Machthaber der Moderne: Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit [1. Aufl.] 9783839430378

Hair implants, the posthumous display of rulers' bodies, recording executions of overthrown dictators, or the visua

199 103 6MB

German Pages 344 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Begriffe, Modelle, Theorien
Phönix und Falke
›Rohe Zusammenstellung‹: Aby Warburgs Bilderatlas und die Unterzeichnung der Lateranverträge
Das Volk zwischen Interessenpolitik und symbolischer Repräsentation
Wandel der Repräsentationen auf dem Weg in die Moderne
Der Wandel monarchischer Repräsentationsformen am Beispiel der Inthronisationsfeierlichkeiten des spanischen Königs Karl IV. 1789
Revolutionskörper 1792-1795: Louis XVI., Marat, Robespierre
Charisma der Königin? Isabella II. und die Krise der spanischen Monarchie
Politische Bühnen des 20. Jahrhunderts und Ihre Protagonisten: Dikatoren, Caudillos und Medienmogule
Einheit, Ordnung, Hierarchie: zur Inszenierung politischer Herrschaft im Spanien Francos
Manuel Vázquez Montalbáns Pseudo-Autobiographie des Generals Franco
Santa Evita. Imagologie und Inszenierung im Peronismus
Live and let die – Horror und Herrlichkeit in der Repräsentation des haitianischen président à vie François Duvalier
Despoten im Gegenlicht. Zum biopolitischen Körper Trujillos in La fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa
Berlusconi – politische Personalisierung in Zeiten der Mediendemokratie
Autorinnen und Autoren
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Machthaber der Moderne: Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit [1. Aufl.]
 9783839430378

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Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hg.) Machthaber der Moderne

Edition Kulturwissenschaft | Band 68

Jan-Henrik Witthaus, Patrick Eser (Hg.)

Machthaber der Moderne Zur Repräsentation politischer Herrschaft und Körperlichkeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Janina Konopatzki Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3037-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3037-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Jan-Henrik Witthaus/Patrick Eser | 7

BEGRIFFE , MODELLE, THEORIEN Phönix und Falke. Zwei Modelle der Souveränität im Werk von Ernst H. Kantorowicz

Friedrich Balke | 19 ›Rohe Zusammenstellung‹: Aby Warburgs Bilderatlas und die Unterzeichnung der Lateranverträge

Peter Risthaus | 43 Das Volk zwischen Interessenpolitik und symbolischer Repräsentation

Karin Priester | 69

W ANDEL DER REPRÄSENTATIONEN AUF DEM IN DIE M ODERNE

WEG

Der Wandel monarchischer Repräsentationsformen am Beispiel der Inthronisationsfeierlichkeiten des spanischen Königs Karl IV. 1789

Beate Möller | 95 Revolutionskörper 1792 – 1795: Louis XVI., Marat, Robespierre

Manfred Schneider | 115 Charisma der Königin? Isabella II. und die Krise der spanischen Monarchie

Birgit Aschmann | 147

P OLITISCHE BÜHNEN DES 20. J AHRHUNDERTS UND IHRE P ROTAGONISTEN: DIKATOREN, CAUDILLOS UND MEDIENMOGULE Einheit, Ordnung, Hierarchie: Zur Inszenierung politischer Herrschaft im Spanien Francos

Walther L. Bernecker | 183 Manuel Vázquez Montalbáns Pseudo-Autobiographie des Generals Franco

Marco Kunz | 209 Santa Evita. Imagologie und Inszenierung im Peronismus

Ursula Prutsch | 233 Live and let die – Horror und Herrlichkeit in der Repräsentation des haitianischen Président à vie François Duvalier

Patrick Eser | 257 Despoten im Gegenlicht. Zum biopolitischen Körper Trujillos in La fiesta del chivo von Mario Vargas Llosa

Jan-Henrik Witthaus | 293 Berlusconi – Politische Personalisierung in Zeiten der Mediendemokratie

Philip Manow | 321 Autorinnen und Autoren | 339

Vorwort der Herausgeber

Der Mythos ist das Hormon der Psyche. José Ortega y Gasset (1921)

An einer Stelle des breiten essayistischen Werkes von José Ortega y Gasset stoßen wir auf die oben zitierte Wendung: Demnach wirken Mythen wie ›psychische Hormone‹. Mythen, Bilder und Erzählungen setzen Menschen in Bewegung. Einige Jahre zuvor äußerte schon Georges Sorel – wenn auch in einem gänzlich unterschiedlichen Kontext – ähnliche Ideen über die Funktionsweise und Mobilisierungsfähigkeit von Mythen, als er in Réflexions sur la violence den Mythos als wirksames Mittel zur Mobilisierung emotionaler (und politischer) Kräfte ansah. Während Ortega die Verwendung antiker Mythen für Bildungszwecke vor Augen schwebte, wollte Sorel mit dem Mythos vom Generalstreik zur Belebung der ›violence prolétarienne‹ beitragen. Das von Sorel herausgestellte Potential von Mythen, politische Gemeinschaften zu bilden und emotionale Energien freizusetzen, nehmen wir als Anregung und die Wendung Ortegas1 als Motto einer hier allerdings kritischen Reflexion und Anwendung auf das, was man in der Vormoderne die ›politische Repräsentation‹ nannte, wobei wir damit die Formen der Machtinszenierung politischer Herrschaft – ihre Bilder, Mythen und Geschichten – von der Epochenschwelle über die Moderne bis hin zur Zeitgeschichte meinen; dass in diesem Zusammenhang auch ›moderne‹ autoritäre Regime (wenn auch nicht ausschließlich) zu fokussieren sind, hat mit den kühnen Aktualisierungen und Aufladungen zu tun, die autokratische Diktaturen im Laufe des 20. Jahrhunderts prozessiert haben, und schlägt sich in einer Schwerpunktsetzung dieses Bandes und den nachfolgenden Aufsätzen nieder. Die über-

1

Vgl. den Kontext in »Biologie und Pädagogik«, in: José Ortega y Gasset: Gesammelte Werke, Bd. 1, Augsburg: Weltbild 1996, S. 167-208. Das zitierte Motto befindet sich auf S. 195.

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greifende These, mit der wir zu diesen Beiträgen anregten, ist nicht überraschend, sehr wohl aber ihre Reaffirmation. Sie lautet: Bilder, Geschichten und Mythen der Macht setzen die Unterworfenen in Bewegung, sie sind die psychischen Hormone der Bewegten und leisten den Übertrag ins Reich des Intrinsischen. In solchen Fällen noch von Bildern als Machtinstrument zu sprechen, provoziert Gegenrede. Zum einen mag man die mythische Überhöhung in der Selbstinszenierung totalitärer Herrscher als Surplus betrachten, das der Hardware der Macht lediglich aufliegt. Mithin: Diktatoren regieren durch Terror und befolgen auf grausame Weise die in Hobbes’ Leviathan im Kontext des Absolutismus erteilte Lehre, dass der Souverän das ihm übertragene Gewaltmonopol auch sichtbar macht.2 Was also eine Gesellschaft bis zum Letzten unterwirft, ist die Angst, die in ihr grassiert, wenn ihr im Modus der Inquisition (›territio‹) permanent die Instrumente gezeigt werden. Die Unterworfenen finden sich dann in einem elementaren Belohnungs- oder eher Bestrafungssystem wieder, das von Zeitzeugen häufig als infernal im Sinne Dantes beschrieben wird. Als extrinsisch wäre dieses zu bezeichnen, weil es sich um Konditionierungsbetrieb auf höherer Ebene handelt, der das Vorher einer Handlung durch die Erwartung des Nachher manipuliert. Entsprechend wäre dann von anderer Hardware der Macht noch zu handeln, so von den materiellen Interessen, welche die Beherrschten verfolgen, um sich durch Nähe zur Macht evolutionäre Vorteile zu verschaffen. In diesem Sinne herrschen Diktatoren von Gnaden, im Interesse oder als ›Verwaltungsausschuss‹ gewisser Gruppen oder – marxistisch – Klassen. Blieben wir bei einer solchen klassenanalytischen oder gar funktionalistischen Sichtweise stehen, würden Bilder die ›wahren‹ Macht- und Produktionsverhältnisse lediglich bemänteln. Die erwähnten Räderwerke der Herrschaft sollen hier ebenso wenig kleingeredet werden wie der komplexe Nexus von Übersetzungs- und Ausdrucksbeziehungen zwischen Interessenpolitik und deren politischer Artikulation und Repräsentation. Staatsterrorismus, Paternalismus, Begünstigung und Korruption sind leider

2

Vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan [1651]. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1966, S. 134: »Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke [power and strength] zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, daß er durch den hierbei erzeugten Schrecken [terror] in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken« (vgl. zum englischen Wortlaut: Cambridge: University Press 1991, S. 120).

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nur zu verbreitete Unterwerfungsstrategien autoritärer Regime (und beschränken sich nicht nur auf diese). Allerdings hält sich – im politischen Kontext – unser Glaube an das Rohe der Gewalt und das Materielle der Interessen in Grenzen. Zum einen weil Alexandre Kojève in seinen Hegellektüren überzeugend gezeigt hat, dass die Gewalt durchaus auf dem Territorium des Symbolischen unterwegs ist und so zum Beispiel in die Sprachen der Bedrohung gegossen wird, mithin Rhetorik und Symbolik eine bedeutende Transposition von Gewalt leisten, zum anderen Louis Marin in seinen Studien zum französischen Absolutismus auf ganz ähnliche Weise plausibel macht, dass Reichtum, Prunk und Glanz der Macht als Übersetzung ihres Gewaltvermögens begriffen werden können.3 Die zu konstruierende Legitimität politischer Herrschaft bedient sich politischer Fiktionen und Figuren, die sich oftmals um die Person des Potentaten drehen, womit Formen von politischen Körper- und Repräsentationsfiktionen in Anschlag gebracht werden, deren täuschende Wirkung jedoch nicht vergessen machen soll, dass die Rückkehr zur ›rohen Gewalt‹ von Herrschaft stets möglich ist, sofern es notwendig erscheint.4 Darüber hinaus weisen die Exponenten des Neohistorismus darauf hin, dass Literatur, Bilder, Artefakte etc. Teil der Produktions- und Besitzverhältnisse einer Gesellschaft sind, somit jede Rede von den soft oder hard facts der Macht nur zu sehr an die überkommene Unterscheidung von Unter- und Überbau oder von Materiellem und Symbolischem erinnert.5 Ebenfalls bedenklich wäre zugleich ein falsch verstandener Konstruktivismus, der davon ausgeht, dass Machtverhältnisse, Ideologien und Herrschaftspraxen sich auf leicht reversible Zeichenketten reduzieren und die Nachhaltigkeit des Ideologischen6, Bildlichen wie auch Symbolischen sich vernachlässigen lassen. Vielleicht lohnt es sich, an dieser Stelle abermals Ortega y Gasset zu zitieren – und diesmal in seinem Sinne mit dem Hinweis, dass die Macht sich setzen,

3

4

Vgl. Kojève, Alexandre: Hegel, eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1975; Marin, Louis: Das Porträt des Königs, Berlin: diaphanes 2005, S. 48. Vgl. hierzu generell: Koschorke, Albrecht/Frank, Thomas/Matalla de Mazza, Ethel/Lüdemann, Susanne: Der fiktive Staat : Konstruktionen des politischen Körpers in

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der Geschichte Europas, Frankfurt: Fischer 2007. Vgl. Greenblatt, Stephen: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin: Wagenbach 1998, S. 16. Vgl. statt vieler: Althusser, Louis: »Ideologie und ideologische Staatsapparate. Notizen für eine Untersuchung«, in: Ideologie und ideologische Staatsapparate, 1. Halbband, hrsg. von Frieder Otto Wolf, Hamburg: VSA 2010, S. 37-102.

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Platz nehmen muss, um tatsächlich Macht zu sein: »[…] herrschen heißt sitzen – auf dem Thron, der sella curulis, dem Ministersitz, dem Heiligen Stuhl.«7 Es genügt nicht, den Boden zu nehmen, die Bevölkerung zu massakrieren, ihr den Atem zu rauben. All dies ist Gewalt, die an Körpern und Psychen verübt wird. Macht indes operiert in nachhaltigeren Strategien. Setzt sie sich nieder, setzen sich gleichsam die Menschen um sie herum in Bewegung.8 Das Medium, welches solches bewerkstelligt, ist die politische Repräsentation, zunächst nicht im modernen, sondern im vormodernen Sinne: kein Wissen um die numerische und parlamentarische Abbildung des Volkswillens, sondern ein Wissen um die Inszenierung des Machthabers, um den Aufbau seiner Fama und die Montage seines Charismas, seiner Aura, seiner Herrlichkeit – ein vormodernes Wissen um politische Theatralität, das im Kontext der Moderne und ihren Medienwelten, nicht zuletzt durch die Persistenz und immer wieder zu beobachtende Reaktivierung klassischer Mythen, Bilder und Geschichten, auf neue Grundlagen gestellt wird.9 Eben in jenen Fällen, in denen die Legitimierung demokratischer Systeme nicht greift, also in Diktaturen, aber auch in jenen modernen Demokratien, deren Funktionsmechanismen gemäß der Erklärungsmuster kritischer Zeitdiagnosen unter den Bedingungen von ›Postdemokratien‹ zunehmend unterlaufen werden,10 dort, wo der Populismus sich in ›Mediendemokratien‹ breit macht,11 oder dort, wo politische Theorien die parlamentarische Repräsentation der Volkssouveränität in der Krise wähnen: An all den erwähnten Stellen ist die Aufrichtung eines politischen Theaters zu erwarten, dem Drama und Pathos, zuweilen Herrlichkeit und Horror, aber auch Alltäglichkeit und Volksnähe nicht fern liegt und das, so die Arbeitshypothese dieses Sammelbandes, mit unterschiedlichen Methoden und Herangehensweisen der Kulturwissenschaft gewinnbringend analysiert werden kann. Autoritäre Herrschaftsmechanismen können also nur Ausgangspunkt 7

Ortega y Gasset, José: »Der Aufstand der Massen«, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Augsburg: Weltbild 1996, S. 103.

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Vgl. Foucault, Michel/Seitter, Walter: Das Spektrum der Genealogie, Frankfurt a.M.:

Philo 1997, S. 30-47. 9 Anstelle der vielen anderen einschlägigen Publikationen Paula Diehls sei hier auf den von ihr mitherausgegebenen Band verwiesen: mit Gertrud Koch (Hg.): Inszenierungen der Politik. Der Körper als Medium, München: Fink 2007, vgl. Manow, Philip: Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 10 Vgl. Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 11 Vgl. den Beitrag von PHILIP MANOW in diesem Band.

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einer zu erstellenden Grammatik politischer Gestik sein, die dringend notwendig erscheint in einer Epoche, in der die medialen Möglichkeiten die Generierung von Gesten durch Inszenierung und Bildherstellung potenzieren.12 Wie verändert sich der politische Stellenwert von Bildern, wenn man sich bspw. der These anschließen wollte, dass es in postdemokratischen Kontexten unter anderem zu einer »Medialisierung und Infantilisierung politischer Kommunikation [und] einer Art von Democratainment [kommt], in dem Macht- und Entscheidungsfragen allenfalls in Form von Gerüchten und Affären behandelt werden und ansonsten eine Endlos-Show läuft«?13 Einige Ahnen einer solchen Kulturwissenschaft werden zu Beginn des vorliegenden Bandes benannt. Zum einen Ernst Kantorowicz, der mit seinen Büchern zum Mittelalter die Grundlagen für die Analyse politischer Mythologien und Imaginationen gelegt hat – und dabei unterschiedliche Varianten aufzeigt, wie FRIEDRICH BALKE in seinem Beitrag betont. So lasse sich in Kantorowicz’ früherer Autobiographie des Stauferkaisers Friedrich II. die juristische Dimension der Herrschaftsausübung, die in dem späteren Werk Die zwei Körpern des Königs dominiert, durch die Beschreibung anderer, eher dezentraler Machttechnologien erweitern, unter denen man Bürokratie und Panoptismus, aber auch eine dinghafte Dimension des königlichen Körpers selbst entdeckt, um die herum Korrespondenzen, Assoziationen und Netzwerke geknüpft werden. Zum anderen Aby Warburg, der das Bildmaterial der abendländischen Tradition versammelt, um es in seinen Auswirkungen auf die Register moderner öffentlicher Gestik und Emotionsdarstellung zu befragen, wobei im Zuge von ›rohen Zusammenstellungen‹, in denen die entferntesten Bildquellen in Nachbarschaft geraten, die Gestik politischer, klerikaler Würdenträger oder Diktatoren zum Gegenstand des Interesses gerät. Wie PETER RISTHAUS zeigt, liegt diesen Kompositionen Warburgs eine ›Anthropologie der Hand‹ zu Grunde, die als menschliche Extremität schlechthin in den Blick des Künstlers, Kunstbetrachters und Kunsthistorikers eingelassen und im Mnemosyne-Atlas am Werke ist. Geisterhaft kehren jedoch diese Hände auf den Abbildungen wieder. Und was uns dabei besonders interessiert: Es han-

12 Vgl. zur Solidaritätskundgebung der Politiker nach dem Charlie-Hebdo-Attentat: »Trauermarsch in Paris: Fotos von Spitzenpolitikern in abgesperrter Straße aufgenommen«, in: Spiegel Online: http://www.spiegel.de/politik/ausland/charlie-hebdomarsch-durch-paris-mit-staatschefs-auf-einsamer-strasse-a-1012649.html [letzter Zugriff: 11.06.2015]. 13 Seeßlen, Georg: »Die Wahl der Wahl«, in: Der Freitag vom 24.09.2009. https:// www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-wahl-der-wahl [letzter Zugriff: 22.09. 2015].

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delt sich um die Hände von Machthabern, solche, die Verträge unterschreiben und damit Worte in Sachverhalte, Tatbestände oder gar Ereignisse umwandeln (oder im Fall Francos Todesurteile unterzeichnen und sterben lassen),14 oder solche, die qua Geste öffentlichen Affekt in Ausdruck konvertieren bzw. die Emotion ostentativ ruhig stellen. Die Hand ist nicht nur in der Metaphorik des Regierens, sondern vor allem in der ›Grammatik des politischen Theaters‹ – auch dies zeigt RISTHAUS eindringlich – ein nicht abgegoltenes Forschungspotential. Warburg und Kantorowicz sind zentrale Referenzen, die sich benennen lassen, wenn es darum geht, die Betrachtung des politisch Imaginären mit in die zeitgenössische Analytik der Macht zu integrieren, wie sie in den Büchern Foucaults, Deleuzes/Guattaris und jüngst Hardts/Negris – dies kommentiert KARIN PRIESTER in ihrem Beitrag – jenseits vom Begriff der Repräsentation betrieben wird: die »Kritik der Repräsentation«, das Unsichtbarwerden der politischen Macht, ihre Auflösung in Affekten oder Massen oder ihre Dezentrierung, die ja der Lesart BALKES zufolge im Buch Kantorowicz’ über Friedrich II. beschrieben wird. Die These von der Unsichtbarkeit der Macht und dem Verschwinden der Repräsentation in der Moderne wird aber vor allem in Anschluss an Foucault und Pierre Legendre von MANFRED SCHNEIDER vertreten.15 Wie verträgt sich diese These mit dem Befund einer gegenwärtigen Dauermediatisierung der politischen Arenen? Die Antwort Schneiders lautet: sehr gut, wenn man den Begriff der starren, auf Distanz aufgebauten Repräsentation durch die Diagnose einer ins Intime reichenden und auf Dauer gestellten Sichtbarkeit des Politikers ersetzt. In diesem Sinne hätte das ›Steinwerden‹ Angela Merkels, das PHILIP MANOW in seinem Aufsatz erwähnt – auch der Versuch, den von ihr ausgehenden Bildfluss zu kontrollieren –, einen konservativen Zug. SCHNEIDER sucht in seinem Beitrag für diesen Band über die ›Revolutionskörper‹ den historischen Moment zu präzisieren, in dem die Repräsentation ihrem Unter- oder Übergang anheimfällt, nämlich zu einem Zeitpunkt, da die Kontrolle über die Bildgewalt erstmals umfassend aus der zentralen Hand gegeben wird, da nach den Thesen Claude Leforts der politische Körper des Königs selbst qua Guillotine aus dem Zentrum politischer Montagen ausgetrieben wird: In der Epoche der Französischen Revolution wird

14 Vgl. den Beitrag von MARCO KUNZ. 15 Vgl. Schneider, Manfred: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz 2010, S. 542-548.

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der symbolische Ort der souveränen Macht, zuvor in der Einheit der Zwei Körper bewahrt, disinkorporiert16. Sicherlich drängt sich im Zuge einer Nationalisierung der Kulturen an der Schwelle zur Moderne die Frage auf, wie man Kollektive und Nationen noch im monarchischen Paradigma oder überhaupt repräsentiert – diesen Aspekt thematisiert BEATE MÖLLER in ihrem Beitrag. Und gewiss ist auch, dass die Geschichte des Ikonoklasmus weit zurückreicht. Der Bruch mit dem königlichen Bildmonopol und die Internationalisierung ikonischer Konflikte nach 1789 dürfen jedoch als besonders nachhaltig aufgefasst werden. Die Folgen und das Schicksal der Monarchien im 19. Jahrhundert lassen sich entsprechend mit BIRGIT ASCHMANN anhand der spanischen Königin Isabella II. exemplarisch beschreiben. Der Machtkörper wird zum Ort, an dem sich qua Inszenierung oder Demontage die Legitimation von Herrschaft entscheidet. Ob Charisma fortan ein Ziel der Körperinszenierung mit neuen medialen Möglichkeiten (ASCHMANN) oder im Sinne von Unscheinbarkeit ein Effekt der medialen Strukturen selbst (SCHNEIDER) oder mit Bourdieu (und PATRICK ESER) gesprochen das Versprechen ist, das von messianischen Gestalten in Krisenzeiten ausgeht, bliebe wohl weiterläufig zu diskutierten und mit Blick auf unterschiedliche Regierungsformen und Regime zu präzisieren.17 Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass gerade in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts bei der politischen Zurschaustellung des Herrscherkörpers nichts dem Zufall überlassen wird. Auch die Varianten autoritärer Regime im 20. Jahrhundert wären daraufhin noch genauer zu untersuchen (Militärdiktatur, ›Reformdiktator‹ etc.). Der Beitrag WALTHER L. BERNECKERS dokumentiert indes sehr genau, in welcher Weise der spanische Despot Francisco Franco, dessen natürliche Mitgift eher geringes Potential in Aussicht stellte, systematisch zu einer Erlöser-Figur aufgebaut wurde, dessen sterbliche Überreste im Tal der Gefallenen Objekt massenhafter und quasikultischer Verehrung wurden. Ebenso wenig ist hierbei abzustreiten, dass die Privatsphäre des Herrschers, seine Familientauglichkeit im Sinne moderner politischer Sichtbarkeit gleichfalls zur elementaren Requisite des totalitären Theaters wird. Der Diktatoren-Roman von Manuel Vázquez Montalbán Autobiographie des General Francos (1992), den MARCO KUNZ für diesen Band analysiert hat, spielt auf mehreren Ebenen mit der Simulation diktatorischer Memoi-

16 Vgl. die zentralen Schriften Claude Leforts in: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990. 17 Vgl. zum bundesdeutschen Kontext Walter, Franz: Charismatiker und Effizienzen. Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik, Frankfurt a.M: Suhrkamp 2009.

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ren und begibt sich mit Hilfe des Alter-Egos Pombo, der in der Metafiktion des Romans die Autobiographie abfasste, in die Erinnerungen des Alleinherrschers. Die Simulation der Intimsphäre des Herrschers ist im Diktatoren-Roman die Kehrseite seines öffentlichen Bildes, wie auch aus dem Beitrag von JAN-HENRIK WITTHAUS mit Blick auf den karibischen Diktator Rafael Leonidas Trujillo und seine Darstellung durch Mario Vargas Llosa hervorgeht. Eine solche Simulation ergänzt, erfindet oder montiert aus zuhandenem Material – beinahe wie in einer ›rohen Zusammenstellung‹ – die Sichtbarkeit des Herrschers, die in Demokratien von selbst läuft. Ist diese Sichtbarkeit im Autoritarismus zentralisiert, so erweist sie sich in liberalen Systemen dynamisch, lose gekoppelt und hält das öffentliche Interesse bei der Stange. Ein solches sieht sich insbesondere dann angezogen, wenn das Personale der Politik im Körper des Amtsinhabers oder -usurpators seinen elementaren Ausdruck findet, der natürliche Körper des Königs also in einer neuen, modernen politischen Arena zurückkehrt. Wenn es dabei um gebrochene Hüften oder Becken, um Schwächeanfälle oder Kreislaufprobleme geht, werden die Biopolitik im Management des Herrscherkörpers sowie sein öffentlicher Stellenwert gleichermaßen offenbar. In der Diktatur indes bekommt der sterbliche Körper des Despoten darüber hinaus totalitäre, mythische Züge. Gerade das finale Dahinsiechen des spanischen Caudillos Franco mag man mit Foucault als das bis zum Letzten animierte Emblem des biopolitischen Herrscherkörpers interpretieren,18 hängt doch an der Lebenserhaltungsmaschine nicht allein ein Körper, sondern ein ganzes Regime. Zahlreiche Diktaturen oder autoritäre Regime Lateinamerikas bieten ähnliche Schauspiele, so zuletzt noch nachvollziehbar anhand der ehrfürchtigen Verdinglichung der Leiche von Hugo Chávez oder anhand der märtyrerhaften Eva Perón, deren Leichnam nach dem Machtverlust ihres Ehemanns zwischen Alter und Neuer Welt zirkulierte, und dabei ihren Anhängern, wie URSULA PRUTSCH in ihrem Beitrag hervorhebt, stets und bis zum heutigen Tag Objekt der kultischen Verehrung geblieben ist. Anhand des peronistischen Polittheaters der Frühphase lässt sich mit PRUTSCH ebenso lernen, dass diese Dopplung des autoritären Herrschers durch eine charismatische First Lady einzigartig ist und die Aufteilung von Rollen ermöglicht. Beachtlich ist hierbei insbesondere die Wandlungsfähigkeit Evitas selbst, die zwischen sozialpolitischem Engagement und Selbststilisierung als Heilige changiert. Der Ausbau des Herrscherdenkmals in transzendente

18 Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 293.

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Sphären ist überhaupt ein atavistisches Charakteristikum des modernen Autoritarismus. Nicht allein die Selbstapotheose Trujillos zeigt dies, auch auf der anderen Seite des ehemals Hispaniola getauften Eilandes – Haiti – präsentiert sich François Duvalier als Voodoo-Priester und verlängert auf diese Weise sein System der Bespitzelung und Terrorisierung in die Köpfe der Untergebenen hinein, wie man in dem Beitrag von PATRICK ESER nachlesen kann. Gewalt wird – wie so häufig in Diktaturen – zur fundamentalen Strategie seines Regimes – aber ebenso die Diskurse der Legitimierung, welche die Machtansprüche in einer Sprache von Rassen, Hautfarben und entsprechenden Genealogien ausbuchstabiert. In der langen Tradition diktatorialer Regime und Repräsentationsmuster in Lateinamerika stehend, haben sich seit den 1990er Jahren neue Formen autokratischer Repräsentation herausgebildet, die das Erbe und die politische Kultur der ›starken großen Männer‹ anzutreten bzw. zu beleben versprach, was Debatten über einen ›neuen Populismus‹ entfacht hatte. Auch in diesem Kontext werden der Wandel der politischen Repräsentation und der neue Populismus, seine Bedingungen, sein Inhalt und Stil erörtert.19 Kehren wir dann schließlich mit PHILIP MANOW ins demokratische Paradigma der jüngeren Vergangenheit zurück und betrachten den Herrschaftsapparat von Silvio Berlusconi, so kommt die Herrschaft qua Medien selbst in den Fokus. Kein Panoptismus, sondern synoptische Sichtbarkeit wird zum Prinzip der Überzeugung der Wählerherzen. Hierbei scheint wie im Peronismus auch im System Berlusconis die Wandlungsfähigkeit das Drehbuch der aufeinanderfolgenden Selbstdarstellungen zu bestimmen. Der Körper des Ministerpräsidenten wird zu einer überschreibbaren Oberfläche im gleichen Maße, wie sein Gesicht im Lifting seine Charakterzüge verliert und letztlich unentzifferbar werden will.20 Was kümmert mich meine Rolle von gestern? Nicht zuletzt mit Blick auf die Funktionsweise und Veränderungen der politischen Kultur lassen sich im Hinblick auf die in diesem Sammelband thematisierte Problemkonstellation relevante Fragestellungen der politischen Repräsentation

19 Boris, Dieter/Sterr, Albert: »Die Rückkehr der Caudillos. Populismus und Neopopulismus in Lateinamerika«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3, 2003, S. 334-344. 20 Vgl. Schneider, Manfred: »Ende der politischen Repräsentation. Auf den Benutzeroberflächen der Politikergesichter nistet sich nur noch Familientauglichkeit«, www.fraktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=380106 [letzter Zugriff: 01.07.2015].

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in die Gegenwart und Zeitdiagnose hinein verlängern: Wie stark hallt in den zeitgenössischen Inszenierungsformen die Logik des Modells der Zwei Körper des Königs nach und inwiefern zieht die Demokratie als »Entkörperlichung des doppelten – menschlichen und göttlichen – Körpers des Königs«, die mit seiner Hinrichtung begonnen hat, immer wieder neue »Versuchungen zur imaginären Wiederherstellung eines glorreichen Körper des Volkes als Erbe der Transzendenz des unsterblichen Körpers des Königs«21 nach sich? Prägen sich im Kontext aktueller Entwicklungen neue modellhafte Varianten der politischen Repräsentation heraus, die vermittels eines neuen Typus’ politischer Kommunikation und bei Beherrschung des Spieles der massenmedialen Aufmerksamkeitsregeln das Verhältnis von »Populismus und Medien« neu ausbuchstabieren?22 Sind all dies Phänomene, die als »Berlusconismus«23 gefasst werden können und die die Figur des »berlusconistischen Politikers« 24 als zentrale Besetzung der politischen Bühne hervorbringen, die ihre politische Bedeutung weniger durch parlamentarisch-demokratische Institutionen und Parteien(allianzen), sondern vor allem durch die Medien erhält? Die in diesem Band versammelten Aufsätze ergeben selbstredend keine geschlossene Geschichte politischer Inszenierung im Zeitalter der Moderne. Aber neben den anderen einschlägigen Publikationen offerieren sie Elemente zur Betrachtung moderner Herrschaftstechnologien an der Schnittstelle von alter und neuer Repräsentation. Hervorgegangen sind die Artikel aus den Vorträgen einer Ringvorlesung, die unter dem Titel »Diktatur, Charisma und die Repräsentation von Macht – zur Inszenierung politischer Herrschaft und Körperlichkeit zwischen Horror, Heiligkeit und Herrlichkeit« im Wintersemester 2013/14 an der Universität Kassel realisiert wurde. Die Beiträge der Vortragenden konnten durch die Artikel von Beate Möller und Karin Priester ergänzt werden. Unser Dank gilt den Beiträgern und unseren Mitarbeitern, die bei der Redaktion und Edition dieses Bandes beteiligt waren: Janina Konopatzki, Laurien Jacobi, Christopher Müller, Beate Möller und André Hermenau.

21 Rancière, Jacques: Zehn Thesen zur Politik, Zürich: diaphanes 2008, S. 25. 22 Vgl. Diehl, Paula: »Populismus und Massenmedien«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 5/6 2012, S. 16-22. 23 Priester, Karin: »Das Phänomen Berlusonismus«, in: Bathke, Peter/Hoffstadt, Anke (Hg.), Die neuen Rechten in Europa: zwischen Neoliberalismus und Rassismus, Köln: PapyRossa 2013, S. 132-145. Vgl. auch ihren Beitrag in diesem Band. 24 Seeßlen, Georg: »Der Freiherr als Staubsaugervertreter«, in: Der Freitag vom 03.03.2011.

B EGRIFFE , M ODELLE , T HEORIEN

Phönix und Falke Zwei Modelle der Souveränität im Werk von Ernst H. Kantorowicz F RIEDRICH B ALKE

I. Im Vorwort zu den Zwei Körpern des Königs beschreibt Ernst Kantorowicz die abschüssige Bahn, auf die die politisch-theologischen Fiktionen vom Spätmittelalter ins 20. Jahrhundert geraten, einer Zeit, »in der ganze Völker, die größten wie die kleinsten, den unsinnigsten Dogmen zum Opfer fielen und politische Theologismen zu regelrechten Besessenheiten jenseits der elementarsten menschlichen und politischen Vernunft wurden.«1 An diese Einschätzung schließt ein Satz an, der als eine ambivalente Selbstimplikation gelesen werden kann: »Diese späteren Verirrungen waren dem Verfasser nicht unbekannt; in der Tat wurden ihm manche ideologischen Hirngespinste um so klarer, je mehr sich sein Wissen um die frühe Entwicklung erweiterte und vertiefte.«2 Die königlichen oder staatlichen Zweitkörper sind der Effekt einer »skopischen Machenschaft«3, die, historisch betrachtet, zunehmend außer Kontrolle gerät und als deren Opfer sich Kantorowicz rückblickend selbst begriff. Obwohl er vorgibt, diese Zusammenhänge erst nach der Abfassung des Buches durchschaut zu haben, spricht vieles dafür, dass die »späteren Verirrungen« dem Verfasser zum Zeitpunkt der Abfassung der Zwei Körper des Königs schon deshalb nicht unbekannt

1

Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München: DTV 1990, S. 22.

2

Ebd.

3

Vgl. dazu Marin, Louis: Das Porträt des Königs, Berlin: Diaphanes 2005, S. 120.

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sein konnten, weil es seine eigenen ›Verirrungen‹ waren, die im 1927 veröffentlichten Kaiser Friedrich der Zweite Gestalt angenommen hatten. Was Kantorowicz in der Kaiserbiografie tut, ist nichts anderes, als einen ›existierenden Körper‹, also das Leben Friedrichs II., wie es in den Archiven überliefert und in zahllosen Dokumenten (und Spekulationen) zerstreut ist4, in einen fiktiven Körper zu verwandeln, dessen mythische Wiederkehr er in den emphatischen Schlusssätzen des Buches beschwört. Werkgeschichtlich muss man die dreißig Jahre später vorgelegten Zwei Körper des Königs als den Versuch verstehen, die eigenen Besessenheiten, von denen im Vorwort nicht die Rede ist bzw. die im Vorwort nur als die Besessenheiten der anderen firmieren, auszutreiben. So ehrenhaft diese implizite Abrechnung mit seiner geschichtspolitisch motivierten Reaktualisierung eines Kaisermythos auch ist5, so bleibt doch zu fragen, ob sich die Kaiserbiografie nicht bereits an entscheidender Stelle von den politischtheologischen Obsessionen absetzt, statt ihnen bloß zu verfallen. Zwar wird Friedrich II. in der Biografie einerseits als Gründer eines absoluten Staates (auf dem Boden Siziliens) mythisiert, dessen Durchsetzung in Vielem die totalitären

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Kantorowicz hatte diese in den 1931 veröffentlichten Ergänzungsband abgeschoben, mit dem er den vehementen Kritikern seiner »Geschichtsschau« antwortet; vor allem gewährleistet er durch die Trennung von Haupt- und Ergänzungsband, dass die Reinheit und politische Durchschlagskraft der literarischen Fiktion nicht durch einen schwerfälligen wissenschaftlichen Apparat getrübt wird. Die Fiktion des Hauptbandes entsteht also auf dem Wege einer vorläufigen und strategisch motivierten Ausschließung aller ›Quellen‹ und Dokumente, die sie verbürgen könnten, weil es der Geschichtsschau darum geht, wie Marin gezeigt hat, »das Auge des Narrators der Erzählung […] so nahe wie möglich am Blick des Archi-Akteurs und des Metanarrators der Geschichte« zu platzieren, so dass dieses Auge »in gewisser Weise an dessen Macht, an der Sonne und dem Licht teilhat […], daß es sich mit der Allmacht des Herrn fast identifiziert, damit die Repräsentation all dessen, was man ihn wird haben tun, sagen und denken sehen, der ursprünglichen Präsenz nahezu gleichkommt, so daß Identität und Tautologie der absoluten Macht keinen Schaden nehmen.« Ebd., S. 123f.

5

Wenn man sie nicht überhaupt für überflüssig hält und die »aktivistische Verschränkung von Geschichte und Gegenwart« unter Verweis auf ein ähnliches Verfahren bei Walter Benjamin ausdrücklich begrüßt, wie das Heinz Dieter Kittsteiner in einem bedeutenden Aufsatz zur Kantorowicz’ Kaiserbiografie getan hat, die er als Ausdruck der ›Krisis des Historismus‹ liest. Vgl. Kittsteiner, Heinz Dieter: »Von der Macht der Bilder«, in: Ernst, Wolfgang/Vismann, Cornelia (Hg.), Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, München: Fink 1998, S. 13-29, hier S. 25.

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Regierungstechniken des 20. Jahrhunderts vorwegzunehmen scheinen.6 Das kaiserliche Regime beruht jedoch andererseits auf einer Form politischer Gruppenbildung, die jede politisch-theologische Einheitsvorstellung hintertreibt. Dem Bild des »intolerantesten Kaisers«7, der die Staatsgottheit Justitia etabliert und sich als gnadenloser »RICHTER«8 erweist, steht ein anderes Bild gegenüber, das einen Kaiser zeigt, der es versteht, sich jenseits religiöser und kultureller Grenzziehungen etwa zwischen Orient und Okzident neue Verbündete zu verschaffen, und seine Majestät nicht in der Fiktion eines zweiten, unsterblichen Körpers verankert, sondern durch die demonstrative Ausweitung seiner Gefolgschaft »ins Unwahrscheinliche«9 steigert. Während die Kaiserbiografie auch eine Studie über neuartige Formen ›transversaler‹ Gruppenbildungen ist10, setzen Die Zwei Körper des Königs die Gruppe als das »corpus fictum«, das »korporative Kollektiv, das nicht tastbar war und nur als Fiktion der Jurisprudenz existierte«11, immer schon voraus. Kantorowicz spricht nicht zufällig von einer »Banalisierung des ursprünglich sehr komplexen Ausdrucks«, die es den Juristen erlaubt, den Begriff corpus mysticum »leicht auch auf andere weltliche Einheiten« zu übertragen.12 Gegen diese Theologisierung bzw. Spiritualisierung politischer Gruppenbildung beschreibt er in Kaiser Friedrich der Zweite geradezu exzessiv die stoffliche Seite der kollektiven Körper und lässt den Kaiser als einen »Rekrutierungsoffizier«13 und das Politische als Praxis des Versammelns oder als das »Einberufen des Kollektivs«14 erscheinen. Die Bildung der kaiserlichen Körperschaft beruht nicht auf einem Prozess

6

Vgl. dazu Balke, Friedrich: »Der verfemte Teil. Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite«, in: Hebekus Uwe/Matala de Mazza, Ethel/Koschorke, Albrecht (Hg.), Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München: Fink 2003, S. 60-85.

7

Kantorowicz, Ernst H.: Kaiser Friedrich der Zweite. Hauptband, Stuttgart: Klett-Cotta 1998, S. 209.

8

Ebd.

9

Ebd., S. 241.

10 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 326. 11 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 220. 12 Ebd., S. 221. 13 Latour, Bruno: Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 58. 14 Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 86ff.

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der Aneignung und Konzentration einer sakramentalen Substanz, sondern im Gegenteil auf der Ausweitung und Zerstreuung seiner Kapazität. Sie dehnt sich auch auf solche Elemente aus, die der Herrschaft am schwierigsten einzugliedern sind. Die Bezugnahme auf das Außen der Herrschaft nimmt im Falle Friedrichs die konkrete Faszination für die Tiere an. Fremde, sonst nie erblickte Lebewesen, mit denen der Kaiser sich umgab, steigern zum einen die zeremonielle Schauseite seiner politischen Macht; die Falkenjagd, die der Kaiser mit großer Leidenschaft betrieb und der er eine gelehrte Abhandlung widmete, dient als ein Modell politischer Herrschaft, das diese als die »geheime Macht über das flüchtigste und freieste Tier«15 konzipiert, so dass sie sich in ihrer Ausübung gerade vom Recht und von der Gewalt über Territorien und sesshafte Lebewesen ablöst. Anders als die politische Theologie, die dem König einen zweiten Körper zuschreibt, in dem sich seine Macht konzentriert, basiert dieses kaiserliche Herrschaftsmodell nicht auf Einschluss, Repräsentation und Inkorporation, sondern auf der Technik von Bündnissen, Gefolgschaften und der Formierung von Assoziationen. Die folgenden Überlegungen analysieren die Formen, die dieser für das Werk von Ernst Kantorowicz entscheidende Zwiespalt in der Ausformulierung politischer Einheitsvorstellungen annimmt.

II. In den Zwei Körpern des Königs ist Kantorowicz bemüht, die fiktive oder ›mystische‹ Zweitkörperschaft so gut wie ausschließlich auf der konzeptuellen Ebene zu behandeln und dort auch zu belassen – von zwei wesentlichen Ausnahmen abgesehen. Der politische Körper des Königs, den man nicht anfassen kann und der »völlig frei von Kindheit und Alter, ebenso von den anderen Mängeln und Schwächen [ist], denen der natürliche Körper unterliegt«16, verdankt sich einer semantischen Übertragung von Eigenschaften und »geheimnisvollen Kräften«17, die man Gott oder Christus zuschrieb, auf die Person des Herrschers. Kantorowicz spricht explizit von einer »Metapher«18, um den Transport des corpus mysticum zwischen theologischer und juristischer Sphäre zu markieren. Die Doppel-

15 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 278. 16 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 31. 17 Ebd., S. 33. 18 Ebd., S. 39.

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natur des Königs ist in der Doppelnatur Christi vorgebildet.19 Die Rede vom »kryptotheologischen Jargon«20 macht zudem deutlich, dass Kantorowicz, so sehr er auch die juristische Produktivität der Entwendungen aus der Theologensprache betont, zugleich von einem tiefen Misstrauen diesen Fiktionen gegenüber durchdrungen ist. Das corpus mysticum ist in den Zwei Körpern des Königs solange ein ›edle[r] Begriff‹, wie er nicht in die Hände der Juristen und Staatstheoretiker fällt, obwohl es doch genau dieser Vorgang ist, der Gegenstand der rechtsgeschichtlichen Untersuchung ist. Dieser Begriff »wurde leicht zur Beute der Gedankenwelt der Staatsmänner, Juristen und Gelehrten, die neue Ideologien für die entstehenden territorialen und weltlichen Staaten entwickelten.«21 Zweimal, zu Beginn und am Ende des Buches, behandelt Kantorowicz allerdings explizit die performativ-kultische Dimension seiner Fragestellung.22 Im Kapitel II verschiebt er den Fokus seiner Analyse von theologisch-juristischen Diskurskomplexen auf die Sphäre des Theaters und analysiert die »Spielarten der königlichen ›Duplikationen‹ […], die Shakespeare in den drei verwirrenden zentralen Auftritten des Dramas ›Richard II‹ gezeigt hat.«23 Shakespeare billigt Kantorowicz sogar das Verdienst zu, die »Metapher« von den zwei Körpern des Königs, die inzwischen »aus dem modernen Verfassungsdenken so gut wie verschwunden ist«, »unsterblich gemacht« zu haben.24 Im Zentrum der Analyse steht allerdings nicht ein Begriff oder eine Metapher, sondern eine »Szene, in der Richard sein Königtum abtut und seinen politischen Körper liquidiert.«25 Kantorowicz betont den affektiven Wert dieser Szene, die er »erregend« nennt, weil es sich bei ihr um einen »invertierten Ritus« handele, ein »Degradierungsritual« bzw. eine »lange triste Zeremonie, in der die Reihenfolge des Krönungsrituals umgekehrt wird. […] Stück für Stück nimmt er seinem politischen Körper die

19 Vgl. Giesey, Ralph E.: Was für zwei Körper?, in Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 16, Wien: Turia & Kant 1992, S. 79-93. 20 Ebd., S. 43. 21 Ebd. 22 Vgl. dazu die Überlegungen Gieseys, der ebenfalls die Lehre von den zwei Körpern im Hinblick auf unterschiedliche »Ausdrucksmedien« unterscheidet: Während im England der Tudorzeit die Lehre ihren zentralen Ort im Recht hat und daher sprachlich ausgearbeitet wird, äußert sie sich in Frankreich hauptsächlich ›performativ‹, nämlich im Kontext spezifischer Beerdigungsriten, die Giesey untersucht. Giesey: Was für zwei Körper?, S. 80. 23 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 49. 24 Ebd., S. 48f.. 25 Ebd., S. 57.

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Symbole seiner Würde und setzt seinen armen natürlichen Leib den Blicken der Zuschauer aus.«26 Szene, Ritus, Ritual, Zeremonie: Erst im vorletzten Kapitel der Zwei Körper des Königs wird die Analyse der sich in juristischen Abhandlungen und Kommentaren vollziehenden semantischen Übertragungsprozesse zwischen theologischen und politischen Konzepten erneut unterbrochen, um die performativkultische Dimension der Zweikörperlehre freizulegen. Diese Dimension ist stets auf eine politisch krisenhafte Situation bezogen, in der sich die Einheit von natürlichem und politischem Körper auflöst oder neu bildet. Shakespeares Richard II behandelt den Fall, in dem der König durch politischen Druck gezwungen wird, sich von seiner Krone zu trennen und als physische Person (ohne ›Namen‹) zurückbleibt. Gegen diese Eventualität entwickelten die Juristen Hochverratsgesetze, die es untersagten, »die Treue zum persönlichen König zugunsten der Treue zur unpersönlichen Krone zurückzustellen.«27 Die andere kritische Situation ist durch das Interregnum charakterisiert, das eintritt, wenn der Träger der Königswürde stirbt und diese Würde noch nicht in einem neuen physischen Körper ›inkarniert‹ ist. Die Formel dignitas non moritur bringt einmal mehr die Unsterblichkeit des Zweitkörpers als Effekt der Übertragung eines theologischen Konzepts zum Ausdruck. Kantorowicz macht nun aber klar, dass es in politischer Hinsicht entscheidend darauf ankommt, diese politisch-theologische Feststellung gegen die Evidenz der Sterblichkeit des Königs öffentlichkeitswirksam zu behaupten. Kantorowicz beschreibt die Entstehung eines entsprechenden Rituals in Frankreich, in dem die Feststellung des königlichen Ablebens mit dem unmittelbar folgenden Hochleben des Königs auf paradoxe Weise gekoppelt wird: »Le roi est mort! Vive le roi!«28 Die performativ-kultische Ausgestaltung des Interregnum reduziert sich aber, wie am französischen Fall deutlich wird, nicht auf das Ritual der Akklamation, dessen Bedeutung vor allem darin besteht, den Ansprüchen rivalisierender Prätendenten auf die Krone zuvorzukommen. Neben den »lapidaren Rufen«, die in einer »dramatischen Szene« ihren Ausdruck finden29, existieren ausgefeiltere

26 Ebd., S. 57f. Vgl. dazu Balke, Friedrich: »Spurlos verschwunden. Shakespeares Königstragödie als semiotischer Prozeß«, in: Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Epping-Jäger, Cornelia (Hg.), Spuren – Lektüren. Praktiken des Symbolischen, München: Fink 2005, S. 277-297. 27 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 369. 28 Ebd., S. 406. 29 Ebd., S. 409.

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Überleitungsrituale, die erkennen lassen, dass die königliche dignitas vor allem deshalb nicht stirbt, weil sie als eine ›geteilte Würde‹ oder präziser: als eine geteilte Handlungsmacht konzipiert und institutionalisiert wird. In Frankreich ist das lit de justice jenes Ritual, das den Inhaber der Königswürde, unmittelbar nach seiner Thronbesteigung und »manchmal sogar noch vor der Beerdigung seines Vorgängers«30, nötigt, als Gesetzgeber und oberster Richter im ›Parlament‹ zu erscheinen und mit den dort anwesenden Vertretern des Rechts, ›das Bett zu teilen‹. Die vier Präsidenten des Parlaments hatten das Vorrecht, bei der Beerdigung des alten Königs »die Bahre zu tragen«. Sie waren »nicht nur metaphysisch ›un vray pourtraict de Sa Majesté‹, weil der König durch sie regierte, »sondern auch ihre Tracht entsprach dem ›vray habit dont estoient vestues Leurs Majestez‹. Sie trugen eine hellrote Robe mit Pelzbesatz, die wohl dem königlichen Purpur darstellen sollte. Ähnlich bedeutete das Rot der Kardinäle einen Abglanz der mit der cappa rubea verknüpften päpstlichen Autorität […] Die Richter hatten ferner als Rangabzeichen drei an der Schulter zu tragende golddurchwirkte oder seidene Bänder mit Anhängern, manchmal le bouton d’or genannt. […] Es ist anzunehmen, daß die roten Roben wie der bouton d’or die königlichen Insignien versinnbildlichten. Nicht umsonst wurden diese höchsten Richter pars corporis principis, ein Teil des fürstlichen Körpers, genannt.«31

Wie in dem parallel gelagerten Fall der effigies, mit deren Analyse das Kapitel schließt, belegt auch dieser »Exkurs in die Kostümkunde«32, dass der Übergang

30 Ebd., S. 410. 31 Ebd., S. 412. 32 Ebd., S. 413. Kantorowicz’ Perspektive auf die Funktion des ›Beiwerks‹ für die Demonstration souveräner Macht ist offensichtlich durch die philosophische Analyse des der Imagination oder Einbildungskraft, die Pascal vorgelegt hat, informiert: »Mag sich die Vernunft darüber empören, sie kann nicht den Wert der Dinge bestimmen.« Statt diesen Schein panegyrisch zu verstärken, wie es die Erzählung vom Kaiser tut, wird er in den Zwei Körpern des Königs als betrügerischer, doppelbödiger Schein entlarvt. Die Würde, die Königen und anderen Amtsträgern beigemessen wird, das »Geheimnis«, das ihnen Gehorsam und Folgebereitschaft garantiert, verdankt sich Pascal zufolge nicht intrinsischen Eigenschaften, sondern bestimmten Techniken ihrer Präsentierung: »[I]hr Pelzwerk, in das sie sich wie ausgestopfte Katzen hüllen, die Paläste, in denen sie urteilen, die Wappenlilien, kurz dieser ganze erhabene Schein ist durchaus notwendig, denn hätten die Ärzte nicht ihre langen vorn geknöpften Röcke und die absatzlosen Pantoffeln und hätten die Rechtsgelehrten nicht die viereckigen Hüte und zu weite vierteilige Gewänder, so würden sie niemals die Menschen, die

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von einem zum anderen König das Faktum des Todes nicht nur begrifflichspekulativ, sondern spektakulär-inszenatorisch negieren muss, um dem Publikum vor Augen zu stellen, was die politisch-theologische Sentenz lediglich behauptet, nämlich dass die königliche Würde ›nie stirbt‹. Die höchsten Richter sind »vom Trauertragen ausgenommen« und dürfen als einzige »in ihren leuchtend roten Roben« erscheinen, weil mit dem Tod des Königs die Gerechtigkeit, die sie verwalten, nicht aufhört. Mit ihren »fast königlichen Gewändern« unterstreichen sie, dass sie »Teil des Körpers des Königs« waren und damit »Wahrer eines Rechts, das ebenfalls nie starb und dessen Ausübung keine Unterbrechung erfuhr.«33 Wie im Fall der effigies steht diese Verdopplung des Königs, so spektakulär sie auch visuell inszeniert ist, im Dienste der Aufrechterhaltung regulärer sozialer Funktionen. Der König »sprach ständig weiter Recht durch seine Beamten, auch wenn sein natürlicher Leib vergangen war.«34 Die »Zurschaustellung von Bildern des Königs bei Königsbegräbnissen«, die in England seit dem frühen 14. Jahrhundert bezeugt ist, zählt Kantorowicz zu den »sonderbaren Riten«35, durch die die Unsterblichkeit der Königswürde auf spektakuläre Weise mit Evidenz versehen wird. Er spricht von einem »Kniff, die dignitas auch sichtbar zu machen und sie bei Aufzügen und Zeremonien vor Augen zu führen.«36 Mit der Ausarbeitung des »Abbild-Zeremoniells« hält ein »neues triumphales Element« in das königliche Begräbnisritual Einzug, das zu den Trauergebärden hinzutrat: Das Element des Bildes wurde im Fall des Begräbnisses von Franz I. zu einer »lebensgroßen Figur des Königs«37 gesteigert, die ihren letzten großen Auftritt im Rahmen eines Hofzeremoniells hat, bei dem dem König noch einmal ein opulentes Mahl serviert wird wie zu seinen Lebzeiten: »Diese einem Bild geleisteten Dienste sind ebenso bestürzend wie die aktive Mitwirkung eines Kardinals und der Geistlichkeit«, kommentiert Kantorowicz das Zeremoniell mit der Puppe des Königs, und erinnert zugleich »an die Dienste, die heiligen Bildern erwiesen werden – Salbung, Beweihräucherung, Aspersion und Waschung.«38 Einmal mehr haben wir es mit einem Übertragungsvor-

dieser eindrucksvollen Schau nicht widerstehen können, dupiert haben.« Pascal, Blaise: Gedanken über die Religion und über einige andere Themen (Pensées), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987, S. 54f. 33 Ebd., S. 414. 34 Ebd., S. 414. 35 Ebd., S. 415. 36 Ebd., S. 417. 37 Ebd., S. 420. 38 Ebd., S. 422.

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gang zu tun, der diesmal nicht zwischen Konzepten, sondern zwischen Praktiken von statten geht: Die ›quasi-religiösen Ehren‹, die man dem Heiligenbild erwiesen hatte, übertrug man auf das Bild vom König.

III. Mit Hilfe von Insignien, Begräbnisritualen und Effigies wird ein »Symbolismus«39 entwickelt, der die »dynastische Kontinuität« bzw. die Unsterblichkeit der Amtsfunktionen, die in der Person des Königs gebündelt sind, auch dann garantieren soll, wenn der natürliche Körper des Königs nicht länger zur Verfügung steht, um die souveräne Dignität zu repräsentieren. Die spektakuläre und kultische Seite der Begräbnisrituale, so befremdend sie auf den heutigen Leser wirken mag, erfüllt ihren soziologisch nachvollziehbaren Sinn, der eben darin besteht, die Kontinuität der sozialen Ordnung selbst dann zu gewährleisten, wenn ihr personaler Träger für einen bestimmten Zeitraum ausfällt. Als explizit soziologisch erweist sich diese Perspektive auf die Zweitkörperproduktion, wenn Kantorowicz die Funktion des aus dem antiken Bildkult entwickelten »Staatsporträts« darin erkennt, zur »zivilen Disziplin«40 beizutragen, da das Porträt die alltägliche und kontinuierliche Ausübung der Herrschaft selbst unter den Bedingungen der räumlichen Abwesenheit des Souveräns gewährleisten soll. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich der Tod des Monarchen lediglich als der extreme Fall seiner Abwesenheit, die ja auch sonst der ›Normalfall‹ ist, da ihm die körperliche Omnipräsenz, die sein Herrschaftsanspruch eigentlich erfordern würde, verwehrt ist. Im Abschnitt zum Stauferkaiser in den Zwei Körpern des Königs wird dieser Aspekt der politischen Delegation souveräner Macht ebenfalls hervorgehoben, der bereits auf den von Michel Foucault analysierten disziplinären Panoptismus vorausweist: »Durch seine Beamten besaß er, wie Friedrich II. es wiederholt ausdrückte, ›potentielle Ubiquität‹, obwohl er mit seinem natürlichen Körper nicht überall anwesend sein konnte.«41 Die Rolle der Beamten und der Beamtenherrschaft spielt bereits in der Kaiserbiographie eine zentrale Rolle. Aber die Beschreibung der performativ-kultischen Dimension seiner Herrschaftsausübung reduziert sich im Fall von Kaiser Friedrich der Zweite gerade nicht auf den soziologischen Funktionalismus, der für die Zwei Körper des Königs so charakte-

39 Ebd., S. 415. 40 Ebd., S. 422. 41 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 157.

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ristisch ist. An dieser Stelle ist es angebracht, das Verhältnis der beiden Bücher zueinander genauer zu bestimmen. Zwar kommt Kantorowicz in den Zwei Körpern des Königs erneut auf den Stauferkaiser zurück. Aber seine Überlegungen zu Friedrich II. unterliegen hier einer doppelten Beschränkung. Die Auffälligste ist quantitativer Art, da die etwas mehr als 50 Seiten, auf denen sich Kantorowicz hier dem Stauferkaiser annimmt, den über 500 Seiten der Kaiserbiographie gegenüberstehen, die in der von Stefan George herausgegebenen Reihe der Blätter für die Kunst erschien. In sachlicher Hinsicht besteht die Reduktion, die die Studie zur politischen Theologie des Mittelalters an der Figur des Stauferkaisers vornimmt, darin, ihn auf seine Rolle zu begrenzen, die er bei dem Versuch wahrnahm, der Jurisprudenz »eine eigene, weltliche Spiritualität zu schaffen.«42 Die literarisch höchst kunstvolle Ausarbeitung der Figur des Kaisers in der Biografie wird daher in den Zwei Körpern des Königs ganz zugunsten der nüchternen herrschaftssoziologischen und rechtsgeschichtlichen Bilanz zurückgenommen. Kantorowicz kann an die entsprechenden Ausführungen seiner Kaiserbiographie zum Liber augustalis, der großen Sammlung sizilianischer Konstitutionen anknüpfen, die Friedrich II. 1231 als römischer Kaiser publizierte und deren Bedeutung bereits im V. Kapitel der Biographie (»Tyrann von Sizilien«) ausführlich dargelegt wird. Friedrich II. erwartete von den Richtern und Juristen, »daß sie das Recht wie Priester verwalteten«. Sie transformierten damit die Rechtsprechung in einen »Kult der Gerechtigkeit«, um in der religio iuris über ein »Gegenstück der kirchlichen Ordnung«43 zu verfügen, mit deren Repräsentanten der Kaiser in erbittertem Streit lag. In den Zwei Körpern des Königs sagt Kantorowicz von dieser »um das Recht zentrierten Ideologie«, dass sie ausschließlich vom römischen Recht bestimmt gewesen sei44, weil es ihm in dem Buch insgesamt darum geht, die Entwicklung der politischen Theologie in die Geschichte eines abendländischen Rationalismus einzufügen: »Die absolute Macht der legalen Vernunft zu verehren, war keine Besonderheit Friedrichs II. und seiner Berater.«45 Bereits in der Kaiserbiographie akzentuiert Kantorowicz die kaiserliche Staatsmetaphysik und bezieht sie auf die von Friedrich II. eingeführte und in Sizilien perfektionierte disziplinäre »Staatstechnik«, als deren zentrale Elemente er den »juristische[n] Verwaltungskörper, die besoldete Beamtenschaft, die Finanz-

42 Ebd., S. 115. 43 Ebd., S. 119. 44 Ebd., S. 120. 45 Ebd., S. 125.

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und Wirtschaftspolitik« identifiziert.46 Weil die Beamten »Spiegelbilder« des Kaisers waren, galt der Grundsatz, sie »aus allen privaten Verbindlichkeiten zu lösen«, wodurch ihr Gegensatz zu einer »durch und durch korrumpierten Adelsgesellschaft« resultierte.47 Erst diese Staatstechnik, die Regierung durch Beamte, sicherte dem Herrscher jene ›absolute‹ Stellung, die die Staatsmetaphysik philosophisch begründete. Das so entstehende System der vom König besoldeten Beamten »gewährte die Möglichkeit, bis in die untersten Sphären die von einem Mittelpunkt geleitete und nach einem einzigen Willen planmäßig durchgreifende Staatsverwaltung auszubilden.«48 Wenn es damit in dem sizilianischen Experimentier- oder Modellstaat »kein Lebensgebiet« gab, »in das die Regierung nicht unmittelbar ordnend eingriff«, so dass die »kleinen Gewalten […] jede Selbständigkeit« verloren49, dann entwirft Kantorowicz im Bild einer dem Prinzip der verwaltungsmäßigen uniformitas verpflichteten Regierung50 die Struktur des späteren Absolutismus, der sich das Modell Siziliens als Beispiel nehmen konnte. Die uniformitas ist zugleich das entscheidende Merkmal der Disziplinarmacht, die der Kaiser im Rahmen des Sizilienexperiments etabliert. Für die Disziplinarmacht ist nicht nur die »totale Vereinnahmung«51 charakteristisch, wie sie erstmals an der staatlichen Reorganisation des nun mehr kasernierten Militärs beobachtbar wird; sie impliziert darüber hinaus eine »permanente Kontrollprozedur«52, die wesentlich als ein Blickregime etabliert wird, das von der Figur des Kaisers, der nicht alles sehen kann, an die Beamten delegiert wird, die überall sind; und schließlich funktionieren die disziplinären Dispositive »isotopisch«53, das heißt, sie erstrecken sich gleichmäßig auf ein klar abgegrenztes Gebiet oder Territorium und unterwerfen es einer homogenen Ordnung. Die Souveränitätsbeziehungen dagegen tendieren dazu, sich zu überschneiden und sich derart zu verwickeln, dass sie »ohne gemeinsames Maß sind« und daher »kein einheitli-

46 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 210. 47 Ebd., S. 212f. Zur Gegenstellung von Disziplinarmacht und Loyalität gegenüber der Familie bzw. dem ›Clan‹ vgl. Foucault, Michel: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973-1974, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 121-126. 48 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 210. 49 Ebd., S. 217. 50 »Das ganze Königreich sollte eben von kaiserlichen Beamten gleichmäßig verwaltet werden.« Ebd. 51 M. Foucault: Macht der Psychiatrie, S. 77. 52 Ebd., S. 78. 53 Ebd., S. 86.

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ches hierarchisches Tableau« bilden.54 Souveränitätsbeziehungen können sich zudem nicht nur auf »menschliche Vielfältigkeiten«, sondern auf Dinge und ihre Benutzer beziehen, »auf einen Landstrich, eine Straße, ein Produktionsinstrument – eine Mühle zum Beispiel«, eine Mautstelle.55 Genau diesen Aspekt hat Kantorowicz im Blick, wenn er der Gleichmäßigkeit der kaiserlichen Verwaltung in Sizilien »das Bild sonstiger mittelalterlicher Staatswesen« gegenüberstellt, »mit den unendlich verwickelten und schwerfälligen Rechts- und Wirtschaftsverhältnissen, den zahllosen kleinen und kleinsten Nebengewalten: Lehnsherren Bischöfen Klöstern Städten, deren Zuständigkeiten sich fortwährend kreuzten und überschnitten und die sich auf allen Gebieten zwischen Herrscher und Volk eindrängten.«56

Die Durchsetzung einer derartigen direkten Beziehung zwischen Herrscher und Volk ist daher als das Manöver einer disziplinären Reorganisation politischer Macht zu bestimmen, die die unabsehbare Vielfalt und Widersprüchlichkeit souveräner Machtbeziehungen beendet. Erst vor dem Hintergrund dieses »Gewirres von Privilegien und Ausnahmebestimmungen, von Sonderrechten jedes Standes, jedes Berufes, jeder Stadt und jeden Fleckens« begreife man »die Notwendigkeit dieses vollkommenen skrupellosen Aufräumens«57, das die Errichtung eines einheitlichen Verwaltungssystems bedeutet. Diese administrative Dimension des politischen Zweitkörpers wird in der Kaiserbiografie gelegentlich auch mit der Ordenssemantik gekoppelt58, womit deutlich wird, dass es sich bei den Beamten nicht bloß um ein willfähriges Werkzeug des Kaisers handelt, sondern dass sie unter seiner Leitung eine Körperschaft mit ihm bilden. Dieser Vorgang dürfte für Kantorowicz auch insofern von zentraler Bedeutung gewesen sein, als er für die ›geheimen‹ politischen Aspirationen des Bundes, der sich um Stefan George bildete59, in der Herrschaft des Stauferkaisers zugleich ein historisch wirkungs-

54 Ebd., S. 73. 55 Ebd. 56 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 217. 57 Ebd. 58 Und tatsächlich hat sich die Disziplinarmacht »am Rand der mittelalterlichen Gesellschaft gebildet«, nämlich »innerhalb religiöser Gemeinschaften«, von denen aus sie allmählich »auf Laiengemeinschaften übertragen« wurde. M. Foucault: Macht der Psychiatrie, S. 69. 59 Zur politischen Aktualisierung der historischen und metaphysischen Konzeption des »Geheimen Deutschland« gegen den Staatsrassismus des NS vgl. Gudian, Janus: Ernst

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mächtiges (und sicher auch überzeichnetes) Vorbild aufstellte: »Nicht daß hier in Sizilien eine ›Entlehnung‹ aus dem Ordenswesen in Frage käme … aber jede auf einem geistigen Prinzip beruhende Körperschaft von Männern der vita activa mußte sich damals wohl dem Bilde der Ritterorden nähern.«60 Anders als in den Zwei Körpern des Königs belässt es Kantorowicz in der Kaiserbiografie nicht dabei, den kaiserlichen Zweitkörper in der disziplinären Solidarität einer »Körperschaft von Männern« zu verankern, mit der er über ein Instrument verfügt, um die Unabhängigkeit des Staates von der Kirche zu behaupten. Die Herrschaft des Kaisers, erst recht unter den ›außergewöhnlichen‹ Bedingungen, die Kantorowicz nicht müde wird zu betonen, umfasst noch andere Register der ›Verkörperung‹, die weniger die administrative Seite seiner Machterhaltung und -steigerung betreffen, als die der kollektiven Affekte und politischen Leidenschaften, die er auch außerhalb seines direkten Herrschaftsbereichs zu mobilisieren versteht. Friedrich II. verschreibt sich in Kantorowicz’ Darstellung zum einen einer prätotalitären Politik der ›völkischen‹ Reinheit, die die biopolitischen Maßnahmen einer staatlich administrierten ›Rassenhygiene‹ zu antizipieren scheint: »Friedrich II. verbot nämlich bei Strafe der Güterkonfiskation allen sizilianischen Männern wie Mädchen, ohne besondere kaiserliche Erlaubnis eine Ehe mit Fremdbürtigen einzugehen, mit Leuten also, die nicht in Sizilien geboren waren.«61 Kantorowicz verschweigt nicht, dass diese Ehegesetzgebung, deren »notwendige und heilsame Strenge zugunsten einer höheren Ordnung« er betonen zu müssen glaubt, »jeglichem Kirchengebrauch widersprach und stets als eine Ungeheuerlichkeit empfunden wurde«, wie die Meinung der Glossatoren unmissverständlich belege. Der »Tyrann von Sizilien« wird von Kantorowicz an dieser Stelle zum fanatischen Faschisten modernisiert, wie die Metapher vom »glasharten Staat« deutlich macht, die er verwendet: In diesem Staat ziele alles »auf die höchste Einheit hin: denn die Einheit war ja Gottes, die Buntheit des

Kantorowicz. Der ›ganze Mensch‹ und die Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Societäts-Verlag 2014, S. 102-110. In Fortsetzung einer Argumentationslinie, die er in Kaiser Friedrich der Zweite verfolgt, setzt Kantorowicz in seiner im November 1933 gehaltenen Antrittsvorlesung »Das Geheime Deutschland« der antisemitischen Diskriminierung und Entrechtung einen politischen Universalismus entgegen, demzufolge es Deutschlands Bestimmung sei, »das weitmöglichste Seinsspektrum […] in sich aufzunehmen und zu vereinen«. Ebd., S. 105. 60 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 211. 61 Ebd., S. 226.

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Teufels.«62 Wenn Kantorowicz in den Zwei Körpern des Königs sein FriedrichBild von derartigen geschichtspolitisch motivierten faschistischen Zügen reinigt und ihn auf die Rolle des Gründers einer neuen religio iuris oder ecclesia imperialis festlegt, dann fallen dieser ›Säuberung‹ auch jene Aspekte der Figur zum Opfer, die den Kaiser nicht auf der Seite einer neuen, höchsten Einheit, sondern auf der einer ›teuflischen‹ »Buntheit« verorten. Diese Verortung konnte schon deshalb nicht ausbleiben, weil sie Teil der päpstlichen Propaganda war, die den Kaiser zum Antichristen (zugleich der Titel des Schlusskapitels der Kaiserbiografie) stilisierte. In dem Maße nämlich, wie sich der Kaiser dem päpstlichen Vorherrschaftsanspruch entzog und den Bann in Kauf nahm, erzeugte er ausgerechnet auf religiösem Gebiet neue Formen einer west-östlichen kulturellen Hybridität, die Kantorowicz in ihren, häufig legendenhaften Ausgestaltungen ausführlich nacherzählt.63 Weil er seinen Kreuzzug als eine »ausschließlich staatliche Angelegenheit, eine Sache des Imperiums, nicht der Kirche« ausgab64, konnte er sich auch ohne Zögern im Orient als Orientale fühlen und aufführen: »Jedem der Großen hat der Orient etwas anderes bedeutet: bei dem Stauferkaiser aber stand eine uneingeschränkte Bewunderung des arabischen Geistes im Vordergrund.«65 Tatsächlich ging diese Bewunderung »rein orientalischer Formen« aber weit über Fragen des Wissensaustauschs hinaus und betrifft den Kern von Subjektposition und Assoziierungsweisen des Kaisers. Zwar hebt Kantorowicz die Würde der unantastbaren Beamten von Friedrich II. unablässig hervor, betont aber gleichzeitig einen Zug, der in den Zwei Körpern des Königs fehlt: ihre Zahllosigkeit sowie ihre niedere Herkunft, die er mit dem Vorbild des »östlichen Despotismus« erklärt, »der dem Herrscher gestattet, den Küchenjungen von Heute morgen zum Großwesir zu machen.«66 Interessanter noch als dieser Rekrutierungsmodus ist allerdings eine andere Art der Beamtenergänzung, die sich auf das »Heer von Sklaven und Sklavinnen« bezieht, »vielfach Mohren, die zunächst in den kaiserlichen Kammern auf mancherlei Art beschäftigt waren.«67 Nicht auf die vermuteten erotischen Dienstleistungen dieser Sklaven und Sklavinnen legt Kantorowicz im Folgenden den Akzent, sondern auf den Befehl des Kaisers, »die in den Kammern beschäftigten Mädchen mit Kleidungsstücken zu

62 Ebd., S. 226. 63 Ebd., S. 148-158. 64 Ebd., S. 150. 65 Ebd. 66 Ebd., S. 240. 67 Ebd.

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versehen und sie zum Spinnen anzuhalten, wenn sie nichts andres zu tun hatten«. Die Kammern waren Bekleidungs- und Waffenarsenale und Werkstätten, die »für den Bedarf der kaiserlichen Hofhaltung oder den des Heeres Kleidungsstücke anfertigen oder Wolldecken oder kostbare Behänge und Schabracken für Pferde Kamele und Jagdleoparden. Außerdem wurden in diesen Kammern Waffen und Rüstungen hergestellt, auch Kriegsmaschinen, Reit- und Tragsättel.«68

Anders als in den Zwei Körpern des Königs wird die Sphäre des Vestimentären hier zunächst nicht über ihre Repräsentationsfunktion definiert, sondern von ihrer Produktionsseite her beschrieben. Was in den Kammern geschieht, entzieht sich der öffentlichen Einsicht, ist aber für die Verbreitung eines bestimmten Bildes der kaiserlichen Herrschaft unabdingbar. Der repräsentative Schauwert dieser Herrschaft kommt erst in einer weiteren, der »persönlichen Kammer des Kaisers« zum Tragen, dort allerdings auf eine Weise, die alles überbietet, was man an kaiserlicher Prachtentfaltung in Europa gewohnt war. Für diese persönliche Kammer ist zunächst entscheidend, dass sie mobil ist, also wie ein Tross oder Hofstaat den Kaiser »ständig umgab« und insbesondere auch »auf allen Kriegszügen begleitete.«69 Der längere Abschnitt, in dem Kantorowicz diese persönliche Kammer eindringlich beschreibt, bringt eine performativ-kultische Dimension der kaiserlichen Herrschaft ins Spiel, die von ganz anderer Art ist als die »sakrale Feierlichkeit«, die er dem neuen Beamtenklerus mit dem Kaiser an seiner Spitze attestiert. Dieser Beamtenklerus verdankt sich einer Säkularisierung der in der Kirche konzentrierten religio, so dass der aus der Übertragung hervorgehende ›absolute Staat‹ die Fortsetzung der Kirche mit anderen Mitteln und zu anderen Zwecken ist. Während die sakrale Feierlichkeit auf den Mechanismus der Dissoziation oder »Absonderung« beruht, mit der Dinge, Orte, Menschen oder Tiere dem »allgemeinen Gebrauch entzogen werden«70 und nur um den Preis der Korruption (in diesem Fall: der Beamtenbestechung) wieder diesem Gebrauch zugeführt werden können, bringt die persönliche Kammer ein Prinzip der »widernatürlichen Anteilnahme«71 oder Assoziation zur Geltung. Die Figur Friedrichs II. sprengt den Rahmen der politischen Theologie – weshalb Kantorowicz von dem gewaltigen Gefolge, das den Kaiser ständig umgab, als einem »im christlichen Abendland zuvor nicht gesehene[n] Bild« spricht: »durchaus

68 Ebd., S. 241. 69 Ebd. 70 Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 71. 71 G. Deleuze/F. Guattari: Tausend Plateaus, S. 327.

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der Hofstaat eines morgenländischen Fürsten, ein seltsamer Festzug, den der Kaiser seit seinem Aufenthalt im Osten mit sich zu führen liebte.«72 »Denn von den Verwaltungsbeamten, dem Hofgericht, der sarazenischen Leibwache abgesehen folgte dem Kaiser stets ein ganzer Tierpark, den anzustaunen das Volk von weit her neugierig herbeilief: fremde, nie sonst erblickte Tiere, die dem Kaiser auch zur Jagd dienten, vor allem aber um die Majestät durch den fremdartigen Aufzug ins Unwahrscheinliche zu steigern. Geführt von zahllosen Sklaven, schön gekleidet in seidnen Tuniken und linnenem Zeug, sah man da die kostbaren Viergespanne vor schätzebeladenen Fahrzeugen, die reichgeschirrten Kamele mit ihren Lasten […], dann von Sarazenen an Ketten geführte Leoparden und Luchse, Affen und Bären, Panther und Löwen […], selbst eine Giraffe besaß der Kaiser, dazu die vielen Hunde, die Jagdvögel, Schleiereulen, Uhus, Adler und Bussarde, alle Arten von Falken, weiße und farbige Pfauen, seltene syrische Tauben, weiße indische Aras mit gelben Federkronen, afrikanische Strauße und schließlich den Elefanten mit seinem hölzernen Türmchen auf den Rücken, darin sarazenische Schützen und Fanfarenbläser. Bei festlichen Triumphen, wie einmal in Cremona, ritt dann der Kaiser selbst diesem Zuge voraus: der sichtbar über alle Geschöpfe der Welt gesetzte Gottmensch.«73

Kantorowicz hebt die ›ungeheure Erregung‹ hervor, mit der die Zeitgenossen auf dieses »Gewimmel von Tieren« reagiert hätten. Er hält fest, dass kein Chronist auf ausführliche Schilderungen des kaiserlichen Aufzugs verzichtet habe und dass die Berichte »neben dem wirklich Gesehenen noch allerlei wunderbare Geschichten« enthalten, um auf diese Weise den spektakulären Charakter des Aufzugs fabulatorisch zu verstärken. Das »neue triumphale Element«, das Kantorowicz in den Zwei Körpern des Königs anlässlich der königlichen Bestattungszeremonien beschrieben hatte74, wird in der Biografie am lebenden Körper des Kaisers entfaltet, der sich unterschiedlichste Lebewesen assoziiert. Während die Zwei Körper des Königs den spekulativen, theologischen und immateriellen

72 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 241. 73 Ebd. 74 Während die königlichen Abbilder oder effigies zunächst auf dem Sargdeckel liegen, lösen sie sich allmählich von ihm ab und werden »im vollen königlichen Prunk beinahe am Schluß des Zuges, dem Ehrenplatz, getragen«, während an seiner Spitze der Sarg »in einem schwarz ausgeschlagenen Wagen« transportiert wird. Vgl. E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 419.

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Charakter des zweiten, politischen Körpers betonen75 und darüber hinaus fast ausschließlich die rechtstechnischen Implikationen dieser politischen »Fiktion« hervorheben, rückt Kantorowicz in Kaiser Friedrich der Zweite die korporative Dimension des Zweitkörpers auf denkbar stoffliche und materielle Weise in den Mittelpunkt. In der Einleitung zu den Zwei Körpern des Königs verweist er zustimmend auf den »großen englischen Rechtshistoriker« F.W. Maitland, der »mit viel Sarkasmus und Ironie die Torheiten aufgedeckt [habe], zu denen die Fiktion des Königs als einer ›Einmann-Körperschaft‹ führen mußte.«76 Die »sole corporation«, die nur aus einer Person besteht, ist trotz ihrer offensichtlichen logischen Absurdität der konzeptuelle Rahmen für die rechtsgeschichtliche Rekonstruktion der politischen Theologie in den Zwei Körpern des Königs. Sie bildet aber nicht den Rahmen, in dem sich die literarische Ausarbeitung der Figur des Stauferkaisers bewegt. Dessen Herrschaft entspringt nicht der politisch-theologischen Reduktion auf den Körper der einen Person, die metaphorisch alle anderen Körper, die ihr unterworfen sind, ›enthalten‹ bzw. umfassen soll. Nicht einer mystischen Verdichtung, sondern einer unabsehbaren, metonymischen Erweiterung seiner Person um einen »fremdartigen Aufzug« entspringt die Herrlichkeit des Kaisers. Sein Hofstaat umfasst neben dem Tierpark die unterschiedlichsten Angehörigen ›niederer‹ und anrüchiger Gruppen: Kantorowicz nennt neben den Literaten die Seiltänzer, Gaukler und Akrobaten, die Sarazeninnen und Eunuchen, sodann die zahlreichen männlichen Sklaven, die mitunter die höchsten Staatsämter bekleideten, schließlich Angehörige des ritterlichen Adels sowie die »valetti imperatoris«, die Valets des Kaisers oder Edelknappen, die vor allem bei den Jagdvergnügungen Friedrichs assistierten. Diese Jagdvergnügungen, denen der Kaiser nicht zuletzt auch mit einem wissenschaftlichen Interesse nachging, verweisen zugleich auf die entscheidende Differenz der unterschiedlichen Körperschaftsmodelle, die die beiden großen Werke Kantorowicz’ voneinander unterscheiden. Der durchaus gegenwartsbezogene Argumentationsduktus der Biografie Kaiser Friedrichs II. wird immer dort am greifbarsten, wo ihr Autor Fragen der kaiserlichen Korporationen behandelt, die nicht nur seinen mobilen Hofstaat, sondern auch sein umfassendes Kommunikations- und Korrespondenzsystem betreffen. Aufschlüsse etwa über metaphysische Fragen nach dem Ursprung und der Ewigkeit der Welt, wie sie die Auseinandersetzung mit dem wiederentdeckten Aristotelismus hervorrufen, suchte

75 Von diesem Körper heißt es, dass er nicht nur »›größer und weiter‹ als der natürliche« sei, sondern dass ihm auch »geheimnisvolle Kräfte« innewohnen. Ebd., S. 33. 76 Ebd., S. 27.

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Friedrich II. nicht bei christlichen Theologen, sondern »bei den Gelehrten des Islams«: »Nach Ägypten Syrien und dem Irak, Kleinasien und dem Yemen schickte der Kaiser seine Fragen«77, um u.a. Auskünfte über die Natur der Seele zu erhalten, die jede politisch-theologische Erwartung enttäuschen mussten und sogar die intellektuelle Kapazität des Kaisers, seine Fragen richtig zu stellen und die Antworten zu verstehen, bezweifelten.78 Die Funktion des Kaisers ist die eines »Quasi-Objekts«, das durch seine soziale Attraktionskraft definiert ist: Er macht viele zu seinen Gefolgsleuten79, darunter eben nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, denen die Funktion zukommt, die soziale Mobilisierungs- und Assoziierungskapazität seiner Person zu demonstrieren. Zweifellos versteht es Friedrich II. auch, sich z.B. die Kirche und die mit ihr verbundenen Rebellen oder ›Ketzer‹ zu Feinden zu machen, die er erbittert und mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Aber die ihm eigene Macht und ihre legendäre Steigerung verdankt er seinem Gefolge, das »die Phantasie der Welt beschäftigt«80, genauer: seiner Fähigkeit, dieses Gefolge zu vermehren und neue, auf briefliche Korrespondenz beruhende Verbindungstypen zwischen räumlich weit entfernten Akteuren zu schaffen, die nicht der kaiserlichen Befehlsgewalt unterstehen. Diese Verbindungstypen ermöglichen es dem Kaiser, als Knoten eines Netzwerks zu fungieren, das weit über seinen politisch-administrativen Herrschaftsbereich hinaus reicht. Das Netzwerk, das Friedrich II. schuf, umfasste viele Handlungsträger, darunter solche, die nicht dem Christentum und seiner Kirche angehörten, sodann Träger einer neuen, weltlichen Spiritualität (die ›unantastbaren‹ Beamten, deren Loyalität allein dem Kaiser galt), schließlich auch non-humans wie die Tiere. Die unsterbliche Würde nimmt daher im Falle des Kaisers eine ganz andere

77 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 270. 78 »Aber was Dich verführt hat zu solcher Verwirrung«, antwortet der marokkanische Gelehrte Ibn Sabin dem Kaiser, »das ist Deine Unerfahrenheit, spekulative Dinge zu behandeln, und Forschungen anzustellen in einer Sonderdisziplin der Wissenschaft.« Ebd.. 79 Latour hat den Prozess nachgezeichnet, der zu einer zunehmenden ›Schrumpfung‹ der Bedeutung von ›sozial‹ geführt hat und in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass der Stamm des Wortes seq- lautet, seine erste Bedeutung daher folgen ist: »In den verschiedenen Sprachen zeigt die historische Genealogie des Wortes ›sozial‹ die folgenden Bedeutungen: erstens jemandem folgen, dann anwerben, sich verbünden und schließlich etwas gemeinsam haben.« B. Latour: Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 18. 80 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 242.

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Form an, als bei den späteren Monarchen, deren Würde sich auf zeremonielle und dynastisch stabilisierte Weise von einem König auf den anderen vererbt. Im Falle des Stauferkaisers dementiert daher konsequenterweise eine nach seinem Tod einsetzende und lang anhaltende, populäre Legendenproduktion, »daß er wirklich gestorben [sei]. […] Noch viele Jahre nach seinem Tode schloß man in Florenz Wetten ab, ob Friedrich II. am Leben sei oder nicht, da ihm die Propheten ein Leben von zweihundersiebenundsechzig Jahren verhießen. Und durch Jahrzehnte tauchten Betrüger auf, die sich für den wiedergekehrten Kaiser Friedrich ausgaben, den man da und dort in den Ätna entrückt wähnte.«81

Und natürlich will auch Kantorowicz’ Buch selbst, das im 20. Jahrhundert die um den Stauferkaiser entstandene Legendenproduktion auf ein neues literarisches Niveau hob, sich als ein derartiges Todesdementi verstanden wissen, das dem Stauferkaiser neue Gefolgsleute zuführen sollte, denn »der größte Friedrich ist bis heute nicht erlöst, den sein Volk weder faßte noch füllte.«82

IV. Tatsächlich lässt sich das Verhältnis der Herrschaftsmodelle, die im Kaiser Friedrich der Zweite und in den Zwei Körpern des Königs verhandelt werden, durch die sehr unterschiedliche Bezugnahme auf zwei besondere Tiere explizieren. Das »sole-corporation«-Modell der politischen Theologie reproduziert sich nach dem Modell des Lebenszyklus, der einem mythischen Vogel eigen ist, nämlich dem Phönix. Ihm widmet Kantorowicz einen eigenen Abschnitt, in dem es heißt: »Es gab zu einer Zeit immer nur einen einzigen Phönix, der nach seinem langen Lebenszyklus, 500 Jahre oder mehr, sein Nest anzündet, das Feuer mit den Flügeln anfachte und in den Flammen umkam, während aus der glühenden Asche ein neuer Phönix entstand.«83

Er konnte als Einzelwesen sterben, ja sich selbst den Tod zufügen, ohne um die Fortdauer seiner Art fürchten zu müssen. Die Aufrechterhaltung des politischen Körpers ist in diesem Fall also durch eine dem Vogel bzw. dem König inhärente

81 Ebd., S. 526f. 82 Ebd., S. 528. 83 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 386.

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unsterbliche Substanz garantiert: Der politische Körper ist ein mystischer Körper, weil er seine Ewigkeit ganz sich selbst verdankt und daher auch nicht zu seiner Reproduktion auf eine Assoziation mit anderen Körpern angewiesen ist. Phoenix ist der sich aus eigener Machtvollkommenheit selbst zerstörende und ›sich selbst zeugende‹ Vogel, der zu einer Zeit immer nur genau in einem Exemplar existiert. In einer Fußnote zu diesen Ausführungen merkt Kantorowicz interessanterweise an: »Friedrich II. weigerte sich, die Geschichte des Phönix, wie Plinius sie erzählte, zu glauben.«84 Das hinderte spätere Kommentatoren nicht, dass er als einer »der ersten mittelalterlichen Könige« mit diesem »einzigartigen Vogel verglichen wurde.«85 Was Kantorowicz allerdings seinen Lesern verschweigt, ist der Grund für die Weigerung Friedrichs II., die sich in einer Passage seines Buches De arte venandi cum avibus findet, an den Phantasievogel zu glauben. Man könnte argumentieren, dass der Grund für die negative Haltung zum Phönixmythos in dem von Kantorowicz stark herausgestellten ›Realismus‹ der Naturbeobachtung des Kaisers liegt. Noch die »kleinste Kleinigkeit«, die er über »Natur und Pflege der Vögel« schrieb, beruhte »auf eignem Sehen« oder auf »Beobachtungen, die Freunde und Fachleute für ihn angestellt hatten«. Aber wenn auch die »absolute Sachlichkeit« das »Erstaunlichste an dem Werk«86 sein mag, so ist sie doch nicht ausreichend, um zu erklären, warum ausgerechnet die Jagd mit dem Falken ein Licht auf das implizite Herrschaftsmodell des Kaisers wirft und damit zugleich auf das Problem der ›Korporation‹ bzw. der politischen Körperschaft. Tatsächlich nämlich schätzt der Kaiser die Falkenjagd deshalb so sehr, weil ihr, wie es Kantorowicz vom politischen Körper sagt, »geheimnisvolle Kräfte« innewohnen, ganz im Unterschied zu anderen Formen der Jagd, die er ablehnt, weil sie mit Fallen oder Netzen operieren oder Tiere (Hunde, Jagdleoparden) verwenden, die durch Gewalt abgerichtet werden können: »Die Jagd«, hält Kantorowicz ausdrücklich fest, »war für Friedrich nicht wie für die Ahnen Ersatz des Krieges in Friedenszeiten, sie war ihm eine Kunst, die ›ganz aus der Liebe entspringt‹«. Sie war daher »geistig und eines mit seinen naturwissenschaftlichen Studien. Freilich nur die Falkenjagd.«87 Woher, so ist abschließend zu fragen, rührt dieses Privileg der Falkenjagd? Sie gewährt Einblick in den mystischen Grund der kaiserlichen Autorität, der nicht dem mystischen Körper des Kaisers selbst entspringt, sondern dem, was

84 Ebd., S. 387. 85 Ebd. 86 E. H. Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite, S. 279. 87 Ebd., S. 278.

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sich der Reichweite seiner gewöhnlichen Machtmittel grundsätzlich entzieht. Die Herrschaft des Kaisers beruht in letzter Instanz auf einer bestimmten Form der Fernsteuerung von Lebewesen, die sich nicht, wie seine Untertanen, territorialisieren lassen und die zu kontrollieren eine besondere Meisterschaft des Souveräns erfordert. Denn wie sehr die politischen Theologen auch den zweiten Körper des Königs mit dem der Engel vergleichen, so steht doch fest, dass Könige, anders als bestimmte Tiere, die dazu ohne weiteres in der Lage sind, nicht fliegen können. Den Kaiser reizte, so Kantorowicz, an der Kunst, mit Vögeln zu jagen, »des Menschen geheime Macht über das flüchtigste und freieste Tier: den Adler, den Bussard, den Falken. Denn wenn zu gleicher Zeit sechs, acht, auch zehn Falken frei in den Lüften kreisten, dem Auge fast entrückt und dennoch wie an unsichtbaren Fäden durch geheimnisvoll wirkende Mächte geleitet von dem Falkner, auf dessen Faust sie mit tödlicher Sicherheit zurückkehren mußten, die Freiheit die ihnen geboten verschmähend – so war das nicht nur ein erregendes Wunder, sondern zugleich das Höchstmaß jener Zucht, die Friedrich in gleicher Weise bei Menschen anstreben mochte.«88

Während die Studie zur politischen Theologie des Mittelalters die geheimnisvollen Kräfte im zweiten Körper des Königs und seiner singulären Substanz einschließt oder die unendlichen Attribute dieser Substanz (Güte, Majestät, Macht) allenfalls in Form von allegorischen Figuren dem Porträt des Königs zur Seite stellt89, beruht das Bild des Kaisers, das Kantorowicz malt, auf der »geheimen Macht über das flüchtigste und freieste Tier« und damit über ein Element, das dem Herrschaftsanspruch der politischen Souveränität denkbar weit entrückt ist. Kantorowicz' Kaiserbiografie ist der Versuch einer literarisierten Nachzeichnung von »Gruppenbildungen«, die stets »sehr viel mehr Spuren als bereits etablierte Verbindungen« hinterlassen.90 Die »Kammern« des Kaisers sind der Ort dieser Gruppenbildungen, für die, wie gezeigt, die Heterogenität ihrer Mitglieder ausschlaggebend ist. Der Kaiser beginnt etwas Neues. Er stiftet durch die Bildung einer professionellen Beamtenschaft jenen Staat, genauer: das Modell des bürokratisch organisierten ›Anstaltsstaats‹, als dessen Vorsteher dann im weiteren historischen Verlauf Fürsten und Könige fungieren, die in der Studie zu den Zwei Körpern des Königs den politisch-institutionellen Referenzrahmen abgeben. Während das sizilianische Experiment ›religiös‹ ist, weil es auf den Vor-

88 Ebd. 89 Vgl. zu dieser Darstellungstechnik L. Marin: Porträt des Königs, S. 337. 90 B. Latour: Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 56.

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gang der Absonderung und Zwangsterritorialisierung beruht und damit die zukünftigen ›absoluten‹ Monarchien antizipiert, muss der Kaiser zugleich seine Fähigkeit zu einem alternativen Universalismus unter Beweis stellen, also zu einer Herrschaft, die weder territorial noch religiös bzw. christlich gebunden ist und deren mythisches Element die ›Lüfte‹ sind. »Wenn eine gegebene Gruppierung einfach nur gegeben ist«, schreibt Latour, »dann ist sie unsichtbar, und es läßt sich nichts über sie sagen.«91 Sichtbar wird sie erst, wenn sie »gerade gebildet oder aufgelöst wird.«92 Gerade weil der Konflikt mit einer bereits etablierten Gruppierung, nämlich der Kirche, die ihn exkommuniziert und zum Antichristen erklärt hat, alle politischen Kalküle und Maßnahmen des Kaisers bestimmen, weil er das Staatskirchentum, das die Zwei Körper des Königs voraussetzen, erst gründen muss, finden sich in der Kaiserbiografie viel mehr konkrete, historiografisch verbürgte Spuren von all den Elementen, die der Kaiser versammelt, um auf dem Wege der Dissoziation von der Kirche den neuen »Juristenstaat« ins Werk zu setzen. Sowohl die Zwei Körper des Königs als auch Louis Marins in seiner Nachfolge konzipiertes Buch zum Porträt des Königs kapitalisieren das Gründungsereignis, von dem Kantorowicz in seiner Kaiserbiographie Rechenschaft abzulegen versucht. Politische Repräsentation vollzieht sich unter den Bedingungen der Gründung anders als unter denen der konstituierten monarchischen Ordnung, was Marin, ohne auf diese Differenz eigens zu reflektieren, mit der folgenden Formulierung zum Ausdruck bringt: »Repräsentieren, sagten wir, heißt den Toten zurückkommen lassen, als ob er gegenwärtig und lebendig wäre, und es heißt auch, die Gegenwart zu verdoppeln und die Präsenz in der Einsetzung eines Repräsentationssubjektes zu intensivieren.«93 Genau diese Wiederkehr des toten kaiserlichen Gründers in den Zweitkörpern der Könige setzt die Studie zur politischen Theologie des Mittelalters voraus, ohne sie zu thematisieren. Die Könige müssen ihre Präsenz durch die Einsetzung eines Repräsentationssubjekts und seiner fiktiven Delegierten (Insignien, Porträts, effigies) intensivieren, die die metaphysisch supponierte dignitas des königlichen Zweitkörpers anschaulich vor Augen stellen. Die Macht zu erstreben heißt dagegen für den Kaiser gerade nicht, sich als das »phantastische Bild« zu entwerfen, »in dem die Macht sich als absolute betrachten würde.«94 Dem Kaiser fehlt zu dieser Macht und ihrem politischen Narzissmus zu viel, und er weiß es; statt politisch zu resignieren, versteht

91 Ebd. 92 Ebd. 93 L. Marin: Porträt des Königs, S. 15. 94 Ebd., S. 14.

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er es, dieses Wissen um seine impotentia konstruktiv zu wenden und die politische Macht als das Vermögen zu definieren, Beziehungen zu dem zu unterhalten, worüber sie am wenigsten verfügt und damit die Kirche ausgerechnet in ihrem Universalismus zu überflügeln.

L ITERATUR Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Balke, Friedrich: »Der verfemte Teil. Ernst Kantorowicz’ Kaiser Friedrich der Zweite«, in: Hebekus Uwe/Matala de Mazza, Ethel/Koschorke, Albrecht (Hg.), Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München: Fink 2003, S. 60-85. Balke, Friedrich: »Spurlos verschwunden. Shakespeares Königstragödie als semiotischer Prozeß«, in: Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Epping-Jäger, Cornelia (Hg.), Spuren – Lektüren. Praktiken des Symbolischen, München: Fink 2005. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992. Foucault, Michel: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973-1974, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. Giesey, Ralph E.: Was für zwei Körper?, in: Tumult. Schriften zur Verkehrswissenschaft 16, Wien: Turia & Kant 1992, S. 79-93. Gudian, Janus: Ernst Kantorowicz. Der ›ganze Mensch‹ und die Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Societäts-Verlag 2014. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München: DTV 1990. Kantorowicz, Ernst H.: Kaiser Friedrich der Zweite. Hauptband, Stuttgart: KlettCotta 1998. Kittsteiner, Heinz Dieter: »Von der Macht der Bilder«, in: Ernst, Wolfgang/Vismann, Cornelia (Hg.), Geschichtskörper. Zur Aktualität von Ernst H. Kantorowicz, München: Fink 1998, S. 13-29. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001. Latour, Bruno: Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007. Marin, Louis: Das Porträt des Königs, Berlin: Diaphanes 2005. Pascal, Blaise: Gedanken über die Religion und über einige andere Themen (Pensées), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1987.

›Rohe Zusammenstellung‹: Aby Warburgs Bilderatlas und die Unterzeichnung der Lateranverträge P ETER R ISTHAUS Steinmann in seinem Arbeitszimmer. Bild von Mussolini mit eigener Unterschrift. (Aby Warburg: Tagebuch der KBW, 18. Nov. 1928) […] um an das Allerhandgreiflichste anzuknüpfen […] (Theodor W. Adorno: Einführung in die Dialektik)

Die nachfolgenden Überlegungen beziehen sich auf Details von Bildern, weil es vor allem die beinahe paranoische Aufmerksamkeit für sie ist, die man von Aby Warburg lernen kann. Ob darin Gott oder der Teufel steckt, wie seine berühmte Maxime nahelegt, möge der Leser selbst entscheiden.1 Warburgs »Wissenschaft ohne Namen«, seine »Gespenstergeschichte für ganz Erwachsene«, liest spektrale Detaileffekte auf, die zwischen Bildern, in zum Teil enormen historischen Zeiträumen, entstehen. Im besten Falle bekommt man durch diese Arbeit, ›wie aus der Pistole geschossen‹, ein unheimliches Detail vom Körper eines Diktators

1

Zu Ansätzen einer Epistemologie des Details und seiner ›teuflischen‹ Rolle, vgl. Schäffner, Wolfgang/Weigel, Sigrid/Macho Thomas: Das Detail, das Teil, das Kleine. Zur Geschichte und Theorie eines kleinen Wissens, in: Der liebe Gott steckt im Detail, Mikrostrukturen des Wissens, München: Fink 2003, S. 7-21.

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in den Blick, das durch die Montagen Warburgs ›abgeschlagen‹ wird. Es handelt sich dabei um zwei paar gefaltete Hände auf den Tafeln 78 und 79 des Bilderatlas’ Mnemosyne, Hände, die ihren Auftritt in einer Signaturszene haben, die in dem großen Theater der Unterschrift spielt. Um derartige Details des Diktatorenkörpers2 ›sehen‹ zu können, müssen Bilder mit anderen konfrontiert werden. Alle Räume, in denen mehr als ein Bild gezeigt wird, wo sie neben- oder hintereinander gehängt oder montiert werden, sei es in einer Ahnengalerie, einem Museum, dem Bilderatlas oder einer Doppeltprojektion3, erzeugen spezielle Detaileffekte, die Bildgrenzen überschreiten. Eine »rohe Zusammenstellung«4 ist dieser Atlas, der Darstellungen von Details und ihrer Transmission ermöglicht, die zeigen, dass sich etwas Fremdes von einem Bild ins andere schleicht. Der Spuk passiert also zwischen den Bildern, die solche Spuren kommunizieren. Nur wenn die Zusammenstellung der Bilder (und Texte) ›roh‹ genug ist, kann der Umschlag von Bedeutungen, ihre Inversion, beobachtet werden. »Rohe Zusammenstellung« bedeutet dann auch, nicht nur Bildgrenzen, sondern ebenso die ästhetischen Stilbegriffe und -formen zu überschreiten, das Zeitungsbild der Golfmeisterin Erika Sellschopp neben Dela-

2

Dass die unscheinbarsten Details mit großen philosophischen Gedanken und deren politischen Verfehlungen zusammenhängen können, beweist der Fall Martin Heidegger, den wir nur anführen, weil die vorliegende Untersuchung auch ein Licht auf die Stellung der ›Hand‹ in seinem Denken wirft, die als konstitutiv angesehen werden muss. Wir zitieren ein Detail, das wiederum nur ein anekdotisches Detail ist, nämlich in den Lebenserinnerungen von Jaspers, Karl: Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe, München: Piper 1977, S. 101: »Wie soll ein so ungebildeter Mensch wie Hitler Deutschland regieren?« – »Bildung ist ganz gleichgültig«, antwortete er, »sehen Sie nur seine wunderbaren Hände an!«.

3

Das medientechnische Apriori des Atlas und der Kunstgeschichte überhaupt, wurde im Ansatz beschrieben von Hensel, Thomas: Die Medialität der Kunstwissenschaft. Aby Warburg und die Fotografie, in: Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotografischem Material (2. Dezember 2012 – 3. März 2013), hg. v. Schmidt, Eva/Rüttinger Ines, Heidelberg: Kehrer 2012, S. 36-73. Vgl. auch Pias, Claus: Ordnen, was nicht zu sehen ist, in Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, hg. v. Ernst, Wolfgang/Heidenreich, Stefan/Holl, Ute, Berlin: Kadmos 2003, S. 99-108.

4

Vgl. A. Warburg: Notizbuch, 30. Juli 1929, zit. n. Gombrich, Ernst: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, übers. v. Matthias Fienbork, Hamburg: Philo Fine Arts 2012, S. 531. Wir werden auf den Witz dieses Begriffes in dieser Notiz am Ende dieses Beitrags zurückkommen.

›ROHE Z USAMMENSTELLUNG ‹ – A BY W ARBURGS B ILDERATLAS

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croix’ Das Massaker von Chios, eine Reklame für 4711 Matt-Creme, neben einem Siegel aus dem Jahr 1662 zu montieren, oder eben Mussolini neben dem heiligen Franziskus. Das, was nichts miteinander zu tun hat, bekommt so einen Zusammenhang und verrät ein Geheimnis, das niemand verheimlicht hat. Der Atlas Mnemosyne ist eine Ansammlung solcher Montagen, die in 79 Tafeln derart komplex angeordneter Bilder zerfällt. Werner Hoffmann hat darauf hingewiesen, dass es dieser Methode nicht »auf die Aura des Originals, auf die materielle Ausstrahlung des Kunstgegenstandes, auf handschriftliche und andere Qualitäten«5 ankomme. Er sieht in Warburgs Atlas vielmehr eine Kopie jenes Verfahrens am Werk, das viele der hier abgebildeten Künstler selbst angewandt hätten, um sich ihre Vorbilder über Reproduktionsstiche anzueignen. Ob der Vergleich mit dieser künstlerischen Verfahrensweise schlagend ist, sei dahingestellt, denn es handelt sich nicht um Stiche, sondern um Fotografien.6 Sicher ist, dass es hier um ein Verfahren geht, den Bilderfluss handhabbar7 zu machen. Dafür hat Warburg seine fiebrige Bibliothek angelegt und den Atlas Mnemosyne, der die Summa seines Durchgangs durch diesen Bilderfluss in Szene setzt. Er wäre der eigentliche Katalog der Bibliothek, dessen Signaturen allerdings ein Geheimnis bleiben.

