aus dem Jahr 1980 ist eine Version von Marc Bolans Ballroom ofMars, vgl. Fouce 2002, S. 268; Megusta ser una zorra von Las Vulpess ist eine Version von I wanna beyour dog der The Stooges.

Benavente, Curra, zitiert nach: Ordoväs 2003, S. 73f. Vgl. Kirsten Borchardt, „Stop Making Sense. Supermarkt des Erhabenen: New Wave und Pop in den Achtzigern", in: Peter Kemper/Thomas Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hrsg.), 'Allesso schön bunt hier'. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute, Stuttgart 1999, S. 175186, S. 179. 103

104

V. Soziale Praxis in der Movida

169

des Gruftie-Looks wurde, habe sie eine „estética tipo comic" verfolgt.105 Als Modell hätten ihr Figuren aus dem in Barcelona gedruckten El Víbora gedient. Fernando Colomos Film Qué hace una chica como tú wiederum ist vom nordamerikanischen Comic beeinflusst: Die Geschichte La vida al revés aus dem von Lee Falk entworfenen Comic Mandrake the Magician lieferte Colomo die Idee, in seinem Film die Maßstäbe von 'gut' und 'böse' zu verdrehen (Vgl. die Filmanalyse in V.3.3).106 Das New York der späten 1950er und 60er Jahre ist ein wichtiger Referenzpunkt der Movida. Dies zeigt sich zum einen darin, dass La Luna de Madrid nach dem Vorbild der 1955 gegründeten, alternativen New Yorker Wochenzeitung The Village Voice entworfen wurde.107 Einflüsse sind auch in Almodóvars Film Pepi, Luci, Bom zu erkennen, der geprägt ist vom „underground ethos" (Richard Dyer) wie er zehn Jahre zuvor in New York galt: Sexuelle Tabus werden gebrochen, mit größter Beiläufigkeit wird pornografisches Material präsentiert und zu den Protagonistinnen gehören Transvestiten und Homosexuelle. Die künstlerische Verarbeitung von Gestalten des Untergrunds ist auch das, was Almodóvar mit Warhol verbindet.108 Almodóvar wird aus diesem Grund zu Beginn seines Filmschaffens „el Warhol español" genannt. Er macht keinen Hehl daraus, dass er Warhol nacheiferte. Seine Patty Diphusa, schreibt er, „era la primera hermana de esa legión de chicas descarriadas que pueblan las películas del dúo Warhol-Morrisey"109. Einflüsse der Pop Art sind in der Movida allerdings nur vereinzelt auszumachen: bei Costus, die sich in ihrer Serie El Chochonismo von Fotos in Klatschmagazinen inspirieren lassen und in konsumbezogenen Liedtexten von Alaska y los Pegamoides; in Quiero ser un bote de colón wünscht sich die Band, als Waschmittelbehälter der Marke Colón im Fernsehen beworben zu werden, in Rebelión de los electrodomésticos spricht sie Elektrogeräten ein Eigenleben zu.

Gesprächsprotokoll Curra 2006, S. 4. Vgl. Colomo 2003. 107 Dieser Entwurf beinhaltete Borja Casani zufolge „[...] u n periódico - si hubiera podido ser semanal, mejor - lleno de letras de principio a fin, que combinara tanto artículos de fondo potentes como el lanzamiento de propuestas que pudieran morir a los diez minutos, haciendo un gran hincapié en la ciudad y en el espectáculo que la ciudad está generando en ese momento", Casani, zitiert nach: Gallero 1991, S. 13. 108 Vgl. Richard Dyer, Now You See ¡t: Studies ort Lesbian and Gay Films, London: Roudedge, 1990, zitiert nach: Smith 1995, S. 28. 109 Almodóvar 1991, S. 9. 105 106

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Julia Nolte

Für Begeisterung sorgt unter den Movida-Akteurlnnen allerdings nicht Warhols Kunst, sondern sein Lebensstil, symbolisiert durch die Factory. Sie ist Wohnung, Szenetreffpunkt und Produktionsstätte von Warhols Druckgrafikserien gleichermaßen und damit Sinnbild der Verschmelzung von Kunst und Leben. El Zurdo ist überzeugt, „que lo que nos hubiese gustado vivir es la Factory, mucho más que el Londres de Johnny Rotten" 110 . Man kann sich leicht vorstellen, dass sich Movida-Akteurlnnen in der Factory zu Hause gefühlt hätten, denn Factory und Movida weisen unübersehbare Gemeinsamkeiten auf: Beides sind Räume, in denen sich eine subkulturelle Szene trifft, wo experimentiert wird mit Drogen, Sex und gattungsüberschreitendem Kunstschaffen, im Falle der Factory mit Druckgrafik, Malerei, Film, Text und Musik. Und in beiden Räumen spielt die Musik eine tragende Rolle.' 11 Warhol förderte und beeinflusste The Velvet Underground, Nico und Bob Dylan, wofür ihn ein Großteil der Madrider Musikerinnen bewunderte. 112 Im Nachhinein ist sich Pedro Almodóvar der Gemeinsamkeiten bewusst und sagt: En aquellos primeros ochenta vivíamos en una permanente-factoría-de-Warhol. Cuando leí las memorias de Edie Segwick comprendí hasta qué punto diez años después ciertos círculos de Madrid eran idénticos a ciertos círculos de Nueva York. Círculos viciosos y sin salida, se entiende. 113

Als Andy Warhol 1983 zum ersten Mal nach Madrid kommt, wird er gefeiert wie ein Popstar. 114 Für seine Ausstellung Guns Knives Crosses in der Galerie Vijande werden Eintrittskarten verkauft — in einer Woche 4000 Stück. Ihm zu Ehren werden Parties gegeben, etwa im Hause der Millionärsfamilie March. Die Fotos, die bei diesen Gelegenheiten entstehen, vermitteln den Eindruck, dass die Madriderinnen alles geben für eine Aufnahme von sich und Andy 110

El Zurdo, zitiert nach: Ordoväs 2003, S. 28f.

111

Aus den gleichen Gründen ist die Factory mit der Casa Costus vergleichbar.

112

Vgl. Ordoväs 2003, S. 89.

113

Almodovar 1991, S. 8.

114

Warhol war zu diesem Zeitpunkt kein Unbekannter in Spanien: 1975 fand in der Galerie

G in Barcelona eine Ausstellung seiner Werke statt, einige seiner Bücher waren bei Tusquets und Anagrama erschienen und seine Filme Trash und Flesh wurden im Juni 1979 im Madrider Kino Bellas Artes gezeigt. Während seines Madridaufenthaltes 1983 besichtigte er den Prado. Es wird berichtet, dass er dafür keine Viertelstunde brauchte und dass er nur der Reproduktion eines Gemäldes, die ein Kopist anfertigte, Aufmerksamkeit schenkte; dann kaufte er Postkarten und Souvenirs und ging, vgl. Fouce 2002, S. 42f.

V. Soziale Praxis in der Movida

171

Warhol. Ein Foto zeigt Pablo Pérez-Mínguez, der Warhol mit gerecktem Kopf und aufgerissenen Augen über die Schulter schaut. Warhol ist auf diesem Schnappschuss unscharf, sein Gesicht wird teilweise verdeckt durch einen anderen Ausstellungsbesucher.115 Dass Pérez-Mínguez ein solches Foto in einem Buch abdruckt, das eine Retrospektive seines eigenen Fotoschaffens ist, spricht dafür, dass man sich in Madrid allein durch Warhols Anwesenheit aufgewertet fühlte. Die Begeisterung war allerdings einseitig, wie Almodóvars Schilderung nahelegt: Cada día éramos presentados una y otra vez al dios Warhol en distintasfiestasorganizadas en su honor, pero nunca nos reconocía (hablo en plural porque siempre éramos un montón de gente). Andy desarrolló en Madrid su vertiente más aurista, se limitaba a estar en los sitios y si acaso te hacía una foto con gesto autómata, daba la impresión de que la cámara no estuviera cargada. Lo que más le interesaban eran las marquesas y gente así, a ver si le encargaban algún retrato, pero creo que ninguna picó.116

V.4.2 Das Alltägliche in der Kunst Kunst und Leben verschmelzen in der Movida auch dadurch, dass das Alltägliche in die Kunst integriert wird. Ouka Lele zum Beispiel setzt in ihrer Serie Peluquería (1979) Ding und Mensch in Beziehung zueinander: Sie drapiert ihren Modellen u.a. Orangen, einen Tintenfisch oder ein Telefon auf den Kopf bevor sie Fotos von ihnen macht. „Quería que fueran como santos con su corona", erklärt sie ihre Motivation.117 Gewöhnliche Menschen werden zu Heiligen, banale Gebrauchsgegenstände oder (spanische) Grundnahrungsmittel zu Kronen. Die Kombination hebt beides aus der Masse hervor, den Menschen ebenso wie das Ding. Das Gewöhnliche bekommt Wert, ist heilig. Diesen Gedanken entwickelt Ouka Lele nicht nur auf Fotopapier, sondern trägt ihn auch ins Leben, wenn sie zur Ausstellungseröffnung mit einem toten Ferkel auf dem Kopf erscheint (Vgl. IV.3.1).

115

Abbildung s. Pirez-Minguez 2 0 0 5 , S. 2 5 5 ; s. außerdem Cervera 2 0 0 2 , Fototeil in der

Buchmitte, für ein Foto, das Warhol auf der Party im Hause March im Januar 1983 zeigt, umringt von Ariel Rot, Dario Villalba, Carlos Berlanga und Bernardo Bonezzi. 116

Almodövar 1991, S. 8.

117

Gesprächsprotokoll Ouka Lele 2006, S. 7.

172

Julia Nolte A u f musikalischer E b e n e wird die V e r s c h m e l z u n g von K u n s t u n d L e b e n

zum Beispiel von A l m o d ó v a r & M c N a m a r a praktiziert. D a s Lied Susan get down beginnt mit einer Lautsprecherdurchsage: „ B e s u c h e n Sie unseren S t a n d a u f Ebene vier. Großer Schlussverkauf von Revolvern, Messern u n d allen Accessoires der unruhigen Frau." Im Hintergrund sind aufgeregt durcheinanderredende F r a u e n s t i m m e n zu hören. D i e K a u f h a u s a t m o s p h ä r e wird gestört v o n einer D u r c h s a g e der Polizei, die „la señorita S u s a n " zur Polizeiabteilung bittet. Es folgt ein Sprechgesang, bei d e m M c N a m a r a u n d A l m o d ó v a r abwechselnd an Susan adressierte Befehle rufen. Susan get down 118 „Visite nuestro stand en la planta 4a. Gran liquidación en revólveres, cuchillos y todos los complementos de la mujer inquieta."

