Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920-1950 [1. ed.] 9783868546682, 9783868542981


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German Pages 287 [285] Year 2016

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Macht der Unordnung. Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920-1950 [1. ed.]
 9783868546682, 9783868542981

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Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt

Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids, der Lager, des Totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, von Flucht, Vertreibung und Staatsterror – gerade weil sie im Einzelnen allesamt zutreffen, hinterlassen diese Charakterisierungen in ihrer Summe eine eigentümliche Ratlosigkeit. Zumindest spiegeln sie eine nachhaltige Desillusionierung. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen, dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt. Und dass selbst Demokratien, die Erben der Aufklärung, vor entgrenzter Gewalt nicht gefeit sind. Das normative und ethische Bemühen, die Gewalt einzugrenzen, mag vor diesem Hintergrund ungenügend und mitunter sogar vergeblich erscheinen. Hinfällig ist es aber keineswegs, es sei denn um den Preis der moralischen Selbstaufgabe. Ausgewählt von drei namhaften Historikern – Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt – präsentieren die »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Monografien analysieren am Beispiel von totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus, von Diktaturen, Autokratien und nicht zuletzt auch von Demokratien die Dynamik gewalttätiger Situationen, sie beschreiben das Erbe der Gewalt und skizzieren mögliche Wege aus der Gewalt.

Christian Teichmann

Macht der Unordnung Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920 –1950

Hamburger Edition

Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-668-2 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2016 by Hamburger Edition ISBN 978-3-86854-298-1 Redaktion: Sigrid Weber Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras arte: Peter Palm, Berlin Satz aus der Minion Pro von Dörlemann Satz, Lemförde overabbildung: Bildausschnitt aus: Beim Bau des erki- anals, 1927 Privatsammlung

Inhalt

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Rotes Land, Weißes Gold – Künstliche Bewässerung, Baumwollwirtschaft und der sowjetische Staat

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Koloniale Revolutionen – Zentralasien zwischen Zaren und Sowjets, 1885–1922 Land der Wüsten und Oasen: Ein wirtschaftsgeografischer Überblick Amerikanische Träume: Der Baumwollboom in Turkestan, 1885–1914 In der Hungersteppe: Erste Experimente im Wasserbau Kolonisierung: Russische Siedler in Turkestan Kriege und Revolutionen, 1914–1920 Safarows »wilde« Landreformen, 1921–1922

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Grenzen ziehen, Wasser teilen – Moskau und die indigenen Eliten, 1923–1929 »Dekolonisierung der Kolonie«: Ein politisches Programm Die Schaffung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken, 1924–1925 Grenzkonflikte, Wasserkonflikte Revolution ohne soziale Basis: Die Landreformen in Usbekistan Zwischen Intrige und Ideologie: Die »Parteisäuberungen«, 1928–1929

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Fußvolk mit Eigensinn – Ingenieure und Bolschwiki, 1923–1929 Im Wandel: Wahrnehmungen der »traditionellen« Bewässerung Vor Ort: Arbeit und Alltag der russischen Ingenieure Ein Revolutionär als Bürokrat: Michail Rykunow und die Zentralasiatische Wasserbehörde Scheitern im Wasserbau: Das Fiasko am Usboj Politik der Zerstörung: »Rationalisierung« und ein Schauprozess gegen »bourgeoise Spezialisten« Eine Zeit der Wirren – Forcierter Baumwollanbau und Kollektivierung, 1929–1932 Von der Getreidekrise zur Kollektivierung, 1928–1929 Stalins »Baumwolloffensive«, 1929 Widersprüchliche Befehle: Kollektivierung in Usbekistan, 1930 Despotismus und Gewalt in der Baumwollzone, 1931–1932

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Utopie im Ausnahmezustand – Ein Großbau in Tadschikistan, 1930–1937 Baumwollgarten in der Wüste: Das Wachsch-Tal und die sowjetische Staatswerdung Chaotische Anfänge: Mangel, Flucht, Gewalt Strategien in der Krise: Die Macht der stalinistischen Direktoren Zwischen Erfolg und Vernichtung: Ein »alter« Ingenieur in einer »neuen« Welt Feindliche Natur: Die Folgen technischer Fehlplanung Landschaft der Unordnung: Terror, Deportationen und ein fragiler Staat, 1934–1937 Planerfüllung ohne Plan – Baumwollwirtschaft und Staatsterror, 1933 –1937 Medien der Macht: Statistik und Ressourcenallokation Institutionen der Gewalt: Politische Abteilungen, Beschaffungskampagnen, Trojkas Wirkungen der Willkür: »Traditionalismus« und »Rückständigkeit« Improvisieren statt Planen: Deichbau am Amudaria, 1937 Der Staat als Spektakel: »Großer Terror« in Usbekistan und der Moskauer Schauprozess, 1937–1938

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Kriegslandschaften – »Volksbaustellen« und der Zweite Weltkrieg, 1937–1950 Massenmobilisierung: Usman Jusupow und der Große Ferghanakanal, 1937–1939 Die Grenzen des Mobilisierungsregimes, 1939–1941 Krieg an der Heimatfront: Usbekistan in der Krise, 1941–1943 Keine Wende, keine Flexibilität: Baumwolle, Terror und Hunger, 1943–1945 Bleierne Jahre: Die Nachkriegszeit, 1945–1950

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Macht der Unordnung – Ein Resümee

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Anhang Begriffe, Namen, Archive Glossar Quellen und Literatur Namens- und Ortsregister Dank Zum Autor

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1 Rotes Land, Weißes Gold – Künstliche Bewässerung, Baumwollwirtschaft und der sowjetische Staat

Kein Land setzte im zwanzigsten Jahrhundert so vehement auf künstliche Bewässerung als Mittel zur Ausbreitung staatlicher Herrschaft wie die Sowjetunion. Dämme, Kanalanlagen und Stauwerke veränderten im Land des Sozialismus das Zusammenleben der Menschen, ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und ihren Umgang mit der Natur. Das sowjetische Wasserbauprogramm begann mit Lenins »Plan zur Elektrifizierung« des Landes in den frühen 1920er Jahren und gipfelte in Stalins »Plan zur Umgestaltung der Natur« Ende der 1940er Jahre. Schon die Fertigstellung des Dnjepr-Staudamms 1931 und die Eröffnung des Weißmeer-Kanals 1933 sorgten für internationale Aufmerksamkeit. Die Eröffnung des Moskau-Wolga-Kanals im Juli 1937 übertraf diese glänzende Außenwirkung noch. Das Bauprojekt zeigte, dass der sowjetische Staat »Berge versetzte« und es ihm so gelang, »ein Riesenland zu einem Gesamtorganismus« zusammenzubinden.1 In Italien eiferte Benito Mussolini dem Vorbild des sowjetischen Erzfeindes mit der Kolonisierung der Pontischen Sümpfe ebenso nach wie Franklin Delano Roosevelt in den Vereinigten Staaten, auf dessen Initiative im Rahmen des New Deal etliche wasserbauliche Großprojekte entstanden.2 Die Nationalsozialisten ließen vom Reichsarbeitsdienst, von Häftlingen und Zwangsarbeitern Moore trockenlegen, Kanäle bauen und Talsperren errichten.3 In der Sowjetunion gab es jedoch im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und den faschistischen Diktaturen im Europa der 1930er Jahre einen markanten Unterschied: Die Umgestaltung der Natur war nicht nur ein Mittel zur inneren Kolonisation, sondern auch ein Instrument zur grundlegenden Umgestaltung bestehender Gesellschaften. Die sowjetischen hydrotechnischen Großbauten in den Jahren zwischen Lenins Tod 1924 und Stalins Tod 1953 sollten die Menschen und ihre ökonomischen 1 2 3

Schlögel, Terror und Traum, S. 371. Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, S. 129–132. Blackbourn, Conquest of Nature, S. 228–231, 248–249, 283–284.

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Beziehungen revolutionär verändern. Der Zweck der sowjetischen Wasserbauten bestand in der Expansion staatlicher Herrschaft in alte Landschaften und traditionelle Gesellschaften. Lenin machte diesen Zusammenhang deutlich, als er 1921 feststellte, dass für die sowjetischen Kommunisten »Bewässerung nötiger ist als alles andere«, weil sie »das Land mehr verändert als alles andere, zu seiner Wiedergeburt führt, die Vergangenheit begräbt und den Übergang zum Sozialismus forciert«.4 Aus Lenins Sicht war der Staat das Instrument, um die Revolution aus den großen Städten der Sowjetunion in die weitläufigen ländlichen Regionen Russlands und die multiethnischen Peripherien zu tragen.5 Doch nach dem Abklingen des Bürgerkriegs in Russland und der Ukraine im Herbst 1920 verfügten die Bolschewiki über keinen Staatsapparat, der dieser Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Daher bedeutete der Bau von Kanälen, Dämmen und Schleusen zwischen 1920 und 1950 weit mehr als die technische Erschließung und wirtschaftliche Nutzbarmachung von natürlichen Räumen. Die Bauprojekte griffen tief in die vorhandenen sozialen und landschaftlichen Texturen ein: Veränderungen im Wasserhaushalt zerstörten die Landschaften, Massendeportationen und Umsiedlungskampagnen im Zuge von Bewässerungsprojekten veränderten nachhaltig das soziale Gefüge. Darüber hinaus rückte die Ausbreitung der künstlichen Bewässerung aber vor allem und deshalb ins Zentrum staatlicher Handlungsmacht, weil sie die industrialisierte Erzeugung nachwachsender Rohstoffe erlaubte. Wasserbau und revolutionäre Staatswerdung verwuchsen zu einer Einheit. Wie sich dieser Prozess in Zentralasien6 vollzog und zu welchen Reibungen es dabei kam, ist Gegenstand des vorliegenden Buches.

Die Bolschewiki hatten die Weltrevolution vor Augen. Nach Zentralasien kamen sie jedoch nicht als Revolutionäre, sondern als koloniale Eroberer. Mit militärischer Übermacht bekämpften die Rote Armee und die Tscheka den zähen und gut organisierten Widerstand von lokalen Guerillaverbänden, parastaatlichen Rebellengruppen und antisowjetischen 4 5 6

Lenin, Polnoe sobranie soˇcinenij, Bd. 43, S. 200. Lenin, »Die nächsten Aufgaben«, S. 231. Zur geografischen Nomenklatur vgl. die Ausführungen im Anhang unter »Begriffe, Namen, Archive«.

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Armee-Einheiten.7 Die Bolschewiki bombardierten Städte, marodierten, massakrierten und verbreiteten, wo immer sie hinkamen, Angst und Schrecken. Im Oktober 1919 marschierte die Rote Armee in Taschkent ein, im Februar 1920 besetzte sie das Chanat von Chiwa und im September 1920 stürzte sie den Emir von Buchara. Noch im Frühjahr 1922 planten Moskaus Emissäre in Taschkent einen Eroberungszug in die Nordprovinzen Afghanistans. Doch stieß die Weltrevolution im muslimisch dominierten Zentralasien an ihre Grenzen. »Wir wissen aus der Erfahrung von Buchara und Chiwa (und ebenso aus Turkestan)«, resümierte 1922 der sowjetische stellvertretende Außenminister Lew Karachan in einem Brief an Joseph Stalin, »dass die Loyalitätsbekundungen der Bevölkerung gegenüber den neu gebildeten Regierungen direkt von der Anzahl der russischen Truppen abhängig ist, die sich in diesen Republiken befinden.«8 Von Beginn an erkoren die Bolschewiki die künstliche Bewässerung zu ihrer »operativen Kampfaufgabe« in Zentralasien. »Alle technischen Kräfte sind auf das Bewässerungswesen zu konzentrieren«, tönte ein Propagandist des neuen Regimes 1922. »Zwar ist die Erfahrung der einheimischen Bevölkerung groß«, schrieb er, »aber die Bewässerung ist unwirtschaftlich organisiert: Es gibt keine Intensivwirtschaften, sondern nur eine kolossale Verschwendung von Wasser und physischer Arbeitskraft.«9 Das Pathos und die Emphase, die die europäischen Eroberer ausgerechnet auf die künstliche Bewässerung als Herrschaftsinstrument legten, waren weder überraschend noch innovativ. Denn damit verbunden war die Produktionssteigerung des begehrten Rohstoffs Baumwolle – ein Ziel, das die revolutionären Bolschewiki mit ihren zaristischen Vorgängern teilten. Dennoch unterschieden sich die Mittel und Wege, wie sie dieses Ziel erreichen wollten, vor und nach 1917 ebenso markant voneinander wie die Ansichten und Absichten, die hinter dem machtpolitischen Interesse an der künstlichen Bewässerung standen.

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Penati, »The Reconquest of East Bukhara«. Bol’ˇsevistskoe rukovodstvo, S. 248. Vgl. Volodarsky, The Soviet Union and Its Southern Neighbours, S. 34–44. Subbota, »K voprosam irrigacii«, S. 25–26.

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In den alten Oasen Zentralasiens war jedes Dorf ein Kosmos für sich und lebte nach seinen eigenen Regeln. Der Schriftsteller Sadriddin Ajni, geboren 1878, verbrachte seine Kindheit in zwei Dörfern, die beide wenige Dutzend Kilometer entfernt von der Stadt Buchara lagen. Zehn Jahre vor Ajnis Geburt war das Emirat von Buchara von russischen Truppen erobert und zum Protektorat des Zarenreichs erklärt worden. Doch Saktar, das Dorf seines Vaters, blieb von der großen Politik äußerlich unberührt. Es lag unweit des Flusses Serafschan, der die Oasen zwischen Samarkand und Buchara mit Wasser versorgte. Ein Kanal, der durch das Dorf führte, sorgte »für einen Überfluss an Wasser«, wie Ajni sich erinnerte, und bot der Bevölkerung die Möglichkeit, »Obsthaine, Weinberge und Gemüsegärten anzulegen, wo alles reichhaltig wuchs, angefangen bei verschiedenartigen Früchten und Obstsorten bis hin zum wasserliebenden Reis«. Zur Moschee gehörten eine Elementarschule und eine kleine Medrese, »nirgends im ganzen Bezirk gab es so viele schriftkundige und gebildete Leute wie in Saktar«. Ganz anders war das Dorf seiner Mutter: In Machallai Bala »reichte das Wasser nie«. Das Dorf bestand aus »armseligen Lehmhäusern«, und an den wenigen Obstbäumen wuchsen nur »saure Äpfel«. Weil nicht genügend Wasser zur Verfügung stand, baute die Bevölkerung Trockenkulturen wie Weizen, Gerste, Hirse und Bohnen an. »Baumwolle wuchs so schlecht, dass man von den grauen Sträuchern nur eine oder zwei Kapseln ernten konnte.« Niemand in Machallai Bala lebte von der Landwirtschaft allein. »Einige hüteten die Herden der Reichen, andere verdingten sich bei ihnen, und wieder andere sammelten Brennstoff. Im Winter waren fast alle mit der Reinigung der Rohbaumwolle beschäftigt, die sie von Kaufleuten erhielten. Mit dieser Arbeit verdienten sie sich ein paar Groschen dazu.«10 Die Bolschewiki, denen sich auch Sadriddin Ajni in den 1920er Jahren anschließen sollte, wollten bedrückende Verhältnisse wie die in Machallai Bela verändern. Für ihre revolutionäre Staatsbildung eignete sich die künstliche Bewässerung als ideales Einfallstor in die heterogenen und partikularen Oasengesellschaften Zentralasiens: Die Umverteilung von Wasser- und Landrechten bot die Möglichkeit, in den Oasen die soziale

10 Ajni, Buchara, Bd. 1, S. 3–5. Zu Ajnis kulturellem Umfeld und politischen Ansichten vgl. Khalid, »Society and Politics in Bukhara«.

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Revolution auszulösen, mit der die Bolschewiki die Welt verändern wollten. Insbesondere mussten die Bewässerungssysteme aber instand gesetzt werden, wenn man an die boomende Baumwollerzeugung der Vorkriegsjahre anknüpfen wollte, als Russland der fünftgrößte Baumwollproduzent weltweit gewesen war. Vor allen revolutionären Zielen galt es daher, wieder Baumwolle zu produzieren, deren Erzeugung in Zentralasien aufs Engste mit einem funktionstüchtigen Bewässerungswesen verbunden war.

1923 erkannte Stalin in Zentralasien eine »Achillesferse der Sowjetmacht«, zeigte sich gleichzeitig aber überzeugt, dass die Region in eine »sowjetische Musterrepublik« und einen »Vorposten der Revolution im Orient« verwandelt werden könne. »Wir müssen diese Aufgabe lösen, egal was es kostet«, meinte er, »wir dürfen keine Mühen scheuen und vor Opfern nicht zurückschrecken.«11 In den Oasen des zentralasiatischen Zweistromlands zwischen den Flüssen Amudaria und Syrdaria sorgte die Ausrichtung des Sowjetstaats auf den Baumwollanbau jedoch von Beginn an für Widerspruch. Dieser schlug den Bolschewiki nicht allein als zäher bewaffneter Widerstand entgegen. Eine größere Herausforderung war, dass sich der Großteil der Landbevölkerung gleichgültig und passiv gegenüber den Ambitionen des neuen Regimes verhielt.12 Auch diejenigen Zentralasiaten, die sich auf die Seite der russischen Revolutionäre geschlagen hatten, konnten wenig mit den Plänen der Moskauer Parteiführung anfangen, ihr Land in einen Rohstofflieferanten für die Textilfabriken in Russland zu verwandeln. Zu sehr, so schien es ihnen, war die Baumwollproduktion mit der »kolonialen« Herrschaftsordnung des untergegangenen Zarenreichs verbunden. Stattdessen träumte die junge zentralasiatische politische Elite, die ihre Macht den Eroberern aus Moskau und ihrer Armee zu verdanken hatte, von der »Dekolonisierung der Kolonie«. Moskaus Emissäre und die zentralasiatischen Kommunisten formulierten sich jeweils widersprechende Ziele und Zukunftsvorstellungen. Sie teilten jedoch die Ansicht, die Bewässerungssysteme schnellstmög11 Tajny nacional’noj politiki, S. 261. 12 Sovremennyj kiˇslak, Bd. 3: Kitabskaja volost’, S. 18. Vgl. Spittler, »Passivität statt sozialer Bewegung«.

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lich instand zu setzen, sie mithilfe staatlicher Investitionen auszubauen und zu modernisieren. Darüber hinaus nutzten sie die Regulierung von Wasserrechten, die Schlichtung von Wasserstreitigkeiten zwischen Oberliegern und Unterliegern oder den Kampf gegen Überschwemmungen und Dürren als eine willkommene »Gelegenheit zu Interventionen von oben«. Diese Vorgehensweise war, wie der Historiker Joachim Radkau feststellt, keineswegs neu und einmalig, sondern alt und tausendfach durchlebt. »Wasserbelange führten überall auf der Welt zu Regulierungsformen, die über die Hauswirtschaft hinausgingen«, und bildeten schon in den alten Hochkulturen die »Eckpfeiler der Staatenbildung«. »Oft«, schreibt Radkau, »kommen ökologische Notwendigkeiten mit Chancen zu Machtausübung zusammen. Beim Wasserbau hängt in vielen Fällen eins am anderen.«13 Damit in einer alten Oasenlandschaft ein revolutionärer Staat entstehen konnte, mussten utopische politische Intentionen in konkrete Handlungen umgesetzt werden. Abstraktes technisches Wissen musste in der unberechenbaren Ökologie der zentralasiatischen Flüsse bestehen. Menschen mussten ständig mobilisiert werden, weil die Wartung und der Ausbau der Bewässerungssysteme dies erforderten. An den Kanälen und Schleusen, beim Dammbau und beim Hochwasserschutz konnte man dem sowjetischen Staat »bei der Arbeit« zuschauen und beobachten, wie die »lokale Präsenz des Staates« die wirtschaftlichen Handlungsbedingungen und das soziale Gefüge in den Oasen veränderte.14 Am Beispiel des Wasserbaus ist auch zu sehen, wie sich der sowjetische Staat durch die Aufgaben, die er sich stellte, und die Lösungen, die er fand, selbst veränderte. Wie die Ereignisse der 1930er und 1940er Jahre zeigen, prägten Hunger, Gewalt und Krieg nicht nur das Zusammenleben in den Gesellschaften Zentralasiens, sondern bedrohten auch immer wieder den Kern der sowjetischen Staatlichkeit.

Das Buch behandelt den Zeitraum zwischen 1920 und 1950 nicht als Erfolgsgeschichte, in der Stalins Stern immer heller erstrahlte und die Sowjetunion von einem rückständigen Agrarland zu einer Supermacht auf-

13 Radkau, Natur und Macht, S. 107. 14 Bierschenk/Olivier de Sardan, »Studying the Dynamics«.

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stieg, sondern als eine fragmentierte und in sich widersprüchliche Epoche. In diese Jahre fielen die koloniale Eroberung Zentralasiens durch die Rote Armee, die Integration der neuen zentralasiatischen Eliten in den entstehenden sowjetischen Staatsapparat, die »Baumwolloffensive«, der Terror der 1930er Jahre und die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Es waren drei Jahrzehnte andauernder sozialer Konflikte und schwerster wirtschaftlicher Verwerfungen. Man könnte an dieser Stelle argumentieren, dass der sowjetische Staat unter Stalins Führung die vielen wissentlich herbeigeführten, aber ebenso die nicht intendierten Krisen dazu nutzte, sich gegenüber den Gesellschaften in der Sowjetunion Machtvorteile zu verschaffen, dass also Chaos und Leid gezielt als Instrumente benutzt wurden, um eine staatliche Herrschaftsordnung aufzubauen und mit brachialen Gewaltmitteln durchzusetzen. Die »Gesellschaft« wurde, so gesehen, vom »Staat« mit allen Mitteln bekämpft und schließlich unterworfen. Gerade wenn man die Perspektive auf die sowjetische Geschichte eng führt und sich auf die Sicherheitsorgane, die Armee und die Parteielite konzentriert, liegt es nahe, Staat und Gesellschaft einander gegenüberzustellen und zu betonen, wie ungleich Machtvorteile und Gewaltmittel verteilt waren.15 Der Historiker Christopher Bayly hat jedoch zu Recht davor gewarnt, den »modernen Staat als homogenes und allwissendes Wesen« zu verklären. Oft beschreiben Historikerinnen und Historiker Staatsbildungsprozesse aus Sicht der Machthaber. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass nur die Bürokraten, Kolonialherren und Militärbefehlshaber Archive hinterlassen haben, die aufbewahrt und gepflegt werden. Weil Geschichtsschreibung deshalb notgedrungen vor allem auf staatliche Quellenüberlieferungen zurückgreift, meint Bayly, sei es »sehr leicht anzunehmen, dass Staaten für jeglichen und jedweden sozialen Wandel verantwortlich« seien. Spätestens an diesem Punkt würden die Argumente der Historiker »zirkulär«.16 In der Geschichtsschreibung zur Sowjetunion ist diese »zirkuläre« Arbeitsweise, sicherlich auch aufgrund der besonderen Archivlage, nach wie vor verbreitet. Vorschub leisteten ihr unter anderem die Arbeiten des Soziologen James Scott. Er sah die Sowjetunion der 1920er Jahre als ein »niedergewalztes und planiertes Ge-

15 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 23–27, 215–221. 16 Bayly, Birth of the Modern World, S. 252.

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lände, von dem Staatsgründer nur träumen können«. Die »Pioniere der ersten sozialistischen Revolution« konnten insofern »bei null anfangen«; weswegen »fast alles, was sie planten, monumental« gewesen sei.17 Scotts These von den »hochmodernen autoritären Regimes« bietet eine einfache Erklärung für eine historische Konstellation, die sich nicht einfach erklären lässt. Für seine schematischen Vereinfachungen wurde Scott vielfach kritisiert.18 Im Wesentlichen ging es dabei um seine eindimensionale Analyse der technischen Rationalität, seine künstliche Gegenüberstellung von »modernem Staat« und »entmündigter Zivilgesellschaft« sowie um seinen Begriff des Staates, den er als eine homogene Superstruktur beschreibt, die Gesellschaften und Naturräume »lesbar« und damit »beherrschbar« macht. Ob denn der »angeblich moderne Herrschaftsapparat« nicht selbst von »partikularistischen Mechanismen durchzogen« gewesen sei, fragte der Historiker Frederick Cooper und forderte, Begriffe klarer zu definieren und Differenzen genauer zu beschrieben, statt wie Scott »das Systemische zu verdammen und das Chaotische zu feiern«.19 Auf diese Kritik hat James Scott mit einer Studie über Südostasiens vormoderne Sonnenmonarchien reagiert, in der er Staatsbildungsprozesse aus der Perspektive ihrer Peripherien und nicht aus der Perspektive ihrer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentren beschreibt. Es geht ihm um die »Bruchzonen« und »Fluchtzonen« an den Rändern staatlicher Herrschaftsbereiche, die »unvermeidliche Nebenprodukte von gewaltsamen Staatswerdungsprozessen« waren, weil Menschen sich angesichts der Steuerlasten, Arbeitspflichten und Militärdienste, die die Zentralisierung von Herrschaft mit sich bringt, in benachbarte Gebirgsregionen, Steppengebiete und Flussdeltas zurückzogen, auf die der Zentralstaat keinen regelmäßigen Zugriff hatte.20 Indem Scott Staatsbildungsprozesse aus der Perspektive ihrer geografisch isolierten und schwer zugänglichen Peripherien porträtiert, kann er die Grenzen staatlicher Handlungsmacht genauer bestimmen. Im Zuge dieser Grenzvermessung fordert Scott, die »tatsächliche Macht des Staates von sei17 18 19 20

Scott, Seeing Like a State, S. 193–194. Li, »Beyond ›the State‹ and Failed Schemes«. Cooper, Colonialism in Question, S. 141–142. Scott, Art of Not Being Governed, S. 24.

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nem wirtschaftlichen und symbolischen Einfluss zu unterscheiden«. Die »kosmologischen Geltungsansprüche und ideologische Reichweite« von Staaten waren »viel größer als ihre praktische Kontrolle über Arbeitskräfte und Getreide«.21 Diese Überlegungen Scotts können auch das Bild der Sowjetunion verändern, deren »moderne« Staatlichkeit an den Peripherien trotz aller ideologischen Einflussnahme brüchig und begrenzt blieb.

In der streng hierarchisierten politischen Geografie der Sowjetunion gehörte Zentralasien zu den Peripherien im wortwörtlichen Sinn.22 Aus Moskauer Sicht verkörperte es »Rückständigkeit« schlechthin.23 Als Stalin Anfang der 1920er Jahre die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki neu ausrichtete, ordnete er die Völker der Sowjetunion anhand einer Skala von »Entwicklung« und »Kultiviertheit«, die sich am Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung maß. Demnach belegten Georgien und Armenien die ersten Plätze, während Zentralasien ganz hinten lag. Die Situation sei hier »äußerst ungünstig« und »äußerst beunruhigend«. Stalin bemängelte die »kulturelle Rückständigkeit«, die »miserablen Alphabetisierungsraten« und das »furchtbar langsame Entwicklungstempo«. Es sei aber »kein Geheimnis«, wie eng »Kultur« und »Staatlichkeit« zusammenhingen. »Je alphabetisierter und kultivierter ein Land, eine Republik oder ein Gebiet ist«, behauptete er, »desto näher ist der Parteiund Regierungsapparat am Volk, an seiner Sprache und an seinem Alltag.« Stalin fasste diese Ansicht zu einer einfachen Regel zusammen: »Du möchtest dein Land im Sinne einer Verbesserung seiner Staatlichkeit fortschrittlich machen? Dann steigere die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung und hebe die Kultur deines Landes.«24 Mit den einfachen Mitteln, die Stalin empfahl, konnte man in Zentralasien keinen revolutionären Staat errichten. Es gab dort weder Nationen noch Klassen, weder standardisierte Schriftsprachen noch eine allgemein verbindliche Lebensweise. Selbst das Band des Islam wirkte 21 22 23 24

Ebenda, S. 35. Abashin, »Soviet Central Asia on the Periphery«, S. 361–363. Northrop, »Nationalizing Backwardness«. Tajny nacional’noj politiki, S. 260. So argumentierte Stalin schon 1919, vgl. Stalin, Werke Bd. 4, S. 209–211.

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weniger vereinheitlichend, als man annehmen könnte, weil trotz sunnitischer Dominanz unterschiedliche Auslegungen, Riten und Glaubenspraktiken oft unverbunden nebeneinander existierten. Was das Zusammenleben der Bevölkerungen Zentralasiens verband, war das Ineinander sesshafter und nomadischer Lebensweisen und damit die Symbiose zwischen iranischen und türkischen Lebenswelten, die sich wirtschaftlich ergänzten und ökonomisch aufeinander angewiesen waren.25 Basare und Markttage bildeten die wichtigsten Knotenpunkte, an denen Austausch stattfand und Konflikte ausgetragen werden konnten. Die sozialen Kategorien des »modernen« Staates wie »Klassen« und ethnische »Nationen«, mussten in einer Region kultureller Vielheit und ökonomischer Spezialisierung erst hergestellt werden, um gesellschaftliche Geltung zu erlangen.26 Deshalb wirkten die »kosmologischen Geltungsansprüche« des Staates in Zentralasien andersartig als in vergleichbaren Gebieten der sowjetischen multiethnischen Peripherie, was unmittelbare Folgen für den Handlungsradius des Staates und die Stabilisierung seiner Herrschaft hatte. Dabei spielten nicht nur die »Verschlossenheit« der Oasengesellschaften und die schmalspurige Infrastruktur eine ausschlaggebende Rolle.27 Es gab auch keine engen persönlichen Verflechtungen zum Zentrum des Parteistaats in Moskau. Ein kurzer Vergleich zu einer anderen sowjetischen »Peripherie«, dem Kaukasus, kann diesen entscheidenden Unterschied illustrieren: Nach den langjährigen Eroberungskriegen im 19. Jahrhundert nahm der Kaukasus einen herausgehobenen Platz in der Selbstimagination der russischsprachigen Eliten des Zarenreichs ein.28 Nicht nur Stalin, sondern zahlreiche andere sowjetische Führer, die in den 1920er und 1930er Jahren die Macht im Kreml eroberten, stammten aus dem Kaukasus und waren dort politisch sozialisiert worden. Aus ihren Heimatländern brachten sie eine politische Kultur mit, die den sowjetischen Staat tief prägte.29 Mit dem Aufstieg Stalins verwandelte sich der Kaukasus in ein »Experimentierfeld« für

25 26 27 28

Subtelny, »The Symbiosis of Turk and Tajik«. Martin, Affirmative Action Empire, S. 125–129. Safarov, Kolonial’naja revoljucija, S. 16. Jersild, Orientalism and Empire, S. 110–125; Khodarkovsky, Bitter Choices, S. 66–91. 29 Rieber, »Stalin, Man of the Borderlands«.

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den »Gewaltstil«, mit dem die Bolschewiki dann »den Rest der Sowjetunion heimsuchten«.30 Obwohl es in Zentralasien weder an Experimenten noch an Gewalt mangelte, lagen die Dinge in vielerlei Hinsicht anders als im Kaukasus. Zentralasien blieb peripher und schwach integriert. Die Eroberung der Region in den 1860er und 1870er Jahren hatte die russische Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Bevor der Baumwollanbau um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einem einträglichen Geschäft wurde, erfüllte die Region im Zarenreich allenfalls die Funktion einer militärischen Pufferzone zwischen den russischen und englischen Einflusssphären.31 Als während des Ersten Weltkriegs die russische Südfront unter der Last des türkisch-armenischen genozidalen Konflikts fast zusammenbrach, reagierte die hauptstädtische Öffentlichkeit Russlands besorgt; den gleichzeitig stattfindenden Nomadenaufstand in Zentralasien, der exorbitante Opferzahlen mit sich brachte, konnte die russische Regierung dagegen erfolgreich geheim halten.32 Zu Beginn der 1920er Jahre kamen mit Buchara und Chiwa Gebiete in den sowjetischen Staatsverband, die nie unter direkter Herrschaft des russischen Zarenstaats gestanden hatten. Ihre territoriale und politische Integration forderte einen erheblichen Preis.

In Zentralasien bildete die künstliche Bewässerung eine entscheidende Relaisstation für die Bolschewiki, an der ihre staatliche Herrschaftsbildung ansetzen konnte, um den Baumwollanbau wiederzubeleben und im großen Stil auszuweiten. Viele Historikerinnen und Historiker folgern aus diesem Umstand, die sowjetische Staatsführung unter Lenin und Stalin habe in Zentralasien eine Politik der Emanzipation und Entwicklung verfolgt. Diese Entwicklungspolitik sei Teil einer genuin »sowjetischen Moderne« gewesen. Die sowjetische Elite habe Technologie und Ideologie kombiniert, um das heterogene Imperium in einen homogenen, hierarchischen und bürokratischen Staat zu verwandeln, der immer besser dazu in der Lage war, seine Bevölkerungen zu mobilisieren, zu disziplinieren und zu kontrollieren. So habe sich das durch Revolution und Bürgerkrieg verwüstete Land allmählich in eine moderne 30 Baberowski, Der Feind, S. 537, 773. 31 MacKenzie, »Turkestan’s Significance«. 32 Central’naja Azija v sostave, S. 291–292.

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Diktatur verwandelt, in der Bürokratie, Technologie und Ideologie eine machtvolle Allianz eingingen.33 Solcherlei Erfolgsgeschichten sind eingängig und leicht nachvollziehbar, weil sie die weitläufige Grundannahme bestätigen, dass menschliches Handeln auf Fortschritt und Entwicklung abzielt. Doch muss diese teleologische Herangehensweise von vornherein viele widersprüchliche Entwicklungen der vergangenen Wirklichkeit ausblenden, weil sie nicht in den engen Rahmen der Modernisierungsgeschichte passen. Hier soll der Versuch unternommen werden, die Geschichte von Stalins Herrschaft in den Rahmen alternativer Analysekategorien zu stellen. Am Beispiel der künstlichen Bewässerung und des Baumwollanbaus in Zentralasien soll gezeigt werden, wie Unordnung zum wichtigsten Instrument der Herrschaftssicherung im sowjetischen Staat wurde und wie die Macht der Unordnung die staatliche Herrschaftsausübung gleichzeitig fortwährend unterminierte und destabilisierte.34 Um diesen paradoxen Zusammenhang zu verstehen, muss gefragt werden, wie staatliche Herrschaft funktioniert, wenn sie an der »Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen« findet und sich »in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung« gefällt.35 Unordnung ist ein Ermöglichungsraum für Gewalt, und Gewalt ist eine Quelle von Unordnung.36 Versteht man unter Unordnung aber auch die Abwesenheit von geregelten Verfahren, von Verlässlichkeit und Sicherheit, dann umfasst sie neben Gewalt und Terror auch andere Instrumente der staatlichen Herrschaftssicherung. Dazu zählten in der Sowjetunion Stalins die Willkürpraktiken des Parteistaats und seiner untergeordneten Verwaltungsapparate ebenso wie die permanenten Krisen der »Planwirtschaft«, die Zerstörung von Landschaften durch Großbauprojekte und die stetige Unberechenbarkeit der ideologischen »Generallinie«. Willkür

33 Stellvertretend für viele: Shearer, »Stalinism«; Kotkin, »Modern Times«; Plaggenborg, Experiment Moderne; Obertreis, »Infrastrukturen«; Gestwa, Die Stalinschen Großbauten, S. 14–16. 34 Die Formulierung »Unordnung als politisches Instrument« stammt von Chabal/ Daloz, Africa Works, S. 155–162, die den Begriff in anderem Zusammenhang benutzen und mit anderer Bedeutung füllen. 35 Baberowski, Der Feind, S. 15. 36 Reemtsma, »Brachiale soziale Gestaltung«, S. 83–85.

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und Gewalt strukturierten die Herrschaftsausübung und untergruben sie gleichzeitig. Darum war die Macht der Unordnung, statt sich auf staatliche Institutionen und bürokratische Verfahren verlassen zu können, immer wieder darauf zurückgeworfen, was Macht nach Niklas Luhmann in ihrem Kern ausmacht: nämlich eine »Einflussform« zu sein, die sich auf »negative Sanktionen stützt« und die »über Drohung kommuniziert oder schlicht antizipiert« wird, bis es »einer expliziten Drohung gar nicht mehr bedarf«. Der »Staat« ist in dieser Machtkonstellation nicht mehr und nicht weniger als ein Instrument der Selbstbeschreibung, um Herrschaftsausübung zu legitimieren.37 Es geht auf den folgenden Seiten darum, die Gewalt der Staatswerdung und ihre Dynamik nicht nur »in der Perspektive einer Ordnung zu betrachten«, wie es in den historischen Sozialwissenschaften häufig getan wird, sondern darum, Gewalt mit der Grundannahme zu beschreiben, dass sie »keine Ordnung kennt«.38 In der brüchigen nachrevolutionären Ordnung, die infolge des sowjetischen Kolonialkriegs in Zentralasien entstanden war, setzten der wirtschaftliche Zusammenbruch und die ubiquitäre Gewalt den Intentionen der bolschewistischen Machthaber enge Grenzen. In dieser flüchtigen und ungewissen Situation wurde Unordnungstiften zu ihrer dominierenden Handlungsweise. Unordnung diente als Mittel, um aus dem Chaos heraus politische Macht zu manifestieren. Unordnungschaffen hatte zum Ziel, traditionelle soziale und politische Strukturen zu vernichten, um die sowjetische Herrschaft als einzigen Sanktionsmechanismus durchzusetzen. Die Macht der Unordnung konnte sich dabei aber ebenso gegen die eigenen Adepten und Vollstrecker richten. Paradoxerweise kannte die sowjetische Herrschaftsausübung in Zentralasien nach außen und nach innen keine Routine, die feste Verfahrensweisen, anerkannte Normen und Regeln schuf: Die sowjetische Herrschaftsroutine kennzeichnete die Machtausübung durch Unordnung. Es ist dieses Paradox, dem dieses Buch am Beispiel von Stalins Herrschaft in Zentralasien nachgeht.

37 Luhmann, Politik der Gesellschaft, S. 45–46. 38 Riekenberg, »Einführende Ansichten«, S. 10, 12.

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2 Koloniale Revolutionen – Zentralasien zwischen Zaren und Sowjets, 1885 –1922

Am 21. April 1922 telegrafierte Stalin seinem georgischen Vertrauten und Freund in Tbilissi, Sergo Ordschonikidse.1 Stalin, der wenige Wochen zuvor zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion aufgestiegen war, teilte ihm mit, dass er sofort nach Zentralasien aufbrechen müsse. Denn in Buchara hatte sich wenige Wochen zuvor unter der Führung des ehemaligen osmanischen Kriegsministers Enver Pascha das Volk gegen die Sowjetmacht erhoben, und Enver marschierte nun mit einer viertausend Mann starken Freiwilligenarmee auf die Stadt Buchara zu. Auch im Ferghanatal untergruben lokale Guerillaverbände alle Versuche, die Sowjetmacht zu stabilisieren. Ordschonikidse sollte sich ein Bild von der Krise machen und »praktische Maßnahmen« vorschlagen, wie die Regionen beruhigt werden könnten. Zudem bat Stalin ihn, die Kampfmoral der Roten Armee und ihre »Erfolgsaussichten« einzuschätzen und zu bewerten, wie groß die Gefahr sei, dass »Ferghana und Buchara« für die Sowjetmacht »verloren gehen« könnten.2 Schon seit vier Jahren versuchten die Bolschewiki vergeblich, ihre Herrschaft in Zentralasien zu konsolidieren. Ihre militärischen und wirtschaftlichen Maßnahmen provozierten jedoch immer neuen Widerstand der indigenen Bevölkerung. Landwirtschaft und Handel lagen am Boden. Große Teile der Bevölkerung des Ferghanatals, der wichtigsten Baumwollregion Zentralasiens, hungerten. Weder in den Städten noch auf dem Land akzeptierten die einheimischen Eliten den Herrschaftsanspruch Moskaus. Selbst die wenigen zentralasiatischen Kommunisten und Sympathisanten der Bolschewiki erwiesen sich als eigenmächtig und illoyal. Spannungen zwischen Moskauer »europäischen« Emissären und den indigenen »muslimischen« Bolschewiki bestimmten die Tagesordnung. Ordschonikidse schrieb Stalin im Mai 1922 aus Taschkent, dass 1 2

Zur Schreibweise von Namen vgl. die Ausführungen im Anhang unter »Begriffe, Namen, Archive«. Bol’ˇsevistskoe rukovodstvo, S. 247 (Stalin an Ordˇzonikidze, 21. 4. 1922).

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»als Resultat des vierjährigen Krieges« ein »interessantes Bild« entstanden sei: »Anstelle der Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft kamen Organisationen von Feudalen und Khanen zustande, die ihre eigenen bewaffneten Leute, ihre eigenen Territorien und eigenen Untertanen haben. Die hiesigen Kommunisten führen mit diesen Feudalen Friedensverhandlungen von gleich zu gleich.«3 Der langwierige koloniale Eroberungskrieg, den die Bolschewiki in Zentralasien führten, ergab sich aus den russischen Revolutionen von 1917. Diese hatten in Zentralasien, ähnlich wie im Kaukasus und in der Ukraine, ausufernde ethnische Konflikte hervorgerufen. Im revolutionären Taschkent speiste sich »Politik« aus ethnischer Segregation und religiösen Konflikten.4 Aber anders als im Kaukasus und der Ukraine kamen in Zentralasien 1917 keine indigenen Nationalisten oder Sozialisten an die Macht, sondern »russische Soldaten«, »armenische Nationalisten« und »verschiedenartigste marodierende Elemente«, darunter deutsche und österreichische Kriegsgefangene, die der »Bürgerkrieg als leichter Broterwerb angelockt« hatte.5 In Taschkent sorgte der im Oktober 1917 entstandene »Stadtsowjet« für den Ausschluss der muslimischen Mehrheitsbevölkerung von jedweder politischen Mitbestimmung und von den überlebenswichtigen Versorgungsnetzwerken.6 Seine Diktatur verursachte und beförderte eine Hungersnot, die in der indigenen Bevölkerung zwei Millionen Menschenleben forderte.7 Im Herbst 1919 sollte dann mit dem Durchbruch der Roten Armee nach Taschkent eine zweite, nunmehr wahrhaft bolschewistische Revolution beginnen. Sie sollte kulturellen Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung in eine Region bringen, die von den Moskauer Revolutionären als »feudal« und »rückständig« eingestuft wurde. »Die Sowjetmacht«, schrieb der Revolutionär Georgi Safarow, »kann nicht auf der Gewalt von Bajonetten und auf blinder ökonomischer Notwendigkeit beruhen. Von ihrem innersten Wesen her kann sie keine koloniale Macht sein, keine Macht eines Häufleins von Kolonisatoren, das über die Massen der eingeborenen Bevölkerung bestimmt. Sie sollte die Macht dieser 3 4 5 6 7

Bol’ˇsevistskoe rukovodstvo, S. 255 (Ordˇzonikidze an Stalin, 16. 5. 1922). Khalid, »Nationalizing the Revolution«. Safarov, Kolonial’naja revoljucija, S. 79. Sahadeo, Russian Colonial Society, S. 190–220. Buttino, Revoljucija naoborot, S. 364–365; Buttino, »Study«, S. 64–65.

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Massen sein.«8 Damit sprach Safarow das Leitthema der kolonialen Revolution der Bolschewiki an, nämlich wie die ethnischen Konflikte zwischen den indigenen Bevölkerungen und den russischen Kolonisten im Rahmen einer postkolonialen sowjetischen Herrschaft aufgehoben werden konnten. In den Augen der Moskauer Bolschewiki bildete ihre Utopie von einer gesamtstaatlichen nichtkapitalistischen Wirtschaftslenkung keinen Gegensatz zu ihrem Vorhaben, die Emanzipation der »unterdrückten Völker des Orients« herbeizuführen. Vielmehr sahen sie beides als unzertrennliche Einheit an. Dabei eiferten die Moskauer Revolutionäre und ihre Emissäre in Taschkent dem Vorbild der vorrevolutionären zaristischen Kolonialpolitik nach, die es vollbracht hatte, Turkestan binnen weniger Jahrzehnte in eines der größten Baumwollanbaugebiete der Welt zu verwandeln. Will man das Denken und Handeln der Bolschewiki während der entscheidenden Eroberungsphase zwischen 1919 und 1922 verstehen, ist ein kurzer Blick in die Geschichte dieser ersten Baumwollrevolution zwischen 1885 und 1914 zu werfen. Um die Komplexität der Welt zu erahnen, in die die Bolschewiki ihre koloniale Revolution tragen wollten, soll jedoch zunächst ein Eindruck von den geografischen und ökologischen Bedingungen vermittelt werden, die vor hundert Jahren im Zweistromland zwischen Amudaria und Syrdaria herrschten.

Land der Wüsten und Oasen: Ein wirtschaftsgeografischer Überblick Gern und häufig haben Geografen Zentralasien als eine Region von »ausgeprägten Gegensätzen« beschrieben. Man findet Hochgebirge und Tiefebenen, erlebt die heißen Sommer und kalten Winter der kontinentalen Klimazone, es gibt Oasen, die dicht besiedelt sind wie Großstädte, inmitten menschenleerer Wüsten und Steppen.9 Sich Zentralasien als eine geografische Einheit vorzustellen, fällt schwer, solange man nicht den dominanten Effekt der großen Flüsse Amudaria (Oxus) und Syrda-

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Safarov, Kolonial’naja revoljucija, S. 124. Stadelbauer, »Zwischen Hochgebirge und Wüste«, S. 9.

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ria (Jaxartes) berücksichtigt, von deren Wasserzufuhr die Lebensmöglichkeiten und Wirtschaftsweisen der Menschen in der Region abhängig sind. Die seit der Antike bestehende Vorstellung von Zentralasien als »Land jenseits des Oxus« (Transoxanien) teilten die Lateiner mit den Arabern, die es mit dem gleichbedeutenden Wort »Mawarannahr« bezeichneten. Trotz der in Russland seit Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen Bezeichnung »Mittelasien« blieb das Land zwischen Amudaria und Syrdaria eine leere Mitte, deren Geschichte sich zwischen den Machtsphären und Lebensweisen der iranischen, arabischen, mongolischen, türkischen, europäischen und chinesischen Welten abgespielt hatte und die Teil aller großen Imperiumsbildungen in der eurasischen Steppe gewesen war.10 Betrachtet man die geografischen Gegebenheiten genauer, kann Zentralasien eigentlich nicht als »Zweistromland« zwischen Amudaria und Syrdaria gesehen werden, denn der geografische Raum wird von drei großen und vielen kleineren Flüssen durchzogen. Der wasserreichste dieser Flüsse, der Amudaria, entspringt am Südrand des PamirGebirges aus dem Zusammenfluss des Pandsch mit dem Wachsch, teilt die Wüsten Kyzylkum und Karakum, durchfließt die Oase von Choresm und mündete (bis in die späten 1970er Jahre) in den Aralsee. Der mit 2212 Kilometern längste Fluss Zentralasiens, der Syrdaria, speist sich aus zwei Gebirgsflüssen im Tian Schan, dem Naryn und dem Karadaria, entsteht an deren Zusammenfluss am Ostrand des Ferghanatals, durchfließt die Hungersteppe, bildet den Nordrand der Kyzylkum und mündet (seit Ende des 1970er Jahre nur episodisch) ebenfalls in den Aralsee. Der dritte Fluss, der Serfaschan (in der Antike auch mit dem Namen »Sughd« bezeichnet), entspringt wie der Amudaria aus den Gletschern des Pamir und versorgt die alten Oasen von Samarkand und Buchara mit Wasser. Dieser kleinere, aber historisch überaus relevante Gebirgsfluss, der vormals in den Amudaria mündete, endet heute in der Kyzylkumwüste. Weil Niederschläge in den semiariden und ariden Tiefebenen Zentralasiens sehr selten und gering sind, beruht der Ackerbau, dessen Anfänge bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückreichen, auf künstlicher Bewässerung.11 Die ältesten Herrschaftsbildungen zwischen Syrdaria

10 Fragner, »Hochkulturen und Steppenreiche«. 11 Lewis, »Early Irrigation in West Turkestan«.

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und Amudaria verdankten ihre Existenz dem Bau von Bewässerungssystemen.12 Inmitten von Steppen und Sandwüsten erlaubte erst die Umlenkung von Wasser das Überleben in den verwundbaren Flussoasen, deren reiche Sedimentböden in Kombination mit den heißen und langen Sommern mehrere ertragreiche Ernten pro Jahr erlauben. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert glichen manche Bewässerungskanäle, die über Generationen entstanden waren, natürlichen Flüssen. Schiffbare Kanalmagistralen, die sich in Hunderte Nebenkanäle verzweigten, konnten Längen von 160 Kilometern erreichen. Die größten Kanalsysteme am Unterlauf des Amudaria erstreckten sich auf einer Distanz von bis zu 900 Kilometern.13 Aufgrund der harschen, aber landwirtschaftlich vielversprechenden ökologischen Bedingungen entwickelte sich in den Flussoasen eine Bewässerungskultur, wie sie sich auch in Mesopotamien oder im nordindischen Doab finden lässt. Von alters her baute die Oasenbevölkerung mit einfachsten Arbeitsgeräten und lokalen Baumaterialien ihre Bewässerungskanäle, Schleusen und Dämme, die im Lauf der Jahrhunderte jedoch einen hohen Grad an technischer Komplexität erreichten. Schon der Ort an den Flussufern, an dem die Kanäle ihren Ausgang nahmen, musste sorgfältig gewählt werden. Einerseits durfte das Wasser nicht zu schnell in die künstlichen Kanalsysteme einfließen, da es angesichts der großen Wassermengen und der hohen Fließgeschwindigkeiten der Gebirgsflüsse die Kanalanlagen leicht beschädigen konnte. Andererseits mussten die Kanäle auf eine Art und Weise trassiert sein, die gewährleistete, dass die Fließgeschwindigkeit hoch genug blieb, um das Wasser bei geringem Geländegefälle über weite Strecken zu transportieren.14 Nicht nur wegen der Ausdehnung der Kanalnetze erforderte die Wasserregulierung viel Geschick. Hinzu kam, dass die zentralasiatischen Flüsse saisonal sehr unterschiedliche Wassermengen führen. Wie bei der Nilschwemme in Ägypten oder beim Monsun in Indien ist das »erste Wasser« ein jährlich wiederkehrendes Naturphänomen, auf das sich die Bevölkerung in den Oasen mit entsprechender Sorgfalt einstellte. Bei niedrigen Flusspegeln mussten die Kanäle möglichst viel Wasser aufneh12 Stride/Rondelli/Mantellini, »Canals versus Horses«. 13 RGASPI 62/2/1660, Bl. 2–4 (Charakteristika zemel’nych otnoˇsenij v oazisach nizovij Amu-Dar’i, 1927). 14 Busse, Bewässerungswirtschaft, S. 31–32.

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men, bei Hochwasser dagegen den schnell strömenden Fluten widerstehen können. Gelangte während des Frühjahrs nicht genügend Wasser von den Flüssen in die Kanalsysteme, trockneten die fruchtbaren Böden aus und bildeten eine harte Salzkruste, die die Vegetation zerstörte. Während der Hochwasser bestand die Gefahr, dass die Flüsse die Felder überschwemmten und die Ernten vernichteten. Darum band die Instandhaltung der Bewässerungsanlagen viel Arbeitskraft. Die Oasenbevölkerung erneuerte jährlich die Holzschleusen an den Fluss- und Kanalufern, baute Schutz- und Leitdämme, befreite die Kanäle von Sedimentablagerungen und die Felder von Salzrückständen. Dies konnte nur in den Wintermonaten bei Niedrigwasser geschehen. Jeder Wassernutzer war dazu verpflichtet, an den gemeinschaftlichen Kanalreinigungsarbeiten (chaschar oder kasu) teilzunehmen. Die dabei zu erbringende Arbeitsleistung richtete sich entweder nach der Größe des bewässerten Landes, das einem Wassernutzer zur Verfügung stand, oder aber nach der Anzahl der Tage, an denen der Kanalanlieger Wasser aus dem Hauptkanal erhielt. Hinzu kamen die sommerlichen Arbeitseinsätze zum Hochwasserschutz. Im Delta des Amudaria, wo es regelmäßig zu Überschwemmungen kam, gab es sogar Flutschutzdeiche, die sich über mehrere Hundert Kilometer an den Flussarmen entlangzogen. In den Unterläufen des Amudaria und des Syrdaria gehörten große Wasserräder zum Bild der Landschaft, mit denen Felder bewässert werden konnten, die hoch über dem Flusshorizont lagen und somit vor Hochwasser besser geschützt waren.15 Wesentliche Elemente der sozialen und wirtschaftlichen Organisation der Oasengesellschaften leiteten sich aus Institutionen ab, die regelten, wer über wie viel Wasser verfügen konnte und wer die aufwendigen Bewässerungssysteme zu warten hatte. Das feine soziale Gewebe von Wasserrechten, Arbeitspflichten, gemeinschaftlicher Selbstorganisation und lokalem Wissen durchdrangen Außenstehende nur schwerlich. Die Oasenbewohner wehrten sich gegen Eingriffe seitens staatlicher Herrschaftsträger ebenso wie gegen Ansiedlungsversuche seitens nomadischer Bevölkerungsgruppen, was oft mit langwierigen und gewaltsamen Auseinandersetzungen einherging.16 Dass die zentralasiatischen Oasen

15 Sarybaev, Istorija oroˇsenija, S. 80–124. 16 Keller, »Central Asian Bureau«, S. 292–294.

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dennoch längerfristig attraktive Übergänge zwischen nomadischer und sesshafter Lebensweise bieten konnten, zeigte ihre »ethnische« Struktur. An vielen Orten lebten im 19. Jahrhundert iranischstämmige sesshafte Bevölkerungsteile (»Tadschiken«) mit ehemals nomadisch lebenden türkischstämmigen Bevölkerungsteilen (»Usbeken«) zusammen. Schon die russischen Ethnografen des ausgehenden 19. Jahrhunderts verzweifelten an der Tatsache, dass sie in den Oasen keine klar umrissenen ethnisch-nationalen Gruppen mit festgelegten ökonomischen Rollen finden konnten, sondern nur ein Kontinuum von Oppositionen wie »nomadisch« und »sesshaft«, »türkisch« und »iranisch«, »tribal« und »nichttribal«. Zusätzliche Faktoren verkomplizierten das Bild der Oasengesellschaften. Ausgedehnten Verwandtschaftsnetzwerken standen starke regionale Bindungen gegenüber; überregionale Zusammenhänge, wie etwa die Zugehörigkeit zu religiösen Sekten und Orden, konkurrierten mit den strengen Hierarchien der genealogischen Abstammung; abenteuerliche Stammesgenealogien und erfundene Traditionen fanden sich im Widerspruch zu den klaren Gesetzen des Islam. Von außen ebenso schwer durchschaubar schienen die politischen Hierarchien der indigenen Gesellschaften, die lokalen Regeln der Wasserverteilung oder die komplizierte Struktur des Landbesitzes.17 Man kann die Geschichte Zentralasiens als eine Geschichte von Invasionen, kulturellen Überformungen und Migrationsbewegungen schreiben. Nach Persern, Mongolen und Türken und nach mehreren russischen Eroberungsversuchen gelang es im Juni 1865 schließlich einer Armee des Zaren, Taschkent zu besetzen.18 Schritt für Schritt kamen durch militärische Operationen, diplomatische Manöver und gewaltsame Strafaktionen große Gebiete Zentralasiens in den Herrschaftsbereich des russischen Imperiums.19 Allerdings gestaltete sich die »Herrschaft« in Turkestan, wie die neuen Gebiete genannt wurden, mühevoll und ineffektiv. Schon die verwirrende administrative Struktur der eroberten Gebiete, die sich im Lauf der 1870er Jahre herausschälte, legt beredtes Zeugnis davon ab. Neben dem Generalgouvernement Turkestan, dessen Verwaltungssitz sich in Taschkent befand, behielten sowohl das Emirat von Buchara als auch das Chanat von Chiwa als russische Protektorate ihre 17 Morrison, Russian Rule in Samarkand, S. 88–125. 18 Crews, For Prophet and Tsar, S. 241–260. 19 Kappeler, Russland als Vielvölkerreich, S. 155–168.

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staatliche Selbstständigkeit.20 Dagegen gehörte Transkaspien, das Gebiet der Karakumwüste zwischen Amudaria und Kaspischem Meer, nominell zur Statthalterschaft des Zaren im Kaukasus und wurde von der georgischen Hauptstadt Tbilissi aus verwaltet. Zudem lag die russische Verwaltung von Turkestan und Transkaspien vom Zeitpunkt der Eroberung bis zu den Revolutionen von 1917 in den Händen des russischen Militärs, dessen Generäle und Offiziere sich in Turkestan als moderne Kolonialherren nach dem Vorbild der britischen Raj in Indien inszenierten.21 Wie ihre Pendants in Indien träumten die russischen Eroberer in Taschkent davon, mit großartigen Kanalbauprojekten an das sagenumwobene Blühen der alten Kulturlandschaften Zentralasiens anzuschließen, von dem historische Quellen berichteten und eine Vielzahl verödeter Kanalanlagen zeugte. Die Bewässerung faszinierte sie nicht nur wegen ihrer Altertümlichkeit, ihrer sozialen Komplexität und ihrer technischen Finesse, sondern auch, weil sie sich von einer verbesserten Wasserversorgung die Stärkung ihres schwachen Kolonialstaats versprachen. »Wasser ist hier die einzige Medizin für alle Schmerzen«, hieß es in einem Zeitschriftenartikel von 1888, »angefangen von den wirtschaftlichen und sozialen Krankheiten bis hin zu den Unglücken, die von der Natur geschickt werden. ›Wasser, Wasser, Wasser‹ – so lautet die beständige und unveränderliche Losung im Orient, diesem durstigen Land.«22 Doch es war nicht der Bau von neuen Kanalanlagen und Stauwerken, der das soziale und wirtliche Antlitz revolutionär verändern sollte, sondern die Intensivierung des Baumwollanbaus mit der Einführung »amerikanischer« Baumwollsorten seit 1885.

Amerikanische Träume: Der Baumwollboom in Turkestan, 1885 –1914 An sich ist die Baumwollpflanze anspruchslos. Sie lässt sich leicht vermehren und anbauen, unkompliziert pflegen und züchten. Sie benötigt jedoch reichlich Wasser und außerdem viel Licht und warme Tempe20 Becker, Russia’s Protectorates. 21 Abdurakhimova, »Colonial System of Power«; Sahadeo, Russian Colonial Society, S. 22–56. 22 T-go, »E˙konomiˇceskaja zadaˇca Rossii«, S. 200–201.

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raturen, sodass sich ihre Kultivierung auf Regionen beschränkt, die zwischen dem 37. nördlichen und 32. südlichen Breitgrad liegen. Nach einer Vegetationsperiode von acht oder neun Monaten öffnet die Strauchpflanze ihre Kapseln, die mit Samenkernen durchsetzte weiße Fasern enthalten. Dem einfachen Anbau steht die mühevolle Verarbeitung der Baumwollpflanze entgegen: Die Fasern müssen in Kniehöhe aus den harten Kapseln gepflückt werden. Mehrere Erntedurchgänge sind nötig, weil die Kapseln an den Pflanzen unterschiedlich schnell heranreifen. Danach müssen die Fasern von den Samenkernen getrennt (»entkernt«) und anschließend versponnen werden. Weil sich alle Bestandteile der Baumwollpflanze nutzen lassen, kann sie als das »Hausschwein der Botanik« gelten.23 Die Samen der Baumpflanze enthalten Öl, das sich zum Kochen eignet. Aus den Samenresten lassen sich Ölkuchen pressen, die als Brennstoff dienen können. In Zentralasien hatte die Baumwollkultivierung eine lange Geschichte, die eng mit der Ausbreitung der islamischen Zivilisation verbunden war. Hier wurde Baumwolle getragen und geschätzt, lange bevor das christliche Europa die Vorzüge der Baumwolle entdeckte und im 18. Jahrhundert mit ihrer industriellen Verarbeitung begann.24 Angebaut wurden »indische« Varietäten (ghusa) mit kurzen Fasern, die auf den bewässerten Feldern zwischen anderen Anbaukulturen wuchsen. Der Eigenbedarf der Bevölkerungen Zentralasiens an Baumwolle war gering, da ihr Hauptprodukt, der Baumwollstoff, mit Seide, Wolle, Leinen und Pferdehaar konkurrierte. Einen intensiveren Anbau für den Export machte der wochenlange Karawanenweg durch die Kasachische Steppe schwerlich rentabel. Während der internationalen Krise auf dem weltweiten Baumwollmarkt, die der amerikanische Sezessionskrieg ausgelöst hatte, nahm das Interesse an zentralasiatischer Baumwolle in Russland und Polen kurzzeitig zu. Die Importe stiegen zwischen 1861 und 1864 von 152000 Pud (9300 Tonnen) auf 704000 Pud (43000 Tonnen). Nach dem Ende der Baumwollkrise bis weit in die 1880er Jahre versorgte sich die russische Textilindustrie dann wieder mit Baumwolle aus den Vereinigten Staaten und Ägypten, die über die englischen Häfen nach Russland kam. Hauptgrund für die niedrigen Importmengen aus Zentralasien war

23 Orsenna, Weiße Plantagen, S. 15. 24 Beckert, King Cotton, S. 35–41.

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die Überlegenheit der langfasrigen »amerikanischen« Baumwollsorten, die sich weitaus besser für die industrielle Verarbeitung eigneten als die kurzfaserigen »indischen« Sorten, die in Turkestan, Buchara und Chiwa angebaut wurden.25 Schon Ende der 1860er Jahre hatten sich russische Agronomen bemüht, langfaserige amerikanische Baumwollvarietäten in Zentralasien heimisch zu machen. Die Agronomen M. M. Brodowski und V. I. Samolewski besuchten die Vereinigten Staaten, wählten dort die Sorte »Sea Island« aus, begannen in Taschkent eine Züchtung und erhielten auf der Moskauer Polytechnischen Ausstellung 1872 eine Goldmedaille für ihre Erfolge. Doch schon bald stellte sich heraus, dass die Baumwollfasern dieser Züchtung über zu wenig Festigkeit zur industriellen Weiterverarbeitung verfügten, woraufhin die russischen Versuche in der Baumwollzucht eingestellt wurden. Die »amerikanische« Baumwolle fand einen anderen Weg nach Turkestan: Im Jahr 1875 erhielt ein Taschkenter Mullah namens Julschi Tojtschibajew von Pilgern, die von der Hajj aus Mekka zurückgekehrt waren, Baumwollsamen der amerikanischen Varietät »Upland«. Er experimentierte mit den Pflanzen und hatte sie bis 1884 akklimatisiert. Damit war der Weg frei, die neue Sorte großflächig zu verbreiten.26 Die folgenden drei Jahrzehnte bis 1914 machten aus dem russischen Turkestan und den angrenzenden Gebieten von Buchara und Chiwa ein Eldorado für den Baumwollanbau. Zwischen 1888 und 1916 verachtfachte sich die Anbaufläche, und zwischen 1912 und 1916 betrug die durchschnittliche Jahresernte von Rohbaumwolle 11,293 Millionen Pud (185000 Tonnen). Am Vorabend des Weltkriegs wuchs die Baumwolle in Turkestan auf einer halben Million Hektar und versorgte die Textilindustrie in Zentralrussland und Polen mit der Hälfte ihres stetig zunehmenden Gesamtbedarfs.27 Für diesen Boom gab es mehrere Gründe: 1888 erreichte der russische Eisenbahnbau die Stadt Samarkand und zehn Jahre später auch Taschkent und das Ferghanatal. Als ebenso günstig erwies sich die Petersbur25 Hoetzsch, »Russisch-Turkestan«, S. 233; Golodnaja step’, S. 188; Whitman, »Turkestan Cotton«, S. 193. 26 Sevast’janov, »K voprosu«, S. 260. 27 Central’naja Azija v sostave, S. 146–148; Whitman, »Turkestan Cotton«, S. 194; Siegel, Baumwollwirtschaft, S. 7, 14–15.

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ger Steuerpolitik. Das russische Finanzministerium gewährte 1891 großzügige Steuererleichterungen und erhöhte gleichzeitig die Schutzzölle auf Baumwollimporte. So lagen um 1900 die Steuersätze bei mageren zwei (statt der üblichen zehn) Prozent des Ernteertrags, und auch die reale Grundsteuerlast fiel im Lauf der Jahre gen null.28 Die Baumwolle entwickelte sich aber nicht nur wegen der geringen Steuern und der fallenden Transportkosten zu einem einträglichen Geschäft, sondern auch, weil unternehmerische Initiative und regionale Spezialisierung schnell für den nötigen infrastrukturellen Unterbau sorgten. Obwohl sich die amerikanischen Sorten und mit ihnen die großflächige Kultivierung von Baumwollpflanzen überall in Zentralasien ausbreiteten, konzentrierte sich der Anbau im Ferghanatal, das sich »dank seiner klimatischen Verhältnisse, nämlich infolge spät eintretenden Winterfrosts und Reichtums an Wasser, welches leicht zu Bewässerungszwecken verwendet werden kann, für die Kultur der amerikanischen Baumwollsorten am meisten eignete«.29 Wer im Ferghanatal Land besaß, hatte also eine Handvoll Anreize, es mit Baumwolle zu bepflanzen. Auch die Preise, die mit dem Verkauf von Rohbaumwolle zu erzielen waren, zogen in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre kräftig an. In Namangan, einem Gebiet, das am Zusammenfluss des Naryn und des Karadaria im östlichen Ferghanatal liegt, brach 1890 das »Baumwollfieber« aus. Die amerikanischen Pflanzen verdrängten andere wasserintensive Kulturen wie Reis und Klee. Brachland und Weideflächen bedeckten sich mit Baumwolle. Händler begannen, die Baumwollernten, für die es in Zentralasien selbst keinen Markt gab, nach Russland zu verkaufen. In Namangan baute der Usbeke Usman Sager 1887 die erste wasserbetriebene Baumwollmühle (engl. und russ. gin), in der die Fasern von Samen getrennt werden. Zwei russische Handelsgesellschaften, Kudrin & Co. und die Große Jaroslawer Manufaktur, eröffneten ein Jahr später Baumwollfabriken, die jeweils mehrere Entkernungsanlagen betrieben. Während im Kreis Namangan 1888 lediglich 3100 Hektar unter Baumwolle standen, waren es im Jahr 1900 schon 37400 Hektar. Im selben Jahr ernteten die Namanganer Baumwollpflückerinnen über zwei Millionen Pud (32760 Tonnen). Die Verkehrswege wurden ausgebaut,

28 Penati, »Cotton Boom«, S. 754–758, 762–767. 29 Siegel, Baumwollwirtschaft, S. 6.

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die Löhne stiegen, und mit dem Geldzufluss schossen die Kosten für Lebenshaltung, Futter und Dünger in bedenkliche Höhen.30 Der »Baumwollboom« in Namangan und in anderen zentralasiatischen Oasen fand im Zuge einer weltweiten Veränderung in der Baumwollwirtschaft statt. Der Historiker Sven Beckert hat diese Veränderung als »explosive Transformation« der Baumwollproduktion beschrieben, als eine »neue politische Ökonomie«, die zwischen 1861 und 1914 weltweit neuartige kapitalistische Arbeitsbeziehungen zum Vorschein brachte, den sukzessiven »Einschluss« von Kapital und Kapitalisten in die »imperialen Nationalstaaten« bewirkte und für die »rapide geografische Ausbreitung von kapitalistischen Sozialbeziehungen« sorgte.31 Fraglos veränderte die Baumwollproduktion auch die Gesellschaften Turkestans stärker als jede andere politische oder wirtschaftliche Maßnahme der russischen kolonialen Militärverwaltung.32 Ungeachtet dieser Tatsache folgte Russland nicht, wie Beckert suggeriert, dem Modell eines global-imperialen »Kriegskapitalismus«.33 In Turkestan expandierte die Baumwollwirtschaft nicht, weil sie Teil eines vom russischen Staat geplanten und gelenkten kolonialen Projekts war. Sie entwickelte sich vielmehr aus zentralasiatischer Eigeninitiative, aus der »kollektiven Tätigkeit der einheimischen Bevölkerung und von Investoren, sowohl russischen als auch lokalen«.34 Dabei gab es Gewinner und Verlierer. Viele Baumwollpflanzer verschuldeten sich und verloren nach Missernten ihre Landrechte, weil sie ihre Kredite nicht bedienen konnten. Weder wohlgemeinte Veränderungen im Kreditwesen, bei denen die russische Staatsbank eine tragende Rolle spielte, noch der Versuch, die Macht des Zwischenhandels zu brechen, konnten die Landarmut in den dicht besiedelten Oasen nachhaltig beseitigen. 1912 galten 34000 Höfe im Bezirk Ferghana als landlos. Im selben Jahr konnten über die Hälfte der Baumwollproduzenten Ferghanas ihre Bankkredite nicht zurückzahlen. In manchen Regionen war ein Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung von Landlosigkeit betrof-

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Reznik, »Chlopkovodstvo v Namanganskom uezde«, S. 122–127. Beckert, »Emancipation and Empire«, S. 1405–1406. Khalid, Politics of Muslim Cultural Reform, S. 68. Beckert, »Emancipation and Empire«, S. 1430–1431. Ausführlicher: Beckert, King Cotton, S. 317–321. 34 Penati, »The Cotton Boom«, S. 743.

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fen. Auf der anderen Seite gab es »Baumwollbarone«, wie Mirkamil Muminbabajew in Andischan oder Nathan Davidoff in Kokand, die die Gewinne ihrer weitverzweigten Handelsgesellschaften in Fabriken, Landkonzessionen und Minen reinvestierten.35 Um die Wende zum 20. Jahrhundert begannen die russischen Kolonialbeamten in Turkestan, in der ungebremsten Ausbreitung des Baumwollanbaus Gefahren für die einheimischen Gesellschaften zu erkennen. Sie kritisierten die fehlende Nachhaltigkeit der Baumwollkultur im Ferghanatal und die amoralischen Kreditverhältnisse. Darüber hinaus sahen sie die »organische und gesunde Struktur der Landwirtschaft« in den Oasen in Gefahr, war die bewässerte Landwirtschaft von Kleinbauern in ihren Augen doch die »Hauptarterie, die den Organismus der einheimischen Gesellschaft versorgt«. Darum sollte der »Aufkauf von Land und die Entstehung eines landlosen Proletariats« staatlicherseits verhindert werden. Es gebe, schrieb ein russischer Kolonialbeamter 1913, »viele Gründe anzunehmen, dass das Wesen der lokalen Landwirtschaft auf Bedingungen beruht, die der Konzentration von Landbesitz in den Händen großer Unternehmer entschieden zuwiderläuft«.36 Wahrscheinlich gab es im frühen 20. Jahrhundert weltweit nur wenige Kolonialverwaltungen, die derart kapitalismuskritisch eingestellt waren wie die in Turkestan.37 Denn konservativ in Wort und Tat verhielt sich die Militärverwaltung nicht nur gegenüber der Baumwollwirtschaft, sondern auch in Fragen der Bewässerung. Die russische Verwaltung tastete die in Turkestan geltenden Wasserrechte und die lokale Regulierung der Wasserverteilung nicht an. Vielmehr hielten die Militärverwalter am Status quo ante fest und erlaubten keinerlei äußere Eingriffe in die »gewohnheitsrechtliche« Regelung von Wasserfragen seitens der indigenen Bevölkerung. Russische Kaufleute und Unternehmer versuchten wieder und wieder, eine Veränderung dieser rigiden Politik zu bewirken. Aber

35 Chotamov, Rol’ bankovskogo kapitala, S. 251–252. Zum Leben des Kaufmanns der ersten Gilde, Nathan Davidoff (1880–1977), der zwischen 1906 und 1917 in Kokand und danach in Moskau lebte und 1923 die Sowjetunion verließ, vgl. Ben David, »Nathan Davidoff«. 36 Materialy po obsledovaniju, S. 261. 37 Belege bei Khalid, Politics of Muslim Cultural Reform, S. 67–68, 77–78; Sahadeo, Russian Colonial Society, S. 89–91; Penati, »Cotton Boom«, S. 763. Siehe auch Geraci, »Capitalist Stereotypes«.

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alle potenziellen Investoren scheiterten mit ihren Forderungen.38 Die Militärverwaltung schob allen größeren privat finanzierten Investitionen in Land und Bewässerung einen Riegel vor. An ihren Entscheidungen scheiterte sowohl der Plan, in Turkestan Baumwollplantagen nach amerikanischem Vorbild einzurichten, als auch eine Vielzahl konzessionsgebundener Bewässerungsprojekte.39 Private Investoren, lautete die stereotype Begründung, könnten die ökonomischen Risiken teurer Kanalbauten und ihre Folgekosten nicht rentabel finanzieren; dazu sei nur »der Staat« in der Lage.40 Trotz verbreiteter Klagen über »Wasserhunger« und trotz der verbreiteten Landlosigkeit tat »der Staat« aber auch nichts dafür, die Bewässerungssysteme zu erhalten und auszubauen.41 All diese Aufgaben blieben der indigenen Bevölkerung überlassen. Zwar gingen einige staatliche landwirtschaftliche Forschungsstationen in Betrieb, und auch kleinere Versuchsgüter wurden betrieben.42 Unter den dort arbeitenden russischen Spezialisten herrschte allerdings Einigkeit darüber, dass ihre »europäische« Agrartechnik mit den einheimischen Bewässerungsmethoden nicht konkurrieren konnte. Der Leiter eines russischen Versuchsguts Michail Michailowitsch Buschujew bekannte 1909 freimütig, dass die russischen Ingenieure in der »Methodik« der künstlichen Bewässerung »im Ganzen den Eingeborenen« folgten: »Er ist auf diesem Gebiete anerkannter Meister, von dem der Russe höchstens lernen kann.«43 Nicht alle russischen Agrarspezialisten und Ingenieure waren so bescheiden wie Buschujew. Immer wieder fanden sich in der Kolonialverwaltung Beamte, die staatliche Bewässerungsprojekte initiierten und vorantrieben. Der einzige Ort in Turkestan, an dem sie sich längerfristig mit ihren Projekten behaupten konnten, war die Hungersteppe.

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Beljakov, »K voprosu«, S. 123. Überblick bei Morrison, Russian Rule, S. 201–237. Joffe, »Autocracy, Capitalism and Empire«, S. 373–375. T-go, »E˙konomiˇceskaja zadaˇca Rossii«, S. 213–214. Siegel, Baumwollwirtschaft, S. 12–13. Ter-Avanesjan, »K istorii chlopkovodstva v SSSR«, S. 603–605. Zit. n. Busse, Bewässerungswirtschaft, S. 216. Zur Biografie Buˇsuers vgl. Mamedov, Russkie uˇcënye, S. 72–76.

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In der Hungersteppe: Erste Experimente im Wasserbau Die Hungersteppe ist ein östlicher Ausläufer der Kyzylkumwüste, dessen Grenze der Fluss Syrdaria bildet. Schon im Zuge der russischen Eroberung waren den Militärkartografen die zahlreichen verfallenen Kanalanlagen aufgefallen, die sich in dem Gebiet befanden. »Obwohl die Natur hier nicht gerade ein festliches Willkommen« gewährte, wie ein deutscher Reisender schrieb, zog die Hungersteppe die Aufmerksamkeit der russischen Militärbeamten auf sich.44 Die »trostlose Einöde« durchquerte eine Karawanenstraße, die von der russischen Militärverwaltung 1868 als Postweg zwischen Taschkent und Samarkand benutzt und 1898 schließlich mit Eisenbahngleisen versehen wurde. Als Reiseroute, die von Staatsbeamten frequentiert wurde, konnte die Hungersteppe nicht in Vergessenheit geraten. 1872 unternahm die Taschkenter Verwaltung erstmals einen Versuch, die alten Bewässerungsanlagen wiederherzustellen. Doch schon im folgenden Jahr ging ihr das Geld aus, um das Vorhaben fortzuführen. Auch scheiterte der Bau an der übermäßigen Belastung der lokalen Bevölkerung, die zu den Arbeiten zwangsverpflichtet worden war. Die Arbeiten »mussten zunächst angehalten und später völlig eingestellt werden, weil sie die Bevölkerung zu sehr ruinierten«, berichteten die Zeitungen.45 Einen neuen Glanz bekam die Vision, die Hungersteppe mithilfe eines großen, aus dem Syrdaria gespeisten Kanals wiederzubeleben, als sich der vom Peterburger Zarenhof verbannte Großfürst Nikolaj Konstantinowitsch Romanow 1881 in Taschkent niederließ. »Wenn im Altertum hier ein Kanal funktioniert hat, heißt das, dass man ihn auch heute wiederbeleben kann«, lautete seine schlichte Devise. Sechs Jahre zogen sich die Bauarbeiten unter Ägide des Großfürsten hin, der für den Kanalbau geradezu eine »Manie« entwickelte, was die Ärzte als Symptom einer Geisteskrankheit diagnostizierten. Am Petersburger Hof rankten sich die wildesten Gerüchte um ihn.46 Der Kanal des Großfürsten, eröffnet am 9. Mai 1891, fiel nach drei Tagen einem Dammdurchbruch am Syrdaria 44 Busse, Bewässerungswirtschaft, S. 207. Busse hatte 1909 Turkestan und die Hungersteppe im Auftrag des Reichskolonialamts besucht. 45 Golodnaja step’, S. 189; Mamedov, Russkie uˇcënye, S. 31. 46 Pravilova, »Reka imperii«, S. 432–433; Narischkin-Kurakin, Unter drei Zaren, S. 118–120.

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zum Opfer. Erst im August 1898 konnte dann unter der Leitung des Ingenieurs Elistratow ein Kanal fertiggestellt werden, der technisch so weit durchdacht war, dass er seinem ursprünglichen Zweck auch längerfristig zu dienen vermochte. Der Kanal »Imperator Nikolaj I.« bewässerte zunächst 7800 Desjatinen (8500 Hektar) Land und wurde in den Jahren bis 1908 auf einer Länge von 90 Kilometern mit einer Breite von 8,5 Metern ausgebaut, um die Bewässerungsfläche auf 12000 Desjatinen (13100 Hektar) zu erhöhen. Doch der Kanalkopf befand sich an einer Stelle des Syrdaria, an der sich der Flusslauf oftmals veränderte und häufig Sandaufspülungen vorkamen. Überschwemmungen und Versandung verhinderten die regelmäßige Wasserversorgung des neu gebauten Bewässerungssystems. Außerdem nahm die Versalzung der lockeren Lößböden durch den bewässerungsbedingten Anstieg des Grundwasserspiegels fortwährend zu.47 Doch war die Hungersteppe weit mehr als ein staatlich gefördertes Bewässerungsprojekt, das als Experimentierfeld für unerfahrene russische Ingenieure diente. Den Kern aller Anstrengungen um die Bewässerung in der Hungersteppe bildete das Vorhaben, auf dem erschlossenen Neuland russische Kolonisten anzusiedeln. Im Gegensatz zu den dicht besiedelten Oasen der einheimischen Bevölkerung bot die »menschenleere« Hungersteppe günstige Möglichkeiten für die russische Siedlerkolonisation. In der Hungersteppe lebte das »militante Pathos der ›Turkestaner‹« auf, das die Mentalität der russischen Eroberer Zentralasiens kennzeichnete.48 Nur haperte es am Wasser.

Kolonisierung: Russische Siedler in Turkestan Obwohl es bis 1910 ein offizielles Ansiedlungsverbot gab, wanderten seit Beginn der Eroberung Zentralasiens Menschen aus dem europäischen Russland nach Turkestan ein. Die Militärverwaltung in Taschkent versuchte wiederholt, den Zuzug einfacher Bauern aus Russland und der Ukraine zu verhindern.49 Doch die Bauernkolonisten kümmerten sich 47 Golodnaja step’, S. 39–45, 49–50, 161–169, 189–190; Busse, Bewässerungswirtschaft, S. 208–209, 217–218. 48 Geyer, Der russische Imperialismus, S. 87. 49 Brower, Turkestan, S. 129–135; Central’naja Azija v sostave, S. 219–223.

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herzlich wenig um Gesetze und Bestimmungen, die staatlicherseits nicht durchgesetzt werden konnten. Die exponenzielle Bevölkerungszunahme im europäischen Russland, die Landknappheit und die zyklischen Hungersnöte waren stärkere Antriebskräfte als die Angst vor dem Unbekannten.50 Wie gebildete Zeitgenossen berichteten, kamen die Siedler »wegen der aussichtslosen Lage, in der sich die Bauernschaft befand«, und »wegen der absoluten Dunkelheit in ihren Köpfen«, wodurch die »unglaublichsten und fantastischsten Gerüchte über gesegnete Schlaraffenländer aufkamen, wo volle Freiheit herrscht und wo man so viel Land bekommt, wie man will – ohne Steuern, ohne Gutsbesitzer, ohne Regierung. Diese Länder der Glückseligkeit befanden sich am ›Fluss Daria‹.«51 Die Skepsis der Kolonialverwaltung gegen die russische Zuwanderung erwies sich als berechtigt. Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp vier Millionen wurden 1897 in Turkestan 200000 Angehörige der orthodoxen Religion gezählt. 1917 stellte die russische Bevölkerung mit 750000 Menschen schon zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. 278000 dieser Siedler lebten in speziell für sie gegründeten Kolonistendörfern, die sich zu zwei Dritteln in Semiretschje befanden, einer flussreichen Talregion am Fuß des Tien Schan zwischen Bischkek und Alma-Ata.52 Die russische Kolonisation war aber nicht nur ein Phänomen der Zahlen. Aus den zentralrussischen Gouvernements kamen frustrierte, mittellose und rücksichtslose Menschen, mit denen sich nicht gut Staat machen ließ, wie die Verwaltungsbeamten in Turkestan schnell erkannten. Ihr forderndes Auftreten, ihr aggressives Verhalten gegenüber der einheimischen Bevölkerung sowie ihr offenkundiges Versagen als Instrument für die russische »Zivilisierung« vergrößerte noch die Distanz zu den turkestanischen Beamten.53 Erst die Revolution von 1905 änderte dieses distanzierte Verhältnis. Im Moment der revolutionären Bedrohung wurde den Beamten des Zaren klar, wie wichtig die Siedlerbevölkerung für den Fortbestand der Kolonie war. Der turkestanische Generalgouverneur appellierte an die russische »Bevölkerung der Städte« und die protestierenden Arbeiter, »nicht zu vergessen, dass es für die russische Bevölkerung angesichts ihrer Lage 50 51 52 53

»Pereselency v Turkestanskom krae«. Vgl. Siegelbaum, »Those Elusive Scouts«. Zit. n. Cˇistov, Russkaja narodnaja utopija, S. 349. Central’naja Azija v sostave, S. 223–224. Pahlen, Im Auftrag, S. 275, 277, 287–293, 295–296.

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und ihrer Aufgaben in diesem Land verbrecherisch« wäre, vor den Augen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung ihre »Zwistigkeiten und Unmoral« öffentlich zu demonstrieren. Der Gebietsgouverneur der Baumwollprovinz Ferghana Pokotilo sprach öffentlich davon, »dass wir hier nur eine kleine Handvoll Russen inmitten einer Bevölkerung von fast zwei Millionen Einheimischen sind« und dass »die kleinste Schwächung ein weites Feld für Eigenmächtigkeit und Wirren« eröffnen würde.54 Nach der brutalen Niederschlagung von Streiks und Aufständen in Taschkent 1905 und 1906 spürte die russische Bevölkerung in den folgenden Jahren, dass die Regierung ihren Kurs geändert hatte. In den Städten stiegen die Löhne, die Mitbestimmungsrechte verbesserten sich, und ein Leben in bescheidenem Wohlstand wurde zur Norm. Insbesondere die mächtigen Eisenbahnarbeiter verwandelten sich von Gegnern des zaristischen Regimes in Befürworter der russischen Kolonialherrschaft in Turkestan.55 Die Revolution von 1905 bewirkte auch markante Veränderungen in der russischen Kolonisierungspolitik. Unter Ministerpräsident Pjotr Stolypin begann die Zentralregierung, die Besiedlung Turkestans vehement zu fördern. Zwischen 1906 und 1914 schwoll die Siedlerbewegung exponenziell an. Im Verwaltungsgebiet Syrdaria, das die Stadt Taschkent umgab, lebten im Jahr 1912 46795 russische Bauern, und im selben Jahr kamen noch 18821 landhungrige Neusiedler hinzu. Im Gebiet Semiretschje führte die Anwesenheit von 50000 Migranten, die auf Land warteten, zu einer groß angelegten und folgenschweren Enteignung nomadischer Weidegründe.56 Obwohl klar war, dass die massenhafte Zuwanderung zu unausweichlichen Konflikten zwischen russischen Siedlern und kasachischen Nomaden führen würde, trieben die Petersburger Beamten ihre Ansiedlungskampagne zielstrebig voran. Die Abteilung für Kolonisation des russischen Landwirtschaftsministeriums sah die »Hauptaufgabe der Ansiedlungspolitik« darin, »nicht die Aussiedlung der arbeitenden Massen aus dem Heimatland zu betreiben, sondern die Besiedlung der Peripherie mit russischen Menschen« zu fördern. Ihre Politik sollte »auf die Besiedlung und Kolonisierung leerer Räume abzielen«, die bisher der

54 Fedorov, »1905 god i korennoe naselenie«, S. 15–16. 55 Sahadeo, Russian Colonial Society, S. 189. 56 Brower, Turkestan, S. 140–142.