5

Hofmann, Werner: Der Mnemosyne-Atlas. Zu Aby Warburgs Konstellationen, in: Warburg, Aby M.: ›Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott‹. Portrait eines Gelehrten, hg. v. Galitz, Robert/Reimers, Brita, Hamburg: Dölling u. Galitz 1995, S. 172-183, hier S. 172f.

6

Dass Künstler und Kuratoren ein bestimmtes Interesse an Warburgs Atlas haben, ist nicht verwunderlich. Vgl. etwa den recht aktuellen Katalog Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern?

7

Vgl. A. Warburg: Vom Arsenal zum Laboratorium, in: Werke in einem Band, hg. v. Treml, Martin/Weigl, Siegrid/Ladwig Perdita, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 683-694, hier S. 691: »dass das Kunstwerk nicht als Atelierprodukt nur vom Künstler aus zu beurteilen und nur in der Verflechtung mit den zeitgenössischen Faktoren des wirklichen Lebens stilgeschichtlich zu erkennen sei, und im Praktischen, dass man die zum Studium gehörenden Bücher und Bilder zum Handgebrauch in einem Studiensaal für Jedermann zur Verfügung haben müsste.«

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I. S TICHELNDE F OTOGRAFIEN SEGMENTIERTE H ÄNDE

UND

Ob und in welchem Sinne das Kunst- letztendlich ein Handwerk ist, bleibt als Frage nicht allein für die Kunstgeschichte oder Philosophie relevant. Gut beschrieben findet sich das dahinter steckende mediale Problem in einem literarischen Beispiel. In Marcel Prousts Du côté de chez Swann soll der Erzähler mit Kunst und Literatur und dadurch auch mit der Welt jenseits von Combray in Berührung gebracht werden. Es ist seine Großmutter, die sich anlässlich von Marcels Namenstag Gedanken darüber macht, welche Bücher sie schenken, aber vor allem, welche Bilder das Kinderzimmer schmücken könnten. Ihre Auswahl wird, wie überhaupt bei allen Geschenken, die sie macht, von der konservativen Idee geleitet, dass ein geistiger Gewinn aus ihnen gezogen werden muss. Das gilt selbst für die Wahl alltäglicher Gebrauchsgegenstände wie Besteck und Stühle, oder »[…] einen Spazierstock, so wählte sie sie ›alt‹, als wenn sie dann durch die lange Zeit, in der sie nicht benutzt worden waren, ihren Nützlichkeitscharakter verloren hätten und dadurch geeigneter seien, uns das Leben der Menschen von früher vor Augen zu halten als den Bedürfnissen der jetzigen zu dienen.«8 Gerne würde sie deshalb sehen, dass in Marcels Zimmer Abbildungen schöner Bauwerke und Landschaften aufgehängt würden. Im ›Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit‹ ist das problemlos möglich, hätte sie nicht eine eher konservative ästhetische Theorie. Obwohl die Großmutter daran glaubt, dass der ästhetische Wert von fotografierten Objekten ihnen letztlich inhärent sei, schreckt sie vor einem Kauf von Fotografien zurück, da »[…] die Gewöhnlichkeit, die bloße Nützlichkeit bei der mechanischen Art der Reproduktion durch Photographie zu sehr die Oberhand bekämen.«9 Anstatt Fotografien der Kathedrale von Chartres oder des Vesuvs zu erwerben, verfällt sie auf eine List und fragt Swann, ob nicht ein Maler diese Motive dargestellt hätte. Sie könne dann Fotografien ihrer Bilder an Marcel verschenken, um »Schichten von Kunst übereinanderzulagern«10. Damit könne der Banalität technischer Reproduktion aus dem Wege gegangen werden. Zweifelsohne handelt es sich um eine liebenswert-verquere Version des populären Platonis-

8

Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1: In Swanns Welt, 5. Aufl., übers. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 57. In Sachen Literatur wird sich die Großmutter für die Dorfgeschichten von George Sand entscheiden.

9

Ebd.

10 Ebd.

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mus. Dass auch Fotografien von Turners Vesuv oder von Corots Kathedrale von Chartres letztlich Simulacra bleiben, das wird sie anerkennen, denn das Problem hat sich nur um eine ›Schicht‹ verschoben. Auch die Malerei als Gegenstand der Fotografie kann deren Produktionsbedingungen letztendlich nicht vollständig überlagern. Vielleicht könnte aber der kunstverständige Swann dennoch helfen, wenn er stattdessen einen Stich dieser Kunstwerke besorgte, am besten eine alte Gravüre, die vielleicht die Sache darstellt, wie sie im gemalten Original gar nicht mehr zu sehen ist, beispielsweise Morghens Stich von Leonardos Abendmahl vor seinem Verfall. So würde noch Hoffnung für den dargestellten ›Corpus Christi‹ bestehen, wenn das Medium Fotografie umgangen und so zumindest eine andere Künstlerhand am Werke gewesen sei. Marcel wird diese ›ästhetische Theorie‹ der Großmutter in seinen Erinnerungen mit Humor goutieren: »Die Anschauung von Venedig, die ich einer Handzeichnung Tizians verdanke, deren Hintergrund die Lagune vorstellen soll, war weit ungenauer, als gewöhnliche Photographien sie mir vermittelt hätten.«11 Auch andere Geschenke der Großmutter machen Lachen. Reihenweise seien die ›antiken‹ Sessel zusammengebrochen, die sie Jungvermählten zur Hochzeit schenkte und die für den Gebrauchszweck längst untauglich geworden waren. Ihr war eben die Erkennbarkeit einer »alten Metapher […] die unsere moderne Sprache durch den Gebrauch längst abgeschliffen hat«12 viel wichtiger, als zweckdienliche Stabilität. Dieser kurze Umweg über Combray, der uns nicht nach Venedig sondern nach Rom führen wird, soll die oben aufgestellte Vermutung andeuten, dass Betrachtung von Kunst damit zu tun hat, ob, wie und von wem Hand an das Werk angelegt und wo sie in das System zwischen Produktion, Reproduktion und Rezeption eingeschaltet wird, sich sozusagen eingräbt, segmentiert, eine ›Schicht‹ bildet. Es macht einen Unterschied für den Rezipienten, ob er sich bewusst ist, vielleicht sogar beweisen kann, dass eine Künstlerhand am Werke war, oder ob es sich ›nur‹ um eine Kopie oder Fotografie handelt, die durch den schlichten Druck eines Daumens ausgelöst wurde. Heute manifestiert sich diese Differenz vor allem in den Preisen, die für Autographen bezahlt werden, von Kunstwerken mit entsprechenden Unterschriften ganz abgesehen. Selbst ein massenhaft reproduziertes Foto kann qua Unterschrift re-auratisiert, fetischisiert und in einen Kult überführt werden. Jedenfalls scheint die Fotografie Züge der Hand, ihre Inschriften de manu propria und die damit verbundene ontologische Dignität in eine Krise zu stürzen.

11 Ebd. S. 58. 12 Ebd.

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Dieses Medium ist nicht nur für die Kunst eine Art Nullpunkt des Handanlegens, wie der Proust-Leser und Detail-Liebhaber Walter Benjamin in seinem Aufsatz zur technischen Reproduzierbarkeit behauptet, bevor er den Verlust der Aura durch neue Reproduktionstechniken diagnostiziert: »Das Kunstwerk ist grundsätzlich immer reproduzierbar gewesen. Was Menschen gemacht hatten, das konnte immer vom Menschen nachgemacht werden.«13 Was die Fotografie von Guss und Prägung der Antike, wie von jüngeren Reproduktionstechniken für Bilder, wie Holzschnitt, Kupferstich, Radierung oder Lithographie unterscheide, sei das frei-Werden der Hand: »Mit der Photographie war die Hand im Prozeß bildlicher Reproduktion zum ersten Mal von den wichtigsten künstlerischen Obliegenheiten entlastet, welche nunmehr dem ins Objektiv blickenden Auge allein zufielen.«14 Das Auge kann die Welt jetzt schneller erfassen, als die Hand sie jemals zeichnen könnte. Laut Benjamin sei ein Resultat dieser Entlastung, dass Bilder so schnell produzierbar sind, wie gesprochen werden kann. In den Metaphern einer spektralen Ontologie könnte man für unseren Zusammenhang sagen, dass die noch nicht frei gewordene, hand-werkende Künstlerhand, die mit einem gegenüber der Fotografie enormen Zeitverbrauch einhergeht, gespenstisch wiederkehrt ›im‹ Auge des Betrachters und damit auch des Theoretikers Warburg, der sie als Phantomhand auf den Abgrund der schwarzen Pappkartons heftet. Sie geistert in solchen metonymischen Spiegelungen bereits durch die ästhetischen Symbol-Theorien des 19. Jahrhunderts, die das Auge als eine Art Hand betrachten, das die Dinge geistig »berühren« oder sie »abtasten« kann, bei gleichzeitigem Berührungsverbot der Sache selbst.15 Gespenstisch sind diese Verdoppelungen der Hand, die im Reich des Geistes oder, wie im Falle Warburgs, des Imaginären wiederkehren. In den Worten Benjamins könnte man sagen: Durch Fotografie und Film verschwindet die Hand des Künstlers im Optisch-Unbewussten des Auslösers und feiert als Phantomhand, als absolutes Partialobjekt, ihre Wiederauferstehung im Bilderatlas Mnemosyne.

13 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 1977, S. 7-45, hier: S. 10. 14 Ebd. S. 10f. 15 Mannigfache Beispiele für diesen Zusammenhang lassen sich unter dem Projekt Antastbare Visualität schnell aufsuchen im Archiv des Beispiels (http://beispiel. germanistik.tu-dortmund.de/search.html).

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II. E IN D IKTATOR IN H ANDSCHUHEN ; B ILDER EINER R EISE Ganz ungewöhnlich und wenig untersucht ist die Tafel 7816 des Warburgschen Bilderatlas. Sie versammelt keine Reproduktionen von Kunstwerken, tatsächlich ist im engeren Sinne kein einziges auf ihr zu sehen, sondern Fotografien von der Unterzeichnung der römischen Lateranverträge durch Kardinal-Staatssekretär Pietro Gasparri und den Ministerpräsidenten Benito Mussolini, am 11. Februar 1929:

Abbildung 1: Aby Warburg, Bilderatlas Mnemosyne, letzte Serie Tafel 78, © The Warburg Institute, London

16 Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne, in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, zweite Abt., Bd. II.1, 4. Aufl., hg. von Warnke, Martin, Berlin: Akademie Verlag 2012, S. 131. Leichter erreichbar ist die ›Online-Ausgabe‹ auf der Seite von Peter Matussek: http://www.peter-matussek.de/philipp/mnemo/frames.html. Zur genauen Darstellung der noch vorhandenen Archivstücke in der KBW vgl. van Huisstede, Peter: Der Mnemosyne-Atlas, in: Warburg, Aby M.: ›Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott‹, S. 130-172.

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Die Lateranverträge werden später durch Papst Pius XI und den König von Italien, Vittorio Emanuel III. ratifiziert, d.h. nochmals beurkundet und unterschrieben. Beide Unterschriften, samt Siegeln, finden sich auf der Tafel. Gelöst wird durch diese Verträge die sogenannte »Römische Frage«, die sich seit der Auflösung des Kirchenstaates 1870 für die Souveränität des Papstes und seines Territoriums ergeben hatte, das de facto nur noch die Vatikanstadt war. Nach Gründung des Nationalstaates war der Papst einfacher Mitbürger Italiens geworden, wenn auch mit bestimmten Vorrechten, garantiert durch das gleichnamige Garantiegesetz von 1871.17 Dieses Gesetz wird durch die neuen Verträge aufgehoben und sie verleihen »dem Heiligen Stuhl zur Sicherstellung völliger und sichtbarer Unabhängigkeit eine unstreitige Souveränität auch auf internationalem Gebiet […] und das volle Eigentum sowie die ausschließliche und unumschränkte souveräne Gewalt und Jurisdiktion des Heiligen Stuhles.«18 Die römischkatholisch-apostolische Religion wird als Staatsreligion festgeschrieben. Im Gegenzug erklärt der Papst im Artikel 26 (I) die »[…] ›Römische Frage‹ für beigelegt und somit für erledigt, und erkennt das Königreich Italien unter der Dynastie des Hauses Savoyen mit Rom als Hauptstadt des Italienischen Staates an.«19 Neben detaillierten Regelungen des vatikanischen Eigentums, seiner Finanzen und der Reisefreiheit für päpstliche Gesandte, ist erwähnenswert, dass dem Vatikan ein eigener Bahnhof zugesprochen und er darüber hinaus an das mediale Verkehrsnetz angeschlossen wird: »Ebenso wird es [der italienische Staat, P.R.] für die telegrafische, telefonische, radiotelegrafische, radiotelefonische und postalische Verbindung der Vatikanstadt auch unmittelbar mit anderen Staaten sorgen.«20

17 Vgl. »Gesetz des Italienischen Staates über die Vorrechte des Papstes und des Heiligen Stuhls und über das Verhältnis des Staates zur Kirche (Garantiegesetz), 16. Februar 1871«, in: Auswahl wichtiger Aktenstücke zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin: Seehagen 1893. Dieses Gesetz wird durch die Lateranverträge aufgehoben. 18 »Die Lateran-Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 11. Februar 1929. Italienischer und deutscher Text. Autorisierte Ausgabe, mit einer Einleitung des päpstlichen Nuntius Eugenio Pacelli«, Freiburg: Herder 1929, S. 9. Tatsächlich findet sich in der uns vorliegenden Ausgabe auch die eigenhändige, nicht faksimilierte Unterschrift des Nuntius unter seinem Vorwort. 19 Ebd. S. 31. 20 Ebd., Artikel 6 (III), S. 13. Auf der Tafel 78 des Bilderatlas’ findet sich auch das erste Telegramm Papst Pius XI. an den König, von der neuen Telegraphenstation.

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Wie es die Geschichte will, hält sich Warburg zeitgleich in Rom auf. Diese Reise, unternommen mit seiner engsten Mitarbeiterin und Cassirer-Schülerin Gertrude Bing, ist im Tagebuch der KBW und in der Forschung bestens dokumentiert; ebenso wie Warburgs politische Einschätzung Mussolinis, die, nach anfänglicher Begeisterung, einer recht kritischen Einschätzung weicht.21 Sein ikonologisches Interesses an dem Diktator richtet sich neben der Unterschriftenszene der Tafel 78 auf weitere Fotografien, auf denen Mussolini mit seiner Löwin »Italia« abgebildet ist: das eine mit dem noch jungen Tier im Auto, ein anderes hinter den Gittern des Geheges im Zoologischen Garten in Rom. Auf diesem Foto sind die Hände des Diktators in Handschuhen zu sehen, flankiert von den Pranken des Löwen. Einen Löwen zu bändigen, heißt auch, die Macht der Hände über die der Pranken zu stellen. Der Herkunft dieses »fleischgewordenen Emblems«, eines interessanten Falls politischer Zoologie, widmet sich Warburgs Bildtafel 77, der vorletzten Fassung von Mnemosyne.22 Mussolini hatte seine Führerrolle astrologisch hergeleitet, stand die Sonne doch an seinem Geburtstag, dem 29. Juli 1883, im Zeichen des Löwen. Sein Ausspruch »Besser einen Tag wie ein Löwe leben als hundert Jahre wie ein Schaf« ist nicht nur in Italien sprichwörtlich geworden.

21 Zur Dokumentation von Warburgs und Bings Romreise, vom 17. November 1928 – 28. April 1929, vgl. A. Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Bd. VII., hg. v. Michels, Karen/Schoell-Glass, Charlotte, Berlin 2001, S. 369-443. Vgl. Zapperi, Roberto: Alle Wege führen nach Rom. Die ewige Stadt und ihre Besucher, übers. v. Ingeborg Walter, München: Beck 2013, S. 221-236. Die beachtenswerteste Analyse zu Mussolinis Rolle in den späten Arbeiten Warburgs (Briefmarke, ›Löwenphotographien‹, Tafel 78, Bildtafel »Mussolini«) liefert Klenner, Jost Philipp: Der Duce ist nicht aus Email, in: Ordnungen der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, hg. v. Hartwig, Wolfgang, München: Oldenbourg 2007, S. 449-481. 22 Eine Abbildung dieser Tafel und ihres Inhalts findet sich bei J. P. Klenner: Der Duce ist nicht aus Email, S. 479.

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Abbildung 2: Mussolini mit seiner Löwin »Italia«, Bilderatlas Mnemosyne, vorletzte Serie Tafel 77, © The Warburg Institute, London

Warburgs Tafel enthält neben dieser Fotografie Darstellungen von Münzen und Briefmarken, jenen »Bilderfahrzeugen«, die er als »Transfermedien visueller Botschaften« verstand, »in denen bereits seit der Antike geprägte Pathosformeln […] ihre Reise durch Zeit und Raum in der Moderne fortsetzen«23. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Warburg dabei einer bestimmten Briefmarke, die das »Mussolini-Symbol«24 schlechthin zeigt: das Fascis, ein Rutenbündel, in dem eine Axt steckt. Dass es sich dabei um ein besonders ›handgreifliches‹ Symbol handelt, macht weniger die Briefmarke deutlich, auf der überhaupt keine Hand zu sehen ist, sondern metonymisch nur das ›zuhandene Zeug‹ der Axt. Die Hand selbst, die an diese Axt angeschlossen werden oder sich durch sie gewaltsam verwirklichen kann, ist Teil und Detail jener Skizze, die Warburg anfertigt, um die historische Transformation des Liktorenbündels zu sortieren. Dabei handelt es sich offenkundig um eine Bündnisszene, bei der das Liktorenbündel in Verbindung mit dem Handschlag die Stabilität einer ›geistigen‹ Verbindung bekräftigt:

23 Fleckner, Uwe/Woldt, Isabella: Die Funktionen der sozialen Mneme als Bewahrerin der antikisierenden Dynamo Engramme der Gebärdensprache, in: Warburg, Aby: Bilderreihen und Ausstellungen, hg. v. dies., aus: Gesammelte Schriften, 2. Abt., Band II.2 (Studienausgabe), hg. v. Pfisterer, Ulrich [u.a.], Berlin: Akademie 2012, S. 135151, hier S. 136. 24 Vgl. dazu J. P. Klenner: Der Duce ist nicht aus Email, S. 463f.

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Abbildung 3: Skizze Liktorenbündel, Zettelkasten [3], Nr. 043818, © The Warburg Institute, London

Abbildung 4: Briefmarke aus dem Deutschen Reich mit den Fascis links, Wikimedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:DR_ 1941_763_Benito_Mussolini_und_Adolf_Hitler.jpg [letzter Zugriff: 21.09.2015]

III. Zwischen Greif- und Denkmensch: Symbol und Phantomhände Auf der Tafel 78 selbst finden sich die Fotografien eigenhändiger Unterschriften von Papst Pius XI. und König Vittorio Emanuel III., dazu jene Szenen, die den Diktator und den Staatssekretär Gasparri zeigen, während sie die Lateranverträge unterschreiben. Bevor diese Szene genauer betrachtet wird, gilt es zumindest ru-

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dimentär den Status der ›hantierenden Hand‹ zu klären, wie Warburg sie in seiner polaren Kulturtheorie konzeptualisiert hat. Vielleicht lassen sich diese Überlegungen auch auf die Tafel 78 beziehen, die im Atlas als einzige vollständig auf kunstgeschichtliches Material verzichtet. Die Hand ist ein besonderes Organ. Schon Aristoteles bezeichnete sie als Werkzeug aller Werkzeuge. Seitdem geistert dieses Leitorgan und -werkzeug nicht nur durch die Philosophie, um zuletzt gar das Wesen des Menschen auszumachen, sondern auch aktuelle Kultur- und Medientheorien diskutieren ihre Relevanz für das Verständnis einer technologischen Ko-Evolution des Menschen.25 Was erst viel später von Elias Canetti und Marshall McLuhan auf medientheoretische Höhen gehoben wird, ist bei Aby Warburg bereits im Ansatz entwickelt. Gemeint ist der anthropologische Grundgedanke, der Mensch sei ein »tool using animal«26, der seine Organe durch Artefakte, Geräte oder Medien technisch erweitert, die wiederum Rückwirkungen auf seinen Körper haben, indem sie geistig wie körperlich in ihn ›einwandern‹, um wiederum zu neuen ›Ausweitungen‹ zu führen. Anthropologisches Fundament von Warburgs theoretischer Spekulation ist der Mensch als ein Wesen, das sich bewusst die Welt vom Leib halten kann. Jener ›Raum‹, der aus dieser Trennung von seiner Außenwelt entsteht, wird imaginär besetzt, zum »Substrat künstlicher Gestaltung« und qua Kunst zur »sozialen Dauerfunktion«27 eines kollektiven Gedächtnisses. Der Künstler agiert zwischen polaren Weltanschauungen28: Einer letztlich mathematischen Rationalität, die den Kosmos kalkulierbar macht und sich dabei affektiv bis zum Nullpunkt einer begrifflichbesonnenen Schau (Sophrosyne) abkühlt und einer religiösen, die ihn durch Namen und Symbole, aber auch durch rituell-orgiastische Hingabe handhabbar

25 Vgl. dazu die Übersicht in Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan: Kultur. Ein Maschinarium des Wissens, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 60-80 u. Risthaus, Peter: Klaue, Pfote, Hand – Zum anthropogenen Zwischenraum, in: Politische Zoologie, hg. v. Vogl, Joseph/von der Heiden, Anne, Zürich u. Berlin: Diaphanes 2007, S. 57-71. 26 Es handelt sich um eine Wendung aus Carlyes, Thomas: Sartor Resartus. Hier zit. n. Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft, in: Warburg, Aby M.: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, 2. verbess. Aufl., hg. v. Wuttke, Dieter, BadenBaden: Koerner 1980, S. 401-419, hier: S. 413. 27 Vgl. zu diesen Begriffen A. Warburg: Mnemosyne Einleitung, in ders.: Werke in einem Band, S. 629-640, hier S. 629. 28 Vgl. Schema 1.

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macht.29 In Warburgs Geschichtsbetrachtung lösen sich diese Polaritäten nicht einfach epochal ab, sondern korrespondieren, ähnlich wie Nietzsches Kunsttriebe des Dionysischen und Apollinischen. Zeichen und Symbole (»Energiekonserven«30) erweisen sich dabei als jene ›Mächte‹, die dauerhaft für eine dem Menschen überlebensnotwendige Außenweltdistanz sorgen und diese »Entfernung« auf Dauer stellen. Einerseits bannen sie das Chaos und die Angst der anfänglichen Verschlingung mit der Welt, die den Menschen beständig bedrohe, andererseits werden ihre Kräfte kanalisiert und durch das Bild für die Zukunft übertragungsfähig gemacht.31 Eine Kindergeschichte, die Warburg in der Klinik Bellevue aufschreibt, um seinem Arzt Ludwig Binswanger die Therapie zu erleichtern, gibt weitere Auskunft über das Verhältnis von Bild und Denken. Warburgs Erinnerungen handeln von fiebrigen Bildern und Sinneseindrücken, die durch eine Typhuserkrankung im sechsten Lebensjahr ausgelöst wurden: »Ich weiß heute noch, wie die Kinderpistole roch, die ich in die Hand bekam, die Bouillontasse an sich und die Bouillon darin«32. Auch ein kleiner Wagen mit Pferden, der auf der Fensterbank

29 Diese Schematisierung findet sich in A. Warburg: »Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde«, in: Frammenti sull’espressione, hg. von Müller, Susanne, übers. von Maurizio Ghelardi und Giovanna Targia, Pisa 2011. 30 Dass Warburg auf eine elektrische Metaphorik zurückgreift, liegt, so der Vorschlag von Ulrich Raulff, an der Übernahme entsprechender Begriffe aus einer nichtuniversitären Disziplin: »Die Elektrotechnik, gegen Ende des 19. Jahrhunderts an die Spitze der führenden Technologien gerückt, hatte schon früh ihre Spuren in Warburgs Vokabular hinterlassen. Zwar mag der für Warburgs Theoriebildung zentrale Begriff der ›Polarität‹, wie Gombrich vermerkt, romantischen Ursprungs sein; in Verbindung mit dem ihn umgebenden Vokabular (›Ladung‹, ›Spannung‹, ›Schwingungen‹) und seiner Semantik nimmt auch er jetzt eine neue, technische Farbe an.« Vgl. Raulff, Ulrich: »Der Teufelsmut der Juden. Warburg und Nietzsche in der Transformatorenhalle, in: Wilde Energien, Göttingen: Wallstein 2003, S. 117-151, hier S. 129. Warburgs Gedächtnistheorie rüstet elektrisch auf: Künstler sind als Erbschaftsverwalter quasi Transformatoren und ihre Werke Spannungs- und Entladungsmonster. Die epistemische Intertextualität von Warburg und Richard Semon ist ausführlich an den entsprechenden Quellen ausgeführt worden von Rieger, Stefan: Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne, in: DVjs, 72. Jahrgang 1998, Sonderheft (Medien des Gedächtnisses), S. 245-263. 31 Der Begriff »Pathosformel« umfasst selbst diese Polarität. 32 Warburg, Aby: »Erstes autobiographisches Fragment«, in: ders. u. Binswanger, Ludwig: Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte, hg. v. Marazia, Chantal/Stimilli, Davide, Zürich, Berlin: Diaphanes 2007, S. 101-103, hier S. 101.

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stand, gehört zu diesen Erinnerungen: Aus diesen Zeiten stammt die Furcht, die durch unproportioniert zusammenhangslose Bilderinnerungen oder Sinnesreize der Geruchs- oder Gehörorgane hervorgerufen wurden, die Angst, die das Chaos hervorruft, der Versuch, intellektuell Ordnung in dieses Chaos zu bringen – ein Versuch, der ja als der tragische Kindheitsversuch des denkenden Menschen überhaupt bezeichnet werden kann.33 Was im Bilderatlas versucht wird, findet bereits – die autobiographische Nachträglichkeit macht es möglich, – in seiner Kindheit statt. Eine konstruierte Erfahrung, die gleichzeitig als Urszene einer zur Vernunft kommenden Menschheit dient. Tragisch ist dieser Versuch allein deshalb, weil jede intellektuelle Ordnung, jeder neue Zusammenhang, ein anderes Chaos produziert. Der Künstler bildet daher nicht einfach einen Schutzschirm vor diesem Chaos, im Gegenteil transformiert und verstärkt er ihre Kräfte und setzt sie »mitstilbildend« ein, so dass sie als Erbe in das Individual- und Kollektivgedächtnis übergehen können34. Was in dieses Gedächtnis gelangt, sind vor allem jene Affektbewegungen, die sich nicht nur in den Gesten und Gebärden des Bildpersonals, sondern vor allem im detaillierten Beiwerk des Bildes ausdrücken: in den Schlangen, die Laokoon umringen, aber genauso in »Haar und Gewandung –, die man als dekorativen Künstlereinfall abzutun pflegte«35.

33 Ebd. 34 Vgl. Ebd.: »Es setzt die unverlierbare Erbmasse mnemisch ein, aber nicht mit primär schützender Tendenz, sondern es greift die volle Wucht der leidenschaftlich-phobischen, im religiösen Mysterium erschütterten gläubigen Persönlichkeit im Kunstwerk mitstilbildend ein, wie andererseits aufzeichnende Wissenschaft das rhythmische Gefüge behält und weitergibt, in dem die monstra der Phantasie zu zukunftsbestimmenden Lebensführern werden.« Vgl. dazu die Vorbemerkung der Herausgeber von Werke in einem Band, S. 610: »In Anschluß an Semons Konzept der Mneme, das für das Theorem des vererbbaren Gedächtnisses steht, hat Warburg ein ganzes Repertoire seiner eigenwilligen Begrifflichkeit geschaffen: wie ›(gedächtnimäßige Erbgutfunktion‹, ›(geistige) Erbgutverwaltung‹, ›gedächtnisbewahrtes (Gesamt-) Erbgut‹, ›Erbmasse‹ u.a.m.. Die zentrale Bedeutung des Begriffs des Erbes für die Arbeit der letzten Jahre ist auch durch ein kleines Notizheft mit dem Titel Zwischen den Erbmassen belegt, das unpubliziert und in der Forschung bisher nicht beachtet worden ist.‹« 35 Warburg, Aby: Vom Arsenal zum Laboratorium, in: Werke in einem Band, S. 685. Dass es sich bei dem Bilderatlas nicht einfach um eine unbewegliche Bildersammlung, sondern um »eine Repräsentation der Gesten der abendländischen Menschheit – vom klassischen Griechenland bis zum Faschismus –« handelt, wurde ganz zu Recht

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Künstlerische Gestaltung findet als Prozess zwischen Phantasie und Vernunft statt, in dem die Hand eine eigenwillige und rätselhafte Rolle spielt: »Zwischen imaginärem Zugreifen und begrifflicher Schau steht das hantierende Abtasten des Objekts mit darauf erfolgender plastischer oder malerischer Spiegelung, die man den künstlerischen Akt nennt.«36 Der primitive Greifmensch kenne noch kein retardierendes Moment zwischen Reiz und Erregung, keinen Aufschub und schon gar keine metaphorische Übertragung von den handelnden Händen zum vergeistigten Begriff. Der anthropologische Nullpunkt ist für Warburg sozusagen ein Automatismus, der unmittelbar zupackt oder loslässt. Erst wenn die Vorstellung oder gar die Einbildungskraft dazwischen tritt und damit ein Bild, wird dieser Automatismus unterbrochen. Erst so erklärt sich auch das imaginäre »Zugreifen«, bevor die Hand sich tatsächlich ihr Objekt oder ihre Beute greift. Der ›primitive‹ Mensch schlüpfe durch Maskerade, Tanz oder Zauberei mimetisch in seine Beute hinein, versuche so, etwas von den tierischen Kräften auf sich zu übertragen. Die Beute ist somit bereits ergriffen, bevor sie in die Hände des Jägers fällt: »Durch Hineinschlüpfen in die Tiermaske wird beim Jagdtanz das Tier gleichsam durch Vorgreifen angeeignet, in Nachahmung des Jagd-Angriffes.«37 Die ethnologischen Beobachtungen der Pueblo-Indianer in Mexiko offenbaren Warburg einen Übergangszustand des Menschen, in dem er nicht mehr ein unmittelbarer Greifmensch ist, aber ebensowenig voll aufgeklärter Denkmensch, der durch kausal-logische Überlegungen seine Zukunft antizipieren kann: Dieses Nebeneinander von logischer Zivilisation und fantastisch magischer Verursachung zeigt den eigentümlichen Misch- und Übergangszustand, in dem sich die Pueblo-Indianer befinden. Sie sind keine wirklich primitiven Greifmenschen mehr, für die eine auf die weitere Zukunft bezogene Tätigkeit nicht existiert, aber sie sind auch noch keine technologisch beruhigten Europäer, die das zukünftige Ergebnis als organisch oder mechanisch gesetzmäßig eintretend abwarten. Sie stehen in der Mitte zwischen Magie und Logos, und ihr Instrument, mit dem sie sich zurechtfinden, ist das Symbol. Zwischen Greifmenschen und Denkmenschen steht der symbolisch verknüpfende Mensch.38

festgehalten von Agamben, Giorgio: Noten zur Geste, in: Mittel ohne Zweck, übers. v. Sabine Schulz, Berlin: Diaphanes 2001, S. 53-62, hier: S. 37. 36 Warburg, Aby: Mnemosyne Einleitung, S. 629f. 37 Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, 5. Aufl., mit einem Vorw. v. Ulrich Raulff u. einem Nachw. zur Neuausg. v. Claudia Wedepohl, Berlin: Wagenbach 2011, S. 33. Dieser Zusammenhang wird ganz ähnlich dargestellt von Canetti, Elias: Masse und Macht, 29. Aufl., Frankfurt a.M. 2003, S. 247f. 38 Ebd. S. 31f.

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Die Pueblo-Indianer verfügen bereits über die Mittel symbolischer Manipulation. Hier beginnt das Reich des Künstlers39, der zwischen Greifen und Denken agiert, wie folgende Tabelle Warburgs festhält, die vollständig die (polare) ›Umfangsbestimmung des Symbols‹ darstellen soll: Tabelle 140

An diesem Schema ist festzuhalten, dass die größte Polarität zwischen Greifen und Schreiben besteht. Alles, was Warburg über den Umfang des Symbols festhält, muss vor dieser letzten Polarität gelesen werden, was für die Signaturen von Tafel 79 von einiger Bedeutung ist: Wer schreibt und unterschreibt, der hat zwischen den Reizen der Welt und seinen eigenen Erregungen eine maximale, oder in anderen Worten eine institutionelle Distanz gelegt. Andererseits gerinnt diese abständige Geste wiederum zu einer Pathosformel, wenn sie, wie auf den Fotografien, zum Bild wird, das eine Geste festhält, an dem wiederum die Details von Interesse sind. Warburg entwickelt seinen Symbolbegriff, daran hat bereits Edgar Wind keinen Zweifel gelassen, aus der Lektüre von Friedrich Theodor Vischers Aufsatz Das Symbol und jener psychologischen Ästhetik, wie sie beinahe zeitgleich

39 Vgl. Warburg, Aby: Symbolismus als Umfangsbestimmung, in: Werke in einem Band, S. 615-627, hier: S. 618: »Das Kunstwerk ist ein Erzeugnis des wiederholten Versuches abseiten des Subjectes, [das] zwischen sich und das Object eine Entfernung zu legen versucht.« 40 A. Warburg: Symbolismus als Umfangsbestimmung, hier S. 626.

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zu seinen eigenen Untersuchungen Konjunktur hat.41 Einer ihrer Hauptvertreter ist wiederum der Sohn Vischers, Robert, dessen Buch Über das optische Formgefühl bereits in Warburgs Dissertation zitiert wird. Es lohnt sich ein kurzer Blick in dieses kleine Buch, weil es die physiologischen Prozesse des Sehens anhand einer hantierenden Hand expliziert, die Augäpfel steuerbar macht. Vischers Frage lautet: Was unterscheidet das schlichte »Hinsehen« vom »Schauen« und zuletzt dem »Blick« des Künstlers? Antwort: Das einfache Sehen sei ein ganz passiver Akt, bei dem es weder Konzentration noch gerichtete Bewegungen der Augäpfel gibt; sie laufe ganz und gar unbewusst ab. Ergebnis dieses Sehens sei ein weitgehend indifferenter »träumerischer Schein vom Ensemble«42. Vischer gebraucht eine neue (absolute) Metapher, um diese Passivität der Bildproduktion anschaulich zu machen: »Es handelt sich hier […] um die Photographie des Gegenstandes in unserem Auge.«43 Ist das reine Sehen ein Fotoapparat ohne auslösenden Fotografen, der nur indifferente Traumbilder macht, konturiert das bewusstere »Schauen« dagegen ein der Künstlerhand analoges Bild, das ›gemalt‹ oder ›gezeichnet‹ ist. Dabei zerfällt das Schauen, bei dem die Augäpfel in Bewegung geraten und sozusagen alle Dimensionen abtasten, in zwei Modi, die man entsprechend Kontur und Textur nennen könnte: […] das eine Mal ist es ein Linienziehen, wobei ich mir haarscharf, gleichsam mit der Fingerspitze die Umrisse nachweise, das andere Mal – und dies das Natürliche, weniger Reflektierte – ist es ein Anlegen von Massen, wobei ich den Flächen, Anschwellungen und Vertiefungen eines Gegenstandes, den Bahnen der Beleuchtung, den Halden, Rücken, Mulden des Gebirges gleichsam mit der breiten Hand nachfahre.44

Vischer wird es nicht beim »gleichsam« seiner zeichnend-malenden Analogie belassen, sondern eine Theorie formulieren, wie die Hand sich ins Auge einschreibt und dabei en passant den Raum konstituiert, oder besser gesagt, sich einverleibt. Habe er in der oben zitierten Stelle die Hand nur »symbolisch«, wie

41 Vgl. Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft, in: Warburg, Aby: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, 2. verbess. Aufl., hg. v. Wuttke, Dieter, BadenBaden: Koerner 1980, S. 401-419. 42 Vgl. Vischer, Robert: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig: Credner 1883. S. 2. 43 Ebd. S. 1. 44 Ebd. S. 2. Vischer selbst unterscheidet in einer Fußnote diese Modi als einerseits »zeichnerisch« andererseits als »plastisch malerisch«.

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er selbst sagt, eingeführt, möchte er jetzt ihren innigen Zusammenhang mit dem Auge aufklären. Hand und Auge sind »verwandter Natur; denn das Tasten ist ein ›derberes Schauen‹ in die unmittelbare Nähe, das Sehen ein ›feineres Tasten‹ in die Ferne.«45 Vischers Schluss ist ganz eindeutig: Ohne Tastsinn kein (räumliches) Sehen und keine Nähe, ohne Sehen wiederum weder Licht noch Farbe der Dinge, zudem keine Entfernung. Nur durch ihre wechselseitige Substitution kann es überhaupt Anschauung (und Begriff) geben. Bereits Kinder würden tastend sehen lernen, nach dem Mond greifen wie nach einem Teller und aus dieser Unfasslichkeit die Ferne allererst erlernen. Die Hand wird zum »unentbehrlichen Associé und Korrektor des Auges«46, die sich in das Sehen selbst einschreibt und als Phantomhand jene Linien zieht und Texturen sichtbar macht, die Vischer zunächst rein symbolisch darzustellen suchte, aber in Wirklichkeit das »gleichsam« und damit die Rhetorik aus seiner Abhandlung streicht. Was Warburg mit Vischer verbindet, ist dieser Moment der hantierenden Einverleibung, der den Raum als Leistung von Auge und Hand entstehen lässt, deren wechselseitige Substitution mehr ist als die Addition zweier Sinne. Dieses wechselseitige Eindringen des Objekts in das Subjekt, die Belebung des Anorganischen durchs Organische, all das geschieht durch diese Phantomhand, die nicht zu sehen ist, aber in deren Griff sich jeder befindet, der Bilder anschaut. Von ihr bleibt nur die Spur einer anfänglichen Geste, die selbst kein Bild gewesen ist. Georges Didi-Hubermann leitet daraus eine Macht des Bildes ab, die wahrlich den Namen einer ›Gespenstergeschichte für ganz Erwachsene‹ verdient: »Das Bild reicht uns nicht nur die Hand, es nimmt unsere Hand und zieht uns – atmet uns ein, verschlingt uns – ganz und gar in die ›magische‹, ›geheimnisvolle‹ Bewegung der einfühlenden Anziehung hinein.«47

45 Ebd. S. 3. 46 Ebd. Es handelt sich dabei um die Fortführung eines Gedankens, den Gustav Adolph Lindner in seinem Lehrbuch der empirischen Psychologie: als iductiver Wissenschaft. Für den Gebrauch an höheren Lehranstalten und zum Selbstunterrichte, 2. umgearb. u. erw. Aufl., Wien: Carl Gerolds Sohn 1868, S. 113f., entwickelt hat: »Die Aehnlichkeit zwischen diesen beiden Vorgängen besteht wohl nur darin, daß sowie durch das äußere Schauen der Gegenstand an uns hinangezogen und durch die Vorstellung zu einem Bestandtheil unseres Bewußtseins gemacht wird, ebenso die Vorstellung selbst durch das innere Schauen an unser Ich herangezogen und zu einem Bestandtheile unseres Selbstbewußtseins erhoben wird.« Den Hinweis verdanke ich Jessica Güsken. 47 Didi-Hubermann, George: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, übers. v. Michael Bischoff, Berlin: Suhrkamp 2002. S. 453.

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IV. G ESTEN UND S IGNATUREN : B ILDER EINER U NTERSCHRIFT In einem Bildgedächtnis, das sich mit dem Nachleben der Antike, mit »Engrammen«, »Mnemen«, »Pathosformeln« und »Dynamogrammen«48 befasst, überrascht das, was nicht zu sehen ist. Auf der Tafel 78 von Mnemosyne sehen wir zwar den Papst in vollem Ornat während einer Messe im Petersdom49; dessen signierender Vertreter Gasparri ist am Verhandlungstisch zu sehen und auch Mussolini und seine Gefolgschaft. Was aber in dieser Montage offensichtlich fehlt, ist zunächst das Portrait des Königs. Nur seine Unterschrift auf der Ratifikationsurkunde findet sich, gleich neben der von Papst Pius XI. Der eine Körper des Königs, sein ›Leib‹, bleibt unsichtbar, aber die Unterschrift, der Schriftzug seines Namens, repräsentiert ihn, um in den Worten Louis Marins zu reden, als »symbolische Fiktion«50, die dafür sorgt, dass er nicht nirgendwo ist. Ebensowenig sind die Unterschriften von Mussolini und Gasparri unter den Lateranverträgen zu finden:

Abbildung 5: Die Unterschriften Gasparris und Mussolinis51 In: Die Lateran-Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 11. Februar 1929. Freiburg: Herder 1929, S. 12.

48 Zur Übersicht dieser mnemischen ›Energetik‹ vgl. nochmals die Studien von U. Raulff: Wilde Energien, bes. S. 126-135 und die Ausführungen Agamben, Giorgio: Aby Warburg und die namenlose Wissenschaft, in ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. v. Francesca Raimondi, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 139167, hier S. 146-149. 49 Auch im Tagebuch der KBW findet sich dieses Bild, das eingelegt war. Vgl. A. Warburg: »Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek«, S. 408. In den Tagebucheinträgen beschreiben Bing und Warburg, dass sie gerade nicht sehen, was sich an Ritualen am Hochaltar vollziehen wird. Sie verlassen den Petersdom und gelangen auf die Piazza, wo sie die 250000 Personen sehen können, die sich »zum ersten Mal seit 60 Jahren, von dem Stellvertreter Christi von der Loggia von Sankt Peter aus segnen lassen wollte[n] (S. 407).« Ein entsprechendes Bild findet sich auch auf der Tafel 78 (22), vgl. Warburg: Mnemosyne, S. 131. Was wir nicht sehen, ist der Segen. 50 Louis Marin: Das Portrait des Königs, übers. v. Heinz Jatho, Berlin 2005. S. 24. 51 Insgesamt finden sich diese Unterschriften dreimal: Unter dem Vertrag (Trattato), dem Finanzabkommen (Conventione Finanziaria) und dem Konkordat (Concordato).

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Die Tafel trägt die Überschrift Kirche und Staat. Geistliche Macht unter Verzicht auf weltliche. Dass in dieser Signaturszene eine Übertragung von (absoluter) Macht stattfindet, wie sie vielleicht in der Geschichte einzigartig ist, lässt sich auch noch an einem anderen Detail ablesen, einer Geste, die sich auf eigenartige Weise wiederholt, d.h. verschiebt. Auf dem Foto, das den Papst beim feierlichen Hochamt nach der Unterzeichnung der Lateranverträge am 12. Februar 1929 zeigt, verschränkt er seine geöffneten Hände über dem Brustbein, vor dem Herzen. Es handelt sich um eine uralte liturgische Gebetsgeste52, die sogenannte cancellatio manuum, deren Ursprung – so die liturgie- und kunstgeschichtliche Forschung – bereits in den Königszeremonien des Orients zu finden ist und erst im späten Mittelalter in die westliche Liturgie gelangt. Auch mit dieser Geste hat bereits eine Inversion stattgefunden. Es handelt sich anfänglich um eine Affektgeste, die starke Inbrunst zum Ausdruck bringt, jetzt gehört sie zum Repertoire inniger Sophrosyne53:

Abbildung 6: Papst Pius XI bei einer Messe, einen Tag nach der Unterzeichnung der Verträge, Postkarte 1929, © The Warburg Institute, London

52 Vgl. auch das Buchcover [Anm. der Herausgeber]. 53 Vgl. dazu die Dissertation von Martin Mäntele: Die Gesten im malerischen und zeichnerischen

Werk

Raffaels,

Tübingen

2010

(Online-Publikation:

http://nbn-

resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-52725), S. 58 und die einschlägige Arbeit von Groß, Karl: Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum, hg. v. Speyer, Wolfgang, Stuttgart: Hiersemann 1985.

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Auf dem Foto, das die Unterzeichnung selbst festhält, sehen wir Gasparri, während er signiert. Mussolini sitzt rechts neben ihm und hat seine Hände – auf die Vollendung von Gasparris Unterschrift wartend – in ähnlicher Manier gefaltet, allerdings verschränken sich seine Finger und bilden eine Art Käfig. Die Ellenbogen ruhen auf dem Dokument und befinden sich in einem kurzen Abstand zum Körper, sozusagen vom Herzen abgerückt, im Gegensatz zu den Händen des Papstes. Der Tod einer Metapher kann auch in einem ganz beiläufigen Detail stattfinden54:

Abbildung 7: ›Conciliazione‹ Papst Pius XI-Mussolini, Postkarte 1929, Mnemosyne: Tafel 78, © The Warburg Institute, London

Bei dieser Geste lässt sich wahrlich von einer »Inversion« sprechen, die Warburg zwar nicht in Hinblick auf die Unterschriftenzeremonie kommentiert hat, aber – nicht ohne Humor – auf die letzte Tafel im Bilderatlas, No. 79. Hier finden sich weitere Fotografien aus Rom und von Papst Pius XI., dazu Abbildungen von Arbeiten Giottos, Raffaels, Berninis und Boticellis. Nach seiner Rückkehr aus Rom und zum Anlass einer Doktorfeier kommt er in einer kurzen Ansprache auf die Bildbeilage des Hamburger Fremdenblattes vom 29.7.1929 zu sprechen,

54 Vom Herzen zum Gefängnis sozusagen. Ernst Gombrich resümiert den Segen auf dem Petersplatz folgendermaßen: »Warburg befand sich auf dem Petersplatz, als der Papst nach diesem Akt des Verzichts [der weltlichen Macht über Rom, P.R.], den er als einen Wendepunkt in der Geschichte interpretierte, die Menge segnete. Den Gegensatz zwischen den brutalen Machtsymbolen der Faschisten und dem Rückzug des Papstes auf eine rein symbolische Domäne betrachtete er als ein weiteres Glied in der langen Kette des menschlichen Weges zur Aufklärung.« Ernst Gombrich.: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992, S. 528.

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die sich auf der Tafel 7955 befindet. Sie zeigt unter anderem ein Foto des Papstes auf der sedia gestatoria, dem tragbaren Sessel, neben Bildern von Sportlern – genauer zweier Jockeys und eines Schwimmers im Badeanzug. Die Polarität, von der diese Zeitungsseite lebt, die »ganz entgegengesetzten Welten«, stehe in der Tradition uralter Monstrablätter. Überhaupt sei es der Gegensatz zwischen Monster und Monstranz, der sich hier (ironisch) als Inversion eines fundamentalen Glaubenssatzes aktualisiere: »Die Rohe Zusammenstellung zeigt, daß ganz unvermittelt das vergnügliche hoc meum corpus est neben dem tragischen hoc est corpus meum vor die Augen geführt werden kann, ohne daß die Diskrepanz zu Protest gegen solche barbarische Stillosigkeit führt.«56

Der sportive Körper ist der größte Gegensatz des heiligen, transsubstantiationsfähigen corpus. Implizit und wieder nicht ohne Humor wird Warburg die eigenen Montagen des Bilderatlas’ und damit vielleicht seine Methode überhaupt, eine ›rohe Zusammenstellung‹ nennen. Wer, wie Aby Warburg oder Fritz Saxl, den Gesten und Gebärden der heidnischen Antike auf der Spur ist, der muss vielleicht mit einer Unterschrift enden, die eine Geste genauso darstellt, wie sie das indexikalische Zeichen jener Macht ist, die den Willen von Königen und Päpsten, von Sekretären und Diktatoren erklärt und beglaubigt. Was diese Herrscher benötigen, ist ein Rest ihres Körpers, der erst Dokumente, Verträge oder Akten macht. Die Unterschrift ist Spur und Rest eines solchen Körpers mit Gesetzeskraft. Sie kann ebenso über Leben und Tod wie über das Ende oder den Anfang eines Reiches entscheiden. Was seinen Ausgang auf dem Schreibtisch des Kunsthistorikers Steinmann nahm, dem Autogramm des Diktators auf Mussolinis Foto, das Warburg als Ereignis in das Tagebuch notiert, endet im Allerhandgreiflichsten jener Unterschriften von Papst und König, die noch einmal die von Sekretären und Diktatoren gegenzeichnen. Dem Bilderatlas bleibt, den Umschlag der Gesten und den jetzt ironischen Spuk

55 Auf Tafel 79 befindet sich auch ein Ausschnitt aus der Berliner Zeitung »Tempo«, vom 3.9.1929, der Gustav Stresemann während der Unterzeichnung des Schlussprotokolls des Locarno-Vertrags zeigt. Die Verbindung dieser Szene mit dem Hostien-Kult, der Thema dieser Tafel ist, wird untersucht von Schoell-Glass, Charlotte: Aby Warburg’s Late Comments on Symbol and Ritual, in: Science in Context 12, 4 (1999), S. 621-642. Vgl. von derselben Autorin: Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik, Frankfurt. a.M.: Fischer 1998, S. 233-243. 56 A. Warburg: Notizbuch, 30. Juli 1929, zit. n. Ernst Gombrich: Aby Warburg, S. 531.

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dieser Phantomhände, in den ›Schichten‹ der Kunstgeschichte weiter zu transportieren.

LITERATUR Archiv des Beispiels (http://beispiel.germanistik.tu-dortmund.de/search.html) Agamben, Giorgio: Noten zur Geste, in: Mittel ohne Zweck, übers. v. Sabine Schulz, Berlin: Diaphanes 2001, S. 53-62. Agamben, Giorgio: Aby Warburg und die namenlose Wissenschaft, in ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, übers. v. Francesca Raimondi, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 139-167. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1977. S. 7-45. Didi-Huberman, George: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, übers. v. Michael Bischoff, Berlin: Suhrkamp 2002. Canetti, Elias: Masse und Macht, 29. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2003. Gesetz des Italienischen Staates über die Vorrechte des Papstes und des Heiligen Stuhls und über das Verhältnis des Staates zur Kirche (Garantiegesetz), 16. Februar 1871«, in: Auswahl wichtiger Aktenstücke zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin: Seehagen 1893. Gombrich, Ernst: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1992. Groß, Karl: Menschenhand und Gotteshand in Antike und Christentum, hg. v. Speyer, Wolfgang, Stuttgart: Hiersemann 1985. Hofmann, Werner: Der Mnemosyne-Atlas. Zu Aby Warburgs Konstellationen, in: Warburg, Aby: ›Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott‹. Portrait eines Gelehrten, hg. v. Galitz, Robert/Reimers, Brita, Hamburg: Dölling u. Galitz 1995, S. 172-183. Hensel, Thomas: Die Medialität der Kunstwissenschaft. Aby Warburg und die Fotografie, in: Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotografischem Material (2. Dezember 2012 – 3. März 2013), hg. v. Schmidt, Eva/Rüttinger Ines, Heidelberg: Kehrer 2012. S. 36-73. Jaspers, Karl: Philosophische Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe, München: Piper 1977.

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Klenner, Jost Philipp: Der Duce ist nicht aus Email, in: Ordnungen der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, hg. v. Hartwig, Wolfgang, München: Oldenbourg 2007, S. 449-481. Die Lateran-Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 11. Februar 1929. Italienischer und deutscher Text. Autorisierte Ausgabe, mit einer Einleitung des päpstlichen Nuntius Eugenio Pacelli, Freiburg: Herder 1929. Lindner, Gustav Adolph: Lehrbuch der empirischen Psychologie: als iductiver Wissenschaft. Für den Gebrauch an höheren Lehranstalten und zum Selbstunterrichte, 2. umgearb. u. erw. Aufl., Wien: Carl Gerolds Sohn 1868. Mäntele, Martin: Die Gesten im malerischen und zeichnerischen Werk Raffaels, Tübingen 2010 (Online-Publikation: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de: bsz:21-opus-52725). Marin, Louis: Von den Mächten des Bildes. Glossen, übers. v. Till Bardoux, hg. v. Heitz, Michael/Jatho, Heinz, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007. Pias, Claus: Ordnen, was nicht zu sehen ist, in Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven, hg. v. Ernst, Wolfgang/Heidenreich, Stefan/Holl, Ute, Berlin: Kadmos 2003, S. 99-108. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Bd. 1: In Swanns Welt, 5. Aufl., übers. v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979. Raulff, Ullrich: Der Teufelsmut der Juden. Warburg und Nietzsche in der Transformatorenhalle, in: Wilde Energien, Göttingen: Wallstein 2003, S. 117-151. Rieger, Stefan: Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne, in: DVjs, 72. Jahrgang 1998, Sonderheft (Medien des Gedächtnisses), S. 245-263. Schoell-Glass, Charlotte: Aby Warburg und der Antisemitismus. Kulturwissenschaft als Geistespolitik, Frankfurt. a.M.: Fischer 1998, S. 233-243. Schoell-Glass, Charlotte: Aby Warburg’s Late Comments on Symbol and Ritual, in: Science in Context 12, 4 (1999), S. 621-642. van Huisstede, Peter: Der Mnemosyne-Atlas, in: Aby M. Warburg: ›Ekstatische Nymphe … trauernder Flußgott‹. Portrait eines Gelehrten, hg. v. Galitz, Robert/Reimers, Brita, Hamburg: Dölling u. Galitz 1995, S. 130-172. Vischer, Robert: Über das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Ästhetik, Leipzig: Credner 1883. Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne, in: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, zweite Abt., Bd. II.1, 4. Aufl., hg. v. Warnke, Martin, Berlin: Akademie Verlag 2012. Warburg, Aby: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, in: Gesammelte Schriften. Stu-

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dienausgabe, Bd. VII., hg. v. Michels, Karen/Schoell-Glass, Charlotte, Berlin 2001. Warburg, Aby: Mnemosyne Einleitung, in ders.: Werke in einem Band, hg. v. Treml, Martin/Weigl, Siegrid/Ladwig, Perdita, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 629-640. Warburg, Aby: Erstes autobiographisches Fragment, in: ders. u. Binswanger, Ludwig: Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte, hg. v. Marazia, Chantal/Stimilli, Davide, Zürich, Berlin: Diaphanes 2007, S. 101103. Warburg, Aby: Symbolismus als Umfangsbestimmung, in: Werke in einem Band, hg. v. Treml, Martin/Weigl, Siegrid/Ladwig, Perdita, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 615-627. Warburg, Aby: Grundlegende Bruchstücke zu einer pragmatischen Ausdruckskunde, in: Frammenti sull'espressione, hg. von Müller, Susanne, übers. von Maurizio Ghelardi und Giovanna Targia, Pisa 2011. Warburg, Aby: Bilderreihen und Ausstellungen, hg. v. Fleckner, Uwe/Woldt, Isabella, in: Gesammelte Schriften, 2. Abt., Band II.2 (Studienausgabe), hg. v. Pfisterer, Ulrich [u.a.], Berlin: Akademie 2012. Warburg, Aby: Schlangenritual. Ein Reisebericht, 5. Auf., mit einem Vorw. v. Ulrich Raulff u. einen Nachw. zur Neuausg. v. Claudia Wedepohl, Berlin: Wagenbach 2011. Wind, Edgar: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft, in: Warburg, Aby: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, 2. verbess. Aufl., hg. v. Wuttke, Dieter, Baden-Baden: Koerner 1980, S. 401-419. Zapperi, Roberto: Alle Wege führen nach Rom. Die ewige Stadt und ihre Besucher, übers. v. Ingeborg Walter, München: Beck 2013, S. 221-236.

Das Volk zwischen Interessenpolitik und symbolischer Repräsentation K ARIN P RIESTER

1938 schrieb Bertold Brecht die viel zitierten Sätze: »Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik.«1 2007 nahm ein Antrag zum Bremer Entwurf des SPD-Parteiprogramms diesen Gedanken Brechts auf. Es sollte darüber abgestimmt werden, ob die SPD sich noch Volkspartei nennen solle oder nicht eher Bevölkerungspartei.2 Aber vom gut Gemeinten zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, denn wen sonst als die Bevölkerung – oder einen Teil derselben – sprechen Parteien wohl an? Der Begriff des Volkes, so scheint es, hat ausgedient. »Unbestreitbar scheint die Idee des Volkes heute eine Sache der Vergangenheit zu sein: die Souveränitätstheorien sind veraltet und stehen im Zusammenhang mit dem angekündigten Niedergang des Nationalstaats; gegenüber den vermeintlich totalitären Tendenzen des Rousseauismus herrschen Vorbehalte; gegenüber der marxistischen Phraseologie ist man misstrauisch, ganz zu schweigen vom nationalsozialistischen Organizismus.«3

1

Brecht, Bertolt: »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, in: Ders., Werke, Bd. 22.1, Berlin/Weimar: Aufbau Verlag 1993, S. 74-90, hier S. 81 (kursiv vom Verf.).

2

Vgl. Ball, Simone: »Von der Volkspartei zur Bevölkerungspartei«, in: SOZIAListMUSS 2 (2007), S. 6-7.

3

Spector, Céline: »La multitude ou le peuple? Réflexions sur une politique de la multiplicité«, in: Critique, 654 (2001), S. 880-897, hier S. 882.

70 | K ARIN P RIESTER

Nach diesen Vorbemerkungen werde ich im ersten Teil meiner Ausführungen die Semantiken des Volksbegriffs seit der Antike vorstellen. Dabei wird sich zeigen, dass der Begriff des Volkes immer schon mehrdeutig war und unterschiedliche Bedeutungsdimensionen umfasste. In einem zweiten Teil gehe ich auf den populus als staatsrechtlichen Terminus ein, der im Gegensatz zur multitudo, der unorganisierten Masse, stand. Im dritten Teil behandele ich den Begriff der Multitude bei Michael Hardt und Antonio Negri als von links kommenden Versuch, den Begriff des Volkes und seine Souveränität zu dekonstruieren. Schließlich wird nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen linksanarchistischem und rechtem Populismus gefragt und auf das jeweilige Verständnis von Repräsentation eingegangen.

Z U DEN S EMANTIKEN

DES

V OLKSBEGRIFFS

Im Lateinischen und in den germanischen Sprachen wird die bis heute vorherrschende Dreidimensionalität des Begriffs ›Volk‹ deutlich: Er bezeichnet erstens eine Abstammungsgemeinschaft, zweitens die gesamte Bürgerschaft in einem regnum oder imperium und drittens eine soziale Kategorie. Die Römer kannten für jede Dimension eigene Bezeichnungen. Seit der Antike stehen die negativ konnotierten Bezeichnungen plebs, vulgus und multitudo dem positiv konnotierten Begriff des populus als Gesamtheit der cives, der Bürger, gegenüber. Der Populus ist eine konstituierte, nicht von vornherein gegebene Gesamtheit von Menschen, die etwas gemeinsam haben: ihren Bürgerstatus. Ab etwa 800 setzt sich der Begriff ›Volk‹ durch. Er ist identisch mit lat. populus, bezeichnet aber auch die Volksmassen, ab dem 10./11. Jh. die unteren Volksschichten (lat. populus diversus et vilis; vulgus). ›Volk‹ bezeichnete in der Vormoderne ein hochkomplexes Geflecht von Beziehungen und Bedeutungen und war bis zur deutschen Romantik ein dynamischer, prozessualer Begriff mit einer politisch-juristischen, einer ethnisch-kulturellen und einer sozialen Dimension.

D AS V OLK ZWISCHEN I NTERESSENPOLITIK UND

SYMBOLISCHER

R EPÄSENTATION

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Tabelle 1: Eigene Aufstellung nach Sousa Costa. politisch-juristisch

ethnisch-kulturell

sozial

populus (gr. demos) als Gesamtheit der Bürger (cives)

gr. ethnos oder genos, lat. gens (im 18. Jh. frz./engl mit ›race‹ übersetzt)

multitudo (gr. polloi), vulgus, turba, plebs. Weitere Bezeichnungen: ignobiles, simplices, minores

Volk (fulka, folc, folk) = populus als gesamte Bürgerschaft, z.B. die Franken

Volk als Abstammungsgemeinschaft (ahd. diot, deod), lat. gens/natio) innerhalb eines Staatsvolkes

Volk in der Bedeutung von Zivilisten oder Laien und als Menge/Masse (multitudo). Die Leute (frk. liuti/leudi/leudos) ursprgl. die ›Leute des Königs‹, später abgesunken zu ›Menge‹. Der Adel gehörte zwar zum populus, stand aber in einem anderen Verhältnis zum König als der restliche populus.

Quelle: Sousa Costa 2007 und Gschnitzer, Koselleck u.a. 2004, S. 141-432.

D AS V OLK

ALS

R ECHTSKATEGORIE

Schon Cicero unterschied zwischen Menge (multitudo, vulgus, turba)4 und Volk (populus): »Volk […] ist nicht jede beliebige zusammengewürfelte Anhäufung von Menschen, sondern der Zusammenschluss einer größeren Zahl, die durch eine einheitliche Rechtsordnung und ein gemeinsames Staatsziel zu einer Gesell-

4

Aus vulgus wurde das deutsche Fremdwort vulgär, aus turba wurde turbulent abgeleitet. Beide sind negativ konnotiert.

72 | K ARIN P RIESTER

schaft wird.«5 Hegel greift diese Unterscheidung auf und setzt den vulgus mit Privatpersonen, aber auch mit Unvernunft gleich: »Das Aggregat des Privaten pflegt häufig das Volk genannt zu werden; als solches Aggregat ist es aber vulgus, nicht populus; und in dieser Beziehung ist es der alleinige Zweck des Staates, daß ein Volk nicht als solches Aggregat zur Existenz, zur Gewalt und Handlung komme. Solcher Zustand eines Volkes ist der Zustand der Unrechtlichkeit, Unsittlichkeit, der Unvernunft überhaupt; das Volk wäre in demselben nur als unförmliche, wüste, blinde Gewalt.«6 (kursiv vom Verf.)

Auch die neuzeitlichen Vertragstheoretiker Hobbes und Locke verstanden unter ›Volk‹ nicht die plebs oder die confusa turba. Eine Menge wird erst dann zum Populus als organisiertem Volk, wenn sie das Recht anerkennt. Für Cicero ist das Recht präexistent vor der Menge, weil es auf Vernunft (recta ratio) beruht und im Einklang mit der Natur steht. Das nicht vernunftfähige Volk ist die ›turbulente‹, desorganisierte Vielheit (multitudo), die sich erst durch das vernunftgeleitete Recht zur Bürgerschaft konstituiert. Auch bei Rousseau ist das Volk als konstituierende Macht der Urheber des Gesellschaftsvertrags. Im Unterschied zu Hobbes kennt er aber zwei Formen des Volkswillens: die volonté de tous als empirisch feststellbare Summe der Partikularwillen und die volonté générale als regulative Idee. Mit der Berufung auf den Allgemeinwillen konzipierte er das Volk als Souverän nicht nur im Gründungsakt des Vereinigungsvertrags, sondern als Gesetzgeber. Daher lehnte er die Repräsentation des Volkswillens ab und hielt am Gedanken der Selbstgesetzgebung fest. Das Volk ist autonom, als Konglomerat vorkapitalistischer Kleinproduzenten aber auch sozial homogen. Während der Französischen Revolution setzte sich die Unterscheidung des Abbé Sieyès zwischen konstituierender und konstituierter Macht durch. Das Volk ist zwar der ursprüngliche Gesetzgeber (pouvoir constituant), delegiert aber die Ausübung der Macht an den pouvoir constitué. Nur im Gründungsakt ist es autonom, im Vollzug aber heteronom. Der Unterschied zwischen den Vertragstheoretikern Hobbes und Rousseau liegt also nicht in der Souveränität des Volkes als solcher, sondern in der Art ihrer Ausübung. Ist das Volk nur im Gründungsakt autonom und unterwirft sich anschließend dem Monarchen? Oder

5 6

Cicero, M. Tullius: Über den Staat, Stuttgart: Reclam-Verlag 1998, I, S. 39. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III, Werke Bd. 10, hg. von Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, 10: § 544.

D AS V OLK ZWISCHEN I NTERESSENPOLITIK UND

SYMBOLISCHER

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soll es, wie Rousseau postulierte, seine Souveränität auch in der Gesetzgebung behalten? Dieser hier nur in groben Zügen skizzierte Hintergrund ist heute aktueller denn je und wirft erneut die schon von Cicero aufgeworfene Frage nach der Priorität von Recht oder von Populus auf. Konstituiert sich die amorphe Menge (vulgus) erst zum Populus, indem es das präexistente Recht anerkennt und dadurch zur Gesamtheit der Bürger (civitas) wird oder begründet es in einem autonomen Setzungsakt erst das Recht, dem es sich als von ihm selbst gesetzten unterwirft? Als Populus wird das Volk also in eine Rechtsordnung inkorporiert; es ist Teil des ›Systems‹ und steht auf Seiten der potestas, der institutionalisierten Macht. Dies ist der Grund, warum Linke wie Hardt und Negri den Begriff des Volkes als Populus aufgeben und einer Machtkritik unterziehen. Der andere, von Brecht angesprochene Grund liegt in der ›faulen Mystik‹, die den Volksbegriff umgibt, aber nicht seit jeher, sondern erst seit der deutschen Romantik. Dazu später. Habermas7 versucht nun, die Frage nach der Priorität von Recht oder Volk in eine Gleichursprünglichkeit (co-orginality) aufzulösen, bindet aber die Souveränität bzw. die Autonomie des Populus – bei Habermas die Bürger (citizens) – an eine »angemessene Nutzung ihrer politischen Autonomie«.8 Der Volkswille »gibt den vereinten Bürgern eines demokratischen Gemeinwesens keine voluntaristische carte blanche-Erlaubnis, Entscheidungen nach ihrem Gutdünken zu treffen«9. Nur in einer Bevölkerung, die bereits an Freiheit gewohnt ist, sei die Herrschaft des Gesetzes eine integrale Komponente eines demokratischen Ethos.10 Und nur wenn Autonomie nicht mit willkürlicher Wahlfreiheit verwechselt werde, gehe die Herrschaft des Gesetzes weder dem Willen des Souveräns voraus noch ergebe sie sich aus ihm.11 Der moderne Staat ist also für Habermas sowohl Rechtsstaat als auch Demokratie. Seit der Antike zeigt sich: Das ›Volk‹ hat keine substanzielle Realität, sondern changiert zwischen multitudo, plebs, gens und populus. Die semantische Bestimmung des Volkes ist arbiträr. Als Ethnos grenzt sich das Volk von anderen Ethnien ab, als Populus (gr. Demos) vom Volk als formloser Masse, Mob oder Pöbel (vulgus, multitudo) und sozial als Plebs von den Großen. Nachdem die präzise Begrifflichkeit des Lateinischen verblasst war, konnten soziale

7

Vgl. Habermas, Jürgen: »Constitutional Democracy. A Paradoxical Union of Contradictory Principles?«, in: Political Theory 29 (6) (2001), S. 766-781, hier S. 767.

8

Ebd.

9

Ebd.

10 Ebd., S. 771. 11 Ebd., S. 778.

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Unterschiede nur noch durch zusätzliche Adjektive des unspezifisch gewordenen Populus-Begriffs zum Ausdruck kommen. Ab dem 13. Jahrhundert unterschied man im italienischen Stadtstaat Florenz zwischen popolo minuto (dem kleinen Volk) und popolo grasso (dem ›fetten‹ Volk, den Mitgliedern der alten Zünfte).

V OM SUBJEKTIVEN ZUM IM 19. J AHRHUNDERT

OBJEKTIVEN

V OLKSBEGRIFF

In der deutschen Romantik kam es um 1800 zu einer Abkehr vom subjektiven, voluntativen Volksbegriff der Aufklärung, dem Demos/Populus, und zur Hinwendung zu einem objektiven Volksbegriff. Das ›Volk‹ konstituiert sich nicht durch den Willen zum Vereinigungsvertrag, sondern seine Identität beruht auf objektiven Kriterien wie Sprache, Kultur und Territorium und begründet seine Homogenität. »Herder steht am Anfang einer folgenreichen Ontologisierung und Biologisierung und damit zugleich der Entpolitisierung des Volksbegriffs.«12 Und Andreas Gardt stellt fest: »Die Nation, vor allem aber das Volk, erscheint in vitalistischer und organischer Begrifflichkeit als eine vorstaatliche Größe, deren Wesen sich dem nur rationalen Zugriff entzieht.«13 Für diese Entwicklung gibt es zwei Gründe: Anders als in Frankreich oder England existierte in Deutschland nur der Inklusionscode von Sprache und Kultur. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Ontologisierung des Volksbegriffs einsetzte, konnten sich die Deutschen weder auf eine Revolution noch auf eine Nationalstaatsbildung als Gründungsakt berufen. Gemeinsame Sprache und ethnische Abstammung galten daher als Merkmale einer vorstaatlichen ›Volkssubstanz‹. Als Gegenbewegung zur Aufklärung wird das Volk nicht subjektiv als Demos, sondern objektiv als kulturelle Abstammungsgemeinschaft verstanden. Diese Entwicklung hat zwar identitätsstiftend, zugleich aber entpolitisierend gewirkt, weil die Berufung auf einen homogenen ›Volksgeist‹ innergesellschaftliche Konflikte ausblendete. Während der Gründungsakt des politischen Gemeinwesens im westlichaufklärerischen Modell voluntativ ist, wurde er in Deutschland ontologisiert und

12 Jansen, Christian/Borggräfe, Henning: Nation, Nationalität, Nationalismus, Frankfurt a. M./New York: Campus-Verlag 2007, S. 39. 13 Gardt, Andreas: »Art. Nation«, in: Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus J. (Hg.), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, Bd.1, 1.Teilband, Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 369-377, hier S. 373 (kursiv vom Verf.).

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in eine mythische Vorzeit verlegt. Das Volk erscheint nicht mehr als autonomer Willensträger, sondern organologisch als homogener ›Volkskörper‹, der Einzelne nicht als Individuum, sondern als Zelle dieses Gesamtkörpers. Hier, in den spezifischen Bedingungen der deutschen Geschichte und in der Romantik als Gegenbewegung zur Aufklärung, liegt also der Ursprung dessen, was Brecht die ›faule Mystik‹ des Volksbegriffs genannt hat.

V OM V OLK

ZUR

M ULTITUDE ?

Von links-anarchistischer Seite greifen Hardt/Negri diese Souveränitäts- und Volkskritik auf und entwickeln eine Gesellschafts- und Demokratietheorie ohne Volk. An dessen Stelle tritt ein neuer sozialer Akteur, der als revolutionäres Subjekt begriffen wird und einer neuen, entlokalisierten Herrschaftsform, dem Empire, gegenübersteht. Das Gegenkonzept zum Volk ist die Multitude. Die Multitude lässt sich nicht mehr in sozio-ökonomische Kategorien fassen, sondern konstituiert sich durch ›immaterielle Arbeit‹. Sie stellt keine materiellen Produkte mehr her, sondern Ideen, Wissen, Affekte, neue soziale Beziehungen und ist daher nicht nur eine ökonomische, sondern eine unmittelbar gesellschaftliche, kulturelle und politische Kraft. Diese neue Form der Arbeit produziere vor allem Subjektivität. Wurde in der marxistischen Theorie zwischen materieller Basis und ideellem Überbau unterschieden, so geht nun der Überbau unmittelbar in die Basis ein und es entsteht eine neue Form von Produktion, die Hardt/Negri als »soziale biopolitische Produktion« bezeichnen. Organisatorisch nimmt sie durch Kommunikation, Kooperation und affektive Beziehungen die Form von Netzwerken an.14 Worin besteht nun der Unterschied zwischen der Multitude und dem Populus, von dem sich Hardt/Negri verabschieden? Gehörte in der klassischen Tradition von Cicero bis Hegel die multitudo zur vorpolitischen und vorstaatlichen Sphäre und wurde erst durch Selbstbindung an das Recht zum Populus, so unterlaufen Hardt/Negri diese Unterscheidung zwischen politisch als Sphäre des Staates und vorpolitisch als Sphäre des Privaten. Nicht erst als Populus werde das Volk politisch, sondern sei es bereits als Multitude. Diese These wird nur verständlich vor dem Hintergrund ihrer Unterscheidung zwischen Politik als institutionalisierter Praxis und ›dem Politischen‹ als ontologischer Kraft des Widerstandes gegen die Politik als eigene Sphäre. Das Politische ist, wie schon Carl

14 Vgl. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2004, S. 84.

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Schmitt postulierte, die Intensitätssteigerung einer Gegnerschaft zu einem Freund-Feind-Dualismus und hat keinen eigenen Bereich oder Gegenstand. Mit dem Begriff der Multitude als Subjekt ›des Politischen‹ wird der Populus als konstituierende Macht obsolet, damit aber auch seine Souveränität als Gesetzgeber. Hardt und Negri begründen ihre Abkehr vom Populus mit dem Argument, dessen Souveränität beruhe auf Vereinheitlichung und vorindividueller ›Identität‹. Sie unterscheiden also nicht klar zwischen dem vertragstheoretischen Modell einer voluntativen Vereinigung der Multitudo zum Populus und dem romantischen und später völkischen Modell einer vorindividuellen, ethno-kulturell mit sich identischen ›Volkssubstanz‹. Die Multitude sei dagegen nicht vereinheitlicht, sondern plural und vielfältig. »Die pluralen Singularitäten der Multitude stehen im Gegensatz zur undifferenzierten Einheit des Volkes.«15 Dennoch sei die Multitude nicht fragmentiert und zusammenhanglos und unterscheide sich von der Masse oder dem Mob. War die Multitudo in ihrer klassischen Bedeutung passiv und konnte keine gesellschaftliche Wirkung entfalten, so verstehen Hardt/Negri sie als aktives gesellschaftliches Subjekt. Es handelt auf der Grundlage dessen, was den pluralen Singularitäten gemeinsam ist und von ihnen geteilt wird. »Die Multitude ist ein Unterschiede aufweisendes, vielfältiges soziales Subjekt, dessen Konstitution und Handeln nicht auf Identität und Einheit (und noch weniger auf Indifferenz) beruht, sondern darauf, was ihm gemeinsam ist.«16 Dieses Gemeinsame liegt indessen nicht in ihrem normativ geregelten Bürgerstatus, sondern im Willen zur Herrschaftsfreiheit als unabschließbarem Prozess. Man muss hier wohl von Idealisierung, wenn nicht gar von Mystifizierung der Multitude sprechen, denn ihr wird ein gemeinsamer Wille zur absoluten Demokratie unterstellt.17 Demokratie wird indessen nicht als Regimeform verstanden, sondern als Prozess fortwährender Infragestellung von Institutionalisierung, als reines Werden. Aber »nichts in dieser Perspektive garantiert, daß die multitudo der Gegenwart, wo immer sie auch im Zeitalter globaler Politik genau zu lokalisieren ist, an sich auf Demokratisierung aus ist.«18

15 Ebd., S. 117. 16 Ebd., S.118. 17 Vgl. zur Kritik Kalyvas, Andreas: »Popular Sovereignty, Democracy, and the Constituent Power«, in: Constellations, 12 (2) (2005), S. 223-244, hier S. 242. 18 Saar, Martin: »Politik der Multitude. Zeitgenössische politisch-philosophische Anschlüsse an Spinoza«, in: Hindrichs, Gunnar (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg: Winter 2006, S. 181-202, hier S. 201(kursiv vom Verf.).

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Mit der Multitude als aktivem Akteur setzen sich Hardt/Negri von allen drei Dimensionen des Volksbegriffs ab: vom konstituierten Populus, vom substanziell verstandenen Ethnos und von der Plebs, den unteren Volksschichten, setzt sich die Multitude doch aus den neuen Mittelschichten zusammen, die in ›entlokalisierten‹ und ›immateriellen‹ Berufen tätig sind. Diese neuen, kreativen Kräfte stehen im Gegensatz zu den Kräften der Ordnung, zu denen auch der Populus zählt. Hardt/Negri postulieren eine nicht-dialektische Ontologie der Vielfalt, der Differenz und der Heterogenität. Die neue politische Form sei keine Regierung im traditionellen Sinne, weil sie die Pluralität der Individuen nicht auf die Einheitsfigur der Souveränität reduziere. Die Vermittlung des politischen Willens durch Organisationen, Institutionen oder das Rechtssystem wird als Moment von Herrschaft und Bevormundung kategorisch abgelehnt. Angestrebt wird herrschaftsfreie Selbstorganisation, die sich gegen jede Form von Politik richtet, da sie permanentes Werden in Ordnung überführt. Die Multitude ist die vorstaatliche Menge in einer Gesellschaft ohne Staat. Im Unterschied zu den Klassikern gehört sie aber für Hardt/Negri nicht zur vorpolitischen Sphäre, sondern ist immer schon politisch, bezieht sich doch ›das Politische‹ weder auf den Staat noch auf das Recht, sondern auf die unaufhebbare Agonalität des Seins. Das Sein als solches ist ein Kampfgeschehen; sein Motor ist ›das Politische‹ als Gegenpol zur institutionalisierten Politik. Damit wird die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich, vorpolitisch und politisch, Gesellschaft und Staat hinfällig. ›Das Politische‹ ist ein Existenzial, das die Herrschenden durch Verengung von Politik auf die Sphäre von Staat und Recht zu kanalisieren und zu domestizieren suchen.

D IE N ATURALISIERUNG DES P OLITISCHEN DER L EIDENSCHAFTEN UND AFFEKTE

ALS

S PHÄRE

In der Sphäre ›des Politischen‹ stehen sich unvermittelt zwei Potenzen gegenüber: die Macht (potestas) der Herrschenden und die befreiende Macht (potentia) der Multitude. Sie lassen sich nicht durch Vernunft vermitteln, sondern beruhen auf dem von Spinoza übernommenen Begriff des conatus – dem Streben oder Begehren, den Affekten und Leidenschaften. Unter Materialismus verstehen Hardt/Negri daher nicht die materiellen, ökonomisch determinierten Lebensbedingungen, sondern einen triebtheoretisch begründeten Naturalismus. Das bewegende Prinzip von Geschichte liegt mithin nicht in den Widersprüchen der sozialen Verhältnisse, sondern anthropologisch in der menschlichen Natur als Teil eines allgemeinen Naturzusammenhangs. Sie geben aber keine Antwort auf die Frage, wie denn die Konvergenz des unterschiedlichen, singulären Begehrens

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mit einem gemeinsamen Begehren – dem Streben nach Herrschaftsfreiheit – zustande kommt. Wie kann aus den vielen individuellen Bestrebungen ein kollektives Streben erwachsen und wie kann verhindert werden, dass die Multitude zum Mob wird?19 Ihre Antwort, dass aus der fluiden Vielfalt der ›Singularitäten‹ oder Individuen eine konsolidierte Multitude hervorgehen werde, ist aporetisch, beinhaltet Konsolidierung doch Verfestigung, Aggregation und damit Ordnung, die sie gerade unterlaufen wollen. Demokratietheoretisch ist Hardt/Negris Forderung nach Partizipation und »radikaler Demokratie« daher »vergleichsweise konventionell«.20 Sie ist aber auch ambivalent. Da nämlich Geschichte grundsätzlich kontingent verlaufe, ist die angestrebte Herrschaftsfreiheit offen für unterschiedliche Interpretationen und nicht a priori demokratisch, es sei denn, man versteht, wie die Autoren, unter demokratisch den Prozess der Infragestellung jeder institutionellen Ordnung, auch einer demokratischen. Hardt/Negris Negation des Begriffs des Volkes erfolgt aus zwei Gründen. Zum einen kritisieren sie dessen Essentialisierung, der von einer undifferenzierten ›Einheit des Volkes‹ ausgeht. Damit treffen sie aber nur die romantische und die völkische Tradition, nicht dagegen das Verständnis von Volk als Demos. Der Demos hat keine a priori vorhandene Substanz, sondern konstituiert sich erst voluntativ zu einer Einheit. Aber auch diesen Prozess der Konstitution einer Menge zum Volk als Demos lehnen sie ab, weil dies die Unterwerfung des Volkes unter das Recht, auch das von ihm selbst gesetzte, bedeuten würde, damit aber Unterwerfung unter die Institutionen des Systems. ›Das Politische‹ als Potenz des Widerstandes würde solchermaßen auf bloße Politik als institutionalisiertem Handeln reduziert und verlöre seine Dynamik zugunsten der Statik rechtlich normierter Machtverhältnisse.

D AS P OLITISCHE

IM

G EGENSATZ

ZU

P OLITIK

Worin liegt die politische Relevanz? Sie liegt in der Abkoppelung von objektiven Handlungsbedingungen und in der Hinwendung zu einem reinen Voluntarismus und Spontaneismus. Für Hardt/Negri und ihren Gewährsmann Spinoza

19 Vgl. zur Kritik Llanque, Marcus: »Populus und Multitudo: Das Problem von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit in der Genealogie der Demokratietheorie«, in: Bluhm, Harald/Fischer, Karsten/Llanque, Marcus (Hg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH 2011, S. 19-38, hier S. 37f. 20 M. Saar: Politik der Multitude, S. 200.

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existiert immer schon eine antagonistische Gesellschaftlichkeit als Apriori. ›Das Politische‹ hat keine Geschichte, sondern wird als das nicht-teleologische Ensemble der Verwirklichung der natürlichen menschlichen Anlagen und Bestrebungen verstanden. Diese Potenz bricht sich Bahn in historisch kontingenten Machtkonstellationen. Menschen müssen daher ihren natürlichen Drang nach herrschaftsfreier Selbstbestimmung keiner souveränen Macht überantworten, um eine politische Gesellschaft zu begründen. Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen sind a priori bereits politisch und bedürfen keiner auf Vernunft und Recht beruhenden Vermittlung; vielmehr beruhen sie auf Leidenschaften als dem Rohstoff ›des Politischen‹. ›Das Politische‹ ist der existenziell vorgegebene und daher unaufhebbare Antagonismus zwischen Macht und Gegenmacht, potestas und potentia, Sein und Werden, aber nicht im Namen von Gerechtigkeit, sondern im Namen von Freiheit. Rationalität und Vernunft verfestigten dagegen Herrschaft und manifestierten sich im Staat, im Recht, in Parteien, kurz: in den Institutionen. Die Pointe besteht nun darin, dass Hardt und Negri auf die seit der Romantik bekannte organologische Begrifflichkeit zurückgreifen, um den Begriff des ›Volkes‹ dekonstruieren zu können. Sie verengen ihn zu einer homogenen ›Substanz‹, um sich auf vermeintlich progressive Weise von ihm distanzieren zu können. Die Vorstellung einer substanziellen Einheit des Volkes hat es aber nur in der romantischen und später der völkischen Tradition gegeben, nicht in der Tradition der Aufklärung, die von einer juristischen Abstraktion ausgeht. Sie abstrahiert von der empirischen Vielfalt der Menschen und versteht den Demos/Populus als Konstrukt, das nur in seiner Eigenschaft als Selbstgesetzgeber vereinheitlicht ist und sich durch Einsicht in die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses über seinen Status als vulgus oder multitudo erhebt. War das ›Volk‹ als vulgus aufgrund seines privaten, vorstaatlichen Status negativ besetzt, so konnotieren Hardt/Negri die Multitude als vorstaatliche Potenz positiv, gerade weil sie sich jedem rationalen Zugriff entzieht. Sie vitalisieren die Multitude als vorstaatliche, von Spinozas conatus getriebene Stoßkraft, die aber, als Konzession an den Liberalismus, die ›Singularitäten‹ nicht homogenisiert, sondern in ihrer Vielfalt und Differenz anerkennt. Ein solcher radikal entstaatlichter Pluralismus selbstbestimmter Gruppen gehörte immer schon zum Programm des Anarchismus. Nicht umsonst ist er aber immer gescheitert, weil er von einer idealistischen Annahme ausgeht: Die Befreiung vom Staat werde eo ipso zur Freiheit von Herrschaft führen. Faktisch wird aber das Moment von Herrschaft nur auf die vorstaatliche Ebene eines pluralen Kampfes von Gruppen verlagert.

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R EPRÄSENTATION

ZWISCHEN I NTERESSENVERTRETUNG UND SYMBOLISCHER V ERKÖRPERUNG Es wurde gezeigt, dass der links-anarchistische Populismus von Hardt/Negri jede Form von Repräsentation ablehnt, weil sie Institutionalisierung, Verfestigung und Aggregation bedeutet. Wird dagegen anerkannt, dass irgendeine Form der politischen Repräsentation unumgänglich ist, stellt sich die Frage, welche Form sie annehmen soll. Ich werde dieser Frage theoretisch am Beispiel des Repräsentationsbegriffs von Carl Schmitt und konkret-politisch am Beispiel der »Aktion für Deutschland« (AfD) nachgehen. Einer der Gründe für das Auftreten populistischer Parteien oder Bewegungen wird in einer ›Krise der Repräsentation‹ gesehen. Unter dem mehrdeutigen Begriff der Repräsentation kann man bloße Interessen- und Stellvertretung oder Verkörperung verstehen. Carl Schmitt definierte Repräsentation als Sichtbarmachung von etwas Unsichtbarem, als Verkörperung einer Idee. Repräsentation als Verkörperung beruht auf Symbolbildung. Das Symbol macht das unsichtbare Wesen einer Sache real präsent und verleiht ihm einen sichtbaren Körper. Neben der römischen Kirche ist für Schmitt die zweite, zur Repräsentation fähige Instanz der Staat, der dem Volk als präexistenter Substanz eine politische Form gibt. Repräsentation bedeutet für Schmitt sichtbare Formgebung, d.h. Institutionalisierung und Schaffung einer »substanzhaften Ordnung«. Schmitt unterscheidet zwei politische Gestaltungsprinzipien – das Prinzip der Identität und das der Repräsentation. Identität bedeutet die unmittelbare, nicht mediatisierte Einheit von Regierenden und Regierten. Da sich diese Identität einer Willensbeziehung in der Praxis nicht realisieren lässt, muss sie repräsentiert werden. Der Wille einer Person verkörpert den Willen der Gesamtheit. »Repräsentieren im eminenten Sinne kann nur eine Person und zwar – zum Unterschied von der einfachen ›Stellvertretung‹ – eine autoritäre Person oder eine Idee, die sich, sobald sie repräsentiert wird, ebenfalls personifiziert.«21 Mit der Ausbreitung des ökonomisch-technischen Denkens schwinde, so Schmitt, das Verständnis für jede Art von Repräsentation, auch wenn der Parlamentarismus noch diesen Gedanken kenne. Abgeordnete mit freiem Mandat sind nicht an die Aufträge ihrer Wähler gebunden, sind nicht deren »Boten«, »Agenten« oder jederzeit abrufbare »Beauftragte«22, sondern repräsentieren die Nation und damit eine Idee.

21 Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, München: TheatinerVerlag 1925, S. 29. 22 Ebd., S. 36.

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In heutiger Zeit wird das Prinzip der freien Repräsentation aber durch ein parteigebundenes imperatives Mandat unterlaufen. Die Abgeordneten sind nicht mehr frei, sondern an Weisungen gebunden, aber nicht an die ihrer Wähler, sondern an die ihrer Partei. Hier nun, an der Parteiendemokratie, setzt die rechtspopulistische Kritik an und legt den Finger auf die Spannung zwischen Art. 38, 1 und Art. 21 GG. Das Grundgesetz kennt einerseits das freie Mandat, betont in Art. 21 aber auch die Mitwirkung der Parteien bei der Bildung des politischen Willens. Sowohl die neo-anarchistische Linke als auch der Rechtspopulismus lehnen nun die Idee der Bildung und Mediatisierung des politischen Willens durch intermediäre Instanzen wie die Parteien ab, ist doch der common sense des Volkes a priori im Recht und bedarf keiner reflexiven Vermittlung oder Formung durch Wissenseliten oder Parteien. Rechtspopulistische Bewegungen sind indessen keine einheitlichen Gebilde, sondern Sammelbecken unterschiedlicher, ja sogar konträrer Strömungen. Grob gesprochen, lassen sich zwei Richtungen unterscheiden, eine konservative und eine populistische. Für die konservative Position steht beispielsweise in der »Aktion für Deutschland« (AfD) der Publizist Alexander Gauland. Er beruft sich zwar auf Edmund Burke, aber Schmitts Pluralismuskritik ist unübersehbar, wenn er eine »Diversifizierung und Vervielfältigung der Interessengruppen […], die Herausbildung unterschiedlichster Überzeugungssysteme und Weltanschauungen« und das Fehlen einer gemeinsamen Definition, eines gemeinsamen Verständnisses von Gemeinwohlorientierung beklagt.23 Er fordert die Stärkung des politischen Repräsentanten mit freiem Mandat, der sich nicht als Interessenvertreter einer bestimmten Klientel, sondern als Vertreter einer Idee – des Gemeinwohls – versteht. Die Berufung auf das Gemeinwohl im Gegensatz zu den ›vested interests‹ der großen Interessenvertreter (big business, big labor, big government) spielte schon im US-amerikanischen Populismus Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle. Im Unterschied zu Konservativen postulieren Populisten, die vox populi solle ungefiltert zum Ausdruck kommen. Über Referenden, Volksabstimmungen oder Plebiszite soll das Gemeinwohl direkt in die Hand des Volkes gelegt werden. Um die Parteienherrschaft zu brechen, wollen Konservative zurück zum freien Mandat des weisungsungebundenen Repräsentanten. Populisten greifen dagegen zum Mittel der Personalisierung von Politik durch symbolische Repräsentation. Eine zur Symbolbildung geeignete Person wird zur sichtbaren Verkörperung des

23 Gauland, Alexander: Eröffnungsrede anlässlich der konstituierenden Sitzung des Brandenburgischen Landtages, http://www.afd-brandenburg.de/eroeffnungsrede-vondr-alexander-gauland/ [letzter Zugriff: 19.10.2014].

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Gemeinwohls, wie immer dieses definiert wird. Die Tendenz zur Charismatisierung von Politik ist daher jeder symbolischen Repräsentationsvorstellung immer schon inhärent. Sie beruht auf der Annahme einer Identität von Symbol und symbolisierter Sache. »Ich will, was Ihr wollt« oder »Ich sage nur, was Ihr denkt« sind die gängigen Slogans, mit denen populistische Führer vorgeben, bloße Sprachrohre des präexistenten Volkswillens zu sein. Im populistischen Verständnis von Repräsentation überschneiden sich also zwei demokratietheoretisch konträre Positionen: Zum einen wird der Repräsentant als bloßer Interessenvertreter verstanden, der sich der Sorgen und Nöte des ›kleinen Mannes‹ annimmt. Zum anderen verkörpert er aber eine Idee und wird zum Symbol. Er steht als Person für nationale Selbstbestimmung oder Wiedergeburt, für ethnisch-kulturelle Homogenität, soziale Gerechtigkeit oder wie immer das Gemeinwohl definiert wird. In der Realität handelt es sich um einen Prozess mit fließenden Übergängen von der Delegitimation der Parteiendemokratie hin zur symbolischen Repräsentation durch eine Person, die als Hoffnungsträger erscheint. Erst am Ende dieses Prozesses kann unter bestimmten Bedingungen ein bonapartistischer hommepeuple als sichtbare Verkörperung des unsichtbaren Volkswillens in Erscheinung treten. Im populistischen Verständnis ist der Repräsentant also nicht frei und nur dem Parlament verantwortlich, sondern an den Volkswillen gebunden. Da er selbst aber diesen Volkswillen verkörpert, ist er nur an sich selbst gebunden, ist doch sein Wille a priori mit dem des Volkes identisch. Seine Legitimation beruht weder auf einem freien noch einem imperativen Mandat, sondern auf einer ›Sendung‹ oder im Extremfall auf einer transzendenten Mission. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Repräsentation im Populismus kein feststehendes Konzept ist, sondern ein ambivalentes Changieren zwischen bloßer Interessenvertretung, heute etwa in der Immigrations- oder Europapolitik, und Schmitts Verständnis von Repräsentation als personale Verkörperung einer Idee oder als Einheit von Repräsentation und »Personalismus«.24

R ECHTSPOPULISMUS

UND

E LITENKRITIK

Hardt und Negri als Theoretiker einer radikalen Linken verabschieden sich also vom Volk als Populus und von der Volkssouveränität, weil sie in ihr kein Gegengewicht gegen die Herrschaft des Gesetzes (Rechtsstaat, rule of law), sondern ein Merkmal systemischer Institutionalisierung sehen. Die vermeintliche

24 Vgl. C. Schmitt: Römischer Katholizismus und politische Form, S. 45.

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Radikalität ihres Ansatzes beruht auf zwei Operationen: (a) der Dekonstruktion von Demokratie sowohl als Volkssouveränität wie auch als Rechtsstaat und (b) der Rekonstruktion von Demokratie als reiner Widerstand gegen jede Institutionalisierung und Repräsentation, da die Multitude nur ein Vereinigungsmerkmal kenne: ihren Willen zur Herrschaftsfreiheit. Verglichen damit, geht der Rechtspopulismus nicht von einem metahistorischen, sondern einem begrenzt historischen Spannungsverhältnis aus. Er positioniert sich gegen den liberalen Mainstream, der versucht, die von einer ungefilterten Artikulation des Volkswillens ausgehenden Gefahren durch Verengung von Demokratie auf den liberalen Rechtsstaat zu begegnen, etwa nach dem Motto, eine liberale, ›rationale‹ Elitenherrschaft sei allemal besser als die Akzeptanz eines unberechenbaren, irrationalen Volkswillens.25 Die Frage, ob das sich vereinigende Europa an der Schwelle eines Übergangs zur Souveränität des Rechts vor der oder gegen die Souveränität des Volkes steht, ist heute aktueller denn je. Das gängige Argument der Befürworter dieses Übergangs lautet, es gäbe kein europäisches Volk, und ob es je eines geben werde, sei mehr als fraglich. Daher könne nur der Rechtsstaat, nicht aber die Souveränität des gar nicht existierenden europäischen Volkes Grundlage der EU sein. Dem widersprechen Rechtspopulisten durch Polarisierung zwischen Volk und Eliten mit umgekehrtem Vorzeichen. Im Rechtspopulismus formiert sich der Protest von Konservativen und Wirtschaftsliberalen, die sich in den Volksparteien, insbesondere in der CDU, vor allem in sozialmoralischer Hinsicht und in der Europapolitik, nicht mehr repräsentiert fühlen und ein Europa der Nationen anstreben. Um aber aus Debattierzirkeln am rechten Rand konservativer Volksparteien herauszutreten und politikfähig zu werden, muss ein zeitgemäßer Konservatismus als Rechtspopulismus auftreten, d.h. er muss auf das Volk zugehen. Dieser rechtspopulistische ›Gang ins Volk‹ geschieht indessen nicht im Namen von Herrschaftsfreiheit und Kritik an jeder politischen Ordnung, sondern unter Berufung auf eine neue Ordnung: (1) Die genuin konservative Verteidi-

25 Man erinnere sich an den griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou, der 2011 eine Volksabstimmung über die anstehenden Rettungsmaßnahmen und die damit verbundenen Sparauflagen plante. Vor Beginn des G 20-Treffens in Cannes, zu dem Papandreou einbestellt worden war, nahmen Angela Merkel und der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy ihren griechischen Kollegen ins Gebet. Auf Druck der EU, aber auch der griechischen Opposition, verzichtete dieser auf sein Vorhaben und wurde wenig später von dem Technokraten Lucas Papademos, einem ehemaligen Vizepräsidenten der EZB und Mitarbeiter der US-amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, abgelöst.

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gung von Elitenherrschaft wird umgemünzt zu Elitenkritik. Der theoretische Ahnherr des Konservatismus, Edmund Burke, hatte Ende des 18. Jahrhunderts in seinen Reflexionen über die Französische Revolution zwischen ›Wandel‹ und ›Reform‹ unterschieden. Konservative sind gegen einen substanziellen Wandel, aber für maßvoll dosierte, die Tradition berücksichtigende Reformen. Wenn nun die neoliberalen Eliten im Zuge der Globalisierung einen unabdingbaren raschen Wandel propagieren, wenden sich Rechtspopulisten von diesen Eliten ab und entdecken das ›Volk‹ als Widerstandspotenzial gegen gesellschaftlichen Wandel, angefangen bei der ungesteuerten Immigration über den technokratisch ›von oben‹, von der EU oder den nationalen Regierungen, initiierten Wandel bis hin zum sozialmoralischen Wertewandel in der Geschlechter- und Familienpolitik. (2) Mit anti-elitärem Gestus sagen Rechtspopulisten der Bevormundung des Volkes durch die Eliten den Kampf an. Gesellschaftliche Vernunft gehe nicht aus dem deliberativen oder technokratischen Handeln der Eliten hervor, sondern beruhe auf dem common sense des Volkes, d.h. auf authentischem, aus der Tradition gewonnenem Erfahrungswissen. Der Alltagsverstand des Volkes bedarf keiner Vermittlung durch Bildungseliten, weil er a priori im Recht ist. Die Aufwertung von Leidenschaften und Affekten durch eine postmoderne Linke geht hier, wenn auch ungewollt, eine unheilvolle Allianz mit dem Rechtspopulismus und seiner scheindemokratischen Aufwertung des affektiven und daher authentischen Volkswillens ein. Dieses Wutbürgersyndrom und sein Aggregat, der Populismus, sind politisch aber ambivalent, weil sie mit ihrer Kritik an selbstreferentiellen Bürokraten, Technokraten und dem politischen Establishment den Finger auf eine reale Krise der Repräsentation legen. (3) Die populistische Aversion gegen die Vermittlung und Bildung des politischen Willens äußert sich in Intellektuellenfeindlichkeit und Parteienkritik. Die Parteien hätten sich inzwischen zu einem ideologisch ununterscheidbaren Kartell formiert und bildeten gemeinsam das politische Establishment. Diese Parteienund Elitenkritik von Rechtspopulisten hat aber, im Unterschied zu Hardt und Negri, keinen ontologischen, sondern nur einen strategischen, situativen Stellenwert. Rechtspopulisten betreiben Politik im Gestus von Anti-Politik und berufen sich auf die unverfälschte Moralität des Volkes gegen die Amoralität der korrupten Eliten, sind aber nicht grundsätzlich elitenfeindlich eingestellt. Das hat zwei Konsequenzen: Erstens die Favorisierung direkter, unvermittelter Willensabfragen durch Bürgerbegehren, Volksabstimmungen und Plebiszite. Zweitens die heimliche Sehnsucht nach dem »starken Mann«, der als Inkarnation des Volkswillens qua Herkunft und Selbstinszenierung weiß, was das Volk

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will.26 Letztlich geht es sowohl bei Hardt/Negris linkem als auch beim rechten Populismus um eine Entfremdungstheorie: Politische Institutionen, das Parlament, die Verfassungsgerichtsbarkeit und die Parteien, entfremdeten das Volk oder die Multitude von ihren genuinen Bestrebungen, die immer schon politisch seien und nicht erst durch zwischengeschaltete Instanzen (Bildungseliten, Parteien, Verfassungen) in politische transformiert werden müssen. Institutionen sind ein Moment der Fremdbestimmung, dem das Recht auf nicht mediatisierte Selbstbestimmung entgegengestellt wird. Rationalität als Modus von Politik weicht einem Kult des Unmittelbaren und Authentischen. Empirische Untersuchungen zeigen indessen, dass direktdemokratische Verfahren gerade nicht das Volk, verstanden als die unteren, politik- und bildungsfernen Volksschichten, begünstigen und ihnen ein Ventil bieten. Wolfgang Merkel nennt vier Nebenwirkungen von Volksentscheiden: (a) Sie bauen soziale Selektion und Exklusion nicht ab, sondern verstärken sie noch. (b) Dies führt zur ›Selbstexklusion der Unkundigen‹. Formal wenig gebildete Menschen nehmen kaum an Wahlen, aber auch kaum an Volksentscheiden teil und überlassen damit das Feld einer bürgerlichen Mitte, die (c) über höhere Kompetenz, größere finanzielle Ressourcen und effizientere Kampagnenfähigkeit verfügt. (d) Dies führe zu einem ›Ergebniskonservatismus‹. »Die Erfahrungen in der Schweiz und in Kalifornien zeigen im Ergebnis häufig die Durchsetzung konservativer, neoliberaler und bisweilen auch dumpf rechtspopulistischer Politikinhalte.«27 Hier liegt nun der Grund, warum Rechtspopulisten scheindemokratisch auf die Volkssouveränität setzen. Darunter verstehen sie erstens die Willensartikulation des Volkes als Ethnos, nicht als Demos/Populus, zweitens einen Hebel, mit dem der Rechtsstaat (als Instrument der herrschenden Eliten) unterminiert werden kann und drittens ein Instrument zur Bewahrung des Nationalstaats. Rechtspopulismus tritt als ethno-nationalistische Protestbewegung auf und steht im Gegensatz zu Hardt/Negris Vision, auch wenn beide grundlegende Gemeinsamkeiten aufweisen: ihre Institutionenfeindlichkeit, ihren Appell an irrationale Leidenschaften und ihre Kritik am Rationalismus der Aufklärung.