5

10

„Señorita Susan, acuda por favor a planta 4a Departamento de la Policía." Susan Susan Susan Susan

get get get get

down, up. down, up and dance.

[repeat] ¡Susan, ¡Susan, ¡Susan, ¡Susan, 15

ven aquí! deja eso! cállate! esfúmate!

Susan rómpete! Susan mátalo! Susan matarí! Matarilerón. Susan get down etc.

118

R Almodóvar/F. de Miguel/B. Bonezzi, Susan get down, 1983.

V. Soziale Praxis in der Movida

173

Dadurch dass jede Textzeile mit „Susan" beginnt, entsteht der Eindruck, dass ein Entrinnen unmöglich ist. Dem Konsumdiktat muss gehorcht werden und sei es, dass Mordwaffen in Mode sind, wie aus der Kaufhausdurchsage hervorgeht. Die Parodie der Konsumwelt wird verstärkt, indem barsche Aufforderungen wie „Komm her!" (V. 11), „Lass das!" (V. 12), „Halt die Klappe!" (V. 13) und „Verschwinde!" (V. 14) verwendet werden, die eher abstoßend als ermunternd wirken und damit gegen das Prinzip der Werbung, nämlich die Einladung zum Kauf, verstoßen. Der Alltag wird hier in Form einer Collage integriert: Alltagsgeräusche wie Stimmengewirr und Lautsprecherdurchsage werden mit Instrumentalklängen vermengt; es wird sowohl gesprochen als auch gesungen; die literarische Ausdrucksform 'Liedtext' ist durchsetzt von Werbesprache und Umgangssprache (Befehle, Kraftausdrücke). Sowohl auf klanglicher als auch auf textueller Ebene verschmelzen Kunst und Leben. Beispiele für die Einbeziehung des Alltäglichen in die Kunst finden sich nicht nur bei Ouka Lele und Almodövar&McNamara, sondern in zahlreichen künstlerischen Produkten der Movida. Bei aller Unterschiedlichkeit haben sie oft gemein, dass sie das Alltägliche, das Normale, auch das Banale feiern. Fouce, der dies für die Liedtexte der Movida festgestellt hat, nennt als Begründung den Hedonismus der Movida. 119 Diese Erklärung überzeugt mich nicht, da den Movida-Akteurlnnen die Lust am Normalen vergangen ist und sie stattdessen Lust auf Neues, Fremdes haben (Vgl. V.4.1). Die Integration des Alltäglichen, oft auch dessen Parodie, lässt sich vielmehr mit der Improvisationsgabe und -bereitschaft der Movida-Akteurlnnen erklären (Vgl. III.2.5): Sie machen etwas aus dem, was es gibt. Dies geschieht bei Ouka Lele, wenn sie gewöhnliche Dinge in Beziehung zu einem Menschen setzt und ihnen dadurch eine neue Funktion gibt, als Kopfbedeckung oder Heiligenschein. Auch Almodövar, McNamara und Bonezzi lassen ihre Fantasie von Alltäglichem anregen und zeigen: Selbst einer banalen Tätigkeit wie dem Einkaufen kann ein Hauch von Horror verliehen werden. Dies bringt mich zum letzten Beispiel, Horror en el hipermercado von Alaska y los Pegamoides. Das Lied erzählt die Geschichte eines Einkaufs mit tödlichen Folgen: Ein Pärchen schiebt seinen Einkaufswagen durch den Supermarkt; die Frau macht sich auf die Suche nach einer Dose Thunfisch und kehrt nicht zu-

Fouce 2 0 0 2 , S. 2 2 8 schreibt von der „celebración de lo cotidiano, de lo normal, lo banal incluso, que acompaña al hedonismo de la

movida".

Julia Nolte

174

rück. Nach stundenlangem Warten entdeckt der Sprecher seine Maripili beim Blick in die Kühltruhe - in Einzelteile zerlegt (Verse 9-12) 120 : Horror en el hipermercado 1 2 1

Llevo horas esperando Maripili está tardando Esta chica no coordina Maripili ven monina 5

Terror en el hipermercado Horror en el ultramarinos Mi chica ha desaparecido Y nadie sabe cómo ha sido, no D e quién es esta cabeza

10

Este brazo, esta pierna Ay Maripili eres tú ay qué desgracia, ay qué cruz Terror en el hipermercado etc.

Dass die Ermordete Maripili heißt, ist wohl kein Zufall sondern ein Kommentar zur Mari Pili der Ejecutivos Agresivos, einem Gute-Laune-Lied, das nicht nach dem Geschmack der Pegamoides gewesen sein dürfte.122 Der Synthesizer, der bei den Pegamoides zum Einsatz kommt, klingt nach Drehorgel und wird ergänzt durch Händeklatschen, das entfernt an palmas erinnert und so den Klang des folkloristischen Spaniens erzeugt. Dadurch entsteht eine Volks-

Vgl. auch das 45-sekündige Musikvideo, abrufbar unter http://www.youtube.com, Suchwort: Alaska y los Pegamoides (Pfad: http://www.youtube.com/watch?v=KguDhyQNp5c&mode =related&search=, Abruf: 29.6.2007). 121 C. G. Berlanga/I. Canut, Horror en el hipermercado, 1980. 122 F. Trinidad/C. Entrena/J.L. Vizcaya/J. Urrutia/J. Alfonso/I. Gasca, Mari Pili, 1980; geschildert wird darin ein Tag am Strand an der Seite der hübschen Mari Pili. Es gibt nichts zu tun außer zu rauchen und dem Meer beim Rauschen zuzuhören. Die Geschichte endet mit einem Sonnenbrand. 120

V. Soziale Praxis in der Movida

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feststimmung, die in Kombination mit dem Text äußerst makaber wirkt. Movida-Akteurlnnen muss dies belustigt haben, während Vertreterinnen der bürgerlichen Kultur wohl schockiert reagierten, falls sie das Lied zu hören bekamen. Aus der Betrachtung der Beispiele lässt sich schlussfolgern: Die Integration des bürgerlichen Alltags in die Kunst dient nicht nur der Gewinnung neuer Perspektiven, sondern auch und vor allem der Provokation.

VI Die Movida, eine sozio-kulturelle Revolution?

D a s Schlusskapitel vereint die Ergebnisse der Reliktanalysen aus den Kapiteln IV und V, um daraus den Kunst- und Gesellschaftsbegriff zu entwickeln, den die Movida als Ganzes vertritt. Es wird ein Modell für Ö f f n u n g und Wandel der dominanten Kultur entwickelt, um in Anknüpfung an III.4 abschließend darzulegen, dass die Movida im weiteren Sinne die Einführung neuer Werte und Praktiken in der spanischen Gesellschaft und Kultur ist. U n d dass sie als Motor des Wandels revolutionär ist.

V I . L REVOLUTIONIERUNG DER KÜNSTLERISCHEN PRAXIS: E I N NEUER KUNSTBEGRIFF

Die Analyse der künstlerischen Praxis hat gezeigt, dass die Movida mit den Konventionen der Kunst bricht und sie neu definiert. Nach dem Vorbild der Aktionskunst stellt die Movida die traditionellen Begriffe von Gattung, Künstler und Werk in Frage und setzt sie außer Kraft. Dies geschieht auf dreierlei Weise: (1) Als interdisziplinäres Phänomen und in ihrer Parodie bestehender künstlerischer Ausdrucksformen setzt sich die Movida über Gattungsgrenzen hinweg; (2) mit bewusstem Dilettantismus definiert sie den Begriff vom Künstler neu; (3) der traditionelle Werkbegriff wird aufgelöst zugunsten eines Ereignisses, das Sender, Empfänger, Raum und Zeit einbezieht.

VI. 1.1 Gattung als

Handlungsfreiraum

In der Movida werden Gattungsgrenzen überschritten und aufgelöst. Es werden Kunstprodukte geschaffen, die sich nicht eindeutig einer Gattung zuordnen lassen, weil sie Elemente verschiedener Kunstformen enthalten. Diese Praxis wurde beispielhaft untersucht anhand von O u k a Leles Rappelle-toi, Bar-

178

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bara, anhand der Temas de arquitectura nacional y otros monumentos von Costus sowie an Monja, jamón von Almodóvar&McNamara (IV. 1). Außerdem arbeiten die Movida-Akteurlnnen oft in Teams zusammen, wobei die Beteiligten unterschiedliche Kunstformen beisteuern. Besonders deutlich wird dies in Almodóvars Spielfilm Pepi, Luci, Bomy otras chicas del montón. Hier vereinen sich Film, Musik, Malerei und Comic zu einer interdisziplinären Einheit (IV.2). Damit stehen die Movida-Akteurlnnen in der Tradition der historischen Avantgarde (Dadaisten, Futuristen, Surrealisten) und der Aktionskünstlerinnen, die im frühen 20. Jahrhundert, bzw. seit den 1960er Jahren an der Sprengung tradierter Gattungsgrenzen arbeiteten/arbeiten. In II.2.1.1 wurde der Gattungsbegriff der Aktionskunst folgendermaßen definiert: Gattung ist der Freiraum, der die gleichberechtigte und regellose Kombination künstlerischer Traditionen und Alltagspraktiken ermöglicht. Auch die Movida bietet einen Freiraum, in dem künstlerische und soziale Praktiken zusammengeführt werden: Ob jemand einen Popsong schreibt oder einen Film dreht, ob ein Mann Frauenkleider trägt, eine Frau sich die Haare grün färbt, oder ob sich jemand auf der Straße entgeistert von ihnen abwendet — jede dieser Handlungen ist Bestandteil der Aktion 'Movida'. Gleichberechtigt ist die Kombination von künstlerischer und sozialer Praxis, denn weder die eine noch die andere wird bei der Gestaltung der Aktion 'Movida' bevorzugt. Die Kombination der künstlerischen Traditionen hingegen erfolgt nicht gleichberechtigt: Einer Ausdrucksform wird die Vorherrschaft zugestanden, und zwar der „Methode des Theaters" (Beuys). „El teatro desaparece como forma específica y se convierte en teatro cada cosa"1, beobachtete Borja Casani. Wie bei der Aktionskunst und wie beim Gesamtkunstwerk (Vgl. II.3) fungiert die Handlung als Ordnungsmacht, der sich alle Ausdrucksformen unterordnen. Edith Almhofer weist darauf hin, dass die Dominanz der Handlung in der Aktionskunst eine lineare Vermittlungsform mit sich bringt, etwa auf der Merzbühne oder in der Reihung des Programms im Cabaret Voltaire.2 In der Movida jedoch wird die lineare Vermittlung außer Kraft gesetzt, denn Ereignisse finden nicht nur nacheinander statt, sondern auch gleichzeitig. Dies hat zur Folge, dass die Akteurinnen nicht überall anwesend sein können. Sie haben die Wahl zwischen Arten von Aktion und Orten von Aktion (in Madrid), sind also gefordert,

1

Casani, zitiert nach: Garcia/Maldonado 1989, S. 181, aus einem Interview von 1988.