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»Kultivierung durch menschliche Arbeit harren«.57 Dazu zählten die Beamten auch nomadische Weidegründe. Angesichts der weitreichenden Petersburger Besiedlungsprojekte wurde auch die künstliche Bewässerung wichtiger. Der russische Landwirtschaftsminister Aleksander Kriwoschejn gab den Slogan »Bewässerung + Baumwolle + Kolonisierung = ein neues Turkestan« aus, der nicht nur zeigte, wie wenig er von den politischen Gegebenheiten in Turkestan verstand, sondern auch bewies, wie sehr er die landwirtschaftlichen Fähigkeiten der russischen Kolonisten überschätzte, die in der Regel an den Herausforderungen der intensiven Bewässerungswirtschaft und der Finesse der Baumwollkultivierung scheiterten.58 Die Hungersteppe profitierte besonders stark vom neuen Interesse des Landwirtschaftsministeriums an der künstlichen Bewässerung. So wurden am 1898 fertiggestellten Kanal »Imperator Nikolaj I.« Erweiterungsarbeiten vorgenommen. Weil sich die gleichmäßige Wasserversorgung der Bewässerungsanlagen weiterhin schwierig gestaltete, begannen 1914 Umbaumaßnahmen. Trotz geringen Interesses der russischen Siedler an einem Leben in der Hungersteppe planten die Ingenieure und Beamten inzwischen im großen Maßstab. Schon 1901 hatte der Bau eines zweiten Großkanals begonnen, bei dem erstmals in Turkestan »europäische« Technik zum Einsatz kam. Dazu gehörten zwei Bagger für Erdarbeiten und ein englischer Pflug, mit dem kleinere Kanäle gezogen werden konnten, und die Ingenieure bewegten sich nunmehr mit Automobilen zwischen den Baustellen. Die neuartige Schleusenkonstruktion, die aus Beton gegossen und mit Granit verkleidet wurde, hatte sich der verantwortliche Ingenieur Ostrowski auf einer Indienreise 1906 von britischen Wasserbautechnikern abgeschaut.59 Pünktlich zum zweihundertjährigen Jubiläum der russischen Zarendynastie wurde im Oktober 1913 der »Romanow-Kanal« eröffnet, der stolze 7,2 Millionen Rubel verschlungen hatte. Dennoch konnten die landwirtschaftlichen Nutzflächen an dem neuen Kanal erst ab 1916 bewirtschaftet werden. Wie immer eilten die Pläne der Wirklichkeit weit voraus. 35000 Desjatinen (38200 Hektar) Land sollten neu bewässert

57 Gins, Pereselenie i kolonizacija, S. 4. 58 Busse, Bewässerungswirtschaft, S. 94–101. 59 Golodnaja step’, S. 154–155, 212; Mamedov, Russkie uˇcënye, S. 33.

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und auf 90 Prozent dieser Fläche Baumwolle angebaut werden, hieß es.60 Angesichts der Hoffnungen, mit denen die Entwicklung der Hungersteppe verbunden war, erwiesen sich die erzielten Resultate jedoch als mager. Trotzdem waren die Veränderungen im Vergleich zu 1898 spürbar: 1914 wurden in den elf russischen Siedlerdörfern 1201 Haushalte gezählt, in denen 5919 Menschen lebten, die über 10667 Hektar bewässertes Land verfügten. Drei weitere Dörfer bewohnten zentralasiatische Umsiedler. Sie beherbergten 231 Haushalte mit 1286 Einwohnern. Hinzu kamen neun Nomadensiedlungen mit 219 Haushalten und 2207 Bewohnern.61 Zu Beginn des Jahres 1914 legte die einflussreiche Abteilung für Kolonisation einen Plan zum weiteren Ausbau der Bewässerung in Turkestan vor. Die Mitarbeiter dieser Behörde dachten in großen Dimensionen. Ihr Plan sah 39 Millionen Rubel vor, die innerhalb der nächsten fünf Jahre zur Schaffung von vier Millionen Desjatinen (4370000 Hektar) neuer Bewässerungsflächen investiert werden sollten. Zusätzlich waren zehn Millionen Rubel für den Bau von Staudämmen am Syrdaria und am Serafschan vorgesehen und acht Millionen Rubel für Bewässerungsarbeiten in der Hungersteppe.62 Mit dem Kriegsausbruch wurden diese Pläne im Sommer 1914 obsolet. Aber sie ruhten geduldig in den Schreibtischschubladen der Behörden, in den Bibliotheken und Ministerialarchiven. Einige russische Ingenieure, die sich mit der Bewässerung in Zentralasien beschäftigten, träumten ihre Träume von einer großartigen Umgestaltung Turkestans durch neue Kanäle und groß angelegte Bewässerungsmaßnahmen weiter.63 Alles war nur eine Frage der Zeit. Als im September 1916 der letzte turkestanische Generalgouverneur Alexej Kuropatkin auf seiner Inspektionstour die Hungersteppe besuchte, traf er dort auf die Ingenieure Sergej Iwanowitsch Syromjatnikow und Fjodor Petrowitsch Morgunenkow. Morgunenkow, einst Technischer Direktor beim Bau des »Romanow-Kanals«, erzählte Kuropatkin von seinen Plänen, die Nutzflächen in der Hungersteppe in den kommenden Jahren um 250000 Desjatinen (273000 Hektar) zu erweitern.64 60 61 62 63 64

Golodnaja step’, S. 159–160 (1913), 179 (1916). Ebenda, S. 214. Central’naja Azija v sostave, S. 286. Obertreis, »›Mërtvye‹ i ›kul’turnye‹ zemli«, S. 195–207. »Vosstanie 1916 g. v Srednej Azii«, S. 54–55.

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Kuropatkin kannte als alter »Turkestaner« die Hungersteppe genauer und teilte die Einstellung, dass die Zukunft der Region im Ausbau der Bewässerungssysteme und in der russischen Kolonisierung liege. Bei seinem Besuch 1916 machte er Fortschritte aus. Doch musste er auch erfahren, dass immer mehr der neu bewässerten Flächen nach zwei oder drei Jahren mit mäßigen Ernteerträgen versalzten und landwirtschaftlich nicht mehr nutzbar waren. Die russischen Siedler der Hungersteppe lebten im Elend. Seinem Tagebuch vertraute Kuropatkin an: »Die Bauern im Dorf Nikolajewskoe waren früher schlimme Trinker. Jetzt sind sie ausgenüchtert. Sie leben ärmlicher als die anderen.« Weil sie keine anderen Einkünfte hatten, waren viele Kolonisten dazu übergegangen, ihre Landparzellen an Einheimische zu verpachten. »Ihr Land können sie nicht bearbeiten, also begnügen sie sich mit der Verpachtung«, stellte Kuropatkin entsetzt fest, »ich habe ihnen eine Strafpredigt gehalten. […] Einige Bauern arbeiten schon nicht mehr selbst, sondern stellen Landarbeiter ein und pachten zu ihren eigenen Parzellen noch weitere hinzu.«65 Dieses Leben der russischen Siedler entsprach keineswegs den hehren Vorstellungen eines Militärs vom Schlage Kuropatkins, der 1868 an der Eroberung von Samarkand teilgenommen hatte.

Kriege und Revolutionen, 1914 –1920 Die Baumwollrevolution hatte in Turkestan ab 1885 zu einer starken Ausdifferenzierung einzelner Regionen geführt. So hatte Taschkent als einzige »europäische« Stadt in Zentralasien eine herausragende administrative und militärische Bedeutung erlangt. Die Hungersteppe stand für ein beispielloses, wenn auch gescheitertes staatliches Experiment, bei dem künstliche Bewässerung, Baumwollanbau und Kolonisierung Hand in Hand gehen sollten. Dagegen entwickelte sich Semiretschje, wo der Siedlungsschwerpunkt der russischen Kolonisten lag, zu einem Getreideanbaugebiet. Getreide aus Semiretschje versorgte das Ferghanatal, wo sich der Baumwollanbau als wichtigstes landwirtschaftliches Betätigungsfeld durchgesetzt hatte. Während in den Bezirken Samarkand und Syrdaria 65 Ebenda, S. 54. Zur Diskrepanz zwischen den Erwartungen und Erfahrungen der Agrarkolonisation vgl. Remnev, »Russian as Colonists«; Steinwedel, »Resettling People, Unsettling the Empire«; Sunderland, »›Colonization Question‹«.

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die Baumwolle auf nicht einmal zehn Prozent des bewässerten Landes kultiviert wurde, bedeckte sie im Ferghanatal zu Beginn des Weltkriegs zwischen 40 und 50 Prozent der Felder.66 Diese regionale Ausdifferenzierung führte während der Krise der Jahre 1914 bis 1922 zu ganz unterschiedlichen Revolutionsverläufen, die jeweils einer eigenen Dynamik folgten. Die Stadt Kokand (Qo’qon) im Herzen des Ferghanatals hatte sich bis 1914 zum »Zentrum des Kapitalismus in Zentralasien« entwickelt.67 Hier konzentrierten sich Banken, Handelskontore, Speditionen und Baumwollfabriken. Die Expansion der Baumwollwirtschaft hatte zur Verdrängung des Reis- und Getreideanbaus geführt und das Ferghanatal in eine strukturelle Abhängigkeit vom russischen Getreidemarkt gebracht. Getreidelieferungen in Größenordnungen von 12 bis 15 Millionen Pud (197 000 bis 246 000 Tonnen) gelangten pro Jahr mit der Eisenbahn aus der Wolgaregion, dem Kaukasus und Semiretschje in die Baumwollzone. Damit sich der Baumwollanbau für die Pflanzer finanziell lohnte, musste der Marktpreis für Rohbaumwolle stabil bleiben und mindestens das Zwei- oder Dreifache des Preises für Weizen betragen.68 Doch Russlands Eintritt in den Weltkrieg brachte dieses Preisgleichgewicht binnen eines Jahres zu Fall. Die Petersburger Regierung hatte 1914 für den Ankauf von Baumwolle Festpreise diktiert, während sich die Getreidepreise im Ferghanatal von Kriegsjahr zu Kriegsjahr verdoppelten. Im Jahr 1916 befand sich der Baumwollanbau aufgrund der staatlichen Regulierungspolitik in einer Produktionskrise. Zudem begann im Sommer 1916 in Semiretschje ein Aufstand der Nomaden gegen die russische Siedlerherrschaft. Zuerst waren es kasachische Nomaden, die russische Kolonistendörfer überfielen, ausraubten, niederbrannten und etwa 2000 Siedler töteten. Dann begann die russische Armee unter dem Kommando von Generalgouverneur Alexej Kuropatkin mit einer Strafaktion gegen die Aufständischen, in deren Verlauf sie 150000 Nomaden massakrierte und weitere 120000 über die chinesische Grenze vertrieb.

66 Central’naja Azija v sostave, S. 148. 67 Chomatov, Rol’ bankovskogo kapitala, S. 251. 68 Die Preisberechnungen variieren, vgl. Siegel, Baumwollwirtschaft, S. 23; Buttino, »Economic Relations«, S. 195–196.

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Durch Flucht und Vertreibung starben nochmals Zehntausende.69 Zwar kam es im Ferghanatal selbst nicht zu größeren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Kolonisten und Einheimischen. Aber die Militärverwaltung gab Waffen an die russische Siedlerbevölkerung aus und verwandelte ihre Posten in kleine Festungen.70 Entsprechend angespannt begann das Jahr 1917. Zudem sorgten ein harter Winter und eine Dürre im Frühjahr für einen Einbruch in der landwirtschaftlichen Produktion. Erstmals in der Geschichte der turkestanischen Kolonialherrschaft kamen Einheiten einer bewaffneten »Wasserschutzpolizei« und der russischen Armee zum Einsatz, um die Wasserverteilung an den Kanälen zu überwachen und Wasserrechte, wenn nötig, mit Gewalt durchzusetzen.71 Im Sommer 1917 schwappte das revolutionäre Chaos, das Russland ergriffen hatte, ins Ferghanatal über. Ab August verringerten sich die überlebenswichtigen Getreidelieferungen aus der Wolgaregion und dem Kaukasus und blieben schließlich ganz aus.72 Wie in den russischen Städten löste sich im Sommer 1917 auch im Ferghanatal die öffentliche Ordnung in atemberaubender Geschwindigkeit binnen weniger Wochen auf.73 Aus dem Nichts bildeten sich bewaffnete Banden, die Märkte überfielen und Reisende ausraubten; die Polizeieinheiten zerfielen; Gefängnisse entließen ihre Gefangenen. Eine Vielzahl von Feuerwaffen kam in Umlauf. Wer es sich leisten konnte, heuerte eigene Schutzleute an. Die Privatmilizen machten sich selbstständig. Wie wichtig der Schutz des eigenen Lebens inzwischen geworden war, zeigte sich im Wahlkampf für die »Konstituierende Versammlung« im September 1917, als Bewohner in Kokand eine Reihe von muslimischen Politikern steinigten, denen sie eine zu große Nähe »zu den Russen« vorwarfen.74 Die nackte Gewalt war es schließlich auch, die die Baumwollwirtschaft in Ferghana in die Knie zwang. Nachdem sich im Oktober 1917 in 69 Buttino, Revoljucija naoborot, S. 58–85, Zahlen S. 79–80. Vgl. Happel, Nomadische Lebenswelten, S. 103–182; Brower, Turkestan, S. 153–164; Sabol, Russian Colonization, S. 135–139. 70 Marshall, »Turkfront«, S. 5; Buttino, Revoljucija naoborot, S. 258–259. 71 ORMDA 111/1/1321, Bl. 154 (Sostojanie irrigacii i rabot po Turkrespublike, 31. 5. 1924). 72 Buttino, »Economic Relations«, S. 197–201. 73 Hasegawa, »Crime, Police, and Mob Justice«. 74 Buttino, Revoljucija naoborot, S. 256–257.

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Taschkent russische Arbeiter und radikale Revolutionäre von der Petersburger Provisorischen Regierung losgesagt hatten, aber die Muslime von der Beteiligung an ihrer revolutionären Herrschaft ausschlossen, wählten einige muslimische Taschkenter Politiker die Stadt Kokand aus, um dort eine eigenständige Gegenregierung zu bilden. Ihren politischen Führern gelang es kurzzeitig, die religiösen Parteien der gemäßigten Islamgelehrten mit der nationalistischen Bewegung der weltlichen Bildungs- und Wirtschaftselite zu vereinen. Im Dezember 1917 feierten zwei Großdemonstrationen in Taschkent das Ende der Abhängigkeit von den Russen, die Gleichheit aller nationalen Gruppen und die Bildung der »Provisorischen Regierung von Kokand«.75 Die Kraft der Kokander »Provisorischen Regierung« reichte jedoch nicht aus, um sich gegen den Taschkenter »Sowjet« zur Wehr zu setzen. Dieser schickte im Januar 1918 Truppen nach Kokand, um die muslimische Selbstbestimmung gewaltsam zu beenden. Aus der Festung im Stadtzentrum beschossen russische und armenische Einheiten die muslimischen Stadtviertel mit Granaten. Dann raubten sie Banken und Geschäfte aus und zogen von Haus zu Haus, um Frauen zu vergewaltigen und Muslime zu töten. Aufseiten der muslimischen Bevölkerung machte sich bei den Kämpfen der Kommandeur Irgasch Baj einen Namen, ein verurteilter Räuber, der Anfang 1918 zuerst Polizeichef von Kokand und dann Führer einer muslimischen Selbstverteidigungseinheit geworden war. Im Machtvakuum, das nach der Zerstörung Kokands und dem Abzug der Taschkenter Einheiten entstand, gelang es Irgasch Baj, das fruchtbare Umland von Kokand unter seine Kontrolle zu bringen.76 Im Ferghanatal gehörte die Zerstörung der Baumwollindustrie zu den wichtigsten Mitteln der Kriegführung der Taschkenter Revolutionäre, um den Überlebensspielraum der muslimischen Bevölkerung zu beschneiden. Darum griffen sie gezielt Baumwollfabriken und Ölmühlen an. Nicht nur die muslimische Bevölkerung und die russischen Revolutionsgegner standen dem Zerstörungswerk des Taschkenter Sowjets mit Hass und Abscheu gegenüber. Selbst revolutionäre Politiker warfen 75 Ebenda, S. 239–247; Abdullaev, Nacional’nye politiˇceskie organizacii, S. 180–197. Eine Liste der Regierungsmitglieder bei Bergne, »Kokand Autonomy«, S. 42–43. 76 Buttino, Revoljucija naoborot, S. 260–261; vgl. Safarov, Kolonial’naja revoljucija, S. 71–72, 78–80, 90–91; Siegel, Baumwollwirtschaft, S. 19–20.

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den Führern des Sowjets vor, sie seien »keine Sozialisten, sondern Pogromtreiber und Imperialisten«.77 Mit dem Durchbruch der Roten Armee im September 1919 und ihrem Einmarsch in Taschkent veränderte sich die Lage, weil eine neue und hochgerüstete Kriegspartei in die Kämpfe eingriff. Den Taschkenter Sowjet ersetzte die bolschewistische »Turkestan-Kommission«, die das Moskauer Zentrale Exekutivkomitee entsandt hatte.78 Ihr gehörten Bolschewiki an, die in den 1920er und 1930er Jahren herausragende Posten im Moskauer Staatsapparat einnehmen sollten, wie Lasar Kaganowitsch und Walerian Kujbyschew (später im Politbüro), Schalwa Eliawa, Grigori Sokolnikow, Jakow Peters und Jan Rudzutak (später in der Sowjetregierung). Unter den Kommissionsmitgliedern befanden sich Gleb Boki, der sich als Mitbegründer des sowjetischen Gulag-Systems einen Namen machen sollte, und Filipp Golotschschjokin, der als Erster Parteisekretär Kasachstans maßgeblich für die Hungerkatastrophe der Jahre 1930 bis 1934 mitverantwortlich war.79 Die Moskauer Revolutionäre der »Turkestan-Kommission« hatten Schwierigkeiten, in Zentralasien Gleichgesinnte zu finden, denen sie vertrauen konnten und wollten. Sie entschieden sich schließlich dafür, auf gemäßigte Nationalisten zu setzen und auf die »Jadidisten«, Anhänger der muslimischen Reformbewegung, die sich für eine Öffnung der traditionellen religiösen Erziehungsinstitutionen für zeitgemäße »europäische« Bildungsinhalte engagierten. Darüber hinaus fanden sie unter den gebildeten Söhnen der vorrevolutionären elitären Familien, die in Russland ausgebildet worden waren, Anhänger sowie unter Waisenkindern, die die wenig prestigeträchtigen Schulen der turkestanischen Kolonialverwaltung besucht hatten. Dennoch dauerte es bis Ende 1921, bis einheimische Funktionäre wie Kajgisyz Atabajew, Sultanbek Chodschanow, Abdullah Rachimbajew und Nasir Tjurakulow, die als Regierungsmitglieder in Taschkent auch den Kern des »Turkestanischen Zentralen Exe-

77 Buttino, Revoljucija naoborot, S. 262. 78 Sahadeo, Russian Colonial Society, S. 214–220. 79 Biografische Angaben zu den genannten Funktionären sind, unter anderem, zu finden bei Rees, Iron Lazar, S. 33–38 (zu Kaganoviˇc); Scott, »A Life Between« (zu Eliava); Applebaum, Gulag, S. 38–44 (zu Bokij); Kindler, Stalins Nomaden, S. 95–98, 104–108, 123–135 (zu Goloˇscˇ ëkin); Smirnov, Repressirovannoe pravosudie, S. 127–143 (zu Peters).

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kutivkomitees« bildeten, in die »Turkestan-Kommission« aufgenommen wurden, sodass von einer Parität zwischen »Europäern« und »Muslimen« die Rede sein konnte. In der höchsten bolschewistischen Parteivertretung Zentralasiens blieb die Position der indigenen Funktionäre dessen ungeachtet so schwach und unbeholfen wie ihr Machtanspruch gegenüber der Bevölkerung.80

Safarows »wilde« Landreformen, 1921–1922 Was in den Revolutionsjahren geschah, passt schlecht zum Begriff des Bürgerkriegs, unter dem sowjetische Historiker die Ereignisse später subsumiert haben. Treffender kann man von einem Kolonialkrieg sprechen, wenn man unter Kolonialkriegen die »an der kolonialen Peripherie« in Form eines »asymmetrischen Krieges ausgeübte physische Gewalt« versteht, »die darauf zielt, neue Gebiete in ein expandierendes Wirtschaftssystem einzugliedern beziehungsweise diesen Zustand aufrechtzuerhalten«.81 Zwar gab es in Zentralasien, wie in einem Bürgerkrieg, auch innerhalb der lokalen Bevölkerungen Auseinandersetzungen, die mit Waffengewalt ausgetragen wurden.82 Als dominierend erwies sich jedoch die »perverse Logik« des ethnischen Konflikts zwischen »Europäern« und »Muslimen«.83 In diesem Konflikt standen die Rote Armee und die bolschewistische Partei als »Befreier« in keinem neutralen Raum, sondern nahmen als aktive Kriegsparteien an ihm teil. Sowohl in ihrer Organisationsstruktur als auch in ihrer Handlungslogik spiegelten sich daher die tiefen Gräben wider, die die Auseinandersetzungen zwischen »ehemaligen Kolonialherren« und »ehemals Kolonisierten« aufgerissen hatten. Zwar gehörte es auch in Zentralasien zum lauthals bekundeten Selbstverständnis der Revolutionäre, dass es ihnen um den Ausbruch aus dem zaristischen

80 RGASPI 85/23/111, Bl. 3 (Politiˇceskaja informacija, 26. 10. 1922); Keller, »Central Asian Bureau«, S. 284. Zur Biografie Atabaevs: Edgar, Tribal Nation, S. 102–106; zu Chodˇzanov: Kindler, Stalins Nomaden, S. 101–103; zu Tjurakulov: ders., Sˇygarma˙ lar, S. 324–327. 81 Walter, »Warum Kolonialkrieg?«, S. 20. 82 Ein Beispiel bei Kindler, Stalins Nomaden, S. 49–50. 83 Buttino, »Study«, S. 62.

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»Völkergefängnis« ging und nicht um die Wiedererrichtung der zaristischen Autokratie unter roten Fahnen.84 Aber ihr aggressives Vorgehen gegen den Widerstand der einheimischen Guerilla, der sogenannten Basmatschi, und ihre Unfähigkeit, die Hungerkrise im Ferghanatal zu beenden, erzeugten einen anderen Eindruck. Ohne eine Blaupause mussten die Bolschewiki in Taschkent nach »Konzepten alternativer Herrschaftssicherung« suchen, die sich grundlegend von denen ihrer zaristischen Vorgänger unterschieden.85 Dazu reichte es nicht mehr aus, die Parteifunktionäre und Rotarmisten, die in den Peripherien des Revolutionsstaates operierten, vor dem »religiösen Fanatismus unter den Muslimen« zu warnen und sie zu »großer Vorsicht im Kampf gegen religiöse Vorurteile« aufzufordern.86 In dieser Situation der Unklarheit und Zukunftsungewissheit schlug die Stunde des Revolutionärs Georgi Safarow. Seine »koloniale Revolution«, die er als »Weltrevolution gegen den Imperialismus« verstand, sollte »die Unterdrücker und die Unterdrückten« dazu bringen, fortan »Seite an Seite zu marschieren«.87 Als geübter marxistischer Dialektiker und Vertrauter des Revolutionsführers Lenin wusste er, was zu tun war, um die »Sowjetmacht« zu einer »Macht der Massen« werden zu lassen. Er nutzte seine guten Beziehungen zu Lenin, der seinerseits das Moskauer Politbüro im Juni 1920 zu einem Beschluss bewegte, der die »Liquidierung der Beziehungen« forderte, »die zwischen der zugewanderten europäischen Bevölkerung und den indigenen Völkern als Resultat der gut fünfzig Jahre währenden imperialistischen Politik der russischen Autokratie entstanden sind«.88 Im Frühjahr 1921 begann Safarow eine große Vertreibungsaktion gegen die russische Siedlerbevölkerung. Er ließ 8000 Familien aus dem Gebiet Semiretschje nach Zentralrussland deportieren, wo zu diesem Zeitpunkt eine schwere Hungersnot herrschte.89 Die »antikolonialen« Maßnahmen gegen die Kolonisten von Semiretschje begleiteten groß angelegte »Säuberungen« in der Kommunistischen Partei, die sich gegen

84 85 86 87 88 89

Suny, »›Don’t Paint Nationalism Red!‹«, S. 184–189. Baberowski, Der Feind, S. 207. KPSS v resoljucijach, Bd. 2, S. 146–148. Safarov, Kolonial’naja revoljucija, S. 9. Izvestija CK KPSS 1991/1, S. 118–119. Genis, »Delo Safarova«; Pianciola, »Décoloniser l’Asie central«.

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russische »Großmachtchauvinisten« richteten.90 Der Preis, den die Bolschewiki für ihren Kampf gegen den »Kolonialismus« zahlten, war hoch, denn im Zuge der Kolonistenvertreibungen schrumpfte die Getreideanbaufläche in Semiretschje um 220000 Hektar, und auch die Steuereinnahmen blieben aus. All das geschah vor dem Hintergrund von Hungersnot und Krieg im Ferghanatal, dem wichtigsten Baumwollgebiet Zentralasiens.91 Safarows Moskauer Genossen in der Turkestan-Kommission sahen seine »wilden« Landreformen deshalb überaus kritisch.92 Bei den indigenen Kommunisten Turkestans stieß sein radikales Vorgehen gegen die russischen Siedler dagegen auf großen Zuspruch. Nasir Tjurakulow, der ebenfalls Mitglied der Turkestan-Kommission war, betrachtete die Landreformen als »Liquidierung einer historischen Ungerechtigkeit« und unterstrich, sie hätten den »ehemaligen kolonialen Sklaven« Zentralasiens vor Augen geführt, »dass der Sowjetmacht jedwede nationalistische Großmachtpolitik, wie sie die bürgerlichen Regierungen betreiben, fremd« sei.93 Weil sie ähnlich dachten, begrüßten viele zentralasiatische Kommunisten die Landreformen nicht nur, sondern beteiligten sich nach Safarows Vorbild aktiv an den gewaltsamen Umverteilungsaktionen.94 Im Sommer 1922 gingen die turkestanischen Bolschewiki auch im Ferghanatal gegen die russische Siedlerbevölkerung vor. Zu den treibenden Kräften gehörte in der Stadt Ferghana Abdulrachim Chodschibajew, der Vorsitzende der lokalen Landkommission und zukünftige usbekische Landwirtschaftsminister. Der Beschluss seiner Parteizelle ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Er forderte nicht nur, alle »offensichtlich unproduktiven Wirtschaften zu liquidieren«, unter ihnen auch die Betriebe von »neun Einzelbauern, die mehr als tausend Desjatinen bewässertes Land und dazu eine Menge unbewässerte Landflächen besitzen«. Ihr gesamtes Inventar sei »zu konfiszieren und dem Fundus zur

90 Nazarov, Iz istorii, S. 53–57, 66. 91 Aminova, »Agrarnye preobrazovanija«, S. 33; Keller, »Central Asian Bureau«, S. 288. 92 RGASPI 85/23/111, Bl. 3 (Politiˇceskaja informacija, 26. 10. 1922); RGASPI 62/2/37, Bl. 12–13 (Ljubimov an Rudzutak, 13. 8. 1923). 93 Tjurakulov, Sˇygarmalar, ˙ S. 47. 94 Ein gutes Beispiel ist Sandˇzar Asfendiarov, vgl. Revoljuciej prizvannye, Bd. 2, S. 46–48.

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Stärkung der Wirtschaften der einheimischen Bevölkerung zu übergeben«. Darüber hinaus sollte das russische Siedlerdorf Nikolki aufgelöst und seine Bewohner ausgesiedelt werden, weil diese »die ganze Zeit eine kolonisatorische Politik betrieben (allein während einem von vielen Raubzügen der Bewohner von Nikolki gegen das usbekische Dorf BasarKurgan wurden nach einigen Zeugenaussagen 1000 Muslime erschossen, darunter auch Frauen, Alte und Kinder)«. Deshalb seien die »leidenschaftlichsten Kolonisatoren« aus diesem Dorf vor ein »Revolutionstribunal« zu stellen und zu erschießen.95 Die Landreformen hatten einen explizit »politischen Charakter« und sollten weithin sichtbare Zeichen gegen Siedlerkolonisation und »koloniale« Abhängigkeit setzen. In den Augen der indigenen Kommunisten, die über keinerlei Herrschaftsbasis in den einheimischen Gesellschaften verfügten und dringend ihren politischen Handlungsradius ausbauen mussten, waren Landreformen deshalb der »erste und einzige Weg zur Erreichung absoluter nationaler Gleichberechtigung und zur Zerstörung der Klassenherrschaft der Zugezogenen über die einheimische Bevölkerung«.96 Die Umverteilungsaktionen fanden indes in einer chaotischen Situation statt, weil die Rote Armee im Ferghanatal weiterhin mit brutalen Mitteln gegen den Widerstand der Basmatschi vorging. Geiselnahmen, Sippenhaft und öffentliche Erschießungen erschienen als Notwendigkeiten des Augenblicks. Im Sommer 1922 hieß es in einem Operationsbericht aus dem Ferghanatal, dass die »Stimmung der Bevölkerung« aufgrund der Kämpfe »absolut niedergeschlagen« sei und der »Terror, der in dieser Region eingeführt wurde, so stark« gewesen sei, dass die Bevölkerung vor der Roten Armee floh. »Intensive Bemühungen seitens unserer besten Politarbeiter waren nötig, um die Bevölkerung dazu zu zwingen (sic!), in ihre heimatlichen Orte zurückzukehren.«97 Im Ferghanatal fanden die Bolschewiki, die sich zwischen Kolonialkrieg und revolutionären Landreformen verfangen hatten, keinen politischen Weg aus ihrer ausweglosen Lage. Die Bevölkerung in der ehemaligen Baumwollregion hungerte weiterhin. Weder die militärische noch 95 RGASPI 62/2/9, Bl. 6–7 (Protokol zasedanija Ispolbjuro Feroblgorkoma, 19. 6. 1922). 96 Ebenda, Bl. 5 (Protokol zasedanija Ispolbjuro Feroblgorkoma, 19. 6. 1922). 97 Ebenda, Bl. 11–21 (Svodka ob obˇscˇ epolitiˇceskom sostojanii Ferganskoj oblasti, Juli 1922).

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die wirtschaftliche Situation ließen sich stabilisieren. Überforderung und Ungewissheit kennzeichneten das Bild. Die Gewalt gegen die russischen Siedler zeugte weniger von einer souveränen Sanktionsmacht des neuen Staates als vielmehr von Hilflosigkeit und dem Fehlen einer klaren und konsensfähigen Politik. Die »koloniale Revolution« war in eine Sackgasse geraten, und es war unklar, welchen Zukunftsweg sie finden würde. In einer »allgemein nebelhaften Atmosphäre« ließen sich nur wenige Lichtpunkte erkennen.98

98 RGASPI 85/23/111, Bl. 3 (Politiˇceskaja informacija, 26. 10. 1922).

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3 Grenzen ziehen, Wasser teilen – Moskau und die indigenen Eliten, 1923 –1929

Im vergangenen Jahrzehnt waren die Nationalitätenpolitik und die Kulturevolution die zwei großen Forschungsfelder, mit denen sich Historikerinnen und Historiker des sowjetischen Zentralasien am häufigsten beschäftigten. Im Zuge der »kulturalistischen« und »postkolonialen« Turns in den Geschichtswissenschaften, die partikulare Identitäten, kulturelle Repräsentationen und religiöse Alltagspraktiken in den Fokus rückten, boten die Entstehung der zentralasiatischen Sowjetnationen und die Gewalt der Entschleierungskampagnen der späten 1920er Jahre dankbare Forschungsgegenstände. Man analysierte die Auseinandersetzungen zwischen den alten und neuen Machteliten über Kultur und Nation, Religion und Identität.1 Dabei fungierten die indigenen Eliten, die im Windschatten der Roten Armee zwischen 1919 und 1922 an die Macht kamen und zwischen 1923 und 1925 in die kommunistischen Führungen der zentralasiatischen Sowjetrepubliken aufstiegen, als wegweisende Protagonisten und wirkmächtige Träger einer autochthonen nationalkulturellen Selbstbefreiungsbewegung, die erst Stalins Staatsterror zerschlagen konnte.2 Wirtschaftspolitik und Herrschaftsdurchsetzung gerieten in dieser »Kulturgeschichte« hingegen in einen toten Winkel. Obwohl die Friktionen zwischen dem Moskauer Zentrum und der zentralasiatischen Peripherie vor allem in Auseinandersetzungen über die Verteilung von politischer Macht und die staatliche Wirtschaftslenkung deutlich zutage traten, leistete die Kulturgeschichte nur einen geringen Beitrag, um den essenziellen Zusammenhang zwischen Wirtschaften und Herrschen in dieser Region besser zu verstehen.3 Geschichten von »Selbstbestim1 2 3

Keller, To Moscow; Northrop, Veiled Empire; Kamp, New Woman; Hirsch, Empire of Nations; Sartori/Trevisani, Patterns of Transformation. Baldauf, »Tradition, Revolution und Adaptation«. Ausnahmen: Edgar, Tribal Nation, S. 197–220; Penati, »Life on the Edge«; Keller, »Central Asian Bureau«.

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mung«, »Emanzipation« und »Befreiung« passten nach dem Ende des Kalten Krieges besser ins Bild als die altbekannte Analyse der sowjetischen Parteistaatsmaschine und ihrer unsympathischen Herrschaftselite. Viel Mühe verwendeten Historikerinnen und Historiker darum auf die Frage, ob Zentralasien eine sowjetische »Kolonie« gewesen sei oder nicht.4 Kulturelle Hegemonie und ideologische Gleichschaltung nahmen in dieser Debatte wesentlich mehr Raum ein als die Frage, wie die politischen Eliten des entstehenden Sowjetstaats dazu beitrugen, die wirtschaftliche Entwicklung im kriegszerstörten Zentralasien zu gestalten, und aus welchen Gründen sie mit ihren Reformvorhaben scheiterten. Um einen genaueren Blick auf die neuen sowjetischen Eliten in Zentralasien, ihre Handlungsmöglichkeiten und ihre Rolle innerhalb des entstehenden Sowjetstaats zu bekommen, muss neben kulturellen Aspekten der Nationalitätenpolitik auch das Ringen um politische und wirtschaftliche Autarkie thematisiert werden. Die Wasser- und Landreformen, die zwischen 1925 und 1929 das wichtigste wirtschaftspolitische Projekt der dortigen bolschewistischen Elite waren, spielten hierbei eine entscheidende Rolle. Der Misserfolg der Landreformen führte 1928 zu einer politischen Krise, in der sich die Unzufriedenheit der indigenen Eliten mit dem institutionellen Aufbau des Sowjetstaats in Zentralasien mit dem festen Willen der Moskauer Parteiführer um Stalin mischte, den fragilen Status quo zwischen Zentrum und Peripherie zu zerstören. Eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung dieser administrativen Strukturen spielte das »Zentralasiatische Büro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei«, kurz: Zentralasienbüro. Es war 1922 aus der Turkestan-Kommission hervorgegangen und fungierte zwischen 1922 und 1934 als eine Art Statthalterschaft der Moskauer Parteiführung in Taschkent. Unter Isaak Selenski, der es von 1924 bis 1930 leitete, entwickelte es sich allmählich zur wichtigsten Lenkungsinstanz der sowjetischen Politik in Zentralasien und definierte dort als oberste Parteibehörde die politischen Prioritäten und die wirtschaftliche Agenda der Bolschewiki.5 Doch kann man auch die Kreativität und den Einfallsreichtum der zentralasiatischen indigenen Eliten kaum überschätzen. Indem sie sich 4 5

Baberowski, »Auf der Suche«; Khalid, »Backwardness«. Zusammenfassung bei Hofmeister, »Kolonialmacht«. Vgl. Teichmann, »Cultivating the Periphery«, S. 42–46.

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die Rhetorik der »nationalen Befreiung« zu eigen machten, mit der Lenin für sein revolutionäres Programm geworben hatte, kämpften sie vehement um ihren politischen Sonderstatus in der Sowjetunion. Das zeigte sich nicht nur in ihrer originellen Forderung nach einer »Dekolonisierung der Kolonie«, sondern auch im aggressiven Nationalismus, mit dem sie versuchten, Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen. Sie waren sich bewusst, dass sie in einer postkolonialen Situation lebten, die voller Möglichkeiten und Gestaltungsspielräume steckte. Aber sie unterschätzten, dass es Stalin als Generalsekretär immer leichter fiel, die divergierenden Interessen zwischen den einzelnen zentralasiatischen Sowjetrepubliken und innerhalb ihres Führungspersonals für seine Zwecke zu nutzen. Dies offenbarte sich schon bei der territorialen Neugestaltung Zentralasiens, die im sowjetischen Jargon als nationale »Entmischung« (razmeschewanie) bezeichnet wurde.

»Dekolonisierung der Kolonie«: Ein politisches Programm Stalin, Trotzki und andere Moskauer Parteigrößen waren im Juni 1923 anwesend, als der turkestanische Bolschewik Sultanbek Chodschanow auf einer Versammlung im Zentralkomitee die »Dekolonisierung der Kolonie« einforderte. Wenn er von »Dekolonisierung« sprach, hatte Chodschanow ein konkretes Programm vor Augen. Er forderte die Schaffung von »echten, selbstständigen Sowjetrepubliken«, die sich »aus eigenem Lebenstrieb heraus und aufgrund gemeinsamer Interessen«, nicht aber durch Zwang und Gewalt, zu einer sowjetischen Föderation zusammenschließen sollten. Zur »Dekolonisierung der Kolonie« sollten aus seiner Sicht die »maßgeblichen Beschlüsse der Kommunistischen Partei« ebenso beitragen wie das »mittlere Handelskapital«. Aber auch die »Autorität der islamischen Religion« und die »patriarchalen Traditionen der türkischen Völker« hätten in den neuartigen »Sowjetrepubliken« eine tragende Rolle zu spielen. Unter »Dekolonisierung der Kolonie« verstand Chodschanow die Emanzipation der sowjetischen Nationen von der Vorherrschaft Moskaus.6

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Tajny nacional’noj politiki, S. 44.

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Damit widersprach er der 1920 formulierten revolutionären Doktrin Lenins, der sich die »Befreiung der Völker der Sowjetunion« bekanntermaßen nicht anders vorstellen konnte, als dass sie unter der Führung des »russischen Proletariats« zu geschehen hatte.7 Die Forderung, dass Dekolonisierung nicht Autonomie oder Selbstständigkeit heißen musste, sondern auch Selbstbestimmung im Rahmen einer »zentralasiatischen Föderation« bedeuten konnte,8 hatte die muslimischen Politiker in Zentralasien seit 1917 geeint und ihre Sympathien für die Revolution der Bolschewiki genährt.9 Im Herbst 1922 rückte die Umsetzung der Förderationspläne sogar in greifbare Nähe.10 Motor dieser Bemühungen war die hoffnungslose wirtschaftliche Lage. Die Bolschewiki waren fest davon überzeugt, dass sich wirtschaftliche Verbesserungen in politische Loyalität für ihre Herrschaft ummünzen ließen.11 In Zentralasien stellte die Dekolonisierung ihre Protagonisten vor ähnliche strukturelle Herausforderungen, wie man sie nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen neuen Staaten Asiens und Afrikas beobachten konnte. Als »Gründer neuer Staaten« standen die Dekolonisierungseliten, wie der Soziologe Edward Shils beobachtete, »vor dem Problem, eine handlungsfähige Regierung zu bilden und diese mit einheimischem Personal auszustatten«. Weil sie »hochgradig nationalistisch« dachten, strebten sie nicht nur nach Selbstbestimmung, sondern wollten auch ihre traditionelle Kultur verteidigen. Ihr Ziel, einen indigenen »Führungskader« und eine »Maschine der öffentlichen Ordnung« aufzubauen, verfolgten sie »im Kontext einer traditionellen Gesellschaft oder, in vielen Fällen, im Kontext einer Pluralität von traditionellen Gesellschaften«. Doch stand ihr Streben nach einer modernen wirtschaftlichen Ordnung im Gegensatz zu den »traditionellen« Agrargesellschaften ihrer Länder, die sie »überzeugen oder zwingen« mussten, ihr wirtschaftliches Reformprogramm zu akzeptieren.12 In Zentralasien und anderswo sprachen die Protagonisten der Dekolonisierung die Sprache der Wissen-

7 Lenin, Pol’noe sobranie soˇcinenij, Bd. 41, S. 241–247. 8 Sengupta, The Formation, S. 83–84. 9 Khalid, Politics of Muslim Cultural Reform, S. 288; Sartori, »When a Mufti«, S. 130–131. 10 RGASPI 85/23/111, Bl. 3 (Politiˇceskaja informacija, 26. 10. 1922). 11 Haugen, The Establishment, S. 82–86. 12 Shils, »On the Comparative Study«, S. 2.

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schaft und der Nation, der Moderne und des Fortschritts.13 Und dies war gleichzeitig die »Sprache der Metropole, die Sprache des Kolonialherrn«.14 Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass das »Sowjetregime sehr viel größere Ambitionen hatte, die Gesellschaft zu transformieren, und sehr viel weniger Geduld, Differenz zu tolerieren«, als das koloniale Regime der zaristischen Administratoren und turkestanischen Militärverwalter. Aus Sicht des Historikers Adeeb Khalid bestand der Kern des »sowjetischen Projekts« im »Universalismus« der Bolschewiki, der sie zu ihrem Kampf für die »Gleichberechtigung« der sowjetischen Nationen motivierte. Nicht nur der »Antiimperialismus« der leninistischen Revolutionäre habe dem sowjetischen Projekt »in den Augen vieler in Zentralasien und darüber hinaus« seine Legitimität verliehen. Der wichtigste gemeinsame Nenner sei das Versprechen von Fortschritt, Bildung und Modernität gewesen, das sich nicht nur die Bolschewiki auf die Fahnen geschrieben hatten, sondern das im »Herz aller nationalistischen Bewegungen« lag.15 Dennoch hatte die Dekolonisierung in der Sowjetunion nur eine kurze Konjunktur. Schon 1927 war das Wort, und mit ihm eine bestimmte Vorstellung über die Zukunft Zentralasiens, aus dem Vokabular der Revolutionäre verschwunden. Kommunisten wie Chodschanow, die die Forderung nach der »Dekolonisierung der Kolonie« mit ihrem Namen verbunden hatten, wurden politisch marginalisiert, wegen »nationalistischer Abweichungen« von der Parteilinie angegriffen und zu öffentlichen Schuldbekenntnissen gezwungen.16 Aber die Ideen der Dekolonisierung lebten weiter. Dabei half den Zentralasiaten, dass Moskau in den nichtrussischen Regionen konsequent auf eine nationalistische Rhetorik setzte, um seine Macht und seinen Einfluss in der breiteren Bevölkerung auszuweiten. Die offizielle Propagierung des Ethnonationalismus bewirkte, dass auch die Idee der Dekolonisierung präsent blieb und sich in ein wirkungsvolles Deutungsmuster verwandelte, mit dem

13 Eckert, »We Must Run While Others Walk«. 14 Shils, »On the Comparative Study«, S. 3. 15 Khalid, »The Soviet Union as an Imperial Formation«, S. 120–121. Vgl. Mishra, From the Ruins of Empire; Shepard, Invention of Decolonization; Chatterjee, Nation and Its Fragments. 16 RGASPI 558/11/133, Bl. 88 (Stalin an Goloˇscˇ ëkin, 9. 3. 1927).

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man die revolutionäre Rhetorik der »Befreiung« und »Selbstbestimmung« mit den tatsächlichen politischen Entscheidungen Moskau kontrastieren konnte.

Die Schaffung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken, 1924 –1925 Die Etablierung der neuen zentralasiatischen Sowjetrepubliken im Jahr 1924 stand unter dem Vorzeichen der wirtschaftlichen Nachkriegskrise, einer prekären institutionellen Machtbalance zwischen Zentrum und Peripherie und der Konkurrenz unterschiedlicher politischer Vorstellungen des kleinen Personenkreises, der in den Institutionen des Parteistaats dominierte. Dabei spielte die sowjetische Zentralmacht »lediglich die Rolle eines Schiedsrichters«, der sich »mit vielen Ansprüchen, Forderungen und Konflikten konfrontiert« sah, aber »keine funktionierenden Mechanismen« zur Lösung von Streitigkeiten fand und darum nicht als »übermächtiger Akteur« auftreten konnte.17 Dies war jedoch ganz im Sinn der Dekolonisierung. Auch die Schaffung neuer Grenzen und neuer Republiken verstanden die indigenen Bolschewiki als eine Dezentralisierung, bei der es um die Begrenzung, Regulierung und Institutionalisierung der Interventionsmöglichkeiten des Moskauer Zentrums in Zentralasien ging.18 Als Isaak Selenski Ende Oktober 1924 das Amt des Ersten Sekretärs des Zentralasienbüros übernahm, bestand es aus lediglich 15 verantwortlichen Sekretären. Die »europäischen« Mitglieder des Büros verbrachten den größten Teil ihrer Zeit in ihren Taschkenter Büros oder auf Dienstreisen in Moskau. So hatten sie weder Zeit noch Gelegenheit, die Region der Kontrolle eines »übermächtigen Akteurs« zu unterwerfen.19 Die indigenen Bolschewiki nahmen ihrerseits entscheidenden Einfluss auf die Arbeitsweise des Zentralasienbüros und konnten so ihre politischen

17 Fedtke, »Wie aus Bucharern«, S. 230–231. 18 RGASPI 78/1/151, Bl. 74–79 (Ajtakov an Kalinin, Februar 1925). 19 Anderson, Iz istorii, S. 20–21. Erst 1930 wuchs die Zahl der Sekretäre auf 35 an, und das Büro hatte eine Personalstärke erreicht, die auch Inspektionsreisen in der Region und gezielte Kontrollen erlaubte (ebenda S. 32).

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Vorstellungen auch in Moskau durchsetzen.20 Das Exekutivkomitee des Zentralasienbüros, in dem einheimische und zugereiste Kommunisten gemeinsam Beschlüsse diskutierten, demonstrierte das institutionalisierte Vertrauen, das die Bolschewiki in den 1920er Jahren in das Prinzip der kollektiven Führung setzten. Die damit verbundene Krisenanfälligkeit dieses Systems war ein selbstverständlicher, wenn auch zeitraubender Teil des politischen Alltags.21 Auch war der Handlungsradius des Zentralasienbüros durch seine dünne Personaldecke und seine Bürokratie in Miniaturformat äußerst begrenzt. Es lebte vielmehr von seinen institutionellen Einflussmöglichkeiten in Moskau und seinem direkten Draht zum Generalsekretär Stalin. Aus dieser Rolle in der sowjetischen Verwaltungshierarchie bezog es seine Stärke.22 Dies zeigte sich während der Verhandlungen zur territorialen Neuordnung in den zentralasiatischen Republiken Turkestan, Buchara und Choresm, die im August und September 1924 in Taschkent stattfanden. Otto Karklin, der stellvertretende Vorsitzende des Zentralasienbüros, hatte im Mai 1924 auf dem Achten Parteitag der Kommunistischen Partei Turkestans verkündet, dass »wir diese Frage nicht eigens auf die Tagesordnung des Zentralasienbüros gesetzt haben und wir sie nicht besprechen wollten, ehe sie in den einzelnen Republiken nicht beschlossen und die Meinung der verantwortlichen Organisationen in den drei zentralasiatischen Republiken nicht bekannt ist«.23 Die territoriale Neuordnung Zentralasiens wurde dann auch in einem kollektiven Verhandlungsprozess herbeigeführt. Moskau hatte eine grobe Richtlinie vorgegeben, die den formalen Führungsanspruch des Politbüros demonstrieren sollte. Stalin selbst hatte die Vorlage für den Beschluss über die anzustrebende Grenzneuregelung formuliert.24 Wirtschaftliche Beweggründe standen für ihn im Vordergrund. In einem Beschluss des Zentralasienbüros vom 15. Juni 1924 hieß es darum in einer vagen Formulierung, dass »bei der

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CK VKP(b) i nacional’nyj vopros, Bd. 1, S. 238–241.

Getty/Naumov, Yezhov, S. 52–54. Hirsch, Empire of Nations, S. 166–172; Haugen, The Establishment, S. 207. Zit. n. Nazarov, Iz istorii, S. 96. Noch im Januar 1924 hatte Karklin die Schaffung nationaler Territorien als »verfrüht« abgelehnt, vgl. Haugen, The Establishment, S. 122–123. 24 RGASPI 558/11/133, Bl. 28 (Stalins Entwurf für einen Politbüro-Beschluss, Mai 1924).

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Festsetzung der Grenzen zwischen den drei einzelnen Republiken und bei der Verwirklichung der wirtschaftlichen Neuordnung Zentralasiens alle Bedingungen genau berücksichtigt werden sollten, die die eine oder andere Nationalität begünstigen«.25 Die Widersprüche zwischen dem Nationalitätenprinzip einerseits und der Wirtschaftspolitik andererseits, zwischen den Interessen der »russischen« und »zentralasiatischen« Bolschewiki sowie zwischen zentralistischen und lokalen Gestaltungsansprüchen standen diesem Ziel im Weg.26 Darum sollte eine Diskussion über die Resultate der Grenzneuziehung mit der Bevölkerung verhindert werden.27 Dass die Sprache der Nationalität in Zentralasien neu und ungewohnt war, machten die Äußerungen der beteiligten Verhandlungspartner mehr als deutlich. Der russische Kommunist Grigori Brojdo forderte für sich und seine Genossen, »dass wir ›Nationalisten‹ werden müssen; das ist die wichtigste Herausforderung für uns«. Die Kommunistische Partei müsse »die Rolle der Bourgeoise spielen und nationale Autonomie organisieren«.28 Einen ähnlichen Ton schlugen die einheimischen Bolschewiki an. Den Vertreter der Karakalpaken Allajar Dosnazarow konnte man in gebrochenem Russisch und in Unkenntnis der tatsächlichen Entscheidungsprozeduren bei den Verhandlungen über die neuen Grenzen in Taschkent im August 1924 sagen hören, dass die »Neugründung der nationalen Republiken aus allen Nationalisten gemacht« habe. Darum sollten auch die Karakalpaken, ein Nomadenvolk aus dem Delta des Amudaria, »Autonomie erhalten, weil sie existieren, und der Umstand, dass es neue Grenzen geben wird, bestärkt ihren Anspruch nur«.29 Diese selbstbewusste Haltung charakterisierte viele zentralasiatische Bolschewiki. Doch gab es zwischen den einzelnen »nationalen« Lagern in Turkestan, Buchara und Chiwa erhebliche Unterschiede. Turkmenische und karakalpakische Funktionäre vertraten einen fordernden Na-

25 Zit. n. Nazarov, Iz istorii, S. 100. 26 Farrant, »Mission Impossible«. 27 Beschluss der Zentralasienbüros vom 31. 8. 1924, in: Nazarov, Iz istorii, S. 102. Vgl. Edgar, Tribal Nation, S. 63–64; Haugen, The Establishment, S. 191. Allerdings gab es in der Presse dennoch eine intensive Debatte (ebenda, S. 203–204). 28 RGASPI 62/1/20, Bl. 179–180, zit. n. Haugen, The Establishment, S. 99. 29 Dˇzumaˇsev, »Allajar Dosnazarov«, S. 59–60. Vgl. Revoljuciej prizvannye, Bd. 2, S. 197–216.

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tionalismus, der sich aus einem Bewusstsein der Unterlegenheit und Rückständigkeit speiste. Sie leiteten ihre nationalen Ansprüche aus der politischen Marginalisierung ab, gegen die sie zwischen 1920 und 1924 angekämpft hatten. Die turkmenischen Kommunisten hatten sich schon 1921 für ein eigenes nationales Territorium ausgesprochen.30 Dagegen war das Lager der turkestanischen Kasachen in zwei Fraktionen gespalten: Die einen zogen mit aggressiven Forderungen nach nationaler Abgrenzung mit den Turkmenen gleich; die anderen widersetzten sich der »Aufteilung« Zentralasiens in nationale Republiken und erneuerten ihre Forderung nach einer zentralasiatischen »Förderation« mit Autonomiestatus für das Ferghanatal, dessen Aufteilung zwischen Usbeken, Kasachen und Kirgisen höchst umstritten war.31 Am schwierigsten war die Haltung der Usbeken und Tadschiken aus Turkestan, Buchara und Choresm einzuschätzen, die sich weder offensiv für die Abtrennung von Territorialnationen einsetzten noch entschieden dagegen auftraten.32 Als die Verhandlungen schließlich abgeschlossen waren, profitierte die Republik Usbekistan am meisten von der neuen Grenzziehung. Die Republik schloss sowohl die Kernterritorien Turkestans (mit Taschkent, Samarkand und den fruchtbaren Ebenen des Ferghanatals) in seine Grenzen ein als auch die Gebiete des ehemaligen Emirats von Buchara (mit der Stadt Buchara und Tadschikistan). Darüber hinaus erhielt die usbekische Republik die landwirtschaftlich produktiven Teile der Oase von Choresm.33 In diesen heterogenen Gebieten gab es kein verbindendes Bewusstsein von Nationalität und Zusammengehörigkeit: Niemand wusste, was ein Usbeke sein sollte.34 Was sich als moderner Nationalstaat mit einer Ministerregierung und einer neu gegründeten Parteiorganisation gerierte, war ein instabiles Patchwork-Territorium, dessen Elite weder ein Gewaltmonopol ausübte noch in der Position war, für die dorti30 Haugen, The Establishment, S. 115–127; Edgar, Tribal Nation, S. 43–59; Baberowski, »Nationalismus aus dem Geist«. 31 Namentlich Sultanbek Chodˇzanov und der Gesundheitsminister der Turkestanischen SSR und spätere Historiker Kasachstans Sandˇzar Asfendiarov setzten sich für diese Lösung ein, vgl. Revoljuciej prizvannye, Bd. 2, S. 51–52; Haugen, The Establishment, S. 132–135, 194, 198. 32 Haugen, The Establishment, S. 104. 33 Sengupta, »Imperatives«; Haugen, The Establishment, S. 123, 186, 197–199, 206–209; Istorija sovetskogo gosudarstva, Bd. 2, S. 19–25. 34 Baldauf, »Some Thoughts«, S. 89–92.

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gen Gesellschaften neue und verbindliche Handlungsnormen zu definieren. Mit einer gründlichen »Säuberung« des Partei- und Staatsapparats in Buchara und Choresm im Frühjahr 1925 unterstrich die usbekische Parteiführung ihren Führungsanspruch in den Provinzen. Die »Säuberung« zeigte aber auch, dass wechselseitiges Misstrauen zwischen den einzelnen regionalen Cliquen aus Turkestan, Buchara und Choresm die Einflussmöglichkeiten der neuen usbekischen Zentralgewalt stark einschränkten. Die »Dekolonisierung« stand weiterhin ganz oben auf der Tagesordnung. Zu den »Prozessen der Entkolonialisierung« in der Sowjetunion zählt der Historiker Gerhard Simon »Derussifizierung«, »Modernisierung« und die »Entstehung nationaler Intelligenzschichten«. Er weist eindrücklich auf das Wechselspiel von »Gewaltanwendung und Zerstörung« sowie »Konzessionen gegenüber den nichtrussischen Völkern« hin, das er als spezifische sowjetische Konstellation analysiert, die sich Mitte der 1920er ergeben hatte. In der Tat war die staatliche Integration heterogener Interessen »in dieser Form ohne Vorbild«, weil die »Entkolonialisierung den Staatsverband nicht zerstört« hatte.35 In diesem Wechselspiel kam den neuen, nunmehr »national« gewordenen Eliten eine entscheidende Rolle zu. Ihren Aspirationen stand jedoch die Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Bildung und Weltsicht und der Lebensweise der Landbevölkerung entgegen. So stieß ihr Versuch, in der Bevölkerung Fortschrittsdenken, moderne Bildung und eine nationale Kultur überhaupt erst zu verankern, oft auf erhebliche Widerstände. Ihr Ziel, Legitimation in einer Agrargesellschaft zu erreichen, stellte die Dekolonisierungseliten deshalb vor die Herausforderung, sichtbare Zeichen im Bereich der Landwirtschaft zu setzen.

Grenzkonflikte, Wasserkonflikte Statt eines Neuanfangs brachten die neuen Grenzen in Usbekistan wie auch in den anderen neuen zentralasiatischen Republiken neue staatliche Strukturen hervor, die sehr konfliktträchtig waren. Zwar waren die zentralen Herrschaftsapparate in den neuen Republiken am Vorbild

35 Simon, Nationalismus und Nationalitätenpolitik, S. 14–17.

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»moderner« Staatlichkeit ausgerichtet. Faktisch aber funktionierten Ämter nicht als bürokratische Institutionen, sondern als »Quellen von Status, Macht und Reichtum«. Sie wurden von den Amtsinhabern als »wirtschaftliche Ressourcen«, als »Pfründe« betrachtet und für sich »und die Mitglieder [ihres] primären Beziehungsgefüges ausgeplündert«.36 Dieses Ämterverständnis, das überall auf den unteren Ebenen des sowjetischen Verwaltungsapparats zu finden war, stellte die usbekische Regierung in Samarkand vor das Problem, dass ihr die indigene Bevölkerung mit Misstrauen begegnete und ihre Machtlegitimation grundsätzlich hinterfragte. In Usbekistan und anderen postkolonialen Territorien stand allen Maßnahmen zur Schaffung von Legitimität und Vertrauen eine spezifische Staatlichkeit entgegen, die sich im Prozess der Dekolonisierung bildet, wenn die Übermacht des kolonialen Zentrums als Appellationsinstanz teilweise oder ganz ausfällt. Die Institutionen des Staates verwandelten sich in einen »zentralisierten Herrschaftsapparat über Menschen und Gemeinschaften«, der ohne die moderne Staaten kennzeichnenden »Monopolisierungen der Gewalt und der Normordnung« auskommen musste.37 Ressourcen und Privilegien verteilten die Amtsträger innerhalb ihres eigenen Gefolgschaftsnetzwerks, während sie die von der Verteilung Ausgeschlossenen wie Fremde behandelten und auf deren Besitz und Arbeit räuberisch und gewaltsam zugriffen. Wenn Ämter als »Pfründe« angesehen werden, versuchen die von Macht und Einfluss Ausgeschlossenen im Gegenzug, die Willkürherrschaft der Amtsinhaber zu beenden und selbst Zugang zu den Ämtern zu gewinnen.38 Diese Konstellation staatlicher Macht dominierte die ländlichen Regionen in Usbekistan wie auch die Institutionen des Parteistaats in Taschkent und Samarkand. Schon bei den Verhandlungen zur territorialen Neugliederung Zentralasiens 1924 hatte sich die Wirkmächtigkeit dieser Konstellation gezeigt: Die Vertreter der einzelnen Regionen stritten nicht nur über Grenzverläufe und die Kompetenzen von Institutionen, sondern ließen kein Element der vorhandenen Infrastrukturen aus, das sie für »ihre Republik« reklamieren konnten, angefangen bei der Kontrolle über Haupt36 Trotha/Klute, »Von der Postkolonie«, S. 686. 37 Ebenda, S. 684. 38 Ebenda, S. 686–687.

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städte und Fabrikanlagen bis hin zum Besitz von Automobilen, Apotheken und Straßenbahnwaggons.39 Die wichtigste Ressource, um die in den 1920er Jahren zwischen den neuen Sowjetrepubliken gestritten wurde, war Wasser. Wasser war nicht nur für die Bewohner der Oasen Lebensgrundlage, sondern auch Rohstoff für die Landwirtschaft und die Industrieproduktion. Kontrolle über Wasser verhieß wirtschaftliche Entwicklung und ökonomische Eigenständigkeit. Die Vertreter Usbekistans hatten sich als Repräsentanten der sesshaften Landbevölkerung in der Region deshalb besonders dafür starkgemacht, die Bewässerungssysteme in den Grenzregionen möglichst gänzlich unter ihre administrative Kontrolle zu bringen.40 Als es 1925 zwischen der kasachischen und der usbekischen Regierung zu Streitigkeiten um die Zugehörigkeit der Kreise Turkestan, Tschimkent und Aulie-Ata kam, mobilisierte die Regierung Usbekistans die »usbekische« Bevölkerung der betroffenen Gebiete und initiierte eine Kampagne für deren »Autonomie«. Die kasachische Regierung wachte ihrerseits über die vereinbarte Grenzziehung, von der sie profitierte.41 Im Konfliktfall stilisierten sich die führenden kasachischen Kommunisten als Opfer usbekischer »kolonialer« Dominanz. Jeder wisse, gab Sultanbek Chodschanow zu Protokoll, dass »ein Kolonialherr auch aus dem Osten, nicht nur aus dem Westen kommen« könne.42 Um die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Republiken und ihrer Regionen zu gewährleisten, musste in jedem Einzelfall eine ausreichende Wasserversorgung garantiert werden. Darum wurden die Flussläufe des Syrdaria und des Amudaria sowie die großen Kanalsysteme zu Orientierungspunkten für die Grenzneuziehung. Der Handlungsspielraum war damit gering. »Der wichtigste Faktor für die Landwirtschaft ist Wasser, das auch der häufigste Grund für Konflikte ist«, schilderte ein sowjetischer Funktionär das Problem. »Die Teile eines jeden Kreises sollten eine

39 RGASPI 62/2/106, Bl. 11–23 (Stenografiˇceskij otˇcët zasedanija komissii po razmezˇ evaniju pri Sredazbjuro, 7. 8. 1924). Zum Streit zwischen Kasachstan und Usbekistan um Taschkent vgl. Bergne, The Birth, S. 49–51. 40 Haugen, The Establishment, S. 190–191, 202–206. 41 RGASPI 62/2/241, Bl. 147–173 (Materialy po voprosu o vydelenii Aulie-Atinskogo, Cˇimkentskogo i Turkestanskogo uezdov Syr-Dar’inskoj gubernii v Avtonomnuju oblast’, 7. 9. 1925); Haugen, The Establishment, S. 199–203. 42 RGASPI 62/2/88, Bl. 25–28, zit. n. Haugen, The Establishment, S. 134.

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gemeinsame Quelle für die Wasserversorgung haben, und sie sollten diese Quelle möglichst nicht mit dem benachbarten Kreis teilen müssen. Aber leider sind die Kanäle oft sehr lang. Die Kreise können jedoch nicht alle dünn und lang gestreckt sein, und folglich kann diese Bedingung, obwohl sehr wünschenswert, oft nicht umgesetzt werden.«43 Die neuen Grenzen zwischen den Republiken verliefen dementsprechend nicht entlang von Flussläufen und Großkanälen, sondern durchschnitten alle großen Wasserwege an einem oder mehreren Punkten. Jede Bevölkerungsgruppe sollte so »ihren« Anteil am Wasser erhalten.44 Für die neue Grenze zwischen Usbekistan, Turkmenistan und Karakalpakstan am Unterlauf des Amudaria beschreibt ein Ingenieur 1926 die Konsequenzen für die Bewässerung folgendermaßen: »Die Grenzziehung, die unter nationalitätenpolitischen Vorzeichen vorgenommen wurde, hat eine außerordentlich unbequeme Lage an den Bewässerungskanälen des Bezirks geschaffen. Von den neun Kanälen, die das Territorium des Bezirkes bewässern, haben die ersten sechs Kanäle ihre Köpfe auf dem Gebiet der usbekischen Republik, und nur drei Kanäle, die eine geringfügige Fläche bewässern, haben ihre Kanalköpfe im Gebiet Turkmenistans. Dazu kommt jedoch, dass auch diese Köpfe umstritten sind, weil die Karakalpaken denken, dass sich die Kanalköpfe auf ihrem Territorium befinden. Die genauen Grenzen zwischen den Republiken sind bisher wegen der noch ausstehenden Landvermessungsarbeiten nicht fixiert worden.«45 Überall an den neuen Grenzen und innerhalb der neuen Staatsgebilde traten ähnliche Probleme auf. Die Geheimpolizei berichtete, dass »fast überall in Zentralasien wiederkehrende Erscheinungsformen von nationalem und innernationalem Antagonismus zwischen den verschiedenen nationalen Gruppen und Stämmen zu beobachten« seien, »vor allem aufgrund der Land- und Wassernutzung und der Konkurrenz um

43 GARF 6892/1/34, Bl. 54, zit. n. Bergne, The Birth, S. 43. 44 GARF 6892/1/26, Bl. 26–25 (Protokol No. 64 VCIK RSFSR, 11. 10. 1926); GARF 6892/1/32, Bl. 32–44 (Administrativno-˙ekonomiˇceskie rajony Turkrespubliki, Chivy i Buchary); GARF 6892/1/36, Bl. 1–28 (Osnovy rajonirovanija Turkmenistana i Uzbekistana, nach dem 1. 3. 1926). 45 GARF 3292/1/14, Bl. 250–251 (Doklad inspektora-inˇzenera B. P. Selivanovskogo ob obsledovanii Taˇsauskogo vodnogo okruga Turkmenvodchoza, 16. 11. 1926). Vgl. Edgar, Tribal Nation, S. 62–63; Artykov, Pervye gody bor’by.

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die Macht«.46 In einem Bericht vom Januar 1926 wird ein typischer Konfliktfall im nördlichen Tadschikistan ausführlicher beschrieben. Im Bezirk Isteravschan sei es in einer Reihe von Dörfern zu »Spannungen zwischen Tadschiken und Usbeken wegen der Wassernutzung« gekommen. Die am Oberlauf eines Flusses siedelnden »Tadschiken« ließen zu wenig Wasser für die am Unterlauf lebenden »Usbeken« durch. Beide Seiten nutzten alle zur Verfügung stehenden Mittel, um ihre Machtposition gegenüber der konkurrierenden Gruppe abzusichern: »Im Zusammenhang mit der allgemeinen Unzufriedenheit der Usbeken mit der Herrschaft der Tadschiken wurde im Dorf Saraba der Versuch gemacht, einen der tadschikischen Amtsträger zu vergiften, dem zu diesem Ziel vergifteter Pilaw angeboten wurde. In diesem Kreis werden nur die Tadschiken von den amtlichen Bekanntmachungen des Landarbeiterverbandes in Kenntnis gesetzt. Usbeken, die den Wunsch hatten, Informationen zu erhalten, wurden vom Vorsitzenden des Landarbeiterverbandes verprügelt und verhaftet.«47 Schon vor der Etablierung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken hatten sich »Usbeken« und »Turkmenen« (am Amudaria), »Kasachen«, »Kirgisen« und »Usbeken« (in der Taschkenter Oase und im Ferghanatal) oder russische Siedler und kasachische Nomaden (in der Hungersteppe) um knappes Wasser gestritten.48 Die Gründe lagen in der Siedlungsstruktur der Oasen wie auch in der »ethnischen« Segmentierung der Ökonomie zwischen der ansässigen und der nomadischen Bevölkerung. Mit den neuen Grenzen wurde keine einheitliche Region auseinandergerissen, sondern Moskau »institutionalisierte und vertiefte nur die existierenden Konfliktmuster«.49 Überkommene (»traditionelle«) Vereinbarungen über die Wasserverteilung wurden nun erst hinterfragbar. Die staatlichen Behörden wiederum widmeten den lokalen Auseinandersetzungen um die Wasserverteilung, in denen die Bolschewiki »Nationalitätenkonflikte« sahen, viel Aufmerksamkeit, weil sie eine Möglichkeit boten, die Sowjetmacht als Appellationsinstanz in den Dörfern

46 RGASPI 62/2/535, Bl. 58 (Informacionnaja svodka Naˇc. SOU PP OGPU, 9. 2. 1926). 47 Soverˇsenno sekretno, Bd. 4, S. 82 (Isteravˇsanskij vilajet, Januar 1926). 48 RGASPI 62/2/241, Bl. 3, 62, 254–257 (1924–25); Keller, »Central Asian Bureau«, S. 292–294. 49 Edgar, Tribal Nation, S. 47. Fallstudie zum Ferghanatal bei Abashin, »Soviet Rule«.

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zu installieren.50 Doch auch und gerade weil sie so intensiv beobachtet wurden, entwickelten sich die neuen Grenzen zu Kernzonen »nationaler« Verteilungskonflikte. Damit eröffneten sich nicht nur für die Dekolonisierungseliten der neuen Republiken breite Betätigungsfelder, sondern auch für die »europäischen« Funktionäre des Zentralasienbüros, des Geheimdienstes und der Wasserbehörden.51 Mitte der 1920er Jahre begegneten die staatlichen Behörden Wasserkonflikten häufig mit bewaffneter Gewalt. In Frühjahr 1926, als die Kanalreparaturen abgeschlossen waren und im März die Bewässerungssaison begann, schwärmten die Agenten des Geheimdienstes und verschiedener Lokalbehörden in die Konfliktregionen aus. Die Partei- und Staatsbürokraten schickten Eilbriefe und Telegramme hin und her, um sich gegenseitig über die aktuelle Situation in den Konfliktzonen zu informieren. Einheiten des Militärs und der Polizei schritten ein, um den Ausbruch gewaltsamer Wasserkonflikte zwischen einzelnen Dörfern und Kanalgemeinschaften zu verhindern und die vereinbarten Wasserkontingente für jede Bewässerungsgemeinschaft sicherzustellen.52 Gewaltsam oder mit dem Mittel der militärischen Drohung wurde nicht nur in Situationen des Wassermangels und in Fällen von »nationalem Antagonismus« eingegriffen, sondern auch, wenn es um die Umverteilung von Land und Wasser zugunsten »armer« Bauern ging. Die »alten Bräuche der Wassernutzung« sollten abgeschafft und »durch eine neue Ordnung in der Wasserverteilung nach dem tatsächlichen Bedarf« ersetzt werden, meinten die sowjetischen Behörden.53 Doch ließ sich die von oben angeordnete Umverteilung ohne die ständige Präsenz von Milizeinheiten oder des Militärs nicht durchsetzen. Dies galt selbst für Fälle, in denen staatliche Umverteilungsinitiativen von Bauern mitgetragen wurden, die Wassermangel beklagten und eine Neuregelung der Verhält50 RGASPI 62/2/500, Bl. 2 (Zelenskij und Rykunov an KirObkom, März 1926); RGASPI 17/85/240, Bl. 22 (Zelenskij an Kosior, 21. 7. 1927); Soverˇsenno sekretno, Bd. 6, S. 286 (Izbaskent, Mai 1928). 51 GARF 6892/1/44, Bl. 193–196 (Kratkij doklad, 1925); Hirsch, Empire of Nations, S. 166–172; Haugen, The Establishment, S. 207. 52 ORMDA 837/26/128, Bl. 77 (Protokol No. 2 Zasedanija Prezidiuma E˙konombjuro v Srednej Azii, 29. 3. 1926); ORMDA 837/26/128, Bl. 222 (Protkol No. 8 Zasedanija Prezidiuma E˙konombjuro Srednej Azii, 14. 6. 1926). 53 ORMDA 111/1/1321, Bl. 92 (Ob utverˇzdenii novogo porjadka vodopol’zovanija, 22. 6. 1924).

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nisse forderten.54 Denn die Regeln der Wasserverteilung waren komplex und die an ihrer alljährlichen Regulierung beteiligten Akteure von so großer Zahl, dass selbst an den großen und leicht zu überwachenden Wasserwegen, wie am Serafschan zwischen Samarkand und Buchara, mit Schnellschüssen nicht viel zu erreichen war.55 Nicht bei allen Konflikten an den Grenzen handelte es sich um lokale Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Nachbardörfern. In einigen Fällen provozierten die Regierungen der neuen Sowjetrepubliken die Auseinandersetzungen, weil sie gegenüber den lokalen Bevölkerungen Einfluss und Durchsetzungskraft demonstrieren wollten. Jahr für Jahr versuchten die einzelnen Republiken, den Wasseranteil zu ihren Gunsten zu erhöhen und damit Finanzierungszuschüsse für Bewässerungsarbeiten und den Baumwollanbau aus dem Zentrum zu erhalten.56 Die Regierung Kirgistans hatte sich 1925 dafür eingesetzt, in der Region von Osch den Baumwollanbau zu forcieren und Wasser für 55000 Hektar Neuland für sich zu reklamieren, obwohl die Wasserrechte eigentlich Usbekistan zugesprochen worden waren. In einem Brief an den Vorsitzenden des Zentralasienbüros Isaak Selenski beschwerte sich ein Mitglied der kirgisischen Parteiführung, dass die usbekische Seite jedwede Verhandlung über Wasserrechte blockiere und das Zentralasienbüro offenbar parteiisch sei. »Wenn es in dieser Sache ein besonderes Geheimnis geben sollte, würde ich Sie bitten, uns dies trotzdem mitzuteilen, damit man sich richtig orientieren kann.« Die kirgisische Bevölkerung in Osch sei unzufrieden, weil sie keine Baumwolle anbauen könne, um »sich wenigstens teilweise auf eigene Füße zu stellen«, obwohl »die Baumwolle dort nicht schlechter ist als die aus Ferghana«. Die Bevölkerung und die kirgisische Parteiführung hätten den Eindruck, dass »die Usbeken die Kindchen sind und wir die Kegel«.57 54 ORMDA 111/1/1321, Bl. 198–199, 205 (Pom. Zav. Chlopzavodom No. 1 v s/ch otdel Turkchlopkoma, Jangi-Aryk 24. 8. und 1. 9. 1924; RGASPI 62/2/535, Bl. 102–104 (Informacionnaja svodka PP OGPU v Srednej Azii, März 1926). 55 RGASPI 62/2/121, Bl. 40–41 (Fajzulla Chodˇzaev an Sredazbjuro, 16. 2. 1924); Nazarov, Iz istorii, S. 91–92; ORMDA 111/1/1321, Bl. 130–131, 146 (1924); RGASPI 78/1/149, Bl. 147 (1925); ORMDA 756/1/1753, Bl. 44–48, 59–62 (1927); RGASPI 62/2/1671, Bl. 108, 129, 133–134 (1928). 56 GARF 3292/1/5, Bl. 354 (Vypiska iz Protokola No. 24 p. 3 zasedanija SNK KSSR, 20. 3. 1927); Abdrachmanov, Izbrannye trudy, S. 86 (5. 9. 1928), 97 (21. 10. 1928). 57 RGASPI 62/2/223, Bl. 33 (Brief des Kirobkom an Zelenskij, 1. 2. 1925).

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Da seit Mitte der 1920er Jahre der Baumwollanbau in den usbekischen Teilen des Ferghanatals schnell ausgebaut wurde, musste auch die Wasserverteilung Jahr für Jahr neu verhandelt werden. Immer wieder zeigte sich dabei, dass die gefällten Entscheidungen nur mit politischem und polizeilichem Druck durchgesetzt werden konnten.58 Der energische Vorsitzende des Zentralasienbüros verstand die Wasserkonflikte an den neuen Grenzen jedoch ganz anders als die Parteifunktionäre der zentralasiatischen Republiken. Während diese jede Möglichkeit eines Konflikts für eigene Interessen auszunutzen versuchten, nahm Selenski die Streitigkeiten zum Anlass, den Einfluss des Zentralasienbüros zu vergrößern. So dienten ihm die Grenzkonflikte zwischen Usbekistan und Kasachstan 1925 als Vorwand, vom Politbüro in Moskau die Befehlsgewalt über die Bewässerungssysteme in Kasachstan zu fordern. Selenski sah die zentralasiatischen Republiken als eine wirtschaftliche Einheit, die auch den Süden Kasachstans umfasste; dementsprechend würde die Konfliktschlichtung bei der Wasserverteilung wesentlich einfacher werden, wenn alle Republiken unter die Schirmherrschaft des Zentralasienbüros gelangen würden.59 Bei Stalin biss Selenski jedoch mit diesen Forderungen nach ökonomischer Kontrolle über Kasachstan und Schaffung einer zentralasiatischen »Föderation« nach dem Vorbild der »Transkaukasischen Republik« auf Granit: »Ich kann damit nicht einverstanden sein, weil dieser Plan die ganze Sache kaputtmachen könnte und garantiert ein Rezidiv im alten Streit zwischen Kasachen und Usbeken schaffen wird. Außerdem werden, wenn eine solche Vereinigung geschaffen wird, die Zentren von Partei und Regierung unfreiwillig auf die Bedürfnisse Südkasachstans fokussiert.« Stalin war es wichtig zu betonen, »dass ein solcher Plan das allgemein anerkannte Schema und die Neuschaffung nationaler Republiken stören würde«.60 Mit dem »allgemeinen Schema« war die Gesamtarchitektur des sowjetischen Staates gemeint. Stalin wollte von Moskau aus seine eigenen Befehlshierarchien durchsetzen. Jede Verän-

58 ORMDA 756/1/1750, Bl. 49–50, 57 (Korrespondenz des Sredazvodchoz März–Mai 1928); RGASPI 62/2/1379, Bl. 11–22 (Protokolle der Paritätischen Kommission Ferghana, März 1928); Hirsch, Empire of Nations, S. 172. 59 RGASPI 62/2/223, Bl. 37–38 (Zelenskij an das Politbüro, 16. 5. 1925). 60 RGASPI 558/11/735, Bl. 23–24 (Zelenskij an Stalin, 20. 3. 1925), 25 (Stalin an Zelenskij, 3. 4. 1925).

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derung der 1925 entstandenen Gesamtarchitektur lehnte er deshalb ab. Dieser Schachzug ermöglichte es ihm, bei Bedarf Konflikte zu schüren oder zu schlichten – je nachdem, wie es die Situation gerade erforderte.

Revolution ohne soziale Basis: Die Landreformen in Usbekistan In der postkolonialen Konstellation des neuen Usbekistan war Politik ein extrem personalisiertes Handlungsfeld. Die wenigen Akteure auf der politischen Bühne bildeten eine eigene und in sich geschlossene Gesellschaft. »Die soziale Basis des kommunistischen Regimes war das kommunistische Regime selbst«, meint der Historiker Stephen Kotkin. »Das bedeutete, dass das expandierende Regime selbst eine Gesellschaft bildete, in deren Zentrum Stalin stand.«61 Akmal Ikramow und Fajzulla Chodschajew verkörperten die unterschiedlichen Lebenswege, auf denen indigene Bolschewiki Zentralasiens in diese Gesellschaft gelangen konnten. Sie waren fast gleichaltrig – Ikramow wurde 1898 in Taschkent geboren, Chodschajew 1896 in Buchara –, entstammten jedoch unterschiedlichen sozialen Milieus. Chodschajew war in der Familie eines äußerst erfolgreichen bucharischen Großkaufmanns aufgewachsen. Ikramows Vater war Mullah, der sich mit seiner Koranschule im Taschkenter Stadtteil Uktschi nur mit Mühe über Wasser halten konnte.62 Chodschajew hatte sich den reformerischen Jadidisten angeschlossen und sich zu Beginn der 1920er Jahre für eine Spielart des Kommunismus entschieden, die sich einerseits auf die muslimische Reformbewegung berief und andererseits am Programm der Jungtürken orientiert war.63 Ikramow kämpfte hingegen verbissen gegen seine Herkunft als Sohn eines Mullahs an und überbot sich in ideologischen Selbstvergewisserungsritualen.64

61 Kotkin, Stalin, S. 427. 62 Ikramov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 12–15 (Einleitung der Herausgeber). Zur Ausbildung in den religiösen Elementarschulen (maktab) vgl. Khalid, Politics of Muslim Cultural Reform, S. 20–28. 63 Chodˇzaev, »Dˇzadidy«. 64 Ikramov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 494–509. Den Zeitungsartikel »Opportunisticˇ eskie vylaski oppozicii v nacional’nom voprose«, der im Oktober 1927 erschien, hatte er von Stalin persönlich korrigieren lassen (RGASPI 558/11/737, Bl. 6–62).

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Nachdem er zu Beginn der 1920er Jahre den »Dekolonisierern« um Sultanbek Chodschanow nahegestanden und sich an den »wilden« Landreformen 1921/22 beteiligt hatte, änderte er seine Position 1923 und stilisierte sich zum Vorkämpfer der »Linken« in der usbekischen Parteiorganisation. Die indigenen Eliten in der neuen und labilen Sowjetrepublik Usbekistan mussten trotz parteiinterner Widersprüche ihre Politik der Dekolonisierung gegenüber der traditionell lebenden Bevölkerung behaupten, die wenig Vertrauen in die neuen Staatsgebilde und deren junge revolutionäre Repräsentanten legte. Um ihren Machtanspruch positiv zu untermauern, planten die usbekischen Bolschewiki deshalb eine groß angelegte Reform, um Landtitel und Wasserrechte an arme und landlose Familien umzuverteilen. Wenige Monate nach der Gründung der usbekischen Republik wurden am 2. Dezember 1925 erste Dekrete zur Wasserund Landreform verabschiedet. Akmal Ikramow gehörte zu den exponiertesten Befürwortern der Landreformen. »Wir sehen die Landreform als eine politische und historische Tatsache«, sagte er im November 1925 auf dem zweiten Parteitag der Kommunistischen Partei Usbekistans. »Während einige Genossen hier die Landreform als eine bloße Landneuvermessung missverstehen, glauben andere daran, dass die Landreform zum hundertprozentigen Kommunismus führen und jedwede Ausbeutung in den Dörfern ausmerzen wird.« Immer darauf bedacht, seinen Genossen die Grundbegriffe der sowjetischen Staatsideologie zu erläutern, erklärte Ikramow in seiner Parteitagsrede, »dass man Kommunismus nicht in Prozenten messen kann und außerdem der Kommunismus nicht so einfach zu verwirklichen sein wird. Die Landreform wird die Ausbeutung im Dorf nicht beseitigen. Die Ausbeutung wird auch nach der Reform noch bestehen bleiben. Wir werden lediglich den Boden von den feudalen Formen der Ausbeutung säubern und damit unsere Bauernschaft auf den lichten Weg der Entwicklung der Produktionskräfte führen. Darin besteht die Grundidee der Landreform.«65 Der neue Anlauf zu umfassenden Landreformen unterschied sich in seinem technokratischen Ansatz grundlegend von den »wilden« Reformen der Jahre 1921 und 1922. Die usbekische Parteiführung begrenzte die

65 Ikramov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 76.

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Reformen auf die Bezirke Taschkent, Samarkand und Ferghana, also die Gebiete des vorrevolutionären Gouvernements Turkestan. Buchara und Choresm blieben ausgespart. Die Dekrete von 1925 bestimmten genau, welche Landtitel umverteilt werden sollten: Staatsländereien, der Besitz von religiösen Stiftungen (waqf) und Großgrundbesitz stellten 20 Prozent der anvisierten Umverteilungsfläche von insgesamt 197929 Desjatinen (216237 Hektar). 25 Prozent des umzuverteilenden Landes sollten von Stadtbewohnern konfisziert werden, die ihr Land nicht selbst bearbeiteten, und 35 Prozent von Haushalten, die mehr Land besaßen als die jeweils lokal festgelegte Höchstnorm. Weitere 20 Prozent der Landflächen, die an landlose und landarme Familien verteilt werden sollten, bestanden aus Neuland, das durch Bewässerung und Urbarmachung erst noch gewonnen werden musste.66 Zugleich legte die usbekische Regierung zahlreiche Ausnahmereglungen fest. »Arbeiter, Rotarmisten, Kriegsinvaliden, Lehrer, Staatsangestellte niedrigen Rangs, Handwerker, Bauern, die einer Saisonarbeit nachgehen, Kleinhändler, Mitglieder von Wahlkommissionen und arbeitsunfähige Personen« waren von vornherein von den Konfiskationen ausgenommen, darüber hinaus Kollektivwirtschaften, Kooperativen, Gärten und »besonders kultivierte Landwirtschaftsbetriebe«.67 Einerseits erschwerten die Ausnahmen und Sonderregeln die administrative Umsetzung des Vorhabens, andererseits eröffneten sie auf der Ebene der Bezirke und Kreise erhebliche Ermessensspielräume. Die Gruppen der Betroffenen und Begünstigten waren schwer in das technokratische Raster der Reformen einzufügen. Noch schwerer wog, dass die verschiedenen Behörden des usbekischen Parteistaats von ganz unterschiedlichen Landstatistiken ausgingen. Viele Berechnungen beruhten auf dem Zensus von 1920, der mitten im Bürgerkrieg stattgefunden hatte. Seitdem hatte sich die Situation verändert, aber niemand wusste Genaueres darüber, wie. So begannen die Landreformen, obwohl es nur rudimentäres Wissen über die Situation der Dörfer und der Einzelhaushalte gab.68 Die Landbevölkerung, dessen war sich die usbekische Führung gewiss, begrüßte die Reformmaßnahmen und erwartete viel von ihnen. 66 Chodorov, »Nekotorye cˇ erty«, S. 2, 9. 67 Ikramov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 127–128. 68 Ebenda, Bd. 1, S. 71–72, 126. Zu den statistischen Grundlagen ORMDA 837/26/289, Bl. 118, 125 (Stenografiˇceskij otˇcet fakcionnogo zasedanija SNK UzSSR, 2. 4. 1928).