26 Vgl. Priester, Karin: Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2007. 27 Merkel, Wolfgang: »Entmachten Volksentscheide das Volk? Anmerkungen zu einem demokratischen Paradoxon«, in: WZB Mitteilungen, 131 (2011), Berlin, S. 10-13, hier S. 12.

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D ER B ONAPARTISMUS POLITIKTHEORETISCHE

ALS D ROHKULISSE ODER ALS K ATEGORIE ?

Die ideale Regimeform von Rechtspopulisten ist eine Wiederauflage des Bonapartismus, auch wenn dies vorerst nur als Trendextrapolation zu verstehen ist, hat es doch in Europa bisher keine rechtspopulistische Bewegung gegeben, der es gelungen ist, ein eigenes Regime zu etablieren. Überdies ist das Spektrum rechtspopulistischer Parteien so weit gefächert, dass auch Berührungsängste und Abgrenzungsbedürfnisse zwischen ihnen bestehen, was sich unter anderem an der Schwierigkeit zeigt, auf EU-Ebene eine gemeinsame Fraktion zu bilden. Überdies haben einige dieser Parteien wie die norwegische Fortschrittspartei oder die schweizerische Volkspartei SVP funktional die Rolle konservativer Volksparteien übernommen und lassen keine Tendenzen zum Bonapartismus erkennen. Dies vorausgeschickt, eignet sich der Begriff dennoch zur Bezeichnung einer Politik, die das Volk nicht, wie die klassisch autoritären Regime von Metternich bis Franco passiv und repressiv von der Politik fernhält, sondern es, auch mit Hilfe sozialpolitischer Maßnahmen, aktiv an das Regime bindet. 1996 konstatierte der Politikwissenschaftler Peter Lösche eine Tendenz zum Neo-Bonapartismus28; Thomas Wagner spricht vom »sanfte[n] Weg in den Bonapartismus«.29 Als dessen charakteristische Merkmale gelten die Schwächung und Aushöhlung der Legislative zugunsten einer starken Exekutive, die Umgehung des Parlaments durch den direkten Appell an das Volk und der Abbau innerparteilicher Demokratie. Bei allen sonstigen Unterschieden lautet das gängige Argument von Boris Jelzin über Silvio Berlusconi bis Marine Le Pen, man fühle sich nicht dem Parlament, sondern dem Volk verantwortlich. Überdies tendiert der Bonapartismus zum Aufbau von Parallelstrukturen, mit denen die Institutionen der repräsentativen Demokratie zwar nicht offiziell abgeschafft, aber unterlaufen und ausgehöhlt werden sollen. Der Namensgeber dieser Regimeform, Louis Bonaparte, der sich als französischer Kaiser Napoleon III. nannte, stützte sich auf die ›Gesellschaft des 10. Dezember‹, eine Organisation, die offiziell als Wohltätigkeitsveranstaltung auftrat, faktisch aber eine »Parteienstreitmacht« (Marx) des Kaisers war. Der lang-

28 Vgl. Lösche, Peter: »Lose verkoppelte Anarchie«. Der Göttinger Politik-Professor Peter Lösche über die Bonapartisierung der Parteien, Interview mit Olaf Ihlau und Paul Lersch, in: Der Spiegel, 30, vom 22.07.1996, S. 25-27. 29 Vgl. Wagner, Thomas: Direkte Demokratie als Mogelpackung. Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln: PapyRossa-Verlag 2011.

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jährige italienische Ministerpräsident Berlusconi war Mitglied der antidemokratisch-konspirativen Freimaurerloge P2 und brauchte daher nicht eigens eine konspirative Organisation ins Leben zu rufen. Operativ genügte ihm sein Medienimperium, mit dessen Hilfe er seine Ziele propagierte: Transformation des politischen Systems in eine Präsidialdemokratie und Desavouierung der Gewaltenteilung durch Anprangerung der vermeintlich kommunistisch unterwanderten Justiz und der ›roten Richter‹. Das Neue an der Herrschaft Louis Bonapartes in Frankreich in den Jahren 1852-1870 bestand darin, dass er nicht mehr in der Tradition der alten, vorrevolutionären Eliten stand. Vielmehr war er, wie schon sein Onkel Napoleon Bonaparte, ein homo novus, ein Aufsteiger, der sich nicht mehr auf die Legitimation durch dynastische Bande, historische Tradition oder den Willen Gottes berufen konnte: Seine Legitimationsgrundlage war das Volk, insbesondere die kleinen Parzellenbauern und die Armee. Die Bauern hatten zwar von der Abschaffung feudaler Eigentumsverhältnisse durch die Revolution von 1789 profitiert, waren aber Mitte des 19. Jahrhunderts unter das Joch neuer, bürgerlicher Finanzherren geraten und hoch verschuldet. Ihr Ziel war die Wiederherstellung eines Zustandes, in dem sie auf der Gewinnerseite gestanden hatten, nun aber durch hohe Steuern, Kredite und die kleinen, unwirtschaftlichen Parzellenhöfe zu den Verlierern gehörten. Karl Marx schreibt in seinem bekannten Text »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«: »Die Dynastie Bonaparte repräsentierte nicht den revolutionären, sondern den konservativen Bauern. […] Sie repräsentierte nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben der Bauern, nicht sein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seine Vergangenheit.«30 Ersetzt man die historisch bedingten Bezeichnungen ›Bauern‹ und ›Dynastie Bonaparte‹ durch zeitgemäße Akteure wie städtische Unterschichten mit ihren Überfremdungsängsten und ein populäres, mediengewandtes Sprachrohr, hat Marx’ Analyse nichts an Aktualität verloren. Die Sorgen und Nöte des ›kleinen Mannes‹ dienen auch heute zur Legitimation einer neuen, vom Establishment ausgeschlossenen Elite von homines novi. Kaum ein anderer hat sich so sichtbar zu deren Sprachrohr aufgeschwungen wie der niederländische Populist Pim Fortuyn.

30 Marx, Karl: »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich (Hg.), Werke, Bd. 8, Berlin: Dietz 1960, S. 111-207, hier S. 199.

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S CHLUSS : AMBIVALENZEN DES V OLKSBEGRIFFS POLITISCHEN R EPRÄSENTATION

UND DER

(1) Der Begriff des Volkes ist seit der Antike polysemisch und hat drei Bedeutungsdimensionen: eine politische als Populus/Demos, eine soziale als Plebs und eine ethnisch-kulturelle als Ethnos. (2) Erst in der bürgerlichen Gesellschaft tritt das Volk als Souverän, d.h. als autonome Macht auf, auch wenn erst nach langen Kämpfen alle erwachsenen Gesellschaftsmitglieder sukzessiv den Status von Vollbürgern erreicht haben. (3) Das Volk in der Moderne ist, im Gegensatz zu Hardt/Negris Unterstellung, nicht ›eins‹ oder homogen, sondern beruht auf der juristischen Abstraktion von seiner empirischen Heterogenität. Erst als Populus begründet es seinen Egalitätsstatus in der Bürgerschaft, der civitas. (4) In Abwehr dieser aufklärerischen Tradition wird das Volk seit der deutschen Romantik nicht mehr als Demos/Populus verstanden, sondern als kulturell, sprachlich und ethnisch homogene Abstammungsgemeinschaft. Das ›Volk‹ wird von einem Konstrukt zu einem Substanzbegriff essentialisiert. (5) Hardt und Negri propagieren mit dem Begriff der Multitude eine Naturalisierung der Geschichte. Geschichte verstehen sie als ewigen, ontologisch vorgegebenen Kampf zwischen Ordnung und Subversion, Macht und Gegenmacht. Nicht nur der nationale oder supra-nationale Staat als Herrschaftsorgan, sondern auch das Volk als Populus wird den Kräften der Ordnung zugeschlagen und damit für obsolet erklärt. Mit dem Abschied vom Volk als Souverän und Selbstgesetzgeber zeichnet sich eine linkspopulistische Demokratie ohne Volk ab, d.h. eine Regression zu einer vorstaatlichen, amorphen Menge, von der nicht sicher ist, in welche Richtung sie ihr conatus treiben wird. Diese Ambivalenz macht sich der Rechtspopulismus zunutze: Er fordert nicht Herrschaftsfreiheit im anarchistischen Sinne, sondern Befreiung von den gegenwärtig herrschenden Eliten und rekonstruiert Demokratie tendenziell im bonapartistischen Sinne als Identität von Führung und Volk. Die multitudo war daher nicht umsonst seit der Antike negativ konnotiert. Beraubt man sie der Möglichkeit, sich zum Populus als Subjekt von Vernunft und Recht zu konstituieren, wirft man sie zurück in die Sphäre irrationaler Aufwallungen, Affekte, Impulse und unreflektierter Ressentiments. Pierre Rosanvallon unterscheidet daher zwischen direkter und unmittelbarer Demokratie. »Direkte Demokratie will die Mechanismen abschaffen, die den Vertreter an die Stelle des Vertretenen setzen, während die unmittelbare Demokratie jede Refle-

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xivität des Gesellschaftlichen ablehnt.«31 Was der links-anarchistische mit dem rechten Populismus teilt, ist eben diese Ablehnung von Reflexivität des Gesellschaftlichen zugunsten einer unreflektierten, institutionell und diskursiv ungefilterten Willensbekundung. Der Unterschied zwischen ihnen liegt nur darin, dass der Ruf nach Selbstorganisation und Herrschaftsfreiheit im ersten Fall zum Rückzug in Sphären der Selbstbestimmung führt, von denen angenommen wird, dass sie als Gegengesellschaft ein gesellschaftsveränderndes Potenzial hätten. Dagegen setzen Rechtspopulisten auf ein unmittelbares Sprachrohr des Volkes, das vorgibt, mit dem Volkswillen identisch zu sein. Daher konnte es ohne weiteres auch in einer Diktatur wie dem NS-Regime Volksbefragungen geben. Sie wurden aber, wie auch das formell weiter bestehende Parlament, lediglich als plebiszitäres Akklamationsforum des Führerwillens und als Gefolgschaftsbekundungen verstanden.32 Wenn Diktaturen gefahrlos Volksbefragungen zulassen können, allgemeine, über Parteien vermittelte Wahlen aber nicht, muss dies die Euphorie einer demokratieförderlichen Funktion von Volksabstimmungen erheblich dämpfen, ganz abgesehen von ihrem schichtspezifischen »Ergebniskonservatismus« (Merkel). Die Antwort auf die Souveränitätseinbußen des Nationalstaats ist nicht im Rückzug auf Mikropolitik zu suchen, sondern in einer Ausweitung der Selbstgesetzgebungskompetenz des Demos über den nationalstaatlichen Rahmen hinaus. Teile der radikalen Linken legen den Begriff des Volkes, der Volkssouveränität und der politischen Repräsentation vorschnell ad acta und überlassen damit deren Interpretation den Rechtspopulisten. Diese machen sich die Mehrdimensionalität des Volksbegriffs zunutze und verstehen unter Volk den Ethnos, nicht den Demos. Wer glaubt, mit dem Volksbegriff auch dessen ›faule Mystik‹ abzustreifen, verfällt nur allzu leicht dem Mythos einer immer schon politischen Multitude. Löst man die Spannung zwischen Volkssouveränität und Souveränität des Gesetzes (rule of law) einseitig zugunsten der einen oder der anderen Seite auf, besteht entweder die Gefahr einer reinen Elitenherrschaft oder die eines populis-

31 Rosanvallon, Pierre: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg: Hamburger Ed. 2010, S. 153 auch Priester, Karin: Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2012, S. 59. 32 Im NS-Regime gab es 1933, 1934, 1936 und 1938 Plebiszite, 1936 auch Reichstagswahlen, zu denen aber nur die NSDAP mit Einheitsliste antrat. Die Regime Mussolinis und Francos kannten ebenfalls Volksabstimmungen. Auch in der DDR gab es 1968 einen Volksentscheid zur neuen Verfassung, der aber der einzige in der Geschichte der DDR blieb.

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tischen Appells an das Volk als Amalgam von Ethnos und Plebs. Ob dies aber auch zu einem Regime unter bonapartistischem Vorzeichen führt, ist nicht ausgemacht, auch wenn der Berlusconismus bereits deutliche Konturen in diese Richtung hat erkennen lassen.

L ITERATUR Ball, Simone: »Von der Volkspartei zur Bevölkerungspartei«, in: SOZIAListMUSS 2 (2007), S. 6-7. Brecht, Bertolt: »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, in: Ders., Werke, Bd. 22.1, Berlin/Weimar: Aufbau Verlag 1993, S. 74-90. Cicero, M. Tullius: Über den Staat, Stuttgart 1998. Gauland, Alexander: Eröffnungsrede anlässlich der konstituierenden Sitzung des Brandenburgischen Landtages, http://www.afd-brandenburg.de/eroeffnungs rede-von-dr-alexander-gauland/ vom 19.10.2014. Gardt, Andreas: »Art. Nation«, in: Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/Mattheier, Klaus J. (Hg.), Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft, Bd.1, 1.Teilband, Berlin/New York: de Gruyter 2004, S. 369-377. Gschnitzer, Fritz/Koselleck, Reinhart/Schönemann, Bernd/Werner, Karl-Ferdinand: »Volk, Nation, Nationalismus, Masse«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, S. 141-431. Habermas, Jürgen: »Constitutional Democracy. A Paradoxical Union of Contradictory Principles?«, in: Political Theory 29 (6) (2001), S. 766-781. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2004. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse III, Werke Bd. 10, hg. von Moldenhauer, Eva/Michel, Karl Markus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986. Jansen, Christian/Borggräfe, Henning: Nation, Nationalität, Nationalismus, Frankfurt a. M./New York: Campus-Verlag 2007. Kalyvas, Andreas: »Popular Sovereignty, Democracy, and the Constituent Power«, in: Constellations, 12 (2) (2005), S. 223-244. Llanque, Marcus: »Populus und Multitudo: Das Problem von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit in der Genealogie der Demokratietheorie«, in: Bluhm, Harald/Fischer, Karsten/Llanque, Marcus (Hg.), Ideenpolitik. Geschichtliche

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Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH 2011, S. 19-38. Lösche, Peter: »Lose verkoppelte Anarchie«. Der Göttinger Politik-Professor Peter Lösche über die Bonapartisierung der Parteien. Interview mit Olaf Ihlau und Paul Lersch, in: Der Spiegel, 30, vom 22.07.1996, S. 25-27. Marx, Karl: »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich (Hg.), Werke, Bd. 8, Berlin: Dietz 1960, S. 111-207. Maus, Ingeborg: Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin: Suhrkamp 2011. Merkel, Wolfgang: »Entmachten Volksentscheide das Volk? Anmerkungen zu einem demokratischen Paradoxon«, in: WZB Mitteilungen, 131 (2011), Berlin, S. 10-13. Priester, Karin: Populismus. Historische und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2007. Priester, Karin: Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt a. M.: Campus-Verlag 2012. Rosanvallon, Pierre: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe, Hamburg: Hamburger Ed. 2010. Saar, Martin: »Politik der Multitude. Zeitgenössische politisch-philosophische Anschlüsse an Spinoza«, in: Hindrichs, Gunnar (Hg.), Die Macht der Menge. Über die Aktualität einer Denkfigur Spinozas, Heidelberg: Winter 2006, S. 181-202. Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, München: Theatiner-Verlag 1925. Sousa Costa, Annette: »Volk, Leute, populus, gens, nacio dans les sources écrites au début du moyen âge«, in: Sens public. Revue Web, 2, 1-13 (2007), www.sens-public.org/spip.php?article381&lang=fr vom 14.07.2014 Spector, Céline: »La multitude ou le peuple? Réflexions sur une politique de la multiplicité«, in: Critique, 654 (2001), S. 880-897. Wagner, Thomas: Direkte Demokratie als Mogelpackung. Oder Deutschlands sanfter Weg in den Bonapartismus, Köln: PapyRossa-Verlag 2011.

W ANDEL DER R EPRÄSENTATIONEN AUF DEM W EG IN DIE M ODERNE

Der Wandel monarchischer Repräsentationsformen am Beispiel der Inthronisationsfeierlichkeiten des spanischen Königs Karl IV. 1789 B EATE M ÖLLER

In Zeiten politischer Instabilität, z.B. bei einem Thronwechsel, steigt der Bedarf an Inszenierungs- und Visualisierungsformen der politischen Ordnung. Von erheblicher Bedeutung für die politische Repräsentation ist der Inthronisationsakt, da im Rahmen der jeweiligen Inthronisationszeremonie die Übernahme der Regierungsgewalt durch den neuen Herrscher kommuniziert und somit symbolisch inszeniert werden muss. In der spanischen Geschichte gilt der Vollzug eines Thronwechsels seit dem Spanischen Erbfolgekrieg (1700-1714), welcher das Land politisch spaltete, als besonders instabile Phase politischer Herrschaft.1 Im Jahr des Thronwechsels von Karl III. zu Karl IV., 1789, kommt es neben der europaweiten Krise der Monarchie im ausgehenden Ancien Régime zum Ausbruch der Französischen Revolution. Vor diesem historischen Hintergrund sind die Inthronisationsfeierlichkeiten Karls IV. unter dem Aspekt der politischen Repräsentation besonders brisant. Höhepunkt dieser Feier ist der offizielle Einzug Karls IV. Ende September in Madrid, der mehrere Tage lang zelebriert

1

Die in der Folge des Dynastiewechsels durchgesetzten zentralistischen Reformen durch den ersten Bourbonen-König auf dem spanischen Thron, Philip V., führen in den zuvor vergleichsweise autonom regierten Königreichen der spanischen Monarchie zu weiteren Einbrüchen der ohnehin eingeschränkten Legitimität der BourbonenHerrschaft.

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wird.2 Die folgenden Ausführungen widmen sich der Frage nach dem Wandel politischer Repräsentations- und Inszenierungsformen monarchischer Herrschaft in der beginnenden Moderne. Am Beispiel der Inthronisationsfeierlichkeiten Karls IV., die in ihrer Gesamtheit als theatralische Festinszenierung aufgefasst werden, soll anhand der Betrachtung ausgewählter, zentraler Festakte erörtert werden, welche Unterschiede zu traditionellen Inthronisationsfeiern bestehen und inwieweit diese einen Wandel monarchischer Repräsentationsformen markieren. 3

D ER R EGIERUNGSWECHSEL 1788 Am 19. Dezember 1788 unterrichtet die Gazeta de Madrid die spanische Bevölkerung offiziell über das Ableben König Karls III. am 14. Dezember und zitiert das königliche Dekret zur Anordnung der traditionellen Trauerzeremonien durch den neuen König Karl IV.: »Nachdem seine Majestät der König den Staatsrat und den Gerichtshof über das Ableben des Königs, seines ehrwürdigen Vaters in Kenntnis gesetzt hatte, hat er die folgende königliche Anordnung des Staatsrats ausgesandt: ›Herr Karl IV. von Gottes Gnaden König von Kastilien, León, Aragonien, beider Sizilien, Jerusalem, Navarra, [...] Herr der Biskaya und Molina etc.. [...] lässt alle Gemeindevertreter, Bürgermeister [...] wissen, dass mit dem Datum dieses Tages das folgende königliche Dekret an den Staatsrat ergangen ist: ›Um

2

Zwischen Februar und September 1789 wird Karl IV. zum neuen König ausgerufen und die offiziellen Inthronisationsfeierlichkeiten werden in allen größeren Städten Spaniens sowie den hispanoamerikanischen Kolonien veranstaltet. Vgl. Fernández Martín, María Mercedes: »Fiestas en Écija por la proclamación de Carlos IV«, in: LABORATORIO DE ARTE 11 (1998), S. 591-605.

3

Zugrundgelegt werden hier die im Zuge des performative turn erweiterten Definitionen der Begriffe »Theatralität« und »Inszenierung«, da mit ihnen offengelegt werden kann, wie im Rahmen dieser Festinszenierung symbolische Kommunikationsformen des Theaters zur Darstellung monarchischer Repräsentation genutzt werden. Vgl. dazu Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Warstat, Matthias (Hg.), Theatertheorie, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 146-153; 358-364 sowie Müller, Jan-Dirk: »Symbolische Kommunikation zwischen Liturgie, Spiel und Fest«, in: Barbara StollbergRilinger/Tim Neu/Christina Brauner (Hg.), Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, Köln/Weimar: Böhlau 2013, S. 331.

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viertel vor eins in den frühen Morgenstunden hat Gott frommerweise die Seele meines geliebten Vaters und Herren [...] mit sich genommen und ich teile dem Staatsrat mit dem Schmerz, der der Zartheit meines natürlichen Gefühls entspricht und voller Zerrüttung über diese Umstände mit, er möge alle in diesem Fall gebräuchlichen Vorkehrungen treffen. Im Palast, am 14. Dezember 1789. Aus königlicher Hand dem Grafen von Campomanes überreicht.‹«4

Aus dem Zitat lässt sich entnehmen, dass die Amtsübernahme durch Karl IV. faktisch sofort vollzogen wird, worüber kurze Zeit später die spanische Öffentlichkeit mittels dieser Gazette informiert wird. Der symbolische Herrscherwechsel sollte im Anschluss an die traditionelle Trauerzeit zu Ehren des verstorbenen Monarchen im Zuge des repräsentativen Akts der Ausrufung und Inthronisationsfeierlichkeiten Karls IV. erfolgen. Hier lässt sich für die Ebene der politischen Repräsentation die Frage aufwerfen, inwieweit das Medium der Gazette einen Teil der symbolischen Kommunikation der Inthronisationszeremonie bereits vorweg nimmt. Sie lässt die Rezipienten des Artikels an der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den neuen Monarchen »teilhaben«, bevor dieser öffentlich ausgerufen oder auf den Thron gehoben wird.

4

»Habiendo hecho saber el Rey Ntro. Sr. á sus Consejos y Tribunales el fallecimiento del Rey su augusto Padre, se ha expedido la siguiente Real Provisión del Consejo. ›Don Carlos IV por la gracia de Dios Rey de Castilla, de Leon, de Aragon, de las dos Sicilias, de Jerusalen, de Navarra, [...] Señor de Vizcaya y de Molina &cc. [...]›A la una ménos quarto de la mañana de hoy ha sido Dios servido de llevarse para sí el alma de mi amado Padre y Señor [...]; y lo participo al Consejo con todo el dolor que corresponde á la ternura de mi natural sentimiento tan lleno de motivos de quebranto por todas circunstancias, para que se tomen las providencias que en semejantes casos se acostumbran. En Palacio á 14 de Diciembre de 1788. Señalado de la Real mano de S.M. al Conde de Campománes.‹« Gazeta de Madrid vom 19.12.1788 (eigene Übersetzung) (In den Ausgaben des 18. Jahrhunderts wurde dieser Zeitungstitel wechselweise als Gazeta oder Gaceta ausgeschrieben.) Interessant ist bei der Herrschertitulatur die Nennung der verschiedenen, formal weiterhin bestehenden, Königreiche von Aragonien und Navarra, statt der Bezeichnung »König von Spanien« (Rey de España) oder »König der Spanien« (Rey de las Españas), wie es im 18. Jahrhundert gebräuchlich war. Wie Regine Jorzick feststellt, findet sich die oben genannte Reihenfolge der einzelnen Herrschergebiete mit Kastilien an erster Stelle erstmals bei Philipp II., der, je nach Adressat, die Reihenfolge der Titulatur änderte. Vgl. dazu Regine Jorzick: Herrschaftssymbolik und Staat. Die Vermittlung königlicher Herrschaft im Spanien der Frühen Neuzeit, Wien/München 1998, S. 63-77.

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Im zitierten Zeitungsartikel wird die Information über den Herrscherwechsel nicht rein sachlich übermittelt, wie es beispielsweise beim Thronwechsel von Ferdinand VI. zu Karl III. der Fall war.5 Vielmehr entsteht durch das Zitat Karls IV. aus der Ich-Perspektive und durch die Darstellung seiner Trauergefühle der Eindruck eines Zeugenberichts. Im Gegensatz zu barocken Formen der monarchischen Repräsentation, die darauf ausgerichtet sind, eine Distanz zwischen Herrscher und Volk zu etablieren, um die vertikale soziale Hierarchie zu visualisieren6, bewirkt dieses Zitat eine gesteigerte Nähe der Leser zum Geschehen. Karl IV. erscheint durch die Wiedergabe seiner Stimme als Herrschersubjekt. Anhand dieser Erzählung erfolgt eine Inszenierung seiner ersten Amtshandlung vor dem geistigen Auge der Rezipienten.7 Ein weitere wichtige Information lässt sich den Formulierungen »der König, unser Herr« (»el Rey, Ntro. Sr.«) sowie »mein geliebter Vater und Herr« (»amado Padre y Señor«) entnehmen. Sie bringen die fiktive Trennung zwischen der weltlichen Person des Königs (el Rey/Padre) und seiner von Gott eingesetzten Herrscherfunktion (Señor) durch eine begriffliche Unterscheidung zum Ausdruck. Sie verweist auf die Vorstellung, dass Herrscherkörper und politische Macht getrennt voneinander existieren, welche u. a. in der Zwei-Körper-Theorie von Ernst Kantorowicz zugrunde gelegt wird.8 Bei einem intermedialen Vergleich der Herrscherdarstellungen in Gazetten und im Rahmen eines Festes lassen sich Unterschiede feststellen. Während in der Epoche des Barock die höfischen Feste neben der öffentlichen Repräsentation der Monarchen auch den Zweck erfüllten, ein horror vacui, die Angst vor der Leere und dem Gefühl, nichts zu tun zu haben, zu verhindern, so entsteht durch die Berichterstattung der Gazetten, die dem Monarchen bei der Regierungstätigkeiten sozusagen über die Schultern blicken, das Bild des im Dienste

5

Vgl. Gaceta de Madrid vom 14.08.1759.

6

Alewyn, Richard: Das große Welttheater, München: Beck 1985², S. 17.

7

Über die politisch-propagandistische Funktion der Gazetten während des Spanischen Erbfolgekriegs liegen bereits einzelne Studien vor. Vgl. dazu z. B. Metzdorf, Jens: Politik-Propaganda-Patronage: Francis Hare und die englische Publizistik im Spanischen Erbfolgekrieg, Mainz: von Zabern 2000. Bisher nur in Ansätzen erforscht wurde dagegen ihre Funktion als offizielle Regierungsorgane und somit ihre Funktion im Bereich der monarchischen Repräsentation. Vgl. dazu Núñez Prado, Sara: »De la Gaceta de Madrid al Boletín Oficial del Estado«, in: Historia y Comunicación Social, Vol. 7 (2002), S. 147-160.

8

Vgl. Maravall, José Antonio: Estado Moderno y Mentalidad Social, Madrid: Alianza 1986, S. 332.

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des Staats stehenden Monarchen. Bei diesem Darstellungswandel wird das Augenmerk von der ehemals prunkvollen Inszenierung des Herrschers und seines Körpers auf die Berichterstattung seiner Diensttätigkeit, sein Handeln gelenkt.9 Der steigende Grad an Schriftlichkeit im 18. Jahrhundert, ausgelöst durch Buchdruck und Pressewesen, führt zu einer Rationalisierung der Kommunikation: Symbolisch-expressive Kommunikationsformen der Frühen Neuzeit werden durch begrifflich-abstrakte, diskursive Kommunikationsformen in Druckerzeugnissen ergänzt, ohne dabei die sinnbildende Funktion von Symbolisierungen völlig zu ersetzen.10 Auf der Grundlage dieses medial bedingten, kommunikativen Wandels, so lautet unsere These, lässt sich auch der Wandel des Herrscherbildes erklären. Ausgelöst durch die Gazetten, wird der Schwerpunkt der Darstellung von visuellen Medien wie Gemälden oder Inszenierungen in Co-Präsenz des Königs auf die verbale, diskursive Darstellung gelegt.11 Auch auf stilistischer Ebene führt dieser me-

9

Vgl. Blaise Pascal, »Traité sur le vide«, zitiert nach: R. Alewyn: Das große Welttheater, S. 15f. Als weiterer Beleg für diese These kann ein Gazetten-Auszug gelten, der von der Regierungstätigkeit Karls III. berichtet: »Der König, unser Herr, arbeitet ununterbrochen im Geschäftszimmer und seine erste Sorge besteht darin, nichts außer Acht zu lassen, was der Besserung seiner treuen Vasallen zukommen möge.«; »El Rey Nuestro Señor trabaja incesantemente en el Despacho de los negocios, y entre los primeros cuidados de su gobierno no omite diligencia conducente al alivio de sus fieles vasallos.« Gaceta de Madrid, 22. Januar 1760, (eigene Übersetzung). Darüber hinaus macht Karl III. 1762 die Gaceta de Madrid zum Hauptpresseorgan seiner Regierung. Vgl. S. Núñez Prado: De la »Gaceta de Madrid« al Boletín Oficial del Estado, S. 151.

10 Zu berücksichtigen ist, dass auch eine sprachliche Mitteilung immer eine symbolische Dimension besitzt. Jedoch, weist die sprachlich-diskursive Kommunikation einen prozeduralen Charakter auf und zielt auf Eindeutigkeit, während hingegen die symbolische Kommunikation auf den Moment ausgerichtet und mehrdeutig ist, was sich auf die kommunizierten Inhalte auswirkt. Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe-Thesen-Forschungsperspektiven, Berlin: Humblot & Duncker 2004, S. 499. 11 Barbara Stollberg-Rilinger betont zwar das Überdauern der sinnbildenden Funktion von Symbolisierungen über die Vormoderne hinaus, bestätigt aber gleichzeitig, den hier sichtbar werdenden Wandel: »Daß [sic!] sich die Funktion symbolischer Kommunikationsformen und die Notwendigkeit persönlicher Präsenz für die Herrschaftspraxis mit der zunehmenden Nutzung von Schriftlichkeit veränderten, lässt sich nicht in Abrede stellen.« B. Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, S. 514.

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diale Wandel zu einer Versachlichung der Darstellungsweise, die dem neuen Medium als Produkt der vernunftorientierten Epoche der Aufklärung entspricht. Gleichsam wird sichtbar, dass in diese »Rationalisierung« ein neuer Gefühlskult einfließt, der emotionale Nähe herstellen soll.12

I NTHRONISATIONSFEIERLICHKEITEN ZUM E INZUG K ARLS IV. IN M ADRID 1789

OFFIZIELLEN

Bereits kurze Zeit nach Ableben Karls III. werden erste Hinweise auf ein Bewusstsein politisch instabiler Verhältnisse erkennbar, als Karl IV. versucht, die Proklamationsfeierlichkeiten vorzuverlegen. Entgegen der üblichen Tradition einer Trauerzeit von sechs Monaten erlässt er bereits am 29. Dezember 1788 ein Königliches Dekret, das seine Ausrufung binnen drei Monaten vorsieht. Organisatorisch lässt sich dies nicht umsetzen, sodass die Ausrufung in den meisten Ortschaften Spaniens zwischen Juni und September und in den amerikanischen Kolonien erst Ende des Jahres abgehalten werden.13 Für die Thematik der politischen Repräsentation sind die Veranstaltungen in Madrid besonders aufschlussreich, da nur dort der Monarch bei den einzelnen Festakten anwesend ist und in verschiedenen Zusammenhängen in Inszenierungsformen eingelassen wird. Gleichzeitig tagt in Madrid die spanische Ständeversammlung, die Cortes de Madrid, zur Vereidigung auf den Prinzen von Asturien. In Madrid beginnen die Proklamationsfeiern Karls IV. am 21. September 1789 mit einem Festumzug, der über geschmückte Alleen an verschiedenen Adelspalästen und der Königlichen Akademie der Schönen Künste vorbeizieht, um schließlich die Teilnahme des königlichen Gefolges an zwei Festakten miteinander zu verbinden.14 Erster Anlaufpunkt des Festumzugs ist die Kirche Real

12 Vgl. dazu Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München: Fink 2003, S. 183-186, sowie Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler 1988. 13 Eine klassische Form der monarchischen Repräsentation über das Medium des Gemäldes liegt bei den Ausrufungsfeiern außerhalb von Madrid vor, zu denen der König nicht erscheint und nur durch sein Portrait repräsentiert wird. Vgl. dazu ebenso wie zur Darstellung der einzelnen Ausrufungstermine: M. M. Fernández Martín: Fiestas en Écija por la proclamación de Carlos IV, S. 591-605. 14 Über die Ausschmückung Madrids berichtet ausführlich der Historiker Juan Sempere y Guarinos: Descripción de los ornatos públicos con que la corte de Madrid ha

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Iglesia Parroquia de Sta. Maria. Dort kehrt der König zum Gebet ein und nimmt am Te Deum teil, um schließlich vom Erzbischof von Toledo den Segen zu erhalten.15 An der nächsten Station, dem Botanischen Garten, tritt der König vor der madrilenischen Bevölkerung in Erscheinung. Der Festzug hält auf der PradoAllee vor dem Königs-Tor, einem der beiden Eingänge. Dort verlässt das königliche Gefolge die Kutschen und betritt den, aufgrund der Abenddämmerung mit mehreren Tausend Kerzen erleuchteten, Botanischen Garten. Im Inneren des Gartens wartet eine Gruppe von insgesamt 298 mittellosen Mädchen und Jungen im Grundschulalter, die in den staatlichen Schulen Madrids oder den Schulen der städtischen Manufakturen unterrichtet werden. Sie alle halten eine Kerze in der Hand16 und bringen ihre Freude über die Ankunft des neuen Königs zum Ausdruck, woraufhin sie ein reichhaltiges Abendessen serviert bekommen und schließlich nach Hause geleitet werden. Sodann durchschreitet das königliche Gefolge den Botanischen Garten, wo nahe dem Eingang, im Zentrum der Anlage sowie am Ausgang der Gesang eines Chores erklingt. Die Gesellschaft verlässt die Gartenanlage durch das Murillo-Tor, welches sich gegenüber dem PradoMuseum befindet, um von dort den Rückweg anzutreten.17 Bezüglich der Inszenierungsformen dieses Festumzugs ist auf einige Elemente des Wandels monarchischer Repräsentation zu verweisen. Zwar ist die Rahmeninszenierung dieser Zeremonie in barocker Tradition organisiert, was vor allem durch den Besuch der Messe sowie das Ausschmücken der Alleen ersichtlich wird. Jedoch zeigt sich anhand des Einbezugs der Königlichen Akademie der Schönen Künste, des damals naturwissenschaftlichen Prado-Museums und vor allem auch des Botanischen Gartens als zentrale Schauplätze ein grund-

solemnizado la feliz exaltación al trono de los Reyes Nuestros Señores Don Carlos IIII. [sic!] y Doña Luisa de Borbón y la jura del serenísimo Señor Don Fernando, Príncipe de Asturias, Madrid 1789. 15 Vgl. Gazeta Extraordinaria de Madrid, vom 21., 22. und 23. September 1789. 16 J. Sempere y Guarinos: Descripción de los ornatos, S. 28. Möglicherweise lässt sich diese Inszenierung als ein Spiel mit der Lichtmetaphorik der Aufklärung deuten. In diesem Sinne könnte das Kerzenlicht metaphorisch die Aufklärung symbolisieren, die die Bourbonen den Mädchen und Jungen durch die Schulbildung zu teil werden lassen. Faktisch spiegelt diese Szene die staatliche Bildungspolitik wider, die seit dem Jahr 1781 den Besuch der Grundschule gesetzlich vorschreibt. Vgl. dazu sowie zur Lichtmetaphorik der spanischen Aufklärung Schütz, Jutta: »Das 18. Jahrhundert in Spanien – El siglo de las luces?« in: Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.), Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart/Weimar 2006³, S. 185-230. 17 Vgl. Gazeta Extraordinaria de Madrid, vom 21., 22., und 23. September 1789.

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legender inhaltlicher Wandel der monarchischen Repräsentation. Durch den Verweis auf die neuen wissenschaftlichen Institutionen wird symbolisch die aufgeklärte Reformpolitik der Bourbonen-Monarchie inszeniert, die für den gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne der Künste und Wissenschaften stehen soll.18 Ebenso wird die Reform- und Fortschrittspolitik durch die Inszenierung der königlichen Wohltätigkeit visualisiert. Sie verweist auf die Finanzierung staatlicher Schulen für die mittellose madrilenische Stadtbevölkerung und geht somit über den üblichen Akt der Spende im Zuge des Festes hinaus. Hervorzuheben ist hierbei die Anwesenheit der städtischen Bevölkerung, die zu diesem Anlass kostenlos den Botanischen Garten betreten kann, um der Zeremonie beizuwohnen.19 Unter inszenatorischen Gesichtspunkten fällt auf, dass sich der König bei diesem Festakt mitten in der Stadt und außerhalb der Kutsche, räumlich auf derselben Ebene wie die Bevölkerung Madrids präsentiert, indem er zu Fuß den Park durchquert. Zwar wird er von Gardesoldaten bewacht und somit von den Zuschauern abgegrenzt, jedoch besteht keine vertikale Distanz und zudem eine ungewöhnliche Nähe zur Bevölkerung. Inszeniert wird im Zuge dieses Festaktes nicht mehr nur die Position des Königs von Gottes Gnaden in Reichtum und Pracht und somit die Legitimität der monarchischen Herrschaft im traditionellen Sinn. Vielmehr nehmen die Verdienste der spanischen BourbonenMonarchen als Reformer und Wohltäter Spaniens eine zentrale Rolle für die Herrscherpräsentation ein. Ein weiterer Hauptakt des Festes, der gleichzeitig für die Analyse der politischen Repräsentation und die symbolische Machtübernahme zentral ist, findet am Vormittag des dritten Tages statt. Dabei handelt es sich um die Vereidigung der Ständeversammlung (Cortes de Madrid), des Klerus und des Adels auf den Erbprinzen von Asturien sowie die gleichzeitige Bestätigung des neuen Königs in seinem Amt in der Kapelle der Königlichen Klosterkirche San Gerónimo. Dort versammeln sich das Königspaar, die Infanten, der Hofstaat, der Hochadel, Mitglieder der Ritterorden, die Ständevertreter der spanischen Königreiche und Städte (Cor-

18 Die gezielte Inszenierung monarchischer Herrschaft mittels kultureller Symbolgebung in Architektur und Kleiderordnung seit der Regentschaft Karls III. stellt auch Joaquín Álvarez Barrientos fest, der darüber hinaus auf die Funktion der damaligen Historiographen für die Verbreitung dieser Propagandapolitik, u. a. des hier zitierten Juan Sempere y Guarinos, verweist. Vgl. dazu: Álvarez Barrientos, Joaquín: »Representaciones de la Ilustración. ¿Cómo se vio, cómo la vieron, cómo la vemos?«, in: Jesús Astigarraga Goenaga (u.a.) (Hg.), Ilustración, ilustraciones, Sociedad Estatal de Conmemoraciones Culturales (España), Vol. 1, 2009, S. 102. 19 Vgl. J. Sempere y Guarinos: Descripción de los ornatos, S. 28.

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tes) in Begleitung von Standartenträgern und vier Zeremonienmeistern, verschiedene Kardinäle sowie einige Staatsratsmitglieder, ausländische Minister und Botschafter. Die Zeremonie beginnt mit einer Messe, die vom Kardinal Erzbischof von Toledo gelesen wird. Darauf folgt, unter der Regie der Zeremonienmeister, die Vereidigung der Cortes auf den fünfjährigen Infanten Ferdinand VII. als Prinz von Asturien und somit designierten Thronfolger. Im Rahmen dieser Zeremonie legen die Ständevertreter, die Adeligen, die Mitglieder der Ritterorden sowie die Kardinäle nacheinander, über einer offenen Bibel kniend und eine Hand auf ein Kruzifix auflegend, einen Treueschwur auf den Infanten Ferdinand, den neuen Prinzen von Asturien ab. Daran anschließend huldigen sie dem neuen König mittels Kniefall und Handkuss und bestätigen ihn somit im Amt. Nach der Vereidigung wird der König gefragt, ob er den Treueschwur annehmen wolle, was Karl IV. positiv beantwortet. Die Vereidigungszeremonie abschließend stimmt der Kardinal von Madrid ein Te Deum mit den entsprechenden Gebeten an und nach Erteilung des Segens zieht sich der König mit seinem Hofstaat in den Buen-Retiro-Palast zurück.20 Bemerkenswert ist an erster Stelle, dass keine Krönung im eigentlichen Sinn stattfindet. Weder im Bericht der Gazette noch auf dem Gemälde Der Treueeid auf Don Ferdinand (VII) als Prinz von Asturien von Luis Paret y Álcazar, das die Zeremonie in medias res abbildet, ist ein Krönungsakt oder das Vorhandensein einer Krone ersichtlich. 21 Ebenso fehlen Zepter und Thron. Das Königspaar und der Infant sitzen seitlich des Altars auf einfachen Stühlen. Über ihnen hängt das königliche Wappen als Tapisserie von einem Baldachin herab. Als einzige Herrschaftszeichen treten in den genannten Quellen das königliche Schwert, das zu Beginn der Zeremonie von einem Mitglied des Hochadels in die Höhe gehalten wird, und das Wappen in Erscheinung. Hierbei scheint es sich um die Fortschreibung der spanischen Zeremonientradition seit dem 15. Jahrhundert zu handeln, bei der das Schwert als Herrschaftszeichen im Vordergrund steht. Demnach ist das Schwert »die Königsinsignie, die bei öffentlichen Anlässen am meisten gezeigt wurde, [...] vor allem dort, wo der König persönlich auftrat.«22 Zur Tradition der Inthronisationszeremonie der spanischen Könige erläutert Regine Jorzick Folgendes: »Seit sich 1379 Johann I. als letzter König die Krone eigenhändig auf den Kopf gesetzt hatte, fand in Kastilien keine Krönung mehr

20 Vgl. Gazeta Extraordinaria de Madrid, S. 683-686. 21 Paret y Álcazar, Luis: La Jura de Don Fernando (VII) como Príncipe de Asturias, 1791. Vgl. http://www.museodelprado.es/uploads/tx_gbobras/p01045a01nf2004.jpg. [letzter Zugriff : 23.09.2015]. 22 Vgl. R. Jorzick: Herrschaftssymbolik und Staat, S. 89.

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im eigentlichen Sinn statt. Deshalb ist es richtiger, von diesem Zeitpunkt ab von Proklamation zu sprechen.«23 Mit der Festlegung Madrids als Hauptstadt wird gleichzeitig ein festes Inthronisationszeremoniell etabliert, das den Handkuss durch die Cortes zur Anerkennung des neuen Königs und für das Vereidigungszeremoniell des Erbprinzen obligatorisch vorschreibt.24 Dies rückt den Handkuss als symbolischen Akt der Anerkennung des neuen Königs ins Zentrum der Inthronisationszeremonie: »Der Handkuß [sic!] (besamanos) war Symbol der Anerkennung von Vasallität im Lehenswesen. Seit dem 13. Jahrhundert lässt er sich auch als fester Bestandteil bei Thronerhebungen nachweisen. Sánchez Albornoz hält es für möglich, daß [sic!] seine Aufnahme in Zeremonien bei Thronerhebungen im Zusammenhang mit dem Wegfall der Salbung des Monarchen stand. [...] Durch die Nachahmung der Zeremonie in diesem Rahmen erkannten die Untertanen als natürliche Vasallen des Königs sein señorío político an.«25

Das Fehlen der Krone als Herrschaftszeichen und Symbol der Monarchie ist für das Jahr 1789 besonders interessant, da Karl III. 1775 eine neue Krone hatte anfertigen lassen. Sie wurde vermutlich für die Beerdigungszeremonie der Königin hergestellt und wird in der späteren Geschichte bei Ausrufungs- oder königlichen Beerdigungszeremonien zur Schau gestellt.26 Möglicherweise hat das Fehlen der Krone im Rahmen dieser Zeremonie politische Gründe. Da der spanische König als König von Kastilien die kastilische Krone trägt, könnte dies als starkes visuelles Symbol für den kastilischen Hegemonialanspruch gegenüber den anderen spanischen Königreichen gedeutet werden, die selbst nicht durch eigene Könige vertreten werden. Denkbar wäre, dass Karl IV. bewusst auf das Tragen der Krone vor den Cortes verzichtet, um politi-

23 Ebd., S. 153. 24 Allerdings soll nach diesem Protokoll der Handkuss durch die Cortes vor dem öffentlichen Einzug des neuen Königs in die Stadt erfolgen, wovon im Rahmen dieser Inthronisationsfeierlichkeiten abgewichen wird. Vgl. R. Jorzick: Herrschaftssymbolik und Staat, S. 55. 25 Ebd., S. 54f. 26 Vgl. http://www.casareal.es/ES/MonarquíaHistoria/Paginas/simbolos-monarquia.aspx, [letzter Zugriff: 19.02.2015]. Gegenwärtig wird die Krone in den königlichen Kultursammlungen aufbewahrt. Sie wurde bei der Vereidigung Phillip VI. auf die Verfassung im spanischen Parlament im Sommer des vergangenen Jahres gezeigt, jedoch setzte Phillip IV. sie nicht auf. Vgl. http://rtv.es/noticias/proclamacion-felipevi/ [letzter Zugriff: 19.02.2015].

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sche Spannungen zu vermeiden, welche vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Spanischen Erbfolgekrieg und der jüngsten Entwicklungen im Nachbarland Frankreich nicht auszuschließen waren.27 Trotz der langjährigen spanischen Tradition, den König auszurufen anstatt ihn zu krönen, birgt das Fehlen der Krone im Rahmen ritueller symbolischer Kommunikationssituationen Diskussionspotential. Es stellt sich die Frage, ob das Wappen der Bourbonen-Dynastie vollständig an die Stelle der mit der Krone symbolhaft verknüpften Vorstellung vom politischen Staatswesen treten kann. In diesem Zusammenhang muss auf das Vorhandensein des Begriffs der Krone (corona de Castilla, corona de Aragón) als Vorstellung von einer transpersonalisierten dauernden Repräsentation königlicher Macht in juristischen und politischen Texte des spanischen Mittelalters verwiesen werden. Wie Maravall für diese Epoche ausführt, wird das in der Krone symbolisierte Königtum als naturgegebene politische Macht aufgefasst, die überpersönlich und objektiv existiert und somit in der Terminologie der Zwei-Körper-Theorie von Ernst Kantorowicz28 als Symbol für den politischen Körper aufgefasst werden kann. Im 14./15. Jahrhundert werde der Begriff der Krone in der Literatur durch den der Monarchie (Monarquía de España) ersetzt. Das politische Staatswesen werde durch die Monarchie Spaniens repräsentiert, die sich aus einer Vielzahl von Königreichen (Reinos) zusammensetze.29 Allerdings betont Maravall die Rückkehr des Kronen-Begriffs in der Epoche des Barock, worauf auch einige zentrale Texte der politischen Literatur des 17. Jahrhunderts verweisen.30

27 Eine vergleichbare Deutung schlägt Gerd Althoff für den Krönungsverzicht Heinrichs I. im 10. Jahrhundert vor: »Auf weitere Heraushebungen verzichtete er, um so ein Königtum zu beginnen, das eigene Ansprüche zurückschraubte, um [...] zu einem Frieden im Innern zu kommen, was seinen Vorgängern nicht mehr gelungen war.« Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 86f. 28 »Unzweifelhaft war im Spätmittelalter der Gedanke geläufig, daß [sic!] in der Krone der ganze politische Körper repräsentiert war [...].« Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Stuttgart: Klett Cotta 1992, S. 369. 29 Vgl. Maravall, José Antonio: Estado Moderno y Mentalidad Social, Madrid: Alianza 1986, S. 332-336. 30 Vgl. Saavedra Fajardo, Diego: Idea de un príncipe político cristiano, Milano 1640. Den Hinweis auf diesen Text sowie auf die Ausführungen Maravalls verdanke ich Jan-Henrik Witthaus.

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Auch in der bildenden Kunst ist die Krone als Herrschaftssymbol präsent. Als fester Bestandteil auf Herrscherportraits der spanischen Könige ist sie ebenso auf dem Portrait Karls IV. von Goya aus dem Jahr 1789 abgebildet.31 Im intermedialen Vergleich deutet das unterschiedliche Erscheinen der Krone darauf hin, dass in dieser Epoche die Literatur, die bildenden Künste und symbolische Handlungssituationen wie z.B. Inthronisationszeremonien parallele Symbolsysteme darstellen, die nicht vollständig aufeinander abgestimmt sind. Eine intermediale Betrachtung böte die Möglichkeit, das gegenseitige Wechselverhältnis dieser Symbolsysteme offen zu legen, kann jedoch an dieser Stelle nur als Forschungsdesiderat für zukünftige Studien formuliert werden. Vor diesem Hintergrund rückt der Treueschwur ins Zentrum unserer Betrachtung. Zwar ist dieses Ritual in ein religiöses Zeremoniell eingebunden und die Treueverpflichteten müssen den Eid auf die Bibel leisten, jedoch wird dabei gleichzeitig ein weltliches Vertragsverhältnis zwischen König und Ständevertretern, die im weiteren Sinne als Repräsentanten des Volks angesehen werden können, geschlossen. Diese Form der symbolischen Vertragsschließung zwischen Herrscher und Untertanen wurde bereits im Feudalismus praktiziert.32 Jedoch gewinnt das Konzept der vertragsgebundenen Monarchie im Frühkonstitutionalismus33 der beginnenden Moderne an Bedeutung. Es gibt verschiedene Faktoren, die diese These bekräftigen. Zum einen verlagert sich in der weiteren historischen Entwicklung das Verhältnis der Treuepflicht vom Volk auf den König. In Frankreich werden seit Ludwig XVI. alle Könige dazu verpflichtet, einen Eid auf Parlament und Verfassung abzulegen.34 Noch prägnanter ist die Umkehrung des Rituals bei unserem Beispiel: Im Jahr 1789 müssen die Cortes dem Infanten Ferdinand VII. als Prinzen von Asturien die Treue schwören und ihn als zukünftigen absoluten Souverän anerkennen. 1820 muss dieser als König Ferdinand VII. einen Eid auf die Verfassung von Cádiz leisten, was den Bruch seiner absoluten Souveränität bedeutet.35

31 http://www.museodelprado.es/es/pagina-principal/coleccion/galeria-on-line/galeriaon-line/zoom/1/obra/el-rey-carlos-iv-de-rojo/oimg/0/ [letzter Zugriff: 19.02.2015]. 32 R. Jorzick: Herrschaftssymbolik und Staat, S. 55. 33 Zum Wandel der symbolischen Kommunikation und politischen Repräsentation im Frühkonstitutionalismus bzw. der beginnenden Moderne vgl. Knauer, Martin/ Kümmel, Verena (Hg.), Visualisierung konstitutioneller Ordnung 1815-1852, Münster: Rhema 2011, S. 9. 34 Ebd. 35 Martínez de Velasco, Ángel: »Ferdinand VII.« in: Walther L. Bernecker/Carlos Collado Seidel/Paul Hoser (Hg.), Die spanischen Könige. 18 historische Portraits vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Beck 1997, S. 216.

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Verdeutlicht werden kann diese Entwicklung anhand der wachsenden Bedeutung der Cortes, aus denen später die verfassunggebende Versammlung der Cortes de Cádiz hervorgeht. Sie werden im Mai 1789 von Karl IV. vorrangig dazu einberufen, den Treueschwur auf den Prinzen von Asturien zu leisten, wie es das Protokoll seit der Frühen Neuzeit vorsieht. Darüber hinaus werden in dieser Ständeversammlung zum ersten Mal seit 1713 politische Entscheidungen getroffen. Die Ständevertreter verabschieden die Rücknahme des Salischen Erbrechts36, das Phillip V. 1713 aus Frankreich importiert hatte, zugunsten der Wiedereinrichtung des weiblichen Erbanspruchs auf den Thron. Gleichzeitig hoffen die Minister Campomanes und Floridablanca, in den Cortes fortschrittsorientierte Gesetze verabschieden zu können. Dieser Plan schlägt fehl. Angesichts des Überfalls auf das Schloss Versailles in Frankreich besteht aus Sicht König Karls IV. die Gefahr, die Cortes könnten sich, ähnlich wie in Frankreich, zu einer Nationalversammlung formieren. Er löst sie im Oktober 1789 vorzeitig auf. Historiographischen Quellen zufolge gab es tatsächlich autonome politische Handlungsabsichten. Kurz vor der Auflösung hatten einige Cortes-Mitglieder angekündigt, Petitionen an den Monarchen im Namen des Königreichs richten zu wollen.37

D IE T HEATERAUFFÜHRUNG IM C OLISEO DEL P RÍNCIPE ALS ABSCHLUSSVERANSTALTUNG DER I NTHRONISATIONSFEIERLICHKEITEN Den Abschluss der Inthronisationsfeierlichkeiten in Madrid bildet eine mehrere Stücke umfassende Theaterinszenierung im städtischen Coliseo-Del-PríncipeTheater.38 Dabei sticht das Kurzdrama Die spanischen Provinzen aus Freude vereint (Las provincias españolas unidas por el placer) von Ramón de la Cruz, das den letzten Teil der Theateraufführung bildet, aufgrund von für die damalige

36 Das Salische Erbrecht sieht nur männliche Prätendenten für die Thronfolge vor, während das kastilische Erbrecht eine weibliche Nachfolge erlaubt, wenn kein männlicher Thronfolger vorhanden ist. Vgl. Giménez López, Enrique: El fin del Antiguo Régimen. El reinado de Carlos IV, Madrid: Ediciones Temas de Hoy 1996, S. 14. 37 Vgl. Ebd., S. 14-18 sowie Lorenzana, Felipe: La representación política en el Antiguo Régimen. Las Cortes de Castilla, 1655-1834, Madrid: Congreso de los Diputados 2013. 38 Vgl. Memorial Literario instructivo y curioso de la Corte de Madrid, octubre de 1789, parte primera, Nr. XCV, S. 313-318. In der Gaceta de Madrid endet der Bericht über die Inthronisationsfeierlichkeiten mit der Darstellung der Militärparade. Sie gibt keine Auskunft über den Abschluss des Festes.

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Zeit ungewöhnlichen Visualisierungsformen politischer Ordnung hervor.39 Gleichzeitig wird erstmals ein Volkstheaterstück, eine populäre Kunstform in die nach barockem Vorbild angelegten Feierlichkeiten integriert, was als symbolische Annäherung des Monarchen an die mittleren und unteren Volksschichten gedeutet werden kann. Es handelt sich hierbei um ein so genanntes Sainete, eine spezielle Kurzform des spanischen Dramas (Comedia).40 Dieser Einakter enthält sowohl Musik als auch Tanz und inszeniert die Inthronisationsfeier selbst. In direkt aufeinander folgenden Szenen erscheinen auf der Bühne Figuren aus den verschiedenen Provinzen Spaniens, die aus Anlass der Inthronisationsfeier nach Madrid kommen. Nach und nach treten die weiblichen und männlichen Figuren, die anhand ihrer Kostüme entweder einer bestimmten Provinz oder der madrilenischen Stadtbevölkerung zugeordnet werden können, auf die Bühne. Sie singen und tanzen volkstümliche Lieder und Tänze ihrer jeweiligen Herkunftsprovinzen und spielen auf ihren mitgebrachten regionaltypischen Musikinstrumenten, um die Inthronisation des neuen Königs sowie die Vereidigung des Prinzen von Asturien zu feiern. Die meisten Figuren sprechen Regionaldialekte, was aufgrund von daraus resultierenden Verständnisschwierigkeiten in kleinere Streitereien mündet. Im weiteren Verlauf erklären die Figuren mittels Botenbericht, dass sie alle auf Geheiß eines spanischen Verwaltungsbeamten der Einladung nach Madrid gefolgt seien. Allerdings schlagen die Vertreter der Regionen Katalonien, der Balearischen Inseln sowie Navarras die Einladung aus. Sie fehlen entweder aufgrund anderer wichtiger Verpflichtungen (Katalonien), mangelnder Disziplin (Balearen) oder ganz ohne Angabe von Gründen (Navarra).41 Nachdem sich

39 Cruz, Ramón de la: »Las provincias españolas unidas por el placer«, in: Ders., Sainetes, hg. von Francisco Lafarga, Madrid: Cátedra 2006³, S. 433-464 (Titel: eigene Übersetzung). 40 Im Vergleich zur Comedia, welche religiöse, mythische oder historische Stoffe verarbeitet, lässt sich das Sainete als eine Form des Volkstheaters bezeichnen, in dem typische Figuren aus dem madrilenischen Stadtmilieu erscheinen. Ein Sainete zeichnet sich dadurch aus, dass er keine Handlung im Sinne von Entfaltung und Lösung eines Konflikts aufweist und die komischen Elemente überwiegen. Vgl. Dowling, John: »Introducción«, in: Ramón de la Cruz: Sainetes, hg. von John Dowling, Madrid: Clásicos Castalia 1987, S. 24. 41 Das Fehlen der Regionen Katalonien und der Balearen Inseln wird im Dramentext namentlich benannt. Die Abwesenheit der Region Navarra lässt sich nur daraus rückschließen, dass keine der auftretenden Figuren dieser Region, ebenfalls einem historischen Königreich Spaniens, zuordnen lässt. Dieser Hinweis findet sich auch im Text

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mehrere Sequenzen des Wiedereintreffens neuer Regionalgesandter und deren Integration in Tanz und Gesang abgewechselt haben, sind Donnergeräusche zu hören und es erscheinen mehrere Wolken am Himmel. In der Regieanweisung ist angegeben, dass das Theater schrittweise in vollkommene Dunkelheit getaucht wird. Ein Unwetter mit Donner, Blitz und Hagel zieht auf. Das Orchester begleitet die Szenerie mit lautem Getöse. Dann verziehen sich die Wolken, es klart auf und ein Regenbogen erscheint. Harmonische Musik erklingt und über dem Bogen erscheint die Nymphe Iris. Sie singt, sie überbringe den glücklichen Provinzen eine frohe Botschaft. Der Grund für so viel Angst sei vorüber. Sie kündige den Provinzen Frieden und Eintracht durch die Ankunft des neuen Königs an.42 Daraufhin stimmt der aragonische Regionalgesandte ein Loblied auf den König an, in das die anderen Figuren einstimmen und der Vorhang fällt.43 In Bezug auf die monarchischen Repräsentationsformen, die bei dieser Drameninszenierung zum Ausdruck kommen, lassen sich sowohl traditionelle Formen als auch Elemente des Wandels feststellen. Zunächst fällt dabei der Ausgang der Handlung auf. Mittels einer in barocker Manier angelegten Handlungsauflösung wird in dieser Drameninszenierung die Präsenz der legitimen und politisch stabilen Bourbonen-Herrschaft vermittelt. So kündigt das Gewitter die Offenbarung einer göttlichen Nachricht an. Der Regenbogen, im Text als »Friedensbogen« (arco de la paz) bezeichnet, steht als Metapher für das durch die Götterbotin Iris überbrachte, von Gott gesandte Ende der Zwietracht.44 Hierdurch wird der neue Herrscher nicht nur in seiner religiösen

von Inmaculada Urzainqui: »Visiones de las Españas: Feijoo, Cadalso, Ramón de la Cruz y Salas«, in: Dieciocho. Hispanic Enlightment Aesthetic & Literary Theory, 22 (1999), Charlottesville, Va.: University of Virginia, S. 410. 42 »Iris: [...] Venturosas provincias de la España,/ya la causa cesó de tanto miedo,/y el arco de la paz os asegura que agradable desde su trono excelso,/oyó el planeta cuarto vuestros votos;/que gozaréis sus luces y sus premios/al generoso amor de sus vasallos/y públicos placeres de los pueblos de su dominación.Así lo anuncio/y tan leales como placenteros,/y así lo agradezco, sacrificando vuestros bríos por él y vuestro ingenio.« Cruz, Ramón de la: Sainetes, S. 463. 43 Vgl. Ebd. 44 Zu Deutung des Gewitters als symbolische Ankündigung einer göttlichen Offenbarung vgl. Butzer, Günter/Jacob, Joachim (Hg.), Metzlers Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2008, S. 129. Der Regenbogen geht als Symbol für Versöhnung auf die Genesis (1. Buch Moses) zurück. Mittels dieser Erscheinung zeigt Gott Noah das Ende der Sintflut an. Vgl. dazu F. Lafarga: Sainetes, S. 463. Die Nymphe Iris erscheint in der griechischen und römischen Mythologie als Götterbotin. Seit

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Legitimierung bestätigt, sondern die Legitimität der Bourbonen-Monarchie soll durch den Verdienst der Einheitsstiftung noch gesteigert werden. Somit ergibt sich auf den ersten Blick eine traditionelle Form der monarchischen Repräsentation, die dazu dient, die Legitimität des neuen Monarchen zu inszenieren und somit symbolisch zu kommunizieren. Bei einer näheren Betrachtung fällt jedoch auf, dass diese Symbolik einerseits nicht kohärent ist und andererseits durch innovative Elemente unterlaufen wird. Ein Indiz für die These einer inkohärenten Symbolisierung besteht darin, dass in diesem Stück keine Herrscherfigur auftritt. In der Figurenrede wird der neue König zwar erwähnt, jedoch fehlt jegliche körperliche Herrscherdarstellung. In den Begrifflichkeiten der Zwei-Körper-Theorie von Kantorowicz ausgedrückt, könnte man davon sprechen, dass hier der politische Körper des Königs symbolhaft in der Monarchie als politischem Staatswesen erscheint, der natürliche Körper jedoch fehlt, da er von keiner der Figuren verkörpert wird.45 Demgegenüber werden Figuren verkörpert, die anhand der semiotischen Funktion ihrer Trachten als Vertreter der spanischen Provinzen und Königreiche identifiziert werden.46 Dies markiert ein Novum im Bereich des spanischen Theaters ebenso wie für den Bereich der Repräsentation. Durch die Inszenierung der folkloristischen Figuren in ihren wirklichkeitsgetreuen Trachten, die als vi-

der Odyssee wird sie durch den Götterboten Hermes ersetzt. Vgl. dazu Harrauer, Christine/Huner, Hubert: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Purkersdorf: Verlagsbuchhandlung Brüder Hollinek 2006, S. 252. Ein Hinweis auf das Desiderat der Einheit Spaniens besteht in der bereits angeführten Abwesenheit einiger Regionalvertreter. Insbesondere im Fall der Katalanen wird die antizentralistische Haltung seit dem Spanischen Erbfolgekrieg deutlich. 45 Ein möglicher Ansatz zur weiteren Erforschung dieser Problematik könnte in einer Anknüpfung an die Thesen zum Fehlen des Herrscherkörpers im Kontext der symbolischen Kommunikation der entstehenden Republik im revolutionären Frankreich liegen. Vgl. dazu: Lüdemann, Susanne: Der Körper der Republik, in: Koschorke, Albrecht/Lüdemann, Susanne/Frank, Thomas/Matala de Mazza, Ethel: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt am Main: Fischer 2007, S. 258ff. 46 Auf die Bedeutung der semiotischen Funktion von Kostümen für die soziale Identifikation der Rollenfiguren, auch in kultureller Hinsicht, verweist Erika Fischer-Lichte: »Da jede Kultur unterschiedliche Kleidungsgewohnheiten und –vorschriften aufweist, kann die Kleidung natürlich auch Nationalität und regionale Zugehörigkeit anzeigen.« (Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2007, S. 123, Hervorhebung im Text).

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suelle Zeichen für die kulturelle Diversität Spaniens erscheinen, wird über das durch die Monarchie symbolisierte, politische Staatswesen hinaus das spanische Volk, die sich im Entstehen befindliche spanische Nation in ihrer regionalen Vielfalt inszeniert.47 Im Rahmen dieser Analyse der Inszenierungsformen der Inthronisationsfeierlichkeiten Karls IV. sind zum einen einige Spezifika dieser Zeremonie und zum anderen verschiedene Elemente des Wandels monarchischer Repräsentationsformen herausgearbeitet worden. Im zeremoniellen Teil der Feierlichkeiten sticht das Fehlen klassischer Herrschaftsinsignien sowie der fehlende Krönungsakt hervor, der zwar in eine spanische Tradition des »Vertragsschlusses« eingebettet ist, jedoch vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse und im Kontext des Zusammentretens der Ständeversammlung eine neue Bedeutung gewinnt. Vor dem Hintergrund eines mediengeschichtlichen Wandels lässt sich für den Bereich der monarchischen Repräsentation eine Verschiebung von traditionellen Formen der Zurschaustellung der Monarchie in Prunk und Pracht hin zu Darstellungen der Verdienste der Bourbonen-Könige als Reformer und Aufklärer Spaniens feststellen. Zwar ist die Inthronisationsfeier stilistisch in eine barocke Rahmung eingelassen, jedoch lassen sich bezüglich der symbolisch übermittelten Aussagen und Bilder viele Elemente nachvollziehen, die einen inhaltlichen Wandel der Repräsentationsformen politischer Herrschaft belegen. Sie verweisen durch den dargestellten normativen Wandel, der die Monarchie als religiös legitimierte Herrschaftsform ohne Beteiligung des Volkes in Frage stellt, auf die beginnende Moderne. In diesem Sinne muss der Wahlspruch des aufgeklärten Absolutismus in Spanien: »Alles für das Volk, aber ohne das Volk« (Todo por el pueblo, pero sin el pueblo) für den Bereich der politischen Repräsentation im historischen Kontext der französischen Revolution modifiziert werden, da hier

47 Die damalige Aktualität der öffentlichen Thematisierung der regionalen kulturellen Diversität Spaniens im Kontext nationaler Einheitsstiftung wird auch durch die Veröffentlichung des Briefs Nr. 23 des Romans Cartas marruecas von José Cadalso im Correo de Madrid im März 1789 deutlich. Dieser Auszug enthält ausführliche Provinzbeschreibungen, welche die Regionen zur Grundlage für eine Reform Spaniens über den Weg einer (pluralistischen) Nationen-Bildung machen sollen. Vgl. dazu Witthaus, Jan-Henrik: Die Sozialisation der Kritik im Spanien des aufgeklärten Absolutismus. Von Feijoo bis Jovellanos, Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2012, S. 317-324. Die Ausgestaltung der im Drama dargestellten Figuren weist z.T. starke Ähnlichkeiten zu den Provinzbeschreibungen in den Cartas marruecas auf.

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eine Darstellung des politischen Staatswesens ohne das Volk offensichtlich nicht mehr zeitgemäß war.

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D ER W ANDEL

MONARCHISCHER

R EPRÄSENTATIONSFORMEN

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Revolutionskörper 1792-1795: Louis XVI., Marat, Robespierre M ANFRED S CHNEIDER

I. Eine Revolution ist ein politisches Drama, das in der Neuzeit nicht nur auf einer Bühne spielt. In der Antike und auch in römischer Zeit genügte es, mit einer Truppe Bewaffneter aufzutreten, einen Tyrannen oder Imperator zu erschlagen, und dann konnte der neue Tyrann oder Imperator von vorne beginnen. In neuerer Zeit ist das komplizierter, da die Revolutionäre nicht einfach weitermachen, sondern das gesamte politische System mitsamt seinen tragenden Symbolen und Institutionen umwälzen wollen. Der Machthaber und sein Repertoire an repräsentativen Zeichen müssen verschwinden. So gehören in der Moderne zum Wechsel von Herrschern und Systemen stets mehrere große Szenen und bedeutungsträchtige Aktionen im öffentlichen Raum. Dazu zählen die Hinrichtung des englischen Königs Karl I. am 30. Januar 1649 oder die Bostoner Tea Party am 16. Dezember 1773, die Erstürmung der Bastille in Paris am 14. Juli 1789 oder die Besetzung des Winterpalais in Sankt Petersburg am 7. November 1917 oder die Öffnung der Mauer in Berlin am 9. November 1989 oder die Besetzung des Maidan-Platzes in Kiew im Januar 2014. Mit diesen spektakulären Szenen laufen auch bilderstürmerische Aktionen: Tragende Bilder, Gedächtnisorte, Denkmäler, Embleme des alten Systems werden zerstört, und wie beim Umbruch des einstigen Ostblocks nach 1989 wechseln auch die Straßen und Plätze ihre Namen. Im Zeichen von Diktatur, Charisma, der Inszenierung politischer Herrschaft und Körperlichkeit sollen hier einige Kampfspiele um Bilder und Embleme während der Französischen Revolution an den drei Gestalten Louis XVI, Jean-Paul Marat und Maximilien Robespierre in Illustrationen dargestellt und kommentiert werden. Die Französische Revolution ist ein Lehrbeispiel dafür, dass bei der Neuordnung des Staates und der Gesellschaft nicht nur das Machtsystem, nicht

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nur die Träger der Macht, sondern auch das Bildinventar, beinahe die gesamte Semiotik des Politischen ausgetauscht werden. Jede Revolution in der Moderne betreibt einen Ikonoklasmus der beseitigten Macht, ihrer Symbole, Bilder und Repräsentanten. Dieser Vorgang ist optisch trivial, er ist aber in seiner inneren Dynamik bislang wenig erforscht. Denn dieser Bilderkrieg spielt nicht nur an einem Tag; zwischen 1789 und 1794 konnte jeder repräsentative Körper, der politische Macht und charismatische Qualität gewann, zum Opfer des ikonoklastischen Dauerbetriebs werden, und jede Entmachtung bildete nur das Vorspiel einer Hinrichtung oder gar Ermordung. Es ist nur zu bekannt, dass das Ancien Régime seine Macht in zahllosen repräsentativen Gestalten, Ämtern, Ehren, Gesten und Inszenierungen sichtbar gemacht hatte. Die Revolution erklärte alle diese Repräsentationen für obszön und rüstete sie demonstrativ ab. In diesem Sinne bezog die radikale Bewegung der Sansculotten ihren Namen metonymisch von ihrer Standeskleidung. Das komplette symbolische Repertoire der Gesellschaft, Kleider, Gesten, Sprache, Geld, Hausfassaden, Kirchen, erlebte diese zwei Phasen der Auslöschung und Neukonzeption. Aber der revolutionäre Zeichensturm lief nach 1789 nicht widerstandslos und auch nicht allein über das französische Territorium. Spätestens seit der Entwicklung der Drucktechnik spielten im Kampf um die zentralen Symbole der Macht und um die repräsentativen Körper Flugblätter und massenhaft verbreitete Bildpropaganda eine wichtige Rolle. Hier soll die Rolle der politischen Bilder und Karikaturen kommentiert werden. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts gesellt sich zunächst in England und später auch in Frankreich die Karikatur zu den Medien der politischen Auseinandersetzung. Die Karikatur operiert mit dem Mitteln der Groteske, der karnevalesken Entstellung des Körpers. Lange Zeit noch werden die Betrachter solcher Zeichnungen mit ausführlichen subscriptiones und Kommentaren über die Funktion dieser Medien aufgeklärt. Allerdings begnügt sich von allem Anfang die Groteske nicht mit der entstellenden Zeichnung. Die Deformation bildet nicht selten die Miniatur oder gar das Vorspiel der mörderischen ikonoklastischen Aktion, die diesen Körper als lebendigen Träger von Machtzeichen oder von Machtcharisma vernichtet. Das geschieht mit erheblichen Folgen, ebenso wie im 19. Jahrhundert der Einsatz der Fotografie oder im 20. Jahrhundert die Rolle des Fernsehers. Diese Medien haben die Formen der Darstellung des Politischen jeweils grundlegend verändert. Erst von dem Augenblick an, da das Bild der Macht aus dem einzigen repräsentativen Portrait heraustritt und sich in eine Serie von immer mehr (technischen) Bildern auflöst, konnte die politische Wahrnehmung jenen Feinsinn entwickeln, der das Charisma entdeckte und es als einen Ausdruck von Macht ohne Macht, als eine Art ›natürlicher Macht‹ begriff. Beim Charismatiker

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erkennt man besondere Qualitäten nicht am Körper, sondern sie sind zumeist ein Effekt von Auftreten und Sprechen. Der charismatische Körper entfaltet seine Wirkung durch organische und symbolische Askese. Er ist unscheinbar, und aus der Unscheinbarkeit kommen die charismatischen Effekte als ein Wunder der Unwahrscheinlichkeit hervor .1

II. Blicken wir auf Louis XVI, der mit 19 Jahren am 11. Juni 1775 in Reims zum König gekrönt und am 21. Januar 1793 in Paris hingerichtet wurde. Louis übernahm 1775 eine völlig überschuldete Verwaltung, beteiligte aber Frankreich am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen England und wurde über diesen Umweg auf zweifache Weise zum Totengräber des Ancien Régime. Denn er häufte noch einmal mehr Schulden an und ließ die Helden der Amerikanischen Demokratie, Benjamin Franklin oder auch Thomas Jefferson, in Paris eine prominente Rolle spielen. Der Souverän, der absolute Herrscher, verstrickte sich auf diese Weise in die Weltpolitik. Aber sein Portrait zeigt ihn nicht als Chef eines Kabinetts, als Dirigent von Staatsaktionen, Intrigen und diplomatischen Gesten, sondern als eine zeitenthobene Ansammlung von Symbolen:

1

Hier wäre eine begriffliche Präzisierung wünschenswert. Denn Max Weber hat in den entscheidenden Abschnitten zur Typisierung der Herrschaft zwischen einer Art ursprünglichen, einem alltäglichen und einem Amtscharisma unterschieden. Bei den historischen Figuren, von denen im Folgenden die Rede ist, müsste ebenfalls so unterschieden werden. Verkürzt gesprochen, ist die Hinrichtung eines Königs die DesCharismatisierung eines Amtsträgers. Hingegen ist das Charisma Jean-Paul Marats ein postumes Produkt bewusster Bildpolitik. Robespierre war ohne Zweifel ein ›natürlicher‹ Charismatiker, der diese Ausstrahlung durch Askese zu unterstreichen wusste. Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe, hg. von J. Winckelmann, erster Halbband, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1964, S. 179ff.

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Abbildung 1: Louis XVI – Nachstich des Gemäldes von Antoine-François Callet (1779), Wikipedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ludvig_XVI_av_Frankrike_ portr%C3%A4tterad_av_AF_Callet.jpg [letzter Zugriff: 21.09.2015]

So verteilt die absolute Monarchie ihre Machtzeichen auf dem einen Körper. Das Gemälde von Antoine François Callet zitiert ausdrücklich das berühmte Portrait des Königs Louis XIV aus dem Jahr 1701.

Abbildung 2: Louis XIV – Gemälde von Hyacinthe Rigaud (1701), Wikimedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Louis_XIV_of_France.jpg [letzter Zugriff: 21.09.2015]

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Der unsterbliche Körper des Königs hüllt sich in das Krönungsornat mit den Insignien der Krone, des Zepters, des Schwertes. Dazu gehört noch das Collier des Ordens vom Heiligen Geist und die so genannte main de justice, die die Souveränität des Rechtsprechens symbolisiert. Die aristokratische Würde der beiden Könige macht der rote Absatz am rechten Schuh sichtbar, Louis XVI trägt überdies die weißen Handschuhe eines Bischofs und einen mit Hermelin gefütterten Königsmantel. Mit dieser Herrlichkeit des absoluten Monarchen, der alle Mächte in seiner Hand versammelt, ist es aber bald vorbei. Die Revolution ist der Augenblick, wo dieses Bild des Herrschers als trügerisch denunziert wird. Das geschieht bereits im Jahr 1791:

Abbildung 3: »Ludwig der Falsche« – Anonyme Karikatur (1791), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque Nationale de France

Diese Grafik, die rechts unten in kleinerer Schrift das Datum des gescheiterten Fluchtversuchs der königlichen Familie, den 21. Juni 1791, trägt, macht den Umschlag augenscheinlich. Die Inschrift lautet: »Louis der Falsche«. Zwei Figuren der Populärkultur, der Père Duchesne und der berühmte Privateer Jean Bart, bezeichnen den König in einem Vulgärausdruck als »Foutre«. Der vulgärsprachliche Ikonoklasmus beteiligt sich an dem Ruin des Bildes. Schon früher wurden Machthaber mit Schimpfworten bedacht, aber die schmähenden Titel kamen aus dem Repertoire der großen metaphysischen und politischen Monster: Sie lauteten ›Satan‹, ›Antichrist‹ oder ›Nero‹. Hier also heißt er so viel wie »Ficker«. Das

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Bild des gefälschten Königs liefert den Auftakt für eine Flut von Karikaturen, die diese Falschheit auch körperlich ausstellen. In diesem Sinne stellte Friedrich Nietzsche in einer Bemerkung aus dem Jahr 1884 fest: »Die Bösen, das sind mir namentlich die, welche als Könige usw. das falsche Bild des mächtigsten Menschen geben, auf Macht von Heeren, Beamten gestützt […], welche die Frage wozu? entstehen lassen.«2

Das Bild des Mächtigen scheint dem Revolutionär mangelhaft.3 Was die Moderne Image nennt, deckt sich nicht mit seinem Glauben des Umstürzlers an die Gerechtigkeit, an das Schicksal, an die Wahrheit oder an das Vaterland. Das Bild des Mächtigen muss beseitigt werden, ein besseres muss her. Alle Attentate auf Herrscher in der älteren und der neueren Geschichte gelten Götzen, Fälschungen, Anmaßungen eines Bildes der Macht. Die vielen römischen Kaiser, die einen gewaltsamen Tod gefunden haben – von Caesar, ihrem Urbild, bis Heliogabal – wurden als entleerte, unmögliche, angemaßte oder gar gefälschte Bilder erschlagen. Die römischen Cäsaren übernahmen ja stets göttliche Ämter und trieben eine exzessive Politik mit ihrem Bilde. Das war in Rom nicht anders als in Byzanz. So lässt sich das eine Motiv des revolutionären Ikonoklasmus verallgemeinern: Er vollstreckt den Tyrannenmord in effigie. Das andere betrifft die Repräsentation der Macht. Die Moderne rüstet bekanntlich die Bilder ihrer Herrscher ab. Kein König, kein Präsident, kein Mächtiger darf das Potential des Amtes, das er ausübt, zeigen, sondern muss es vielmehr vergessen machen. An ihm soll heute kein Stäubchen Macht mehr zu sehen sein, das Lächeln der Mächtigen, das die Fotografie hervorgebracht hat, soll den Gedanken an die Gewalt, über die er gebietet, verflüchtigen. Der Ikonoklasmus des Revolutionärs in der bürgerlichen Welt greift nun wiederum diese ästhetisch reduzierte Darstellung der Macht als trügerisches Bild an, dieses Image, das etwas anderes bedeutet, als es zeigt. Der moderne Ikonoklasmus hängt unmittelbar mit der Evolution der Massenmedien zusammen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts, seitdem die neuere Chronik der Revolutionen und Attentate einsetzt und ihr sprunghaftes Ansteigen verzeichnet, erscheinen die Mächtigen im Bild, in immer mehr Bildern, in immer mehr technischen Bildern. Mit der Inflation der Fotos, der Karikaturen, Wochen-

2

Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1884«, in:

Friedrich

Nietzsche, Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe, hg. von Colli, Giorgio/ Montinari, Mazzino, München: dtv 1980, Bd. 11, S. 83. 3

Zum Folgenden vgl. Schneider, Manfred: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz 2010.

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schauen, Fernsehbilder, kann sich das Bild der Macht zugleich entleeren oder auch aufladen. Die Attentäter kennen ihr Opfer allein von solchen Bildern her, und richten ihre Waffe auf ein Foto oder auf den Pixelhaufen, den eben der Bildschirm von der Kontur des Mächtigen zeichnete. Die Sichtbarkeit des Körpers ist immer schon eine fundamentale Dimension von Macht. Doch erweist sich heute diese Sichtbarkeit der Helden, der Könige und Staatsmänner, der Film- und PopStars, der Kunst- und Sporthelden zugleich als eine schwierige, rätselhafte, riskante Sache. Die Körper der Mächtigen, die Körper der Vielgesehenen, hüllen sich in eine Aura. Sie ist eine Verehrungsqualität. Die Aura ist die imaginäre Spur der unzähligen Augenkontakte. Die charismatischen Wirkungen fließen nicht in erster Linie aus dem Auftreten und Sprechen des Mächtigen, sondern aus seinem (medialen) Erscheinen. Solche Bilder können eine maßlose Faszination auf den Täter ausüben. Lee Harvey Oswald, der Mörder John F. Kennedys, war ein junger depressiver Mann, der von dem Bild des Präsidenten derart geblendet war, dass er das Bild auslöschen und sich selbst an dessen Stelle setzen wollte. Wie sehr das Bild und die Verkörperung der Macht in seine Attentatsobsession hineinspielte, zeigten seine Worte: »I despise the representatives […].«4 Oswald verachtete alle Repräsentanten sowohl in der Sowjetunion wie in den USA. Verächtlich waren die Repräsentanten, weil sie in den Augen des Verächters nicht das sind, was sie repräsentieren. Der Mörder von John Lennon, Mark David Chapman, war viele Jahre lang ein begeisterter Anhänger des BeatlesSängers. Doch als er eines Tages in einem Bildband Fotos seines Idols sah, die ihn als Star und arrivierten reichen Mann zeigten, entstand die Mordabsicht: »[…] at the looking of those pictures, I became enraged at him.«5

III. Zurück in das Jahr 1791, als das große Vorspiel zum gewaltsamen Königstod, die Entstellung des Leibes von Louis XVI in ersten Karikaturen einsetzte:

4

Beleg nach Bugliosi, Vincent: Reclaiming History. The Assassination of President John F. Kennedy, New York/London: WW Norton & Co 2007, S. 948.

5

Jones, Jack: Let Me Take You Down. Inside the Mind of Mark David Chapman, the Man Who Killed John Lennon, New York: Villard 1992, S. 176.

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Abbildung 4: Karikatur auf Louis XVI, Anonym (1791), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque Nationale de France

Hier ist der König zum Bild eines fetten Schweines mutiert. Der Treiber beklagt sich, dass er das Tier gemästet hat, aber nicht mehr verkaufen kann, weil es durch vieles Fett voller Ausschlag ist. Dabei war Louis XVI im Jahr 1791 immer noch König. Erst nachdem er mit seiner Familie im Juni 1791 versucht hatte zu fliehen und wieder gefangen genommen worden war, ergoss sich eine Flut von Schmähzeichnungen in die Öffentlichkeit. Zum Beispiel diese:

Abbildung 5: Karikatur auf Louis XVI und seine Familie (1791), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque Nationale de France

Hier ist die gesamte königliche Familie in Schweinekörper versetzt. Die subscriptio berichtet, dass die Familie der Schweine in den Stall zurückgebracht wird. Die folgende Karikatur entkleidet den Körper des Königs aller Insignien seiner Herrlichkeit und stellt ihn als Meineidigen mit Schweineleib dar.

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Abbildung 6: Karikatur auf Louis XVI (1791) © French Revolution Digital Archive, – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France

Die Rundschrift: »Louis der Meineidige. Kammerherr der Baronesse von Korff, der seiner Geliebten auf seiner Flucht folgt«, spielt darauf an, dass Ludwig auf der Flucht die Identität des Verwalters der Baronesse angenommen hatte und entsprechende Pässe besaß. Und noch ein Schweinebild aus dem Jahr 1791, das den König mit seinem Urahn, dem König Henri IV zusammen zeigt.

Abbildung 7: Karikatur auf Louis XVI. Dialog mit Henri IV (1791), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque nationale de France

Die Dialog unter dem Bild lautet: »Ventre Saint-Gris, wo ist mein Sohn? Wie! Das ist ein Schwein? – Er ist es selbst, er badet seine Schande.«

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»Ventre Saint-Gris« war ein von König Henri IV gerne benutztes Kraftwort, eine Entstellung von »Vendredi Saint Esprit«. Sichtbar wurde die Karikatur zum bildlichen Probelauf für den körperlichen Ikonoklasmus, da doch eine Exekution den repräsentativen Körper nicht nur des Lebens beraubt, sondern ihn auch spektakulär dem Bildraum entzieht. Die Entleerung des Königsbildes geht aber auch nach Ludwigs Hinrichtung zunächst weiter. Es entstehen hunderte von Stichen, die die Szene auf der Guillotine festhalten.

Abbildung 8: Hinrichtung von Louis XVI. Druck (1793), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque nationale de France

Man muss diesen Massendruck und ähnliche Bilder vor dem Hintergrund des Eingangsbildes, des Portraits von Callet, sehen, das den König mit allen Insignien der Macht präsentiert. Es ist der Königsleib, jener berühmte zweite Körper, an dem alle Machtembleme des absoluten Königtums haften.6 Die Szene auf der Guillotine bildet nicht nur den Abschluss eines politischen Gerichts, wie es zu nahezu allen Revolutionen gehört, es ist nicht nur eine Exekution, sondern zugleich die große blutige Entmystifizierung und Entauratisierung des Königskörpers vor einer riesigen Menschenmenge.

6

Vgl. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München: dtv 1990.

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Abbildung 9: Der abgeschlagene Kopf von Louis XVI. Druckgraphik (1793), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque nationale de France

Die Entmystifizierung trifft nach der Zerschlagung des mystischen ›unsterblichen‹ Königskörpers dann auch den sterblichen Körper. Dieser Ikonoklasmus demontiert den Souverän auf einer anderen Ebene des politischen Bildgedächtnisses. So gerät auch die Szene, die den König im Kreis seiner Familie zeigt und seine sterbliche Seite anspricht, in den Bilderkampf. Der royalistisch eingestellte englische Maler Charles Benazech schuf im Jahr 1793 das pathetische Gemälde des Abschieds Ludwigs XVI von seiner Familie.

Abbildung 10: Abschied Louis’ XVI von seiner Familie. Stich von Nicolo Schiavonetti nach dem Gemälde von Charles Benazech (1793), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque nationale de France

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Es zeigt Louis im Kreise der Familie mit Marie Antoinette und seinen beiden Kindern, der Schwester Elisabeth, dem Beichtvater Abbé Edgeworth und einer Dienerin. Diese gestochene Version der Szene wurde später von der royalistischen Propaganda verkauft. Kurz darauf entstand die folgende Karikatur des englischen Zeichners James Gillray, die das Szenario komplett entstellt. Allerdings behauptet Gillray in dem beigegebenen Kommentar, dass es sich um die Kopie einer französischen Schmähzeichnung handele, deren Verächtlichkeit er auf diese Weise denunzieren wolle. Die Bosheit dieser Zeichnung ist gewissermaßen doppelt adressiert.

Abbildung 11: James Gillray: Louis XVI Taking Leave of His Wife and Family. Kolorierter Stich (1793), © Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection.

Das Personal bei Benazech und Gillray ist nahezu identisch, aber hier entstellt es der Künstler zu einer grotesken jammernden Party. Damit sind beide Körper des Königs durch die ikonoklastische Deformation gegangen.

IV. Eine ganz neues Feld des politischen Bilderkampfes öffnete sich ein halbes Jahr nach der Hinrichtung des Königs, als am 13. Juli 1793 der Herausgeber der Zeitschrift L’ami du peuple, Jean-Paul Marat, von der 24jährigen Charlotte Corday getötet wurde. Die Attentäterin war eine junge Frau, die einen Tyrannen beseitigen wollte, als sie sich Anfang Juli 1793 entschloss, Jean-Paul Marat, zu töten. Marat war ein prominentes Mitglied der im Konvent dominierenden Bergpartei.

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Charlotte Corday stammte aus Caen in der Normandie, der Hochburg der gemäßigten Girondisten, die sich im Juni 1793 unter Führung des Generals Wimpfen aufgemacht hatten, die radikalen Beherrscher des Konvents mit militärischen Mitteln zu vertreiben. Marat war ihr Hauptfeind. Am 13. Juli 1793 mittags um 12 Uhr betrat Charlotte Corday sein Haus in der Rue des Cordeliers in Paris und verlangte, Marat zu sprechen. Sie wurde unter Hinweis auf die Krankheit des Hausherrn abgewiesen. Marat war indisponiert, weil er an einem chronischen Ekzem litt und Stunden in einem Bad mit Essenzen verbrachte, die den üblen Juckreiz mildern sollten. Charlotte Corday kehrte in ihr Hotel zurück, verfasste erneut ein kurzes Schreiben an Marat. Sie wollte ihm die Namen der aufsässigen Girondisten denunzieren und appellierte an seinen Schutz. Am Abend, als sie zum dritten Male vorsprach, wurde sie in das kleine Badezimmer geführt, wo Marat in der Wanne saß und arbeitete. Er hatte inzwischen ihr Schreiben gelesen und fragte gleich nach den Girondisten in Caen. Charlotte Corday nannte ihm einige Namen. Marat schrieb sich die Namen auf und erklärte, dass er sie alle guillotinieren lassen würde. In diesem Augenblick ergriff die Frau das verborgene Messer und stieß es Marat in die rechte Brust. Ihr Opfer konnte nur noch einen Schrei ausstoßen. Marats Gefährtin, Simone Evrard eilte herbei, die Mordwaffe lag auf dem Brett über der Wanne. Marat wurde noch lebend auf ein Bett gehoben, aber der Tod trat nach kurzer Zeit ein. Im Anschluss an dieses Attentat setzt ein wahrer Bilderkampf ein, in dem die gemäßigten Anhänger der Girondisten die Tat der jungen Frau begrüßten und sie zur Heldin stilisierten, während die linke Bergpartei Robespierres ihr Mitglied Marat zum Märtyrer erhob. Dass es um einen Bilderkampf gehen würde, wusste Charlotte Corday im Voraus. Sie hatte bereits kurz vor der Tat ein Manifest verfasst, worin sie die Gründe ihrer Tat erläuterte. Sie stilisierte sich darin selbst gleich als Märtyrerin und antizipierte die Verwandlung ihres Leibes in Reliquien. In ihrem Manifest schrieb sie unter anderem: »O mein Vaterland. Dein Unglück zerreißt mir das Herz; ich kann dir nur mein Leben schenken, [...] ich möchte, […] dass mein Haupt, wenn man es durch Paris trägt, ein Zeichen sei für den Zusammenschluss aller Freunde der Gesetzlichkeit, und dass die ins Wanken geratene Montagne ihren Sturz mit meinem Blut geschrieben sieht; dass ich ihr letztes Opfer sein möge, und dass das gerächte Universum erklären möge, dass ich mich um die Menschheit verdient gemacht habe.«7

7

D’Almeras, Henri: Charlotte Corday d’après les documents contemporains, Paris: Librairie des Annales 1925, S. 66ff. (Eigene Übersetzung)

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So also will Charlotte Corday ihren Körper und ihr Blut sprechen lassen. Sprechen über den Tod hinaus, das ist ein Topos der martyrologischen Rhetorik. Schon während ihres Prozesses hatte sie als letzten Wunsch die Bitte geäußert, portraitiert zu werden. Der Wohlfahrtsausschuss hatte diese Bitte ignoriert, doch während des Prozesses fertigte der elsässischer Zeichner Johann Jakob Hauer eine Portraitzeichnung von ihr, die er später noch im Gefängnis vollendete. Nun entbrannte ein Bilderkrieg zwischen den Anhängern Marats und denen der Attentäterin.

Abbildung 12: Marats letzter Atemzug. Gemälde von Jacques-Louis David (1793), Wikimedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jacques-Louis_David__Marat_assassinated_-_Google_Art_Project_2.jpg?uselang=de [letzter Zugriff: 21.09.2015]

Dieses Gemälde des großen Revolutionsmalers Jacques-Louis David siegte zunächst. Als David am 14. Oktober 1793 im Nationalkonvent die Ausstellung seines Gemäldes ankündigte, da gab er ihm den Titel »Marat à son dernier soupir«, Marats letzter Seufzer. Zum Bild nur ein paar Erläuterungen. Marat hält dort den Brief der Attentäterin in der linken Hand, es ist das Schreiben, das den Betrug dokumentiert, dem der Mann zum Opfer gefallen ist. Auf Marats Schreibunterlage liegt ein Schriftstück, das offenbar soeben mit der zu Boden gesunkenen Feder signiert worden ist. Das Schriftstück enthält die Anweisung, dass die beiliegende Assignate, die vom Staat ausgegebene Obligation auf beschlagnahmten Grundbesitz, der Witwe eines in den Freiheitskriegen verstorbenen gefallenen Soldaten zugutekommen soll. Der Revolutionsmärtyrer Marat ist eben bei einer guten Tat erstochen worden. In diesem Moment des Bildes lebt er aber noch. Das hat jedenfalls der Künstler so bestimmt. Die Botschaft lautet: Bis zum letzten Atemzug hat sich dieser Mann der Revolution verschrieben. Mit dem letzten

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Atemzug ist die Schreibhand zu Boden gesunken, und die Feder bildet dort mit der Tatwaffe ein pathoshaltiges Paar. Der martyrologische Bezug springt in die Augen. Bei der festlichen Anbringung des Bildes zusammen mit dem gleichfalls von David angefertigten Gemälde des toten Le Pelletier an den Wänden des Nationalkonvents am 14. November 1793 forderte David die Betrachter auf, das Bild als Heilige Schrift, als Testament und Sakrament zu lesen. David sagte bei dieser Gelegenheit: »Euch, meine Kollegen, bringe ich die Huldigung meines Pinsels dar. Indem Eure Blicke die fahlen und blutbefleckten Züge Marats durchwandern, werden sie Euch an seine Tugenden erinnern, die niemals aufhören dürfen, die Euren zu sein.«8 Verletzt und totenbleich ist dieser Leib eine Schrift geworden, die eine dauerhafte Zeit der Erinnerung und Mahnung begründen. Ich will die Hinweise der Kunsthistoriker, die die Ähnlichkeit der Körperhaltung mit der des toten Christus betonen, hier nur erwähnen.9

Abbildung 13: Pietà Michelangelo Buonarroti, Marmorbild (1499), Wikimedia: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Michelangelo%27s_Pieta_5450jpg [letzter Zugriff: 21.09.2015]

Die Haltung des toten Marat, der geneigte Kopf, der leicht gebeugte herabhängende Arm, erinnern auffällig an Michelangelos Pietà und ähnliche Bilder des toten Jesus. Zur weiteren Sakralisierung und postumen Charismatisierung des (anscheinend zeichenlosen) Körpers gehört dann auch die Aufbahrung der Leiche zunächst in Marats Haus und anschließend die geplante Inszenierung seines Endes in der Église des Cordeliers, die dann jedoch nicht zustande kam. Sie sollte so aussehen.

8

Beleg nach Träger, Jörg: Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes, München: Prestel 1986, S. 215.

9

Ausführlicher dazu Lankheit, Klaus: Jacques-Louis David. Der Tod Marats, Stuttgart: Reclam 1962.

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Abbildung 14: Aufbahrung Marats in der Église des Cordeliers am 16. Juli 1793. Anonymes Gemälde (1793), © Musée Carnavalet, Paris

David hatte dafür gesorgt, dass Marat zunächst genau in der Stellung ausgestellt wurde, die er nach dem Attentat einnahm. Diese Inszenierung in der ehemaligen Kirche sollte Marats Wanne und seinen kleinen Tisch mit Resten der Kleidung zeigen. Die Beerdigungsfeier und die folgenden Ehrungen wurden allesamt von David konzipiert und durchgeführt. David gehörte zu den wichtigsten Männern der Bergpartei und war als Kunst- und Festplaner der »Kunstwart« der französischen Revolution.10 In der Folge veranlasste er, dass über ganz Frankreich ein einzigartiger politisch gesteuerter Marat-Bilderkult hinweg stürmte. Durch ein Dekret des Nationalkonvents wurden 1000 Abzüge von Nachstichen eines auch von David gefertigten Marat-Portraits angefertigt. Das Bild diente auch zur bilderstürmerischen Beseitigung öffentlich aufgestellter Heiligenbilder und zugleich ihrer Ersetzung.

10 Bewusst anachronistische Bezeichnung. »Kunstwart« hieß ein Amt in der Weimarer Republik. Ihm war die Aufgabe übertragen, nach dem Bildersturm der Revolution von 1919, die die imperiale Semiotik der Hohenzollern beseitigte, eine republikanische Kultur von Bildern, Zeichen und Inszenierungen zu entwickeln. Vgl. hierzu Welzbacher, Christian: Edwin Redslob. Biografie eines unverbesserlichen Idealisten, Berlin: Matthes & Seitz 2009.

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Abbildung 15: Jean Paul Marat. Jacques-Louis David, Nachstich aus dem Gemälde von 1793, © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque nationale de France

Alle Abgeordneten und jedes Département sollten ein Exemplar erhalten. David hatte genau kalkuliert, dass kein idealisierendes Portrait, sondern eine Passionsfigur, die an die Stelle des Gekreuzigten treten konnte und an dessen Charisma partizipierte, verteilt wurde. Das Dekret bestimmte auch, dass der Marat-Stich in den Gerichten und Revolutionstribunalen das Bild des Jesus am Kreuz ablösen sollte. In den Nischen an den Straßenecken wurden die Madonnenbilder entfernt und durch Marat-Büsten ersetzt. Zehntausend Marat-Gesellschaften soll es in Frankreich gegeben haben. Marats Name zierte Straßen, Brücken, Plätze, Städte. Die Überführung ins Panthéon erfolgte am 21. September 1794, aber im Zuge des konterrevolutionären Bildersturms im Januar 1795 wurde sein Sarkophag dort wieder entfernt. Als Folge dieses Kultes setzte nach dem Sturz der Jakobiner sogleich ein erneuter Bildersturm ein, der die Bilder aller Heiligen der Jakobinerherrschaft beseitigte. Schon früher hatte es Anti-Marat-Zeichnungen gegeben. Eine davon nahm Bezug auf die Forderung, die Marat in seiner Zeitschrift L’Ami du Peuple erhoben hatte, dass noch 270.000 Verräter hingerichtet werden müssten.

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Abbildung 16: Marat als Medusa. Anonyme Karikatur (1793), © French Revolution Digital Archive – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France.

Die Marat-Medusa trampelt hier auch auf einer Gesetzestafel herum, die das Grundrecht des Eigentums festhält, sowie auf der main de justice, die oben noch auf den Königsportraits als Emblem der Souveränität zu sehen war. Auf dem von der Gestalt emporgehaltenen Plakat stehen die Marat-Zitate: »Man muss noch 270.00 Köpfe abschlagen, die Kaufleute plündern und sie an ihren Ladentüren aufhängen.« Eine andere polemische Zeichnung inszeniert Marats triumphale Ankunft in der Hölle und verbindet dies mit einer langen politischen Erläuterung:

Abbildung 17: Marat Triumph in der Hölle. Anonyme Zeichnung (1793), © French Revolution Digital Archive. Stanford University, Bibliothèque Nationale de France.

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Es folgt eine weitere explizit ikonoklastische Karikatur. Kinder zerren Marats Büste aus dem Pantheon der Jakobiner schlagen sie in Stücke. Der Titel lautet »Von der republikanischen Jugend durch den Gulli Montmartre gezogen«, wobei in »Montmartre« sowohl die Erinnerung an den angeblich dort enthaupteten »martyr« St. Dionysios mitspielt als eine Assonanz an den Namen Marats selbst.

Abbildung 18: „Die von den Jakobinern als heilig verehrten 3 Epochen im Lebens von Jean-Paul Marat“ Bilderserie (1795), © French Revolution Digital Archive – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France

Im Zeichen der ikonoklastischen Gegenrevolution wurde auch die Szene des Attentats in Hunderten von Druckgrafiken parodiert. Hier ein Beispiel des englischen Zeichners Isaak Cruikshank, der die Attentäterin als zweite Johanna von Orleans feiert:

Abbildung 19: A Second Jean D’Arc or the Assassination of Marat by Charlotte Cordé of Caen in Normandy. Isaak Cruikshank, kolorierter Stich (1793), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque nationale de France.

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V. Der Bilderkrieg während der Französischen Revolution wurde aber nicht nur mit den Waffen der Zeichner und Drucker geführt, sondern, wie eben am Beispiel von Marats Totenehrung gezeigt, von der Regierung selbst gesteuert. Und dafür hat der Maler und das führende Mitglied des Konvents, Jacques-Louis David, nicht nur die bekannten klassizistischen Gemälde geschaffen, sondern sich auch als Karikaturist betätigt. Der Sicherheitsausschuss bestellte bei David im Mai 1793 mehrere Karikaturen mit einer Auflage von jeweils 500 Stück, um die Brutalität und Lächerlichkeit des britischen Feindes zu brandmarken. Davids Arbeiten, die noch weitgehend unbekannt sind, griffen also weniger in den französischen Parteienkampf ein, als in den außenpolitischen Konflikt mit England, dem Frankreich im Februar 1793 den Krieg erklärt hatte. In dieser Karikatur wird der englische Premier Pitt als Dolchschleifer verlacht:

Abbildung 20: Karikatur auf William Pitt. Jacques-Louis David, kolorierter Stich (1793), © French Revolution Digital Archive – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France.