2

Vgl. Almhofer 1986, S. 26.

VI. Die Movida, eine sozio-kulturelle Revolution?

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zu entscheiden, wie und wo sie sich einbringen wollen. Die Akteurinnen der Movida müssen mehr Eigeninitiative aufbringen als die Besucherinnen einer Fluxus-Veranstaltung, einer Performance von Kaprow oder einer Aktion von Joseph Beuys. Eine Erweiterung erfährt der Gattungsbegriff der Aktionskunst auch dadurch, dass es neben dem Prinzip der Handlung eine zweite Ordnungsmacht in der Movida gibt. Es handelt sich dabei um ein gemeinsames Motto, an dem sich die Ereignisse orientieren. Wo sich im Cabaret Voltaire allabendlich das Motto ändert, dem sich die Beiträge anzupassen haben, verfolgt die Movida jahrelang das Prinzip 'Spaß haben' (III.2.3). Alles, was Spaß macht, passt zur Aktion. Insofern ist auch der Spaß eine Ordnungsmacht der Movida. Die für Aktionskunst charakteristische regellose Kombination der Ausdrucksformen wird in der künstlerischen Praxis der Movida abgewandelt. Die Movida-Akteurlnnen gehen einen Schritt weiter als die Avantgardisten und Aktionskünstlerinnen, indem der Regelbruch zum Prinzip erhoben wird. Tradierte Ausdrucksformen werden nicht ohne Regel, sondern gezielt gegen die Regeln verwendet, indem man sie parodiert (IV. 1.3). Für den Gattungsbegriff der Movida ergibt sich: Gattung ist der Freiraum, indem künstlerische und soziale Praktiken gleichberechtigt und gegen die Konventionen zusammengeführt werden. Weder künstlerische noch soziale Praktiken werden bei der Gestaltung des Freiraums bevorzugt, in diesem Sinne sind sie gleichberechtigt. Alle Praktiken ordnen sich allerdings zwei Prinzipien unter: der Handlung und dem Spaß. Diesefungieren als Ordnungsmächte und geben dem Freiraum Zusammenhalt. Dabei finden die Handlungen gleichzeitig an verschiedenen Orten statt.

VI. 1.2 Künstlerin sein heißt Teil eines Ereignisses sein In der Movida ist jeder Mensch ein Künstler, der den Mut hat, sich auszuprobieren, voller neuer Ideen steckt und sie mit Spaß umsetzt. Es spielt dabei keine Rolle, welche Ausbildung diese Person genossen hat und ob sie künstlerische Techniken beherrscht. Der Status der Künstlerin/des Künstlers als Virtuosin/Virtuose wird dementiert. Wie in der Aktionskunst wird ein bewusster Dilettantismus praktiziert, um damit künstlerische Ordnungen zu verletzen und deren Verfechterinnen zu provozieren. Es gilt das Beuyssche 'Jeder-ist-einKünstler'-Prinzip. Die Betonung des Spaßfaktors jedoch ist eine Besonderheit der Movida. Im Gegensatz zu den Werken der Aktionskünstlerinnen, die es

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darauf anlegen, die Beteiligten in seelische und körperliche Bedrängnis zu bringen, soll die Movida vor allem Spaß machen (Vgl. IV.2). Eine weitere Parallele zur Aktionskunst liegt darin, dass der Künstlerbegriff von gemeinhin als künstlerisch empfundenen Tätigkeiten getrennt wird. Um diese Tatsache hervorzuheben, wird in dieser Studie als Synonym fiir 'Künstlerin der Begriff 'Akteurin verwendet. Man muss kein Bild malen, keinen Film drehen, keinen Comic zeichnen, um eine Akteurin oder ein Akteur der Movida zu sein. Die eine Person steht auf der Bühne und macht Musik, die andere hört zu. Die eine dreht einen Film, die andere spielt mit oder schaut ihn sich an. Die eine ist keine bessere oder wichtigere Akteurin als die andere. Sie ist eine andere Akteurin. Mit ihrer Präsenz und Geisteshaltung tragen alle Akteurinnen dazu bei, dass ein Freiraum entsteht, in dem Erfährungen gemacht werden. Ob sie diese Erfahrungen auch abbilden, ist zweitrangig. Für den Künstlerbegriff der Movida ergibt sich: Künstlerinnen sind in der Movida all jene, die den Mut haben, sich auszuprobieren, die voller neuer Ideen stecken und sie mit Spaß umsetzen. Es spielt dabei keine Rolle, welche Ausbildung sie genossen haben, ob sie künstlerische Techniken beherrschen und welche Ausdrucksform sie wählen. Künstlerin sein heißt, Teil eines Ereignisses sein, und mit der eigenen Präsenz und Geisteshaltung dazu beitragen, dass ein Freiraum entsteht, in dem Erfahrungen gemacht — aber nicht notwendigerweise abgebildet— werden. Die Erneuerung des Künstlerbegriffs geht einher mit einer Neudefinition von Qualität: Künstlerinnen bzw. deren künstlerische Produkte sind 'gut', solange sie mutig und neu sind, voller Ideen stecken und den Beteiligten Spaß bringen. Die technische Ausführung hingegen ist unerheblich. Dies bringt uns zum Werkbegriff.

VI. 1.3 „ Todo era arte. Fany era arte" In der Movida wird das Kunstwerk von seiner Objektgebundenheit befreit, indem es ausgeweitet wird auf den Künstler, das Publikum und den Raum, in dem es entsteht. Die Ausweitung des Kunstwerks auf den Künsder geschieht über Selbstinszenierung. Nach dem Ende der Franco-Diktatur erfinden sich die Movida-Akteurlnnen neu als wären sie selbst die Kunstwerke, die es zu erschaffen gilt. Sie entwerfen Rollen für sich „repleto d t g l a m o u r y menos aburrido que aquel que ocupabas en la vida cotidiana" (Sabino Méndez), verbinden sie mit einem Pseudonym und prä-

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sentieren das neue Selbst auf Fotos, in Gemälden und Filmen, in Zeitungsinterviews und Live-Auftritten, wie um zu sagen: „Da seht ihr 's, so bin ich wirklich." Für die Selbstinszenierung ist jedes Medium recht. Die Rollen werden aber nicht nur auf Bild-, Text- und Tonträgern verewigt, sie werden auch gelebt. So wie sich Fluxus-Künstlerlnnen über eine „Art, Dinge zu tun" (Friedman) definieren und so wie John Cage sagt, „Art is a way of life" (Vgl. II.2.2.3), sind Look, Sprech- und Verhaltensweisen entscheidend fiir die Konstituierung als Movida-Akteurln (Vgl. V.l). In Kapitel IV.3.1 wurde deutlich, wie die Selbstinszenierung zusätzliche Bedeutungen schafft, die auf Kunstwerke übergehen und deren dilettantische Durchoder Ausfuhrung ausgleichen können. Wie in der Aktionskunst ist die Verhaltensweise der Akteurinnen für ihre Identität als solche entscheidend. Was sie schaffen, ist nicht wichtiger als wie sie es schaffen (Vgl. II.2.1.2). Auf den überzeugenden Auftritt kommt es an. Diese Auffassung spiegelt sich zum Beispiel in der Schlusssequenz von Pepi, Luci, Bom, als Pepi Bom vorschlägt, sie könne ja Bolero-Sängerin werden, nachdem der Pop aus der Mode gekommen sei (Vgl. IV. 1.2). Bom ist begeistert von der Idee, zweifelt aber daran, dass ihr der Stilwechsel gelingt: „Me encantaría. [...] ¿Pero tú crees que yo sabré?" Pepi antwortet: „Desde luego, autenticidad no te va a faltar, y es lo importante." Die Künstlerin/der Künstler und ihr/sein Auftreten sind Teil des Kunstwerks. Kunst und Leben verschmelzen. In der Movida wird die traditionelle Zuschauerrolle abgeschafft, indem das Publikum in die Kunst einbezogen wird. Anstelle passiver Rezipientlnnen haben wir es mit Handelnden, mit Akteurinnen zu tun. Die Ausweitung des Kunstwerks auf das Publikum geschieht erstens, indem das Publikum in Kunstprodukten der Movida abgebildet wird, und zweitens, indem die Empfängerinnen am Schaffensprozess mitwirken und dadurch ihrerseits zu Senderinnen werden. Sie tragen aber nicht nur dazu bei, dass Kunstprodukte entstehen, sondern auch dazu, dass ein Freiraum entsteht, in dem experimentiert werden kann. Am Beispiel der Casa Costus wurde gezeigt, dass es in der Movida keine Nur-Empfängerlnnen gibt. Selbst wenn Movida-Akteurlnnen keine objektgebundenen Kunstwerke hervorbringen, sind sie doch Künstlerinnen, weil sie mit ihrer Aufgeschlossenheit, Bereitwilligkeit und Aufmerksamkeit Erfahrungen ermöglichen, wenn auch nicht abbilden. Es gilt: Alle Akteurinnen sind Künstlerinnen (IV.2). Künstlerinnen sind Kunstwerke (IV.3.1). Alle Akteurinnen sind Kunstwerke. Ausgenommen sind diejenigen passiven Beobachterinnen der Movida, welche die künstlerischen und sozialen Praktiken der Movida nur aus den Medien kennen, aber selbst nicht anwenden.