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»Die Masse der Bauernschaft verbindet mit der Landreform nicht selten übertriebene Erwartungen«, hieß es 1925 in einem Fachjournal für Wirtschaftsfragen Zentralasiens. »Bauern, die fünf oder sechs Desjatinen pro Haushalt haben und die sicherlich kein zusätzliches Land erhalten werden, reisen aus 30 oder 40 Werst Entfernung an, um bei den Landkommissionen vorzusprechen und ihren Bedarf an Zugvieh, Saatmaterial und Landwirtschaftsinventar anzumelden.«69 Die Initiatoren der Landreform strebten dagegen an, landwirtschaftliche Kleinbetriebe aufzubauen, die von landlosen und landarmen Familien betrieben werden sollten. Zugvieh, Arbeitswerkzeuge und Saatgut dienten als staatliche Vorschüsse, um genau normierte Musterwirtschaften entstehen zu lassen. Eine Musterwirtschaft sollte über stattliche 2,5 Desjatinen bewässerter Ackerfläche verfügen, auf denen 1,25 Desjatinen mit Baumwolle, 0,25 Desjatinen mit Luzernen, 0,5 Desjatinen mit Weizen und 0,5 Desjatinen mit Hülsenfrüchten bewirtschaftet werden sollten.70 Nach diesen Vorgaben konnten die Musterbetriebe keine Subsistenzwirtschaften werden, da sie ihre Baumwollerträge vermarkten mussten. Andererseits gerieten sie nicht völlig in die Abhängigkeit des staatlichen Getreidemarkts, der Mitte der 1920er Jahre importabhängig und volatil war. Die Landreformen zielten darauf ab, Kleinbauern in den entstehenden »sozialistischen« Baumwollstaat einzubinden. In der indigenen Elite Usbekistans waren die ambitionierten Landreformen höchst umstritten. Denn die Frage, wie die Landbevölkerung in das neue Staatswesen eingebunden werden sollte, konnte im Rahmen des Dekolonisierungsprogramms unterschiedlich beantwortet werden. Im ersten großen Reformvorhaben des neuen Staates Usbekistan unterschieden sich die Ansichten der ehemaligen »Turkestaner« und der ehemaligen »Bucharer« diametral voneinander. Die Kommunistische Partei Bucharas hatte in ihrem »Praktischen Programm« von 1922 erklärt, dass unter den »objektiven wirtschaftlichen Bedingungen« die Aufgabe der »Schaffung einer ökonomischen Basis für die Werktätigen einer sozialistischen Gesellschaft« nicht allein durch die »Nationalisierung der Produktionsmittel« erfüllt werden könne, die sich in Buchara als »Entwicklungshemmnis« erwiesen habe. Stattdessen plädierten die bucharischen

69 Chodorov, »Nekotorye cˇ erty«, S. 4. 70 Ebenda, S. 12–13.

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Kommunisten unter Fajzulla Chodschajew für eine »Denationalisierung«, also die Reprivatisierung verstaatlichter Produktionsmittel.71 Chodschajew betonte immer wieder, dass Buchara – anders als Turkestan – die russische »Kolonialverwaltung« nie direkt kennengelernt habe. Darum sehe die dortige Bevölkerung »eine Sowjetmacht vor sich, die ihre eigene, lokal verankerte Macht« sei. Bis zur Revolution von 1920 habe Buchara »seine innere Selbstständigkeit unter dem Protektorat des russischen Imperiums bewahrt«.72 Darum sollte es keine plötzlichen Landreformen geben. Auch die Forcierung des Baumwollanbaus käme für Buchara nicht infrage. »Während die Bevölkerung Turkestans eine fünfzigjährige Erfahrung hinter sich hat«, schrieb Chodschajew 1922 an Stalin, »ihre Landwirtschaft außerhalb des Regiments des Emirats zu führen, wird sich die Bevölkerung Bucharas noch lange nicht von den alten Methoden der Wirtschaftsführung befreit haben. Die Entwicklung des Baumwollanbaus bremst darum den Prozess der Entwicklung unserer Wirtschaft.« Buchara habe »seine eigenständige Praxis, die erheblich von derjenigen Turkestans abweicht«.73 Chodschajew betonte die negativen Auswirkungen staatlicher Monopole für den Baumwollanbau, den freien Handel und die Verfügbarkeit von Kapital auch noch 1924. Monopole brächten »nichts Neues« hervor außer »totales wirtschaftliches Chaos«.74 Diese Haltung prallte in der Initialphase der usbekischen Landreformen 1925 auf die radikaleren Auffassungen der »Turkestaner« um Akmal Ikramow. Innerhalb der usbekischen Führung bildete sich eine Gruppe, die sich Chodschajew anschloss und im November 1925, während der Ausarbeitung der Landreformen, damit drohte, von der Staatsführung zurückzutreten und damit die Regierungsgeschäfte lahmzulegen. In einer parteiinternen Stellungnahme erklärte die sogenannte »Gruppe der 18«, sie sei »wegen der entstandenen anormalen Bedingungen für eine freundschaftliche und fruchtbare Zusammenarbeit« nicht in der Lage, weiterhin in der Regierung mitzuarbeiten.75 Zu den Unterzeichnern der Erklärung gehörte neben einflussreichen Funktionären wie Imam71 72 73 74 75

RGASPI 85/23/90, Bl. 2 (Praktiˇceskaja programma B.K.P.).

Tajny nacional’noj politiki, S. 164. RGASPI 558/11/822, Bl. 69–70 (Chodˇzaev an Stalin, 14. 12. 1922). RGASPI 62/2/121, Bl. 36 (Chodˇzaev an Zentralasienbüro, 16. 2. 1924).

Revoljuciej prizvannye, Bd. 2, S. 18; Anderson, Iz istorii, S. 144–145.

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dschan Chydyralijew und Sandschar Asfendjarow auch der usbekische Landwirtschaftsminister Abdulrachim Chodschibajew. Obwohl der Konflikt mit der »Gruppe der 18« durch Stalins Einspruch im Mai 1926 zunächst beigelegt wurde, schwelte er in den Jahren 1927 und 1928 weiter.76 Zunächst schienen die Ergebnisse der Landreformen vielversprechend: 1926 beschlagnahmten die Landkommissionen 238000 Hektar, von denen 177000 Hektar sofort von Neubauern besetzt wurden. 22076 Wirtschaften von »Großgrundbesitzern, Händlern und Halbkulaken« wurden konfisziert.77 Die offizielle Statistik sagt indes wenig darüber aus, was mit dem konfiszierten und umverteilten Land geschah, weil zuverlässige Daten über die tatsächlich bewirtschafteten Flächen und ihre Verteilung fehlten. 1928, nach Abschluss der ersten Phase der Reformen, konnten die usbekischen Regierungsstellen von einem Drittel der umverteilten Ackerflächen nicht sagen, wie und ob sie überhaupt bewirtschaftet wurden.78 Die technokratisch konzipierten Landreformen überforderten die Leistungskraft der schwachen staatlichen Strukturen in Usbekistan. Im Frühjahr 1926 berichtete der Geheimdienst ausführlich, mit welchen Schwierigkeiten die Haushalte, denen Land zugeteilt worden war, zu kämpfen hatten: Sie hatten nicht das zugesagte Arbeitsvieh bekommen; viele Neubauern waren mit keinerlei Landwirtschaftsinventar ausgestattet worden; die versprochenen Traktoren kamen nicht zum Einsatz; viele Felder wurden, weil die Wasserversorgung nicht geklärt war, nur teilweise oder gar nicht bearbeitet; statt Baumwolle bauten die Neubauern anspruchslose Getreidesorten und Mais für die Eigenversorgung an. In manchen Kreisen, in denen Landreformen angestrengt wurden, verminderten sich die Anbauflächen um 50 Prozent. Die staatlichen Stellen erwiesen sich oft als unfähig, die Neubauern ausreichend zu unterstützen. Nach Berichten der Geheimpolizei, die über die Implementierung der

76 RGASPI 558/11/735, Bl. 28–30 (Stalin an Zelenskij, Ivanov und Ikramov, 18. 5. 1926); RGASPI 85/27/457, Bl. 1 (Zelenskij an Ordˇzonikidze, 14. 3. 1928); RGASPI 121/1/121, Bl. 52–46 (Zelenskij an Ordˇzonikidze, vor dem 21. 4. 1928). Vgl. Ikramov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 262; Chodˇzaev, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 450. 77 ORMDA 837/26/289/, Bl. 88, 90–91 (Stenogramma ob’’edinënnogo zasedanija SNK i STO, 8. 5. 1928). 78 ORMDA 837/26/289, Bl. 116, 119–120, 152 (Stenografiˇceskij otˇcet fakcionnogo zasedanija SNK UzSSR, 2. 4. 1928).

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Reformen wachte, hatte die »Aktivität der armen Bauernschaft im Kampf um Land Gegenwehr seitens der reichen Bauernschaft« hervorgerufen. Enteignete Ländereien wurden von den vormaligen Besitzern wiederbesetzt. Einigen Neubauern wurde das Wasser verweigert, sodass sie ihre Felder aufgeben mussten, andere bekamen nur welches, wenn sie dafür zahlen konnten.79 Statt für Vertrauen in die neuen staatlichen Strukturen zu sorgen, bewirkten die Wasser- und Landreformen das Gegenteil. Je länger die Reformbemühungen andauerten, desto stärker machte sich Misstrauen in der Bevölkerung bemerkbar. Die Bauern befürchteten (oder hofften), dass die Umverteilungen rückgängig gemacht werden könnten. Wenn die Landreformkommissionen in den Dörfern eintrafen, verbreiteten sich oft wilde Gerüchte und Spekulationen, wie beispielsweise aus folgendem Geheimdienstbericht ersichtlich wird: »Die Machthaber beriefen eine Versammlung ein, bei der auch Ausländer zugegen waren. Die Ausländer fragten die Bevölkerung, ob sie mit der existierenden Macht zufrieden sei. Als sie von der Landreform hörten, sprachen sich die Ausländer dagegen aus. Darum wird das enteignete Land den armen Bauern wieder fortgenommen und den Reichen zurückgegeben.« Andere sahen die Landreformen als Unterdrückungsmaßnahme der »Russen« gegen die »Usbeken«: »Die Landreform ist ein Spielzeug der Sowjetmacht, und die Regierung heuchelt, wenn sie sagt, das Land gehöre den Arbeitenden. Wo ist das Wasser? Das haben die Russen in der Hand, und die Sowjetregierung will, dass es ausschließlich von russischen Bauern genutzt wird.«80 Zudem berichtete die Geheimpolizei von zahlreichen gewaltsamen Übergriffen. Drohungen, Wasserentzug und offene Gewalt gegen Neubauern waren 1928 an der Tagesordnung. Die Täter wurden, selbst wenn es um Mord ging, häufig strafrechtlich nicht belangt, sondern »von Vertretern des lokalen Sowjetapparats und der Landwirtschaftsbehörden unterstützt«. Insofern festigten die Reformen das traditionelle Herrschaftsgefüge: »In vielen Fällen sind die armen Bauern verängstigt, weil

79 RGASPI 62/2/536, Bl. 6–7, 49, 54–55, 95 (Informacionnye svodki PP OGPU v Srednej Azii, Mai–Juli 1926). 80 RGASPI 62/2/1349, Bl. 32, 40 (Obzor polit-˙ekonomiˇceskogo sostojanija Srednej Azii, Januar 1928).

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sie keine Unterstützung seitens des Sowjetapparats bekommen, und sie geben den reichen Bajs einen Teil der Ernte ab oder schenken ihre bei der Landreform erhaltenen Landstücke an diese zurück.«81 Die wirklichen Gewinner der Landreformen waren nicht einfache Bauern, die in Armut und Landlosigkeit lebten, sondern die zahllosen usbekischen Staatsangestellten, die in Landwirtschaftskooperativen, Landkommissionen oder den örtlichen Regierungsbehörden mitarbeiteten. Allzu oft verblieben die vergleichsweise großen Geldmittel und Sachleistungen, die im Zuge der Landumverteilung an die Neubauern fließen sollten, in ihren Händen. Von den zehn Millionen Rubeln, die als Kleinkredite für Neubauern vergeben worden waren, konnte der stellvertretende usbekische Finanzminister Iwan Gontscharow 1928 »nicht mehr sagen, welche Gelder tatsächlich bei ihnen ankamen, genauso, wie wir jetzt nicht mehr sagen können, welche Gelder der sogenannten rückzuzahlenden Kredite sie wirklich an uns zurückzahlen werden«. Das Geld für die Kleinkredite verschwand spurlos, wie Gontscharow meinte, wurde gestohlen, hinterzogen oder zweckentfremdet.82 Die Landreformen hatten sich zu einem günstigen Geschäft für die lokalen Potentaten des Sowjetstaats entwickelt.83 Weil es in den ländlichen Verwaltungsbehörden keine reguläre Buchhaltung gab und viele der ländlichen Staatsvertreter funktionale Analphabeten waren, war es für die zentralen Behörden nahezu unmöglich, im Nachhinein zu verfolgen, was mit den investierten Mitteln genau geschehen war. Zudem hatte die administrative Organisation der Landreformen auch bei den zentralen Staatsbehörden mit der stolzen Summe von 1,41 Millionen Rubel zu Buche geschlagen.84

81 Soverˇsenno sekretno, Bd. 6, S. 394, vgl. S. 132, 344, 367, 441, 530. 82 ORMDA 837/26/289, Bl. 141–142 (Stenografiˇceskij otˇcet fakcionnogo zasedanija SNK UzSSR, 2. 4. 1928). Vgl. die Memoiren von Gonˇcarovs Mitarbeiter Vasil’ev, Puti sovetskogo imperializma, S. 57. 83 RGASPI 62/2/536, Bl. 19–20 (Informacionnaja svodka PP OGPU v Srednej Azii, Mai 1926); RGASPI 17/113/725, Bl. 181–219 (Otˇcet obsledovanija Beˇs-Arykskogo rajona Ferganskogo okruga, 12. 11. 1929); Kamp, The New Woman, S. 202–205. 84 ORMDA 837/26/289, Bl. 89 (Stenogramma ob’’edinënnogo zasedanija SNK i STO, 8. 5. 1928).

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Zwischen Intrige und Ideologie: Die »Parteisäuberungen«, 1928 –1929 Die ideologischen Schlammschlachten um die Landreformen hielten unvermindert an. Doch auch wenn Ikramow dem usbekischen Regierungschef Chodschajew immer wieder vorwarf, die Landreformen zu verzögern und zu untergraben, nahm sich dieser ab Oktober 1927 dieser Aufgabe intensiv an. Der Winter 1927/28 verging mit hektischen Aktivitäten. In den Bezirken Taschkent, Samarkand und Ferghana – also den Gebieten, in denen 1926 mit der Landkonfiskation begonnen worden war – unternahm die Regierung alle Anstrengungen, um die umverteilten Landstücke herzurichten und den Haushalten, denen sie zugeteilt worden waren, materiell unter die Arme zu greifen. Außerdem initiierte sie auch in den Gebieten von Buchara Reformen. Doch als die Regierung Usbekistans im Mai 1928 ihren Bericht über die Landreformen in Moskau präsentierte, nahmen sich die erzielten Ergebnisse mehr als dürftig aus. Die Landumverteilung, erklärte der usbekische Landwirtschaftsminister Abdulrachim Chodschibajew vor dem Sowjetischen Ministerrat, sei keine »außerordentlich revolutionäre Maßnahme« gewesen, »weil uns die Technik dazu nicht zur Verfügung stand und wir uns sonst in den Dörfern große Feinde gemacht hätten, was ungünstig für die Durchführung einer Reform erschien«. Für radikale Veränderungen hätte nicht genügend Geld zur Verfügung gestanden. In die Landreformen hätte zehnmal mehr investiert werden müssen. Chodschibajew musste in Moskau zugeben, dass die Landreform Stückwerk geblieben war: Die ad hoc nutzbare umzuverteilende Landfläche betrug seinen Angaben zufolge 177000 Hektar. Bei der Umverteilung waren 20000 landlose und 43000 landarme Familien zum Zuge gekommen. Aber nur für 68 Haushalte waren die Hofwirtschaften nach den ursprünglichen Reformplänen von 1925 ausgestattet worden. Immer noch hatte ein Viertel der Bauern in den Landreformgebieten als landarm oder landlos zu gelten.85 Dieses Ergebnis als Erfolg darzustellen, war schwierig. Chodschibajew verwies darauf, dass in Usbekistan die Baumwollanbauflächen von 480700 Hektar im Jahr 1926 auf 673000 Hektar im Jahr 1928 angewach-

85 ORMDA 837/26/289, Bl. 87–91 (Stenogramma ob’’edinënnogo zasedanija SNK i STO, 8. 5. 1928).

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sen seien. Da es jedoch zahlreiche Anreize für den Baumwollanbau gab, konnte er diesen Zuwachs nicht als Ergebnis der Landreformen reklamieren. Auch der Verweis des usbekischen Landwirtschaftsministers auf die Kräftigung des mittleren Bauernstands – dank der Reformen gäbe es nun »55000 Haushalte völlig gesunden Mittelbauerntyps« in Usbekistan – konnte wenig überzeugen, nachdem die Moskauer Parteiführung im November 1927 Kurs auf die Kollektivierung der Landwirtschaft genommen hatte. Chodschibajew berichtete über allgemeine »Anstöße zur Entwicklung«, die durch die Landreform gegeben worden seien. »Mit der Reform haben wir erreicht«, führte er aus, »dass die Grundprinzipien der Sowjetmacht in das Bewusstsein der arbeitenden Massen Usbekistans eindringen.«86 Doch diese Feststellung war nicht mehr als eine Vermutung, denn verlässliche Daten über die Reaktion der Bauern lagen nicht vor.87 Das Scheitern der Landreform verschärfte die Spannungen zwischen Ikramow und Chodschajew innerhalb der usbekischen Führung. Chodschibajew, der als Vertrauter Chodschajews galt, wurde als Landwirtschaftsminister abgesetzt. Die Streitereien zwischen Ikramow und Chodschajew hielten an, und die Personalentscheidungen des Moskauer Zentralkomitees setzten die usbekische Führung zusätzlich unter Druck.88 Ins Zentralasienbüro wurde mit Nikolaj Gikalo ein Parteiarbeiter nach Taschkent abkommandiert, dessen Aufgabe es war, Ikramows Position als Repräsentant der »Linken« zu untergraben. Chodschajew hatte seinerseits im Ministerrat mit dem missliebigen Chanif Burnaschew zu kämpfen, einem Gefolgsmann von Ikramow, der im Mai 1928 das Landwirtschaftsministerium übernahm.89 Das Fass zum Überlaufen brachte die Ankunft eines weiteren »Instrukteurs« aus dem Moskauer Zentralkomitee in Taschkent: Maksim Kirowitsch Ammosow war einer der ersten indigenen Bolschewiki in Sibirien und hatte seit 1918 verantwortliche Posten in den Partei- und Regierungsstrukturen seiner Hei-

86 87 88 89

Ebenda, Bl. 91–92. ORMDA 837/26/289, Bl. 741 (Protokol’ Zasedanija Frakcii SNK UzSSR, 2. 4. 1928). RGASPI 558/11/735, Bl. 33 (Zelenskij an Stalin, 29. 4. 1928). ORMDA 837/26/289, Bl. 176–177 (Stenografiˇceskij otˇcët fakcionnogo zasedanija SNK UzSSR, 2. 4. 1928); ORMDA 837/26/289, Bl. 95–98 (Stenografiˇceskij otˇcët zasedanija SNK UzSSR, 3. 4. 1928); RGASPI 82/2/154, Bl. 7–8 (Chodˇzaev an Molotov, 25. 6. 1928).

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matregion Jakutien inne. Im August 1928 wurde er als Vorsitzender des jakutischen Ministerrats abgelöst und von Stalin nach Zentralasien abkommandiert. Gemeinsam mit Nikolaj Gikalo, einem Mitglied der stalinistischen Kaukausus-Clique, nahm Ammosow nun die usbekische Parteiführung unter ideologischen Beschuss.90 Zwei von Stalins Satrapen in Taschkent und wenige Monate Zeit genügten, um die usbekische Parteiorganisation und ihre Führung in einen Zustand des Chaos zu versetzen. Wegen der engen Verzahnung von Partei und Regierungsbehörden griffen Panik und Angst auch im Staatsapparat schnell um sich. Um diese Panik zu schüren, inszenierten Gikalo und Ammosow eine ideologische Kampagne. Weil man nun entschiedener gegen »alte Klan- und Feudalbeziehungen« ankämpfen und die »kulturelle Rückständigkeit der Bevölkerung« beenden wolle, hieß es im Oktober 1928, müsse die Parteiorganisation endlich »bolschewisiert« werden. Zu diesem Zweck gelte es nicht nur, das »noch niedrige ideelltheoretische und kulturelle Niveau« der Parteimitglieder anzuheben, sondern vor allem auch, den Einfluss der »antisowjetischen Intelligenz« in Usbekistan zu brechen, die »von bourgeoisen Ideologen aus dem Orient« und »von den kapitalistischen Ländern des Westens unterstützt« würden.91 In den folgenden Monaten begann eine groß angelegte »Säuberung« in den Parteiorganisationen und Regierungsbehörden. Alle Parteimitglieder mussten vor »Säuberungskommissionen« erscheinen, die sie nach ihren ideologischen Auffassungen und politischen Meinungen befragten. Mehrfach wurden die Mitglieder der großen regionalen Parteiverbände in Taschkent, Samarkand und Buchara Ende 1928 und Anfang 1929 überprüft und filtriert. Viele bekamen Disziplinarstrafen oder wurden ausgeschlossen. Es lag in der ideologischen Natur der Sache, dass in allen Parteiorganisationen »skandalöse Zustände« ans Tageslicht kamen: die Verfilzung zwischen Parteimitgliedern und alten Eliten, omnipräsente Patronage- und Korruptionsnetzwerke und »nationalistische Abweichungen« von der Parteilinie. Die Säuberungen hatten ein90 RGASPI 17/113/725, Bl. 33, 46. 53–54, 82, 74–75 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929). Zur Biografie der Funktionäre vgl. Alekseev, Ammosov, und Morozova, »Nikolaj Fedoroviˇc Gikalo«. 91 XVII Plenum Sredneaziatskogo bjuro CK VKP(b). Resoljucija i postanovlenija, Taschkent 1928, S. 3, zit. n. Nazarov, Iz istorii, S. 64.

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schneidende personelle Konsequenzen. Innerhalb eines halben Jahres wurden die Parteikomitees in Kokand, Serafschan und Buchara zwei Mal vollständig ausgewechselt. Die Säuberungen gipfelten in der Entlassung des Obersten Gerichts Usbekistans. Dem Obersten Richter Kasimow und seinen Kollegen wurde die zu geringe Bestrafung von 17 Männern vorgeworfen, die sich an der Massenvergewaltigung einer entschleierten Frau beteiligt hatten. Das Gericht hatte trotz des »klaren Straftatbestands einer terroristischen Attacke« keinen der Täter zum Tode verurteilt.92 Aber Gikalo und Ammosow gingen noch weiter. Sie nutzten die in allen Parteiorganisationen vorhandenen Animositäten zwischen »Nationalisten« und »Linken« sowie zwischen »Einheimischen« und »Europäern«, um gezielt weitere Konflikte zu schüren. Den »bürgerlichen Nationalisten« warfen sie vor, Schuld an der »Verunreinigung« der Parteiorganisationen mit ideologisch »unzuverlässigen Elementen« zu tragen. Wie aufgeladen die Atmosphäre war, zeigte sich, als Imamdschan Chidiraliew, ein zentralasiatischer Bolschewik der ersten Stunde und Unterstützer der »Gruppe der 18«, im Dezember 1928 Selbstmord beging.93 Den »Linken« kreideten Gikalo und Ammosow dagegen an, bei der Umsetzung der Landreformen »übertrieben« zu haben. Stein des Anstoßes war der neue Landwirtschaftsminister Chanif Burnaschew, der im Bezirk Ferghana zwischen Januar und April 1929 4500 Höfe enteignen ließ, eine größere Anzahl von Haushalten als in der ersten Phase der Landreformen im Jahr 1926. Selbst die Moskauer Parteiführung hielt diese Aktionen für besorgniserregend und gefährlich.94 Auf dem vierten Parteitag der Kommunistischen Partei Usbekistans im Februar 1929 gerieten dann die »Europäer« und die »Linken« offen aneinander. Einige führende »europäische« Parteimitglieder hatten sich auf Initiative von Gikalo vor Beginn des Parteitags in kleiner Runde getroffen und die Angriffslinie auf Ikramows Gruppe festgelegt.95 Ihr Ziel war, diesen von seinem Posten abzusetzen. In dieser Situation konnte es auch Chodschajew nicht lassen, seinen Konkurrenten Ikramow öffent-

92 93 94 95

RGASPI 17/113/725, Bl. 52–53, 79–80 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929). Revoljuciej prizvannye, Bd. 2, S. 17–19. RGASPI 17/113/725, Bl. 58–59 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929). Anderson, Iz istorii, S. 158–159.

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lich zu kritisieren.96 Auf dem Parteitag konnte sich dieser erfolgreich gegen die Angriffe zur Wehr setzen und auf seinem Posten als wichtigster usbekischer Parteisekretär verbleiben. Die »Europäer« mit Gikalo an der Spitze sorgten jedoch dafür, dass Isaak Selenski neben dem Zentralasienbüro nun auch die Führung der usbekischen Parteiorganisation übernahm und nominell zum Ersten Sekretär gewählt wurde. Selenski zeigte sich nach den zerstörerischen »Säuberungen« und den chaotischen Machtkämpfen resigniert und teilte diese Enttäuschung mit vielen indigenen Parteiführern Zentralasiens:97 »Wir sollten uns die Frage stellen, in welcher Lage sich unser Parteiaktiv befindet. Was haben wir da vor Augen? Haben wir der Parteiorganisation oder dem Parteitag die Frage gestellt, was unser Aktiv eigentlich darstellt?«98 Das Scheitern der Landreformen und das Chaos der »Parteisäuberungen« stürzte die usbekische indigene Elite in eine tiefe Krise. Unzufriedenheit und Misstrauen machten sich auch in der Bevölkerung breit und beeinträchtigen die Arbeit des Staatsapparats. Besonderen Missmut erregte in der angespannten Situation die Zuwanderung Tausender Menschen aus der europäischen Sowjetunion, unter ihnen viele Händler und Kleinunternehmer, die aufgrund der Repressionen gegen »Kapitalisten« und »Spekulanten« aus Russland und der Ukraine nach Zentralasien flüchteten.99 Selbst der loyale Ikramow beklagte, dass »sie zu uns kommen, als wenn sie ein warmes Land besuchen wollen – und auf der anderen Seite haben wir unsere Landknappheit und Überbevölkerung«.100 Viele Usbeken zeigten ein offen nationalistisches Ressentiment gegen alles Russische. Auf einer Parteiversammlung im Taschkenter Pädagogischen Institut konnte man einen Studenten sagen hören: »Die Russen kommen nach Usbekistan und belasten das Staatsbudget. Usbe96 RGASPI 17/113/725, Bl. 27–34 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929); Chodˇzaev, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 571–572. Chodˇzaev vergaß dabei nicht, sich von Imamdˇzan Chidiraliev zu distanzieren, der kurz vor seinem Selbstmord in einem Brief an Stalin die Wende in der sowjetischen Landwirtschaftspolitik scharf angegriffen hatte, vgl. ebenda, S. 569–570. 97 Loring, »Colonizers with Party Cards«; Teichmann, »Arbeiten, kämpfen, scheitern«, S. 126–128. 98 RGASPI 17/113/725, Bl. 53 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929). 99 Hessler, A Social History, S. 143–154; Fitzpatrick, Everyday Stalinism, S. 132; Vasil’ev, Puti sovetskogo imperializma, S. 13–57. 100 RGASPI 17/113/725, Bl. 13–14 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929).

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kistan ist jetzt eine Kolonie, und der Unterschied zu anderen Kolonien besteht allenfalls darin, dass es eine sozialistische Kolonie ist. Ohne nationale Industrie kann es kein nationales Proletariat geben, und deshalb sollte die Losung der Usbeken sein: ›Gebt uns eine Industrie, eine nationale Kultur und die Unabhängigkeit Usbekistans wie in Afghanistan und Ägypten‹.«101 Aus Sicht der offiziellen sowjetischen Politik, die nationale Gleichberechtigung und kulturellen Fortschritt propagierte, wirkte jedoch nicht nur der usbekische Nationalismus skandalös.102 Als der aserbaidschanische Parteichef Ali Chajdar Karajew 1929 Usbekistan besuchte, zeigte er sich ebenso entsetzt über die Verachtung und Rücksichtslosigkeit, mit der »Russen« und andere »Europäer« der Bevölkerung Usbekistans begegneten. Er fühle sich an die Verhältnisse »in Indien und anderen Ländern des Orients« erinnert, »die jetzt vom Kapitalismus kolonisiert sind«, berichtete er. Dabei bildeten die »europäischen« Parteiarbeiter keine Ausnahme, sondern Segregation und koloniales Denken seien in der Partei und den Staatsbehörden weit verbreitet: »Wer zählt zu den Europäern? Russen, Aserbaidschaner, Türken, Armenier. Mit einem Wort alle Zuwanderer. Den Rest der Bevölkerung – die Usbeken – zählt man zu den Asiaten. Ich habe mich mit aserbaidschanischen Türken unterhalten, und in Buchara habe ich russische Funktionäre getroffen. In diesen Gesprächen wurde mir klar gesagt, dass es ihnen als kultivierten und zivilisierten Leuten, sehr schwerfällt, inmitten der unkultivierten Usbeken zu arbeiten, und dass die Aufgaben der Europäer groß seien, ja, riesig.«103 Ende der 1920er Jahre war die Nationalitätenpolitik in Usbekistan auf ganzer Linie gescheitert.104 Doch trotz der greifbaren ethnischen Spannungen beschäftigte die Elite des usbekischen Parteistaats in den 1920er Jahre nichts stärker als ihre internen Machtkämpfe. Die Dekolonisierung rückte während der Konflikte um Grenzziehung, Wasserverteilung, Landreformen und ideologische Ausrichtung in den Hintergrund. Die

101 Soverˇsenno sekretno, Bd. 6, S. 184. Ikramov hielt diese Haltung für repräsentativ, vgl. RGASPI 17/113/725, Bl. 20–21. 102 VKP(b) i nacional’nyj vopros, Bd. 1, S. 619–622. 103 GARF 374/27/1708, Bl. 206–207 (Proekt doklada t. Karaeva o provedenii nacpolitiki v Srednej Azii, 1929). Genauer zur Rolle »europäischer« Funktionäre in Zentralasien: Kassymbekova/Teichmann, »Red Man’s Burden«. 104 Martin, Affirmative Action Empire, S. 154–181.

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persönlichen Auseinandersetzungen innerhalb der nationalen Eliten zerrütteten die ohnehin instabilen Strukturen des fragilen Patchworkstaats Usbekistan. Stalin verstand es gut, sich solche Konflikte zunutze zu machen und, wenn nötig, anzuheizen. Nicht nur in Zentralasien, sondern überall in der Sowjetunion, setzte er darauf, Machtgewinne aus persönlichen Animositäten zu ziehen und Funktionäre zu seinem Vorteil gegeneinander auszuspielen.105 Für die staatlichen Herrschaftsstrukturen, die Parteiorganisationen und Behörden, bedeuteten diese Machtkämpfe einen permanenten Zustand von Unsicherheit. Die Macht der Unordnung hatte ihren Preis.

105 Baberowski, Der Feind, S. 396–410, 503–506; Kotkin, Stalin, S. 458–459.

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4 Fußvolk mit Eigensinn – Ingenieure und Bolschwiki, 1923 –1929

»Ihrem Wesen nach ist die Arbeit im Bewässerungswesen langweilig, schmutzig, uninteressant; sie erfordert Aufmerksamkeit für alltägliche Kleinigkeiten und gute Kenntnisse der lokalen Verhältnisse«, schrieb der Ingenieur Iwan Scharow Ende 1928 in einem programmatischen Artikel, der sich an die russischen Wasserbauspezialisten in Zentralasien richtete. »Es ist jedoch genau diese Arbeit, die das Wachstum der Anbauflächen und damit das Wachstum der Wirtschaft Zentralasiens ermöglicht.«1 In Scharows Einschätzung spiegelte sich die Mentalität vieler russischer Ingenieure wider, die sich in den nachrevolutionären Jahren dem Wiederaufbau und der technischen Verbesserung der Bewässerungssysteme in Zentralasien verschrieben hatten. Die Betonung von Mühe, Sorgfalt und Spezialwissen gehört vermutlich zum Selbstverständnis von »Experten« überall auf der Welt.2 Im konkreten Fall von Scharow enthielt die Aussage aber auch eine politische Botschaft. Er erteilte Großprojekten im Wasserbau eine Absage und forderte seine Kollegen auf, sich nicht in utopischen Visionen von blühenden Landschaften zu verlieren, sondern sich den konkreten Tagesproblemen zu widmen. Sein Programm der Kleinteiligkeit wirkt umso erstaunlicher in Anbetracht des Zeitpunkts seiner Publikation. Sie erschien, als die Moskauer Parteiführung Kurs auf den Ersten Fünfjahresplan nahm. Binnen weniger Jahre sollte die Sowjetunion zu einer Industriemacht aufsteigen. Ein zentrales Instrument hierfür waren Großbauten. In der Ukraine begannen die Arbeiten an einem großen Staudamm am Dnjepr, der vorbildhaft und zukunftweisend für andere Wasserbauprojekte in der Sowjetunion werden sollte.3 Doch in Taschkent liefen die Uhren anders als in Moskau und der Ukraine. Scharows Artikel reagierte auf einen Schauprozess, den die Moskauer Staatsanwaltschaft im Februar und März 1928 in Taschkent gegen »bürgerliche Spezialisten« veranstaltet hatte. Ein Dutzend Inge1 2 3

Sˇarov, »Za rekonstrukciju«, S. 80. Mitchell, Rule of Experts, S. 19–53. Rassweiler, Generation of Power, S. 19–24; Schlögel, Petersburg, S. 353–407.

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nieure und Mitarbeiter der Zentralasiatischen Wasserbehörde war angeklagt, und einige wurden zu Haftstrafen verurteilt. Wenige Monate später fand in Moskau der berühmte Schachty-Prozess statt, in dem die Staatsanwaltschaft 56 Ingenieure und Techniker der »Spionage« und »Sabotagearbeit« in einem ukrainischen Bergwerk bezichtigte. Fünf der Angeklagten wurden zum Tode verurteilt.4 Beide Schauprozesse hatten das Ziel, Ingenieure und Techniker als »bürgerliche Spezialisten« zu verunglimpfen und zu stigmatisieren. Während dies im Schachty-Prozess gelang, verlief der Taschkenter Schauprozess anders als erwartet: Der zentralasiatische Parteiapparat unterstützte die Wasserbauingenieure mit allen Mitteln. Vor diesem Hintergrund geht es um die Frage, weshalb sich die Beziehungen zwischen den Ingenieuren und Bolschewiki in Zentralasien so positiv gestalteten und vor allem darum, welche Funktion die Ingenieure für die sowjetische Staatswerdung in Zentralasien hatten.

Im Wandel: Wahrnehmungen der »traditionellen« Bewässerung In den Tiefebenen des sowjetischen Zentralasien ähnelte die Praxis der Bewässerung in vielem derjenigen in den Nachbarbarländern Afghanistan und Persien, mit denen die Region wirtschaftlich und kulturell eng verbunden war. Hier wie dort stützte sie sich auf ein Generationen altes Erfahrungswissen im Kanalbau und ausgeklügelte kommunale Institutionen der Selbstverwaltung.5 Im Zentrum der kommunalen Selbstverwaltung standen die Wassermeister (mirab), Männer, die von ihren Kanalgemeinschaften alle zwei bis drei Jahre gewählt wurden, um sämtliche Tätigkeiten rund um die Bewässerung, besonders die Pflege und Reinigung der Kanäle, zu koordinieren. Die Hauptaufgabe eines mirab bestand darin, für die »gerechte Verteilung des Wassers zu sorgen«. Für seine anforderungsreiche Arbeit erhielt er materielle Entschädigungen und das Vertrauen der Kanalgemeinschaft, die seine Entscheidungen im Konfliktfall befolgte. Immer wieder zeigte die Arbeit der mirab, »in wie hohem Maße Wasserverteilung den Konsens aller Beteiligten voraus4 5

Graham, Ghost of the Executed Engineer. Paul, Herrscher, Gemeinwesen, S. 37–43. Fallstudie bei Planhol, »Le Repeuplement de la basse vallée afghane du Murghab«.

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setzt«. Staatliche Behörden oder staatliche Bürokratien hatten dabei traditionell allenfalls einen »geringen Einfluss«; der mirab war »ein aus der Mitte der Bauern bestimmter Mann, nicht ein staatlicher Beamter«.6 Die kommunale Selbstorganisation unterhalb der Ebene staatlicher Eingriffsmöglichkeiten spielte im Kreislauf des landwirtschaftlichen Jahres für die Erhaltung der Bewässerungsanlagen eine wesentliche Rolle. Alljährlich mussten die Wassernutzer die Holzschleusen an den Flüssen und Kanälen erneuern, neue Leitdämme bauen und die Kanäle von Sedimenten reinigen. Solche Renovierungsarbeiten waren aufwendig. Sie mussten zwischen November und März erfolgen, wenn es zwar kalt war, die Flüsse aber Niedrigwasser führten. Alle Wassernutzer waren verpflichtet, Arbeitskraft für die gemeinschaftlichen Reinigungsarbeiten (chaˇsar oder kazu) zu stellen. Die zu erbringende Arbeitslast richtete sich dabei entweder nach der Größe und Lage des bewässerten Landstückes am Kanal oder nach der Anzahl und Reihenfolge der Tage, an denen der Kanalanlieger Wasserzuteilungen erhielt. Wer mehr Arbeitskräfte stellte, konnte also auch mit einer besseren Wasserzuteilung rechnen. Andererseits erfolgte die Wasserzuteilung während der Anbausaison nicht nach starren Plänen, sondern wurde von Jahr zu Jahr per Losverfahren bestimmt.7 Trotz dieser auf den ersten Blick egalitären Verfahren war, wie sowjetische Agrarexperten Mitte der 1920er Jahre beobachteten, das »orientalische Temperament der lokalen Bevölkerung einer der Gründe dafür, wie leicht alle möglichen Streitereien« ausbrachen.8 Die sozialen Spannungen bei der jährlichen Wasserverteilung waren weniger der Tatsache geschuldet, dass es zu wenig Wasser gab, als vielmehr der Unsicherheit darüber, wo und wann Wasser zu haben war. Die drei großen Flüsse Zentralasiens, Amudaria, Serafschan und Syrdaria, speisen sich aus Hunderten kleiner Gebirgs- und Gletscherflüsse, deren Wasserpegel mit den Jahreszeiten variiert. Je nachdem, wann die Schneeschmelze in den Hochgebirgen begann, traf das Wasser in den Flussebenen zur Saatsaison im April und Mai ein. Die drei großen Flüsse waren

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Paul, Herrscher, Gemeinwesen, S. 60–61. Zum sozialen Gesamtmechanismus: Cinzerling, Oroˇsenie, S. 85–224; Guljamov, Istorija oroˇsenija, S. 268–296; Annanepsov, Chozjajstvo Turkmen, S. 87–103, 133–173; Sazonova, Tradicionnoe chozjajstvo, S. 12–25; Sarybaev, Istorija oroˇsenija, S. 80–124. Sovremennyj kiˇslak, Bd. 2: Chankinskaja volost’, S. 127.

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wasserreich, voller mineraliengesättigter Sedimente und erreichten enorme Fließgeschwindigkeiten, was die Wasserentnahme sehr schwierig machte. Bis Juni oder Juli herrschte an den Kanälen Hochbetrieb, denn die »feuchten« Anbaukulturen wie Reis, Baumwolle und Melonen mussten ebenso häufig bewässert werden wie die Obstgärten. In vielen Gegenden gab es dazu gemeinschaftlich genutzte Wasserräder (ˇcigir), mit denen die Felder, die hoch über dem Wasserniveau lagen, unabhängig vom Wasserstand bewässert werden konnten. Solche Felder waren auch den Sommerfluten weniger stark ausgesetzt. Denn in den Sommermonaten führte die Schneeschmelze zu einem dynamischen Anstieg der Flusspegel, sodass im Juli und August Überschwemmungen häufiger vorkamen. Sie konnten katastrophale Folgen haben, wenn die Kanalanlagen und Schutzdämme schlecht gepflegt oder nicht intakt waren. Dies war zum Beispiel im Sommer 1921 am mittleren Syrdaria aufgrund von Hunger, Bürgerkrieg und Landflucht der Fall, und es kam zu schweren Hochwasserschäden.9 Trotz des sowjetischen Eroberungskriegs hielt sich die bewährte Ordnung der Bewässerung an vielen Orten.10 An anderen veränderte die Revolution jedoch die Machtverhältnisse. 1926 wussten russische Agrarexperten aus Chanka (Xonqa), einer Ortschaft in der Oase von Choresm am Unterlauf des Amudaria, zu berichten, dass der gesamte Verwaltungskreis, der aus 25 Kanalgemeinschaften mit 96 Siedlungen (»Moscheen«) bestand und eine Bevölkerung von 21248 Menschen umfasste, von einer einzigen Person verwaltet wurde.11 Der Vorsitzende des Revolutionären Kreiskomitees von Chanka, Genosse Seïdow, organisierte nicht nur die Landverteilung, die Kanalreparaturen und den Einzug der Grundsteuern, sondern kümmerte sich auch um Schlichtung von Wasserkonflikten, Kreditrückzahlungen und Ehestreitigkeiten. »Er neigt dazu, die Macht des Revolutionskomitees als seine persönliche Macht zu verstehen«, berichteten die sowjetischen Experten, »aber dafür gibt es auch gute Gründe.« Denn Seïdow hatte es nicht nur vermocht, sich »mit Strenge und Gerechtigkeit« bei der Bevölkerung »Autorität und Achtung« zu verschaffen, sondern genoss auch bei den Dorfvorstehern An9 Rykunov, »Bliˇzajˇsie zadaˇci«, S. 3; Paul, Herrscher, Gemeinwesen, S. 55, 58; Asmis, Wirtschaftspionier, Tafel 30. 10 Sovremennyj kiˇslak, Bd. 3: Kitabskaja volost’, S. 231–232. 11 Sovremennyj kiˇslak, Bd. 2: Chankinskaja volost’, S. 7–8.

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erkennung und Respekt. Seine Machtfülle hing immer vom Wohlwollen der Dorfvorsteher (aqsaqal) ab: »Wenn ein aqsaqal keine Auskunft über die tatsächliche Situation in seinem Dorf geben will, dann bekommt sie auch der Vorsitzende des Kreiskomitees nicht. Die Bauern haben genau begriffen, dass der Kreisvorsitzende in ihre Dörfer kommt und wieder fortreitet, während der aqsaqal bleibt. Ihm sollte man sich nicht entgegenstellen.«12 Ein solches Feingefühl für die Verhaltensweisen und Machtstrukturen der zentralasiatischen »Bauern« (dekhqon) brachten nur die wenigsten »europäischen« Funktionäre auf. Die Mehrheit der russischen »Europäer«, ob Ingenieure, Agrarexperten oder Kommunisten, sah sich dagegen als Kulturträger in einer Welt der »Rückständigkeit« und des »religiösen Fanatismus«. In Zentralasien gebe es »keine Wahrheitssuche, keine Kritik und keinen Neid auf fremde Kulturen«, wie ein beflissener Kommunist 1926 feststellte: »In den Russen sieht der dekhqon Leute, die kultivierter, stärker und organisierter sind, was seinerseits ein Gefühl der Achtung hervorruft; auf der anderen Seite betrachtet sich jeder dekhqon als Vertreter einer von Gott auserwählten und geheiligten Nation.« Das ließe ihn an die dunkle Welt der Dörfer in Russland denken, aber die russischen Bauern hätten »einen kolossalen Vorteil gegenüber dem dekhqon«, denn sie seien »nicht von der Geschichte verdorben« und nicht, wie die Landbevölkerung Zentralasiens, »erstickt in Vorurteilen und Überbleibseln der Vergangenheit, die sie daran hindern, sich einer neuen Kultur zu öffnen«.13 Nicht nur die Mentalität der Oasenbevölkerung stellte die sowjetischen Funktionäre und ihre staatlichen Institutionen, die ihren kulturellen Einfluss und ihre Macht geltend machen wollten, vor erhebliche Herausforderungen. Noch schwieriger gestaltete sich die Durchsetzung ihres Machtanspruchs in den »Bruchzonen« der Staatlichkeit – den isolierten Hochgebirgstälern Tadschikistans oder den weitläufigen Flussdeltas am Aralsee –, wo die lokalen Bevölkerungen in »flüchtigen sozialen Strukturen« lebten und sich »mehr oder weniger freiwillig der Staatenlosigkeit angepasst« hatten.14 Im Delta des Amudaria, das von 12 Ebenda, S. 127–128. 13 Sovremennyj kiˇslak, Bd. 3: Kitabskaja volost’, S. 21, vgl. ebenda, Bd. 1: Nijazbekskaja volost’, S. 7. 14 Scott, Art of Not Being Governed, S. 18–19, 24 (Zitate), 51.

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Tausenden Flussarmen, Schilfinseln und Schwemmlandfeldern durchzogen war, konnte man beispielsweise »eine besondere Art von nomadischer Landwirtschaft« beobachten, bei der zur Bewässerung Flussarme benutzt wurden, »die von Jahr zu Jahr ihren Ort und ihre Richtung« veränderten. »Als Resultat ergibt sich eine Situation«, hieß es 1927 in einem Bericht, »dass bei drei- bis fünfjährigen Intervallen der statistischen Erfassung das vormals bebaute Kulturland mit Wasser überschwemmt ist und an den Stellen, wo vorher Flüsse und Seen waren, landwirtschaftliche Siedlungen entstanden sind.«15 Wo die Bevölkerung ruhelos, »rückständig« und »dunkel« war, mussten auch die Bewässerungssysteme voller Mängel und Defekte sein. In der Oase von Choresm, behauptete ein Agrarexperte 1923, könne man sich die »extreme Primitivität« der traditionell praktizierten Bewässerung besonders gut vor Augen führen, die »ausschließlich auf elementarer Handarbeit und einem kolossalen Arbeitsaufwand« beruhe. Einheimische Bewässerungssysteme seien weder in der Lage, den Wasserzufluss sinnvoll zu regulieren, noch darauf ausgelegt, überschüssiges Wasser effizient abzuleiten. Die Überschwemmung und Versalzung großer Anbauflächen sei der »größte und empörendste Mangel« der Oasenwirtschaft in Choresm. »Von der Malaria braucht man gar nicht zu reden«, meinte der Experte, »denn man bekommt den Eindruck, dass die Bevölkerung langsam, aber mit großer Sicherheit, an Malaria und anderen Sumpfkrankheiten aussterben wird.«16 Nicht nur in Choresm, sondern überall in Zentralasien fiel das Urteil über die Bewässerungstechniken der indigenen Bevölkerung verheerend aus. »Das existierende Kanalnetz«, berichtete 1927 ein Experte aus der Oase Karakul (Qorako’l) am Serafschan, »wurde, unbesehen seiner Komplexität und außerordentlichen Bedeutung, von der Bevölkerung mit den primitivsten Mitteln und ohne die nötigen technischen Vorrichtungen, wie Kanalschleusen und andere Anlagen, errichtet.«17 Wie tief greifend sich die Wahrnehmung der traditionellen Bewässerungstechniken im Zuge der Revolutionen und des sowjetischen Eroberungskriegs in Zentralasien verändert hatte, zeigt sich im Vergleich zu 15 RGASPI 62/2/1660, Bl. 4 (Charakteristika zemel’nych otnoˇsenij v oazisach nizovij Amu-Dar’i, 1927). 16 Zubrek, »Zemledelie i irrigacija v Chorezme«, S. 210, 213. 17 Sovremennyj kiˇslak, Bd. 11: Karakul’skaja volost’, S. 12.

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den zahlreichen Beschreibungen und Analysen aus den letzten Jahren des zaristischen Kolonialregimes. Denn bis 1917 überwog eine positive Bewertung der intensiven Bewässerungslandwirtschaft in den Flussoasen. Zwar waren sich die zaristischen Verwalter und Agrarspezialisten darüber einig, dass die Nomaden ein »wenig kultiviertes« Element in Zentralasien darstellten, und verurteilten deren »primitive« Wirtschaftsweise als »fragil« und mangelhaft, weil sie »ganz und gar vom Wohlergehen der Herden« abhänge. Der Blick auf die Oasenbevölkerung war dagegen durchgehend anerkennend, wie man 1913 aus einem weitverbreiteten populärwissenschaftlichen Werk erfahren konnte: Die »hohe Bevölkerungsdichte, ihre vergleichsweise hohe Kulturstufe und die Stabilität ihrer ökonomischen Lage« brachten im »intensiven Wirtschaftssystem« der Oasen einen »Überfluss an verschiedenartigen Landwirtschafts- und Gartenprodukten« hervor.18 In einer Fachpublikation der turkestanischen Kolonialverwaltung aus dem Jahr 1915 war über die Landwirtschaft im Amudaria-Delta zu lesen, dass sie zwar »aus technischer Sicht primitiv organisiert« sei, »aber in Hinsicht auf die sorgfältige Pflanzenaufzucht und das Niveau der Bodenausnutzung auch den am rationalsten gestalteten Landwirtschaftsbetrieben Westeuropas« in nichts nachstehe.19 Nur wenige Jahre später hatte sich diese positive Sicht in ihr Gegenteil verkehrt.

Vor Ort: Arbeit und Alltag der russischen Ingenieure Die revolutionäre Krise veränderte nicht nur die Umweltwahrnehmung und Selbstsicht der russischen Ingenieure in Zentralasien. Die neuartigen Verwaltungsstrukturen des Sowjetstaats revolutionierten auch ihren Arbeitsalltag. Ab den 1920er Jahren entstanden in allen zentralasiatischen Republiken staatliche Wasserbehörden. Sie begannen in großem Stil, russische Ingenieure »ins Feld« zu schicken und mit ihnen eine »europäische« Verwaltungsstruktur im Wassersektor aufzubauen, die von der zaristischen Militäradministration mehrfach vor 1917 angedacht,

18 Semenov-Tian-Sˇanskij, Rossija, Bd. 19: Turkestanskij kraj, S. 415. 19 Materialy po obsledovaniju, S. 259.

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aber nie konsequent umgesetzt worden war.20 Zwischen 1920 und 1926 entsandten die zentralasiatischen Wasserbehörden Hunderte Ingenieure in die regionalen Verwaltungszentren, die sich nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis mit dem Wiederaufbau und der Optimierung der Bewässerungsanlagen befassen sollten. Selbst in abgelegenen Gebieten stieg die Zahl der Behördenmitarbeiter, die fast ausnahmslos »Europäer« waren, exponenziell an. In den Bezirken und Kreisen bauten russische Ingenieure und Techniker die Wasserbehörden mit dem Ziel aus, die Tätigkeit der indigenen Wassermeister zu beaufsichtigen, die Wasserverteilung und Reparaturarbeiten zu kontrollieren und den Ausbau der funktionstüchtigen Bewässerungsanlagen voranzutreiben. Letzteres war vordringlich: Der Bürgerkrieg hatte die Hälfte der bewässerten Anbauflächen in Zentralasien zerstört, und der Baumwollanbau war um 90 Prozent eingebrochen.21 Als »Europäer« bewegten sich die Ingenieure in einem feindseligen Land, dessen Bevölkerung in Not lebte und »chronisch hungerte«.22 In den abgelegeneren Regionen, zu denen insbesondere die ehemaligen Gebiete des Emirats von Buchara und des Chanats von Chiwa gezählt wurden, gab es weder Wohnungen noch Ärzte noch ein kulturelles Leben im »europäischen« Sinn. Ohne Begleitpatrouille oder zumindest eine Feuerwaffe in der Hand war es dort auch 1926 unvorstellbar, aus den befestigten Oasenstädten aufs flache Land hinauszureiten. Die Ingenieure waren wie andere Ortsfremde Ziele für Basmatschi und Räuberbanden, wenn sie sich in Territorien vorwagten, in denen die sowjetischen Institutionen nichts zählten.23 Aber auch von den örtlichen Parteileuten und Polizisten wurden sie schlecht behandelt. Im November 1926 hieß es in einem Bericht aus Taschaus (Da¸soguz), wo die Bedingungen für die Mitarbeiter der Wasserbehörde als »außergewöhnlich schwierig« galten: »In der Regel kündigen die Bewässerungsingenieure ihren Dienst nach wenigen Monaten, oder sie laufen einfach fort, oder mit ihnen nimmt es ein schlechtes Ende. In Kunia-Urgentsch hat sich der erste diensthabende Bewässerungsingenieur erschossen, der zweite hat sich vergiftet und der 20 Hier widersprechen sich Morrison, Samarkand, S. 210–215, und Paul, Herrscher, Gemeinwesen, S. 62–63. 21 Rykunov, »Bliˇzajˇsie zadaˇci«, S. 4 mit genauen Angaben für 1922. 22 Sovremennyj kiˇslak, Bd. 2: Chankinskaja volost’, S. 15. 23 »Tragiˇceskaja gibel’«.

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dritte (Wasilenko) hat gekündigt, nachdem er auf der Polizeiwache verprügelt worden war.«24 Ob die armseligen Lebensumstände und die Gefährlichkeit ihrer Arbeit dazu beitrugen, dass viele »europäische« Ingenieure die »einheimischen« Bewässerungsmethoden verachteten und die »primitive« Technik des traditionellen Wasserbaus gering schätzten? Handelten sie im Auftrag ihrer Vorgesetzten im Parteistaat und in Moskau, die sie zu schnellen Lösungen für den Baumwollanbau drängten? Oder dachten sie als koloniale Technokraten, die ihr ganzes Vertrauen in Zwangsmaßnahmen setzten, um »Fortschritt« mit Gewalt zu erreichen? Jedenfalls versuchten die leitenden Mitarbeiter der regionalen Wasserbehörden vehement, traditionelle Regelungen der indigenen Bevölkerung zu untergraben und sich als allein Zuständige für alle Belange der Bewässerungssysteme zu behaupten. Sie wollten die alleinige Entscheidungsmacht über die Wasserverteilung, über die Wahlen der Wassermeister (mirab) und über den Umfang der jährlichen Reparaturarbeiten (kazu) erlangen. Angesichts der wenigen Mitarbeiter und der geringen Finanzausstattung der Wasserbehörden waren diese Ziele völlig illusionär.25 Dennoch müsse man, schrieb ein Ingenieur 1926, gegen die »Psychologie der Bauern« und die »geistige Trägheit« der Oasenbevölkerung »ankämpfen«. Es könne nicht angehen, »dass die Bauern, nur weil sie für ihre Arbeit keinen Lohn bekommen, auch das Recht haben, so zu arbeiten, wie es seit Jahrhunderten üblich war«.26 Ob sich die Ingenieure mit Macht gegen die »Tradition« durchsetzten oder in Kooperation mit der Landbevölkerung handelten, hing aber nicht zuletzt auch von ihren persönlichen Einstellungen ab. So führte der Ingenieur Ottendorf in der usbekischen Südprovinz Kaschkadaria (Qashqadaryo) seine Wasserbehörde im besten Einvernehmen mit der ortsansässigen Bevölkerung. Hier wurden die 356 Wassermeister des Wasserbezirks auch 1929 noch frei gewählt. Bei den Wassernutzerver-

24 GARF 3292/1/14, Bl. 251–252 (Doklad inspektora-inˇzenera B. P. Selivanovskogo, 16. 11. 1926); RGASPI 62/2/535, Bl. 152–153 (Informacionnaja svodka PP OGPU v Srednej Azii o politiko-˙ekonomiˇceskom sostojanii Srednej Azii za aprel’ mesjac 1926 g.). 25 Ausführlich Teichmann, »›Wasser ist hier wie Gold‹«, S. 83–84, 87–89. 26 GARF 3292/1/14, Bl. 246–248 (Doklad inspektora-inˇzenera B. P. Selivanovskogo, 16. 11. 1926).

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sammlungen beschloss die Bevölkerung gemeinsam mit der Wasserbehörde, welche Baumaßnahmen sinnvoll und welche Arbeitsdienste nötig waren, um die Kanalsysteme zu verbessern. Ottendorf persönlich leitete Kanalbaumaßnahmen, an denen die Oasenbewohner freiwillig und unentgeltlich teilnahmen. Selbst auf seine Forderungen nach einer Intensivierung des Baumwollanbaus reagierten die Wassernutzer positiv, wie Ottendorf zu berichten wusste, wenn die Wasserbehörde im Gegenzug mit ihrer technischen Kompetenz und mit Krediten für eine Verbesserung der Feldkanalnetze sorgen konnte. Dennoch fehlte es auch hier am Nötigsten: Nur die Hälfte der Wassermeister hatte Pferde, ihre Bezahlung war ungeregelt, die Wasserbehörde hatte ihre fest zugesagten staatlichen Kredite nicht erhalten, und es fehlte an Personal.27 Trotz aller Widrigkeiten des Arbeitsalltags teilten die meisten russischen Ingenieure die Überzeugung, in Zentralasien die Bewässerungssysteme »verbessern« und die Bewässerungswirtschaft »regulieren« zu müssen. Die Vorstellung, Zentralasien zu einer »Wiedergeburt« zu verhelfen und zum Aufbau eines neuen, starken Staates beizutragen, verlieh ihnen Energie und Tatkraft. Jeder zerstörte Kanal, der wieder in Betrieb genommen wurde, und jeder neue Kanal, der fertiggestellt werden konnte, war ein Arbeitserfolg, in dem sie auch einen Erfolg für Kultur und Fortschritt sehen wollten. »Mir scheint, dass jeder Wasserbauingenieur, der aus Europa nach Turkestan kommt, sogleich tätig werden sollte«, begeisterte sich der Ingenieur Georgi Riesenkampf 1921. »Die unendlichen Wüsten und Steppen, die sandigen, nackten, waldlosen Hänge und die Berghöhen bis zur Schneegrenze sprechen stumm davon, dass jeder Meter Land vom Menschen einen unentwegten Kampf zur Heranführung an die Kultur erfordert. Welches Ausmaß an schöpferischer Energie, physischer Kraftanstrengung und finanzieller Unterstützung wird nötig sein, um Turkestan zu erwecken!«28 Riesenkampfs pathetischer Tonfall entsprach der Weltsicht vieler russischer Wasserbauingenieure. Nachdem sie zwischen Revolution und Bürgerkrieg um ihr eigenes Überleben gekämpft hatten, bot ihnen der junge Sowjetstaat nun realistische Möglichkeiten, ihre alten Planungs27 ORMDA 218/7/8, Bl. 16–19 (Doklad Naˇcal’nika Kaˇska-Dar’inskogo Okrvodchoza N. G. Ottendorf, 24. 2. 1929). 28 Rizenkampf, Problemy oroˇsenija Turkestana (Moskau 1921), S. 5–6 (zit. n. Mamedov, Russkie uˇcënye, S. 35, 50).

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vorhaben aus der Vorkriegszeit zu verwirklichen. Die Moskauer Behörden stützten sich in ihrem Wasserbauprogramm auf die Pläne, Projekte und teilweise auch das Personal der zaristischen Behörden. Zudem stellten sie erhebliche Finanzmittel zur Verfügung, um große Kanalbauvorhaben umzusetzen. Begeisterung herrschte insbesondere beim Ausbau der Kanäle in der Hungersteppe, wo in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nach jahrzehntelangen Rückschlägen erste sichtbare Erfolge erzielt werden konnten.29 Maßgeblich daran beteiligt war der bereits erwähnte Georgi Riesenkampf, eine der schillerndsten Persönlichkeiten der sowjetischen Wasserbaugeschichte. Der 1886 in Jerewan geborene Riesenkampf hatte, wie viele »europäische« Ingenieure in Zentralasien, sein Studium am Petersburger Eisenbahn-Ingenieursinstitut absolviert. Ab 1909 arbeitete er dann in der Abteilung »Landesverbesserung« im russischen Landwirtschaftsministerium, die unter dem mächtigen Agrarminister Alexander Krivoschein die Denkfabrik für die innere Kolonisierung und den Landesausbau im Zarenreich war.30 Riesenkampf war 1912 zum ersten Mal in die Hungersteppe gekommen und hatte es dort schnell zum Leiter der ingenieurtechnischen Erkundungsarbeiten gebracht. Er war adrett, gewandt und ehrgeizig; seine Forschungsergebnisse und Pläne propagierte er offensiv. 1915 erschien ein Buch, in dem er seinen grandiosen Plan für die Neubewässerung von 591000 Hektar in der Hungersteppe detailliert darlegte. Der Weltkrieg unterbrach Riesenkampfs Tätigkeit in Zentralasien nur kurzzeitig. Schon im Frühjahr 1918 konnte er Lenin dafür gewinnen, sein Projekt in der Hungersteppe zu unterstützen und als Teil des revolutionären »Elektrifizierungsplans« zu finanzieren.31 Die Bewässerungsarbeiten in der Hungersteppe liefen darum in ganz untypischer Weise: Sie waren ein Prestigeprojekt des neuen Staates. Beim Ausbau eines Kanals im Frühjahr 1926, der auf die Gewinnung von 27000 Hektar Neuland abzielte, erhielten die einheimischen Kanalarbeiter für ihre Tätigkeit einen Lohn und wurden nicht, wie sonst üblich, unentgeltlich zum Arbeitsdienst herangezogen. Es wurde nicht nur ein Teil einer 29 GARF 3292/1/10, Bl. 140 (Protokol No. 20 Zasedanija Prezidiuma SredazE˙KOSO, 8. 2. 1927); ORMDA 756/1/1745, Bl. 15 (Informacionnoe pis’mo Upravlenija Golodno-Stepskoj orositel’noj sistemy, 31. 5. 1927); Chodˇziev, Istorija oroˇsenija, S. 72–87. 30 Holquist, »In Accord with State Interests«. 31 Mamedov, Russkie uˇcënye, S. 34–36; RGAE˙ 282/1/4b, Bl. 40–41 (Archivnaja spavka na G. K. Rizenkampf). Für die Quelle danke ich Julia Obertreis.

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einzelnen Kanalanlage umgebaut, sondern die komplexe Renovierung aller Systemelemente vorgenommen, und zwar nach den neuesten technischen Standards; die Krönung bildete eine Eisenbetonschleuse. Zudem lagen ausgereifte technische Pläne vor, die befolgt und fristgerecht umgesetzt wurden – auch das war eine Ausnahme von der Regel. Und schließlich betrug die Investitionssumme 850000 Rubel und war damit außergewöhnlich hoch: Sie entsprach zehn Prozent der Gesamtsumme aller zentralstaatlichen Finanzmittel für den Wasserbau in Zentralasien im Wirtschaftsjahr 1925/26. Durch die Umbaumaßnahmen hatten die Ingenieure in der Hungersteppe, wie sie verkündeten, mithilfe neuer Technik die vollständige Kontrolle über die ortsansässigen Wassernutzer erreicht. Die Arbeiten waren in einem Zug umgesetzt und pünktlich zum Beginn der Frühjahrssaat abgeschlossen worden. »Der Frühling ist gekommen«, jubelte ein beteiligter Ingenieur, »die Baumwollaussaat läuft.« Nur die Erbauer der Anlagen verhielten sich in seinen Augen eigenartig. »Die einheimischen Bauern feierten jeden Bauerfolg mit irgendeiner Zeremonie, die manchmal feierliche, jedoch ziemlich seltsame Formen annahm. Als sie zum Beispiel den neuen, nach zeitgemäßer Technik gebauten, Kanalkopf des Marchamat einweihten, schlachteten sie einen Hammel und bespritzten die Schleuse nach althergebrachtem heidnischem Brauch mit dem heißen Hammelblut. Mit dem Fleisch kochten sie Pilaw für die ganze Brigade.«32

Ein Revolutionär als Bürokrat: Michail Rykunow und die Zentralasiatische Wasserbehörde Ähnlich wie die russischen Ingenieure in den Oasen darum kämpften, den örtlichen Wasserbehörden Kontrolle und Einfluss in der indigenen Bevölkerung zu verschaffen, mussten auch die »europäischen« Funktionäre in Taschkent einiges aufbieten, um die Einrichtung einer überregionalen Wasserbehörde gegen Widerstände aus den zentralasiatischen Republiken durchzusetzen. Im Jahr 1920 entstand neben den

32 Dneprov, »Vozroˇzdënnaja kul’tura«, S. 130–131. Zu den Wasseropfern vgl. Snesarev, »Obrjad zˇ ertvoprinoˇsenija«.

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Wasserbehörden auf Republikebene (nacvodchozy) auch eine Zentralasiatische Wasserbehörde (sredazvodchoz). Sie war dem Zentralasienbüro, dem wichtigsten Regierungsorgan der Region, angegliedert. In der Verwaltungshierarchie der Wasserbürokratie sollte diese Behörde über den republikanischen Wasserverwaltungen stehen. Gegen diese Bestimmung liefen die indigenen Kommunisten Sturm. Im Sinne der Dekolonisierung votierten sie mehrfach gegen eine Zentralisierung der Wasserverwaltung; im Interesse der Wirtschaftsentwicklung ihrer Republiken wollten sie eigenständig über die Wasserressourcen entscheiden können. Darüber hinaus erschwerte eine Personalie die Durchsetzung der Zentralasiatischen Wasserverwaltung: Ihr Direktor, der Altbolschewik Michail Rykunow, war allseits unbeliebt. Doch Isaak Selenski, der mächtige Vorsitzende des Zentralasienbüros, förderte dessen Karriere unbeirrt. Der 1884 im Dorf Budichino im Gouvernement Kostroma geborene Rykunow war 1903 in die Partei der Bolschewiki eingetreten und hatte, wie auch Selenski, in den langen Jahren vor 1917 als Berufsrevolutionär gewirkt. Möglicherweise kannten sich beide aus Moskau, wo Selenski während der Revolution einen Stadtteilsowjet geleitet hatte, später in die Stadtparteileitung aufgestiegen war und schließlich ins Zentralkomitee gewählt wurde. Doch die beiden scheint mehr als die Partei verbunden zu haben. Selenski schlug Rykunow 1924 für den Vorsitz des »Rats für Arbeit und Verteidigung« in Turkestan vor und machte ihn, als er dies nicht durchsetzen konnte, zum Chef der Zentralasiatischen Wasserbehörde. In dieser Funktion gehörte Rykunow ab 1926 zu den zwölf Sekretären des Zentralasienbüros und zum Präsidium der wichtigsten Wirtschaftsbehörde in der Region, dem Zentralasiatischen Wirtschaftsrat. Doch nicht nur wegen der stetigen Förderung, die Selenski ihm angedeihen ließ, war Rykunow bei einigen seiner Genossen in Taschkent so unbeliebt.33 Anders als Selenski, der zielstrebig, geschickt und durchsetzungsstark agierte, war Rykunow kaum als Bilderbuch-Bolschewik zu bezeichnen. Er verfing sich schnell in Konflikten und konnte sich in den Streitigkeiten, die sein Amt als Direktor der Wasserbehörde mit sich brachte, nur selten behaupten. Weder gelang es ihm, den Zuständigkeitsbereich seiner Behörde klar von dem der republikanischen Wasserver33 RGASPI 62/2/86, Bl. 4 (Zelenskij an Kaganoviˇc, 24. 12. 1924); RGASPI 62/2/500, Bl. 117–121 (Rykunov an Zelenskij, 28. 7. 1926); RGASPI 62/2/223, Bl. 34 (Kirobkom an Zelenskij, 1. 2. 1925).

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waltungen abzugrenzen, noch war er in der Lage, gut zu führen. Außerdem nutzte er seinen Posten weidlich aus, um Freunden und Bekannten weiterzuhelfen und von jedem Kuchen auch ein Stückchen für sich selbst abzuschneiden. Seine Geliebte stellte er als Sekretärin ein, er erschien nicht bei Parteiversammlungen und holte »hoffnungsvolle Leute aus Petersburg, Moskau und Rostow« in seine Behörde, denen er viele Dienstreisen genehmigte und hohe Gehälter auszahlte.34 Umstritten war nicht nur sein persönliches Gebaren. Als es in der Zentralasiatischen Wasserbehörde 1926 zu Konflikten zwischen den »bürgerlichen« Ingenieuren und der kommunistischen Parteizelle in der Behörde kam, entließ er kurzerhand alle Kommunisten, die ihre Ideologie gegen die technische Expertise der Ingenieure eingesetzt und damit den Konflikt hervorgerufen hatten. Er habe es, rechtfertigte er seinen drastischen Schritt, »mit Hunderten von Ingenieuren und Technikern zu tun, die zu führen nicht ganz so einfach ist«.35 Rykunow führte seine Wasserbehörde in einer Weise, wie es sich die Ingenieure nur wünschen konnten. Er unterstützte ihre Forderungen, großflächige Erkundungsarbeiten durchzuführen, mechanisierte Schleusen zu bauen, Pumpstationen zu finanzieren und ambitionierte Großbauprojekte anzugehen. Für die praktische Arbeit der Wasserbehörde und ihre Finanzierung hatte er immer wieder unorthodoxe Ratschläge parat. Neben der Gründung von Wasserkooperativen und der Ausarbeitung von Fünfjahrplänen machte er sich auch dafür stark, den Finanzierungsbedarf für neue Bauprojekte aus privatem Kapital oder ausländischen Konzessionen zu decken, oder forderte, die 11000 indigenen Kanalmeister (mirab) in Zentralasien nicht von der örtlichen Bevölkerung, sondern aus Steuermitteln zu bezahlen. Auch die Arbeitspflicht bei der jährlichen Kanalreinigung – »die erzwungen wird und wenig produktiv ist« – sei in eine Geldabgabe umzuwandeln, um zuverlässige Kanalbauarbeiter rekrutieren und bezahlen zu können, statt die lokale Bevölkerung mobilisieren zu müssen.36 34 RGASPI 121/2/19, Bl. 7–8 (Zˇemˇcuˇzin an GPU, 14. 7. 1926). 35 RGASPI 62/2/500, Bl. 120–121. (Rykunow an Zelenskij, 28. 7. 1926). 36 Rykunov, »Bliˇzajˇsie zadaˇci«, S. 5–7, 10, 11. Die Forderung, die Arbeitspflicht wegen ihrer geringen Produktivität durch eine Steuer zu ersetzen, war Mitte der 1920er Jahre verbreitet, vgl. RGASPI 62/2/227, Bl. 26 (Doklad komissii STO SSSR po obsledovaniju irrigacii v Srednej Azii v 1924–25 g., 15. 4. 1926).

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Rykunows unorthodoxe Ansichten halfen ihm nicht, seine Behörde besser zu führen und sich als Amtsperson Autorität zu verschaffen. Anders als Selenski, der seinen Chefposten im Zentralasienbüro voll ausfüllte, konnte er mit keinen Erfolgen aufwarten.37 Ab Mitte 1924 versuchte er mehrmals, die Kompetenzen seiner Wasserbehörde zu stärken, scheiterte aber am Widerstand der einzelnen Sowjetrepubliken, die ihr Wasser selbst verwalten wollten. Seine Behörde konnte nicht einmal einen genauen Überblick über den Zustand der Bewässerungsanlagen gewinnen, weil die konkurrierenden republikanischen Wasserbehörden ihm keine aussagekräftigen Berichte nach Taschkent schickten.38 1925/26 unternahm er immer neue Vorstöße, um sich gegen die Republiken und ihre Wasserbehörden durchzusetzen. Doch diese wehrten sich mit allen Mitteln gegen eine zentralisierte und von Taschkent diktierte Wasserpolitik. Auch die tatkräftige Unterstützung Selenskis verhalf Rykunows Plänen nicht zum Durchbruch.39 Folglich musste die Zentralasiatische Wasserbehörde ihre Tätigkeit auf drei Bereiche beschränken. Den größten Anteil machten Erkundungsarbeiten und die Projektierung groß angelegter Bewässerungsprojekte aus. In diesem Bereich arbeiteten die meisten Ingenieure, und ihre Arbeit kostete viel Geld. Von einer Gesamtsumme von 23,7 Millionen Rubeln, die die Moskauer Regierung für das Bewässerungssystem zur Verfügung stellte, gingen 1926 10,9 Millionen Rubel an die Zentralasiatische Wasserverwaltung. Die andere Hälfte mussten sich die republikanischen Wasserbehörden von Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan teilen.40 Der zweite Arbeitsbereich war die Planung neuer Bauprojekte. Ununterbrochen entwarfen Ingenieure neue Pläne, die darstellten, wel-

37 Wie sich das Bild Zelenskijs in den Augen der zentralasiatischen Bolschewiki wandelte, zeigt Abdrachmanov, Izbrannye trudy, S. 97–98 (1928), 110–111, 118 (1930), 120–121, 138, 158 (1931). 38 RGASPI 62/2/500, Bl. 190–199 (Sostojanie vodnogo chozjajstva Srednej Azii na 1 avgusta 1926 g.); ORMDA 756/1/1761, Bl. 35 (Zam. Naˇc. UVCh Bulaevskij Naˇcal’nikam nacvodchozov, 19. 12. 1927). 39 RGASPI 62/2/223, 26–32 (Postanovlenie o razdelenii funkcij meˇzdu Sredazvodchozom i vodchozami respublik i avtonomnych oblastej, 1925); ORMDA 837/26/128, Bl. 209–211, 217, 302–303 (Protokol zasedanija Plenuma E˙konombjuro Srednej Azii, 27.–29. 5. 1926); RGASPI 62/2/500, Bl. 104–106 (Rykunov an Zelenskij, 12. 6. 1926); GARF 5446/71/74, Bl. 4 (Zelenskij an Rudzutak, 21. 1. 1927). 40 »Postanovlenie Prezidiuma Gosplana«.

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che Projekte gebaut, verändert, bezuschusst, eingestellt oder zurückgestellt werden sollten. Dies scheint ein besonders zeitraubendes Betätigungsfeld von Rykunows Behörde gewesen zu sein.41 Zum dritten Aufgabenbereich gehörte die Schlichtung von Wasserkonflikten zwischen den einzelnen Republiken. Die Zentralasiatische Wasserbehörde war für die Organisation und Beaufsichtigung der Ende 1924 und Anfang 1925 eingeführten Paritätischen Kommissionen zuständig, die Verteilungskonflikte regeln sollten. Unter dem Vorsitz eines Funktionärs der Wasserbehörde sollten sich die Konfliktparteien durch wechselseitige Absprachen über die Wasserverteilung einigen. Alljährlich musste dazu ein ganzes Bündel von Fragen verhandelt werden, zu dem nicht nur illegale Kanalbauten oder Wasserdiebstahl gehörten. Die Paritätischen Kommissionen mussten sich auch über den längerfristigen Ausbau der grenznahen Bewässerungssysteme einigen. Die lokalen Vertreter der Kommissionen hatten dafür zu sorgen, die Beschlüsse umzusetzen.42 Doch die örtlichen Verantwortlichen trugen oft wenig zur Verwirklichung der Kompromisse bei, handelten eigenmächtig oder ignorierten die erzielten Vereinbarungen.43 Auch wenn die Paritätischen Kommissionen mancherorts erfolgreiche Arbeit leisteten, setzten sie sich in der Regel mit ihren Entscheidungen nur kurzfristig durch.44 Ihre Leiter beklagten bei einem Treffen 1927 das »angespannte Verhältnis zu den örtlichen Wasserbezirken, die schwache und unzureichende Qualifikation des technischen Personals, das die grenzüberschreitenden Systeme überwacht, und die fehlende Führungsrolle der Paritätischen Kommissionen bei der Umsetzung der Wasserpläne«.45

41 RGASPI 62/2/223, Bl. 141–149 (Perspektivnyj plan 1925–1930); GARF 3292/1/5, 219–221 (Protokol soveˇscˇ anija, 29. 3. 1927). 42 RGASPI 62/2/223, Bl. 137–140 (Kratkaja instrukcija predstaviteljam nacrespublik, 1925). 43 ORMDA 756/1/1776, Bl. 3 (Doklad Vrid. Zav. Eksploatacionnogo Bjuro VChK Pander, 12. 2. 1927); ORMDA 756/1/1789, Bl. 8 (Zasedanie Paritetnoj komissii, Andiˇzan 7. 7. 1927); RGASPI 62/2/1288, Bl. 5–7 (Sredazbjuro an Makeev, 19. 1. 1928). 44 RGASPI 62/2/223, Bl. 84 (Protokol zasedanija E˙konombjuro pri UpolSTO SSSR v Srednej Azii, 21. 6. 1925). 45 ORMDA 756/1/1781, Bl. 19–21 (Protokol soveˇscˇ anija Predstavitelej Paritetnych Komissii VChK Srednej Azii i KSSR, 27. 2. 1927). Zu einem Konfliktfall zwischen Kirgistan und Usbekistan 1927 vgl. ORMDA 756/1/1785, Bl. 2–7.

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Nach zwei weitgehend erfolglosen Jahren gingen die Vertreter der Zentralasiatischen Wasserbehörde im Sommer 1927, als das Wasser im Frühjahr besonders lange auf sich warten ließ, dazu über, die Kommissionen durch sogenannte »außerordentliche Trojkas« zu ersetzen. Diese Trojkas hatten nun Weisungsrecht über die Wasserbehörden in den Republiken. Zudem kam, wie im wasserarmen Jahr 1917, eine »Wasserpolizei« zum Einsatz, um ihre Beschlüsse wenn nötig mit Gewalt durchzusetzen. 1928 ging die Zentralasiatische Wasserbehörde nach dem gleichen Muster vor: Die Regulierung der Wasserverteilung zwischen den Republiken lag wiederum nicht in den Händen von Paritätischen Kommissionen, sondern von den Trojkas, die eigenmächtig entschieden und den Republiken Anweisungen gaben, wie der Wasserfluss in den grenzübergreifenden Kanalsystemen zu regulieren sei. Anders als bei den Paritätischen Kommissionen handelte es sich bei ihnen nicht um Papiertiger. Sie verfügten über bewaffnete Polizeieinheiten, die ihren Beschlüssen den nötigen Nachdruck verliehen.46 Derweil blieb der Direktor der Zentralasiatischen Wasserbehörde Rykunow nicht untätig. Seine guten Verbindungen nach Moskau halfen ihm dabei, seiner Behörde mehr Gewicht zu verleihen. Vor allem aber spielte ihm das Glück in die Hände. Als im Sommer 1926 Jan Rudsutak in Moskau zum Politbüromitglied und Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats aufstieg, witterte auch Rykunow eine neue Chance. Seine Hoffnungen waren nicht unbegründet. Rudsutak, der zwischen 1922 und 1924 das Zentralasienbüro geleitet hatte, gehörte zu den energischsten Verfechtern einer strengen Zentralisierung des sowjetischen Staates und lag damit auf der Linie des Generalsekretärs Stalin. In seinem Portfolio im sowjetischen Ministerrat lag nicht nur die Verantwortung für die Getreideversorgung der zentralasiatischen Baumwollanbaugebiete, sondern auch für den Import von Rohbaumwolle aus dem Ausland, in den die sowjetische Regierung Mitte der 1920er Jahre jährlich Valuta im Wert von

46 ORMDA 756/1/1781, Bl. 50–51, 53 (Protokol soveˇscˇ anija po voprosu vodoraspredelenija v rajonach malovodnych sistem, 12. 7. 1927); ORMDA 756/1/1789, Bl. 2–3 (Protokol No. 162/15 zasedanija Cˇresvyˇcajnoj Trojki po rukovodstvu polivnoj kampaniej, 14. 7. 1927). Für 1928: RGASPI 62/2/1671, Bl. 29–30, 111–112, 120, 127 (Chorezm), 32–34, 39, 42–47 (Taschkent), 96, 100, 102, 116 (Andiˇzan), 108, 129, 133–134 (Buchara).

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100 Millionen Rubeln investierte.47 Der neu berufene Minister strebte angesichts seiner neuen Aufgaben in Moskau einen verlässlicheren Zugriff auf die Wirtschaftslenkung in Zentralasien an. Im Zentrum seines Interesses stand der Baumwollanbau. Da die Regierungen der betroffenen zentralasiatischen Republiken gegen jedwede Zentralisierungsversuche Moskaus opponierten, verhandelte Rudsutak erst gar nicht mit ihren Vertretern. Stattdessen berief er im Juni 1926 eine geheime Kommission ein, die mit der Gründung eines »Zentralasiatischen Wirtschaftsrats« betraut wurde. Die neue Behörde sollte in Taschkent arbeiten, aber ihre Mitglieder wurden von der Moskauer Regierung berufen. Als eine überregionale Wirtschaftsregierung sollte der Wirtschaftsrat über den eigentlich zuständigen Ministerräten der zentralasiatischen Republiken stehen. Die Moskauer Regierung stattete den Wirtschaftsrat mit Finanzhoheiten aus, um dem neuen Staatsorgan ein gebührendes Gewicht zu verleihen.48 Rykunow nutzte die Gunst der Stunde. Er setzte bei Rudsutak die Schaffung eines »Bewässerungskomitees« durch, das in Moskau als eine Mischung von Lobbyorganisation und Beschaffungsstelle für das zentralasiatische Bewässerungswesen arbeiten sollte. Ab August 1926 hatte es die Aufgabe, Informationen über Bewässerungsarbeiten in der Sowjetunion zu sammeln, Bauprojekte in der komplexen Bürokratie der Staatlichen Plankommission durchzusetzen und die Finanzaufsicht über laufende Projekte zu führen. Institutionelles Kernstück des Bewässerungskomitees war sein Technischer Beirat, der alle größeren Bauprojekte prüfen und genehmigen sollte.49 Ihm gehörten Ingenieure und Universitätsprofessoren wie Iwan Moskwitinow, Nikolaj Mastizki, Aleksander Panpulow, Nikolaj

47 GARF 5446/71/47, Bl. 10–14 (Importplan für das dritte Quartal des Wirtschaftsjahrs 1925/26, 28. 4. 1926). Damit machte der Einkauf von Baumwolle 20 Prozent des sowjetischen Rohstoffimports aus. 48 GARF 5446/71/31, Bl. 2 (Soverˇsenno sekretnyj protokol zasedanija komissii po voprosu ob organizacii Sredne-Aziatskogo E˙konomiˇceskogo Soveˇscˇ anija, 26. 6. 1926). Die Mitglieder der Geheimkommission waren Rudzutak, Kviring, TerAgiarzar’jan und Sˇvernik. Zur raschen Umsetzung des Beschlusses in Taschkent vgl. ORMDA 837/26/128, Bl. 503–512 (Protokol Plenuma Sredne-Aziatskogo E˙konomiˇceskogo Soveta, 30. 7.–5. 8. 1926), zu den Aufgaben der neuen Organisation: GARF 3292/1/2, Bl. 11–12 (Poloˇzenie CIK i SNK SSSR o Sredne-Aziatskom E˙konomiˇceskom Sovete, 21. 11. 1926). 49 GARF 3292/1/2, Bl. 1–3 (Postanovlenie SNK SSSR »Poloˇzenie ob Irrigacionnom Komitete pri SNK SSSR«, 17. 8. 1926).

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Jaschgunowitsch und Fjodor Morgunenkow sowie die Wirtschaftswissenschaftler Anatolij Predtetschenski und Wladimir Kutscherbajew an. Als Vorsitzender des Technischen Beirats fungierte Georgi Riesenkampf. Riesenkampfs Einfluss bewirkte, dass der Beirat mehrheitlich aus Ingenieuren bestand, die vor 1917 ihren Abschluss am renommierten Eisenbahn-Ingenieursinstitut in St. Petersburg gemacht und, wie er selbst, ihre praktischen Erfahrungen in Zentralasien gesammelt hatten. Den Beiratsmitgliedern eröffnete ihre Gutachtertätigkeit nicht nur persönliche Einflussmöglichkeiten. Sie profitierten auch von den damit verbundenen Gehaltszulagen in Höhe von 450 bis 500 Rubeln. Michail Rykunow kam als nomineller Stellvertretender Vorsitzender des Bewässerungskomitees ebenfalls nicht zu kurz. Neben einem Zusatzgehalt ermöglichte ihm die Arbeit regelmäßige Dienstreisen zwischen Taschkent und Moskau. Entscheidend aber war, dass ihm die Gründung des Bewässerungskomitees in Moskau ermöglichte, seine Wasserbehörde in Taschkent zu stärken. Nunmehr konnte er von Moskau aus gegen die zentralasiatischen Republiken agieren und sie zwingen, sich seinen Entscheidungen unterzuordnen. Darüber hinaus verfügte er nun über einen erheblichen Etat. Als im Oktober 1926 in Moskau der Festakt zur Gründung des Bewässerungskomitees stattfand, hatte Rykunow sein Ziel scheinbar erreicht.50 Er konnte nicht ahnen, dass er schon wenige Monate später dem Haftrichter vorgeführt werden würde.

Scheitern im Wasserbau: Das Fiasko am Usboj Unter dem Slogan »Mit dem Gesicht zum Dorf« erreichte die bauernfreundliche Politik der Bolschewiki 1926 ihren Höhepunkt. Die sowjetische Regierung investierte hohe Summen in die Landwirtschaft.51 Davon profitierte nicht zuletzt die Bewässerungswirtschaft in Zentralasien. Viele russische Ingenieure und die Mitarbeiter der Wasserbehörden erlebten eine goldene Zeit, sie strotzten geradezu vor Enthusiasmus und Tatkraft. Durch Forschungsreisen und Erkundungsmissionen erwarben sie neues und profunderes Wissen über die zentralasiatischen Flüsse, Bö50 GARF 3292/1/2, Bl. 13–15 (Pis’mo Predsedatelja Irrigacionnogo Komiteta A. P. Smirnova, Oktober 1926). 51 Wehner, Bauernpolitik; Heinzen, Inventing, S. 168–170.

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den und Gebirge. Ihre Arbeit wurde von den Bolschewiki in Taschkent und in den Republikhauptstädten protegiert, und in ihren Schreibtischschubladen warteten ehrgeizige Bauprojekte auf ihre Verwirklichung. Wer Einfluss und Verbindungen hatte, ging nun daran, sich lang gehegte Träume zu erfüllen. Einer davon war, den legendären Fluss Usboj wiederzubeleben. Angeblich hatte der Amudaria, bevor er seinen Weg zum Aralsee gefunden hatte, sein Wasser durch die Karakumwüste ins Kaspische Meer geführt.52 Überreste des alten Flussbetts wurden überall in der turkmenischen Wüste entdeckt. Die Idee, den Amudaria durch die Karakumwüste umzuleiten und damit einen schiffbaren Handelsweg bis nach Indien zu schaffen, hatte Peter den Großen schon 1716 fasziniert. Der Zar schuf damit eine Legende, die russische Entdecker und Ingenieure immer wieder anspornte, das fragliche Gebiet zu erkunden und kühne Pläne zu schmieden. Im Zuge der Eroberung Zentralasiens durch die zarische Armee unternahmen russische Militärgeografen erste Expeditionen. 1879 reiste der aus Petersburg verbannte Großfürst Nikolaj Konstantinowitsch Romanow an den Amudaria und begeisterte sich für das Vorhaben, den Fluss in den sagenumwobenen Usboj umzuleiten.53 Als General Alexander Gluchowskoj 1881 den Unterlauf des Amudaria erkundete und 1893 seinen Expeditionsbericht veröffentlichte, schienen die Diskussionen um das gewagte Projekt zunächst beigelegt: Gluchowskojs Vorschläge seien ein »klares Beispiel für einen erstaunlichen Irrtum«, schrieb ein zeitgenössischer Rezensent und forderte, dass der General »für solche Berichte der Justiz übergeben« und sein Buch »für immer und ewig verboten werden« müsse, da es »schädliche und lügenhafte Gedanken« enthalte.54 Doch die Diskussion brach nicht ab. 1908 schlug der Ingenieur Ermolajew vor, die turkmenischen Oasen von Merw und Tedschen durch Wasser aus dem Amudaria zu beleben. »Die Bewässerung der leeren Landflächen«, meinte er, »kann nur mit Wasser aus dem Fluss Amudaria geschehen, dessen Bewässerungstätigkeit im Vergleich zu der Wassermasse, die dieser Fluss führt, verschwindend gering ist.«55 Bis Mitte der 1920er Jahre 52 Dass es sich um eine Legende handelte, zeigt Tolstov, Auf den Spuren, S. 318–331. 53 Pravilova, »Reka imperii«, S. 435, 445. Zu den zahlreichen Expedition der 1870er und 1880er Jahre vgl. Mamedov, Russkie uˇcënye, S. 14–23. 54 Zit. n. Pravilova, »Reka imperii«, S. 451. 55 Ermolaev, Propusk vod r. Amu-Dar’i, o. S. (Einleitung).