Das Hamsterrad bewegt eine Figur, die den Namen der Molièreschen Komödienfigur George Dandin trägt, eines Bauern, der durch Heirat einen Adelstitel erworben hat, dafür aber sein Leben lang von seiner Frau und ihrer Familie schikaniert und gequält wird. Die Erläuterung sagt: »Der berühmte Minister Pitt schärft die Dolche, mit denen er die Verteidiger der Völkerfreiheit ermorden lassen will.« Auf den Messern stehen die Namen von Charlotte Corday und von Aimée Cécile Regnaud, die unter dem Vorwurf, einen Mordanschlag auf Robespierre geplant zu haben, angeklagt und hingerichtet worden war. Auf den Geld-

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säcken stehen die gleichen Namen, womit angedeutet wird, dass die Morde von England aus geplant und bezahlt worden sind. Bei den weiteren vom Sicherheitsausschuss bestellten Cartoons tritt nun zunehmend eine skatologische Thematik11 in den Vordergrund, wie die folgende Zeichnung Jacques-Louis Davids zeigt:

Abbildung 21: David Karikatur auf den englischen König Georges III. Jacques-Louis David, kolorierter Stich (1793), Wiki gallery: http://www.wikigallery.org/wiki/painting_243972/Jacques-Louis-David/The-EnglishGovernment [letzter Zugriff: 21.09.2015]

Diese Karikatur, die vermutlich Ende 1793 veröffentlicht wurde, zeigt gemäß der Erläuterung links die englische Regierung in Gestalt eines Teufels mit Schlangenhaaren und der Krone auf dem Kopf. Das Hinterteil läuft in den Kopf des feuerspuckenden englischen Königs Georges III aus, der seine schockierten Bürger rechts mit einer Salve aus Blitzen und Schwefelgestank erschreckt. Und der Effekt zeigt sich im Hintergrund in den gestapelten Säcken, auf denen geschrieben steht, dass es sich beim Inhalt um Steuern handelt. An anderer Stelle verspottet der gleiche große Künstler und Jakobiner die englische Armee:

11 Vgl. Zu diesem Thema Boime, Albert: »Jacques-Louis David. Scatalogical Discourse in the French Revolution, and the Art of caricature«, in: Cuno, James (Hg.), French Caricature and French Revolution, 1789-1799. Grunwald Center for the Graphic Arts : UCLA 1988, S. 67-82.

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Abbildung 22: Karikatur auf den englischen König Georges III. Jacques-Louis David, kolorierter Stich (1794), © French Revolution Digital Archive – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France.

Das Bild trägt den Titel »L’Armée Royale Cruche« (Die königliche Tontopfarmee). Vor den auf dünnen Spinnenbeinchen paradierenden Tontöpfen marschiert wieder der mit Eselsohren verzierte King Georges III. Er wird von einem Truthahn an der Nase geführt, der die Züge des Premierministers Pitt trägt. Die Soldaten tragen als Feldzeichen auf einer Stange einen Schweinekopf. Auf dem Tor stehen vier Männer, die als Sanscolutten bezeichnet werden und die die angreifenden Töpfe mit der Artillerie ihrer Ausscheidungen zerschmettern. Kein Wunder: Im Hintergrund schießen die Engländer ihrerseits, aber bei genauerer Betrachtung sind es lediglich Klistiere, mit denen sie allerdings wenig Schrecken anrichten. Hinter der Armee sieht man noch einen auf Händen und Füßen laufenden Mann, der von einer Gans berittenen wird, die vermutlich den englischen Oppositionsführer und Sympathisanten der Französischen Revolution Georges Fox darstellen. Nach Auskunft der Legende bläst er mit seiner analen Trompete zum Rückzug. In mancher Hinsicht bilden die skatologischen Cartoons von David eine Antwort auf eine ähnliche Bildpropaganda aus England, wie zum Beispiel die Zeichnung von James Gillray, die A new Map of England zeigt:

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Abbildung 23: A new Map of England. James Gillray, kolorierter Stich (1793), © French Revolution Digital Archive – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France.

Auf die subscriptio folgen die Worte »The French Invasion: John Bull bombarding the Bum Boats.« Das sind die Händlerboote, aber auch die Hinternboote. Im Schema Englands lassen sich die Umrisse des Königs George III erkennen, der auf das Frankreich-Profil defäkiert, aus dem die Invasionsboote kommen. Ein letztes Beispiel: Maximilien Robespierre, die dominierende Figur während der Schreckensherrschaft, wurde freilich erst zum Gegenstand der Karikatur, als er entmachtet war. Zuvor wagten es nur die Engländer, über sein gnadenloses Richten und Hinrichten zu spotten. Die folgende Zeichnung eines unbekannten Künstlers portraitiert Robespierre als Henker des Königs, der ungerührt von den Bitten der Familie das Hackmesser schwingt:

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Abbildung 24: Karikatur auf Robespierre. James Gilray, kolorierter Stich (1793), © French Revolution Digital Archive – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France.

Die das Bild begleitenden Kommentare sind voller Shakespeare-Verweise: Der Untertitel enthält ein Zitat aus Macbeth: »Je näher dem Blut, um so näher dem Verderben.« Manche der polemischen Robespierre-Bilder, die kurz nach der Hinrichtung des Revolutionärs herauskamen, zeigen ihn als Blutsäufer.

Abbildung 25: Robespierre als Trinker von Herzblut. Anonymer Stahlstich (1794), © French Revolution Digital Archive – Stanford University, Bibliothèque Nationale de France.

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Dieses Bild spricht für sich selbst, und sein Effekt besteht nun darin, dass es nicht die Mittel der Karikatur ins Spiel bringt, sondern eine herkömmliche Darstellung Robespierres nutzt, um die Botschaft des Blutsäufers zu übermitteln.

Abbildung 26: Robespierre-Karikatur. Titelkupfer des Werkes [Louis Michel Auguste Thèvenet]: Cassandre, ou Quelques réflexions sur la Révolution française et la situation actuelle de l'Europe, Paris 1798, © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque Nationale de France.

Diese bitterböse Zeichnung setzt Robespierre in Szene, wie er den Kamin seiner Herrschaft mit den Schädeln des Massakers vom August 1792 beheizt. Zugleich agiert er als machtgieriges Monster, das die ganze Erde in Gestalt des Globus Cruciger zu verschlucken anhebt: »Wir werden die Erde verschlingen und die Könige werden schweigen.« Als Titelkupfer illustriert dieses Bild das Buch Cassandre, ou quelques réflexions sur la révolution française. Unter den Füßen des Erdverschlingers liegen zertreten die Bibel, Kreuz, Bischofsstab, der heilige Kelch und der Schlüssel, der die Kirchliche Schlüsselgewalt anzeigt.

VI. An dem Abriss der politischen Körper, Symbole und Ehrenzeichen der Revolution und der Konterrevolution beteiligen sich nicht nur Karikaturisten, Ikonoklasten und Henker, sondern auch Schriftsteller. Dafür etwa steht ein Textdokument, das zu den in die Öffentlichkeit hagelnden polemischen Flugblättern und Pamphleten der Nachjakobinerzeit zählt.

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Abbildung 27: La queue, la tête, et le front de Robespierre. Couplet von Louis-Ange Pitou (1795), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque Nationale de France.

Dieses Couplet aus dem Jahr 1795 trägt den Titel »La queue, la tête, et le front de Robespierre en vaudeville«. La queue ist Metapher und Allegorie in einem. Angeblich soll Robespierre vor seiner Hinrichtung gesagt haben: »On me coupe la tête, mais on ne me coupera pas aussi facilement la queue.« Mit dieser wenig wahrscheinlichen Bemerkung soll er freilich die queue seiner Perücke gemeint haben. Außerdem hießen nach seinem Ende »les débris de la Jacobinière« auch »la queue de Robespierre«. Aber der Ausdruck wurde Mode in Pamphleten und Liedern, die alle metaphorischen und allegorischen Spielarten des Ausdrucks durchspielten und auf diese Weise das ikonoklastische Werk an dem einst so gefürchteten Chef des Wohlfahrtsausschusses vollendeten. Es ist, wie der Autor selbst sagt, eine Posse. Das obszöne Couplet von Louis-Ange Pitou beginnt wie folgt: »Voici la queue à Robespierre, Nous dit certain pamphlet du jour; Voulez-vous voir sa tête altère, Répond le voisin à son tour. La tête, la queue et le reste Sont bon a fumer mon jardin; Suivant le proverbe j’atteste Que dans la queue est le venin.«12

12 Frei übersetzt: »Das ist der Schwanz nach Robespierres Art, spricht dieser Tage manche Schmähschrift. Wollt ihr seinen Kopf verfaulen sehen?, antwortet darauf der

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Die Reste Robespierres, heißt es hier, dienen allenfalls noch dazu, den Garten zu düngen. Pitou spielt im letzten Vers auf die lateinische Redensart in cauda venum an, die das giftige Metasoma des Skorpions bezeichnet. Im übertragenen Sinne verweist es auf ein berühmt gewordenes Pamphlet des royalistischen Autors Jean Claude Hippolyte Méhée de la Touche, das den Titel trug La queue de Robespierre, ou les dangers de la liberté de la presse.

Abbildung 28: La queue de Robespierre, ou les dangers de la liberté de la presse. Pamphlet von Jean Claude Hippolyte Méhée de la Touche (1794), © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque Nationale de France.

Will man dem Titelblatt Glauben schenken, dann kam diese Broschüre am 9. Fructidor 1794 des 2. Jahres der Republik heraus, also eben vier Wochen nach Robespierres Ende. Das Blatt war ungewöhnlich erfolgreich, und so folgten serienweise Pamphlete ähnlichen Titels, vermutlich aus der gleichen Feder Méhée de la Touches wie Les anneaux de la queue; oder: Jugement du peuple souverain qui condamme à mort la queue infernale de Robespierre; oder: La tête à la queue, ou première lettre de Robespierre à ses continuateurs.

Nachbar. Der Kopf, der Schwanz und alles Übrige taugen dazu, meinen Garten zu düngen. Ganz wie das Sprichwort sage auch ich, dass alles Gift im Schwanze steckt.« Vgl. Zu Pitou auch Engerand, Fernand: Ange Pitou: agent royaliste et chanteur des rues (1767-1846), Paris: Ernest Leroux 1899, S. 71f.

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Abbildung 29: La tête à la queue, ou première lettre de Robespierre à ses continuateurs. Anonymes Pamphlet [Jean Claude Hippolyte Méhée de la Touche], © Gallica.bnf.fr. Bibliothèque Nationale de France.

Robespierres queue, das ist in den Monaten nach dem Thermidor der polemische Name seiner Nachfolger, der continuateurs. Diese Spottlieder und Pamphlete, mit ihren Obszönitäten und Mehrdeutigkeiten, gehören in die letzte Phase im Prozess der Entstellung, Denunziation, oder, um es zu wiederholen: der Des-Charismatisierung des Robespierre-Körpers.13

VII. Nach vielen zeitgenössischen Aussagen beruhten Robespierres Macht und Ausstrahlung eben darin, dass er alle Zeichen, Insignien der Macht an sich selbst ablehnte und seiner republikanisch-asketischen Einstellung gemäß selbst einen Kult der Bilderlosigkeit betrieb.14 Der charismatische Mann schält sich nicht selten aus einem solchen Auto-Ikonoklasmus, aus radikaler äußerer Anspruchslosigkeit heraus. Das ist freilich eine andere Machttechnik als die polemische und bildliche und scharfrichterliche Abrüstung eines repräsentativen Königskörpers. Sie hängen aber doch voneinander ab. Die Askese hat nur Sinn in einer Umgebung der Verschwendung und des Überflusses. Der politisch-asketische Ikonoklasmus, der heute die westliche politische Welt trägt, schließt einerseits an die römische republikanische Tradition an, die sich als pietas, als selbstlose, uneitle Hingabe an die Sache der res publica, verstand. Und bereits in römischer Zeit

13 Vgl. das French Revolution Digital Archive, das die Stanford University Libraries mit der Bibliothèque Nationale de France unterhält. 14 Vgl. die Biographie von Gallo, Max: L’homme Robespierre. Histoire d’une solitude, Paris: Plon 1994.

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fühlte sich die Republik von dem Königsverlangen und dem Herrlichkeitsbegehren gefährdet. Die Gefährdung war in der Tat real, aber sie hat heute, unabhängig von realen Gefährdungen, das Erscheinungsbild des modernen (demokratischen) Staates geprägt. Die Umstellung von bildlicher, zeremonieller, architektonischer Repräsentation auf die personale heute scheint unwiderruflich. Die Öffentlichkeit ist das Medium, in dem sich der Staat heute sichtbar macht und wo die Macht in nüchterner, rationaler Praxis daherkommt. Wir haben jede Menge Repräsentation; sie ist aber nicht eine, die gesehen oder gar bestaunt, sondern beobachtet wird. Presse, Fernsehen, Internet erschließen den Alltag des Politischen zur Beobachtung. Die viel beschworene ›Bilderflut‹ unserer Tage, trat an die Stelle der alten statischen Repräsentation, die das Herrscherbild leistete, das ja noch in den FotoIkonen der jeweils amtierenden Staatsoberhäuptern, in Amtsstuben und in Räumen weiter lebt, wo hoheitliche Funktionen ausgeübt werden. Diese mediale Präsenz der Politiker und des Staates ist aber etwas völlig anderes als die bildlich geformte, stilisierte Repräsentation. Die mediale Darstellung des Politischen wird heute vom Fluss der Zeit selbst erfasst: sie ist aktuell. Während die traditionellen Formen staatlicher Repräsentation, man denke an die Portraits der beiden Könige Louis XIV und Louis XVI einst den Anspruch auf Zeitlosigkeit erhoben, ist die massenmediale Darstellung (Übertragung) des Politischen vorwiegend in Echtzeit nicht repräsentativ, sondern erlebnisförmig und besteht lediglich in kontinuierlicher Sichtbarkeit. Der Wandel setzt nicht erst im TV-Zeitalter ein. Bereits um 1910 beklagte der Philosoph und Kulturkritiker Rudolf Kassner das Einsickern privater Kaiserbilder in die Öffentlichkeit: »Ein Kaiser ist groß als Kaiser, seine kaiserlichen Handlungen zählen, und nicht die seines privaten Lebens, das heißt historisch und politisch sehen.«15 Das Historische und Politische wollte Kassner auf solche Repräsentationen beschränkt wissen, in denen sich nur der Staat und seine hoheitlichen Handlungen abbilden. Das scheint vorbei. Das Prinzip der Aktualität, die Live-Präsenz der wichtigen Politiker im Fernsehen, hat inzwischen das Politische und damit die Macht personalisiert. Das Interesse an den Personen überwiegt das Interesse an der Politik, die sie vertreten. Heute also sind Macht und Gewalt die pudenda des demokratischen Staates, die sorgfältig verhüllt bleiben müssen. Ganz im Unterschied zu autoritär regierten Staaten. Herfried Münkler bringt die Unterschiede der Machtrepräsentation auf die Formel, dass autoritär-herrschaftliche Systeme die Prozesse der Ent-

15 Schmölders, Claudia: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München: C. H. Beck 2000, S. 97.

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scheidungen der Regierenden unsichtbar halten, während sie die Mächte der Ordnungsstiftung (Polizei, Militär) öffentlich zeigen; demokratische Staaten hingegen verfahren genau umgekehrt.16 Der demokratische Staat lässt seine Armee nur bei besonderen Anlässen öffentlich auftreten. Staatsakte erfolgen in einer Form, die gegenüber früheren Veranstaltungen dieser Art verkürzt und wenig aufwändig gestaltet sind. Außerdem vermeidet jede demokratische Regierung für den eigenen Bedarf extreme bauliche Besonderheiten. Der Staat zeigt und feiert sich nur in stark reduzierter Form. Seine Repräsentanten, hohe Beamte – mit Ausnahme der Richter – verzichten auf Amtskleidung. Um es in Begriffen der Rhetorik auszudrücken: Staatliches Handeln, staatliche Repräsentation vermeiden das genus sublime. Monumente werden nur noch selten errichtet. Der Staat verfügt über Macht, nicht aber über die Macht, seine Macht zu zeigen. Auch das ist eine Spätwirkung des Ikonoklasmus während der Französischen Revolution.

LITERATUR Belting, Hans/Kamper, Dietmar/Schuld, Martin (Hg.): Quel Corps?: Eine Frage der Repräsentation, München 2002. Boime, Albert: »Jacques-Louis David. Scatalogical Discourse in the French Revolution, and the Art of caricature«, in: Cuno, James (Hg.), French Caricature and French Revolution, 1789-1799, Grunwald Center for the Graphic Arts 1988. Bugliosi, Vincent: Reclaiming History. The Assassination of President John F. Kennedy, New York/London 2007. D’Almeras, Henri: Charlotte Corday d’après les documents contemporains, Paris: 1925. Engerand, Fernand: Ange Pitou: agent royaliste et chanteur des rues (17671846), Paris 1899. Gallo, Max: L’homme Robespierre. Histoire d’une solitude, Paris 1994. Jones, Jack: Let Me Take You Down. Inside the Mind of Mark David Chapman, the Man Who Killed John Lennon, New York 1992.

16 Münkler, Herfried: »Die Visibilität der Macht und Strategien der Machtvisualisierung«, in: Göhler, Gerhard (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden: Nomos 1995, S. 213-230. Vgl. Zum Thema auch: Belting, Hans, Kamper, Dietmar/Schuld, Martin (Hg.): Quel Corps?: Eine Frage der Repräsentation, München: Fink 2002.

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Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. Lankheit, Klaus: Jacques-Louis David. Der Tod Marats, Stuttgart 1962. Münkler, Herfried: »Die Visibilität der Macht und Strategien der Machtvisualisierung«, in: Göhler, Gerhard (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 213-230. Nietzsche, Friedrich: »Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1884«, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, kritische Studienausgabe, hg. von Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino, Bd. 11, München 1980. Schmölders, Claudia: Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie, München 2000. Schneider, Manfred: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin: 2010. Träger, Jörg: Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes, München 1986. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe, hg. von J. Winckelmann, erster Halbband, Köln/Berlin 1964. Welzbacher, Christian: Edwin Redslob. Biografie eines unverbesserlichen Idealisten, Berlin 2009.

Charisma der Königin? Isabella II. und die Krise der spanischen Monarchie B IRGIT A SCHMANN

Isabella II. herrschte in Spanien von 1843 bis 1868. Sie war Königin und keine Diktatorin. Offenbar ging ihr auch jenes ›Charisma‹ ab, welches als Kennzeichen europäischer Diktatoren des 20. Jahrhunderts gilt. Schließlich vermochte sie ihre Landsleute so wenig von sich zu überzeugen, dass sie nach 25 Regierungsjahren von Revolutionären außer Landes gejagt wurde. Inwieweit also lässt sich diese Herrscherin in Verbindung mit ›Diktatur‹ und ›Charisma‹ bringen, zwei Begriffen, denen ihre Herrschaft diametral entgehen zu stehen scheint? Isabellas Herrschaftspraxis im Rahmen eines Vorhabens zu analysieren, das den Zusammenhängen von ›Diktatur‹, ›Charisma‹ und ›Repräsentationen von Macht‹ nachgeht, könnte schon deshalb reizvoll sein, weil sich der Blick auf eine Monarchin anbietet, um die Schwierigkeiten und Grenzbereiche der Konzepte von ›Charisma‹ und ›Diktatur‹ auszuloten, bzw. um zu fragen, welche Elemente der Machtrepräsentation sich in den Herrschaftsformen ›Monarchie‹ und ›Diktatur‹ glichen. Tatsächlich lassen sich Aspekte dessen, was einen charismatischen Herrscher und eine diktatorische Herrschaftsform ausmachen, auch bei Monarchien finden. Indem Thomas Hobbes einen Diktator als ›Monarchen auf Zeit‹1 empfahl, wird deutlich, wie fließend die Übergänge von Monarchie und Diktatur sein konnten.

1

Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1991, S. 149; vgl. auch Nippel, Wilfried: »Saving the constitution: The european discourse on dictatorship«; in: Janet Coleman/Paschali M. Kitromilides (Hg.), In the footsteps of Herodotus. Towards european political thought, Florenz: Olschki 2012, S. 29-49, hier S. 37.

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In Isabellas Lebenszeit vollzog sich in Spanien ein radikaler Wandel der Herrschaftsformen von der absoluten Monarchie über die Einführung der konstitutionellen Monarchie bis zur Ausrufung der Republik – und schließlich der Wiedereinführung der Monarchie mit Isabellas Sohn als König. Die Auseinandersetzungen um die Herrschaftsformen fanden während der Regentschaft Isabellas auf vielen Ebenen statt – nicht zuletzt auf dem Feld der Herrschaftsrepräsentation. So geht es im Folgenden darum, die verschiedenen Bilder, die von der Monarchin entworfen und verbreitet wurden, als Ausdruck einerseits des Selbst- und Fremdverständnisses der Institution und andererseits der Aushandlung von Machtverhältnissen in der spanischen Politik zu untersuchen.

I.

M ACHT , H ERRSCHAFT UND K ÖRPER IN DEN EUROPÄISCHEN M ONARCHIEN IM 19. J AHRHUNDERT

Mit ihrer keineswegs harmonischen und kontinuierlichen Entwicklung der Monarchie entspricht die spanische Geschichte den allgemein komplexen Veränderungen der Institution im 19. Jahrhundert. Schließlich ist es – wie Jürgen Osterhammel in seinem Standardwerk zur Geschichte des 19. Jahrhunderts »Die Verwandlung der Welt« betonte – alles andere als einfach, die konkreten Machtverhältnisse in den europäischen Monarchien zu bestimmen, verbarg sich doch »hinter den Etiketten von ›Monarchie‹ und ›Königtum‹ [...] eine außerordentliche Fülle politischer Formen.«2 Die Machtfülle wiederum, die manche Monarchen ausübten, wies strukturell durchaus Ähnlichkeiten mit der von Diktatoren auf, deren Typus als unumschränkte Herrschaft eines Einzelnen oder durch spezifischen Einsatz von Gewalt gekennzeichnet wird.3 Max Weber zufolge war Herrschaft als Chance, bei einer »angebbaren Gruppe von Menschen« auf Gehorsam gegenüber Befehlen rechnen zu können, vor allem abhängig von der Disposition »eines Stabes von Menschen«, sich dem Herrschenden verbunden zu fühlen.4 Neben »Sitte«, Zuneigung, ideellem

2

Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck 2009, S. 829.

3

Vgl. Behrends, Jan C.: »Diktatur: Moderne Gewaltherrschaft zwischen Leviathan und Behemoth, Version: 1,0«, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 06.06.2012; http:// docupedia.de/zg/Diktatur?oldid=97384, letzter Zugriff am 19.03.2015.

4

Weber, Max: »Die Typen der Herrschaft«, in: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen, 5. rev. Aufl: Mohr 1980, S. 122176, hier S. 122.

C HARISMA DER K ÖNIGIN ? | 149

Gleichklang oder materiellen Interessen hielt Max Weber den »Legitimitätsglauben« für entscheidend. Mögliche Herrschaftstypen unterschieden sich Weber zufolge je nachdem, auf welche Art von Legitimitätsglauben die Herrschenden meinten Anspruch zu haben. Entsprechend unterschied er zwischen »traditionaler«, »rationaler« bzw. »legaler« und »charismatischer Herrschaft«. Als »vierten Legitimitätsgedanken« führte Weber später noch den konsensualen Herrschaftsmodus an: die Legitimität aus dem Willen der Beherrschten.5 Natürlich ist für eine Monarchin das Element der traditionalen Herrschaftslegitimation wichtiger als für eine Diktatur. Aber auch für die europäischen Monarchien war das traditionale Legitimitätsmodell seit der Französischen Revolution brüchig geworden. Den ›reinen‹ Idealtypus einer Herrschaft, die sich nur auf traditionale Legitimationsansprüche gründete, gab es in den konstitutionellen Monarchien des 19. Jahrhunderts nicht mehr. Es war nicht mehr ausschließlich die allgemeine Akzeptanz der »Heiligkeit altüberkommener [...] Ordnungen«6, worauf sich der Monarch stützen konnte. Die Notwendigkeit, den neuen Herausforderungen und Ordnungsvorstellungen zu genügen, führte nicht nur zu juristischen Adaptationsprozessen durch die Einführung konstitutioneller oder parlamentarischer Monarchien. Auf die Anforderungen der Volkssouveränität und der allmählichen Entstehung eines »politischen Massenmarktes«7 reagierten die europäischen Monarchien mit einem neuen »massenwirksamen Monarchismus«8, in dessen Zentrum die Entwicklung identitätsstiftender, vermeintlich historisch begründeter Narrative, Rituale und Symbole standen.9 Das gesamte Bün-

5

Weber, Max: »Probleme der Staatssoziologie«, in: ders.: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Bd. 4: Herrschaft; Tübingen: Mohr 2005, S. 753-756, hier S. 755f.

6 7

M. Weber: Typen, S. 130. Langewiesche, Dieter: »Politikstile im Kaiserreich. Zum Wandel von Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter des ›politischen Massenmarktes‹«; in: Lothar Gall (Hg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks, Paderborn u.a.: Schöningh 2003, S. 1-21.

8

Kroll, Thomas: »Die Monarchie und das Aufkommen der Massendemokratie. Deutschland und Großbritannien im Vergleich (1871-1914)«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61, Heft 4, Berlin: Metropol Verlag 2013 S. 311-328, hier S. 312.

9

Vgl. Hobsbawm, Erich/Ranger, Terence: The Invention of Tradition, Cambridge: Cambrige Univ. Press 1992. Zum Modell der britischen Monarchie vgl. Cannadine, David: Die Erfindung der Britischen Monarchie 1820-1994 , Berlin: Wagenbach 1994.

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del an Maßnahmen zur Modernisierung der Monarchie im 19. Jahrhundert wird in der Historiographie unter dem Stichwort »Neuerfindungen der Monarchie«10 verhandelt. So waren beispielsweise nicht nur Diktatoren zu Erfolg verpflichtet, auch Monarchen mussten sich immer stärker durch Leistung legitimieren.11 Insgesamt führte dieser Prozess dazu, dass angesichts eines allgemein nachlassenden Glaubens an die traditionale Herrschaftslegitimität der Akzent umso mehr auf alternative Möglichkeiten verlagert wurde, den Glauben an die Legitimität zu verankern bzw. abzurufen. Die Verfassungstexte selbst lassen dabei nur begrenzt auf die realen Einflussmöglichkeiten der Monarchen rückschließen, deren Handlungsspielräume durch eine Vielzahl von innen- und außenpolitischen Komponenten und charakterlichen Dispositionen der Regierenden bedingt waren und in steten Aushandlungsprozessen immer wieder neu vermessen wurden. Die Elemente der Herrschaftstypologie, die Max Weber als Idealtypen von Regierungsformen bestimmt hat, die gemeinhin mit Monarchie, Demokratie oder Diktatur gleichgesetzt werden, konnten somit auch innerhalb der Monarchie in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen koexistieren.12 Die realpolitischen Machtverluste durch verfassungsrechtliche Beschränkungen wurden vielfach durch symbolpolitische Bedeutungszuwächse wieder wettgemacht. Die Berufung auf das charismatische Modell, das heißt die Begründungsnotwendigkeit der Erwähltheit der eigenen Person erfolgte u. a. in der physischen Inszenierung der eigenen Person, die im Rahmen einer an Bedeutung massiv zugenommenen Symbolpolitik im Vordergrund stand. Auf diese Weise trat die Körperlichkeit des Monarchen in das Zentrum der Selbstentwürfe. Dabei war die Dualität des monarchischen Körpers seit Jahrhunderten Thema von Staatstheorien. Die Unantastbarkeit des politischen Körpers der Monarchie, welche die Kronjuristen von Elisabeth I. von England im 16. Jahrhundert postuliert hatten, war seit der Französischen Revolution, die nicht nur den regierenden Monarchen den Kopf gekostet, sondern auch (zumindest zwischenzeitlich) ein republikanisches System hervorgebracht hatte, hinfällig geworden.13 Ohnehin

10 Vgl. u.a. das Kapitel »Neuerfindungen der Monarchie« bei J. Osterhammel: Verwandlung, S. 828-848. Vgl. auch Langewiesche, Dieter: Die Monarchie im Jahrhundert Europas. Selbstbehauptung durch Wandel, Heidelberg: Winter 2013. 11 J. Osterhammel: Verwandlung, S. 833. 12 Vgl. T. Kroll: Monarchie, S. 313. 13 Zur mittelalterlichen Konzeption des metaphysischen Körpers des Königs vgl. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. »The King´s Two Bodies«. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1990. Zu den Kronjuristen von Elisabeth I. vgl. S. 31. Zu den »zwei Körpern« und der

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hatte die vermeintliche Unabhängigkeit des politischen Systems von körperlichen Spezifika des Monarchen eher einem Wunschdenken als der Realität entsprochen, hatte doch die Instabilität von Herrschaft in Zeiten der Kindheit, Krankheit oder Abwesenheit der Monarchen die These der unabhängigen zwei Körper reichlich Lügen gestraft. Das Wissen um diese Zusammenhänge, also das Wissen um die Bedeutsamkeit einer um den realen Körper betriebenen Symbolpolitik für die Relevanz der Institution, machte gerade den physischen Körper von Monarchen zum diskursiven Austragungsort von Legitimierungs- und Diskreditierungsstrategien.14 Legitimierungsstrategien versuchten die Institution über die Ausstaffierung des physischen Körpers mit Glanz zu stärken, wofür nicht zuletzt die Hofmaler des 19. Jahrhunderts zuständig waren. Dabei spiegeln sich die Aussageintentionen der Auftraggeber nicht allein in den Accessoires der monarchischen Macht, die in den absolutistischen Bildprogrammen nicht fehlend durften. Auch Körperhaltung und Mimik sollten monarchische Distanz und Dignität zum Ausdruck bringen. Da aber die spanische Öffentlichkeit entlang parteipolitischer Trennlinien gespalten war, tauchten neben dem offiziellen Bild der Monarchin bald konkurrierende Bilder mit konträren Intentionen auf. Die Intensität, mit der diese Bilder wechselseitig und gegeneinander in Stellung gebracht wurden, lag an den zahlreichen politischen Krisen und den durch revolutionäre Vorstöße und gegenrevolutionäre Reaktionen erzwungenen Systemwechseln. Dies führte dazu, dass auch die Vorstellungen von monarchischer Herrschaft oft diametral und konfliktreich einander gegenüber standen. Diejenigen Ansätze, die die Institution der Monarchie über einen Angriff auf den Körper der Monarchin zu schwächen versuchten, erfolgten gegen Isabella erstens in direkter physischer Form als Attentate oder zweitens als Diskreditierung eines vermeintlich normverletzenden Verhaltens. Dabei ergaben sich gen-

spanischen Monarchie vgl. Aschmann, Birgit: »Die zwei Körper der Königin: Isabella II. von Spanien und das doppelte Zerwürfnis in Ehe und Nation«, in: Andreas Gelz/Dietmar Hüser/Sabine Ruß-Sattar (Hg.), Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 79-106. 14 Zum Körper als Symbol einer politischen Gemeinschaft vgl. Juneja, Monica: »Körper malen. Der imaginierte Staatskörper im revolutionären Frankreich«, in: Körper Macht Geschichte – Geschichte Macht Körper. Körpergeschichte als Sozialgeschichte, hg. vom Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte, Bielefeld 1999, S. 35-57, hier S. 36.

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derspezifische Akzente, denn zum einen waren die Auseinandersetzung umso intensiver, wenn es sich um Frauen handelte, die die Krone übernahmen, wurde doch der weibliche Körper im Kontext der bürgerlichen Diskurse des 19. Jahrhunderts mit Schwäche assoziiert. Zum anderen bezogen sich die Vorwürfe der Normverletzung vorzugsweise auf das sexuelle Verhalten. Gerade hier aber befand sich die Achillesferse von Isabellas Monarchie: Das Auseinanderklaffen von bürgerlichen Moralvorstellungen bezüglich idealen weiblichen Verhaltens mit der sexuellen Praxis Isabellas lieferte den Kritikern der Königin Steilvorlagen der Diskreditierung, die schließlich sämtliches symbolisches Kapital der Monarchin aufzehren sollte. Insgesamt lassen sich bei den Bildern, die von Isabella verbreitet wurden, sowohl Elemente der ›Heiligkeit‹ als auch des ›Horrors‹ finden, jener Aspekte, die den Untertitel der Ringvorlesung, die diesem Band zugrunde liegt, prägten. Diese Kontraste wiederum sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer politischen Entwicklung, deren zentrales Kennzeichen das Schwanken zwischen Extremen darstellte.

II. M ACHTPOLITISCHER K ONTEXT : Z WISCHEN TRADITIONALER UND H ERRSCHAFTSLEGITIMATION

LEGALER

Als Isabella drei Jahre alt war, starb – es war das Jahr 1833 – ihr Vater, Ferdinand VII. Unmittelbar danach brach ein Krieg aus, der das Land sieben Jahre lang in Atem halten sollte.15 Diejenigen, die Isabella und ihrer Mutter, die die Regentschaft übernommen hatte, den Krieg erklärten, rechtfertigten dies mit Isabellas Geschlechtszugehörigkeit. Sie stritten die Berechtigung weiblicher Thronfolge ab und boten mit Don Carlos, dem Bruder des verstorbenen Königs, nicht nur eine personelle Alternative, sondern ein konservatives Alternativprogramm, stand der Karlismus doch für einen Absolutismus ohne jeden Abstrich.16 Noch zu Ferdinands Lebzeiten hatten sie sich rechts von ihm positioniert, was insofern bemerkenswert war, als es lange unmöglich schien, die rigide Haltung Ferdi-

15 Vgl. Lawrence, Mark: Spain´s First Carlist War, 1833-1840, New York: Palgrave Macmillan 2014. 16 Zum Umfeld, der sozialen Herkunft und der Ideologie der nach Don Carlos benannten Karlisten vgl. u. a. Jesús Millán: »Una reconsideración del carlismo«, in: Isabel Burdiel (Hg.): La política en el reinado de Isabel II. Madrid: Marcial Pons 1998, S. 91108.

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nands noch zu überbieten. Die starke Präsenz der Ultrarechten schien eine dialektische Reaktion auf die zuvor ultraprogressiven Initiativen gewesen zu sein, deren Gipfel im Jahr 1812 erreicht worden war, als während des Unabhängigkeitskriegs gegen Napoleon eine verfassungsgebende Versammlung in der andalusischen Stadt Cádiz eine spanische Verfassung proklamierte. Diese Verfassung von Cádiz galt im damaligen Europa als die fortschrittlichste überhaupt, insoweit als sie rigoros die Vorrechte des Monarchen beschnitt und die zentralen exekutiven und judikativen Kompetenzen dem Parlament zuschrieb.17 Dies tat sie expressis verbis im Namen des Monarchen, der sich allerdings schon deshalb nicht dazu äußern konnte, weil er in einer Art französischen Schutzhaft außer Landes weilte. Doch sobald die französischen Invasoren vertrieben waren und Ferdinand heimkehren konnte, begann das Pendel in der spanischen Politik von einer extrem progressiven Ausrichtung in eine extrem repressive Herrschaft zurückzuschlagen. Sechs Jahre später schlug das Pendel erneut in die Gegenrichtung aus, als Ferdinand durch revolutionäre Entwicklungen im Jahr 1820 gezwungen wurde, die Verfassung von 1812 erneut anzuerkennen. Doch nutzte er die erstbeste Gelegenheit, sich dieser wieder zu entledigen, so dass es drei Jahre später, 1823, diesmal mit Hilfe der Heiligen Allianz, zur Niederschlagung aller progressiven Kräfte und einer erneuten Durchsetzung einer absolutistischen Herrschaft kam. Die allerdings hatte wegen der wiederholten revolutionären Infragestellung Schwierigkeiten bei dem Vorhaben, sich ungebrochen auf »die Heiligkeit altüberkommener [...] Ordnungen und Herrengewalten«18 zu berufen. Umso mehr setzte Ferdinand VII. (und insoweit ähnelte die damalige Regierungspraxis diktatorischen Herrschaftsformen) nunmehr auf Gewalt, mit der Gegner entfernt und Gehorsam erzwungen wurde.19 Langfristig aber wollte er seine Herrschaft weniger auf Furcht als auf Konsens stützen, weshalb er Reformvorhaben einleitete, welche allerdings diejenigen auf die Barrikaden brachte, die auf der Unveränderlichkeit der Tradition beharrten. In Anbetracht der Opposition von beiden Flügeln der politischen Lager war die Frage der Thronfolge von besonderer Bri-

17 Zu den Cortes und der Verfassung von 1812 gab es in den vergangenen Jahren unzählige Neuerscheinungen, vgl. u.a. Novella Suárez, Jorge (Hg.): La constitución de Cádiz en su bicentenario (1812-2012), Murcia: Ed. de la Universidad de Murcia 2013; zum Souveränitätskonzept vgl. u.a. Müßig, Ulrike: »Souveränität um 1813 – die Nationalsouveränität im Verfassungsdiskurs um die Cortes-Verfassung 1810-1814 und 1820-1823«, in: Birgit Aschmann/Thomas Stamm-Kuhlmann: 1813 im europäischen Kontext, Stuttgart: Steiner 2015, S. 139-162. 18 M. Weber: Typen, S. 130. 19 Vgl. J. C. Behrends: Diktatur.

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sanz. Offenbar in Absprache mit seiner schwangeren Gattin, deren Schwester und der Mutter der beiden erließ Ferdinand VII. am 29. März 1830 eine Pragmatische Sanktion, welche entgegen der Salischen Gesetze der Bourbonischen Dynastie die weibliche Thronfolge wieder zuließ. Zu Tode erkrankt, überzeugte ihn sein Bruder, diese Pragmatische Sanktion 1832 wieder zurückzunehmen, nur um sie nach Genesung erneut zu erlassen. Darin bestärkte ihn der 23-jährige Professor für Ästhetik und Literatur, Juan Donoso Cortés. Mit seinem »Memorandum über die gegenwärtige Situation der Monarchie« zerstreute er Zweifel an der Legitimität der Pragmatischen Sanktion, indem er nicht die weibliche Thronfolge, sondern deren Verbot durch die Salische Erbfolgeregelung als mit den spanischen Traditionen unvereinbar beschrieb.20 Dieses Schriftstück ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens ist es das erste Dokument, mit dem der spätere Politiker und Theoretiker Donoso Cortés in Regierungskreisen auf sich aufmerksam machte. Es ist zweitens seine Eintrittskarte in den inneren Zirkel um die Gattin Ferdinands VII., Maria Cristina, die nach seinem Tod die Regentschaft übernahm und noch lange nach der Volljährigkeit der Tochter deren Entscheidungen beeinflusste. Über das Vertrauensverhältnis zur Mutter wurde Donoso Cortés in seiner Funktion als Privatsekretär zwischenzeitlich zur Schlüsselfigur im Umfeld der jungen Königin Isabella. Schließlich weist das Dokument drittens dem Königspaar den einzigen Weg, der die Monarchie in die Zukunft führe: Angesichts der Gefahren durch die revolutionären Massen zum einen und der nicht minder gefährlichen Intransigenz der Absolutisten liege die einzige Perspektive in einem Bündnis mit den bürgerlichen Bildungsschichten. Viertens warb er für die Akzeptanz von Frauen auf dem Thron, indem er einerseits mit Blick auf Isabella I. auf die historische Bedeutung spanischer Königinnen verwies, und andererseits aus der physischen Schwäche von Frauen eine argumentative Stärke machte: Nur die barbarischen kriegführenden Regime bedürften der Männer auf dem Thron, während die weibliche Regierung sehr gut zu zivilisierten Regierungen passe, die nach Frieden und Glück der Nationen streben.21 Die Karlisten um Ferdinands strikt absolutistisch gesonnenen Bruder Carlos ließen sich indes nicht von den Vorteilen oder der Rechtmäßigkeit weiblicher Herrschaft überzeugen und erklärten María Cristina, die nach dem Tod Ferdi-

20 Donoso Cortés, Juan: »Memoria sobre la monarquia«, in: Juan Donoso Cortés, Obras Completas, Bd. 1, Madrid: Ed. Catolica 1946, S. 65-75. 21 Die Ausführungen münden in den Satz: »La debilidad de las hembras no es incompatible con el imperio blando y suave de la civilización: la Historia les debe sus mejores páginas, y la sociedad su esplendor y sus costumbres«. Vgl. ebd., S. 74.

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nands 1833 bis zur Volljährigkeit Isabellas als Regentin herrschen sollte, den Krieg. Schon mangels Alternative setzte sie auf die Liberalen, deren Unterstützung sie benötigte. Ein erstes Entgegenkommen an diese bildete die Proklamation des »Estatuto Real« von 1834, mit dem Spanien definitiv den Weg zur konstitutionellen Monarchie beschritten hatte.22 Die Zugeständnisse gingen allerdings den progresistas, die sich an der Verfassung von 1812 orientierten, nicht weit genug, so dass sie schließlich in einer revolutionären Eskalation 1836 weitere Liberalisierungen erzwangen, woraus die recht progressive Verfassung von 1837 hervorging.23 Nach Beendigung des ersten Karlistenkrieges vermochten in den 1840er Jahren allerdings die konservativeren unter den Liberalen, die sogenannten moderados, die Verfassung zugunsten einer deutlich gestärkten Position des Monarchen umzuwandeln. Das offiziell aufrechterhaltene Prinzip der doppelten Souveränität von König und Volksvertretung bzw. der doppelten Verantwortlichkeit der Exekutive gegenüber Krone und Parlament war in der Verfassung von 1845 eindeutig zugunsten der Monarchin verschoben.24 Dieses Hin und Her zu kennen ist deshalb wichtig, weil nur so erstens die Handlungsspielräume der Monarchie erkennbar werden, die je nach Vorherrschen der liberalen oder konservativen Kräfte enger oder weiter waren. Zweitens ist das Scheitern Isabellas letztlich nur vor diesem Hintergrund extrem divergierender, wenig kompromissbereiter Kräfte zu verstehen, die Isabella für die je eigenen Interessen zu vereinnahmen gedachten. Dies spiegelte sich nicht zuletzt

22 Vgl. Nohlen, Dieter: »Parlamentarismus in Spanien 1833-1837: Modellvorstellungen parlamentarischer Regierung und Verfassungspraxis um die Zeit des ›Estatuto Real‹«, in: Politische Vierteljahresschrift 9 (1968), 4, S. 544-563; Pro Ruiz, Juan: El Estatuto Real y la Constitución de 1837 (Las Constituciones Españolas Bd. 3), Madrid: Iustel 2010. Zu den Folgen für die Monarchie vgl. insbesondere ebd., S. 49ff. 23 Zum Verhältnis der Progresistas zur Verfassung von Cádiz vgl. ebd., S. 64ff; zur Einführung der konstitutionellen Monarchie siehe ebd., S. 112ff; zum Verfassungstext vgl. ebd., S. 125-290. 24 Zu Verfassungstext und –praxis vgl. Pro Ruiz, Juan: »La práctica de los gobiernos antiparlamentarios del final de la Década moderada (1851-1854)«, in: Revista de las Cortes Generales I Estudios, Bd. 12 (1987), S. 7-55, hier S. 9-14. Zum Text und zur Entstehung siehe auch Juan Ignacio Marcuello Benedicto: La Constitución de 1945 (Las Constituciones Españolas Bd. 4), Madrid: Iustel 2007. Zum Konzept der »doble confianzas« vgl. Marcuello Benedicto, Juan Ignacio: »La Corona y la desnaturalizacion del parlamentarismo isabelino«, in: Isabel Burdiel: (Hg.), La política en el reinado de Isabel II, Madrid: Marcial Pons 1998, S. 15-36.

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in der Inszenierung, Verbreitung und Akzeptanz bestimmter Bilder, die von der Monarchin verbreitet wurden.

III. O FFIZIELLE I NSZENIERUNG VON M ACHT UND K ÖRPERLICHKEIT IN D ISKURSEN UND P RAKTIKEN Die offiziellen Inszenierungen Isabellas können in drei Phasen unterteilt werden. Kindheit und Adoleszenz lassen sich unter der Überschrift »Unschuld und Ohnmacht« abhandeln, dieses Bild wird nach der Eheschließung herausgefordert durch ein inoffizielles Bild der ›Unordnung‹, bevor schließlich drittens in den 1860er Jahren Bildstrategien den Eindruck von ›Einheit und Eintracht‹ evozieren sollten.

1.

›Unschuld und Ohnmacht‹: la niña inocente

Die ersten Bilder Isabellas inszenierten sie als ›niña inocente‹, als unschuldiges Mädchen. Diese Charakterisierung bestimmte ihre Darstellung in der liberalen Bildlichkeit bis zur Eheschließung im Alter von 16 Jahren. Deutlich wird dies nicht zuletzt in den Porträts des Hofmalers Federico Madrazo y Kuntz, der seit der Volljährigkeitserklärung Isabellas im Alter von 13 Jahren ihr offizieller Hofmaler war. Mit dem Topos der ›Unschuld‹ übernahm der öffentliche Diskurs wertorientierte Argumentationsmuster aus dem religiösen Feld, die sich bezüglich der positiven Deutung der ›Unschuld‹ als eines schützenswerten weiblichen Gutes mit den genderspezifischen Denkmustern der bürgerlichen Gesellschaft deckten.25 Andere rekurrente Begriffe wie ›ángel‹26 (Engel) bei der Bezeichnung Isa-

25 Vgl. dazu bereits Aschmann, Birgit: »Von der ›niña inocente‹ zur ›ilustre prostituta‹. Techniken der Apologie und Delegitimierung der spanischen Königin Isabella II. über den Genderdiskurs«, in: Claudia Jarzebowski/Anne Kwaschik (Hg.), Performing Emotions. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Verhältnis von Politik und Emotion in der Frühen Neuzeit und in der Moderne, Göttingen: V&R unipress 2013, S. 217240, hier S. 220-225; dies.: »Jenseits der Norm? Die spanische Monarchie im 19. Jahrhundert«, in: Michael Wildt (Hg.), Geschichte Denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 81-99, hier S. 84-86.

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bels bestärkten dieses Zusammengehen religiöser und bürgerlicher Diskursmuster, setzte sich doch in dieser Zeit das Ideal des ›ángel doméstico‹, des häuslichen Engels, als feminines Leitbild breiter bürgerlicher Schichten – auch – in Spanien durch.27 Dabei waren dieser allgemeinen Konnotation drei weitere Assoziationen eingeschrieben, die sich aus dem ereignisgeschichtlichen Kontext ergaben. Erstens wurde die mädchenhafte Unschuld als Symbol eines politischen Neubeginns gelesen, der als Garant von Frieden und Eintracht galt: als »iris de paz«28 (Augapfel des Friedens) und »símbolo de unión«29 wurde die kleine Isabella gefeiert. Doch gerade die Intensität, mit der Isabella zugleich als »iris de esperanza«30, also als Inkarnation des Prinzips Hoffnung, beschrieben wurde, verrät, wie wenig die mit Isabella verknüpften Friedens- und Einheitserwartungen mit der Gegenwart zu tun hatten, war doch gerade ihr Thronanspruch Anlass des siebenjährigen Karlistenkriegs geworden. Die Betonung der ›Unschuld‹ der kindlichen Königin galt daher zuallererst dem Bestreben, diesen Makel des Bürgerkriegs vergessen zu machen und mit den emotional positiv besetzten, urchristlichen Konzepten des Friedens, der Eintracht und der Hoffnung zu verknüpfen. Dies war für die religiös geprägte spani-

26 Als ein Beispiel für die vielen Bezeichnungen als ›ángel‹ siehe die Apologie Isabellas als ›ángel deseado‹ im Gedicht von Venancio Huarte in Jaén, zitiert in J. Vilches: Isabel II., S. 33. 27 Zum Idealbild der bürgerlichen Frau als ›häuslichem Engel‹ in Spanien vgl. das Kapitel »Family Values« in: Charnon-Deutsch, Lou: Fictions of the Feminine in the Nineteenth-Century Spanish Press, Pennsylvania: University Press 2000, S. 53ff. Im Fortsetzungsroman von Angela Grassi »Memorias de una casada«, der in der Zeitschrift La Educanda 1865 abgedruckt wurde, präzisierte der Autor in der Ausgabe vom 31.7.1865 seine Vorstellungen vom ›ángel‹ als der vorbildlichen Frau: »limpia, trabajadora, económica y modesta« (sauber, fleißig, sparsam und bescheiden). Zitiert in ebd., S. 60. 28 Jorge Vilches zufolge war es der bekannteste Topos, der mit Isabella während ihrer Kindheit verknüpft und vor allem in den Jahren 1835-43 von den Progressisten verbreitet wurde, vgl. Vilches, Jorge: Isabel II. Imágenes de una reina, Madrid: Síntesis 2007, S. 21. 29 So Fermín Caballero in Eco del Comercio vom 30.7.1836. 30 Vgl. u.a. die Presse selbst auf Kuba: Diario constitutional, Santiago de Cuba, 19.11.1836, wiedergegeben bei J. Vilches: Isabel II, S. 20. Zur Hoffnung, die sich auf Isabella konzentrierte, siehe auch ebd., S. 18.

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sche Gesellschaft umso wichtiger, als nicht nur die konservativen Mächte Europas, sondern auch der Vatikan Isabella die Anerkennung zunächst versagten.31 Zweitens konnte die junge Monarchin über den ›Unschuldsdiskurs‹ als inhaltliche Leerstelle, als unbeschriebenes Blatt dargestellt werden, das nun nach eigenen politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen zu gestalten war. So wurde Isabella gerade wegen der allgemein vorausgesetzten Machtlosigkeit, bedingt durch Alter und Geschlecht, zur Projektionsfläche politischer Partikularinteressen der durchaus heterogenen Gruppierungen innerhalb des liberalen Lagers. Die Demonstration von Anhänglichkeit entsprach dabei einer unausgesprochenen Umarmungsstrategie, die im Gegenzug für Liebe und Enthusiasmus eine klare Festlegung auf konkrete politische Inhalte einforderte. Die emotionale Disposition, d.h. die schwärmerische Verehrung der kindlichen Königin, ging also fest mit konkreten politischen Erwartungen einher. Zu den liberalen Kernbestandteilen zählte die Festlegung Isabellas auf eine Verfassung. »Viva Isabel II. constitucional«, so lauteten Hochrufe schon während des Aufstandes 1836, der aus Furcht vor einem restaurativen Schwenk der Regentin ausgebrochen war.32 Bilder, in denen die kindliche Königin den Verfassungstext hochhielt, verdeutlichten die Erwartung der Progressisten, die Monarchin würde akzeptieren, dass ihre Herrschaft vor allem ›legal‹, d.h. durch das Regelwerk der Verfassung und weniger durch die dynastische Kontinuität legitimiert war. Ein drittes Element beinhaltete der ›Unschuld‹-Topos, indem er die Schutzbedürftigkeit des königlichen Mädchens betonte. Dies implizierte die Aufwertung derjenigen, die sich als Schutzgaranten empfahlen, was wiederum auf die jeweiligen individuellen oder die Gruppeninteressen verweist, die sich hinter den Ratschlägen verbargen. Tatsächlich lässt sich beobachten, wie mit dem Vorwurf gegenüber anderen, dem unschuldigen Mädchen zu nahezutreten, ebenso Politik gemacht wurde wie mit der Selbststilisierung zur unverzichtbaren Schutzmacht. Wie sehr der Körper der Königin zum Symbol der Macht geworden war, ergab sich schon daraus, dass sie selbst im Kreise der Verwandtschaft als »prenda«, als »Pfand«, bezeichnet wurde, über welches zu verfügen die eigene Machtstellung bedingte.33 Noch deutlicher werden die Machtverhältnisse, wenn sie gar als

31 Zum Verhältnis des Vatikans zu Isabella vgl. das Kapitel »Pío IX e Isabel II.« in: Vicente cárcel Ortí: Historia de la Iglesia en la España contemporánea (siglos XIX y XX), Madrid: Ed. Palabra 2002, S. 51-73. 32 Vgl. J. Vilches: Isabel II., S. 23. 33 Siehe Isabel Burdiel: Isabel II. No se puede reinar inocentemente, Madrid: Espasa Calpe 2004, S. 167.

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»presa«34, als »Beute«, unter denjenigen galt, die nominell mit ihrem Schutz beauftragt waren, de facto aber vor allem zusahen, dass politische Konkurrenten keinen Zugriff auf sie bekamen. In diesem Kontext ist auch die vorzeitige Proklamation der Dreizehnjährigen als volljährig zu verstehen. Den damit verbundenen Verstoß gegen die Verfassung nahmen die Ratgeber Isabellas deshalb gern im Kauf, weil sie nicht etwa deren Macht stärken, sondern vielmehr verhindern wollten, dass ein anderer Regent von der Minderjährigkeit Isabellas profitiere. Dass die Unerfahrenheit der jungen Königin ihrerseits Risiken barg, zeigte sich nur wenige Tage nach der Volljährigkeitserklärung, als der progressistische Regierungschef Salustiano de Olózaga die Zuneigung Isabellas nutzen wollte, um eine Regierungsumbildung im eigenen Interesse voranzutreiben. Als dies die konservative Kamarilla am Hofe erfuhr, gelang es ihr, den Spieß umzudrehen, indem nunmehr der Regierungschef mittels des Vorwurfs, der Königin körperlich zu nahe gekommen zu sein, skandalisiert wurde.35 Angesichts der öffentlichen Empörung, die sich umso leichter erregen ließ, als Isabel durch die bisherigen Formen der Apologie als ebenso unschuldig wie verletzlich dargestellt worden war, musste Olózaga um sein Leben fürchten und das Land verlassen. Doch war der Erfolg seiner Gegner insofern ein Phyrrussieg, als die öffentliche Austragung der Debatte um die vermeintlichen Schändlichkeiten dem Ansehen der Königin nur schaden konnte. Dass eine Woche lang zudem im Kongress über die Glaubwürdigkeit der Monarchin diskutiert wurde, die als Opfer die fragwürdigen Handgreiflichkeiten des Politikers bezeugen sollte, konnte ihrem Prestige nur abträglich sein, zumal sie nun eindeutig innerhalb des zerklüfteten liberalen Lagers für die konservative Linie, die ›moderados‹, Partei beziehen musste. Damit hatte sich zugleich erstmals die Vorstellung, Isabella könnte über den Parteien stehend vermitteln, als genau die Fiktion erwiesen, die sie von Beginn an gewesen war. Dass dies das positive Isabella-Bild innerhalb der spanischen Gesellschaft vorerst jedoch nicht nachhaltig veränderte, lag an dem Umstand, dass die Vorgänge sich gut in das Konzept des ›unschuldigen Mädchens‹ fügten, welches ohnmächtig den Rankünen der Politiker ausgesetzt sei. Gerade in Anbetracht der damit verbundenen Schwäche und Schutzbedürftigkeit schien die Frage allerdings umso drängender, welcher Gatte an ihrer Seite nach den gängigen Vorstel-

34 Zitiert bei I. Burdiel: Isabel II. 2011, S. 132. 35 Zum »incidente Olózaga« vgl. I. Burdiel: Isabel II. 2011, S. 141-150; dies. Isabel II. 2004, S. 225-236; J. Vilches: Isabel II., S. 34-49. B. Aschmann: Die zwei Körper, S. 90-94.

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lungen der Geschlechterkomplementarität diese Schutzfunktion übernehmen und Stabilität gewährleisten könnte.

2.

›Marktwert und (moralische) Unordnung‹

Als der spanische Romancier Benito Pérez Galdós nach Isabellas Tod im April 1904 deren Herrschaft bilanzierte, zeigte er sich überzeugt, dass ihr Scheitern zu vermeiden gewesen wäre, hätte ihr – neben einem Staatsmann von Format – ein Ehemann zur Seite gestanden, der nach Kriterien der Vernunft ausgewählt worden und dem sie in wechselseitiger Zuneigung verbunden gewesen wäre. Dann hätte auch aus ihr eine »reina burguesa y correctísima« werden können.36 Damit spiegelt der Literat zugleich die Leitbilder, die sich im 19. Jahrhundert zur Beurteilung ›korrekten‹ weiblichen Verhaltens ausgeprägt hatten. Kernbestandteile bürgerlicher Weiblichkeit waren Häuslichkeit, Mutterschaft und eheliche Treue.37 Die immense Popularität, die Queen Victoria am Ende ihres Lebens entgegenschlug, hatte damit zu tun, dass die von ihr verbreiteten Bilder genau diesen Idealen entsprachen. Hingegen lag eine der Ursachen für das Scheitern Isabellas tatsächlich darin, dass sie – trotz späterer Bemühungen – die Bilder nicht mehr aus dem kollektiven Gedächtnis löschen konnte, die sich in den Köpfen der Madrider Bevölkerung im Umfeld der Eheschließung Isabellas festgesetzt hatten.38 Die erste massive Kollision des Verhaltens Isabellas mit den bürgerlichen Verhaltenserwartungen ergab sich kurze Zeit, nachdem die 16-jährige Isabella verheiratet worden war. Es kam zu einer regelrechten Inszenierung körperlichen Aufbegehrens gegen die dynastischen Normerwartungen, denen sich die junge Königin bisher stets gefügt hatte. Dass die Ehen von Hocharistokratinnen aus königlichen Häusern im Allgemeinen und die von Königinnen im Besonderen nach anderen Regeln als die der zeitgemäßen romantisch verklärten Liebe geschlossen wurden, dürfte auch Isabella klar gewesen sein. Doch hatte es das

36 Pérez Galdós, Benito: »La Reina Isabel«, in: Benito Pérez Galdós: Obras Completas, hg. von Federico Carlos Sainz de Robles, Bd. 6, Madrid: Aguilar 1951, S. 1414-1420, hier S. 1418, das Zitat siehe S. 1420. 37 Vgl. das Kapitel »The Queen as Wife and Mother« in Homans, Margaret: Royal Representations. Queen Victoria and British Culture 1837-1876, Chicago: Univ. of Chicago Press 1998, S. 17-32. 38 Vgl. Burdiel, Isabel: »The queen, the woman and the middle class. The symbolic failure of Isabel II of Spain«, in: Social History 29/3 (2004), S. 301-319.

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Schicksal mit den ›Bürgermonarchen‹ wie Friedrich Wilhelm III. mit Luise oder auch Victoria mit Albert besser gemeint, wo Staatsräson und Sympathie eine so wundersam-symbiotische Einheit hatten eingehen können. Auch war der »Marktwert« der spanischen Königin offenbar zu gering, um einen international angesehenen Prinzen nach Spanien zu locken. Vielmehr hatten England und Frankreich, um einen Vorteil des jeweils anderen Landes auszuschließen, vereinbart, dass kein Verwandter ihrer Monarchen in Spanien einheiraten dürfte, so dass die Wahl schließlich auf einen Cousin Isabellas fiel, Francisco de Asís, der keinerlei nennenswertes Kapital mit in die Ehe brachte: weder soziales, noch kulturelles, finanzielles oder symbolisches.39 Anders als Victoria, die ihren Albert zutiefst wegen seiner Klugheit und seiner Attraktivität bewunderte, wandte sich Isabella nur wenige Wochen nach Eheschluss geradezu angewidert von ihrem Gatten ab und verbrachte demonstrativ die Zeit mit einem Liebhaber. Nicht Francisco, der sich noch über den begrenzten Machtbereich eines Albert mokiert hatte, war es jetzt, der die politischen Weichen stellte, sondern der ›schöne General‹, wie Isabella ihren Liebhaber nannte. Diesem zuliebe gestaltete sie ihr Kabinett neu, was schon deshalb ihr näheres politisches Umfeld empörte, weil ihr General dem anderen Lager, den progresistas, angehörte.40 Die Regierungsbildung erfolgte geradezu nach diktatorischer Willkür. Die Basis dafür lieferte die neue Verfassung von 1845, die entsprechend der Vorstellungen der moderados die Rechte der Krone massiv gestärkt hatte, was sich nun unerwarteter Weise zu Lasten der moderados selbst auswirkte.41 Die Parteigänger der progresistas strebten nun ihrerseits danach, aus Isabellas amourösen Neigungen politisches Kapital zu schlagen, und versuchten, Isabella auf konstitutionelle Projekte festzuschreiben. Dafür inszenierten sie bei Großveranstaltungen wie einem Stierkampf demonstrative Akklamationen des neuen Liebespaares, das als die Verbindung von Progressismus und Monarchie gefeiert wurde.42 Wie volksnah eine Königin in den Vorstellungen der Anhänger des Progressismus sein sollte, symbolisierte sich in einer Kutschfahrt, während der ein Unbekannter in Isabellas Wagen sprang und ihr, offenbar zu ihrem Gefallen, Komplimente machte und

39 Zur Anbahnung der Ehe sowie den persönlichen, internationalen und nationalen Dimensionen vgl. Burdiel, Isabel: Isabel II. Una Biografía (1830-1904), 2. Aufl., Madrid: Taurus 2011, S. 159-181; J. Vilches: Isabel II. 2007, S. 51-92. 40 Vgl. I. Burdiel: Isabel II 2011, S. 195. 41 Vgl. J. P. Ruiz: La práctica, S. 9-14. 42 Vgl., J. Vilches: Isabel II., S. 115.

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Lieder sang.43 Hatte schon der majismo Karls IV., jene aristokratische Modeerscheinung des 18. Jahrhunderts, sich temporär mit Volksbräuchen zu vergnügen, die Distanz zwischen den Ständen spielerisch außer Kraft gesetzt, schien hier die Unnahbarkeit einer sakrosankten Monarchin dauerhaft verlorengegangen zu sein. Die konservativen moderados und die Kamarilla um die Königin-Mutter reagierten entsetzt. »Ein König ist keine Privatperson, er ist eine öffentliche Person«, mahnte Donoso Cortés noch Jahre später ein Verhalten der Monarchin ein, das der Gesellschaft ein Vorbild sein könnte.44 Seine 1832 gegenüber Ferdinand VII. geäußerte Überzeugung von der zivilisatorischen Kompetenz weiblicher Herrschaft dürfte ihm durch die Erfahrungen mit der jungen Königin nun selbst zweifelhaft geworden sein.45 Dass hingegen breite Teile der katholischen Bevölkerung an dem irregulären Eheverhalten der Monarchin offensichtlich keinen Anstoß nahmen, lag wiederum an in diesen Gruppen vorherrschenden Vorstellungen von einer notwendigen Eintracht von physischer Attraktivität und Unversehrtheit mit monarchischer Legitimation. Offenbar fand daher ein optisch ansprechender General eher Anklang als der Prinz, dem nicht nur homosexuelle Neigungen, sondern auch eine Dysfunktion seines Geschlechtsorgans nachgesagt wurde. So war es ein offenes Geheimnis, dass Francisco de Asís an einer Hypospadie litt, d.h. einer Harnröhrenverengung, die ein normales Urinalverhalten ebenso fraglich machte wie die Fortpflanzungsfähigkeit. Den wegen seiner physiologische Defizite verspotteten Königsgemahl (rey consorte war jetzt der offizielle Titel von Francisco de Asís) focht der doppelte Prestigeverlust – galt er doch durch die mangelnde Diskretion seiner Frau öffentlich als ›gehörnter Gatte‹ – hart an. Nun suchte er Kompensation für den ihm zugefügten Schaden, indem er seinerseits auf einen Prestigeverlust Isabellas hinarbeitete und ihr amoralisches Verhalten öffentlich attackierte, um die Legitimationsgrundlage der Monarchin zu untergraben, deren Legitimität sich zumindest nicht mehr auf vorbildliche Sittlichkeit berufen konnte. Schließlich wandte sich der gekränkte Gatte sogar an den Kriegsgegner Isabellas und diente sich den Karlisten als personelle Alternative an. Allerdings fiel diese Aktion wie ein Bumerang auf ihn zurück, als dieser devot formulierte Brief von den Adressaten in der Presse veröffentlicht wurde, um dieserart die moralische

43 Siehe Burdiel, Isabel: »Isabel II: un perfil inacabado«, in: dies.: (Hg.), La política en el reinado de Isabel II, Madrid: Marcial Pons 1998, S. 187-216, hier S. 205. 44 Brief von Juan Donoso Cortés, Paris, 26.11.1851, an die Königin-Mutter Doña María Cristina de Bourbón; in: J. Donoso Cortés: Essay, S. 285. 45 Vgl. J. Donoso Cortés: Memoria, S. 74.

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Fragwürdigkeit und mangende Eintracht des isabellinischen Lagers zu dokumentieren. Dieser Rosenkrieg war binnen eines Jahres oberflächlich beigelegt, indem der ›schöne General‹ in die Provinz befördert wurde und die Eheleute wieder zusammenzogen. Doch die Folgen überschatteten die gesamte Herrschaftszeit Isabellas. Erstens blieb die Versöhnung vordergründig, weil Isabella nicht mehr von der Gewohnheit ablassen sollte, sich emotionale und sexuelle Bestätigung außerhalb der ehelichen Gemeinschaft zu suchen. Zweitens galt ihr Gatte in der liberalen Öffentlichkeit als diskreditiert wegen seiner Annäherungsversuche an das klerikal-absolutistische Lager der Karlisten. Über Isabella selbst waren drittens durch die Gerüchte Imaginationen unmoralischer Zügellosigkeit verbreitet worden, die als Reservoir vorhanden blieben und sich später leicht aktivieren ließen. All dies destabilisierte die spanische Krone gerade in Zeiten, in denen die europäischen Monarchien durch die Revolutionen um die Jahrhundertmitte besonders gefährdet waren. Es dürfte kein Zufall sein, dass Donoso Cortés, der eine weibliche Herrschaft in Friedenszeiten grundsätzlich für wünschenswert gehalten hatte, in Anbetracht der internationalen revolutionären Entwicklungen einerseits und der Schwäche der spanischen Monarchie andererseits gerade jetzt seine Diktaturtheorie entwickelte.46 Gerade in dieser Krisensituation war es von höchster Dringlichkeit, dass die Krone wieder ein positiveres, integrationstaugliches Image bekam. Tatsächlich gelang es dem Königshaus, durch die Verbreitung positiv besetzter Isabellabilder das verlorene Prestige in Teilen zurückzugewinnen.

3.

Eintracht und Einheit

Diese positiveren Bilder lassen sich erstens auf die Inszenierung als Mutter, zweitens auf kontingente Phänomene bzw. Haltung im Unglück sowie drittens auf eine spätere intentionale Pressekampagne zurückführen, die gleichermaßen eine parteienübergreifende Eintracht evozieren sollten. »Der glückliche Tag der Niederkunft Ihrer Majestät nähert sich«, schrieb Juan Donoso Cortés im November 1851 an die Mutter Isabellas, »und dieser Tag wird ein glückbringender sein für alle, sowohl für uns wie für andere Völker, denn an ihm wird eine der schönsten Monarchien Europas einen Erben erhal-

46 Vgl. Donoso Cortés, Juan: »Discurso sobre la dictadura (4.1.1849)«, in: ders.: Obras Completas, Bd. 2, Madrid: Ed. Catolica 1946, S. 187-204.

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ten.«47 Dieses Ereignis sei umso wichtiger, als sich die Monarchien aktuell in großer Bedrängnis befänden und selbst »die stärksten und mächtigsten gestürzt sind oder fürchten müssen, unter der Wucht der großen Stürme zusammenzubrechen.«48 Dass auch die spanische Monarchie gefährdet war, daran ließ der Staatsmann keinen Zweifel. Umso willkommener waren die Wellen an Sympathie, die der jungen Mutter nach der Geburt ihrer Tochter am 20.12.1851 entgegenströmten. Diese wuchsen ins Unermessliche, als ein Attentäter ihr ausgerechnet in diesem Moment familiären und dynastischen Glücks nach dem Leben trachtete. Als sich Isabella nach der Geburt ihrer Tochter im neuen Jahr anlässlich des Dankgottesdienstes erstmals in ihrer Mutterrolle in der Öffentlichkeit zeigte, nutzte Martín Merino, ein ehemaliger Pater, dessen Motive unklar blieben, die Schutzlosigkeit der Monarchin für den Versuch, sie zu erdolchen.49 Die Zuneigung, die die Bevölkerung jetzt äußerste, steigerte sich – so Pérez Galdós – bis zur »Idolatrie«50. Von sonderlicher Nachhaltigkeit aber waren diese Sympathien nicht. Vielmehr sank das Ansehen Isabellas in den Krisen der 1850er Jahre wieder rapide. Der Tiefpunkt war vorläufig erreicht, als die Monarchie im Zug der Aufstände von 1854, die zur Regierungsübernahme der progresistas führten, in revolutionäre Gefahr geriet. Dieser allgemeine Destabilisierung konnte erst die Regierung O´Donnell (1858-63) entgegen wirken, indem sie Maßnahmen ergriff, die dem Land wirtschaftliche Prosperität, außenpolitischen Prestigezuwachs und innenpolitische Konsolidierung verschafften. Bestandteil der integrativen Maßnahmen war eine gezielte Imagekampagne zugunsten der Königin. Erkennbar ist, wie sehr sich die Öffentlichkeitsarbeit Isabellas dabei an dem Vorbild der britischen Queen orientierte. So wie schon der Maler Franz Xaver Winterhalter, den zuvor die Queen (seit 1841) beschäftigt hatte, 1852 an den spanischen Hof gerufen wurde, so lud jetzt der Hof einen britischen Fotografen, Charles Clifford, dazu ein, jene Reisen zu dokumentieren, die Isabella von 1858

47 Brief von Juan Donoso Cortés, Paris, 26.11.1851, an die Königin-Mutter Doña María Cristina de Bourbón; abgedruckt in: Donoso Cortés, Juan: Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus und andere Schriften aus den Jahren 1851 bis 1853, hg. und kommentiert von Günter Maschke, Weinheim: VCH, Acta Humaniora 1989, S. 284-290, hier S. 284. 48 Ebd. 49 Siehe J. Vilches: Isabel II, S. 149ff. 50 Vgl. Pérez Galdos, »Benito: La revolución de Julio«, in: ders., 1970, S. 9-12, hier S. 11.

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bis 1866 quer durch das Land unternahm.51 Dieses Unternehmen war Teil der Versuche europäischer Fürstenhäuser, die Monarchie neu zu erfinden.52 Die Reisen symbolisieren dabei den Erfolg Isabellas bei dem Bestreben, einige politische Praktiken dem europäischen Umfeld anzugleichen.53 Entscheidend dabei war die Verknüpfung traditionaler Phänomene mit Elementen der Moderne, die Teil einer »Invention of Tradition«54 war. Gerade die Triumphbögen, die anlässlich der Durchreisen Isabellas in den Städten errichtet wurden, sollten durch ihre Bildprogramme und Schriftzüge die aktuelle Politik in die Tradition der spanischen Geschichte stellen und auf diese Weise sowohl Isabellas Image heben als auch die konkrete spanische Politik legitimieren.55 Wenn auf dem in Alicante 1860 errichteten Tor in großen Lettern stand: »Que se venden mis joyas!«, wird das koloniale Engagement in Marokko in unmittelbare Kontinuität mit den Kriegen Isabella I. von Kastilien gestellt, die mit ihren Juwelen die Wiedereroberung Granadas finanziert hatte. Für diejenigen, die diese Anspielung nicht sofort verstanden, wurde der Zusammenhang auf einem 1862 in Orihuela errichteten Triumphtor ausführlicher erläutert. Bis in die mythischen Ursprünge der spanischen Geschichte ging u.a. der Cádizer Triumphbogen von 1862 mit seiner Darstellung von Herkules zurück. Auch die Einbindung religiöser Motive verankerte Isabella in der spanischen Tradition. Die Mittel, derer sich der Hof Isabellas bediente, um diese Reisen bekannt zu machen, verwiesen auf die Modernität des Regimes. So wollte offenbar auch Isabella wie Victoria zum Media Monarch56 werden: Zunächst wurden die Besuche vor Ort mit allem zeremoniellen Aufwand und Pomp begangen, sodann wurden diese Ereignisse während der Reisen aufwändig fotografiert, dokumentiert und in der Presse veröffentlicht, weshalb neben dem britischen Fotografen

51 Riego, Bernardo: »Imágenes fotográficas y estrategias de opinión pública: los viajes de la Reina Isabel II por España (1858-1866)«, in: Reales sitios – Madrid Año 36 Nr. 139 (1999), S. 1-15, S. 2ff. 52 Vgl. dazu T. Kroll, Monarchie, S. 318. 53 B. Riego, Imágenes, S. 3. 54 Vgl. Hobsbawm, Erich/Ranger, Terence: The Invention of Tradition, Cambridge 1992. 55 Vgl. B. Riego: Imágenes, S. 10f. 56 Vgl. Plunkett, John: »A Media Monarchy? Queen Victoria and the radical press 18371901«, in: Media History 9,1 (2003), S. 3-18 bzw., ders.: Queen Victoria. First Media Monarch, Oxford: Oxford Univ. Press 2003, S. 1-3.

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auch ein »cronista oficial« im Gefolge mitreiste.57 Die Sorgfalt, die auf diese Präsentationen Isabellas verwandt wurde, spricht dafür, dass die Chancen erkannt worden waren, die das gezielte Einwirken auf die öffentliche Meinung einer Massengesellschaft haben konnte. Auch die Chancen, die in einer betont fürsorglich-karitativen Ausrichtung der Monarchie lagen, wurden realisiert. Durch großzügige Spenden präsentierte sich Isabella während der Reisen als Repräsentantin eines modernen »sozialen Königtums.«58 Schon aus antirevolutionärer Prophylaxe hielt ihr einstiger Sekretär, Juan Donoso Cortés, dies für unabdingbar. Dass Isabella selbst eine soziale Ader habe, sei schön, aber nicht hinlänglich. Vielmehr sei notwendig, dass ihre karitative Neigung ins öffentliche Bewusstsein dringe: »Es ist notwendig, daß die ganze Nation es weiß und daß es Europa nicht unbekannt bleibt.«59 Schon anlässlich der Geburt ihrer ersten Tochter hatte Donoso Cortés der Königin dringend geraten, »anstelle großer und kostspieliger Feste für die Reichen«, besser »große Almosen« für die Armen zu geben. »Um zu herrschen, genügt es nicht mehr, stark zu sein und auch nicht, gerecht zu sein; es ist nötig, mildtätig zu sein.«60 So gehörten jetzt während dieser Reisen demonstrative Gesten der Großzügigkeit zum unverzichtbaren Repertoire: Klöster, Arbeiter, Musiker oder karitative Einrichtungen wurden ebenso großherzig wie publikumswirksam bedacht.61 Ein weiterer Aspekt dieser Reisen galt dem Bestreben, sich durch offensichtliche Protektion innovativer Fortschrittssymbole wie dem Eisenbahnbau als Königin einer modernen »Wohlfahrtsmonarchie«62 feiern zu lassen. Anlass vieler Reisen waren oftmals die Einweihungen neuer Eisenbahntrassen, Brücken oder Kanalbauten.

57 Vgl. B. Riego: Imágenes, S. 2. Am Ende der Reise wurden zudem Fotoalben erstellt, vgl. ebd., S. 8. 58 Zum ›sozialen Königtum‹, welches nicht zuletzt die preußischen Konservativen der 1850er und 1860er Jahre entwickelt hatte, vgl. Kroll, Frank-Lothar: Die Idee eines sozialen Königtums im 19. Jahrhundert; vgl. Tagungsbericht http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3844. 59 Brief von Juan Donoso Cortés, Paris, 26.11.1851, an die Königin-Mutter Doña María Cristina de Bourbón; in: J. Donoso Cortés: Essay, S. 285. 60 Ebd., S. 287. 61 B. Riego: Imágenes, S. 6. 62 Prohaska, Frank: Royal Bounty. The Making of a Welfare Monarchy, New Haven: Yale Univ. Press 1995.

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Zu guter Letzt sollten die Reisen die Peripherien des Landes nicht nur durch Infrastrukturmaßnahmen, sondern auch emotional an die Monarchie binden. Das gelang der Königin insofern gut, als sie durch ihre spontane und offene Art vielfach Sympathien weckte.63 Gezielt warb sie dabei um die Zuneigung der verschiedenen Provinzen. Indem Isabella bei diesen Reisen die eigenen Kinder in die landesüblichen Trachten der durchquerten Regionen hüllte, bekräftigte sie über die Stabilität der physischen Kernfamilie hinaus ihren Anspruch auf mütterliche Autorität gegenüber den Provinzen als Kindern der Monarchie. Mit Reisen, die keineswegs zufällig in die Regionen des Nordens, des Südens, des Ostens und Westens führten, sollte die Monarchin als Integrationselement der Nation sichtbar gemacht werden.64 Dieses integrative Moment spiegelte sich im Umgang mit der eigenen Familie. Die Notwendigkeit, die Monarchenfamilie als symbolischen Ort der Eintracht darzustellen, machte es unabdingbar, Vater, Mutter und Kinder zusammen auf den Aufnahmen zu arrangieren. Auch dies war aus dem britischen Vorbild bekannt: Ein Großteil ihrer Popularität hatte Victoria der fotografisch vielfach reproduzierten Inszenierung der ›royal familiy‹ als moralischem Vorbild der Nation zu verdanken.65 Die Inszenierung der spanischen ›familia real‹ war umso aufwändiger, als in der Öffentlichkeit die privaten Dissonanzen nur allzu bekannt geworden waren. Dabei war ein Arrangement mit dem Gatten für Isabella umso notwendiger, als andernfalls die Legitimität ihres Sohnes in Gefahr geraten könnte. Spätestens mit der Geburt des Thronfolgers Alfons im Jahre 1857 war eine demonstrative Versöhnung nötig, um auf diese Weise Francisco zur sichtbaren Anerkennung der Vaterschaft zu nötigen, auch wenn niemand einen Zweifel daran hegte, dass der

63 B. Riego: Imágenes, S. 8. 64 Zu den ›Zeigepflichten‹ eines Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Geisthövel, Alexa: »Den Monarchen im Blick. Wilhelm I. in der illustrierten Familienpresse«, in: Habbo Knoch und Daniel Morat (Hg.), Kommunikation als Beobachtung. Medienwandel und Gesellschaftsbilder 1880-1960, München: Fink 2003, S. 59-80, hier S. 64. Ähnlich dies.: »Wilhelm I. am ›historischen Eckfenster‹: Zur Sichtbarkeit des Monarchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts«, in: Jan Andres/Alexa Geisthövel/Matthias Schwengelbeck (Hg.), Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M.: CampusVerlag 2005, S. 163-185, hier S. 167f. 65 Vgl. Homans, Margaret: Royal Representations. Queen Victoria and British Culture, 1837-1876, Chicago 1998, S. 58ff; Armstrong, Nancy: »Monarchy in the Age of Mechanical Reproduction«, in: Nineteenth Century Contexts 22 (2001), S. 495-536.

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kleine Alfons von einem anderen gezeugt worden war. So soll der wutentbrannte Gatte, als er von dieser Schwangerschaft erfuhr, nur mit Waffengewalt eines loyalen Offiziers daran gehindert worden sein, seiner Gattin zu nahe zu treten.66 Auswärtige Diplomaten waren davon überzeugt, dass Francisco in diesem Moment bereit gewesen wäre, seine Frau zu stürzen.67 Umso mühsamer war der – nicht zuletzt von der Ordensfrau Sor Patrocinio vermittelte – Prozess der Aussöhnung, wenn dieser auch weniger durch neue Zuneigung als vielmehr durch Einsicht in die dynastischen Notwendigkeiten motiviert war. Ostentativ traten daher die Eheleute während der jetzigen Reisen gemeinsam in Erscheinung und zeigten sich zusammen mit den Kindern auf den Balkonen der Rathäuser jener Städte, durch welche die Reisen sie führten. Auf diese Weise kamen über die doppelte Repräsentation der ›Mutter‹ (als Landesmutter und Zentrum der eigenen Kernfamilie) erneut die zwei Körper der Monarchin ins Spiel. Wie eng beide Ebenen verknüpft waren, zeigte sich, als mit Angriffen auf die Darstellung des physischen Körpers schließlich die Legitimität und Stabilität der Monarchie selbst rigoros infrage gestellt wurde.

IV. D ISKREDITIERUNG VON K ÖRPERLICHKEIT

UND

M ACHT

Die Reisen wurden 1866 eingestellt, als ein tragischer Unfall die ursprüngliche Intention konterkarierte. So wurden beim Andrang auf die Gleise eines Bahnhofs, welchen der Zug Isabellas durchqueren sollte, einige der begeistert zusammengekommenen Untertanen überrollt und dadurch tödlich verletzt, ohne dass der Zug anhielt und Isabella informiert wurde. Mit dem Bild der fürsorglichen Mutter war dieses Verhalten nicht zu vereinen, und auch die Besuche, die Isabella bei der Rückreise bei den Angehörigen der fünf Toten unternahm, vermochten den Imageschaden nicht mehr zu beheben.68 Noch im selben Jahr löste sich die Fiktion einer über den Parteien stehenden, allen Kindern der Monarchie unterschiedslos wohlwollend begegnenden Monarchin vollends auf: 87 Militärs, die sich an einem antimonarchischen Putsch beteiligt hatten, wurden trotz diverser Gnadengesuche auf Befehl der Königin ex-

66 I. Burdiel: Isabel II: un perfil, S. 209. 67 So der französische Botschafter Turgot im Schreiben an Walewski 29.7.1857, zitiert in: ebd. 68 B. Riego: Imágenes, S. 10.

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ekutiert.69 Fortan gingen selbst diejenigen Politiker allmählich zu ihr auf Distanz, auf deren Loyalität sie sich bislang hatte verlassen können. Die Abkehr der Liberalen von der Monarchin manifestierte sich in einem Bildprogramm, das nicht mehr von ihr gesteuert werden konnte. So wie die Hoheit über die von ihr verbreitete Bildlichkeit glitt ihr schließlich auch die Herrschaftsgewalt über den spanischen Staat aus der Hand – bis dahin, dass ihre Chance, bei ihrem Stab Gehorsam für ihre Befehle zu finden, immer geringer wurde. Erneut wurde der Körper Isabellas zur Projektionsfläche politischer Vorstellungen. Diesmal aber dienten die Imaginationen nicht der Integration, sondern der Entfremdung. Erste Anzeichen einer visuellen Kritik, die an der Körperlichkeit der Königin ansetzte, zeigten sich an einer Karikatur, die die Historikerin Isabel Burdiel in den spanischen Archiven gefunden hat.

Abbildung 1: Isabel II Quelle: Isabel Burdiel: Isabel II. No se puede reinar inocentemente, Madrid 2004, S. 11.

In dieser aus den späten 1850er Jahren stammenden Druckgraphik verdichtete sich der Vorwurf der moderados und progresistas, Isabella habe die liberalen Projekte verraten. Anhand der Darstellung eines apathischen, faltigen Gesichtes zeichnete der Künstler nicht nur den individuellen Verfallsprozess der Monar-

69 Vgl. u.a. J. Vilches: Isabel II., S. 238.

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chin, sondern mit diesem zugleich den der konstitutionellen Monarchie.70 Über die konkreten Anspielungen brachte das Bild eine allgemeine Kritik am politischen, emotionalen und sittlichen Verhalten der Königin zum Ausdruck und akzentuierte damit den Abstand zwischen der Regierungspraxis der Monarchin und den Grundprinzipien des politischen Liberalismus. Wenn als Charakterzüge der Königin jetzt Habgier, Brutalität, zügellose Wollust und Unwissenheit galten, konnte die Diskrepanz zum Selbstverständnis der Liberalen kaum größer inszeniert werden:71 Eine Kette aus Totenschädeln symbolisiert ebenso wie die Leichen exekutierter Militärs die Disposition der Königin, für die Durchsetzung ihrer Interessen über Leichen zu gehen. Dass ihr auch sittliche Skrupel fremd wären, wurde durch Anspielungen auf ihre zahlreichen Liebhaber zum Ausdruck gebracht, indem über allen Zacken der Krone ein aufgespießtes Herz abgebildet war – Initialen stellten die hinreichende Eindeutigkeit her. Zu guter Letzt wurde auch Isabellas Hinwendung zum Klerikalismus thematisiert: Durch die Darstellung von Ordensleuten mit Geldsäckchen in der Hand, die in die Gesichtsfalten hineingezeichnet wurden, konnte insinuiert werden, dass Isabella die Bereicherung der Klerikalen zu Lasten des spanischen Staates dulde. Indem Sor Patrocinio ein prominenter Platz über der Krone eingeräumt wurde, unterstellte die Zeichnung ein Abhängigkeitsverhältnis Isabellas gegenüber jener Ordensfrau, die zum personifizierten Feindbild der spanischen Progressisten geworden war.72

70 Die Druckgraphik in Form damals gängiger Visitenkarten fand Isabel Burdiel unter Zeichnungen aus der Hand der jugendlichen Isabella, die ihre Mutter María Cristina sammelte, und welche jetzt im Archivo Histórico Nacional zu finden sind; abgedruckt in: I. Burdiel: Isabel 2004, S. 11. Zum Fundort vgl. ebd., S. 13. 71 Undankbarkeit und Grausamkeit gehörten neben der Unmoral zu den offenbar obligatorischen Bestandteilen des Diskreditierungsdiskurses, vgl. u.a. J. Vilches: Isabel II., S. 266, 321, 336. 72 Zur Ordensschwester, die in den 1830er Jahren die Madrider Gesellschaft im Zug eines Prozesses, der die Authentizität ihrer Stigmata prüfen sollte, in Anhänger und Gegner spaltete, vgl. das Kapitel: »Sor Patrocinio. La Monja de las Llagas (18111891)«, in: Julián Moreiro: Españoles excesivos, Madrid: Edaf 2008, S. 185-239. Der progressistischen Regierung war ihre Spiritualität nicht zuletzt deshalb zum politischen Problem geworden, weil sie in ihren Visionen Siege der Karlisten vorherzusehen schien und der Regentin die Legitimität absprach, vgl. u.a. ebd., S. 207. Diese Diskreditierung María Cristinas weckte das Interesse von deren Schwester, Luisa Carlota, welche die Ordensfrau mit der geistigen Betreuung ihrer Söhne betraute. Dieserart wurde Sor Patrocinio früh zur Vertrauensperson von Francisco de Asís.

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Alle diese Persönlichkeiten, Isabella selbst und ihr aktueller Geliebter, ihr Mann Francisco und Sor Patrocinio waren Teil eines antiisabellinischen Bildprogramms, das in den späten 1860er Jahren kursierte und an Drastik im damaligen Europa nicht seinesgleichen fand. Die Intention dieser Inszenierung lag zweifelsfrei in der Delegitimierung von Isabellas Herrschaft, indem sie allesamt durch die Bildaussagen ad absurdum geführt werden sollten: die traditionalen, die legalen, die charismatischen und die konsensualen Legitimationsgründe der Monarchie. Symptomatisch für die Diskreditierungsstrategie wurden pornographische Darstellungen Isabellas. Dieses Mittel war nicht grundsätzlich ungewöhnlich, vielmehr gehörte es zu den visuellen Traditionen der europäischen Frühen Neuzeit, dass Frauen, die diskreditiert werden sollten, in ihrem Status als Geschlechtswesen angegriffen wurden.73 Die politische Pornographie hatte im Zuge der Angriffe auf die französische Königin Marie Antoinette während der Französischen Revolution einen Höhepunkt erreicht. »When royal bodies become the focus of such interest«, so Lynn Hunt, »we can be sure that something is at issue in the larger body politic.«74 So können die Darstellungen Isabellas zugleich als Gradmesser für die Wertschätzung der spanischen Monarchie herangezogen werden. Die Angriffe auf beide Körper der Königin erreichten ihren Gipfel im Jahr 1868, als ihr Teile der Regierung und des Militärs den Gehorsam aufkündigten und die Madrider Bevölkerung mit den Rufen »Abajo los Borbones!« durch die Straßen zog.75 Gedrängt von ihren letzten Getreuen kehrte Isabella von ihrem Aufenthalt in Vitoria nicht nach Madrid zurück, sondern floh über die Grenze nach Frankreich. Von dort ließ sie in den Blättern der europäischen Presse einen Aufruf veröffentlichen, der den Aufständischen vorwarf, »die Interessen der Religion, die Grundlagen der Gesetzlichkeit und des Rechts und die [...] Ehre Spaniens in Gefahr« zu bringen. Sie sehe sich in ihrem »Stolz als Spanierin« und in ihrer »Würde als Königin« verletzt.76 »Vernunft und Ehre« seien in Spanien –

73 Vgl. Alfing, Sabine: »Weibliche Lebenswelten und die Normen der Ehre«, in: dies./Christine Schwedensack (Hg.), Frauenalltag im frühneuzeitlichen Münster, Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte 1994, S. 17-185, hier S. 179. 74 Hunt, Lynn: Eroticism and the Body Politic. Baltimore/London: Johns Hopkins Univ. Press 1991, S. 108. 75 Vgl. u.a. den Bericht aus der Königlich preußischen Gesandtschaft in Spanien an Otto von Bismarck, Madrid, 19.9.1868; in: PAAA R 11656 I: Acta betreffend den im September 1868 in Spanien ausgebrochenen Aufstand und dessen Folgen. 76 Vgl. Abdruck des Aufrufs vom 30.9.1868 in: Berliner Abendblätter, 6.10.1868; in: PAAA R 11656 I.

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hoffentlich nur temporär – verfinstert. In aller Deutlichkeit bestritt sie die Rechtmäßigkeit der Erhebung und forderte die Spanier auf: »[...] bleibet treu [...] Euren Schwüren und Eurem Glauben; lasset den revolutionären Taumel.«77 Schließlich zeigte sie sich überzeugt, dass »die Monarchie von fünfzehnhundert Jahren« nicht innerhalb von vierzehn Tagen untergehen könne. Mit der erneuten Betonung, dass sie, die Königin, für »die Erhaltung des Rechts, der Legitimität und der Ehre« stünde, sprach sie den Revolutionären jegliche Legitimation ab, die ihrerseits mit dem Anspruch, die Ehre Spaniens zu vertreten, um Anhänger warben: »España con honra« lautete das Manifest der putschenden Generäle im September 1868.78 Diese Legitimationsstrategie aber konnte nur dann erfolgreich sein, wenn Isabella ihrerseits nicht als Repräsentantin der »Ehre Spaniens« wahrgenommen wurde. Insofern waren den Putschisten alle Maßnahmen willkommen, die die isabellinische Selbstrepräsentation konterkarierten. Bilder, die die sexuelle Lauterkeit Isabellas in Zweifel zogen, waren besonders wirkmächtig. Und von besonderer Deutlichkeit wiederum waren die Bilder der Brüder Gustavo Adolfo und Valeriano Béquer. Eigentlich standen diese in enger Verbindung zu denjenigen moderados, die lange mit Isabella politisch kooperiert hatten. Einer der Brüder, Gustavo Adolfo, hatte die Königin sogar einst als Bittsteller selbst kennengelernt. Sie hatte 1856 die im Palast persönlich vorgetragene Bitte dreier junger Intellektueller um Finanzierung eines Zeitungsprojektes großzügig bewilligt.79 Von der Faszination für die Königin, die aus dem Bericht von einem der drei Beteiligten sprach, war in den jetzigen Darstellungen Béquers nichts mehr zu spüren. Die Aquarelle der Brüder präsentierten Isabella hier als eine Frau, die nicht mehr von Sittlichkeit, Herz und Vernunft geleitet, sondern ausschließlich von ihrem »furor uterino« getrieben war.80 Auf diversen Bildern war die Königin vor

77 Ebd. 78 Zum Manifest »España con honra« der putschenden Militärs vgl. I. Burdiel: Isabel II 2011, S. 808. 79 Vgl. B. Riego: Imágenes, S. 5. 80 Die 89 Aquarelle, welche Isabella II. sowie die Personen ihres Umfeldes in eindeutig kompromittierenden, pornographischen Positionen darstellten, entstanden 1868/1869, wurden erstmals 1991 unter dem Pseudonym SEM vom Verlag El Museo Universal veröffentlicht und befinden sich heute in den Beständen der Biblioteca Nacional in Madrid; vgl. SEM: Los borbones en pelota [Valeriano Béquer/Gustavo Adolfo Béquer], hg. von Robert Pageard, Lee Fontanella und María Dolores Cabra Loredo, Madrid: Ed. El Museo Universal 1991. Die Zeichnungen gelten als »Ausnahmewerk in jeder Hinsicht«. Nirgendwo auf der Welt gab es in diesen Zeiten eine vergleichbare

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einer ganzen Reihe von Geschlechtspartnern dargestellt, die mit erigiertem Glied darauf warteten, an die Reihe zu kommen. Die Indifferenz, mit der Isabella zur Befriedigung ihrer Triebe ihre Partner wählte, wurde dadurch akzentuiert, dass nicht nur die Mitglieder ihrer Kamarilla, sondern auch eine Gruppe von Eseln für die Kopulation anstanden.

Abbildung 2: TITEL

Abbildung 2: Ysabel – Espérate Quelle: SEM: Los Borbónes en pelota, hg. von Isabel Burdiel, Zaragoza 2012, S. 247.

Abbildung 3: Por probar de todo Quelle: SEM: Los Borbónes en pelota, hg. von Isabel Burdiel, Zaragoza 2012, S. 249.

Formensprache der Kritik, vgl. ebd., S. 6. Zur Protektion der Brüder durch die Moderados vgl. Pageard, Robert: »Reflexiones sobre las acuarelas secretas de los hermanos Béquer«, in: ebd., S. 13-20, hier S. 19.

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Ein ungezügeltes Triebleben aber widersprach diametral den bürgerlichen Verhaltenserwartungen gegenüber Frauen, die »Repräsentanten der Sitte, der Liebe, der Scham«81 zu sein hatten. Ein massives Abweichen von dieser Verhaltensnorm wurde mit sozialer Ausgrenzung sanktioniert, die mit physischen Abwehrreaktionen einhergehen sollte. Entsprechend wurde Isabella in Bildern und Texten als »die ekelhafteste aller Prostituierten«82 diffamiert. Dass Queen Victoria seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im In- und Ausland so geschätzt wurde, lag nicht zuletzt daran, dass sie in der Öffentlichkeit diesen Erwartungen exakt entsprach.83 Umso mehr sticht die abweichende Darstellung Isabellas hervor. Dadurch, dass auf vielen Bildern auch die königlichen Insignien zu erkennen sind, die durch das sexuelle Verhalten als entwürdigt dargestellt werden, drehte sich der Diskurs nicht ausschließlich um das normgerechte emotionale und sexuelle Verhalten der einzelnen Frau, sondern auch um die Monarchie. Auch wenn über den damaligen Verbreitungsgrad der Aquarelle der Brüder Béquer nur spekuliert werden kann, sind sie insofern aussagekräftig, als sie verdeutlichen, was über die Monarchie zum Ausdruck zu bringen inzwischen möglich war. Zudem kursierten ähnliche Abbildungen und Beschreibungen damals zu Hauf.84 Durchgängig war eine Monarchin dargestellt, die sittlich-moralisch-emotional das Schickliche weit hinter sich gelassen hatte. Wer sich aber – so insinuierten die Bilder – wahllos den Untertanen als Geschlechtspartnerin anbot, konnte nicht mehr als ›Mutter‹ oder ›Heilige‹ verehrt werden und war damit nicht mehr sakrosankt. Die Satirezeitschrift Gil Blas reimte am 8. Oktober 1868: »De los españoles madre / la llamaron con placer / más ¿fue su madre? – No padre / fue tan sólo su mujer.«85 Als Königin sei sie eine Unterdrückerin, als Gattin eine Ehebrecherin, schrieb die Zeitung El Ilustrado (4.10.1868). Damit aber sei nicht nur die Frau, sondern – so stand in der Zeitung El Pueblo (6.10.1868) – die Mo-

81 Vgl. Brockhaus 1852, zitiert in Frevert, Gefühle definieren, S. 36. 82 »La más asquerosa de las prostitutas«, vgl. der Artikel »Dinastías incrustadas por el viente de Isabel de Borbón«, El Centinela del Pueblo, 23.7.1868, zitiert in: L. Charnon-Deutsch: Fiction, S. 112. 83 von Rosador, Kurt Tetzeli: »Victorias Disziplinierung des Herzen«, in: Kurt Tezeli von Rosador/Arndt Mersmann, Victoria. Ein biographisches Lesebuch, München: Dt. TaschenbuchVerlag 2001, S. 281-301, hier S. 289. 84 Siehe u.a. I. Burdiel: Isabel II. 2011, S. 793. 85 Zitiert in J. Vilches: Isabel II., S. 268.

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narchie entehrt. 86 Isabella und ihr Hof galten nunmehr als Symbol für das ehrlose Spanien: »España sin honra.«87 Die Herrschaft von Isabella zeigte dabei zunächst, dass der Inszenierung von politischer Herrschaft ein hoher Stellenwert zukam, zweitens, dass diese Inszenierung von politischer Herrschaft in extremer Weise mit der Körperlichkeit verknüpft wurde und drittens, dass gerade das Unvermögen, beides dauerhaft mit einer positiven Bildlichkeit zu verbinden, den Sturz im Jahre 1868 mitbedingte. Darüber hinaus zeigte dieses Beispiel vor allem, wie sehr die Monarchie im 19. Jahrhundert bereits von der Selbstverständlichkeit traditionaler Legitimation früherer Jahrhunderte abgekoppelt und wie stark die Notwendigkeit war, durch Leistung, Akzeptanz und den Glauben an die Auserwähltheit der eigenen Persönlichkeit, eben das Charisma, zu forcieren, welches in Spanien in hohem Maß an die erwartete Fähigkeit geknüpft war, dem Land ›Ehre‹ zu bringen. Die Kompetenz der Monarchen, die Ehre des Landes als symbolisches Kapital zu akkumulieren, wurde im Zeitalter der Massenöffentlichkeit vor allem visuell vermittelt. Genau an diesem Hebel setzten die Strategien derjenigen an, die die Rechtmäßigkeit von Isabellas Herrschaft infrage stellten. Die drastische Inszenierung in Bild und Text einer sexuell devianten Königin trug dazu bei, ihr Prestige derart zu mindern, dass Isabellas Versuche, sich nach ihrem Sturz als Repräsentantin der spanischen ›Ehre‹ zu stilisieren, letztlich ins Leere liefen.88

86 Vgl. die Zeitung El Pueblo, 6.10.1868. 87 »Somos la España sin honra«, ließ Pérez Galdos diejenigen Protagonisten seines um Isabellas Sturz kreisenden Epiosodio Nacional ausrufen, die mit der Königin ins Ausland gingen, vgl. Pérez Galdós, Benito: »La de los tristes destinos«, in: Obras completas, Bd. 3: Episodios Nacionales, Neuaufl., Madrid: Aguilar. 1970, S. 655-781, hier S. 781. »España sin honra« betitelte Isabel Burdiel ihr letztes Kapitel über die ›Agonie‹ der Königsherrschaft Isabellas 1866-1868, vgl. Burdiel, Isabel II 2011, S. 787-810. 88 Dabei war der Fall Isabellas fortan eine wichtige Negativfolie, indem er den Diktatoren des 20. Jahrhunderts quasi als Lehrbeispiel zeigte, welches Verhalten bzw. welche Bilder unter allen Umständen zu vermeiden waren. Zur Skepsis Francos gegenüber der spanischen Bourbonenlinie bzw. den Nachkommen von ›doña Isabel‹ vgl. Javier Tusell: Franco y los católicos. La política interior española entre 1945 y 1957, Madrid: Alianza Ed. 1984, S. 58.

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P OLITISCHE B ÜHNEN DES 20. J AHRHUNDERTS UND IHRE P ROTAGONISTEN : D IKATOREN , C AUDILLOS UND M EDIENMOGULE

Einheit, Ordnung, Hierarchie: zur Inszenierung politischer Herrschaft im Spanien Francos W ALTHER L. B ERNECKER

Der spanische Diktator Francisco Franco starb am 20. November 1975, kurz vor Vollendung seines 83. Lebensjahres. Fast die Hälfte seines Lebens, knapp 40 Jahre, hatte er Spanien diktatorisch regiert. An die Macht gekommen war er nach einem grausamen Bürgerkrieg (1936-1939), den er nur mit massiver Unterstützung durch das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien gewinnen konnte. In den folgenden Jahrzehnten gelang es ihm dann, alle innen- und außenpolitischen Krisen im Amt zu überstehen. Seit Beginn der fünfziger Jahre saß er so fest im Sattel, dass er weder von innen noch von außen eine ernsthafte Bedrohung seiner Machtposition zu befürchten hatte. Er vereinigte in seiner Person die Ämter des Staatsoberhaupts und des Ministerpräsidenten, darüber hinaus war er Oberbefehlshaber aller Streitkräfte und Vorsitzender der einzigen zugelassenen Partei Falange. Verantwortlich war er nur vor »Gott und der Geschichte.«1 Die Erinnerungspolitik der Franquisten, die das Regime legitimieren sollte, umfasste Zeit und Raum gleichermaßen. Was die Zeit betrifft, begann das »nationale« Lager sogar eine neue Zeitrechnung: 1936 hieß »Erstes Triumphjahr« (Primer Año Triunfal), 1939 »Siegesjahr« (Año de la Victoria). Im Übrigen wurde ausführlich aus der Geschichte geschöpft, vor allem aus den Epochen, die als die Glanzzeit Spaniens gedeutet wurden: das ausgehende 15. Jahrhundert unter der Herrschaft der Katholischen Könige, sodann das imperiale 16. Jahrhundert

1

Vgl. dazu ebenfalls Bernecker, Walther L.: »Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo«, in: Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2011, S. 157-180, hier S. 157.