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Wie die Einbeziehung von Künstler und Publikum in das Kunstwerk, knüpft auch die in der Movida praktizierte Ausweitung des Kunstwerks auf den Raum an die Praxis der Avantgardisten und Aktionskünstlerinnen an. Das Kunstwerk, also die Aktion, wird in der Movida allerdings auf ein ganzes Stadtviertel ausgeweitet (Centro) und nicht nur auf das Geschehen in einem Club oder Restaurant, in einer Galerie oder Bahnhofshalle, wie bei den Aktionskünstlerinnen. Auch ist die Movida eine vergleichsweise lange Aktion: Sie dauert von ungefähr 1977 bis 1985 und existiert auch danach noch weiter, im Untergrund. Sie hat ihre Vorgänger also bei solchen Aktionskünstlerinnen, welche die Aktion als zeitlich undeterminierten Prozess auffassen: Bei Gilbert & George etwa, die behaupten, jede ihrer Alltagshandlungen sei ein Kunstwerk, oder bei Beuys, der sein ganzes Leben zum Kunstwerk erklärte und mit der Sozialen Plastik einen endlosen Vorgang der Bewusstwerdung und Formgebung erdachte. Die Innovation der Movida liegt darin, dass sie aus zahllosen Teil-Aktionen besteht, die keinem linearen Ordnungsprinzip folgen, wie etwa die Fluxus-Events. Die Konzerte, die Ausstellungseröffnungen, die marcha, die kreativen Treffen in Privatwohnungen wie der Casa Costus oder dem Atelier von Pablo Pérez-Mínguez — alles für sich genommen Aktionen, die Raum, Mensch, Objekt und Handlung einbeziehen —findengleichzeitig statt und können nicht alle miterlebt werden. Der Ereignischarakter der Movida hat zur Folge, dass sie sich - wie eine Aktion — nicht konservieren und damit weder ausstellen, noch wiederholen, noch verkaufen lässt. Dies kann man nur mit den Relikten der Movida machen. EMI-Odeon kann eine Best-Of-CD der Movida-Hits herausbringen (20 años de Movida, 2003) und B M G Spain kann Auftritte von Movida-Bands aus den Archiven des staatlichen spanischen Fernsehens als D V D auf den Markt bringen [La edad de oro del pop español, 2004); Alaska kann ihre Anekdoten veröffentlichen (Rafa Cervera, Alaska y otras historias de la Movida, 2002); die Comunidad de Madrid kann eine retrospektive Ausstellung über Costus organisieren {Clausura, 1992) oder zwischen November 2006 und Februar 2007 Ausstellungen, Konzerte, Lesungen, Diskussionsrunden und Filmvorführungen - insgesamt 200 Veranstaltungen - durchfuhren, „um den Jüngeren die Movida Madrileña zu vermitteln" 3 ; José Manuel Lechado kann Plattencover,

3

o A , „La Comunidad homenajea a La Movida Madrileña con más de 200 actividades", Nach-

richt vom 16.11.2006 auf: http://www.madrid.org/cs/Satellite?c=CM_Actualidad_FA&pagename=ComunidadMadrid%2FEstructura8danguage=es&cid=l 142322431649, Abruf: 30.8.2007; zu

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Eintrittskarten, Filmplakate und anderes zu einer Crönica de los 80 (2005) zusammenfügen und Alberto Garcia-Alix kann sich Ana Curras Leopardenstiefel an die Wand hängen (Vgl. V. 1.1). Die Mehrzahl dieser Relikte gehorcht den Regeln des Ausstellungsbetriebs und des Kulturmarktes. Das Ereignis 'Movida' hingegen lässt sich nicht wiederholen, ausstellen und verkaufen, weil die Movida mehr ist als die Summe ihrer Relikte. Sie ist eine Art, zu leben und schöpferisch zu sein, sie ist ein Freiraum, eine kreative Energie, ein Gemeinschaftsgefühl, sie ist eine Aufbruchsstimmung, die an einen konkreten Moment in der spanischen Geschichte gekoppelt ist. Deswegen entzieht sie sich — wie die Aktionskunst — im Nachhinein authentischer Kritik und lässt sich schwer nachvollziehen durch jene, die nicht dabei waren. Für den Werkbegriff der Movida ergibt sich: Das Kunstwerk 'Movida' ist ein Ereignis und als solches nicht objektgebunden aber orts- und zeitgebunden. Der Raum (die Stadt Madrid) wird in das Werk integriert, ebenso wie alle Menschen, die in diesem Raum handeln (AkteurInnen), unabhängig von ihrer Ausbildung oder ihrem Broterwerb. Zu den Handlungen zählen künstlerische Aktivitäten (schreiben, malen, fotografieren, filmen, schauspielern, singen, ein Instrument spielen) ebenso wie Aktivitäten, die gemeinhin nicht als künstlerisch gelten, aber das Ziel verfolgen, sich auszuprobieren (sich kleiden, sich frisieren, Konzerte besuchen, tanzen, Sex haben, trinken, Drogen nehmen). Insofern verschmelzen im Kunstwerk 'Movida' künstlerische und soziale Praxis, man kann auch sagen Kunst und Leben. Capiformuliert den allumfassenden Charakter des Kunstbegrifß der Movida folgendermaßen: „ Todo era arte. Fany era arte."

V I . 2 REVOLUTIONIERUNG DER SOZIALEN PRAXIS: EIN NEUER GESELLSCHAFTSBEGRIFF

Die Analyse der sozialen Praxis in Kapitel V hat gezeigt, dass die MovidaAkteurlnnen die soziale Praxis in Madrid und Spanien erneuern, indem sie mit gesellschaftlichen Konventionen brechen und alternative Verhaltensweisen aufzeigen. Einen Alternativentwurf zum bürgerlichen Gesellschaftsbegriff bzw. zum Franco-Spanien bieten sie (1) mit der Prägung neuer sozialer Codes, (2) der Erneuerung des Verhältnisses von Künstler und Zuschauer, (3) der Ableh-

dieser Ausstellung ist der bisher aufwändigste und umfassendste Katalog mit Werken aus der Zeit der Movida erschienen: drid, 2007.

Nacho Santos/María Molina (Hrsg.), La Movida, Madrid: Comunidad de Ma-

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nung des Bürgerlichen und (4) der Verschmelzung von Kunst und Leben. Die neue Praxis findet Anhängerinnen zunächst in Madrid und ab ca. 1980, mit Einsetzen der zweiten Entwicklungsphase, in ganz Spanien. Sie stößt einen tief greifenden gesellschaftlichen Wandel an. Die Movida-Künstlerlnnen sind Vorreiterinnen ihrer Zeit, indem sie mit dem Regelwerk der klerikalen Diktatur brechen und vorleben, was Freiheit, Gleichheit und Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen bedeutet. Dadurch fördern sie das Entstehen einer neuen, demokratischen Gesellschaftsstruktur. Zu (1): Die Erneuerung geschieht zum einen über die Prägung neuer sozialer Codes (V.l). Anstelle von Alter, sozialer Herkunft und Ausbildung entscheiden in der Movida sogenannte tribale Variablen über die Zugehörigkeit zur Gruppe und die Stellung innerhalb der Gruppe: Look, Sprechweise und Verhalten. Bürgerliche Gruppenbildungsvariablen werden außer Kraft gesetzt. Dadurch lernen Movida-Akteurlnnen, dass sie etwas gelten können, auch wenn sie nach bürgerlichem Urteil zu jung, zu arm oder zu ungebildet sind. Gleichzeitig wird den Vertreterinnen der bürgerlichen Kultur vor Augen gefuhrt, dass sie nicht über den allein gültigen Beurteilungsmaßstab verfugen. In diesem Sinne hat die Prägung neuer sozialer Codes eine andauernde Wirkung, auch wenn das Movida-eigene Codesystem das bürgerliche nicht ersetzt. Bei der Untersuchung des Looks (V.l.l) ist deutlich geworden, dass in der Movida die subkulturtypische Tribalstruktur durchbrochen wird. Zwar gibt es Leute, die sich wie Punks, Rocker, Hippies kleiden. Es finden sich aber nicht nur Vertreter einer Ästhetik in einer Clique oder in einer Band. In einer Gruppe sind oft mehrere tribus vertreten, ergänzt durch Leute, die sich ihrem Äußeren nach keiner tribu zuordnen lassen. Man sieht dies zum Beispiel auf dem Foto eines Auftritts der Band Kaka de Luxe: Manolo Campoamor trägt einen selbst entworfenen einteiligen Anzug mit trichterförmiger Kopfbedeckung, El Zurdo trägt Hemd und Jackett, Alaskas und Enrique Sierras Haare sind zu Punkfrisuren gestylt.4 Dies ist möglich, weil in der Movida das Aussehen entgegen subkultureller Konvention nicht an eine bestimmte Musik gekoppelt ist. Für den Look der Movida lässt sich schlussfolgern: Die Akteurinnen spielen mit den Stilen. Sie greifen einige Elemente bestehender Ästhetiken auf, während sie andere Elemente dieser Ästhetiken ignorieren (etwa die Bedeutung von Nazisymbolen). Dadurch kreieren sie einen Patchwork-Look, dessen Maxime es ist, sich nicht einordnen zu lassen.

4

Abbildung s. Pérez-Minguez 2005, S. 118f.