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konkretisierten sich die Planungen zur Bewässerung der KarakumWüste. Dabei kristallisierten sich zwei Möglichkeiten heraus. Wladimir Zinserling schlug 1924 eine nördliche Variante für den Wüstenkanal vor, der im Deltagebiet des Amudaria bei Kunia-Urgentsch beginnen sollte. Fjodor Morgunenkow projektierte dagegen eine südliche Variante, die bei Kerki anfangen und das Wasser bis zum Usboj bringen sollte.56 Wessen Projekt sich durchsetzen würde, war nicht nur eine Frage der Finanzierung, sondern auch von persönlichen Verbindungen und erfolgreicher Lobbyarbeit. Für beides hatte Morgunenkow bessere Karten. Zinserling und Morgunenkow hatten eine ähnliche berufliche Biografie. Vor der Revolution arbeitete Wladimir Zinserling, wie auch Georgi Riesenkampf, als Ingenieur für die Abteilung »Landesverbesserung« des Petersburger Landwirtschaftsministeriums. Zwischen 1913 und 1917 nahm er an fünf Erkundungsexpeditionen an den Amudaria teil und absolvierte außerdem ein Praktikum beim Imperial Valley Irrigation Service in Kalifornien. Als Experte für den Amudaria war er zeitweise Chefingenieur der Erkundungsmission für das Flussbassin. Zinserling gehörte zu den fachkundigsten Kritikern von Fjodor Morgunenkow.57 Dieser hatte 1906 sein Studium am Eisenbahn-Ingenieursinstitut abgeschlossen und war zwei Jahre im Eisenbahnbau tätig, ehe er im Bewässerungswesen zu arbeiten begann. Morgunenkow leitete Erkundungsmissionen in der Oase von Taschkent und in der Karakum-Wüste. Während des Weltkriegs arbeitete er in der Hungersteppe, wo er Georgi Riesenkampf kennenlernte, der ihn fortan protegierte. Deshalb war er auch im Technischen Beirat des Moskauer Bewässerungskomitees und galt in diesem Kreis als »der wichtigste Erkundungsforscher der Sowjetunion im Bereich des Bewässerungsbaus«. Schließlich erhielt er das Amt des leitenden Ingenieurs für die Bewässerungsarbeiten in Turkmenistan.58 Vor dem Hintergrund seiner herausgehobenen Position konnte Morgunenkow Fakten schaffen. 1924 nahm er den Plan Ermolajews von

56 Cinzerling, Oroˇsenie na Amu-Dar’e, S. 337–448. 57 Ebenda, S. I, VIII, 356–357, 370–385. 58 ORMDA 756/1/1750, Bl. 11 (Spisok sotrudnikov UVCh Srednej Azii); GARF 3292/1/2, Bl. 14 (Pis’mo Predsedatelja Irrigacionnogo Komiteta A. P. Smirnova, Oktober 1926); RGASPI 62/2/1446, Bl. 85 (Protokol zasedanija Ispolbjuro kom’jacˇ ejki Vodnogo Chozjajstva Srednej Azii sovmestno s aktivom, 31. 5. 1928). Zur »offiziellen« Biografie Morgunenkovs vgl. Mamedov, Russkie uˇcënye, S. 87–89.

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1908 wieder auf und setzte mit Unterstützung der turkmenischen Parteiführung und Regierung neue Erkundungen in der Karakum-Wüste auf die Tagesordnung. Auch die Spezialisten der Moskauer Staatlichen Planungskommission unterstützten die Erkundungsarbeiten. Im Sommer 1925 fand eine Expedition statt, und schon bald entstand ein Projekt. Die Ausschachtung des Kanals sollte im Winter 1925/26 beginnen.59 Weil ihr Projekt viele Gegner hatte, nannten es die Bauherren nicht mehr Usboj, sondern gaben ihm den neutralen Namen »Kanal Bassaga-Kerki«. Die Bauarbeiten leitete Morgunenkow zusammen mit einem alten Bekannten, Sergej Iwanowitsch Syromjatnikow, den er aus der Hungersteppe kannte. Obwohl sich das Genehmigungsverfahren in Moskau auch noch Mitte 1926 in der Schwebe befand, begannen die vorbereitenden Arbeiten schon Anfang des Jahres. Morgunenkow hatte in der turkmenischen Regierung genügend Unterstützer, die Gelder genehmigten, damit zunächst der Bau der »unstrittigen Abschnitte« vorangetrieben werden konnte.60 Im Februar begannen die Erdarbeiten, die jedoch nicht allzu glücklich verliefen. Die Stützkonstruktionen in der Baugrube konnten dem Wüstensand nicht standhalten. Kurz nachdem im März 1927 starke Winde eingesetzt hatten, verschwand der Kanalschacht unter Sanddünen. Um das Bauwerk zu retten, bewiesen die Ingenieure Mut. Sie ließen eine provisorische Schleuse am Amudaria installieren, um wenigstens die intakten Kanalabschnitte pünktlich zur Aussaat für die Bewässerung nutzen zu können. Alsbald stellte sich heraus, dass die provisorische Schleuse zu leicht sein würde, um der reißenden Frühjahrsflut des Amudaria standzuhalten. Die kritischen Stimmen mehrten sich. Doch die Arbeiten an der Schleuse schritten unbeirrt voran. Am 17. April 1927 fand ihre festliche Einweihung statt. Sie wurde mit einem Transparent geschmückt, auf dem der Slogan »Wasser für die Bauern, Baumwolle für die Stadt, Fabrikwaren für alle« zu lesen war. Sogar die Moskauer Zeitungen berichteten, wenn auch fälschlicherweise, von der »ersten zeitgemäßen Beton-Schleusenkonstruktion am Amudaria« und feierten einen nichtvorhandenen Kanal, der »Wasser in die Wüste bis zum Usboj, dem alten Flussbett des Amudaria« transportieren würde. Darin, so vermel59 GARF 3292/1/5, Bl. 61 (Zakljuˇcenie po voprosu vodochozjajstvennych rabot, 1. 8. 1925). 60 ORMDA 756/1/1745, Bl. 6–7 (Doklad o resul’tatach poedzki v Kerkistroj, 24. 5. 1927). RGASPI 62/2/1289, Bl. 161 (Obvinitel’noe zaklujˇcenie, 18. 1. 1928).

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deten die Moskauer Zeitungen, bestehe die »politische Bedeutung des Kerki-Kanals für die Sowjetunion und über ihre Grenzen hinaus«.61 Die provisorische Schleuse hielt genau drei Wochen. Als Mitte Mai das erste Frühjahrshochwasser die Stadt Kerki erreichte, riss es die Holzkonstruktion mit sich fort und überflutete den mühevoll errichteten Kanal. Solcherlei Katastrophen hatten keinen Seltenheitswert. Auch an Flüssen, die leichter beherrschbar waren als der »launische« Amudaria, scheiterten Ingenieure häufig. Ausgerechnet ein Kanal mit dem Namen »Isaak Selenski« stellte sich beispielsweise als Fehlkonstruktion heraus: Der Kanal wurde im Zuge der Landreformen 1926 im Ferghanatal gebaut und sollte sechstausend Hektar Neuland bewässern, auf dem landlose Neubauern angesiedelt werden sollten. Allerdings hatten die Ingenieure vor Baubeginn keine bodenkundlichen Untersuchungen durchführen lassen. Nach drei Jahren mussten auch sie einsehen, dass sie versucht hatten, »reine Salzböden« zu bewässern. »Einige Bauern haben drei Mal auf diesen Böden gesät, und die Aussaat ging trotzdem ein. Nur vier bis fünf Prozent der Neubauern konnten ihr Land auch kultivieren.«62 Doch für die Ingenieure hieß Arbeiten im Wasserbau, aus dem Scheitern zu lernen und es beim nächsten Versuch besser zu machen. In der Hungersteppe, wo die Leiter und Planer des Kerki-Kanals ihre ersten praktischen Erfahrungen gesammelt hatten, war diese Vorgehensweise gang und gäbe gewesen. 1927 war jedoch der Erfolgsdruck ungleich höher. Jeder Fehler konnte skandalisiert und zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden. Nicht nur die Baumwollorganisationen drängten auf die Ausweitung der Bewässerungsflächen, sondern auch die zentralasiatischen Kommunisten, um im Zuge der Landreformen neu gewonnene Anbauflächen an die Bauern verteilen zu können.63 Das Fiasko am Usboj musste also Konsequenzen nach sich ziehen.

61 RGASPI 62/2/1289, Bl. 167 (Obvinitel’noe zaklujˇcenie, 18. 1. 1928). Den zitierten Artikel druckte die Izvestija am 23. 4. 1927. 62 ORMDA 837/26/289, Bl. 139 (Stenografiˇceskij otˇcet fakcionnogo zasedanija SNK UzSSR, 2. 4. 1928). Über einen ähnlichen Fall berichtete die Pravda Vostoka im Februar 1928, vgl. Cˇokaj-ogly, Turkestan pod vlast’ju, S. 116–117. 63 RGASPI 62/2/1289, Bl. 215 (Dunaev an Gikalo, 5. 3. 1928); ORMDA 837/26/289, Bl. 237, 241–242, 247–248 (Stenografiˇceskij otˇcet soveˇscˇ anija otvetstvennych rabotnikov Andiˇzanskogo okruga s uˇcastiem tov. Fajzulla-Chodˇzaeva, 15. 3. 1928).

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Politik der Zerstörung: »Rationalisierung« und ein Schauprozess gegen »bourgeoise Spezialisten« Auch in der »sozialistischen« Sowjetunion der 1920er Jahre gehörte die Haushaltspolitik zu den entscheidenden Hebeln der zentralstaatlichen Machtausübung. Darum kündigte sich ein folgenschwerer Politikwechsel an, als Sergo Ordschonikidse, ein enger persönlicher Vertrauter Stalins, im November 1926 die Leitung des Moskauer »Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauern-Inspektion« (NKRKI oder Rabkrin) übernahm. Er verwandelte das Kommissariat, dessen Aufgabe in der Kontrolle aller Organisationen des Parteistaats bestand, in eine Art sowjetischen Rechnungshof. Mit den Schlagworten »Rationalisierung« und »Selbstfinanzierung« leitete Ordschonikidse eine rigorose Sparkampagne mit dem Ziel ein, alle staatlichen Finanzreserven für Investitionen in die Industrialisierung freizusetzen. In seinem Kampf gegen »Bürokratismus« und »Formalismus« erteilte er der Finanzhoheit aller staatlichen Behörden in der Sowjetunion eine Kampfansage.64 Im Frühherbst 1926 war die Zentralasiatische Wasserbehörde im Zuge einer Routineüberprüfung erstmals ins Visier der Arbeiter- und Bauern-Inspektion geraten. Ordschonikidse nutzte die Ergebnisse der Überprüfung, um den Druck auf die Wasserbehörde zu verstärken. Im Februar 1927 ordnete er eine Finanzrevision für das gesamte Bewässerungswesen in Zentralasien an.65 Die eingesetzte Findungskommission legte wenige Wochen später einen Bericht vor, der den Wasserbehörden ein verheerendes Zeugnis ausstellte. Die »Bewässerungsarbeiten, deren Hauptziel eine Ausweitung der Bewässerungsflächen für den Baumwollanbau« sein sollte, hieß es in dem Bericht, seien von einem »riesigen, kriminell aufgeblasenen Verwaltungsapparat« ineffizient durchgeführt worden. Der Mitarbeiterstab in den verschiedenen Wasserbehörden Zentralasiens sei zwischen 1924 und 1926 von 3018 auf 4286 Angestellte, also um 42 Prozent angewachsen. Ein Projekt, das besondere Kritik auf

64 Rees, State Control, S. 144–149. 65 GARF 3292/1/10, Bl. 139 (Protokol No. 5 zasedanija Kollegii NKRKI SSSR, 17. 2. 1927). Weil es um sehr viel Geld ging, waren bei der Sitzung, die zwischen 22.00 und 23.30 Uhr stattfand, Zelenskij, Rykunov und die Direktoren der republikanischen Wasserbehörden anwesend.

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sich zog, war der Kanalbau am Usboj, »ein klares Beispiel für Planlosigkeit und kriminelle Unwirtschaftlichkeit«. Der Bericht hatte gravierende Folgen. Ordschonikidse ordnete an, den Stellenplan der zentralasiatischen Wasserbehörden um 50 Prozent zu kürzen. Zudem entband er Michail Rykunow von seinem Direktorenposten. Auch die Chefs der republikanischen Wasserbehörden von Usbekistan und Turkmenistan, Alexander Mor und Nikolaj Prochorow, mussten ihren Hut nehmen. Damit nicht genug. Der Fall wurde der Staatsanwaltschaft übergeben, die weitergehende Ermittlungen einleiten sollte.66 Gegen diese Entscheidung liefen die zentralasiatischen Republiken Sturm. Allen voran protestierte der turkmenische Regierungschef Kaigysyz Atabajew gegen die Sparbeschlüsse und die Kassation von bereits zugesagten Kreditlinien.67 Insbesondere die Kürzung des Personaletats stieß auf Widerstand. Atabajew teilte dem Moskauer Ministerrat mit, dass die »Einsparungen im Bereich des örtlichen technischen Personals an den Knotenpunkten der Bewässerungssysteme und bei der Überwachung der hydrotechnischen Anlagen zu Störungen in der Wassernutzung, zur Austrocknung der Baumwollsaaten, zur Verringerung der Ernteerträge und zur maßgeblichen Schädigung der Kanalanlagen führen« würden.68 Die Moskauer Regierung ignorierte diesen Protest. Rykunow versuchte nur noch, wenigstens die eigene Haut zu retten. Doch am 22. März 1927 wurde er von seinem Direktorenposten entbunden und am 20. April verhaftet. Sein Bewässerungskomitee wurde am 6. Mai 1927 aufgelöst und seine Aufgaben an die Wassersektion der Staatlichen Plankommission übergeben.69 Als Anfang Mai 1927 der Amudaria die Schleuse des Kerki-Kanals zerstörte, erhielt das Ermittlungsverfahren der Moskauer Staatsanwaltschaft gegen die zentralasiatischen Wasserbehörden neue Nahrung. Hinzu kam die Veränderung der politischen Großwetterlage in Moskau.

66 GARF 3292/1/10, Bl. 184 (Protokol No. 7 zasedanija Kollegii NKRKI SSSR, 3. 3. 1927). 67 GARF 3292/1/25, Bl. 124 (Atabaev und Paskuckij an Ordˇzonikidze, 11. 4. 1927). 68 GARF 3292/1/36, Bl. 6 (Atabaev an SNK SSSR, 30. 4. 1927). 69 GARF 3292/1/8, Bl. 48–56 (Protokol No. 3 Zasedanija Plenuma Irrigacionnogo Komiteta pri SNK SSSR, 17. 3. 1927); GARF 3292/1/57, Bl. 5–7; RGASPI 62/2/1289, Bl. 212 (Personalakte M. V. Rykunov); GARF 3292/1/4, Bl. 156 (Protokola No. 212 Zasedanija SNK SSSR, 10. 5. 1927).

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Die Moskauer Parteiführung schwor 1927 ihrer landwirtschaftsfreundlichen Politik ab und bündelte ihre Kräfte für die Industrialisierung. Im Zuge dieses Politikwechsels gerieten die Ingenieure und technischen Spezialisten ins Visier Stalins. Statt sie für die bevorstehende Industrialisierung zu gewinnen, initiierte die Parteiführung eine Pressekampagne, die »bourgeoise Spezialisten« unter den Generalverdacht der Staatsfeindlichkeit und Schädlingstätigkeit stellte. Ein wichtiges Instrument im Kampf gegen diese sollten öffentliche Schauprozesse sein, über die in der Presse detailliert berichtet wurde.70 Der Prozess gegen die zentralasiatischen Wasserbehörden fand im Februar und März 1928 in Taschkent statt und war der erste in einer langen Serie von sowjetischen Schauprozessen gegen »bourgeoise Spezialisten«. Der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs der Sowjetunion, Antonow-Saratowski, reiste eigens nach Taschkent, um die Verhandlungen zu führen und dem Prozess politisches Gewicht zu verleihen. Auf der Anklagebank saßen neben Michail Rykunow die ehemaligen Direktoren der Wasserbehörden von Usbekistan und Turkmenistan Mor und Prochorow sowie ihre Stellvertreter. 18 der 23 Angeklagten waren allerdings Ingenieure, die für die zentralasiatischen Wasserbehörden gearbeitet hatten.71 Die Staatsanwaltschaft konzentrierte sich besonders auf Sergej Syromjatnikow, den glücklosen Baudirektor des Kerki-Kanals. Im Verlauf des Prozesses wurde sein Scheitern am Usboj ausführlich dargestellt. Für die meisten Angeklagten gingen die Verhandlungen am Ende glimpflich aus. Doch Syromjatnikow bekam sechs Jahre Gefängnis. Auch Rykunow und Mor wurden wegen »Verschwendung staatlicher Mittel und Betrugs« zu sechs Jahren verurteilt.72 Interessanter als der öffentliche Gerichtsprozess gestaltete sich das Geschehen hinter den Kulissen. Die zentralistischen Parteiführer verbündeten sich mit den Ingenieuren. Gerüchte, Hinterzimmergespräche und Petitionen nahmen ein Ausmaß an, dass man vermuten kann, die

70 Bailes, Technology and Society, S. 141–187; Schattenberg, Stalins Ingenieure, S. 85–107. Speziell zu Zentralasien: Payne, Stalin’s Railroad, S. 99–125. 71 RGASPI 62/2/1289, Bl. 189–203 (Priveˇcënnye k sledstviju v kaˇcestve obvonjaemych). 72 RGASPI 62/2/1289, Bl. 105 (Spisok lic, poleˇzaˇscˇ ich privleˇceniju k sledstviju po delu Vodchoza). Die beste Prozessbeschreibung bei Cˇokaj-ogly, Turkestan pod vlast’ju, S. 113–127.

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Verantwortlichen in Taschkent wollten den Prozess in einer konzertierten Aktion untergraben. Schon während des Ermittlungsverfahrens hatten die Ingenieure starken Widerstand gezeigt. Im Herbst 1927 kam es zu massenhaften Kündigungen und Drohungen gegen die neu eingesetzten Direktoren der Wasserbehörden. Die Ingenieure organisierten gewerkschaftlichen Widerstand und protestierten gegen propagandistische Zeitungsartikel, die ihre Arbeit verunglimpften. Selbst Mitglieder der Moskauer Regierung, wie Alexej Rykow und der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Gleb Krschischanowski, zeigten sich besorgt.73 In Taschkent traf sich kurz vor dem Ende des Prozesses der neue Direktor der Zentralasiatischen Wasserbehörde Isaak Reingold mit dem Richter und dem Staatsanwalt, um schon vor der Urteilsverkündung Schadensbegrenzung zu betreiben.74 Doch kündigten immer mehr Ingenieure ihre Stellen in den Wasserbehörden, sodass deren Betrieb im Frühjahr und Sommer 1928 nur mühsam aufrechterhalten werden konnte. Als Kündigungsgrund gaben sie die niedrigen Gehälter und die Streichung aller Großprojekte an, für die sie sich am meisten interessierten.75 Die Parteiführer in den Republiken und die Funktionäre des Zentralasienbüros zeigten Verständnis für die Frustration der Ingenieure und waren ebenso unzufrieden mit den Streichungen und Kürzungen. Zudem konnten sie keinen qualifizierten Ersatz für diejenigen finden, die Zentralasien verließen. Die neu ankommenden jungen sowjetischen Spezialisten, die schlecht ausgebildet und unerfahren waren, stießen in den republikanischen Wasserbehörden und Regierungen auf Ablehnung, »weil viele von ihnen von karrieristischen Zielen gelenkt sind und sich für die Praxis als schlechter erweisen könnten als die alten Spezialisten«.76 Selenski veranlasste deshalb, dass die meisten der im März 1928 verurteilten Ingenieure im August freikamen und ihre Arbeit in den Wasserbehörden wieder aufnehmen konnten. Auch

73 RGASPI 62/2/1289, Bl. 215–216 (Dunaev an Gikalo, 5. 3. 1928); RGASPI 62/2/1289, Bl. 8 (Protestschreiben von 37 Ingenieuren, 21. 2. 1928). 74 RGASPI 62/2/1289, Bl. 217 (Rejngol’d an Gikalo, 5. 3. 1928). 75 RGASPI 62/2/1288, Bl. 9 (Spravka GPU o nastroenii specialistov vodnych organov, 7. 2. 1928); RGASPI 62/2/1288, Bl. 3–4 (Koˇskarev an Atabaev, 1. 4. 1928); »O cˇ ëm smysl prigovora«, in: Pravda Vostoka vom 1. 4. 1928, S. 1; M. Vul’, »O chozjajstvennike i specialste«, in: Pravda Vostoka vom 5. 4. 1928, S. 2. 76 RGASPI 62/2/1289, Bl. 215 (Dunaev an Gikalo, 5. 3. 1928).

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Sergej Syromjatnikow kam neun Monate nach dem Prozess wieder auf freien Fuß.77 Der Taschkenter Prozess beförderte unerwartete politische Allianzen zwischen den bolschewistischen Parteileuten und den technischen Spezialisten. Er bewirkte, was schwerer wog, dass sich in Taschkent und in Moskau Angst ausbreitete, die zu Passivität und Lähmung führte. Die Ingenieure, die in der Wassersektion der Moskauer Staatlichen Plankommission arbeiteten und eigentlich Baugenehmigungen erteilen und Finanzpläne bewilligen sollten, mochten schon während der Ermittlungen 1927 keine Entscheidungen über neue Projekte mehr treffen. Besonders mit dem Kerki-Kanal taten sie sich schwer, und niemand wollte ein Votum abgeben, obwohl der Neubau einer Schleuse dringend geboten war.78 Um die nötigen Genehmigungen zu erreichen, entsandte das Zentralasienbüro einen Bevollmächtigten nach Moskau, der Isaak Selenski in geheimen Telegrammen regelmäßig über den Stand der Dinge in der Planungsbehörde unterrichtete. »Die Wassersektion«, schrieb dieser im März 1928 an Selenski, »ist jetzt nicht nur ein verlassener Ort, sondern etwas Metaphysisches, das nur im Bewusstsein von Krschischanowski, von Ihnen, von mir usw. existiert – so wie gewisse Symbole in den Dramen Bloks, mit dem Stempel des Strafgesetzbuches auf dem Leib. Nichts zum Teufel tun die, sie sammeln nur Unterlagen für den nächsten Besuch des Staatsanwalts zusammen. Traurig, aber wahr.«79 Der Prozess gegen die zentralasiatischen Wasserbehörden hatte sowohl für die betroffenen Personen als auch für die beteiligten Institutionen schwerwiegende Folgen. Über die gesamte institutionelle Struktur, die das zentralasiatische Bewässerungswesen verwaltete, finanzierte und managte, legte sich eine lähmende Angst, sodass Selenski sich in Moskau über die »ausschließlich formale, bürokratische Haltung« der Regierungsbehörden beschwerte, die, wie er es diplomatisch ausdrückte, »manchmal an eine Verschleppung der Lösung von Fragen grenzt, die mit der Bewässerung in Zentralasien verbunden sind«.80 Unter dem

77 RGASPI 62/2/1288, Bl. 35–36 (Podnek an Zelenskij, 4. 9. 1928); GARF 374/27/1525, Bl. 27 (Vinokurov und Antonov-Saratovskij an Ordˇzonikidze, 2. 1. 1929). 78 RGASPI 62/2/1671, Bl. 6 (Zelenskij an Ordˇzonikidze und Krˇziˇzanovskij, Februar 1928). 79 RGASPI 62/2/1289, Bl. 12 (Fel’dman an Zelenskij, März 1928). 80 RGASPI 121/2/121, Bl. 52 (Zelenskij an Ordˇzonikidze, 21. 4. 1928).

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Schlagwort der »Rationalisierung« verbreiteten Ordschonikidse und seine Mitarbeiter in der Arbeiter- und Bauern-Inspektion Angst und Verunsicherung, untergruben institutionelles Vertrauen und beförderten die Entstehung von Chaos und Unordnung. Dagegen war nicht erkennbar, wie durch die »Rationalisierung« institutionelle Abläufe reibungsloser gestaltet und bürokratische Verfahren erleichtert werden sollten.81 Mit inhaltlichen Argumenten und einer Flut von Beschwerdebriefen versuchte sich Selenski gegen diese Politik Moskaus zur Wehr zu setzen. Der Aufbau der zentralasiatischen Wasserbehörden war, ebenso wie die Rekonstruktion der kriegszerstörten Bewässerungssysteme, ein mühevoller Prozess gewesen. Die russischen Ingenieure, die sich im Wasserbau spezialisierten, nahmen ihre neue Rolle gern an, als Pioniere der sowjetischen Staatlichkeit zu fungieren. Dabei machten sie aus ihrer Ablehnung der traditionellen Bewässerungstechniken und der Oasenbevölkerungen, in deren Mitte sie lebten und arbeiteten, keinen Hehl. Die Wasserbehörden boten ihnen ein institutionelles Gerüst, innerhalb dessen sie sich gegen die Widerständigkeit der indigenen Bevölkerung behaupten konnten. Der Parteistaat ermöglichte ihnen zudem, große Projekte anzugehen und mit neuen Konstruktionstechniken zu experimentieren. Georgi Riesenkampfs Einfluss bewirkte einen nie da gewesenen Boom im zentralasiatischen Wasserbau, der Tausende Ingenieure in Lohn und Brot brachte. Wie die Kanalbauten in der Hungersteppe und am Usboj zeigten, handelte es sich bei den Neubauten der Ingenieure um technische Experimente, die gelingen oder misslingen konnten. Versuch und Irrtum waren ein wesentlicher Teil der Ingenieursarbeit. Durch dieses einfache, wenn auch kostspielige Verfahren entstanden neues technologisches Wissen und ingenieurtechnische Innovationen.82 Als Ordschonikidse und seine Mitarbeiter begannen, an den russischen Ingenieuren in Zentralasien ein Exempel zu statuieren, endeten die goldenen Zwanzigerjahre für die Spezialisten. Der Taschkenter Schauprozess setzte dafür ein öffentlichkeitswirksames Zeichen. Die Solidarisierung zwischen Bolschewiki und Spezialisten, die das Zentralasienbüro unter Isaak Selenski vehement vorantrieb, konnte

81 RGASPI 85/27/457, Bl. 1 (Zelenskij an Ordˇzonikidze, 14. 3. 1928). 82 Liel/Billington, »Engineering Innovation«.

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nichts daran ändern, dass die Politik der Unordnung 1928 erstmals einen wirkungsvollen Treffer im für Zentralasien essenziellen Bewässerungssektor erzielte. Selenskis vergebliche Versuche, in dieser institutionellen Krise eine Neuordnung einzufordern, mussten scheitern, weil es Ordschonikidses offensichtliches Ziel war, die institutionellen Zusammenhänge und individuellen Netzwerke zu zerstören.83 Sein enger Mitarbeiter Dmitri Lebed feierte in einem Brief an seinen Vorgesetzten die Tatsache, »dass wir in diesem Jahr viel unternommen haben, was dem Sowjetapparat ganz und gar unangenehm ist und sich manchmal auch auf das Führungspersonal auswirkt, insbesondere beim Stellenplan«. Lebed zeigte sich überzeugt, »dass der Widerstand des Apparats noch lange nicht gebrochen« sei und die »Frage der Rationalisierung des Sowjetapparats« in der Zukunft »entschiedener als bisher angegangen« werden müsse.84 Ordschonikidse und Lebed setzten radikale und destruktive Gestaltungsmittel ein, um ihr Ziel zu erreichen. Ihre Machtpolitik, die auf Unordnung beruhte, nahm keine Rücksicht auf die konkreten Folgen ihrer administrativen Entscheidungen für die Bewässerungswirtschaft oder den Baumwollanbau. Proteste aus den zentralasiatischen Republiken übergingen sie ebenso geflissentlich wie die konstruktiven Vorschläge aus Selenskis Zentralasienbüro. Der innovative Kern ihres Vorgehens bestand in der Störung von bürokratischen Verfahren, indem sie Vertrauen und Erwartungssicherheit untergruben. Bewusst setzten sie finanziellen Druck, ideologische Drohungen und juristische Sanktionen ein, um Angst und Verunsicherung zu verbreiten. Unter dem Deckmantel der »Rationalisierung« etablierten sie eine neuartige politische Hierarchie, die auf dem politischen Prinzip der Willkür beruhte. Als 1928 schließlich auch Stalin begann, sich mit dem Baumwollanbau in Zentralasien zu befassen, nutzte er Ordschonikidses Erfahrungen mit der Politik der Unordnung, um die sowjetische »Baumwolloffensive« zu initiieren.

83 Fitzpatrick, »Ordzhonikidze’s Takeover«, S. 156–157, 162. 84 RGASPI 85/27/210, Bl. 8 (Lebed’ an Ordˇzonikidze, 6. 9. 1928).

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5 Eine Zeit der Wirren – Forcierter Baumwollanbau und Kollektivierung, 1929 –1932

In den kurzen Jahren zwischen Bürgerkrieg und Kollektivierung nahmen der Ausbau der Bewässerung und der Baumwollanbau einen bemerkenswerten Aufschwung. Schenkt man den sowjetischen Statistiken Glauben, gelang es in Usbekistan bis 1928, das kriegszerstörte und vernachlässigte Kanalnetzwerk größtenteils wiederherzustellen. Zwar erreichte die bewässerte Anbaufläche nur 80 Prozent des Vorkriegsniveaus, die Bevölkerung kultivierte jedoch auf dieser Fläche über 40 Prozent mehr Baumwolle als im Vergleichsjahr 1913. Die Rohbaumwollernte belief sich 1928 auf 554800 Tonnen und übertraf den Jahresertrag von 1913 um fast 40000 Tonnen. Die Investitionen der Moskauer Regierung zum Wiederaufbau der zentralasiatischen Bewässerungswirtschaft hatten sich ausgezahlt. Nach den offiziellen Angaben waren zwischen 1925 und 1928 insgesamt 61,4 Millionen Rubel in die usbekische Wasserwirtschaft geflossen. Diese Summe umfasste Investitionen in Kanalbauten, Technik, Erkundungsexpeditionen und Personalkosten, Kleinkredite und Startkapital für Wassernutzer-Kooperativen.1 Doch weder die Bevölkerung Usbekistans noch die indigenen Kommunisten waren über diese Entwicklung glücklich. In einigen Bezirken des Ferghanatals standen 70 Prozent des Ackerlands unter Baumwolle, während der Anbau von Nahrungsmitteln stetig abnahm. Die staatlichen Landwirtschaftsbehörden drängten den Reis- und Getreideanbau massiv zurück. Reisfelder, hieß es beispielsweise, seien trockenzulegen, um die Malariagefahr zu reduzieren.2 Infolge dieser Maßnahmen traten wieder häufiger ernsthafte Nahrungsmittelengpässe auf.3 Zudem erzeugte die Baumwoll-Monokultur im Ferghanatal ähnlich starke soziale 1 2 3

Abdunabiev, Iz istorii, S. 77, 84, 89–90; Thurman, »The Command-Administrative System«, S. 7–9. ORMDA 218/7/8, Bl. 67 (Objazatel’noe postanovlenie Andiˇzanskogo okruˇznogo ispolnitel’nogo komiteta, 20. 2. 1929). Soverˇsenno sekretno, Bd. 7, S. 349.

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Ungleichgewichte wie der vorrevolutionäre Baumwollboom. Die Hauptlast schulterten arme und kreditabhängige Kleinbauern, die fast ihr ganzes Land mit Baumwolle bepflanzen mussten.4 Zur ihrer strukturellen Armut trug maßgeblich das staatliche Baumwollmonopol bei. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war der private Zwischenhandel ausgeschaltet worden, 95 Prozent der Erträge kauften die staatlichen Baumwollorgane zu festgesetzten Niedrigpreisen auf.5 Viele zentralasiatische Kommunisten, wie der usbekische Parteiführer Akmal Ikramow, erkannten, wie viel Sprengkraft der zunehmende Widerstand gegen die expandierende Baumwollwirtschaft besaß. Nicht nur »bürgerliche Nationalisten«, stellte er fest, sondern auch »Mitglieder unserer Partei« beurteilen die »Entwicklung des Baumwollanbaus so, dass Usbekistan als Baumwollbasis der Sowjetunion jetzt zu einer ›roten Kolonie‹ wird, und sie finden unsere Politik deshalb falsch«. Ikramow berichtete auch, was seine Parteigenossen der Bevölkerung im Ferghanatal in ihren öffentlichen Reden verkündeten, nämlich, »dass der Usbeke ohne Pilaw nicht leben kann und dass wir ihn ökonomisch unterdrücken« oder »dass, wenn es in Russland eine Missernte gibt, kein Getreide mehr für uns da sein wird und wir die Ersten sein werden, die hungern«.6 Jeder, der die katastrophale Hungerkrise der Jahre 1918 bis 1923 miterlebt hatte, konnte diese Befürchtungen leicht nachvollziehen. Ikramow war nicht der einzige hohe Parteifunktionär, der zu einem vorsichtigen Umgang mit der Landbevölkerung mahnte. Isaak Selenski schrieb 1928 einen ausführlichen Brief an Stalin, in dem er mitteilte, dass der »Charakter der zentralasiatischen Landwirtschaft einen eigenen Typus darstellt, den es sonst nirgendwo in der Sowjetunion gibt«, und der sozialistische »Umbau der Landwirtschaft« nicht zuletzt deshalb »besondere Umsicht« erfordere, weil sie die sowjetische Industrie mit dem überaus wertvollen Rohstoff Baumwolle beliefere.7 Stalin setzte sich jedoch mit seiner »Baumwolloffensive« über alle zentralasiatischen Bedenkenträger hinweg. Im Zuge seines Industrialisierungsprogramms, des Ersten Fünfjahresplans 1928 bis 1932, gab er den Moskauer Wirtschaftsbehörden vielmehr die Anweisung, die Produk4 5 6 7

RGASPI 17/113/725, Bl. 40 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929). Sevast’janov, »K voprosu«, S. 265–267. RGASPI 17/113/725, Bl. 8–9 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929). RGASPI 558/11/735, Bl. 32–33 (Zelenskij an Stalin, 29. 4. 1928).

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tion von Rohbaumwolle in Zentralasien zu vervielfachen. Die Sowjetunion sollte von den teuren Baumwollimporten unabhängig werden und sich autark mit dem Rohstoff versorgen können. Diese Planvorgaben stießen sowohl bei der Bevölkerung als auch bei den Funktionären Zentralasiens auf große Widerstände. Dennoch wurde die »Baumwolloffensive« im Herbst 1929 gestartet, initiiert von denselben Funktionären, die sich nur wenige Monate zuvor in Moskau über die Ausbreitung der Baumwollmonokultur und den sowjetischen Kolonialismus beklagt hatten. Wie lässt sich dieser Sinneswandel erklären? Wie gelang es Stalin, sein Wirtschaftsprogramm durchzusetzen, und wie veränderte die »Baumwolloffensive« die Institutionen des sowjetischen Parteistaats in Zentralasien?

Von der Getreidekrise zur Kollektivierung, 1928 –1929 Als Stalin im Januar 1928 seine berüchtigte Reise nach Sibirien unternahm, hielt er eine Rede, in der er erstmals öffentlich erklärte, warum er das sowjetische Industrialisierungsprogramm mit einer Terrorkampagne gegen die Landbevölkerung begann.8 Aus seiner Sicht war die sowjetische Wirtschaft aus dem Tritt geraten, weil die Bauern absichtlich ihr Getreide und andere Erzeugnisse vom Markt zurückhielten. Den Industriestädten mangle es aus diesem Grund an Nahrungsmitteln, und »wo es dem Arbeiter schlecht geht, beginnt die Arbeitsproduktivität zu leiden«. Gleichermaßen litten die zentralasiatischen Baumwollgebiete unter Getreidemangel und unablässig steigenden Preisen. »Der Getreidepreis vervielfacht sich«, führte Stalin aus, »was eine Schwächung der Baumwollproduktion nach sich zieht. Aber das ist ein Schlag gegen unsere gesamte Industrie. Wir haben ohnehin zu wenig Baumwolle und müssen sie für über 100 Millionen Rubel im Ausland einkaufen. Wenn die Baumwollproduktion wegen der Vervielfachung der Getreidepreise fällt, beginnt unsere Industrie zu lahmen. Und wir haben nicht allzu viele Gegenden, wo Baumwolle angebaut werden kann.«9 8 9

Ausführlich zu Stalins Sibirienreise: Hughes, »Capturing the Russian Peasantry«; Il’inych, Chroniki chlebnogo fronta, S. 184–253; Kotkin, Stalin, S. 661–723. RGASPI 558/11/118, Bl. 76 (Stenogramma kustnogo soveˇscˇ anija predstavitelej partijnych i sovetskich organizacij Barnaul’skogo, Bijskogo i Rubcovskogo rajonov s

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Aufgrund dieser einfachen Diagnose setzten Stalin und mit ihm weitere Mitglieder des Politbüros alle Institutionen des sowjetischen Parteistaats in Bewegung, um den Bauern in Russland und der Ukraine ihre Getreidevorräte mit Gewalt abzunehmen. Die Dörfer wurden, wie Molotow es ausdrückte, »ausgequetscht«.10 Wie Räuberbanden überfielen »Arbeiterbrigaden« und »Sonderbevollmächtigte« die Dörfer, raubten Getreidevorräte von den Höfen und erpressten von den Bauern Kontributionen.11 Gleichzeitig rief die Moskauer Parteiführung einen »Klassenkampf« gegen die Landbevölkerung aus. Die Angriffe der Parteiführung zielten auf »Kulaken« und »Wohlhabende« in den russischen Dörfern, denen vorgeworfen wurde, die »Dorfarmen« auszubeuten, ihre Erträge vom Markt zurückzuhalten und den sowjetischen Staatsaufbau zu sabotieren.12 Die Zeitungen füllten sich mit Hasspropaganda gegen die »Blutsauger des Dorfes« und popularisierten den Aufruf Stalins zur »Liquidierung der Kulaken als Klasse«.13 Aber die Beschaffungskampagnen richteten sich nicht nur gegen »Kulaken«, sondern gegen die gesamte Bauernschaft. Stalin sprach von »Tributzahlungen«, die man den Bauern abnehmen müsse, um die Fabriken, die Armee und den Behördenapparat des Sowjetstaats zu finanzieren.14 Seine größte Sorge sollte ab 1928 sein, wie man »den Bauern vor die Deichsel des Staates spannen kann, damit wir bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben nicht auf beiden Beinen lahmen«.15 Mit der »Getreidebeschaffung« und der aus dieser hervorgehenden »Kollektivierung der Landwirtschaft« warf Stalin alle ihm verfügbaren Mittel in die Waagschale, um seinen Herrschaftsbereich zu vergrößern. Dabei verfolgte er nicht nur das Ziel, Millionen Kleinbauern dem Zugriff der staatlichen Institutionen zu unterwerfen. Er wollte auch den Staatsapparat selbst gefügig machen. Darum erklärte er die »Getreidebeschaffung« zur Kernaufgabe der Kommunisten Partei. Nicht nur die Kommu-

10 11 12 13 14 15

uˇcastiem general’nogo sekretarja CK VKP[b] tov. Stalina, 22. 1. 1928). Seine Rede hielt Stalin vor lokalen Funktionären. In der Presse wurde sie nicht veröffentlicht. Sto sorok besed s Molotovym, S. 376–378. Schnell, Räume des Schreckens, S. 449–453, 513–527. Viola, Peasant Rebels, S. 13–44. Plaggenborg, »Gewalt und Militanz«. Kotkin, Stalin, S. 710. RGASPI 558/11/1117, Bl. 15 (Reˇc’ Stalina na soveˇscˇ anii pri CK VKP[b] juˇznych oblastej po voprosam uborki uroˇzaja i zagotovok, 20. 5. 1933).

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nisten in den Städten, den Bastionen des sowjetischen Staates, sondern auch die Parteimitglieder auf dem flachen Land sollten sich aktiv an der »Getreidebeschaffung« beteiligen. Stalin war sich bewusst, dass die Dorfkommunisten nicht freiwillig an den Gewaltkampagnen teilnehmen würden, wenn sie sich gegen ihre Nachbarn und Freunde richteten. Darum drohte er ihnen, dass »keine Ausreden und keine Abweichungen« geduldet werden würden. »Jetzt zeigt sich, wer ein echter Kommunist ist und wer nur daherredet wie ein Kommunist«, meinte er 1928 und fuhr fort: »In einer Phase, in der wir Druck auf die Bauernschaft machen, müssen wir den Aufruhr innerhalb der Parteiorganisationen auch dazu benutzen, unseren ganzen Staatsapparat zu verbessern. Wir sind keine Partei von Agitatoren, sondern die Partei, die die Macht hat und die die Gesetze macht. Wenn wir unsere eigenen Gesetze nicht durchsetzen, wird kein Bauer sie befolgen. Denn Macht haben wir, soviel wir wollen, aber uns fehlt die Fähigkeit, diese Macht auszuüben.«16 In der Tat versetzte Stalins Sibirienreise die lokalen Parteichargen ebenso in Aufruhr wie die Parteispitze. Weggefährten und Verbündete Stalins, insbesondere der russische Ministerpräsident Alexej Rykow und der Chefredakteur der Parteizeitung Prawda Nikolaj Bucharin, die sich als prominente Vertreter des bauernfreundlichen Kurses einen Namen gemacht hatten, wandten sich offen gegen den Politikwechsel des Generalsekretärs. Da beide langjährige Mitglieder des Politbüros waren, bekam die Opposition gegen Stalins Kurs der »Getreidebeschaffung« und Kollektivierung eine gewichtige Stimme. Stalin setzte sich jedoch gegen diese sogenannte »rechte Opposition« ebenso durch wie gegen alle anderen Skeptiker und Bedenkenträger. Dabei assistierten ihm Molotow und Ordschonikidse tatkräftig. Im Zuge der innerparteilichen Auseinandersetzungen musste das bisherige Spitzenpersonal des Landwirtschaftsministeriums das Feld räumen wie auch einige Direktoren der Staatlichen Plankommission.17 Im Kampf gegen die »rechte Opposition« spielte Stalins Kontrolle der sowjetischen Geheimpolizei eine entscheidende Rolle: Er war das einzige Politbüromitglied, das über alle Aktivitäten des Geheimdienstes direkt unterrichtet wurde. Er allein konnte seine Moskauer Genossen

16 RGASPI 558/11/118, Bl. 81–82 (Stenogramma kustnogo soveˇscˇ anija, 22. 1. 1928). 17 Heinzen, Inventing, S. 145–179; Kiseleva, »Cˇistka gosudarstvennogo apparata«.

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von Leibwächtern beobachten und von Spitzeln beschatten lassen, und er bestimmte darüber, welches Politbüromitglied über welche Tätigkeiten des Geheimdienstes informiert wurde und welches nicht.18 Und dennoch konnte er, wie er 1928 in Sibirien selbst gesagt hatte, Macht haben, soviel er wollte, wenn er diese Macht nicht auszuüben vermochte. Obwohl er einen gewaltigen Behördenapparat dirigierte, eine starke Geheimpolizei lenkte und eine große Parteiorganisation leitete – also überlegene Gewaltmittel in seinen Händen hatte –, war sein tatsächlicher Herrschaftsbereich eng begrenzt. Das Machtdilemma, in dem Stalin sich befand, kann man unterschiedlich interpretieren. Man kann, wie der Historiker Manfred Hildermeier, davor warnen, dass die »prinzipiell unbeschränkte, wenngleich in der Praxis nicht allgegenwärtige Herrschaft der Parteiführung« nicht zu »Fehlvorstellungen von einer ›gut geölten‹ Staatsmaschinerie und allgegenwärtiger zentraler Kontrolle« führen darf.19 Man kann, wie es der Soziologe Trutz von Trotha tat, in abstrakteren Begriffen formulieren, dass bei der Durchsetzung von staatlicher Herrschaft »die Akkumulation von Machtchancen in der Form des staatlichen Herrschaftsapparats und bestimmter Monopolisierungen von Macht und Aufgaben« nicht notwendigerweise »mit Verfestigungsprozessen zusammenfallen«.20 Man kann auch wie der Politologe Karl August Wittfogel darauf hinweisen, dass die »Wirksamkeit staatlicher Kontrolle« nicht nur von der »politischen und fiskalischen Stärke der regierenden Gewalt« abhängt, sondern auch »von der Möglichkeit, Befehle und Befehlshaber den untergeordneten Zentren der Macht zuzuleiten«, weil es für den zentralen Herrschaftsapparat »sehr schwierig« sei, die »niederen Beamten völlig zu kontrollieren«.21 Die meisten Analysen von Stalins Kollektivierungspolitik gehen bezeichnenderweise davon aus, dass ihr Hauptziel in der »Kontrolle« über die Landbevölkerung und die agrarische Produktion bestand. Weil der stalinistische Staat eine rigide Disziplinierung der Bevölkerung angestrebt habe, die er durch Terror und Gewalt erreichte, sei während der

18 19 20 21

Kotkin, Stalin, S. 687. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 194, 367. Trotha, Koloniale Herrschaft, S. 3. Wittfogel, Die orientalische Despotie, S. 86.

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Kollektivierung eine neue staatliche Ordnung entstanden.22 Wenn man aber nicht vom »Kontrollproblem« ausgeht, sondern »Willkür« zur zentralen Untersuchungskategorie macht, kann man Stalins Herrschaftsdurchsetzung auch anders interpretieren, und seine »Revolution von oben« erscheint in einem anderen Licht: Seine Entscheidung von 1928, die »Getreidebeschaffung« mit Gewalt durchzusetzen, war weder ökonomisch notwendig noch wirtschaftlich rentabel.23 Sie war willkürlich. Auch die Kollektivierung der Landwirtschaft beruhte auf einer Reihe arbiträrer Entscheidungen und stürzte die sowjetische Staatswirtschaft in eine existenzbedrohende Krise.24 Stalin nutzte seine Machtposition konsequent, um sein prioritäres Ziel, die schnellstmögliche Industrialisierung und die militärische Aufrüstung der Sowjetunion, zu erreichen.25 Aber es war die Willkürlichkeit seiner Entscheidungen, die die Prioritäten der Moskauer Parteiführung bestimmte, die Form der staatlichen Institutionen veränderte und die Staatsverwaltung bis zur untersten Ebene fragil und störanfällig machte. Willkür entsteht, wie der Soziologe Gerd Spittler es treffend beschreibt, wenn eine einzige Person in der Machtposition ist, Entscheidungen von Fall zu Fall und Person zu Person zu treffen, und zudem die Möglichkeit hat, ihre Befehle mit überlegenen Gewaltmitteln durchzusetzen. Entscheidend für diese Form der Machtausübung ist, dass den Herrscher die Bevölkerung nur in ihrer Rolle als Lieferant von Steuern und Abgaben (»Tributen«) interessieren muss. Informationen über die Lebensumstände der Untertanen sind für ihn nebensächlich oder irrelevant. Auch versucht er nicht, sich und seine Handlungen vor der Bevölkerung zu legitimieren. »Willkür zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie nicht alle Umstände berücksichtigt, sondern sich nur nach dem Willen des Herrschers richtet«, führt Spittler aus. »Der Despot entscheidet, dass eine Person so und so viel Abgaben entrichtet, ohne dass er sich dabei um die Vermögensverhältnisse kümmern muss. Eine despotische Agrarverwaltung entscheidet, dass Bauern in einem Gebiet Baumwolle anbauen müssen,

22 Viola, The Unknown Gulag, S. 185–192. 23 Lewin, Making of the Soviet System, S. 165–173; Allen, From Farm to Factory, S. 173. 24 Davies/Wheatcroft, Years of Hunger; Hessler, A Social History, S. 135–196; Osokina, Our Daily Bread. 25 Davies, »Industry«, S. 143–147.

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ohne dass sich die Verwaltung um die Bodenverhältnisse und um die Konkurrenz zu anderen Anbauprodukten kümmern muss.«26 Stalins Herrschaft beruhte auf einem vergleichbaren Mechanismus. Seine Entscheidungswillkür ging immer mit Drohungen und Gewalt einher. Alternative Kontrollmittel wie Legitimität und Information fehlten ihm weitgehend. Darum war der Aktionsradius seiner Herrschaft eng beschränkt, und seine Herrschaftsausübung beruhte auf permanenten Machtdemonstrationen. Gewalt setzte er nicht nur systematisch gegen die Landbevölkerung ein, um Ressourcen aus ihr herauszupressen, sondern auch gegen die eigenen Untergebenen. Selbst Freunde, Vertraute und enge Mitarbeiter unterlagen seinem persönlichen Gewaltregime, das immer wieder demonstrieren musste, wer der Herr im Hause war. Weil seine Entscheidungen Einzelfallentscheidungen waren, auch wenn sie von den Behördenapparaten oder der Parteiorganisation durchgesetzt wurden, lebte die Bevölkerung in permanenter Unsicherheit. Zukunftsplanung war »für Herrscher und Beherrschte schwierig, wenn nicht unmöglich«.27

Stalins »Baumwolloffensive«, 1929 Stalins Kurswechsel setzte in allen Regionen und Republiken der Sowjetunion eine komplexe Neuverteilung der Macht in Gang. In Usbekistan gingen diese Veränderungen nach dem gleichen Muster vor sich wie in den anderen nationalen Sowjetrepubliken.28 Zuerst sorgten »verantwortliche Parteiarbeiter« und »Instrukteure«, die das Moskauer Zentralkomitee in die nationale Republik entsandte, für Unruhe in den Führungszirkeln. Nikolaj Gikalo und Maxim Ammosow nutzten die persönlichen Rivalitäten innerhalb der usbekischen Elite, um die »europäischen« und »einheimischen« Kommunisten gegeneinander auszuspielen. Gleichzeitig begannen in den regionalen Parteiorganisationen groß angelegte »Säuberungen«. Durch die damit verbundenen Entlassungswellen und Stellenkürzungen wurden auch die Abläufe in den Ministerien, Behörden und Bildungseinrichtungen gestört. Nach dem 26 Spittler, »Despotismus«, S. 63. 27 Ebenda, S. 61. 28 Baberowski, Der Feind, S. 396–410, 503–506.

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Schauprozess gegen die Mitarbeiter der Zentralasiatischen Wasserbehörde schritt in dieser die administrative Umstrukturierung mit besonderer Vehemenz voran.29 Denn auch die Wasserpolitik war vom Kurswechsel Stalins betroffen. Noch im Mai 1929 versicherte Lasar Kaganowitsch, ein Zentralasienveteran, der inzwischen zum Sekretär des Moskauer Zentralkomitees aufgestiegen war, den usbekischen Parteiführern ausdrücklich, dass die Bewässerung in Zentralasien weiterhin höchste Priorität genießen würde. »Es ist nicht unsere Politik, dass wir aus den nationalen Republiken der Peripherie nur eine Rohstoffbasis für unsere Industrie machen, denn eine solche Politik würde nach Kolonisierung riechen.« Die Anschuldigung, dass »wir dort eine kolonisatorische Politik betreiben«, sei aus der Luft gegriffen und »natürlich falsch«. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall, machte Kaganowitsch klar: »Während früher, in der Zarenzeit, alle Ausgaben für die Bewässerung als schwere Last allein auf der Bevölkerung lagen, steht jetzt die Bewässerung im Dienst der Bevölkerung. Sie wird mit staatlichen Mitteln ausgebaut, und auf ihrer Grundlage entwickelt sich der Baumwollanbau. Und das verstehen einige lokale Parteiarbeiter eben nicht. Mir scheint, dass die Bewässerung jetzt der Hauptbereich in Usbekistan ist. Natürlich sollten wir die Industrie entwickeln, aber trotzdem scheint für Usbekistan jetzt die Bewässerung als der Hauptbereich, auf den man zählen muss und der den Wiederaufbau der Landwirtschaft im ganzen Land ermöglicht.«30 Kaganowitsch gab also den usbekischen Führern ein deutliches Signal, dass sie sich auf eine kontinuierliche Politik im Bereich der Wasserwirtschaft verlassen könnten. Zwar musste die Baumwollkultivierung weiter ausgebaut werden, aber die Produktionssteigerung sollte dadurch erfolgen, dass zusätzliches Land bewässert und neue Anbauflächen gewonnen würden. Zeitgleich befasste sich jedoch das Moskauer Politbüro mit der Umstrukturierung der sowjetischen Textilindustrie und kam zu einem ganz anderen Ergebnis: Die Baumwollproduktion müsse um jeden Preis gesteigert werden, um die Textilproduktion erhöhen zu können. Es war keine Rede mehr davon, dass dies verstärkter Investitionen in die Bewässerung bedürfe. Die erste Priorität und der »Hauptbereich« sollte jetzt 29 RGASPI 62/2/1446, Bl. 82–89 (Protokol zasedanija Ispolbjuro kom. jaˇcejki Vodnogo chozjajstva Srednej Azii, 31. 5. 1929). Vgl. NKRKI v bor’be, S. 84–85. 30 RGASPI 17/113/725, Bl. 55–56 (Zasedanie Orgbjuro CK VKP[b], 8. 5. 1929).

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die Baumwolle sein und nicht, wie Kaganowitsch (der entweder nichts über den neuen Baumwollkurs wusste oder sein Wissen verschwieg) behauptete, die Bewässerung. Dann ging auf einmal alles ganz schnell: Am 11. Juli 1929 hörte das Politbüro auf einer Sitzung, zu der auch Fajzulla Chodschajew eingeladen war, den Bericht des Moskauer Baumwollhauptkomitees. Die Politbüromitglieder monierten, dass dessen Planungen den Anforderungen der Industrialisierung nicht genügten. Noch immer müssten 40 Prozent des sowjetischen Baumwollbedarfs aus dem Ausland bezogen werden, die jährlich mit 100 bis 120 Millionen Rubel zu Buche schlugen. Angesichts knapper Devisen, die in die teure Ausrüstung der Industrie gesteckt werden sollten, schien dieser Zustand unhaltbar. Die Sowjetunion sollte endlich »Baumwollunabhängigkeit« erreichen. Eine Politbüro-Kommission unter Leitung von Sergo Ordschonikidse arbeitete die Beschlussvorlage des Baumwollhauptkomitees um. Nach einer Woche Arbeit, am 18. Juli 1929, legte die Kommission ihre Pläne vor. Das Politbüro beschloss, die Produktion von Rohbaumwolle bis zum Zieljahr 1932 auf 48 Millionen Pud (787300 Tonnen) zu steigern.31 Was diese unrealistische Zahl für die Baumwollerzeugung in Zentralasien bedeutete, konnte man sich ausrechnen. Aber je genauer man sich mit den Details und absehbaren Folgen beschäftigte, desto mehr vergrößerten sich die Probleme. Isaak Selenski, der sich im Mai 1929 noch offen gegen die weitere Expansion des Baumwollanbaus ausgesprochen hatte, ging im August 1929 von folgendem Szenario aus: Von den anvisierten 48 Millionen Pud (787300 Tonnen) Rohbaumwolle mussten 44 Millionen Pud (720720 Tonnen) in Zentralasien erzeugt werden. Dementsprechend hatten die Ernten bis 1932 jährlich um ein Drittel zu steigen. Der Ertrag je Hektar hatte zeitgleich um 40 Prozent anzuwachsen. Um genügend Platz für Baumwolle zu schaffen, sollten 300000 Hektar Getreideund Reisanbauflächen in Baumwollland umgewandelt werden. Gleichzeitig musste die bewässerte Landfläche um eine Million Hektar zunehmen, um weitere 700000 Hektar Baumwolle anpflanzen zu können. Zudem sollte eine Viertelmillion bäuerlicher Kleinproduzenten in Kolchosen und Sowchosen zusammengefasst werden. Diese Rechnung würde, wie Selenski darlegte, ohne die Mechanisierung der Landwirt-

31 Abdunabiev, Iz istorii, S. 94–96; Rees, State Control, S. 187–190.

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schaft nicht aufgehen: Deshalb müssten bis 1932 13000 Traktoren nach Zentralasien geliefert, 20000 Menschen zu Traktoristen und Mechanikern ausgebildet sowie 50 zusätzliche Baumwollmühlen gebaut werden. Weil durch die Einschränkung der Getreideproduktion nicht mehr genug Viehfutter vorhanden sein würde, müssten Pferde und Ochsen durch 10000 Automobile ersetzt werden. Doch Zahlen waren nur die eine Seite; das Hauptproblem waren die Menschen. »Bei der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft wird«, wie Selenski feststellte, »der starke Mangel an Kadern genauso eine Rolle spielen wie das ausschließlich niedrige Kulturniveau der Baumwolle erzeugenden Bauern.«32 Hinter diesen Zahlen offenbarte sich tiefe Ratlosigkeit, als sich die Mitglieder des Zentralasienbüros im August 1929 besprachen. Selenski blieb während der Lagebesprechungen bei allgemeinen Aussagen, wie die immensen Aufgaben bewältigt werden konnten. »Wenn wir Bolschewiki sind«, führte er aus, »dann kann es, wenn das Zentralkomitee einen Beschluss fasst und eine Direktive schickt, keinerlei Diskussionen und keinerlei Zweifel mehr geben. Solange noch kein Beschluss da ist, kannst du ruhig zweifeln, aber wenn ein Beschluss da ist, dann mobilisier deine Leute. So kann man ja nicht leben, dass man sich selbst nicht mobilisiert.«33 Diese Selbstbeschwörung klang alles andere als bolschewistisch. Der durchsetzungsfähige Altbolschewik Selenski kämpfte, als es um die Umsetzung der Baumwollbeschlüsse ging, sichtlich mit Erschütterung. Und er schnitt die Frage an, wie es sich in Zukunft mit dem Problem der »Ausbeutung« der ohnehin schon armen Baumwollproduzenten verhalten würde. Die »Beendigung der Ausbeutung« könne erst dann verwirklicht werden, meinte Selenski, »wenn wir zum nächsten Schritt des Aufbaus des Kommunismus übergehen«. Unter den konkreten Umständen in Zentralasien, wo der Baumwollanbau und die Reinigung der Bewässerungssysteme in zeitraubender Handarbeit erledigt werden müssten, sei eine Mechanisierung der Landwirtschaft anzustreben, sodass »70 Prozent der Arbeitsprozesse« von Maschinen erledigt werden könnten. Dann, so schloss Selenski, seien die »Hauptelemente zur Beseitigung der

32 Zelenskij, »Novaja chlopkovaja programma«, S. 11. 33 RGASPI 62/2/1819, Bl. 19 (Stenografiˇceskij otˇcet soveˇscˇ anija Sredneaziatskogo partaktiva uzkogo sostava, 8. 8. 1929).

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Armut« gegeben: »Wir werden die charakteristischen Elemente des Dorfes beseitigen und damit eines der Hauptelemente der Ausbeutung minimalisieren.«34 Selenski und seine Genossen wussten, wie unrealistisch sich ihre Zukunftsszenarien ausnahmen. Alle Voraussetzungen fehlten, um die »Baumwolloffensive« zu verwirklichen. Es gab weder genügend Techniker und Agronomen noch die Straßen, auf denen die Automobile hätten fahren können. Selbst an detaillierten Karten mangelte es. Die Taschkenter Mitarbeiter des Baumwollhauptkomitees sahen voraus, was diese Situation angesichts der Planvorgaben aus Moskau nur bedeuten konnte: »Vor allem besteht die Gefahr, dass man uns überzogene Pläne gibt, die auf der oberen Ebene überzogene Pläne bleiben, sich auf der unteren Ebene aber in administrative Zwangsmaßnahmen der Dorfsowjets gegen die Bauernschaft verwandeln.«35 Kritische Stimmen gab es viele. Um die Bedenkenträger aus dem Weg zu räumen – die nach Stalins Meinung »eine ganz hinterhältige Art von Schädlingsarbeit« leisteten, die »grausamste Bestrafung« verdiene –, wurde die alte Direktion durch neue »gewichtige« Funktionäre ersetzt.36 Außerdem erhöhte sich der Druck auf die zentralasiatischen Wasserbehörden. Einerseits wurde ihnen ihre »Tatenlosigkeit« vorgehalten.37 Andererseits strich Moskau ihren Etat immer weiter zusammen. Angesichts einer Mittelkürzung von 150 Millionen auf 110 Millionen Rubel für 1930 war an eine koordinierte Neulanderschließung und die Entwicklung von neuen Baumwollflächen aus Sicht der Wasserbehörden nicht zu denken.38 Weil die Planvorgaben unrealistisch geworden waren, konnte der Plan keine Handlungsanleitung für die Praxis mehr sein.39 Wie die Mitarbeiter des Zentralasienbüros kämpften auch die usbekischen Führer darum, nun möglichst pragmatische Lösungen zu finden. Sie befürchteten, dass bewaffnete Aufstände gegen die »Baumwolloffensive« ausbrechen könnten. Indizien für eine möglicherweise gewaltsame Reaktion der Bevölkerung gab es viele, wie die Geheimpolizei berichtete. Kleinere

34 35 36 37 38 39

RGASPI 62/2/1819, Bl. 5. RGASPI 62/2/1819, Bl. 42.

Stalin. Briefe an Molotow, S. 184 (21. 8. 1929). Hervorhebung im Original. Soverˇsenno sekretno, Bd. 7, S. 208–209; vgl. ebenda, Bd. 6, S. 185. RGASPI 85/27/223, Bl. 3 (Rejngol’d an Stalin, 17. 10. 1929). Lewin, »The Disappearence of Planning«, S. 276–277.

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Unruhen waren schon im Sommer 1929 ausgebrochen. Hier und dort holten die Basmatschi ihre Waffen wieder aus den Verstecken.40 Auch die Sowjetfunktionäre in den ländlichen Regionen lehnten die »Baumwolloffensive« rundum ab.41 Die konfliktträchtige Frage, wie die überhöhten Planvorgaben aus Moskau auf die vielen einzelnen Produzenten umgelegt werden sollten, umgingen Ikramow und Chodschajew daher lieber und beschlossen, das Problem an die lokalen Verwaltungen zu delegieren. Planzahlen sollten den einzelnen Landkreisen zwar vorgegeben werden, doch sollte es den Landbevölkerungen in den Kreisen selbst überlassen bleiben, wie sie die vorgegebenen Produktionsnormen erfüllten. Nach dem Prinzip der Kollektivhaftung sollten Dorfversammlungen beschließen, wer wie viel Baumwolle anzubauen hatte. Auf diese Weise konnte der direkte Kontakt zwischen Staatsvertretern und Landbevölkerung weitgehend vermieden werden. Es sei sinnvoller, dass »die Bauern den Plan selbst mit Leben erfüllen, als wenn wir das machen, denn das wäre schon eine andere Sache«, meinte Fajzulla Chodschajew. Ikramow pflichtete ihm bei und gab zu Protokoll, er glaube, »dass es völlig richtig sein wird, wenn wir das über die Dorfversammlungen machen; die Dorfversammlung ist die erste Zelle der Sowjetmacht«. Weder Chodschajew noch Ikramow machten sich Illusionen darüber, inwieweit die Parteiorganisationen oder die Staatsorgane in der Lage waren, die »Baumwolloffensive« zu initiieren und dafür zu sorgen, dass die Bevölkerung den Anbau von Reis und Getreide freiwillig aufgab. Sie diskutierten andere, zuverlässigere Druckmittel. »Die mächtigste Waffe ist das Wasser«, lautete Chodschajews Vorschlag. »Also kann die Dorfversammlung beschließen, dass Ischmat oder Nurmat kein Wasser bekommen, wenn sie weniger Baumwolle säen als die mittlere, für den Kreis festgelegte Norm.« Wer keine oder zu wenig Baumwolle anbauen wolle, sollte im Gegenzug weniger Getreide und weniger Industriewaren bekommen, »bis hin zum völligen Boykott«. So sollten »im Bereich der Baumwolle bedeutsame Maßnahmen in Gang« kommen.42 Chodschajew drückte seine »Maßnahmen« durch, so gut es ging: Auch Schauprozesse und 40 Soverˇsenno sekretno, Bd. 7, S. 448–451, 519–520, 556–557. Fallstudien bei Allanijazov, Kontrrevoljucija, und Loring, »Rural Dynamics«. 41 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 173–174. 42 ORMDA 837/26/289, Bl. 26–27 (Stenografiˇceskij otˇcët soveˇscˇ anija komissii CPK, 29. 9. 1929).

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Haftstrafen sollten dabei helfen, die Baumwollerträge zu steigern und die Bevölkerung auf den neuen Kurs zu trimmen.43 In der Propagierung der »Baumwolloffensive« herrschte eine vormals ungekannte Einigkeit. Hatten sich die usbekischen Kommunisten zuvor auf Parteitagen und in den Zeitungen öffentliche Schlammschlachten geliefert, so sprachen sie jetzt nur noch die gemeinsame Sprache der »Baumwolloffensive«.44 Was derweil hinter den Kulissen geschah, ist schwer abzuschätzen. Zum einen hatten es nur die permanenten persönlichen Rivalitäten innerhalb der usbekischen Eliten ermöglicht, dass Stalin genügend Wissen erlangte, um die führenden Funktionäre gegeneinander auszuspielen und dann persönlich unter Druck zu setzen. Zum anderen wäre die »Unterwerfung der Peripherie unter die dominante Herrschaftskultur« nicht möglich gewesen, wenn nicht eine grundsätzliche Übereinkunft zwischen Zentrum und Peripherie darüber bestanden hätte, den Bevölkerungen in der Sowjetunion »Zivilisation« und »Fortschritt« zu bringen.45 In diesem Sinne argumentierte Fajzulla Chodschajew, der in einem Artikel mit dem Titel »Die Baumwolle« schrieb, dass diese Pflanze und ihre Kultivierung eine »mächtige Waffe im Kampf für die Liquidierung aller und jedweder Überreste der alten Gesellschaftsordnung, der Ungleichheit und der nationalen Unterdrückung« sei.46

Widersprüchliche Befehle: Kollektivierung in Usbekistan, 1930 Die »Getreidebeschaffung«, die 1928 und 1929 in den Kornkammern Russlands und der Ukraine stattgefunden hatte, ging im Januar 1930 nahtlos in die »Kollektivierung der Landwirtschaft« über. Stalin trieb seine Linie stringent voran. In der gesamten Sowjetunion sollte die Landbevölkerung dazu gebracht werden, sich in Kolchosen zusammenzuschließen, oder in Sowchosen, staatlichen Großlandwirtschaftsbetrieben, mitzuarbeiten. Die usbekische Parteiführung begrüßte diese Ent43 44 45 46

ORMDA 837/26/299, Bl. 16 (20. 12. 1929).

Chodˇzaev, Izbrannye trudy, Bd. 2, S. 573–578; Ikramov, Dva dokumenta. Baberowski, »Auf der Suche«, S. 502; Khalid, »Backwardness«. Chodˇzaev, »Chlopok«, S. 29.

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scheidung. Usbekistans Landwirtschaft stelle »eine besonders günstige Basis für die Kollektivierung« dar, hieß es einem Beschluss, und die Bevölkerung sei zur »umfassenden Vergesellschaftung der Produktionsprozesse, der Produktionsmittel und der Verteilungsprozesse« bereit. Deshalb legte sich das usbekische Zentralkomitee auf das Ziel fest, im Wirtschaftsjahr 1930 60 Prozent der Baumwolle von kollektivierten Betrieben erzeugen zu lassen. Ganz im Sinne Moskaus sprachen die usbekischen Parteiführer vom »Aufbau großer mechanisierter Kolchosen, die auf dem Fundament moderner Maschinentechnik und der neuesten wissenschaftlichen Errungenschaften« stehen sollten.47 Die Beschlüsse der usbekischen Parteiführung waren mehr als Lippenbekenntnisse. Moskau hatte ein durchaus machbares Ziel vorgegeben: Bis zum Herbst 1933 sollten drei Viertel der bäuerlichen Haushalte in Zentralasien kollektiviert sein. Dabei wurde betont, dass die verschiedenartigen Voraussetzungen in den einzelnen Regionen unterschiedliche Herangehensweisen erforderten und folglich in den sowjetischen Peripherien die Kollektivierung langsamer vonstattengehen sollte als im landwirtschaftlichen Herzland.48 Die Moskauer Direktiven klangen darum wie ein Angebot, die politische Krise der Jahre 1928 bis 1929 hinter sich zu lassen und einen Neuanfang zu wagen. Nicht nur konnte man nun die gescheiterten Wasser- und Landreformen vergessen machen und die ideologischen Grabenkämpfe hinter sich lassen. Moskaus Kollektivierungspolitik ermöglichte es der usbekischen Staatsführung auch, ihren Einfluss auf die Landbevölkerung zu verbessern und die Eigenständigkeit der Regionen zwischen Ferghanatal und Amudaria einzuhegen, indem sie die Befehlsketten innerhalb Usbekistans klar zog und die Hierarchien im Parteistaat neu austarierte. Die Kollektivierung war eine Möglichkeit, die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu klären. Doch Anfang Januar 1930 überschlugen sich die Ereignisse wiederum. Stalin stieß alle vorherigen Pläne um und ließ verkünden, das Tempo der Kollektivierung sei zu erhöhen. Innerhalb weniger Monate seien die Getreideregionen Russlands, der Ukraine und Westsibiriens »total zu kollektivieren«. Mit dieser Ankündigung löste er zwischen den einzelnen sowjetischen Gebieten und Republiken einen Wettlauf aus,

47 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 26, 41. 48 Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 2, S. 44.

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wer seine Vorgaben am schnellsten umsetzen und erfüllen konnte. Angeheizt von der Geheimpolizei, die immer neue Nachrichten von der Renitenz der Landbevölkerung und ihrem Widerstand verbreitete, machte sich auch die usbekische Parteiführung daran, ihren Kampf gegen »Kulaken«, »Ausbeuter« und »Reiche« auszuweiten, und beschloss, 19 Landkreise innerhalb von vier Wochen »total zu kollektivieren«.49 Am 30. Januar 1930 wandte sich Selenski an Stalin, um die Erlaubnis einzuholen, das »erhöhte Tempo der Kollektivierung aus dem Zentrum der UdSSR auf die Regionen Zentralasiens zu übertragen«. Noch am selben Tag telegrafierte Stalin seine Antwort. Er hielt Selenskis Drängen für »unbegründet« und ermahnte den Taschkenter Funktionär eindringlich, Vorsicht walten zu lassen, denn die »Sache der Kollektivierung« solle »nur im Maße einer wirklichen Beteiligung der Bevölkerung« vorangehen.50 Die Kollektivierungsbrigaden in der Kreisstadt Jangi-Jul (Yangiyo’l), nur wenige Dutzend Kilometer südwestlich von Taschkent gelegen und mit der Eisenbahn leicht zu erreichen, wussten nichts von Stalins Telegramm. In dem Kreis, der sich entlang des Flusses Tschirtschik erstreckte und bis zu dessen Mündung in den Syrdaria reichte, begann die Kollektivierung, nachdem die Taschkenter Bezirksparteileitung am 27. Januar 1930 auf einer Konferenz ihr grünes Licht gegeben hatte. Obwohl schriftliche Instruktionen erst am 3. Februar vorlagen, traf schon am 29. Januar ein Sekretär der Bezirksparteileitung, Genosse Alimow, in Jangi-Jul ein. Dort berief er einen »politischen Fünferausschuss« ein, der den Beschluss fasste, »den Kulaken nicht später als in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar zu vernichten«. Die fünf Ausschussmitglieder fuhren sofort in verschiedene Teile des Kreises weiter, um mit der Aktion zu beginnen. Einer der Bevollmächtigten kam am Abend des 29. Januar in der Siedlung Tschinas an. Dort traf er den Direktor der Baumwollmühle Abdulachanow und versammelte eine Gruppe »aktiver und zuverlässiger Parteimitglieder, Komsomolzen, Mitarbeiter der Dorfsowjets und Arbeiter aus der Baumwollmühle« um sich. Um ein Uhr nachts begann eine Versammlung der Aktivisten. Die ungefähr 30 Anwesenden besprachen die Lage und beschlossen einhellig, dass »der Kulake unser Klassenfeind ist und man ihn vernichten soll und wir dazu bereit sind«.51 49 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 74–75. 50 Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 2, S. 131. 51 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 324–330, 333–334.

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Bei ihrem Vorgehen bedienten sich die lokalen Bevollmächtigten durchaus unterschiedlicher und manchmal auch listiger Mittel. Einige Kollektivierungsbrigaden begnügten sich damit, Namenslisten von Kolchosmitgliedern zu erstellen, ohne überhaupt mit den Bauern zu sprechen. Andere beriefen Versammlungen ein, in denen die Dorfbewohner Angaben über ihren sozialen Status und ihre Besitzverhältnisse machen mussten, bevor ihnen verkündet wurde, dass sie nun Kolchosmitglieder seien. Manche findige Bevollmächtigte verkauften den Bauern sogar die Mitgliedschaft in den Kolchosen. Wiederum andere versuchten, sie zu täuschen, indem sie den zukünftigen Kolchosmitgliedern »unerfüllbare Versprechen über die Versorgung mit Landwirtschaftsgeräten, mit Traktoren und Maschinen« machten.52 Typischer für den Verlauf der Kampagne war jedoch das Vorgehen der Kollektivierungsbrigaden von Jangi-Jul. Am 29. Januar 1930 schwärmten sie in sechs Gruppen in die Siedlungen des Kreises aus, wo sie Hausdurchsuchungen vornahmen und Inventarlisten anlegten, die »angefangen beim Haus und endend bei Kleidung, Tassen, Schalen und Möbeln« alle Besitztümer der »Kulaken« und »Bajs« aufführten. Aus manchen Häusern »nahmen sie alles mit, selbst die Lebensmittel«, berichtete die Geheimpolizei. Grundlos nahmen sie Verhaftungen vor: Sie, so hieß es, »verhaften Leute, lassen sie laufen und verhaften sie wieder«. Manche der Hausdurchsuchungen endeten in Trinkgelagen. »Die Arbeiterbrigade von Akimow, Usik und Sosnowski kam zur Hausdurchsuchung zu einem Baj, wo sie sich betranken, einschliefen und, als sie am Morgen ›ausgenüchtert‹ waren, die Hausdurchsuchung fortsetzen.« Andere Hausdurchsuchungen endeten in Vergewaltigungen, wie die Geheimpolizei meldete: »Der Vorarbeiter Alferov (Parteimitglied seit 1928) wurde beim Geschlechtsakt mit einer Frau erwischt, die in dem Haus lebte, das seine Brigade soeben durchsucht hatte.«53 Als die Kollektivierung Usbekistans im Januar 1930 begann, war die Baumwollernte des Vorjahres noch nicht abgeschlossen. Mit allen Mitteln versuchten die Behörden, mehr Baumwolle aufzutreiben und die Landbevölkerung dazu zu zwingen, ihr Liefersoll zu erfüllen. Die »Baumwollbeschaffung« wurde erstmals mit denselben Methoden 52 Ebenda, S. 165–166 (Bel’skij an OGPU, 11. 3. 1930). 53 RGASPI 62/2/2140, Bl. 10 (Dokladnaja zapiska Zam. Naˇc. INFO PP OGPU Poljaeva, 4. 2. 1930). Vgl. Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 333–334, 356.

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durchgeführt wie die »Getreidebeschaffung« in Russland und der Ukraine. Die Geheimpolizei verhaftete Hunderte, die ihre Abgaben nicht erfüllen konnten, aber auch private Zwischenhändler und korrupte Mitarbeiter der staatlichen Baumwollgenossenschaften, sodass insgesamt 951 Personen »verschiedenster Verbrechen« bezichtigt und vor Gericht gestellt wurden.54 In dieser angespannten Situation schwärmten die Kollektivierungsbrigaden aus. Viele der »Bevollmächtigten« wurden aufs Land geschickt, ohne zu wissen, »was eine Kolchose ist und wie sie funktionieren soll«.55 Sie hatten »keine Ahnung«, wie sie die Kolchosen organisieren sollten.56 Für die Bevollmächtigten stellte dies jedoch kein Problem dar. Stattdessen lieferten sie sich mit den lokalen Parteifunktionären Wettbewerbe um höhere Kollektivierungsquoten, enteigneten Land und Wasserrechte, zwangen die Landbevölkerung zu den saisonalen Kanalreinigungsarbeiten und begegneten Widerstand mit Drohungen, Strafen und Waffengewalt.57 Von dem Chaos, das in den usbekischen Baumwollbezirken um sich griff, erfuhr Stalin aus den ausführlichen Berichten des Geheimdienstchefs für Zentralasien, Lew Belski, der ihn mit allen relevanten Informationen versorgte.58 Auf einer Sitzung im Moskauer Zentralkomitee am 11. Februar 1930, bei der auch Ikramow und Belski anwesend waren, befragten Stalin, Molotow und Kaganowitsch den Vorsitzenden des Zentralasienbüros Selenski ausführlich über die Lage in den zentralasiatischen Baumwollbezirken. Die Moskauer Parteiführer drängten die Taschkenter vehement dazu, die Kollektivierung schneller und mit radikaleren Mitteln voranzutreiben. Natürlich sei damit zu rechnen, dass es im Zuge dessen auch zu Aufständen und bewaffnetem Widerstand kommen würde, meinte Stalin.59 Molotow verkündete den anwesenden Parteiführern auf der Sitzung klar und unmissverständlich, dass die Kollektivierung nur durchzusetzen sei, wenn die Geheimpolizei die »Kulaken« 54 55 56 57

RGASPI 62/2/2166, Bl. 5 (Karuckij an Sredazbjuro, 21. 1. 1930).

Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 80 (Ferghana 21. 2. 1930). RGASPI 62/2/2137, Bl. 1 (1. 3. 1930).

Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 77 (Karuckij an OGPU, 20. 2. 1930), S. 165–166 (Bel’skij an OGPU, 11. 3. 1930). 58 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 87, 169–173, 339–341. Zu Bel’skij vgl. Wheatcroft, »Agency and Terror«, S. 35; Stalin i Kaganoviˇc, S. 48; Kto rukovodil, S. 104. 59 Kindler, Stalins Nomaden, S. 184–185.

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massenweise erschießen oder aus ihren Heimatregionen aussiedeln ließ.60 Stalin beließ es bei unklaren Anspielungen und zynischen Witzen. Als beispielsweise die Frage aufkam, ob man in Zentralasien Kolchosen aus Angehörigen ein und desselben Verwandtschaftsklans aufbauen könne – mit der Begründung, dass, »auch wenn wir das Oberhaupt abschlachten, der Klan weiter besteht und sich eine neue Klankolchose bildet« –, antwortete Stalin, man solle in diesem Fall einfach »alle abschlachten«, und erregte damit »allgemeines Gelächter« unter den Anwesenden.61 In der Februarwoche nach der stürmischen Moskauer Sitzung gingen bei Stalin neue Berichte der Geheimpolizei darüber ein, dass sich die Situation in den Baumwollgebieten Usbekistans bedrohlich zuspitzte. Er ließ sie im Politbüro diskutieren. Anders als wenige Tage zuvor sendete er nun ein deutliches Zeichen seines Missfallens nach Taschkent. Am 20. Februar verurteilte das Moskauer Politbüro die »Methoden der Kollektivierung, die in einigen Kreisen Usbekistans angewendet werden (Drohung des Entzugs von Wasser und von Gebrauchsgütern, Anwendung bewaffneter Gewalt)« als »unzulässig« und forderte die usbekische Parteiführung auf, »mit langsamem Tempo vorzugehen, um die armen und mittleren Bauernmassen an die Idee der Kollektivierung zu gewöhnen und einen faktischen Umschwung der Mehrheit im Dorf im Sinne der Kollektivierung« zu erreichen.62 – Innerhalb weniger Wochen hatte Stalin seinen Kurs gegenüber der usbekischen Parteiführung mehrere Male geändert. Seine Befehle waren nie klar und explizit, sondern widersprüchlich und voller Andeutungen. Die usbekische Parteiführung überging Stalins Anweisung zur Mäßigung folgerichtig.63 Erst als die Moskauer Prawda am 2. März 1930 seinen Artikel »Vor Erfolge vom Schwindel befallen« druckte – der die Kollektivierungskampagne überall in der Sowjetunion ausdrücklich beendete, die Alleinschuld für gewaltsame »Exzesse« der falschen Umsetzung seiner Direktiven zuschrieb und Usbekistan als besonders negatives Beispiel heraushob –, nahm auch die usbekische Parteiführung Abstand von 60 Baberowski, »Die Kollektivierung der Landwirtschaft«, S. 320. 61 RGASPI 17/165/15, Bl. 92 (Soveˇscˇ anie predstavitelej nacional’nych respublik i oblastej pri CK VKP[b] po voprosu o kollektivizacii, 11. 2. 1930). 62 Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 2, S. 260. 63 RGASPI 62/2/2140, Bl. 145 (»Peregovory sekretnye u apparata«).

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ihrem harten Kollektivierungskurs.64 Allerdings war es nun zu spät. In den Oasen von Choresm, im Bezirk Surchandaria und im Ferghanatal hatten sich die anfangs lokalen Proteste der Bevölkerung gegen die Kollektivierung inzwischen zu Massenaufständen gegen den sowjetischen Staat aufgeschaukelt.65 Die Mitarbeiter der Geheimpolizei berichteten, dass die Bevölkerung bei ihren Demonstrationen nicht nur den Slogan »Wir wollen keine Kolchosen, nieder mit der Kollektivierung« rief, sondern auch Losungen wie »Gebt’s den Russen, Heiliger Krieg«, »Gebt’s den Armen und Landlosen« oder »Nieder mit der Sowjetmacht, stürzen wir die Sowjetmacht«.66 Eines von vielen Aufstandszentren im Ferghanatal war der Kreis Bagdad im Verwaltungsbezirk Kokand. In Bagdad hatten schon Mitte Februar große Demonstrationen gegen die »Baumwollbeschaffung« und die Kollektivierung stattgefunden. Die Bevölkerung begann damit, in die Verwaltungszentren zu reisen, um dort Massenproteste zu veranstalten. Demonstrationen mit bis zu 3500 Teilnehmern skandierten »antisowjetische Losungen« und erzwangen die Herausgabe der Mitgliederlisten der Kolchosen, die dann zerstört oder verbrannt wurden. Die Bauern riegelten ihre Dörfer ab und ließen keine Funktionäre mehr herein, »insbesondere keine Europäer«. Daraufhin schickte die Geheimpolizei eine Sondereinheit in das Gebiet. Fajzulla Chodschajew reiste nach Kokand und schaffte es mit einer »besonnenen Rede«, 2500 Demonstranten zu beruhigen und dazu zu bewegen, in ihre Dörfer zurückzukehren.67 Bis Anfang März 1930 hatte die Protestbewegung in Bagdad dennoch weiter an Stärke gewonnen.68 Angriffe gegen Sowjetfunktionäre und Verwaltungseinrichtungen häuften sich. Die Kolchosen hatten sich ebenso schnell aufgelöst, wie sie entstanden waren. Die Mitglieder des Kreisparteikomitees von Bagdad berichteten ihren Vorgesetzten, dass in 15 Dörfern des Kreises »keine Sowjetmacht mehr existiert, das heißt: Die

64 Fitzpatrick, Stalin’s Peasants, S. 62–65. 65 Eisener, Konterrevolution, S. 53. 66 RGASPI 62/2/2200, Bl. 191 (Dokladnaja zapiska PP OGPU v Srednej Azii Mironova o terroristiˇceskoj dejatel’nosti bajstva i iskrivlenijach klassovoj linii sudebnosledstvennym apparatom po delam terrora, 26. 11. 1930). 67 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 84–87, 141–146, 179–180. 68 RGASPI 62/2/2140, Bl. 159 (Vneoˇcerednaja opersvodka o politiˇceskom poloˇzenii v Srednej Azii, 5. 3. 1930).