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mit Karl V. und Philipp II. als dominierenden Monarchen. Die folgenden Jahrhunderte der Dekadenz, vor allem auch das 19. Jahrhundert als Zeitalter des negativ gedeuteten Liberalismus, wurden weitgehend ausgeblendet. Was den Raum betrifft, so ergriffen die neuen Machthaber von der Topographie symbolisch Besitz, indem die Namen von Orten, Straßen, Gebäuden, Institutionen geändert und mit neuen historisch-politischen Assoziationen versehen wurden. Der traditionelle Dom der Schutzheiligen Spaniens, der Virgen del Pilar, in Zaragoza, wurde zum »Heiligtum der Rasse«; die meisten Hauptstraßen erhielten die Namen Avenida del Generalísimo oder Avenida de José Antonio Primo de Rivera. Umstrittene Kampfstätten des Bürgerkriegs – wie Belchite oder der Alcázar von Toledo – wurden zu neuen Erinnerungsorten des Regimes; das Valle de los Caídos sollte für immer an den Sieg im Bürgerkrieg erinnern. Bei der Ritualisierung der politischen Erinnerung spielte die Kirche viele Jahre hindurch eine wichtige Rolle. Die ideologische Rechtfertigung des Franquismus beruhte stets auf der Behauptung, im Juli 1936 sei es nötig gewesen, das Vaterland zu retten, das sich kurz vor einer kommunistischen Machtübernahme und damit vor seinem Untergang befand. Der Militäraufstand sei vollauf gerechtfertigt, ja notwendig gewesen, um der unmittelbar drohenden Gewalt begegnen zu können. Zugleich betonten die Sieger immer wieder, Gott sei mit ihnen. Der Finger der Vorsehung habe den Retter des Vaterlandes auserkoren, und im Bund mit übernatürlichen Kräften sei der endgültige Sieg errungen worden. Der Kulturpolitiker José María Pemán definierte den Krieg als Auseinandersetzung zwischen dem Guten und dem Bösen, als Kampf derer »mit Gott« gegen die »ohne Gott«, als Streit zwischen Geist und Materie.2 Die blutrünstige Nachkriegsrepression wurde dergestalt vor Gott und der Geschichte gerechtfertigt. Aus der Sicht der Kirche war die Repression als Sühne-Akt erforderlich.

I KONOGRAPHIE F RANCOS : D ER D IKTATOR IM ÖFFENTLICHEN R AUM Diktaturen sowie ganz allgemein nicht-demokratische Regime greifen vielfach auf Standbilder und Denkmäler zurück: zum einen deshalb, weil ihnen demokratische Legitimität fehlt und sie daher nach alternativen Legitimationen charisma-

2

Zit. nach Walther L. Bernecker/Sören Brinkmann: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2006, Nettersheim: Graswurzelrevolution 2007, S. 146.

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tischer Art Ausschau halten, was die Notwendigkeit zur Folge hat, die Inhaber der Macht symbolisch – durch Bilder, Statuen, etc. – hervorzuheben; zum anderen wegen des Mangels an Pluralismus, was – bei Fehlen interner Kritik – den Personenkult fördert. Der Franquismus liefert ein besonders anschauliches Beispiel für die Bedeutung der Ikonographie des Diktators im öffentlichen Raum. Ende September 1936 hatte Franco die gesamte Macht im »nationalen« Lager in seiner Person vereinigt; er war Staats- und Regierungschef sowie Generalissimus der Streitkräfte. Zu den ersten Öffentlichkeitsmaßnahmen zur Absicherung und Stärkung seiner Herrschaft und Autorität gehörte die massive Verbreitung seines Porträts. Überall wurden Plakate mit seinem Konterfei aufgehängt, oft waren es auch schnell von Photographien abgemalte Bilder, die in den Amtsstuben zu sehen waren. Sehr bald schon wurde das Gesicht des Diktators nur mehr in idealisierter Form dargestellt. Das äußere Erscheinungsbild Francos war zu Propagandazwecken allerdings denkbar ungeeignet. Er war kleinwüchsig, dicklich, hatte eine zu hohe Stimme und keinerlei rhetorisches Talent; nichts suggerierte einen Helden, nirgends waren die ästhetischen Qualitäten zu entdecken, die zum Aufbau von Charisma erforderlich gewesen wären. Um ein archetypisches Bild des Caudillo in den Köpfen der Bevölkerung zu schaffen, musste daher auf das Wort und alle verfügbaren graphischen Medien zurückgegriffen werden.3 Die Ikonographie Francos wurde in den ersten Jahren seiner Herrschaft festgelegt, während gleichzeitig – vor allem von Francisco Javier Conde – die Theorie des »Führertums« (caudillaje) zur Ausgestaltung gelangte. Ikonographisch lag es nahe, lediglich das (mehr oder weniger idealisierte) Gesicht Francos abzubilden. Diese massiv verbreiteten Porträts trugen wesentlich dazu bei, dass die Herrschaft Francos eine charismatische Note erhielt. Außerdem erfolgte die Verbreitung der Franco-Bilder in quasi-monopolistischer Form, da Bilder von José Antonio Primo de Rivera weit seltener anzutreffen waren und keiner der anderen Putschgeneräle auch nur annähernd so viel mediale Aufmerksamkeit erfuhr wie der Generalissimus. Am häufigsten waren Bilder Francos als Photographien in Periodika anzutreffen; der offizielle Photograph, Jalón Angel, retuschierte die meisten Bilder, bis der Diktator schließlich besonders »positiv« aussah. Die zahlreichen Indivi-

3

Vgl. zum folgenden Llorente Hernández, Angel: »La construcción de un mito. La imagen de Franco en las artes plásticas en el primer franquismo (1936-1945)«, in: Sánchez-Biosca, Vicente (Hg.), Archivos de la Filmoteca. Materiales para una iconografía de Francisco Franco, Bd. 1, Nr. 42/43, Madrid: Filmoteca Nacional Okt. 2003 – Feb. 2003, S. 47-75.

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dualabbildungen verfolgten den Zweck, in seiner Person das Regime zu »individualisieren«. Kampfbilder Francos gibt es nur ganz wenige, so dass das Bild des Generalissimus einen Eindruck vermittelte, der mit der Realität nur wenig gemein hatte: das Bild eines militärischen Befehlshabers, der kein Blut vergießt. In den meisten Fällen wurde er in Uniform abgebildet, mitunter auch als Kreuzritter, so dass ikonographisch die Ideologie und Handlungen der Aufständischen mit der glorreichen Vergangenheit Spaniens im Mittelalter in Verbindung gebracht wurden; der Bürgerkrieg galt als neue Reconquista. Das Gesicht Francos wurde zum wichtigsten symbolischen Motiv des entstehenden »Neuen Staates«, daher wurde auf die Abbildungen besondere Sorgfalt verwendet. Francos Porträt war omnipräsent, die propagandistische Überhöhung erfuhr 1939/40 ihren Kulminationspunkt. Zwischen 1939 und 1945 wurde das Bild Francos häufig in Verbindung mit Hitler und Mussolini gezeigt. In diesem Zeitraum häuften sich auch die Sympathiebekundungen des franquistischen Regimes für den Nationalsozialismus und den Faschismus. Der nationalsozialistische und der faschistische Einfluss waren bei der Herausbildung der franquistischen Propaganda, insbesondere der Rhetorik, auch von großer Bedeutung. So ging etwa das Motto Una Patria, un Estado, un Caudillo auf das nationalsozialistische Ein Volk, ein Reich, ein Führer zurück, und der Dreifachruf Franco, Franco, Franco war eine direkte Anpassung an das italienische Duce, Duce, Duce. Die Konstruktion des Caudillo-Charisma erfolgte wesentlich über das Medium Wort. Slogans wurden zu Ikonen. Am 1. November 1936 legte die »Nationale Führung der Bewegung« die Rufe fest, die bei offiziellen Veranstaltungen zulässig waren; hierzu gehörte vor allem das dreifache Franco, Franco, Franco, was in der Folge zu dem am häufigsten gebrauchten rhetorischen und propagandistischen Mittel im Mythisierungsprozess des Caudillo wurde. Andere zugelassene Rufe waren Arriba España, Viva España sowie España Una, Grande, Libre. Neben die Bilder traten die Statuen Francos als Teil der HerrschaftsIkonographie des Regimes. Die Statuen Francos lassen sich in drei Gruppen unterteilen, die sich wiederum auf verschiedene Phasen der Diktatur zurückführen lassen.4 Die erste Phase umfasste die Jahre 1936-1959, somit von Bürgerkriegsbeginn bis zur entscheidenden wirtschaftspolitischen Wende im Zuge des

4

Vgl. Sanz, Jesús Andrés: »Las estatuas de Franco y la memoria histórica del franquismo«, in: Justo Beramendi/María Jesús Baz (Hg.), Memoria e identidades, VII Congreso de la Asociación de Historia Contemporánea. Santiago de Compostela 2004 (CD-Rom).

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Stabilisierungsplans. Die meisten Statuen dieser Phase wurden in den vierziger Jahren errichtet, als das Regime sich institutionalisierte und stabilisierte. Der Zweck der Statuen bestand in der Legitimation der Macht Francos und in der Perpetuierung der Erinnerung an den Sieg im Bürgerkrieg. Die zweite Phase umfasste im Wesentlichen die sechziger Jahre, d.h. die Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs (desarrollismo) und des beginnenden »Friedensdiskurses«; der Hauptzweck der Statuen und Monumente jener Zeit stellte eine persönliche Ehrung Francos als Schöpfer des »neuen« modernen Spanien dar, womit zugleich seine personalistische Diktatur gestärkt werden sollte. Die dritte Phase schließlich umfasste die End- und Krisenjahre der Diktatur, somit die erste Hälfte der siebziger Jahre, und die Jahre des Übergangs in die Demokratie; in dieser Zeit wurden nochmals zahlreiche Büsten und Statuen Francos errichtet, die das historische Gedächtnis an den Schöpfer des autoritären Systems festschreiben wollten und letztlich eine erinnerungskonservierende Funktion hatten. Die Regimepropagandisten kümmerten sich darum, dass Franco-Bildnisse und Franco-Büsten an allen wichtigen öffentlichen Orten in Erinnerung riefen, wer in Spanien die unumschränkte Herrschaft ausübte. Schon während des Bürgerkrieges kam es zu einer derart massiven Verbreitung von Franco-Abbildungen, dass die »nationale« Regierung im Oktober 1937 durch Verordnung den weiteren Abdruck derartiger Abbildungen einer Zensur unterwarf. Francos Gesicht war allgegenwärtig; die Übertragung der obersten Machtbefugnisse an den siegreichen Feldherrn Franco Ende September 1936 wurde zu einer Art Gründungsmythos stilisiert. Schon vor 1940 wurden an den unterschiedlichsten Orten Franco-Büsten aufgestellt; Autoren waren verschiedene Bildhauer wie Moisés de Huerta, Mariano Benlliure, Georg Kove, Giandomenico De Marchis, Manuel Hugué, Enric Monjó, Juan de Avalos, Pedro de Torre Isunza, Vicente Navarro. Auch das Bildungsministerium war daran interessiert, dass in der franquistischen Vorzeige-Bildungsanstalt Ramiro de Maeztu in Madrid eine Franco-Skulptur aufgestellt wurde, damit die heranwachsenden Schüler – die zukünftige Elite des Landes – stets ihr nachzuahmendes Beispiel vor Augen haben konnten. Das Bronzereiterstandbild zeigte Franco in majestätischer Pose, so als sei er der Leiter der Bildungsanstalt. Die Statue war von Fructuoso Orduna 1942 angefertigt worden; es handelte sich um das erste Reiterstandbild Francos, das in einer Stadt aufgestellt wurde.5

5

Vgl. Cirici, Alexandre: La estética del franquismo, Barcelona: Gustavo Gili 1977, S. 154-156.

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In den fünfziger Jahren erfolgte der Auftrag der Madrider Universitätsleitung an José Capuz Mamano, ein Reiterstandbild Francos anzufertigen, das vor dem Triumphbogen in der »Universitätsstadt« aufgestellt werden sollte. Die Bauarbeiten am Triumphbogen zogen sich jedoch hin, bis er schließlich 1956 – in einem ganz anderen politischen Umfeld als geplant – eingeweiht wurde. Das Reiterdenkmal Francos wurde aber nicht am ursprünglich vorgesehenen Platz aufgestellt; 1959 fand es schließlich vor dem Wohnungsbauministerium seinen Standort. Im Jahr 1964 erhielten Santander und Valencia Kopien der Reiterstatue von Capuz.6 Auch Briefmarken sind in diktatorischen Regimen ein Schlüsselelement für die Propaganda des Regimes; dabei muss bedacht werden, dass Briefmarken staatlichen Charakter tragen und Ausdruck nationaler Souveränität sind (wie die Nationalflagge oder die Hymne). Francos Bild erschien zuerst auf Briefumschlägen und Postkarten, nach dem Bürgerkrieg sodann auch auf Briefmarken. In den Jahrzehnten des Franquismus wurden die Briefmarken mit dem Abbild Francos millionenfach verwendet – eine propagandistische Aktion erster Ordnung. Waren während des Bürgerkrieges vor allem Isabella von Kastilien »die Katholische«, ihr Ehemann Ferdinand »der Katholische«, die Schlacht von Lepanto oder der Nationalheld El Cid auf den Marken abgebildet, so wurde nach dem Bürgerkrieg nur El Cid neben dem auf fast allen Marken zu sehenden Franco wiedergegeben. Häufig trugen auch die Stempel zur Entwertung der Marken den Namen Franco. Mitte 1944 wurde ein »ikonographischer Briefmarkenplan« verabschiedet, der im Einzelnen die Ausgabe von Marken regelte und festlegte, dass die verwendeten Motive »positive und andauernde Werte der Realität und Geschichte des Vaterlandes« darstellen müssten. Unter der Kategorie »Symbolisierung des Staates und der Souveränität« war nur ein Motiv zugelassen: »der Staatschef« – ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch die Briefmarken der Legitimierung der Machtkonzentration in Händen Francos dienten. Der Staat sollte mit ihm identifiziert werden, die nationale Souveränität lag ausschließlich bei ihm.7 In der zweiten Phase des Regimes, in den sechziger Jahren, in der es vor allem um eine Ehrung des »Retters des Vaterlandes« und »Vaters des Wirtschaftswunders« ging, wurden Reiterstatuen in Barcelona (1963), in Valencia

6

Vgl. Leenknegt, Pieter: »El Franco ecuestre de Capuz: una estatua, tres destinos«, in: Sánchez-Biosca, Vicente (Hg.), Archivos de la Filmoteca. Materiales para una iconografía de Francisco Franco, Bd. 1, Nr. 42/43, Madrid: Filmoteca Nacional Okt. 2003 – Feb. 2003, S. 12-29.

7

Zit. nach W. Bernecker/S. Brinkmann: Kampf der Erinnerungen, S. 161.

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und Santander (1964) sowie in El Ferrol (1967) errichtet. In kleineren Ortschaften, die eine Statue nicht bezahlen konnten, wurden Franco-Büsten aufgestellt, etwa in Marbella oder Lupión. In praktisch allen Fällen gingen derartige Initiativen von den Stadtverwaltungen, insbesondere von den Bürgermeistern, aus, die sich Franco gegenüber besonders dankbar oder gefällig erweisen wollten. In der letzten Phase des Franquismus schließlich, als die Krisenerscheinungen im System unübersehbar waren, versuchten die reaktionärsten Fraktionen des Regimes, das institutionelle Gerüst und damit ihr eigenes Überleben über die Zeit zu retten, die Strukturen festzuzurren, von denen ihre Pfründen und Einnahmen abhingen. Die zahlreichen neuen Monumente, die in jenen Jahren noch Franco gewidmet wurden, sollten die Diktatur symbolisch verankern und ihre Zukunft sicherstellen. Da die Verwaltungen in einer Zeit allgemeiner Wirtschaftskrise über nur sehr beschränkte Finanzmittel verfügten, war die Ausführung der Denkmäler zumeist bescheiden. Die Aufstellung zog sich einige Jahre hin, bis über Francos Tod hinaus. Während des Bürgerkriegs und in den ersten Jahren des Weltkriegs wurden die ästhetischen Vorstellungen im Lager der Nationalen wesentlich von den zwei Grundströmungen bestimmt, auf denen das neue System aufbaute: einer national-katholischen Basis und dem falangistischen Faschismus. Öffentliche Gebäude wurden in dieser Phase von Monumentalismus geprägt, eine enge Anlehnung an die Architektur des »Dritten Reiches« war unübersehbar. In der zweiten Hälfte des Weltkriegs, als ein Ende der faschistischen Herrschaft in und über Europa absehbar war, und in den auf 1945 folgenden Jahren betonte das Regime viel stärker als zuvor die traditionellen, konservativen Aspekte seines Nationalkatholizismus. In der ersten Phase des Regimes waren die dominierenden Grundbegriffe des neuen Systems Einheit, Ordnung und Hierarchie. Die starke Betonung des Ordnungsgedankens hatte einen Kult der Hierarchie zur Folge; die Visualisierung dieser Grundvorstellungen in Bauwerken führte zu einer Architektur mit pyramidalen Formen und einem krönenden Abschluss, einer dominanten Achse und monumentalen Formen. Besonders einflussreich war in dieser Phase der faschistische Kunsttheoretiker Ernesto Giménez Caballero, für den der Escorial, die frühere Königsresidenz und zugleich Grabstätte der spanischen Könige, das perfekte Werk schlechthin war, die Materialisierung des Staates, die Summe von Hierarchie, Ordnung und Einheit Spaniens, das Kunstmodell par excellence, ein Instrument, mit dessen Hilfe man den ewigen höchsten Zustand des Friedens und der Kontemplation Gottes erreichen konnte. Zu den Grundvorstellungen der Zeit gehörte auch die Idee des Imperiums. Das Imperiale war zwar allgegenwärtig, so auch im Motto des Regimes Por el

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Imperio hacia Dios (»Über das Reich zu Gott«), wurde aber nirgends einigermaßen klar definiert. Aus vielen Anspielungen und Andeutungen wurde jedoch deutlich, dass das Imperiale sich auf das Reich der Katholischen Könige und das koloniale Ausgreifen Spaniens nach Übersee bezog, was mit dem ideologischen Begriff der hispanidad umschrieben wurde. Diese Vorstellung bedingte die künstlerischen Formen des Franquismus, die einen Bezug zu jener glorreichen Epoche herstellen sollten, in der im spanischen Imperium »die Sonne nicht unterging«.

D AS S ELBSTBILDNIS F RANCOS : R ASSE

UND I MPERIUM

Versucht man, der Gedankenwelt und dem Wertekosmos Francos näher zu kommen, kann man als Historiker auf nur wenige Quellen zurückgreifen. Franco hat keine Memoiren oder eine Autobiographie veröffentlicht, er hat offensichtlich kein Tagebuch geführt, sein Nachlass ist bis heute den meisten Historikern nicht zugänglich – allerdings erwartet man im Falle seiner Öffnung auch keine sensationellen neuen Erkenntnisse. Einer der Texte, die Zugang zu Francos Mentalität geben können, ist das Drehbuch zum Film Raza.8 Der »fiktive« Autor Jaime de Andrade war nämlich Franco selbst. Der Text und der Film stellen die ideologischen und ikonographischen Elemente des Franquismus sowie die Werte und Glaubensinhalte Francos dar. Der Inhalt von Raza spiegelt die familiären und existentiellen Bestrebungen Francos wider; letztlich läuft alles auf eine Rechtfertigung des »Nationalen Aufstandes« und des »Befreiungskreuzzugs« hinaus, und diese werden als Ausgangspunkt für die angestrebte nationale Wiedergeburt und die Grundlegung eines neuen Imperiums betrachtet. Kritiker sind sich darin einig, dass der große Erfolg von Raza nicht auf den Text aus der Feder Francos zurückzuführen, sondern der soliden Arbeit des Filmregisseurs José Luis Sáenz de Heredia geschuldet ist. Während die zugrundeliegende Ideologie ohne Abstriche auf Franco selbst verweist, sind die ikonographischen Aspekte weitestgehend der Beitrag des Regisseurs. Von den zugrundeliegenden ideologischen Elementen lässt sich in erster Linie der Antikommunismus hervorheben, gepaart mit einer gegen Liberalismus und Freimaurerei gerichteten Obsession; zweifellos lassen sich auch Rassismus und imperialistische Attitüden ausmachen.

8

Vgl. Gubern, Román: Raza: un ensueño del general Franco, Barcelona: Ediciones 99 1977.

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Neuere psychologische Studien zu Franco haben herausgearbeitet, dass der Diktator seit seiner Kindheit wegen seines kleinen, gedrungenen Körperbaus und seiner Fistelstimme ein komplexbeladener Mensch war.9 Sein beruflicher Ehrgeiz war sehr ausgeprägt, politisch war er äußerst konservativ mit stark autokratischen Neigungen. Intellektuell eher unbedarft, hätte er unter »normalen« Umständen nie die Position des militärischen und politischen Oberbefehlshaber erreicht, wenn nicht mögliche politische (José Calvo Sotelo, José Antonio Primo de Rivera…) und militärische (die Generäle Sanjurjo, Mola…) Konkurrenten mehr oder minder zufällig rechtzeitig umgekommen wären. Mit tatkräftiger Unterstützung durch die Kirche glaubte er schließlich (wohl) selbst daran, der gottgewollte Retter Spaniens und würdige Nachfolger der Katholischen Könige und Kaiser Karls V. zu sein. Kaum hatte Franco die oberste Befehlsgewalt übertragen bekommen, sprach er von einem »Wiederauferstehen«, wie es Spanien seit dem Goldenen Zeitalter nicht erlebt hatte. Ausdrücklich bezog er sich auf das »zukünftige Imperium, dessen moralische Grundfesten auf einem Alcázar errichtet sind, der in den Tagen unserer größten Pracht erbaut worden ist.«10 Auf internationaler Ebene sollte Spanien eine herausragende Position einnehmen und bei allen wichtigen Fragen – gemeint war die Konstituierung einer neuen Weltordnung unter faschistischer Prämisse – mitreden. Letztlich ging es ihm um eine Wiederaufrichtung des alten spanischen Imperiums unter modifizierten Bedingungen. Am 12. Oktober 1936 – dem Nationalfeiertag – führte er in einem Zeitungsinterview aus: »Man muss bedenken, dass Hispanoamerika die Verlängerung des traditionellen, rassischen und katholischen Spanien ist. Ich glaube leidenschaftlich an das Erfordernis, dass die Länder unserer Rasse in der ganzen Welt die Ideale der Hispanität verbreiten; nur diese sind in der Lage, die Menschheit vor der Krise zu retten, die sie zur Zeit durchläuft. Heute […] scheint die Stunde gekommen zu sein, in der wir Nachfahren jener herausragenden Männer, die jenes Werk [die bemerkenswerteste Kolonisierung, die es je gegeben

9

Vgl. Ashford Hodges, Gabrielle: Franco. Retrato psicológico de un dictador, Madrid: Taurus 2001.

10 Zit. wie auch nachfolgend nach Reig Tapia, Alberto: »La autoimagen de Franco: la estética de la raza y el imperio«, in: Sánchez-Biosca, Vicente (Hg.), Archivos de la Filmoteca. Materiales para una iconografía de Francisco Franco, Bd. 1, Nr. 42/43, Madrid: Filmoteca Nacional Okt. 2003 – Feb. 2003, S. 97-121, hier S. 102f. Die Übersetzungen der fremdsprachlichen Zitate sind, wo nicht anders angegeben, vom Verf.

192 | W ALTHER L. B ERNECKER hat] vollbracht haben, uns zusammenschließen, damit jene unvergleichlichen Ideale zum Tragen kommen.«

Und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, als er noch fest von der Errichtung einer Neuen Weltordnung überzeugt war, führte er selbstbewusst aus: »Unsere Rechte und unsere Bestrebungen sind nicht verfallen. Das Spanien, das einen Kontinent geschaffen und mit Leben erfüllt hat, zeigt heute Kraft und Männlichkeit. Es verfügt über zwei Millionen Krieger, die bereit sind, zur Verteidigung ihrer Rechte zu kämpfen.«11

Die Wiedererstehung des alten Imperiums sollte auf der »hispanischen Rasse« aufbauen. Das ist letztlich die historisch-politische und ideologische Aussage von Francos Drehbuch Raza, das in der Euphorie des Sieges über die Republik und im Glauben an die Umsetzbarkeit seiner Grundüberzeugungen niedergeschrieben wurde. Alle seine Feinde – Kommunisten, Freimaurer, Juden, kurz »die Roten« – waren vom unbezähmbaren »Geist einer Rasse« besiegt worden, der ein neues, reines Reich errichten würde. Dass das frühere Reich verlorengegangen war, wurde auf die negativen Auswirkungen einer Verschwörung der Feinde Spaniens (Freimaurer, Juden, Liberale…) zurückgeführt. Text und Film wurden in den Dienst einer imperialen Bestrebung gestellt; sie waren zugleich der Appell an eine »Rasse«, die Spanien neu aufrichten würde. Franco stellte seinem Text eine Widmung voran: »Der Jugend Spaniens, die mit ihrem Blut den Weg für unser Wiedererstehen öffnete.« Danach richtete er sich an alle Spanier: »Ihr werdet Szenen einer Generation erleben, noch nicht erzählte Episoden des spanischen Kreuzzugs, beherrscht vom Adel und der Geistigkeit, die unsere Rasse auszeichnen. Eine edelmütige Familie ist der Mittelpunkt dieses Werkes, die ein getreues Abbild der spanischen Familien darstellt, die den härtesten Angriffen des Materialismus standgehalten haben […] So ist Spanien und so ist die Rasse.«12

Von Interesse an dieser Vorbemerkung ist Francos Überlegung, dass die von ihm erzählte fiktive Geschichte einer Familie verallgemeinerbar und auf die gesamtspanische Situation übertragbar ist. Die antikommunistische Grundeinstellung wurde im Film noch deutlicher. Dieser beginnt mit den hinführenden Worten

11 Zit. nach ebd., S. 108. 12 Zit. nach ebd.

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eines Sprechers: »Die Geschichte, die Ihr sehen werdet, ist nicht Ergebnis der Phantasie. Sie ist echte Geschichte, wahrheitsgetreu und fast universell, die jedes Volk erleben kann, das sich nicht damit abfindet, in den Katastrophen unterzugehen, die der Kommunismus hervorruft.« Am Ende des Films betrachtet ein Kind gebannt die Siegesparade vom 19. Mai 1939 und fragt seine Mutter, was das sei; diese antwortet: »Das nennt man Geist einer Rasse.« Raza lässt somit nicht nur Grundstrukturen des politisch-ideologischen Denkens von Franco erkennen. Die »hispanische Rasse« befand sich demnach zwar in einem Zustand der Degeneration, aber die positiven Werte wurden durch den Hauptdarsteller José – somit von Franco selbst – repräsentiert, der durch sein politisches Handeln eine Regeneration und geistliche Rückeroberung des alten Imperiums herbeiführt. Von Interesse ist darüber hinaus die Vorstellung historischer Kontinuität des spanischen Volkes im Hinblick auf Grundwerte wie Ehre oder Opferbereitschaft, Glaube und Ritterlichkeit. Träger dieser Werte sind die Militärs. In Francos Text spielt die Familie eine zentrale Rolle. Diese wird durch die »Politik« gespalten; die Politik zerstört die natürliche Harmonie.13 An der Legitimierung der franquistischen Diktatur war die katholische Kirche ganz entscheidend beteiligt. Die spanischen Bischöfe und die katholische Presse lobten Franco in theologisch-messianischen Tönen als Retter der Nation und Vorkämpfer religiöser und kirchlicher Rechte. Er wurde als Retter der christlichen Zivilisation verstanden und zu einem religiös-mythischen Messias stilisiert, der das Reich Gottes in Spanien wiederherstellt. Dieser Ideologie zufolge war die aus dem Krieg hervorgegangene katholische Restauration die Verwirklichung des Gottesreiches auf Erden; darin lag letztendlich der tiefste Grund, der die Legitimation des Regimes durch die Kirche erklärt. Die Jesuitenzeitschrift Razón y Fe etwa schrieb 1939: »Franco ist der Mensch, den zwei Jahrhunderte von Träumen und Sehnsüchten erwarteten, der Mensch, dem die neue Epoche Spaniens seine Zukunft verdankt […] Franco ist der

13 Alberto Reig Tapia interpretiert, auf der Grundlage der psychoanalytischen Deutung von Román Gubern, die Auseinandersetzung zwischen den beiden verfeindeten Brüdern in Raza vor dem Hintergrund der problematischen Beziehungen zwischen dem (ursprünglich republikanisch-revolutionär eingestellten) Ramón Franco und seinem (konservativen) Bruder Francisco. Demnach handelte es sich bei Raza um die Überwindung und Sublimierung einer historischen und persönlichen Frustration des Autors. Der historische Ramón wechselte noch während des Bürgerkrieges die politischen Seiten, begab sich in die von seinem Bruder beherrschte »nationale« Zone, kam schließlich aber bei einem Flugzeugunfall um. Vgl. A. Reig Tapia: Autoimagen.

194 | W ALTHER L. B ERNECKER Mensch, der einen neuen Tag, eine neue Atmosphäre, eine neue Sonne in der Geschichte schafft. Im Spanien Francos lebt man, atmet man, sieht man in einer anderen Art. Wir sind dank Francos Werk und Gnade, was wir nicht waren und werden sollten. Er hat unser geschichtliches Wesen verändert. Nennen wir Franco unseren Caudillo. Weil er uns durch ungewöhnliche Wege der Ehre und Geschichte führt, behalten wir ihm das Wort vor, das seit Jahrhunderten unberührt vom offiziellen Gebrauch lebt […] Franco, unser Caudillo!«14

Die gegenreformatorischen und kämpferischen Züge der Vergangenheit wurden wiederbelebt, um das Einheitsideal des Systems reinzuhalten; katholisches Bewusstsein wurde daher auch mit patriotisch-nationalem Sinn identifiziert. Auf Schulen und Universitäten wurden Schüler und Studenten im Geist des Nationalkatholizismus erzogen; auf theologischen Hochschulen wurde der Thomismus nach den scholastischen Methoden gelehrt. Das Universitätsgesetz vom 29. Juli 1943 besagte: »Die Universität ruht auf der katholischen Lehre, die der Tradition spanischer Universitäten wesensverwandt ist; sie wird die universitäre Lehre dem Dogma, der katholischen Moral und den Normen des Kanonischen Rechts anpassen.«15 Neben den staatlichen Veranstaltungen, an denen die Kirche ständig partizipierte, machte sich deren Omnipräsenz vor allem auf dem gesellschaftlichen Sektor bemerkbar, mit dem der einzelne täglich in Berührung kam. Das konfessionell fixierte System und die ständige Kirchenpräsenz führten zu einer religiösen Ausnahmesituation, deren Charakteristika in den ersten Nachkriegsjahren der intolerante Nationalkatholizismus, ein religiöses Ausufern im öffentlichen, häufig auch im privaten Leben, Doktrinarismus und Autoritarismus waren. Dass Franco die liturgisch-kanonischen Ehrenrechte, die früher dem König eingeräumt waren, genoss, und stets unter dem von Priestern getragenen Baldachin in die mit großem Pomp veranstalteten Hochämter einzog, wurde als selbstverständlich akzeptiert; auch gegen die Münzaufschrift: »Francisco Franco, Caudillo Spaniens von Gottes Gnaden« erhob sich kirchlicherseits kein Widerstand. Alltäglich wurden im Rundfunk vor dem Abspielen der Nationalhymne die »glorreich für Gott und Vaterland Gefallenen« angerufen; die Muttergottes erhielt den Rang eines Ehrengenerals der spanischen Armee zugesprochen. Die Volksabstimmungen, durch die Franco sein Regime plebiszitär institutionalisierte, erfuhren die rückhaltlose Unterstützung der Amtskirche.

14 Zit. nach Nodinot, Jean-François: L’Eglise et le pouvoir en Espagne, Paris: Hachette 1973, S. 85. 15 Zit. nach W. Bernecker/S. Brinkmann: Kampf der Erinnerungen, S. 137.

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Bei der Konstruktion des Bildes, das die Öffentlichkeit sich von Franco als militärischem, politischem und zivilem Führer machen konnte, spielte die Wochenschau, das NO-DO, eine entscheidende Rolle. Von Anfang an konzentrierte sich die Wochenschau darauf, ein Bild Francos als Caudillo, als Heerführer, zu vermitteln. Franco wurde in den Wochenschauen zum Protagonisten einer quasiepischen Erzählung, deren Inhalt die großen Taten und Siege eines bedeutenden Krieges war, in dem seine militärischen Fähigkeiten Spanien (im Kampf gegen einen »äußeren« Feind, den Kommunismus) zur Befreiung führten. Die Wochenschau-Produzenten sahen sich allerdings einem Problem gegenüber: Franco hatte nichts von dem Charisma, das – nach Max Weber – vonnöten ist, um zum Führer zu werden: weder rhetorische Fähigkeiten noch Persönlichkeit, herrschaftliche Gesten, eine beherrschende Stimme oder einen durchdringenden Blick. Die Herausstellung als Führer musste daher über den Text, die Kommentierung der Bilder und durch die ständige visuelle Präsenz Francos erfolgen. Die Wochenschau-Produzenten erhielten daher den Auftrag, die Franco-Bilder stets an das Ende der Vorführung zu setzen, damit die Abfolge der Nachrichten wie eine Progression gedeutet werden konnte, deren Höhepunkt der triumphale Auftritt Francos war. Dreh- und Angelpunkt der Sendungen war somit Franco; er wurde als »Idealspanier« dargestellt, dem jeder nachzueifern hatte, der sich von seiner Dienstpflicht leiten ließ. Einer der Kommentare lautete: »Bilder der nationalen Existenz, die Franco leitet und regiert, der Caudillo Spaniens und Staatschef, ständig bei der Arbeit und in pausenlosem Einsatz für die Einheit, die Größe und die Freiheit des Vaterlandes.«16 Im »Neuen Spanien« hatte jeder seinen ihm zustehenden Platz in einer strikten hierarchischen Ordnung einzunehmen. NO-DO verstand sich als Chronist des Regimes und der Rolle Francos. Die Erfordernisse der Kriegführung hatten im nationalen Lager während des Bürgerkriegs zur Konzentration der politischen und militärischen Macht in einer einzigen Person geführt. Seit der Ernennung Francos zum Regierungschef und Generalissimus setzten die Ehrungen und Huldigungen ein, die im weiteren Verlauf des Krieges ausgeprägte Züge von Personenkult annahmen. Schon im November 1936 schlugen Stadträte von Salamanca vor, »dass Francos Büste in eines der Medaillons unserer Plaza Mayor gemeißelt werde, neben die Helden und Eroberer, die unsere Geschichte geschrieben haben und sie mit Ruhm erfüllten. Sie soll Beispiel und ewige Erinnerung für die Zukunft der Verehrung und des

16 Zit. nach Tranche Rafael R./Sánchez-Biosca, Vicente: NO-DO. El Tiempo y la Memoria, Madrid: Cátedra/Filmoteca española 2001, S. 199.

196 | W ALTHER L. B ERNECKER Respekts sein, mit dem wir die von unseren Vorfahren überlieferte Tradition fortsetzen, die großen Männer Spaniens zu rühmen und in dem schönen, goldfarbenen Stein unserer Stadt Salamanca zu verewigen.«17

Am 1. Oktober 1937, dem ersten Día del Caudillo, wurde das Medaillon neben den Medaillons der spanischen Könige angebracht. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass »die Figur von Generalissimus Franco gleichberechtigt neben den Katholischen Königen sein kann, die ebenfalls die Reconquista und die Einigung Spaniens vollbrachten«.18 Religiöse und politische Einheit als Grundlage eines imperialen Systems wurden damit in direkter Kontinuität von den Katholischen Königen bis Franco gesehen. Der 1. Oktober, Día del Caudillo, erinnerte an die Proklamation Francos zum »Chef der Regierung des Spanischen Staates« (so der offizielle Titel). Vom ersten Jahrestag an (1937) wurde während der Feierlichkeiten ein faschistisch inspirierter Personenkult um Franco betrieben. Die dreifachen Franco, Franco, Franco-Rufe erschallten überall, die hagiographischen Äußerungen erreichten frenetische Auswüchse. Der Gedenktag erhielt den Charakter eines politischen Rituals; er diente der Verherrlichung des gottgesandten Führers, der Integration der Massen und der Einigung aller Spanier unter einer Leitung. Er sollte den gesellschaftlichen und politischen Konsens bezüglich der Führerschaft Francos zum Ausdruck bringen. Zugleich legitimierte das Ritual immer wieder die im Generalissimus konzentrierte Macht. Der Día del Caudillo bedeutete gewissermaßen die Anerkennung der absoluten und lebenslänglichen Macht in der Person Francos. Im Laufe der Zeit wurde der Tag zu einer Art »Namenstag« Francos; die zentrale Veranstaltung fand daher auch in El Pardo, dem offiziellen Wohnsitz des Diktators, statt und bestand aus einer Mischung von religiösem und militärischem Ritual. Der 1. Oktober wurde während der gesamten Dauer des Franquismus als Nationalfeiertag beibehalten.

17 Zit. nach Madalena Calvo, José I.: »Los Lugares de Memoria de la Guerra Civil en un centro de poder: Salamanca, 1936-1939«, in: Julio Aróstegui (Hg.), Historia y memoria de la Guerra Civil. Encuentro de Castilla y León, Bd. 2., Valladolid: Junta de Castilla y León 1988, S. 487-549, hier S. 498. 18 Ebd.

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D IE R EGELUNG DER N ACHFOLGE Erst im Laufe der sechziger Jahre begann Franco, auf wiederholtes Drängen seiner Berater hin, sich Gedanken über seine Nachfolge zu machen. In dem 1966 verabschiedeten Staatsorgangesetz19 wurden erstmalig die Ämter des Staatsoberhauptes und des Ministerpräsidenten getrennt, allerdings wurde das Amt des Ministerpräsidenten vorerst nicht besetzt, die persönliche Machtstellung Francos blieb unberührt. Die verfassungsmäßigen Vorkehrungen für die nachfranquistische Ära waren nur ein Aspekt der Maßnahmen, die es für die Zeit nach dem Tod des Diktators zu ergreifen galt. Ein weiterer, nicht minder wichtiger Aspekt war die Nachfolgeregelung, über die in Spanien seit Jahren bereits spekuliert wurde. Als das Staatsorgangesetz in Kraft trat, war Franco 75 Jahre alt. Seit 1947 war Spanien wieder Königreich, und Franco hatte sich das Recht zusprechen lassen, seinen königlichen Nachfolger zu designieren.20 1968 verdichteten sich die Gerüchte, dass eine Entscheidung in der Nachfolgefrage unmittelbar bevorstehe; am 22. Juli 1969 schließlich verkündete Franco vor den Cortes, der Ständekammer, dass er Prinz Juan Carlos de Borbón y Borbón zu seinem königlichen Nachfolger ernennen wolle. In seiner CortesAnsprache vom 22. Juli 1969 wies Franco bei der Bekanntgabe seiner Entscheidung darauf hin, dass der Prinz in nächster Zeit noch an seiner Seite bleiben werde, um seine Kenntnisse der Probleme Spaniens zu vervollständigen. Die neueingerichtete Monarchie schulde der Vergangenheit nichts. Die CortesAbgeordneten stimmten sodann (in der ersten öffentlichen und namentlichen Abstimmung seit 30 Jahren) über Francos Vorschlag ab; von den 519 anwesenden Deputierten stimmten 491 mit Ja, 19 mit Nein, neun enthielten sich der Stimme. Juan Carlos erhielt den neugeschaffenen Titel eines »Prinzen von Spanien«; fortan sollte er »als Königliche Hoheit behandelt werden, mit allen Rechten und Pflichten, die seiner hohen Würde zukommen.«21

19 Vgl. den Text in Tierno Galván, Enrique (Hg.), Leyes Políticas Españolas Fundamentales (1808-1978), Madrid: Tecnos 1979. 20 Vgl. Bernecker, Walther L.: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München: Beck 1997, passim. 21 Vgl. hierzu Bernecker, Walther L.: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München: Beck 2010, passim.

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V ON DER K RISE

DES

R EGIMES

ZUR

AGONIE F RANCOS

Eigentlich verfügte Franco lange Zeit über eine eiserne Gesundheit. Seit Beginn der siebziger Jahre war jedoch ein deutlicher körperlicher Verfall festzustellen. In den Sitzungen des Ministerrats wirkte er abwesend, an den Diskussionen beteiligte er sich kaum noch. Ihn schien nur noch das Fernsehen zu interessieren, vor dem er täglich mehrere Stunden verbrachte. Vor allem ließ er kaum ein Fußballspiel aus. Als der Diktator Mitte 1973 den bisherigen »Vizepräsidenten«, Admiral Luis Carrero Blanco, zum Regierungschef ernannte und damit erstmalig von der im Staatsorgangesetz geschaffenen Möglichkeit Gebrauch machte, die Ämter des Staats- und des Regierungschefs zu trennen, war das aber nicht auf Amtsmüdigkeit oder eine ernste Erkrankung zurückzuführen. Die Bestellung des Admirals zum Ministerpräsidenten war vielmehr Teil eines Prozesses, der für die Zeit nach Franco eine Ausbalancierung der Macht zwischen mehreren Institutionen vorsah: zwischen König Juan Carlos als Staatschef, dem Ministerpräsidenten und der Regierung, dem »Rat des Königreichs« als oberstem Beratungsgremium und den Cortes, der Ständekammer. Franco selbst betrachtete Carrero Blanco als seinen »Hausmeier«, der die Kontinuität der Regierungsmacht in der Übergangszeit nach seinem Tod wahren sollte. Diese Pläne wurden allerdings am 20. Dezember 1973 zunichte gemacht, als der Ministerpräsident durch das spektakulärste und folgenreichste Attentat der baskischen Untergrundorganisation ETA ermordet wurde. Vielfach wurde der gewaltsame Tod Carrero Blancos – aus der Retrospektive lässt sich sagen: zurecht – als der Anfang vom Ende der FrancoÄra interpretiert. Spätestens mit dem Tod des Franco-Getreuen hatte das politische System des Franquismus jegliche Zukunftsperspektive verloren.22 Gute anderthalb Jahre nach der Ermordung Carrero Blancos begann im Spätsommer 1975 die letzte Phase von Francos Leben.23 Mitte Oktober erkrankte

22 Vgl. W. Bernecker: Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo, S. 160. 23 Die letzten Monate von Francos Leben werden in mehreren Büchern beschrieben: Yale: Los últimos cien días, Madrid: Prensa económica 1975; Alvarez, Faustino F.: Agonía y muerte de Franco, Madrid: Garsi 1975; López Arias, Germán: Franco, la última batalla, Madrid: Cien días 1975; Oneto, José: Cien días en la muerte de Francisco Franco, Madrid: Cien días 1975; Equipos de estudio: Noticia, rumor, bulo: la muerte de Franco. Ensayo sobre algunos aspectos del control de la información, Madrid: Ediciones 99 1976; Figuero, Javier/Herrero, Luis: La muerte de Franco jamás contada, Barcelona: Planeta 1985; Cernuda, Pilar: 30 días de noviembre. El mes que cambió la historia de España: las claves, Barcelona: Planeta 2000.

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der körperlich schon sehr gebrechliche Diktator an einer »leichten Grippe«, sodann erlitt er drei Herzattacken. Die Umstände von Francos Sterben, das sich in qualvoller Weise länger als vier Wochen hinzog, erregten weltweites Aufsehen.24 Gegen den dringenden Rat seiner Ärzte leitete der Staatschef am 17. Oktober ein letztes Mal eine Sitzung der Regierung. Da er die Sitzung auf keinen Fall in seinem Schlafzimmer abhalten oder auf einen Rollstuhl zurückgreifen wollte, bestanden die Ärzte allerdings darauf, dass er an Elektroden angeschlossen wurde, die mit einem Herz-Monitor verbunden waren. Im Laufe der Sitzung dachten die Ärzte zweimal, dass der Tod unmittelbar bevorstand, was auf die extreme Aufregung Francos zurückzuführen war, da mitten in die Besprechung die Nachricht von dem geplanten »Grünen Marsch« der Marokkaner in das spanische Saharagebiet platzte. Seit dem 20. Oktober verschlechterte sich der Gesundheitszustand Francos von Tag zu Tag; stundenlang war der Diktator nicht bei Bewusstsein. In der Öffentlichkeit aber, vor allem in den regimetreuen Medien, wurde immer wieder von einer steten Besserung der allgemeinen gesundheitlichen Situation des Patienten berichtet. Offensichtlich sollte nicht bekannt werden, dass Franco im Sterben lag. Am 30. Oktober setzte die letzte Phase von Francos Agonie ein. An jenem Tag kamen Arias Navarro und Prinz Juan Carlos überein, dass die Übergabe der Macht an den Prinzen vom Krankheitsverlauf Francos abhängig sein sollte: Artikel 11 des Staatsorgangesetzes, demzufolge im Falle von Krankheit oder Abwesenheit des Staatschefs das Amt automatisch an seinen Stellvertreter übergehen sollte, würde im Fall einer sich noch hinziehenden terminalen Phase des Patienten in Kraft gesetzt werden.25 Die medizinischen Eingriffe und Operationen Anfang November waren dramatisch und grotesk zugleich. Da Franco sich systematisch weigerte, seinen Wohnpalast El Pardo zu verlassen, musste das Ärzteteam am 3. November in Anbetracht akuter Organversagen in einem improvisierten Operationssaal im ungenutzten Keller des Palastes unter hygienisch und medizinisch unzumutbaren

24 Muniesa, Bernad: Dictadura y monarquía en España. De 1939 hasta la actualidad, Barcelona: Publicacions i Edicions de la Universitat de Barcelona 1996, S. 149f. 25 Vgl. W. Bernecker: Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo, S. 162f.

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Verhältnissen eine Notoperation vornehmen, bei der dem Diktator ein Drittel des Magens entfernt wurde.26 Franco starb sozusagen im Zeitlupentempo, wie sein Regime. Die letzte Phase seines Lebens zog sich noch einmal knapp drei Wochen hin, die nicht nur für den Patienten, sondern nicht weniger für seine Umgebung zu einer langanhaltenden Qual wurden. Jene makabre Operation im Keller von El Pardo hatte am 3. November stattgefunden; vier Tage später wurde Franco schließlich in das Krankenhaus Residencia Sanitaria La Paz gebracht, wo er nochmals zwei Wochen lang künstlich am Leben erhalten wurde, obwohl einzelne Mitglieder seiner Familie – seine Frau und seine Tochter – sich längst dafür einsetzten, ihn endlich sterben zu lassen. Sein Schwiegersohn, Cristóbal Martínez Bordiú, der das 36köpfige Ärzteteam leitete, bestand aber auf der apparativen Lebenserhaltung und -verlängerung, um den Tod so lange wie möglich hinauszuzögern. Der Todkranke wurde an eine künstliche Niere und an ein Beatmungsgerät angeschlossen; blutende Magengeschwüre, Bauchfellentzündung, akutes Nierenversagen, Venenentzündungen mit Thrombosebildungen und herdförmige Lungenentzündungen folgten aufeinander; am Schluss zeigte das Elektroenzephalogramm schon längst keine Gehirntätigkeit mehr an, als das »Leben« des Patienten immer noch künstlich erhalten wurde. In den letzten Tagen wog Franco gerade noch 40 Kilogramm; in den vorhergehenden Wochen hatte er insgesamt 70 Liter Blut transferiert bekommen. Die gesamte Situation hatte etwas Unwirkliches an sich, da zwar ganz Spanien auf die Todesnachricht wartete, öffentlich darüber aber weder gesprochen noch geschrieben werden durfte. Die Regierung von Carlos Arias Navarro beschlagnahmte in jenen Novemberwochen über zehn Zeitungsausgaben, die Spekulationen über die Zeit nach Francos Ableben angestellt hatten. Am 20. November trat schließlich in den frühen Morgenstunden »offiziell« der Tod ein; unklar ist, ob um 4.20 Uhr oder 5.25 Uhr, die Angaben weichen voneinander ab. Es war der 39. Todestag des Falangegründers José Antonio Primo de Rivera, der am 20. November 1936 zu Beginn des Bürgerkriegs im Gefängnis von Alicante von Republikanern erschossen worden war. Sofort nach der Bekanntgabe von Francos Tod tauchten Vermutungen und Spekulationen auf, dass der Eintritt des Todes aus politischen Gründen bewusst auf diesen Tag hin

26 Vgl. hierzu die Beschreibung des Arztes Dr. Manuel Hidalgo Huerta: Cómo y por qué operé a Franco, Madrid: Garsi 1976; sowie der Ärzte Vicente Pozuelo Escudero: Los últimos 476 días de Franco, Barcelona: Planeta 1980; Gil, Vicente: Cuarenta años junto a Franco, Barcelona: Espejo de España 1981 und Soriano, Ramón: La mano izquierda de Franco, Barcelona: Garsi 1981.

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terminiert worden sei, um des Falangegründers und des Diktators am gleichen Tag gedenken zu können, nachdem ja auch klar war, dass Franco im Tal der Gefallenen in unmittelbarer Nähe zu Primo de Rivera bestattet werden würde.27

Z WEI S TAATSAKTE : I NTHRONISATION DES K ÖNIGS B EISETZUNG F RANCOS

UND

Die erste Totenmesse für Franco (corpore insepulto) fand bereits wenige Stunden nach der Bekanntgabe des Todes am Vormittag des 20. November im PardoPalast statt. An ihr nahmen die Familie Franco, das Prinzenpaar, der Regentschaftsrat, die Regierung und hochgestellte Persönlichkeiten teil. Die Messe las der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Vicente Enrique y Tarancón, Erzbischof von Madrid, was unter den Altfranquisten deutliches Unbehagen hervorrief, da der Kardinal seit den Tagen des Zweiten Vatikanischen Konzils als »Linker« galt, der dem Regime wenig Sympathien entgegengebracht hatte. Am Tag nach dem Tod, am 21. November, wurden um acht Uhr früh die Tore zum königlichen Schloss in Madrid geöffnet, damit das Publikum vor dem im »Säulensalon« des Schlosses aufgebahrten Leichnam Francos vorbeidefilieren und dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen konnte. Aus Lautsprechern ertönte – über den gesamten Platz vor dem Schloss, die Plaza de Oriente – religiöse Musik. Viertelstündlich war ein Böllerschuss zu Ehren des verstorbenen Staatschefs zu hören. Auf der linken Seite des Schlosses wehte die spanische Flagge auf Halbmast. In 24 Stunden zogen schätzungsweise 500.000 Personen schweigend an dem Sarg vorbei, viele erhoben den rechten Arm zum Faschistengruß, einige knieten nieder. Unmittelbar nach Bekanntwerden von Francos Tod setzte spontan und unorganisiert ein Personenkult ein, der Wochen anhielt. Warteschlangen vor Francos Sarg nahmen am 21. und 22. November ungeahnte, in der Madrider Geschichte einmalige Längen an. Die Bevölkerung nahm viele Stunden Wartezeit in frühwinterlicher Kälte auf sich, um einen letzten Blick auf den Verstorbenen werfen zu können. Von seinem »politischen Testament« sollten ursprünglich 100.000 Stück unentgeltlich verteilt werden; die massive Nachfrage führte dazu, dass schließlich zwei Millionen Stück gedruckt werden mussten. Im Madrider Kino-saal Palacio de la Música wurde der Film Franco, ese hombre unter der Regie von José Luis Sáenz de Heredia (mit Texten von José María Sánchez Ma-

27 Zu den letzten Wochen Francos vgl. W. Bernecker: Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo, S. 157-180.

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za) vorgeführt; der Andrang war so groß, dass täglich drei Vorführungen erforderlich wurden. 28 Der 23. November war ein strahlend schöner, frühwinterlicher Sonntag. Seit den ersten Stunden des Tages war die Esplanade vor der Basilika im Tal der Gefallenen voller Menschen, die dicht gedrängt in der Kälte ausharrten. Es dürften 80.000 bis 100.000 gewesen sein. Viele von ihnen gehörten den Organisationen an, die in den letzten Jahrzehnten die Werte des Franquismus hochgehalten hatten: der Bund der ehemaligen Kämpfer, die Bruderschaft der Blauen Division, die Organisation der » provisorischen Leutnants«, der karlistische Kämpferbund Requeté, die falangistische Jugendfront, die weibliche Sektion der Falange und viele andere mehr, alle mit ihren Fahnen und Emblemen. Beim Eintreffen der Wagenkolonne mit Francos Überresten skandierten viele Tausend frenetisch Franco, Franco, Franco. Als der Sarg von der Lafette heruntergenommen wurde, spielte die Heereskapelle den »Königlichen Marsch«, die Nationalhymne. Langsam wurde der Sarg bis zum Portal der Basilika getragen, wo ihn der Abt des Klosters, Luis María de Lojendio, vor dem Justizminister und Notar des Reiches in Empfang nahm, während die Falangehymne Cara al Sol, die Karlistenhymne Oriamendi und die Hymne der Fremdenlegion ertönten. Hinter dem von Familienangehörigen und engen Getreuen getragenen Sarg betrat der König die Basilika, sodann folgten ranghohe Persönlichkeiten. Der Sarg wurde zu Füßen des Hochaltars abgesetzt. Auf der Evangelienseite nahm der König Platz, auf der Epistelseite der Erzbischof von Madrid, Kardinal Vicente y Tarancón. In der Nähe des Königs nahmen die Regierung, der »Rat des Königreiches«, hohe Amts- und Würdenträger sowie die Familie Franco Platz. Im Verlauf der nun folgenden religiösen Zeremonie segnete der Abt den Sarg. Kurz bevor dieser in das Grab gelassen wurde, stellte Justizminister José María Sánchez-Ventura den Chefs des Zivilen und Militärischen Büros (Casa Civil und Casa Militar) des verstorbenen Staatschefs in feierlichem Ton die Frage: »Schwört Ihr, dass der Körper in diesem Sarg der von Francisco Franco Bahamonde ist, der Euch heute früh um halb sieben im Palacio de Oriente übergeben wurde?« Worauf diese erwiderten: »Ja, er ist es. Ich schwöre es.«29 Sodann wurde die spanische Fahne, die den Sarg bedeckt hatte, entfernt. Der Abt segnete das Grab, und langsam wurde der Sarg in die Grabesöffnung hinabgelassen. Anschließend wurde der 1.500 kg schwere Granitstein mit der schlichten Aufschrift »Francisco Franco« auf die Öffnung gelegt. Nach weiteren Gebeten und Gesän-

28 Vgl. W. Bernecker: Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo, S. 166. 29 Zit. nach W. Bernecker: Tod (Anm. 22), S. 172.

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gen des Klosterchors verneigte sich der König vor dem Grab, betete und verließ sodann die Basilika. Die Bestattungszeremonie war zu Ende.30

P ERSONENKULT , T OTENGEDENKEN E RINNERUNGSKULTUR

UND

Franco hatte sich schon sehr früh Gedanken über seine Grablege gemacht. Spätestens seit Ende der fünfziger Jahre war klar, dass er in dem 1959 eingeweihten Valle de los Caídos, dem Tal der Gefallenen, rund 60 Kilometer nordwestlich von Madrid und nur wenige Minuten vom Escorial entfernt in der Sierra de Guadarrama, begraben sein würde. Obwohl als Kriegerdenkmal und Staatsmausoleum konzipiert, ist das Bauwerk primär ein Siegesmal und zugleich das Herrschaftssymbol des im Bürgerkrieg triumphierenden Systems. Die Idee zu einem Sieges- und Gefallenendenkmal entstand bei Franco schon während des Bürgerkriegs. Anfang 1940 nahm sich der Diktator viel Zeit, um persönlich einen geeigneten Bauplatz zu erkunden.31 Der Platz für das Gefallenen- und Siegesdenkmal wurde vom Diktator sorgfältig ausgewählt: Das Gelände befindet sich ziemlich genau im Zentrum Spaniens, stellt somit den Mittelpunkt des Landes dar. Das Bauwerk, das von allen Seiten gesehen werden sollte, wurde als Symbol der neuen Einheit Nationalspaniens konzipiert, es sollte Gefallenen aus allen Landesteilen eine letzte Ruhestätte bieten. Der Ort befindet sich außerdem in unmittelbarer Nähe historischer Stätten, insbesondere nahe am Escorial, der als Symbol schlechthin der »großen« Geschichte Spaniens in Zeiten Philipps II. und als Inbegriff der engen Verbindung von Staat und katholischer Kirche gilt. In dieser Tradition imperialer und gegenreformatorischer Größe sah sich auch Franco. Der Escorial ist Palast, Kloster und Mausoleum der spanischen Könige in einem; ähnlich konzipierte Franco auch das Valle de los Caídos, das als Grabstätte für den Falangegründer José Antonio Primo de Rivera und für ihn selbst vorgesehen war. Die gesamte Anlage wurde in die Obhut des Benediktinerordens gegeben. Mit dem Tode Francos endete noch nicht der Franquismus. Zumindest auf der Ebene der politischen Symbolik war er noch Jahre – ja: jahrzehntelang – im öffentlichen Raum sichtbar, was auf den Kompromisscharakter der Transition von der Diktatur zur Demokratie verweist. Wenn auch mit dem Tod des Dikta-

30 Vgl. W. Bernecker: Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo, S. 169f. 31 Zu folgendem vgl. W. Bernecker/S. Brinkmann: Kampf der Erinnerungen, passim.

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tors seines eigentlichen Herzstücks entledigt, lebte das Regime in den vielfältigen Formen seiner öffentlichen Visualisierungen fort. Dies gilt für die offiziellen Gedenkrituale des franquistischen Festkalenders ebenso wie für Monumente, Siegestafeln und Reiterstandbilder. Während die franquistischen Gedenktage im Laufe weniger Jahre jedoch abgeschafft werden konnten, gilt das nicht für die materiellen Hinterlassenschaften des Franquismus. Anstelle einer raschen Demontage von Monumenten und Reiterstandbildern sollte der Nachfranquismus mancherorts sogar mit der Errichtung neuer Franco-Denkmäler beginnen, etwa in Guadalajara. Allerdings bestand nach 1975 an der überwältigenden Zustimmung der spanischen Bevölkerung zu den einzelnen Demokratisierungsschritten nicht der geringste Zweifel. Dementsprechend verlor die franquistische Regimesymbolik rapide an Bedeutung und Aufmerksamkeit. Bereits am zweiten Todestag des Diktators unterblieb 1977 eine offizielle Stellungnahme, während die Kundgebungen der extremen Rechten von der liberalen Presse als Abgesang einer Gruppe »lächerlicher Übriggebliebener«32 verspottet wurden. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten sollte die Gruppe jener, die alljährlich ins Valle de los Caídos pilgerten, nie über einige wenige Tausend hinausgehen; schließlich waren es nur noch einige Versprengte.33 Auch nach Inkrafttreten der Verfassung (1978) war der offizielle Umgang der Monarchie mit politischen Symbolen des Franquismus sehr behutsam. Nur auf lokaler Ebene kam es nach 1979 bereits zur Säuberung des öffentlichen Raums von den Relikten des Regimes, allerdings bei weitem nicht flächendeckend. Der langfristige Meinungstrend in der spanischen Gesellschaft zur Franco-Ära war allerdings, trotz aller hinhaltenden Verzögerungen bei der Eliminierung der Franco-Symbolik durch die Politiker, eindeutig: 1985 beurteilten 18 % der Befragten die Periode des Franquismus als positiv, bis zum Jahr 2000 war dieser Anteil sukzessive auf 10 % gesunken. Anteilmäßig fand sich unter den Wählern des konservativen Partido Popular mit 16 % immer noch die größte Zustimmung dieser Periode.34 Und im Jahr 2002 verabschiedete der Verfassungsausschuss des Parlamentes – bezeichnenderweise am 20. November, dem 27. Todestag Francos – einstimmig eine Resolution, die zur Entschädigung und

32 Vgl. hierzu Macher, Julia: Verdrängung um der Versöhnung willen?, Bonn: FriedrichEbert-Stiftung 2002, S. 63f. 33 Vgl. W. Bernecker: Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo, S. 177. 34 Vgl. Moral, Félix: Veinticinco años después. La memoria del franquismo y de la transición a la democracia en los españoles del año 2000, Madrid: Siglo XXI 2001.

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Rehabilitierung der Opfer des Franquismus aufforderte und die franquistische Diktatur explizit verurteilte.35 Während die politischen Instanzen somit – wenn auch mit einer 25jährigen Verspätung – einen klaren Schlussstrich zur franquistischen Diktatur zogen, verblasste in der Gesellschaft die Erinnerung an und die Kenntnis über Franco immer mehr. Ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des Diktators waren die Kenntnisse der Jugendlichen über Franco und sein Regime erschreckend schlecht. Nur die wenigsten konnten präzise Angaben machen, was sie andererseits aber nicht davon abhielt, mit deutlicher Mehrheit den Diktator mit Adjektiven wie »faschistisch«, »autoritär« und »grausam« zu belegen; schon die Erwähnung seines Namens löste bei ihnen negative Gefühle aus.36 In der postfranquistischen Demokratie gibt es kein einheitliches Franco-Bild. Die akademische Historiographie hat inzwischen die Grausamkeit des Diktators mit Zahlen und Namen detailliert belegen können; alle seriösen Darstellungen verurteilen sein Regime moralisch. Andererseits hat sich in den letzten Jahren eine revisionistische, nicht-akademische Geschichtsschreibung herausgebildet, die ein geschöntes Franco-Bild als Retter des Landes und Modernisierer von Wirtschaft und Gesellschaft verbreitet und massenmedial großen Erfolg hat. In Fernsehserien und in manchen Unterhaltungsfilmen wiederum wird ein trivialisiertes, überwiegend unpolitisches Bild der Franco-Jahre propagiert, das nostalgische Züge trägt. Dieses durchaus unterschiedliche Franco-Bild in der spanischen Gesellschaft hat allerdings keinerlei Auswirkungen auf die Fundierung der spanischen Demokratie, die in den letzten Jahren allerdings erhebliche, krisenbedingte Kratzer abbekommen hat. Aber das ist schon der Beginn einer anderen Geschichte.

L ITERATUR Alvarez, Faustino F.: Agonía y muerte de Franco, Madrid: Garsi 1975. Ashford Hodges, Gabrielle: Franco. Retrato psicológico de un dictador, Madrid: Taurus 2001. Bernecker, Walther L./Brinkmann, Sören: Kampf der Erinnerungen. Der Spanische Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft 1936-2008, Nettersheim: Graswurzelrevolution 2008.

35 Der Wortlaut der Resolution bei Silva, Emilio/Macías, Santiago: Las fosas de Franco. Los republicanos que el dictador dejó en las cunetas, Madrid: Temas de Hoy 2003. 36 Vgl. F. Moral: Veinticinco años después, S. 13-18.

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Bernecker, Walther L.: »Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo«, in Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2011, S. 157-180. Bernecker, Walther L.: Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München: Beck 2010. Bernecker, Walther L.: Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, München: Beck 1997. Cernuda, Pilar: 30 días de noviembre. El mes que cambió la historia de España: las claves, Barcelona: Planeta 2000. Cirici, Alexandre: La estética del franquismo.Barcelona: Gustavo Gili 1977. Equipos de estudio: Noticia, rumor, bulo: la muerte de Franco. Ensayo sobre algunos aspectos del control de la información, Madrid: Ediciones 99 1976. Figuero, Javier/Herrero, Luis: La muerte de Franco jamás contada, Barcelona: Planeta 1985. Gil, Vicente: Cuarenta años junto a Franco, Barcelona: Espejo de España 1981. Gubern, Román: Raza: un ensueño del general Franco, Barcelona: Ediciones 99 1977. Hidalgo Huerta, Manuel: Cómo y por qué operé a Franco, Madrid: Garsi 1976. Leenknegt, Pieter: »El Franco ecuestre de Capuz: una estatua, tres destinos«, in: Sánchez-Biosca, Vicente (Hg.), Archivos de la Filmoteca. Materiales para una iconografía de Francisco Franco, Bd. 1, Nr. 42/43, Madrid: Filmoteca Nacional Okt. 2002 – Feb. 2003, S. 12-29. Llorente Hernández, Angel: »La construcción de un mito. La imagen de Franco en las artes plásticas en el primer franquismo (1936-1945)«, in: SánchezBiosca, Vicente (Hg.), Archivos de la Filmoteca. Materiales para una iconografía de Francisco Franco, Bd. 1, Nr. 42/43, Madrid: Filmoteca Nacional Okt. 2002 – Feb. 2003, S. 47-75. López Arias, Germán: Franco, la última batalla, Madrid: Cien días1975. Macher, Julia: Verdrängung um der Versöhnung willen?, Bonn: Friedrich-EbertStiftung 2002. Madalena Calvo, José I.: »Los Lugares de Memoria de la Guerra Civil en un centro de poder: Salamanca, 1936-1939«, in: Julio Aróstegui (Hg.), Historia y memoria de la Guerra Civil. Encuentro de Castilla y León, Bd. 2., Valladolid: Junta de Castilla y León 1988, S. 487-549. Moral, Félix: Veinticinco años después. La memoria del franquismo y de la transición a la democracia en los españoles del año 2000, Madrid:Siglo XXI 2001.

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Manuel Vázquez Montalbáns Pseudo-Autobiographie des Generals Franco M ARCO K UNZ

Diktatoren sind selten sehr gesprächig, wenn es darum geht, Details aus ihrem Privatleben zu verraten, persönliche Kommentare über ihre Herrschaft abzugeben, die eigenen Taten aus kritischer Distanz zu bewerten, kurz: das idealisierende Bild zu korrigieren, das die offizielle Geschichtsschreibung in ihrem Auftrag von ihnen entwarf und propagierte. Noch weniger sind sie in der Regel gewillt, sich die Vorwürfe und Anklagen ihrer politischen Gegner anzuhören, die sie Kraft ihrer vermeintlichen Allmacht verfolgen und mundtot machen ließen. Francisco Franco Bahamonde, der von 1939 bis 1975 Spanien mit eiserner Hand regierte, hegte kaum je Zweifel daran, stets das Richtige getan zu haben, und erst recht hätte er keine Kritik von Seiten Andersdenkender geduldet, denn er zeigte sich immer felsenfest überzeugt, im Auftrag Gottes zu handeln und nur diesem, dem Vaterland und der Geschichte Rechenschaft zu schulden, in der selbstgefälligen Gewissheit, dass ihm diese natürlich alle immer uneingeschränkt Recht gegeben hätten, was eine zusätzliche Selbstvergewisserung im Medium der Autobiographie aus der Sicht des Diktators nicht nur überflüssig hätte erscheinen lassen müssen, sondern fast schon eine Art Zugeständnis an seine Kritiker dargestellt hätte. Gar mit einem ›Roten‹ eine ernsthafte Diskussion zu führen und sich eine wenig schmeichelhafte Bilanz seines Lebenswerks gefallen zu lassen, wäre ihm sicher nicht im Traum eingefallen. Deshalb existiert die Autobiographie des Generals Franco, der dieser Aufsatz gewidmet ist, nur als Roman1, als fiktive Memoiren, wie sie Franco kurz vor seinem Tod hätte

1

Zu Franco als Romanfigur, siehe Bertrand de Muñoz, Maryse: »Las biografías noveladas de Franco«, in: Tusell, Javier (Hg.), El Régimen de Franco (1936-1939). Política y relaciones exteriores, Madrid: UNED 1993, S. 213-223; Pagni, Andrea: »La

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schreiben können, aber so nie geschrieben hätte. Denn, abgesehen vom früheren Diario de una bandera (Tagebuch einer Fahne) über seine Erlebnisse im Marokkokrieg, starb Franco am 20. November 1975, ohne eine Lebensbeichte, Tagebücher oder ähnliche intime Bekenntnisse zu hinterlassen, und Manuel Vázquez Montalbán, dessen Autobiografía del general Franco 1992 erschien, als sich Francos Geburt zum hundertsten Mal jährte, hatte als Sohn eines Republikaners den Antifranquismus schon in die Wiege gelegt bekommen und war einer der renommiertesten linken Intellektuellen Spaniens, ein ›Roter‹ also, bekannt vor allem durch seine politischen Krimis um den Barceloneser Detektiv Pepe Carvalho, aber auch durch zahlreiche andere Romane und Essays. Es ist also nur folgerichtig, dass in Autobiografía del general Franco zwei Antipoden aufeinander treffen, der in kursiven Lettern monologisierende, von sich selbst eingenommene Franco, und ein ihn durch Einschübe in Normalschrift2 provozierender Schriftsteller namens Marcial Pombo, zwischen denen ein echter Dialog schon deshalb nicht möglich ist, weil der eigentliche Protagonist, der General Franco, seit siebzehn Jahren im Grab liegt. 1939 wenige Monate nach Ende des spanischen Bürgerkriegs geboren, lebte Vázquez Montalbán die ersten 36 Jahre seines Lebens im von Franco regierten

muerte de Francisco Franco. Un lugar de la memoria española en la novela de los noventa«, in: Winter, Ulrich (Hg.), Lugares de memoria de la guerra civil y el franquismo. Representaciones literarias y visuales, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2006, S. 209-222; Fernández García, María Jesús: »Dictadores de novela: Franco y Salazar en la narrativa contemporánea española y portuguesa«, in: Limite 2 (2008), S. 159-186; López García, José Ramón: »Las verdaderas historias de las muertes de Francisco Franco: para una revisión ucrónica del franquismo«, in: López Pellisa, Teresa/Moreno Serrano, Fernando Ángel (Hg.), Ensayos sobre ciencia ficción y literatura fantástica: Actas del Primer Congreso Internacional de literatura fantástica y ciencia ficción (2008, Madrid), Madrid: Asociación Cultural Xatafi/Universidad Carlos III de Madrid 2009, S. 653-673 und Behiels, Lieve: »La agonía del dictador. La muerte de Francisco Franco en novelas de Manuel Vázquez Montalbán, Rafael Chirbes y Juan Luis Cebrián«, in: Houvenaghel, Eugenia/Logie, Ilse (Hg.), Alianzas entre historia y ficción: homenaje a Patrick Collard, Genève: Droz2009, S. 85-95. 2

»Diese Art der Unterscheidung etwa als Übersetzung von Norm vs. Abweichung zu lesen, wird leichter nachvollziehbar, wenn man sich des spanischen Begriffs für Kursivschrift erinnert: ‹letra bastardilla›«, in: Buschmann, Albrecht: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán, Würzburg: Königshausen & Neumann2005, S. 154.

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und vom Franquismus geprägten Spanien, eine Erfahrung, die ihm den ›Caudillo von Gottes Gnaden‹ zu einem wohlvertrauten Albtraum werden ließ, ihm aber zugleich auch die »legitimación biológica«3 (biologische Legitimierung)4 verlieh, über Franco und seine Epoche ein persönliches Urteil zu fällen. Als ihm der Verlag Planeta, bei dem er schon zahlreiche Romane veröffentlicht hatte, den Vorschlag machte, für die Reihe Memoria de la Historia (Gedächtnis der Geschichte) ein Buch unter dem Titel Yo, Franco (Ich, Franco) zu schreiben5, nahm er das Angebot zwar nicht direkt an, entschied sich aber trotzdem dafür, die Anregung aufzugreifen und eine fiktive Autobiographie des Diktators in Romanform zu verfassen, die dann schließlich doch von Planeta veröffentlicht wurde. Vázquez Montalbán reihte sich so in die Fülle der Bücher über Franco ein, die 1992 erschienen6, und fiel gleichzeitig aus der Reihe durch die gewählte Erzählform. Autobiografía del general Franco geht nämlich von einer ähnlichen Situation aus wie die reale Entstehungsgeschichte des Romans, allerdings mit signifikanten Veränderungen. In einem einführenden Kapitel («Introito») und im Epilog wird die Geschichte eines Buches erzählt, das in sieben langen Kapiteln das Leben des Generals Francisco Franco in der ersten Person erzählt, mit eingeschobenen kritischen Kommentaren des Schriftstellers Marcial Pombo, einer Art fiktives Alter Ego Vázquez Montalbáns, der die ganze falsche Autobiographie als Auftragsarbeit geschrieben hat, weil er das Geld dringend brauchen konnte, das ihm der Erbe des Verlags Amescua bot, der Sohn seines langjährigen Freundes Julio Amescua, mit dem er seit der Militanz in der antifranquistischen Studentenbewegung zusammenarbeitete, eines Verlages, dessen Gründer seinerseits während des Bürgerkriegs Propagandaschriften für die Franquisten herausgab – José Manuel Lara Hernández, der erste Besitzer des PlanetaVerlags, kämpfte im Bürgerkrieg auf der Seite der Aufständischen und stieg in der Nachkriegszeit ins Verlagswesen ein –, und dessen Enkel in der Demokratie

3

Vázquez Montalbán, Manuel: »Autobiografía del general Franco: un problema lingüístico«, in: Resina, Joan Ramon (Hg.), Disremembering the Dictatorship. The Politics of Memory in the Spanish Transition to Democracy, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000, S. 225-246, hier S. 244.

4

Sämtliche Übersetzungen von Zitaten und Werktiteln stammen von mir.

5

Vgl. Moret, Xavier: »El franquismo era feísimo; daba la impresión de que a todo el mundo le olían los calcetines«, in: El País vom 26.10.1992, http://www.vespito.net/ mvm/autob2.html vom 11.9.2013.

6

Vgl. Bertrand de Muñoz, Maryse: »Manuel Vázquez Montalbán, Autobiografía del general Franco. Estudio narratológico«, in: Co-textes 27-28 (1994), S. 107-128, hier S. 108f.

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der 90er-Jahre ein unpolitisches, rein kommerzielles Interesse an Franco zu haben vorgibt: Das Buch soll eine Reihe mit dem Titel A los hombres del año dos mil (An die Menschen des Jahres 2000) eröffnen, weitere Bände, z.B. über Stalin, Lenin und Hitler, sollen folgen (S. 20); ideologische Präferenzen dürften also keine Rolle gespielt haben, ethische Bedenken allerdings ebenso wenig. Das Ergebnis ist ein hybrider Roman, der Elemente verschiedener Gattungen kombiniert, ohne sich auf eine festzulegen. Natürlich stellen Biographie und Autobiographie7 die wichtigsten Modelle dar, wobei aber, was letztere betrifft, »die für einen ‹pacte autobiographique› (Lejeune) nötige Übereinstimmung zwischen Autor (Vázquez Montalbán), Erzähler (Pombo) und Person (Franco) nicht gegeben ist«.8 Wie im Diktatorenroman steht ein tyrannischer Herrscher im Mittelpunkt, allerdings geht es hier weniger um die Diktatur als Herrschaftsform, sondern um eine ganz bestimmte, historische Diktatur.9 Buschmann spricht von einem »detektorischen Text zweiten Grades«, der sich nicht um ein Rätsel der Geschichte dreht, sondern um die Frage, »wie der Diskurs der Geschichte entsteht«.10 Auch als Metaroman kann das Buch gelesen werden, handelt es sich doch um einen Roman über einen Roman und ebenso in einem Roman, dessen Schreibender jedoch mehr den Wahrheitsgehalt des von ihm Geschriebenen als

7

Die meisten Studien zu Autobiografía del general Franco gehen mehr oder weniger ausführlich auf diese Gattungsbezeichnung ein: besonders interessant sind Ortega, José: »Perfil sicológico de un delincuente histórico: Autobiografía del general Franco de Manuel Vázquez Montalbán«, in: Monographic Review 9 (1993), S. 104-115; Colmeiro, José F.: »Dissonant Voices: Memory and Counter-Memory in Manuel Vázquez Montalbán’s Autobiografía del general Franco«, in: Studies in Twentieth Century Literature 21:2 (1997), S. 337-359; Gardner, Steven M.: »Autobiografía del general Franco: Pseudo-Autography, Autography, Biography and the Creation of the Self«, in: Cincinnati Romance Review 20 (2001), S. 42-51; Figueiredo Fiúza, Adriana Aparecida de: »Da história para a ficção: a construção do discurso autobiográfico em Autobiografía del general Franco«, in: Anais do V Congresso Brasileiro de Hispanista UFMG, Belo Horizonte: Facultade de Letras de UFMG 2009, S. 62-70 und Boldrini, Lucia: Autobiographies of Others. Historical Subjects and Literary Fiction, New York/London: Routledge 2012.

8

A. Buschmann: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán, S. 151.

9

Ebd., S. 152.

10 Ebd., S. 152.

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seinen eigenen Schreibakt kommentiert.11 Und schließlich ist die Nähe zur historiographischen Metafiktion unverkennbar, deren ironische intertextuelle Beziehung zur offiziellen Geschichtsschreibung und metadiskursiver Charakter, sowie auch ein gewisser Hang zu Pastiche, Fragmentierung und Digression Vázquez Montalbáns Roman auszeichnen.12 Doch eines ist Autobiografía del general Franco zweifelsohne (auch wenn gelegentlich gerade daran gezweifelt wurde13): ein Roman. Den Fehler, den einige machen, die den Romancharakter des Werks in Frage stellen, liegt in der Verwechslung von Roman und Fiktion, bzw. in der irrigen Annahme, ein Roman, dessen Handlung zu einem wesentlichen Teil aus historisch verbürgten Fakten bzw. in als nicht fiktiv deklarierten Texten erwähnten Ereignissen besteht, sei deshalb weniger Roman als einer, der eine voll und ganz frei erfundene Geschichte erzählt. Durch die Einbettung in eine fiktive Rahmenhandlung ist die eigentliche Pseudoautobiographie Francos selbst fiktiv, umso mehr, als für den Erzählakt, der sie hervorbringt, die frei erfundene Figur Pombo zuständig ist, aus narratologischer Sicht also das Simulacrum der Stimme des Generals dem Rahmenerzähler nicht nur untergeordnet ist, sondern von diesem allein erzeugt wird. Pombo als Alter Ego Vázquez Montalbáns zu betrachten, ist durchaus legitim, teilen die beiden doch eine ähnliche antifranquistische Familientradition14: Ihre Väter standen im Bürgerkrieg auf der Verliererseite und büßten dafür

11 Siehe dazu Orejas, Francisco G.: La metaficción en la novela española contemporánea, Madrid: Arco/Libros 2003, S. 370-377. 12 Siehe J. F. Colmeiro: Dissonant Voices: Memory and Counter-Memory in Manuel Vázquez Montalbán’s Autobiografía del general Franco, S. 337-359 und Figueiredo Fiúza, Adriana Aparecida de: »Relecturas de la historia en las novelas Galíndez y Autobiografía del general Franco«, in: IX Congreso Argentino de Hispanistas, 27 al 30 de abril de 2010, La Plata. El hispanismo ante el bicentenario, http:// www.memoria.fahce.unlp.edu.ar/library?a=d&c=eventos&d=Jev1076 vom 11.9.2013. 13 Zur Gattungsfrage siehe auch Cattaneo, Simone: »Memoria y crítica de la dictadura: Autobiografía del general Franco de Manuel Vázquez Montalbán«, in: López de Abiada, José Manuel/López Bernasocchi, Augusta/Oehrli, Michèle (Hg.), Manuel Vázquez Montalbán desde la memoria. Ensayos sobre su obra, Madrid: Verbum 2010, S. 103-125, hier S. 105-108. 14 Zu den Analogien zwischen den Biographien des Autors und seines fiktiven Stellvertreters, siehe S. Cattaneo: Memoria y crítica de la dictadura: Autobiografía del general Franco de Manuel Vázquez Montalbán, S. 120-124. Dass Marcial Pombos Autobiographie in gewissem Sinne auch als die des realen Autors Vázquez Montalbán gelesen werden kann, ist die Hauptthese in Steven M. Gardners Besprechung des Romans:

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mit jahrelangen Haftstrafen – Vázquez Montalbán war fünf Jahre alt, als er seinen Vater nach dessen Freilassung zum ersten Mal sah –, und beide engagierten sich in ihrer Studienzeit im Widerstand gegen die Diktatur und kamen dafür ins Gefängnis (während einer dreijährigen Haft in Lérida schrieb Vázquez Montalbán sein erstes Buch, Informe sobre la información). Aber Pombo wurde nicht in Barcelona geboren, sondern in Madrid, und zwar einige Jahre vor Ausbruch des Bürgerkriegs, was Vázquez Montalbán erlaubt, ihn Kindheitserinnerungen an die Belagerung der Hauptstadt und die ersten Jahre des Franquismus erzählen zu lassen, die ihm selbst fehlen, und Pombo zum Zeugen der Erniedrigung seines Vaters zu machen. Und im Gegensatz zu Vázquez Montalbán ist Pombo kein Erfolgsautor, sondern ein wenig bekannter Schriftsteller, der sich gelegentlich als Ghostwriter und mit Auftragsarbeiten (u.a. Biographien) über Wasser hält, dessen ehrgeizigere Projekte sein Verlegerfreund aber immer ablehnt Als ihm nun Amescuas Sohn und Erbe den Vorschlag macht, für fünf Millionen Peseten in einer apokryphen Autobiographie, die allerdings unter Pombos richtigem Namen publiziert würde, Franco aus seinem Grab zu erwecken, zögert er zwar kurz, denn die Vorstellung, sich in die Gedankenwelt des Diktators zu versetzen und dessen Sprache nachzuahmen, ist ihm zuerst zuwider, nimmt das Angebot dann aber an, einerseits, weil er anders nicht so leicht zu so viel Geld kommt, andererseits, weil ihn die Versuchung lockt, Franco literarisch auferstehen zu lassen, um ihn mit seinem Buch erneut zu töten und so den Rachetraum von halb Spanien zu verwirklichen (»Resucitarle para matarle. ¿No estoy en condiciones de cumplir el sueño de media España vencida?«, S. 22). In Autobiografía del general Franco geht es zuallererst darum, Francos Persönlichkeit und Herrschaft zu verstehen und zu interpretieren, aus der Sicht eines linken Intellektuellen, der den Versuch unternimmt, sich in den verhassten Franco hineinzudenken, aus dessen Perspektive und mit dessen Stimme zu erzählen und dieser, dem Schreibenden gegen den Strich gehenden, aber dennoch von ihm selbst verfassten Version zu widersprechen, wo immer es ihm

»[…] instead of talking about the false or pseudo-autobiography of Franco, we can define the text Autobiografía del general Franco – as a whole – as the autobiography of Marcial, or that is to say of Vázquez Montalbán himself.//Instead of considering the text as two parallel narratives, one of Marcial and one of Francisco Franco, we could describe the text as an admixture of discourses that have come together to create the identity of Marcial, which manifests the voice of Vázquez Montalbán«, in S. M. Gardner: Autobiografía del general Franco: Pseudo-Autography, Autography, Biography and the Creation of the Self, S. 45.

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ermöglicht, den Wahrheitsanspruch des Erzählten zu bezweifeln und den Diktator mit eigenen und fremden15 Aussagen zu konfrontieren, die seine Autorität untergraben, Verdrängtes, Verschwiegenes, Verleugnetes zum Vorschein bringen, und so das Denkmal des Caudillos unwiderruflich vom Sockel zu stoßen. Den wichtigen Etappen im Leben des Diktators sind sieben ausführliche Kapitel gewidmet: der Kindheit im galizischen El Ferrol und der Ausbildung in der Militärakademie (»Infancia y confesiones«/Kindheit und Bekenntnisse); dem Marokkokrieg, in dem Franco Kampferfahrung sammelte und sich einen Namen als erfolgreicher, berechnender und skrupelloser Offizier machte (»La llamada de África«/Der Ruf Afrikas); den Jahren der Primo de Rivera-Diktatur und der Republik, in denen sich Franco durch eine geschickte Gratwanderung zwischen den Fronten alle Möglichkeiten offen zu halten versuchte, um sich erst für die Teilnahme am Militärputsch zu entscheiden, als er sich sicher fühlte, auch gewinnen zu können (»Las afinidades nunca son electivas«/Verwandtschaften sind nie wählbar); natürlich dem spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939, in dem Franco zum Oberbefehlshaber der aufständischen Armee, des Staates und der mit anderen konservativen politischen Organisationen zwangsvereinigten faschistischen Falange Española wurde (»La Cruzada de Liberación«/Der

15 Wegen der zahlreichen Zitate spricht Nascimento von einem »mosaico de historias, memorias, documentos, historia oficial y mucho más, el mosaico de la historia reciente de España«, in Nascimento, Magnólia Brasil Barbosa do: »¿Franco por Franco? O: Paquito, tienes unos ojos que intimidan«, in: Lerner, Isaías/Nival, Robert/Alonso, Alejandro (Hg.), Actas del XIV Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas, Newark: Juan de la Cuesta 2004, Band 3, S. 103-108, hier S. 104, und verweist vergleichend auf Augusto Roa Bastos’ Diktatorenroman Yo, el supremo (ebd.). Auch Orejas verwendet in Bezug auf die Intertextualität die Mosaik-Metapher (F. G. Orejas: La metaficción en la novela española contemporánea, S. 376f.), ebenso Pittarello: »L’Autobiografía del general Franco è perciò una sfida orchestrata su una pluralità di voci vere e verosimili, reinventate a partire dalle informazioni diffuse dai mass media, poi raccolte a mosaico in un poderoso affresco dell’antifranchismo«, in Pittarello, Elide: »L’etica della finizione nella Autobiografía del general Franco di Manuel Vázquez Montalbán«, in: Rassegna Iberistica 56 (1996), S. 93-103, hier S. 101. Während ›Mosaik‹ die Zusammensetzung des Textes beschreibt, betont Pagni in der Bezeichnung »Archivroman« (»novela de archivo«) die Vielzahl der von Vázquez Montalbán verwendeten Quellen. A. Pagni: La muerte de Francisco Franco. Un lugar de la memoria española en la novela de los noventa, S. 213.

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Kreuzzug der Befreiung); die ersten Jahre der Diktatur nach dem Bürgerkrieg, in denen es Franco vermied, Spanien von seinen Verbündeten Deutschland und Italien in den Zweiten Weltkrieg ziehen zu lassen, und es ihm schließlich gelang, das Land aus der Isolation zu lösen und an die USA und die NATO anzunähern (»Lo que piensa el Caudillo, Franco no lo sabe«/Was der Caudillo denkt, weiß Franco nicht); die Festigung seiner Macht ab den 50er-Jahren (»Rey sin corona«/König ohne Krone); und schließlich die Phase des Spätfranquismus, in dem der alternde und zunehmend kranke Diktator immer schwächer wurde, der Widerstand von allen Seiten wuchs und die ganze Nation teils sehnsüchtig, teils sorgenvoll auf seinen Tod zu warten schien, der die unerlässliche Bedingung für jede politische Wende in Spanien darstellte (»¿Con quién están?«/Auf wessen Seite stehen Sie?). Nur sein Sterben und was danach geschah, kann er natürlich nicht selbst erzählen, deshalb besorgt dies Marcial Pombo mit unverstellter Stimme im Epilog.16 Vázquez Montalbán bzw. Pombo zeichnet die Entwicklung Francos vom Sohn eines Freidenkers und einer erzkatholischen Mutter zum machtbesessenen Generalissimus nach und ortet den Ursprung der Obsessionen, die das Denken und Handeln des späteren Diktators prägten, in der Geschichte des definitiven Untergangs des spanischen Kolonialimperiums im Jahr 1898 und der Erschütterung der traditionellen religiösen, gesellschaftlichen und moralischen Grundwerte Spaniens durch eine Moderne, die Franco weder verstehen noch akzeptieren konnte und die er als Folge einer globalen Konspiration von ›Kommunisten, Juden und Freimaurern‹ verstand. Diesem paranoiden Feindbild sagte er schon früh den Kampf an und beschwor sein Leben lang unermüdlich dessen vermeintliche Gefahr für Spanien und das gesamte christliche Abendland. Den wankelmütigen Politikern und arroganten Intellektuellen schrieb er die Schuld am Niedergang Spaniens zu, und die Armee hielt er für berufen, dieser Entwicklung entgegenzutreten, die Ordnung wieder herzustellen und das Land ins rechte Lot zu bringen, ein Anspruch, den er mit einer messianischen Selbstüberschätzung geltend machte. Im Marokkokrieg, in dem Spanien eine neue Möglichkeit suchte, sich wieder als Kolonialmacht zu etablieren, machte Franco eine schnelle, nicht unumstrittene Karriere und kam mit anderen Generälen von zweifelhaftem Ruf zusammen, die später im spanischen Bürger-

16 Zur Darstellung von Francos Agonie und Tod in Autobiografía del general Franco, siehe A. Pagni: La muerte de Francisco Franco. Un lugar de la memoria española en la novela de los noventa, S. 213-214 und L. Behiels: La agonía del dictador. La muerte de Francisco Franco en novelas de Manuel Vázquez Montalbán, Rafael Chirbes y Juan Luis Cebrián, S. 89-90.

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krieg zu seinen wichtigsten Mitstreitern werden sollten, wie z.B. Queipo de Llano, berühmt-berüchtigt für seine antirepublikanischen Hetztiraden im Radio und seine brutalen Repressionsmethoden im ihm unterstellten Sevilla, oder Millán Astray, dem das Motto der spanischen Fremdenlegion, »¡Viva la muerte!« (Es lebe der Tod!), zugeschrieben wird und der sich damit brüstete, der meistverstümmelte Offizier der spanischen Armee zu sein. Zu seinen Kampfgefährten im Rifkrieg gehörten auch die Generäle Sanjurjo und Mola, die beiden wichtigsten Verschwörer von 1936, die ihm den Rang des Generalísimo hätten streitig machen können, wären sie nicht beide schon in der Anfangsphase des Bürgerkriegs bei Flugzeugabstürzen ums Leben gekommen. In der Zeit seines militärischen Aufstiegs festigten sich Francos Überzeugungen und Phobien: Wer auch immer mit seinem national-katholischem Weltbild nicht einverstanden war, wurde von ihm und seinen Hofschreiberlingen als »Roter« oder »Freimaurer« diffamiert, wer seine Herrschaft kritisierte und seiner Version der Geschichte widersprach, war für ihn ein Agent der internationalen Subversion im Dienste des Anti-Spaniens, das sich gegen Gott und Vaterland, d.h. gegen ihn, verschworen hatte. Vázquez Montalbán hat diesen fixen Ideen, die sich wie »Hirntumore«17 im Kopf des Diktators festgesetzt hatten, bereits in den 60erJahren eine Anthologie von Franco-Zitaten gewidmet, die 1972 anonym im Pariser Exilverlag Ruedo Ibérico erschien, unter dem ironisch an Mao erinnernden Titel El pequeño libro pardo del general (Das kleine braune Büchlein des Generals), ein Bändchen, aus dem später Los demonios familiares de Franco (1987; Francos Hausdämonen) entstand, das auch eine längere Einführung über Francos Ideologie enthält: Viele der dort gesammelten Zitate baute Vázquez Montalbán später in seine Autobiografía del general Franco ein. Ausgehend von einer ausführlichen Dokumentationsarbeit18, konstruiert Vázquez Montalbán bzw. Pombo Francos autobiographischen Diskurs, immer bemüht, glaubwürdig zu bleiben und den Diktator nicht durch Parodie lächerlich zu machen, denn dieser soll sich durch seine Äußerungen selbst entlarven und

17 Vázquez Montalbán, Manuel: Autobiografía del general Franco: un problema lingüístico hier S. 228. 18 Dass Vázquez Montalbán sich zahlreicher Quellen, die er teilweise auch explizit nennt, bedient hat, ist offensichtlich; eine detaillierte Untersuchung aber, wie er das getan hat, steht noch aus. Die Publikationen, die sich mit dem Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion in Autobiografía del general Franco beschäftigen (so z.B. Quevedo García, Francisco Juan: »La deuda histórica de Autobiografía del general Franco«, in: Philologica Canariensia, 0 (1994), S. 481-495), verzichten auf einen Vergleich zwischen Romantext und den verwendeten Quellen.

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nicht als Märtyrer von Pombos Schreibens (S. 22) Anspruch auf Mitgefühl erheben können. Doch nicht lange lässt Pombo den von ihm selbst verfassten Monolog Francos unwidersprochen: In zuerst kurzen, dann immer länger werdenden Einschüben fügt er, Störgeräuschen gleich, kritische eigene Kommentare sowie Zitate von Francos Zeitgenossen ein, von Freunden, Verwandten, Kampfgefährten, aber auch von Gegnern, die dessen beschönigende Version der Geschichte in Frage stellen, auf Fehler hinweisen und Auslassungen ergänzen. So wird das autoritäre Monopol der Rede gebrochen, dem Diskurs des Diktators eine Polyphonie divergierender Stimmen entgegengesetzt19, dabei aber immer, zumindest rhetorisch, der Dialog gesucht, denn während der fiktive Franco in seiner egozentrischen Selbstverherrlichung nur die Position seines Ichs anerkennt, richtet sich Pombo direkt an ihn, spricht ihn trotz aller Verachtung formal respektvoll als ›General‹ an, erlaubt sich aber, Francos Sicht seines Lebens konsequent zu hinterfragen. Doch natürlich ist diese Dialogsuche genauso fiktiv wie Francos Monolog, denn Pombo schreibt ja beide Textstränge, den Diskurs Francos und die Einwände, widerspricht also Sätzen, die er selbst Franco zuschreibt, führt gegen dessen Darstellung der Geschichte Argumente ins Feld, für die er selbst den Boden vorbereitet hat, als wäre Franco die Handpuppe eines Bauchredners20, mit dem dieser ein Zwiegespräch führt, in dem in Wirklichkeit nur einer spricht, teils mit der eigenen, teils mit verstellter Stimme. Dass es Pombo ist, der Franco sprechen lässt, hat unter anderem zur Folge, dass seine eigenen, oft empörten Widersprüche auf die Behauptungen, die Geschichtsinterpretation und die Wortwahl des Diktators einer gewissen Inszenierungsarbeit nicht entbehren, denn, wie Quevedo García völlig richtig bemerkt (allerdings ohne den Gedanken weiterzuentwickeln): Pombo »critica los argumentos que ha puesto él mismo en boca de su personaje«.21 Sofern es sich um Originalton handelt – was aber aus der vorwiegend als Pastiche gestalteten Erzählung kaum ersichtlich ist, denn

19 »MVM no está interesado en ofrecer una representación del pasado como verdad incontestable y fiel a la realidad, sino en representar las diferentes posiciones que en la actualidad ocupan las diferentes representaciones de la verdad«, in: Balibrea Enríquez, Mari Paz: En la tierra baldía. Manuel Vázquez Montalbán y la izquierda española en la postmodernidad, Mataró: El Viejo Topo 1999, S. 187. 20 J. F. Colmeiro: Dissonant Voices: Memory and Counter-Memory in Manuel Vázquez Montalbán’s Autobiografía del general Franco, S. 345. 21 Quevedo García, Francisco Juan: »Distinción entre autor y narrador a través de Autobiografía del general Franco«, in: El Guiniguada 4-5 (1993-1994), S. 81-89, hier S. 86f.

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Franco-Zitate sind nur dann immer klar als solche gekennzeichnet, wenn Pombo spricht –, mag seine emotionale Reaktion wenigstens authentisch gewesen sein, als er die zitierten Sätze zum ersten Mal las; wo er aber selbst das Wort wählte, über das er sich dann aufregt, spielt er die Rolle des Empörten, für die er sich eigenhändig den Grund geschaffen hat: Seine Einsprüche werden also nicht wirklich von Franco provoziert, sondern von Pombo selbst sorgfältig vorbereitet. Es ist auch nicht ganz korrekt, den Roman als eine Gegenüberstellung von Francos selbstherrlichem Monolog und Pombos Dialogangebot zu verstehen, denn schließlich ist es ja wiederum Pombo selbst, der seinen Franco auf diese Art monologisieren lässt. Dazu kommt, dass die Figur Franco in der Fiktion einen Text an ein Leserpublikum richtet, ohne von der Existenz seines Autors Pombo die geringste Kenntnis zu haben, während Pombo seinerseits nur so tut, als würde er zu Franco sprechen, denn dieser ist erstens in Wirklichkeit schon lange tot und zweitens zielt Pombos Verfahren auf sein eigenes Publikum ab. Es stehen sich also ein Scheinmonolog (denn Pombo spaltet sich, um durch Franco zu sprechen) und ein simulierter Dialog gegenüber (denn eine einzige Person schreibt den ganzen Text). Doch gerade diese Fiktion ist für Pombo die einzige Möglichkeit, mit Franco in ein Zwiegespräch zu treten, das de facto aufgrund von Francos Tod nie mehr geführt werden kann und das Franco zu Lebzeiten mit Sicherheit verweigert hätte: Insofern entspricht sein Monolog durchaus dem diktatorialen Habitus, und Pombos ungehörte Kritik der Frustration des Oppositionellen, der dem verhassten Tyrannen nie hat seine Meinung sagen dürfen und es auch nie wird tun können, außer eben in dieser Art Ersatzbefriedigung, die ihm die literarische Imagination bietet. Und da die von Pombo verfasste doppelte Autobiographie sich eigentlich nicht an Franco, sondern an seine zukünftigen Leser richtet, beabsichtigen die gegen den Diskurs des Diktators ins Feld geführten Argumente vor allem, diese Leser auf seine Seite zu ziehen, sie dazu zu bewegen Partei zu ergreifen, sie zum Richter über den von ihm angeklagten General zu machen.22 Pombo erreicht durch diese Strategie auch, dass er sich nicht völlig selbstverleugnen muss, indem er als Pseudo-Autobiograph in die Rolle des Generals schlüpft und dessen Standpunkt zu teilen vorgibt: Seine Gegenrede erlöst ihn zumindest vorübergehend aus der negativen Rolle der schizophrenen Spaltung, die ihm diese Auftragsarbeit aufzwingt, erlaubt es ihm, dem Leser seine Opposition zu Francos Meinungen deutlich zu machen und als er selbst, als der

22 »[…] in Autobiografía del general Franco, it is the reader who serves as judge«, S. M. Gardner: Autobiografía del general Franco: Pseudo-Autography, Autography, Biography and the Creation of the Self, S. 48.

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Antifranquist Marcial Pombo, zu sprechen. Mehr noch, im Verlauf des Romans nehmen seine Einschübe immer mehr Raum ein, und Pombo beginnt, Fragmente seiner eigenen Autobiographie preiszugeben, welche, indem sie Francos Vision der geschilderten Epochen diametral entgegengesetzt sind, die offizielle Geschichte des siegreichen Franquismus mit der Version der besiegten Republikaner und der weiter kämpfenden Antifranquisten konfrontieren. Dazu kommt, dass Pombo der von ›seinem‹ Franco zitierten apologetischen Intertextualität eine Fülle dieser Version widersprechender Zeugnisse entgegenstellt, die der Diktator, sofern sie ihm bekannt sind, natürlich verschweigt. So konstruiert Pombo Franco in dessen ›eigenem‹ Diskurs und dekonstruiert ihn in den Einschüben23, sodass der Leser sich nicht mit einer naiven, im schlimmsten Fall gar zustimmenden Lektüre begnügen kann. Der Francogegner Pombo möchte natürlich nicht durch allzu geschickte Imitation von Francos Sprache und Argumenten zum unfreiwilligen Propagandisten des Franquismus werden und kann deshalb nicht allein auf die Intelligenz und Komplizenschaft jenes Teils der Leserschaft vertrauen, der imstande ist, die feine Ironie in der Franco zugeschriebenen Erzählung zu erkennen. Denn dass Francos Herrschaft solange dauerte, weil er in Spanien zahlreiche Anhänger hatte, die ihn abgöttisch verehrten und seine Reden Wort für Wort guthießen, ist Pombo schmerzhaft bewusst, und er unterlässt es auch nicht, immer wieder daran zu erinnern, dass die Francodiktatur nicht einfach die Alleinherrschaft eines größenwahnsinnigen Diktators war, sondern sich auf eine breite Basis in der Bevölkerung stützte, und dass auch nach eineinhalb Jahrzehnten Demokratie Francos Erbe noch weiterlebt. Francos Rede kann also nicht ohne Gegenrede gelassen werden, will man nicht das Risiko auf sich nehmen, den Beifall der Franquisten zu erhalten. Denn für Pombo – und vor allem für Vázquez Montalbán – stellt die Autobiografía del general Franco eine Art Abrechnung24 mit dem Diktator dar, und die soll ja nicht versehentlich zur Huldigung des Caudillos werden.

23 »The long monolithic self-aggrandizing discourse of Francos’s fictional autobiography, although already subject to internal dialogization, is in addition systematically interrupted by the counter-hegemonic voice of Pombo’s own imbedded discourse, which effectively accomplishes the textual deconstruction of Franco’s discourse«: J. F. Colmeiro: Dissonant Voices: Memory and Counter-Memory in Manuel Vázquez Montalbán’s Autobiografía del general Franco, S. 345. 24 »su ajuste de cuentas con Franco«: Haro Tecglen: »Un monumento antifranquista«, in: El País vom 31.10.1992, http://www.vespito.net/mvm/autob1.html [letzter Zugriff: 11.9.2013].