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Die Movida-Akteurlnnen schaffen sich eine eigene Umgangssprache, u.a. indem sie bestehende Worte gegen die Konvention verwenden. Dadurch grenzen sie sich von der bürgerlichen Sprachgesellschaft ab und schaffen Zusammenhalt. Da sich Jargon besonders häufig im Zusammenhang mit szenetypischen Verhaltensweisen bildet, dominieren in der Umgangssprache der Movida Begriffe rund um Drogenkonsum (V.l.2). Anhand der Sprechweise wurde gezeigt, dass die Movida wie jede Subkultur einem Kreislauf von Ablehnung und Eingliederung unterworfen ist. Sie generiert neue Codes, deren konsensfähige Elemente in die dominante Kultur eingegliedert und dort, wenn möglich, vermarktet werden. Eine Visualisierung dieses Vorgangs findet sich in III.3.4 (Abb. 1: Drei Entwicklungsphasen der Movida). Die „actitud" einer Person ist wichtiger als ihr Aussehen (V.l.l). Das gleiche gilt für künstlerische Aktivitäten: Die Überzeugung und Freude, mit der man bei der Sache ist, wiegt schwerer als die technische Fähigkeit bei der Ausführung (IV.2). Die innere Haltung kann in der Kleidung und der Frisur zum Ausdruck kommen, wird aber vor allem über eine Verhaltensweise vermittelt. So verwundert es nicht, dass Movida-Akteurlnnen ihre Stellung in der Movida vor allem über ihr soziales und künstlerisches Verhalten erlangen: je risikoreicher, desto angesehener. Nach dem Grad ihrer Risikofreude rechnen Movida-Akteurlnnen einander zum „núcleo duro" oder zu den „más blandos". Das heißt, trotz der zur Schau gestellten Offenheit weist die Movida wie das bürgerliche Spanien eine Klassenstruktur auf. Der Unterschied liegt darin, dass man die Klassenzugehörigkeit nicht vom Elternhaus mitbekommt, sondern durch das eigene Verhalten bestimmt. Zu (2): Die Erneuerung der sozialen Praxis geschieht auch durch die Veränderung der Zuschauerrolle (V.2). Denn dadurch, dass die Zuschauerinnen in den Schaffensprozess einbezogen werden und nicht nur passive Rezipientlnnen eines festgelegten Endergebnisses sind, lernen sie, dass sie Einfluss nehmen können. Im Versuchslabor Movida proben sie das demokratische Modell: Die Akteurin oder der Akteur informiert sich über die Vielfalt der Lebens- und Ausdrucksformen und trifft eine Wahl — zum Beispiel für eine bestimmte Art der Partnerschaft oder eine bestimmte Musik- und Kleidungsrichtung. Mit ihrer/seiner Wahl beeinflusst sie/er die weitere Entwicklung der Movida, in der zum Beispiel bekennende Homosexuelle oder Anhänger der Punk-Asthetik immer häufiger werden, weil sich mehr Leute trauen, wenn es jemand vormacht. Die Movida macht die passiven Zuschauerinnen zu Mit-Akteurlnnen, die infolge ihrer neuen Rolle auch in der bürgerlichen Gesellschaft selbstbewusster agieren können.

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Zu (3): Mit ihrer offenkundigen Ablehnung des Bürgerlichen fordern Movida-Akteurlnnen dazu heraus, Bestehendes zu hinterfragen. Sie lehnen sich auf gegen das als wünschenswert geltende Verhalten, gegen die traditionellen Geschlechterrollen sowie gegen das bürgerliche Modell der Klassengesellschaft und zeigen Alternativen. Die Ablehnung des Bürgerlichen findet ihren Ausdruck zum einen im Umgang mit dem Körper (V.3.1). Die Movida knüpft damit an die Aktionskunst an, die in den 1970er Jahren den Körper als einzigartiges Instrument sowohl für formale Untersuchungen wie auch zur Darstellung existenzieller Fragen der Verletzung und des Todes entdeckte. Wie bei den Aktionskünstlerinnen hatte dies zahlreiche Todesfälle zur Folge.5 In der Movida geht es allerdings nicht um formale Untersuchungen. Auch werden gesellschaftliche Tabus nicht durch Selbstverletzung oder Selbstverstümmelung gebrochen wie bei den Wiener Aktionisten und radikalen Vertretern der Body Art. Die Movida-Akteurlnnen demonstrieren, dass die bürgerliche Gesellschaft keine Kontrolle über sie hat, indem sie ihren Körper für all das gebrauchen, was verboten oder in den Augen der Bürgerlichen unanständig ist: Sie tätowieren sich und machen dadurch sichtbar, dass nur sie allein Entscheidungsgewalt über ihren Körper haben. Sie berauschen sich und bringen damit Körper und Geist gleichermaßen außer Kontrolle. Männer und Frauen schminken sich entgegen der Konventionen und lehnen sich damit gegen die geltenden Maßstäbe von männlich und weiblich, von hübsch und hässlich auf. Die Geschlechterrollen werden auch durch den Umgang mit Sexualität revolutioniert: Homosexuelle bekennen sich zu ihrer sexuellen Neigung und erteilen damit dem Modell des Familienvaters bzw. der Kinder gebärenden Ehefrau eine Absage. Frauen verlassen den für sie vorgesehenen Aktionsraum hogar, also die Wohnung der Familie, und begeben sich erstmals ins Rampenlicht. Sowohl in sexueller als auch in beruflicher Hinsicht nehmen sie sich, was sie wollen. Sie agieren selbstbewusst und selbstbestimmt und leben damit das Modell einer Frau, die im Franquismus nicht existieren durfte. Die Movida ist eine sexuelle Revolution, weil sie die bestehende Geschlechterordnung umstürzt. 5

Gina Pane zum Beispiel, wichtigste Vertreterin der Body Art, zerschnitt sich die Haut mit ei-

nem Rasiermesser und machte Fotos von ihrem fließenden Blut; Chris Bürden ließ sich von einem Freund in den Arm schießen. Ob der eine oder andere bei diesen Experimenten bis zum Selbstmord ging, ist bis heute umstritten. Eine Tatsache ist, dass von diesen Künsderlnnen, die sich so heftig mit Fragen der Verletzung und des Todes auseinandersetzten, auffallend viele früh gestorben sind, vgl. Jappe 1 9 9 3 , S. 25f.

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Die Movida-Akteurlnnen finden sich nicht mit den Rollen ab, welche die Gesellschaft für sie vorgesehen hat. Im Rahmen der Selbstinszenierung (IV.3.1) und in Kapitel V.3.2 wurde untersucht, wie Movida-Akteurlnnen Rollen ftir sich entwerfen, sie mit einem Pseudonym und einer eigenen Ästhetik versehen und auf diese Weise zu einer alternativen Lebensform finden. Um ihr Alternativleben zu finanzieren, arbeiten viele tagsüber in einem bürgerlichen Beruf. Der Wechsel zwischen der bürgerlichen und der subkulturellen Existenz, d.h. der Rollenwechsel, wird erleichtert durch Alkohol und Drogen, aber auch durch Kleidung, Frisur und Make-up — daher deren große Bedeutung in der Movida. Das gemeinsame Kennzeichen der alternativen Lebensformen der Movida ist Spaß mit seinen Ausprägungen Exzess und Rausch. Damit positioniert sich die Movida in Opposition zum sogenannten Ernst des Lebens, zu Mäßigung und Selbstkontrolle. Die bürgerlichen Tugenden werden mit Füßen getreten. Die Ablehnung des Bürgerlichen tritt auch darin zu Tage, dass die MovidaAkteurlnnen sich über soziale Grenzen hinwegsetzen. Dies geschieht zum einen durch die Art der Gruppenbildung: Bands, fanzine.-Kollektive, Filmteams, Cliquen finden sich ohne Beachtung der sozialen Herkunft der einzelnen Mitglieder zusammen. Zum anderen spielt sich die Movida in integrativen Aktionsräumen ab: Sowohl im Stadtviertel Centro als auch in Veranstaltungslokalen wie dem Rock-Ola mischen sich Menschen unterschiedlicher Bildungs- und Einkommensniveaus. Infolgedessen wird die bürgerliche Klassenstruktur aufgebrochen und durch eine subkulturelle Klassenstruktur ersetzt. Aus V.3.3 geht hervor, dass es falsch wäre zu behaupten, in der Movida seien alle gleich. Auch in der Movida wird zwischen Ober-, Mittel- und Unterschicht unterschieden: Es gibt den „núcleo duro" (Oberschicht), die „más blandos" (Mittelschicht) und mit Beginn der zweiten Entwicklungsphase die breite Masse passiver Rezipientlnnen (Unterschicht). Die Angehörigen dieser Schichten unterscheiden sich durch ihren Einfluss auf die künstlerische und soziale Praxis der Movida. Sie haben entweder großen (Trendsetter), mittleren oder keinen Einfluss (Nachahmer). Die Skizze aus V.l.3 lässt sich demnach um einen Ring erweitern, wobei der Pfeil den Grad der Einflussnahme auf die künstlerische und soziale Praxis markiert:

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Abb. 6: Gesellschaftsschichten in der Movida nach ihrem Einfluss auf die künstlerische und soziale Praxis Die Innovation gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die Schichtzugehörigkeit über Variablen geregelt wird, die jede Akteurin und jeder Akteur selbst beeinflussen kann und für die man keine Voraussetzungen wie Erziehung, Ausbildung oder Geld mitbringen muss: Für den sozialen Aufstieg sind Look, Sprechweise und Verhalten verantwortlich. Sowohl in der künstlerischen als auch in der sozialen Praxis der Movida werden Bestandteile der bürgerlichen Gesellschaft parodiert (IV. 1.3 und V.3.4). Besonders häufig handelt es sich hierbei um das traditionelle Familienmodell, bürgerliche Rituale und die Kirche. Da Parodie immer auch Kritik am Original

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beinhaltet, lässt sich schlussfolgern, dass in der Movida eine besondere Abneigung gegen diese drei Dinge besteht. Da die Movida-Akteurlnnen aus der bürgerlichen Gesellschaft hervorgehen und zu einem Großteil neben ihrer Alternativexistenz auch ein bürgerliches Leben führen, lässt sich zudem schlussfolgern, dass die Movida Abneigungen zum Vorschein bringt, artikuliert, die latent in der bürgerlichen Gesellschaft bestehen. Auch bringt sie Dinge, die schon praktiziert werden, zum Vorschein, etwa Abtreibung und Drogenkonsum. Dem traditionellen Familienmodell zufolge hat der Vater das Sagen, die Mutter ist dem Mann untergeordnet und die Kinder haben zu gehorchen. Die Parodie dieser Konstellation wurde anhand des Films ¿Qué hace una chica como tú en un sitio como éste? dargestellt. Die Movida-Akteurlnnen haben in diesem Zusammenhang gleich gegen zwei Stereotypen zu kämpfen: Zum einen wollen sie nicht länger die bevormundeten Kinder sein, die keine eigene Meinung und keinen eigenen Lebensentwurf haben dürfen. Und zum anderen wehren sie sich gegen das traditionelle Familienmodell, weil es der Frau ebenso wie dem Mann eine bestimmte Rolle aufzwingt. Bürgerliche Rituale werden abgelehnt, weil sie Verhaltensweisen vorschreiben, die dem Streben nach Abwechslung und Selbstbestimmung zuwiderlaufen. Wenn in Pepi, Luci, Born ein Kaffeeklatsch parodiert wird oder das bürgerliche Begrüßungsritual, wird damit nicht das Kaffeetrinken oder das Händeschütteln kritisiert, sondern das, was diese Rituale symbolisieren. Kritisiert wird ein Lebensentwurf, der Höflichkeit, Regelmäßigkeit und Pflichtbewusstsein beinhaltet (es gehört sich, die Nachbarinnen zum Kaffee zu bitten und sich neuen Bekanntschaften vorzustellen). Auch die kirchlichen Vorschriften stehen im Widerspruch zur sozialen Praxis der Movida und werden deswegen mit Vorliebe parodiert. Keuschheit, Enthaltsamkeit, Kontrolle von Körper und Fantasie — alles was im Habit der Nonne versinnbildlicht ist, verkehrt zum Beispiel Ana Curra ins Gegenteil, wenn sie das Gewand mithilfe von Sicherheitsnadeln zu einem beinfreien Kleid umfunktioniert. Zu (4): Die Erneuerung der sozialen Praxis geschieht viertens durch die Verschmelzung von Kunst und Leben. Immer wieder ist in der Analyse deutlich geworden, dass Kunst und Leben in der Movida eins sind. Ob sich die Akteurinnen selbst inszenieren (IV.3.1), ob das Publikum in den Schaffensprozess einbezogen wird (IV.3.2) oder der Raum (IV.3.3) oder der Alltag (V.3.2) - stets wird das Leben zum Bestandteil des Kunstwerks erklärt. Dies hat zur Folge, dass der WerkbegrifF (in Anlehnung an die Aktionskunst) erneuert wird. Jede menschliche Handlung kann ein Kunstwerk sein. Es wird aber nicht nur das Leben in die Kunst integriert, sondern auch die Kunst ins Leben. Die Kunst wirkt ins Leben hinein,