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Vertreter der Dorfsowjets sind verprügelt worden, die Mehrheit von ihnen versteckt sich, sie tun nichts, haben sogar Angst, sich in ihren Amtsstuben zu zeigen, weil die Mullahs und die Kulaken gedroht haben, sie umzubringen.« »Mit einem Wort«, schloss der Bericht, »gibt es nur wenige Dörfer, in denen es keine Demonstrationen gegen die Kollektivierung gab.«69 Ganz ähnliche Zustände konnte man in vielen Regionen Usbekistans und Zentralasiens beobachten. Aus Andischan und Namangan, aus Buchara, Samarkand und Taschkent gab es bis Ende März 1930 unzählige Berichte über Unruhen, Massendemonstrationen und Attacken auf Funktionäre.70 Das Beispiel Bagdad zeigt aber auch, wie die Partei mithilfe der Geheimpolizei allmählich die Oberhand gewinnen konnte. Als die Unruhen im Kreis Bagdad begannen, demonstrierten am 21. Februar 1930 400 Bewohner des Dorfes Batschkir für die Auflösung der Kolchosen. Sie vertrieben die Kollektivierungsbrigade und alle anderen Sowjetfunktionäre. Als die Miliz in das Dorf kam, um die Demonstration aufzulösen, »lachte die Menge, machte sich lustig und rief: ›Uns macht ihr keine Angst, weil ihr nur in die Luft schießt und nicht auf uns.‹«71 Am 23. März wiederholte sich die die Situation. Nach wie vor wollte in Batschkir niemand den Kolchosen beitreten, und niemand wollte Baumwolle aussäen. Als eine Sondereinheit der Geheimpolizei in das Dorf einrückte, um »Kulaken, Bajs und die Initiatoren der Massenproteste« zu verhaften, versammelten sich 500 Dorfbewohner, um dies zu verhindern. Diesmal wurde die »wütende Menge« von der berittenen Sondereinheit auseinandergetrieben, es wurde aber nicht geschossen. Als die Geheimdienstleute am folgenden Tag zurückkehrten, um weitere Verhaftungen vorzunehmen, blieben die Bewohner ruhig, wie es im Bericht über die Operation hieß, »gingen auf die Felder und machten sich an die Arbeit«.72 Nach dem stürmischen Frühjahr 1930 nahmen, als die Aussaatzeit begann, die Unruhen in Usbekistan ab. Wo es in den kollektivierten

69 RGASPI 62/2/2140, Bl. 170 (Dokladnaja zapiska cˇ lenov Bjuro Bagdadskogo rajkoma v Ispolbjuro Ferganskogo okuˇzkoma KP[b] Uzbekistana, 6. 3. 1930). 70 RGASPI 62/2/2258, Bl. 1–29 (Materialy o massovych vystuplenijach dechkan v svjazi s kollektivizaciej); Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 240–241. 71 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 85. 72 RGASPI 62/2/2166, Bl. 14 (Zapiska provodu Taˇskent PP OGPU Karuckomu, 25. 3. 1930).

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Baumwollkreisen noch zu Widerstandsbekundungen kam, griff die Geheimpolizei durch. Selenski gab den Befehl, auf den Dorfversammlungen zu verkünden, dass alle »antisowjetischen Elemente« verhaftet und deportiert werden würden.73 Ebenso schritt die Geheimpolizei ein, wenn Bauern die Aussaat von Baumwolle verweigerten oder versuchten, statt Baumwolle Reis oder Getreide anzubauen.74 In den usbekischen Baumwollregionen entwickelte sich die Auseinandersetzung mit der Landbevölkerung nicht anders als in den Getreideregionen Russlands und der Ukraine.75 Die Landbevölkerung fand sich mit dem Umstand ab, dass die Kolchosen für sie »wie staatliche Behörden« funktionierten, »wo man einen festgelegten und unbedeutenden Lohn erhält«.76 Nach der gewaltigen Protestwelle im Februar und März kehrten die Baumwollbauern zu den »defensiven Strategien« zurück, derer sie sich auch vorher im Umgang mit sowjetischen Staatsvertretern bedient hatten: »Ausweichen, Ignorieren, Deformation von Forderungen der Verwaltung« sowie »Schweigen, Zustimmung, Lügen«.77

Despotismus und Gewalt in der Baumwollzone, 1931–1932 Im Juni 1931 berichtete ein Moskauer Gewerkschaftsfunktionär von einer Inspektionsreise, die er in die usbekischen Baumwollgebiete unternommen hatte. Es war darum gegangen, »zu sehen, wie die Baumwolle steht, wie unsere Brigaden arbeiten und wie die Baumwollaussaat läuft«, und zu »überprüfen, inwieweit in diesem Jahr die offiziellen Daten, die wir aus Zentralasien erhalten haben, mit der Wirklichkeit übereinstimmen«. Der Funktionär konnte nur wenig Positives vermelden. Natürlich lobte er die Erfolge der Kollektivierung, berichtete von neuen Produktions-

73 RGASPI 62/2/2137, Bl. 28 (Zelenskij und Karuckij an Gotfrid, nach dem 10. 3. 1930). 74 RGASPI 62/2/2166, Bl. 12 (PP OGPU an Sredazbjuro, 20. 3. 1930); RGASPI 62/2/2142, Bl. 102–103 (Dokladnaja zapiska o poloˇzenii v kolchozach Narpajskogo rajona Zerafˇsanskogo okruga, 7. 7. 1930); RGASPI 62/2/2166, Bl. 35 (Pom. Naˇc. INFO PP OGPU an INFO OGPU Moskau, 8. 7. 1930). 75 Fitzpatrick, Stalin’s Peasants, S. 48–79. 76 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 232. 77 Spittler, Herrschaft über Bauern, S. 13.

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rekorden im Baumwollanbau und pries den Enthusiasmus der »arbeitenden Massen«. Als er dann aber auf die tatsächlichen Zustände in Usbekistan zu sprechen kam, räumte er ein, dass dort »in Wirklichkeit nichts so ist, wie sie es in ihren Berichten schreiben«. Die lokalen Funktionäre täten immer so, »als wäre alles ›wunderbar‹ und sagen zu allem ›hurra‹«. Weil sie die Lage beschönigten und in ihren Berichten lögen, herrsche in den zentralen Behörden in Taschkent und Moskau ein akuter Mangel an verlässlichen Informationen. Keiner der zuständigen Parteileute und Staatsfunktionäre könne genauere Angaben über die tatsächliche Größe von Baumwollanbauflächen, über die Arbeitsproduktivität und über die zu erwartenden Ernteerträge machen. Von Planung und Zuverlässigkeit könne keine Rede sein. Das gelte auch für die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs. »Man muss zugeben«, sagte der Funktionär, »dass es mit der Getreideversorgung sehr schlecht aussieht in Zentralasien. Die Preise sind unglaublich hoch. Die Bauern sagen, dass sie arbeiten werden, wenn sie Tee und einen Laib Brot bekommen. Wenn sie Getreide bekommen, sagen sie, werden sie arbeiten bis in die Nacht.«78 Die Kollektivierung hatte in Usbekistan wie überall in der Sowjetunion die landwirtschaftliche Produktion gründlich ruiniert. Obwohl es nach dem Frühjahr 1930 zu keinen größeren Unruhen mehr gekommen war, blieben Terror, Gewalt und Zwang die wichtigsten Mittel, um die »Baumwolloffensive« weiter voranzutreiben.79 Die staatlichen Zwangsmaßnahmen erstreckten sich auch auf die Verteilung der beiden wichtigsten Mangelgüter Wasser und Lebensmittel. Wer nicht genügend Baumwolle anbaute, sollte auch keine Zuteilungen erhalten. Doch war die Überwachung der Wasserverteilung in den unübersichtlichen Bewässerungssystemen und den schwer zu überwachenden Nebenarmen der Hauptkanäle kaum zu bewerkstelligen. Anders sah es mit der Verteilung der aus Russland eingeführten Getreidelieferungen aus: Als es im Frühjahr 1931 zu schwerwiegenden Versorgungsengpässen kam und sich Hunger bemerkbar machte, boten die staatlichen Aussaatkommissionen den Bauern, die hochwertige, aber besonders arbeitsaufwendige Baum78 GARF 5457/23/65, Bl. 68–78 (Doklad tov. Evrejnova N. N. o poezdke v Srednjuju Aziju, 11. 6. 1931). Im Frühjahr 1931 waren statt 41 Millionen nur 31 Millionen Pud Getreide nach Zentralasien geliefert worden, ein Defizit von 1,6 Millionen Tonnen. 79 Thurman, The »Command-Administrative System«, S. 14–34.

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wollvarietäten anbauen wollten, eine Erhöhung ihres Getreidevorschusses um 25 Prozent an.80 Gleichzeitig machte die Ausdehnung des Baumwollanbaus um jeden Preis auch nicht vor einem Grundprinzip der Sowjetmacht halt: Selbst die stigmatisierten »Kulaken« sollten Getreidevorschüsse erhalten, wenn sie ihr Land zu mehr als drei Vierteln mit Baumwolle bepflanzten.81 Erschießung, Zwangsumsiedlung und Internierung in Arbeitslager gehörten zu den Einschüchterungsmitteln, die mittlerweile routiniert zum Einsatz kamen, um Widerstand gegen den Baumwollanbau zu brechen. Besonders diejenigen, die als »Kulaken« gebrandmarkt wurden, konnten diesen Maßnahmen leicht zum Opfer fallen. Die usbekische Regierung hatte bestimmt, dass all diejenigen als »Kulaken« gelten sollten, die (a) regelmäßig Tagelöhner in ihren Wirtschaften beschäftigten, die (b) Mühlen, Ölmühlen oder »andere mechanische wasser- und windbetriebene Motorenanlagen« besaßen, die (c) systematisch landwirtschaftliche Geräte oder Landwirtschaftsmaschinen gegen Bezahlung verliehen, die (d) Land zu überhöhten Preisen verpachteten oder Land verpachteten, obwohl sie es selbst bearbeiten könnten, und die (e) in Familien lebten, deren Mitglieder vom Handel, Geldverleih oder anderen Einkünften lebten, die sie nicht durch körperliche Arbeit erwarben (»darunter Einnahmen aus religiösen Zeremonien«).82 In der Praxis hatten diese formalen Bestimmungen wenig Bedeutung. Alle konnten zu »Kulaken« erklärt werden, die sich dem Baumwollanbau oder anderen »politischen Kampagnen« verweigerten. In einem Bericht vom Mai 1932 hieß es, »Kulaken und andere Klassenfeinde« hätten »für die Untergrabung der Erfüllung des Baumwollplans gekämpft. Sie haben gegen die Baumwollunabhängigkeit der UdSSR agitiert. Mit allen Methoden haben sie versucht, die Saat zu behindern und zu verlangsamen.«83 Die Enteignungen, Verhaftungen und die Aussied-

80 Bjulleten’ Sredazposevkoma Nr. 6 (25. 3. 1931), S. 21. 81 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 246–247, 342–343. 82 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 376–378 (Postanovlenie SNK UzSSR, 6. 4. 1930). 83 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 545 (Kermine 25. 5. 1932). Zur Vorgehensweise, wie lokale Bevollmächtigte »Kulaken« aufspürten und deportierten, vgl. ebenda S. 495–501 (Samarkand, 10. 12. 1931), 529–530 (Izbaskent, 13. 5. 1932), 554–556 (Beˇs-Aryk, 20. 5. 1932).

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lung von »Kulaken« und ihren Familien fanden häufig im Zuge der landwirtschaftlichen Kampagnen statt, um Druck auf die Bevölkerung auszuüben. So konnten die Maßnahmen am besten ihre terrorisierende Wirkung entfalten. Die usbekische Parteiführung hatte sich 1931 das Prinzip zu eigen gemacht, die Deportationskontingente genau auf die einzelnen Verwaltungskreise zu verteilen, sodass pro Kreis zwischen 25 und 30 Familien umgesiedelt oder ausgesiedelt wurden.84 Anders als in den russischen Getreideregionen, wo die Deportationen ihren Höhepunkt 1931 erreichten, stieg in Usbekistan die Zahl der deportierten »Haushalte« kontinuierlich von 2648 im Jahr 1930 auf 3871 im Jahr 1931 und 5500 im Jahr 1933 an.85 In den Landkreisen, Dörfern und Siedlungen der Baumwollgebiete veränderten sich derweil die Machtstrukturen. Die zahlreichen saisonalen Kampagnen (Kanalreinigung, Baumwollsaat, Bewässerung und Baumwollernte) brachten Dorffremde und Außenstehende in die ländlichen Regionen, die ihre Befehle und Aufgaben rücksichtslos gegenüber der Bevölkerung ausführten. Zudem wanderte Macht an die Kolchosvorsitzenden und die Funktionäre in den Kreiszentren, die im konkreten Fall entscheiden konnten, wann und wie eine Kampagne organisiert werden sollte. In den frühen 1930er Jahren bildeten sich in Zentralasien, aber auch anderen Regionen der Sowjetunion, Herrschaftskerne heraus, die kleinräumig verwaltet und von wenigen Herrschaftsträgern bestimmt wurden, die über große Entscheidungsfreiheit und überlegene Machtmittel verfügten. Der sowjetische Staat verfügte Anfang der 1930er Jahre über einen differenzierten und leistungsfähigen Staatsapparat. Doch während in Moskau Bürokraten, Funktionäre und Parteiführer die Industrialisierung vorantrieben, die sowjetische Massenkultur erfanden und die Versorgung der Städte mit Nahrungsmitteln organisierten, war die staatliche Herrschaft in den ländlichen Gebieten, selbst in den Baumwollregionen Usbekistans, nur schwach verankert. Obwohl seit Mitte der 1920er Jahre versucht wurde, mehr Informationen über die Landbevölkerung und die landwirtschaftliche Ökonomie zu erlangen, blieben die Kenntnisse begrenzt und war der Weg noch weit, bis die Dörfer bürokra84 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 481 (Lepa an Postyˇsev, 10. 10. 1931). 85 Ivnickij, Kollektivizacija i razkulaˇcivanie, S. 126, 186–188; Ozerova, »Collectivization and Socialization«, S. 7–8.

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tisch beherrscht hätten werden können. Durch die Kolchosen, die nominell über Buchhalter und Agronomen verfügen sollten (oft fehlte das Personal), wurden zwar auf der untersten Ebene bürokratische Abläufe eingeführt, aber das geschah meistens nur auf dem Papier.86 Im Chaos, das die Kollektivierung auslöste, veränderten sich die Dörfer ohnehin so schnell, dass selbst lokal erhobene Zahlen immer nur streitbare Momentaufnahmen waren. Weil einerseits zuverlässige Informationen fehlten und anderseits die Landbevölkerung und die sowjetischen Staatsführer in einer legitimitätslosen Herrschaftsbeziehung zueinander standen, gab es für die Staatsorgane nur wenige andere Möglichkeiten, als sich gewaltsam Zutritt zu den Dörfern zu verschaffen und dort willkürlich Ernteerträge und Arbeitsleistungen »herauszupumpen«. Denn Voraussetzungen für eine bürokratisierte Herrschaft – loyale Herrschaftsvermittler, Schreibkenntnisse, ausreichende Ortskenntnisse und eine Vertrauensbasis in der Bevölkerung – fehlten weitgehend. Stalin fand an diesem Umstand scheinbar nichts Störendes. »Wie können wir den Bauern umerziehen und aus ihm einen neuen Menschen machen?«, fragte er einmal zynisch in eine Runde von hohen Parteiführern. Er beantwortete seine Frage mit einer grundsätzlichen Charakterisierung seiner Politik: »Die Annahme, dass wir das nur durch Überzeugung schaffen, ist Blödsinn. Überzeugung ist sehr wichtig. Massenagitation ist auch wichtig. Aber das ist zu wenig. Wir brauchen noch eine ganze Reihe anderer Mittel, wirtschaftlicher und organisatorischer Natur. Da gibt es verschiedene Mittel. Von der Überzeugungsmethode bis hin zur wirtschaftlichen Zwangsmethode. Plus Repressionen. Man muss schon eins und eins zusammenzählen können.«87 Das Bild, das sich in den usbekischen Dörfern von der sowjetischen Herrschaft bot, sah deshalb häufig so aus, wie es ein Bericht aus dem Kreis Paj-Aryk im Ferghanatal beschrieb, wo zwischen November 1931 und März 1932 eine Gruppe von »Arbeitern und jungen Männern« Posten in der Kreisverwaltung bekommen hatten. Ihre Aufgabe bestand in der Durchführung der »Baumwollbeschaffungskampagne«. Sie machten sich an die Arbeit, indem sie die Bauern zum Arbeitseinsatz zwangen und sie nach Belieben »herumkommandierten«. Den Sinn der Arbeit er86 Abaˇsin, Sovetskij kiˇslak, S. 332. 87 RGASPI 558/11/1117, Bl. 11 (Reˇc’ Stalina na soveˇscˇ anii pri CK VKP[b] juˇznych oblastej po voprosam uborki uroˇzaja i zagotovok, 20. 5. 1933).

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klärten sie den Bauern nicht, sondern sie »ignorierten die politische Arbeit mit den Massen«. Unterdessen begannen sie, Hunderte Männer als »Kulaken« zu verhaften und sie »Prügelstrafen und Folter« zu unterziehen. Bei den »Verhören« kam ein ganzes Arsenal von Methoden zum Einsatz. Bauern wurden mit Reitpeitschen oder Knuten verprügelt, mit kaltem Wasser übergossen und über Nacht in kalten Verliesen eingesperrt, mit Messern und Waffen bedroht. Schandstrafen waren ebenfalls beliebt: Anstatt ihre gefälschten Verhörprotokolle von den Bauern mit einem Fingerabdruck bestätigen zu lassen, tauchten die Funktionäre deren Nase in ein Tintenfass und benutzen den »Nasenabdruck« als Unterschrift. Auch vor den Augen der Öffentlichkeit demonstrierten die Kreisfunktionäre permanent ihre Macht. Sie beschimpften und verprügelten die Bauern bei der Feldarbeit. Sie führten Hausdurchsuchungen durch und »konfiszierten«, was immer das vorhandene Eigentum hergab. Im Haus der Geheimpolizei gab es »systematische Trinkgelage, Radau und Ausschweifungen«. Und das Verhöhnen, Foltern und Verprügeln von verhafteten Bauern diente als Abendunterhaltung.88 Selbst wenn einige staatliche Organe in Moskau und in den Republikhauptstädten gegen derlei »Ausschreitungen« und »Skandale« vorgingen und ihre Urheber bestraften, blieben die meisten Fälle unentdeckt und folgenlos. In diesen Fällen sprachen die Berichte von der »guten politischen Stimmung« in der Bevölkerung und unterstrichen, dass es »keine offenen Aktionen seitens antisowjetischer Elemente und der Kulaken gab« und »auch die Geistlichkeit sich ruhig verhielt«. Positiv hervorgehoben wurde die Aktivität der Kreisverwaltungen, die »Versammlungen über die Baumwollerntekampagne, Fragen der Baumwolllagerung und den Straßenbau« abhielten. Als positiv galt auch die Mobilisierung der Bevölkerung. »Die Bauern organisieren einen Massenarbeitseinsatz auf den Feldern, der als Probelauf für die Baumwollernte dient«, hieß es dann beispielsweise.89 Wichtig war, dass die Resultate der Kampagnen stimmten und am Jahresende genügend Baumwolle abgeliefert werden konnte.

88 GARF 374/27/1989, Bl. 61 (Vyderˇzki iz pis’ma sekretarja Partkollegii CKK KP[b] Uzbekistana, t. Kacelja, ot 28 maja 1932 g.). Der Bericht schloss: »Solche Zustände gibt es bis heute auch in zwei oder drei anderen Kreisen, wo jetzt Genossen der Kontrollkommission hingefahren sind.« 89 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 2, S. 119–120 (Politsvodka o likvidacii kulackich chozjajstv Novo-Bucharskogo rajona, 4. 9. 1931).

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Nur in Ausnahmefällen kam zur Sprache, wie die Mobilisierungskampagnen abliefen, wenngleich jeder Bescheid wusste. »Es werden sehr viele Leute in die Dörfer geschickt«, beschrieb ein Funktionär 1932 diesen Prozess. »Sie werden zur Saatkampagne und zu anderen Kampagnen geschickt. Aber leider sitzen diese Leute sehr oft nur auf dem Pferd. Wenn sie auf dem Pferd sitzen, heißt das, sie kommandieren herum.« Schließlich mussten die Pläne umgesetzt werden, die sich Funktionäre in fernen Städten ausgedacht hatten. »Und wenn sich eine bürokratische Führung oben (kabinetnoe rukovodstvo na verchu) und eine mobilisierte Führung unten (raz”ezdnoe rukovodstvo vnizu) gegenüberstehen, dann resultieren daraus sehr viele Mängel bei der Arbeit.«90 »Mängel bei der Arbeit«, das bedeutete Chaos, verursacht durch die Pläne der »Bürokraten«, Willkür und ubiquitären Gewalteinsatz. Das Chaos gab der sowjetischen Staatsführung willkommene Anlässe, um nach Belieben in lokalen Angelegenheiten zu intervenieren. Immer ließen sich »Fehler« und »Verstöße« finden, die man ahnden und bestrafen konnte. Stalin hatte insofern trotz der »Mängel« der staatlichen Herrschaft in den Dörfern ein Interesse daran, dass sich Willkür und Verunsicherung hielten. Die herrschende Unordnung konnte er derweil nutzen, um die Funktionäre der mittleren und unteren Ebenen in Schach zu halten. Dazu verwendete er während der Kollektivierung gern die Sprache der Ideologie. Seine Unterscheidung von »rechtem Opportunismus« und »linken Exzessen« brachte die Funktionäre in eine Zwangslage, die einem Doublebind gleichkam: Entweder sie unternahmen als »Rechte« zu wenig und erreichten die unrealistischen Planziele nicht, oder sie gingen als »Linke« zu radikal gegen die Bauern vor, um sich dann wegen »Exzessen« vor einer Parteikommission oder vor Gericht verantworten zu müssen. Man konnte nie wissen, was »richtig« und was »falsch« war, denn Stalins unklare und widersprüchliche Befehle gaben keine klaren Handlungsanweisungen. Auf diese Weise konnte er aber immer von Fall zu Fall entscheiden, was »richtig« und was »falsch« war. Insofern hatte er kein Interesse an einer Konsolidierung der staatlichen Herrschaft als bürokratische Herrschaft. Seine Energie konzentrierte er vielmehr auf Fragen der Ressourcenextraktion.

90 BMDChT 11/3/273, Bl. 2 (Zasedanie Prezidiuma CIK Sovetov Tadˇzikskoj SSR, 28. 5. 1932). Für diese Quelle danke ich Botakoz Kassymbekova.

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6 Utopie im Ausnahmezustand – Ein Großbau in Tadschikistan, 1930 –1937

Im Zuge des Ersten Fünfjahresplans erhielten 150 »besonders relevante« Konstruktionsprojekte der Sowjetunion den Sonderstatus einer sogenannten »Stoßbaustelle«. Zu ihnen gehörten die neue Stahlstadt Magnitogorsk, die Moskauer Metro und die Bergwerke des sibirischen Kusbass.1 Durch den Einsatz neuer Technologien und eine neuartige Arbeitsorganisation sollte der Kern einer neuen, nichtkapitalistischen Gesellschaft möglichst schnell zum Vorschein gebracht werden. Denn »jegliche Tempoverzögerung« auf dem Weg zum Kommunismus »beschwor die Gefahr herauf, den Anschluss an die vorgegebene historische Entwicklung zu verzögern. Zur Selbstvergewisserung und zur Mobilisierung der Bevölkerung verfolgten die Machthaber im Kreml daher hochgesteckte Ziele.«2 Dementsprechend flossen in die Stoßbaustellen Milliarden staatlicher Investitionen. Sie wurden mit einer Vielzahl von Maschinen und technischen Experten ausgestattet, oftmals angesehenen Ingenieuren aus dem westlichen Ausland.3 Die Geheimpolizei sorgte mit ihren Mitteln für den Fortschritt: Alle Prestigebauten verfügten über eigens eingerichtete Strafarbeitslager. Dennoch feierten auch Schriftsteller und Journalisten in ihren Romanen und Reportagen die Geburt des »neuen Menschen« auf den Großbauten des Kommunismus.4 Gerade wegen seiner technischen Verwegenheit und seines isolierten Standorts an der sowjetisch-afghanischen Grenze passte das Kanalbauprojekt im Wachsch-Tal gut zu den megalomanen »Stoßbauten« des Ersten Fünfjahresplans. Ende 1929 hatten die Moskauer Projektplaner beschlossen, in dem 100 Kilometer langen und von den westlichen Ausläufern des Pamir umschlossenen Tal, einem Wüstenplateau, das der Fluss Wachsch bis zu seiner Mündung in den Amudaria durchfließt, eine bolschewistische »Kampfaufgabe« zu lösen. Dort sollte ein neues Bewäs1 2 3 4

Kotkin, Magnetic Mountain; Neutatz, Moskauer Metro; Landau, Wir bauen. Gestwa, »Technik als Kultur der Zukunft«, S. 48. Graziosi, »Visitors from Other Times«. Jasenskij, Cˇelovek; Pil’njak, Tadˇzikistan, sed’maja sovetskaja.

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serungssystem errichtet werden, um bis 1933 50000 Hektar Baumwollfelder zu bewässern. Der Kern des Projekts war ein massives Schleusenwerk aus Eisenbeton, das die Wasserzufuhr aus dem Fluss in das Kanalsystem regulieren sollte.5 Im Jahr 1930 war sogar vom Bau eines großen Wasserkraftwerks am Wachsch die Rede, das einen zukünftigen Industriekomplex mit Elektrizität versorgen sollte.6 Als die Pläne für das Bewässerungssystem an neue Moskauer Vorgaben angepasst wurden, hieß es 1931 schließlich, dass 80000 Hektar Neuland entstehen und mit »ägyptischer« Baumwolle bepflanzt werden sollten, weil die extrem hohen Sommertemperaturen im Wachsch-Tal es erlaubten, die für die industrielle Weiterverarbeitung besonders wertvollen »ägyptischen« Sorten mit ihren langen Fasern ausreifen zu lassen.7 Angesichts solch blendender Zukunftsaussichten erhielten Zweifler kein Gehör. Aber selbst in den Augen von Egon Erwin Kisch, dem »rasenden Reporter« und bekennendem Freund der Sowjetunion, der das Wachsch-Tal im Sommer 1931 besuchte, erschien der Plan, »aus einer jahrtausendelang ausgedörrten Steinwüste einen Baumwollgarten zu machen«, als reine »Phantasmagorie«.8 Der amerikanische Ingenieur Willard Gorton, zwischen 1930 und 1932 als technischer Berater der Zentralasiatischen Wasserbehörde in Taschkent tätig, war fest davon überzeugt, dass das Bauprogramm »praktisch unmöglich« umgesetzt werden könne.9 Ihm war aber auch bewusst, dass die russischen Ingenieure unter schwierigen Bedingungen arbeiten mussten, »da jede wichtige Behörde, jedes Büro und jedes Projekt einen Kommunisten an der Spitze hat, dessen einzige Qualifikation meist seine Kenntnis des Jahrmarktsgeschreis der Kommunistischen Partei ist«.10 Er hatte beobachten können, wie in

5 GARF 8387/1/17, Bl. 6 (Pjatiletnyj plan vodochozjajstvennych meroprijatii po Uzbekskomu upravleniju vodnogo chozjajstva, 1929). 6 »Tam, gde byla carskaja kolonija. Pis’mo iz Srednej Azii«, in: Pravda vom 30. 6. 1930, S. 7. 7 Koˇskin, Vachˇsskaja orositel’naja sistema, S. 11–13; Kurbanova, Pereselenie dechkanskich chozjajstv, S. 47–49. 8 Kisch, Asien gründlich verändert, S. 247. 9 HILA, Gorton Papers, Box 1, Folder D, n. p. (Gorton an Tadˇzikvodchoz Issa Chodˇzanov, 14. 10. 1930). Zur Tätigkeit Gortons und anderer Ingenieure in Zentralasien vgl. Sutton, Western Technology, S. 32–43. 10 HILA, Gorton Papers, Box 2, Folder A, n. p. (Notepad). Ähnlich der sowjetische Ingenieur Sˇproge, ders., Zapiski inˇzenera, S. 384–385, 391–393.

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Taschkent im Januar 1931 reihenweise russische Ingenieure, die jahrzehntelang in Zentralasien gearbeitet hatten, von der Geheimpolizei verhaftet wurden und spurlos verschwanden.11 Nach einem knappen Jahr der Planung und Erkundung des Terrains begannen im Frühjahr 1931 die Arbeiten auf der Stoßbaustelle im Wachsch-Tal. Angst und Gewalt überschatteten das Bauvorhaben von Beginn an. Obwohl es weder an technischer Expertise noch an fähigen Mitarbeitern vor Ort fehlte, beeinträchtigten unflexible Befehlshierarchien und jährlich wiederkehrende Terrorkampagnen das Projekt. Allen Befehlen »von oben« wurde blindlings Folge geleistet. Die technischen Mängel des Schleusenwerks, das 1933 unter größten Mühen und Opfern errichtet wurde, vereitelten den Plan, die Wüste in einen »Baumwollgarten« zu verwandeln, ebenso wie die unberechenbare natürliche Umwelt des Tals. Als Stalin 1935 persönlich begann, sich mit dem Wachsch-Tal zu befassen, nahm die Entwicklung des Projekts eine neuerliche katastrophale Wendung.

Baumwollgarten in der Wüste: Das Wachsch-Tal und die sowjetische Staatswerdung Alles begann mit einem ungünstigen Zufall. Gerade in dem Moment, als die Sowjetunion Kurs auf die Industrialisierung und Kollektivierung der Landwirtschaft nahm und in Moskau die Pläne für die »Baumwolloffensive« Gestalt annahmen, wurde im Januar 1929 in Kabul der afghanische König Amanullah Chan gestürzt. Amanullah, der freundliche Beziehungen zu Moskau pflegte, hatte den afghanischen Zentralstaat für einige Jahre stabilisieren können. Da sein Sturz ein Wiedererstarken der afghanischen Stammesführer bewirkte, unter denen es eine Reihe von antisowjetischen Exil-Usbeken und Tadschiken gab, beschloss Stalin, die politischen Verhältnisse an der sowjetischen Südgrenze umzugestalten. Er gab dem langjährigen Streben der sowjetischen Tadschiken nach einer eigenständigen Sowjetrepublik nach. Tadschikistan, das seit 1925 ein Autonomes Gebiet innerhalb der usbekischen Sowjetrepublik

11 HILA, Gorton Papers, Box 1, Folder F, n. p. (Notiz »There is a serious lack«).

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gewesen war, erhielt im Dezember 1929 den Status einer Sozialistischen Sowjetrepublik.12 Die neue Republik bekam 1930 eine ministeriale Behördenstruktur, zusätzliche Parteikader und Sowjetarbeiter, ein eigenständiges Staatsbudget und ein Prestigeobjekt, für das die Bevölkerung mobilisiert und begeistert werden konnte. All diese Elemente gehörten zur Standardausstattung einer Sowjetrepublik. Der Vorsitzende des tadschikischen Exekutivkomitees, Nusratullo Maksum, der als Kommunist zwar eine zweifelhafte Figur abgab, aber als einer der stolzesten Tadschiken seiner Tage gelten konnte, nahm die Idee, das Wachsch-Tal mit einem Bewässerungsprojekt aufzuwerten, dankbar auf.13 Zum einen bot das Tal die einmalige Möglichkeit, hochwertige »ägyptische« Baumwolle anzubauen und damit die ressourcenhungrige Moskauer Führung zufriedenzustellen. Zum anderen ermöglichte es ein Prestigebau im Wachsch-Tal, die Vormachtstellung der Tadschiken in einem Gebiet zu festigen, in dem es kaum Tadschiken gab. Nach Abklingen des Bürgerkriegs 1926 lebten in der kargen Landschaft der Flussebene einige Tausend Nomaden und Halbnomaden, die als »Usbeken«, »Lokai« und »Turkmenen« bezeichnet wurden. Auf einer Fläche von 29000 Hektar bauten sie Weizen, Hülsenfrüchte, Melonen, Wein und Mais an. Die Landwirtschaft diente der Selbstversorgung der turkstämmigen Talbewohner, und ihre wirtschaftlichen Beziehungen folgten dem Flusslauf in Richtung Afghanistan. Die Staatsgrenze war keine Wirtschaftsgrenze.14 Aus Sicht der neuen Sowjetführung Tadschikistans lag hier der Kern des Problems. Weder war das Wachsch-Tal durch wirtschaftliche Beziehungen an die nördlichen Landesteile angebunden, noch war es von einer persischstämmigen »tadschikischen« Bevölkerung bewohnt. Dies galt es zu ändern. Ziel war die Entstehung eines »sowjetischen« Tadschikistan.15 Der Kanalbau im Wachsch-Tal spielte hierbei eine zentrale Rolle. Er sollte für die zuverlässige Bewässerung einer ausreichend gro-

12 Zu den Auseinandersetzungen zwischen »Tadschiken« und »Usbeken« zwischen 1925 und 1930 vgl. RGASPI 17/69/58, Bl. 3–31 (Soveˇscˇ anie komissii tov. Andreeva po voprosu ob Uzbekistane, 9. 7. 1926); Fedtke, »Wie aus Bucharern«; Bergne, The Birth, S. 119–124. 13 Eisener, Konterrevolution, S. 41–42, 157–161. 14 Jusupov, Vachˇsskaja dolina, S. 8–11, 27–31. 15 Kassymbekova, »Humans as Territory«, S. 357–360.

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ßen Anbaufläche sorgen und es ermöglichen, eine sesshafte, loyale, ethnisch homogene Kolonistenbevölkerung anzusiedeln. Dieses Vorhaben verfolgte Nusratullo Maksum zusammen mit dem Vorsitzenden des tadschikischen Ministerrats Abdurrahim Chodschibajew mit großer Vehemenz. Die dritte Schlüsselfigur, die federführend an der Umsetzung des Bewässerungsprojekts am Wachsch arbeitete, war Karl Baumann, der Ende 1930 den Vorsitz des Zentralasienbüros von Isaak Selenski übernommen hatte. Als Baumann in Taschkent seinen Dienst antrat, war er in der Parteihierarchie tief gefallen. Bis April 1930 hatte er der Moskauer Parteiorganisation vorgestanden. Nach dem Fiasko der Kollektivierung im Moskauer Gebiet hatten Stalin und Molotow ihn durch ihren Vertrauten Lasar Kaganowitsch ausgewechselt.16 Baumann, ein lettischer Revolutionär der ersten Stunde, sah seine Arbeit im Zentralasienbüro als Bewährungsprobe. Mit allen Mitteln wandte er sich nun seinem neuen persönlichen Prestigeobjekt zu, der Verwandlung Tadschikistans in eine »sozialistische Musterrepublik«.17 Ein unwahrscheinlicheres Ziel hätte es nicht geben können. Das Wachsch-Tal lag nicht nur im südlichsten Teil der Sowjetunion, sondern war auch innerhalb der Sowjetrepublik Tadschikistan ein isoliertes Terrain. Es gab kaum Straßen und keine Eisenbahnlinien. »Das wichtigste Fortbewegungsmittel in Tadschikistan ist der Kameltransport«, stellte der Ministerpräsident Chodschibajew 1932 fest und fügte hinzu, die Regierung der kleinen Republik stehe »vor dem Problem, entweder mehr Kamele zu beschaffen oder aber vom Weg des sozialistischen Aufbaus abzukommen«.18 Man konnte auf zwei umständlichen, langwierigen Wegen in das Tal gelangen: von Südwesten her aus der usbekischen Kleinstadt Termes (Termiz) auf dem Amudaria stromaufwärts oder von der nördlich gelegenen tadschikischen Hauptstadt Stalinabad (Duschanbe) über eine ungesicherte und unbefestigte Karawanenstraße durch das Hochgebirge. Nur wenigen Privilegierten stand die unregelmäßige Flugverbindung aus Stalinabad über Garm zur Verfügung, mit der zwar Per-

16 RGASPI 558/11/38, Bl. 94 (Stalin an Kaganoviˇc, 17. 4. 1930); RGASPI 558/11/133, Bl. 112 (Brief von Stalin und Molotov an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, 18. 4. 1930). 17 Bauman, Prevratit’ Tadˇzikistan. 18 BMDChT 18/2/65, Bl. 9 (Chodˇzibaev an die tadschikischen Kreisparteikomitees, 3. 3. 1932).

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sonen, nicht aber größere Mengen von Lebensmitteln oder technisches Gerät transportiert werden konnten.19 Das Fehlen einer zuverlässigen, jahreszeitunabhängigen Verbindung zwischen der Hauptstadt und dem Wachsch-Tal war sowohl Ausdruck der Isolation des Gebiets von den sowjetischen Zentren als auch seiner wirtschaftlichen Marginalität.

Chaotische Anfänge: Mangel, Flucht, Gewalt Auf den ersten Blick glichen die Zustände am Wachsch im Frühling 1931 dem Bild, das sich auf allen sowjetischen Stoßbaustellen bot.20 Der amerikanische Ingenieur Willard Gorton, der an der Projektierung der Bewässerungsanlagen beteiligt war, traf den Nagel auf den Kopf, als er meinte, es sei ein »Irrtum« anzunehmen, dass »die Russen überall fieberhaft bauen« würden. Sein Eindruck war vielmehr, »dass der Anschein der Fieberhaftigkeit durch die totale Unordnung hervorgerufen wird, die an Chaos grenzt, das praktisch überall herrscht«.21 Im normalen Chaos der sowjetischen Großbaustellen gab es keine organisierte Bauleitung, keine nachvollziehbaren Verwaltungsabläufe und keine geregelte Arbeitsorganisation. So fehlte auch im Wachsch-Tal ein ausgereifter Konstruktionsplan. Der Maschinenpark funktionierte nicht. Pferde und Kamele, die als Zugvieh dienten, verendeten und verhungerten. Die 7000 Arbeiter und 700 Rotarmisten, die sich dort 1931 aufhielten, lebten in Zelten, Jurten und Erdhütten, weil für den Bau von Wohnbaracken nicht genügend Bauholz vorhanden war. Für die Arbeiter gab es keine wetterfeste Bekleidung, keine Arbeitsschuhe, keine Seife. Die Gehälter, deren jeweilige Höhe nach Augenmaß festgesetzt wurde, zahlte die Bauleitung nur unregelmäßig aus. Nicht einmal eine funktionierende Parteiorganisation existierte.22

19 Kassymbekova, »Humans as Territory«, S. 352–354. Vgl. Kisch, Asien gründlich verändert, S. 164–166, 225–227, 247–248. 20 Kotkin, Magnetic Mountain, S. 37–71. 21 HILA, Gorton Papers, Box 2, Folder A, n. p. (Manuskript »The Five Year Plan«). 22 BMDChT 18/2/49, Bl. 107–110 (Protokol No. 145 Ispolkomissii Sredazbjuro CK VKP[b], 30. 11. 1931); BMDChT 268/5/34, Bl. 23–24 (Charakteristika sostojanija stroitel’nych rabot Vachˇstroja, 1. 11. 1932); Kisch, Asien gründlich verändert, S. 220–224.

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Wer konnte, tat es den ins Wachsch-Tal kommandierten Sowjetdirektoren, Parteikadern und Ingenieuren gleich und verließ das unwirtliche Wüstental schnellstmöglich wieder. Die 13000 Familien – ungefähr 50000 Menschen –, die 1928 und 1929 zwangsweise aus den Bergregionen Tadschikistans ins Wachsch-Tal umgesiedelt worden waren, flüchteten 1930 vor Mangel und Chaos wieder in alle Himmelsrichtungen.23 Im Frühjahr 1931 hatte der Hunger das Tal fest im Griff. »Kurgan-Tjube sitzt völlig ohne Getreide da«, meldete der Geheimdienst im April. Eine Karawane mit tausend Kamelen steckte mit einer Getreidelieferung mehrere Wochen in den Bergen fest. Die Kameltreiber wurden auf ihrem Weg von angeblichen Staatsbeamten und Parteimitgliedern mit Wegzöllen belegt, von Banden überfallen, zur Abgabe ihrer Waren gezwungen. Im Juni war die Notlage so groß, dass Chodschibajew in Moskau offiziell um Nahrungsmittelhilfe nachsuchen musste.24 Hunger und Flucht waren nicht die einzigen Probleme. Im Frühjahr 1931 rückte der Stammesführer Ibrahim Bek mit seinen Truppen aus Afghanistan nach Tadschikistan ein. Die Anhängerschaft des 42-Jährigen, einem Lokai aus Hissar, war von einem Dutzend Sympathisanten 1929 auf nunmehr 1200 Kämpfer angewachsen. Wie die Sowjetregierung verlangte auch Ibrahim von der Landbevölkerung Tribute. Er ließ Kommunisten erschießen und rekrutierte in den Tälern des südlichen Tadschikistan Männer für seinen Kampf gegen die sowjetische Vorherrschaft. Die Situation war so prekär, dass Stalin einen seiner engsten Vertrauten im Geheimdienstapparat, Efim Ewdokimow, ins Wachsch-Tal entsandte. Nach brutalen Kämpfen zwischen den Rebellen und sowjetischen Sondereinheiten, die diesseits und jenseits der afghanischen Grenze geführt wurden, konnte Ibrahim schließlich gefangen genommen werden, und seine Männer verstreuten sich. Nachdem die Geheimdienstoperation im Juni abgeschlossen war, verteilte die tadschikische Regierung Orden und Prämien an ihre Unterstützer vor Ort, und ein Volksfest wurde gefeiert.25 Ewdokimow und seine Männer zogen nach Turkmenistan weiter, um in der Wüste Karakum einen Nomadenaufstand zu ersticken, was ihnen im 23 GARF 5457/23/65, Bl. 100 (Dokladnaja zapiska CKK-RKI ob itogach obsledovanija Srednej Azii, Juli 1931). 24 BMDChT 18/2/51, Bl. 2, 52, 64, 142 (Sekretnaja cˇ ast’ SNK. Perepiska 1931). 25 RGASPI 85/27/456, Bl. 17, 21–26 (Davud Gusejnov an Ordˇzonikidze, 6. 5. und 24. 6. 1931); Ritter, »The Final Phase«; Eisener, »Who was Ibrahim«.

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September 1931 mit Giftgas- und Bombenangriffen schließlich auch gelang.26 Zwar waren nun die Kämpfe im Wachsch-Tal beendet, die Not aber blieb. Die Ernte war ein Fiasko. Um überhaupt an Nahrungsmittel und Geld zu gelangen, lieferten diejenigen Bauern, die etwas Baumwolle angebaut hatten, an den staatlichen Sammelpunkten unreife und feuchte Rohbaumwolle ab.27 Mitte Oktober 1931 gab es deutliche Anzeichen für die Ausbreitung von Malaria. Die Gesundheitsämter und die örtlichen Sowjets verfügten nicht über ausreichend Mittel und Personal, um etwas gegen die Epidemie zu unternehmen. Mitte November schlugen die Behörden in Taschkent Alarm. Den Hauptgrund für die Epidemie sahen sie nicht im allgegenwärtigen Hunger, sondern im schlechten Zustand der Bewässerungsanlagen, die über kein ausreichendes Entwässerungsnetz verfügten. Die Tümpel und Abwasserseen auf der Baustelle böten ideale Brutbedingungen für die Ausbreitung der die Krankheit übertragenden Mücken.28 Trotz der lebensgefährlichen Bedingungen kamen immer neue Menschen in das Tal. Neben Arbeitern für den Kanalbau und zwangsumgesiedelten Tadschiken aus den Bergregionen gehörten zu diesen Neuankömmlingen mehr und mehr Hungerflüchtlinge aus Kasachstan. Obwohl die Bewachung an der Grenze zu Afghanistan verstärkt wurde, gelang allein in den ersten drei Monaten des Jahres 1932 über 1600 Familien der Grenzübertritt durch das Wachsch-Tal gen Süden. Die an der Grenze stationierten sowjetischen Geheimdiensttruppen verübten Massaker an den hungernden Flüchtlingen, ohne dadurch den Zustrom der Verzweifelten einzudämmen. »In den Grenzbezirken treibt sich eine Masse von antisowjetischen Elementen herum«, beschwerte sich Chodschibajew im April 1932 beim Geheimdienst und forderte, die Grenze endlich abzuriegeln.29 Im Chaos von Hunger und Krankheit, Flucht und 26 Wheatcroft, »Agency and Terror« S. 35–37; Allanijazov, Krasnye Karakumy, S. 84–87, 158–160, 205–206, 213–214. 27 GARF 5457/23/65, Bl. 51 (Materialy po chlopkozavodu No. 97 Kurgan-Tjube, 30. 11. 1931). 28 BMDChT 18/2/49, Bl. 99–101 (Protokol No. 143 Ispolkomissii Sredazbjuro CK VKP[b], 13. 11. 1931). 29 BMDChT 18/2/91, Bl. 11, 15, 106 (Perepiska s GPU Tadˇzikistana 1932). Vgl. Specsvodka SPO OGPU, 1. 4. 1932, in: Sovetskaja derevnja glazami, Bd. 3/2, S. 80–81; Obvinitel’noe zakljuˇcenie po sleddelu No. 11 848 Krasnoznamennogo

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Gewalt war auch 1932 an eine geregelte Frühjahrssaat nicht zu denken. Die Felder lagen brach und die Saatpläne konnten nicht eingehalten werden. »Das liegt daran«, meinte der Geheimdienstchef Tadschikistans Iwan Dorofejew anscheinend allen Ernstes, »dass im Plan weder die Abwanderung der Bevölkerung nach Afghanistan berücksichtigt wurde noch das bisherige Nichteintreffen der eingeplanten Umsiedler.«30 Die verstärkte Präsenz des Geheimdienstes im Wachsch-Tal hatte jedoch auch ihr Gutes. Bei Streifzügen waren dessen Mitarbeiter auf die chaotische Lage der Kanalbaustelle aufmerksam geworden und meldeten ihre Beobachtungen gewissenhaft nach Moskau. Da die Mitglieder der tadschikischen Regierung keinen regelmäßigen Zugang zu Geheimdienstinformationen hatten, waren die Minister in Stalinabad möglicherweise sogar überrascht, als Ende März 1932 ein Telegramm aus der Lubjanka auf ihren Schreibtisch kam: »Über das ganze Territorium der Baustelle liegen verschiedenste Gegenstände und Materialien verstreut herum (Traktoren, Anhänger, Fuhrwerke, Metallteile, Trossen, alte Planen usw.). Die Lebensbedingungen für die Arbeiter sind verheerend: Die Baracken sind leck und ungeheizt. Es gibt kein heißes Wasser, kein Geschirr und keine Waschmöglichkeiten.« Erbärmlich war auch der Zustand des Fuhrparks und des Arbeitsviehs: Von 127 Automobilen fuhren 40, von 28 Baggern arbeiteten 15, von 213 Traktoren funktionierten 90; die Hälfte der ursprünglich 800 Kamele war verendet, und von 2600 Pferden waren 500 tot und 520 arbeitsuntauglich. Dieses niederschmetternde Resultat hatte 38 Millionen Rubel gekostet.31 Was war zu tun? Niemand wusste weiter. Direktoren kamen und gingen. Der Chefingenieur Sergej Syromjatnikow lag mit seinen Bauleitern im Streit. Mehrere Regierungskommissionen aus Moskau bereisten das Tal und brachten nichts als katastrophale Nachrichten mit. Das Zentralasienbüro schickte lange Resolutionen aus Taschkent.32 Faktisch aber änderte sich nichts. Die Parteiführer in Stalinabad wollten dennoch dafür

pogranotrjada OGPU, 17. 6. 1932, in: Tragdeija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 1, S. 510–512; Kindler, Stalins Nomaden, S. 218–231. 30 BMDChT 18/2/91, Bl. 27 (Dokladnaja zapiska No. 8 o chode vesennej posevnoj kampanii chlopkovych kul’tur po rajonam Juˇznogo Tadˇzikistana, 13. 3. 1932). 31 BMDChT 18/2/91, Bl. 55 (Zapiska tov. Akulova, 29. 3. 1932). 32 BMDChT 268/5/8, Bl. 9–11, 23–24, 13–16, 27–28, 31–35 (Postanovlenija Sekretariata i Ispolkomissii Sredazbjuro CK VKP[b] 1932).

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sorgen, binnen Jahresfrist 7000 neue Umsiedlerfamilien in das Tal zu schaffen, um das Land zu kultivieren. Zur besseren Versorgung erlaubten sie den freien Privathandel mit Lebensmitteln. Gleichzeitig wurde der Geheimdienst damit beauftragt, »schnellstmöglich Maßnahmen zu Säuberung der Baustelle von offensichtlich verbrecherischen und feindlichen Elementen« zu ergreifen. Noch im Sommer 1932 sollte ein Schauprozess stattfinden. Insgesamt hatten die Maßnahmen aus Sicht der tadschikischen Parteiführung den Zweck, die Arbeiter zu einem »Sturmangriff zur Aufhebung des Planrückstands« zu mobilisieren und dafür zu sorgen, »innerhalb kürzester Zeit den entscheidenden Durchbruch zu erreichen«.33

Strategien in der Krise: Die Macht der stalinistischen Direktoren »Sturmangriff« und »Durchbruch« waren Metaphern für den Krieg, den die sowjetischen Kommunisten gegen den Widerstand der Bevölkerung und gegen die natürliche Umwelt führten. Im Wachsch-Tal gerann diese Schlacht der Enthusiasten indes zu einem Stellungskrieg. Neuland konnte dem Fluss nur meterweise abgerungen werden. Was an Gebiet gewonnen wurde, ging ebenso schnell wieder verloren. Neuartige Maschinen und noch unbekannte Techniken wurden erprobt, brachten jedoch keine durchschlagenden Erfolge. Der Sturmlauf gegen die Natur forderte viele Opfer,34 was die Befehlshaber aber nur weiter anzuspornen schien. Doch die Feinde blieben, unsichtbar und heimtückisch. Das wurde klar, als am 1. September 1932 Iwan Alexandrowitsch Tolstopjatow seinen Dienst als neuer Direktor des Bauprojekts am Wachsch antrat. Der 1892 geborene gelernte Maschinist hatte seinen erfolglosen Vorgängern voraus, durch und durch ein Mann der neuen Zeit zu sein. Wie viele andere überzeugte Kommunisten begriff er sich als Erfüllungsgehilfe der Geschichte, als Soldat der Revolution.35 Tolstopjatow 33 BMDChT 268/5/32, Bl. 1–5 (Postanovlenie CK KP[b] Tadˇzikistana »O chode Vachˇsskogo stroitel’stva«, 5. 6. 1932). 34 Kurbanova, Perselenie, S. 64, schreibt von »acht großen Havarien mit einer Vielzahl von Todesopfern«, nennt aber keine näheren Details. 35 Hellbeck, Revolution on My Mind, S. 347–349.

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war jahrelang im Moskauer Arbeitsministerium tätig gewesen und dort 1928 zum Stellvertretenden Minister aufgestiegen. Dieses Amt legte er im April 1930 »aus Krankheitsgründen« nieder.36 Warum und wie der inzwischen Vierzigjährige 1932 zu seinem neuen Posten als Direktor der Großbaustelle am Wachsch kam, bleibt im Dunkeln. Doch schon in den ersten Wochen nach seinem Amtsantritt verstand er es, sich als richtigen Mann am richtigen Ort zu präsentieren. Mit seinem energischen Auftreten und seinem offen zur Schau getragenen Selbstbewusstsein inszenierte er sich als einen typischen stalinistischen Direktor, der in der Lage war, die Welt aus den Angeln zu heben. Tolstopjatow hatte eine Persönlichkeit, die stark genug war, um die stalinistischen Prinzipien der »Führerschaft aus einer Hand« und der persönlichen »Verantwortlichkeit« auszufüllen.37 Anders als seine Vorgänger nahm er kein Blatt vor den Mund und versuchte nicht, Erfolgsgeschichten zu erfinden. Aus seiner Sicht war die Großbaustelle am Wachsch ein »ideales Beispiel und wundervolles Vorbild dafür, wie nicht gebaut werden sollte«. »Was einem sofort ins Auge springt«, berichtete er im Oktober 1932, sei die »Systemlosigkeit, Desorganisation, Liederlichkeit und Sprunghaftigkeit bei der Arbeit«. Das Bauvorhaben gehe »tastend wie ein Blinder« und »völlig planlos« voran. Obwohl zu diesem Zeitpunkt weit über 70 Millionen Rubel ausgegeben worden seien, stünden die »schwierigsten und aufwendigsten Arbeiten erst noch bevor«. Die Quelle für Fehler und Verwerfungen suchte Tolstopjatow in den Menschen. Die »besonders ungünstigen klimatischen Bedingungen« erforderten eine »heroische Kraftanstrengung«. Aber zu dieser Kraftanstrengung seien nur die wenigsten bereit, denn »gutwillige und geeignete Leute« seien am Wachsch »absolute Einzelfälle«. »Eine kleine Gruppe von Aktivisten« nehme die »ganze Bürde der Arbeit allein auf sich«. Nur sie arbeiteten »nicht aus Angst, sondern aus gutem Gewissen«. Das restliche Personal und die Arbeiterschaft seien von Angst und Passivität durchdrungen. Er habe den Eindruck gewonnen, schrieb der neue Direktor, die sozialistische Großbaustelle funktioniere »wie ein Arbeitsbesserungslager oder ein Verbannungsort«, wo »Verurteilte« und »Sünder« zur »Arbeit auf Bewährung« landeten.

36 RGASPI 17/3/783, Bl. 18 (Protokol No. 124 Politbjuro, 25. 4. 1930). 37 Kuromiya, »Edinonachalie«.

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Hinzu kämen die »Abzocker, Verbrecher und anderes Geschmeiß«. Insgesamt sei »eine starke Verschmutzung mit antisowjetischen, feindseligen und kriminellen Elementen« festzustellen. »Daher«, schloss Tolstopjatow, »rühren Geldverschwendung, Diebstahl, Trunksucht, Faulheit, Verwahrlosung und folglich das Scheitern der Arbeiten.«38 Inmitten von Not und Chaos sollten dennoch Fortschritte erzielt werden. Der Bau des Schleusenwerks musste vorankommen, der Nachschub von Baumaterialien, Lebensmitteln und Arbeitern war zu regeln und die Baumwollfelder für die Frühjahrssaat herzurichten. Laut Plan hatte die tadschikische Führung für das Jahr 1933 eine Anbaufläche von 40000 Hektar vorgesehen, was vom Landwirtschaftsministerium schon Mitte 1932 auf 24500 Hektar herunterkorrigiert wurde. Tolstopjatow signalisierte nun kurz vor dem Jahreswechsel, dass zum Frühjahr 1933 nur 17600 Hektar realisiert werden könnten. Damit lag die landwirtschaftliche Nutzfläche unter der von 1929, die 29000 Hektar betragen hatte. Doch auch bei dieser Zahl gebe es noch große »Unsicherheiten«.39 Zu den Unsicherheitsfaktoren gehörte der ständige Mangel an Arbeitskräften. Für die Erdarbeiten am Schleusenwerk waren nach Tolstopjatows Meinung nur die »besten Stoßarbeiterbrigaden mit den kräftigsten Arbeitern« heranzuziehen. Stattdessen sah der Direktor auf der Baustelle »vor allem hiesige nationale Arbeitskräfte, die solch schwere Arbeiten nicht gewohnt sind«.40 Im Herbst 1932 ergriff die Malaria wieder weite Teile des tadschikischen Südens, und im November suchte eine Heuschreckenplage das Wachsch-Tal heim. Die Geheimpolizei machte unentwegt Jagd auf hungernde Flüchtlinge, unwillige Umsiedler, aktive Bandenmitglieder und ehemalige Rebellen.41 Und das Tal erlebte seinen zweiten Hungerwinter. Aber anders als in den Steppen Kasachstans, den Dörfern der Ukraine und den Kosakenstationen im nördlichen Kaukasus, wo in den Wintermonaten 1932/33 über sieben Millionen Menschen den Hungertod star-

38 BMDChT 268/5/34, Bl. 8, 12, 26–27 (Charakteristika sostojanija stroitel’nych rabot Vachˇsstroja, 1. 11. 1932). 39 BMDChT 288/3/14, Bl. 12 (Pojasnitel’naja zapiska, 13. 7. 1932); BMDChT 268/5/34, 3 (Charakteristika sostojanija stroitel’nych rabot Vachˇsstroja, 1. 11. 1932). 40 Ebenda, Bl. 28–29. 41 BMDChT 18/2/81, Bl. 16, 39, 47, 95, 114, 117–118, 133–135 (Protokoly zasedanij Ispolbjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, November–Dezember 1932).

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ben, rettete die Talbevölkerung der Umstand, dass ihr Kanalbauwerk den Status einer »unionswichtigen Stoßbaustelle« hatte und in der Person Tolstopjatows einen durchsetzungsfähigen Direktor. Dieser arbeitete eng mit dem Geheimdienst zusammen, um das Bauvorhaben voranzutreiben. Damit hatte er den bestmöglichen Partner gewonnen. Auch in Zeiten größter Not verfügte die Geheimpolizei über eine gute materielle Ausstattung und vielfältige Ressourcen. Sie sorgte für die verlässliche Bereitstellung von 2000 Arbeitshäftlingen, den Schutz der Transportstrecken, die Lieferung von Nahrungsmitteln aus den umliegenden Bergregionen und, summa summarum, für eine ausreichend große Handlungsfreiheit des Direktors bei der Fortführung der Bauarbeiten. Tolstopjatows entschiedenes und autoritäres Auftreten zahlte sich aus.42 In den Frühjahrsmonaten 1933 kam das Bauprojekt endlich voran, und die Hauptschleuse nahm Gestalt an. Ausgestattet mit einer kleinen Vorkammer und errichtet auf einem Felsvorsprung, bestand die Schleuse aus sieben Durchlasskammern mit einem Ausmaß von jeweils 4 mal 3,8 Metern. Insgesamt betrug ihre Länge 55 Meter und ihre Breite 40 Meter. Von einem megalomanen Bauwerk konnte keine Rede sein. Schwierigkeiten bereitete denn auch nicht die eigentliche Errichtung der Schleuse, die mithilfe von Stoß- und Zwangsarbeitern im Frühjahr 1933 gebaut wurde. Das Problem lag vielmehr darin, dass, wie Tolstopjatow sich ausdrückte, der Standort der Schleuse »nicht besonders glücklich gewählt« worden sei. Wie viele Experten war auch er zu der Meinung gekommen, dass das Schleusenprojekt »nicht ausreichend durchdacht und durchgearbeitet« sei. Der Direktor und seine Ingenieure trugen sich mit dem Gedanken, anstatt einer Schleuse einen Damm zu errichten, der nicht teurer und im Hinblick auf die zukünftige Regulierung des Bewässerungssystems sogar praktikabler gewesen wäre. »Aber angesichts der jetzigen Situation des Bauvorhabens gibt es keine Umkehr mehr, denn dazu ist es schon zu spät«, bilanzierte Tolstopjatow, »obwohl man sich des allgemeinen Eindrucks nicht erwehren kann, den auch Probeberechnungen bestätigen, dass eine Dammvariante dem jetzt gewählten

42 BMDChT 268/5/32, Bl. 12–15, 24 (Postanovlenija CK KP[b] Tadˇzikistana, 1932); BMDChT 18/2/81, Bl. 10, 16, 56, 134–135, 138 (Protokoly zasedanij Ispolbjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, November–Dezember 1932); BMDChT 268/5/52, Bl. 13, 15 (Vypiski iz sekretnych prikazov po Vachˇsstroju 1933).

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Schema weit überlegen wäre.«43 Im hektischen Bemühen, die Planrückstände der »Stoßbaustelle« aufzuholen und in der Bausaison 1933 vollendete Tatsachen zu schaffen, schob Tolstopjatow alle Einwände beiseite. Möglicherweise übersah er die Folgen seiner fundamentalen Fehlentscheidung nicht. Wahrscheinlicher aber ist, dass er sich dem politischen Druck aus Taschkent beugte, endlich Fortschritte auf dem Bau zu erzielen. Karl Baumann, der Erste Sekretär des Zentralasienbüros, unterstrich seine Entschlossenheit, Tadschikistan in eine »Musterrepublik« zu verwandeln, mit einer groß angelegten Säuberungswelle, die sich gegen »Schädlinge«, »Verräter« und »nationalistische antisowjetische Geheimorganisationen« richtete. Im April und Mai 1933 leitete Baumann ein Sondergericht (Trojka), das »Aufständische und Konterrevolutionäre« in Schnellverfahren zum Tode verurteilen und erschießen lassen durfte, ohne die Fälle, wie sonst üblich, in Moskau sanktionieren lassen zu müssen.44 Auch nachdem Stalin diese »außerordentliche« Vollmacht wieder kassiert hatte, setzte Baumann seine Terrorkampagne fort: Den Ministern in Duschanbe wurde verboten, ohne Erlaubnis der tadschikischen Zentralkomitees zu telefonieren oder Telegramme zu verschicken, Hunderte indigener Funktionäre wurden verhaftet, und die beiden wichtigsten Sowjetfunktionäre in Tadschikistan, Nusratullo Maksum und Abudarrachim Chodschibajew, wurden öffentlich verunglimpft, von der Geheimpolizei beschattet und schließlich von ihren Posten entfernt.45 In diesem Umfeld von Terror und Unordnung konnte Tolstopjatow, der als Direktor die persönliche Verantwortung für das Bauwerk am Wachsch übernommen hatte, nichts unversucht lassen, seine Bauorganisation möglichst unabhängig von den Entscheidungsgremien des tadschikischen Parteistaats zu führen. Auf dem Höhepunkt der Säuberungen gelang es ihm, weitgehende Vollmachten in seinen Händen zu konzentrieren: Finanzhoheit, Infrastrukturausbau (Straßen und Brü-

43 BMDChT 268/5/34, Bl. 12–14 (Charakteristika sostojanija stroitel’nych rabot Vachˇsstroja, 1. 11. 1932). 44 Lubjanka, Stalin i VCˇK, S. 428 (16. 4. 1933), 435 (7. 5. 1933). 45 BMDChT 18/2/116, Bl. 35 (Protokol zasedanija Bjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, 20. 4. 1933); Lubjanka, Stalin i VCˇK, S. 444 (1. 7. 1933); Stalin i Kaganoviˇc, S. 364–368 (28.–30. 9. 1933); Eisener, Konterrevolution, S. 156–164.

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cken) sowie die Verfügungsgewalt über Zehntausende Zwangsumsiedler sollten fortan allein in seinen Händen liegen.46 Die größere institutionelle Eigenständigkeit wappnete die Stoßbaustelle gegen den Sog des politischen Terrors. Im Gegenzug legte sich die Bauorganisation auf das Ziel fest, die Schleuse und den Kanalbau fristgerecht zu vollenden und das Tal zukünftig zu bewirtschaften. Tolstopjatow musste sich bei seinen Entscheidungen nicht mehr ständig bei der Parteiführung und dem Ministerrat in Stalinabad rückversichern und herrschte nun über ein von Moskau finanziertes und nach außen abgeschlossenes Reich mit eigenen Regeln, Befehlsgewalten und Machtgefügen.

Zwischen Erfolg und Vernichtung: Ein »alter« Ingenieur in einer »neuen« Welt Sowjetische Ingenieure und ihre befehlsgewaltigen Direktoren wanderten immer auf dem schmalen Grat zwischen technischen Erfolgen und persönlicher Vernichtung, denn sie wurden nicht als Angehörige einer Institution, sondern als Privatpersonen verantwortlich gemacht. Dieses Ausgeliefertsein, das Chaos und die Gewalt erzeugten nicht nur individuelle Unsicherheit und institutionelles Misstrauen, sondern perpetuierten eine Situation, die es den Akteuren unmöglich machte, ihre Ungewissheiten über zukünftige Entwicklungen in kalkulierbare Risiken der Gegenwart umzuwandeln. Wo willkürliche Machtentscheidungen in das technische Handeln eingriffen, funktionierten die üblichen Mechanismen zur Reduzierung von Ungewissheit (Planung, Statistik und Expertenwissen) nicht mehr. Diese Form der Unordnung verhinderte die Entstehung komplexer, funktionstüchtiger und in sich schlüssiger technischer Systeme, die eine Unterwerfung der Natur ermöglicht hätten. Handeln in der Ungewissheit bedeutete, dass Improvisation, Spontaneität und Hau-Ruck-Verfahren die Rolle von Planung und Regulierung übernahmen. Das zeigte sich im Sommer 1933 auch am Wachsch. Als im August 1933 das Schleusenwerk fertiggestellt war, fehlte noch der letzte Arbeitsschritt: die Sprengung des sieben Meter hohen und

46 BMDChT 18/2/116, Bl. 39–40 (Protokol zasedanija Bjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, 19. 5. 1933).

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82 Meter langen Kofferdamms, einer Behelfskonstruktion, die das Flusswasser während der Dauer der Bauarbeiten an der Schleuse vorbeileitete. Dieser Schritt barg vielerlei Ungewissheiten. Der falsche Sprengstoff, die falsche Detonationsstärke oder eine Fehlzündung konnten zu schweren Unfällen, zur Beschädigung der Hauptschleuse oder gar zur völligen Zerstörung des Bauwerks führen. Darüber hinaus wurde die schwierige Operation durch die unmittelbare räumliche Nähe zwischen Schleuse und Kofferdamm erschwert sowie durch den weichen Sandboden des Areals, der die genaue Wirkung der Sprengsätze schwer voraussagbar machte. Zwischen März und August 1933 gingen Berichte, Gutachten und Korrespondenzen zwischen Tolstopjatow, den Ingenieuren der Taschkenter Wasserbehörde und dem Moskauer Landwirtschaftsministerium hin und her, ohne dass sich eine befriedigende Lösung gefunden hätte, der alle Beteiligten zustimmen konnten.47 Schließlich begann Tolstopjatow nach eigenem Gutdünken zu handeln und bestimmte, wie der Kofferdamm beseitigt werden sollte. Er setzte sich über die Expertise eines eigens aus dem Ausland hinzugezogenen Bewässerungsexperten, des Italieners Sartori, hinweg, dem er Unkenntnis und Dilettantismus vorwarf. Ein im Auftrag des Moskauer Landwirtschaftsministeriums erstelltes Gutachten, das sich der Meinung des Italieners angeschlossen hatte, ignorierte er. Um die Ungewissheit zu reduzieren, nahm er das Risiko allein auf sich. Darüber hinaus verfasste er lange und optimistische Berichte für seine Vorgesetzten. Im Juli 1933 berichtete er Karl Baumann und dem Zentralasienbüro, dass die Umsetzung des Bauplans schon Ende August »in der Hauptsache erfüllt und grundsätzlich beendet« werden könne und die offizielle Übergabe des Bewässerungssystems im Oktober 1933 erfolgen würde.48 Unter den Ingenieuren und verantwortlichen Technikern sammelte er Verbündete und berief Versammlungen ein, auf denen ausführlich beraten wurde, wie die Sprengung des Kofferdamms erfolgreich vorzunehmen sei. Schließlich begann er, all diejenigen zu diskreditieren, die sich seinen Vorstellungen nicht unterordnen wollten. Das galt für eine Reihe »füh47 Hier und im Folgenden nach: BMDChT 268/5/44, Bl. 1–10 (Dokladnaja zapiska po voprosu udalenija peremyˇcki, otdeljajuˇscˇ ej magistral’nyj kanal ot reki Vachˇs, 12. 9. 1933). 48 RGASPI 62/2/3119, Bl. 29 (Dokladnaja zapiska o sostojanii rabot po Vachˇsstroju, 5. 7. 1933).

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render Mitarbeiter«, insbesondere für den Chefingenieur Sergej Iwanowitsch Syromjatnikow. Man müsse, polterte Tolstopjatow, »überflüssige Diskussionen und Panik vonseiten feiger Leute vermeiden, die sich vor jedem Schritt fürchten, den sie eigenständig tun, und die es für eine tödliche Sünde halten, Befehle von oben mit Sachverstand zu analysieren und kritisch zu hinterfragen, sondern diese Befehle tapfer befolgen und sich ihnen blind unterwerfen – egal, ob sie richtig sind oder falsch«.49 Syromjatnikow war allerdings ein gebranntes Kind. Als prominentes Opfer des Prozesses gegen die Mittelasiatische Wasserbehörde 1928 hatte er erfahren, dass technische Fehlleistungen eine persönliche Haftbarkeit nach sich zogen. Dennoch hatte er damals Glück im Unglück: Statt laut Urteil für fünf Jahre hinter Gittern zu verschwinden, fand er sich unerwartet auf freiem Fuß und arbeitete kurze Zeit später wieder in verantwortlicher Stellung in der Taschkenter Wasserbehörde. Wie zahllose andere »alte« Spezialisten war er führend an den politisch relevanten Bauvorhaben der ersten beiden Fünfjahrpläne beteiligt. Ohne seinen technischen Sachverstand hätte die Schleuse am Wachsch nicht konstruiert werden können. Die »alten« Spezialisten waren keineswegs aus der Welt des sozialistischen Aufbaus verschwunden, wie manche Historiker behauptet haben, sondern arbeiteten weiterhin in Führungspositionen auf den großen Prestigebaustellen, wo sie gefragt waren und gebraucht wurden.50 Nichtsdestoweniger legte Syromjatnikow ein Verhalten an den Tag, das für »neue« Direktoren vom Zuschnitt Tolstopjatows nicht akzeptabel sein konnte. Seine Erfahrungen als sowjetischer Ingenieur hatten ihn geprägt, aber nicht im Sinne des neuen Regimes umgeschmiedet. Statt sich dem Zeitgeist anzupassen, pflegte er einen distanzierten und eigenbrötlerischen Umgang mit seinen Kollegen und Untergebenen. Tolstopjatow schilderte den Chefingenieur als einen »schwierigen Charakter«, der zu »vorschnellen Urteilen« neige und »starrköpfig« auf seiner Meinung beharre. Statt den Bauarbeitern »ihre Aufgaben und die Erfordernisse ruhig zu erklären«, endeten seine Inspektionsfahrten regelmäßig in »Streit und Schreierei«. Statt »junge Spezialisten« zu fördern, begegne er ihnen mit »Missachtung«. Syromjatnikow habe es nicht geschafft, das 49 BMDChT 268/5/44, 4 (Dokladnaja zapiska po voprosu udalenija peremyˇcki, 12. 9. 1933). 50 Kotkin, Magnetic Mountain, S. 74–75.

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»ingenieurtechnische Personal um sich herum zu vereinigen und es zu einer festen technischen Kadereinheit zusammenzuschmieden«, urteilte Tolstopjatow, sondern »durch sein Verhalten und seinen Umgang bei vielen Angehörigen des ingenieurtechnischen Personals den Wunsch geweckt, die Baustelle wieder zu verlassen«.51 Im Sommer 1933 eskalierte der Konflikt zwischen Direktor und Chefingenieur. Die Sprengung des Kofferdamms an der Wachsch-Schleuse war nach den Plänen Tolstopjatows und seiner Mannschaft vorbereitet worden, ohne Syromjatnikow einzubeziehen. Einen Tag vor der geplanten Sprengung löste dann eine unerwartete Flutwelle des Wachsch die vorzeitige Explosion eines der Sprengsätze aus. Durch die »Havarie« entstand in dem Damm ein vier Meter breiter und zwölf Meter tiefer Krater. Es dauerte zwölf Tage, ihn wieder zu verschließen. Die Arbeiten erfolgten unter »schwersten, zeitweise sogar lebensgefährlichen Bedingungen für die dort arbeitenden Leute«, berichtete Tolstopjatow. Für die Sprengung des Behelfsdamms ließ der Unfall Schlimmstes befürchten. In dieser Situation äußerte Syromjatnikow seine Bedenken und Misstrauen gegen Tolstopjatow laut und unverhohlen. Er ging von einem Scheitern der Sprengungsoperation aus und fragte seine Mitarbeiter und Kollegen in der Bauleitung: »Warum folgt ihr Tolstopjatow? Er ist ein mächtiger Mann. Wenn die Sache schiefgeht, kann er sich herauswinden. Wir aber wandern in den Knast.«52 Politischer Opportunismus und unterschiedliche Auffassungen über technische Maßnahmen verschärften den Konflikt zwischen den beiden Verantwortlichen. Nach Meinung des Direktors lagen die größten Fehler des Chefingenieurs in seiner »Initiativlosigkeit«, seinem »tiefsitzenden Formalismus« und seiner »Angst, Risiken einzugehen und Verantwortung auf sich zu nehmen«.53 Es dürften jedoch vielmehr Syromjatnikows zurückliegende Erfahrungen mit dem sowjetischen Justizwesen und der Geheimpolizei gewesen sein, die in ihm die Angst und Passivität hervorbrachten und sein Handeln als Chefingenieur und sein Verhalten als

51 BMDChT 268/5/34, Bl. 24–25 (Charakteristika sostojanija stroitel’nych rabot Vachˇsstroja, 1. 11. 1932). 52 BMDChT 268/5/44, Bl. 8–9 (Dokladnaja zapiska po voprosu udalenija peremyˇcki, 12. 9. 1933). 53 BMDChT 268/5/34, Bl. 24 (Charakteristika sostojanija stroitel’nych rabot Vachˇsstroja, 1. 11. 1932).

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Mensch lenkten. Bei seiner Entlassung, die wenige Tage vor der endgültigen Sprengung des Kofferdamms erfolgte, nahm er dem Direktor das Versprechen ab, im Falle des Misslingens nicht persönlich verantwortlich gemacht zu werden. Der Direktor berichtete später, er habe geantwortet, »dass ich an den Erfolg der Sache glaube und unabhängig vom Ausgang alles unternehmen werde, um ihn vollständig von jedweder Verantwortlichkeit zu befreien, wenn seine Zweifel sich bestätigen sollten, und bat ihn, den Fortgang der Arbeiten fortan nicht mehr zu stören«.54 Die Sprengung des Kofferdamms erfolgte am 12. September 1933. Das Stauwerk hielt der Explosion stand, der Kofferdamm zerbarst fast vollständig, und das Wasser des Wachsch strömte mit 250 Kubikmeter pro Sekunde in den zwölf Meter tiefen Hauptkanal ein. Doch festliche Stimmung wollte nach den übermäßigen Anstrengungen der zurückliegenden Wochen und Monate nicht aufkommen. Bei der Eröffnung der Schleuse wurden weder große Reden gehalten noch Führerporträts gezeigt. Sogar die feierliche Musik blieb aus. Nach der Fertigstellung der Bauarbeiten wuchsen Unsicherheit und Misstrauen angesichts einer ungewissen Zukunft. Tolstopjatow war nach seinem Jahr am Wachsch erfahren genug, seine Handlungsspielräume zu verteidigen und Einmischung von außen zu vermeiden. Darum verschwieg er seinen Vorgesetzten alle Schwierigkeiten und möglichen Probleme. Als er im November 1933 Karl Baumann und dem Zentralasienbüro seinen Bericht präsentierte, sprach er lange über die »äußerst zufriedenstellenden Ergebnisse bei der Bewässerung neuen Kulturlands« im Wachsch-Tal, während er unerwähnt ließ, dass die Neusiedler nicht einmal regelmäßigen Zugang zu Trinkwasser hatten.55 Dennoch beschäftigten sich die Planer in Taschkent nun ausführlicher mit den Arbeiten am Wachsch und den Schwierigkeiten, mit denen die prestigeträchtige Stoßbaustelle zu kämpfen hatte. In einem Brief an das Zentralasienbüro schlug die Leitung der Zentralasiatischen Wasserbehörde erstmals einen vorsichtigen und zurückhaltenden Ton an. Alle Arten von »beschleunigten Bauverfahren« seien als »risikoreich« einzuschätzen, hieß es dort, und in den kommenden Jahren würde »kei54 BMDChT 268/5/44, Bl. 9 (Dokladnaja zapiska po voprosu udalenija peremyˇcki, 12. 9. 1933). 55 RGAE˙ 8378/1/97, Bl. 11 (Dokladnaja zapiska predstavitelej Upol. CKK-RKI v Srednej Azii, 17. 12. 1933).

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nes der großen Bewässerungsobjekte einen bedeutenden Effekt« erzielen, selbst wenn sie »außerordentlich druckvoll finanziert« würden.56 Auch wenn diese Feststellung zutreffend war, sagte sie nichts darüber aus, wie zukünftig mit dem Großprojekt am Wachsch verfahren werden sollte. Das Kanalsystem musste ausgebaut und Neuland urbar gemacht werden. Aber schon auf dem Höhepunkt der anstrengendsten Stoßarbeiten hatte die Lebensmittelversorgung der Arbeiter nicht funktioniert und zum »faktischen Erliegen des Systems der öffentlichen Speisung« geführt. Im Tal grassierten Sandmückenfieber und Malaria.57 Die Anwerbung neuer Arbeitskräfte für die Großbaustelle scheiterte.58 Die Umsiedler, die in jährlichen Kampagnen aus Tadschikistan und Usbekistan angeworben oder zwangsdeportiert wurden, hielt nichts in der unwirtlichen Region.59 Der Geheimdienst beobachtete, dass »Bauern, die die Pflichtabgaben an den Staat nicht erfüllen konnten, in andere Gebiete abwanderten, da sie sich vor Repressionen fürchten«.60 Tolstopjatows Stellvertreter Winokurow schrieb Ende 1933 in seinem Bericht, dass sich die aus den letzten Jahren »schon bekannten Bilder« wiederholten: Es fehlten Transportfahrzeuge und Treibstoff, Ersatzteile und Baumaterialien; die Arbeiter hätten weder wetterfeste Bekleidung noch »halbwegs erträgliche Lebensbedingungen«; die Umsiedler hätten kein Brennholz und keine Dächer über dem Kopf. Das Prestigeobjekt war in seinem Kern bedroht, und es stand das Schlimmste zu befürchten. »Man kann nicht sagen, dass die geplanten Bewässerungsarbeiten ausreichend wären, um die Gewinnung von Neuland überhaupt zu gewährleisten«, ließ Winokurow seine Vorgesetzten wissen, »und der jetzige Zustand lässt an der Effektivität aller geplanten Maßnahmen die größten Zweifel aufkommen.«61

56 RGAE˙ 8378/1/99, Bl. 330–331 (Rachimbaev and Askoˇcenskij an Bauman und Paskuckij, o. D., 1933). 57 BMDChT 268/5/33, Bl. 11–12 (Postanovlenie Ispolkomissii Sredazbjuro CK KP[b], 7. 7. 1933). 58 BMDChT 268/5/52, Bl. 10–13 (Vypiski iz sekretnych prikazov po Vachˇsstroju 1933). 59 Kurbanova, Pereselenie, S. 81–82, 85–90, 94–95, 98–102. 60 RGASPI 62/2/3135, Bl. 41 (Sprakva Naˇc. Kuljabskogo Opersektora GPU Kazakov, 29. 6. 1933). 61 RGASPI 62/2/3119, Bl. 56 (Dokladnaja zapiska Zam. Naˇc. Vachˇsstroja Vinokurova o sostojanii i podgotovlennosti irrigacionnoj seti Vachˇsstroja i chode osvoenˇceskogo stroitel’stva, 8. 12. 1933).

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Feindliche Natur: Die Folgen technischer Fehlplanung Selbst die größten Anstrengungen konnten die technischen Grundfehler der Bewässerungsanlagen nicht beheben. Weder die fehlgeplante Schleuse noch der eilig gebaute Hauptkanal waren ihrer eigentlichen Aufgabe, der geregelten und planbaren Wasserzufuhr für die Baumwollfelder, gewachsen. Die Natur erwies sich mit ihrem harschen Wüstenklima, dem Trinkwassermangel, dem launischen Gebirgsfluss und ihren Treibsandböden als unbesiegbarer Gegner. Das Versagen der Technik im Kampf gegen die Natur führte im Wachsch-Tal wieder und wieder zu Rückschlägen in der revolutionären Staatsbildung.62 Um diesen Zusammenhang besser zu verstehen, lohnt es sich, einige Details hervorzuheben. Der Umstand, dass der Standort der Hauptschleuse »nicht besonders glücklich gewählt« worden war, galt schon ein Jahr vor der Fertigstellung des Baus im Herbst 1933 als ausgemachte Tatsache.63 Was dies konkret bedeutete, zeigte sich aber erst, als das Bewässerungssystem in Betrieb ging. Die 55 Meter lange Schleuse stand wenige Kilometer unterhalb des Punkts, an dem der Wachsch aus einem Bergmassiv austrat und mit hoher Geschwindigkeit in ein 500 Meter breites Flussbett strömte, durch das das Wasser auf verschiedenen Wegen mäanderte.64 Die Regulierung des Wasserzuflusses stellte demzufolge hohe technische Anforderungen. Strömungsleitende Anlagen (temporäre Buhnenkonstruktionen und hölzerne Schutzwehre) im Vorfeld waren nötig, um überhaupt einen ausreichenden Wasserzustrom durch die Schleuse in das Kanalnetz zu gewährleisten. Als 1935 ein Erdbeben den Uferverlauf veränderte und der Fluss sich einen neuen Weg bahnte, lagen große Teile der Kanalanlagen plötzlich trocken. Vor der Schleuse bildete sich eine vier Meter hohe Insel. Geröll und Sandberge verhinderten die Wasserzufuhr in den Haupt-

62 Zur Rolle von Umweltfaktoren bei sowjetischen Bauprojekten vgl. Bruno, »Industrial Life«; Bolotova, »Loving and Conquering«; Ssorin-Chaikov, The Social Life. 63 BMDChT 268/5/34, Bl. 12 (Charakteristika sostojanija stroitel’nych rabot Vachˇsstroja, 1. 11. 1932). 64 Kisch, Asien gründlich verändert, S. 220.

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kanal.65 Nun rächte sich die Entscheidung, anstatt eines Damms, der in der Lage gewesen wäre, Wasser anzustauen und in Filtrationsbecken die Sedimente auszufällen, nur eine Schleuse zu bauen, die bei Wasserzufluss auch alle Sedimente ungehindert in das Kanalsystem durchließ. Aufwendige Reinigungsarbeiten waren die notwendige Folge. Schotter, Sand und Sedimente verstopften nicht nur den Kanalkopf, sondern lagerten sich auch im Hauptkanal ab, der sich als zweite große Schwachstelle des Systems entpuppte. Auf den ersten Dutzend Kilometern durchfloss der Hauptkanal felsiges Gelände, in dem große Mengen von Wasser versickerten. Dicht unter der Erdoberfläche bildeten sich deshalb starke Grundwasserströme. Da das Bewässerungssystem auf abschüssigen Terrassen lag, floss das Grundwasser nicht in Richtung Fluss zurück, sondern bildete am Talrand Seen und Sümpfe. Zudem war der Hauptkanal überdimensioniert und mit zwölf Metern zu tief. Statt das schnell einströmende Flusswasser zu verlangsamen, leitete er es ungebremst in die kleineren Kanäle weiter, die dann überschwemmten. Menschen ertranken, und die Ernten wurden zerstört. Überdies konnte das reißende Wasser die weichen Löß- und Alluvialböden, auf denen sich weite Teile des Bewässerungssystems befanden, leicht fortschwemmen. In der »ausgedörrten Steinwüste«, die Egon Erwin Kisch 1931 gesehen hatte, entstand in den Jahren 1934/35 ein riesiges Sumpfland. Die faktisch ungeregelte Wasserzufuhr hatte erhebliche Folgewirkungen. Während die Flussauen, die sich mancherorts zu Mangrovenwäldern ausgewachsen hatten, durch die Veränderung des Wasserhaushalts austrockneten, verschlangen Salzsümpfe und Abwasserseen das mühevoll gewonnene Neuland wieder. Anfang 1935 hieß es, dass 5000 Hektar Neuland wegen starker Versumpfung nicht zu gebrauchen seien. Obwohl mit dem Bau eines Drainagenetzes begonnen wurde, konnte keine Abhilfe geschaffen werden. Die 1937 im Eiltempo gegrabenen Abwasserkanäle waren zu flach, um ihre Funktion zu erfüllen, versandeten binnen Jahresfrist und mussten 1938 neu gegraben werden. Von den 72000 Hektar bewässerten Ackerlands, die 1938 in der Landstatistik erfasst wurden, galten nach offiziellen Angaben zwischen 40 und 50 Prozent als »stark versalzen«. Ohne eine intensive, zwei bis drei Jahre andauernde meliorative Aufbereitung

65 Koˇskin, Vachˇsskaja orositel’naja sistema, S. 47–50.

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konnten die versalzenen Flächen nicht landwirtschaftlich genutzt werden. Damit hatte sich die tatsächlich nutzbare Anbaufläche im Jahr 1939 gegenüber dem Stand von 1929 nicht einmal verdoppelt: Sie wuchs von 29000 Hektar auf 50000 Hektar.66 Weite Teile des Plateaus, das der Wachsch durchfloss, erwiesen sich für eine intensive Bewirtschaftung mit ägyptischer Baumwolle als ungeeignet. Die Natur spielte bei dieser Entwicklung keine Nebenrolle, sondern zeigte sich als gefährlichster und ausdauerndster Feind. Ein wesentlicher Faktor hierbei war die Bodengeologie. Die lockeren Alluvialböden des Tals zeigen zwei Reaktionen, wenn sie mit Wasser in Kontakt kommen:67 Aufgrund ihrer Kapillarität transportieren sie Grundwasser nah unter die Oberfläche und neigen zu starker Versalzung, weil stark mineraldurchsetztes Wasser an den Bodenkrumen schnell verdunstet und an den Oberflächen Salzkrusten entstehen lässt. Der Stabilitätsverlust, die zweite Reaktion leichter Böden bei Wasserkontakt, führt zu Bodeneinbrüchen, die durch einen hohen Grundwasserspiegel und starke Grundwasserströmungen unter der Oberfläche hervorgerufen werden können. Plötzliche Absenkungen und metertiefe Einbrüche des Bodens waren die Folge. »Da steht einer auf dem Feld und schaut, ob die Baumwolle ordentlich gewässert wird«, erinnerte sich (in den späten 1980er Jahren) ein Zeitzeuge, »und plötzlich ist er verschwunden.« Der Boden verschlang Traktoren, Vieh und Menschen im Handumdrehen. Die Arbeiter und Bauern des Wachsch-Tals mussten sich während der Bewässerungssaison vor dem Betreten der Felder zwei bis drei Meter lange Stangen fest über den Rücken binden, um dem heimtückischen Tod zu entgehen. Doch das half nicht allen.68

66 Zahlenangaben nach BMDChT 268/5/68, Bl. 1 (Postanovlenie Bjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, 21. 1. 1935); BMDChT 288/5/155, Bl. 48 (Kratkaja charakteristika irrigacii Tadˇzikistana 1938); Koˇskin, Vachˇsskaja orositel’naja sistema, S. 25, 28, 37, 56, 58. 67 Koˇskin, Vachˇsskaja orositel’naja sistema, S. 21–24, 37–43. 68 Mirzorachmatov, »Triumf Vachˇsstroja«. Mit ähnlichem Zeitzeugen-Zitat: Kurbanova, Pereselenie, S. 64–66.