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Unter den zahlreichen Quellen, die Pombo gegen Franco verwendet, sind dessen eigene Schriften von besonderem Interesse, einerseits seine Reden und Interviews, in denen er sich über die Jahre oft selbst widersprach, manche Absurdität zum Besten gab, aber auch gewissen Grundideen treu blieb (z.B. Spanien als untrennbare religiöse, territoriale und kulturelle Einheit; sein messianischer Glaube, von Gottes Vorsehung dazu bestimmt zu sein, die natürliche Ordnung wieder herzustellen; die Weltverschwörung der Roten, Freimaurer und Juden, die an allem Übel schuld seien), andererseits seine literarischeren Werke. Denn auch Franco versuchte sich gelegentlich als Schriftsteller. So in seinem ersten Buch, Diario de una bandera, seinem einzigen wirklich auto-biographischen Text, in dem er über seine Erlebnisse Teilnahme im am Marokkokrieg berichtet und dabei die Brutalität der von ihm befehligten Legionäre gegen die Feinde teils derart glorifiziert, dass in den Neuauflagen während seiner Herrschaft gewisse Passagen gestrichen wurden (z.B. die Stelle über das Abschneiden der Ohren gefallener Feinde), um seinem Ansehen nicht zu schaden, woran Pombo genüsslich erinnert (S. 128); dann im unter dem Pseudonym Jaime de Andrade verfassten Drehbuch Raza (Rasse) zum gleichnamigen Film (1942) von José Luis Sáenz de Heredia, in dem er aus den Traumata seiner Kindheit und den Dämonen, von denen er als Erwachsener besessen war, seine persönliche Interpretation und Apologie des spanischen Bürgerkriegs fabrizierte und dabei gleichzeitig den fiktiven Pendants seiner Verwandten, die ihn in der Wirklichkeit enttäuscht hatten, heroischere Haltungen erdichtete: Der Vater wird zum edelmütigen Kapitän, der im Kubakrieg von 1898 den Heldentod stirbt; seinen lange Zeit mit revolutionären Kreisen sympathisierenden Bruder Ramón, der erst nach mehreren Monaten des Bürgerkriegs zu den aufständischen Militärs überlief und bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben kam, macht er im Film zu einem reuigen Ex-Republikaner, der von den ›Roten‹ hingerichtet wird (S. 303-304), was Pombo als Francos Versuch liest, seine Familiengeschichte auf eine idealisierende Ebene zu heben und den Wunschvorstellungen seiner politischen Ideologie anzupassen. Besonders interessant sind auch Francos unter dem Pseudonym Jakim Boor zwischen Dezember 1946 und Mai 1951 in der falangistischen Zeitung Arriba publizierten Artikel über die Freimaurerei, die später in Masonería zusammengefasst als Buch erschienen, denn hier schlüpfte er in die fiktive Identität eines ideologischen Gegners, eben des angeblichen Freimaurers Jakim Boor, um sich selbst recht zu geben, legte er doch seinem Heteronym eine Darstellung der Freimaurerei in den Mund, die seinen eigenen Wahnvorstellungen entsprach. Ein Verfahren, das dem Vázquez Montalbán bzw. Pombos nicht unähnlich ist: Auch dieser lässt sich gewissermaßen durch Francos Erzählung seine persönliche Sicht des Diktators und des

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Franquismus bestätigen, wenn auch auf eine andere Weise. Der wesentlichste Unterschied zwischen den beiden ist natürlich, dass es Jakim Boor nie gab, dass also alles, was er sagt, original von Franco stammt, was bedeutet, dass Boor Francos Ansichten zur Freimaurerei vollständig teilt, somit also sein Sprachrohr ist, während Pombos Einschätzung des Diktators dessen Selbstverständnis diametral entgegen gesetzt ist, d.h. Franco entspricht durch seine Behauptungen, Ideen, Irrtümer, usw., dem Bild, das Pombo von ihm hat, doch seine Weltsicht lehnt er entschieden ab. Oder mit anderen Worten: Der fiktive Boor gab dem echten Franco recht, während der fiktive Franco vom ›echten‹ Pombo ständig korrigiert wird. Doch in dem, was Franco in seiner Pseudo-Autobiographie erzählt, ist nicht klar, wieviel genuin von Pombo stammt, wieviel davon in den Text eingewobene Originalzitate Francos sind und wieviel paraphrasierte Passagen aus Biographien und anderen nicht genannten Quellen entlehnt wurden, wieweit also dieser Franco von Pombo erfunden wurde und wieweit im Gegenteil sein Text eine Collage aus Sätzen ist, die Franco tatsächlich so oder ähnlich gesagt oder geschrieben hat. Außer, wenn sich Franco explizit selbst zitiert, denn der Diktator beruft sich am liebsten auf seine eigenen Reden und Schriften; auch dies ein Symptom seiner Tendenz zum Monologismus. Pombo dagegen lässt eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Franco-Kritiker zu Wort kommen und macht sich so zum Sprecher eines vielstimmigen Widerstands: Francos als Selbstentlastung intendierten Zitaten entgegnet er mit einer den Diktator belastenden, polyphonen Intertextualität. Die gewählte Form der beiden parallelen, kontrastierenden Autobiographien – die der fiktionalisierten historischen Person Franco und die des fiktiven Alter Egos des Autors— in Verbindung mit der Vielzahl von Zitaten ermöglicht es einerseits, das Nichtwissbare zu erzählen, so zum Beispiel das Privat- und Gefühlsleben eines »personaje tan introvertido e inescrutable de cuya vida privada no sabemos mucho«25, andererseits macht sie uns aber auch die Aporie der Nichtwissbarkeit bewusst. Eine echte Autobiographie Francos hätte den Anreiz geboten, aus privilegiertem Mund vieles zu erfahren über bedeutende oder gerüchteumwobene Ereignisse, über die wir nur wenig wissen, so z.B. über sein Geheimtreffen mit Hitler (S. 375-381) im französischen Hendaye, bei dem nur ausgewählte Zeugen anwesend waren, ausnahmslos den beiden Diktatoren sehr nahestehende Gefolgsleute, die deshalb nicht sehr vertrauenswürdig erscheinen. Doch selbst, wenn es nicht Pombo (bzw. Vázquez Montalbán) gewe-

25 J. Ortega: Perfil sicológico de un delincuente histórico: Autobiografía del general Franco de Manuel Vázquez Montalbán, S. 106.

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sen wäre, der Francos Autobiographie schrieb, sondern Franco selbst, hieße dies keineswegs, dass wir erfahren würden, wie es wirklich war, sondern lediglich, wie Franco uns glauben machen möchte, was damals geschah und besprochen wurde. Denn eine Wahrheitsgarantie wäre Francos Autorschaft nicht im Geringsten: Was die Faktentreue betrifft, ist Pombo womöglich zuverlässiger, als es der echte Franco wäre, erstens wegen des sorgfältigen Quellenstudiums, während Franco wohl aus subjektiver Sicht und aus dem Gedächtnis sprechen würde, zweitens, weil er keinen Grund hat, gewisse für Franco unangenehme Sachverhalte zu beschönigen oder gar zu verschweigen. Die falsche Autobiographie ist also mit großer Wahrscheinlichkeit wahrer, als es die echte wäre. Das einzige, was wir bei Letzterer besser wüssten, ist, wie Franco sein Leben tatsächlich erzählt hätte, nicht aber, wie es tatsächlich war. Und weil sie uns immer wieder auf die letztendliche Unmöglichkeit der Wissbarkeit zahlreicher Sachverhalte hinweist und gleichzeitig ihre Fiktionalität nicht verleugnet, ist die Fiktion im Grunde ehrlicher, als es die Geschichtsschreibung mit Objetktivitätsanspruch je sein kann. Autobiografía del general Franco basiere auf der Verfälschung des Historischen, hat Vázquez Montalbán über seinen Roman geschrieben26, d.h. auf der systematischen Lüge, mit der das Franco-Regime das Geschichtsbild der Sieger zur offiziellen Wahrheit erklärte, so wie es der fiktive Franco in seiner Autobiographie ebenfalls tut. Was aber keineswegs heißt, dass er immer lügt, und auch nicht, dass die in Pombos Widerspruch zitierten Zeitzeugen alle die Wahrheit sagen. Auch der Antifranquismus hatte seine Mythen, Gerüchte, unbestätigten Anekdoten, und die meisten der ehemaligen Franco-Vertrauten, die über ihre Begegnungen mit dem Generalísimo plauderten oder schrieben, sind nicht sehr zuverlässige Informanten. Vázquez Montalbán kritisiert wiederholt den Anspruch auf Objektivität einer in der Entstehungszeit des Romans in Spanien in Mode kommenden Geschichtsinterpretation, die vorgab, unparteiisch zu sein und die Anklagen des Antifranquismus gegen die Diktatur zu relativieren versuchte, indem andere Sichtweisen als ›subjektiv‹ diskreditiert wurden27, teils gar Franco rehabilitieren wollte, im politischen Kontext eines aufstrebenden Neokonservativismus, der nur wenige Jahre später den Partido Popular an die

26 M. Vázquez Montalbán, Manuel: Autobiografía del general Franco: un problema lingüístico, S. 244. 27 Vgl. dazu M. P. Balibrea Enríquez: En la tierra baldía. Manuel Vázquez Montalbán y la izquierda española en la postmodernidad, S. 185: »El historicismo objetivo […] equivale a reducción interesada, que al silenciar, condena al olvido necesariamente todo aquello que no se objetiva.«

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Macht bringen sollte, und damit in der Person von José María Aznar Spanien einen Präsidenten bescherte, dessen Vater Manuel Aznar im Bürgerkrieg für Francos Propaganda zuständig war und während der Diktatur wichtige Aufgaben im Medienbereich wahrnahm – und dessen eigene politischen Anfänge auf die falangistische Jugendorganisation Frente de Estudiantes Sindicalistas und nach Francos Tod auf die von ehemaligen Ministern der Diktatur gegründete Alianza Popular zurückgehen, aus der 1989 der Partido Popular entstand. Da Franco unbesiegt und reuelos im Bett starb und die Transition zur Demokratie nur möglich wurde, weil die Franquisten bereit waren, die Macht abzugeben, konnte bis heute in Spanien keine echte, gründliche und umfängliche Vergangenheitsbewältigung stattfinden28, und Franco und der Franquismus lösen immer noch Polemiken zwischen Anhängern und Gegnern unterschiedlichster politischer Schattierungen aus.29 Vázquez Montalbán bezweifelt die Möglichkeit, zumindest für Leute, die wie er die Francozeit erlebt haben, diese von einem objektiven und neutralen Standpunkt bewerten zu können, und er versucht auch keineswegs, in seinem Roman die historische Wahrheit aufzudecken, sondern es geht ihm darum, der Verharmlosung einerseits und der Gleichgültigkeit andererseits – Gleichgültigkeit im doppelten Sinn verstanden, d.h. sowohl als Desinteresse der jüngeren Generationen für die Epoche der Diktatur als auch die revisionistische Tendenz, die putschenden Militärs und die Verteidiger der

28 Auch heute noch existiert eine Fundación Nacional Francisco Franco (www.fnff.es), deren Aufgabe es ist, das Andenken des Diktators zu wahren und diesen gegen Anfeindungen zu verteidigen, so z.B. indem die Stiftung im Dezember 2013 den spanischen Künstler Eugenio Merino wegen Ehrverletzung verklagte, weil er Francos Kopf in einem seiner Werke als Punchingball verwendete; den Prozess allerdings verloren Francos Erbverwalter. 29 Eine heftige Debatte löste im Mai 2011 der Artikel über Franco im Diccionario biográfico español der Königlichen Akademie für Geschichte aus, nicht nur, weil mit dem Verfassen ein franquistischer Historiker beauftragt worden war, sondern auch, weil Francos Biographie darin beschönigt dargestellt und seine Herrschaft als »autoritär, nicht aber totalitär« bezeichnet wurde. Pombos Worte am Ende der Autobiografía del general Franco bekommen dadurch fast prophetischen Charakter: »Me temo que dentro de cincuenta años los diccionarios enciclopédicos audiovisuales, irán reduciendo el capítulo dedicado a usted: cuatro imágenes, cuatro gestos, cuatro situaciones y una voz en off obligada al resumen y a la objetividad histórica: ‹Francisco Franco Bahamonde. El Ferrol 1892-Madrid 1975. Militar y político español. […] Jefe del Estado hasta su muerte en 1975, gobernó con autoridad no exenta de dureza […]›« (S. 662f).

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Republik als mehr oder weniger gleichwertig zu betrachten, d.h. keine klare Position einzunehmen und den Bürgerkrieg als unausweichlich zu betrachten – seine entschieden antifranquistische Sicht der Francodiktatur entgegenzusetzen, indem er Franco durch seine Aussagen sich selbst denunzieren lässt und ihn durch Pombos Kritik endgültig demontiert. Vázquez Montalbáns Pseudo-Autobiographie des Generals Franco erzählt dessen Leben »desde la tensión dialéctica del antifranquismo« (aus der dialektischen Spannung des Antifranquismus30), nicht aus der tatsächlichen Perspektive Francos, sondern auch dann, wenn dieser selbst spricht bzw. zu sprechen scheint, immer aus der des Schriftstellers Marcial Pombo, der einen Auftrag erfüllt, der ihn zu einer Selbstspaltung zwischen Professionalität und persönlicher Rebellion zwingt. Um Autobiografía del general Franco zu schreiben, musste Vázquez Montalbán auch ein sprachliches Problem lösen: Wie kann man Franco, den »vencedor del dragón de siete colas« (Bezwinger des siebenschwänzigen Drachens), den »enviado de Dios« (Gottgesandter), den »gran arquitecto« (großer Architekt), den »redentor de los presos« (Erlöser der Gefangenen), den »Timonel de la dulce sonrisa« (Steuermann mit dem süßen Lächeln) (S. 297), über hunderte von Seiten sein Leben erzählen lassen, ohne in eine Parodie zu verfallen und dabei gleichzeitig plausibel zu bleiben? Der Franquismus kennzeichnete sich durch eine besondere Rhetorik und die Vorliebe für einen speziellen Wortschatz bzw. für wertende Konnotationen, in denen sich die Ideologie der Diktatur widerspiegelte. Die franquistische Verfälschung der Geschichte bediente sich einer falschen Sprache, redete die brutale und schäbige Wirklichkeit schön und ersetzte hässliche Tatsachen durch wohlklingende Wörter. Der Kampf gegen die Republik im spanischen Bürgerkrieg wurde als Cruzada (Kreuzzug) bezeichnet, die aufständischen Militärs im Bündnis mit den Faschisten der Falange und anderen erzkonservativen Gruppierungen als Glorioso Movimiento Nacional (Ruhmreiche Nationale Bewegung), die Eroberung von republiktreuen Städten nannte man Liberación (Befreiung), usw., und ab 1939, dem primer año triunfal (erstes Jahr des Triumphes), wurde gar eine neue Zeitrechnung eingeführt. Beschönigende Euphemismen, sublimierende Metaphern und messianische Verehrung des Caudillos idealisierten die Seite der Sieger, verbale Verunglimpfung erniedrigte die besiegten Gegner und diskreditierte die Kritiker des FrancoRegimes im Ausland (selbst Churchill und Roosevelt galten als marxistoide Freimaurer). Vázquez Montalbán entschied sich, Franco in einem recht gepflegten, würdevollen Stil sich rechtfertigen zu lassen, einer Sprache, die ihm den

30 M. Vázquez Montalbán, Manuel: Autobiografía del general Franco: un problema lingüístico, S. 244.

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Absichten einer Autobiographie angemessen schien, auch wenn der echte Franco sich wahrscheinlich wesentlich schlechter und undifferenzierter ausgedrückt hätte.31 Prompt wurde dem Roman dann auch vorgeworfen, der fiktive Franco schreibe zu gut, was dem relativ ungebildeten, wenig belesenen echten Franco nicht entspräche. Vázquez Montalbán konterte, diese Kritik käme aus denselben Kreisen, die sich anstrengten, Franco im Übermaß zu dämonisieren, um ihm allein alle Schuld zuzuschreiben und die Komplizenschaft breiter Gesellschaftsschichten zu verharmlosen.32 Der Autor widerstand der Versuchung, seine bescheidene Macht des Schreibenden zu benutzen, um Franco lächerlich zu machen, denn – das zeigt dieser Roman – die Francoherrschaft war keineswegs zum Lachen. Dem Roman ist ein – ziemlich schwer verständliches – Zitat aus einem Lexikon der Kommunikationstheorie vorangestellt, in dem es um den »Lärm«33 geht, der die Verbreitung einer Botschaft stört. »Lärm«, so wird später im Roman erklärt, ist ein während des Kommunikationsaktes erzeugtes Phänomen, das selbst nicht zur intendierten Botschaft gehört und die korrekte Übermittlung derselben erschwert (S. 650). Als ›Lärm‹, der Francos Monolog behindert, können wir Pombos kritische Einschübe verstehen, denn sie lassen es nicht zu, dass der Diktator seine lügenhafte Version als die einzige, absolute Wahrheit verbreiten kann. In diesen ›Störgeräuschen‹ stellt ihm Pombo seine relative, aber sicher ›wahrere‹ Wahrheit entgegen. Dank diesem ›Lärm‹ kann er zu dem Buch stehen, das er im Auftrag von Amescua Junior geschrieben hat. So kann er guten Gewissens das Manuskript abgeben, denn er hat sowohl einen glaubwürdigen Diskurs Francos geschaffen als auch sich selbst diesem gegenüber behauptet: Der Sohn des besiegten Republikaners hat Franco so durch seine Gegenargumente post mortem zum Verlierer gemacht. Pombo denkt, es werde ein paar

31 »Franco escribía con morosidad y con mucha retórica y no he respetado su lenguaje real«, sagte Vázquez Montalbán am Tag vor dem Erscheinen des Romans in einem Interview mit Xavier Moret (X. Moret: »El franquismo era feísimo; daba la impresión de que a todo el mundo le olían los calcetines«, in: El País vom 26.10.1992, http://www.vespito.net/mvm/autob2.html [letzter Zugriff: 11.9.2013]). 32 M. Vázquez Montalbán, Manuel: Autobiografía del general Franco: un problema lingüístico, S. 245. 33 Zu Vázquez Montalbáns Verwendung des Begriffs ›Lärm‹ siehe vor allem Ferrán, Ofelia: »Memory and Forgetting, Resistance and Noise in the Spanish Transition: Semprún and Vázquez Montalbán«, in: Resina, Joan Ramon (Hg.), Disremembering the Dictatorship. The Politics of Memory in the Spanish Transition to Democracy, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 2000, S. 191-223, hier S. 209-219.

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Tage dauern, bis Amescua die über 600 Seiten gelesen habe, doch schon nach einem Tag verlangt der Verleger ein dringendes Treffen mit ihm. Eine gute Arbeit habe er abgeliefert, Francos Ton sei perfekt getroffen, so könne man sich vorstellen, dass er geschrieben hätte, lobt ihn Amescua anfänglich, um ihm dann aber umgehend vorzuwerfen, sich nicht an die Vereinbarung gehalten zu haben. Nicht so sehr, aber auch, weil er Franco einer ständigen Überwachung, einem Pressing (S. 650), unterworfen habe, ohne welches er andere Dinge gesagt hätte: Pombo habe sich also Franco nach seinen Vorstellungen und Bedürfnissen zurechtgebogen, ihn nicht einen authentischen Franco sein lassen. Er, Amescua, habe ihm eine Botschaft vorgeschlagen: Franco erklärt den zukünftigen Generationen, wer er war und warum er so war. Was soll da all dieser ›Lärm‹, diese unnötigen Störgeräusche, welche ein Hindernis für die Botschaft darstellen? Amescua lehnt es aber nicht ab, das Buch zu veröffentlichen, er zahlt Pombo sogar eine Million Peseten mehr als versprochen; allerdings wird Francos Autobiographie ohne Pombos Einschübe erscheinen, als purer Monolog des Diktators, denn die Störgeräusche des Antifranquisten interessieren niemanden mehr – und dessen eigene Biographie erst recht nicht. Pombo sieht sich am Ende also gerade um den Teil seines Buches geprellt, in dem er sich selbst nicht verleugnet, und übrig bleibt Francos Geschichtsverfälschung und Rechtfertigung, der nun niemand mehr widerspricht. Pombo wurde so zu Francos Ghostwriter degradiert, schlimmer noch, zu seinem Sprachrohr, bekommt er doch nicht einmal das Recht zugestanden, den Roman mit einem Pseudonym zu signieren, denn Pombo ist zwar kein renommierter Schriftsteller, hat aber doch einen gewissen Namen als Autor von Büchern für ein jugendliches Publikum, auf dessen Marktwert der Verleger keinesfalls verzichten will. So wird, was unter Francos Diktatur von der Zensur verboten worden wäre, in der Meinungs- und Publikationsfreiheit der Demokratie aus Marketing-Gründen weggestrichen34: Sieger bleibt Francos Monolog, der jetzt zynischerweise sogar von einem seiner Gegner und Opfer geschrieben wurde.

34 Zu Pombos Rolle innerhalb einer marktwirtschaftlich ausgerichteten Literaturproduktion, siehe auch J. F. Colmeiro: Dissonant Voices: Memory and CounterMemory in Manuel Vázquez Montalbán’s Autobiografía del general Franco, S. 342ff, M. P. Balibrea Enríquez: En la tierra baldía. Manuel Vázquez Montalbán y la izquierda española en la postmodernidad, S. 179f, O. Ferrán: Memory and Forgetting, Resistance and Noise in the Spanish Transition: Semprún and Vázquez Montalbán, S. 215f, sowie A. Buschmann: Die Macht und ihr Preis. Detektorisches Erzählen bei Leonardo Sciascia und Manuel Vázquez Montalbán, S. 156.

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Als Amescua seine goldene Caran d’Ache-Feder zückt (S. 652f), um den Scheck zu unterschreiben, muss Pombo an jenen Faber-Farbstift Francos denken, der am einen Ende rot und am andern blau schrieb: rot für die Todesurteile, blau für die Begnadigungen, sodass ein einfaches Drehen des Stifts über Leben und Tod entschied. Das Urteil über sein Buch ist weniger vernichtend, aber ähnlich schnell besiegelt. Die Schreibwerkzeuge des Diktators und des Verlegers erweisen sich als Symbole der Macht unter veränderten politischen und wirtschaftlichen Umständen. Pombo hatte sich schon als Kind mit billigeren Stiften abfinden müssen, also nimmt er den Scheck und geht. Man schreibt das Jahr 1992: Franco wäre 100 geworden, in Sevilla findet die Weltausstellung statt und Barcelona feiert die Olympischen Spiele. Störgeräusche will da niemand hören. Oder vielleicht doch? Denn schließlich war Vázquez Montalbáns Roman nicht das gleiche Schicksal beschieden wie dem seines literarischen Alter Egos: Der in der Fiktion von Amescua verstümmelte Text wurde in der Realität von Planeta in voller Länge herausgegeben und fand reißenden Absatz bei den Lesern.35 Was erfreulicherweise der am Ende von Pombo geäußerten These widerspricht, die ›objektiven‹ Historiker hätten sich mit ihrer Vision vom unvermeidbaren Bürgerkrieg, in dem sich die Gräueltaten beider Seiten die Waage hielten, und vom autoritären Regime in der Nachkriegszeit als Bedingung für den wirtschaftlichen Aufschwung (S. 663) durchgesetzt und würden den Lesern der Zukunft ein vereinheitlichtes, objektiviertes Bild der Francozeit vermitteln, in dem es keinen Platz für die subjektiven Störgeräusche des antifranquistischen Widerstands mehr gäbe.

L ITERATUR Balibrea Enríquez, Mari Paz: En la tierra baldía. Manuel Vázquez Montalbán y la izquierda española en la postmodernidad, Mataró: El Viejo Topo 1999. Behiels, Lieve: »La agonía del dictador. La muerte de Francisco Franco en novelas de Manuel Vázquez Montalbán, Rafael Chirbes y Juan Luis Cebrián«, in: Houvenaghel, Eugenia/Logie, Ilse (Hg.), Alianzas entre historia y ficción: homenaje a Patrick Collard, Genève: Droz 2009, S. 85-95.

35 Nach vier Monaten war bereits die siebte Ausgabe in den Läden, die Gesamtauflage hatte 90.000 Exemplaren erreicht, und seither wurde der Roman regelmäßig neuaufgelegt: Die von Pittarello als »dilettare documentando« beschriebene Formel der fiktionalisierten Zeitgeschichte hatte also ganz offensichtlich Erfolg (E. Pittarello: L’etica della finizione, S. 95).

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Santa Evita. Imagologie und Inszenierung im Peronismus U RSULA P RUTSCH

E VITA VIVE . V OM Ü BERLEBEN EINES M YTHOS – V ORGESCHICHTEN Die amtierende argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner beruft sich gerne auf Eva Perón. 2011 ließ sie zwei meterhohe, weithin sichtbare Stahlplastiken auf der Fassade des Gesundheitsministeriums anbringen. Beide Darstellungen sind den Argentiniern durch Tausende von Bildern wohlbekannt: Die Vorderseite zeigt die Ehefrau des Präsidenten Juan Domingo Perón im Profil mit einem Mikrophon, die Rückseite ihr Porträt mit einer Perlenkette um den Hals. 2012 ersetzte die berühmte Argentinierin den Staatspräsidenten Julio Argentino Roca auf dem 100-Peso-Schein. Roca hatte im späten 19. Jahrhundert einen Vernichtungskrieg gegen indigene Stämme geführt, um das solcherart ›gereinigte‹ Land europäischen Einwanderern anzubieten. Auf das Reiterstandbild von Roca im Zentrum von Buenos Aires hat jemand vor einigen Jahren ›Genocida‹ geschrieben. Evita Perón, deren Todestag sich 2012 zum sechzigsten Mal jährte, ist hingegen für die amtierende Präsidentin Kirchner ein Vorbild für gute und integrative Politik, die selbst die Ausgegrenzten in die Nation holte und Argentinien zu einer nationalen Bedeutung verhalf, von der seine politische Führung und große Teile der Zivilgesellschaft heute noch träumen. So sehen es auch die Betreiber des Museo Evita die ihren zahlreichen Besucherinnen und Besuchern mit Hilfe von Objekten, Texten und Videoshows den Mythos von Eva Perón als Wahrheit verkaufen. Dabei spielt ihr früher Tod im Alter von 33 Jahren eine ebenso große Rolle wie ihr Leben. Denn die permanente Ausstellung beginnt mit dem Begräbnis einer Heldin und endet mit dem Tod und der Odyssee eines Leichnams. Eine ähnliche Rolle spielt die Grabstätte von

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Evita Perón in La Recoleta. Viel mehr als ein Verehrungsort für die immer kleiner werdende Gruppe von Alt-Peronisten ist sie eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Die Touristen, die jährlich an das Grab von Evita pilgern, die vielen Schulklassen, die selbst aus Brasilien dorthin gekarrt werden, machen deutlich: der Mythos ist ein gutes Geschäft. Ist die Heldin schön und stirbt sie früh, dann ist die Chance, unsterblich zu werden groß. Einen Artikel über Eva Perón zu verfassen, bedeutet auch, über ihren Mythos zu schreiben, über den physischen Körper hinaus den politischen und – in der Kategorisierung von Ernst Kantorowicz –, den corpus mysticum, den toten, in ihrem Falle auch einbalsamierten Körper in seiner Bedeutung zu benennen. Der Hauptteil des Beitrags aber widmet sich den unterschiedlichen Frauenrollen, die Eva Perón zu verkörpern verstand, oder vielmehr denjenigen Rollen, die das peronistische System ihr zuschrieb: der Ehefrau eines charismatischen Staatslenkers, der Kämpferin für Frauenrechte, der Mutter und Ersten Arbeiterin der Nation, der Wohltäterin der Armen, der Märtyrerin und schließlich, nach ihrem Tod im Juli 1952, der Heiligen. Der Peronismus arbeitete mit Bildern, geradezu mit einer Bilderflut vom Präsidentenpaar, das Öffentliches gleichermaßen präsentierte wie vermeintlich Privates. Die Bilder waren in Medien, im öffentlichen Raum präsent. Sie zeigten die Arbeiter und Arbeiterinnen des Landes, Industrien und soziale Einrichtungen und schufen dadurch die Imagologie eines Neuen Argentinien, eines modernen Staates im Wandel, der die ehemals Marginalisierten zu den Hauptakteuren einer neuen Zeit erhoben. Der Peronismus1 wollte ein kohärentes politisches System schaffen, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Wer sich dagegenstellte, wurde ausgegrenzt. Als Juan Perón 1955 von der Opposition entmachtet wurde und ins Exil ging, erhielten die schwarzen Legenden über Eva Perón Deutungshoheit, jene der glücklosen Schauspielerin, ehemaligen Prostituierten, der demagogischen Verführerin naiver Volksmassen in einem populistischen System. Schon in den 1950er Jahren war Eva Perón weit über Argentinien hinaus bekannt und lieferte durch ihre Rollen, ihr Outfit und ihre permanente Selbstinszenierung regelmäßig Stoff und Bilder für die Regenbogenpresse der USA und Europas. 1978 erhielt der Mythos Evita durch das gleichnamige Musical von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice globale Verbreitung. Obwohl es Eva Perón kritisch beleuchtet, prägte sich besonders das Bild einer Aufsteigerin aus ländli-

1

Juan Domingo Perón (1895-1974) regierte von 1946 bis 1955. Er wurde durch einen Militärputsch entmachtet, ging ins Exil, wurde 1973 wiedergewählt und starb 1974 im Amt.

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cher Armut in das Gedächtnis vieler Konsumenten ein, einer Märchenlegende über eine südamerikanische Wohltäterin.2 In den 1990er Jahren wurde dieser Mythos in Argentinien wiederbelebt. Er war die Reaktion auf eine neoliberale Politik und ihre Folgen, die Argentinien von einem wohlhabenden Geberland der Nachkriegszeit zu einem Schuldenland herabgewirtschaftet hatte. Peronistische Künstler wie Daniel Santoro schufen ein Eva-Perón-Revival und porträtierten in nostalgischer Rückwärtsgewandtheit den Polit-Star der 1940er Jahre.3 Die Hollywood-Verfilmung des Musicals Evita durch Alan Parker kränkte eingefleischte Peronistinnen und Peronisten, gerade weil ihre Heldin von Madonna gespielt wurde, dem musikalischen Sex-Symbol jener Zeit. Dass sie ›Santa Evita‹ spielte, war in den Augen vieler Eva-PerónFans Blasphemie. Als Reaktion darauf schuf die argentinische Filmindustrie unter der Regie von Juan Carlos Desanzo 1996 einen Spielfilm unter dem Titel Eva Perón, der sich um eine ausgewogene Darstellung bemühte, um die Zeichnung einer Evita Perón, die weder Heilige noch Dämonin war. Der argentinische Schriftsteller Tomás Eloy Martínez veröffentlichte 1995 mit Santa Evita einen Roman, der gegen die Absurditäten des Mythos und der Nekrophilie mittels literarischer Fiktion anschrieb. Ein ausgewogenes, den historischen Kontext berücksichtigendes Bild von Eva Perón zu schaffen, ist bis heute eine Herausforderung gerade für die argentinische Geschichtswissenschaft. Wenn der 100-Peso-Schein, den Cristina Fernández de Kirchner initiierte, zwar in ganz Argentinien zirkuliert, so ist der ideologische Graben, den der Peronismus seinerzeit geschaffen hat, bei weitem nicht zugeschüttet. Der Peronismus ist eine politische Kultur, er war lange eine politische Religion. Seit den 1950er Jahren entstanden – auch abhängig vom jeweiligen politischen System – weitere tendenziöse Interpretationen der Persönlichkeit Eva Perón oder Re-Interpretationen ihres Mythos, der immer wieder instrumentalisiert wurde. So auch bei Cristina Fernández de Kirchner, die ihre Politik und die ihres verstorbenen Ehemanns und Ex-Präsidenten Néstor Kirchner an den vorläufigen Endpunkt einer peronistischen Erfolgsgeschichte stellt, die mit dem

2

Vgl. Parker, Alan: »Evita. The Making of the Film«. September 1996. Siehe http://www.alanparker.com/film/evita/ [letzter Zugriff: 10.11.2014]. Parker orientierte sich an der Schallplattenversion des Musicals aus dem Jahr 1976, bevor es in London uraufgeführt wurde. Für den Film wurden einige Texte umgeschrieben.

3

Vgl. Rosano, Susanna: »Apuntes para pensar la obra de Daniel Santoro. El paraíso perdido del peronismo en clave hermética«, in: Claudia Soria/Paola Cortés Rocca/ Edgardo Dieleke (Hg.), Políticas del sentimiento. El peronismo y la construcción de la Argentina moderna, Buenos Aires: Prometeo Libros 2010, S. 241-253.

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›Ersten Paar der Nation‹, mit Juan und Eva Perón begann. In reduzierter, imagologischer Form sind die Porträts der beiden Heldenpaare Kirchner und Perón auf T-Shirts zu kaufen. Das bedeutet auch für das Jahr 2015, dass der ›Mythos Evita‹ fortbesteht und neu erzählt wird. Doch parallel dazu entstehen im wachsenden Maße literaturwissenschaftliche, historische und künstlerische Interpretationen, ,die den Mythos dekonstruieren und solcherart endlich zu entmachten versuchen.4 Dass Eva Peróns Lebensgeschichte herausragend und ungewöhnlich war, steht auch für sie außer Zweifel. Der vorliegende Beitrag versucht, diese Facetten einer lateinamerikanischen Biographie zu beleuchten.

D ER AUFSTIEG EINES P AARS P OLITIK DES P ERONISMUS

ZUR

M ACHT

UND DIE

Eva Perón wurde als María Eva Ibarguren in der Nähe von Los Toldos, einem kleinen Dorf in der Provinz Buenos Aires am 7. Mai 1919 geboren.5 Als Tochter eines Gutsverwalters, der seine Geliebte und fünf uneheliche Kinder verlassen hatte, wuchs sie in äußerst bescheidenen Verhältnissen auf. Im Alter von 15 Jahren zog sie in die Großstadt Buenos Aires, ein boomendes Zentrum der ›peripheren Moderne‹, wie Beatriz Sarlo sie nennt.6 Dort versuchte sie sich als Schauspielerin auf kleinen Bühnen, brachte es auf die Titelseiten einiger Modemagazine und bekam schließlich mit Hilfe einflussreicher Freunde das Angebot, in Radio Belgrano, dem damals größten Hörfunksender des Landes, Rollen in Radioteatros (Hörspielen) zu sprechen. Ihre sonore Stimme wurde von den Hörerinnen und Hörern geschätzt; ihr Name verbreitete sich rasch, weil Argentinien nach den USA und Hitler-Deutschland die dritthöchste Dichte an Radioapparaten besaß. Die großen Frauenfiguren der Geschichte und deren Schicksale, die sie hö-

4 5

Vgl. ebd. Eva Perón ließ anlässlich ihrer Hochzeit einige Daten fälschen. Ihre Mutter hatte den Kindern den Familiennamen des Vaters, Duarte, gegeben. Eva Duarte war auch ihr Künstlername. Da sie sich um zwei Jahre älter machte, als sie war, und angab, in Junín geboren zu sein, sind gelegentlich das Geburtsdatum 1922 und Junín als Geburtsort in Biographien genannt. Vgl. Fraser, Nicholas/Navarro, Marysa: Evita. The real life of Eva Perón, New York/London: W.W. Norton & Company 1996, S. 70f.

6

Vgl. Sarlo, Beatriz: Una modernidad periférica. Buenos Aires 1920 y 1930, Buenos Aires: Nueva Visión 1988.

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rerinnengerecht verkörperte und melodramatisch erzählte, beeinflussten auch den Duktus ihrer späteren Reden. Im Januar 1944 lernte Eva Duarte den aufstrebenden Politiker Juan Perón auf einer Gala zugunsten der Erdbebenopfer von San Juan kennen, einer Stadt am Fuße der Anden, die am 15. Januar von einem Erdbeben fast vollständig zerstört worden war.7 Diese im Hörfunk übertragene Spendengala war der Auftakt für die steile Karriere des ambitionierten Politikers Perón, der die Macht der Medien verstanden hatte und zu nutzen wusste. Sie war auch der Beginn einer jahrelangen Macht- und Mikrophon-Symbiose8 von Juan Perón und Eva Duarte. Noch 1944 wurde sie zur Präsidentin einer Pflichtgewerkschaft von Radio-Autoren und Sprechern ernannt.9 Zudem erhielt sie eine eigene Sendung, die unter dem Titel Hacia un futuro mejor (Für eine bessere Zukunft) Propaganda für die Arbeiterpolitik der Regierung machte, die seit dem Juni 1943 an der Macht war. Der Oberst Juan Perón hatte sich im Juni 1943 mit einer Gruppe von ultrakonservativen, katholischen Offizieren (der Grupo de Oficiales Unidos, GOU) an die Macht geputscht und die Regierung von Ramón Castillo gestürzt, um eine ›nationale Revolution‹ diktatorisch zu verwirklichen. Zwischen 1939 und 1940 hatte Perón im Italien Benito Mussolinis gelebt. Obgleich antikommunistisch, stellte er ab 1943 als Sekretär des Ministeriums für Arbeit und Soziales vor allem die Arbeiter und Angestellten in das Zentrum seines politischen Programms und stützte jene Gewerkschaften, die sich kooperationswillig zeigten. Sein Ministerium legte lohn-, tarif- und arbeitsrechtliche Konflikte bei. Gemeinsam mit dem Gewerkschaftsbund CGT (Confederación General del Trabajo), der katholischen Kirche und den Streitkräften formierte sich durch Peróns Politik eine ungewöhnliche Allianz, gegen die sich linksliberale und demokratische Parteien, die gebildete weltoffene Mittelschicht, viele Intellektuelle, Universitätslehrer und Studenten stellten.10

7

Healy, Mark A: The Ruins of the New Argentina. Peronism and the Remaking of San Juan after the 1944 Earthquake, Durham/London: Duke University Press 2011, S. 73.

8

Theweleit, Klaus: Buch der Könige, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Stroemfeld, Roter Stern 1994.

9

Vgl. N. Fraser/M. Navarro: Evita, S. 24ff.; S. 42.

10 Waldmann, Peter: »Argentinien«, in: Walther L. Bernecker/Raymond T. Buve/John R. Fisher et. al. (Hg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas, Bd. 3, Stuttgart: Klett-Cotta 1996, S. 922ff. Vgl. Ursula Prutsch: Creating Good Neighbors? Die Kultur- und Wirtschaftspolitik der USA in Lateinamerika, 1940-1946, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2007, S. 333-352.

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Im März 1945 erklärte Argentinien als letztes lateinamerikanisches Land den Achsenmächten den Krieg, um von der Nachkriegsordnung nicht ausgeschlossen zu sein. Deshalb wurden wieder Parteien zugelassen und politische Oppositionelle amnestiert, während die Regierung unter dem Druck der USA vermeintliche oder tatsächliche NS-Spione internierte und deutsche und japanische Unternehmen enteignete. Weil die Regierung Demokratie lediglich vorgab, demonstrierte am 19. September 1945 eine Viertelmillion Argentinier in einem ›Marsch der Verfassung und der Freiheit‹ mit Slogans wie »Für Bücher und gegen Stiefel« gegen die Politik der Offiziere und den ›demagogischen Falschspieler‹ und ›Faschisten‹ Perón.11 Die politisch-militärische Führung verhängte den Ausnahmezustand, erzwang den Rücktritt des Oberst und ließ ihn am 13. Oktober 1945 verhaften. Drei Tage später kündigten die Perón-freundlichen Gewerkschaften, repräsentiert vom Gewerkschaftsbund CGT aus Protest gegen die Entmachtung des beliebten Politikers für den 18. Oktober einen Generalstreik an, um ihn freizupressen. Doch schon am 17. Oktober legten Arbeiter und Angestellte in zahlreichen Betrieben der Hauptstadt und ihrer Peripherie die Arbeit nieder und strömten in das Zentrum von Buenos Aires, um die Freilassung ihres Idols zu fordern. Die stetig anschwellende Masse dieser abgearbeiteten, teils ärmlich gekleideten Menschen irritierte diejenigen, denen die Plaza de Mayo bislang gehörte, den Geschäftsleuten und Beamten der Mittelschicht, und den Eliten. Es war heiß und einige der Wartenden zogen ihre Schuhe aus, krempelten die Hosen hoch, stiegen in den Springbrunnen und setzten sich an dessen Rand. Die Fotos davon gehören untrennbar zur Geburtsstunde des Peronismus, zum 17. Oktober 1945. Die Descamisados (die Hemdlosen) hatten den politisch bedeutendsten öffentlichen Raum, die Plaza de Mayo, eingenommen.12

11 Vgl. Eickhoff, Georg: Das Charisma der Caudillos. Cárdenas, Franco, Perón, Frankfurt a. M.: Vervuert 1999, S. 136. 12 Der Begriff Descamisados wurde während des Präsidentschaftswahlkampfs geprägt, als während einer Rede Juan Peróns am 14. Dezember 1945 ein Zuhörer Perón auf einem Stock ein weißes Hemd reichte. Perón nahm das Hemd und winkte damit, als ob es eine Flagge wäre und nahm den Begriff der Hemdlosen in seine Rede auf. Weil die Opposition diese Geste als Verhöhnung eines nationalen Symbols brandmarkte und ihn deshalb sogar anzeigen ließ, erkoren die Anhänger das Hemd als Symbol für die peronistische Bewegung. Mit dem Wort Descamisado ist aber nicht gemeint, dass die armen argentinischen Arbeiter sich nicht einmal ein Hemd leisten konnten, sondern Descamisado steht für jemanden, der kein Sakko trägt, sondern nur ein Hemd. Sakkozwang herrschte in manchen Räumen der Innenstädte, etwa in der eleganten Flaniermeile Calle Florida in Buenos Aires. Vgl. Gustavo Castagnola: »The Fashion

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Nachdem seine Anhänger Stunden gewartet, seine Freilassung in Sprechchören gefordert und aus Zeitungen Fackeln gedreht hatten, die sie anzündeten und,wie bei einer Osternacht, hochhielten, betrat der freigelassene Juan Perón in ziviler Kleidung den Balkon des Präsidentenpalastes Casa Rosada, hielt seine Dankesrede und führte von oben herab mit der zu ihm aufblickenden Anhängerschaft einen Dialog. Der Balkon, ein zentrales Element politischer und religiöser Inszenierung, sollte danach immer wieder, auch von Eva Perón, als Bühne der Repräsentation von Macht genutzt werden. Der 17. Oktober und der 1. Mai wurden in der Folge als bedeutendste Feiertage des Peronismus zelebriert. Er war der Beginn eines politischen Mythos, der durch Narrativ, Visualisierung und Ritualisierung kommuniziert wurde. Gerade autoritäre und populistische Systeme schaffen zu ihrer Legitimierung und Erhaltung ein System von politischen Inszenierungen, die sich aufgrund der konstanten Formelhaftigkeit gerade zur Visualisierung von Macht eignen. Die ›sinnliche Präsenz‹ der Sender von politischen Botschaften spielt in populistischen Regimes, wie dem Peronismus, eine wichtige Rolle.13

of Politics. Argentina from the 1940s to the 2000s«, in: Ästhetik des Politischen (= Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften) 15 (2004) 3, S. 8. 13 Hein-Kircher, Heidi: »Social Master Narratives: Romanticisation and functionalisation of personalities and events through political myths«, in: Anne-Berenike Rothstein/Pere Joan Tous (Hg.), »Evita vive«. Estudios literarios y culturales sobre Eva Perón, Berlin: Edition Tranvia-Verlag Walter Frey 2013, S. 19. Vgl. Arnold, Sabine R./Fuhrmeister, Christian/Schiller, Dietmar (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 1998, S. 10. Charakteristika populistischer Regimes, die rechts- oder linksgerichtet sein können, sind erstens eine Politik für die Unterprivilegierten, die bislang aus der Nation Ausgegrenzten, zweitens die Konstruktion von Nähe zwischen Führungspersönlichkeiten und Zivilgesellschaft, drittens eine charismatische Wirkung dieser Führungspersönlichkeiten, viertens die Betonung des Selbst im Sinne von Selbstbestimmung bzw. Selbstermächtigung im Gegensatz zu Fremdbestimmtsein. Dies kann auch in Bezug auf die Außenpolitik zur Wirkung kommen (Reduktion von Abhängigkeiten). Fünftens spielt eine ›Anti-Haltung‹ eine große Rolle. Sie kann xenophob, rassistisch sein, aber auch anti-oligarchisch. Damit im Zusammenhang steht die Konstruktion starker Feindbilder, die ein ›Wir‹ bedrohen. Dazu gehören Andersdenkende und außenpolitische Mächte. Der Populismus ist oft anti-intellektuell, weil er auf PraxisBezug statt ›abgehobene‹ Theorie setzt und Bevormundung gerade durch kritische Intellektuelle fürchtet. Das ›Wir-Gefühl‹ wird durch Inszenierungen, die mit Imagologien und Ritualen verbunden, sind gestärkt. Vgl. Priester, Karin: Populismus. Histori-

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Die Balkonszene gehört zum Gründungsmythos eines Regimes, das sich dem ›Neuen Menschen‹ verschreiben wollte und seine Legitimation nicht auf einer ruhmreichen Vergangenheit, sondern auf diesem Moment aufbaute. Die Massendemonstration war spontan entstanden. Perón galt als derjenige, der den Willen der arbeitenden Bevölkerung vollzog, weil er Charisma und Glaubwürdigkeit besessen habe. Die Ereignisse des 17. Oktober sollten den Gegnern zeigen, dass es ein untrennbares Band zwischen dem ›Ersten Arbeiter der Nation‹ und seinen Schützlingen gab. Eva Duarte (ab 22. Oktober 1945 Eva Perón) hat später den 17. Oktober, an dem sie politisch nicht beteiligt war, als Initiationsmoment für ein neues Leben bezeichnet, einen Tag, an dem sie ihre Schauspielerinnenrolle abstreifte und ihren Dienst an Perón und den Descamisados begonnen habe. Nach einem schmutzigen Wahlkampf wurde Juan Perón am 24. Februar 1946 demokratisch zum Staatspräsidenten gewählt. Dass Perón kein Demokrat, sondern Architekt einer populistischen ›Entwicklungsdiktatur‹ war, sollte sich bald manifestieren. Das Wort Demokratie nahm er freilich oft in den Mund und verstand seinen Sieg als Ausdruck einer direkten Beziehung zwischen ihm und der Bevölkerung, ein Beweis der Loyalität gegenüber seiner Person.14 Der Peronismus stützte seine Macht auf die Partei der Gerechtigkeit (Partido Justicialista), die Streitkräfte, die katholische Kirche und den Gewerkschaftsbund CGT. Sukzessive wurden regimekritische Gewerkschafter entlassen und durch regimetreue ersetzt. Ein ausgeklügeltes System von Informanten, die in den peronistischen Parteizellen im ganzen Land saßen, berichtete über politische Dissidenten und Oppositionelle. Ebenso wurden systemkritische Zeitungen unter Druck gesetzt, zeitweilig oder ganz verboten.15 Als stärkste Stütze des Ehepaars Perón sollten sich die Descamisados erweisen, die ›arbeitende Bevölkerung‹. Der Peronismus verstand sie nicht als Arbeiterklasse im marxistischen Sinne oder konzentrierte sich nur auf Industriearbeiter, sondern meinte all diejenigen, deren Einkommen nicht auf Renditen beruhten, und nicht die gebildete Mittel- und Oberschicht. Er meinte die Industrie- und Landarbeiter, die kleinen Angestellten, Dienstboten, die Hausfrauen der Unter-

sche und aktuelle Erscheinungsformen, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2007. 14 Zum Begriff Entwicklungsdiktatur vgl. P. Waldmann, Argentinien, S. 923. Anders als seine faschistischen und autoritären Kollegen im Europa des Zweiten Weltkriegs war Perón ein ziviler Präsident, der gerne lachte und sich in der Öffentlichkeit hemdsärmelig gab. 15 Vgl. Sirvén, Pablo: Perón y los medios de comunicación (1943-1955), Buenos Aires: Seal 1984.

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schichten. Er bezog theoretisch auch die indigene Bevölkerung mit ein. Die globalen ökonomischen Konstellationen kamen ihm bei seiner Sozialpolitik zunächst sehr zugute. Die argentinische Wirtschaft boomte bis 1949. Argentinien galt als einer der wohlhabendsten Staaten der Welt, besaß zunächst noch solide Goldreserven und gehörte nach Kriegsende zu den Gläubigernationen, bei denen vor allem Großbritannien verschuldet war. Die gute wirtschaftliche Situation ermöglichte die Finanzierung von Sozialausgaben, von bezahltem Urlaub und Weihnachtsgeld. Der Lebensstandard der Descamisados wurde deutlich angehoben, um Konflikte zwischen den sozialen Schichten möglichst zu verhindern. Die Löhne der Arbeiter stiegen in jenen Jahren um mehr als 60 Prozent. Sie konnten mehr konsumieren, Statussymbole erwerben, sich regelmäßig Kino und Theater leisten und das breite Angebot von Volksbildung wahrnehmen, das der Peronismus ihnen bot.16 Die Descamisados hatten Eva Perón auch den Namen Evita gegeben, den sie exklusiv für sie reservierte. Perón nannte sie Eva oder Chinita, ihre Untergebenen bzw. Kolleginnen und Kollegen nannten sie (und nennen sie bis heute) La Señora.17 Eva Perón beschrieb die Descamisados folgendermaßen: »Für mich ist der Descamisado der, der als Teil des Volkes fühlt. [...] wie das Volk liebt, leidet und genießt. Descamisado ist jener, der am 17. Oktober auf der Plaza de Mayo war oder sein wollte. Descamisado ist das Volk, das wenig gebildete, das die geringe Bildung würdevoll zugibt, weil er sich im Grunde genommen durch seinen Führer stark fühlt [...] weil ihm eine neue Würde verliehen wird.«18

Eva Perón stilisierte sich immer wieder als Brückenbauerin zwischen dem lider Perón und dem Volk. 1949 setzte eine Wirtschaftskrise ein. Sie war durch verminderte Agrarexporte, eine galoppierende Inflation, hohe Lohnkosten und die kostspielige Politik der Verstaatlichung ausländischer Unternehmen bedingt. Dazu kamen Korruption und Klientelismus. Eine Verfassungsänderung ermög-

16 Vgl. Karush, Matthew B./Chamosa, Oscar (Hg): The New Cultural History of Peronism, Durham/London: Duke University Press 2010. Da in diesem Artikel nicht im Detail auf die Politiken der Ein- und Ausgrenzung eingegangen werden kann, sei nur auf den Beitrag von Diana Lenton im zitierten Sammelband verwiesen: »The Malón de la Paz of 1946. Indigenous Descamisados at the Dawn of Peronism«, S. 85-111. 17 Interview der Autorin mit Nélida de Miguel, Buenos Aires, Escuela Político Sindical Lorenzo Mariano Miguel, 19. 9. 2013. 18 Zit. n. Capelato, Maria Helena: Multidões em Cena. Propaganda política no Varguismo e no Peronismo, Campinas: Papirus 1998, S. 55.

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lichte Juan Perón 1949 noch die Wiederwahl. Den Protesten und Streiks, die aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise immer häufiger wurden, begegnete das Regime mit immer größerer Härte. 1954 geriet Perón schließlich durch seine zunehmend laizistische Politik mit der katholischen Kirche in Konflikt. Hohe Würdenträger und konservative Katholiken kritisierten zudem den Evita-Kult, weil er Züge von Heiligenverehrung trug. Ein Militärputsch zwang Perón 1955 zum Rücktritt und zur Flucht ins Exil. Ein Faktor für den Niedergang des Regimes war auch der Tod der First Lady Eva Perón im Juli 1952 gewesen. Sie war für die Peronistinnen und Peronisten eine weit wichtigere Integrationsfigur als ihr Ehemann.

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V IELFALT

Juan und Eva Perón versuchten zwei Argentinien miteinander zu verbinden: das traditionelle, konservative, vorwiegend ländliche Argentinien mit seiner GauchoKultur zum einen, und das urban industrielle, von großer ethnischer Vielfalt und europäischer Hochkultur geprägte zum anderen. Im Laufe des Jahres 1946 begann sich die Präsidentengattin für Sozialarbeit zu interessieren, nahm Kontakt mit Gewerkschaftern auf und erhielt schließlich ein Büro für Beratung und Sozialhilfe im Arbeitsministerium. Im (europäischen) Frühjahr 1947 wurde sie von Juan Perón auf Staatsbesuch nach Europa gesandt. Dies war für eine Präsidentengattin, die kein offizielles Amt innehatte, äußerst ungewöhnlich. Die in der Populärkultur als ›Rainbow Tour‹ bekannte Reise führte sie in das autoritäre Spanien Francisco Francos, nach Italien und in den Vatikan, in die Schweiz und nach Frankreich. Obwohl die Reaktionen auf die Europareise in Argentinien und in den jeweiligen Ländern, die sie besuchte, zwiespältig waren, ging die damals 28jährige ehemalige Schauspielerin aufgrund ihrer Jugend, ihres Status und Outfits in die internationale Regenbogenpresse ein.19 1948 gründete sie ihre eigene sozialpolitische Stiftung Fundación Eva Perón, 1949 eine eigene Frauensektion der peronistischen ›Partei der Gerechtigkeit‹.

19 Zur Europa-Reise vgl. vor allem Fraser, Navarro. Die Reise war auch deshalb kontrovers, weil Eva Perón in Italien von demokratischen Demonstranten als Faschistin bezeichnet wurde. Perón gewährte damals vor allem italienischen, kroatischen, deutschen und österreichischen Kriegsverbrechern mit Hilfe des Vatikan und des Roten Kreuzes in Argentinien Unterschlupf.

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Eva Perón machte es sich zur Aufgabe, herkömmliche Frauenrollen des Dienens und Sorgens im Heim und am Herd mit neuen Rollen zu verbinden, die von Industrialisierung und Moderne geprägt waren. Wege weiblicher Emanzipation aufzuzeigen, war in einem Regime, das von Streitkräften und der Katholischen Kirche gestützt war, eine ständige Gradwanderung. Die Frauensektion der peronistischen Partei sollte ein Sammelbecken der weiblichen Selbstermächtigung werden. Die Rolle Eva Peróns als First Lady und Ehefrau, die ihren Präsidentengatten begleitet, auf Galas erscheint, Auszeichnungen verleiht und soziale Einrichtungen eröffnet, verfestigte klassische Rollenbilder. Die Stiftung Eva Perón verband beides: Eva Perón agierte de facto als Sozialpolitikerin. Da die Stiftung Kinderheime und Krankenhäuser bauen und Care-Pakete verteilen ließ, bewegte sich die ›Mutter der Nation‹ in einem für Frauen klassischen Umfeld, jenem der sozialen Fürsorge. Zur Verbreitung der vielfältigen Frauenrollen dienten eine Vielzahl von Reden und Artikeln, aber auch eine Fülle von Images, die ein willfähriger und zensierter Medienapparat von Zeitungen, Zeitschriften, Radiosendern und Dokumentarfilmen20 produzierte und zirkulieren ließ. Eine wirksam eingesetzte Bilderflut stellte Evita Perón über Jahre als First Lady, weibliche Stilikone, als Sozialpolitikerin und Frauenpolitikerin aus. Dabei machte der Peronismus – und das unterscheidet ihn von allen früheren Regimes in Argentinien – vermeintlich Privates öffentlich. Da er vorgab, Hierarchien umzukehren, stellten sich Juan und Eva Perón auch gerne als Normalbürger dar, die ihren Anhängern zeigten, dass sie mit Konventionen der traditionellen Eliten, bewusst brachen. So ist Eva Perón etwa im legeren Freizeitanzug auf der Veranda ihres Landhauses zu sehen, neben ihrem Mann sitzend. Beide haben Pudel auf dem Schoß. Ein anderes Foto zeigt sie beim Kämmen der blondierten Haare und Juan Perón beim Binden seiner Krawatte vor dem Spiegel in seinem Badezimmer.21 Lächeln, lachen, Hände schütteln, Kinder umarmen sind ständige Signale, die zu einer Politik der Emotionen gehören, einer Politik, die mit ständiger Empathie arbeitet und betont, dass man die kühle Arroganz der Oberschicht ablehne und sich nicht hinter starren Bürokratien verstecke, dass man aus dem Volk komme, Teil desselben Volkes sei und nur dessen Willen vollziehe. Die Idee,

20 Vgl. Mallimacci, Fortunato/Marrone, Irene (Hg.): Cine e imaginario social, Buenos Aires: Oficina de Publicaciones del CBC 1997. Vgl. Kriger, Clara: Cine y Peronismo. El estado en escena, Buenos Aires: siglo veintiuno editores S.A 2009, S. 111-167. 1951 wurde in Argentinien auch das Fernsehen eingeführt. 21 Elia, Tomás de/Queiroz, Juan Pablo: Evita. El retrato de su vida, Buenos Aires, New York: Brambila, Rizzoli 1997.

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›Privates‹ öffentlich zu machen, vermittelte den Bürgerinnen und Bürgern , dass seine Führung nichts zu verbergen habe und stets im Dienst der Nation handle. Mit Democracia besaß Eva Perón ihre eigene Zeitung mit einer Society-Beilage von 400.000 Stück. Sie hielt ihr Engagement auf unterschiedlichen Bühnen fest. Die Rolle der Schauspielerin und des Cover-Girls hatte Evita Perón 1945 abgelegt. Zu den neuen Rollen gehörten die passenden Outfits und die passende Frisur. Deshalb entwarf ihr Friseur Julio Alcaraz den Chignon, den zu einem Oval geformten Zopf, den er im Nacken platzierte. Der Chignon wurde Eva Peróns Markenzeichen. In der Form erinnerte er ein wenig an BDM-Führerinnen, doch symbolisierte er in Verbindung mit den taillierten Kostümen und Schmuckstücken eine Mischung von eleganter Professionalität, mütterlicher Wärme und Bodenständigkeit zugleich.22 Um den Chignon bildlich zu erfassen, schossen die Fotografen auch viele Profilbilder, die wiederum an numismatische Darstellungen der Antike erinnerten und auch bewusst daran anknüpften. So schaute sie nach rechts, in die Zukunft. Es war typisch für den Peronismus, dass er auch die Darstellung des Profils übertreibend kultivierte. In der Peripherie von Buenos Aires, (in der Nähe des Flughafens Ezeiza), entstand in den späten 1940er Jahren ein neues Stadtviertel namens Ciudad Evita. Seine Form entsprach genau dem Profil Eva Peróns mit ihrem im Nacken platzierten Haarkranz.23 Die spezielle Frisur nahm Eva Perón etwas von ihrer Jugendlichkeit und machte sie älter, als sie tatsächlich war. Sie war elegant, ohne unnahbar zu sein oder sexuelle Wünsche zu evozieren. Zudem habe sie, so sagen Zeitzeugen, eine sehr helle, fast porzellanfarbene Haut gehabt. Die Hautfarbe und das blondierte Haar machten sie in Verbindung mit ihrer Sozialarbeit zu einer Lichtgestalt in einem Land, das auch indigen geprägt ist. Argentiniens rassistische Eliten assoziierten helle Hautfarbe mit Wohlstand und Fortschritt, dunkle Haut und schwarze Haare hingegen mit Rückschrittlichkeit und Indolenz, was dazu führte, dass auch für arme, mestizische und indigene Argentinier Hellhäutigkeit mit Erfolg konnotiert wurde. Nach Eva Peróns Reise nach Paris im Jahr 1947 gelangten ständig neue Hüte, Roben und Kostüme der französischen Haute Couture in die argentinische Privatresidenz. Dazu kamen edle Geschenke von Staatsgästen. Den AntiPeronisten waren glitzernde Abendroben und der prächtige Schmuck Beispiele

22 Die Bedeutung einer solchen Haartracht verstand auch Julia Timoschenko, deren Zopffrisur Emanzipation und Volksverbundenheit in der Orangen Revolution gleichermaßen symbolisierte. 23 Vgl. Domínguez, Nora: »Los rostros de Eva Perón«, in: Claudia Soria/Paola Cortés Rocca/Edgardo Dieleke (Hg.), Políticas del Sentimento, S.134.

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dafür, wie schamlos die First Lady die glänzenden Symbole des Machtmissbrauchs für alle Welt sichtbar ausstellte. Sie öffnete ihre Kleiderschränke und Schmuckschatullen gerne für Fotografen und zeigte sie als Trophäen ihrer Beliebtheit immer wieder her. Einmal bat sie ein Kongressabgeordneter, sich doch ein wenig dezenter zu kleiden. Sie antwortete ihm darauf: »Die Leute wollen mich schön sehen. Arme Leute wollen keine Beschützer, die alt und grau sind. Alle haben ihren Traum von mir, und ich will sie nicht enttäuschen.«24 Einen märchenhaften Aufstieg hatte sie selbst erlebt, warum sollte ein solches Märchen nicht auch anderen zuteil werden. Selbst in ihren Outfits agierte Eva Perón widersprüchlich. Während sie sich auf Geschäftsreisen in die Provinzen bewusst ländlich gab und die Kleidung der Landarbeiterinnen zumindest mit einem Kopftuch imitierte, kopierte Eva Perón auf Galaabenden mit ihren reich bestickten Abendkleidern und Pelzen die Oberschicht, obwohl sie diese in ihren Reden repetitiv als ausbeuterisch attackierte. Eva Perón war eine der ersten Politikergattinnen, die praktisch, aber nicht diskursiv regierungspolitischen Gleichheitsanspruch erhob und sich als moderne Kunst- und Gesellschaftsikone erfand. Sie repräsentierte eine Politik der Gefühle, die Kohärenz postulierte, indem sie eine konsensuale Wertegemeinschaft vorgab, gleichzeitig aber polarisierte und die Welt in Peronisten und AntiPeronisten teilte. Während Juan Perón die Diskurse entwarf und seine Ziele gerne per Radio verkündete, entwickelte sich seine Frau zum wirklichen Medientalent. Sie wiederholte die Inhalte des Peronismus, brachte die emotionalere Seite der Macht effektvoll ins Spiel; sie lebte weibliche Selbstermächtigung vor, unterwarf sich aber diskursiv vor allem in jenen Jahren dem Präsidenten, in denen der Peronismus in die Krise geraten war. Sie war sein ›Schwert‹ und sein ›Schatten‹, er ihr ›Meister und Freund‹. In der Autobiographie sagt sie einmal über Perón: »[...] ich habe aufgehört, in mir selbst zu leben. Er ist es, der in meiner Seele lebt, Herr all meiner Worte und meiner Empfindungen, unbeschränkter Herrscher über mein Herz und mein Leben. Das ist zudem ein altes Wunder, ein altes Wunder der Liebe [...]«.25

Die peronistische Inszenierung spielte mit einer Art von Dreifaltigkeit: Juan und Eva Perón und die Descamisados, die durch den Gewerkschaftsbund CGT repräsentiert waren. So bildeten sie die Welt der Guten, während die ›verräterische

24 Potthast, Barbara: Von Müttern und Machos. Eine Geschichte der Frauen Lateinamerikas, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 2003, S. 300. 25 Perón, Eva: La razón de mi vida, Buenos Aires: Ediciones Peuser 1951, S. 31.

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Oligarchie, die feigen Kommunisten und Intellektuellen‹ die Rolle des Bösen einnahmen.

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ALS

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In einer Vitrine des Museo Evita liegt ein koloriertes Heft. Auf seinem Cover prangen ein großes ›V‹ und das lächelnde Gesicht Evita Peróns. Das V steht für Voto Femenino, das Frauenwahlrecht, dessen Durchsetzung ihr zugeschrieben wird. Bis dahin hatte der Kampf argentinischer Politikerinnen aus dem sozialistischen wie bürgerlichen Lager um das Wahlrecht bereits eine hundertjährige Geschichte. In den 1930er Jahren konnten Frauen in den meisten lateinamerikanischen Staaten wählen. Im Zuge der panamerikanischen Politik des Zweiten Weltkriegs übten Delegierte dieser Staaten auf Argentinien Druck aus, endlich mit ihnen gleichzuziehen. Die Gruppe der Offiziere um Perón ließ sich von diesen Interventionen freilich nicht beeindrucken, stellte aber das Frauenwahlrecht in Aussicht. 1947, als Juan Peróns Macht konsolidiert war, warb Eva Perón in ihrer Zeitung Democracia in Leitartikeln regelmäßig für das Frauenwahlrecht und gegen männliche Vorurteile; im September wurde es endlich Gesetz. Nun schrieb die Propaganda ihr das Verdienst der Verwirklichung politischer Selbstbestimmung zu, obwohl sie vor der Machtergreifung Juan Peróns keiner pressure group angehört hatte. Eva Peróns Image als Wohltäterin der Armen gründet auf der gleichnamigen Fundación, die sie 1948, in der ökonomisch noch florierenden Phase des Peronismus, ins Leben rief. Diese Funktion machte sie zu einer de facto Arbeitsministerin, obwohl sie offiziell nie ein Regierungsamt innehatte.26 Diese Dachorganisation für sämtliche karitative Einrichtungen in Argentinien erhielt ihr Budget von argentinischen Regierungsbehörden, aus Lottoeinnahmen, von Gewerkschaften und Industrieunternehmen, die, statt Steuern zu zahlen, oft beachtliche Summen an die Organisation überwiesen – nicht selten aufgrund politischer Drohungen. Offiziell gab jeder gewerkschaftlich organisierte Arbeiter pro Monat einen Peso an die Fundación ab. Dadurch verfügte die Einrichtung, deren Finanzgebarung keiner Kontrolle unterlag, über enormes Kapital zur Finanzierung sozialer Fürsorgeeinrichtungen. Eva Perón ließ 12 Kliniken, 1.000 Schulen, Kindergärten, Altenheime und Unterkünfte für alleinerziehende Mütter bauen und

26 Vgl. Plotkin, Mariano Ben: Mañana es San Perón. Propaganda, rituales políticos y educación en el régimen peronista (1946-1955), Buenos Aires: Ariel Historia Argentina 1994, S. 216ff.

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initiierte eine effiziente Kampagne gegen Tuberkulose. Die Stiftung betrieb auch eine Schule für Krankenschwestern. Sie waren Evitas Soldatinnen. Bei Paraden an Festtagen bildeten sie eine eigene Formation. Für Kinder ließ die Stiftung eine eigene Miniaturstadt errichten, in der sie spielerisch lernen sollten, wie die große Welt funktionierte. Die Propaganda warb damit, den ärmsten Kindern eine Luxuswelt für ein paar Tage zu bieten. Die Kritiker Eva Peróns wiederum versicherten, dass sie hübsche Kinder aus den Slums gerade einmal für ein paar Fotos holen ließ, um sie dann wieder ihrem Elend zu überlassen.27 Die großzügige Verteilung von Geschenken für mittellose Mitbürger, von Geld, Werkzeug, Nähmaschinen, Haushaltsgeräten, Kleidungsstücken bis hin zu Kinderspielzeug, Zahnprothesen und Miethilfen ließ Eva Perón nicht durch anonyme Organisatoren besorgen, sondern inszenierte deren Vergabe als Zeremonie einer gütigen Monarchin vor ihren bittenden Untertanen. Zu Mittag erschien sie im vollbesetzten prunkvollen Saal der Fundación Eva Perón, die einen Teil des Stadtrates von Buenos Aires okkupiert hatte, und verließ ihn oft erst in den späten Abendstunden. Sie nahm an einem von Scheinwerfern beleuchteten Schreibtisch Platz und hörte sich die Wünsche der Notleidenden an, nachdem Fotografen die Szene aufgenommen und illustre Gäste sich hinter Eva Perón postiert hatten. Dabei vermittelte die First Lady das Gefühl, die eigene, ehemalige Unterschicht-Existenz nicht verdrängt zu haben, und hatte auch keinerlei Berührungsängste gegenüber Lepra- und Syphiliskranken. Der Umgang mit den Hilfsbedürftigen, das elegante Outfit, die blonden Haare und der helle Teint trugen entscheidend zum Heiligenimage bei. Der Wert der insgesamt von der Fundación Eva Perón verteilten Güter wurde auf 200 Millionen Dollar geschätzt.28 Die Stiftung galt Eva Perón als Gegenentwurf zur Charity-Tätigkeit der Oberschicht. Almosen seien immer eine Art von Zeitvertreib für die Reichen gewesen, schreibt Eva Perón in ihrer Autobiographie. Sie hätten die Wohltätigkeit erfunden, um sich daran zu ergötzen.29 Für jemanden wie sie, der selbst Armut erfahren habe, sei Sozialarbeit hingegen authentisch. Sie umgab sich mit einem Stab von Mitarbeiterinnen, die ihren Dienst am Wohl der Bevölkerung wie eine religiöse Mission erfüllten. Mit Eva Perón zogen sie durch das Land, schliefen in armseligen Behausungen, fuhren über holprige Straßen, standen gegen drei Uhr morgens auf, arbeiteten Wochenenden

27 Vgl. Ballent, Anahi: »Unforgettable Kitsch. Images around Eva Perón«, in: Matthew B. Karush/Oscar Chamosa (Hg.), The New Cultural History of Peronism, Durham/London: Duke University Press 2010, S.152-155. 28 N. Fraser/M. Navarro: Evita, S. 118. 29 E. Perón, La razón de mi vida, S. 182.

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durch. Evita Perón verlangte absolute Loyalität und trieb ihre Assistentinnen mit manischer Arbeitswut an.30 Dieser auszehrende Marathon an Nächstenliebe mag auch ein Grund für die frühe Erkrankung der ›Heldin der Nation‹ gewesen sein. Trotzdem hätte eine solche Sozialpolitik auch durch eine Regierungsorganisation bewerkstelligt werden können. Doch sie war Teil des peronistischen Populismus, der unmittelbare Nähe zur Bevölkerung zum Prinzip erhob und Institutionen als kalt und empathielos bezeichnete (obwohl er gleichzeitig eine komplexe, kontrollierende Bürokratie schuf). Die Art und Weise, wie Eva Perón ihre Güter vergab, ähnelte jedoch durchaus der Caritas der traditionellen Hilfsorganisationen, wie sie von wohlhabenden Frauen gestaltet worden war. Abgesehen von ihrem assistenzialistischen Charakter trug die Mildtätigkeit Eva Peróns, verstärkt durch die permanente propagandistische Ausschlachtung, einen stark narzisstischen Zug. Die Hilfsbedürftigen blieben stets Bittsteller, die vom Wohl des Ehepaars Perón abhängig waren. Im Jahr 1949 begann sie die Frauensektion der peronistischen Partei aufzubauen und etablierte Basisorganisationen (unidades básicas) im ganzen Land. Die unidades básicas waren Nachbarschaftszentren, in denen Sprach-, Koch-, Näh- und Erste-Hilfe-Kurse angeboten wurden, aber auch Tanz- und Friseurkurse, während es für Kinder Betreuungsstätten gab. Zudem wurden die Frauen politisch geschult und angeleitet, Juan Perón bei der nächsten Präsidentschaftswahl ihre Stimme zu geben. Die Politik für Frauen war erfolgreich, die Löhne für Industriearbeiterinnen wurden erhöht. 1949 waren 45 Prozent der Beschäftigten in der Industrie Frauen. Über 60 Prozent der wahlberechtigten Frauen wählten 1951 für Juan Perón und bescherten ihm eine zweite Amtszeit.31 Eva Perón hatte nie einer feministischen Bewegung angehört. Mit ihren Nachbarschaftszentren, ihrer Sozialarbeit, die gerade alleinerziehende Mütter stützte, mit ihren Aufrufen, sich politisch zu engagieren, gab sie Frauen jedoch zu verstehen, dass Haus und Heim keine Bestimmung waren, die es lebenslang zu erfüllen galt. Gleichzeitig dürfen diese Maßnahmen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie im Hinblick auf die politischen Machtverhältnisse traditionelle Weiblichkeitsvorstellungen als richtig und als ›vornehmste Rolle‹ einer Frau verteidigte. Als gläubige Katholikin wusste sie, dass die Vorstellung von Frauen als Dienerinnen ihrer Männer noch immer weit verbreitet war. Eva Perón war eine Pragmatikerin. Sie war die Ehefrau eines Militärs in einer machistischen Gesellschaft, in der es nicht wenige gab, die die De-Facto-

30 Interview mit Nélida de Miguel, 19. 9. 2013. 31 M. B. Plotkin: Mañana es San Perón, S. 263ff.

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Regentschaft eines Ehepaars für bedenklich hielten. Deshalb waren ihre Reden auch immer wieder Unterwerfungsgesten unter den líder Perón, den sie als ›ihren Meister‹ bezeichnete, während sie ›seine Schülerin‹ war. Deshalb musste Eva Perón auch einen Kompromiss zwischen kämpferischer Emanzipation und Tradition finden, um als politische Persönlichkeit zu überleben. Sie wies das Etikett ›Politikerin‹ von sich, obwohl sie eminent politisch war. Auch verstand sie sich nicht als Frauenrechtlerin im klassischen Sinne und grenzte sich deshalb radikal vom Feminismus ab. Dafür wählte sie erstaunlich sexistische Worte und sprach den Feministinnen früherer Jahrzehnte einfach die Leistungen ab: »Ich gebe zu, dass ich an dem Tag, an welchem ich mich vor der Möglichkeit des ›feministischen‹ Weges sah, etwas Furcht verspürte. Was konnte ich, eine einfache Frau aus dem Volke in einer Sache machen, an der andere geschultere Frauen schon vollkommen gescheitert sind? Ins Lächerliche fallen? Mich dem Kreis jener Frauen anschließen, die wie ungezählte Frauenführerinnen, den Frauen und Männern verbittert gegenüber stehen? Ich war weder ein Fräulein in vorgerücktem Alter und andrerseits auch nicht so hässlich, um einen solchen Posten zu bekleiden [...]. Ihre Erbitterung, nicht als Mann geboren zu sein, überwog ihren Stolz Frau zu sein.« 32

Die Frauenbewegung habe den Schritt getan, der vom Erhabenen zum Lächerlichen führt. Und das sei der Schritt, den sie niemals zu tun gedenke, resümiert sie in ihrer Autobiographie.

S ANTA E VITA: D IE M ÄRTYRERIN

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M ARIENIKONE

Die Autobiographie, im September 1951 von einem spanischen Ghostwriter namens Manuel Penella da Silva verfasst, war ein Text der Rechtfertigung und Unterwerfung unter männliche Autoritäten.33 Der Peronismus befand sich bereits in einer tiefen ökonomischen Krise; Demonstrationen gegen die politische Führung hatten zugenommen. Ende August hatte Eva Perón ihre Kandidatur für die Vizepräsidentschaft zurückgezogen. In einer pompösen Inszenierung und Huldi-

32 E. Perón: La razón de mi vida, S. 266f. 33 Thomas Bremer: »›Siempre he actuado en mi vida más bien impulsada y guiada por mis sentimientos‹. — Evitas ›La razón de mi vida‹: ein peronistischer Kampftext in Selbstinszenierung und Rezeption«, in: Anne-Berenike Rothstein/Pere Joan Tous (Hg.), »Evita vive«. Estudios literarios y culturales sobre Eva Perón, Berlin: Edition Tranvia – Verlag Walter Frey 2013, S. 73-94.

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gung durch die Massen, die an den 17. Oktober 1945 erinnerte, hatte sich Eva Perón am 22. August noch feiern lassen und ihre Fans für ein paar Tage in der Illusion gelassen, dieses Amt antreten zu wollen. Die Feiern waren ein populistischer Versuch gewesen, den Anhängern das Versprechen bedingungsloser Loyalität zu ihrer Führungselite abzuringen. Zudem wusste die First Lady bereits, dass sie schwer erkrankt sein musste. Die folgenden Monate bis zu ihrem Tod waren von einigen wenigen Reden und Artikeln geprägt, die in altbewährter Manier die Oligarchie verdammten, die Descamisados priesen und zur politischen Treue ermahnten. Die Reden wurden aggressiver im Ton, enthielten biblische Motive, spiegelten den Fanatismus wider, den sie sich selbst zuschrieb. Der 17. Oktober 1951 war ihr gewidmet. Im Juni 1952 verlieh ihr der Kongress den Titel »Spirituelle Führerin der Nation«. Einen Monat später, am 26. Juli, verstarb die 33jährige. Monatelang sollten die Radiosender ihr Programm noch um 20:25 Uhr unterbrechen und ankündigen, dass Evita in jener Minute unsterblich geworden sei. Die Totenwache und der Transport des Körpers in den Kongress und danach in das Gebäude der Gewerkschaft waren ebenfalls ein meisterhaft inszeniertes Trauerspektakel; für die Opposition des Regimes war es ein Symbol für Volksverführung. Im Gewerkschaftsbund hatte der Arzt und Präparator Pedro Ara sein Labor eingerichtet, um die Tote kunstvoll und in einem langwierigen Prozess einzubalsamieren. Somit hatte Eva Peróns Leichnam eine dritte Bedeutung erlangt. Neben dem natürlichen und politischen Körper, wie ihn Ernst Kantorowicz definierte, war sie nun auch ein corpus mysticum, dessen sterbliche Überreste zu kostbar waren, um sie dem Verfall preiszugeben. So war ihr Körper intakt und fror die Erinnerung an die guten Jahre gleichsam ein. Der Vatikan erhielt in jenen Monaten Tausende von Briefen, deren Autoren die Heldin zur Seligsprechung vorschlugen. Doch der Papst ging auf diese Wünsche nicht ein. Juan Perón hatte inzwischen eine Devotionalien-Maschinerie in Gang setzen und mit Zeremonien verbinden lassen. Dazu gehörten Gedenkmarken, Gedenkminuten, Heiligenbilder und Schulbücher. Das Fundament für das größte Mausoleum, das Argentinien je gesehen hatte, wurde ausgehoben. Das größte Denkmal der Welt sollte es werden, mit 14 Aufzügen versehen und einer Statue des Descamisado bekrönt, die sogar die Freiheitsstatue in New York um das Zweifache überragen wollte. Der 137 Meter hohe Descamisado sollte die Reisenden und Einwanderer gleichsam begrüßen, die sich Buenos Aires über das Delta des Rio de la Plata näherten. Im Mausoleum würde Evita in einem Silbersarg ruhen. Die Arbeiten daran kamen allerdings nicht voran. Zum einen war die Wirtschaftskri-

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se schuld, zum anderen wohl die Überlegung Juan Peróns, den Evita-Kult zwar am Köcheln zu halten, doch ihren Ruhm nicht über den seinen zu stellen.34 1953 erschien noch ein Schulbuch für die Grundschule, das Historikern als gutes Beispiel dafür dient, wie ein Staat seine kleinen Bürgerinnen und Bürger indoktriniert. Neben Bildern der argentinischen Nationalsymbole, neben Erzählungen von geschichtsmächtigen Helden und herausragenden Leistungen des Landes dominieren dort Bilder von Eva Perón. Sie ist Landesmutter, »Märtyrerin der Arbeit«, und »spirituelle Mutter der Kinder, Alten und Armen des Vaterlandes«. Auf einer Seite werden die Eltern der Nation den leiblichen Eltern gleichgestellt: »Mamá y papá me aman. Perón y Evita, nos aman«. Auf einer anderen Seite werden die Kinder ermahnt, Evita in ihr Abendgebet einzuschließen, die vom Himmel auf sie herabsehe. Selbst in Gedichtform wird die berühmte Verstorbene gepackt: »Unser Vaterland ist ein kleines Nest, unser Vaterland ist ein Heim [...] die kleinen Kinder, die kleinen Geschwister. Und Evita ist die Mutter!«35 In einem anderen Schulbuch wird mit Eva Perón lesen gelernt. Auf einer Doppelseite wird das ›m‹ für mamá gelehrt. Zu Mamá gesellen sich Ema, die lesen lernt und Eva (Perón), die postmortal über Mamá und Ema wacht.36 Als ehemalige Geliebte Peróns und als kinderlose Frau gelang Evita die Hochstilisierung zur Mutter der Nation, zur Marienikone, die auf Kinder verzichtet habe, um sich für die Kinder der Nation aufzuopfern. Solcherart fand sie Eingang in Gebetstexte als zweite Muttergottes: »Evita: ich verspreche Dir, so gut zu sein wie Du es erwartest, Gott zu respektieren, mein Vaterland und General Perón zu lieben, zu lernen und für alle das Kind zu sein, das Du Dir erträumst: gesund, fröhlich, gut erzogen und reinen Herzens.«37 Die Kinder des Peronismus verlangten dann in den späten 1960er Jahren den Leichnam ihrer Heldin zurück. Einige wurden montoneros, peronistische Untergrundkämpfer gegen die Diktatur, in der sie lebten. Denn nachdem Perón 1955 ins Exil verbannt worden war, musste auch der Leichnam seiner verstorbenen Frau das Land verlassen. Man wollte den Peronisten keine Stätte der Verehrung geben. Eva Perón wurde in einer geheimen Mission nach Mailand überführt, dort in einem Friedhof unter falschem Namen bestattet, um erst im Jahre 1971 exhumiert, nach Madrid, dem Exilort Peróns, gebracht um schließlich drei Jahre spä-

34 Vgl. A. Ballent: Unforgettable Kitsch, S. 162-164. 35 Albornoz de Videla, Graciela: Evita. Libro de Primer Grado, Ed. Buenos Aires : Editorial Luis Lasserre (o.J.), S. 10f.; S. 26,;S. 32; S. 75. 36 Siehe Illustrationen aus dem Buch Privilegiados. Zit. nach M.H. Capelato: Multidões em Cena, S. 90f. 37 Marysa Navarro: Evita, Buenos Aires: Planeta 1994, S. 339.

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ter nach Argentinien überführt zu werden. 1976 wurde Eva Perón im Grab der Familie Duarte am Friedhof von La Recoleta bestattet, wo sie noch heute ruht.

ABSCHLIESSENDE Ü BERLEGUNGEN Vermutlich hat sich kaum ein Präsidentenpaar in jenen Jahren auf diese Art inszeniert, indem es das vermeintlich Private zur Schau stellte und der Präsidentengattin in der Politik so viel Macht zukommen ließ. Besonders erstaunlich war im argentinischen Kontext, dass der Präsident gleichzeitig ein hochrangiger Militär war. Europäische linke wie rechte Diktatoren der 1930er und 1940er Jahre wie die Sowjetunion, Hitler-Deutschland, Mussolini-Italien, Spanien unter Franco, Portugal unter Salazar, das Jugoslawien unter Tito etc.) hätten Frauen nicht diese Position eingeräumt. Auch die französische Republik, die zwar mit dem Begriff des Egalitären arbeitet, inszenierte ihre höchsten Ämter distanziert und fast monarchisch. In Monarchien regieren zwar immer wieder Frauen, aber es regiert kein Ehepaar quasi gleichrangig. Der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt nützte ebenfalls die Macht der Bilder und der Inszenierung. Da er gelähmt war, hatte er freilich imagologisch viele Szenen und Momente seines Politikerlebens auszublenden, damit er die Rolle erfüllen konnte, die dem Image des demokratischen Politikers der 1940er Jahre entsprach. Seine von ihm getrennt lebende Ehefrau Eleanor Roosevelt agierte als unabhängige Politikerin in einer Nation, die bereits das Frauenwahlrecht durchgesetzt und Frauen größere politische Möglichkeiten eingeräumt hatte. Außerdem waren das Ehepaar Roosevelt und ihr brasilianischer Kollege Getúlio Vargas, der ein populistischer Diktator war, wesentlich intellektuellere Persönlichkeiten, die Privates und Politisches auch imagologisch stärker voneinander trennten und ihre Macht nie in solcher Weise auf quasi-religiöse Masseninszenierung aufbauten. Getúlio Vargas’ Gattin Darcy war überdies die klassische First Lady der Charity-Galas. Ihr wurde politisch nicht dieser Raum gegeben, wie ihn Juan Perón seiner Ehefrau Evita gab. Das Argentinien der Nachkriegszeit war eine Zeit lang der wohlhabendste Staat im Süden der Hemisphäre, für ein paar Jahre eines der reichsten Länder der Welt. Es hatte die größte Zeitungs- und Hörfunk-Dichte Lateinamerikas. Durch die Sozialpolitik konnten Programme einer nachholenden Moderne gut greifen. Dazu gehörte auch der Gebrauch der jeweils modernsten Medien, die Bilder nicht nur ständig verbreiteten, sondern auch nur solche Images zirkulieren ließen, die das System als kohärentes darstellten, als eine Nation mit einem einheit-

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lichen ›Wir-Gefühl‹. Mit dieser Kontrolle versuchte der Peronismus das Abweichende, Andere auszublenden. Außergewöhnlich war auch, dass die First Lady eine solch postmortale Verehrung erfuhr und nicht der Präsident selbst. Damit ist der Evita-Kult einer der wenigen weltweit, der nicht von einer Persönlichkeit ausging, die die höchsten Staatsämter bekleidete. Zwar wurde sie von vielen als Werkzeug Peróns angesehen, und diskursiv stilisierte sie sich als solches. Doch im Laufe der Jahre verselbständigte sich diese Rolle. Gerade mit ihrer Autobiographie gelang es ihr, den politischen Körper der Evita, ihr sozialpolitisches Engagement, als wahre Berufung zu legitimieren. Mit der postmortalen Heldenverehrung wurde der dritte Körper, der corpus mysticum, konstruiert. Er bietet eine weitere Projektionsfläche des Mythos, der immer wieder neu erzählt wird. Die aus der Unterschicht stammende Eva Perón glaubte zweifellos, für ihr ›neues Argentinien‹ zumindest zwei heterogene Welten zu verbinden. Da sie diese durch karitativen Aktionismus und Macht über Imagologien autoritär zu verbinden trachtete, erreichte sie auf der innenpolitischen Ebene das genaue Gegenteil. Denn der Peronismus überwand nie ideologische Gräben, hingegen bereitete er den Boden für künftige Militärdiktaturen. Dass sie mehrere Rollen als Show der permanenten Selbstvermarktung verkörpere, warfen ihr die Gegner vor. Selbst in ihrer Autobiographie spielte sie mit den Performances unterschiedlicher Rollen und legitimierte sie. Eva Perón goss diese Konstruktionen von Weiblichkeit in ein Narrativ der biographischen Entwicklung, bot ihren Gegnern Rechtfertigung für die Rollen der Repräsentation an und versah ihre ›authentische‹ Rolle als Evita mit dem Anspruch der irdischen Auserwähltheit: »Ist es nicht immer leichter, eine Rolle im Theater zu spielen, als sie in der Wirklichkeit zu leben? Und in meinem Fall trifft es zu, dass ich als Eva Peron eine alte Rolle spiele, die andere Frauen in allen Zeiten schon dargestellt haben; aber als ›Evita‹ lebe ich in einer Wirklichkeit, die vielleicht noch keine einzige Frau in der Geschichte der Menschheit gelebt hat.«38

38 Eva Perón: La razón de mi vida. Buenos Aires: Peuser 1951, S. 94.

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L ITERATUR Albornoz de Videla, Graciela: Evita. Libro de Primer Grado, Ed. Buenos Aires: Editorial Luis Lasserre (o.J.). Arnold, Sabine R./Fuhrmeister, Christian/Schiller, Dietmar (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien/Köln/ Weimar: Böhlau Verlag 1998. Ballent, Anahi: »Unforgettable Kitsch. Images around Eva Perón«, in: Matthew B. Karush/Oscar Chamosa (Hg.), The New Cultural History of Peronism, Durham/London: Duke University Press, 2010, S.143-170. Bremer, Thomas: »›Siempre he actuado en mi vida más bien impulsada y guiada por mis sentimientos‹. – Evitas ›La razón de mi vida‹: ein peronistischer Kampftext in Selbstinszenierung und Rezeption«, in: Anne-Berenike Rothstein/Pere Joan Tous (Hg.), »Evita vive«. Estudios literarios y cultura-les sobre Eva Perón, Berlin: Edition Tranvia – Verlag Walter Frey 2013, S. 7394. Capelato, Maria Helena: Multidões em Cena. Propaganda política no Varguismo e no Peronismo, Campinas: Papirus 1998. Castagnola, Gustavo: »The Fashion of Politics. Argentina from the 1940s to the 2000s«, in: Ästhetik des Politischen (= Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften) 15 (2004) 3, S. 7-21. Domínguez, Nora: »Los rostros de Eva Perón«, in: Clauda Soria/Paola Cortés Rocca/Edgardo Dieleke (Hg.), Políticas del Sentimento. El peronismo y la construcción de la Argentina moderna, Buenos Aires: prometeo libros 2010, S. 129-142. Eickhoff, Georg: Das Charisma der Caudillos. Cárdenas, Franco, Perón, Frankfurt a. M.: Vervuert 1999. Elia, Tomás de/Queiroz, Juan Pablo: Evita. El retrato de su vida, Buenos Aires/New York: Brambila, Rizzoli 1997. Eloy Martinez, Tomás: Santa Evita. Roman, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995. Fraser, Nicholas/Navarro, Marysa: Evita. The real life of Eva Perón, New York/London: W.W. Norton & Company 1996. Healey, Mark A.: The Ruins of the New Argentina. Peronism and the Remaking of San Juan after the 1944 Earthquake, Durham/London: Duke University Press 2011. Hein-Kircher, Heidi: »Social Master Narratives: Romanticisation and functionalisation of personalities and events through political myths«, in: AnneBerenike Rothstein/Pere Joan Tous (Hg.), »Evita vive«. Estudios literarios y

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Live and let die – Horror und Herrlichkeit in der Repräsentation des haitianischen président à vie François Duvalier P ATRICK E SER

1. E INLEITUNG Es gibt einen James Bond-Film – ein Sub-Genre, das immer wieder als zuverlässiges Medium der Verlautbarung und Modellierung der jeweils aktuellen Feindbilder der freien, westlichen Welt gelten kann –, der sich mit dunklen Machenschaften eines Potentaten auf der fiktiven Karibikinsel San Monique auseinandersetzt. Live and let die kam 1973 in die Kinos und kann durchaus als ein Reflex auf die Diktatur François Duvaliers, der Haiti von 1957 bis 1971 regierte, gesehen werden. Der Schurke dieser James Bond-Episode ist Kanaga, der Herrscher von San Monique, der dort, abgeschirmt durch das abschreckende Wirken und die Magie des Voodoo-Priesters Baron Samedi, eine Drogenplantage betreibt, deren Produkte durch Kanagas alter ego, Mr. Big, in den USA vertrieben werden. In dem Film wird ein System evoziert, das einige Charakteristika trägt, die der Herrschaftspraxis und -repräsentation Duvaliers eigen waren: die mit keinem Wimperzucken über Leichen gehende Gewalt gegen mögliche Konkurrenten und Widersacher, ein verbrecherisches Systems, das die individuelle Bereicherung zum Ziel hat und schließlich die Absicherung der autokratischen Herrschaft des schwarzen Potentaten der Karibikinsel durch die Magie des Voodoo. Das Feindbild von James Bond stellt in dieser Episode ein verbrecherisches ökonomisches und politisches System dar, an dessen Spitze eine (oder zwei?) schwer zu fassende Figur(en) stehen, die ihr kriminelles System durch die zauberhaften Verschleierungswirkungen des Voodoo ummanteln. Es wäre naiv, in dem von Live and let die evozierten verbrecherischen Regime und Gegner des aufklärerischen Kampfes von James Bond mehr als eine

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Anspielung auf die Diktatur Duvaliers, eines Regimes, das nicht zuletzt lange Zeit auch von den ›Mächten der freien Welt‹ und den USA unterstützt wurde, zu sehen. Den narrativen Gepflogenheiten des James-Band-Subgenres folgend, haben wir es mit einer über-stereotypisierten Feindbildkonstruktion zu tun, das skizzierte Kanaga-Regime auf San Monique ist gekennzeichnet durch einen von Exotismus geprägten Blick auf ein ›Entwicklungsland‹ oder eine ›Bananenrepublik‹, deren verbrecherische Züge verschleiert werden durch die schwarze Magie des Voodoo, und steht damit zweifelsohne in der Tradition kolonialistischer Imaginarien des Westens gegenüber der stets als Bedrohung wahrgenommenen ›Sklavenrepublik‹. Der Titel des Films, der eine Art von Schurkenherrschaft1 skizziert, Live and let die, könnte die englische Übersetzung der Wendung sein, die Michel Foucault zur Kennzeichnung seiner Überlegungen über die Bio-Macht geprägt hat: Leben machen und sterben lassen.2 Der Vergleich des Titels eines Agentenfilms, in dem James Bond es mit dem Schurken eines ›exotisch‹ anmutenden, übermächtigen Tyrannen einer Karibikinsel zu tun hat, mit einem Schlagwort aus dem Kontext von Foucaults machttheoretischen Studien verwundert um so mehr, da Letztere sich doch eher um die Mikrotechniken der Macht und weniger um das Problem der Souveränität, oder gar um jenes diktatorischer Regime drehen; war es doch eher das Interesse Foucaults, die Feinmechanismen der Macht- und Subjektivierungstechniken jenseits des ›politischen Überbaus‹ zu untersuchen, so dass er die Devise ausgab, man solle »dem König den Kopf ab[zu]schlagen«3, was in der politischen Theorie bislang versäumt worden sei. Der Brückenschlag zwischen dem, wenn auch sehr stereotyp modellierten Phänomen und der Foucault’schen Biomacht-Konzeption liegt dennoch nahe, da Foucault den Gedankengang seiner Vorlesung zur Bio-Politik im Jahr 1975/76

1

In der Romanvorlage des Film von Ian Flemming war noch der im Kalten Krieg klassische Schurke, nämlich die Russen/der Russe das zentrale Feindbild, das in der Verfilmung durch die Figur des doppelten Schurken Kananga/Mr. Big ersetzt wurde. Der Begriff Schurke(-nherrschaft) sollte erst später zu seinem historischen Recht kommen; vgl. Derrida, Jacques: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006.

2

Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 282-311, inbes. S. 284 ff.

3

Foucault, Michel/Fontana, A./Pasquino, P.: »1976: Gespräch mit Michel Foucault«, in: Daniel Defert/François Ewald (Hg.), Michel Foucault: Schriften, Band III., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003, S. 200.

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aus aktuellem Anlass eines »kleinen und freudigen Ereignisses«4, des Todes Francisco Francos, unterbricht, um eine Verbindung seiner machttheoretischen Ausführungen zu diktatorialen Systemen herzustellen. Franco war für Foucault derjenige, »der das souveräne Recht über Leben und Tod in der Ihnen bekannten Grausamkeit ausgeübt hat, der blutigste aller Diktatoren, der das souveräne Recht über Leben und Tod vierzig Jahre lang hatte absolut herrschen lassen und zum Zeitpunkt seines eigenen Todes dieses neue Feld der Macht über das Leben betritt« 5.

Am Tod des Diktators, dessen endgültiges Eintreten von einem hochspezialisierten Ärzteteam immer wieder durch medizinische Interventionen aufgeschoben wurde, verschränken sich symbolisch verdichtet die Mechanismen der alten Souveränitätsmacht, die Francos Regime auf brutale Weise verkörperte, und die der Bio-Macht, die »nicht nur darin besteht, das Leben zu ermöglichen oder leben zu machen, sondern das Individuum sogar jenseits des Todes leben zu machen«6. An anderer Stelle verhandelt Foucault wiederum die Figur des Diktators oder Despoten, um die Frage der politischen Repräsentation zu thematisieren. Er führt hierzu die Figur des Ubu ein, die Alfred Jarry in seinem Theaterstück Ubu roi entworfen hatte, um anhand dieser Figur groteske Formen von Macht und Souveränität darzustellen. Die Groteske macht Foucault in der Disqualifizierung des Potentaten oder dessen entstellenden Präsentation als groteskes Wesen aus, die die Macht- und Repräsentationseffekte sogar noch potenzieren könnten.7 Auch wenn die Groteske in der Herrschaftsinszenierung von François Duvalier, die in den folgenden Ausführungen untersucht werden soll, nicht im Vordergrund stand, sondern vielmehr magische Züge, die eine zauberhafte Mischung aus Horror und Herrlichkeit darstellten, ist die Bezeichnung Duvaliers als Ubu des Caraïbes geläufig.8 Duvalier hatte sein Regime mit außergewöhnlichen Repräsentationsstrategien versehen, was ihm und dem Regime, das er verkörperte, einen

4

M. Foucault: Verteidigung, S. 293.

5

Ebd.

6

Ebd.

7

Foucault, Michel: Die Anormalen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007, S. 13.

8

So zuletzt im Diktatorenroman Les ténèbres extérieures von Raphaël Confiant, der sich mit der Duvalier-Diktatur kritisch auseinandersetzt setzt: »le régime de celui qu’il avait qualifié un jour d’›Ubu des Caraïbe‹«; vgl. Confiant, Raphaël: Les ténèbres extérieures, Paris: Écriture 2008, S. 149.

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bunten Strauß weiterer Fremdbezeichnungen, Charakterisierungen und labels einbrachte: »Voodoo Dictator«, »creol fascism«, »totalitarianism«, »despotism«, »predatory state«9 oder auch »third world tyranny«10. In der folgenden Untersuchung soll der außergewöhnlichen, ja ubuesken Repräsentationsstrategie des Duvalier’schen Regimes nachgegangen werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Inszenierung des Diktatorenkörpers gelegt wird. Dabei gilt es, das soziale und politische Imaginäre zu rekonstruieren, insbesondere die Figurationen von Herrschaft und Bilder des Potentaten, die darauf abzielen, den kontingenten Tatbestand, Herrschaft über große Bevölkerungen auszuüben, zu naturalisieren, d.h. den Unterwerfungszusammenhang als etwas Natürliches, als dem geschichtlichen Verlauf und politischen Widerstreit Enthobenes darzustellen und zu plausibilisieren. Narrative Konstruktionen, politische Fiktionen, Legitimationsstrategien sowie visuelle Inszenierungspraktiken stellen die symbolische Dimension von Macht dar, die die doxa konstituiert, die laut Bourdieu »jene stumme Erfahrung der Welt als einer selbstverständlichen«11 bewirkt und auf nahezu lautlose, zumindest unwidersprochene Weise das Problem der Legitimität der Herrschaft dauerhaft zu lösen verspricht. Wie und durch welche ideologischen und symbolischen Ressourcen konnte Duvalier den Glauben verbreiten, die politische Macht und Gesellschaft Haitis zu repräsentieren oder sogar zu verkörpern?

2. C HARISMATISIERUNG DES L ANDARZTES – G ENESE VON P APA D OC François Duvalier wurde am 14.04.1907 als Sohn einer Familie der unteren Mittelschicht in Port-au-Prince geboren. Er genoss eine höhere Schulausbildung und hatte u. a. den renommierten Schriftsteller Jean Price-Mars sowie Dumarsais Estimé, den späteren Präsidenten (1941-1946), zum Lehrer. Duvalier wurde

9

Vgl. Laguerre, Michel S.: Urban Life in the Caribbean. A Study of a Haitian Urban Community, Cambridge: Schenkman 1982, S. 103.

10 Clark, Michael T.: »Twenty Preliminary Propositions for a Critical History of International Statecraft in Haiti«, in: The Latin American subaltern Studies Reader, hg. v. Ilinea Rodríguez, Durham: Duke University Press 2001, S. 250. 11 Bourdieu, zit. n. Wayand, Gerhard: »Pierre Bourdieu: Das Schweigen der Doxa aufbrechen«, in: Peter Imbusch (Hg.), Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftlichen Konzeptionen und Theorien, Opladen: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1998, S. 228.

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stark von Price-Mars beeinflusst, der als Kopf des so genannten haitianischen indigénisme galt und sich für die Zurückwendung auf die ›eigene‹ haitianische Kultur und afrikanischen Wurzeln aussprach.12 Das Schaffen von Price-Mars, der mit dem Essayband Ainsi parla l’oncle (1928) das Werk des indigénisme verfasst hatte, dreht sich um den Stellenwert der haitianischen Kultur, behauptet den Status des Voodoo als authentische Religion der haitianischen Nation und betont den Wert der kreolischen Sprache sowie der schwarzen Kultur für das Land. Dabei kritisierte er die negative Einstellung der haitianischen Intellektuellen gegenüber der eigenen Kultur – eine Haltung, die er als bovarysme culturel kritisierte. Dieser bestehe in dem falschen Glauben der Haitianer, »schwarze Franzosen« sein zu wollen: »au fur et à mesure que nous nous efforcions de nous croire des Français ›colorés‹, nous désapprenions à être des Haïtiens tout court«13. Dementgegen seien die wahrhaft indigenen und afrikanischen Eigenschaften, wie Sprache, Sitten und Glaubensvorstellungen zu pflegen, auch wenn sie von den nationalen Eliten zurückgewiesen würden. Das Denken von Price-Mars war von herausragender Bedeutung für die intellektuelle Entwicklung des jungen Duvalier, für den später die Vorstellung eines ›authentischen Haitis‹, verstanden als symbiotisch mit Voodoo, dem Kreol und der schwarzen Identität verbunden, zentral werden sollte.14 Duvalier studierte nach seiner schulischen Ausbildung Medizin und befreundete sich mit Lorimer Denis an, der sich ebenfalls stark für den Voodoo-Kult interessierte und diesen als ›spirituelle Essenz‹ Haitis verstand. In den 1930er Jahren veröffentlichten beide gemeinsam zahlreiche Artikel, in denen sie in Abgrenzung zur damals vorherrschenden geistigen Ausrichtung nach Paris und Orientierung an der französischen Kultur die Schaffung einer eigenständigen kulturellen Persönlichkeit Haitis propagierten.15 Duvalier war 1938 Mitbegründer der Intellektuellenzeit-

12 Die indigenistische Kulturströmung entstand als Gegenreaktion auf die Besatzung Haitis durch die USA (1915-1934); sowohl die literarische und die ethnographische Beschäftigung mit dem Voodoo nahm zu dieser Zeit zu, nicht zuletzt als antikolonialistische Antwort auf den Diskurs der US-Besatzer, die den Voodoo als Ausweis der Rückständigkeit Haitis benutzten, um ihre Besatzung zu rechtfertigen. Vgl. Fleischmann, Ulrich: Ideologie und Wirklichkeit in der Literatur Haitis, Berlin: Colloquium-Verlag 1969, S. 63 f. 13 Zit. n. Laroche, Maximilien: L’avènement de la littérature haïtienne, Québec: GRELCA 1987, S. 106 f. 14 Vgl. Johnson, Paul C.: »Secretism and the Apotheosis of Duvalier«, in: Journal of the American Academy of Religion June 2006, Vol. 74, No. 2, S. 427. 15 Vgl. U. Fleischmann: Ideologie, S. 64 ff.