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wenn Alaska y los Pegamoides nach London reisen, von dort den Gruftie-Look mitbringen und ihn über ihre Plattencovers und Auftritte verbreiten. Oder wenn Ana Curra ihren Kleidungsstil nach dem Aussehen von Comicfiguren entwirft. Bei der Verschmelzung von Kunst und Leben entsteht ein Raum, der — wie Andy Warhols Factory in New York — für jegliche Form von Experiment mit dem Körper und mit der eigenen Ausdrucksweise offen ist und in dieser Freiheit das krasse Gegenteil zum franquistischen Spanien mit seinem Traditions- und Regelbewusstsein darstellt. Die Movida-Akteurlnnen schotten sich nicht wie die Vorgängergeneration von fremden Einflüssen ab, sondern zeigen, wie man fremde Einflüsse integrieren und für das eigene Leben und Schaffen fruchtbar machen kann. Für den Gesellschaftsbegriffder Movida lässt sich schlussfolgern: 1. Die Gesellschaft ist ein Raum, derfür jegliche Form von Experiment mit dem Körper und mit der eigenen Ausdrucksweise offen ist. 2. Dabei ist dieser Raum nicht ungeregelt. Das bürgerliche Regelsystem wird ersetzt durch ein Regelsystem, das seinen Mitgliedern einen Look, eine Sprech- und Verhaltensweise abverlangt, der/die den bürgerlichen Konventionen zuwiderläuft. Die geltenden Maßstäbe werden umgekehrt. Das Hässliche ist schön (zerrissene Kleidung und schwarze Augenringe), das Unschickliche gerade recht (Miniröcke, Netzstrümpfe, Tätowierungen, ausgestopfte Tiere als Kopfbedeckung), das Zu-Vermeidende erstrebenswert (Rausch, Besinnungslosigkeit, Sex). Es gibt keinen Leichtsinn und keine Pflicht, nur Risikofreude und Vergnügen. 3- Die Mitglieder der Gesellschaft können sich ungehindert informieren und haben freie Wahl, was ihre Lebens- und Schaffensform betrifft. Mit ihrer Wahl nehmen sie Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft, das heißt, sie begleiten die Schaffensprozesse der Gesellschaft aktiv. 4. Die Mitglieder der Gesellschaft sind gleichberechtigt, unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Orientierung. 5. Die Gesellschaft ist durchlässig. Zwar existiert eine Hierarchie, denn manche Gruppen und Individuen haben mehr Einfluss auf die soziale und künstlerische Praxis als andere. Doch die Schichtzugehörigkeit ist über Variablen geregelt, die jeder selbst beeinflussen kann: Look, Sprech- undVerhaltensweise. Der soziale Aufttieg (die Zugehörigkeit zum „harten Kern") kann gelingen unabhängig von Herkunft, Erziehung Ausbildung und Vermögen. 6. Die Gesellschaft ist nicht selbstgenügsam, sondern erweitert ihr Repertoire an sozialen und künstlerischen Praktiken durch den Blick ins Ausland. Fremde Einflüsse werden integriert, nicht abgeblockt. Die Kultur ergibt sich als Patchwork aus Eigenem und Elementen internationaler Bezugssysteme politischer, sozialer und

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künstlerischer Art (z.B. die internationale Frauenbewegung, das New York der 1960er Jahre, die internationale Popkultur mit ihren Ausprägungen Rock, Pop, Punk, Pop Art). Diese Bezugssysteme ersetzen die Tradition als Bezugsystem.

V I . 3 D I E M O V I D A - M O T O R DES WANDELS

Manche der Elemente des Gesellschaftsbegriffs der Movida sind konsensfähig, andere nicht. Gleichberechtigung, Informations- und Wahlfreiheit, Mitbestimmung der Bürgerinnen, Durchlässigkeit der sozialen Schichten, Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen, Toleranz von Abweichungen von der Norm (z.B. im Kleidungsstil) sind in unterschiedlichen Ausprägungen in jeder freiheitlichen, demokratischen Gesellschaftsordnung enthalten. Auch das nächtliche Weggehen und der Konsum bestimmter Rauschmittel (la marcha) werden akzeptiert, wenn es in Maßen geschieht. Nicht konsensfähig hingegen ist das uneingeschränkte Experimentieren mit dem Körper (Exzesse jeder Art sind nicht konsensfähig, weil sie zu weit vom Mittelmaß abweichen).6 Auch das In-denTag-hinein-Leben wird in leistungsorientierten Gesellschaften nicht akzeptiert. Auch künstlerisch gesehen enthält die Movida konsensfähige und nicht konsensfahige Elemente. Die Selbstinszenierung des Künstlers wird seit jeher von der Gesellschaft erwartet. Die Auflösung der Gattungsgrenzen ist längst fester Bestandteil moderner Künstlermanifeste, ebenso wie die Verschmelzung von Kunst und Leben.7 Übliche Praxis ist mittlerweile auch die Verarbeitung bestehender Ausdrucksformen mittels Parodie - Kennzeichen einer postmodernen Kunstpraxis. Als konsensfähig haben sich zudem neue künstlerische Ausdrucksformen, etwa die Performance, sowie das Kunstschaffen von Ouka Lele, Pedro Almodövar, Alberto Garcia-Alix, Alaska und anderen bekannt gewordenen Movida-Akteurlnnen erwiesen. Nicht konsensfähig hingegen ist das Spaßprinzip, dem die Movida folgt. Es lässt sich nämlich nicht mit dem nach wie vor gültigen Qualitätsmaßstab vereinbaren, der besagt, dass nur jemand, der sich einer Tätigkeit ernsthaft widmet, darin gut sein kann. Bis heute existiert die Unterscheidung zwischen sogenannter ernster E-Kultur und unterhaltender U-Kultur, wobei Befiirworterlnnen dieser Trennung

6

Das Experimentieren mit der künstlerischen Ausdrucksweise hingegen ist zulässig. Der österrei-

chische Aktionskünsder Hermann Nitsch darf seine Blutorgien offen dich durchfuhren, weil er sie als Kunst deklariert. 7

Vgl. Ursprung 2 0 0 3 , S. 71f.

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der E-Kultur den höheren künstlerischen Wert zusprechen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch der Künstlerbegriff der Movida bisher nicht konsensfähig ist. Nicht jede/r wird als Künsderln angesehen, weil sie/er den Mut hat, sich auszuprobieren, voller neuer Ideen steckt und sie mit Spaß umsetzt. Daran ändert auch ein prominenter Mitstreiter wie Joseph Beuys nichts. Er erlebte es als „wahnsinnige Schwierigkeit", mit einem Begriff (der Sozialen Plastik) aufzutauchen, „den die meisten heute noch nicht als Kunst erleben können"8. Möglicherweise wird die Movida deswegen von so vielen Zeitgenossinnen und Autorinnen als unkünstlerisch empfunden, weil diese sich nie vom traditionellen Kunst- und Künsderbegriff haben lösen können. Aktionskunst, die der Movida als Kunstform am nächsten kommt, ist bis heute eine Subkultur innerhalb der künstlerischen Praxis, auch wenn inzwischen alle größeren Kunstmuseen Relikte von Aktionen berühmter Künsderlnnen zu ihren Exponaten zählen. Integrative Ausstellungen hingegen, bei denen die Besucherinnen am Schaffensprozess beteiligt würden, sind eine Ausnahme. Die Ausweitung des Kunstwerks auf das Publikum ist offensichdich nicht konsensfahig. In der Movida wird Konsensfähiges und Nicht-Konsensfähiges praktiziert, zunächst im Untergrund, zwischen 1980 und 1985 auch öffentlich. Die konsensfähigen Praktiken finden Nachahmerinnen in der dominanten Kultur, die sich dadurch öffnet und wandelt. Um diesen Vorgang der Öffnung und Wandlung zu veranschaulichen und damit an Unterkapitel III.3.4 anzuknüpfen, greife ich abschließend noch einmal Fernando Colomos Film ¿Quéhace una chica como tú en un sitio como éste? auf (Vgl. V.3.3). Darin wird die Entwicklung einer Ehefrau, Mutter und Friseuse geschildert, die sich zwischen einem semantischen Raum A (Ehe, Familienwohnung, Frisiersalon) und einem semantischen Raum B (Verhältnis mit einem Rocker, Disko) bewegt. Dieses Handlungsmodell lässt sich auf die gesellschaftliche und die künstlerische Entwicklung des Spaniens der Transición übertragen. Raum A kann gedeutet werden als das franquistische Spanien, Raum B als die Movida. Zwischen den beiden Räumen befindet sich eine Grenze aus im Franquismus geprägten Wert-, Moral- und Rollenvorstellungen, die sowohl die künstlerische als auch die soziale Praxis bestimmen. Die Grenze verhindert einen sofortigen und reibungslosen Ubertritt der im Raum A befindlichen Personen in den neuen Raum B. Jugendlichen fällt die Grenzüberschreitung be-

8

Beuys, zitiert nach: Schneede 1998, S. 625.