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Landschaft der Unordnung: Terror, Deportationen und ein fragiler Staat, 1934 –1937 Mit derselben Unbarmherzigkeit, mit der die kollabierenden Böden Talbewohner verschlangen, handelte auch der sowjetische Staat. Ende 1934 hieß der Unheilsbringer Walerian Kujbyschew, Politbüromitglied und Vorsitzender der Staatlichen Planungskommission, der in Stalins Auftrag »Druck bei der Baumwollbeschaffung« machen sollte.69 Nachdem Kujbyschew einen Monat lang die Baumwollernte in Usbekistan und Turkmenistan überwacht hatte, führte ihn sein Weg Anfang Dezember ins Wachsch-Tal, wo er ganze drei Tage blieb.70 Warum Kujbyschew in die sowjetisch-afghanische Grenzregion kam und was er dort unternahm, wird aus den vorliegenden Quellen nicht ersichtlich. (Möglicherweise handelte es sich einfach um einen Freundschaftsbesuch bei Tolstopjatow, mit dem er zwischen 1928 und 1930 zusammengearbeitet hatte.) Doch wo immer er sich während seiner Reise zeigte, verbreiteten sich Terror und Gewalt. Die staatlichen Gerichte verurteilen Dutzende Bauern in öffentlichen Schauprozessen zum Tode, weil sie angeblich den Erfolg der Baumwollernte behindert hätten. Darüber hinaus wurden zwischen dem 9. und 26. November 1934 in allen zentralasiatischen Republiken, die Kujbyschew besuchte, »außerordentliche Sondergerichte« gebildet, die Todesurteile im Schnellverfahren beschlossen und vollstreckten. Kujbyschew setzte diese Sondergerichte ein und führte, zumindest in dem für Usbekistan zuständigen Standgericht, persönlich den Vorsitz. In Telegrammen und Telefonaten berichtete er Stalin über seine todbringende Arbeit.71 Wie bei Karl Baumanns Terrorkampagne im Frühsommer 1933 zeigte auch Kujbyschews Vorgehen in Zentralasien 1934, dass sowjetische Herrschaftsdurchsetzung an der Peripherie auf öffentlichen Machtdemonstrationen, Drohungen und Gewalt beruhte. Statt in einer abgeschiedenen und sensiblen Grenzregion, in der bisher alle Versuche zur Errichtung geregelter Herrschaftsstrukturen gescheitert waren, eine stabile Ordnung 69 Stalin i Kaganoviˇc, S. 519 (28. 10. 1934). 70 RGASPI 79/1/695, Bl. 4 (Kalendar’ poezdki V. V. Kujbyˇseva v Srednjuju Aziju, 1. 11.–24. 12. 1934). 71 RGANI 89/73/41, Bl. 2–3 (»Ob antisovetskich elementach i sozdanii troek«, 20. 4. 1971); Khlevniuk, Master of the House, S. 124.

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hervorzubringen, verursachten Stalins Befehle immer wieder Krisen und neues Chaos. So hatte auch die Reise Kujbyschews, der knapp vier Wochen nach seiner Rückkehr aus Zentralasien in Moskau an einem Herzinfarkt starb, unmittelbare und schwerwiegende Auswirkungen auf das Wachsch-Tal: Am 19. März 1935 berieten die Mitglieder des Moskauer Politbüros, kurz nachdem sie Anordnungen über die »Bewahrung des ewigen Gedächtnisses« an den verstorbenen Genossen Kujbyschew erlassen hatten, welche Maßnahmen zur Neuland-Aneignung im WachschTal ergriffen werden sollten. Der Besiedlung des Tals wurde von nun an auch von höchster Stelle absolute Priorität eingeräumt.72 Die Tragödie, die aus diesem Umstand folgte, trug unverkennbar die Handschrift Stalins. Am 13. März 1935 informierte die Moskauer Staatsführung die tadschikische Regierung in seinem Namen, dass das Politbüro den Geheimdienst in den folgenden Tagen beauftragen würde, ein »Spezialkontingent« von 2000 entlassenen Häftlingen und »Sonderumsiedlern« zusammenzustellen und ins Wachsch-Tal zu deportieren. In Tadschikistan traf diese Entscheidung alle Beteiligten überraschend und unvorbereitet. Für das Jahr 1935, schrieb Direktor Tolstopjatow, war eigentlich keine Neuansiedlung in großem Maßstab geplant und dementsprechend kein Neuland für Umsiedler vorbereitet. Eilig bildete die Regierung in Stalinabad eine Kommission, die unter dem Vorsitz des Stellvertretenden Ministerpräsidenten Maksumow arbeitete. Die Kommission stellte sich die Aufgabe, die »Sonderumsiedler«, die Mitte April im Wachsch-Tal eintreffen sollten, mit dem Nötigsten zu versorgen: Bauholz, Brennholz, Lebensmitteln, Kühen, Pferden, »wenigstens 1000 Eimern, 1000 Tassen und 1000 Waschtischen«.73 Am 10. April stellte sich heraus, dass das »Spezialkontingent« nicht wie angekündigt 2000 Personen umfassen würde, sondern dass die Geheimpolizei wesentlich mehr Menschen auf den Weg in das Wachsch-Tal geschickt hatte. Zwischen Anfang April und Mitte Mai 1935 trafen schließlich 4895 Deportierte ein. Das Kontingent dieser »Kolonisten« war bunt gemischt. Es umfasste 315 deutsche Mennoniten aus der Oase von Choresm, 350 ehemalige Insassen zentralasiatischer Arbeitslager, 408 entlassene Häft72 RGASPI 17/3/961, Bl. 32–36 (Protokol No. 23 zasedanija Politbjuro »O meroprijatijach po osvoeniju Vachskoj doliny«, 19. 3. 1935). 73 BMDChT 268/5/68, Bl. 11–12, 30–32 (Protokoly zasedanij Bjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, 26. 3. und 16. 4. 1935).

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linge aus Karaganda und 3822 »Sonderumsiedler« (890 »Haushalte«) aus Leningrad.74 Die »Sonderumsiedler« wurden nach ihrer Ankunft im Tal auf verschiedenen Landabschnitten entlang der Bewässerungskanäle verteilt. Sie lebten in provisorischen Baracken, Zelten und Erdhütten und standen unter der Aufsicht einer Kommandantur der Geheimpolizei. Zeitzeugen berichteten in ihren Erinnerungen, dass die neuen Siedlungen am Rand alter Oasen entstanden, Oasen, die »wie eine Insel in einem unendlichen Schilfmeer« lagen und nichts zu bieten hatten als Auenwälder, Sümpfe und wüstes Land ringsum. Häufig mangelte es an Trinkwasser.75 Nach ihrer Ankunft säten die Umsiedler, wie es der Plan gebot, Baumwolle überall dort aus, wo es sich gerade anbot. Nur die wenigsten der neuen Talbewohner hatten von der Baumwollkultivierung eine Ahnung. Deshalb kümmerte sich sogar die Parteiorganisation in Stalinabad darum, dass die wirtschaftliche Diversifizierung und die kommunale Arbeitsteilung in den Umsiedler-Kolchosen schnellstmöglich voranschritten. Wer eine handwerkliche Qualifikation hatte, konnte als Arbeiter auf der Kanalbaustelle tätig werden oder in Baumwollsowchosen arbeiten. Einigen Umsiedlern wurde erlaubt, »Fischerei-Kolchosen« zu bilden. Andere begannen, sich als Händler auf den lokalen Märkten zu betätigen.76 Das Erdbeben von 1935, das die Wasserzufuhr in das Kanalsystem weitgehend unterbrach, und die ausufernde Versalzung ließen Schlimmstes befürchten. Im Herbst 1935 war klar, dass das umgesiedelte »Spezialkontingent« den bevorstehenden Winter ohne Nahrungsmittelhilfe aus Moskau nicht überstehen würde. Trotz der Proteste des tadschikischen Parteichefs Suren Schadunts ließ Stalin die Deportationen nicht abbrechen.77 Stalin verfolgte den Fortschritt der Besiedlung des Wachsch-Tals minutiös. Anfang Februar 1936 erkundigte er sich in Taschkent, ob die usbekische Führung die 1000 Umsiedlerfamilien wie angeordnet schon in die Nachbarrepublik verschickt hätte. »Berichten Sie uns, wie Sie für

74 BMDChT 268/5/68, Bl. 38 (Protokol No. 101 zasedanija Bjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, 22. 5. 1935). Zum Hintergrund der Leningrader Deportationen vgl. Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 205–215. 75 Zit. n. Kurbanova, Pereselenie, S. 94–95. 76 BMDChT 268/5/68, Bl. 39–40 (Protokol No. 101 zasedanija Bjuro CK KP[b] Tadˇzikistana, 22. 5. 1935). 77 RGASPI 17/3/971, Bl. 69 (Protokol No. 23 Politbjuro, 29. 9. 1935).

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die Ausführung unseres Beschlusses sorgen.«78 Im Frühjahr 1936 wurden insgesamt 2734 »Haushalte« aus Usbekistan und den nördlichen Gebieten Tadschikistans im Wachsch-Tal angesiedelt. Doch gegenüber den aus Zentralasien stammenden Zwangsumsiedlern stellten die aus der europäischen Sowjetunion deportierten »Sonderumsiedler« eine besonders schwere Belastung für die fragile Ökonomie des Wachsch-Tals dar. Während am 1. Januar 1935 36000 permanente Bewohner (8307 »Haushalte«) gezählt wurden, kamen im Frühjahr 1935 4900 und im Frühjahr 1936 nochmals 8200 »Sonderumsiedler« (1902 »Haushalte«) hinzu. Dies bedeutete, dass mehr als ein Drittel der Talbewohner unerfahren in der Baumwollwirtschaft und unvertraut mit den harschen Lebensbedingungen war.79 Seitens der tadschikischen Behörden wurde getan, was möglich war, um die Menschen wirtschaftlich auf eigene Füße zu stellen, damit sie sich irgendwie selbst versorgen konnten. Sie sollten Gärten anlegen, Getreide anbauen und Nahrungsmittel für den Eigenbedarf erzeugen. Vom Baumwollanbau war keine Rede mehr.80 Je mehr »Sonderumsiedler« in das Tal gelangten, desto bedeutsamer wurde die Rolle des Geheimdienstes. Angesichts mangelnder finanzieller Ressourcen, einer dünnen Personaldecke und des fortwährenden Kompetenzchaos übertrug die tadschikische Regierung schließlich den Geheimdienstmitarbeitern im Wachsch-Tal die Verantwortung für die russischen und ukrainischen »Sonderumsiedler«. Sie sollten sich nicht nur um deren Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung kümmern, sondern auch um die Bereitstellung von Arbeitskräften für die Landvermessung und Bewässerungsarbeiten. Auf diese Weise konnte sich der tadschikische Staatsapparat schwieriger und unerfreulicher Probleme entledigen.81 Dies geschah aus gutem Grund. Trotz der katastrophalen Lebensbedingungen und der schlimmen wirtschaftlichen Lage drängte die Moskauer Geheimdienstzentrale auf weitere Deportationen. »Das NKWD besteht auf der zusätzlichen Ansiedlung von Sonderumsiedlern im Wachsch-Tal«, ließ man die Direktion des Bewässerungspro-

78 RGASPI 558/11/54, Bl. 82 (Stalin und Molotov an Ikramov und Chodˇzaev, 4. 2. 1936). 79 Kurbanova, Pereselenie, S. 93. 80 BMDChT 268/5/69, Bl. 11–12 (Postanovlenie SNK Tadˇzikskoj SSR, 4. 2. 1936). 81 BMDChT 268/5/69, Bl. 8–10 (Postanovlenie SNK Tadˇzikskoj SSR, 5. 2. 1936).

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jekts im Oktober 1936 wissen.82 Die Deportation von »Sonderumsiedlern« wiederholte sich 1937 nach dem Muster der Vorjahre.83 Dennoch war 1937 alles anders. Die »Helden« und »Pioniere« des sozialistischen Aufbaus galten plötzlich als »Staatsfeinde« und »Saboteure«. Die Opfer der Säuberungen und Massenverhaftungen – allen voran Iwan Tolstopjatow, der Direktor des Bauprojekts am Wachsch, der schon im August 1936 als »konterrevolutionärer Trotzkist« verhaftet worden war – dienten als Sündenböcke für alle Fehler der Vergangenheit und alle Probleme der Gegenwart.84 Diese unerwartete Situation gab den Amtsträgern und Funktionären, die (vorerst) von den Repressionen verschont blieben, jedoch die Möglichkeit, Bilanz zu ziehen.85 Unverhohlen kritisierten sie die Folgen, die die staatliche Politik und das Versagen der Technik im Wachsch-Tal nach sich gezogen hatten. Nach Ansicht des Moskauer Landwirtschaftsministeriums, aber auch vieler Mitarbeiter der Bauorganisation am Wachsch sollte das Bewässerungsprojekt nun endlich aufgegeben werden. Im Frühjahr 1937 wurde in Moskau die »Liquidierung« des Bauvorhabens beschlossen. Nachdem die Moskauer Finanzzuschüsse versiegt waren, stellten die Mitarbeiter der Bauorganisation sofort alle Arbeiten ein. Die Fachkräfte nutzten ihre Chance, die Koffer zu packen und das Tal zu verlassen. Nur »durch mehrfache Bitten« der neu eingesetzten Bauleitung konnte die Auflösung der Bauorganisation »aufgeschoben« werden. Dennoch bestand nach Einschätzung des neu ernannten Wachsch-Direktors Beljakow die »Gefahr«, dass das Bewässerungssystem »binnen der nächsten zwei Monate kollabiert«.86 Die Regierung in Stalinabad schickte im Mai 1937 eine Kommission von Ingenieuren und Wasserexperten in das Tal, um den Zustand des Kanalsystems zu dokumentieren. Das Bild, das sich aus ihrem Bericht er-

82 BMDChT 268/5/69, Bl. 21 (Paskuckij an Zaprometov, 14. 10. 1936). Vgl. Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 4, S. 718–720. 83 ORMDA 837/32/591, Bl. 10 (SNK UzSSR Tjurjabekov an SNK SSSR, 7. 8. 1937); RGASPI 558/11/65, Bl. 106 (Protopopov an Stalin, 30. 12. 1937). 84 RGASPI 17/3/980, Bl. 59 (Protokol No. 42 Politbjuro, 1. 9. 1939). 85 BMDChT 288/5/155, Bl. 44–45 (Kratkaja charakteristika irrigacii Tadˇzikistana 1938). 86 BMDChT 268/5/69, Bl. 37, 42 (Stenogramma zasedanija SNK Tadˇzikskoj SSR, 10. 6. 1937).

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gab, bestätigte alle bekannten Mängel. Obwohl es sich um ein »Pionierprojekt« gehandelt habe, seien seine Ziele verfehlt worden. Der Bericht hielt ausdrücklich fest, dass die Wasserversorgung des Kanalsystems »unsicher und nicht garantiert« sei und der »große Wasserüberschuss auf den Feldern zur Versumpfung der Böden« führe. Wieder diskutierten die Ingenieure, wie die fehlgeplante Hauptschleuse verbessert werden könne oder ob man sie durch einen neuen Damm ersetzen solle. Sie schlugen sogar vor, wieder amerikanische Experten hinzuzuziehen, um bei der Überholung der Anlagen mitzuarbeiten. In dem Klima von Misstrauen und Verrat, das sich 1937 in Tadschikistan immer mehr ausbreitete, warf dieser Vorschlag ein schiefes Licht auf die sowjetischen Experten und machte sie verdächtig. »Wenn man bedenkt, dass unsere Spezialisten nicht in der Lage waren, diese Probleme in Ordnung zu bringen«, meinte der amtierende Direktor Beljakow, dann »haben wir hier die schlimmste feindliche Sabotagearbeit vor Augen«.87 Die Ereignisse von 1937 zeigen auch, aus welchen Gründen die sowjetische Staatsbildung am Wachsch von einer Krise in die nächste geriet. Als Enklave des Zentralstaats war das Bauprojekt weder personell, institutionell noch infrastrukturell mit seinem Umland verbunden. Es war auf einen Befehl aus Moskau entstanden und existierte nur in Abhängigkeit von Moskau.88 Deshalb brachen die staatlichen Strukturen dieses neuen sowjetischen Zentrums an der Peripherie zusammen, sobald die Finanzzuschüsse und Materialversorgung aus der Hauptstadt entfielen. Das geschah im Sommer 1937 innerhalb weniger Wochen. Zuerst blieben die Arbeitskräfte aus, weil die Arbeiter immer nur kurzzeitige Verträge abschlossen und das Tal verließen, sobald ihre Verträge ausliefen.89 Ebenso verschwanden die Zwangsdeportierten, sobald sich ihnen eine bessere Möglichkeit bot, und die »Sonderumsiedler«, sobald sie ihre Haftstrafen abgebüßt hatten. In den Jahren 1937 und 1938 flüchteten abermals Tausende Menschen vor dem sowjetischen Staatsterror über die Grenze nach Afghanistan.90 Selbst die Armee-Einheiten, die für die

87 BMDChT 268/5/69, Bl. 38–42 (Stenogramma zasedanija SNK Tadˇzikskoj SSR, 10. 6. 1937). 88 Vgl. Kaganskij, Kul’turnyj landˇsaft, S. 140–145. 89 BMDChT 268/5/69, Bl. 44 (Stenogramma zasedanija SNK Tadˇzikskoj SSR, 10. 6. 1937). 90 1938 wurden in Afghanistan nach Angaben der britischen Botschaft in Kabul

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Bewachung der Bewässerungsanlagen zuständig waren, verließen ihre Posten, sobald der Bauleitung das Geld ausging.91 Das Bewässerungsprojekt am Wachsch war ein künstliches und fragiles Gebilde, das sich nur dank der Zuwendungen aus Moskau erhalten konnte. Dass sich viele sowjetische Ingenieure, Arbeiter, Bauern und Behördenmitarbeiter nie länger an einem Arbeitsort aufhielten und die »Gewohnheit entwickelten, fortzugehen, solange die Zeiten gut waren und bevor sie bestraft, abberufen, verhört, degradiert, entlassen oder verhaftet« werden konnten, hat der Historiker Moshe Lewin in seiner berühmten Metapher zusammengefasst, die Sowjetunion sei eine »Treibsandgesellschaft« gewesen. Aus dieser Beobachtung zog er zwei Schlussfolgerungen. Zum einen seien in der Sowjetunion Stalins alle »sozialen, behördlichen, industriellen und politischen Strukturen ständig im Wandel« gewesen und zum anderen habe die Führung des Parteistaats den »grimmigen Entschluss« gefasst, »diese Situation zu beenden und im Chaos Recht und Ordnung zu behaupten«.92 Im Fall des Wachsch-Tals gibt es jedoch wenige Hinweise, die diesen Befund stützen. Zum einen störten willkürliche politische Entscheidungen, wie etwa Karl Baumanns »Säuberungen« von 1934, die Entstehung einer administrativen Ordnung. Und wo Ingenieure und Direktoren keine Möglichkeit sahen, Ungewissheit in planbare Risiken umzuwandeln, konnte auch keine technische Ordnung entstehen, die die Natur beherrschbar gemacht hätte. Zum anderen untergruben die Gewaltmaßnahmen, die regelmäßigen staatsterroristischen Kampagnen und Zwangsdeportationen die Entstehung von gesellschaftlicher Stabilität. Stattdessen prägte der chaotische Kampf um überlebenswichtige Güter in einer Mangelgesellschaft die sozialen Beziehungen und Normen. In dieser Situation ließen sich im Wachsch-Tal auch keine Anzeichen von Loyalität gegenüber dem Staat oder Enthusiasmus für den sozialistischen Aufbau finden. Welche Gründe hätte es auch dafür gegeben? Die Bilanz, die Wachsch-Direktor Beljakow im Juni 1937 zog, war nieder-

16000 muslimische Flüchtlinge aus dem sowjetischen Zentralasien registriert (Koplik, »The Demise«, S. 359). 91 BMDChT 268/5/69, Bl. 22 (Maksumov an SAVO, 8. 12. 1936); BMDChT 268/5/69, Bl. 23 (Post. SNK Tadˇzikskoj SSR, 10. 2. 1937); BMDChT 268/5/69, Bl. 42 (Stenogramma zasedanija SNK Tadˇzikskoj SSR, 10. 6. 1937). 92 Lewin, Making of the Soviet System, S. 221.

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schmetternd. »Weil das Projekt am Wachsch über eine riesige materielle Summe verfügte«, sagte er bei einer Sitzung des tadschikischen Ministerrats in Stalinabad, »hätte man gute Lebensbedingungen, einen gesunden Finanzhaushalt und eine Transportinfrastruktur schaffen können. Doch gibt es bis zum heutigen Tag nichts davon: Die Krankenhäuser und die Schulen sind zusammengebrochen. Wir haben weder Schulen noch Krankenhäuser! Und die Infrastruktur ist komplett ruiniert.«93

93 BMDChT 268/5/69, Bl. 45 (Stenogramma zasedanija SNK Tadˇzikskoj SSR, 10. 6. 1937).

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7 Planerfüllung ohne Plan – Baumwollwirtschaft und Staatsterror, 1933 –1937

»In den Büros, auf Konferenzen und in der Presse geht es immer nur um Pläne, Programme und Fristen«, berichtete der amerikanische Ingenieur Willard Gorton nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion in die Vereinigten Staaten 1933. »Es wäre eine Art kommunistisches Sakrileg, etwas zu unternehmen, ohne vorher einen Plan, oder besser: ein halbes Dutzend Pläne, gemacht zu haben.« Gorton hatte zwei Jahre lang als Bewässerungsingenieur in Taschkent gearbeitet und wusste, wovon er sprach. Sowjetische Pläne und sowjetische Wirklichkeit standen, wie er immer wieder feststellen musste, in einem unauflösbaren Widerspruch. Die Planwirtschaft behindere das Erreichen der vorgesehenen Planziele, statt es sicherzustellen. »Das tatsächliche Ergebnis der Pläne«, meinte der Ingenieur, seien »Chaos« und »Unordnung«. »Vergleicht man die Leistungen, die die Roten von Tag zu Tag vollbringen, mit den Möglichkeiten, die sie von Tag zu Tag verschenken, scheint es, dass sie auf ganzer Linie scheitern werden.«1 Die Schwachpunkte der Planwirtschaft hatte Gorton schnell erfasst: Die sowjetischen Pläne beruhten auf »illusorischen Hoffnungen« und die Planer »verplemperten« ihre Zeit mit dem »Verfassen von Märchen«. Und immer gebe es mehrere, einander widersprechende Planszenarien, von denen keines ausgereift genug sei, um umgesetzt werden zu können. Obwohl »alles bis zum letzten Atemzug« durchgeplant sei, herrschten bei der Arbeit »Durcheinander, Unsicherheit und Verantwortungslosigkeit« und die Pläne erzeugten eine »kontinuierliche und überall verbreitete Unordnung, die an Chaos grenzt«. Das sowjetische Alltagsleben sei von »all den Ärgernissen und Unsicherheiten« geprägt, »die man in den kapitalistischen Ländern finden kann, und vielen anderen mehr, die man hier nicht finden kann«. Zudem erzeuge der verschwenderische Umgang mit Ressourcen Mangel und Not. »Du planst und arbeitetest und ver-

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HILA, Gorton Papers, Box 2, Folder A, n.p. (Manuskript »The Five Year Plan«).

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hungerst dabei«, berichtete Gorton. Wenn man überhaupt davon sprechen könne, dass die Sowjetunion »nach einem Plan lebe«, sei dieser »sicherlich vom Teufel selbst erdacht«.2 Die politischen Ziele der »Planwirtschaft« waren vieldeutig und missverständlich. Westliche Zeitgenossen (wie Gorton oder der Ökonom John Maynard Keynes) sahen sie als einen Versuch, eine Alternative zur kapitalistischen Wirtschaftsweise aufzubauen. Erst die Krisen und Verwerfungen in der Welt des Kapitalismus hätten der Suche nach einer sozialistischen Alternative Sinn und Richtung gegeben. Planwirtschaft müsse daher als ein sozialistisches Pendant zum freien Markt verstanden werden, als sein Antipode und Rivale.3 Darum interpretierten sie die Aufhebung des Privateigentums, die Verstaatlichung der Produktion sowie die zentral gesteuerte Allokation und Distribution von Ressourcen als Kennzeichen einer neuartigen, sozialistischen Wirtschaftsweise. Mit dieser Bewertung folgten sie Stalins Generallinie. Dass die sowjetischen Führer gern und ausführlich über Pläne sprachen, mit Zahlen und Statistiken argumentierten und ihr Wirtschaftsmodell als »nichtkapitalistisch« beschrieben, konnte den willkürlichen Grundimpetus ihrer praktischen Entscheidungen nur dürftig verdecken. Wie die folgenden Ausführungen am Beispiel des Baumwollanbaus im Usbekistan der 1930er Jahre zeigen, zielten sie im Grunde weder auf die Planbarkeit von Wirtschaftsabläufen noch auf die Sicherheit von Zukunftserwartungen. Die offizielle Rhetorik von Planung und Entwicklung widersprach den willkürlichen Entscheidungen, die die Staatsführer tagtäglich fällten, und den gewaltsamen Sanktionen, mit denen sie ihren Entscheidungen Geltung verschafften. Diese spezielle Art, die »Planwirtschaft« umzusetzen, veränderte das Zusammenleben in der Sowjetunion von Grund auf und entfaltete eine Machtwirkung, die weder die Staatsideologie des Sozialismus noch die fragilen zentralen Behördenapparate oder die leistungsschwachen lokalen Verwaltungsinstanzen erreichen konnten.4 Die »zentral kontrollierte Wirtschaft«, meint der britische Historiker Robert Davies, wurde »nach einem System von Präferenzen gelenkt und

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Ebenda. Sanchez-Sibone, »Depression Stalinism«; Engerman, Modernization. Edele, Stalinist Society, S. 194–195.

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nicht nach einem genauen Plan«.5 Weil Präferenzen zählten, erstaunt es kaum, dass ganze Großregionen der Sowjetunion über keine Wirtschaftspläne verfügten oder ihre konkreten Planzahlen nicht mit dem Gesamtplan übereinstimmten. Die zentralen und regionalen Pläne wurden zudem regelmäßig verändert und unter Umständen ganz verworfen, manchmal im Jahresrhythmus und manchmal in jedem Planquartal.6 Ob es also in der Sowjetunion der Stalinzeit tatsächlich ein kohärentes und integriertes wirtschaftliches Gesamtsystem gab, wie János Kornai behauptet hat, ist demnach fraglich.7 Davies’ Unterscheidung von konkreten Präferenzen und inkohärenten Plänen sagt jedoch nur wenig über die Macht aus, die von den Quartalszahlen und Planziffern als Tatsachen des Alltagslebens ausging. In den Fabriken mussten die Arbeiter die geforderten »Normen« ebenso erfüllen wie die Bauern in den Kollektivwirtschaften und die Häftlinge in den Straflagern.8 Aber nicht nur die »kleinen«, sondern auch die »großen Leute« wurden an ihrer Mitarbeit bei der Planerfüllung gemessen. »Die Existenz eines langfristigen Wirtschaftsplans, der eine innere Konsistenz, eine Koordination zwischen Zweck und Mitteln und eine ausbalancierte Struktur aufwies«, schrieb der Historiker Moshe Lewin, »war für eine despotische Regierung nicht akzeptabel.«9 Sie war nicht nur inakzeptabel, sondern auch nicht praktizierbar. Immer und überall mangelte es an verlässlichen Informationen. Die Erfolgsberichte logen, während hinter jeder Negativmeldung eine Denunziation stecken konnte. Die gegenseitige Kontrolle innerhalb der konkurrierenden Institutionen des Parteistaats funktionierte nicht. Statistiken fehlten oder wurden zu Staatsgeheimnissen erklärt. Mit ihrer Geheimhaltungspraxis vergrößerte die Parteiführung um Stalin das systemimmanente Informationsdefizit. Paradoxerweise gehörten die willkürlichen wirtschafts-

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Davies, »The Economic History«, S. 147. Der Begriff »planners’ preferences« stammt von Abram Bergson. Bone, »The Soviet Far East«; Baron, Soviet Karelia, S. 104–114. Kornai, The Socialist Economy, S. 360–365. Sokolov, »Reˇzimnost’ na sovetskich predprijatijach«; Fitzpatrick, Stalin’s Peasants, S. 174–203; Applebaum, Gulag, S. 217–231. Lewin, »The Disappearance of Planning«, S. 287. Ähnlich Tucker, Stalin in Power, S. 97.

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politischen Entscheidungen der Parteiführer jedoch zu den wenigen Garanten staatlicher Herrschaftsdurchsetzung. Die »Planerfüllung« hatte für das alltägliche Überleben in der Sowjetunion eine existenzielle Bedeutung. Die usbekischen Baumwollproduzenten mussten ihre Ernten vollständig an den Staat abliefern und wurden im Gegenzug mit Getreide und Geldleistungen entschädigt. Je weniger ökonomische Alternativen zum Baumwollanbau bestanden, desto enger verknüpften sich Planerfüllung und Überleben. Für die Funktionäre bestand die Aufgabe insofern darin, der Landbevölkerung alle Alternativen zum Baumwollanbau zu nehmen. Dabei waren sie jedoch auch mit dem Problem konfrontiert, dass die Baumwollproduktion mit ihren vielen Arbeitsschritten, ihrer langen Produktionsdauer und ihrer dezentralen Erzeugung sehr schwer zu kontrollieren war. Um die »Planwirtschaft« in Zentralasien zu beschreiben, ist zu fragen, wie die zentralisierte Wirtschaftsplanung die dort lebenden heterogenen Gesellschaften veränderte und wie die Baumwollproduktion, deren Erhöhung zu den Präferenzen der Planer gehörte und gleichzeitig eine existenzielle Bedrohung für die Baumwollbauern bedeutete, dem zentralasiatischen Sowjetstaat ihren eigenen Stempel aufdrückte. Zudem ist zu fragen, warum der Staatsterror, ohne den die Baumwollproduktion in Usbekistan nicht durchsetzbar gewesen wäre, sich in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre immer häufiger gegen die Führer und Repräsentanten des Parteistaats richtete, die für die Erfüllung des Baumwollplans zuständig waren, und welche Funktion dem Moskauer Schauprozess vom März 1938 in diesem Zusammenhang zukam.

Medien der Macht: Statistik und Ressourcenallokation Im Januar 1934 erhielt das Moskauer Politbüro von der Zentralverwaltung für Statistik die Daten über die exorbitanten Bevölkerungsverluste der Hungerjahre 1932 bis 1933. Diese Daten konnten den Politbüromitgliedern nicht gefallen. Stalin wies die Statistiker an, ihre Ergebnisse zu »überprüfen« und ihre »Fehler« zu berichtigen.10 Seine Entscheidung 10 RGASPI 17/3/939, Bl. 6 (Politbüro-Beschluss, 20. 2. 1934). Zu den Folgen: Blum/ Mespoulet, Bjurokratiˇceskaja anarchija, S. 93–98; Zˇiromskaja »Statistika 30-ch godov«.

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hatte weitreichende Konsequenzen. Statistiken stellten in der Sowjetunion fortan Staatsgeheimnisse dar, zu denen nur wenige Auserwählte Zugang hatten. Kompilierte statistische Erhebungen gab es weder für die Landwirtschaft noch für die Industrie oder andere Lebensbereiche. Vielmehr blieb es bei dezentralen Datensammlungen, die jede Staatsinstitution, jede territoriale Verwaltungseinheit und jede Kontrollbehörde gesondert erhob und die insofern nicht vergleichbar waren.11 Ihre Ausdeutung gehörte zu den Privilegien der höchsten Organe von Partei und Staat und eröffnete Spielräume für »politische« Interpretationen und »wegweisende« Entscheidungen. Zudem entledigten sich die Parteioberen 1934 diverser eingeübter Verwaltungsabläufe. So stellte die Geheimpolizei ihre monatlichen Berichte über die politische Stimmung der Bevölkerung ein.12 In den Moskauer Ministerien ersetzten Formulare und Tabellen die bisher üblichen qualitativen Lageberichte.13 Wollten sich Moskauer Funktionäre einen Überblick über ein bestimmtes Territorium, zum Beispiel über die Sowjetrepublik Usbekistan, verschaffen, reichten ihnen wenige Eckdaten aus. In Usbekistan, hieß es in einem Kurzbericht aus dem Frühjahr 1934, würden 65 Prozent der sowjetischen Baumwolle erzeugt. Die Republik sei die »Hauptbaumwollbasis der Sowjetunion«. 77,5 Prozent der ländlichen Bevölkerung seien Mitglieder von Kollektivwirtschaften (Kolchosen). Zudem gebe es 85 staatliche Landwirtschaftsbetriebe (Sowchosen). In den 72 »Maschinen-Traktoren-Stationen« (MTS) Usbekistans, von denen die kollektivierten Landwirtschaftsbetriebe Traktoren und andere Maschinen gegen Bezahlung entleihen konnten, stünden 2893 Traktoren zur Verfügung. Vermerkt wurden aber auch die Folgeschäden der »Baumwolloffensive« in Usbekistan. Nicht nur der Viehbestand habe sich seit 1928 halbiert, hieß es, sondern auch die Produktivität der Landwirtschaft sei markant zurückgegangen. Das »Hauptproblem« der Baumwollwirtschaft seien die fehlenden hochwertigen Samenvarietäten. Überdies seien die in Usbekistan produzierten Baumwollfasern »unzureichend lang«. Zu Beginn des Baumwolljahres 1934 war nur ein Drittel der vorhandenen Traktoren

11 Am Beispiel der Kriminalitätsstatistik: Shearer, Policing Stalin’s Socialism, S. 29–33. 12 Martin, »Interpreting the New Archival Signals«, S. 116. Vgl. Plamper, »Beyond Binaries«, S. 67–69. 13 ORMDA 218/7/90, Bl. 31 (Rachmanov an Glavvodchoz, 14. 4. 1933).

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fahrtüchtig und das Kanalnetz nur zu »62 Prozent« für die bevorstehende Frühjahrsaussaat renoviert worden. Weil Transportfahrzeuge und Zugvieh fehlten, verkamen Tausende Tonnen chemischer Dünger an den Eisenbahnstationen.14 Ebenso bedenklich stand es um die usbekischen Parteikader. 1934 hatte die Parteiorganisation 64739 Mitglieder und Kandidaten, von denen 47506 Personen (73 Prozent) den »einheimischen Nationalitäten« angehörten, aber 21,5 Prozent auch Analphabeten waren, ein »extrem hoher Prozentsatz, der besondere Aufmerksamkeit erfahren muss«. Bedenklich war überdies das »extrem schwache Tempo der Indigenisierung« des Parteistaats, in dessen zentralen Einrichtungen »nur 22,5 Prozent Usbeken und andere einheimische Nationalitäten« arbeiteten. »Die Kommunisten Usbekistans«, hieß es weiter, »müssen unter den Bedingungen der fortgesetzten Tätigkeit von nationalistischen konterrevolutionären Gruppen und der Anwesenheit von Banditengruppen arbeiten.« Zudem gebe es keine nennenswerte Industrie. Das Taschkenter Werk für Landmaschinenbau sei ebenso wenig produktiv wie das Textilkombinat in der Stadt Ferghana. Bei der Ölförderung, dem Zementabbau und der Kalkgewinnung handle es sich um Zukunftsprojekte, die erst 1937 oder 1938 arbeitsfähig sein würden. Die wenigen usbekischen Fabriken erfüllten den Plan nur zu 57,2 Prozent, während ihre Arbeitskosten in die Höhe schnellten. Geringe Arbeitsdisziplin, die unzähligen systematischen Betriebsunfälle und die mutwillige »Zerstörung der Ausrüstung« trugen dazu bei, dass selbst in einem alteingesessenen Industriezweig, der Baumwollreinigung, die Planerfüllung nicht einmal 40 Prozent betrug.15 Solche Daten unterlagen strikter Geheimhaltung. Wiewohl die Taschkenter Genossen im Zentralasienbüro 1934 bei ihren öffentlichen Auftritten Stalins Losung vom 17. Parteitag wiederholten, die »Sowjetbauernschaft« habe sich nun »endgültig und unwiderruflich unter das rote Banner des Sozialismus gestellt«,16 herrschte hinter verschlossen Türen doch Ratlosigkeit. Bei einem Treffen zentralasiatischer Parteiführer im Juni 1934 setzte Karl Baumann, wie es die Generallinie vorgab, den Akzent auf die Konsolidierung der Baumwoll14 RGANI 6/1/21, Bl. 16–17 (Materialy k protokolu No. 3 zasedanija Bjuro KPK pri CK VKP[b], 27. 2. 1934). 15 Ebenda, S. 17–18. 16 Stalin, Fragen des Leninismus, S. 545.

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wirtschaft. »Die Aufgabe der organisatorischen und wirtschaftlichen Stärkung der Kolchosen steht noch vor uns, und wir müssen sie unerschütterlich fortführen: Das ist nicht Amerika, aber das ist die Wahrheit.«17 In ihren Debatten ging es 1934 und 1935 um keine ideologischen Themen oder politischen Großprojekte, sondern vielmehr um prosaische Fragen: Wie viel Privatland sollte einem Kolchosbauern zustehen? Was sollte mit den 30 Prozent der Landbevölkerung geschehen, die keiner Kolchose angehörten? Wie sollte man die »Fehler« der Kollektivierungskampagnen »berichtigen«? Wo waren die erfolgreichen sozialistischen Landwirtschaftsbetriebe, von denen Stalins Generallinie sprach? Mit den Ergebnissen der Kollektivierung konnte niemand zufrieden sein. Aber die »Wahrheit«, von der Karl Baumann sprach, brauchte einen Anker aus Zahlen, Daten und Statistiken. Im Sommer 1934 existierten diese Zahlen jedoch nicht. Ein Genosse berichtete, dass zur Beurteilung der wirklichen Lage nur rudimentäre und veraltete Angaben vorlägen. Qualitative Daten gäbe es nur für einzelne Kolchosen. Was in den einzelnen Landkreisen und Bezirken in den letzten drei bis vier Jahren geschehen sei, wisse man dagegen nicht: »Wir wissen, dass Tausende unserer Kolchosen den Plan erfüllt haben. Aber wenn es darum geht zu sagen, wie die einzelnen Republiken dastehen, dann gibt es diese Materialien nicht, weil sich niemand systematisch darum gekümmert hat. Wir wissen aus den Reden einiger Genossen und aus einigen Veröffentlichungen, dass die Kolchosen zum ›wohlhabenden Leben‹ übergegangen sind. Aber wie viele Kolchosen, wie viele Brigaden und welche Kreise, darüber gibt es keine Materialien.«18 »Die Statistik überflügelt die Politik«, ereiferte sich Baumann. Aber auch ihm war klar, welche politische Kraft Zahlen hatten. Schließlich bildeten sie die Grundlage für Berichte nach Moskau. Baumann wusste zum Beispiel, dass die hohe Anzahl nichtkollektivierter »Einzelbauern« keine gute Hausnummer für ihn war. Deshalb galt es, diese Zahl kleinzureden. So fragte Baumann seine Genossen, »wie viel Prozent Einzelbauern« es in Zentralasien denn gebe. »Ungefähr 34 Prozent«, lautete die Antwort. Baumann hakte nach: »Das gilt für die Baumwollkreise, aber in den Getreidegebieten ist sie sicher größer.« Es entspann sich eine Diskus-

17 RGASPI 62/2/3270, Bl. 82 (Stenogramma soveˇscˇ anija pri Sredazbjuro, 22. 6. 1934). 18 RGASPI 62/2/3270, Bl. 3–4 (Islamov).

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sion, wie man die Zahlen möglichst vorteilhaft interpretieren könne.19 So wie Stalin in seinem großen Rechenschaftsbericht auf dem 17. Parteitag mittels abenteuerlich kompilierter Statistiken zu überzeugen versucht hatte, machte sich nun auch Baumann, der Satrap in Taschkent, die »Wahrheit« mit Zahlen schöner, um aus Zentralasien Erfolge melden zu können. Ende Juni 1934 berichtete er an Stalin, dass die »entscheidenden Erfolge« bei der Kollektivierung in den Baumwollanbaugebieten erzielt worden seien. »In den Kolchosen sind 77,5 Prozent [sic] aller Haushalte organisiert. Während im Jahr 1930 der Anteil der Kolchosen an der Baumwollproduktion nur 24,8 Prozent betrug, waren es im Jahr 1933 87,3 Prozent bei einer von Jahr zu Jahr wachsenden Baumwollproduktion.« Zwar lebten in Zentralasien viele Einzelbauern, gab Baumann zu, aber »während im Jahr 1930 der Abstand bei den Hektarerträgen ungefähr 30 Prozent betrug, waren im Jahr 1933 die Hektarerträge in den Kolchosen durchschnittlich 25 Prozent höher als in den Einzelwirtschaften«. Im Ferghanatal lägen die Höchsterträge bei 15 beziehungsweise 17 Zentnern je Hektar. Diese Zahlen zeigten die »Möglichkeiten« des kollektivierten Baumwollanbaus. Dennoch betrügen die mittleren Erträge in Usbekistan nur 9,6 Zentner, in Turkmenistan 7,8 Zentner und in Tadschikistan 6,6 Zentner. Darum sei die »Steigerung der Baumwollflächenerträge«, schloss Baumann, die »wichtigste Hauptaufgabe der Parteiorganisationen Zentralasiens«.20 Dass solche Zahlen nur stichprobenartige und verstreute Erhebungen wiedergaben, lag auch an der immensen administrativen Distanz, die zwischen den Taschkenter Behörden und den einzelnen Kolchosen lag. Vielen Kolchosvorsitzenden machte es große Schwierigkeiten, das vierseitige Standardformular »Jahresbericht der Kolchose« auszufüllen.21 Bedenkt man, wie niedrig der Alphabetisierungsgrad war und wie häufig die Vorsitzenden ihre Posten wechselten, ist das kaum erstaunlich. Selbst wenn sie über die erforderlichen Daten verfügten, mag es auch gar nicht in ihrem Interesse gelegen haben, das Formular präzise auszufüllen. Klagen über die schlechte und unzuverlässige Buchhaltung in den 19 RGASPI 62/2/3270, Bl. 14, 17 (Bauman, Belockij, Gorst). 20 RGASPI 62/2/3221, Bl. 4–5 (Bauman an Stalin, 28. 6. 1934). 21 Tragedija sredneaziatskogo kiˇslaka, Bd. 2, S. 119; Abaˇsin, Sovetskij kiˇslak, S. 333–334.

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Kolchosen gehörten in den Taschkenter Parteibüros jedenfalls zum Arbeitsalltag.22 Die statistische Erfassung der »Wahrheit«, von der Karl Baumann sprach, scheiterte auch an den zahllosen Veränderungen der administrativen Grenzen zwischen den einzelnen Landkreisen und Bezirken.23 Sie stellten das lokale Machtgefüge immer wieder infrage und zwangen die Bevölkerung zur Anpassung an neue administrative Gegebenheiten, was mitunter zu erheblicher Unruhe führte.24 Aber sie erschwerten auch die statistische Erfassung des lokalen wirtschaftlichen Gefüges und somit die Planung für die Zukunft.25 Zudem kehrten 1934 die »Säuberungen« in die Partei zurück; Behörden wurden immer wieder umgebaut; Verwaltungsabläufe ständig verändert. Dies führte nicht nur zu einer hohen Personalfluktuation, unklaren Zuständigkeiten und Doppelstrukturen, sondern auch zum Entstehen von Netzwerken und Seilschaften, die die Unordnung der »Planwirtschaft« für sich zu nutzen wussten.26 Mit Zahlen musste man auch vorsichtig sein, weil sie Erwartungen weckten. Als der usbekische Parteichef Akmal Ikramow auf dem Parteitagspodium 1934 allzu enthusiastisch vom Baumwollanbau schwärmte, unterbrach Stalin ihn: »Egal, aber ihr liefert zu wenig Baumwolle«, worauf die Delegierten in »allgemeines Gelächter« ausbrachen.27 Stalin schickte Ikramow immer wieder Briefe und Telegramme, um ihn an seine Pflichten bei der Baumwollproduktion zu erinnern: »Wozu Urlaub? Und was ist mit der Baumwolle?«28 Den anderen Parteiführern in den Provinzen erging es ähnlich.29 Die Kommunikation des innersten Führungszirkels mit den Regionen und Republiken beschränkte sich zusehends auf Fragen der Ressour-

22 RGANI 6/1/13, Bl. 125 (Stenogramma zasedaniia 3-go plenuma KPK pri CK VKP[b] 7. 3. 1936). 23 VKP(b) i nacional’nyj vopros, Bd. 2, S. 92 (Ikramov und Chodˇzaev an Stalin und Kaganoviˇc, 10. 2. 1935). Beispiele für Kreisreformen 1934: RGASPI 62/2/3270, Bl. 24 (Kirgistan), RGASPI 62/2/3273, Bl. 1 (Karakalpakstan). 24 Shayakhmetov, Silent Steppe, S. 230–231. 25 ORMDA 218/7/90, Bl. 59, 60–61, 65. 26 Rittersporn, Anguish, Anger, S. 218–227. 27 Davies/Wheatcroft, Years of Hunger, S. 297. 28 RGASPI 558/11/65, Bl. 14 (Ikramov an Stalin, 4. 7. 1936); RGASPI 558/11/38, Bl. 103 (Stalin an Ikramov, 26. 4. 1930). 29 Baberowski, Der Feind, S. 751.

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cenallokation. Stalin legte nicht nur persönlich fest, wie viel Baumwolle eine Ernte zu liefern hatte,30 sondern auch fallweise und spontan, welche Investitionen den einzelnen Regionen im Gegenzug zustanden. Er entschied persönlich, ob einzelne Gebiete oder ganze Sowjetrepubliken finanziell unterstützt wurden, Getreidezuschüsse bekamen, mit abgesenkten Planzahlen rechnen konnten oder anderweitig begünstigt wurden. Darum erhielt er aus den Provinzen täglich Telegramme mit Bitten, Ersuchen, Nachfragen und weiteren Bitten.31 Einem Gebietsparteiführer machte Stalin irgendwann deutlich, dass sein Gebiet »schon etliche Vergünstigungen erhalten« hätte. »Jetzt ist es Zeit, die Gespräche über neue Vergünstigungen abzustellen.«32 Zwar kostete Stalin die Ressourcenallokation viel Zeit und Mühe. In einem speziellen Notizbuch hielt er sämtliche Absprachen und Zusagen fest.33 Doch das Ergebnis rechtfertigte den Aufwand: Die willkürliche Ressourcenpolitik vergrößerte Stalins Macht beträchtlich. Sie sorgte dafür, dass er seine wirtschaftspolitischen Prioritäten durchsetzen und Sanktionsmacht über die Provinzparteiführer ausüben konnte. Seine Entscheidungen erfolgten oft im Geheimen. Er überging die zuständigen Bürokratien und setzte sich über die Ministerialapparate hinweg. Gleichzeitig waren die Provinzparteiführer dazu gezwungen, sich mit der jeweiligen (positiven oder negativen) Entscheidung zu arrangieren, weil sie keine andere Wahl hatten. Wie sie mit diesen Entscheidungen in ihren Gebieten konkret umgingen oder ob beispielsweise ein ausbleibender Getreidezuschuss aus dem Zentrum in einer Region zu Hunger führte, musste Stalin nicht interessieren. Solange er seine willkürlichen Befehle durchsetzen konnte, stand es ihm frei, die lokalen konkreten Umstände bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen – oder eben auch nicht.34 30 Stalin i Kaganoviˇc, S. 460–461 (28. 8. 1934), 544 (31. 8. 1935), 553–555 (5. 9. 1935), 678–679 (16. 9. 1936). 31 Vgl. die Anträge der Provinzparteiführer auf Getreidebeihilfen an Stalin im März und April 1936: RGASPI 558/11/54, 93 (Tadschikistan), 94 (Leningrad), 95 (Cˇeljabinsk), 102 (Gor’kij), 103 (Westsibirien), 104, 116 (Tatarstan), 111 (Kasachstan), 114 (Ivanovo), 123 (Dnepropetrovsk). Zusagen erhielten Leningrad und Ivanovo, Tatarstan erst eine Absage, dann eine Zusage. 32 RGASPI 558/11/55, Bl. 14 (Stalin an Sˇeboldaev, 8. 7. 1936). 33 Khlevniuk, Stalin, S. 4. 34 Spittler, »Despotismus«, S. 63.

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Institutionen der Gewalt: Politische Abteilungen, Beschaffungskampagnen, Trojkas Je weiter unten man sich auf der sowjetischen Hierarchieleiter bewegte, desto größer wurde die Macht des Plans und die Herausforderung, das Plansoll zu erfüllen. »Bei jedem Schritt gibt es Widerstand«, beklagte sich ein Parteifunktionär: Die Kolchosvorsitzenden »ignorieren und sabotieren sämtliche meiner Maßnahmen«, und die lokalen Sowjetbehörden »verzögern die Lösung der anstehenden Fragen«.35 Während die Pläne auf der obersten Ebene abstrakt und verhandelbar waren, erforderten sie weiter unten persönlichen Einsatz, Mobilität und Risikobereitschaft. Man konnte sich wie Karl Baumann auf den Standpunkt zurückziehen, die Kolchosbauern in Zentralasien müssten »umerzogen« werden. Nur durch »kulturpolitische Maßnahmen« lasse sich verhindern, dass die Kolchosen falsch verwaltet, schlecht organisiert und dem wirtschaftlichen Zerfall preisgegeben würden.36 Aber an Umerziehung war nicht zu denken, solange die zentralasiatischen Parteiorganisationen auf dem Land zahlenmäßig klein und schlecht alphabetisiert waren. Außerdem litten ihre einheimischen Mitglieder, wie sowjetische Funktionäre immer wieder behaupteten, auch an »politischem Analphabetismus«.37 Wo Agitation und Überzeugung wenig ausrichteten, schoben sich andere Methoden in den Vordergrund. Darum lastete der Planerfüllungsdruck nicht nur auf den usbekischen Baumwollerzeugern, sondern auch auf den Vertretern der Staatsgewalt. Das Landleben wurde immer wieder von neuen Kampagnen und institutionellen Formen durchdrungen. Im Frühjahr 1933 ergänzte das Moskauer Politbüro unter Federführung von Lasar Kaganowitsch die Maschinen-Traktoren-Stationen um »Politische Abteilungen«, wie es sie auch in der Armee und den sowjetischen Fabriken gab. In den Kolchosen und Sowchosen sollten ständige Trojkas, in denen immer ein Geheimdienstmitarbeiter mitwirkte, die Planerfüllung überwachen.38 Ende 1933 entstanden auch in den 72 usbe-

35 QROMA 322/1/84, Bl. 75–76 (Razgor po radio s Tamdami, 26. 10. 1933). 36 RGASPI 62/2/3270, Bl. 83–84 (Stenogramma soveˇscˇ anija pri Sredazbjuro, 22. 6. 1934). 37 RGANI 6/1/13, Bl. 110 (Stenogramma zasedanija 3-go plenuma KPK pri CK VKP[b] 7. 3. 1936). 38 Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 3, S. 678–680.

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kischen MTS »Politabteilungen«. In einer kleinformatigen, weitverbreiteten Broschüre beschrieb die Moskauer Parteiführung, welche Aufgabe sie erfüllen sollten. In den Kolchosen und Sowchosen, konnte man darin lesen, existierten »volksfeindliche Elemente«, deren Ziel es sei, den sozialistischen Landwirtschaftsbetrieben von innen zu schaden, indem sie Traktoren zerstörten, sich an den Ernteerträgen bereicherten, Staatseigentum unterschlugen oder die Arbeitsdisziplin untergruben. Den »volksfeindlichen Elementen« sollten die Politabteilungen »organisierten Widerstand« entgegensetzen, um sie »endlich zu vernichten«.39 Die Genossen Ilin, Nugmanow und Podgorski nahmen sich diesen Befehl zu Herzen. Sie leiteten die Politabteilung der MTS Novo-Buchara, die in der kurzen Zeit ihrer Existenz zwischen Januar und Oktober 1934 37 Baumwollkolchosen beaufsichtigte. Nachdem sie die Bewässerungsund Aussaatpläne begutachtet hatten, schritten die drei Genossen zur Tat. Während der Frühjahrsaussaat im März und April 1934 veranstalteten sie drei Schauprozesse, in denen sieben Traktorfahrer zu Haftstrafen verurteilt wurden. Im Mai gingen sie gegen Agronomen vor, die sogenannte »antimechanistische Tendenzen« an den Tag gelegt hätten, da sie sich gegen den Einsatz von schweren Traktoren auf den Feldern wandten, die ihrer Meinung nach die Böden beschädigten. Außerdem wurde ein Kolchosmitglied vor Gericht gebracht, weil es angeblich mutwillig einen halben Hektar Baumwollpflanzen zerstört hatte. Im Juni »enttarnten« die Leiter der Politabteilung mithilfe der lokalen Parteigenossen 20 »Kulaken« und demonstrierten so ihre »Wachsamkeit« gegenüber »volksfeindlichen Elementen«. Als im Juli 1934 die Vorbereitungen für die Baumwollernte anliefen, setzten sie die Kolchosvorsitzenden unter Druck: In einem Kolchos wechselten sie die gesamte Leitung aus; in einem zweiten wurden der Vorsitzende und ein Brigadier wegen »Trunksucht und Veruntreuung« zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt; und in einem dritten hatte der Vorsitzende angeblich eine BasmatschiRebellengruppe organisiert und wurde zusammen mit fünf weiteren Bauern verhaftet. Im August gingen die Verhaftungen weiter: Die Politabteilung übergab der Geheimpolizei 13 »ehemalige Angehörige der Armee des Emirs«, »Kulakenhelfer«, »Hehler« und »Trinker«. Im Laufe von

39 O celjach i zadaˇcach, S. 4. Vgl. Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 535–536.

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nur sechs Monaten hatten die drei Leiter der Politabteilung somit mindestens 45 Personen verfolgen, verhaften und bestrafen lassen.40 Der Terror der Politabteilung der MTS »Novo-Buchara« erfasste alle sozialen Gruppen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß: Kolchosvorsitzende, Parteifunktionäre, Agronomen und die einfache Bevölkerung. Da jeder Arbeitsschritt in der Baumwollkultivierung, von der Kanalreparatur über die Aussaat und die Feldarbeit bis zur Ernte, von gewalttätigen Übergriffen der Staatsvertreter auf die Baumwollanbauer begleitet war, breiteten sich zwangsläufig Ungewissheit und Angst aus. Diese Angst, die in den Quellen selten zur Sprache kommt, brachte neuartige Verhaltensweisen hervor. »Die Veralltäglichung des Terrors verstärkt dessen Macht«, beobachtete die Anthropologin Linda Green. Sie führt dazu, dass Menschen »hinter einer Fassade der Normalität in einem ständigen Angstzustand leben, während der Terror gleichzeitig das soziale Gewebe durchdringt und zerfetzt«. Die zu beobachtende Reaktion kann, Green zufolge, entweder in Abstumpfung, Passivität und scheinbarer Akzeptanz bestehen oder in panischem und hysterischem Aktionismus.41 In vielen Berichten aus den usbekischen Baumwollsowchosen von 1934 kommt diese Mischung aus Aktionismus und Passivität zum Ausdruck. So glänzten manche Betriebe mit »Planübererfüllung«. Dann hieß es beispielsweise, dass »trotz der außerordentlich schwierigen Arbeitsbedingungen die Traktoristen mit ihrem Enthusiasmus den gesamten Traktorpark in Bewegung« gesetzt hätten. Andere wiederum scheiterten an »mangelhafter Arbeitsorganisation, fehlender Strafverfolgung und völliger Tatenlosigkeit der partei-gesellschaftlichen Organisationen«.42 Dass sich die Staatsvertreter in Usbekistan schwer damit taten, die Erfüllung des Baumwollplans zu gewährleisten, lag einerseits an der schwachen Verankerung parteistaatlicher Institutionen auf dem flachen Land: In vielen Kolchosen gab es keine Parteizellen, und die MaschinenTraktoren-Stationen erreichten gerade einmal die Hälfte der kollekti-

40 RGASPI 62/2/3313, Bl. 32–33, 46–47, 50, 64, 71, 75, 80, 113–114, 118–121, 132–136, 157–160, 163–164 (Monatsberichte der Politabteilung der MTS »Novo-Buchara«, Februar-September 1934). 41 Green, »Fear as a Way of Life«, S. 231. 42 RGASPI 62/2/3272, Bl. 35–36 (Sovchoz »Kzyl-Cˇarvodar«, 30. 5. 1934), Bl. 28–29 (Sovchoz »Murabek«, 5. 5. 1934).

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vierten Agrarbetriebe in den Baumwollanbaugebieten.43 Andererseits erforderte der Anbau von Baumwolle von der Kanalpflege im Frühjahr bis zur Ernte zwischen September und Dezember Dutzende Arbeitsschritte, die sich nicht leichter Hand überwachen ließen. Über einen langen Zeitraum mussten sehr viele Menschen unter ständiger Beobachtung gehalten werden.44 Da die Dörfer und Siedlungen weit im Terrain verstreut lagen, waren sie für die sowjetischen Staatsfunktionäre, Parteileute und Polizisten oftmals schwer zu erreichen, zumal wenn Straßen, Pferde und Fahrzeuge fehlten. Dazu kam, dass der Baumwollbau in Usbekistan mit Gewalt durchgesetzt wurde, was die physische Präsenz der Vertreter des Staates in den Dörfern unabdingbar machte. Da aber die Personalressourcen begrenzt waren, unterlagen auch die Möglichkeiten zum Bestrafen und Sanktionieren gewissen Grenzen. Die Repräsentanten des Staates mussten, weil ihr Aktionsradius an ihre physische Präsenz gebunden war, selektiv vorgehen, indem sie sich auf schwere Delikte beschränkten und leichte Vergehen übergingen. Wo sie in einem Fall gegen ein Delikt mit Gewalt vorgingen, mussten sie in anderen Fällen tatenlos zusehen. Insofern standen sich Gewalt und Passivität nicht gegenüber, sondern ergänzen sich vielmehr.45 Um in dieser unübersichtlichen und chaotischen Situation politische Macht zu demonstrieren und staatliche Herrschaft zu manifestieren, setzte Stalin 1934 die bewährte Praxis der »Beschaffungskampagnen« ein, die gewaltsame Eintreibung von überhöhten staatlichen Abgaben von der Ernte mittels Strafandrohung und Strafvollzug. In den usbekischen Baumwollgebieten waren diese Kampagnen seit Herbst 1929 eine gängige Praxis. Als Stalin im November 1934 das Politbüromitglied Walerian Kujbyschew zur »Baumwollbeschaffung« nach Zentralasien delegierte, steigerte sich jedoch wie bereits erwähnt deren gewaltförmige Dimension extrem. Es operierten mehrere »außerordentliche Sondergerichte« (Troiki) und in Taschkent fand auch ein Schauprozess mit 55 Angeklagten statt, von denen 13 zum Tode verurteilt wurden.46 Das Ausmaß der Re43 44 45 46

RGASPI 62/2/3272, Bl. 57 (O perestrojke partorganizacii, 1934).

Im Folgenden abgewandelt nach Spittler, »Passivität«, S. 53–57. Vgl. ebenda, S. 54. Harold Denny, »Soviet Sentences Five More Kulaks to Die For Hindering the Cotton-Picking Schedule«, in: New York Times vom 21. 11. 1934, S. 3.

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pressionen von 1934 war exorbitant: In Usbekistan wurden 37250 Menschen zu Haftstrafen in Arbeitslagern verurteilt. Bei den geahndeten Verbrechen handelte es sich um die Straftatbestände »Diebstahl sozialistischen Eigentums« und »Verhinderung der Durchführung des Baumwollplans«. In zwei Dritteln der Fälle betrug die Strafdauer zwischen zwei und fünf Jahren; drei Viertel der Verurteilten stammten aus der einfachen Landbevölkerung. Viele wurden verurteilt, weil sie unreife Baumwollkapseln geerntet hatten.47 Dies war jedoch nur aus dem Grund geschehen, weil die in den 1930er Jahren ausgesäten Baumwollsorten überwiegend spät reifend waren,48 der Moskauer Baumwollplan aber dessen ungeachtet akribisch vorgab, wie viel Baumwolle in welchem Monat abgeerntet sein sollte. Dieser Plan musste um jeden Preis eingehalten werden.49 In Usbekistan wurde die »Baumwollbeschaffung« Jahr für Jahr praktiziert, obwohl sie ihr Ziel der »Planerfüllung« verfehlte: Im Frühjahr 1935 beschloss das Moskauer Politbüro, wieder Baumwolle aus dem Ausland zu importieren.50 Die gewalttätigen Methoden blieben dennoch unverändert: Inspektionstouren von hohen Moskauer Staatsfunktionären, öffentliche Schauprozesse und Erschießungsaktionen der Geheimpolizei begleiteten die Massenmobilisierung zum Ernteeinsatz. Dennoch sollte man nicht von einer »ritualisierten Anwendung der Repressionen« sprechen.51 So verhielt sich der Moskauer Minister für Leichtindustrie Isidor Ljubimow, der im Spätherbst 1935 durch Usbekistan tourte, vergleichsweise konziliant.52 Als hingegen im September 1937 Andrej Andrejew, Mitglied des Politbüros, in Taschkent eintraf, war die unbefriedigende Baumwollernte für ihn nur ein weiterer Grund, den Terror gegen

47 ORMDA 837/32/356, Bl. 3, 6, 16–17 (Dokladnaja zapiska o rabote organov justicii Uzbekskoj SSR za 1934–1937 gody, 27. 12. 1937). 48 Ter-Avanesjan, »K istorii chlopkovodstva«, S. 605. 49 QROMA 50/1/64, Bl. 138 (Postanovlenie SNK SSSR No. 1940 »Plan kalendarnych srokov zagotovok chlopka-syrca«, 8. 9. 1933). 50 RGASPI 17/166/542, Bl. 133 (Protokol No. 23 zasedanija Politbjuro, 21. 3. 1935). Der Geheimbeschluss befahl die Einfuhr von einer Million Pud Baumwolle aus Persien, der Türkei, Afghanistan und Xinjiang. 51 So Merl, »Bilanz der Unterwerfung«, S. 129. 52 RGAE˙ 7604/1/569, Bl. 39–40 (Dokladnaja zapiska direktora chlopzavoda No. 42 v Kokande, 9. 2. 1936). 1936 ergingen in Usbekistan gegen 15613 Menschen Verurteilungen zu Lagerhaft (ORMDA 837/32/356, Bl. 3).

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die Landbevölkerung in Usbekistan anzuheizen.53 Der Staatsterror hätte seine Wirkung verfehlt, wenn er das Überraschungsmoment seiner »inszenierten Plötzlichkeit« verloren hätte.54 Im Zuge der »Beschaffungskampagnen« nahm die Zahl der Häftlinge in den Arbeitslagern des Gulags exponenziell zu. Den internen Statistiken zufolge hatten die »Zentralasiatischen Arbeitsbesserungslager« (Sazlag) Anfang Februar 1933 16206 Insassen, von denen 3474 im Baumwollanbau arbeiteten.55 Die Taschkenter Regierung forcierte die für sie vorteilhafte Kooperation mit dem Lagerkomplex, der aus 16 größtenteils in Usbekistan gelegenen Außenlagern bestand, besonders im Bereich des Baumwollanbaus.56 Dementsprechend arbeiteten 1935 von der auf 25831 Häftlinge angeschwollenen Gesamthäftlingsbevölkerung des Lagerkomplexes 17179 (66 Prozent) in Baumwollsowchosen. Allein im Sowchos »Pachta-Aral« verrichteten im Jahr 1935 zwischen 3600 und 3800 Häftlinge »landwirtschaftliche Tätigkeiten«. Im Oktober 1935 errichtete die Lagerverwaltung das Außenlager »Kuwastroj« in Asaka im Ferghanatal, wo 2600 Häftlinge neue Bewässerungskanäle gruben.57 Überdies »verlieh« die Lagerverwaltung Häftlinge an zivile Landwirtschaftsbetriebe und sorgte dafür, dass für industrielle und infrastrukturelle Bauvorhaben in den zentralasiatischen Republiken genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen.58 Wie eng verklammert die Strafarbeit in den Lagern mit dem »zivilen« Baumwollanbau in den usbekischen Kolchosen und Sowchosen war, illustriert die Biografie des Funktionärs Iwan Katerinjenko. Er wurde nach einer Tätigkeit für die Arbeiter-und-Bauern-Inspektion zwischen 1929 und 1933 am Taschkenter Baumwoll-Institut ausgebildet und leitete danach drei verschiedene Sowchosen in Usbekistan. Dann wechselte er 1939 zum Gulag in Taschkent und wurde dort Leiter der Landwirtschaftsabteilung. Die Moskauer Hauptverwaltung wurde schnell auf ihn aufmerk53 54 55 56 57

RGASPI 73/2/30, Bl. 44–52 (Soveˇscˇ anie po chlopku v Uzbekskoj SSR, 19. 9. 1937).

Elwert, »Gewalt als inszenierte Plötzlichkeit«. Istorija stalinskogo Gulaga, S. 501–502. ORMDA 218/7/90, Bl. 52 (Postanovlenie No. 78 SNK UzSSR, 22. 2. 1933). GARF 9414/1a/703, Bl. 5 (Buchgalterskij otˇcet Sazlaga NKVD za 1935 god). Zum Einsatz von Häftlingsarbeit bei Kanalbauprojekten vgl. Gestwa, »Auf Wasser und Blut«. 58 RGASPI 62/2/3121, Bl. 14–15 (Paskuckij an Bauman, 17. 8. 1933); ORMDA 837/32/46, Bl. 25–26 (Aliev an Molotov, 29. 8. 1936).

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sam und überantwortete ihm den Posten des Stellvertretenden Lagerkommandanten in Karaganda, den er ab März 1940 ausfüllte, bis er im Juli 1942 aus Krankheitsgründen ausschied.59 Katerinjenkos Laufbahn, die ihn vom Direktorenposten in einer usbekischen Baumwollsowchose zum Kommandanten eines der größten Gulag-Lager führte, war außerordentlich. Sie zeigt aber auch, wie eng der Baumwollanbau in den »zivilen« Sowchosen mit der Welt der sowjetischen Arbeitslager verkettet war. Dennoch gab es große Handlungsspielräume für Sowchose-Direktoren. Es stand in ihrem Ermessen, ob und in welcher Weise sie die Möglichkeiten der Gewalt nutzten. Sija Muchamedow, der usbekische Direktor einer Sowchose in Isbaskent (Bezirk Andischan), hatte seinen Posten im Sommer 1933 angetreten, als die Landarbeiter hungerten, das Vieh starb und der Betrieb hohe Verluste schrieb. Als ein russischer Funktionär aus der Politabteilung der »Maschinen-Traktoren-Station« im Frühling 1934 damit begann, »Kulaken«, »Trinkern« und »Selbstversorgern« in der Sowchose nachzujagen, unterband Muchamedow dessen Aktivitäten, was ihm den Vorwurf einbrachte, er umgebe sich mit »klassenfeindlichen Elementen«. Muchamedow blieb standhaft und behielt in einem lang andauernden Machtkampf schließlich die Oberhand, weil er Rückendeckung von Akmal Ikramow und der usbekischen Parteiführung erhielt.60 In den Sowchosen herrschten unterschiedliche persönliche Gewaltregimes, und bei Delikten war die Bestrafung selektiv und uneinheitlich. Das Handeln der staatlichen Akteure schwankte zwischen Aktivismus und gewaltsamer Machtdurchsetzung auf der einen Seite und Passivität und beschränkter Herrschaftsausübung auf der anderen. In dieser chaotischen Lage bedeuteten die Arbeitslager des Gulags für die Zehntausende Häftlinge, die im Baumwollanbau arbeiteten, eine permanente Gewalterfahrung. Gleichzeitig stellten sie für die Landbevölkerung eine permanente Gewaltandrohung dar. Sie musste ständig in der Angst leben, Opfer der todbringenden Straflager zu werden. Die Bedrohung war im Alltag präsent, weil in den Sowchosen sowohl freie Landarbeiter als auch Lagerhäftlinge gemeinsam für die Planerfüllung arbeiteten und

59 Hedeler, »Das Beispiel KARLag«, S. 128–131. 60 RGASPI 62/2/3272, Bl. 72–73, 107–110, 113 (Sovchoz »Ikramov«, April-August 1934).

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dieselben Tätigkeiten verrichten mussten.61 Damit waren die Lager zum einen Orte, an denen es den Staatsvertretern besser als irgendwo sonst gelang, Kontrolle über die Baumwollproduktion zu gewinnen. Zum anderen durchdrangen sie mit ihren Zwangsmethoden auch die »zivilen« Kolchosen und Sowchosen und sorgten dort für Angst und Unsicherheit. Baumwollanbau, Produktionskontrolle und Beschaffungskampagnen legten in Usbekistan und seinen zentralasiatischen Nachbarrepubliken das Fundament für die sowjetische Herrschaftsbildung. Insofern bestand ein weiteres Moment der Willkür darin, dass die Staatsvertreter ihre begrenzten Kräfte ganz auf die Baumwollregionen konzentrierten. Während einige Gebiete unter dem Terror der Planerfüllung litten, blieben andere Regionen von ihm unberührt. Wo keine Baumwolle wuchs, beschränkten sich die Parteileute und Staatsfunktionäre auf den einfachen und aus der vorsowjetischen Zeit bekannten Herrschaftsmechanismus, am Jahresende einen festgelegten Anteil der Ernteerträge einzuziehen. Auf welche Weise Getreide, Seide, Wolle oder Fleisch produziert wurden und wie die Zusammenarbeit in den Kolchosen geregelt wurde, blieb Sache der Landbevölkerung.62 Folglich existierten die Kolchosen nur auf dem Papier: Schafe, Kamele, Rinder und Pferde befanden sich in privatem Besitz, auch wenn sie formal den Kolchosen gehörten. Die einzelnen Familienwirtschaften blieben intakt. Oftmals setzten die lokalen Behörden die Befehle zur Kollektivierung nicht um, beließen alles beim Alten und begnügten sich damit, in ihren Berichten davon zu schwärmen, wie erfolgreich sich die Kollektivierung auf die landwirtschaftliche Produktion auswirkte.63 In ländlichen Regionen, die keine oder in der Gesamtproduktion nur einen kleinen Anteil Baumwolle produzierten, war der Sowjetstaat weniger präsent und weniger wichtig und verfügte kaum über routinierte Sanktionsmacht. »Der Einfluss der Partei«, erinnerte sich ein Zeitzeuge an die zweite Hälfte der 1930er Jahre in Karakalpakstan, »war nicht stark.«64

61 Istorija stalinskogo Gulaga, S. 511–514, 521–522. 62 Eine eindrucksvolle Lokalstudie findet sich bei Abaˇsin, Sovetskij kiˇslak, S. 331–338. 63 Merl, »Bilanz der Unterwerfung«, S. 125. Ein Beispiel in QROMA 322/1/444, Bl. 8–10 (Materialy revizionnogo obsledovanija kolchosov, Dezember 1937). 64 HPSSS, Schedule B, Vol. 8, Case 228, S. 7.

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Wirkungen der Willkür: »Traditionalismus« und »Rückständigkeit« Als der Historiker und Marxist Pjotr Gasulo 1935 sein Buch »Turkestan als Kolonie« neu herausbrachte, konnte man seine Geschichte des untergegangenen Zarenreichs wie ein Gegenwartsporträt lesen. »Der russische Imperialismus«, schrieb er, »führte in seinem Bestreben, die Rohstoffquellen zu monopolisieren, zu einer umfassenden Entwicklung der Baumwollwirtschaft in Zentralasien und durchdrang die Kolonie Turkestan mehr und mehr, indem er ein immer engeres Bündnis mit dem System des räuberischen Wucherhandels und der sklavenmäßigen Ausbeutung der Baumwollzüchter schloss.« Unter der »Bürde des Systems der kolonialen Ausbeutung« sei die Baumwollwirtschaft in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in eine »verdeckte Krise« geraten, deren »klare Anzeichen« der »völlige Stillstand der Technik und die Verelendung der Landbevölkerung« waren. Der Baumwollanbau sei kein Zeichen wirtschaftlichen Wohlergebens gewesen, sondern ein »Zeichen für die immer größere Kraftanspannung des Kleinproduzenten«.65 Im Anschluss an Gasulo kann man fragen, wie sich der Baumwollanbau auf die sowjetischen »Kleinproduzenten« und ihre Familien auswirkte. Zu diesem Thema haben die Quellen überraschend wenig zu sagen. Die Zeitungsredaktionen und Staatsverlage vermittelten das Bild einer erfolgreichen, technisierten und fortschrittlichen Baumwollproduktion. Sogar die Agrarexperten lobten die sowjetische Baumwollerzeugung im Einklang mit der Staatsideologie.66 Anders als zehn Jahre zuvor betrieben die Parteiorgane Mitte der 1930er Jahre keine Dorfstudien mehr. Ihre Spezialisten konzentrierten sich auf Spezialgebiete und nahmen Ausschnitte, aber nicht die komplexe Wirklichkeit der kollektivierten Baumwollproduktion in den Blick. Selbst die Geheimpolizei, die in den ersten Kollektivierungsjahren das Verhalten der Landbevölkerung genau beobachtet hatte, interessierte sich nicht mehr sonderlich für die Dörfer und ihre Bewohner. Gleichwohl zeichneten die Berichte des Parteistaats ein deutliches Bild: Viele Genossen befanden, dass die Landbevölkerung weiterhin nach dem Rhythmus der Tradition lebe.

65 Gazulo, Turkestan – kolonija, S. 137. 66 Mastera vysokich uroˇzaev chlopka, S. 3–20.

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Statt neue Modelle zu entwerfen, schufen die Kolchosen ökonomische Strukturen, die an die Vergangenheit erinnerten. »Falsche Aktivisten« sorgten dafür, dass in den Kolchosen »alle feudalen Überreste, die […] als trauriges Erbe aus der Zeit der Khane geblieben sind«, weiter bestehen konnten. Viele regionale Parteifunktionäre erlebten die Kräfte der Vergangenheit als übermächtig. »Überreste des Feudalismus« bestimmten die sozialen Beziehungen und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten in den Kollektivwirtschaften. Die »Besonderheiten der natürlich-historischen Entwicklungsbedingungen« sorgten ihrer Meinung nach dafür, dass Unterschlagung und Hinterziehung in den Kolchosen und Sowchosen ebenso regierten wie Bestechlichkeit und Vorteilsnahme. Wenn Kolchosmitglieder gezwungen würden, für die sowjetische Dorfobrigkeit Arbeitsdienste zu leisten, wenn die Kolchosvorsitzenden Steuern und Abgaben nach Belieben erhoben und Zwangsrekrutierte von der Miliz zu den Kanalreinigungsarbeiten geprügelt wurden, dann waren in den Leitungen der Kollektivbetriebe offenbar noch die »dunklen Kräfte der Vergangenheit« am Werk. Die Vorsitzenden der Kolchosen standen dabei, wie die Funktionäre behaupteten, im Bündnis mit »vierschrötigen« Leuten bei der Polizei und in den Gerichten.67 Funktionäre auf allen Ebenen machten es zu ihrer Sache, die negativen wirtschaftlichen Folgen der Kollektivierung nicht der verfehlten staatlichen Politik, sondern der Kraft der Tradition anzulasten. Sehr deutlich trat diese starre Sichtweise bei der »Befreiung der Frau« zutage, die den Parteiideologen als »eines der erbittertsten Schlachtfelder des Klassenkampfes« galt.68 Nachdem Stalin 1934 die Losung ausgegeben hatte, dass »die Frau in der Kolchose eine starke Kraft sein« solle, berichteten die Gebietsparteiführer aus Zentralasien, dass die Kolchosfrauen begännen, »gleichen Anteil an der Kolchosproduktion zu übernehmen, um auf dieser Grundlage Gleichberechtigung im Alltag zu erlangen«. Die »Qualität der Baumwollbearbeitung weiblicher Kolchosmitglieder« stehe der Arbeit der Männer jedenfalls »in nichts« nach.69 Schnell stellte

67 QROMA 322/1/209, Bl. 7, 14, 29 (Dokladnaja zapiska po voprosu o kolchoznom stroitel’stve v KKASSR, 19. 6. 1934). 68 VKP(b) i nacional’nyj vopros, Bd. 2, S. 152 (Dokladnaja zapiska sekretarja Soveta nacional’nostej Chackeviˇca, 15. 10. 1935). Vgl. Edgar, »Bolshevism, Patriarchy«. 69 QROMA 322/1/209, Bl. 16–18 (Dokladnaja zapiska po voprosu o kolchoznom stroitel’stve v KKASSR, 19. 6. 1934).

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sich aber heraus, dass Stalins Losung einen Haken hatte. Die Frauen, die auf den Baumwollfeldern arbeiteten, konnten ihre erbrachten Arbeitsstunden in den Kolchosen nicht selbstständig abrechnen. Stattdessen wurden sie ihnen von den Vorsitzenden entweder überhaupt nicht gutgeschrieben oder für das männliche Familienoberhaupt abgerechnet.70 Die Baumwollernte war langwierig, mühevoll und sehr schlecht entlohnt und wurde deshalb von den Männern eher gemieden. Man müsse dennoch, forderten regionale Parteikomitees, für die »maximale Einbeziehung der Männer in die Baumwollernte« sorgen. Bald erfolgte das »kategorische Verbot, Kinder zum Pflücken der Baumwolle auf die Felder zu verbringen«.71 Doch am Verhalten der Männer änderte sich nichts. Auf den Feldern arbeiteten vor allem Frauen und Kinder.72 1939 hieß es aus den Bezirken Taschkent und Samarkand, dass »in der Regel Frauen und Halbwüchsige« die Baumwolle ernteten, während die Männer sich mit »verschiedenartigen zweitrangigen Tätigkeiten« beschäftigten. Bei den Kolchosvorsitzenden und den lokalen Parteiführern herrsche Einigkeit darüber, berichteten die höherrangigen Funktionäre, eine »patriarchal-feudale« Familienökonomie aufrechterhalten zu wollen, die die beherrschende Rolle der männlichen Familienoberhäupter nicht hinterfragte.73 Kurzum: Der Unterschied zwischen der in den sowjetischen Zeitungen vermittelten Wirklichkeit und den Diskussionen bei internen Parteitagungen hätte nicht größer sein können. Usbekistan bot in der Parteiöffentlichkeit das Bild einer zutiefst korrupten Gesellschaft, die knietief in Traditionalismus und Rückständigkeit watete. Weil dies auch seiner Einschätzung entsprach, hielt sich der Vorsitzende der usbekischen Parteikontrollkommission Isaak Bekker auf einem Plenum 1936 mit seiner Kritik nicht zurück. »Wenn ihr euch das von außen anseht«, sagte er seinen Zuhörern, »dann hört ihr immer nur, dass Usbekistan den Baumwollplan erfüllt, dass Usbekistan den Seidenplan erfüllt, dass es den

70 RGASPI 62/2/3272, Bl. 33 (O nedoˇcëtach v sostojanii kolchozov Juˇznogo Tadˇzikistana, 4. 5. 1934). 71 QROMA 322/1/84, Bl. 59–60 (Post. SNK i Bjuro Obkoma KKASSR, 11. 10. 1933). 72 Sovetskoe rukovodstvo, S. 375 (Andreev an Stalin, 22. 9. 1937). Vgl. Merl, »Bilanz der Unterwerfung«, S. 139–140. 73 RGANI 6/6/662, Bl. 5 (Dokladnaja zapiska Upol. KPK po Uzbekskoj SSR, 15. 8. 1939).

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Industrialisierungsplan erfüllt. Alles wird erfüllt. Und was wird nicht erfüllt? Das weiß keiner.«74 Für Bekker stand fest, dass sich hinter dieser falschen Art von »Planerfüllung« ein undurchdringliches Dickicht aus Lügen, Verstrickungen und Korruption verbarg.75 Wie könne man staatliche Kontrolle über den Baumwollanbau ausüben, fragte Bekker, »wenn ein analphabetischer Kolchosvorsitzender mit einem Buchhalter zusammenarbeitet, der ein klassenfremdes Element ist und obendrein auch noch Sohn eines Mullahs«. In Usbekistan zögen sich Bürokratismus und Chaos, »Kanzleiwesen und Papierkriege« von den Kolchosen am unteren Ende der Hierarchie bis hinauf zur Regierung. Bekker unterstellte sogar der usbekischen Parteiführung, dass sie Lügen über die Baumwollproduktion verbreite und routiniert Statistiken fälsche. Bei der Bewässerung zeigten sich die misslichen Zustände in Bekkers Augen besonders deutlich. Die sowjetische Regierung hätte in diesen Bereich 250 Millionen Rubel investiert, während sich die Größe der bewässerten Anbauflächen in Usbekistan jedoch zwischen 1929 und 1935 von 1,401 Millionen Hektar auf 1,329 Millionen Hektar verringert hätte und weitere Flächenrückgänge zu erwarten seien. Auch hier seien die »alte Schönfärberei und Mogelei« gut zu beobachten.76 Geld werde für neue Bauprojekte verwendet, die nicht die geplanten Resultate brachten, während neu gewonnene Landflächen nicht erschlossen würden und wieder verfielen. »Wir haben die Wurzeln des Übels gesucht, aber die Wurzeln sind schwer zu finden«, gab Bekker zu. Ihm war jedoch klar, dass in den Wasserverwaltungen »bis zum heutigen Tag viele Feinde übrig geblieben« waren. Man könne sich deshalb leicht vorstellen, wie die »ungünstigen Resultate« in der Wasserwirtschaft zustande gekommen seien.77 Die stereotypen Bilder von unbesiegbarer »Tradition«, die die Sowjetoffiziellen gern bemühten, vermischten sich bei Bekker mit der Neigung, überall Feinde zu sehen. Solche Bilder dienten nicht nur dazu, die sowjetische »Wirklichkeit«, sondern auch die Gründe für das ökonomische Versagen der »Planwirtschaft« zu erklären. Wo Zahlen fehlten und wo es kein Vertrauen gab, gehörten Willkür und Gewalt zu den wirk74 RGANI 6/1/13, Bl. 113 (Stenogramma zasedaniia 3-go plenuma KPK pri CK VKP[b], 7. 3. 1936). Zu Bekker vgl. Kindler, Stalins Nomaden, S. 113–120. 75 RGANI 6/1/13, Bl. 123–124. 76 Ebenda, Bl. 123. 77 Ebenda, Bl. 120–121. Vgl. ORMDA, 837/32/577, Bl. 5 (19. 10. 1937).

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samsten Sanktionsmechanismen. Anders als in den 1920er Jahren, als Nationalität und Kulturrevolution die Staatswerdung vorantreiben sollten, gab nun der »Baumwollplan« die Ziele des Staates vor. Die »Planerfüllung« setzte die Maschinerie zur Erzeugung von Unsicherheit immer wieder von Neuem in Gang. Was für den Baumwollanbau galt, wiederholte sich in der Wasserwirtschaft. Hier aber spielten, wie die folgenden Ausführungen zeigen, die ökologischen Bedingungen eine Rolle, die die »Planerfüllung« zu einem Zufallsprodukt machten.

Improvisieren statt Planen: Deichbau am Amudaria, 1937 Als Fajzulla Chodschajew im Februar 1937 von der Moskauer Regierung beauftragt wurde, den Bau von Hochwasserschutzanlagen am Amudaria zu beaufsichtigen, war der einstmals stolze usbekische Ministerpräsident nur noch ein Schatten seiner selbst. In seiner langen politischen Karriere hatte er immer wieder bewiesen, wie geschickt er es verstand, sich gegen die Intrigen seiner Widersacher zur Wehr zu setzen und seine Autorität zu behaupten. Nach den ideologischen Machtkämpfen der 1920er Jahre ließ er es während der »Baumwolloffensive« und der Kollektivierung nicht an Härte gegen die Landbevölkerung fehlen. Doch bis 1937 verlor der inzwischen vierzigjährige Chodschajew zusehends an politischem Gewicht. Während der Antinationalismus-Kampagnen und der Parteisäuberungen zwischen 1928 und 1934 hatte sich die Zahl seiner Freunde und Anhänger erheblich dezimiert. 1936 beging sein Bruder Ibat, ebenfalls Minister in der usbekischen Regierung, Selbstmord, und wenige Monate später verstarb auch seine Mutter. Auf der politischen Bühne konnte sich der ambitionierte Ministerpräsident immer schlechter gegen Verleumder und Intriganten zur Wehr setzen.78 Während die Bauarbeiten zum Hochwasserschutz am Amudaria liefen, ging die politische Karriere Chodschajews unaufhaltsam ihrem Ende entgegen. Seit 1930 verursachte der Amudaria an seinem Unterlauf verheerende Überschwemmungen. Sein Flussbett wanderte von Westen nach Osten

78 RGASPI 558/11/725, Bl. 9–11 (Konstantin Gej an Stalin, 1. 11. 1937); HPSSS, Schedule B, Vol. 8, Case 221, S. 20–22; Germanov, »Fajzulla Chodˇzaev«.