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schrift Les Griots, die sich gegen die eurozentristische Hegemonie richtete und für eine avantgardistische Nationalliteratur eintrat. Duvalier und Denis stehen für eine neue Generation junger Intellektueller, die dem eher ›ethnologischen‹ Interesse des indigénisme eine verstärkt politische Konturierung gab.16 Les Griots kann als zentrales Organ der Strömung des noirisme gelten, der das afrikanische Erbe Haitis nach jahrhundertelanger Unterdrückung anzuerkennen und zu fördern bestrebt war. Duvalier wurde 1942 Mitarbeiter des neu gegründeten ethnologischen Forschungsinstituts Bureau d’Ethnologie, in dem er Feldforschungen über den Voodoo anstellte und zahlreiche Kontakte in die Welt des Voodoo knüpfte. Seine Vorstellung, dass das haitianische Hinterland Herz und Seele Haitis darstelle, bestätigte sich während dieser Studien. 1944 bekam er ein Stipendium für eine medizinische Fortbildung an der Universität von Michigan, wo er ausgebildet wurde, um die in Haiti grassierende Tropenkrankheit Frambösie zu bekämpfen. 1945 kehrte Duvalier zurück und setzte sich unermüdlich in der medizinischen Bekämpfung der Frambösie im Hinterland Haitis ein. Dieser Einsatz machte ihn zu einer populären und von der Landbevölkerung verehrten Person und brachte ihm den Spitznamen »Papa Doc« ein. Duvalier wurde 1948 von dem neu gewählten Präsidenten Estimé, seinem ehemaligen Lehrer, zum Direktor für öffentliche Gesundheit ernannt, 1949 wurde er sogar Minister für Öffentliche Gesundheit und Arbeit. Die Regierung des gebildeten Schwarzen Estimés wurde von Intellektuellen aus dem Umfeld des noirisme unterstützt, da Estimé sich anschickte, den Einfluss der dominanten mulattischen Oberschicht zurückzudrängen und eine neue politische Integrität Haitis auf der Basis der kulturellen Authentizität und der Dominanz der schwarzen Kultur zu errichten. Die von Estimé verkörperte »Revolution von 1946«, die von einem breiten Bündnis aus Marxisten, Liberalen, noiristes sowie einer radikalisierten Generation von Heranwachsenden getragen wurde fand 1950 in einem Militärputsch ihr Ende.17 Duvalier zog sich als Mitglied der von der Macht geputschten Regierung ins Private zurück, pflegte und intensivierte Kontakte zu politischen Bündnispartnern und ging während des zunehmend repressiven werdenden neuen Regimes unter dem Präsidenten Paul Magloire in den Untergrund, wo er sich dem Studium politischer Literatur u. a. dem Principe von Niccolò Machiavelli widmete.18 Nach dem Sturz Magloires im

16 Vgl. Nicholls, David: From Dessalines to Duvalier. Race, Colour and National Independence in Haiti, Cambridge: Camebridge University Press 1979, S. 168 ff. 17 Vgl. D. Nicholls: Dessalines, S. 183 ff. 18 Vgl. Danner, Mark: Stripping bar the body. Politics Violence War, New York: Nation Books 2009, S. 64.

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Dezember 1956 und einer ausgedehnten politischen Krise, in deren Verlauf sich eine parenthèse von Manipulation, Putsch, Destabilisierung und ideologischer Fragmentierung vollzog, wurden für September 1957 Neuwahlen ausgerufen. In der ausgedehnten Wahlkampfphase bewarb Duvalier seine Kandidatur mit dem Slogan der »prise de conscience racial« und präsentierte sich als Erbe und legitimer Nachfolger der geputschten Estimé-Regierung.19 Duvaliers vertrat ein dezidiert noiristisches Programm, das auf einen grundlegenden Wechsel abzielte und die politischen Hoffnungen eines Großteils der schwarzen marginalisierten Schichten ausdrückte. Fußend auf seinem Renommee als aufopferungsvoll Seuchen bekämpfender Landarzt und dem sozialen Kapitel der guten Beziehungen zu renommierten Voodoo-Priestern und als Kandidat, der eine starke Skepsis gegenüber der herrschenden Klasse der Mullatten-Bourgeoisie ausdrückte, erlebte Duvalier, dessen Auftreten kaum besonders beeindruckend war, während des Wahlkampfes einen starken Popularitätszuwachs. Am Beispiel Duvaliers bewahrheitet sich der Hinweis Pierre Bourdieus auf die soziale Bedingtheit der Funktionsweise des Charismas. Bourdieu hat darauf hingewiesen, dass das Vorhandensein vermeintlich objektiv vorliegender ›charismatischer Eigenschaften‹ keineswegs Garant für einen erfolgreichen Prozess der Charismatisierung ist, genauso wie die Abwesenheit solcher Eigenschaften nicht notwendigerweise bedeuten müsse, dass die entsprechende Person nicht doch zu einer charismatischen ›Führerfigur‹ avancieren kann. Es sei »endlich mit der Vorstellung zu brechen, wonach das Charisma eine der Natur eines einzelnen Individuums zugehörige Eigenschaft darstellt«20. Messias-Figuren tauchten stets in Krisenzeiten auf, »in denen der tiefe Wunsch nach einem politischen Wechsel herrschte«, somit seien erfolgreiche Propheten weniger »außeralltägliche Menschen« als vielmehr Menschen »außeralltäglicher Situationen«, denen es gelingt, in Ausnahme- und Krisensituationen erfolgreich einen prophetischen, häretischen Diskurs zu lancieren, um einen Bruch mit den vorherrschenden symbolischen Machtverhältnisse zu markieren.21 Genau dies gelang Duvalier im Kontext der politischen Turbulenzen mit seinem Programm der révolution nationale, das Versatzstücke der indigenistischen Wiederaufwertung der ›haitianischen‹ kulturellen Identität, der noiristischen Vorstellung der schwarzen Selbstbehauptung wie der nationalen Selbstbehauptung vereinte; ein prophetischer Diskurs, den er

19 Vgl. D. Nicholls: Dessalines, S. 210. 20 Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz: UVK 2000, S. 103. 21 P. Bourdieu. Feld, S. 103; Vgl. auch: G. Wayand: Schweigen.

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als Heilbringer zu verkörpern beanspruchte und der ihm den deutlichen Wahlsieg einbrachte.

3. H ORROR : K ONSOLIDIERUNG DES R EGIMES UND G RUNDZÜGE DER H ERRSCHAFTSPRAXIS Schon kurz nach der Wahl sah sich der neugewählte Präsident mit einer massiven Destabilisierungskampagne der Anhänger des unterlegenen Kandidaten Déjoie konfrontiert, die sich in Streiks und Anschlägen gegen Armeeposten ausdrückte. Wie der Duvalier nahe stehende Militär Gérard Constant betonte, war die neue Regierung konfrontiert mit »two years of permanent struggle [...] Conspiracy was permanent« – eine Herausforderung, die Duvalier vor die Optionen stellte, entweder die Grundlage einer dauerhaften Herrschaft zu legen oder schon nach kurzer Zeit zu scheitern.22 Auf Sabotage- und Destabilisierungsversuche reagierte Duvalier mit harter Hand, um die neue Regierung zu stabilisieren. Der Weg von der Konsolidierung des Duvalierisme23 zur Errichtung des autokratischen Duvalier-Regimes erfolgte zunächst über die sorgfältige Bekämpfung möglicher Oppositioneller und durch den Aufbau einer schlagkräftigen Privatarmee, die seine politische Herrschaft zu verteidigen im Stande war. Als dringendste Aufgabe erschien es Duvalier, diejenigen unschädlich zu machen, die den Wahlausgang nicht respektierten und entschlossen erschienen, gegen die neue Regierung zu putschen. Während die Konkurrenzkandidaten ins Exil gingen, wurden ihre Anhänger von den Militärs und Duvaliers privaten Kräften, den so genannten cagoulards, die ihm schon im Wahlkampf zur Seite standen, drangsaliert. Ein früher Putschversuch zeigte Duvalier, dass das Militär stets zu Intrigen und Umsturzplänen bereit war, so dass er sorgfältig alle Vorkehrmaßnahmen vorbereitete, um zu verhindern, dass er, wie einst schon Estimé, durch Militärs von der Macht geputscht würde. Er reinigte das Militär von potenziellen Rivalen und Gegnern und setzte sogar vormalige Unterstützer ab.24 Als weitere potenzielle Oppositionsfaktoren wurden die Arbeiterbewegung, die wegen der

22 Zit. n. M. Danner: Stripping, S. 67. 23 Die Unterscheidung zwischen »Duvalierism« als politische Ideologie und dem »Duvalier Phenomenon« als Versuch, die Ideologie des Duvalierismus in die Praxis umzusetzen, vorausgesetzt (vgl. Remy, Anselme: »The Duvalier Phenomenon«, in: Caribbean Studies, 1974, Vol. 14, Nr. 2, S. 46 ff.), liegt das Erkenntnisinteresse dieses Aufsatzes auf dem »Duvalier Phenomenon«. 24 D. Nicholls: Dessalines, S. 215 f.

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Repression spätestens seit 1960 handlungsunfähig war,25 sowie die katholische Kirche bekämpft – hier wandten sich die Maßnahmen vor allem gegen diejenigen Priester, die sich die Bekämpfung des Voodookultes auf die Fahnen geschrieben hatten. Zudem erweiterte Duvalier seine private Miliz, die cagoulards, und gründete sie als bewaffnete Zivilpolizeieinheit neu: es entstanden die so genannten Tontons Macoutes, die schon bald zum Symbol des Schreckens des Duvalier-Regimes werden sollten. Nachdem Duvalier sämtliche ernstzunehmende Gegenkräfte handlungsunfähig gemacht hatte, ist seit Beginn der 1960er Jahre die Entfaltung eines personalen, autokratischen Herrschaftsstils festzustellen. Im Jahr 1962 werden die Tontons Macoutes per Präsidentendekret unter der Bezeichnung »Volontaires de la Sécurité Nationale« offiziell institutionalisiert. Ein bedeutender Schritt hin zur irreversiblen Stabilisierung des diktatorischen Regimes ist die Verfassungsänderung von 1964, in deren Gefolge Duvalier sich als »président à vie«, d.h. als Präsident auf Lebenszeit küren lässt. Das entsprechende Referendum, das unter fragwürdigen Umständen durchgeführt wurde, bestätigte diesen Schritt und stellte in der Interpretation Duvaliers ein bedingungsloses Mandat dar.26 Die Investiturfeierlichkeiten zum »président à vie« am 22.6. können als Abschluss der Konsolidierung des Duvalier-Regimes angesehen werden. In der Folgezeit breitete sich in Regierungspublikationen sowie von der loyalen Presse unterstützt ein propagandistischer Diskurs zur Pflege eines Führerkultes um die Person des Papa Doc aus, die vom Regime kontrollierte Öffentlichkeit proklamierte nunmehr einhellig die »duvalieristische Revolution«. Die Konsolidierung war begleitet von dem flächendeckenden Ausbau eines Repressions- und Kontrollnetzwerks und der Sicherung des Präsidentenpalastes, des bevorzugten Aufenthaltsort Duvaliers. Fußend auf der durchaus nicht unrealistischen Furcht vor einem weiteren Putsch sorgte Duvalier durch den Aufbau einer Präsidentengarde dafür, dass das territoriale Zentrum der Diktatur, der Präsidentenpalast, von möglichen Bedrohungen abgeschirmt wurde. Die beeindruckenden Sicherheitsvorkehrungen umfassten die Installation von Flugabwehrgeschützen und das stete Patrouillieren der Präsidentengarde vor dem Palast, was die perfekte Abschirmung bzw. ›Panzerung‹ des Gebäudes, das Duvalier ohnehin nur selten zu verlassen pflegte, gewährleisten sollte.27

25 Ferguson, James: Papa Doc, Baby Doc. Haiti and the Duvaliers, Oxford: Blackwell 1987, S. 39. 26 Vgl. J. Ferguson: Papa Doc, S. 49. 27 In Les ténèbres extérieures wird ein eindringliches Porträt Duvaliers gezeichnet, nicht zuletzt auch durch die starke Ausleuchtung des Bewusstseins der Figur Duvalier. Der

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Kernstück des repressiven Staatsapparats und zentraler Faktor der Machtdemonstration Duvaliers waren die Truppen der Tontons Macoutes, die durch Straßenpräsenz, nächtliche Besuche bei (vermeintlichen) Oppositionellen sowie durch äußerst gewalttätiges Handeln schon bald in der Bevölkerung mit großer Furcht wahrgenommen wurden. Die Bezeichnung für Duvaliers Miliz hat einen kulturgeschichtlichen Hintergrund: Tonton Macoute ist eine in der haitianischen Kultur fest verankerte Figur, die für Kinder die dunkle Seite des Weihnachtsfests repräsentiert: War das Kind im vergangenen Jahr ein gutes Kind, bekommt es wundervolle Geschenke von Tonton Noël, im anderen Fall, wenn das Kind böse war, erscheint Tonton Macoute, der das Kind in seinen großen, schwarzen Sack steckt, es mit in die Nacht nimmt und verschwinden lässt. Die Figur des angsteinflößenden Butzemanns ist freilich keine auf die haitianische Kultur beschränkte Erscheinung, hat jedoch dort eine besondere starke Ausprägung erfahren.28 Die Bezeichnung bringt ihren sinnbildlichen Aspekt deutlich zum Ausdruck, repräsentierten die Tontons Macoutes doch stets Möglichkeit der Bedrohung und des Verschleppt-Werdens. Die Miliz, deren Mitglieder überwiegend aus den Armenvierteln von Port-au-Prince rekrutiert wurden29, bewegte sich in einem rechtsfreien Raum, ihre willkürlichen und teils unvorhersehbar auftretenden Repressionsmaßnahmen, die von Folter, Vergewaltigung, diebischer Bereicherung bis zu Mord reichten, blieben ungesühnt. Der Ausnahmezustand wurde zur Normalität und die Extremsituation zum Paradigma des Alltäglichen. Das Äußere der Tontons Macoutes prägte nachdrücklich deren Wahrnehmung in der Bevölkerung: dunkle Sonnenbrillen, paarweises Auftreten, Straßenpräsenz, gelangweiltes Spielen mit offen zur Schau getragenen Waffen. Auftreten und äußere Erscheinung stehen für die Irregularität der Staatsgewalt, die stets zuschlagen kann und permanente Bedrohung wie Terror ins Werk setzt. Das ostentative und machtbewusste Tragen von Feuerwaffen, die mit der magischen Potenz des unmittelbaren Tötenkönnens versehen sind, verlieh den Waffenträgern gesellschaftliche Anerkennung sowie eine unverhoffte Macht: »L’arme à feu, symbole de pouvoir, donne au macoute une représentation de soi comme

Leser beobachtet in zahlreichen Passagen den im Präsidentenpalast zurückgezogenen Diktator beim Nachdenken über den Lauf der Dinge. Neben der detaillierten Beschreibung des Figurenbewusstseins des fiktiven Duvaliers besticht die Erzählung durch die Darstellung des Interieur des Präsidentenpalastes. 28 Vgl. M. Danner: Stripping, S. 72. 29 Hurbon, Laënnec: Comprendre Haïti. Essai sur l’État, la nation, la culture, Paris: Karthala 1987, S. 13 f.

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pouvoir à l’état pur«30. Die starke Präsenz der Miliztruppen im öffentlichen Raum und der so genannte »macoutisme«31 verlängerte die Präsenz des Diktators und stellte das Rückgrat der faktischen politischen Macht des Regimes dar. Die faktische Beherrschung und Kontrolle des sozialen Raums sowie das Abschreckungspotenzial der Repressionskräfte wurden verstärkt durch gezieltes Streuen von Gerüchten, die von den Gräueltaten der Tontons Macoutes berichteten. Das gezielte Zirkulieren von Horrorgeschichten verweist auf ein komplexes Geflecht von Herrschaftsstrategien: die durch die ideologischen Staatsapparate konstituierte Erzählmacht des Regimes sorgte dafür, dass nicht nur die Faktizität der Gewaltausübung, sondern ihr Aufschub, die Drohung, und das in Zeichen gegossene Gewaltpotenzial die Macht des Staates konsolidierte. Die Macht unterdrückte nicht einfach nur, sondern spielte mit den Ängsten und Vorstellungen der Bevölkerung und kreierte immer wieder Bedrohungsszenarien, die das Eingreifen der Sicherheitskräfte zur Wiederherstellung der Ordnung erforderlich erscheinen ließ.32 Die Präsenz der macoutes war somit ein »un mode d’inscription du président comme le seul propriétaire légitime de la nation et de l’espace haïtiens«33. Als Repräsentanten der unbedingten Loyalität gegenüber dem System diente das Netzwerk des macoutisme als Transmissionsriemen der Präsenz des politischen Körpers Duvaliers, seiner symbolischen Präsenz in noch so abgelegenen Nischen des sozialen Raums und kollektiven Bewusstseins. Das engmaschig gestrickte Netz der politischen Kontrolle und des terreur diente der Diffusion sowohl von

30 L. Hurbon: Comprendre, S. 54. 31 Das Treiben der Tontons Macoutes ist bestens dokumentiert, mehrere wissenschaftliche Arbeiten aber auch pseudo-wissenschaftliche Divulgationsliteratur und Dokumentarfilme haben sich diesem offensichtlich mindestens so faszinierenden, wie abstoßendem Phänomen der Repression zugewandt. Auch seitens fiktionaler Literatur oder (dokumentar-)filmischen Schaffens wurden die Abgründe der Repressionspraxen, leider teils auch aus exotisierender oder sensationslüsterner Perspektive, thematisiert: Vgl. u. a. die Verfilmung des Romans The Comedians von Graham Greene, die Doku Papa Doc. The black sheep des britischen Journalisten Alan Whickers in der Reihe Whickers World (BBC) oder den Spielfilm L’homme sur les quais des haitianischen Filmemachers Raoul Peck. 32 Vgl. Scholz, Leander: »Symbolisierung des Todes«, in: ders./Harun Maye (Hg.), Einführung in die Kulturwissenschaft, München: Fink 2011, S. 249. 33 L. Hurbon: Comprendre, S. 14.

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Ehrfurcht und Angst, als auch der Ideologie des duvalierisme.34 Repressive wie ideologische Staatsapparate verschwimmen im Arrangement des duvalieristischen Staates. Duvalier hat die Bündelung der zentralen Herrschaftsfunktionen des ›Fürsten‹, die Louis Althusser im Anschluss an Niccolò Machiavelli und Antonio Gramsci feststellte, umzusetzen versucht, nämlich durch Verführung, Furcht und falschen Schein »die Bevölkerung zu gewinnen, indem er auf sie zugeht, dabei aber Abstand zu wahren weiß«35. Seine Inszenierung versuchte mehrere Zwecke zu erfüllen, die sich wiederum mit Althussers Interpretation des Principe beschreiben lassen: eine Gestalt annehmen, »die sich auf institutioneller Ebene Respekt verschafft, indem sie gut erscheint, und es, wenn möglich, auch ist, aber nur unter der absoluten Bedingung, niemals zu vergessen, wie man, wenn es sein muss, böse ist«36. Neben dem Horror waren Herrlichkeit und Populismus zentrale Aspekte des Herrscherbildes Duvaliers.

4. H ERRLICHKEIT : POPULISTISCHE ANRUFUNG UND DIE I NSZENIERUNG DES K ÖRPERS DER N ATION Duvalier war mit einem ausdefinierten Programm zu den Wahlen angetreten, den Bruch, den er durch seine révolution nationale mit der Suprematie der mullattischen politischen Elite herbeiführen wollte, sollte durch einen tiefgreifenden Mentalitätswandel begleitet werden: »Le problème haïtien nous paraît avant tout un problème culturel. Et sa solution ne peut résider que dans une réforme intégrale de la mentalité haïtienne«37. Seinem Selbstbild zufolge fühlte Duvalier sich dazu auserkoren, die historische Mission der geistigen Neugründung Haitis anzuführen. Bei den Investiturfeierlichkeiten zum président à vie ließ Duvalier sich den Titel des Leader incontestable de la révolution, Apôtre de l’Unité Nationale, Digne Héritier des Fondateurs de la Patrie geben. Die Untersuchung seiner Schriften erhärtet den Eindruck, dass Duvalier tatsächlich fest von seiner »historischen Mission« überzeugt war: »he felt strongly that he was the Messiah and that his mission was to save the country from elite interests and to give the

34 Die Verstärkung der Abschreckungswirkung durch das symbolische Potenzial des Voodoo wird im 6. Abschnitt eingehend thematisiert. 35 Althusser, Louis: »Der Unterstrom des Materialismus der Begegnung«, in: ders: Materialismus der Begegnung, Zürich: Diaphanes 2010, S. 26. 36 Ebd., S. 27. 37 Duvalier, Francois: Oeuvres Essentielles, Vol 1: Éléments d’Une Doctrine, Port-auPrince: Presses nationales d’Haïti 1968, S. 297.

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power to the masses«38. Duvalier verstand sein Wirken als »mission sacrosainte« oder als Kreuzzug, was sich auch in seiner Selbstdarstellung als eines von göttlicher Verfügung Auserwählten niederschlug. Die seiner Megalomanie entspringende Messias-Imago wurde zur Grundlage der vom Regime propagandistisch inszenierten Messiansierung Duvaliers, die wesentlich in der Reklamation und Akklamation der göttlich legitimierten Autorität und der übernatürlichen Fähigkeiten Duvaliers bestand. Schon die offizielle Selbstbezeichnung Duvaliers als »Apostel« nimmt Bezug auf die spirituellen und religiösen Sinnsphären der christlichen Theologie. Ein Beispiel, an dem der starke Glaube an den missionarischen Auftrag Duvaliers sowie sein Auserwähltsein zum Ausdruck kommt, ist der 1964 veröffentlichte Catéchisme de la Révolution, in dem die unerschütterliche Dogmatik der Glaubenslehre des duvalierisme feierlich und mit messianistisch anmutender Revolutionsrhetorik verkündet wird. Dem messianischen Selbstbild Duvaliers entsprachen Referenzen auf Personen welthistorischer Relevanz, mit denen er sich verglich, wie z. B. Cäsar, Karl der Große und Napoleon. Neben diesen historischen Bezugnahmen waren identifizierende Anspielungen auf Christus geläufig gleichwohl in Wort und Bild präsent. Während auf rhetorischer Ebene das »Vater unser« abgewandelt und in »Notre Doc« umgewidmet wurde, bestand eine zentrale bildpolitische Intervention des Regimes in der Verbreitung von Abbildungen Duvaliers, die mit »Ecco homo«, dem Motto der Präsentation Jesu im Johannesevangelium, unterschrieben waren. Diese gleichsam als ›Staatsporträt‹ fungierende Präsentation von Jesus-Duvalier wie die anderen Manöver der Christomimesis39, in der sich der Herrscher als Nachahmer Christi sah und zeigte, zielten, wie zahlreiche weitere propagandistische Aktivitäten der ideologischen Staatsapparate, darauf ab, die alltägliche und kontinuierliche Reproduktion der Autorität Duvaliers unter den Bedingungen seiner Abwesenheit zu gewährleisten. Ein weiterer bedeutender Aspekt des Einbezugs Duvaliers in das symbolische Gefüge der politischen Repräsentation besteht in der nationalistischen Ideo-

38 Laguerre: Urban, S. 102. 39 Giesey, Ralph E.: »Was für zwei Körper?«, in: Ernst Hartwig Kantorowicz. Geschichtsschreiber. Tumult – Schriften zur Verkehrswissenschaft, Nr. 16, S. 82. Der Spiegel kommentierte eine ähnliche Aktion in einer kurzen Pressenotiz wie folgt: »François Duvalier, 58, farbiger Diktator des Antillenstaates Haiti, ließ in der Hauptstadt Port-au-Prince Plakate anbringen, auf denen er und Jesus abgebildet sind. Der Religionsstifter hat einen Arm um die Schultern des Staatschefs gelegt und verkündet den Duvalier-Untertanen: Ich habe ihn erwählt« (Der Spiegel, Nr. 22 vom 26.05.1965, S. 144).

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logie des duvalierisme, die den historischen Auftrag und die Rolle des Messias vor dem Hintergrund der nationalen Selbstbehauptung kodiert. Duvalier brachte das in seiner geläufigen Verwendungsweise nicht auf Diktaturen reduzierbare Repräsentationsmodell der personifizierenden Identifikation mit nationalen Kollektiven zur Anwendung. Duvalier wähnte und repräsentierte sich als die Verkörperung der haitianischen Nation. Nachts leuchtete vor dem Präsidentenpalast der Spruch »Je suis le drapeau haïtien, Une et Indivisible«. Die Darstellung der symbolischen Einheit des politischen Körpers Duvaliers und der Nation brachte in der Regierungspropaganda verschiedene bildliche und rhetorische Figurationen hervor. Eine der blumigsten Formulierungen präsentierte Duvalier als den einzigen legitimen Repräsentanten des Volkes und Haitis. »Je suis le marron farouche à la recherche des rayons purs du soleil radieux pour conduire le peuple noir d’Haïti vers plus de progrès et plus de bien-être«.40 Der Prozess der Transsubstantiation, in dem vom ›Ich‹ und Körper Duvaliers zum ›Wir‹ in einer Person und zum Körper der Nation übergegangen wird, hat Bourdieu mit dem Mechanismus der »charismatischen Illusion« bezeichnet, durch die Delegierte, Wortführer, Repräsentanten, Potentaten etc. eine Bedeutungsaufladung erfahren. Diese »wahre soziale Alchimie, die aus einem biologischen Individuum einen sozialen Körper macht«41, verwandelt den Repräsentanten einer sozialen Gruppe durch einen scheinbar wunderhaften Prozess zur wahrgenommenen Ver-Körperung der Gruppe: »Die Logik der Politik ist die der Magie oder, wenn man es vorzieht, des Fetischismus«42. Diese Wesensverwandlung und Transsubstantiation des politischen Körpers bedingte eine starke Identifizierung Duvaliers mit der Nation, mit der er gleichsam zu einer imaginierten Einheit verschmolz. Duvalier war sich der symbolischen Macht des Prinzips von Delegation und Repräsentation bewusst und machte sich die magische Identitätskonstruktion in seiner Selbstinszenierung als Führer des Volkes zu eigen. Duvalier verstand sich als Garant für das Wohlergehen seines Volkes und war bestrebt, sich in populistischer Manier von dem gewöhnlichen Politikertypus abzugrenzen. Er, der zu den Staatsaufgaben nicht als Berufspolitiker sondern als Intellektueller gekommen sei, sei, wie er im Vorwort zur hebräischen Ausgabe der Schrift Problème des classes à travers l’histoire als distinktionsstiftendes Merkmal betont, das Produkt der Volksmassen, in deren Namen er die ökonomischen und sozialen Ungleichheiten zu überwinden bestrebt ist.43 Die Distanzie-

40 F. Duvalier: Oeuvres, Vol. 1, p. 87. 41 G. Wayand: Bourdieu, S. 233. 42 P. Bourdieu 1993: , S. 57 f. 43 Vgl. M. S. Laguerre: Urban, S. 236.

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rung von gewöhnlichen Politikern wie auch von allem Politischen ermöglicht eine Selbstdarstellung als über den Dingen und Konflikten stehende Figur, die durch wundersame Weise die gesellschaftlichen Probleme zu lösen vermag. Dieses Verständnis von politischer Führung ist in Problème des classes... näher erläutert, wo er die Distanzierung von der traditionellen Politik als neue Form der »direkten Repräsentation« und politischen Problemlösung präsentiert: »Dénégation importante, car l’auteur se perçoit déjà au-dessus de la politique et de tous les politiciens, donc crédible et capable lui aussi, enfin, d’apporter la lumière sur cet affrontement entre deux classes et sur la question de couleur«44. Die Identität von Volk und Führer vorausgesetzt, war schließlich jeglicher Akt des Widerstands gegen Duvalier, den über den Antagonismen der Gesellschaft stehenden »pacificateur«, zugleich ein Akt gegen die haitianische Nation, wie warnende Plakate des Regimes nicht müde wurden zu betonen: »Vouloir détruire Duvalier, c’est vouloir détruire Haiti«. Einen besonderen Zug verleiht dieser populistischen Repräsentation und nationalistischen Substantiationslogik das Vater-image, das durch seinen sehr geläufigen Spitznamen Papa Doc ausgedrückt wurde. Die Relation des politischen Körpers der Nation zum Diktator wird somit neben der Logik der Substantiation und Ikonizität als Vaterschaftsbeziehung dargestellt. Der an der Spitze des Staates stehende Duvalier ist seinem Volk der Vater, der dessen Bestand und Fortkommen durch sein Handeln sichert. Diese Form der paternalistischen Inszenierung, die deutliche symbolische Anleihen an christlichen Vorstellungen des Vater-Gotts enthält, sollte den Eindruck der Mildtätigkeit des politischen Regimes wahrnehmbar machen. Nicht zuletzt proklamierte Duvalier sich selbst als »Staat« (État), »Flagge« (drapeau) und »Volk« (peuple) Haitis. Er verkörperte sowohl die administrative Dimension seiner Herrschaft wie er auch den aus der politischen Delegation heraus konstruierten politischen Körper repräsentierte, der als Ikone und populistische Repräsentation der Nation die kollektiven Affekte und politischen Leidenschaften der Bevölkerung zu bespielen verstand. Der Hang zur Selbstmystifizierung – Duvalier sprach von sich in dritter Person und bezeichnete selbst sich als »un grand mystique«, das den Geist der Nation in sich vereine –, das symbolische und identifikatorische Vermischen verschiedener politischer Körperkonzeptionen und die abundanten Bezugnahmen auf symbolische Formen der christlichen Theologie bestätigen die Vermutung, dass wir es bei der Selbstinszenierung des Diktators mit dem Versuch der Aktualisierung christologischer Körpervorstellungen und einer theokratischen, auf Christus bezogenen Form politischer Autorität zu tun haben. Nachdem die Fran-

44 Hurbon, Laënnec: Culture et dictature en Haïti, Paris: Henri Deschamps 1987, S. 90.

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zösische Revolution spätestens mit der Guillotinierung Ludwig XVI. das von Ernst Kantorowicz beschriebene Repräsentationsmodell der Zwei Körper des Königs zu seinem Ende führte und, wie Claude Lefort gezeigt hat, das »Band zwischen dem irdischen Körper des Königs und dem transzendenten Legitimationsort von Macht«45 zerrissen wurde, war der symbolische Ort der Macht zunächst disinkorporiert, was, wie Oliver Marchardt im Anschluss an Lefort betont, immer wieder moderne Re-Inkarnationsversuche hervorgerufen hatte, die versuchten, die entstandene autoritative Leerstelle zu füllen. Es wird im Folgenden die These formuliert, dass es sich im Fall des duvalierisme um den Versuch der Neuerfindung dieser Inkarnationsvorstellung handelt, in der die Fiktion des corpus politicum und mysticum Duvaliers, das von dessen biologischem Körper geschieden ist, die Kluft zwischen der »irdischen Begrenztheit des Akteurs« und der »universalen Aufgabe«, die ihn erwartet und die er angeht, zu überbrücken vorgibt. Der Körper des Potentaten umfasst einen natürlichen Körper wie auch einen politischen Körper, dem eine institutionelle und symbolische Dimension anhaftet und der zur »Projektionsfläche für das Bild [wird], das sie [die Untergebenen; PE] sich von dem Gemeinwesen machen, dem sie als Glieder angehören«46. Kraft der Aura des Potentaten spiegeln sich die Untergebenen in dem Herrscher und in seinem Bild, worin ein zentrales Moment des »fiktionalen Charakter[s] jeder Herrschaftsautorisierung«47 besteht. Es ist das Verdienst Giorgio Agambens, im Rahmen seiner Arbeiten zum Homo Sacer-Projekt und wenn auch nur in Form von Randnotizen, die Verbindung der Thesen Kantorowicz’ über die Zwei Körper des Königs und dem politischen System der Diktatur herausgestellt zu haben. Agamben bringt die aus der antiken Diskussion des Ausnahmezustands herkommende Unterscheidung von auctoritas und potestas mit der Zwei-Körper-Konzeption in Dialog, um herauszustellen, dass es just die auctoritas, verstanden als »Vermögen, das zugleich ›Legitimität gewahren‹ und das Recht suspendieren kann«48, ist, die an eine phy-

45 Vgl. Marchardt, Oliver: »Don Alejandros Problem. Zum Verhältnis von Repräsentation, Souveränität und radikaler Demokratie«, in: Indeterminate! Kommunismus. Texte zu Ökonomie, Politik und Kultur, hg. von DemoPunK/Kritik und Praxis Berlin, Münster: Unrast 2005, S. 75. 46 Koschorke, Albrecht: »Macht und Fiktion«, in: ders. et. al. (Hg.), Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektüren, Frankfurt a. M.: Fischer 2002, S. 80. 47 Ebd. 48 Agamben, Giorgio: Ausnahmezustand. (Homo Sacer II.1), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 95.

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sische Person gebunden ist. Moderne Diktaturen stünden, so Agamben, »in der Kontinuität des Prinzips auctoritas princips«, das wiederum, anders als die reine potestas, als die dem Amtsinhaber rechtlich zustehende Gewalt, an der physischen Existenz des Diktators haftet: »Die Eigenschaften des duce oder des Führers sind unmittelbar an die physische Person gebunden und stehen in der biopolitischen Tradition der auctoritas, nicht in der rechtlichen der potestas«49. In der Fiktion und Konstruktion der auctoritas Duvaliers steht dessen natürlicher Körper im Vordergrund, der gleichwohl zur Projektionsfläche zahlreicher symbolischer Interventionen wurde. Um diesen zweiten Körper glaubhaft zu machen, haben Duvalier und die von seinem Regime hervorgebrachten Rechtfertigungsnarrative verschiedene symbolische Ressourcen angezapft; neben den schon erwähnten Repräsentationsformen ist die mystifizierende Propagierung des noirisme als auch der Voodoo-Religion zu sehen. In dem Körper Duvaliers sollte sich ein »corpus fictum, d[as] korporative Kollektiv, das nicht tastbar war und nur als Fiktion der Jurisprudenz [sowie anderer legitimatorischer Diskurse; PE] existierte«50, manifestieren und somit die ideologisch naturalisierende Grundlage eines zeitüberdauernden politischen Systems bilden.

5. B LACK MAGIC DES F RANÇOIS D UVALIER : CORPUS SYMBOLICUM ET NIGER Im Catéchisme de la révolution, der einen guten Einblick in die Ideologie des duvalierisme vermittelt, finden wir Duvaliers Anspruch formuliert, eine Genealogie schwarzer Führungspersonen in der Geschichte Haitis zu beerben und die Traditionslinie der Politik der ›großen schwarzen Männer‹ fortzusetzen: »Dessalines, Toussaint, Christophe, Pétion et Estimé sont cinq Chef d'État distincts,

49 Ebd., S. 98. Agamben antizipiert Relativismus-Vorwürfe gegen seine Argumentation, um die Besonderheit des autoritären Prinzips, dem der Faschismus und Nationalismus in Europa eine unerwartete Renaissance verliehen hatte, zu präzisieren: »Obwohl es evident ist, dass es so etwas wie einen ewig menschlichen Typus nicht gibt, der sich nacheinander in Augustus, Napoleon oder Hitler inkarniert hätte, sondern nur mehr oder weniger ähnliche Rechtsdispositive [...], verbindet sich in den dreißiger Jahren – vor allem in Deutschland, aber nicht nur – die Macht, die Weber charismatisch genannt hatte, mit dem Begriff der auctoritas und wird in einer Lehre des Führertums als ursprüngliche und persönliche Macht eines Führers [capo] herausgestellt«; G. Agamben: Ausnahmezustand, S. 99. 50 E. Kantorowicz: Körper, S. 220.

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mais qui ne forment qu’un seul et même Président en François Duvalier«51. Die Hautfarbe wurde zum zentralen Kriterium der symbolischen Aufladung des politischen Körpers Duvaliers. Fußend auf der noiristischen Ideologie sowie einer ausgeprägten Symbolpolitik war die Inszenierung Duvaliers als »schwarzer« Herrscher, der eine Politik der schwarzen Emanzipation verfolgt, von zentraler Bedeutung. Duvalier artikulierte schon in seinen frühen politischen Schriften die Ansicht, dass es eines starken schwarzen Mannes bedarf, um die zentralen Probleme Haitis zu lösen. Erstellte sich als legitimen Nachfolger der geputschten noiristischen Regierung von Estimé dar, der deren unterbrochenes Werk er vervollständigen wollte. Neben diesem deklarierten Erbschaftsanspruch leitete er noch andere historische Gründungserzählungen des von ihm begründeten Regimes der révolution nationale her: er stellte sich als Vertreter der »schwarzen Sache« in die Tradition des zentralen Akteurs des Sklavenaufstandes JeanJacques Dessalines, der am 1.1.1804 die damalige Bezeichnung der Insel »St. Domingue« durch die ursprüngliche, indigene Bezeichnung »Haiti« ersetzte und der auch die erste Verfassung des neuen, unabhängigen Staates begründete. Dessalines war für Duvalier zentrale historische Inspirationsquelle für eine Politik, die sich für die Schwarzen und gegen die Mulatten einsetzt. 52 Duvalier umgab sich als Herrscherfigur von einem legitimatorischen Bollwerk aus historischen Mythen und mythifizierten Einzelpersonen Haitis, als deren personifiziertes Erbe er sich präsentierte. Als »schwarzer Messias« nahm er die historisch wichtige Rolle ein, die er gemeinsam mit Denis schon in Problème des classes... gefordert hatte, als er den Konflikt zwischen Mulatten und Schwarzen als zentrales Problem des Landes darstellte, das durch eine schwarze Regierung gelöst werden solle; dieses Werk ist zugleich die systematische Darlegung des noiristischen Weltbildes Duvaliers, bestehend aus einem ›Mystizismus der schwarzen Rasse‹ und den Willen zur Neubegründung der nationalen, schwarzen Werte, die sich gegen die koloniale Mentalität der Unterordnung richtet.53 Ange-

51 Fourcand, Jean M.: Catéchisme de la révolution en l’honneur du Docteur François Duvalier Président Constitutionnel à vie de la République d’Haïti et de Madame Simone O. Duvalier première Marie-Jeanne d’Haïti, Port-au-Prince: Édition Imprimerie de l’État 1964, S. 17. 52 In Les ténèbres extérieures wird der Führungsanspruch Duvaliers wie folgt dargestellt: »Toute sa vie, Duvalier a essayé de répondre à cette question première que posa jadis notre indomptable Dessalines : Les Nègres, dont les pères sont en Afrique, n’auront-ils donc rien ? […] Fallait-il qu’après avoir servi les Blancs, elle subisse le joug, pas moins scélérat mais plus hypocrite, des Mulâtres?« (Confiant 2008: 95). 53 Vgl. D. Nicholls: Dessalines, S. 196.

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treten, um die »schwarze Revolution« von 1946 wieder zu ihrem historischen Recht zu verhelfen, verfolgte die Politik und Ideologie Duvaliers den Anspruch, die Forderungen des schwarzen Nationalismus der noiristischen Ideologie, an deren Ausbuchstabierung Duvalier selbst im Rahmen seiner frühen publizistischen Tätigkeit seit den 1930er Jahren mitgearbeitet hatte, umzusetzen. Soziopolitische Konflikte sowie sozioökonomische Unterschiede werden in Problème des classes... in ethnischen Kategorien erklärt und auf das rassische Prinzip der Unterscheidung von Mulatten und Schwarzen reduziert. Um die Bedeutung der »Rassebegriffs« zu untermauern, nahm Duvalier Bezug auf zweifelhafte Quellen und zitierte sogar rassistische Vordenker wie den Arthur de Gobineau oder den NS-Ideologen und Antisemiten Alfred Rosenberg.54 In Problème des classes... wird von den »élites noires« gefordert, die Schwarzen zu repräsentieren und zu etwas Höherem zu erziehen. Im Hinblick auf den gesellschaftlichen Status quo waren die Forderungen der Emanzipation der Schwarzen radikal, da sie gegen die ökonomische und politische Vorherrschaft der mullattischen Oberschicht gerichtet waren. So radikal sie auf programmatischer Ebene waren, so konservativ war die Politik der schwarzen Emanzipation Duvaliers letztlich in ihren Mitteln und blieb auf Symbolpolitik reduziert; Duvalier entpuppte sich als ein »master of empty, symbolic gesture«55. Politische Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen der schwarzen Unterschichten wurden kaum unternommen.56 Symbolpolitische Maßnahmen, die die Ideologie eines schwarzen Selbstbewusstseins in Staatszeremonien ausdrückten, waren tonangebend. Nach der Ermordung von Martin Luther King 1968 wurde aus Gründen der internationalen schwarzen Solidarität eine viertägige Staatstrauer ausgerufen und eine Hauptverkehrsstraße von Port-au-Prince nach dem Politiker benannt. Im gleichen Jahr wurde unweit des Präsidentenpalastes ein beeindruckendes Denkmal errichtet: das Denkmal des marron inconnu besteht aus der Statue eines Sklaven, der in eine Muschelschale bläst und die haitianische Sklavenrevolte symbolisiert.57 Die Statue des unbekannten entlaufenen Sklaven, eine Anspielung auf die nationalistische Heldenikonographie und das Sakrileg des »unbekannten Soldaten«58, stellt einen Bezug her zu der mit Sklaverei und Plantagenwirtschaft verbundenen

54 Vgl. L. Hurbon: Culture, S. 93. 55 J. Ferguson: Papa Doc, S. 53. 56 Vgl. hierzu kritisch: Hurbon: Culture, S. 97 f. 57 Vgl. D. Nicholls: Dessalines, S. 229, 235; J. Ferguson: Papa Doc, S. 53. 58 Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2005, S. 18.

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Unterdrückungsgeschichte Haitis sowie zur Selbstbefreiung der Sklaven in der haitianischen Revolution. Der geflohene Sklave sollte jedoch primär das afrikanische Erbe Haitis repräsentieren und brachte als hochoffizielle Ikone des Regimes dessen historisches Selbstverständnis zum Ausdruck, demzufolge der Aufstand und die Revolutionsentwicklung Resultat des Konflikts von Schwarzen und Nicht-Schwarzen gewesen sei. In den Augen Duvaliers stellte der marron inconnu ein Symbol der schwarzen Ehre dar und repräsentierte die Vorreiterrolle Haitis in der Artikulation der schwarzen Würde: »Wir stellen für die negerafrikanischen Massen des Universums den ehrwürdigsten Vertreter oder gemeinsamen Nenner jedes nationalen und rassischen Bewusstseins dar«59. Die bedeutendste symbolpolitische Aktivität Duvaliers wurde ebenso mit Rekurs auf die Regierung Estimés begründet und als Fortsetzung des Sieges der authentiques interpretiert, der 1946 mit Estimé begonnen hätte: die Veränderung der haitianischen Flagge. Die blau-rote Nationalfahne wurde nach einer langen, kontrovers geführten Debatte 1964 durch die schwarz-rote Fahne ersetzt, um den schwarzen Bevölkerungsanteil Haitis auch symbolisch angemessen zu repräsentieren.60 All diese symbolpolitischen Interventionen liefen bei Duvalier zusammen, dessen »schwarzer Körper« als die mystifizierte Verkörperung der Genealogie der »schwarzen Sache« Haitis, in der sich die große Tradition der schwarzen Politik aufgehoben befindet, galt. Sein corpus mysticum war die Einheit und Repräsentation der Tradition noiristischen Politik.61

59 Duvalier, zit. n. D. Nicholls: Dessalines, S. 235. 60 Vgl. Ebd., S. 233 ff. 61 Die Usurpation des revolutionären Erbes durch das unterdrückerische Regime Duvaliers, das sich als in der Tradition der schwarzen Revolution stehend wähnte, blieb nicht unwidersprochen und selbst Price-Mars richtete sich gegen die duvalieristische »black legend of the Haitian past« (Laguerre: Urban, S. 230) vom ewigen Widerstreit der Schwarzen und der Mulatten. Ein weiterer prononcierter Kritiker Duvaliers noirisme war der haitianische Intellektuelle René Depestre, der noch weiter ging und in Price-Mars, Duvalier und anderen im Umfeld des noirisme »reaktionäre Apostel der négritude« (ebd., S. 231) sah.

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6. M AGIE , V OODOO UND DIE ZAUBERHAFTE V ERVIELFÄLTIGUNG DES K ÖRPERS D UVALIERS Duvaliers Bezugnahme auf die Voodoo-Kultur war ähnlich emphatisch wie die auf die schwarze Hautfarbe, beide Positionierungen waren deutlich geprägt vom Aufwertungsdiskurs des indigenisme und dessen Verstärkung im späteren noirisme. Duvalier griff zurück auf die Thesen von Price-Mars, der in seinem intellektuellen Schaffen die Politisierung des Voodoo vorangetrieben und die historische These geprägt hatte, dass ohne die Beteiligung aufständischer VoodooAnführer die nationale Unabhängigkeit Haitis nicht erreicht worden wäre – eine These, die Duvalier in dem gemeinsam mit Denis verfassten Essay L’Évolution Stadiale du Vodou (1944) bekräftigt haben.62 Mit dem erklärten Ziel, das seit der Unabhängigkeit unterdrückte afrikanische Erbe wieder aufleben zu lassen, wandten sich die vom indigenisme beeinflussten Denker, so auch Duvalier, dem Voodoo als zentralem Referenzpunkt für die afrikanische Vorgeschichte und ebenso wichtigen ethnischen Identitätsmarker Haitis zu. Duvalier zufolge ist der Voodoo-Kult der »suprême facteur de l’unité haïtienne«63 – eine Erkenntnis, zu der er schon während seiner ethnologischen Studien über die Voodoo-Religion gekommen war, wissend um die potentiell katalysierende Funktion, die der Voodoo in der Konstruktion nationaler Gemeinschaftlichkeit einnehmen kann, selbst wenn die Elitenkultur des Landes auf ihn herabschaute. Voodoo stellte für Duvalier die Chiffre der »wahren Ethnizität« der haitianischen Bevölkerung und den Beleg der authentischen Traditionen der Rasse dar.64 Der Voodoo-Kult hatte sich im Laufe der haitianischen Geschichte zu einer bedeutenden Kontaktzone des sozialen Lebens entwickelt, die immer wieder Ausgangspunkt des politischen Ausdrucks von Unzufriedenheit und Aufbegehren war. Das Wissen um diesen Stellenwert hat die politischen Strategien Duvaliers, der selbst nie der Voodoo-Religion anhing und immer dem katholischen Glauben treu geblieben war, stark beeinflusst. Schon vor seiner Präsidentschaft wandte sich Duvalier gegen die von der katholischen Kirche unternommenen ›Maßnahmen gegen den Aberglauben‹, die so genannten campagnes antisuperstitieuses, die seit den frühen 1940ern im Hinterland Haitis durchgeführt wurden, um den Einfluss des Voodoo einzudämmen. Duvalier plädierte dafür, die Voodoo-Religion als bedeutendes kulturelles Element der haitianischen Bevölkerung

62 Vgl. Laguerre, Michel S.: Voodoo and Politics in Haiti, New York: St. Martin’s Press 1989, S. 101. 63 F. Duvalier: Oeuvres, Vol. 1, S. 167, 177. 64 Vgl. P. C. Johnson: Secretism, S. 431.

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anzuerkennen und gegen die Maßnahmen des französisch dominierten Klerus der katholischen Kirche zu verteidigen. In mehreren agitatorischen Schriften ergriff Duvalier Partei für die Voodoo-Religion. Die Rehabilitation des Voodoo sei gegenüber der prowestlich orientierten politischen Elite sowie dem europäischen Klerus, die beide darauf abzielten, die haitianische Bevölkerung in die westliche Zivilisation zu integrieren, zu erkämpfen: die Voodoo-Anhänger seien authentische Haitianer, die die Mehrheit des haitianischen Volkes darstellten.65 Schon bei den Präsidentschaftswahlen 1957 kam die im politischen Denken Duvaliers verankerte religiöse Konfliktlinie deutlich zum Ausdruck. Er unterhielt gute Beziehungen zu renommierten Voodoo-Priestern, den houngans, und es gelang ihm, ausgewählte Voodoo-Priester für die Unterstützung seiner Kandidatur zu gewinnen; teilweise dienten Voodoo-Tempel auch als Orte von Wahlkampfveranstaltungen für Duvaliers Kandidatur. Aufgrund dieser guten Beziehungen wurde Duvalier als politischer Repräsentant der Voodoo-Religion wahrgenommen, obwohl er sich selbst gar nicht als solcher inszenierte. Es war vor allem die Kampagne der katholischen Kirche, die dazu aufrief, »katholisch« und nicht »Voodoo« zu wählen, die zu einer Polarisierung des politischen Feldes führte und die Identifikation Duvaliers mit dem Voodoo öffentlichkeitswirksam machte. Diese Polarisierung führte dazu, dass Duvalier einen Großteil der Voodoo-affinen Stimmen auf sich vereinen konnte.66 Mit der Machtübernahme Duvaliers stellte sich eine Voodooisierung der haitianischen Politik67 ein. Duvalier war vor allem an der Integration der politischen Aspekte des Voodoo gelegen, ihn interessierte mehr seine politische, ideologische Bedeutung wie auch das mit ihm verbundene Netz an gesellschaftlichen Beziehungen, mithin das »soziale Kapital«, denn der Voodoo an sich und seine rituelle Ausübung. Duvalier machte sich die moralische Autorität der houngans sowie ihren großen Einfluss auf die Meinungsbildung zu eigen, so dass die politische Kontrolle der Massen sowie die propagandistische Verbreitung der duvalieristischen Ideologie auf lokaler Ebene gewährleistet war. Die Inkorporation der Voodoo-Welt in das Regime diente nicht nur dazu, den ideologischen Staatsapparat auszuweiten, sondern ebenso dazu, die Repressions- und Kontrollfunktionen des Staatsapparates bis tief in die Gesellschaft hinein zu verlängern. Die houngans fungierten als regimetreue Kontrollinstanzen und als Informanten, die über potenziell widerständige Regungen in den lokalen Gemeinden berichteten. Deren Kooptation ging einher mit ihrer Integration in die Tontons Macoutes. Die

65 M. Laguerre: Voodoo, S. 104. 66 Vgl. Ebd., S. 106. 67 »Voodooisation of Haitian Politics«; vgl. M. Laguerre: Voodo, S. 107 ff.

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Kooperation mit dem Regime versprach für die lokalen Voodoo-Priester die ungestörte Entfaltung des Voodoo-Kultes und die Kontrolle über das eigene Territorium sowie nicht zuletzt ein monatliches Salär.68 Es bildete sich eine lebendige Symbiose zwischen der Regierung und der Voodoo-Priesterschicht heraus, von der beiden Seiten profitierten: Während der Status der Tontons MacoutesPriester gestärkt und ihre lokale Führerrolle aufgewertet wurde, sorgten die Priester im Gegenzug in den Tempeln für eine regimetreue Atmosphäre. Zudem konnte eine Duvalierisierung des Voodoo konstatiert werden, die beschworenen Geister erfuhren eine politische Aufladung, die Zeremonien wurden zu systemkonformen Propaganda-Veranstaltungen: »In Port-au-Prince, the terms ›Tonton Macoute‹ and ›Voodoo priest‹ became synonymous in some districts«69. Nicht zuletzt wurden die Netzwerke der Voodoo-Tempel auch gezielt dazu genutzt, um abschreckende oder apologetische Gerüchte in die lokalen Gemeinschaften zu streuen.70 Das mit der Voodoo-Kultur eng verbundene Netzwerk an Tempeln und lokalen Priesterautoritäten diente als »inexticable lattice of intersecting networks«71 der Verlängerung des Staates in die Glaubensgemeinschaften hinein. Durch die ihm gegenüber loyale »institutionelle Parallelstruktur« konnte Duvalier seine Macht verlängern und seinen Absolutheitsanspruch als Herrscher behaupten: er besaß dadurch, wie Friedrich II schon die Wirkung seines Beamtenheers auf seine Präsenz als Herrscher beschrieb, eine »›potentielle Ubiquität‹, obwohl er mit seinem natürlichen Körper nicht überall anwesend sein konnte«72. Neben dem »sozialen« versuchte sich Duvalier auch das »symbolische Kapital« des Voodoo anzueignen. Voodoo galt, nicht zuletzt im Gefolge der Aufwertung durch die indigenistischen und noiristischen Diskurse, weithin als Symbol für den Widerstand gegen die (neokolonialistischen) politischen Eliten, gegen die Dominanz der europäisch-französische kontrollierten katholischen Kirche wie auch gegen externe politische Einflussnahmen. Zudem wurde Voodoo als kultureller Ausdruck der ethnischen Partikularität Haitis wahrgenommen. Diese Assoziationsketten und vagen politischen Vorstellungen versuchte Duvalier durch die Übernahme von Symbolelementen des Voodoo in der Inszenierung

68 Vgl. hierzu: M. Laguerre: Voodoo, S. 116 ff. 69 Vgl. Ebd., S. 17. 70 »[T]he ability of the François Duvalier administration – not necessarily the president himself, but his entourage – to circulate Voodoo-related gossip in the local communities [...] served to enhance the regime’s power«; M. Laguerre: Voodoo, S. 119. 71 Laguerre, Michel S.: Urban Life in the Caribbean: A Study of a Haitian Urban Community, Cambridge: Schenkman 1983, 171. 72 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 157.

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seines Herrschaftskörpers auf sich zu projizieren. Ein zentrales Element des »Zitierens« dieser Symbolwelt lag in der Selbstdarstellung und in seinem äußeren Auftreten, in dem er explizit bild- und symbolpolitischer Bezüge herstellte. Die Selbstbezeichnung als »père spirituel« der Nation sowie der Spitzname »Papa Doc« können nicht nur gemäß des katholischen Symbolsystems als Adaption der Vater-Gott-Vorstellungen interpretiert werden, sie zapfen zugleich symbolische Ressourcen des Voodoo an: »Papa« ist im religiösen Milieu des Voodoo die populäre und gleichzeitig respektvolle Bezeichnung für einen houngan.73 Schon diese sprachlichen Referenzen etablierten eine Beziehung zu den archaischen Gründen der Symbol- und Assoziationswelten des Voodoo; Duvaliers magisches image als père spirituel wurde auf visueller Ebene verstärkt durch eine eigenwillige öffentliche Inszenierungspraxis. Duvaliers Kleidungsstil nahm bewusst visuelle Anspielungen auf die in der Voodoofolklore. Durch das bevorzugte Tragen schwarzer Anzüge, eines Zylinderhuts sowie des stereotypen Spazierstocks bediente Duvalier in seiner öffentlichen Erscheinung visuelle Motive, die mit dem loa Gede und der äußerst populären Figur des Baron Samedi74 verbunden sind. Baron Samedi ist ein übernatürliches Wesen, eine Gottheit, die im Voodoo-Glauben den Tod symbolisiert und als Totenherrscher zugleich der Geist des Todes ist, weshalb sein hauptsächlicher Erscheinungsort der Friedhof ist, als dessen Wächter er auch gilt. Durch bewusste Nachahmung der mit dieser Gottheit verbundenen Ikonographie verlieh sich Duvalier eine magische, dunkle – dieser Eindruck wurde durch das Tragen schwarzer (Sonnen-)Brillen noch verstärkt – und zugleich furchteinflößende Ausstrahlung. Nicht zuletzt gab er dadurch vor, selbst die Verkörperung von Baron Samedi zu sein, was im Glaubenssystem des Voodoo und gemäß der Annahme des Wanderns der Voodoo-Gottheiten ja durchaus plausibel ist. Die visuellen Ähnlichkeitsbeziehungen wurden zudem noch verstärkt durch bewusstes Imitieren einer nasalen Stimme, die Baron Samedi ebenfalls im populären Alltagsglauben zugeschrieben wird. Durch die Verwendung der mit der Figur des Baron Samedis verbundenen visuellen und ästhetischen Motive verlieh Duvalier seinem Status als père spirituel eine magische Dimension und übertrug die tief im Volksglauben verankerte Ehrfurcht vor den Voodoo-Gottheiten auf sich selbst. »Duvalier not only bore the loa, he infused loa Baron Samedi with his own persona«75.

73 Ramsey, Kate: The Spirits and the Law. Vodou and Power in Haiti, Chicago: University of Chicago Press 2011, S. 250. 74 Vgl. P. C. Johnson: Secretism, S. 438. 75 Ebd.

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Dieser repräsentative Symbolwert seiner Herrschaftsinszenierung wurde durch gezieltes Streuen von Gerüchten über die Voodoo-Aktivitäten Duvaliers verstärkt. Schon kurz nach seiner Wahl zum Präsidenten, im März 1958, wurden Darstellungen lanciert, denen zufolge Duvalier mit einigen Gefolgsmännern zum Trou Foban gepilgert sei, eine Höhle, in der sich laut dem Volksglauben die bösen Voodoo-Geister nach langer Wanderschaft über die Insel niedergelassen haben.76 Trou Foban war gefürchtet wegen der übernatürlichen Kraft der in ihr lebenden Geister; lediglich mächtige houngans wagten es, dort Zeremonien abzuhalten. In einer dort durchgeführten Zeremonie habe Duvalier die niedergelassenen Voodoo-Geister angerufen und aufgefordert, ihm nach Port-au-Prince zu folgen. Die Geister nahmen die Einladung Duvaliers an und folgten ihm bei seinem nächtlichen Abstieg in die Hauptstadt, wo sie in seinem Präsidentenpalast ihre neue Heimstatt gefunden haben. Dass Duvalier dort angeblich einen eigenen Raum einrichten ließ, in dem er Voodoo-Zeremonien abhielt und den Kontakt zu den Voodoo-Gottheiten pflegte, war ebenso »bekannt« wie auch der regelmäßige Besuch bedeutender houngans im Präsidentenpalast eine Tatsache war. Die Voodoo-Gerüchte wurden verbreitet, um Ehrfurcht erweckende Vorstellungen von den übernatürlichen Fähigkeiten des père spirituel zu evozieren und zu reproduzieren, wobei sich in den Gerüchten oftmals faktische Begebenheiten mit einem hinzugedichteten übernatürlichen Surplus vermengten. Ein anschauliches Beispiel des Zusammenspiels von der äußersten Brutalität des Regimes und dem gezielten Lancieren mystifizierender Gerüchte ist der Umgang mit dem politischen Konkurrenten Clément Jumelle, der 1957 bei den Wahlen als Gegenkandidat zu Duvalier angetreten war. Jumelle geriet zunehmend ins Visier der Repressionskräfte des Regimes, flüchtete sich aus Angst vor politischer Verfolgung in die kubanische Botschaft in Port-au-Prince und starb dort an einer schweren Krankheit.77 Die Zeremonie seiner Beerdigung im April 1959 wurde zum Ort eines absurden und unglaublichen Schauspiels. Duvalier ließ die Leiche von Jumelle auf Aufsehen erregende Art von seinen Tontons Macoutes während der Beerdigungszeremonie klauen: Sie stoppten den Begräbniszug und Leichenwagen, klauten den Sarg, fuhren mit diesem weg und ließen eine ungläubige Menschenmenge zurück.78 Der mysteriöse Diebstahl von Leichen, der zugleich öffentlich wie auch geheimnisvoll erfolgte, war ein beliebtes Mittel Duvaliers,

76 Vgl. zu dieser Anekdote: Abbott, Elizabeth: Haiti. The Duvaliers and Their Legacy, London: McGraw-Hill 1988, S. 81 f. 77 Zu dieser Anekdote: Vgl. ebd., S. 94 f. 78 In der Verfilmung des Romans von Graham Greene, The Comedians, wird dieses Ereignis nachgestellt; vgl. The Comedians, (00:42:49-00:46:44).

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sich als mit übernatürlichen Mächten ausgestatteter Herrscher darzustellen. Das mit dieser Jumelle-Anekdote verbundene Gerücht besagte zudem, dass Duvalier die Organe von Jumelles Körper in einem Voodoo-Ritual benutzte und die magischen Kräfte seines Herzes verwendete, um sein Amt zu beschützen und seinen Körper zu stärken. Ob diese Gerüchte stimmen oder nicht, sie schufen ein Klima des Angst, das wiederum die Macht Duvaliers steigerte.79 Duvalier stattete seine Person durch solche Selbstdarstellungen wie auch durch deren Kommunikation mit einer magischen Aura und der Fähigkeit aus, durch obskure Praktiken Fernwirkungen erzielen zu können, die in populären Ehrfurchtsvorstellungen der Voodoo-Anhängerschaft einen effizienten Resonanzboden fanden; auch die Vorstellung von der Entstellung oder Zerlegung des toter Körper stellt eine komplexe, mit Furcht assoziierte Erinnerungsfigur in der Voodoo-Kultur dar. Die Kommunikation der vermeintlich übernatürlichen Fähigkeiten und außerordentlichen Reichweite seiner magischen Kräfte stellte einen zentralen Mechanismus in der mystifizierenden Repräsentationsstrategie dar: »no man, woman, or child was safe, and through magic and sacrifice, the President hat harnessed great forces of evil to assist him in his quest for absolute power«80. Ob Duvalier wirklich in der Badewanne sitzend im Präsidentenpalast Séancen mit Voodoo-Geistern abhielt, ob er wirklich die Schädel von getöteten Oppositionellen aufbewahrte, um durch deren Konsultation die kommenden Insurrektionspläne der Opposition zu erfahren, ob er wirklich die Eingeweide eines Ziegenbocks im gelben Salon des Präsidentenpalasts untersuchte, um in die Zukunft sehen zu können – unstrittig ist die Tatsache, »that Duvalier himself fomented the circulation of these kinds of rumours through gossip networks«81. Die populäre und geglaubte Verbindung von politischer Macht und Magie wurde gezielt ausgenutzt und half, Gerüchte über die übernatürlichen Fähigkeiten des président à vie hervorzubringen.82 In seiner Selbstinszenierung pflegte Duvalier bewusst ein ambivalentes image als Angst einflößender, willkürlich handelnder, zu allem bereiten absoluter Herrscher, der zudem über einen magisches übernatürliches Wesen verfügte,

79 Confiant bringt in Les ténèbres extérieurs eine weitere Verwendungsmöglichkeit des Leichnams Jumelles in Spiel: der Schädel seines ehemaligen Kontrahenten thront hier auf Duvaliers Schreibtisch, im Laufe der Erzählung sehen wir des Öfteren Duvalier den Schädel ergreifen, um mit diesem zu spielen oder um mit ihm in einen imaginären Dialog zu treten; vgl. u. a. Confiant: Ténèbres, S. 13. 80 E. Abbott: Haiti, S. 81. 81 Vgl. P. C. Johnson: Secretism, S. 427. 82 K. Ramsey: Spirits, S. 251.

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das auch milde, väterliche Züge umfasste. Neben seinem an die Baron SamediIkonographie anknüpfenden Kleidungsstil zeigte sich Duvalier zuweilen auch bewaffnet in der Öffentlichkeit – ein schwer zu greifendes image, das allerdings deutlich die drohende und stets mögliche Gewalttätigkeit ausstrahlte.

Abbildung 1: Duvalier mit Flinte, © Getty Images

7. D ER V IELFACHKÖRPER D UVALIERS UND DIE TRAGISCHE D IALEKTIK VON UND P OSTKOLONIALITÄT

NOIRISME

Im Zentrum des aufwendig betriebenen und vielfältig schattierten Modus der politischen Repräsentation des duvalierisme stand der Herrscherkörper Duvaliers. Die um jenen kreisende Inszenierungspraxis fügt sich ein in eine Reihe historischer Erscheinungen, die sich zunächst in Europa als Reaktion auf die Fernwirkungen der Russischen Revolution und tiefgreifende Demokratisierungstendenzen herausgebildet haben, um mit der Geburt des Faschismus im 20. Jahrhundert zu einer Renaissance des Prinzips der auctoritas zu führen. Im Zuge dessen hat sich eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die physis des autoritären Herrschers eingestellt, die in der Tradition der Zwei Körper der Königs und der dort verhandelten Sorge um den Fortbestand der Amtswürde, der dignitas, steht. Die Reproduktion von auctoritas und dignitas bzw. deren Verstetigung steht im Zentrum der politischen Repräsentation des Herrscherkörpers Duvaliers, wes-

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halb das ideologische, repressive und theatralische Manöver des duvalierisme verstanden werden kann als ein moderner Re-Inkarnationsversuch (Marchardt), der die in der Moderne entstandene autoritative Leerstelle mit Körper- und Autoritätsfiktionen wieder besetzen will. Es erscheint vor dem Hintergrund angemessen, von einer Reaktualisierung und Adaption des Modells des mystischen, politischen Körpers auszugehen, wie es Kantorowicz rekonstruiert hat. Dieser ist nicht nur »›größer und weiter‹ als der natürliche, sondern ihm wohnen auch geheimnisvolle Kräfte inne, die ihn über die Unvollkommenheit der gebrechlichen menschlichen Natur hinausgehen«83 lassen – diese Paraphrase des Plowden Reports durch Kantorowicz mutet wie das Drehbuch der Inszenierungspraxis Duvaliers an, dessen politischer Herrscherkörper als das Ebenbild eines Potpourris übernatürlicher Vorstellungen inszeniert wurde, zapfen diese nun eher die symbolische Macht katholischer (Duvalier-Jesus, Duvalier-Vater-Gott) oder synkretistischer Wurzeln (Duvalier-Baron Samedi, Duvalier-Gede) an. Die vorgestellte Ausstattung des politischen Körpers Duvaliers mit übernatürlichen Kräften wurde durch ein weit verzweigtes Netz von ideologischen Staatsapparaten plausibel gemacht, wobei sich vor allem das Bildmedium und die visuelle Erscheinung (Plakate, Fotos, öffentliche Auftritte) sowie das Zirkulieren von Gerüchten als besonders wirkungsmächtig erwiesen haben. Ein weiterer zentraler Aspekt der politischen Repräsentation des duvalierisme war der Bezug auf die Hautfarbe. Duvalier stellte sich in die Tradition des Kampfes für die schwarze Emanzipation, wie er von den großen schwarzen Männer in der Geschichte Haitis angeführt wurde. Diese genealogische Vorstellung war leitmotivisch für Duvaliers Selbstbild als politische Führungsfigur. Diese zweite Dimension seines corpus mysticum als corpus niger, das die Verkörperung der Genealogie der schwarzen Selbstbehauptung durch große schwarze Männer symbolisiert, konstruierte eine weitere Assoziation, in diachroner Hinsicht, seines »›anderen Selbst‹, das seine Sterblichkeit übersteigt und so mit den ›anderen Selbsten‹«84 anderer schwarzer großer Männer identisch ist. Die Mystifikation Duvaliers als Erbe, Verkörperung und mystische Einheit dieser Genealogie wurde verstärkt durch den Bezug auf die Symbolwelt des Voodoo, der im Denken Duvaliers als ethno-religiöser Sachverhalt zugleich Ausweis der ›ethnischen Authentizität‹ Haitis war. Durch ein vielschichtiges Netz von Vorstellungen, Ikonographien und Narrativen wurde ein corpus mysticum konstruiert, das als von jeglichen biologischen und weltlichen Veränderungsprozessen unangetastet zu bleiben schien und die

83 E. H. Kantorowicz: Zwei Körper, S. 33. 84 R. Giesey: Zwei Körper, S. 91.

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historische Mission der Messiasfigur Duvaliers verkörperte. Diese Fiktion wurde abgesichert und gestützt durch die repressiven Staatsapparate, die abweichendes politisches Verhalten unterdrückten und durch ihr Auftreten terreur verbreiteten. Der angsteinflößende Einfluss, den die Tontons Macoutes auf die Bevölkerung ausübten, fungierte als bedeutender Transmissionsriemen sowohl der duvalieristischen Ideologie als auch von Horrorvorstellungen. Das drohende Bild des mit Waffengewalt ausgestatteter Herrschaftskörper Duvaliers und Voodoo-Akteur, der seine übernatürliche Kräfte gegen jegliche Form von Widerstand anwenden und dessen kleinste Regungen er auch aufspüren würde, wurde zum Symbol der Verlängerung seines Körpers bis in die tiefsten Regungen der haitianischen Bevölkerung hinein. Selbstdarstellung, Selbstmystifikation sowie deren Kommunikation durch gesprochenes Wort (Einfluss der houngans, Zirkulation von Gerüchten) und Bild (Regierungspropaganda durch Plakate, Selbstdarstellung Duvaliers) sorgten dafür, Zeugnis von der Macht des Terrors des duvalierisme abzulegen und somit die Vorstellungen von diesem Terror zu verbreiten. Die Konstruktion und mediale Inszenierung des Herrscherkörpers bewirkt insofern eine Verselbständigung der symbolischen Macht, die, »obgleich sie auf intersubjektiver Anerkennung beruht, objektiv ist, insofern sie sich gegenüber den Akteuren verselbständigt. In dieser verselbständigten symbolischen Macht sind sowohl die, welche Anerkennung genießen, wie die, welche ‚ohne gesellschaftliche Mission und Anerkennung’ leben, befangen, da sie nicht die Willkür und die historische Kontingenz, auf der die Macht ruht, erkennen und damit die symbolische Macht, indem sie sie anerkennen (als ›natürliche‹ Eigenschaft von Personen oder Institutionen) zugleich verkennen«85.

Das multimedial inszenierte Herrscherbild zeigt den Potentaten als heldenhaftes, übermenschliches Wesen, ausgestattet mit Majestät, Macht und angsteinflößenden übernatürlichen, magischen Fähigkeiten. Der daran anknüpfende Führerkult ist »nicht dazu da, den Zweifel des Staatsmannes an sich selbst, sondern den Zweifel aller anderen Menschen auszurotten«86, wie Hans Magnus Enzensberger am Beispiel des dominikanischen Diktators Trujillo aufgezeigt hat. Diese Intention kann jedoch in ihrer sozialen Wirkung keineswegs als einseitig gedacht werden, ihre Durchschlagskraft wird vielmehr durch Reinterpretationen, Ikonoklasmen und häretische Diskursen gebrochen.

85 G. Wayand: Schweigen, S. 234. 86 Enzensberger, Hans Magnus: »Bildnis eines Landesvaters«, in: ders.: Politik und Verbrechen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, S. 66.

286 | P ATRICK E SER »Die sozialen Beziehungen zwischen Herrschern und Beherrschten sind auch in Diktaturen nie einseitig, erschöpfen sich keineswegs nur in kultischer Verehrung und Erlösungsund Wunderglauben. Gerade dort, wo die Untertanen in ihrer Haltung zum Bild und im Umgang mit diesem Staat und Partei ihrer Loyalität bezeugen sollen, ist das Herrscherporträt potenziell immer auch Ziel von Kritik und Protest«87.

Der symbolpolitische Exzess des Duvalier-Regimes sorgte schließlich auch für eine verzerrte Außenwahrnehmung des Regimes, das großenteils von den herrschenden westlichen Mächten zumindest toleriert wurde. Exotistische Diskurse der westlichen Welt prägten die Wahrnehmung des Regimes als einer »VoodooDiktatur«, als »kreolischen Faschismus« oder als »third world tyranny«. Filme, wie die oben kommentierte James Bond-Folge Live and let die oder journalistische Artikel, die mit sensationslüsterner Geste schockierende Aussagen Duvaliers im Titel führen88, sind der populärkulturelle Ausdruck solcher exotistischer Wahrnehmungen der Diktatur. Diese stehen in der Tradition des westlichen despektierlichen Blicks auf die »Sklaven- und Negerrepublik«, in dem Haiti essentialistisch als ein durch die »Volkscharaktere« von Zauber und Hexerei sowie von Chaos bestimmtes Land bestimmt wurde: »Foreigners have long taken ›voodoo‹ […] to be synonymous with Haitian ›sorcery‹ and with ›black magic‹ more generally«89. In der Tradition dieses westlichen Stereotyps stehend, wurde die DuvalierDiktatur primär durch den Filter ihres selbst propagierten, übernatürlichen Voodoo-Selbstbilds wahrgenommen. Der Bezug auf den Voodoo leistete exotisierenden Wahrnehmungsweisen des Regimes Vorschub, die jenes als eine krankhafte Erscheinung und Werk eines Psychopathen darstellte und damit der Systempropaganda, der magischen Wirkung der Inszenierung und politischen Repräsentation des Herrschers selbst auf den Leim gegangen ist. »Die idée fixe des Herrschers, als wäre er nicht jederzeit zu ersetzen, steckt seine Gegner an; sie nehmen für bare Münze, was immer nur ein Wahn gewesen ist.«90

87 Paul, Gerhard: BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein 2013, S. 333. 88 Der Spiegel überschrieb z. B. einen Bericht über die Duvalier-Diktatur in der Nummer 1/1968 mit »Finsteres Reich«. 89 K. Ramsey: Spirits, S. 9. 90 Enzensberger, Hans Magnus: »Die Träumer des Absoluten. Zweiter Teil: Die schönen Seelen des Terrors«, in: ders.: Politik und Verbrechen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978, 327. Ein Verbleiben der Analyse auf dieser Ebene der Selbstdarstellungen, der Fremd- und Selbstbilder und der in Zirkulation gebrachten idées fixes und Ikonogra-

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Wie die exotisierenden Fremdbilder, die die vorherrschenden Diskurse der »westlichen Welt« von der Duvalier-Diktatur kreiert haben, verweist die am Beispiel des Duvalier-Regimes zu beobachtende tragische Dialektik antikolonialistischer Identitätspolitik auf einen weiteren bedenklichen Aspekt der postkolonialen Situation. Wie schon erwähnt, blieb das noiristische Programm, wie es Duvalier zum Leitbild der révolution nationale erkoren hat, nicht unwidersprochen. In intellektuellen Debatten wurde schon am Konzept der négritude Kritik formuliert, die dessen (potenziell) essentialistische Annahmen einer fixen, schwarzen Identität bemängelte – Kritiken, die noch viel mehr auf »Duvalier’s extreme black nationalism«91 zutreffen, der als Zuspitzung und Radikalisierung gewisser Intuitionen des négritude-Diskurs gelten kann. Am Beispiel der rigiden Identitätsrhetorik des Duvalier-Regimes zeigt sich deutlich, wie sich der Kampf gegen den Kolonialismus und kolonialistische Repräsentationen in Re-Essentialisierungen und weiteren Problemen verstricken kann. Generell kann in antikolonialistischen Reaktionen ein »boomerang of alterity« konstatiert werden, der sich auch in der europäischen euphorischen Rezeption antikolonialistischer Subjektpositionen niederschlägt, so z.B. im Sartre’schen Konzept des antirassistischen Rassismus und anderen essentialistisch gefassten Identitätskonzeptionen, wie Michael Hardt und Antonio Negri kritisch anmerken: »Even if the blackness of the colonized is recognized as a production and a mystification constructed in the colonial imaginary, it is not denied or di-

phien, müsste sich der Aufgabe stellen, diese Phänomene der politischen Kultur zurückzubinden an tiefer gründende soziale Strukturen von Ungleichheit und Unterdrückung und generell des Widerstreits antagonistischer politischer Interessen, womit zugleich auch ein Forschungsdesiderat angedeutet wäre, in welcher Richtung die Untersuchung der politischen Körperkonstruktionen des duvalierisme fortzusetzen und zu vertiefen wäre. In den sogenannten Bonapartismusanalysen, so im 18. Brumaire des Louis Bonaparte, hat Karl Marx eine komplexe Analyse von historischen Umbrüchen unternommen, indem er die ›verzaubernde‹ Wirkung der idées napoléoniennes des putschenden Louis Bonaparte auf die Transformation von sozioökonomischen Klassenstrukturen sowie Verschiebungen auf dem politischen Feld zurückbezog; vgl. Marx, Karl: »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 8, Berlin: Dietz (1960) [1852], S. 111-207. 91 Kaussen, Valerie: »Irrational Revolutions: Colonial Intersubjectivity and Dialectics in Marie Chauvet’s Amour«, in: Doris Lorraine Garraway (Hg.), Tree of Liberty: Cultural Legacies of the Haitian Revolution in the Atlantic, Virginia: University of Virginia Press 2008, S. 139.

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spelled on account of that, but rather affirmed – as essence«92. Sowohl das Konzept der propagierten nationalen Revolution wie auch die Reaffirmation der schwarzen Identität als fixe Subjektposition können als gescheitert gelten, und zwar grundsätzlich als politische Paradigmen politischen Widerstandes, wie nicht zuletzt am Beispiel der Duvalier-Diktatur veranschaulicht werden kann, die versuchte, sich auch aus diesen beiden Paradigmen ihre politische Legitimation herzuleiten. Die Entstehung einer rigiden schwarzen Identitätspolitik im Gefolge der haitianischen Revolution hat, Susan Buck-Morss zufolge, die universalistischen Verheißungen der Umwälzungsprozesse stark beschränkt: »Als Ideologie hatte die schwarze Identität überdies die Funktion eines Nationalmythos inne, der im Widerspruch stand zum Ideal der universellen Emanzipation, das die Revolution hervorgebracht hatte«93. Die tragische Dialektik kolonialer Souveränität und politischer Gegenprojekte lässt sich nicht ausschließlich in der »Hypothek kolonialer Machtinszenierung«94 diagnostizieren, wie sie Aimé Césaires in seinem Theaterstück La Tragédie du Roi Christophe (1963) vor Augen geführt hatte, als er das Scheitern des ersten haitianischen König Henri Christophe dadurch erklärte, dass dieser versuchte, europäische, absolutistische Formen grandioser Machtrepräsentation nicht nur zu imitieren, sondern zu hypostasieren und zu überbieten.95 Neben der Mimikry anti-kolonialer Akteure in den Kolonien und der Imitation »westlicher« Muster der Repräsentation verstärkte auch die Imitation der europäischen Paradigmen Nationalismus und autoritäre Diktatur die unmenschlichen Bedingungen in den ehemaligen Kolonien, die sowohl unter den Machtstrukturen der internationalen politischen und ökonomischen Machtbeziehungen wie auch in den entsprechenden Repräsentationsmustern fortexistieren. »While this nationalism seeks to liberate the multitude from foreign domination, it erects domestic structures of domination that are equally severe«96, ein Problem, das sich deutlicher als am Beispiel des politischen Projekts Duvaliers nicht veranschaulichen lässt.

92 Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire, Cambridge: Harvard University Press 2001, S. 130. 93 Buck-Morss, Susan: Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 199 f. 94 Lüsebrink, Hans-Jürgen: »Von der Geschichte zur Fiktion – die Haitianische Revolution als gesamtamerikanisches Ereignis«, in: Rüdiger Zoller (Hg.), Amerikaner wider Willen : Beiträge zur Sklaverei in Lateinamerika und ihre Folgen, Frankfurt a. M.: Vervuert Verlag 1994, S. 145-160, hier Seite 156. 95 Ebd., S. 156. 96 M. Hardt/A. Negri: Empire, S. 133.

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Die progressiv anmutende Befreiungsrhetorik, die Duvalier durch seine Inszenierung als Papa Doc und père spirituel der Nation glaubhaft zu machen versuchte, stellt eine traurige Form von Mimikry dar und steht für den Anstrich eines Systems, das gekleidet in antikolonialistischer Rhetorik und Selbstbehauptungsvisionen, die Unterdrückung der haitianischen Bevölkerung umso mehr intensivierte.

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Despoten im Gegenlicht. Zum biopolitischen Körper Trujillos in La fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa* J AN -H ENRIK W ITTHAUS

1. D ER K REIDEKREIS

DES

M ACHTHABERS

Die literaturgeschichtliche Antwort auf die Frage nach der Untergattung der Diktatorenromane scheint rasch beantwortet: Es handelt sich um einige im Zuge der lateinamerikanischen Boom-Literatur publizierte Texte, in denen die Figur des Diktators im Mittelpunkt steht. Man ist versucht zu vermuten, dass sich hier ein typisches, fast legendäres Thema dieses weitläufigen Kulturkreises abbildet. Ebenso illuster wie das Sujet mutet die Serie der Autoren an, die sich an ihm versucht haben. Der hochdekorierte Gabriel García Márquez etwa wäre mit seinem El otoño del patriarca (1975) in dieser Reihe aufzuführen. Nicht minder beachtet figurieren Schriftsteller wie Augusto Roa Bastos mit Yo, el supremo (1974) oder Alejo Carpentier mit El recurso del método (1974). Wie weit reicht allerdings eine motivgeschichtliche Antwort, die auf die Präsenz der DiktatorenFigur im Kontext des Romanganzen setzt? Fällt dann beispielsweise nicht der Señor Presidente (1946) von Miguel Ángel Asturias heraus – der textuelle Ahne –, taucht doch die Figur des Präsidenten aller Erwartung zum Trotz, die der Titel erweckt, nur in wenigen Kapiteln auf?1

*

Nachfolgender Aufsatz beruht auf einem Bewerbungsvortrag, der in den Jahren 2009 und 2010 mehrfach zu Gehör gebracht wurde, sowie auf einer Vorlesung zum Diktatorenroman an der Universität Kassel aus dem Sommersemester 2010. Mein Dank gilt den jeweils anwesenden Diskussionsteilnehmern in den Kommissionen sowie den

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Ein weiterer Versuch, zentrale Merkmale des Romansujets aufzuzeigen, mag darin bestehen, den oftmals experimentellen Zug der Prosa hervorzukehren, der eine Vielzahl der betreffenden Texte dominiert. Zumindest im Hinblick auf die erwähnten Romane liegt diese Gemeinsamkeit plan zu Tage: bei Asturias etwa der Einbruch surrealer Elemente und die Rückführung auf die klanglichen Qualitäten der Sprache als Verweigerung ihrer politischen Indienstnahme; bei Carpentier und García Máquez die Austerität typographischer Ordnungsmittel wie Absatzmarkierung, ebenso die Vermengung mehrerer Perspektiven und Stimmen. Wie verhält es sich dann jedoch mit Texten wie Muertes de perro (1958) von Francisco Ayala oder La fiesta del Chivo (2000) von Mario Vargas Llosa? Gerade letzterer Roman dürfte als äußerst zugängliches, vielleicht gar kommerzielles Exemplar seiner Gattung gelten (und damit womöglich aus derselben herausfallen): eine überschaubare Anzahl von Handlungssträngen, die mit einer jeweils wohl definierten Erzählhaltung in Verbindung gebracht werden – zwischen ihnen Cliffhanger, die den Leser bei Laune und den Lektürefluss auf ansehnlichem Tempo halten.2 Man wird den Roman La fiesta del Chivo, um den es in der Folge gehen wird, eher als historischen Roman ansehen, zumal auch Mario Vargas Llosa selbst im Hinblick auf seinen Text auf Abstand zu den erwähnten Vorläufern geht, vielleicht jedoch weniger programmatisch als eher aufgrund von ›Einfluss-

Studierenden der Vorlesung, die mit ihren Hinweisen und kritischen Anmerkungen die Ausarbeitung sehr bereichert haben. 1

In diesem Sinn lässt sich mit Christian Wehr (vgl. »Allegorie – Groteske – Legende. Stationen des Diktatorenromans«, in: Romanische Forschungen 113 [2005], S. 310343) der Diktatorenroman als literarische Untergattung begreifen, in welcher der allegorische Messianismus der Caudillo-Herrschaft als gebrochenes Versprechen inszeniert wird und damit »in jenen Enttäuschungen heilsgeschichtlicher Erwartungen begründet [ist], von denen die Geschichte Lateinamerikas seit der conquista begleitet wird.« (S. 343) Damit gerät das Genre und sein historisches »apriori« (S. 312), wie es mit Bezug auf Foucault heißt, in die Perspektive einer longue durée, die für sich genommen nicht von der Hand zu weisen ist. Aus dem Blick geraten dadurch jedoch auch die Modernität totalitärer Herrschaft und ihre Reflexion im Diktatorenroman, die in der Folge über die mit Ernst Kantorowicz assoziierte Körperthematik eingeführt werden soll.

2

Mario Vargas Llosa hat bspw. mit Conversación en la catedral sicherlich schon sehr viel komplexere Erzähltexte produziert und sich zudem an der theoretischen Reflexion über den Roman beteiligt. Vgl. Scheerer, Thomas M.: Mario Vargas Llosa. Leben und Werk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 63-85.

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angst‹, wie man mit Harold Bloom sagen könnte.3 An dieser Stelle soll gegenläufig vorgeschlagen werden, La fiesta del Chivo als Diktatorenroman zu charakterisieren, jedoch auf der Basis einer ein Stück weit verschobenen Fragestellung. Nicht so sehr geht es darum, was Diktatorenromane sind, sondern was sie tun.4 Und entsprechend wäre die Frage nach der Präsenz der Diktatorenfigur keine rein motivgeschichtliche, ebenso wenig wie eine nach der Textsorte, dem Sujet oder der literarischen Gattung. Die pragmatische Dimension der Texte enthüllt vielmehr den Charakter ihrer Intervention in einem kulturellen Ganzen. Die Frage, was denn Diktatorenromane tun, lässt sich zunächst aufklären in der These, dass sie dem Diktator zu nahe treten. Sie eröffnen Blickwinkel auf den Machthaber, welche unterhalb seiner öffentlichen Repräsentation subversive Sicht verschaffen. Man könnte diese sprachliche Intervention, die dem betreffenden Romansujet zugrunde liegt, abtun als das, was wir immer wussten: Das literarische Engagement geißelt den Tyrannen, es setzt ihn unvorteilhaft in Szene, ja überantwortet ihn der respektlosen Satire.5 Bewegt sich diese Form der

3

Gemeint ist damit die kreative Auseinandersetzung mit intertextueller Vorläuferschaft, der man zu entkommen versucht. Vgl. López-Calvo, Ignacio: ›God and Trujillo‹. Literary and Cultural Representations of the Dominican Dictator, Florida: University Press 2005, S. 53-55; vgl. Bloom, Harold: Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 163-260; vgl. auch Foley, Andrew: »Power, Will and Freedom. Mario Vargas Llosa’s The Feast of the Goat«, in: Journal of Literary Studies 24 (2008); S. 1-31, hier S. 5f.

4

Jonathan Culler (vgl. Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart: Reclam 2002, S. 152-155) beantwortet die Frage nach dem Performativen in der Literatur primär rezeptionsgeschichtlich, das heißt, in welcher Form ein Gedicht oder ein Roman in sozialer oder ästhetischer Hinsicht eine Intervention mit Folgen darstellt.

5

Klaus-Dieter Ertler (vgl. »Schreiben als Dekonstruktion nationaler Geschichte: La Fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa und En attendant le vote des bêtes sauvages von Ahmadou Kourouma«, in: ders. (Hg.), Pensées, Pensieri, Pensamientos. Dargestellte Gedankenwelten in der Literatur der Romania, Berlin/Münster u.a.: Lit 2006, S. 509-523) fragt nach dem Verbleib des literarischen Engagements in postmodernen Paradigmen und konstatiert, dass – wenn auch weniger emphatisch und mit anderen Mitteln – »autokratische Machtsysteme den kulturellen Beobachtungsapparat in oppressiven Gesellschaften« reizen (S. 522). Dass La fiesta del Chivo weniger dem postmodernen Romanparadigma verpflichtet und dass weder Skeptizimus noch dezentrierter Perspektivismus zu verzeichnen sei, liest man hingegen bei Frauke Gewecke, vgl. »La fiesta del Chivo de Mario Vargas Llosa: perspectivas de recepción de una novela de éxito«, in: Iberoamericana 1/3 (2001), S. 151-168, hier S. 161.

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Denunziation letztlich in der lang zurückreichenden Tradition des Karnevals oder literarisch gesprochen: in den stilistischen Reserven der Groteske, so wird sie in Epochen der Umwälzung gar revolutionär, intim und frivol. Der Kaiser wird entkleidet.6 Dabei ist diesem Projekt und dem Anliegen einer vermuteten Textintention immer auch die Gegenrechnung desjenigen aufzumachen, der sich diesem literarischen Unternehmen ausgesetzt sieht. Denn der Absicht, dem Diktator zu nahe zu treten, liegt eine Durchkreuzung der Absichten des Alleinherrschers zugrunde, der einer eindrucksvollen Darstellung Elias Canettis zufolge, die Welt, die er regiert, auf Abstand hält. »Der Machthaber, von dessen Existenz die der übrigen abhängt, erfreut sich des größten, des deutlichsten Abstandes; darin, nicht nur in seinem Glanz, ist er Sonne oder, weiträumiger noch, wie bei den Chinesen der Himmel. Der Zugang zu ihm ist erschwert, Paläste mit immer mehr Räumen werden um ihn erbaut. Jedes Tor, jede Tür ist auf das schärfste bewacht; es ist unmöglich, gegen seinen Willen einzudringen.«7

Ebenso wäre von den ›Vorräumen‹ der Macht sprechen, durch welche der Zugang zu ihrem Träger kanalisiert wird und um den erbitterte Kämpfe ausgetragen werden.8 Der Diktatorenroman als Sprachhandlung übt sich jedoch nicht im Antichambrieren, er sucht keinen bloßen Zugang zur Macht, er begibt sich direkt in ihr Zentrum. Er usurpiert es, überblendet seine Erzählung mit der simulierten Perspektive der Macht, misshandelt ihre Berührungsangst.9

6

Vgl. Frank, Thomas/Koschorke, Albrecht u.a.: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte. Bilder. Lektüren, Frankfurt a.M.: Fischer 2002, S. 218-232.

7 8

Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer 292003, S. 242. Vgl. Schmitt, Carl: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart: Klett-Cotta 2008, S. 22f: »Vor jedem Raum direkter Macht bildet sich ein Vorraum indirekter Einflüsse und Gewalten, ein Zugang zum Ohr, ein Korridor zur Seele des Machthabers. Es gibt keine menschliche Macht ohne diesen Vorraum und ohne diesen Korridor.«

9

Dies wurde in klassischen Studien zum Diktatorenroman bereits so benannt, vgl. Rama, Ángel: Los dictadores latinoamericanos, México: Fondo de Cultura Económica 1976, S. 18: »[Los nuevos narradores] se instalan con soltura en la conciencia misma del personaje [del dictador] y de ese modo ocupan el centro desde donde se ejerce el poder y ven el universo circundante a través de sus operaciones concretas.« Vgl. auch

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Nun ließe sich die Berührungsangst des Machthabers im Vokabular des ›gesunden Verstandes‹ schlicht als die Furcht vor dem Attentat beschreiben, die drei Meter Radius des Kreidekreises, den der Oberst Aureliano Buendía aus Cien años de soledad (1967) um sich herum markieren lässt, wo er geht und wo er steht. Aber dieses Beispiel demonstriert hinlänglich, dass nicht erst jüngst Waffen zur Verfügung stehen, welche den Abstand zum öffentlich auftretenden Machthaber spielend überbrücken. So steht womöglich etwas anderes auf dem Spiel als lediglich der natürliche Körper des Trägers oder Usurpators von Amt und Würden: Der Kreidekreis beinhaltet die Außensicht auf den Despoten und ebenfalls einen Zirkel von Mythen und Repräsentationseinheiten, die durchkreuzt werden können. Dies verdeutlicht der Kreidekreis um Aureliano Buendía, der von größerer Tragweite zeugt, als dass er schlicht ›eine Schrulle mehr‹ des exzentrisch gewordenen, unnahbaren Herrn Oberst bezeichnet: »Damals bestimmte er auch, daß kein menschliches Wesen, nicht einmal Ursula, näher als drei Meter auf ihn zugehen dürfe. Im Mittelpunkt des Kreidekreises, den seine Adjutanten überall da, wo er auftrat, auf den Erdboden zeichneten und den nur er betreten durfte, entschied er mit kurz angebundenen, unwiderruflichen Befehlen über das Schicksal der Welt.«10

Dieser Passus scheint nicht allein wie eine ironische Bezugnahme auf die mittelalterliche Wendung vom ubiquitären Weltmittelpunkt, sie verrät darüber hinaus die radikale, pathologische Berührungsangst des zum Despoten mutierenden Befehlshabers, dessen Anordnungen nicht einmal den Eintritt der eigenen Mutter hinter die Demarkationslinie vorsehen. Das in García Márquez’ Roman vorgebrachte Leitthema, welches vom solitären Säkulum Macondos kündet, findet hier seine konkrete Variation in der Einsamkeit der Macht, die wiederum ein wiederkehrendes Sujet in seinen anderen Erzähltexten darstellt, nicht zuletzt im schon erwähnten Otoño del patriarca.

Köllmann, Sabine: »La fiesta del Chivo: cambio y continuidad en la obra de Mario Vargas Llosa«, in: Iberoamericana 1/3 (2001), S. 135-149, bes. S. 137, S. 140-142. 10 García Márquez, Gabriel: Hundert Jahre Einsamkeit, München: dtv 81987, S. 191. Vgl. Gabriel García Márquez, Cien años de soledad, Buenos Aires: Sudamericana 47

1976: »Fue entonces cuando decidió que ningún ser humano, ni siquiera Úrsula, se

le aproximara a menos de tres metros. En el centro del círculo de tiza que sus edecanes trazaban dondequiera que él llegara, y en el cual sólo él podía entrar, decidía con órdenes breves e inapelables el destino del mundo.« (Cien años de soledad, S. 145.)

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Direkt auf den Text bezogen, lässt der Berührungspuffer um Aureliano herum reziprok seinen Willen erkennbar werden, selbst in ›kurzen und unanfechtbaren Ordern‹ das ›Geschick der Welt‹ zu bestimmen. Die paranoische Angst des Machthabers, die Canetti analysiert, ist genau diese: Die künstlich geschaffenen Sphären der Unantastbarkeit verhalten sich in ihren Abwehrmechanismen indirekt proportional zur Organisation der ausgreifenden Befehlsgewalt, die in der für García Márquez typischen Hyperbel das gesamte Erdenrund in den Griff zu bekommen sucht. Allerdings gibt es jemanden, der den Kreidekreis der Einsamkeit durchdringt, nämlich die Prosa García Márquez’ selbst, die mittels Fokalisierung den seelischen Innenraum des haptischen Vakuums von sechs Metern Durchmesser abschreitet. Sie besetzt den Raum der Macht: »Er war der Ungewissheit müde, des tückischen Kreises jenes ewigen Krieges, der ihn immer an derselben Stelle antraf, freilich älter, verbrauchter, doch im unklaren über das Warum, Wie, Wohin. Immer stand jemand außerhalb des Kreidekreises. Jemand, dem es an Geld fehlte, der einen Sohn mit Keuchhusten hatte oder der für immer einschlafen wollte, weil er den Scheißgeschmack des Krieges nicht länger auf seiner Zunge ertragen konnte, und dennoch mit allerletzter Kraft strammstand und meldete: ›Alles normal, Herr Oberst.‹«11

Der kleine Diktatorenroman in Cien años de soledad simuliert mithin die Innenperspektive der Macht, die stets auf dem Posten ist. Indem der Erzähltext ihre Position besetzt, lässt er sichtbar werden, was dem unmittelbaren Umfeld, das vor Aurelianos Kreidelinie auftaucht, unsichtbar bleibt: wie der Oberst seinerseits auf dieses Umfeld blickt. Dabei interferieren die Perspektiven des Befehlshabers und der Bittsteller,12 auf die – so nimmt es den Anschein – der Erzähldis-

11 G. García Márquez: Hundert Jahre Einsamkeit, S. 193, Vgl. G. García Márquez: Cien años de soledad, S. 146: »Se cansó de la incertidumbre, del círculo vicioso de aquella guerra eterna que siempre lo encontraba a él en el mismo lugar, sólo que cada vez más viejo, más acabado, más sin saber por qué, ni cómo, ni hasta cuándo. Siempre había alguien fuera del círculo de tiza. Alguien a quien le hacía falta dinero, que tenía un hijo con tos ferina o que quería irse a dormir para siempre porque ya no podía soportar en la boca el sabor a mierda de la guerra y que, sin embargo, se cuadraba con sus últimas reservas de energía para informar : ›Todo normal, mi coronel.‹« 12 Interferieren können also nicht nur Personentext und Erzähltext (vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie, Berlin: de Gruyter 2005, S. 177-179), sondern auch mehrere Personentexte.

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kurs kurzfristig umschwenkt. Dennoch verdeutlicht dieser Passus letztlich doch unstrittig, dass Aureliano in den Vorstelligen die Ansprüche wiederkennt, die an seine Position herangetragen werden, die Fokalisierung also letztlich über diese Figur geführt wird, was durch die an den Oberst adressierte Rede »Todo normal, mi coronel« angezeigt wird. Der Text baut also ein hochkomplexes Blickgefüge mehrfacher Ordnungsstufen auf: Er beobachtet Aureliano, der seinerseits seine Untergebenen beobachtet, in deren Beobachtung er allerdings einen Blick auf seine öffentliche Person, also auf seine Außenwirkung der Macht gewinnt. Die Fokalisierung über Aureliano Buendía veräußerlicht damit genau das, was nicht durch den Kreis hindurch nach außen dringen soll, seine Gefühlswelt, der Überdruss am Krieg und die unerträgliche Monotonie seiner Gräuel, die die Beteiligten in den Puffer von Müdigkeit, Stumpfsinn und impassibilité eintauchen lässt. Damit wird aber textintentional nicht allein seine Menschlichkeit vor Augen gestellt, wie man das wiederholt vom Trujillo Vargas Llosas’ behauptet hat.13 Vor allem zeigt sich in der aufgezeigten Blickdialektik die Wahrnehmung seiner selbst als Machthaber und Rolle, die er – der Kreis zeigt es an – nicht verlassen kann. Aureliano ist an sein Bild gekettet, seine Person ist politisch und in diesem Sinne in eine Politik von Blicken und Erwartungen eingelassen. So ist es an der Zeit, eine erste Arbeitshypothese festzuhalten: Das narrative Eindringen in die Innenperspektive des Machthabers, so wie es der Leser häufig in Diktatorenromanen antrifft, ist keine bloße Denunziation, sprich: Diese sind nicht darauf zu reduzieren, in der Tradition der überkommenen Herrschersatire entlarvend, enthüllend oder entkleidend zu sein, wobei dieser Gestus unabdingbar mit den hier betrachteten Texten verwoben ist. Sie sind darüber hinaus, nach einem Wort der Systemtheoretiker, Beobachtung mehrfacher Ordnung,14 und brechen mit dem Beobachtungsmonopol totalitärer Herrschaft. So soll sich zeigen, dass der Souverän in seiner Berührungsangst sehr viel subtiler durch das

13 So die These bei López-Calvo (vgl. ›God and Trujillo‹, S.57), Vargas Llosa wende sich, wenn ich so paraphrasieren darf, mit ›seinem lebensnahen und gefühlsechten Trujillo‹ gegen eine Mythisierung des Diktators in El otoño del patriarca – Mythisierung, die letztlich zur Verehrung oder Bewunderung führe. Variiert wird hiermit eine ältere These von Mario Benedetti (vgl. »El recurso del supremo patriarca«, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana 3/2 [1976], S. 55-67). In vorliegendem Aufsatz geht es allerdings weniger um das Identifikationspotenzial der Figuren für den impliziten Leser, als vielmehr um Beobachtung von Macht auf mehreren Ordnungsstufen. Und hierfür ist der Otoño del patriarca ein Musterstück. 14 Vgl. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 22004, S. 141-166.

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Eindringen in den Apparat seiner Sichtbarkeitspolitik missbraucht wird. Dass der Körper des Machthabers in diesem Spiel der Bilder einen ganz besonderen Stellenwert hat, soll nun im Anschluss Erwähnung finden.