VI. Die Movida, eine sozio-kulturelle Revolution?

193

sonders leicht, weil sie am wenigsten an das Franco-Spanien gebunden sind, etwa durch Erziehung, Gewohnheit und Erinnerungen. In Lotmans Terminologie des raumsemantischen Modells sind die MovidaAkteurlnnen die 'Helden, denen es gelingt, die Grenze zu überschreiten. Sie sind die Vorreiterinnen und richten sich Raum B nach ihrem Geschmack ein: mit Ausgelassenheit, Experimentierfreude, Bekenntnis zu neuen Geschlechterrollen und tabuisierten Formen von Sexualität etc. Getragen von einer „gran oleada de alegría y de satisfacción de vivir, de conciencia de futuro" (Tierno Galván) wagen es immer mehr Madriderinnen und Spanierinnen, einen unbekannten Raum zu betreten. Dieser Raum existiert Mitte der 1980er Jahre nicht mehr nur in Madrid, sondern auch in anderen Städten Spaniens: „Hay una gran 'movida' valenciana, hay una gran 'movida' en Logroño, en las ciudades que menos se piensa, aparece su 'movida'," schreibt Tierno Galván 1985. 9 In dem Maße wie immer mehr Menschen den Grenzübertritt wagen, ändert sich Raum B, denn die Neuankömmlinge bringen Teile des semantischen Potenzials aus Raum A mit, z.B. eine künstlerische Ausbildung, einen bürgerlichen Beruf, Ablehnung von Drogen und Transvestismus. Raum B wird zu einem Raum B2, der 'normaler' ist als Raum B in dem Sinne, dass er den Gewohnheiten einer größeren Gruppe entspricht. Damit wird die Grenzüberschreitung immer leichter. Schließlich ist Raum B kein Ort der Subkultur mehr und die Angehörigen der Subkultur suchen sich einen neuen Raum C. Raum B2 beherbergt nun die neue dominante Kultur, während in Raum A die alte Generation der Franco-Anhängerlnnen verbleibt, die sich nicht verändern will, aber die Gesellschaft auch nicht mehr dominiert.

5

Der Artikel, den Tierno Galvdn im Jahr vor seinem Tod (er stirbt 1986 im Alter von 68 Jahren)

in La Villa de Madrid veröffentlicht, belegt, dass die Gegenüberstellung von Räumen mit unterschiedlichen semantischen Potenzialen nicht nur in künstlerischen Produkten der Movida zutage tritt, sondern auch den politischen Diskurs der damaligen Zeit prägt, vgl. Enrique Tierno Galvin, „Del Madrid de la dictadura al Madrid de la Movida", in: Villa de Madrid, 4.12.1985, S. 3.

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194

Raum A

Raum B2

Raum C

nicht konsens-

konsensfähige Elemente

nicht konsensfähige Elemente

fähige Elemente Verfolgung Andersdenkender, franquistisches Frauenbild, Diskriminierung Homosexueller, Abschottung, Unterdrückung unkonventioneller künstlerischer Ausdrucksformen etc.

Franquismus

aus Raum A: bürgerliche Berufe, Ablehnung von Drogenkonsum und Transvestismus, künstlerische Ausbildung, Selbstinszenierung von Künstlerinnen, etc. aus der Movida (Raum B): Gleichberechtigung. Informationsund Wahlfreiheit, Mitbestimmung durch die Akteurinnen/Bürgerinnen, Durchlässigkeit der sozialen Schichten, Offenheit gegenüber äußeren Einflüssen, Toleranz gegenüber Abweichungen von der Norm, la marcha, Auflösung der Gattungsgrenzen, Verschmelzung von Kunst und Leben, neue künstlerische Ausdrucksformen, Kunstschaffen bekannt gewordener Movida-Akteurlnnen etc.

Ü

aus der Movida (Raum B): uneingeschränktes Experimentieren mit dem Körper, Exzesse, In-den-Tag-hineinLeben, Spaßprinzip und Dilettantismus im Kunstschaffen, Ausweitung des Kunstwerks auf das Publikum etc.

Postfranquistisches Spanien

Subkultur

•M • Öffnung und Wandlung der dominanten Kultur durch die Movida

Abb. 7: Raummodell zur Öffnung und Wandlung der dominanten Kultur durch die Movida Im Laufe dieses Prozesses verschiebt sich die Grenze aus Wert-, Moral- und Rollenvorstellungen. Sie besteht aus zwei Teilen, weil sie der Abgrenzung von Raum A (Franquismus) und von Raum C (Subkultur) dient, in der Skizze visualisiert durch „Grenze zu A" und „Grenze zu C". Zwischen den beiden Grenzen lässt sich die Öffnung und Wandlung der dominanten Kultur ablesen. Die

VI. Die Movida, eine sozio-kulturelle Revolution?

195

Grenze zu C wird sich so weit nach rechts verschieben wie es konsensfähige Elemente in der Movida gibt, die in die dominante Kultur eingegliedert werden können. Die nicht konsensfähigen Elemente werden in Raum C abgestoßen. Die Grenze zu A wiederum wird sich so weit nach links verschieben wie es in der franquistisch geprägten Gesellschaft konsensfähige Elemente gibt, die in den neuen Raum mitgenommen werden können. Die nicht konsensfähigen Elemente der Diktatur verbleiben in Raum A: Verfolgung Andersdenkender, franquistisches Frauenbild, Diskriminierung Homosexueller, Unterdrückung unkonventioneller künstlerischer Ausdrucksformen, Abschottung etc. Auf diese Weise bewirken die Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen der Movida-Akteurlnnen letztlich eine Grenzerweiterung, welche die spanische Gesellschaft und Kultur revolutioniert — nicht im Rahmen eines Umsturzes, sondern in einem allmählichen Prozess der Öffnung und Wandlung. Als Raum für das Entwickeln, Erlernen und Verbreiten neuer sozialer und kultureller Praktiken ist die Movida der Motor des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels nach dem Ende der Franco-Diktatur.

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Julia Nolte

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Julia Nolte

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VIII Anhang

V I I I . 1 ZUSÄTZLICHE ABBILDUNGEN

VIII. 1.1

Dasfanzine

MmmuaU Nr. 9

Seiten 1 und 2

208

Julia Nolte

, „ - -"-e—- - —-

- • —1»

»?

«MMtw :

Seiten 13 und 14 Aus der Sammlung von Alberto Garcia-Alix (Fotos: Julia Nolte)

VIII. Anhang Vili. 1.2 Weitere Untergrund-Veröffentlichungen

Aus der Sammlung von Alberto Garcia-Alix (Foto: Julia Nolte)

211

212

Julia Nolte

VIII. 1.3 Diego de Silvay Velazquez, Las Meninas, OULeinwand, 310 x 276cm,

1656

© Museo Nacional del Prado, Madrid 2008

VIII. Anhang V I I I . 2 E-MAIL VON MERCEDES GUILLAMÓN, 3 . 7 . 2 0 0 7

Von: An: Betreff: Datum:

Mercedes Guillamón

TESIS Tue, 3 Jul 200715:33:56 +0200

Estimada señora Nolte Efectivamente lleva usted razón yo soy Eva Siva. El motivo de tener un pseudónimo es que nos parecia en aquellos momentos que el mundo real y cotidiano no tenia nada que ver con el mundo fantástico de la movida, en ia que de alguna manera y de forma espontánea cada uno Interpretábamos un papel cuando sallamos a la calle, fuera de nuestras obligaciones laborales o de nuestro entorno familiar. Piense usted que muchos (por no decir casi todos) veníamos del mundo hippy (en el que el disfraz era también lo habitual) y además que muchos de nostros eramos ya universitarios trabajando unos en temas artísticos como yo pero otros muchos no, bien por el contrario desempeñaban labores en sus trabajos que nada tenían que ver con el espectáculo en sus diversas manifestaciones. Piensa que la movida no fué un fenómeno exclusivo de unos artistas fué un fenómeno de masas y como usted puede comprender para que se convierta en un fenómeno de esa Indole tiene que ser seguido por casi toda una sociedad. Eran en definitiva las ganas de vivir que teníamos todos, independiente de la edad o las ideologías. Y ese fué el gran éxito de Almodovar el ser uno de los primeros en captar ese fenómeno. un cordial saludo mercedes guillamón

214 VIII.3

Julia N o l t e LA LUNA DE MADRID, N R . 9 / 1 0 , JULI/AUGUST 1 9 8 4 : TITELBLATT, INHALTSANGABE UND PATTY-DIPHUSA-KOLUMNE

215

VIII. Anhang

E L T O R E R O D E ILLINOIS Hit! -1". im «r ,x fc urttn ' Fi»m) Ii-,- Vit t W A i i t» LA F U R A D a s B A U S '"-«p Stfe D O S S I E R H f T C H C O C K « j " ja MIQUEL B A R C E L O "t-»t*f i « lx-»> tbrnm v fc « .waio > f « » J l CB Mt- ü Y

ADEMAS..

MeVUe.. Pro WUs«*. m C j » » > E • r«y UM*««*»". - I J w w l . n , 1 Mar»fkiaii>

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cHckr&OvU !ale.Lu3 rV!« ^ af«* oti-Mkx» Uritttnc-^fd M.««

216

Julia Nolte

todo tiene un final A OIOS. ^ V a nada me divierte ^ ^ L Y mucho menos cuan/ P d o la DIVERSION es MODA. La GLORIA es aquello ' Que te obliga a repetirte capitulo tras capítulo S i eres una chica graciosa esperan que ¡o seas siempre Si te confiesas occ/taWe s e supone que debes estar HUNEDA todo el tiempo. Si eres espontanea, la gente espera que seas una maieducada. Si Has tenido la GRAN IOEA de ESCRIBIR TUS MEMORIAS. sin otra pretensión que demostrar que también tienes maquina de escribir, y esas memorias s o n aiegres. desvergonzadas, frivolas, ingeniosas, etc y ponen de moda la alegría, la desvergüenza, la frivolidad y el ingenio, una no tiene la culpo de eso. Odio a toda la pandilla de ineptos lectores que se atreven a identifirarse conmigo y que celebran todo lo que hago y digo. Cuando hago algo lo hago para ser UNICA. No quiero que nadie me comprenda y mucho menos que me imiten No hay nada m a s desesperante que oír el eco de tus palabras. R e suita repugnante salir por la nocne y «ncontrar sólo palabras de admiración, gente que te confiesan que SIN PATTY LA LUNA NO EXISTIRIA, que se reconocen iguales que YO. que declaran que después de GENOVEVA DE BRAVANTE no había aparecido en la literatura española un personaie tan intenso corno YO. El otro día. en un diario madrileño había una encuesta e n la q u e u n mantón de intelectuales y gente del mundo de la sopa de letras votaban las novelas m á s •aportantes escritas en castellano durante los últimos siglos, y todos, TOOOS, votaban tus CONFESJOES incluso antes que Cien artos de soledad P'ero. ¿por quién me han tomado? ¿Por una novelista? Pues se equivocan, ¿ O es que nadie ha notado que no duermo y que por eso tengo que emplear el tiempo en algo' ¿Quién soy YO para imponer « mal gusto, la grosería? Estoy segura de que Dios me ha castigado. Al verme reflejada en tos demás he sentido desprecio de MI MISMA. Y NO megusta, ¿ f t y qué he tenido que convertirme en un MITO? Mí única ambición era ganar mucho dinero y ser feliz, y sin omoargo. de la noche a la mañana. simplemente p o r n a r r a r n*s cosas con increíble encanto e inteligencia me veo convertida en un modelo a imitar, cuando deben a ser lo contraj o ¿Qué e3ta ocurriendo en Esparta' ¿Ftor qué una ZORRA como Y O a c a b a siendo t a n "Bsoetada como la Reina Sofía y casi más admirada que ella» d« FASCINACION, t i talento, mi agudeza cuando