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ab. Während die Kanäle am westlichen Flussufer versandeten und immer wieder mühevoll an das Flussbett herangeführt werden mussten, riss der Strom am östlichen Ufer während der sommerlichen Hochwasser breite Stücke vom Ufer. Der winterliche Eisgang vollendete das Zerstörungswerk.79 Chodschajews Mission war nicht nur aus diesem Grund eine heikle Aufgabe. Sie enthielt zugleich den Auftrag, die staatlichen Machtstrukturen in den abgelegenen Deltagebieten des Amudaria zu festigen. Die Deltaregion, die 1925 zum Autonomen Bezirk Karakalpakstan zusammengefasst worden war, gehörte zu den isoliertesten Gegenden in der südlichen Sowjetunion. Erst 1936 gelangte die Region unter die Verwaltungshoheit Taschkents und gehörte fortan zu Usbekistan. Mit ihren groß angelegten Hochwasserschutzmaßnahmen am Amudaria verfolgte die Taschkenter Regierung 1937 nicht nur das Ziel, den »launischen« Fluss zu bändigen, sondern auch die Absicht, die politischen Verhältnisse den neuen Verwaltungshierarchien anzupassen. Chodschajews Auftrag bestand also darin, eine drängende ökologische Krisensituation zu lösen und in diesem Zuge die neuen Machtverhältnisse zu verankern.80 Um diese Ziele zu erreichen, erwies sich die sowjetische Planwirtschaft als wenig geeignet. Obwohl der Hochwasserschutz eine lokale Angelegenheit war, griff die Moskauer Regierung immer wieder dirigistisch ein. Moskau verfolgte jedoch die einmal formulierten Ziele nicht konsequent, sondern hielt seine eigenen Pläne nicht ein und revidierte seine Direktiven immer wieder, was Chodschajews Mission eine verhängnisvolle Richtung einschlagen ließ. Zu Beginn stand jedoch eine Direktive der Sowjetregierung, die Wjatscheslaw Molotow am 17. Februar 1937 unterzeichnete. Sie regelte nicht nur die Finanzierung der Hochwasserschutzmaßnahmen und machte Chodschajew persönlich für ihren Erfolg verantwortlich, sondern gab auch bis ins kleinste Detail vor, wie die Baustelle von den zentralen Behörden ausgestattet und mit welchen Baumaterialien sie versorgt werden sollte: Das Ministerium für Schwerindustrie sollte 20 Tonnen Eisenträger à zwölf Meter, 20 Tonnen Walz79 QROMA 322/1/342, Bl. 46–47 (NKZ KKASSR Kudabaev an SNK KKASSR Kurbanov, 5. 7. 1936); ORMDA 837/32/46, Bl. 15 (Dokladnaja zapiska SNK UzSSR po voprosu zaˇscˇ ity g. Turtkulja i Sˇurachanskogo oazisa ot smyva Amu-Dar’ej, 9. 10. 1936). 80 Radkau, Natur und Macht, S. 107.

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draht, 16 Tonnen Nägel und 40 Tonnen Seile zur Verfügung stellen, das Ministerium für Forstwirtschaft 4500 Kubikmeter Rundholz und 1000 Kubikmeter Schrittholz beschaffen. Festgelegt war auch, wie und wann das nötige schwere Baugerät an den Amudaria zu verbringen sei: Das Ministerium für Rüstungsindustrie sollte zwei Schwimmbagger aus dem (im Leningrader Gebiet gelegenen) Ischorsker Panzerwerk für vier Monate ausleihen, die vom Ministerium für Flusstransport verschifft und nach Ablauf der Leihfrist wieder nach Leningrad zurücktransportiert werden sollten. Zudem erhielt das Ministerium für Außenhandel den Auftrag, zu prüfen, ob bis zum Sommer 1938 zwei Lastkräne im Ausland beschafft werden könnten, um sie für weitere Uferschutzmaßnahmen dauerhaft auf dem Amudaria zu stationieren.81 Welcher Wert solcherlei generalstabsmäßigen Regierungsbeschlüssen zuzumessen war (und wie fatal sich ihre ausbleibende Umsetzung auswirkte), war schon früher offenbar geworden. 1932 hatten Ausspülungen an den steilen und sandigen Ufern des Amudaria zu Abbrüchen in bedrohlichen Ausmaßen geführt. Bis zum Sommer 1936 hatte sich der Amudaria Hunderte von Metern ins Landesinnere hineingearbeitet, über 1500 Hektar Felder vernichtet und 700 Gehöfte zerstört. Turtkul, die Verwaltungshauptstadt der Region, die 1873 in bequemer Distanz zum Amudaria gegründet worden war, lag 1936 unmittelbar an seinen Ufern. Turtkul – »die beste Stadt nicht nur von Karakalpakstan, sondern der ganzen Oase von Choresm« – war in Gefahr, fortgespült zu werden. Mit der Stadt drohte auch die umgebende Oase mit ihrem Hauptkanal Pachta-Arna, der 100000 Bewohner und 25000 Hektar Land mit Wasser versorgte, in den Fluten unterzugehen. 1934 hatte die Regionalregierung Karakalpakstans erste Gegenmaßnahmen veranlasst. Doch vor Ort fehlten, wie der Erste Parteisekretär Islam Alijew in einem Brief an Molotow beteuerte, die »technisch-wissenschaftlichen Kräfte, die adäquate Maschinerie und das nötige Baumaterial, um aus eigenen Kräften mit einer so wichtigen und dringlichen Aufgabe fertig zu werden«.82 Diese Sicht der Dinge teilten Alijews neue Vorgesetzte in Taschkent allerdings nicht. 81 GARF 5446/19/4, Bl. 199–200 (Postanovlenie No. 291 SNK SSSR, 17. 2. 1937). 82 ORMDA 837/32/46, Bl. 25–26 (Islam Sadykoviˇc Aliev an Molotov, 29. 8. 1936). Aliev forderte in seinem Schreiben, dass die Baumaßnahmen nicht vom Landwirtschaftsministerium, sondern vom Gulag durchgeführt werden sollten. »Zu diesem Zweck«, setzte er hinzu, sei »ein spezieller Apparat zu organisieren«.

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Ihrer Einschätzung nach waren die karakalpakischen Staatsvertreter tatenlos geblieben, obwohl ihnen die Bedrohlichkeit der Situation seit Jahren bekannt war und der Fluss »auf seinem Weg wunderbares Kulturland und herrliche Siedlungen« zerstört habe. Die Karakalpaken hätten »nachlässig« gehandelt und ihre Passivität habe dazu geführt, dass die Veränderung der Ufer »nicht wissenschaftlich erforscht ist, die Fristen für nötige Gegenmaßnahmen verstrichen sind und die bisherigen Arbeiten einen ausschließlich provisorischen und experimentellen Charakter tragen«.83 Als Chodschajew am 22. März 1937 an den Amudaria reiste, waren seit dem Beschluss des Moskauer Ministerrats fünf Wochen vergangen. Nicht nur die Spannungen zwischen den karakalpakischen und usbekischen Behörden drückten den anstehenden Uferschutzarbeiten ihren Stempel auf. Zwischenzeitlich tagte vom 23. Februar bis zum 5. März das Zentralkomitee. Auf dem Plenum, zu dem sich die Parteichefs der Gebiete und Sowjetrepubliken in Moskau versammelten, begannen Stalin und sein Geheimdienstchef Nikolaj Jeschow mit ihren Angriffen auf die innersten Zirkel der sowjetischen Staatselite (die als »Große Säuberung« oder »Großer Terror« bekannt wurden). Sie eröffneten die staatsterroristische Kampagne, die sich gegen die Staatsvertreter selbst richtete, mit der öffentlichen Demontage Nikolaj Bucharins, mit dessen Ansichten Chodschajew sympathisiert hatte und zu dem er persönlichen Kontakt unterhielt. Neben vielen anderen Parteigenossen tat sich Chodschajews Rivale, der usbekische Parteichef Akmal Ikramow, mit einer Brandrede gegen Bucharin hervor und forderte im Chor mit der anwesenden Parteielite dessen »schnelle Verurteilung« und »gründliche Isolation«.84 Noch bedrohlicher als die Hetze gegen Bucharin muss Chodschajew allerdings ein Grundsatzreferat von Molotow erschienen sein, das die »Feindesarbeit« in der sowjetischen Leichtindustrie behandelte. Molotow nahm die Ineffizienz und Inkompetenz eines Industrieministeriums ins Visier, das die Baumwollproduktion und -verarbeitung in Usbekistan

83 ORMDA 837/32/357, Bl. 2 (Istorija voprosa bor’by s dejgiˇsem); ORMDA 837/32/46, Bl. 144 (Chodˇzaev an Cˇernov, 10. 4. 1937). 84 RGASPI 17/2/584, Bl. 82 (Stenogramma zasedanija plenuma CK VKP[b] za 26 fevral’ja 1937 goda). Unterschiedliche Interpretationen des Februar-März-Plenums 1937 finden sich bei Baberowski, Verbrannte Erde, S. 245–259, und Schlögel, Terror und Traum, S. 239–266.

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steuerte: Ein »Bündnis von Schädlingen und Schwachköpfen« sei es gewesen, das in der Leichtindustrie »großen Schaden angerichtet« hätte.85 Nach dem Scheitern der »Baumwollbeschaffung« 1935 und 1936 musste sich auch der usbekische Ministerpräsident getroffen fühlen, als Isidor Ljubimow, der Minister für Leichtindustrie, auf dem Plenum persönlich angegriffen und offen bedroht wurde.86 Als Chodschajew in der Hochwasserstadt Turtkul eintraf, erfüllte er seine Aufgaben desillusioniert. Er wusste, dass in möglichst kurzer Zeit möglichst befriedigende Ergebnisse zu erzielen waren, und machte sich keine Illusion darüber, dass die Arbeiten nichts weiter bewirken würden, als das existierende Provisorium kurzfristig zu stabilisieren. Alle Pläne und Vorhaben, die über dieses unmittelbare Ziel hinausgingen, sollten der Moskauer Zentralregierung später vorgelegt werden, riet Chodschajew den karakalpakischen Regierungsvertretern und den verantwortlichen Ingenieuren in Turtkul, damit »die dann entscheidet, was hier richtig ist und was falsch«. Auf keinen Fall dürfe sich die Situation der Vorjahre wiederholen, als »irgendjemand irgendwo irgendwas entschieden hat und am Ende niemand Bescheid wusste«, was zu tun war.87 Schon vor Chodschajews Ankunft in Turtkul hatten die leitenden Ingenieure mehrere Pläne für mögliche Schutzmaßnahmen ausgearbeitet. Sie zielten allesamt darauf ab, die gefährdeten Uferabschnitte mithilfe massiver Schutzkonstruktionen vor weiteren großflächigen Abbrüchen zu bewahren. Was die Ortskundigen von diesen Plänen hielten, schien die russischen Ingenieure wenig zu kümmern. Demgegenüber zeigte Chodschajew ein offenes Ohr für die Vorstellungen der Karakalpaken und verhielt sich ihnen gegenüber betont konziliant und respektvoll. Ihren Plan, die Uferböschung um Turtkul mit einer traditionellen Methode zu stabilisieren (die darin bestand, parallel zum Flusslauf tiefe 85 RGASPI 17/2/590, Bl. 45 (Stenogramma zasedanija plenuma CK VKP[b] za 28 fevral’ja 1937 goda). Vgl. die stark redigierte Druckversion des Stenogramms in: »Materialy fevral’sko-martovskogo plenuma«, S. 22. 86 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 277–278; Isidor Ljubimov wurde im Sommer 1937 als Minister entlassen und verhaftet, vgl. GARF 5446/19/12, Bl. 365 (Postanovlenie No. 1181 SNK SSSR, 23. 7. 1937). Ljubimovs Entlassung wurde im Umlaufverfahren beschlossen: Die Beschlussvorlage Molotovs wurde von allen zwanzig Regierungsministern eigenhändig unterzeichnet. 87 ORMDA 837/32/46, Bl. 85 (Vystuplenie tov. Faizully Chodˇzaeva na soveˇscˇ anii po voprosu dejgiˇsa, 23. 3. 1937).

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Gräben auszuheben, die mit leichtem Befestigungsmaterial wie Steinbruch und Reisigbündeln aufgefüllt wurden), unterstützte Chodschajew emphatisch gegen die Einwände der Ingenieure. Er kannte diese Methode aus seiner Heimat Buchara und schob die Einwände der europäischen Spezialisten energisch beiseite: »Wenn wir in Buchara so verfahren sind und solche Schutzgräben gezogen haben, warum nicht auch hier? Was ist denn so schlimm daran? Der Vorschlag der hiesigen Genossen basiert auf einem gesunden Verständnis der lokalen Gegebenheiten. Man kann ihren Vorschlag nicht einfach abschmettern, ohne ihn zumindest eingehend geprüft zu haben. Man kann diese Bautechnik, die hier schon seit Langem angewendet wird, nicht einfach ignorieren.«88 Chodschajews Kritik prallte an den russischen Ingenieuren ab. Als hochrangige Ministerialvertreter und angesehene Spezialisten konnten sie sich über seine Einwände hinwegsetzen. Sie hatten ihre eigenen Pläne und Theorien dazu, mit welchen Mitteln die Fluten des Amudaria am besten zu bezwingen wären: Buhnenkonstruktionen (»Altunins Systeme«) und massive Uferschutzschilde (»Potapows Schilde«) sollten die Wassermassen von der Stadt abhalten.89 Schon bald gab Chodschajew ihren Wünschen nach und stellte sich schließlich sogar ausdrücklich hinter die Ingenieure: Dem sowjetischen Landwirtschaftsminister Michail Tschernow versicherte er, am Amudaria seien die »bedeutendsten Spezialisten für die Bewässerung in Zentralasien« am Werk.90 Sein schnelles Einlenken hatte einen guten Grund: Angesichts der unmittelbar bevorstehenden Hochwasser, die zwischen Mitte und Ende Mai einsetzten, verblieben nur noch sechs bis acht Wochen, um die Schutzkonstruktionen zu bauen und zu verankern. Die Zeit drängte. Doch trotz der Dringlichkeit der Arbeiten und trotz der Moskauer Direktiven ging auf der Baustelle im April nichts voran. Nachdem Chodschajew nach zweiein88 ORMDA 837/32/46, Bl. 89. Die angesprochenen Ingenieure waren F. P. Morgunenkov, M. G. Potapov, D. R. Vovk, S. I. Syromjatnikov, A. P. Askoˇcenskij und V. V. Poslavskij. 89 ORMDA 837/32/46, Bl. 56–58, 66–74 (Protokol i postanovlenie Komissii SNK SSSR po bor’be s pomyvaniem beregov Amu-Dar’i, 25. 3. 1937); ORMDA 837/32/46, Bl. 169 (Dokladnaja zapiska Naˇc. Dejgiˇsstroja S. I. Syromjatnikova, 29. 6. 1937); QROMA 322/1/606, Bl. 123 (Akt po obsledovaniju sostojanija i dejatel’nosti Dejgiˇsstroja, 19. 7. 1939). 90 ORMDA 837/32/46, Bl. 143 (Dokladnaja zapiska F. Chodˇzaeva NKZ SSSR Cˇernovu, 10. 4. 1937).

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halb Tagen Aufenthalt am 25. März 1937 aus Turtkul abgereist war, musste er in Moskau alle Hebel in Bewegung setzen, um die notwendigen Mittel zu bekommen, um die befürchtete Flutkatastrophe abzuwenden. Diese Arbeit erwies sich als kleinteilig und mühevoll. Chodschajew musste mehrfach an das Moskauer Landwirtschaftsministerium telegrafieren, um »kategorisch« die Herausgabe der zugesagten Summe von einer Million Rubel zu fordern. Für die »unaufschiebbaren Arbeiten des Frühjahrs«, die in einem Zeitfenster von wenigen Wochen stattzufinden hatten, fehlte nicht nur das Geld, sondern auch jedwedes Baumaterial. Chodschajew erinnerte das Landwirtschaftsministerium an den Wortlaut des Moskauer Regierungsbeschlusses vom 17. Februar und forderte, die »Lösung aller offenen Fragen zu beschleunigen« und die »sofortige und vollständige Lieferung« der zugesagten Baustoffe zu veranlassen. Entgegen seiner ausdrücklichen Bitte teilte ihm das Landwirtschaftsministerium Ende März aus Moskau mit, man würde wegen der hohen Materialkosten einen Teil der zugesagten Gelder einbehalten und statt einer Million nur 653000 Rubel nach Usbekistan überweisen.91 Noch aussichtsloser als die Lösung der Geldprobleme erwies sich die Beschaffung der nötigen Baumaschinen. Ohne einen Schwimmbagger ließen sich die geplanten Flutschutzmaßnahmen nicht bewerkstelligen. Deshalb waren die Ingenieure in Turtkul auf die pragmatische Idee gekommen, einen Bagger auszuleihen, der einige Dutzend Kilometer flussaufwärts am Amudaria in der Oase von Choresm stationiert war. Chodschajew gab ihren Vorschlag nach Moskau weiter und rief damit die Regierung Turkmenistans auf den Plan. Diese protestierte beim Moskauer Landwirtschaftsministerium energisch gegen die Verlegung des Baggers, die ihre eigenen Planziele gefährdet hätte. Die Überführung würde über einen Monat Zeit in Anspruch nehmen und somit »Turtkul überhaupt keinen Nutzen bringen«. Nach dreiwöchigem Telegrafieren und Antichambrieren erwirkten die Usbeken Ende April schließlich doch die Erlaubnis des Landwirtschaftsministers, den Bagger nach Turtkul zu verlegen. Er kam allerdings nie auf der Baustelle an.92 91 ORMDA 837/32/46, Bl. 31, 75, 91, 93, 111 (Telegramme von und an Fajzulla Chodzˇ aev, 25.–28. 3. 1937). 92 ORMDA 837/32/46, Bl. 119, 127 (Zitat), 138, 141, 153, 214 (Telegramme von und an Fajzulla Chodˇzaev, 5. 4.–23. 4. 1937).

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In der Zwischenzeit blieben die Ingenieure nicht untätig. Bis Anfang Juni waren zwölf Uferschutzschilde befestigt und neun Buhnensysteme gebaut worden, die nun im Fluss verankert werden konnten. Endlich war genügend Bauholz vorhanden; Nägel und Draht wurden ausgeliefert.93 Die Schutzmaßnahmen verschlangen jedoch immer mehr Geld. Bis Ende Mai waren 1,5 Millionen Rubel verbraucht und zusätzliche 500000 Rubel mussten für weitere Sofortmaßnahmen aufgebracht werden. Im Juni 1937 hieß es aus Turtkul, dass 1,5 Millionen Rubel im Budget fehlten und das Bauholz aufgebraucht sei. Das Moskauer Landwirtschaftsministerium stellte sich taub und reagierte mehrere Wochen lang nicht auf Chodschajews Beschwerden. »Die wichtigsten Maßnahmen scheitern«, telegrafierte er entnervt nach Moskau, »weil kein Geld da ist und die Materialien fehlen.«94 Doch auch wenn Chodschajew lamentierte und klagte – von den Ufern des Amudaria kamen vor allem gute Nachrichten. Mitte Juni hatten drei Flutwellen Turtkul passiert, ohne dass die befürchtete Katastrophe eingetreten war. Am 15. Juni 1937, zwei Tage vor seiner Amtsenthebung, berichtete Chodschajew dem Landwirtschaftsminister Michail Tschernow, dass eine Überflutung Turtkuls »dank der Dämme, Schutzwälle und Buhnen« verhindert worden sei, die unter Anleitung der Ingenieure in den vergangenen Wochen installiert worden waren.95 Dies entsprach allerdings nicht der Wirklichkeit: Nicht die Schutzschilde und Buhnenkonstruktionen hatten eine Katastrophe verhindert, sondern eine Sandbank, die die Strömung des Flusses von den bedrohten Uferabschnitten ablenkte. Der Zufall hatte den Ingenieuren in die Hände gespielt. In der angespannten Atmosphäre des Sommers 1937 war den Ingenieuren noch in weiterer Hinsicht Glück beschieden: Die Hochwasser hatten ungewöhnlich spät eingesetzt, sodass sie einige improvisierte Maßnahmen umsetzen konnten. Zusätzlich gab Moskau ihnen frisches Geld in die Hand. Am 19. Juli genehmigte die Zentralregierung die Weiterfinanzierung des Projekts und gab zudem Hunderte Tonnen wertvol-

93 ORMDA 837/32/46, Bl. 152; ORMDA 837/32/576, Bl. 118 (Telegramme aus Turtkul, Ende Mai bis Anfang Juni 1937). 94 ORMDA 837/32/576, Bl. 3–4 (Rizaev und Zajko an Chodˇzaev, 13. 5. 1937); ORMDA 837/32/46, Bl. 151 (Zitat) (Chodˇzaev an Uzpostpredstvo Abidova, 7. 6. 1937); ORMDA 837/32/46, Bl. 161–162 (Allakulov an Chodˇzaev, 9. 6. 1937). 95 ORMDA 837/32/46, Bl. 159 (Chodˇzaev an Cˇernov, 15. 6. 1937).

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ler Baustoffe frei. Dieser materielle Segen war mit dem Auftrag verbunden, die provisorischen Konstruktionen durch permanente Hochwasserschutzvorrichtungen zu ersetzen.96 Von einer kleinen und armseligen Notbaustelle verwandelte sich so der Hochwasserschutzbau in Turtkul in eine wohlhabende Bauorganisation, die direkt von der Moskauer Regierung finanziert wurde. Moskau sagte Geld und Materialen zu, obwohl die Ingenieure vom Amudaria keine neuen Baupläne vorgelegt hatten; der neuerliche Ministerratsbeschluss schien sie selbst zu überraschen. Sie hatten keine Ahnung, wie eine permanente Verbesserung des Uferschutzes zu erreichen war. Bisher richteten sich ihre Maßnahmen, wie es der Chefingenieur Sergej Syromjatnikow ausdrückte, immer »nach der konkreten Situation des Augenblicks«.97 Wie Syromjatnikow arbeiteten viele sowjetische Ingenieure in den 1930er Jahren nicht anhand von Plänen, sondern improvisierten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln.98 Dazu zwangen sie, wie die Hochwasserschutzarbeiten am Amudaria zeigten, die dirigistischen Eingriffe der Moskauer parteistaatlichen Institutionen. Weil die Befehle und Direktiven aus Moskau allerhöchste Relevanz für die Mobilisierung von finanziellen und technischen Ressourcen besaßen, stürzten selbst kleinteilige Bauvorhaben in Krisen und Chaos, wenn Moskau seine Zusagen nicht einhielt. Die Moskauer Direktiven veränderten sich zudem ständig, und die Pläne wurden, vor allem im Bereich der Finanzen, immerfort revidiert. Auf der lokalen Ebene wirkten die Zielvorgaben der zentralstaatlichen Behörden, die aus Moskauer Sicht rational und sinnvoll erscheinen mochten, wie Akte der Willkür, die es verhinderten, vorgegebene Ziele zu erreichen. Wo Ungewissheit und Unsicherheit herrschten, blieben den Verantwortlichen kaum mehr Handlungsalternativen, als zu improvisieren und dem Zufall zu vertrauen. Stalin griff dagegen wieder und wieder mit den Mitteln der Gewalt ein, die neue Ungewissheit und neue Unordnung erzeugten.

96 GARF 5446/19/12, 314–315 (Postanovlenie No. 1153 SNK SSSR »O meroprijatijach po zaˇscˇ ite beregov r. Amu-Dar’i v rajone Turtkulja«, 19. 7. 1937). 97 (ORMDA 837/32/46, Bl. 169) (Dokladnaja zapiska Naˇc. Dejgiˇsstroja S. I. Syromjatnikova, 29. 6. 1937). 98 Schattenberg, Stalins Ingenieure, S. 181–208.

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Der Staat als Spektakel: »Großer Terror« in Usbekistan und der Moskauer Schauprozess, 1937–1938 Am 8. Juni 1937 erließ die Moskauer Hauptverwaltung für Staatssicherheit die Direktive Nr. 57788, in der sie die »operative Zersetzung« von »antisowjetischen türkisch-tatarischen nationalistischen Organisationen« befahl. Nicht nur in Usbekistan, sondern auch in Kasachstan, Aserbaidschan, auf der Krim und in Tatarstan ging der Geheimdienst nun gezielt gegen die Eliten des Parteistaats vor. Den ranghöchsten Funktionären der muslimischen Sowjetrepubliken wurde vorgeworfen, die »bewaffnete Abspaltung der nationalen Republiken von der Sowjetunion« und die »Schaffung eines einheitlichen türkisch-tatarischen Staates« geplant zu haben. Sie hätten »Terrorakte« vorbereitet, »Schädlingstätigkeit« in der Industrie und der Landwirtschaft organisiert, mit »Trotzkisten« und »Rechten« paktiert und mit ausländischen Spionen zusammengearbeitet.99 Zu den ersten Opfern der Operation, die Geheimdienstchef Nikolaj Jeschow als »Arbeit von erstrangiger Bedeutung« einstufte, gehörte Fajzulla Chodschajew. Am 17. Juni wurde er von seinen Ämtern entbunden und am 9. Juli verhaftet. In den darauffolgenden Wochen fand die Geheimpolizei in den Regierungsbehörden Usbekistans Dutzende Mitglieder eines angeblich »konterrevolutionären rechts-trotzkistischen Blocks«, der unter Chodschajews Führung für die »Abtrennung Usbekistans von der Sowjetunion« und die »Errichtung einer bürgerlich-nationalistischen Ordnung« gewirkt haben sollte.100 Drei Wochen nach Chodschajews Verhaftung konnten die Ermittler Stalins ein ausführliches »Geständnis« des kasachischen Funktionärs Sultanbek Chodschanow vorlegen. Dieser bestätigte nicht nur die Existenz eines »Vereinigten Zentrums der antisowjetischen panturkistischen Organisation« mit Sitz in Taschkent, sondern belastete auch Chodschajew, der als Initiator und Mitglied dieser Verschwörerorganisation tätig gewesen sei.101 Chodschajews langjährigem Rivalen, dem usbekischen Parteichef Akmal Ikramow, erging es nicht anders. Aber Stalins Terrorkampagnen hätten 1937 ihre massenhafte Wirkung nicht entfalten können, hätte er 99 Lubjanka. Stalin i Glavnoe Upravlenie, S. 648. 100 Repressija 1937–1938 gody, S. 101. 101 Lubjanka. Stalin i Glavnoe Upravlenie, S. 287–288.

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nicht mit der Angst seiner Opfer gespielt wie eine Katze mit ihrer Beute. Nach der Entmachtung Chodschajews hatte Ikramow noch einmal Hoffnung geschöpft, seinen Kopf aus der Schlinge ziehen zu können. Deshalb war er »völlig überrascht«, als Stalin ihm nahelegte, Abdullah Karimow, einen engen Mitarbeiter und Vertrauten, fallen zu lassen. Dieser habe, telegrafierte Ikramow an Stalin, »dreizehn Jahre eng mit mir zusammengearbeitet« und sei »immer ein aktiver und standhafter Arbeiter im Kampf gegen die Nationalisten, besonders die Gruppe von Fajzulla Chodschajew« gewesen.102 Stalin wartete zwei lange Wochen, ehe er am 2. August 1937 seine Antwort nach Taschkent sandte. »Uns scheint«, telegrafierte er schließlich, »dass in Usbekistan kein aufrichtiger Kampf gegen die antisowjetischen Elemente geführt wird und dass Ikramow von derartigen Elementen umgeben ist, die er selbst aber nicht sieht, nicht bemerkt.«103 Wie andere Parteichefs in den Unionsrepubliken und den russischen Regionen verfiel Ikramow unter Stalins Druck in panische Aktivität. Als Vorsitzender des Taschkenter Sondergerichts, der Trojka, hatte er den Beschluss des Moskauer Politbüros vom 11. Juli 1937 umzusetzen, für die sofortige Erschießung von 1489 »antisowjetischen Elementen« und die Verschickung von 3672 »Kulaken und Kriminellen« in die Straflager zu sorgen; unter seiner Leitung sollte die Trojka zudem festgenommene »Nationalisten-Terroristen« zu Tod oder Lagerhaft verurteilen.104 Die Taschkenter Trojka verhängte ein Todesurteil nach dem anderen. Ende September 1937 hatte sie 1122 Menschen – darunter 453 »ehemalige Kulaken«, 234 »Kriminelle« und 435 »andere konterrevolutionäre Elemente« – in den Tod geschickt und 401 Verurteilte in die Lager deportieren lassen.105 Stalin zeigte sich unbeeindruckt. Ende August wurde der usbekische Erste Parteisekretär nach Moskau beordert und am 4. September 1937 erstmals in Stalins Büro verhört, unter Anwesenheit aller Mitglieder des Politbüros. Zwischen dem 8. und 10. September fanden drei weitere Verhöre Ikramows statt.106 Dabei kam es zu Gegenüberstellungen mit Nikolaj

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Ebenda, S. 248. Ebenda, S. 297. Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 5/1, S. 326. Ebenda, S. 370. Vgl. Binner/Junge, »Wie der Terror ›groß‹ wurde«. Hedeler, Chronik der Moskauer Schauprozesse, S. 294–298. Ikramovs Ehefrau, Evgenija Zelkina, kam am 5. September 1937 in Haft und starb 1938 während eines

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Bucharin, Fajzulla Chodschajew und Nikolaj Antipow, die Ikramow von der erdrückenden »Beweislast« gegen ihn überzeugen sollten. Geheimdienstchef Nikolaj Jeschow sprach vier Mal persönlich und ausführlich mit Ikramow. Danach wurde der Usbeke von den Mitarbeitern des Geheimdienstes weiter verhört und dabei geschlagen und schwer gefoltert. Im November 1937 gab Ikramow schließlich seinen Widerstand auf und legte sein »Geständnis« ab, als »Organisator und Führer« einer »nationalistischen Spionageorganisation« in Usbekistan tätig gewesen zu sein.107 Vielen ehemaligen Sowjetfunktionären und Parteiführern des Sowjetstaats erging es wie Ikramow und Chodschajew, aber auch Hunderttausenden Arbeitern, Bauern und Angestellten.108 Sie wurden grundlos von der Geheimpolizei verhaftet, im Gefängnis misshandelt und gefoltert und mussten frei erfundene Geständnisse unterschreiben, die die Geheimdienstleute ihnen vorlegten. In deren Jargon hieß das blutige Verfahren »Fließband« oder »Fleischwolf«.109 Die meisten Verurteilten wurden auf speziellen Erschießungsplätzen des Geheimdienstes mit einem Kopfschuss hingerichtet oder für zehn oder zwanzig Jahre in ein Arbeitslager des Gulags gesperrt, ohne jemals einen Richter zu sehen. Anders erging es Ikramow und Chodschajew. Sie gehörten zu den 21 Angeklagten im Schauprozess gegen den »Antisowjetischen rechts-trotzkistischen Block«, der vom 2. bis 12. März 1938 im Moskauer Haus der Gewerkschaften stattfand, und wurden »des Landesverrats, der Schädlingstätigkeit, der Diversion, der Vorbereitung terroristischer Anschläge und des bewaffneten Umsturzes der Sowjetmacht« bezichtigt.110 Die harte Anklagebank teilten sie sich mit anderen prominenten Beschuldigten wie Nikolaj Bucharin, dem ehemaligen russischen Ministerpräsidenten Alexej Rykow und dem ehemaligen Geheimdienstchef Heinrich Jagoda. Auch ihr langjähriger Weggefährte, der ehemalige Erste Sekretär des Zentralasienbüros Isaak Selenski, musste die Schmähreden und Spotttiraden des Staatsanwalts Anatoli Wischinski über sich ergehen lassen, ebenso Wladimir Iwanow, der von 1925 bis 1926 als usbekischer

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Folterverhörs im Taschkenter Gefängnis. Das Schicksal der Familie schildert der Sohn Kamil Ikramov, ders., Delo moego otca, S. 294–298. Ebenda, S. 292–293, 303; Lubjanka. Sovetskaja e˙ lita, S. 12–13. Baberowski, Verbrannte Erde, S. 239–294. Vatlin, Terror rajonnogo masˇstaba, S. 41–55. Process Bucharina, S. 21.

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Erster Sekretär eng mit Ikramow zusammengearbeitet hatte, sowie Landwirtschaftsminister Tschernow, mit dem Chodschajew noch vor Jahresfrist über den Hochwasserschutz am Amudaria gestritten hatte. Freunde und Feinde von ehemals saßen vereint vor dem Moskauer Militärtribunal und konnten ihre persönliche Glaubwürdigkeit nur im Wissen verteidigen, dass man ihren Aussagen »natürlich« nicht glauben werde, da sie als Angeklagte eines Schauprozesses »in den misslichsten Umständen figurierten«. So gab es zumindest Chodschajew zu Protokoll.111 Was die Angeklagten tatsächlich glaubten, lässt sich aus dem Prozessgeschehen und dem veröffentlichten Stenogramm nicht erschließen. Der Schauprozess folgte einer sorgfältig vorgegebenen Inszenierung. Die Angeklagten wurden im Gefängnis von Geheimdienstleuten sorgfältig auf ihre Rolle vorbereitet, von der nur ein Angeklagter kurzzeitig abwich.112 Sie lasen ihre Aussagen vom Papier ab, wirkten angespannt und konsterniert. Der Schriftsteller Wsewolod Iwanow, der den Prozess als Zuschauer beobachtete, beschrieb Akmal Ikramow als eine »schwarze und verrunzelte Gestalt, die mit Druck in der Stimme« sprach, »ein Schreibheft in der Hand« hielt und »an die Decke schaute, um sich zu besinnen«. Während Selenski sein Geständnis vortrug, waren »seine Haare durchnässt und standen hervor wie Stahlfedern«. Chodschajew habe »blass« und »wie ein kleiner Junge« ausgesehen.113 Die abenteuerlichen Geständnisse, die von den Angeklagten über unglaubliche Verschwörungen und geheime Terrororganisationen zu hören waren, entsprachen nicht der Wirklichkeit, sondern der Weltsicht Stalins und seiner willfährigen Geheimdienstmänner. In seinem »Geständnis« sprach Chodschajew beispielsweise davon, die »bourgeoisen Nationalisten« in Usbekistan hätten die »Theorie« gehabt, eine »geschlossene Wirtschaft zu organisieren«, indem sie nichts unversucht ließen, »um weniger Baumwolle zu haben, die Usbekistan mehr an die Sowjetunion bindet als alles andere«. Andererseits erklärte er, die »Nationalisten« hätten 1928 damit begonnen, die »Theorie der Monokultur mit Leben zu erfüllen«. Zu diesem Zweck hätten sie einen 111 Process Bucharina, S. 230. Die Befragung Chodˇzaevs fand am 4. 3. 1938 (S. 222–248), die Zelenskijs und Ikramovs am darauffolgenden Tag statt (S. 313–355). 112 Ebenda, S. 80–89. Dieser Angeklagte war Nikolaj Krestinskij, ehemaliger sowjetischer Botschafter in Berlin. Vgl. Hedeler, »Ezhov’s Scenario«. 113 Process Bucharina, S. 294, 332–333, 586.

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»aufgebauschten Plan« vorgelegt, der »völlig überhöhte« Vorgaben für den Baumwollanbau gemacht habe. Systematisch hätte die usbekische Regierung dafür gesorgt, »dass der Fruchtwechsel unterbrochen, die Wiesen für Klee und Tierfutter zerstört und vom Bewässerungsland nicht nur Weizen und Gerste, sondern auch Kulturen wie Reis entfernt wurden, die ohne Bewässerung nicht wachsen«. Solcherlei »Provokationen« und »Schädlingstätigkeit« hätten verhindert, dass Usbekistan den Baumwollplan erfülle. »Das bedeutete auch«, so gab Chodschajew zu Protokoll, »im Volk eine kolossale Unzufriedenheit zu schüren. Darum stellten wir die Sache so dar: Das ist Moskaus Plan, und wir sind nur Befehlsempfänger. Wir erfüllen Moskaus Direktiven. Wenn ihr unzufrieden seid, dann beschwert euch in Moskau.«114 Nur in einer Atmosphäre der Angst und der Unordnung konnten die unwahrscheinlichen Behauptungen der Angeklagten plausibel erscheinen.115 In der Tat glaubten Menschen in der Sowjetunion, dass Chodschajew und Ikramow versucht hätten, Widerstand gegen Stalins Herrschaft zu organisieren. 1937 sei Chodschajew an den Amudaria gereist, um einen Aufstand vorzubereiten, und nicht, um eine Baustelle zu beaufsichtigen.116 Angesichts der allgegenwärtigen Geheimhaltung im Sowjetstaat konnten sich Außenstehende kein Bild davon machen, wie politische und wirtschaftliche Entscheidungen tatsächlich zustande kamen. Auf dem Höhepunkt der »Massenoperationen« des »Großen Terrors« im Frühjahr 1938, als der Moskauer Schauprozess stattfand, mussten angesichts der Verhaftungswellen und des spurlosen Verschwindens Tausender Menschen das Alltagsleben als regellos und die Handlungen der Staatsbehörden als absurd erscheinen. In der Welt des stalinistischen Staates schuf das dichte Gewebe aus tatsächlichen Erlebnissen und orchestrierten Lügen eine Atmosphäre, in der alles denkbar war: Das offiziell Sagbare spiegelte nicht das tatsächlich Machbare wider und das tatsächlich Machbare war im offiziell Sagbaren nicht aufgehoben. Um diesen Zustand der Unsicherheit und Angst herzustellen, hatte sich Unordnung als Prinzip der Machtdurchsetzung als ein tragfähiges Verfahren erwiesen. Stalins Methode, Macht durch seine willkürlichen Entscheidungen über die Ressourcenallokation in den Provinzen herzu114 Ebenda, S. 232–233. 115 Rittersporn, Anguish, Anger, S. 23–29. 116 HPSSS, Schedule B, Vol. 8, Case 182, S. 11–12.

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stellen, ermöglichte dies ebenso wie sein Verzicht auf statistische Daten und exakte Informationen über lokale wirtschaftliche Zusammenhänge. Die Willkür drückte sich in einem zentralstaatlichen Dirigismus aus, der einerseits konkrete Aufgaben vorgab und es andererseits unterließ, einmal gemachte Zusagen auch einzuhalten. Auf der lokalen Ebene reproduzierte dieser Mechanismus Planlosigkeit und Chaos. Hinzukamen das ständige Umorganisieren von Staatsbehörden, die Veränderung von administrativen Grenzen auf lokaler Ebene und die sich jährlich wiederholenden »Beschaffungskampagnen« zur »Planerfüllung« in der Landwirtschaft. Dass diese Kampagnen im Baumwollanbau ihr Ziel, genug Rohstoff für die Textilindustrie zu erzeugen, nicht erreichten, führte wiederum zu einer Ausbreitung des Staatsterrors, der nicht mehr nur die einfache Landbevölkerung und die örtlichen Repräsentanten des Parteistaats ergriff, sondern auch führende Funktionäre und altgediente Revolutionäre. Unklarheit und Ungewissheit waren Ergebnisse eines Vorgehens, das planvolles Handeln in allen Lebenslagen ad absurdum führte. »Planen« bedeutete in der Sowjetunion nicht, Verhalten und Handeln in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen, sondern hieß, mit den zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren Mitteln zu experimentieren und zu improvisieren. Die Fehler, Absurditäten und Verwerfungen, die die sowjetische »Planwirtschaft« erzeugte, ließ den Sinn der »nichtkapitalistischen« Wirtschaftsweise fraglich und erklärungsbedürftig erscheinen. Um die Not, die Gewalt und die Entbehrungen zu erklären, griffen Stalin und die Geheimpolizei nicht zu ideologischen Welterklärungen, sondern benutzten Verschwörungstheorien, um angebliche »Feinde« und »Schädlinge« für jedwede Schwierigkeit verantwortlich zu machen. Der Moskauer Schauprozess vom März 1938 verdrehte die wirkliche Welt und bot Erklärungen für die herrschenden Zustände an, die nichts mehr undenkbar erscheinen ließen. Unter diesen Umständen kann es kaum verwundern, dass sich in Taschkent auch in den 1970er Jahren noch das Gerücht hielt, die Angeklagten des Moskauer Schauprozesses 1938 seien bei den gespenstischen öffentlichen Gerichtsverhandlungen durch Doppelgänger ersetzt worden, die ihnen nicht einmal besonders ähnlich gesehen hätten.117 Zu unglaubwürdig schien ihr Verhalten. Für

117 Ikramov, Delo moego otca, S. 286–287.

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18 der 21 Angeklagten des Prozesses, der am 13. März 1938 um fünf Uhr in der Früh zum Abschluss kam, endete das inszenierte Spektakel dennoch tödlich: Chodschajew, Ikramow und Selenski wurden am 15. März gemeinsam mit den anderen Opfern auf den Erschießungsplatz Kommunarka am Stadtrand von Moskau verbracht und nacheinander exekutiert. Bucharin und der ehemalige Geheimdienstchef Jagoda mussten die Erschießungen der anderen Verurteilten mitansehen, bis Jagoda als Letzter an die Reihe kam.118

118 Process Bucharina, S. 13.

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8 Kriegslandschaften – »Volksbaustellen« und der Zweite Weltkrieg,1937–1950

Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 waren knapp zwei Monate vergangen. Die Wehrmacht hatte Minsk, Smolensk und Nowgorod überrannt. Noch verteidigte die Rote Armee Kiew und Odessa. Hunderttausende Menschen befanden sich auf der Flucht. Im Chaos der ersten Wochen nach dem Überfall zählte niemand die Opfer. Die Situation war völlig offen. Die Wehrmacht rückte zügig auf die russischen Hauptstädte vor. Mitte der neunten Kriegswoche durchtrennten deutsche Soldaten die Bahnverbindung zwischen Leningrad und Moskau. Es war der 20. August 1941. An diesem Tag machten sich in der Stadt Turtkul im Delta des Amudaria Tausende mobilisierte Männer aus der Stadt und dem Umland auf, um einen neuen Bewässerungskanal auszuheben. Am Amudaria war die Front fern. Das Leben nahm seinen scheinbar gewohnten Lauf. In der Lokalzeitung konnte man lesen, der neue Kanal werde die Wüste zum Blühen bringen. Die Propagandisten beschworen den Enthusiasmus der Kanalerbauer. Bereits in den ersten Septembertagen hatten die Arbeiter den Kanalschacht zwölf Kilometer in die Wüste hineingetrieben. »Kraft und Wille des Kollektivs waren auf den schnellstmöglichen Abschluss des Baus gerichtet«, schrieben die Zeitungen, »um die Wüste Kysylkum mit den Wassern des mächtigen Amu zu tränken.«1 Abgesehen davon, dass der Bau des Wüstenkanals zeitgleich mit dem Angriff der deutschen Wehrmacht begann, unterschied er sich nicht von anderen Kanalprojekten in Zentralasien zwischen 1938 und 1950. Die Massenmobilisierung von Arbeitskräften gehörte ebenso zu den charakteristischen Elementen der neuen Kanalbauweise wie der eng gesteckte zeitliche Rahmen zur Fertigstellung der Projekte. Die »Volksbaustellen« machten das Fehlen von technischem Gerät durch die körperliche Arbeit Tausender »Enthusiasten« wett. Ausgerüstet mit Schaufeln und Hacken bauten usbekische, tadschikische und turkmenische Arbeiter unter dem

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Sarybaev, Istorija oroˇsenija, S. 218.

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Kommando von russischen Ingenieuren Kanäle, Dämme und Stauseen. Massenmobilisierung und Zwangsarbeit spielten eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung der Bauprojekte. Der Gewalt des Mobilisierungsregimes stand diametral die offizielle Propaganda gegenüber. In Zeitungsartikeln, Wochenschauen und Büchern feierte sie die Großbauten als Initiativen »von unten« und als Projekte des Fortschritts und der Entwicklung: Die Kanalgroßbauten sollten zur »generellen Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus« der Bevölkerung dienen, wie ihr Hauptinitiator, der usbekische Parteichef, Usman Jusupow, zu betonen nicht müde wurde.2 Auf den ersten Blick stehen die zentralasiatischen Kanalbauten der späten 1930er und der 1940er Jahre in einer langen Reihe heroischer Großprojekte andernorts in der Sowjetunion, mit denen die Staatsführer sich und ihrem Herrschaftssystem weithin sichtbare Denkmäler setzten. Die Monumente der Staatsmacht sollten die herrschaftliche Durchdringung immer neuer Peripherien und die Unterwerfung immer neuer Bevölkerungsgruppen greifbar veranschaulichen. Zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution bildeten innere Kolonisierung, zentralistische Wirtschaftsplanung und Massenmobilisierung den unüberhörbaren Dreiklang der sowjetischen Staatswerdung. Der Staat führte einen Eroberungskrieg zur Unterwerfung der Natur, der das Sowjetland mit neuen Infrastrukturen durchdrang und durch Großprojekte modernisierte.3 Dieser Krieg erreichte Ende der 1940er Jahre mit Stalins gigantomanischem »Plan zur Umgestaltung der Natur« seinen Höhepunkt.4 Auf den zweiten Blick erzählen die Kanalgroßbauten jedoch eine andere Geschichte, die nicht von Fortschritt und Entwicklung, Unterwerfung und Modernisierung handelt, sondern von Herrschaftsdurchsetzung und Machtinteressen in einem Regime der Willkür und Unordnung. Beleuchtet man die konkreten politischen Entscheidungsabläufe, die die »Volksbaustellen« erst ermöglichten, und fragt nach den Handlungsmotiven der beteiligten Akteure, erscheinen die Bauprojekte als

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Usman Jusupov, »Sel’skoe chozjajstvo Uzbekistana v 1941 godu«, in: Pravda vom 11. 3. 1941, S. 3. Obertreis, Imperial Desert Dreams, S. 254–258; dies., »Infrastrukturen«; Woronkow, »Technostruktur«; Josephson, Resources under Regimes, S. 102–103; Scott, Seeing Like a State, S. 193–195. Brain, »The Great Stalin Plan«; Gestwa, »Auf Wasser und Blut«, S. 253–259.

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Initiativen einer Gruppe von Überlebenden in einem Land, dessen alte Führungsschicht im Zuge des »Großen Terrors« fast vollständig vernichtet worden war.5 Die Planungen und Vorbereitungen für die ersten »Volksbaustellen« begannen in Taschkent unmittelbar nach Ende des Moskauer Schauprozesses vom März 1938, in dessen Verlauf die ehemaligen Führer Usbekistans für ihr mangelhaftes Management der Bewässerung und des Baumwollanbaus vernichtend kritisiert worden waren.6 In dieser Situation vermochte die neue usbekische Führung ihr Überleben nur zu sichern, indem sie bewies, dass sie die Fehlentwicklungen der Vergangenheit beseitigen konnte, den Wasserbau erneuerte und die Baumwollproduktion ankurbelte. Im Frühjahr 1939 erprobte die usbekische Parteiführung erstmals die Methode der »Volksbaustellen«, die Massenmobilisierung und Schnellbauweise kombinierte und bis 1950 bei einer Vielzahl von Großprojekten Anwendung fand. Größer hätte der Bruch mit der Art und Weise, wie ihre Vorgänger den Bewässerungsbau gehandhabt hatten, nicht sein können: Zwischen 1933 und 1937 war kein einziges Großprojekt gebaut worden. Der Wasserbau in Zentralasien konzentrierte sich in dieser Zeit vielmehr auf kleine Projekte, die konkrete Verbesserungen in vielen einzelnen Bewässerungssystemen erreichen sollten, richtete sich also nach lokalen Gegebenheiten und Bedürfnissen.7 Auch das Bautempo hatte sich verlangsamt, nachdem eine Reihe von Projekten des Ersten Fünfjahresplans an ihrer schlechten Vorbereitung und ihrer hastigen Umsetzung gescheitert waren. Seit 1933 stand Gründlichkeit über effektvollen Schnellschüssen.8 Der Bau eines neuen Projekts und die Landerschließung zogen sich oft über mehrere Jahre hin und wurden in vielen kleinen Etappen ausgeführt. Doch nach dem Moskauer Schauprozess hieß es nun plötzlich, dass die Bewässerungssysteme in Zentralasien zu langsam und zu ineffizient ausgebaut worden seien. Man müsse mit neuen Methoden schnellstmöglich eine »endgültige Lösung für das Wasserproblem« finden.9 Wenn es in den folgenden Ausführungen um die Frage geht, wie die

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Zur Figur des »Überlebenden« vgl. Canetti, Masse und Macht, S. 267–276. Process Bucharina, S. 240–241, 340, 354–355. Abdunabiev, Iz istorii, S. 110–115. RGAE˙ 8378/1/99, Bl. 333–334 (Rachimbaev und Askoˇcenskij an Bauman, Paskuckij, Smigla und Maksumov, Mitte 1933). Betin, Vtoraja molodost’, S. 3.

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Kehrtwende im Wasserbau die staatliche Herrschaft in Usbekistan zwischen 1937 und 1945 veränderte, sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Zunächst gilt es, die Mittel und Wege zu beleuchten, mit denen Jusupow die »Volksbaustellen« initiierte. Die jahrelangen Machtkämpfe innerhalb der usbekischen Parteiführung, bei denen sich eine »russische« und eine »usbekische« Fraktion gegenüberstanden, verdeutlichen ihre herrschaftspolitische Dimension. Auch nach den Auswirkungen der Massenmobilisierung auf die einfache Bevölkerung ist zu fragen. Auf den »Volksbaustellen« bildeten sich, so die These, temporäre Inseln staatlicher Machtausübung. Die Großprojekte konnten jedoch nicht dafür sorgen, diese Inseln der Staatsmacht in eine permanentere Form staatlicher Herrschaft zu verwandeln, die auf Kontrolle und Loyalität statt auf Gewalt und außerordentlichen Maßnahmen basierte. Die negativen Auswirkungen des Mobilisierungsregimes der »Volksbaustellen« traten während des deutsch-sowjetischen Kriegs 1941 bis 1945 zutage, als die Landwirtschaft in Usbekistan und seinen zentralasiatischen Nachbarrepubliken weitgehend zusammenbrach. In den Nachkriegsjahren gelang es Jusupow dann nicht mehr, wieder an seine Mobilisierungspolitik aus der Vorkriegszeit anzuschließen.

Massenmobilisierung: Usman Jusupow und der Große Ferghanakanal, 1937–1939 Für Usman Jusupow war 1937 das Jahr seines Lebens. Nach zwei Jahren an der Moskauer Parteihochschule kehrte der usbekische Parteifunktionär im März 1937 als Minister für die Lebensmittelindustrie nach Taschkent zurück. Der 1900 geborene Jusupow, ein temperamentvoller, durchtriebener und entschlossener Mann mit kahl geschorenem Schädel, gehörte schon früh in seiner Karriere zu den Hoffnungsträgern des stalinistischen Führungszirkels. Nur drei Jahre nach seinem Eintritt in die Kommunistische Partei hatte er es 1929 zum Dritten Sekretär des usbekischen Zentralkomitees gebracht. Wiederholt stellte er sich gegen die »nationalistische Gruppe« um Akmal Ikramow in der usbekischen Parteiführung.10

10 RGASPI 82/2/154, Bl. 79–92 (Jusupov an Stalin und Molotov, 25. 1. 1931). Für diese Quelle danke ich Jörg Baberowski.

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Jusupow unterschied sich nicht nur wegen seiner bäuerlichen Herkunft und seiner fehlenden muslimischen Bildung von »alten« usbekischen Führungsfiguren wie Ikramow und Chodschajew. Seine Hochzeit mit Julia Logwinowna Stepanenko, der Tochter eines Taschkenter Eisenbahnarbeiters mit ukrainischen Wurzeln, brachte ihn 1929 in Verbindung mit dem einflussreichen russischen Milieu innerhalb der Taschkenter Parteiorganisation. Schnell eignete er sich hier die Grundregeln »bolschewistischer« Parteiarbeit an.11 Im September 1937 konnte Jusupow die Früchte seiner Arbeit ernten. Als Andrej Andrejew und Lew Belski, der Stellvertreter des Geheimdienstchefs Nikolaj Jeschow, die usbekische Parteiorganisation »von Feinden säuberten«, einigten sie sich nach wenigen Tagen auf Jusupow als den bestgeeigneten Kandidaten für den Posten des Ersten Sekretärs. Stalin hatte gegen ihren Vorschlag nichts einzuwenden. Andrejew solle »nach eigenem Ermessen und der Situation entsprechend« vorgehen, teilte ihm der Generalsekretär mit.12 Gleichwohl berichtete dieser während seiner dreiwöchigen Reise durch Zentralasien fast täglich von seinen Aktivitäten und erhielt genaue Anweisungen von Stalin.13 Als Andrejew während seines zweiwöchigen Aufenthalts in Usbekistan den Gang der Baumwollernte überprüfte, teilte er Stalin mit, dass die »Hauptfeindesarbeit« nicht im Baumwollsektor, sondern in der Wasserwirtschaft geschehen sei. Absichtlich seien Felder nicht bewässert worden, was zu Ertragseinbußen und »Unzufriedenheit« in den Kolchosen geführt habe. Der Ausbau der Kanalsysteme sei verhindert worden und große Flächen in der Hungersteppe und im zentralen Ferghanatal, auf denen Bewässerung möglich sei, lägen ungenutzt. Deshalb habe eine Säuberung in der Taschkenter Wasserbehörde schon begonnen und eine neue Leitung sei eingesetzt worden.14 Mit seiner Amtsübernahme als Erster Sekretär bekundete Jusupow sein besonderes Interesse an der Bewässerungswirtschaft. Ende September 1937 ließ er die usbekischen Kreisparteikomitees in einem Telegramm wissen, dass alle Mitarbeiter der Wasserbehörden – »angefangen bei den 11 Reskov/Sedov, Usman Jusupov, S. 68–77. Vgl. Teichmann, »Cultivating the Periphery«, S. 49–51. 12 RGASPI 558/11/57, Bl. 94–95 (Andreev an Stalin und Antwort Stalins, 25. 9. 1937). 13 Teilweise gedruckt in Sovetskoe rukovodstvo, S. 371–380. 14 RGASPI 558/11/65, Bl. 82–83 (Andreev an Stalin, 28. 9. 1937).

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Direktoren und endend bei den Wassermeistern an den kleinen Kanalsystemen« – »überprüft« werden und alle »Volksfeinde, konterrevolutionären bourgeoisen Nationalisten und Diebe von Staatseigentum« vor Gerichte oder Sondertribunale gestellt werden müssten.15 Die Terrorkampagne lief in den Provinzen zügig an. Mitte Oktober hatten drei Schauprozesse gegen Wassermeister stattgefunden, über die die usbekischen Zeitungen detailliert berichteten. Die Berichte dienten als Vorlagen für weitere Schauprozesse gegen das Personal der Wasserbehörden, deren Inszenierung die Willkür und den Terror in alle Provinzen Usbekistans trug. Gleichzeitig begannen die Planungen für die ersten »Volksbaustellen«, zu denen im Februar und März 1938 erstmals Tausende Arbeiter und Bauern mobilisiert wurden. Der Kanal »18. Parteitag« mit 32 Kilometern Länge, sechs Metern Breite und zwei Metern Tiefe wurde in 17 Tagen gebaut, und innerhalb von vier Wochen stellten mobilisierte Kanalgräber im Ferghanatal einen 28 Kilometer langen Kanal fertig, der durch steiniges Steppengelände führte.16 Die usbekische Parteiführung zeigte sich wie elektrisiert von der Idee, neue Bewässerungskanäle bauen zu lassen. Allein im Jahr 1939 wurden 250 Kanäle mit einer Gesamtlänge von 1332 Kilometern gegraben.17 Da sich die Kräfte des Staates auf den Kanalschnellbau und die Massenmobilisierung konzentrierten und auch der Baumwollanbau nicht zu kurz kommen durfte, blieben andere dringliche Aufgaben unerledigt. Das hatte verhängnisvolle Auswirkungen, wie das Beispiel der 172000 Koreaner zeigte, die im Herbst 1937 aus dem sowjetischen Fernen Osten nach Zentralasien deportiert worden waren. Von 16272 deportierten Familien (76250 Menschen), die der Geheimdienst auf dem Höhepunkt des »Großen Terrors« nach Usbekistan umgesiedelt hatte, lebten dort im Dezember 1938 nur noch 11078 Familien.18 Die Deportierten wurden in Kolchosen gesteckt, die Reis oder Baumwolle kultivierten, und sich selbst

15 ORMDA 837/32/576, Bl. 116 (Jusupov und Segizbaev an Kreisparteisekretäre, 30. 9. 1937). 16 RGASPI 17/2/643, Bl. 87 (Stenogramma zasedanija Plenuma CK VKP[b], 21. 3. 1939). 17 RGANI 6/6/662, Bl. 254 (Filimonov an Andreev, 13. 10. 1940). 18 Bugaj, L. Berija – I. Stalinu, S. 72–74; Stalinskie deportacii, S. 81–82; GARF 5446/23a/15, Bl. 25–26 (Cˇernyˇsev an Molotov, 8. 1. 1939). Vgl. Martin, »The Origins«, S. 840–842, 850–852.

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überlassen. Niemand kümmerte sich um ihre Versorgung; Hunger, Epidemien und fehlende Behausungen gehörten zu ihrem Lebensalltag.19 Dass die Institutionen des usbekischen Sowjetstaats den Umsiedlern »nicht nur nicht dabei helfen, ihre berechtigten Forderungen zu erfüllen, sondern ihre Bedürfnisse einfach ignorieren«, erstaunte selbst die Moskauer Regierung.20 Obwohl zeitgleich Hunderte neuer Kanäle gebaut wurden und auch im Straßenbau »Volksbaustellen« Einzug hielten, hatten die koreanischen Umsiedler in ihren Kolchosen selbst im Sommer 1939 noch keine ausreichende Wasserversorgung erhalten.21 Unterdessen arbeitete Jusupow unermüdlich daran, seine Kanalbauoffensive voranzutreiben. Das Plenum des Moskauer Zentralkomitees im März 1939 bot ihm die richtige Bühne, den Bau eines neuen Großkanals in Usbekistan zu verkünden. Er verwies auf die bereits erreichten Baurekorde und berichtete, wie die »Kolchosniki des Ferghanatals« die neuartigen Kanalbauten »buchstäblich wie ein Fest« begrüßt hatten. Dann erinnerte er daran, dass das Kanalbauprojekt schon vor »ungefähr sechs Jahren« geplant worden war, aber von den »Feinden des Volkes« hinausgezögert worden sei. Nun sei es Zeit, die »Bewässerung in Ordnung zu bringen«. Der neue Kanal sollte 240 Kilometer lang sein und vom Syrdaria ausgehend quer durch das Ferghanatal führen. Neun oder zehn Millionen Kubikmeter Erde müssten bewegt werden. »Jetzt schlagen die Kolchosniki vor, dass man diese Arbeit in einem Monat beenden könnte«, ließ Jusupow das Zentralkomitee wissen. In den Kreiskomitees und Gebietskomitees hätten sich 65000 Personen gemeldet, um an den Bauarbeiten für diesen Kanal teilzunehmen. »Die Kolchosniki fordern, die Arbeiten am 1. September zu beginnen und am 1. Oktober zu beenden, das heißt innerhalb eines Monats.«22 Hinter Jusupows ehrgeizigem Kalkül stand sein Wunsch, die Beziehungen zwischen der »Baumwollrepublik« Usbekistan und dem Moskauer Machtzentrum auf eine neue Grundlage zu stellen. Dazu griff er

19 Rachmankulova, »Iz istorii«, S. 82–85. 20 GARF 5446/23a/15, Bl. 22 (Cˇernyˇsev an Molotov, 8. 1. 1939); Rachmankulova, »Iz istorii«, S. 89. 21 GARF 5446/23a/15, Bl. 18 (Benediktov an SNK SSSR, 8. 6. 1939). 22 RGASPI 17/2/643, Bl. 84–86 (Stenogramma zasedanija Plenuma CK VKP[b], 21. 3. 1939). Jusupov korrigierte die Daten später handschriftlich im Stenogramm: Der Kanal sollte nun vom 1. August bis zum 1. September 1939 gebaut werden.

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Stalins Vorliebe für Großprojekte auf und unterstrich gleichzeitig die finanziellen Vorteile der Massenmobilisierung. Bisher habe man sich allein auf die Finanzierung durch Moskau verlassen, erklärte Jusupow. »Jetzt ist es Zeit, sich die Frage zu stellen, wie man das Bewässerungssystem verändern kann, ohne dabei nur auf die unabdingbaren staatlichen Hilfen zu setzen; der ganze Vorteil besteht doch darin, dass es mehr Wasser geben wird und dieses Wasser den Kolchosmassen zugutekommt.«23 Stalin teilte die Sicht, dass Baumaßnahmen schnell erfolgen, wenig Geld kosten und mobilisierend wirken sollten; dieses Vorgehen hatte sich sowohl bei den Großbauten des Ersten Fünfjahresplans bewährt als auch bei den Arbeiten an den Kanalbaustellen der »Großen Wolga«. Als Jusupow sein usbekisches Kanalprojekt vorstellte und sich direkt an den sowjetischen Stellvertretenden Ministerpräsidenten Nikolaj Bulganin wandte, um »15 bis 18 Millionen Rubel, 500 Waggons Holz und 5000 Tonnen Zement« zu erbitten, entspann sich folgender Dialog: »: Ich glaube, dass Genosse Bulganin uns in dieser Sache, in dieser sehr ehrenvollen Sache … Gelächter. : Genosse Bulganin lacht … : Er freut sich. : Er schmunzelt, aber er lacht nicht. : Ich glaube, dass dank dieser Maßnahme der gesamte Bezirk Ferghana, die Basis unseres Baumwollanbaus, für immer ausreichend mit Wasser versorgt sein wird. : Er wird dir schon helfen.«24 Stalins Unterstützung für den Großkanal konnte nur diejenigen überraschen, die sich auf die erst wenige Tage zuvor verkündete Generallinie eingestellt hatten. Regierungschef Molotow hatte in seiner Rede auf dem 18. Parteitag die sowjetischen Ingenieure und Wirtschaftsführer für ihre ausufernden Großprojekte gerügt und sie zu einer »entschiedenen Abkehr von der Gigantomanie« aufgefordert, die »bei einigen Wirtschaftsführern geradezu eine Krankheit geworden« sei.25 In Usbekistan blieb die Vorgabe Molotows ohne Wirkung. Die Vorbereitungen zum Bau des 23 RGASPI 17/2/643, Bl. 86. Vgl. Jusupov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 166. 24 RGASPI 17/2/643, Bl. 88–89 (Stenogramma zasedanija Plenuma CK VKP[b], 21. 3. 1939). 25 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten, S. 70–72.

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»Großen Ferghanakanals« schritten zügig, wenn auch überstürzt und improvisiert, voran.26 Jusupow hatte den richtigen Ton getroffen, um seine Ziele in Moskau durchzusetzen. Als Wjatscheslaw Molotow im Hochsommer 1939 mit seinem deutschen Amtskollegen Joachim von Ribbentrop über den Nichtangriffspakt und die Aufteilung Polens verhandelte, begannen in Usbekistan die Arbeiten am »Großen Ferghanakanal«. Der Kanal wurde in Handarbeit, mit Hacken und Schubkarren, auf 270 Kilometern ausgebaut. Die Baustelle im Ferghanatal zog sich von Jalalabad im Nordosten bis nach Bescharyk im Südwesten. Im August 1939 wurden 160000 Usbeken und Tadschiken auf die Kanalbaustellen verbracht, um das pharaonische Projekt binnen sechs Wochen zu vollenden. Ende August, eine Woche vor dem deutschen Angriff auf Polen, wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt in Moskau unterzeichnet. Währenddessen besuchten prominente sowjetische Künstler – wie der Filmregisseur Sergej Eisenstein, die Schriftsteller Pjotr Pawlenko und Alexej Tolstoj, die Fotografen Michail Gratschew und Max Penson – das Ferghanatal, um die beeindruckende Großbaustelle zu besichtigen und künstlerisch zu dokumentieren.27 Als die Rote Armee in der zweiten Septemberhälfte 1939 in Ostpolen einmarschierte, war der »Große Ferghanakanal« fertiggestellt.28 Mit der Massenmobilisierung im Kanalbau veränderte sich auch die Propaganda.29 Wieder gab Usman Jusupow den Ton vor. In seinen offiziellen Reden nahm er Elemente der Losungen des letzten Parteitags auf. Die »Volksbewegung für das Wasser« zeige, wie sich »neue Formen der sozialistischen Arbeit, die charakteristisch für den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus sind«, verbreiteten. »Die wachsende politische Aktivität des Volkes, eine neue, sozialistische Einstellung zur Arbeit und die Erziehung Tausender Menschen auf den Bewässerungsschnellbaustellen haben Usbekistan großartige Perspektiven für die weitere

26 Obertreis, Imperial Desert Dreams, S. 236–237. 27 P. Pavlenko, »Ferganskij poˇcin«, in: Pravda vom 5. 8. 1939, S. 6. 28 Usman Jusupov, »Bol’ˇsoj Ferganskij Kanal proryt«, in: Pravda vom 21. 9. 1939, S. 3. 29 Propagandatexte, die in dieser Zeit erschienen, prägen das Bild der »Volksbaustellen« bis heute. Stilbildend hier die Arbeiten des Parteihistorikers Nepomnin, ders., K istorii irrigacii, S. 48–51.

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siegreiche Bewegung vorwärts eröffnet.«30 Darüber hinaus machte Jusupow seiner Zuhörerschaft aber auch konkrete Angebote. Nicht alle neu gewonnenen Flächen sollten unter Baumwolle verschwinden. »Wir alle wissen, dass das usbekische Volk gern Pilaw isst, und das heißt, wir sollten mehr Reis erzeugen.«31 In seinen Reden schwang ein hörbar nationaler Unterton mit, der irgendwo zwischen Dekolonisierungsrhetorik und Nationalismus schwebte. »Das usbekische Volk«, so Jusupow in vielen seiner Auftritte, sei »revolutionär und mächtig«. Es sei »nicht mehr das niedergeschlagene und eingeschüchterte Volk, das alle, die Lust dazu hatten, unterdrückten, auspressten und quälten. Jetzt kann das usbekische Volk mit Recht stolz darauf sein, dass es ein gleichberechtigtes Volk ist.«32

Die Grenzen des Mobilisierungsregimes, 1939–1941 Bis zum Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941 gehörten die Kanalbaustellen innerhalb der Taschkenter Machtelite zu den umstrittensten Projekten der sowjetischen Staatsbildung in Usbekistan. Politische Intrigen und persönliche Ränke hatte es schon bei ihrer Planung gegeben. Jusupow begeisterte Stalin für die Bauwerke, was seine Gegner im Taschkenter Parteibüro auf den Plan rief. Um den Zweiten Sekretär des usbekischen Zentralkomitees Alexander Wassiljewitsch Kudrjawzew organisierte sich die Opposition. Die Kanalbaustellen, lautete ihr Vorwurf, erfüllten ihr Hauptziel nicht: Die Wasserversorgung habe sich weder auf den älteren Kulturflächen verbessert, noch sei sie ausreichend für die geplanten Neulandflächen.33 Nach den Mobilisierungskampagnen zum Bau des Großen Ferghanakanals ruhe die Arbeit wieder völlig, hieß es, und die entscheidenden Verbindungsstrecken zu den vorhandenen älteren Kanalsystemen würden nicht fertiggebaut. Nur die Hälfte der geplanten Flächen würde tatsächlich bewässert. Auch das Urbarmachen von Neuland hinke weit hinter den Plänen zurück. Die Wasserbehörden 30 Usman Jusupov, »K novym pobedam kommunizma«, in: Pravda Vostoka vom 4. 2. 1940, S. 3. 31 Jusupov, Izbrannye trudy, Bd. 1, S. 165. 32 Ebenda, S. 159. 33 RGANI 6/6/666, Bl. 42 (Romanov an Andreev, 17. 2. 1941).

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hätten die Übersicht verloren und führten die anstehenden Arbeiten »extrem langsam« aus.34 Jusupow war nicht der Mann, der solche Vorwürfe auf sich sitzen ließ. Dabei hatte er den usbekischen Geheimdienstchef Alexej Sadschaja ebenso auf seiner Seite wie den Ministerpräsidenten Abdurachmanow. Auf der anderen Seite standen Jusupows Stellvertreter Kudrjawzew und die Vorsitzenden der Parteikontrollkommission Filimonow und Lomakin.35 Keine der beiden Seiten rückte von ihrem Standpunkt ab. »Die massiven Ausmaße der noch unfertigen Bauarbeiten«, meldete Filimonow im Herbst 1940 nach Moskau, »führen dazu, dass die Kanalanlagen nicht richtig funktionieren und es ohne die nötige technische Ausrüstung häufig zu Havarien kommt.«36 Berichte Filimonows und Gegendarstellungen Jusupows gingen regelmäßig in Moskau ein, wobei Jusupow vorerst die Oberhand behalten konnte. Filimonow wurde im Sommer 1941 nach Tadschikistan versetzt. Sein Stellvertreter Lomakin übernahm zuerst den Posten des obersten Kontrolleurs in Usbekistan und dann die Funktion des Zweiten Sekretärs.37 Mit dieser wohlberechneten Personalrochade blieb die Moskauer Parteiführung Stalins bewährtem Prinzip treu, in den regionalen Parteibüros die persönlichen Spannungen zwischen verfeindeten Gruppen für eigene Zwecke zu nutzen und entsprechend zu manipulieren.38 Trotz der Anfeindungen seiner russischen Parteigenossen, die nur hinter verschlossenen Türen zur Sprache kamen und in hochgeheimen Berichten nach Moskau übermittelt wurden, lobte Jusupow die »Volksbaustellen« nicht nur in seinen öffentlichen Reden, sondern auch bei vertraulichen Gesprächen mit anderen hochrangigen Parteimitgliedern. Er glaubte, dass Bewässerungsarbeiten im großen Maßstab die »entscheidende Grundlage zum Aufbau des Kommunismus in Zentralasien« seien und dass das »usbekische Volk ohne Bewässerung zu Hunger und Tod verdammt« sei.39 »Volk« und »Staat« verschmolzen seiner Ansicht

34 RGANI 6/6/662, Bl. 203–209 (Dokladnaja zapiska o chode podgotovki k osvoeniju Bol’ˇsogo Ferganskogo Kanala im. Stalina, 26. 1. 1940). 35 RGANI 6/6/662, Bl. 25–34 (Filimonov an Andreev, 27. 8. 1939). 36 RGANI 6/6/662, Bl. 257 (Filimonov an Andreev, 13. 10. 1940). 37 RGANI 6/6/667, Bl. 41 (Lomakin an Andreev, 7. 8. 1941). 38 RGANI 6/6/670, Bl. 39–40 (Kulefeev an Andreev, 28. 3. 1944). 39 RGANI 6/6/667, Bl. 42–43 (Lomakin an Andreev, 7. 8. 1941).

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nach beim Kanalbau. »In unserem Land«, behauptete Jusupow, »bilden die Interessen des Staates und die Interessen des Volkes eine totale und vollkommene Einheit.«40 In der Tat schlugen die »Volksbaustellen« ein neues Kapitel der Geschichte Zentralasiens auf. Anders als die Kanalbauten der 1920er und 1930er Jahre, die sich stärker den lokalen Umweltbedingungen angepasst, die Bevölkerung in die Planung einbezogen und deren Realisierung sich deshalb über Jahre hingestreckt hatte, erfolgte die Fertigstellung der neuen Bauwerke innerhalb weniger Wochen. Die massenhafte Mobilisierung erreichte Ausmaße, die wenige Jahre zuvor schwer vorstellbar gewesen wären. Das Prinzip der Massenmobilisierung konnte zudem auf den Bau von Straßen und Fabriken übertragen werden, sodass sie nicht nur die Kolchosbevölkerung, sondern auch die Städte und die nomadischen Regionen außerhalb der Oasen erreichte.41 Dennoch war die Massenmobilisierung ein zweischneidiges Schwert. Die »Volksbaustellen« setzten auf große Menschenmassen, konnten ihre disziplinierende Kraft aber nur über einen kurzen Zeitraum und unter Anspannung aller verfügbaren Ressourcen aufrechterhalten. Sowohl die Funktionäre als auch die Bevölkerung hatten viel Erfahrung mit der Willkür mobilisierender Machtausübung und den Möglichkeiten, sich ihr zu entziehen. »Freiwillige« Massenarbeitseinsätze bei der Baumwollernte gab es schon seit Mitte der 1930er Jahre. 1935 hatte die Taschkenter Parteileitung 50000 Bewohner der Stadt zur Arbeit auf die Baumwollfelder bestellt. Schon damals gab es innerparteiliche Kritik an solchen Stoßkampagnen.42 Der Geheimdienst stellte Sondereinheiten auf, die die Feldarbeiten und die Baumwollsammelpunkte überwachten.43 Doch selbst unter dem Druck der Massenrepressionen gelang es nicht in allen Regionen, die Bevölkerung zu den vorgesehenen Arbeiten zu zwingen. Im Dezember 1937 erschienen in der Oase von Choresm 1020 statt 2660 Bauern zum Kanalbau, die von 255 Polizisten bewacht werden mussten.44 Obwohl das winterliche Treibeis auf dem Amudaria die Schutzdämme gefährdete und eine Überschwemmungskatastrophe drohte, sahen sich

40 Betin, Vtoraja molodost’, S. 2. 41 Jusupov, Socializm i tvorˇceskaja initiativa, S. 223–235. 42 RGANI 6/1/13, Bl. 112–113 (Stenogramma zasedanija 3-go plenuma KPK pri CK VKP[b] 7. 3. 1936). 43 Sovetskoe rukovodstvo, S. 375 (Andreev an Stalin, 22. 9. 1937). 44 ORMDA 837/32/577, Bl. 43 (Perˇsin an Segizbaev, 2. 12. 1937).

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die regionalen Behörden in Chiwa auch nach mehrfachen Aufforderungen aus Taschkent außerstande, genügend Arbeitskräfte zu mobilisieren.45 Vor diesem Hintergrund achteten die Verantwortlichen auf vielen Kanalbaustellen deshalb darauf, dass die Mobilisierten während der Arbeit mit genügend Trinkwasser und Nahrungsmitteln versorgt wurden. Dies gelang mancherorts, aber nicht überall.46 Die Anreize, beim Kanalgraben und Straßenbauen teilzunehmen, waren gering, solange die Mobilisierten sich keine zukünftigen wirtschaftlichen Vorteile von den Bauten versprachen. Darum gehörten Desertionen von den Kanalbaustellen zur Tagesordnung. Wenn der Einsatz auf einer »Volksbaustelle« beendet war, nahm das Leben wieder seinen alltäglichen Lauf, als ob nichts geschehen wäre.47 Die Grenzen von Jusupows Mobilisierungsregimes treten noch deutlicher zutage, betrachtet man das alltägliche Funktionieren der Bewässerungssysteme. Hier zeigte sich immer wieder, dass die kurzzeitige Mobilisierung zum Kanalbau das längerfristige Problem, wie die Kanalsysteme staatlicherseits erfolgreich überwacht und kontrolliert werden könnten, nicht löste. Seit Mitte der 1920er Jahre gab es seitens der Wasserbehörden Bemühungen, eine möglichst umfassende Kontrolle über die Wasserverteilung zu erlangen. Mit Beginn der Kollektivierung sollten Wasserverteilungspläne durchgesetzt werden, bei denen die Planer und nicht die Kolchosniki über die Wasserverteilung bestimmten. Während der Säuberungen 1937 hatte sich gezeigt, dass die Mitarbeiter der Wasserbehörden und die Kanalmeister in den Kolchosen wenig Anreize hatten, sich ausschließlich der Planerfüllung zu widmen. Im Jahr 1939 stand deshalb der »Wasserdiebstahl« wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Jusupow machte sich dafür stark, die Unterschlagung von Wasser ebenso drakonisch zu bestrafen wie die private Nutzung von Kolchosland.48 Trotz der Kontrolle, die neu gebaute Kanäle und umgebaute Wassersysteme eigentlich gewährleisten sollten, gehörte »Wasserdiebstahl« weiterhin zu den wichtigsten Überlebensstrategien der Bevölkerung. 45 46 47 48

ORMDA 837/32/577, Bl. 64 (Segizbaev an Rachmatullaev, 21. 12. 1937).

Sarybaev, Istorija oroˇsenija, S. 216–225. Shayakhmetov, Silent Steppe, S. 256–257. RGASPI 17/2/643, Bl. 83 (Stenogramma zasedanija Plenuma CK VKP[b], 21. 3. 1939).

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»Massenhafte Fälle von unwirtschaftlichem und verbrecherisch unachtsamem Umgang mit Wasser« konnte man in allen Kolchosen und an allen Kanälen beobachten. Zu diesem Bild gehörte, dass die Baumwollfelder unachtsam bewässert und oft einfach mit Wasser überflutet wurden. In der Sowchose »Sawaj«, wo die Wassernutzung als »besonders barbarisch« beschrieben wurde, entstand nach der Flutung von Feldern und Straßen ein See, aus dem sich Eisenbahnarbeiter bedienen konnten, um ihre privaten Gärten zu bewässern. Andernorts kam die planmäßige Wassermenge nicht auf den Baumwollfeldern an, weil die Kolchosniki zuerst die essbaren Anbaukulturen und ihre privaten Felder wässerten.49 »Unfälle« an den Kanalanlagen und »Ineffizienz« im Umgang mit Wasser nutzte die Bevölkerung dazu, die Zumutungen des Baumwollanbaus mit ihren privaten Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Was die staatlichen Institutionen in ihren Berichten als »Wasserdiebstahl« abhandelten, war für die Kolchosbevölkerung und Fabrikarbeiterschaft ein Mittel zum Überleben.

Krieg an der Heimatfront: Usbekistan in der Krise, 1941–1943 Drei Wochen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion fuhren Usman Jusupow, Ministerpräsident Abdurachmanow und der neue usbekische Geheimdienstchef Amajak Kobulow nach Katta-Kurgan (Kattaqo’rg’on) in die Provinz Samarkand, um den soeben eilig fertiggestellten ersten Bauabschnitt eines neuen Stausees feierlich zu eröffnen.50 Äußerlich schien alles normal, auch wenn der Krieg im Hintergrund immer lauter grollte. Kobulow war im August 1941 in Taschkent eingetroffen, nachdem er als Chef der sowjetischen Gegenaufklärung zwei Jahre in Berlin gearbeitet hatte. Zwar hatte er auf diesem Posten versagt, aber als Bruder Bogdan Kobulows, eines engen Vertrauten des sowjetischen Geheimdienstchefs Lawrenti Beria, zur Bewährung eine neue Dienststelle in Taschkent erhalten. Wenige Wochen nach seiner Ankunft bewies er seine Eignung für diese Stelle, als er eine neue Gruppe von »Konter49 Hier und im Folgenden nach: RGANI 6/6/662, Bl. 6–9 (Dokladnaja zapiska Upol. KPK CK VKP[b] po UzSSR V. Filimonova, 15. 8. 1939). 50 RGANI 6/6/667, Bl. 47 (Lomakin an Andreev, 7. 8. 1941).

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revolutionären« im zentralen Parteiapparat »enttarnte« und sechs prominente usbekische Parteifunktionäre und Zeitungsredakteure festnehmen ließ. Nach den Verhören wurden zwei der Beschuldigten erschossen, darunter Satti Chusajnow, ein Vertrauter und Freund Jusupows.51 Mit dieser Aktion sorgte Kobulow nicht nur für Unruhe im Parteiapparat, sondern auch für fortdauernde persönliche Rivalitäten zwischen »usbekischen« und »russischen« Funktionären, die die usbekischen Kriegsanstrengungen an der Heimatfront schwer beeinträchtigen sollten.52 Als die ersten Kriegsflüchtlinge aus dem sowjetischen Frontbereich und den Hauptstädten in Usbekistan ankamen, staunten sie noch über die friedliche Atmosphäre und die Normalität des Alltagslebens. Doch binnen weniger Wochen veränderte sich dieses Bild dramatisch. Der »schrecklich schlechte Atem des Krieges« war nun auch in Zentralasien zu spüren.53 Hunderttausende Evakuierte und Flüchtlinge kamen in Taschkent und anderen größeren Städten Zentralasiens an, nur um zu entdecken, dass Desorganisation und Chaos schneller als sie selbst von der Front ins Hinterland geschwappt waren. Im Februar 1942 hatte die Polizei in Taschkent 339250 Flüchtlinge offiziell registriert; unter ihnen befanden sich 152646 Juden aus den westlichen und südwestlichen Kriegsgebieten.54 Während der desaströsen Fronteinbrüche im Sommer und Herbst 1942 folgte eine zweite Flüchtlingswelle mit ähnlichen Ausmaßen. Hinzu kamen Polen und polnische Juden, die nach einer Amnestie der sowjetischen Regierung im Sommer und Herbst 1941 aus dem Gulag entlassen worden waren. Die polnische Exilarmee unter General Wladyslaw Anders, die sich größtenteils aus Häftlingen und Deportierten rekrutierte, schlug Ende 1941 ebenfalls ihr Lager in der Nähe von Taschkent auf, ehe sie im März 1942 in den Iran evakuiert wurde. Taschkent übte auf Flüchtlinge eine besondere Anziehungskraft aus. Der Schriftsteller Alexander Wat berichtete, dass viele, insbesondere die

51 Hansen, Ambivalent Empire, S. 63–65; Reabilitacija, Bd. 1, S. 180–181. 52 RGANI 6/6/667, Bl. 2–3 (Lomakin an Andreev, 23. 1. 1942); RGANI 6/6/664, Bl. 175–177 (Vernikovskij an Andreev, 4. 11. 1942); RGANI 6/6/670, Bl. 39–43 (Kulefeev an Andreev, 28. 3. 1944). 53 Belonoˇzko, Na samych juˇznych rubeˇzach, S. 110. 54 USHMM, RG-75.002M, Collection of Registration Cards of Jewish Refugees in Tashkent.

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jüdischen Flüchtlinge, den bekannten Titel eines Bürgerkriegsromans von Alexander Newerow, »Taschkent, brotreiche Stadt«, wörtlich nahmen. »Alle zogen los nach Taschkent, wo der Typhus sie dann dahinraffte«, erinnerte sich Wat.55 Schon die Ankunft am Bahnhof der Stadt glich einem Albtraum. »Auf dem Bahnhof liegen überall Leute auf den Bänken«, beschrieb Wat den Zustand im Frühjahr 1942. »Die Typhusepidemie ist schon abgeebbt, aber dort liegen die Leute noch auf den bloßen Bänken und sterben, sie verenden, denn in den Spitälern ist kein Platz.«56 Ein halbes Jahr nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges hatte sich Usbekistan in einen Ort verwandelt, an dem Hunger, Armut und Krankheiten herrschten; die »Kluft zwischen dem offiziellen Bild des Sowjetvolks, das vereint für den Sieg kämpft, und dem Kampf ums Überleben an der Heimatfront, der von Verzweiflung, Mangel und Krankheit geprägt war, vertiefte sich enorm«.57 Interne Parteiberichte bestätigten diese bittere Wirklichkeit. Viele Flüchtlinge waren aus den Städten aufs Land geschickt worden, wo sie völlig verarmt und sozial isoliert lebten. Anders als die ortsansässige Bevölkerung verfügten sie weder über Privatland noch über Vieh. Selbst wenn sie auf den Baumwollfeldern arbeiteten, konnten sie sich ohne zusätzliche Einkünfte nicht ausreichend ernähren. »Wir arbeiteten auf den Baumwollfeldern«, erinnerte sich eine Frau, die aus Weißrussland nach Usbekistan geflüchtet war, »es gab kein Geld und kein Essen, nur Baumwolle. Die Funktionäre verteilten das Brot, ein halbes Kilo für Arbeiter und hundert Gramm für Kinder. Viele nahmen sich das Leben, weil sie die Bedingungen nicht aushielten. Die Regierung brauchte die Baumwolle für die Armee, aber die Leute, die auf den Feldern arbeiteten, hatten nichts. Der Boden war so arm, dass dort nur Baumwolle wuchs, kein Gemüse. Jede Familie verlor eines ihrer Mitglieder: ein Kind, ein Elternteil, einen Bruder. Die Bedingungen waren sehr hart.«58 Darüber hinaus wurden Flüchtlinge von den Parteifunktionären und Kolchosvorsitzenden schlecht behandelt. Es herrschte eine »Atmosphäre

55 56 57 58

Wat, Jenseits von Wahrheit, S. 573. Ebenda, S. 611. Vgl. Manley, Tashkent Station, S. 148–160. Stronski, Tashkent, S. 120. USHMM, RG-50.405.0026, Tsilya Michlin Goldin, Interview-Transkript, S. 10. Vgl. Wat, Jenseits von Wahrheit, S. 607–608.

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von Grobheit und manchmal sogar Brutalität«, hieß es in einem Bericht im Herbst 1942.59 In Schachrisabs (Shahrisabz) im Gebiet Kaschkadaria wurde ein Kreisparteisekretär dabei beobachtet, wie er eine Gruppe von jüdischen Flüchtlingen »zusammenschrie, warum sie denn nicht arbeiteten, ohne zu bedenken, was diese Leute durchlebten«. Die Flüchtlinge hatten über Wochen keine Nahrungsmittel bekommen, waren nicht einmal regelmäßig mit Brot versorgt worden. Auch ihre Löhne hatte sie nicht erhalten. Nachdem sie sich Kuchen aus Gräsern gebacken hatten, waren sie »so geschwächt, dass sie medizinische Hilfe benötigten«. Der Kreisparteisekretär wurde gezwungen, Nahrungsmittel und Geld an sie auszuhändigen. Doch er drohte den Flüchtlingen, dass sie daran denken sollten, »wenn wir euch auf dem Basar erwischen, wie ihr die Sachen verkauft, werden wir strenge Maßnahmen ergreifen«.60 Auch das Polizeiregime in Usbekistan regierte mit harter Hand. Viele der polnischen und jüdischen Neuankömmlinge berichteten in ihren Erinnerungen, dass Polizei und Geheimdienst mächtige, Angst einflößende und unvorhersehbare Institutionen waren.61 Innerhalb der Sicherheitsorgane herrschte aber ebenfalls ein Klima von Angst und Einschüchterung. Amajak Kobulow berichtete 1954, wie gezielt Moskau Druck auf die örtlichen Mitarbeiter der Geheimpolizei ausübte: Als Iwan Serow, ein Stellvertreter des Geheimdienstchefs Lawrenti Beria, 1942 Usbekistan besuchte und die Arbeit der dortigen Sicherheitsorgane überprüfte, schlug er im Gefängnis von Buchara einen usbekischen Gefangenen bis zur Bewusstlosigkeit, obwohl dieser sich längst als »deutscher Spion« und »Verbreiter provozierender und defätistischer Gerüchte« bekannt hatte. Die lokalen Mitarbeiter des NKWD konnten diese Szene nur mitansehen und aus ihr lernen.62 Sie waren dem Druck des Staatsapparats ebenso unterworfen wie die Flüchtlinge und die Zivilbevölkerung. Überall in der Sowjetunion erreichten die Repressionen

59 RGANI 6/6/667, Bl. 181 (Dokladnaja zapiska o poloˇzenii evakuirovannogo naselenija v Kuvinskom rajone Ferganskoj oblasti, 28. 9. 1942). 60 RGANI 6/6/667, Bl. 159 (Zapiska o nedostatkach v dele sozdanija zˇ iznenno-neobchodimych uslovii evakuirovannomu naseleniju, 25. 8. 1942). 61 Zimmermann, How I Survived, Kapitel IV: The Twilight Zone, o. S. 62 »Pros’ba o pomilovanii ot osuˇzdënnogo k smertnoj kazni A. Z. Kobulova, 26. 10. 1954«, in: Politbjuro i delo Berija, S. 722.