2. D ER BIOPOLITISCHE K ÖRPER DES D IKTATORS Die Aufdringlichkeit der Diktatorenromane kann unterschiedlichste Ausdrucksformen annehmen. Wie in dem betrachteten Beispiel kann die erlebte Rede die Fassade der Macht hintergehen und ihre Position übernehmen. Die Formen des inneren Monologs, die man in El recurso del método oder in El otoño del patriarca findet, sind als analog funktionierende Mittel auf der Formebene beschreibbar. Auf der Inhaltsebene ergibt sich ergänzend dazu die Thematisierung des Machthabers, die in der oben erwähnten Tradition seine repräsentativen Hüllen perforiert, ihn entkleidet. Zum Vorschein kommt nicht nur allein sein bloßes körperliches Sein, sondern in Anlehnung an Foucault der biopolitische Körper des Diktators, das heißt der politische Stellenwert seines Körpers als Bestandteil eines herrschaftlichen, repräsentativen Kalküls. Dass dem Körper des Diktators ein eigentümlich biopolitischer Wert zukommt, hat Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France angemerkt. Er kommentierte in dieser Hinsicht den Tod Francisco Francos, der in der Endphase seines Regimes allein durch die Kunst der Ärzte am Leben gehalten werden konnte,15 ja der zuletzt nur noch als reine somatische Hülle an der Maschine sein Regime künstlich beatmete. »C’est ainsi que celui qui avait exercé le pouvoir absolu de vie et de mort sur des centaines de milliers de gens, celui-là est tombé sous le coup d’un pouvoir qui aménageait si bien la vie, qui regardait si peu la mort, qu’il ne s’était même pas aperçu qu’il était déjà mort et qu’on le faisait vivre après sa mort.«16

15 Vgl. Bernecker, Walther L.: »Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo«, in: Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 157-180. 16 Foucault, Michel: «Il faut défendre la société». Cours au Collège de France. 1976, Paris: Gallimard 1997, S. 221, vgl. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 72ff, der diesen Passus zum Ausgangspunkt nimmt, um von diesem aus eine Überleitung zu den Rassismus-

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Vom biopolitischen Körper des Diktators zu sprechen, versteht sich dabei zunächst als eine distanznehmende Adaptation der Thesen Ernst Kantorowicz’, der vom politischen Körper des mittelalterlichen Königs handelte. Ausgehend von der Überlegung, dass der moderne Diktator durch ein Legitimationsdefizit,17 seine Nachfolge nur prekär gestalten kann, kommt im Hinblick auf das Überdauern des Regimes seiner körperlichen Stabilität und Gesundheit ein potenzierter Stellenwert zu. Nur handelt es sich in diesem Kontext nicht mehr um den mystischen königlichen Körper, verstanden als Oberhaupt eines staatlichen Kollektivs – ein Körper ›der gleichsam nie stirbt‹.18 Vielmehr haben die politischen Umwälzungen mit dem Anbruch der Moderne laut Claude Lefort dazu geführt, dass der Platz des Königs, an dem sein politischer Körper sich einstmals befand, geräumt worden ist.19 Dieser Platz kann nun mehr unter modernen Bedingungen allein transitorisch besetzt werden: »Der Monarch repräsentiert den Staat mit seinem symbolischen Körper, der Usurpator unterschiebt sich mit seinem natürlichen Leib dem Staat.«20

Thesen Foucaults herzustellen. Der eigentümliche biopolitische Wert des Herrscherkörpers selbst wird dabei nicht weiterentwickelt. 17 Die Begriffsgeschichte von Diktatur verdeutlicht die Negativierung des Begriffs in der Moderne (vgl. den Artikel »Diktatur«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart: Klett-Cotta 1972, S. 900-924), obwohl noch im 20. Jahrhundert (etwa in Spanien bei Miguel Primo de Rivera) Versuche unternommen werden, die weniger kritische antike Begriffstradition auszubeuten. Legitimationsdefizite in der Selbstwahrnehmung lateinamerikanischer Diktaturen geben sich etwa in der auch unter dem Trujillo-Regime gängigen Praxis des »continuismo« (López-Calvo: ›God and Trujillo‹, S. 19-21) zu erkennen, d.h. die Verlängerung von Amtszeiten durch Schauwahlen, Verfassungsänderungen, Marionettenpräsidenten etc. 18 Vgl. Kantorowicz, Ernst H.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München: dtv 21994, S. 317-443. 19 Philip Manow (vgl. Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 134-136) unterscheidet mit Bezug auf Lefort und Canetti zwischen heißer (d.h. totalitärer) und kalter Repräsentation. 20 Koschorke, Albrecht/Lüdemann, Susanne/Frank, Thomas/Matala de Mazza, Ethel: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 253. So könnte man ein wenig überpointiert formulieren, dass der Diktator im Gegensatz zum mittelalterlichen König nur einen Körper hat.

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Anschaulich werden diese Zusammenhänge anhand des Romans La fiesta del Chivo, in dem Mario Vargas Llosa von der Spätphase der Diktatur Rafael Trujillos berichtet.21 Trujillo beherrschte die Dominikanische Republik von 1930 bis 1961. Trujillos Anhänger beschreiben sein Regime historisch als die Etappe der gesellschaftlichen Modernisierung des Landes. Seine Gegner sind da anderer Meinung. Nicht nur die Auflösung demokratischer Strukturen ist mit seiner Regierungszeit assoziiert, ebenso die komplette Beseitigung der Bürger- wie Pressefreiheiten, persönliche Bereicherung, Nepotismus, die nachgerade paranoische Verfolgung Oppositioneller wie der gnadenlose Massenmord an der ethnischen Minderheit der Haitianer, die bis 1937 auf den Zuckerrohrplantagen der westlichen Provinzen gearbeitet hatten.22 Die massive, an kultische Formen heranreichende Selbstinszenierung des Diktators sowie die Zirkulation von Mythen über seine angeblich außergewöhnlichen körperlichen und mentalen Fähigkeiten wurden bereits zum Anlass genommen, im Sinne Kantorowicz’ von den ›zwei Körpern Trujillos‹ zu sprechen.23 Dies geschieht allerdings irreführenderweise nicht im Sinne einer »politi-

21 Dass der Diktatorenroman in diesem Sinne ›enthülle‹, mag man mit Jean-Paul Sartre in Verbindung bringen, der in Qu’est-ce que la littérature dem Prosatext bescheinigt hatte, er würde enthüllen, d.h. allerdings im phänomenologischen Sinne, dass er auf die Welt und die Dinge in ihr verweise, in sie verwickelt – engagiert – sei, wohingegen die Lyrik zur Sprache selbst zurückführe: »L’écrivain ‹engagé› sait que la parole est action : il sait que dévoiler c’est changer et qu’on ne peut dévoiler qu’en projetant de changer« (Sartre, Jean-Paul: Situations, II: Qu’est-ce que la littérature, Paris: Gallimard 1948, S. 73). Die Frage nach dem Engagement der Literatur im postmodernen Paradigma bleibt dennoch zu klären (vgl. K. D. Ertler: Schreiben als Dekonstruktion), vor allem wenn man in Rechnung stellt, dass sich Vargas Llosa seit seinem Frühwerk mit den Theoremen Sartres auseinandergesetzt hat, vgl. hierzu T. M. Scheerer, Mario Vargas Llosa, S. 18-20. Vgl. hierzu auch S. Köllmann: »La fiesta del Chivo«. Hierzu soll indes an dieser Stelle angeregt werden, dass der Diktatorenroman weniger ›enthüllt‹ als durch die Mischung von Fiktion und historischen Daten Sichtbarkeit auf mehreren Ordnungsstufen simuliert, die noch in der Simulation subversiv ist. 22 Vgl. zur literarischen Verarbeitung dieser ethnozidalen Vorgänge Gewecke, Frauke: »›El Corte‹ oder ›Les Vêpres Dominicaines‹ Trujillos dominicanización de la frontera und ihr Reflex in der dominikanischen und haitianischen Literatur«, in: Iberoamericana 50 (1993), S. 38-62. 23 Vgl. Derby, Lauren: »The Dictator’s Two Bodies: Hidden Powers of State in the Dominican Imagination«, in: Etnofor 12 (1999), S. 92-116. Vgl. López-Calvo: ›God and Trujillo‹, S. 47.

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schen Theologie des Mittelalters«,24 sondern durch Dopplungseffekte, wie sie im Voodoo von Schutzgeistern oder Dämonen ausgehen und dann im Volksglauben die Macht des Diktators zusätzlich stabilisiert haben sollen. Dies führt natürlich zu der Frage, inwiefern die Despoten Lateinamerikas und ihre Herrschaftstechnologien in den Kontexten ihrer jeweiligen Kulturräume betrachtet zu werden verdienen. In diesem Fall ist jedoch einer solchen ›Arbeit am Mythos‹ eher eine Volkskultur am Werke, weniger – wie etwa bei François Duvalier25 – das Kalkül einer von oben orchestrierten Machtinszenierung, in welcher der Körper des Despoten zu einem Politikum wird. Primär geht es jedoch an dieser Stelle nicht um Trujillo, sondern um seine literarische Repräsentation, und in dieser Hinsicht lässt sich eine weitere These formulieren, welcher gemäß im Roman La fiesta del Chivo das Politikum des Diktatoren-Körpers in seiner Hinfälligkeit vor Augen gestellt und die Einmaligkeit seiner Rolle im politischen Theater ausgestellt wird.26 Gleichsam sollte dabei nicht in Vergessenheit geraten, dass die Verwurzelung des Diktatorenromans im Regionalen nur bedingt in Rechnung zu stellen ist, weil in der literarischen Figur des Herrschers verschiedene historische Vorlagen verschmelzen – dies gilt noch für La fiesta del Chivo, wenn man bedenkt, dass textintentional auch die Fujimori-Diktatur mit im Fokus sein könnte.27 In jedem Fall legt der Text Hand an den Mythos des Despoten.28 Auch wenn der Diktatorenroman zumeist nur

24 Zitiert aus dem Untertitel des Buches von Kantorowicz. 25 Vgl. den Beitrag von Patrick Eser in diesem Band. Angesichts des manifesten und latenten Rassismus, der sich auf dominikanischer Seite selbst noch in der literarischen Verarbeitung des erwähnten ›Grenzkrieges‹ findet (vgl. F. Gewecke: ›El Corte‹ oder ›Les Vêpres Dominicaines‹, S. 47f.), fällt es schwer, der zitierten These Derbys zuzustimmen, die Mythen um Trujillos Person entstammten dem haitianischen Voodoo. 26 Vgl. ferner zur Körperlichkeit im Diktatorenroman Vázquez-Medina, Olivia: Cuerpo, historia y textualidad en Augusto Roa Bastos, Fernando del Paso y Gabriel García Márquez, Madrid: Vervuert 2013, S. 10-34. 27 Vgl. K. D. Ertler: Schreiben als Dekonstruktion, S. 514; zur Differenzierung A. Foley: Power, Will and Freedom, S. 5; Sánchez, Yvette: »›La fiesta del Chivo‹ como pantalla de proyecciones peruanas«, in: Janett Reinstädler/Dieter Ingenschay (Hg.), Escribir después de la dictadura. La producción literaria y cultural en las posdictaduras de Europa e Hispanoamérica, Madrid/Frankfurt a.M.: Iberoamericana/Vervuert 2011, S. 317-326. 28 Dieser Befund ändert nichts an jenem anderen, dass der Roman seinerseits mythologische Interpretationen vornimmt, vgl. dazu Macías Rodríguez, Claudia: »El doble tiranicidio de Trujillo, en La Fiesta del Chivo de Vargas Llosa«, in: Ciberletras 14

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nachträglich eine Devestitur in diesem Fall eines konkreten Machthabers in Gang zu bringen vermag, weil die Zensur ihm den Weg versperrt, so liegt noch in dieser Nachträglichkeit ein Angriff auf seinen Mythos im kollektiven Erinnerungshaushalt eines Landes. In La fiesta del Chivo steht mit der Frage nach der physischen Existenz des Despoten auch sein biopolitischer Körper auf dem Spiel. Denn ein Hauptstrang der Handlung führt zum Attentat, dem der Tyrann den Geschichtsbüchern zufolge 1961 zum Opfer fiel und welches in der Hoffnung verübt wird, dass durch die Beseitigung der Person gleichsam das durch ihn entworfene Machtsystem in sich zusammenstürze. Wenn eine politische Machtarchitektur an der biologischen Existenz einer Person zu hängen scheint, so ergibt sich umgekehrt die Hoffnung, dass mit dem Angriff auf seinen Körper gleichfalls das Regime beseitigt wird, das mit ihm verbunden ist.29 Von diesem Impetus getragen werden zumindest die Attentäter, die Trujillo mit ihren Maschinenpistolen zu Leibe rücken und dann letztendlich auch zur Strecke bringen. Tatsächlich entscheidet sich jedes weitere Vorgehen mit dem Schicksal Trujillos. So möchte der eingeweihte General Pupo Román – der mit der Nichte des Diktators verheiratet ist – die komplette Befehlsgewalt über das Militär erst zu dem Zeitpunkt an sich reißen, an welchem ihm die Verschwörer die Leiche des Diktators zeigen.30 Das heißt, hier genügt kein Hörensagen, das Augenzeugnis ist Voraussetzung für die Gewissheit und diese wiederum die Bedingung für das Fortspinnen der politischen Intrige. Trujillos toter Körper steht zumindest im Diskurs, der das politische Verständnis der Verschwörer anleitet, für die zunichte gemachte Zukunft des Regimes: »General Román würde noch heute Nacht die Macht ergreifen. Sie hatten nichts zu fürchten. Das Volk würde auf die Straße strömen, um die Männer, die den Tyrannen gerichtet hatten, hochleben lassen.«31 Oder: »Und durch Trujillos

(2005): http://www.lehman.cuny. edu/ciberletras/v14/macias.htm [letzter Zugriff: 17.03.2014]. 29 In Abwandlung von Canetti spricht Manow (vgl. Im Schatten, S. 122) daher davon, dass der moderne Despot nicht greifbar sein darf, aber dennoch ubiquitär sein muss. 30 Was er letztlich nicht tut. Vgl. zur Psychologie dieser Figur Feenstra, Ramón A.: »Una lectura antropológica de La Fiesta del Chivo. Entre el deseo de reconocimiento y el miedo a la libertad«, in: Témata. Revista de filosofía 39 (2007), S. 167-174. 31 Vargas Llosa, Mario: Das Fest des Ziegenbocks, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 328. Vgl. zur spanischen Originalversion Vargas Llosa, Mario: La fiesta del Chivo, Madrid: Punto de Lectura 42008, S. 320: »Qué importaba, el general Román tomaría

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Tod würde das Regime ohnehin wie ein Kartenhaus zusammenfallen.«32 Zumindest scheint in der Analyse des Attentäters Salvador Sadhalas der Machtapparat Trujillos um seine Person herum gebaut zu sein: »Mit halb geschlossenen Augen, eingelullt vom sanften Rauschen des Meeres, dachte er, wie teuflisch das System war, das Trujillo geschaffen hatte, ein System, an dem alle Dominikaner früher oder später als Komplizen beteiligt waren, ein System, vor dem sich nur die Exilanten (nicht immer) und die Toten retten konnten.«33

Einem solchen System der ubiquitären Komplizenschaft ist nur durch die Beseitigung des Paten beizukommen. So wäre es ein Leichtes für den Romancier, das gelungene Attentat gegen den Diktator ein zweites Mal im Medium der Literatur zu zelebrieren. Aber zum Leidwesen aller Anhänger poetischer Gerechtigkeit weiß der sich stark an den geschichtlichen Grunddaten orientierende Text Vargas Llosas’ nichts Anderes zu berichten, als dass nach Trujillos Tod sein Clan nicht eher das Land verlässt, bis fast alle Attentäter und massenweise Unschuldige ausgelöscht sind. Nicht allein der Gewaltakt gegen den Machthaber, vielmehr die machiavellistische Schläue des Vizepräsidenten und Nachfolgers Joaquín Balaguers führen, dem Roman Vargas Llosas zufolge, zur vorläufigen Auflösung des Regimes.34 Man könnte daher nach einem ersten Lektüredurchlauf auf den Gedanken kommen, die dem Roman zugrunde liegende These bestreite – dem Gang der nachfolgenden Geschichte folgend – die Effektivität des Tyran-

el poder esta misma noche. No tenían nada que temer. El país saldría a las calles a vitorear a los ajusticiadores del tirano.« 32 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 368. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 359: »Y, en todo caso, con la muerte de Trujillo, el régimen se desharía como castillo de naipes.« 33 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 196. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 192: »Con los ojos semicerrados, arrullado por el rumor quedo del mar, pensó en lo endiablado del sistema que Trujillo había sido capaz de crear, en el que todos los dominicanos tarde o temprano participaban como cómplices, un sistema del que sólo podían ponerse a salvo los exiliados (no siempre) y los muertos.« 34 Dass Balaguer den Geschichtsbüchern zufolge als Präsident seinen eigenen Autoritarismus herausprägt, der sich in Grausamkeit mit dem Trujillos durchaus messen kann – »un trujillismo sin Trujillo« (F. Gewecke: La fiesta del Chivo, S. 157) –, wird vom Romantext nur indirekt thematisiert. Vgl. A. Foley: Power, Will and Freedom, S. 24. Vgl. zu Balaguer ferner F. Gewecke: ›El Corte‹ oder ›Les Vêpres Dominicaines‹, S. 57-59.

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nenmordes,35 eben weil die Hoffnung der Verschwörer auf einen schnellen Übergang zur Demokratie sowohl dem Roman als auch der historischen Quellenlage zufolge zerstreut wird. Aber diese Lesart wäre unter Umständen ein wenig überstürzt, dafür erscheinen die Attentäter in einem zu heroischen Licht, ihr Angriff auf den biopolitischen Körper des Diktators zu alternativlos36 – und zu sehr in Parallele mit der Attacke, die der literarische Text auf das Andenken des Despoten selbst führt. So geht es in der Attentats-Intrige um Trujillos Überleben, aber wie schon angedeutet: Der Erzähltext ist weit davon entfernt den Anschlag und seine Folgen triumphal vor den Augen des Lesers zu präsentieren. Der versehrte Körper Trujillos ist kaum eine längere Beschreibung wert ist, wohingegen der Verfolgung und der Folter der Attentäter wie Mitwisser endlos Raum gegeben wird. Von der Leiche Trujillos heißt es vergleichsweise lakonisch: »Sekunden später blieb Salvador stehen, reckte den Kopf über die Schultern von Tony Imbert und Antonio, die, der eine mit einem Feuerzeug und der andere mit Streichhölzern, den blutüberströmten Körper examinierten, der in olivgrüner Kleidung, das Gesicht zerstört, in einer Blutlache auf dem Pflaster lag. Die Bestie, tot.«37

Verhält es sich nun so, dass der Körper des Machthabers, der den Teilhabern der politischen Intrige die entsprechenden Positionen und Handlungen zuweist, so gut wie gar nicht auftaucht? Das Gegenteil ist der Fall, nur wird man in einem anderen Handlungsstrang danach suchen müssen als in dem, der vom Attentat berichtet.

35 So fragt im Roman der Attentäter Salvador Estrella Sadhalá seinen Mitverschworenen: »Hast Du schon mal das Wort Tyrannenmord gehört? In Extremfällen erlaubt die Kirche ihn. Das hat der heilige Thomas von Aquin geschrieben« (M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 42). Vgl. La fiesta del Chivo, S. 43: »¿Has oído la palabra tiranicidio? En casos extremos, la Iglesia lo permite. Lo escribió santo Tomás de Aquino.« 36 Vgl. A. Foley: Power, Will and Freedom, S. 20. 37 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 259. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 253f.: »Segundos después, Salvador se detenía, alargaba la cabeza sobre los hombros de Tony Imbert y de Antonio, que, uno con un encendedor y otro con palitos de fósforos, examinaban el cuerpo bañado en sangre, vestido de verde oliva, la cara destrozada, que yacía en el pavimiento sobre un charco de sangre. La Bestia, muerta.«

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3. L EVER MIT I RRITATIONEN Vargas Llosa bestreitet den Handlungsablauf seines Romans mit drei primären Strängen, die sich in der finalen Explosion der politischen Ereignisse jedoch noch weiter ausdifferenzieren. Erstens erfährt der Leser von den Erinnerungen Uranias, die ins zeitgenössische Santo Domingo zurückkehrt. Ihr Vater, ein in Ungnade gefallener Günstlings des Diktators, hatte seine noch 14jährige Tochter Trujillo in einem diabolischen Handel überlassen, um seinerseits die alte Machtposition wiederzuerlangen. Zweitens begibt man sich in die Perspektive des Diktators selbst, der im Alter von 70 Jahren in der Endphase seines Regimes mit den Widerständen der katholischen Kirche und der US-amerikanischen Außendiplomatie zu kämpfen hat. Drittens verfolgt der Leser die Vorbereitungen des Attentats, seine Durchführung sowie die Verfolgung, Folter und Hinrichtung der Täter durch das Regime. Die politischen Ereignisse nach dem Tod Trujillos werden schließlich aus wechselnden Perspektiven dargestellt. Der Diktator erhält seinen ersten Auftritt direkt im zweiten Kapitel. Man kann diesen gesamten Textabschnitt in quasidramaturgischen Kategorien als Exposition ansehen,38 die unterlegt ist mit einer Szene alltäglicher Ankleidung des Machthabers. Aus Sicht des Tyrannen erfährt man die politische Problemlage des Regimes kurz vor seinem unerwarteten Ableben. Sorgenvolle Morgengedanken begleiten sein einsames Lever, durch welches er nach obligatorischem Frühsport den alternden Körper in die tadellose Uniform befördert. Der Leser hat eine Szene der Investitur vor sich.39 Tatsächlich gehört zur Inszenierung, dass eben diese Spannung zwischen dem hinfälligen Körper des Tyrannen und seiner Repräsentation zur perspektivischen Überschreitung jener Intimsphäre führt, die dem Machthaber zu nahe tritt. Damit wird der Mythos seines so gnadenlosen wie undurchdringlichen Blickes, mit dem er sein Umfeld tyrannisiert, geradezu umgedreht, da nunmehr er im Fokus des Lesers und damit der Nachwelt steht: »Ein Blick, dem niemand standhalten konnte, ohne die Augen zu Boden zu senken, eingeschüchtert, vernichtet durch die Kraft, die diese bohrenden Pupillen ausstrahlten, ein Blick, der die geheimsten Gedanken, die verborgenen Wünsche und Gelüste lesen zu können schien, den Leuten ein Gefühl der Nacktheit gab.«40

38 Die biographischen Eckpunkte seines Werdegangs werden eher gemeinplatzartig rekonstruiert, vgl. hierzu F. Gewecke: La fiesta del Chivo, S. 157. 39 Vgl. noch einmal T. Frank/A. Koschorke: Des Kaisers neue Kleider, S. 218-232. 40 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 47. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 48: »Una mirada que nadie podía resistir sin bajar los ojos, intimidado, aniquilado por la fuerza que

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Bevor allerdings der Roman seinen Protagonisten qua Fokalisierung entblättert, so wie dieser mit dem Blick seine Untergebenen entkleidete, muss der Diktator erst einmal angezogen werden. Um vier Uhr in der Früh quält Trujillo sich aus dem Bett. Militärische Disziplin ist alles. Seine Ausbildung bei den MarineEinheiten ließ ihn zu dem werden, der er war. Und die Beibehaltung dieser Selbsttechniken – so die Hoffnung – lässt ihn das bleiben, was er ist, allen körperlichen Schmerzen zum Trotz: »Die Knochen taten ihm weh, und er spürte schmerzhaft die Muskeln der Beine und des Rückens […].«41 Eklatanter als schwindende Kräfte der äußeren Gliedmaßen macht sich die Inkontinenz bemerkbar, eine Prostataerkrankung wird gleichsam angedeutet: »Beklommen musterte er das Laken: der formlose kleine Fleck von gräulicher Farbe entstellte das weiße Leinen. Es war ihm wieder passiert. […] Scheiße! Verdammte Scheiße! Das war kein Feind, dem er den Garaus machen konnte wie den Hunderten, den Tausenden, denen er im Lauf der Jahre die Stirn geboten hatte, indem er sie gekauft, eingeschüchtert oder umgebracht hatte. Er lebte in seinem Innern, Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blut. Er zerstörte ihn gerade jetzt, da er mehr Kraft und Gesundheit brauchte denn je.«42

Dem allmächtigen Herrscher entzieht sich zunehmend die Kontrolle über seinen eigenen Körper, dessen Verfall schon unaufhaltsam eingesetzt hat. Nun ist dies ein klassisches Motiv aus dem Repertoire der literarischen Groteske, wie sie von Bachtin beschrieben worden und somit als »Erniedrigung des Erhabenen« zu begreifen ist.43

irradiaban esas pupilas perforantes, que parecía leer los pensamientos más secretos, los deseos y apetitos ocultos, que hacía sentirse desnudas a las gentes.« 41 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 25. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 27: »Los huesos le dolían y sentíaresentidos los músculos de las piernas y la espalda […].« 42 Ebd. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 27: »Ansioso, observó las sábanas: la informe manchita grisácea envilecía la blancura del hilo. Se le había salido, otra vez. […] ¡Coño ! ¡Coño! Éste no era un enemigo que pudiera derrotar como a esos cientos, miles, que había enfrentado y vencido, a lo largo de los años, comprándolos, intimidándolos o matándolos. Vivía dentro de él, carne de su carne, sangre de su sangre. Lo estaba destruyendo precisamente cuando necesitaba más fuerza y salud que nunca.« 43 Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 347, wobei die Umwandlung des Königs in den Narren (vgl. S. 239f.), die ja Kantorowicz im Hinblick auf Shakespeares Richard II. thematisierte, eine Rolle spielt. In einer Epoche, in der Diktatoren nur über einen biopoliti-

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Die Befleckung der Laken wird allerdings nicht allein als mangelnde Gesundheit, sondern auch als ›Lücke in der Matrix‹ seines äußeren Erscheinungsbildes inszeniert, wenn es später zu seinen Kleidern heißt: »Er fand alles makellos gewaschen und gebügelt vor, die Hosenträger, die Shorts, das Hemd, die Sportschuhe.«44 Und als erneuter Flüssigkeitsverlust sich in einer Unterredung ereignet, tritt unmissverständlich zu Tage, dass es vor allem um den Gesichtsverlust geht. »Da war er: der dunkle Fleck breitete sich auf dem Hosenschlitz aus und bedeckte ein Stück des rechten Beins. Er mußte noch frisch sein, er war noch ein wenig feucht, in eben diesem Augenblick entleerte sich die gefühllose Blase. Er fühlte es nicht, er konnte es nicht fühlen. Wut wallte in ihm hoch. Er konnte die Menschen beherrschen, drei Millionen Dominikaner in die Knie zwingen, aber seine Schließmuskel kontrollieren konnte er nicht.«45

In diesen Passus interner Fokalisierung interferiert unverkennbar der Erzähler qua Ironie, ist er es doch, der das Wortspiel arrangiert, das auf der Analogie zwischen Körper- und Staatsbeherrschung beruht. Dies scheint bloße Rhetorik, denn das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Dahinter verbirgt sich jedoch der

schen Körper verfügen, ist natürlich Bachtins Befund, wonach es »in einem extremen Verständnis des grotesken Motivs […] keinen individuellen Körper« gibt (S. 359), ruinös. Die groteske Körperdarstellung der karnevalesken Tradition, dessen Subversivität ja vor allem darin besteht zu zeigen, dass die Körper über die Schranken der gesellschaftlichen Stände und Rollen hinweg die gleichen (oder Teil eines kosmischen Geschehens) sind, ist gerade im Otoño del patriarca von García Márquez präsent (vgl. C. Wehr: Allegorie – Groteske – Legende, S. 337, der allerdings gerade entgegengesetzt den Fetischcharakter des toten Herrscherkörpers hervorhebt). Die Erkenntnis bei Vargas Llosa ist dieselbe, nur weniger humoresk als realistisch, und bisweilen ironisch in Worte gefasst. Im Vergleich mit dem Roman von García Márquez tritt karnevaleske Darstellung der Macht deutlich in den Hintergrund. 44 Ebd. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 27: »Encontró inmaculadamente lavados y planchados el suspensor, el short, la camiseta, las zapatillas.« 45 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 170f. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 167: »Ahí estaba: la mancha oscura se extendía por la bragueta y cubría un pedazo de la pierna derecha. Debía de ser reciente, estaba aún mojadito, en este mismo instante la insensible vejiga seguía licuando. No lo sintió, no lo estaba sintiendo. Lo sacudió un ramalazo de rabia. Podía dominar a los hombres, poner a tres millones de dominicanos de rodillas, pero no controlar su esfínter.«

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Gedanke, dass ein ›sich einnässender Diktator‹ – würde nämlich die Blasenschwäche ruchbar – nicht länger auf der Bühne der politischen Interaktion ernst zu nehmen wäre. Die Innenperspektive Trujillos bringt es folglich an den Tag, dass das kleine Malheur ein unermesslich großes in den Augen seiner Umgebung auslösen kann. In dieser Situation ist für Trujillo die Diskretion des Dieners überlebensnotwendig: »Von Sinforoso hatte er nichts zu befürchten. Er war stumm, taub und blind für alles, was Trujillo betraf, und mit genügend Spürsinn ausgestattet, um zu wissen, daß der geringste Vertrauensbruch in bezug auf gewisse intime Details wie die unfreiwillige Blasenentleerung alles rauben würde, was er besaß […]. Der Anzug und die Unterwäsche steckten in einer Hülle und würden niemandes Aufmerksamkeit erregen […].«46

Klingt eine alters- oder krankheitsbedingte Inkontinenz vergleichsweise banal, so ist zu ergänzen, dass im Fall Trujillos die Fallhöhe beträchtlich ist. Einst nämlich hatte – so verschweigt es der Erzähltext nicht – seine Souveränität über physiologische Notwendigkeiten zum Aufbau seines Mythos beigetragen.47 Man sagte Trujillo bspw. nach, er bliebe nach durchzechten Nächten mit einem Minimum an Schlaf im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Auch hieß es, dass eine vollkommene Beherrschung der Transpiration ihn trotz widriger klimatischer Verhältnisse in die Lage versetzte, jede Absonderung von Körperflüssigkeit zurückzuhalten. Man könnte also sagen, dass Trujillos Physiologie in die Aura seiner Repräsentation einfließt. Natürlicher und politischer Körper sind eins: »Ein weiterer Mythos, der kolportiert wurde: ›Trujillo schwitzt nie. Er trägt im glühendsten Sommer diese Uniformen aus schwerem Tuch, dazu Dreispitz aus Samt und Hand-

46 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 173. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 170: »No temía nada de Sinforoso. Era mudo, sordo y ciego para todo lo que concernía a Trujillo y con olfato suficiente para saber, que, sobre ciertos temas íntimos, como las micciones involuntarias, la menor infidencia lo privaría de todo lo que tenía […]. El traje y la ropa interior, cubiertos por una funda, no lamarían la atención a nadie […].« 47 Wie diese Mythen entstehen (vgl. noch einmal L. Derby: The Dictator’s Two Bodies, López-Calvo: ›God and Trujillo‹, S. 47), darüber schweigt sich der literarische Text aus, nicht allerdings darüber, dass sie fester Bestandteil einer herrschaftlichen Repräsentation zu sein scheinen.

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schuhe, und kein Schweiß glänzt auf seiner Stirn.‹ Er schwitzte nicht, wenn er nicht wollte.«48

Virtuose Körperbeherrschung steht dabei im komplementären Verhältnis zur Kleidung, welche die martialische Repräsentation seines Regimes erfordert. Dem alternden Trujillo jedoch kommt die prästabil anmutende Harmonie zwischen Körper und repräsentativer Einkleidung abhanden. Sein Organismus bleibt im wachsenden Maße hinter den Anforderungen seiner Investitur zurück. Das Lever setzt sich fort. Nach mönchischer Schlafenthaltsamkeit und sportlicher Ertüchtigung folgt der Gang ins Bad: Zahnpflege, sorgfältigste Rasur, heißes Bad, kalte Dusche, schließlich das Ankleiden. Alles liegt bereit: Unterwäsche, Strümpfe, sodann – wie es heißt – »der graue Anzug, das weiße Oberhemd und die blaue, weißgetupfte Krawatte«49 (S. 34). Allerdings erfolgt dieser letzte Schritt zur Herstellung makellosen Auftretens nicht ohne Hindernisse. Trujillo kommt der politische Widerstand der Bischöfe, des Amerikaners Reilly und des Spaniers Panal in den Sinn. Sollte er dem Rat seines Sicherheitschefs Jonny Abbes folgen, die Bischofspaläste stürmen lassen und damit der Kampagne der katholischen Kirche gegen sein Regime ein jähes Ende bereiten? Er entscheidet sich dagegen. Dem amerikanischen Präsidenten Kennedy soll kein Vorwand geliefert werden, die Invasion einzuleiten. Es gilt, einen kühlen Kopf zu bewahren. Leider gelingt es dem Diktator jedoch nicht, die Wut über die aufmüpfigen Pfaffen, mehr noch die Wut über die Unfähigkeit, seine Wut an den Objekten seines Zorns zu entladen, zurückzuhalten. Der Affekt bemächtigt sich seiner: »Aber was die Vernunft ihm diktierte, überzeugte seine Drüsen nicht. Er mußte das Ankleiden unterbrechen, blind vor Zorn. Die Wut stieg auf sämtlichen verschlungenen Pfaden seines Körpers in ihm hoch, ein Lavastrom, der sich bis zu seinem Gehirn hochwälzte, das zu knistern schien. Mit geschlossenen Augen zählte er bis zehn. Die Wut war schlecht für die Regierung und für sein Herz, sie brachte ihn dem Infarkt näher.«50

48 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 28. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 30: »Otro mito que repetían sobre él era: ›Trujillo nunca suda. Se pone en lo más ardiente del verano esos uniformes de paño, tricornio de terciopelo y guantes, sin que se vea en su frente brillo de sudor.‹ No sudaba si no quería.« 49 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 34. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 26: »el traje gris, la camisa blanca de cuello y la corbata azul con motas blancas«. 50 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 35. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 36f. »Pero lo que la razón le dictaba no convencía a sus glándulas. Tuvo que dejar de vestirse, cegado. La rabia ascendía por todos los vericuetos de su cuerpo, río de lava trepando hasta su

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Der Affekt ergreift vom Körper des Machthabers Besitz. Seit Senecas Traktat über die Milde ist dieser Vorgang ein verbreitetes Schulstück über die Unbeherrschtheit des Tyrannen. Die Parallele zwischen Regierung und Herz liegt ganz in der Tradition dieses Gemeinplatzes, aber hier wird der Topos mehrdimensional weiterentwickelt. Der Regierung abträglich ist der Mangel an Dissimulation, die Trujillo einst meisterhaft beherrschte, abträglich jedoch zum zweiten dem Herz-Kreislauf-System, das zu kollabieren droht, abträglich schließlich zum dritten der Regierung im Sinne seiner Herrschaft, der sein Ableben ein Ende setzen würde. Die letzten beiden Dimensionen ergänzen die alte stoische Denkfigur um ihre biopolitischen Dimensionen, welche hier die Szene beherrschen. Trotz aller Widrigkeiten, welche die Ankleidung retardieren, kommt diese schließlich zu einem erfolgreichen Abschluss. Das teure Deodorant Yardley aus New York, französische Feuchtigkeitscreme und Kölnisch Wasser vollenden die Körperpflege, schließlich bestäubt er sein Gesicht mit Talkum, um »die braune Farbe seiner mütterlichen Vorfahren, der haitianischen Neger«51 verschwinden zu lassen, womit der Frage nach dem Körper ein rassistisches Diskurselement beigegeben wird. Fassen wir zusammen: Im zweiten Kapitel wohnen wir also der Investitur des Diktators bei, das heißt, der Text bleibt nicht vor dem Podest der Macht stehen, er durchmisst den Kreidekreis und besetzt seine Ausdehnung durch Fokalisierung über die Trujillo-Figur. Dabei ist er so montiert, dass die historische Situierung der politischen Lage, die dem Machthaber vor inneren Augen steht, der Zorn, die vegetativen Körperprozesse, der Frühsport und schließlich die rituelle Ankleidung kunstvoll ineinanderlaufen. Der Effekt ist, dass der Leser einen nahbaren Trujillo erhält, dabei aber auch die Implikationen und Explikationen seines politischen Kalküls ausgebreitet bekommt, in dem der Körper und sein politisches Haltbarkeitsdatum zusehends politisiert wird. Dabei beobachtet der Diktator seine Gebrechen nicht nur, sondern sieht sie bereits im Spiegel der Außenwahrnehmung seines Volkes.

cerebro, que parecía crepitar. Con los ojos cerrados, contó hasta diez. La rabia era mala para el gobierno y para su corazón, lo acercaba al infarto.« 51 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 37. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 39: »aquella morenez de sus maternos ascendientes, los negros hatianos […].«

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Die in dem zuletzt zitierten Passus vorgenommene Engführung zwischen der Unterwerfung des Staatskörpers und der Beherrschung des eigenen Organismus suggeriert: Die Attentäter jagen einen alten Mann. Im Handlungsstrang, der von Uranias Schicksal berichtet,52 wird diese Unverhältnismäßigkeit in der – man muss es so sagen – ein wenig aufdringlichen Gegenüberstellung zwischen Macht und Ohnmacht, Potenz und Impotenz noch weiter amplifiziert. Nur ergibt sich hier ein gewichtiger Unterschied. War es vorher die erlebte Rede, die durch die Erzählung usurpierte Perspektive Trujillos, die den Umkreis der Macht okkupierte, so ist es nun die Außenperspektive Uranias, welche unfreiwillig die Intimsphäre des Diktators betritt und diese ihren Angehörigen im Gespräch und damit auch dem Leser preisgibt. Hierbei ist natürlich zuallererst zu sagen, dass ebendiese Intimsphäre zur Mythologie seines biopolitischen Körpers gezählt werden darf. Gerade seine angeblich donjuaneske Durchschlagskraft stabilisierte quasi von innen her die äußere Repräsentation seines Postens, die Demütigungen eingeschlossen, die er seinen Gefolgsleuten dadurch zufügte, dass er ihre Frauen und Töchter antastete. Aber auch das Moment des Treubeweises findet sich hier wieder. Der oberste Befehlshaber stellt somit seine Gefolgsleute, die ihm ihre Frauen überlassen, auf die Probe und konsolidiert damit seine Macht wie ein Platzhirsch.53 Repres-

52 Vgl. zu dieser Figur und ihrer angeblich feministischen Modellierung Henighan, Stephen: »Nuevas versiones de lo femenino en La fiesta del Chivo, El paraíso en la otra esquina y Travesuras de la niña mala«, in: Hispanic Review 3 (2009), S. 369-388, und vor allem Polit-Dueñas, Gabriela: »Same Old Story: On Women, ›Caudillos‹, and Literature in ›La fiesta del Chivo‹«, in: Letras Femeninas 33 (2007), S. 99-119, die auf Trauma und hegelianische Anerkennungsdialektik abhebt, die bei der Figurenkonzeption der Protagonistin dieser Analyse zufolge überhaupt gar keine Rolle spielt. Als ›geschändete‹ Muse (vgl. Marcus-Delgado, Jane: »Demonic Power and Political Discourse in Mario Vargas Llosa’s ›La fiesta del Chivo‹«, in: Confluencia 19 [2004], S. 125-133, S. 131) wäre die Figur auch in einer von Elisabeth Bronfen (vgl. Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München: dtv 1996, S. 516-552) inspirierten Lektüre zu betrachten. Urania als traumatisierte Figur wird auch thematisiert bei Manickam, Samuel: »Las estrategias del poder traumatizante de un dictador en La fiesta del Chivo, de Mario Vargas Llosa«, in: Filología y Lingüística 34 (2008), S. 5163. 53 Diese sexuelle Politik analysieren Rojas, Lourdes: »Poder político y poder sexual en La fiesta del Chivo de Mario Vargas Llosa«, in: Ateneo 12/13 (2003), S. 71-79, sowie

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sionsgewalt und Machismo gehen Hand in Hand. Allein wird dieser Parallelismus durch Trujillos Altern brüchig. So teilt der Diktator das Schicksal all jener Don-Juan-Figuren der Moderne, die nicht früh sterben dürfen, sondern im Alter den Niedergang ihres eigenen Mythos zu gegenwärtigen haben – quasi die säkularisierte Variante der finalen Höllenfahrt. Vargas Llosas Buch endet mit Uranias Defloration durch den blind wütenden Diktator. Halb im direkten Bericht Uranias an ihre Tante, halb zurückversetzt in interner Fokalisierung durch den Erzähler erhält der Leser genauestens Aufschluss über den Hergang. Wahrscheinlich ist die Szene des alten Lüstlings, der über das Mädchen herfällt auch auf literaturkritischer Ebene Geschmackssache, und man mag sich ernsthaft die Frage stellen, ob sich von diesem Romanfinale Ähnliches behaupten lässt wie von den ausufernden und zum Teil redundanten Folterszenen: Sie dienten tatsächlich der Dokumentation des Abgründigen.54 In jedem Fall handelt es sich um die Durchbrechung jeglicher Distanz und Dignität, die mit dem Posten des Machthabers verbunden sind. Die Klimax der finalen Szene im Mahagoni-Haus, in dem Trujillo seinen Liebschaften nachzugehen pflegte, ist rasch paraphrasiert. Der Diktator mutiert vom Charmeur der alten Schule zum Ungeheuer, welches in Rage über die Unfähigkeit zur Erektion in gewaltsamer Ersatzhandlung Urania ihrer Jungfräulichkeit beraubt. Falls jedoch diese Szene Pointen zulässt, so ist es zweifellos jene, dass das sexuelle Aufeinandertreffen für Trujillo ähnlich traumatisch zu sein scheint wie für Urania. Denn nach der Schändung des 14jährigen Mädchens will sich so recht keine Befriedigung einstellen. So erzählt sie in der Rückschau

S. Manickam, Las estrategias del poder traumatizante, S. 55ff., der zudem die familiäre Formate der Trujillo-Macht thematisiert und den Diktatoren als eine Art inzestuösen ›Hordenvater‹ charakterisiert. Vgl. zu diesem Gedanken wiederum Legendre, Pierre: Das Verbrechen des Gefreiten Lortie. Abhandlungen über den Vater. Lektionen VIII, Freiburg i. Breisgau: Rombach 1998, S. 132. 54 Vgl. zur These einer im Roman dargestellten Macht, die auf den schutzlosen Körper der Unterworfenen zugreift, Kruger, Julie: »Everyone’s Invited: Power and the Body in La fiesta del Chivo«, in: Confluencia 18 (2002), S. 52-58; K. D. Ertler hingegen (»Schreiben als Dekonstruktion«) spricht von »Sex, Crime und Suspense« (S. 518), als Bestandteil einer postmodernen Romanästhetik. Die Darstellung in La fiesta del Chivo läuft im Sinne Krugers schon darauf hinaus, dass die Inszenierung Trujillos und seiner angeblichen körperlichen Fähigkeiten an der Erkenntnis zerschellt, dass der menschliche Körper insgesamt in seiner Zerbrechlich- und Verwundbarkeit ausgestellt wird, dennoch ist m. E. nicht ganz von der Hand zu weisen, dass hier eine gute Portion Voyeurismus im Spiel ist.

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durch die vergangenen Jahrzehnte: »›Und dann‹ sagt Urania […], ›streckte Seine Exzellenz sich wieder auf dem Rücken aus und verdeckte seine Augen. Er bliebt still liegen, ganz still. Er schlief nicht. Ihm entfuhr ein Schluchzen. Er begann zu weinen.‹ [-] ›Zu weinen?‹ ruft Lucindita.«55 Eine weitere unerwünschte Flüssigkeit entfährt dem Körper Trujillos, womöglich unerwünschter als alle anderen. Wohlgemerkt ist es nicht das schlechte Gewissen, welches ihn plagt, vielmehr verzweifelt er an seiner dysfunktionalen Prostata, wie Urania interpretiert. Die gesamte Schlussszene des Romans stellt nicht nur die aussetzende Manneskraft des Diktators zur Schau. Die Erzählung ist so arrangiert, dass Uranias unfreiwillige Annäherung an die Intimsphäre Trujillos, die so gründlich aus dem Ruder der Selbstinszenierung läuft, retrospektiv den ungläubigen Cousinen, der Tante und der Nichte mitgeteilt wird. Vor diesem kleinen Publikum werden damit zwei Figuren nachhaltig demontiert, erstens Uranias Vater, Bruder der Tante Adelina, der seine Tochter dem Ziegenbock überließ, und zweitens dieser selbst, dessen gesundheitlicher Verfall bereits das Ende seines Regimes ankündigt, bevor die Attentäter der Altersschwäche zuvorkommen. Der kleine Kreis teils neugieriger, teils skandalisierter, teils peinlich berührter Zuhörer wird als abschließendes pars pro toto der Nachwelt arrangiert. Ihre Anteilnahme an privater wie kollektiver Erinnerung soll von mythisch überhöhten Vorstellungen befreit werden.

5. S CHLUSS Was also tun Diktatorenromane? Mario Vargas Llosas Roman La fiesta del Chivo stellt eine Antwort in Aussicht. Der narrative Text misshandelt die Berührungsangst des Machthabers in einem retrospektiven Angriff auf seinen Körper, der als Organismus und biologischer Funktionszusammenhang gleichsam Teil eines repräsentativen Systems war. Dies heißt allerdings, dass er nicht nur das Beobachtungsmonopol der totalitären Macht durchbricht, sondern in der Thematisierung ihrer Intimität, gleichsam ihre Beobachtung und Selbstbeobachtung thematisiert. Nicht zuletzt partizipiert die Darstellung einer somit mehrstufigen Blickdynamik an dem im Zuge der Moderne in Mitleidenschaft gezogenen DonJuan-Mythos.

55 M. Vargas Llosa: Das Fest, S. 528. Vgl. La fiesta del Chivo, S. 516: »–Y entonces – dice Urania, sin hacerle caso –, Su Excelencia volvió a tenderse de espaldas, a cubrirse los ojos. Se quedó quieto, quietecito. No estaba dormido. Se le escapó un sollozo. Empezó a llorar. –¿A llorar? –exclamaba Lucindita.« (S. 516)

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So zugerichtet stört Vargas Llosas’ Trujillo im kollektiven Erinnerungshaushalt des Landes. Insofern überwindet der historische Roman die Unnahbarkeit eines Mythos und präsentiert einen Diktator zum Anfassen, der weniger seiner Grausamkeit als vielmehr seiner alternden Schwäche wegen der gefürchteten Aura, die sich der Nachwelt übermittelt, verlustig geht. Dabei hat der Verfasser nie großen Hehl daraus gemacht, dass er mit La fiesta del Chivo einen Text verfasst habe, der sich aus historischem Material und fiktionaler Ausgestaltung zusammensetze. Dies hat allerdings die Kritiker vor allem in der Dominikanischen Republik kaum besänftigen können. Im Gegensatz zur weitgehend positiven Aufnahme des Romans in den USA und in Europa, war dort die Öffentlichkeit geteilt und der Widerstand gegen den Roman so erbittert, dass Vargas Llosa im Jahr 2000 bei Vorstellung des Romans in Santo Domingo seinerseits Attentate zu fürchten hatte und entsprechend eskortiert werden musste.56 Denn obwohl die Figur Uranias und ihre gesamte Familie frei erfunden sind, ist doch wohl entscheidender, dass die Handlung, die mit ihnen und dem Diktator verbunden sind, komplett vorstellbar, ja nachgerade naheliegend ist. Indem der Roman damit zu erkennen gibt, was sich zugetragenen haben könnte und nicht unbedingt, was sich im Einzelnen zugetragen hat, erhebt sich in ihm ein alter aristotelischer Geltungsanspruch der Dichtkunst.57 Vor allem aber – und dies ist womöglich wichtiger – dringt der Text ein in die Poetik der Macht und wird damit auf den Schwingen eines Genres getragen, von dem sich Vargas Llosa eigentlich distanzieren wollte. Daher gilt die These von der Überwindung des diktatorischen Kreidekreises keinesfalls bevorzugt für historische Romane wie La fiesta del Chivo. Denn indem andere Romane wie Carpentiers El recurso del método und García Máquez’ El otoño del patriarca eben nicht die Mythen einer konkreten historischen Gestalt antasten, sondern den Mythos des Caudillo selbst, schaffen sie Wiederkennbarkeit in verschiedenen politischen Realitäten Lateinamerikas, vor allem aber geben sie Hinweise auf die wirksame Montage und Demontage der Macht und ihrer Blickregime. Wie sich dabei ausführlicher zeigen ließe, spielt der diktatoriale Körper eine zentrale Rolle: Gegenüber seinen angeblich übernatürlichen Fähigkeiten, die inszenatorisch in der totalitären Herrschaftsrepräsentation Platz finden, werden durch die erzählende Besetzung der Machtposition seine Hinfällig- und Störanfälligkeit vorgerechnet, selbst bei fortgeschrittenem Alter, irgendwo jenseits von beispiellosen 107 Jahren des herbstwelken Patriarchen, den

56 Vgl. J. J. Armas Marcelo: Mario Vargas Llosa. El vicio de escribir, Barcelona: Debolsillo 2008, S. 483. 57 Vgl. A. Foley: Power, Will and Freedom, S. 6.

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García Márquez ersann. Dessen Angewiesenheit auf Doppelgänger zeigt indes, dass sein Körper nicht politisch, sondern biopolitisch ist, dieser also seine Vergänglichkeit nicht lange überdauert, allenfalls und mit Glück, wie man so sagt, sieben Leben hat.

LITERATUR Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Armas Marcelo, J. J.: Mario Vargas Llosa. El vicio de escribir, Barcelona: Debolsillo 2008. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995. Benedetti, Mario: »El recurso del supremo patriarca«, in: Revista de Crítica Literaria Latinoamericana 3/2 [1976], S. 55-67. Bernecker, Walther L.: »Der Tod des spanischen Diktators Francisco Franco. Sterben im Zeitlupentempo«, in: Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.), Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 157-180. Bloom, Harold: Eine Topographie des Fehllesens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München: dtv 1996. Canetti, Elias: Masse und Macht, Frankfurt a.M.: Fischer 292003. Culler, Jonathan: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung, Stuttgart: Reclam 2002. Derby, Lauren: »The Dictator’s Two Bodies: Hidden Powers of State in the Dominican Imagination«, in: Etnofor 12 (1999), S. 92-116. Ertler, Klaus-Dieter: »Schreiben als Dekonstruktion nationaler Geschichte: La Fiesta del Chivo von Mario Vargas Llosa und En attendant le vote des bêtes sauvages von Ahmadou Kourouma«, in: ders. (Hg.), Pensées, Pensieri, Pensamientos. Dargestellte Gedankenwelten in der Literatur der Romania, Berlin/Münster u.a.: Lit 2006, S. 509-523. Feenstra, Ramón A.: »Una lectura antropológica de La Fiesta del Chivo. Entre el deseo de reconocimiento y el miedo a la libertad«, in: Témata. Revista de filosofía 39 (2007), S. 167-174. Foley, Andrew: »Power, Will and Freedom. Mario Vargas Llosa’s The Feast of the Goat«, in: Journal of Literary Studies 24 (2008), S. 1-31.

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Berlusconi – politische Personalisierung in Zeiten der Mediendemokratie P HILIP M ANOW

1. I L CORPO DEL CAPO »Non mi trovate bello?«, fragte der italienische Premierminister Anfang 2004 nach seiner Rückkehr aus einer Schweizer Schönheitsklinik. Er habe fast 10 Kilo abgenommen und passe nicht mehr in seine Kleidung – er fühle sich wunderbar. Der Körper, so schließt Paula Diehl aus diesen und ähnlichen Vorkommnissen, rückt mit der massenmedialen Repräsentation von Politik, insbesondere mit ihrer Vermittlung durch das Fernsehen, immer mehr – und damit wie schon einmal in monarchischen Zeiten – in das Zentrum der Politik.1 Die mediale Dauerrepräsentation und Inszenierung der politischen Protagonisten bringe – so eine prominente These – eine sinnliche Darstellung der Macht zurück2, die viele für bereits überwunden erklärt haben und die mit dem nüchtern-sachlichen Selbstbild der Demokratie als pathosfreiem und bilderlosem Prozess des Interessensausgleichs, durchgeführt von lediglich stellvertretend und nur auf Zeit legitimierten Funktionären des Volkswillens, eigenartig kollidiert. Gegen die »graue Evidenz« eines äußerst langsamen, inkrementellen und alles andere als Identifikation anbietenden politischen Alltagsbetriebs steht – manchmal, mancherorts, zunehmend? – eine bunte Inszenierung der politischen Person, inklusive ihres Körpers.

1

Diehl, Paula: Körper, Soap Operas und Politik: Die Körperinszenierungen von Fernando Collor de Mello und Silvio Berlusconi. Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1900. B. Haas, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 41-59.

2

Arnold, Sabine R./Fuhrmeister, Christian/Schiller, Dietmar (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert, Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien: Böhlau 1998.

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Dem zugrunde liegt offensichtlich auch ein neuer medialer Konstruktivismus als vorherrschendes Gesetz moderner politischer Repräsentation: »Verstehst Du nicht, dass etwas, das nicht im Fernsehen läuft, nicht existiert?«, so lautet eines der von Silvio Berlusconi überlieferten Zitate.3 Es steht in maximal möglichem Kontrast zum traditionellen quod non est in actis, non est in mundo4 als Basisprinzip des modernen, bürokratisch-rationalen Staats, und es ist daher auch nicht überraschend, dass die permanente Medieninszenierung des Silvio Berlusconi mit einer zugleich recht ostentativen Vernachlässigung bzw. Verachtung von Gesetz, formalen Regeln, korrekten Verfahrensabläufen, etablierten Kompetenzabgrenzungen, Institutionen etc. einhergeht. Die gekauften Urteile, die »schmutzigen Roben« der Berlusconi-Ära, die vielfältigen Beispiele seines Amtsmissbrauchs – sie stehen in einem innigen Zusammenhang, so scheint es, mit dem abgesaugten Körperfett des Ministerpräsidenten. Ich möchte im Folgenden einige durchaus bekannte Kontextfaktoren dieses Phänomens Berlusconi erneut in Erinnerung rufen, und danach anschließend versuchen, das Exemplarische an diesem Fall für eine medienvermittelte Politik jenseits der spezifischen, und sicherlich insgesamt eher untypischen italienischen Verhältnisse zu schildern. Dies möchte ich unter zwei – vielleicht zunächst etwas hochtrabend klingenden – Untertiteln tun: zunächst unter dem Stichwort »Synoptische Sichtbarkeit und die politischen Narrative des Körpers«5, sowie dann unter dem Stichwort der »Politischen Verdinglichung und ihrer Grenzen.« Hierbei beziehe ich mich insbesondere auch auf die künstlerischen Reflexionen auf die politischen Körperinszenierungen, da sie uns recht hellsichtig über das Besondere moderner repräsentierter Politik aufklären können.

2. B ERLUSCONI , EIN »C ITIZEN K ANE F ORMAT « (A. S TILLE )

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ANABOLIKA-

Eine schillernde Figur wie Silvio Berlusconi bietet sich in mehrfacher Hinsicht als Studienobjekt an.6 Berlusconi dominiert seit recht genau 20 Jahren die italie-

3

Stille, Alexander: Citizen Berlusconi, München: C.H. Beck 2006, S. 245.

4

Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M.: Fischer 2000.

5

Vgl. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.

6

P. Diehl: Körper, Soap Operas und Politik; A. Stille, Citizen Berlusconi; Parotto, Giuliana: Silvio Berlusconi. Der doppelte Körper des Politikers, München: Fink 2008; Kohns, Oliver: Der Souverän als Clown. Von Büchner bis Berlusconi. Politik und

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DER

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nische Politik – trotz einer atemberaubend langen Liste krimineller Handlungen und schwerer Amtsverfehlungen, zu schweigen von den ganz offenkundig manifesten Interessenkonflikten, die aus der Vermischung enormer wirtschaftlicher Macht, insbesondere Medienmacht, mit der Besetzung der höchsten politischen Ämter resultiert7– und natürlich auch zu schweigen von seinen privaten Eskapaden, die wohl kein anderer Politiker einer etablierten westlichen Demokratie politisch überlebt hätte. Berlusconi war viermal Ministerpräsident Italiens (1994–1995, 2001–2005, 2005–2006 und 2008–2011). Seine lange Reihe von Justizverfahren hielt nicht nur die italienische Politik, sondern im Zuge der sich intensivierenden Euro-Krise auch ganz Europa in Atem, so dass schließlich sein – vorerst – letzter Rücktritt vom Amt des Ministerpräsidenten im Jahr 2011 auf erheblichen europäischen Druck aus Ministerrat und Europäischer Zentralbank erfolgte. Nach dem kürzlich erfolgten Auseinanderbrechen seiner Parlamentsfraktion im November 2013 anlässlich seines Ausschlussverfahrens aus dem italienischen Senat, das sich manifestierte in der Spaltung des Popolo della Libertà (PdL) in die »alte« Forza Italia unter Berlusconi und eine Nuova Centrodestra (NCD) unter Alfano, schließlich auch angesichts des Aufstiegs des jungen, dynamischen PD-Politikers Matteo Renzi, scheint aus heutiger Sicht (Frühling 2015) die Ära Berlusconi vorbei. Doch ist es für politische Nachrufe sicherlich zu früh – Berlusconi ist schon häufiger für politisch tot erklärt worden. Berlusconis medial dauerpräsente, ausgesprochen schillernde Figur erscheint als »eine Art Citizen Kane im Anabolika-Format«8. Seine Person ist bereits die wesentliche politische Plattform seiner Partei, die dann auch unter ganz wechselnden Namen firmiert und die neben populären, teils bizarren Einzelforderungen – »1 Millionen neue Arbeitsplätze!«, »keine Steuererhöhungen!«, »Steuerfreiheit der ersten Immobilie!«, sowie »kostenlose Gebisse, [...], die Heilung von Krebs [...] und eine Brücke nach Sizilien«9 – programmatisch hochgradig opportunistisch und ideologisch schwer zu verorten ist. Sie entsteht organisatorisch – eigentlich als Filiale des Fininvest-Unternehmens – ohnehin aus dem Nichts als

Ethik der Komik, S. Kaul und O. Kohns, München: Fink 2012, S.69-80. Belpoliti, Marco: Il Corpo del Capo, Parma: Ugo Guanda Editore 2009. 7

Einen informativen Überblick gibt A. Stille, Citizen Berlusconi, 2006.

8

A. Stille: Citizen Berlusconi, S. 20.

9

Reski, Petra: Und täglich grüßt das Orgientier, Focus 51/2012, 17. Dezember 2012. http://www.focus.de/politik/ausland/tid-28752/politik-und-taeglich-gruesst-dasorgientier_aid_882750.html [letzter Zugriff: 24.11.2014].

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relativ spontane Reaktion auf die mit dem »mani pulite-Skandal«10 verbundene Implosion des italienischen Parteiensystems, die sich zu einer Gefährdung des Berlusconi-Imperiums entwickelte, das ja in enger Verbindung mit eben diesem etablierten Parteiensystem entstanden war (insbesondere durch die enge Beziehung zum hoch korrupten Berlusconi-Förderer Bettino Craxi, dem damaligen Vorsitzenden der Partito Socialista Italiano [PSI]). Berlusconi kann als ein extremes Beispiel einer Personalisierung der Politik gelten, die das Interesse der Öffentlichkeit durch immer neue Bilder, Nachrichten, Geschichten, Images beständig aufrecht zu erhalten sucht – eine Soap-Operisierung der Politik wie abgestimmt auf die Sehgewohnheiten eines durch das Privatfernsehen sozialisierten Publikums. Verquickung von Medienmacht und politischer Herrschaft im Dienste partikularer wirtschaftlicher Interessen, überdeckt durch eine permanente Abgrenzung gegenüber und ein Verächtlichmachen der etablierten Politik (das laut Berlusconi hergebrachte »teatrino della politica«), obwohl sein wirtschaftlicher und politischer Aufstieg eng mit der alten Politikerelite, insbesondere mit Craxi, verbunden ist – es ist nicht überraschend, dass Berlusconi in den Augen von Colin Crouch Prototyp unserer postdemokratischen Zeiten ist.11 Dabei wäre aber noch zu klären, wie und wofür genau Berlusconis Politikmodus exemplarisch ist, denn auf die skandalöse Verquickung von Wirtschaftsinteressen und politischer Macht im Sinne von Crouchs Postdemokratie-These ist er nicht zu reduzieren. Zu den besonderen Bedingungen der politischen Karriere Berlusconis gehört zweifellos seine beispiellose Medienmacht: Er verfügt über die einzigen drei privaten landesweiten Fernsehstationen mit einem Marktanteil von über 50%, in Zeiten als Ministerpräsident hat er aufgrund des in Italien traditionell starken Staatseinflusses im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zusätzlich Gewalt über Rai Uno, Due und Tre, die er auch rücksichtslos nutzte. Er kontrolliert zudem ca. 40% der italienischen Presse.12 Alexander Stille veranschaulicht die ganz außergewöhnliche Ballung der Medienmacht durch einen Vergleich: »Man stelle sich vor, Microsoft Eigner Bill Gates sei auch der Besitzer der drei größten amerikanischen Fernsehanstalten, würde dann zum Präsidenten gewählt und übernähme auch noch das Kommando über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Man stelle sich weiter vor, ihm gehörten darüber hinaus Time-Warner, HBO, die Los Ange-

10 Mit diesem Begriff ist die Aufdeckung und strafrechtliche Verfolgung des umfassenden und systematischen Korruptionshandelns so gut wie aller italienischen Parteien Anfang der 1990er Jahre bezeichnet. 11 Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 12 A. Stille: Citizen Berlusconi, S. 158.

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les Times, die New York Yankees, eine der größten Versicherungen, eine Investmentfirma und eine Kinokette.«13 Ist diese Konzentration von Medienmacht in einer Person sicherlich in ihrem Ausmaß in den westlichen Demokratien einzigartig, so lassen sich Tendenzen einer zunehmenden Personalisierung und Inszenierung auch bei anderen politischen Führungspersonen – Sarkozy, George W. Bush, Putin, Chávez etc. – konstatieren. Und dies ist natürlich auch keine vollständig neue Entwicklung, sondern eine, die unter den Bedingungen der Massenmedialisierung von Politik bereits im frühen 20. Jahrhundert zu beobachten ist.14 Vielleicht tatsächlich neu und außergewöhnlich ist, dass ein Politikmodus, der eher dem Personenkult totalitärer Regime oder einem ins Autoritäre kippenden Präsidentialismus à la Chávez zu entsprechen scheint, nun offensichtlich in die (entwickelte) parlamentarische Demokratie hinein diffundiert und dort relativ erfolgreich ist. Hier, in dieser losgelösten, sich weitgehend verselbständigten Sphäre der Repräsentation des Politischen durch die Inszenierungen der repräsentierenden politischen Personen sind wir in der Lage, über das Einzelphänomen Berlusconi hinausgehend etwas Grundlegendes über die moderne repräsentative Demokratie unter den Bedingungen ihrer vollständigen Mediendurchdringung zu lernen.

3. S YNOPTISCHE S ICHTBARKEIT N ARRATIVE DES K ÖRPERS

UND DIE POLITISCHEN

Berlusconi ist vielleicht nur ein Extrembeispiel für eine Politik unter der Bedingung eines öffentlichen Dauerzugriffs auf das Bild der repräsentativen Person. In der modernen Mediendemokratie kehrt sich das politische Blickschema um. Der demokratische Herrscher nimmt anders als der absolutistische nicht mehr alles panoptisch in den Blick, sondern der demokratische Souverän, die öffentliche Masse, die sich im Herrscher repräsentiert sieht, macht ihn vielmehr zu einer Person der permanenten »synoptischen Sichtbarkeit«15. Im Zentrum steht die re-

13 Ebd., S. 19. 14 »Stalins Sohn Wassili rief, als man ihm vorwarf, er nutze den Namen seines Vaters aus: »Aber auch ich bin ein Stalin.« Woraufhin Stalin ihn zurechtwies: »Nein, bist Du nicht. Du bist ebensowenig Stalin wie ich. Stalin ist die Sowjetmacht. Stalin ist ein Abbild in den Zeitungen und auf Porträts – nicht du, nicht einmal ich!« in: Müller, Jan-Werner: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013, S. 135. 15 Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.

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präsentative politische Person, die alle Blicke auf sich vereint und keinen erwidert. Das, was Hans Belting generell von dem Mediengesicht sagt, gilt auch und vielleicht besonders für die Politik und das politische Gesicht: »Zwischen den prominenten Gesichtern der Massenmedien und den anonymen Gesichtern der Masse, von denen sie konsumiert werden, findet kein direkter Kontakt mehr statt.«16 Das barocke »Dispositiv der Sichtbarkeit«, bei dem »das Gesehenwerden des Herrschers korrespondiert mit der panoptischen Perspektive auf die Untertanen«17 ist – so könnte man sagen – heute demokratisiert, und damit um die panoptische Perspektive gekürzt.18 Das demokratische Dispositiv der Sichtbarkeit führt zur bildlichen Dauerinbesitznahme des Herrschers, seines Gesichts und Körpers, durch die unsichtbaren, anonymen Untertanen, die immer Recht haben und gegen die man sich nicht wehren kann. Das Bild der politischen Person unter ständiger Beobachtung – jede kleine Geste, jedes Wort, jede Gesichtsregung wird interpretiert, kritisiert, imitiert, lächerlich oder verächtlich gemacht. Der politische Repräsentant gehört gänzlich den Repräsentierten und wirft keinen souveränen Blick zurück. Im Zuge dieses demokratisierten Sichtbarkeitsdispositivs wäre folglich »das ›Gesichter-Haben‹ nicht von der Seite des Individuums, sondern von der der Gesichterfabrikation« her zu betrachten.19 Sind »die Könige zu … Politiker[n]« mutiert, wandelt sich das »aktive, hierarchische Aufmerksamkeitsprivileg« in ein »passives, medienvermitteltes Aufmerksamkeitsprivileg – von allen gesehen zu werden, ohne selbst sehen zu können.«20 In jedem Moment versucht die Öffentlichkeit in diese öffentliche Person ein- und zu ihrem »wahren Selbst« vorzudringen, doch stößt sie immer nur auf eine Aufschichtung von Außenschalen, oder – wie im Falle Berlusconis – auf eine wilde Abfolge der Images, auf einen ganzen »Fächer aus verschiedenen Rollen und Charaktermerkmalen […], die sich mit substantiell vollkommen widersprüchlichen Elementen in ein und derselben Per-

16 Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: C.H. Beck 2013, S. 221. 17 C. Vismann: Akten, S. 207 und 210f. 18 Um Missverständnissen vorzubeugen: Diese Ausführungen beziehen sich auf die mediale Repräsentation politischer Herrschaft, nicht auf die neuen technischen Möglichkeiten totaler Überwachung – die vielleicht wirklich zum ersten Mal in der Geschichte einen panoptischen Herrschafts- und Sicherheitsblick erlauben. 19 Raulff, Ulrich: Image oder das öffentliche Gesicht. Das Schwinden der Sinne. D. Kamper und C. Wulff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 46-58, hier S. 55. 20 Macho, Thomas: Vorbilder, München: Fink 2011, S. 230.

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son vereinigen.«21 Dies sind zwei grundsätzlich mögliche Arten, mit der permanenten Öffentlichkeit der politischen Person umzugehen: das Zur-StatueWerden, die Petrifizierung einerseits (etwa Merkel), oder die kaleidoskopische Multiplizierung der Images, das visuelle Sich-nicht-fassen-lassen durch den permanenten Imagewechsel (eine »praxis managériale de l’imaginaire«22), andererseits (Berlusconi). Im Falle Berlusconis evoziert die permanente Abfolge der verschiedenen Körperimages jeweils bestimmte politische Erzählungen, in denen der Körper zu einem besonderen Signifikat wird. Man kann das als zynische Semiotik bezeichnen, als re-entry des Wissens um die Bedeutung einer politischen Zeichenlehre in den Bereich einer nur noch medial vermittelten Politik selbst, sozusagen als »Frechheit, die die Seiten gewechselt hat.«23 An Berlusconi lässt sich vorführen, wie sich das jeweilige politische Narrativ in den politischen Körper einschreibt, und wie sich mit den plötzlich wechselnden Narrativen die korrespondierenden Körperimages unversehens ändern. Ich stelle in loser Folge einige dieser Images kurz vor. Beginnen wir mit Berlusconis »schön, reich, erfolgreich«-Image, produziert durch kosmetische Eingriffe und beglaubigt mit einer Reihe beeindruckender, häufig wechselnder und dabei immer jünger werdenden Trophäenfrauen an seiner Seite. Dieses Image bietet das Begleitbild zum Berlusconi-Zitat: »Ich bin der fleischgewordene italienische Traum.«24

Abbildung 1: »Ich bin der fleischgewordene italienische Traum«, © picture alliance/Gavin/ROPI

21 G. Parotto: Silvio Berlusconi, S. 129. 22 Zitiert nach G. Parotto: Silvio Berlusconi, S. 22. 23 Vgl. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. 24 A. Stille: Citizen Berlusconi, S. 171.

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Es ist eine Zurschaustellung des Körpers als einer Erfolgsbehauptung. Das Signal eines erfolgreichen Selfmademan (Erfolg macht sexy, daher beglaubigt Sex den Erfolg) taucht dabei in einem spezifischen politischen Kontext auf: »Nach den Misserfolgen im Justizbereich, vor allem nach dem von Präsident Ciampi blockierten Entwurf zu den Mediengesetzen und nach dem Konflikt mit seiner eigenen Partei Forza Italia im Dezember 2003 zog sich der Ministerpräsident einen ganzen Monat zurück. Während seiner Medienstille ließ er sich in der Schweiz operieren. Am 16. Januar 2004 kehrte er in gelifteter Form zurück.«25

Es war zu diesem Anlass, dass Berlusconi seine »Non mi trovate bello?«-Frage stellte. Die neuen Haare und der schlanke Körper erzählen also eine politische Geschichte, eine des politischen Comebacks, des Neuanfangs und der neuen Energien, der politischen Rejuvenalisierung26. Die Körperinszenierung als politische Ersatzhandlung hat einen witzigen und vielschichtigen künstlerischen Kommentar gefunden: Aus dem Körperfett, das dem italienischen Ministerpräsidenten in einer Schönheitsklinik nahe Lugano abgesaugt wurde, will der italienisch-schweizer Künstler Gianni Motti eine Seife fabriziert haben. Das »hässlich graue« Stück wurde auf der Art Basel 2005 ausgestellt. »Das Objekt nannte der Künstler »mani pulite« [...] Das Fett hatte Motti nach eigenen Angaben von der Klinik in der Nähe von Lugano erhalten, in der sich Berlusconi operieren ließ. Es sei eine »gallertartige Masse« gewesen, die schrecklich stank, wie verdorbene Butter oder altes Frittieröl. Bei dem Titel habe er an Geldwäsche gedacht, sowie an die immer wieder erhobenen Vorwürfe einer mafiösen Verstrickung Berlusconis […] »Ich dachte vor allem daran, dass Seifen oft aus Schweinefett hergestellt werden, und mir machte die Idee Spaß, dass man sich mit einem echten Stück Berlusconi den Hintern waschen kann«. Die Seife war mit 15.000 Euro veranschlagt und ging für 18.000 Euro an einen Schweizer Sammler.27 »Genau wie der reale Berlusconi (wobei es schwierig zu

25 P. Diehl: Körper, Soap Operas und Politik, S. 57. 26 Vgl. Photovergleich vor und nach der Haarimplantation in: Manow, Philip: Im Schatten des Königs, Frankfurt am Main 2008, S. 140. 27 Focus vom 10. Juni 2005, siehe auch G. Parotto: Silvio Berlusconi, S. 137-138. »Das Stück Seife, das der Schweizer Künstler Gianni Motti aus abgesaugtem Fett von Silvio Berlusconi geschaffen haben will, scheint eine Fälschung zu sein. »Die Behauptung entbehrt jeder Grundlage und ist völlig absurd«, sagte Nicola Guarneri, Sprecher der Klinik Ars Medica, wo Motti das Körperfett erhalten haben will. Motti sagte, er sei bereit, zur Klärung‚ einen DNA-Test machen zu lassen« (Welt Online, 13. Juni

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sagen ist, was an ihm real ist und was nicht), platziert sich auch Gianni Mottis zu Kunst »verdichteter« Berlusconi genau in der spannungsvollen Mitte zwischen Tragödie und Komödie«28 – wohl auch weil in einem umstrittenen Gemeinwesen und einer polarisierten politischen Kultur nach Auflösung der festen (katholischen und kommunistischen) Milieus wenig Platz zur Repräsentation politischer Ernsthaftigkeit verblieb. Der bis heute anhängige Rubacuori-Skandal steht im engen Zusammenhang mit diesem sexuell stark aufgeladenen »schön, reich, erfolgreich«-Image. Unter der Schlagzeile Surreal, a Soap Opera starring Berlusconi schildert die New York Times am 22. Januar 201129 wie Karima El-Mahroug, die 18jährige Nachtklubtänzerin, die Berlusconi offensichtlich gegen Geld sexuell zu Diensten war, in einer Sendung des Berlusconi-Fernsehens Mediaset von dem Moderator Alfonso Signorini einfühlsam interviewt wurde, der neben seinem Moderatorenposten bei Mediaset auch Leitartikler der einflussreichen Tabloid-Zeitung Chi, ebenfalls im Besitz der Berlusconi-Familie, ist. Auf den Widerspruch zwischen ihren Aussagen und den von der Polizei abgehörten Telefongesprächen hingewiesen, in denen sie sexuellen Dienstleistungen auf den Partys des Ministerpräsidenten bestätigt hatte, antwortet die Nachtklubtänzerin: »I invented a parallel life«. Die New York Times fährt fort: »›You invented a parallel life‹, Mr. Signorini echoed«. Dies sei, so die NYT, wohl »key to understanding the entire scandal, if not Italy itself«. Wenn etwas, das nicht im Fernsehen ist, nicht existiert, ist den medial vielfach repräsentierten Protagonisten nicht vorzuwerfen, dass sie selbst nicht jederzeit wissen, in welchem Paralleluniversum sie sich momentan gerade bewegen und welches Universum gerade Anspruch auf politische Wirklichkeit erheben kann. Neben der Präsentation als schön, reich und erfolgreich findet sich auch die Inszenierung als »guy next door«, auf internationalen Treffen der Staatsoberhäupter die des Spaßvogels, der ihre zeremonielle Seriösität und die Inszenierung der Ernsthaftigkeit durch allerlei Possen immer wieder dementiert: »der Politiker, der sich als Anti-Politiker inszeniert, unterläuft […] die Rituale, die die

2005;

http://www.welt.de/print-welt/article675913/Mottis-Berlusconi-Seife-eine-

reine-Faelschung.html [letzter Zugriff: 24.11.2014]). 28 Signer, David: Politik aus dem Bauch. Gianni Motti zeigt auf der Art Basel ein Stück Seife. Ja gut? Nein, viel besser: Es ist Berlusconis Bindegewebe, Die Weltwoche, 23, 2005,

http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2005-23/artikel-2005-23-politik-aus-dem.

html [letzter Zugriff: 23.09.2015]. 29 Siehe http://www.nytimes.com/2011/01/23/weekinreview/23donadio.html?pagewant ed=all&_r=0 [letzter Zugriff: 05.01.2014].

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Politik als ernsthaftes Ereignis erscheinen lassen wollen«, schreibt Oliver Kohns.30 »Berlusconis nicht ermüdende Komik, seine burleske und komödiantische Inszenierung seiner politischen Rolle ruft immer wieder in Erinnerung, dass das politische Leben […] als teatrino della politica zu begreifen sei, als etwas wesenhaft Unernstes, das im Zeichen einer Nicht-Politik überwunden werden muss. […] Ein wichtiges Ziel der konstitutiven Unernsthaftigkeit Berlusconis besteht darin, noch innerhalb des politischen Betriebs außerhalb desselben zu stehen.«31 Diese »konstitutive Unernsthaftigkeit« resultiert aus einer Konfliktkonstellation, in der Berlusconi sich gegen die etablierten Parteien und die etablierten Politiker profiliert, in der zutreffenden Wahrnehmung, dass deren zynische und deswegen in ihrer Feierlichkeit heuchlerische Machtpraxis das Ansehen und die Autorität des (Regierungs-)Amtes nachhaltig zerstört hat. Im Freizeitdress leger gekleidet, auch gerne mit Bandana, so wie bei dem Besuch von Tony und Cherie Blair auf seiner Villa auf Sardinien in 2009, ist das eine volksnahe Kumpel-Figur, die das Kunstwerk fertig bringt, das hohe Amt mit der offen gezeigten Verachtung für das hohe Amt zu verbinden.32

Abbildung 2: Oberster Repräsentant der BandanaRepublic, © picture alliance/dpa

30 O. Kohns: Der Souverän als Clown, S. 77. 31 Ebd., S. 78. 32 Wie Cherie Blair in einem späteren Interview erklärte, bat ihr Ehemann sie inständig, sich für alle Fotografien zwischen Berlusconi und ihn zu postieren: »As we went out Tony said to me »Whatever happens make sure I am not photographed next to Silvio wearing a bandanna. Make sure you are in the middle otherwise the British press will kill us«. »During the walkabout the Blairs were photographed several times and Cherie did manage to stay constantly between Mr Berlusconi and her husband to save his blushes« (The Telegraph 24. May 2009): http://www.telegraph.co.uk/news/world news/europe/italy/5377843/Tony-Blair-begged-wife-Cherie-to-protect-him-fromBerlusconis-bandanna.html [letzter Zugriff 5. Januar 2014].

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Es gibt schließlich auch ein Register des stellvertretenden Leidens und Opfers.33 Berlusconi inszeniert sich als Märtyrer, als jemand, der alle Last des Landes auf sich nimmt: »Ich bin der Jesus Christus der Politik, ein Opfer, ich bin geduldig und erleide alles, ich opfere mich für alle« (Silvio Berlusconi).34 Die im Dezember 2009 erfolgte Attacke auf ihn mit einer Statue des Mailänder Doms bot Gelegenheit zur Darbietung dieses Bildes vom verletzten Körper, das so klar kontrastiert mit dem Bild des dank Botox faltenlosen Gesichts mit einem wie festgefrorenen Lächeln, das durch die dicke Schicht des ockerfarbenen Makeups mit den »dunkel nachgezogenen Brauen und aufgemalten Haaren«35 zumindest aus der Nähe auch schon an eine grell-bemalte Totenmaske erinnern mag. Nun der zur Schau getragene Nasenbeinbruch, die Verletzungen an der Lippe, das blutverschmierte Gesicht, zwei abgebrochene Zähne.36

Abbildung 3: »Ich bin der Jesus Christus der Politik, ein Opfer, ich bin geduldig und erleide alles«, © TopShots/AFP, Foto: Roberto Salomone

33 »der Auserwählte«, vgl. G. Parotto: Silvio Berlusconi, 2008. 34 Vgl. »Ein Mann, viele Fettnäpfchen« (Süddeutsche Zeitung vom 7. November 2013; http://www.sueddeutsche.de/politik/italiens-ex-premier-silvio-berlusconi-ein-mannviele-fettnaepfchen-1.590064 [letzer Zugriff: 24.11.2014). 35 Vgl. P. Reski: Und täglich grüßt das Orgientier. 36 Vgl.

http://www.spiegel.de/panorama/leute/italien-premier-berlusconi-bei-angriff-

verletzt-a-666853.html [letzter Zugriff 24.11.2014].

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Mit dem Leidensimage und seinen christologischen Referenzen, einschließlich der Berlusconi-Statue als Devotionalie, ist schließlich ein Komplex angesprochen, dem ich nun im letzten Abschnitt nachgehen möchte: dem politischen Spiel zwischen Gegenwart und Nachwelt als Versuch des politischen Personals, die Antizipation einer späteren Rückperspektive auf ihr gegenwärtiges Handeln bereits gegenwärtig politisch zu kapitalisieren.

4. P OLITISCHE V ERDINGLICHUNG

UND IHRE

G RENZEN

Eine Geschichte der Verkörperung der Politik und den Versuchen ihres AufDauer-Stellens seit dem 19. Jahrhundert wird sich auch mit den Pantheonisierungen, den Mumifizierungen und der Vielzahl an politischen Mausoleen auseinandersetzen müssen, die als Zeichen der Begierde, mit der der demokratische Souverän die politische Person körperlich in Besitz zu nehmen sucht, interpretiert werden können.37 Die Versuche, das neue republikanische Personal zu verewigen, ihren Körper zu bewahren, hat auch gerade in Italien eine längere Vorgeschichte. Das Projekt, den Körper des Einigungshelden Mazzini durch Salze so zu präparieren, dass er der Nachwelt als »corpo-monumento« erhalten bleibt, geht auf den Mediziner und aktiven Risorgimento-Politiker Carlo Cattaneo zurück38 und datiert mit 1872 etwa 50 Jahre früher als die Einbalsamierung von Lenins Leiche.39 Auch in der Demokratie gibt es also einen »innerweltlichen Verewigungswunsch«40, bei dem nun allerdings der jeweilige Herrscher weniger

37 Rader, Olaf B.: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin, München: C.H. Beck 2003; Kretzschmar, Marthe: Herrscherbilder aus Wachs: Lebensgroße Porträts politischer Machthaber in der Frühen Neuzeit, Berlin: Reimer 2014. 38 Luzzatto, Sergio: La Mummia della Reppublica. Storia di Mazzini inbalsamato, 18721946, Milano: 2001; Luzzatto, Sergio: L’immagine del potere. I Popoli Felici non hanno Storia. Interventi sul nostro Passato, Roma: manifestolibri 2009, S. 118-120, hier S. 119. 39 »Nel 1872, mezzo secolo prima che i bolscevichi di Mosca pensassero di imbalsamare il cadavere di Lenin e di esibirlo sulla piazza Rossa, Bertani ebbe la stessa idea per il cadavere di Mazzini: lo fece »pietrificare«, e cercò di esporlo come un corpomonumento nel cimitero genovese di Staglieno.« S. Luzzatto: L’immagine, S. 119. 40 Warnke, Martin: Herrscherbildnis. Handbuch der Politischen Ikonographie, in: Fleckner, Uwe/Warnke, Martin/Ziegler, Hendrik (Hg), München: C.H. Beck 2011, Band I: Abdankung bis Huldigung, S.481-490, S. 488.

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selbst eine aktive Rolle spielt, als vielmehr das demokratische Publikum, das sich durch die repräsentierende Person selbst ein Denkmal setzen will. Der innerweltliche Verewigungswunsch des politischen Publikums entfaltet eine Dynamik, aus der sich im Regelfall wiederum politisches Kapital schlagen lässt, in Form dessen was Jacques Derrida das »vorzeitige Zitieren einer Grabrede« genannt hat.41 Der lebenden politischen Person geht es darum, in ihrer Erscheinung bereits die überzeitliche Statue zu behaupten, zu der sie dann post mortem werden wird. Dies ist der Versuch des Vorscheins auf das spätere Epitaph. Die politische Semantik ist eine, die die Gegenwart unter dem Blickwinkel ihrer zukünftigen Vergangenheit betrachten will. Ihre zentrale Nachricht lautet: Ich bin der, der am Ende immer auf der richtigen Seite gestanden haben wird, ich bin der, der alle politisch überlebt haben wird, ich bin derjenige, an den ihr euch in Form eines politischen Denkmal erinnern werden wollt. Wie generiert dieses Spiel mit der Zeit politische Autorität? Alexandre Kojève definiert Autorität als die Möglichkeit, ohne Kompromiss zu handeln.42 Diese Definition mache zugleich deutlich, so Kojève, woher die Autorität der Toten über die Lebenden stammt, denn gegen den Willen der Toten, gegen ihr Vermächtnis, ihr Testament, sei keine Handlung möglich: »il est matériellement impossible de reagir contre un mort«, was der Autorität des Toten einen quasi divinen Charakter verleihe.43 Es ist also diese Autorität der Toten, auf die politisch mit dem Spiel mit der Zeit gezielt wird. Doch hat diese Strategie offenbar dann ihre Grenzen, wenn das öffentliche Amt selbst nicht als Repräsentation einer überindividuellen, würdigen Einheit erscheinen kann, wenn das Amt selbst beschädigt ist, und die »konstitutive Unernsthaftigkeit« gerade Ausdruck der Tatsache ist, dass die politische Karriere auf der Gegnerschaft zur etablierten Politik, also zum Amt beruht.

41 Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. 42 »[…] la possibilité qu’a un agent d’agir sur les autres (ou sur un autre), sans que ces autres réagissent sur lui, tout en étant capables de le faire« in: Kojève, Alexandre: La notion de l’autorité, Paris: Gallimard 2004, S. 58. Oder: »L’Autorité est la possibilité d’agir sans faire de compromis«, ebd., S. 59. 43 »[…] l’homme a plus d’Autorité après sa mort que de son vivant: le testament a plus d’Autorité que l’ordre donné par l’homme encore vivant. … La raison en est qu’il est matériellement impossible de reagir contre un mort. Il a donc de l’Autorité par definition. Mais cette impossibilité de réaction assure à l’Autorité du mort un caractère divin (sacré): l’exercise de l’Autorité par le mort ne comporte aucun risqué pour lui«, ebd., S. 67f.

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Berlusconi, der als Ministerpräsident sogar das italienische Friedhofsgesetz ändern ließ, um in dem von ihm auf seinem Landsitz Arcole errichteten Mausoleum im Kreise einer kleinen Zahl von engsten Getreuen bestattet werden zu können, der zudem verfügt hat, nicht begraben, sondern eingefroren zu werden44, steht damit eine Strategie der Eigenmonumentalisierung, der Selbstpetrifizierung nur eingeschränkt zur Verfügung.45 Jeder Versuch hierzu weckt zumindest hellwache künstlerische Kommentierungen: »Die Hand an der offenen Hose, im Gesicht ein seliges Lächeln, an den Füßen Mickymaus-Pantoffeln: So liegt Silvio Berlusconi mitten im römischen Regierungsviertel in einem Glassarg – als Kunstharzfigur. […] Mit [dieser Figur] sorgen zwei italienische Künstler für Furore. In einer nur dreitägigen Ausstellung im Palazzo Ferrajoli genau gegenüber dem italienischen Regierungssitz zeigen Antonio Garullo und Mario Ottocento derzeit Berlusconi als Leiche«.46 Das Werk ist mit einem verkappten Zitat (s.o.) erneut mehrdeutig betitelt. Sein Titel »Der Traum der Italiener« lässt auch die Interpretation zu, dass es sich hier um eine politische Tötungsphantasie handelt.

44 G. Parotto: Silvio Berlusconi, S. 138. 45 Vgl. zum »innerweltlichen Verewigungswunsch« auch die Planungen zur Einbalsamierung von Hugo Chávez: »Hugo Chávez soll seinen Anhängern erhalten bleiben: Der an Krebs gestorbene Staatschef Venezuelas wird einbalsamiert und in einem gläsernen Sarg aufgebahrt. »Das Volk soll ihn wie Ho Tschi [sic!] Minh, Lenin und Mao Tsetung ewig präsent haben können«, sagte Vize-Präsident Nicolás Maduro Stunden vor der offiziellen Trauerfeier am Freitag. Zahlreiche Staats- und Regierungschefs sowie politische Führer aus aller Welt trafen dazu in der Hauptstadt Caracas ein, darunter Raúl Castro aus Kuba, Dilma Rousseff aus Brasilien und Mahmud Ahmadinedschad aus dem Iran. […] ›Chávez lebt weiter, er wird nie sterben. Seine Seele und sein Geist werden im Herzen aller Kämpfer verbleiben‹, sagte Ahmadinedschad nach seiner Ankunft laut der venezolanischen Nachrichtenagentur AVN. […] Chávez wurde in der Militärakademie Fuerte Tiuna aufgebahrt, die sich in Venezuelas wichtigstem Armeekomplex in Caracas befindet. Nach Angaben der Regierung haben sich zwei Millionen Venezolaner auf den Weg gemacht, um ihm die letzte Ehre zu erweisen« (Handelsblatt vom 8.3.2013, http://www.handelsblatt.com/politik/international/wieein-pharao-chavez-soll-fuer-die-ewigkeit-einbalsamiert-werden/7898340.html [letzter Zugriff 24.11.2014]). 46 Spiegel Online, 2012: Kunstausstellung: Berlusconi als lüsternes Schneewittchen, 30. Mai

2012.

http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/kuenstler-stellen-in-rom-eine-

figur-von-berlusconi-im-glassarg-aus-a-835968.html [letzter Zugriff am 5.02.2015].

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Abbildung 4: »The Dream Of Italian«, © REUTERS/Alessandro Bianchi

Diese Phantasie berührt selbst natürlich bereits ein Tabu, aber bricht in ihrer Darstellung von feierlicher Begräbniszeremonie auf der einen und Obszönität auf der anderen Seite (eine zerzauste Figur mit offenem Hosenschlitz, wie just in flagranti erwischt) weitere Tabus der Herrscherdarstellung. Dazu die Füße in Mickymaus-Pantoffeln: Die Künstler wollen »die schmierenkomödiantische Seite« Berlusconis zeigen. »[…] Wir dachten an die Vorstellung, die wir als Zuschauer uns in den vergangenen Jahren von unserem Staatslenker gemacht haben, erklärten beide. Ihr Werk sei deshalb auch Sinnbild des »früheren und möglicherweise auch künftigen Personenkults« um den heute 75-Jährigen.«47

5. S CHLUSS Politische Inszenierung meint offensichtlich unter den Bedingungen der modernen, von Bildern dominierten Demokratie mindestens zweierlei – aktives Kalkül der Hereinnahme einer Zukunft in die Gegenwart einerseits und andererseits Abwehr des Zugriffs der Öffentlichkeit auf die Person des Politikers, auf ihr Bild und ihre Worte, sei es als Prozess des rastlosen Imagewechsels, sei es als Strategie der Petrifizierung. Im politischen Wandlungsprozess vom panoptischen Se-

47 Ebd.

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hen der souveränen Herrschaftsfigur zu ihrer synoptischen Sichtbarkeit, scheint das Medium politischer Inszenierung, das Foto bzw. der Film, von zentraler Bedeutung. In der modernen Mediendemokratie wird der Politiker zum »fotosensiblen Fürsten« (R. Debray). In dem Prozess der Verdinglichung der Politikerperson treffen sich daher zwei gegenläufige Bewegungen: Zugriff und Abwehr, Angriff und Schutz, Flucht in die Zukunft vor der aggressiven Gegenwart im Bild der Herrschaftsperson. Ob in diesem Prozess der Herrscherkörper zum Monument wird, oder zur Puppe, ist offen.

L ITERATUR Arnold, Sabine R./Fuhrmeister, Christian/Schiller, Dietmar (Hg.): Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert, Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien: Böhlau 1998. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003. Belpoliti, Marco: Il Corpo del Capo, Parma: Ugo Guanda Editore 2009. Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München: C.H. Beck 2013. Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. Diehl, Paula: »Körper, Soap Operas und Politik: Die Körperinszenierungen von Fernando Collor de Mello und Silvio Berlusconi«, in: Birgit Haas (Hg.), Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 41-59. Kohns, Oliver: Der Souverän als Clown. Von Büchner bis Berlusconi. Politik und Ethik der Komik, S. Kaul und O. Kohns, München: Fink 2012, S.69-80. Kojève, Alexandre: La notion de l'autorité. Paris: Gallimard 2004. Kretzschmar, Marthe: Herrscherbilder aus Wachs: Lebensgroße Porträts politischer Machthaber in der Frühen Neuzeit, Berlin: Reimer 2014. Luzzatto, Sergio: La Mummia della Reppublica. Storia di Mazzini inbalsamato, 1872-1946, Milano: 2001. Luzzatto, Sergio: L'immagine del potere. I Popoli Felici non hanno Storia. Interventi sul nostro Passato, S. Luzzatto, Roma: manifestolibri 2009, S. 118-120. Macho, Thomas: Vorbilder, München: Fink 2011. Müller, Jan-Werner: Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2013. Parotto, Giuliana: Silvio Berlusconi. Der doppelte Körper des Politikers, München: Fink 2008.

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Rader, Olaf B.: Grab und Herrschaft. Politischer Totenkult von Alexander dem Großen bis Lenin. München: C.H. Beck 2003. Raulff, Ulrich: Image oder das öffentliche Gesicht. Das Schwinden der Sinne. D. Kamper und C. Wulff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 46-58. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983. Stille, Alexander: Citizen Berlusconi, München: C.H. Beck 2006. Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M.: Fischer 2000. Warnke, Martin: »Herrscherbildnis. Handbuch der Politischen Ikonographie«, in: Fleckner, Uwe/Warnke, Martin/Ziegler, Hendrik (Hg), München: C.H. Beck 2011, Band I: Abdankung bis Huldigung, S.481-490.

Z EITUNGSARTIKEL Donadio, Rachel, 2011: Surreal: A Soap Opera starring Berlusconi, New York Times vom 22. Januar 2001. http://www.nytimes.com/2011/01/23/weekin review/23donadio.html?pagewanted=all&_r=1 [letzter Zugriff: 5. 01.2014] Focus, 2005: Seife aus Berlusconis Fett, Focus vom 10. Juni 2005. http:// www.focus.de/politik/ausland/eigenartig_aid_95444.html [letzter Zugriff: 24. November 2014]. Handelsblatt, 2013: Wie ein Pharao. Chavez soll für die Ewigkeit einbalsamiert werden, Handelsblatt vom 8. März 2013. http://www.handelsblatt.com/ politik/international/wie-ein-pharao-chavez-soll-fuer-die-ewigkeit-einbalsa miert-werden/7898340.html [letzter Zugriff: 24.11.2014]. Pisa, Nick, 2009: Tony Blair begged wife Cherie to protect him from Berlusconi's bandanna, The Telegraph vom 24. Mai 2009. http://www.telegraph. co.uk/news/worldnews/europe/italy/5377843/Tony-Blair-begged-wifeCherie-to-protect-him-from-Berlusconis-bandanna.html [letzter Zugriff: 5. 01.2014]. Reski, Petra, 2012: Und täglich grüßt das Orgientier, Focus 51/2012, 17. Dezember 2012. http://www.focus.de/politik/ausland/tid-28752/politik-undtaeglich-gruesst-das-orgientier_aid_882750.html [letzter Zugriff am 24. 11.2014]. Signer, David: Politik aus dem Bauch. Gianni Motti zeigt auf der Art Basel ein Stück Seife. Ja gut? Nein, viel besser: Es ist Berlusconis Bindegewebe, Die Weltwoche, 23, 2005. http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2005-23/artikel2005-23-politik-aus-dem. html [letzter Zugriff: 23.09.2015].

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Autorinnen und Autoren

Aschmann, Birgit, geb. 1967, Professorin für Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Fächer Deutsch, Geschichte und Spanisch an der Universität Kiel, Promotion 1998 (»Treue Freunde…«? Westdeutschland und Spanien 1945-1963, Stuttgart: Steiner 1999). 2006 Habilitation (Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts, München: Oldenbourg 2012), jüngste Publikation: mit Thomas Stamm-Kuhlmann (Hg.): 1813 im europäischen Kontext, Stuttgart: Steiner 2015. Balke, Friedrich, geb. 1961, Professor für Medienwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Theorie, Geschichte und Ästhetik bilddokumentarischer Formen an der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Philosophie, Germanistik und Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum. 1995 Promotion (Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts, München 1996). 2006 Habilitation an der Universität Potsdam (Figuren der Souveränität, München 2009) Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Wissensgeschichte des Politischen, Medien und Mimesis, Formen und Funktionen des Dokumentarischen. Jüngere Veröffentlichungen: Die Wiederkehr der Dinge (Mithg., Berlin: Kadmos 2011); Philosophie und Nicht-Philosophie. Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen (Hg. mit Marc Rölli), Bielefeld: transcript 2011; Reisen mit Kafka. Paris, Weimar (zus. mit Rembert Hüser, Berlin: August Verlag 2014). Bernecker, Walther L., geb. 1947, emeritierter Professor für Auslandswissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg (1992-2014), zuvor Ordinarius für Neuere Allgemeine Geschichte an der Universität Bern (1988-1992). 1976 Promotion (Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien 1936-1939. Hamburg 1978; span. Barcelona 1982), 1986 Habilitation an der Universität Augsburg (Die Handelskonquistadoren. Mexikanischer Staat

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und europäische Interessen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1988). Jüngste Publikation: Historia de Europa en el siglo XX. Madrid 2014. Eser, Patrick, geb. 1979, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Universität Kassel. Studium der Politikwissenschaften und Romanischen Philologie an der Universität Marburg, Promotion 2012 mit der Arbeit Fragmentierten Nation – globalisierte Region? Der baskische und katalanische Nationalismus im Kontext von Globalisierung und europäischer Integration. Forschungsinteressen: Nationale und transnationale Erinnerungskulturen, literatur- und kulturwissenschaftliche Großstadt- und Nationalismusforschung. Jüngste Publikation: mit Stefan Peters (Hg.): El atentado contra Carrero Blanco como lugar de la (no-) memoria – Narraciones históricas y representaciones culturales, Frankfurt/Madrid: Iberoamericana-Vervuert. Kunz, Marco, geb. 1964, Professor für spanische Literaturwissenschaft an der Universität Lausanne. 1984-1990 Studium der iberoromanischen und französischen Philologie an der Universität Basel. 1995 Promotion mit der Arbeit El final del texto novelesco: Teoría, técnica y análisis del cierre en la literatura moderna en lengua española (Madrid: Gredos 1997). 2003 Habilitation. 20052009 Professor für romanische Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Hispanistik an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Forschungsinteressen: Spanische und hispanoamerikanische Narrativik der Gegenwart, Metafiktion, Phantastische Literatur, Oralität, Migration, Narcoliteratur, kulturelle Produktivität historischer Ereignisse. Wichtigste Publikationen zu Juan Goytisolo: Juan Goytisolo. Metáforas de la migración, Madrid: Verbum, 2003; mit Brigitte Adriaensen (Hg.), Pesquisas en la obra tardía de Juan Goytisolo, Amsterdam: Rodopi, 2009. Jüngste Publikation: mit Cristina Mondragón (Hg.), Nuevas narrativas mexicanas 2. Desde la diversidad, Barcelona: Linkgua, 2014. Möller, Beate, geb. 1977, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik der Universität Kassel. Studium der Romanischen Philologie und Soziologie an den Universitäten Kassel, Valencia und Madrid Complutense. Magisterarbeit zum Thema Katalonien im Spannungsverhältnis zwischen Regionalismus und Europäisierung. Forschungsinteressen: Regionale Kultur und Identität im Spanien der Aufklärung, spanische und lateinamerikanische Wissenschaftsprosa und -presse, Formen politischer Repräsentation in Literatur und Kultur von der Aufklärung bis zur Gegenwart.

A UTORINNEN

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Priester, Karin, geb. 1941, emeritierte Professorin am Institut für Soziologie der WWU Münster. Studium der Geschichte, Romanistik und Politikwissenschaft in Köln, Aix-en-Provence, Berlin und Florenz. Promotion 1970 an der FU Berlin mit der Arbeit Der italienische Faschismus. Ökonomische und ideologische Grundlagen, Köln 1972. Habilitation 1979 an der Universität Marburg mit der Arbeit Studien zur Staatstheorie des italienischen Marxismus – Gramsci und Della Volpe, Frankfurt am Main 1981. Jüngste Publikationen Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt am Main 2012 sowie Mystik und Politik. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und die radikale Demokratie, Würzburg 2014. Prutsch, Ursula, geb. 1965, Dozentin am Amerika-Institut der Universität München. Studium Geschichte und Spanisch an der Universität Graz. 1993, Promotion (Geschäft mit der Hoffnung. Die österreichische Auswanderung nach Brasilien, 1918-1938, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996). 2005 Habilitation an der Universität Wien (Creating Good Neighbors? Die Kultur- und Wirtschaftspolitik der USA in Lateinamerika, 1940-1946, Stuttgart: Steiner 2007). Jüngste Publikationen: mit Enrique Rodrigues-Moura (Hg.), Brasilien. Eine Kulturgeschichte, Bielefeld: Transcript, 2.Aufl. 2014 sowie Eva Perón. Leben und Sterben einer Legende, München: Beck 2015. Risthaus, Peter, geb. 1970, Akademischer Rat auf Zeit an der Ruhr-Universität Bochum. Studium der Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaft an den Universitäten Essen, Konstanz, Bochum. Promotion (Onto-Topologie. Zur Entäußerung des unverfügbaren Ortes von Heidegger zu Derrida und jenseits, Berlin 2009.) Letzte Buchpublikation: Archiv des Beispiels (Hg.) mit u.a. Michael Niehaus, Berlin 2013. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie des Unterschreibens (Habilitationsprojekt), Beispiele in modernen Wissensdiskursen, Passivitätsexzesse, Elementare Kulturtechniken, Absenz. Schneider, Manfred, ist emeritierter Professor für Neugermanistik, Ästhetik und literarische Medien an der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitet u. a. zu Literatur und Recht, zu Medien, Diskurstheorie und Kulturkritik. Letzte Veröffentlichungen: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin: Matthes & Seitz 2010, Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche. Berlin: Matthes & Seitz 2013, Medienrevolutionen. Die Reformation im 16. Jahrhundert und die Aufstände in den arabischen Ländern 2010/10, Zürich: Vontobel-Stiftung 2014.

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Witthaus, Jan-Henrik, geb. 1970, Professor für Spanische und Lateinamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik an der Universität Kassel. 1992-1999 Studium der Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik und Kunstwissenschaft an den Universitäten Essen und Duisburg. 2003 Promotion (Fernrohr und Rhetorik. Strategien der Evidenz von Fontenelle bis La Bruyère, Heidelberg: Winter 2005). 2009 Habilitation an der Universität Duisburg-Essen (Sozialisation der Kritik im Spanien des aufgeklärten Absolutismus, Frankfurt a. Main: Klostermann 2012). Jüngste Publikation: mit Angela Oster (Hg.), Vom Milieu zur Matrix. Urbane Umwelt als Wissensform und Raumaneignung der Stadt im Frankreich der Moderne, Freiburg i. Breisgau: Rombach 2014.

Edition Kulturwissenschaft Stephanie Wodianka (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens Mai 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7

Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren März 2016, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9

Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Januar 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Edition Kulturwissenschaft Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte November 2015, ca. 312 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-3238-5

Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3

Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven April 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de