PEDRO AIM000VAR hablo del Rabo, las dragas, etc. no lo justifican. H a s t a ahora Esparta era el reino de la MEDIOCRIDAD; ¿por qué con mi advenimiento a la vida pública la c o s a h a cambiado? ¿Por qué ahora s e valora el talento, el charme natural. la e s p o n t a n e i d a d el desparpajo, llamar a las cosas por su nombre y hacerlo ademas con inteligencia, si hasta hace unos meses todo eso era para que te q u e m a r a n en la hoguera? E s evidente evid< la situación ha cambiado Y YO no quiero ser la responsable, y mucho menos vivir de ello Hasta ahora he vivido de la prostitución y no he n e c e s i t a d o del reconocimiento oficial para seguir adelante. N o soy t a n intelectual como para hacerme pasar por frivola. ADIOS O sea. me voy. O sea. Y a m e inventará algo p a r a entrete nerme. Detesto crear modas si lo llego a saber no escribo m una linea. LA LUNA s e h a convertido en mi sombra, pero multiplicada Todo son fiestas todo es sexo, todo es alegría e inconsciencia P u e s no L o s ¡uegos dejan da serlo cuando se convierten en una mamfes tación cultural A n t e s , u n a fiesta era un lugar donde a una le robaban las joyas o el novio, lo cual creaba una tensión, una historia digna de ser vivida Ahora una fiesta e s un plato donde t u s a n t i g u a s a m i g a s convertidas en momias se pasan la velada posando para fotógrafos amaters aue después escojen las peores fotos y las puOlican. ¿ A quién van a engartar? En las fiestas últimamente lo único que ocurre son las fotos, y lo siento, a mi no me Pasta. O sea, pase de fiestas Y paso de !a gente que habla de fiestas, que pinta fiestas en sus corro x o que hace fotos en las fiestas y las publica como si aquello importara a alguien.

Prefiero el muermo, la depresión. la reflexión, la abstinencia. el tedio, el nihilismo, la discreción, el no tener nada que decir, la inactividad, los buenos modales, la antipatía, el country, el tener u n horario, ¡a precaución, le melancolía las visitas a la familia, el comunismo soviético, la cordura, la inhibición, las raíces, la tradición, los cantautores, etc E s insufrible esa necesidad que tiene todo el mundo de demostrar que son divinos. La fama me ha convertido en una persona tnste y melancólica, y no estoy dispuesta a tomar drogas para superario. No tengo nada que decir, y no quiero decir nada. No tiene sentido que siga escnpiendo. Esta página, a partir de este momento, estaré vacia. Que la rellenen otros. •

Verzeichnis der besprochenen Werke Künstlerin

Titel

Jahr

Kapitel

Alaska y los Pegamoides

Horror en el hipermercado Bailando

1980 1982

V.4.2 III.3.2 V.3.2

Almodóvar, Pedro

Pepi, LUCÍ, Bomy otras chicas del montón

1980

IV. 1.2 IV.2 IV.3.1 IV.3.2 V.l.3 V.3.4

Laberinto de Pasiones

1982

rv.3.1

Patty Diphusa

1983-1984

Gran ganga

1982

Monja jamón

1983

Rock de ¡a farmacia Me voy a Usera Susan get down Filmplakat zu Pepi, Luci, Bom ¿Qué hace una chica como tú en un sitio como éste?

1983 1983 1983

IV.3.3 V.1.3 V.3.1 V.3.2 IV. 1.3 IV. 2 IV.1.1 IV.2 V.3.1 V.3.1 V.4.2

1980

IV. 1.2

1980

V.3.3 V.3.4 VI.3

1977-1985

IV.3.2 IV.3.3

Almodóvar&McNamara

Ceesepe Colomo, Fernando

Costus

Casa Costus, Calle de la Palma 14, Madrid

Temas de arquitectura nacionaly otros monumentos 1978 1980 La Marina te llama Cristo de la Vega 1981 Valle de los Caídos 1980-1987

IV.1.1 IV. 1.2 IV. 1.3 IV.3.2

218

Künstlerin

Titel

Jahr

Kapitel

Kaka de Luxe

Pero me aburro Pero qué público más tonto tengo

1978

V.3.2

1978

IV.2 IV.3.2 V.2

1978 1979

IV. 1.2 IV.3.1 V.4.2 IV. 1.3 V.l.l

Naya, Enrique Ouka Lele

Carmen Polo, Viuda de Franco Peluquería Peor Imposible Retrato de Ana Curra Rappelle-toi, Bárbara (Los leones de la Cibeles, Atalanta e Hipómenes)

Pérez-Mínguez, Pablo

Radio Futura

Trillo, Miguel

Zulueta, Iván

Fotografié von Juan Costus mit grünem Akt Fotografié von Fabio McNamara mit Alaska y los Pegamoides in der Umkleide der Sala Marquee

Pic-nic de fotógrafos Enamorado de la moda juvenil Un africano por la Gran Vía Concierto de los Rolling en el Calderón Salida de El Gran Musical Frente a Rock-Ola Arrebato

1985 1986

1987

IV.1.1 IV.3.3

O.J.

IV.3.1

1981 1984

V.l.l

1980

IV.3.3

1984

IV.3.3

1982 1984 1983 1979

V.l.l V.l.l V.l.l IV.2 V.1.3

IV.3.1

219

Personenverzeichnis1 Künstlername Alaska

Bürgerlicher Ñame

Lebensdaten

Gara, Olvido

geb. 1963 in Mexiko-Stadt/Mexiko

Almodóvar, Pedro

geb. 1949 oder 1951 in Calzada de Calatrava

Berlanga, Carlos

geb. 1960 in Madrid, gest. 2002

Arenas, Miguel Ángel

geb. 1957 in Madrid

Casani, Borja

geb. 1952 in Madrid (?)

Sánchez Pérez, Carlos

geb. 1958 in Madrid

Chamorro, Paloma

geb. 1950 (?) in Madrid

Colomo, Fernando

geb. 1946 in Madrid

Costus, Enrique

Naya Igueravide, Enrique

geb. 1953 in Cádiz, gest. 4.5.1989

Costus, Juan

Carrero Galofré, Juan

geb. 1955 in Palma de Mallorca

Curra, Ana

Fernández, Ana Isabel

geb. 1958 in El Escorial

El Zurdo

Márquez, Fernando

geb. 1957 (?) in Madrid

García-Alix, Alberto

geb. 1956 in León

Maura, Carmen

geb. 1945 in Madrid

de Miguel, Fabio

geb. 1957 in Madrid

Moriarty, Marta

Villar, Marta

geb. 1958 (?) in Tánger/Marokko

Ouka Lele/

Allende, Bárbara

geb. 1957 in Madrid

García Echave, Rosa Elena

geb. 1964 in Palma de Mallorca

Zulueta, Iván

geb. 1943 in San Sebastián

Capi/Tass/Tana Ceesepe

gest. 4.6.1989

McNamara, Fabio/ McNamara, Fanny

seit 2000: Ouka Leele Palma, Rossy de

1

Aufgenommen wurden Movida-Akteurlnnen, die mindestens fünfmal in der Arbeit genannt

werden. Keine Angaben ließen sich ermitteln für Manolo Campoamor und Fernando Vijande. Ein Fragezeichen bedeutet, dass die Angabe aus einer fragwürdigen Quelle stammt oder dass sich die existierenden Angaben widersprechen.

220

Abbildungsverzeichnis Abbildung

Titel

Seite

Abb. 1

Drei Entwicklungsphasen der Movida Das vestimentäre Zeichen Akteurinnen und Akteure der Movida

71 132 144

Alberto Garcia-Alix am 6.5.2006 in seiner Wohnung in Madrid Semantische Räume und Grenzüberschreitung der Heldin in Fernando Colomo, ¿Qué hace una chica como tú en un sitio como éste?, 1980 Gesellschaftsschichten in der Movida nach ihrem Einfluss auf

147

die künsderische und soziale Praxis Raummodell zur Öffnung und Wandlung der dominanten Kultur durch die Movida

188

Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5

Abb. 6 Abb. 7

163

194

Für ihre Unterstützung bedanke ich mich bei meinem Doktorvater, Prof. Dr. Klaus Dirscherl, und bei meiner Mutter, Sigrid Nolte Schefold. Außerdem bei Ana Belén Rodriguez, die mich in allen Spanischfragen beraten hat. Mein besonderer Dank gilt auch Ouka Lele, weil sie mir ihre Fotoarbeiten zur Verfügung gestellt hat, sowie Ana Curra und Alberto Garcia-Alix für ihre Offenheit. ¡Gracias! Julia Nolte, Hamburg, den 9. Januar 2009

Es wurde versucht, die Bildrechte in allen Fällen zu klären, wo dies nicht gelungen ist, bitten wir um Mitteilung an den Verlag.

Pepi: ¿Por qué no te haces cantante de boleros? Bom: Me encantaría. ¿Pero tú crees que yo sabré? Pepi: Desde luego, autenticidad no te va a faltar, y es lo importante. Bom: ¡Uff!, cuántos cambios para un sólo día. Pepi: Anímate. Ante ti se abre una nueva vida. Bom: Ante ti también. Pepi: Eso espero. - Pedro Almodóvar, Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montón, 1980