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während der ersten zwei Kriegsjahre Ausmaße, die denen des »Großen Terrors« in den Jahren 1937 bis 1938 glichen.63 In der angespannten Situation der Jahre 1941 und 1942 vertieften sich auch die Konflikte innerhalb der usbekischen Parteiführung. Es herrschte Misstrauen, und hässliche persönliche Vorwürfe gingen hin und her. Den »Usbeken« in der Parteiführung wurde unterstellt, missliebige russische Funktionäre in die Armee zu schicken, während sie ihre Landsleute in den Apparaten schützten.64 Wieder und wieder beschuldigten die russischen Mitglieder der Parteikontrollkommission usbekische Offizielle wegen »groben Machtmissbrauchs«; physische Gewalt, Verleumdung und Vergewaltigungen gehörten zur üblichen Verwaltungspraxis in den Provinzen und trafen die einheimische Bevölkerung ebenso wie die Flüchtlinge. Gewaltakte gegen die Zivilbevölkerung wurden »zu liberal« bestraft, solange die Funktionäre ihre Baumwollpläne pflichtgemäß erfüllten. Die Berichte der Parteikontrollkommission behaupteten zudem, dass die Ursachen der Gewalt in der »Vernachlässigung der Parteiarbeit« und in den »ungeeigneten Führungsmethoden« im usbekischen Parteistaat lägen.65 Immer wieder spielte das Elend der Flüchtlinge in diesen Auseinandersetzungen eine Rolle. Namentlich wurde der Vorsitzende des Ministerrats Abdudschabar Abdurachmanow beschuldigt. Er habe die lokalen Staatsvertreter davor gewarnt, sich von der Flüchtlingshilfe »nicht zu falschem Mitleid hinreißen zu lassen«, wenn dieses die »Ökonomie der Kolchosen« störe. »Stellt ihnen eine Unterkunft«, wurde Abdurachmanow zitiert, »und wenn sie die einrichten wollen, werden sie das schon machen, und sie können auch auf dem Boden schlafen; der Kolchos ist nicht dafür verantwortlich, für sie Betten und Bettzeug anzuschaffen.«66 Ungeachtet der chaotischen Lage und des menschlichen Leids unternahmen die Institutionen des sowjetischen Parteistaats in Usbekistan nichts, um das Leben der Bevölkerung zu erleichtern, im Gegenteil. Unter den Flüchtlingen gehörten die Frauen und Kinder zu den am

63 Budnitskii, »The Great Patriotic War«, S. 790–793. 64 RGANI 6/6/667, Bl. 48 (Lomakin an Andreev, 7. 8. 1941). 65 RGANI 6/6/670, Bl. 35–36 (Dokladnaja zapiska o faktach antipartijnogo provedenija sekretarej Kirovskogo i Dˇzambajskogo rajkomov Ferganskogo i Samarkandskogo obkomov KP[b] Uz, 8. 1. 1944). 66 RGANI 6/6/667, Bl. 156 (Vernikovskij an Andreev, 19. 8. 1942).

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schwersten betroffenen Gruppen. Eine Mutter, die mit ihren sechs Kindern in einem Kolchos lebte und deren Mann in der Roten Armee kämpfte, war so geschwächt, dass sie nicht zur Arbeit erscheinen konnte. Zwei ihrer Kinder hatten Typhus. Doch der Kolchosvorsitzende gab ihr keine Lebensmittel, solange sie nicht arbeitete. Im selben Kolchos wurden zwei jüdische Frauen »von Banditen ermordet«, als sie sich auf den Weg ins Zentrum des Kreises machten, um sich über die unmöglichen Lebensbedingungen zu beschweren. Die örtlichen Polizisten taten nichts, um die »Kriminellen zu finden, die dieses Verbrechen begangen hatten«.67 Viele Flüchtlinge konnten sich nur schwer an das Leben in den Oasen gewöhnen, wo das Klima und die Lebensbedingungen ihre bisherigen Überlebensstrategien untergruben.68 Eine Schauspielerin aus dem moldawischen Kischinau erinnerte sich nach dem Krieg, wie schwierig es war, gleichzeitig sowjetisch und usbekisch zu werden. Menschen, die an die sowjetischen Bedingungen angepasst waren, hatten es ihrer Meinung nach leichter zu überleben. »Warum?«, fragte sie. »Weil sie an das Leben in Russland gewöhnt waren. Der Schwarzmarkt, das Stehlen; überall, wo sie arbeiteten, stahlen sie auch und gingen auf den Schwarzmarkt, um zu verkaufen und zu kaufen. Kombinierer. Wir kannten das alles nicht, wir mussten uns eingewöhnen. Später, 1942 und 1943, wussten wir dann Bescheid, aber am Anfang wussten wir gar nichts.«69 Der Schriftsteller Alexander Wat erlebte seine usbekische Umgebung als abgeschottet und in sich gekehrt: »Zwischen den Behörden, der zugewanderten Bevölkerung und den Autochthonen gab es keine Verständigung. Die Autochthonen lebten ihr eigenes Leben. Ihre Lehmhäuser waren mit einer Mauer umgeben, wie in Marokko. Die Wohnhäuser gingen auf den Hof hinaus, man sah sie gar nicht. Die verheirateten Frauen trugen Kopfbedeckungen aus Pferdehaar, die auch das Gesicht verdeckten.«70 Wie viele andere Flüchtlinge stilisierte Alexander Wat die zentralasiatischen Kriegsjahre in seinen Lebenserinnerungen zu einem orientalischen Abenteuer.

67 RGANI 6/6/667, Bl. 159–159 (Zapiska o nedostatkach v dele sozdanija zˇ iznennoneobchodimych uslovii evakuirovannomu naseleniju, 25. 8. 1942). 68 USHMM, RG-50.233.0094, Israel Milkov, Interview-Transkript, S. 2–4, 13–14. 69 USHMM, RG-50.462.0030, Chayale Ash-Fuhrman Interview, Interview-Transkript, S. 26. 70 Wat, Jenseits von Wahrheit, S. 608.

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Im März 1943 reiste eine Parteikommission aus Taschkent in den Kreis Mirsatschul (Mirzacho’l) in der Hungersteppe. Was sich in diesem Gebiet abspielte, beschreibt ein Kommissionsmitglied in einem der seltenen Berichte, die über die Lebensbedingungen außerhalb der Städte Usbekistans Auskunft geben. Das Gebiet war im Zuge von Jusupows Kanalbauprojekten 1939 erschlossen und 1940 besiedelt worden.71 Die Kommission berichtete, wie schnell die gerade angelegte Infrastruktur in sich zusammenbrach. Zwischen den Ernten 1941 und 1942 schmolzen die Baumwollerträge um die Hälfte, das Bewässerungssystem kollabierte, steigende Grundwasserspiegel ließen die Böden versalzen, Gebäude verwitterten und zerfielen. Die während des ersten Kriegsjahres angelegten Reisfelder hatten sich in Moraste verwandelt, in denen Malariamücken brüteten. Vieh und Pferde waren verhungert oder »verschwunden« und mit ihnen die europäischen Flüchtlinge, die koreanischen Deportierten und die usbekischen Familien, die aus dem Ferghanatal umgesiedelt worden waren. Sobald ihre Ehemänner in die Armee rekrutiert wurden, gingen die Frauen mit ihren Kindern zurück zu ihren angestammten Wohnorten, wo sie auf Unterstützung von Verwandten hoffen konnten. Zwischen Januar 1942 und Januar 1943 reduzierte sich die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (zwischen 16 und 55 Jahren) im Kreis Mirsatschul um ein Drittel (von 15959 auf 11378 Menschen). Auch 94 Parteimitglieder hatten wegen der kläglichen Lebensumstände die Flucht ergriffen. Sowohl die usbekischen als auch die russischen Mitarbeiter des Kreisparteikomitees waren mit ihren Aufgaben überfordert und reagierten mit Unsicherheit, Ignoranz und Passivität auf die Katastrophe, die sie umgab.72 Das Beispiel von Mirsatschul zeigte, wie brüchig und prekär die sowjetische Staatsbildung in Usbekistan während der Kriegsjahre war. Während in den Städten und Siedlungszentren Polizeikräfte und Geheimdienstleute dafür sorgen konnten, die Bevölkerung zu überwachen und einzuschüchtern, entzog sich die Landbevölkerung dem Zugriff der Behörden. Wo wie in Mirsatschul Kontrolle und Loyalität fehlten, Mangel herrschte und die verantwortlichen Staatsvertreter hilflos und verängstigt waren, lösten sich die Inseln der Staatsmacht wieder auf, die Jusupow mit seinen »Volksbaustellen« zu schaffen versucht hatte. Auch die jüdi71 RGANI 6/6/666, Bl. 45–46 (Romanov an Andreev, 17. 2. 1941). 72 RGANI 6/6/669, Bl. 21–25 (Zapiska o nedostatkach v rukovodstve Mirzaˇcul’skogo raikoma KP[b] Uz, 2. 4. 1943).

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schen Flüchtlinge, die die Kriegsjahre in Usbekistan verbrachten, berichteten nicht nur von Mangel und Hunger, sondern auch von existenzbedrohender Ungewissheit, Unsicherheit und Unordnung. Man könne, erinnerte sich eine Überlebende, über jeden Tag des Krieges ein Buch schreiben, »weil morgens alles anders ist als am Mittag und in der Nacht alles anders als am Morgen und am nächsten Tag alles anders als am Vortag«.73 Was für die Bevölkerung galt, mussten auch die usbekischen Staatsführer erleben. Stalin selbst sorgte dafür, dass sie in Ungewissheit lebten und ihre Macht nur erhalten konnten, wenn sie sich seinen Regeln bedingungslos unterwarfen.

Keine Wende, keine Flexibilität: Baumwolle, Terror und Hunger, 1943–1945 Im Februar 1944 bestellte Stalin Usman Jusupow nach Moskau ein. Der katastrophale Zustand der Baumwollwirtschaft war Hauptgegenstand der Kritik am usbekischen Ersten Sekretär. Jusupow wurde vorgeworfen, die Landwirtschaft schlecht und oberflächlich geführt zu haben. »Schaumschlägerei« habe die Stelle von »organisierter Arbeit« eingenommen. Zudem trafen Jusupow persönliche Vorwürfe. Er habe zu wenig gegen die Korruption im usbekischen Parteiapparat angearbeitet und zu viele Entscheidungen allein getroffen, »statt sich mit dem Kollektiv über die Lösung der anstehenden Probleme zu beraten«.74 Nach seiner Rückkehr nach Taschkent informierte Jusupow seine Genossen in einer geschlossenen Sitzung des Parteibüros über die Ergebnisse der Reise. Als am 15. März 1944 der Politbürobeschluss in Taschkent eintraf, in dem die Arbeit des usbekischen Zentralkomitees harsch kritisiert wurde, meldete sich Jusupow krank. Der Beschluss wurde zunächst geheim gehalten. Die Parteiorganisationen sollten erst im April von ihm erfahren. Inzwischen nutzte Jusupow seine Krankenzeit aus, um auf seiner Datscha private Versammlungen abzuhalten und sich mit wichtigen Entscheidungsträgern allein zu besprechen.75 73 USHMM, RG-50.462.0030, Chayale Ash-Fuhrman, Interview-Transkript, S. 37. 74 RGANI 6/6/670, Bl. 39–40 (Kulefeev an Andreev, 28. 3. 1944). Eine detaillierte Beschreibung der Ereignisse bei: Hansen, Ambivalent Empire, S. 66–69. 75 RGANI 6/6/670, Bl. 40–41 (Kulefeev an Andreev, 28. 3. 1944).

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Für Jusupow war 1943 ein schlechtes Jahr. Der Druck aus Moskau, die Baumwollproduktion am Laufen zu halten, lastete auf ihm. In den wenigen Fällen, in denen er mildere Töne gegenüber den Provinzfunktionären angeschlagen hatte, mischte sich sofort die Parteizentrale ein und forderte radikalere Maßnahmen.76 Stalin drängte Jusupow persönlich dazu, die Repressionen zu verstärken. Darum nahm Mitte März 1943 in Taschkent eine Trojka ihre Arbeit auf, um »Feinde« und »Verräter« aller Art erschießen zu lassen.77 Im selben Monat entließ Jusupow den Ersten Sekretär der Samarkander Parteiorganisation Ibragimow wegen Untätigkeit, Verantwortungslosigkeit und der Tatsache, dass »viele Kolchosen kein Saatgetreide erhalten und nicht genügend Nahrungsmittel zur Verfügung« hatten.78 Der Erste Sekretär der Bucharischen Parteiorganisation Ismajlow verlor sein Amt, weil im Frühjahr 1943 in seiner Provinz 200000 Karakulschafe geschlachtet, auf dem Schwarzmarkt verkauft oder auf andere Art »verloren gegangen« waren.79 Im Sommer 1943 kam es im Gebiet Kaschkadaria zu einem Aufstand von Rekruten gegen ihre Einberufung, der solche Ausmaße annahm, dass bewaffnete Einheiten der Geheimpolizei eingeschaltet werden mussten. Jusupow geriet wieder mit Amajak Kobulow aneinander, als er diesen in barschem Ton aufforderte, den Aufständischen zu zeigen, dass die »Berge in unseren Händen« sind, und eine »Gruppe von echten Tschekisten« in Marsch zu setzen, »um dieses Chaos zu beenden«. Er drohte Kobulow sogar: »Sie können mir mit Moskau keine Angst einjagen.«80 76 RGANI 6/6/669, Bl. 42–46 (Zameˇcanija tov. Jusupova po voprosu okazanii pomoˇscˇ i Mirzaˇcul’skomu i Syr-Dar’inskomu rajonam na soveˇscˇ anii pri CK KP[b] Uz, 6. 4. 1943). 77 RGANI 89/73/41, Bl. 11 (»Ob antisovetskich elementach i sozdanii troek«, 20. 4. 1971); Baberowski, Verbrannte Erde, S. 445. 78 RGANI 6/6/668, Bl. 11 (O sekretare Samarkandskogo obkoma KP[b] Uz tov. Ibragimova R., 22. 3. 1943). 79 RGANI 6/6/670, 26–27, Bl. 31 (Dokladnaja zapiska o nekotorych nedostatkach v podbore i vospitanii rukovodjaˇscˇ ich partijnych kadrov v Uzbekskoj SSR, 10. 1. 1944). 80 RGANI 6/6/668, Bl. 13–14 (Kulefeev an Andreev, 21. 6. 1943). In Kirgistan hatte im Frühjahr 1942 ebenfalls ein Rekruten-Aufstand stattgefunden, vgl. Wat, Jenseits von Wahrheit, S. 608; Florin, Kirgistan, S. 43–44. Über Konflikte und Schießereien zwischen Rekruten und Geheimdienstleuten berichtet Hessler, A Social History, S. 278–279.

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Über die kritische Situation in Usbekistan konnte der sowjetische Sieg in Kursk ebenso wenig hinwegtäuschen wie die feierliche Eröffnung der usbekischen Akademie der Wissenschaften in Taschkent und die Gründung des Muftiats für Zentralasien und Kasachstan 1943. Mit Beginn der Ernte trat der katastrophale Einbruch in der Landwirtschaft immer klarer zutage. Bei allen Anbaukulturen (Baumwolle, Getreide, Zuckerrüben und Reis) lag die Ernte weit unter den Erwartungen. Zuerst rechtfertigte sich die usbekische Parteiführung nach dem gewohnten Schema: Das Wetter sei schlecht gewesen und es habe keine Ersatzteile für Landwirtschaftsmaschinen gegeben. Jusupow glaubte anscheinend noch im November, dass der Trend sich wenden würde. Aber im Dezember blieben die Ernteergebnisse in den Provinzen bei 40 bis 60 Prozent der Planziele stehen. Die fatalen Ergebnisse des Landwirtschaftsjahres machten aber erst die Zahlen klar, die Ende 1943 nach Moskau übermittelt wurden: Die Anbauflächen für Baumwolle waren um 63 Prozent zurückgegangen (von 237900 Hektar 1942 auf 88700 Hektar 1943), die Bewässerungsfläche hatte sich um 112000 Hektar reduziert, zwei Drittel der Traktoren waren kaputt oder fahruntüchtig, die Hektarerträge lagen auf einem lächerlich niedrigen Niveau, und über die Hälfte der Kolchosbauernschaft hatte nicht an der Baumwollernte teilgenommen. Ein solches »Fiasko in der Baumwollwirtschaft« bezeugte das Scheitern des Mobilisierungsregimes, das Jusupow fünf Jahre zuvor in Usbekistan etabliert hatte. In der Moskauer Parteispitze war ein »Fiasko« dieser Art inakzeptabel. Im November 1943 hatte die usbekischen Parteiführer in den Provinzen eine »Anweisung des Genossen Stalin und des Genossen Andrejew« erreicht. Sie informierte darüber, dass »unter den Bedingungen des Vaterländischen Krieges« alle Kreisvorsitzenden und Kolchosvorsitzenden als »Saboteure mit einem Parteiausweis in der Tasche« angesehen werden würden, wenn sie den Ernteplan nicht erfüllten oder einen »Betrug am Staat zugunsten der deutschen Faschisten« organisierten. Mit solchen Kommunisten sei kurzer Prozess zu machen. Stalin und Andrejew forderten »harte Repressionen«. Die »Feinde der Heimat« seien »aus der Partei auszuschließen, zu verhaften, den Gerichten zu übergeben und in Konzentrationslager einzusperren«.81 Chaos wurde mit Gewalt begegnet, die noch mehr Chaos erzeugen sollte.

81 RGANI 6/6/669, Bl. 27 (»Ukazanie tov. Stalina i tov. Andreeva«, 23. 11. 1942).

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Dass auch der bittere Krieg gegen Deutschland dieses Machtprinzip nicht außer Kraft setzte, sondern wie ein Motor am Laufen hielt, zeigte sich nach Jusupows Rückkehr aus Moskau im Februar 1944. Die Kritik Stalins und der Parteispitze vertiefte die ökonomische und soziale Krise an der Heimatfront. Einer der Vorwürfe gegen Jusupow lautete, dass die usbekischen Parteiarbeiter in den Kreisen und Provinzen »einen stark entwickelten Glauben an Versicherungen und Versprechungen« hätten, »die ohne die nötige Kontrolle in vielen Fällen nicht umgesetzt« würden. Weil die Schuldigen nicht bestraft würden, führe das zu einer »falschen Erziehung« des Parteikaders.82 Nach Jusupows Rückkehr aus Moskau änderte sich das. Im Laufe des Jahres 1944 wurden 40 Prozent der Nomenklaturkader in der Partei und im Komsomol ausgetauscht. In der Gebietsverwaltung von Buchara arbeiteten 24 der 54 Stelleninhaber erst seit 1943 oder 1944. Viele der neu eingestellten Mitarbeiter waren jung, unerfahren und schlecht ausgebildet. Ihre schlechte Ausbildung stellte wegen der hohen Personalrotation eine große Schwierigkeit dar. Auch auf der untersten Ebene drehte sich das Personalkarussell schneller: 1944 wurden im Gebiet Buchara 93 von den insgesamt 144 Kreisparteisekretären ausgetauscht.83 An der »Arbeitsfront« setzte Jusupow ebenfalls auf ein verschärftes Regime. Im September 1944 konnte er nach Moskau vermelden, dass 42470 »Arbeitsverweigerer« vor usbekische Gerichte gekommen seien.84 Die harsche Haltung gegen Parteisekretäre und gegen die Fabrikarbeiterschaft stand in engem Zusammenhang mit der gewaltsamen Rückkehr zum Baumwollanbau. Kolchosbauern wurden ihre überlebenswichtigen privaten Landstücke weggenommen, um Baumwolle auf ihnen zu säen; auch Getreidefelder pflügte man um, damit mehr Baumwolle angebaut werden konnte.85 Wie im Jahr 1937 ließen Gebietsparteichefs und Kreissekretäre 1944 bei öffentlichen Versammlungen Kolchosvorsitzende und Briga-

82 RGANI 6/6/670, Bl. 31 (Dokladnaja zapiska o nekotorych nedostatkach v podbore i vospitanii rukovodjaˇscˇ ich partijnych kadrov v Uzbekskoj SSR, 10. 1. 1944). 83 RGANI 6/6/672, Bl. 22 (O nedostatkakh v rabote partijnogo apparata, 31. 1. 1945). 84 Hansen, Ambivalent Empire, S. 67. 85 RGANI 6/6/671, Bl. 118–121 (Spravka o faktach raspaˇski kolchoznych zernovych posevov i ispol’zovanii priusadebnych uˇcastkov kolchoznikov pod posev chlopcˇ atnika v Uzbekskoj SSR, 30. 4. 1944).

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diers von der Geheimpolizei verhaften, wenn diese beim Baumwollanbau keine ausreichenden Resultate vorweisen konnten.86 Im wasserarmen Frühjahr 1944 kam es deshalb an den Bewässerungskanälen zu zahlreichen Konflikten. Die Landbevölkerung baute Behelfsdämme, um möglichst viel Wasser für sich und ihre Kolchosen abzuzweigen. An einigen Orten öffneten sie sogar die Hauptdämme großer Kanäle. Die Kreisparteisekretäre ignorierten das Vorgehen der Landbevölkerung oder unterstützten es sogar aktiv, indem sie die Mitarbeiter der Wasserbehörden, die sich ihnen entgegenstellten, bedrohten. Einige griffen zu ganz anderen Methoden: Im karakalpakischen Tschimbaj (Chimboy) befahl der Kreissekretär Matsapaew, eine Schleuse zu öffnen, damit er mit seinem Kajak passieren könne; der Kanal blieb mehrere Stunden offen und unbewacht, sodass es, wie im offiziellen Bericht stand, zu »einem großen Verlust von Wasser aus dem Kanal« kam. Wenn Kanalmeister gegen die illegale Wasserentnahme vorgehen wollten, schüchterten die Kolchosniki sie ein oder verprügelten sie. Aber auch die Mitarbeiter der Wasserbehörden beteiligten sich daran, Wasser eigenmächtig und an den offiziellen Plänen vorbei von einem an den anderen Kreis umzuverteilen.87 In der ohnehin prekären Lage des Frühjahrs 1944 hielten Stalin und der NKWD (in Gestalt von Lawrenti Beria, Iwan Serow und den Kobulow-Brüdern) eine weitere böse Überraschung für die usbekische Bevölkerung bereit. Nur einen Monat, nachdem die Krim von ihren deutschen Besatzern befreit worden war, verlud die Geheimpolizei 191044 Krimtataren in Güterwaggons und transportierte sie nach Zentralasien, weil die gesamte Volksgruppe zu »Kollaborateuren« erklärt worden war. Der größte Teil der Deportierten, 151604 Menschen, kam im Mai 1944 nach Usbekistan. Wer den lebensgefährlichen Transport in Viehwaggons überstanden hatte, fand sich in einem Land wieder, dessen Bevölkerung den Neuankömmlingen ablehnend und feindselig gegenüberstand. Innerhalb eines Jahres dezimierte sich die Zahl der Krimtataren um dreizehn Prozent – auf 131690 Menschen. So lauteten jedenfalls die offiziellen 86 RGANI 6/6/670, Bl. 174 (Postanovlenie Bjuro CK KP[b] Uz o nezakonnych dejstvijach otdel’nych oblastnch i rajonnych rabotnikov Andiˇzanskoi oblasti, 8. 7. 1944). 87 RGANI 6/6/670, Bl. 87–88 (Dokladnaja zapiska o chode vypolnenija postanovlenija CK VKP[b] ot 6 marta 1944, 16. 8. 1944).

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Zahlen der Geheimpolizei vom Mai 1945.88 Nach dem Ende der Deportationen erhielten Amajak Kobulow und seine Mitarbeiter im usbekischen Geheimdienst Medaillen und Auszeichnungen, mit denen auch ihre Verdienste um die »Liquidierung bewaffneter Aufstandsformationen« und ihr »Kampf gegen Kriminalverbrechen« honoriert wurden.89 Schon im Dezember 1944 begannen neue Deportationszüge nach Usbekistan zu rollen. Diesmal kamen die 53163 »Spezialumsiedler« aus dem Kaukasus, meschetische Türken, Hemschen und Kurden aus dem georgisch-türkischen Grenzgebiet, die zwangsweise nach Usbekistan verbracht wurden. Die Hälfte der Deportierten waren Kinder im Alter unter 16 Jahren.90 Wie überall an der sowjetischen Heimatfront waren Hunger, Krankheiten und Entbehrung in Usbekistan bekannte Gäste. Einige Historikerinnen und Historiker haben der sowjetischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg einen »Überlebenskonsens« zugeschrieben, durch den es zu einer »sehr weiten Akzeptanz für Rechtsbrüche im Interesse des Überlebens« kam und die Menschen das »Überleben zu ihrem moralischen Standard« erhoben.91 Andere hoben die »Fähigkeit des Sowjetsystems, sich kritischen Umständen anzupassen«, hervor und folgerten, dass »Flexibilität statt extremer Zentralisierung der Schlüssel zur erfolgreichen Organisation der sowjetischen Kriegführung« gewesen sei.92 Das usbekische Beispiel zeigt hingegen, wie unflexibel der Staat im Krieg handelte und wie er dadurch die Bevölkerung zwang, sich dem Impetus des schieren Überlebens unterzuordnen. Die materielle Not an der Heimatfront, die durch die Entscheidungen und Befehle aus Moskau noch verstärkt wurde, statt gemindert zu werden, war ein Machtinstrument in einem Staat der Willkür und der Unordnung. Das Leben war hier so unsicher wie an der Front. Die »Baumwolloffensive« des Jahres 1944, die Verfolgungen innerhalb des Parteiapparats und die Deportationen von zweihunderttausend Menschen in die usbekische Republik vergrößerten Leid und Elend der

88 Deportacsija narodov Kryma, S. 93, 145. Anderen Angaben zufolge starb die Hälfte der Krimtataren im ersten Jahr nach der Deportation, vgl. Overy, Russia’s War, S. 233. 89 Osobaja papka Stalina, S. 40–41. 90 Bugaj, L. Berija – I. Stalinu, S. 176–178. 91 Hessler, A Social History, S. 279. 92 Barber/Harrison, Soviet Home Front, S. 50.

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einfachen Leute. Das Chaos an den Kanalanlagen, die unkontrollierbar vielen eigenmächtigen Eingriffe in die Wasserverteilung und der Zerfall von Dämmen und Schleusen, an denen es immer häufiger zu Unfällen und Havarien kam, trugen dazu bei, dass im Herbst 1944 erneut eine Malariaepidemie ausbrach. Trotz eines strengen Verbots legten die Bevölkerung, aber auch staatliche Institutionen in unmittelbarer Nähe von Städten Reisfelder an, in denen sich Mücken ausbreiten konnten, weil Felder nicht ausreichend bewässert und entwässert wurden. Selbst der Geheimdienst unterhielt illegale Reisfelder am Stadtrand von Taschkent.93 Andere Krankheiten, sowie Unterernährung und Erschöpfung, verbreiteten sich ebenfalls. Im Januar 1945 kletterten die Marktpreise für Reis, Kartoffeln, Kohl, Zwiebeln und Rüben ins Unermessliche.94 Im Februar 1945 hatte Usbekistan mit der Lieferung von 763846 Tonnen Rohbaumwolle die geforderte Quote von 101,6 Prozent erfüllt.95 Eine Folge der Planerfüllung war, dass im siegreichen Mai 1945 Tausende Fabrikarbeiter in Taschkent an Muskelatrophie und Pellagra litten.96 Solche Erkrankungen waren auch für die Insassen von Arbeitslagern während der Kriegsjahre typisch.

Bleierne Jahre: Die Nachkriegszeit, 1945–1950 Im Frühjahr 1945, als der Krieg in Europa an sein Ende kam, hungerten nicht nur die Arbeiter in Taschkent. Auch in den Baumwollanbaugebieten Tadschikistans gab es nach einer schlechten Ernte extreme Nahrungsmittelengpässe. Hunderte Todesfälle wurden aus den Gebieten Leninabad (Xo’jand), Stalinabad (Duschanbe) und aus dem Wachsch-Tal gemeldet.97 Dennoch setzte der Geheimdienst die Deportationen und 93 RGANI 6/6/670, Bl. 196–206 (O roste koliˇcestva sluˇcaev zabolevanija malariej po Uzbekskoj SSR, 8. 10. 1944). 94 RGANI 6/6/672, Bl. 68 (Otˇcet o rabote Upolnomoˇcennogo KPK za period s 10. 2. 1945 po 5. 1. 1946). 95 RGANI 6/6/672, 46 (Otˇcet o rabote Upolnomoˇcennogo KPK za period s 10. 8. 1944 po 10. 2. 1945). 96 Hansen, Ambivalent Empire, S. 67–68. 97 HILA, Dmitrii Volkogonov Papers, Container 2, Reel 14 (Dokladnaia zapiska NKVD Tadˇzikskoj SSR Charˇcenko na imija Berii o golode v rjade rajonov Tadˇzikistana, 21. 5. 1945).

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Zwangsumsiedlungen in das Wachsch-Tal unverdrossen fort.98 Obwohl der sowjetische Sieg in Europa unter schwersten Opfern erkämpft worden war, setzte sich auch nach seinem Ende die harte Politik fort. Hunger und Mangel kennzeichneten den Nachkriegsalltag in den Städten und auf dem Land.99 Der Unwille der sowjetischen Führung, nach dem siegreichen Krieg auch mit der Bevölkerung im eigenen Land Frieden zu schließen, ließ sich an Mobilisierungskampagnen für die »Volksbaustellen« beobachten. Nachdem seit 1942 lediglich kleine Kanalanlagen gebaut worden waren und Massenarbeitseinsätze in erster Linie der Erhaltung des vorhandenen Kanalnetzes galten, begann ein neuer Schwung von größeren Bauprojekten schon im Mai 1945.100 Im April des folgenden Jahres unternahm Jusupow mit dem Baubeginn der großen Talsperre von Katta-Kurgan (Kattaqo’rg’on) den ersten Versuch, wieder an die Großprojekte der Jahre 1939 bis 1941 anzuschließen. Angesichts der durch den Krieg veränderten Bevölkerungsstruktur erschwerte sich die Mobilisierung für aufwendige Vorhaben. Nicht nur hatten die Hunderttausende Evakuierte und Kriegsflüchtlinge Zentralasien schnellstmöglich wieder verlassen, sobald ihre ehemalige Heimat zurückerobert worden war.101 Auch kehrte fast ein Drittel der 1,4 Millionen in Usbekistan ausgehobenen Soldaten nicht aus dem Krieg zurück; nach offiziellen Statistiken galten 263000 als gefallen und 133000 als verschollen.102 Selbst Regierungsmitglieder gaben zu, dass die Mobilisierung unter diesen Umständen mit »größten Schwierigkeiten« verbunden sei. Aus Karakalpakstan berichtete ein Funktionär 1947 darüber, wie schlecht die ambitionierten Pläne der usbekischen Regierung mit den verfügbaren Kräften zu vereinbaren waren. »Im August wurden wir beauftragt, 18000 Menschen für den Eisenbahnbau, 1020 Menschen für den Straßenbau und ungefähr 60000 Menschen für die Baumwollernte zu mobilisieren.« Hinzu kämen noch umfangreiche Kanalreparaturen in den Bewässerungssystemen und die Rekonstruktion der Hochwasserschutzdeiche, für die man während der Bauperiode täglich 20000 Arbeitskräfte mobi98 99 100 101 102

Abulchaev, Razvitie irrigacii, S. 152–191. Stronski, Tashkent, S. 177–187. Jusupov, Socializm i tvorˇceskaja iniciativa mass, S. 226–235. Manley, To the Tashkent Station, S. 238–254. Alimova/Golovanov, »Uzbekistan«, S. 232.

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lisieren müsse. »Zusammengenommen benötigen wir 100000 Menschen für Bauprojekte, obgleich in den Kolchosen nur 70000 arbeitsfähige Menschen leben.«103 Neben den fehlenden menschlichen Arbeitskräften mangelte es auch an funktionstüchtigen Maschinen, an Treibstoff, Ersatzteilen und Baumaterial. Dieser stetige Mangel wirkte sich auf die Arbeitsweise der Mobilisierten aus, denn nach wie vor mussten auf die schwersten Tätigkeiten ohne die Hilfe von Maschinen manuell erledigt werden. Und selbst wo Baumaschinen verfügbar waren, wurden sie nicht genutzt, nicht repariert und nicht gepflegt.104 Menschliche Arbeitskraft trieb auch das größte Bauprojekt im Zentralasien der Nachkriegsjahre voran. Der »Turkmenische Hauptkanal«, der vom Delta des Amudaria in Karakalpakstan nach Krasnowodsk (Türkmenba¸sy) am Kaspischen Meer führen sollte, gehörte zu den Großprojekten von Stalins »Plan zur Umgestaltung der Natur«.105 Anders als die »Volksbaustellen« unterstand der gesamte Kanalbau dem Moskauer Geheimdienst, der ihn 1950 organisierte, finanzierte und verwaltete. Nur so gelang es, den allgegenwärtigen Arbeitskräftemangel auszugleichen. Auf den Kanalbaustellen arbeiteten bis zu 10000 Häftlinge gleichzeitig, die zu mehreren Hunderten in kleinen Außenlagern in der Karakumwüste und den Oasen Karakalpakstans lebten.106 Als Stalin 1953 starb, war es eine der ersten Amtshandlungen seiner Nachfolger, das Bauprojekt zu beenden und die Lager in der Wüste aufzulösen. Die Begründung klang fast banal: Über den Bau des Kanals habe Stalin – ohne Rücksicht auf den wirtschaftlichen Nutzen und die hohen Baukosten – »ganz allein entschieden«.107

103 QROMA 322/1/342, Bl. 9–10 (Anisiforov an Abdurachmanov, 9. 8. 1947). 104 GARF 8300/24/584, Bl. 19–26 (MGK UzSSR Juldaˇsev an MGK SSSR Pavel’ev, 28. 11. 1953). 105 Zum Hintergrund Brain, »Great Stalin Plan«. 106 Zˇoldasov, »Glavnyj Turkmenskij kanal«, S. 184–186. 107 Izvestija CK KPSS 1991/2, S. 196.

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9 Macht der Unordnung – Ein Resümee

Der sowjetische Parteistaat war eine Welt der Gegensätze – gleichzeitig stark und schwach, durchdringend und oberflächlich, ordnungsbesessen und chaotisch. Die Sowjetführer verfügten über einen gewaltigen bürokratischen Staatsapparat, und manche ihrer »Beschlüsse« und »Direktiven« legten sich wie ein Lavateppich über das Land, der Millionen Menschen und ganze Landschaften unter sich begrub. In den Händen der Bolschewiki sollte der Staat eine unerbittliche Disziplinierungsmaschine sein, die widerspenstige Gesellschaften und feindliche Naturräume unterwarf. So hatte es Lenin vorausgesehen, und so behauptete es Stalin in seinen Parteitagsreden.1 In der Praxis blieb die sowjetische Staatsmaschine störanfällig und unzuverlässig. Fortwährend klagten die Führer über fehlenden Gehorsam, mangelnde Disziplin und ungebrochene Widerstände. »Viel Papier ist vollgeschrieben worden, aber das macht es auch nicht besser«, klagte ein hochrangiger Parteifunktionär in Taschkent 1928.2 Manchmal schien es den Revolutionären, als sei ihr Staat wie ein Holzschiff im Packeis gestrandet.3 Um diesen Zustand zu verändern, war den Bolschewiki jedes Mittel recht. Die konsequente Entgrenzung der Staatsmacht war der Kern ihrer Revolution. Ob Historiker und andere Sozialwissenschaftler Stalins Herrschaft als eine »Modernisierungsdiktatur« mit totalitären Ambitionen oder als einen »neo-traditionalen Personenverbandsstaat« interpretieren – meist setzen sie voraus, dass die sowjetischen Kommunisten gegen Chaos und Unordnung mit dem Ziel ankämpften, eine legitime staatliche Ordnung aufzubauen. Zwang und Gewalt hätten ihnen als Instrumente der Herrschaftssicherung gedient, um eine neue gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, die auf Eindeutigkeit, Klarheit und Kontrolle fußte.4 Darin äh-

1 2 3 4

Lenin, »Die nächsten Aufgaben«, S. 231; Stalin, Fragen des Leninismus, S. 652–657. RGASPI 121/2/121, Bl. 45 (Manˇzara an Jakovlev, 6. 4. 1928). Rittersporn, Anguish, Anger, S. 268–273. Besonders pointiert bei: Shearer, Policing, S. 187–189.

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nelte das sozialistische Experiment in der Sowjetunion dem italienischen Faschismus oder dem Kemalismus in der Türkei.5 Um ihre Ordnungsvorstellungen durchzusetzen, teilten die Bolschewiki ihre Welt in Freund und Feind, innen und außen, eigen und fremd.6 Indem sie die Gesellschaften in ihrem Herrschaftsbereich durch Terror und Gewalt neu geordnet hätten, erreichten sie schließlich ihr Ziel. Ob dafür eher die Überzeugungskraft der Ideologie, der Enthusiasmus der Arbeiter, die uniformierte Massenkultur oder aber die unablässige Terrorisierung der Bevölkerung ausschlaggebend waren, bleibt in dieser Lesart, die nach den Mechanismen sozialer Inklusion in der stalinistischen Gesellschaft fragt, ein offenes und strittiges Problem.7 Darüber hinaus wird die Geschichte der Sowjetunion häufig als Geschichte eines zentralistischen Staates geschrieben. Die Rolle der politischen Führung und der zentralen Herrschaftsapparate rückt in den Vordergrund, während die Geschehnisse jenseits der Hauptstädte und der Hauptstraßen wie eine endlose Variation des immer gleichen Prozesses von Eroberung, Unterwerfung und Gleichschaltung dargestellt werden, an dessen Ende eine »integrative Ordnung« unter Stalins unangefochtener Führerschaft stand.8 Manche wollen in Stalin sogar den großen »Gutsbesitzer« der Sowjetunion erkennen, der seinen Rosengarten ebenso minutiös pflegte wie das Land, das er beherrschte.9 Demnach entstand seit Beginn der 1930er Jahre unter Stalins Herrschaft in der Sowjetunion durch Modernisierung, Bürokratisierung und Militarisierung ein neuartiger Staat. Je nach Betrachtungsweise war dieser Staat »stark«, weil es ihm erfolgreich gelang, seine Bevölkerung für den Aufbau des Sozialismus zu mobilisieren, oder aber »schwach«, weil er an seiner selbst gestellten Aufgabe scheiterte, die Gesellschaft zu disziplinieren und zu kontrollieren.10

5 Plaggenborg, Ordnung und Gewalt; Khalid, »Backwardness«. Dagegen: Edgar, »Bolshevism, Patriarchy«. 6 Koenen, Utopie der Säuberung. 7 Edele, Stalinist Society, S. 193–195. 8 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 480. 9 Khlevniuk, Stalin, S. 4–5. 10 Edele, »Soviet Society, Social Structure«. Prägnant: Kotkin, Magnetic Mountain, S. 2–6.

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Statt die Frage der Kontrolle und Disziplinierung von Gesellschaften in einer exzessiven und gewalttätigen Diktatur erneut ins Zentrum zu stellen, wurde in dieser Arbeit ein anderer Ausgangspunkt gewählt. Es ging um die Frage, wie die »Utopie staatlicher Herrschaft« an der Peripherie verwirklicht wurde, und zwar in einem Gebiet, das erst nach einem langwierigen Kolonialkrieg in die sowjetische Machtsphäre gelangt war und wo es mehrere Jahrzehnte dauerte, ehe sich die Sowjetmacht als dominanter Sanktionsmechanismus durchsetzen konnte.11 In Zentralasien war der Aufbau des sowjetischen Staates alles andere als ein gradliniger Entwicklungsprozess. Vielmehr handelte es sich um eine fragile Staatsbildung in einem Entwicklungsland. Das lag nicht nur daran, dass die Behörden unterfinanziert waren, es an schriftkundigem Personal fehlte oder die »traditionelle« muslimische Lebensweise der Bevölkerung die sowjetische Staatsbildung unterminierte. Es war auch »Stalins System der kalkulierten Unsicherheit«, das dieses Ergebnis hervorbrachte, oder, wie es ein anderer Historiker der Sowjetunion formulierte, Stalins »unmögliche Symbiose von ›Legalität‹ und ›Willkür‹«.12

Zwischen 1919 und 1924 eroberten die Bolschewiki Turkestan, Chiwa und Buchara mit Feuer und Schwert. Sie führten einen Kolonialkrieg und inszenierten Revolutionen, die keine soziale Basis hatten. Die »Befreiung« und »Selbstbestimmung«, die sie den »unterdrückten Völkern des Orients« versprachen, blieben zwar nicht nur leere Worte, aber die Versuche, die lokalen Bevölkerungen durch die Vertreibung von russischen Siedlerkolonisten und Landreformen zu revolutionieren, scheiterten in einer Region, in der die Menschen nach einem jahrelangen Bürgerkrieg hungerten, weil die Bewässerungssysteme zerstört und die bis 1916 florierende Baumwollwirtschaft zusammengebrochen war. Der Eroberungskrieg der Bolschewiki in Zentralasien trug unverkennbar imperialistische Züge. Ihre »Weltrevolution« hatte nicht nur das Ziel, den Machtbereich des Sowjetlands nach Afghanistan und ins britische Indien auszudehnen.13 Ebenso wichtig war es ihnen, den Baumwollanbau 11 Zur »Utopie staatlicher Herrschaft in eroberten Gebieten« vgl. Trotha, »Über den Erfolg«. 12 Fainsod, Smolensk, S. 14; Lewin, Making of the soviet system, S. 282. 13 Buˇsueva, »Sˇcastie na sˇtykach«, S. 146–147.

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wieder in Schwung zu bringen. Schließlich war das russische Turkestan am Vorabend des Ersten Weltkriegs nach den Vereinigten Staaten, Indien, Ägypten und China der weltweit fünftgrößte Baumwollproduzent.14 Die Bolschewiki waren trotz ihrer kolonialwirtschaftlichen Ziele innovative Eroberer. Sie schlugen ungewohnte Wege ein, um die »Probleme des Nationalstaats zu lösen« und die »friedliche Koexistenz unterschiedlicher Nationalitäten auf der Basis wirklicher Gleichheit« zu gewährleisten.15 Dazu brachten sie Wirtschaftspolitik und Nationalitätenpolitik in ein neuartiges Verhältnis zueinander: Während es bis 1917 gelungen war, Zentralasien wirtschaftlich in das russische Imperium einzubinden, ohne die muslimische Bevölkerung in den politischen Mechanismus der Autokratie integrieren zu müssen, drehten die Bolschewiki dieses Verhältnis um. Wie in anderen Regionen des sowjetischen Vielvölkerreichs bedienten sie sich in Zentralasien gezielt der Rhetorik des Nationalismus und erfanden Nationen, wo es bisher keine gegeben hatte.16 Im Frühjahr 1924 initiierte Stalin mit der Schaffung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken eine tief greifende Veränderung der bisherigen territorialen und politischen Ordnung.17 Darüber hinaus banden die russischen Bolschewiki, die im Taschkenter Zentralasienbüro arbeiteten, indigene Politiker zunehmend in ihre parteistaatlichen Institutionen ein und begannen, mit massiven Investitionen die kriegszerstörten Bewässerungssysteme und die ruinierte Baumwollwirtschaft wiederaufzubauen. Dass ausgerechnet die Nationalisierung zum wirtschaftlichen Wachstumsmotor im sowjetischen »Nichtkapitalismus (›Sozialismus‹)« werden sollte, kam den politischen Vorstellungen der indigenen Kommunisten in Zentralasien entgegen.18 Viele dieser sehr jungen Männer, die als Söhne von Religionsgelehrten und Kaufleuten im elitären Milieu der zentralasiatischen Oasenstädte aufgewachsen waren, teilten das Ziel, die muslimischen Gesellschaften aus eigenen Kräften zu reformieren und damit den »Entwicklungsrückstand« gegenüber den Industriestaa-

14 15 16 17

Wingen, »Baumwollkrisis«, S. 210. Burov, »E˙konomiˇceskaja storona«, S. 14. Slezkine, »The USSR as a Communal Apartment« RGASPI 558/11/133, Bl. 28 (Stalins Entwurf für einen Politbüro-Beschluss, Mai 1924). 18 Der Begriff »Nichtkapitalismus (›Sozialismus‹)« bei Kotkin, Stalin, S. 672, 725, 863.

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ten Westeuropas zu überwinden. Als aus den alten Territorien Turkestans, Bucharas und Chiwas 1925 die neuen Sowjetrepubliken Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan entstanden, stärkte dies die Machtbasis der neuen zentralasiatischen Elite. Dennoch mussten deren Angehörige schnell begreifen, dass die Moskauer Regierung in der Kernfrage des Baumwollanbaus und ihrem Anspruch auf eine unionsweite, zentralistische Wirtschaftslenkung nichts unversucht ließ, ihren Willen durchzusetzen. Moskaus Beschlüsse gingen wieder und wieder über den Willen der zentralasiatischen Republiken hinweg.19 In dieser für sie ungünstigen Konstellation verlangten die zentralasiatischen Kommunisten unter dem Schlagwort »Dekolonisierung der Kolonie« größere politische Autonomie und mehr Freiheit bei Entscheidungen, die Zentralasien und seine Republiken betrafen. Solcherlei »Grillen« hatte Stalin schon 1922 »gründlich satt«. Er empörte sich, dass die Zentralasiaten »mehr Rechte für sich einfordern als die Ukrainer und die anderen unabhängigen Republiken«, und empfand den Gedanken »unerträglich«, die »turkestanischen Kommunisten, die es nicht verdient haben, grundlos zu verwöhnen«.20 Aber das offizielle Parteiprogramm der Bolschewiki forderte »Befreiung« und »Selbstbestimmung« für die »unterdrückten Völker des Orients« und gab den zentralasiatischen Kommunisten damit Konzepte in die Hand, von denen sie sich erhoffen konnten, Rückhalt bei der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, die dem neuen Regime zu weiten Teilen feindselig oder gleichgültig gegenüberstand. Den prinzipiellen Konflikt zwischen der offiziellen Rhetorik der Moskauer Parteiführung und ihren täglichen Entscheidungen brachte niemand besser auf den Punkt als Lew Belski, der Geheimdienstchef für Zentralasien, der auf einer geschlossenen Parteiversammlung in Taschkent 1925 erklärte, es sei »gut, wenn die ganze Bewegung der muslimischen Völker zu ihrer Befreiung führt – außerhalb der Grenzen unserer Sowjetunion«. Was im Ausland als »progressiv« anzusehen sei, stellte Belski klar, trüge »bei uns« in der Sowjetunion einen »regressiven Charakter«.21 19 Ein Beispiel: GARF 5446/71/31, Bl. 2 (Soverˇsenno sekretnyj protokol zasedanija komissii po voprosu ob organizacii Sredne-Aziatskogo E˙konomiˇceskogo Soveˇscˇ anija, 26. 6. 1926). 20 Bol’ˇsevistskoe rukovodstvo, S. 252. 21 RGASPI 62/1/41, Bl. 85 (Stenogramma VII plenuma Sredazbjuro, 2. 7. 1925).

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Um die konfliktgeladene Entwicklung in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken der 1920er Jahre zu verstehen, muss man dennoch das politische Programm ernst nehmen, das die indigenen Eliten mit der »Dekolonisierung« verbanden.22 Um ihren Erfolg unter sichtbaren Beweis zu stellen, sollten die neuen »sowjetischen Nationen« wirtschaftliche Fortschritte erzielen und den Ballast der Tradition abwerfen. Ein Staat, der in der Lage war, der verarmten Landbevölkerung nach Jahren von Hunger und Krieg bessere Lebensverhältnisse zu verschaffen, musste im Gegenzug, so das Kalkül der indigenen Kommunisten, von der eigenen Bevölkerung breite Anerkennung erfahren. Die »Wasserund Landreformen« in Usbekistan zwischen 1925 und 1929 waren der wichtigste Versuch, diesen politischen Ansatz mit Leben zu füllen. Das ambitionierte Vorhaben entzweite jedoch nicht nur die usbekische Staatselite, sondern stieß auch bei der Bevölkerung auf Ablehnung. Zum einen lag das an der schwachen Verankerung der sowjetischen staatlichen Institutionen in den ländlichen Gebieten, die den durch die Landumverteilung Begünstigten weder Rechtssicherheit noch Schutz bieten konnten. Zum anderen flossen die Mittel, mit denen die landlosen Kleinbauern unterstützt werden sollten, häufig in die Taschen von lokalen Amtsträgern und kleinen Staatsfunktionären, für die sich die Landreformen zu einem einträglichen Geschäft entwickelten.23 In dieser Situation kam den im zentralasiatischen Wasserbau tätigen Ingenieuren eine Schlüsselrolle als Vermittler sowjetischer Staatlichkeit zu. Die Moskauer Bolschewiki räumten dem Wiederaufbau und der technischen Verbesserung der Bewässerungssysteme hohe politische Priorität ein, die sich in erheblichen finanziellen und personellen Investitionen in diesem Bereich niederschlug. Lenin selbst plädierte dafür, den Wasserbau als Instrument der sozialen Umgestaltung zu begreifen. Ingenieure wie Georgi Riesenkampf und Fjodor Morgunenkow, die sich während des Ersten Weltkriegs für groß angelegte Bewässerungsprojekte in Zentralasien starkgemacht hatten, erfuhren seit 1920, dass Lenins Regime ihre Vorhaben weitaus unvoreingenommener unterstützte, als es die vorrevolutionären Regierungen Russlands getan hatten. In Zentralasien ermöglichte diese Politik den Aufbau von regionalen und lokalen 22 Simon, Nationalismus, S. 14–17; Sengupta, The Formation, S. 83–90. 23 Eine andere Interpretation der Landreformen bei Penati, »Adapting Russian Technologies«.

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Wasserbehörden. Erstmals arbeiteten russische Ingenieure nicht nur in den strategisch wichtigen Bewässerungssystemen von Taschkent, Samarkand und im Ferghanatal, sondern sie wurden auch in den peripheren Gebieten tätig, zu denen die Oasen am Unterlauf des Amudaria ebenso gehörten wie die Täler Tadschikistans. Mit der Präsenz von Technikern und Ingenieuren in allen Bewässerungsregionen Zentralasiens vergrößerte sich das Wissen der staatlichen Behörden über die Geografie, die Ökologie und die Landwirtschaft der Flussoasen. Russische Ingenieure und indigene Kommunisten hatten in der alltäglichen Zusammenarbeit oft Schwierigkeiten und Konflikte miteinander, wenn es um Fragen der regionalen Wasserverteilung und der kommunalen Arbeitspflicht bei Kanalreparaturen ging. Besonders an den großen Kanalsystemen, die alle von den neu gezogenen »nationalen« Republikgrenzen durchschnitten wurden, setzten sich die lokalen indigenen Machthaber gern über die Wasserverteilungspläne der Ingenieure hinweg und unterliefen einmal getroffene Absprachen häufig. Jahr für Jahr wiederholten sich diese Verteilungskonflikte, ohne dass eine Seite die Oberhand gewinnen konnte. Dennoch herrschte zwischen beiden Gruppen Einigkeit in dem Wunsch, große Kanalneubauten voranzutreiben. Kanalbauten, so die Hoffnung, sollten die »nationalen« Republiken wirtschaftlich stärken und dienten gleichzeitig als Versuchsballone der Ingenieure, neue technische Möglichkeiten zu erproben. Die usbekische Regierung konzentrierte ihre Kräfte auf die Region Hungersteppe am Fluss Syrdaria, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre systematisch erforscht und umfassend umgestaltet wurde.24 Die Regierung Turkmenistans entschied sich ihrerseits für den Bau des Kerki-Kanals, einem der umstrittensten und riskantesten Bewässerungsprojekte der Revolutionsepoche, für das sich der Ingenieur Fjodor Morgunenkow starkmachte. Nach zweijähriger Arbeit scheiterte das Projekt im Frühjahr 1927, als die Fluten des Amudaria den Kanal wenige Tage nach seiner feierlichen Eröffnung zerstörten. Scheitern gehörte im zentralasiatischen Wasserbau zum Alltag. Versuch und Irrtum bestimmten immer wieder die Vorgehensweise beim Bau technisch ambitionierter Kanalprojekte. Darum traf die heftige Re24 HILA, Gorton Papers, Box 1, Folder B, n. p. (Arthur Powell Davis an Gorton, 17. 9. 1929); Matley, »The Golodnaya Steppe«, S. 337–341; Chodˇziev, Istorija oroˇsenija, S. 72–87.

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aktion der Moskauer Zentralregierung, die auf die Katastrophe am KerkiKanal erfolgte, alle Akteure in Zentralasien unvorbereitet. Denn es wurden nicht nur die beteiligten Ingenieure verhaftet und im Februar 1928 in einem Schauprozess verurteilt. Darüber hinaus begann das Moskauer Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion einen konzertierten Angriff auf das Führungspersonal der Wasserbehörden. Unter den Schlagworten »Rationalisierung« und »Kampf gegen den Bürokratismus« setzten Volkskommissar Ordschonikidse und seine Mitarbeiter Stellenkürzungen und Haushaltseinsparungen mit dem Ziel durch, absichtsvoll eine Atmosphäre der Verunsicherung und Angst zu erzeugen.25 Die Durchsetzung steiler Befehlshierarchien und die gezielte Zerschlagung von persönlichen Netzwerken gehörten, wie sich am Beispiel der Wasserbehörden in Zentralasien erstmals zeigte, zu den Instrumenten der Machtdurchsetzung durch Unordnung. Das daraufhin einsetzende Chaos nutzten die zentralstaatlichen Behörden und Parteiinstanzen, um eigene Zielvorstellungen durchzusetzen, ohne dabei mit den Verantwortlichen in den peripheren Regionen Kompromisse eingehen zu müssen. Nicht nur die Ingenieure und Mitarbeiter der Wasserbehörden bekamen den Moskauer Politikwechsel zu spüren. Auch die indigenen Kommunisten gerieten in Bedrängnis. Binnen weniger Monate stürzte 1928 die Kommunistische Partei Usbekistans in eine tiefe Krise, als zwei Sondergesandte des Moskauer Zentralkomitees in Taschkent eine ideologische Kampagne lostraten, die sich zunächst, wie schon im Vorjahr, gegen »bürgerliche Nationalisten« richtete, dann aber in einen Kampf gegen die »Linken« in der usbekischen Parteiorganisation umschlug. Dabei nutzten die Vertreter Moskau die tiefsitzenden persönlichen Animositäten innerhalb der usbekischen Elite ebenso aus wie die Konflikte zwischen den »einheimischen« und den »europäischen« Kommunisten in den Parteiorganisationen. Die »Überprüfung und Säuberung« der Parteimitglieder 1929 schlug hohe Wellen. In Usbekistan, hieß es im Zuge der Säuberungen beispielsweise, gäbe es gar keine Parteiorganisation im eigentlichen Sinne, sondern nur »Gruppen« und »Klans«, deren Mitglieder ihre Parteiausweise durch Zufall erhalten hätten und die auf Delegiertenkonferenzen »immer nach dem Befehl des Klanführers« ab-

25 RGASPI 85/27/210, Bl. 8 (Lebed’ an Ordˇzonikidze, 6. 9. 1928).

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stimmten.26 Solche Gefolgschaftsnetzwerke in der Partei sollten mit denselben Mitteln zerstört werden, mit denen man auch die russischen Ingenieure in Zentralasien verfolgte. Auch in den Parteiorganisationen sollten Drohungen, Entlassungen, Strafen, Verhaftungen und Schauprozesse Unsicherheit schüren und Angst hervorrufen. »Jahr für Jahr vergrößert sich die Galerie der lebenden Leichname, die aus dem Geleise des politischen Lebens gestoßen werden«, klagte ein zentralasiatischer Kommunist in seinem Tagebuch 1930. »Die Parteistrafe ist zur einzigen Überzeugungsmethode geworden.«27 Niemand sollte sich mehr sicher sein können, wen die nächste Verfolgungsaktion oder Strafkampagne traf. Die Desorientierung innerhalb der Partei verstärkte sich durch die zunehmende Geheimhaltung zentraler Beschlüsse des Politbüros und des Zentralkomitees. Auch die »Generallinie« der Partei veränderte sich ständig. Wo sich Unsicherheit und Angst breitmachten, ließen sich auf allen Ebenen des Parteistaats zwei gegensätzliche Reaktionen seiner Protagonisten beobachten, die eng miteinander zusammenhingen und sich gegenseitig bedingten: lähmende Passivität und hektischer Aktivismus.28 Während der »Baumwolloffensive« und der »Kollektivierung der Landwirtschaft« 1930 trat der Aktivismus in den Vordergrund: Stoßtrupps aus Parteimitgliedern, Komsomolzen und Arbeitern zogen in die Dörfer, wo sie die Bevölkerung beraubten, folterten und vergewaltigten. Nach den Exzessen organisierten die Parteiführer dann immer Wiedergutmachungskampagnen für die Landbevölkerung, nur, um im Anschluss eine erneute Angriffswelle auf die Dörfer zu initiieren. Dieses Muster folgte Stalins Anweisungen und war nicht nur für Zentralasien typisch. Wie Stalin gaben die Parteiführer des Taschkenter Zentralasienbüros widersprüchliche Befehle an die nachgeordneten Parteiorganisationen aus: Einerseits forderten sie, das Tempo der Kollektivierung zu forcieren, und drohten andererseits damit, »Fehler« und »Exzesse« hart zu bestrafen.29

26 GARF 374/27/1804, Bl. 43–44 (Protokol zakrytogo zasedanija CKK KP[b] Uzbekistana, 19. 3. 1929). Ausführlich zu den Säuberungen: Kamp, New Woman, S. 203–205, und Northrop, Veiled Empire, S. 219–225. 27 Abdrachmanov, Izbrannye trudy, S. 114. 28 Green, »Fear as a Way of Life«. Fallstudie bei: Teichmann, »Arbeiten, kämpfen, scheitern«, S. 131–133. 29 Anderson, Iz istorii, S. 125–132.

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Dieses Muster setzte sich in den jährlich wiederkehrenden »Aussaatkampagnen« im Frühjahr und der »Baumwollbeschaffung« im Herbst immer wieder fort. In den Baumwollregionen schälte sich im Zuge des Terrors gegen die Landbevölkerung zwischen 1930 und 1934 ein lokales Verwaltungsregime heraus, das auf gewaltsame Machtdemonstrationen, Mangelversorgung und Willkür setzte, um der Landbevölkerung Tribute, Erträge und Arbeitsleistungen abzupressen. Gleichzeitig führten Unsicherheit und Angst auch zu Passivität gegenüber Befehlen »von oben«: Lokale Parteikader und Staatsbeamte hatten die Möglichkeit, Aktivismus nur vorzuschützen und dabei faktisch untätig zu bleiben. Sie konnten Anweisungen ignorieren oder absichtlich missverstehen, falsche Berichte schreiben und gemeinsame Sache mit der Landbevölkerung machen. Trotz der martialischen Strafkulisse, die die zentralen Regierungsbehörden und die Parteiorganisationen aufbauten, war die Wahrscheinlichkeit offenbar gering, wirklich bestraft zu werden. Besonders die Kreisparteifunktionäre und die Sowchosdirektoren, die ihre Posten von der gleichen regionalen Parteiführung zugewiesen bekamen, die auch ihre Arbeit kontrollierte, schienen über relativ große Handlungsspielräume verfügt zu haben.30 Deutlich kam dies bei der überlebenswichtigen Wasserverteilung zum Tragen. Kreisparteisekretäre konnten beispielsweise dafür sorgen, dass vor der Baumwolle erst private Gärten und Landstücke bewässert wurden, auf denen Getreide und andere essbare Feldfrüchte wuchsen; sie befahlen die Öffnung von Schleusen, bestimmten spontan Wasserzuteilungen, tolerierten »illegale« Kanalbauten und sahen, wenn sie es für richtig hielten, über »Wasserdiebstahl« hinweg.31 Diese Zustände wollten die Wasserbehörden durch den Neubau von Kanalsystemen und die Installation von »ingenieurtechnischen« Betonschleusen beenden. Neue Anlagen sollten ihnen mehr Macht bei der Bemessung und Verteilung von Wasser verleihen und mehr Land für den Baumwollanbau erschließen. Die Probleme, die diese Zielvorstellungen an Hunderten kleinerer Kanalanlagen und Bewässerungssystemen verursachten, wurden beim 30 RGAE˙ 7604/1/569, Bl. 47 (Pis’mo brigadira Narkomlegproma tov. Rybakova, Dezember 1935). 31 RGANI 6/6/662, Bl. 6–9 (Filimonov an Andreev, 15. 8. 1939); QROMA 322/1/227, Bl. 2–3 (Dokladnaja zapiska inˇzenera Petrova o sostojanii irrigacii Karakalpakskoj ASSR, Mai 1935); Poliakov, Everyday Islam, S. 12–17.

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Prestigebau im Wachsch-Tal im Großen sichtbar. Im Wachsch-Tal bestand die Herausforderung nicht nur darin, einen Prestigebau in einer der isoliertesten Grenzregionen der Sowjetunion in Gang zu bringen und zu managen. Die Bauarbeiten zwischen 1931 und 1933 fanden überdies unter widrigsten Bedingungen statt, weil Hunger und Materialmangel, Guerillaangriffe und Epidemien die Arbeiten behinderten. 1934 und 1935, als die Bewässerungsanlagen in Betrieb gingen, zeigten sich dann ihre gravierenden technischen Mängel, die es unmöglich machten, den Wasserhaushalt des Tals unter Kontrolle zu bringen. Die Böden kollabierten, es bildeten sich Salzseen und Treibsandfelder. Der fehlkonstruierte Kanal verursachte Überschwemmungen und führte gleichzeitig zu Wassermangel. Statt eines Baumwollgartens entstand ein Sumpfgebiet. Im Wachsch-Tal zeigte sich, wie die Naturbeherrschung durch technische Systeme und die Entwicklung funktionstüchtiger Infrastrukturen von Stalins willkürlichen Entscheidungen untergraben wurden. Während der gesamten Bauphase terrorisierten Geheimdiensteinheiten die Talbewohner und das Personal der Baustelle; das Zentralasienbüro »säuberte« die Parteiorganisationen Tadschikistans. Trotz der ökologischen Katastrophe und der wirtschaftlichen Misere ließ Stalin allein 1935 und 1936 über 13000 Menschen in das Tal zwangsdeportieren.32 Der Terror wurde auch in den Baumwollgebieten Usbekistans Teil des Alltagslebens, wenn auch seine Formen und seine Intensität von Jahr zu Jahr variierten. Walerian Kujbyschews Zentralasienreise im Dezember 1934 und Andrej Andrejews Aufenthalt in der Region im Herbst 1937 bildeten Höhepunkte in einer langen Kette repressiver Maßnahmen, denen gleichermaßen Ingenieure, Kommunisten und die Landbevölkerung unterlagen. Terror vernichtete technisches Wissen, persönliche Initiativen und wirtschaftliche Sicherheit. Er führte zu einem Rückgang der bewässerten Anbauflächen, zur Stagnation der technischen Entwicklung und zu niedrigen Baumwollerträgen. Die in Zentralasien geerntete Baumwolle war zudem von minderer Qualität und eignete sich teilweise nicht zur industriellen Weiterverarbeitung. Die gewalttätige »Baumwolloffensive« führte im Ergebnis also nicht dazu, die Sowjetunion, wie ursprünglich geplant, von Baumwollimporten autark zu machen. Im 32 RGASPI 17/3/961, Bl. 35–36 (Protokol zasedanija Politbjuro, 19. 3. 1935). Die Deportationen hielten bis zu Stalins Tod an, vgl. Abulchaev, Razvitie irrigacii, S. 162, 166–168, 188.

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Gegenteil: Seit 1935 ließ das Politbüro unter größter Geheimhaltung wieder hochwertige Baumwolle im Ausland einkaufen und in die Sowjetunion einführen.33 Indes blieb der forcierte Baumwollanbau ein mühevolles Unterfangen. Jahr ein Jahr aus lähmte er die Institutionen des Parteistaats, deren Mitarbeiter zur Saatzeit und bei der Ernte eingesetzt werden mussten, um den Baumwollanbau gegen die wirtschaftlichen Interessen der schlecht bezahlten und schlecht versorgten Landbevölkerung mit Drohungen und Gewalt durchzusetzen. Dass in der »Baumwollrepublik« Usbekistan keine staatliche Herrschaftsroutine entstehen konnte, sondern sich Unsicherheit, Planlosigkeit und Chaos verbreiteten, lag folglich nicht nur an der Gewalt, die die Geheimpolizei, die Arbeitslager und die lokalen Funktionäre des Parteistaats ausübten. Der Baumwollanbau strapazierte auch die finanziellen und personellen Ressourcen des Staates in erheblichem Maße, die an anderer Stelle fehlten. Alle Kräfte mussten auf eine Aufgabe konzentriert werden: nämlich mehr Baumwolle zu ernten. Stalin war die einzige Instanz im Sowjetstaat, der diese Entwicklung in die Hände spielte. Bekanntlich hatte der Generalsekretär im Laufe der 1920er Jahre harsche ideologische Auseinandersetzungen mit seinen innerparteilichen Gegnern in Moskau geführt, um seinen Machtanspruch durchzusetzen.34 Ideologische Argumente dienten ihm auch dazu, in den regionalen Gebietsparteibüros durchzugreifen. Während der »Kulturrevolution« an der Wende der 1930er Jahre berief er sich erneut auf die Ideologie, um den Parteistaat zum »Klassenkampf« zu mobilisieren. Ideologische Mobilisierung war mühevoll und aufwendig; sie konnte in den Gebieten, Provinzen und Sowjetrepubliken eine unerwünschte Eigendynamik entwickeln; zudem ließen sich ihre Ergebnisse schwer einschätzen. Um die regionalen Apparate dennoch seiner Kontrolle zu unterwerfen, sorgte Stalin in den 1930er Jahren dafür, dass auch die Kontrolle über die verfügbaren Ressourcen und deren Umverteilung in seinen Händen zusammenlief. Der Generalsekretär verbrachte viel Zeit damit, Getreidevorräte, Baumaterialien, Handelsgüter oder Rohstoffe von einer Region in eine andere umzuverteilen.35 33 RGASPI 17/166/542, Bl. 133 (Protokol zasedanija Politbjuro, 21. 3. 1935). 34 Kotkin, Stalin, S. 597–658, 676–679. 35 Stalin i Kaganoviˇc, S. 409–410.

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Die zwei Vorteile, die dieses Verfahren für Stalin hatte, lagen auf der Hand: Zum einen konnte er die regionalen Parteiführer persönlich verantwortlich machen, wenn die Ernte in deren Gebiet hinter dem Plan zurückblieb oder nicht fristgerecht eingebracht werden konnte. Diese mussten ihre Untergebenen unter Druck setzen, um selbst vorzeigbare Resultate erreichen zu können. Wenn die angewandten Methoden keine Ergebnisse erzielten, waren die regionalen Parteiführer gezwungen, sich vor Stalin für ihr Versagen zu rechtfertigen. Diese wiederholten dann das Spiel mit den ihnen untergebenen Funktionären, die ihrerseits die Landbevölkerung so lange terrorisierten, bis der Plan erfüllt war.36 Zum anderen erlaubte die Ressourcenumverteilung Stalin, seine wirtschaftspolitischen Prioritäten im Alleingang durchzusetzen. Seine Entscheidungen erfolgten willkürlich und von Fall zu Fall, sie setzen sich über die Ministerialbürokratien hinweg und ignorierten die zuständigen Behörden.37 Seine Eingriffe bei der Ressourcenallokation bildeten den Kern dessen, was man unter Macht der Unordnung verstehen kann: eine durch unvorhersehbare Einzelfallentscheidungen gesteuerte Manifestation von Macht. Stalins Ressourcenpolitik war nur ein Teil dieser Macht der Unordnung. Sie offenbarte sich auch in der rigiden Geheimhaltung von Beschlüssen, dem Verzicht auf kompilierte Statistiken in allen Bereichen staatlichen Handelns sowie in der konstanten Umorganisation von staatlichen Behörden, was zu Verwaltungschaos, Kompetenzstreitigkeiten und Doppelstrukturen führte38, und nicht zuletzt in den ständigen Verschiebungen der administrativen Verwaltungsgrenzen innerhalb der Sowjetunion.39 All diese Maßnahmen führten dazu, dass Desinformation, Orientierungslosigkeit und Verunsicherung weithin um sich greifen konnten. Die omnipräsente Willkür setzte bürokratische Entschei36 RGASPI 558/11/711, Bl. 54–55 (Bauman an Stalin, 6. 1. 1932); RGASPI 85/27/456, Bl. 40–41 (Gusejnov an Ordˇzonikidze, 12. 12. 1932); RGASPI 558/11/737, Bl. 65 (Ikramov an Stalin, 12. 6. 1935). 37 Dva sveta vremeni, Bd. 2, S. 323 (Beseda N. S. Chruˇscˇ eva s zavedujuˇscˇ imi otdelami CK KPSS, 11. 12. 1956). 38 Werth, »Staline et son système«, S. 55–60. Fallbeispiel in: ORMDA 322/1/342, Bl. 88–90 (Inˇzener Petrov an Naˇc. Irrigacionnogo otdela Glavnogo Chlopkovogo Upravlenija NKZ SSSR, 23. 7. 1936). 39 Lejboviˇc, Gorod M, S. 14–22. Übersicht für 1945 bei: Shabad, »Political-Administrative Divisions«.

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dungsprozeduren außer Kraft. Der »Große Terror« von 1937 trieb diese Entwicklung auf die Spitze. In einer völligen Umkehrung der Wirklichkeit wurden angeblichen »Volksfeinden«, »Verschwörern« und »Schädlingen« die durch die Macht der Unordnung entstandenen Verwerfungen angelastet. Die »Monokultur der Baumwolle« in Usbekistan, hieß es nun, sei das »Werk von Nationalisten« gewesen, die »aufgebauschte Pläne« und »völlig überhöhte« Zahlen vorgegeben hätten, um die Landbevölkerung zu verunsichern und die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion zu torpedieren.40 Weil »Schädlingstätigkeit« und »Sabotage« auch in der Wasserwirtschaft entdeckt wurden, veränderte der »Große Terror« das Bewässerungswesen in Zentralasien einschneidend. Als Usman Jusupow im September 1937 sein Amt als Parteichef in Usbekistan antrat, gehörte eine gründliche »Säuberung« im Bewässerungswesen, »beginnend bei den Leitungen der Wasserbehörden und endend bei den Kanalmeistern der kleinen Bewässerungssysteme und insbesondere der wichtigen Kanalköpfe«, zu seinen ersten Amtshandlungen.41 Um sich deutlich von seinen Amtsvorgängern zu unterscheiden, initiierte er 1938 in allen Regionen Usbekistans den Bau neuer Bewässerungskanäle. Der Große Ferghanakanal, der 1939 errichtet wurde, stellte an Großartigkeit und propagandistischem Aufwand alle anderen Wasserbauvorhaben in den Schatten. Auch Hunderte andere »Volksbaustellen«, die nicht nur Kanalbauten umfassten, sondern auch den Bau von Straßen und Fabriken, florierten bis ins erste Jahr des deutsch-sowjetischen Kriegs. Doch der inszenierte Enthusiasmus der »Volksbaustellen«, die von mobilisierten Menschenmassen in Rekordzeit fertiggestellt wurden, erwies sich in den Kriegsjahren zwischen 1941 und 1945 als schwere Hypothek. Der Krieg an der usbekischen Heimatfront zeigte, als der Druck durch Evakuierungen und Flüchtlingsmassen zunahm, dass die technischen Mängel der hektisch und schlecht gebauten Kanäle schnell zu einem massiven Verlust von Anbauflächen führten. Neulandprojekte, die kurz vor dem deutschen Überfall begonnen worden waren, zerfielen in atemberaubender Geschwindigkeit. Die enormen Anstrengungen des Abnutzungskrieges und der allgegenwärtige Mangel an Nahrungsmit40 Process Bucharina, S. 232–233. 41 ORMDA 837/32/576, Bl. 116 (Jusupov und Segizbaev an die Kreisparteisekretäre, 30. 9. 1937).

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teln, Treibstoff und medizinischer Versorgung führten im Herbst 1943 zu einem vollkommenen Zusammenbruch des Baumwollanbaus. Hunderttausende Kriegsflüchtlinge durchlitten ebenso wie die einheimischen Bevölkerungen die Kriegsjahre als eine Zeit von Mangel, Hunger und Epidemien. Dennoch bestand die Moskauer Regierung 1944 darauf, die Baumwollproduktion wieder anzukurbeln. Um im herrschenden Chaos Macht zu manifestieren, initiierte Stalin neue staatsterroristische Kampagnen: Erschießungen, Verhaftungswellen und Parteisäuberungen kehrten zurück. Hinzu kam die Deportation einer halben Million Menschen aus den »befreiten« Gebieten der Krim und des Kaukasus nach Usbekistan.

In Stalins Herrschaft diente Unordnung als ein Instrument zur Entgrenzung staatlicher Macht. Sie strebte keine utopische Neuordnung der sozialen Verhältnisse an, sondern war ein permanenter Versuch, Ordnung, Erwartungssicherheit und Zukunftsgewissheit zu verweigern. Unordnung diente Stalin und seinen Genossen zum einen als eine Grundlage für gewaltsame Machtmanifestationen und zum anderen als ein Testfeld, um die Reichweite staatlicher Machtdurchsetzung bemessen zu können. Nicht allein Terror und Gewalt, sondern auch die damit einhergehende Verweigerung von verlässlichen Informationen, beständigen Institutionen und materieller Sicherheit prägte darum die sowjetische Staatlichkeit. Hannah Arendts Beobachtung, dass totalitäre Regime keine Willkürherrschaften sein könnten, weil ihr Terror ideologisch bestimmt und nicht durch Arbitrarität der Entscheidungen der Führer gekennzeichnet sei (»an die Stelle des positiv gesetzten Rechts nicht der allmächtig willkürliche Wille des Machthabers tritt, sondern das ›Gesetz der Geschichte‹ oder das ›Recht der Natur‹«), trifft insofern nicht auf Stalins Sowjetunion zu.42 Ebenso wenig lässt sich die bekannte These Karl August Wittfogels von der »hydraulischen Despotie« auf die Sowjetunion Stalins übertragen. Wittfogel argumentierte seinerzeit, dass sich aus dem staatlich organisierten Bau von Bewässerungsanlagen, Infrastrukturen und repräsentativen Großbauten die »Möglichkeit für

42 Arendt, Elemente und Ursprünge, S. 947.

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managerial-despotische Herrschafts- und Gesellschaftsformen« ergibt, in denen die »Herren des agrarischen Apparatestaates« eine unumschränkte Verfügungsgewalt über Land und Steuern erlangten und die willenlose und schutzlose Landbevölkerung willkürlich und gewaltsam unterdrückten.43 Gerade die Kriegsjahre und die unmittelbare Nachkriegszeit zeigten, dass sich die Bevölkerungen Zentralasiens, anders als Wittfogel argumentierte, dem Anspruch der Moskauer Herrscher, unumschränkte Verfügungsgewalt über ihr Leben und ihren Besitz zu erlangen, erfolgreich entziehen konnten. Obwohl staatlicher Terror, materielle Not und die massenhaften Deportationen zum sowjetischen Alltag gehörten, gelang es großen Teilen der Bevölkerung dennoch, sich zu behaupten, durchzukommen und zu überleben. Kriegsbedingte geografische Mobilität und Familienbande, persönliche Patronage und ökonomische Netzwerke (beispielsweise bei der Wasserverteilung) spielten dabei eine ebenso große Rolle wie die Tatsache, dass die staatliche Kontrolle limitiert und die Machtausübung brüchig blieb. Daran konnte der aus Moskau gesteuerte Baumwollterror ebenso wenig ändern wie Jusupows erfolgloser Versuch, in den Nachkriegsjahren seine »Volksbaustellen« wieder aufleben zu lassen. Er scheiterte damit sowohl an der Überforderung der staatlichen Institutionen vor Ort als auch an der passiven Haltung der Bevölkerung gegenüber den staatlichen Anforderungen. Stalins Herrschaft in Zentralasien zeigte ein anderes Bild: Sie war durch spontane und willkürliche Eingriffe in die sozialen und ökonomischen Gegebenheiten gekennzeichnet. Sie brachte Chaos und Hunger, Not und Gewalt. Sanktionsmechanismen der Sowjetmacht konnten einschneidend und durchdringend sein. Blieben sie jedoch aus, so blieben auch die Möglichkeiten, staatliche Herrschaft auszuüben, prekär und limitiert. Darum ist die Geschichte Zentralasiens in der Sowjetunion vielschichtiger und vielstimmiger, als dass man sie als Lehrstück über Ideologie und Terror, Fortschritt und Niedergang, Moderne und Barbarei erzählen könnte und lesen sollte. Die in der historischen Forschung gern bemühten Erfolgsgeschichten von »Modernisierung« und »Bürokratisierung« ebnen die Schwierigkeiten, Probleme und Unebenheiten

43 Wittfogel, Die orientalische Despotie, S. 36. Zu Wittfogel und der Debatte um sein Werk: Gellner, »Soviets against Wittfogel«, und Radkau, »Der Emigrant«.

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zu sehr ein, die sich aus der Institutionalisierung von Machtprozessen und ihrem immer möglichen Scheitern ergaben. Sie machen wenig aus der Tatsache, dass Ergebnisse nicht vorhersehbar, Prozesse nicht planbar und Gesellschaften nicht formbar sind.

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Anhang

Begriffe, Namen, Archive Sir Eric Teichman (1884–1944), ein Namensvetter und Diplomat in britischen Diensten, reiste 1935 mit dem Auto in die nordwestlichen Provinzen Chinas. Den Bericht über seine Reise, die ihn von Peking nach Kaschgar führte, veröffentlichte er 1937 unter dem Titel »Journey to Turkestan«.1 Mit dem geografischen Namen »Turkestan« bezeichnete er die chinesische Provinz Xinjiang mit ihrer turkstämmigen uigurischen Bevölkerung. In Russland meinte man mit »Turkestan« dagegen die Gebiete, die von Petersburg aus gesehen südlich des eurasischen Steppengürtels lagen. Nachdem sich das Zarenreich zwischen 1864 und 1881 einen großen Teil dieser Territorien einverleibt hatte, wurde Turkestan zum Namen eines russischen Generalgouvernements mit der Hauptstadt Taschkent. Im Zuge der Eroberung Turkestans im 19. Jahrhundert begann man in Russland auch von »Mittelasien« (Srednjaja Azija) zu sprechen und zu schreiben.2 »Turkestan« und »Mittelasien« konnten dabei Synonyme sein. Meistens bezeichnete »Mittelasien« jedoch das Gouvernement Turkestan und seine russisch dominierten Nachbargebiete Buchara, Chiwa und Transkaspien – in Abgrenzung zu Persien, Afghanistan und dem muslimischen Norden Chinas. Im Jahr 1925 wurde die Region »Mittelasien« in die fünf Sowjetrepubliken Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan aufgeteilt. Bis in die Perestroika blieb »Mittelasien« die Bezeichnung für die »Stans« im Süden der Sowjetunion. »Mittelasien« verwendete man aber auch als Gegenbegriff zur größten Sowjetrepublik in der Region, Kasachstan. Vermutlich unter Einfluss des Englischen setzte sich dann in den 1990er Jahren sowohl in der Region selbst als auch in Russland die Beziehung »Zentralasien« (Central’naja Azija) durch. »Zentralasien« ist offensichtlich eine geopolitische Konstruktion, die der Heterogenität der Lebensweisen, Geografien und politischen Institutionen in den bezeichneten Gebieten nicht gerecht wird.3 Dennoch soll auf den allgemein verständlichen Begriff nicht verzichtet werden. Wenn hier von »Zentralasien« die Rede ist, ist das Land zwischen den Flüssen Amudaria und Syrdaria gemeint. Heute liegt es in den Staaten Kirgistan, 1 2 3

Teichman, Journey to Turkestan. T-go, »E˙konomiˇceskaja zadaˇca Rossii«. Gorshenina, L’invention de l’Asie centrale.

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Tadschikistan, Usbekistan, Turkmenistan und Kasachstan. Nur in Usbekistan und Tadschikistan umfassen die beiden Flüsse das gesamte heutige Staatsgebiet. Darum stehen diese zwei politischen Gebilde, die seit 1925 auf den Landkarten zu finden sind, im Zentrum dieses Buches. Ebenso vertrackt wie die geografische Nomenklatur ist die Umschrift der Namen. Der Name des Ministerpräsidenten Usbekistans zwischen 1925 und 1937 Fajsulla Chodschajew könnte entweder, angelehnt an seine persisch-türkische Ursprungsform, Fajzulla Hodˇza transliteriert werden oder in der wissenschaftlichen Umschrift des Kyrillischen (Fajzulla Chodˇzaev oder Khojaev) oder in der heute in Usbekistan verbindlichen latinisierten Schreibweise (Fayzulla Xo’jayev). Um den Text leichter lesbar zu machen, werden alle Personennamen in ihrer russifizierten Variante verwendet, die die Personen selbst in offiziellen Dokumenten verwendeten, und mithilfe der Duden-Transkription phonetisch umgeschrieben. In den Fußnoten wird dagegen durchgehend die wissenschaftliche Transliteration gebraucht. Gleiches gilt für die Ortsnamen. Bei der Erstnennung eines Ortsnamens ist nach Möglichkeit die heute offiziell gültige Bezeichnung zusätzlich (in Klammern) angegeben. In den Quellen kommen viele Wörter vor, die aus den Sprachen Zentralasiens in das Russische eingeflossen sind. Dazu gehören Termini aus dem Bereich der künstlichen Bewässerung wie mirab (Wassermeister), aryk (Kanal), tschigir (Wasserrad), chaschar (Kanalreinigungsarbeiten). Gleichermaßen wurden Begriffe, die für die sowjetische Klassenideologie konstitutiv waren, in die zentralasiatischen Sprachen übertragen. Der russische kulak (»reicher Bauer«) wurde in Zentralasien zum baj (»lokaler Potentat«), der russische bednjak (»armer Bauer«) zum tschajriker (»Tagelöhner«); aus den Banditen und Weißgardisten des russischen Bürgerkriegs wurden in Zentralasien basmatschi (»Räuber«) und kurbaschi (»Rebellenführer«). Immer wieder führten diese Hin-und-HerÜbersetzungen zu Unklarheiten und Verständnisproblemen, vor allem, weil sie die Wirklichkeit Zentralasiens höchstens schemenhaft abbildeten. So sprechen die Quellen schematisch von kischlak (»Dorf«), obwohl die Landbevölkerung in vielen Oasen Zentralasien nicht kompakt in Dörfern siedelte, sondern in verstreuten und oft befestigten Gehöften, Einzelhöfen oder Weilern entlang der Flussarme und Kanäle.4 Wenn Be-

4

Sovremennyj kiˇslak, Bd. 11: Karakul’skaja volost’, S. 15–16.

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griffe wie die genannten im Text Verwendung finden, handelt es sich also um Klischees aus den Quellen. Insgesamt war angestrebt, den Text trotz der Vielfalt von Begriffen, Namen und Titeln dem heutigen deutschen Sprachgebrauch anzunähern. Ist von »Usbekistan« und »Tadschikistan« die Rede, sind die »Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik« und die »Tadschikische Sozialistische Sowjetrepublik« gemeint. Auch für die oft umständlichen und langen sowjetischen Ämtertitel werden Kurzformen verwendet. Der »Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Turkmenistans« wird darum im Text auch als »turkmenischer Parteichef« tituliert, der »Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Sowjetrepublik Usbekistan« auch als »usbekischer Ministerpräsident«. Das zwischen 1922 und 1934 bestehende »Zentralasiatische Büro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion« wird als »Zentralasienbüro« bezeichnet. Komplizierter liegt der Fall bei den unzähligen Abkürzungen für Ämter, Behörden und Ministerien (»Volkskommissariate«). Hier wurde von Fall zu Fall entschieden. Das vorliegende Buch beruht auf russischsprachigen Quellen, die in Archiven in Moskau und Taschkent, Nukus und Duschanbe zu finden sind. Die Verwaltung von Bewässerung und Baumwollanbau waren in Zentralasien bis in die 1950er Jahre »russische« Domänen, und fast die gesamte Behördenkorrespondenz zu diesen Fragen wurde in russischer Sprache geführt. Manche Archivbestände waren unberührt, als ich sie einsehen konnte, viele sind gut intakt, andere sind von den sowjetischen Archivaren neu arrangiert worden (wie der entscheidende Bestand des »Zentralasienbüros« im Moskauer Parteiarchiv), und wieder andere liegen nur noch verstümmelt vor, weil große Teile der Akten vernichtet worden sind (wie der Bestand über den Kanalbau im Wachsch-Tal im Staatsarchiv von Duschanbe). Die sowjetischen Archive enthalten drei Parallelüberlieferungen: die der Kommunistischen Partei, die des Staatsapparats und die der Geheimpolizei (Tscheka – OGPU – NKWD – MGB). Während es in Moskau kein Problem ist, die Akten der Kommunistischen Partei einzusehen (zumindest bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs), war dies in Usbekistan und Tadschikistan, wo die Parteiarchive bis heute unter strengem Verschluss gehalten werden, nicht möglich. Dieser Umstand verändert die Sicht auf die Geschichte und erzeugt viele Leerstellen. Für die 1930er und 1940er Jahre wurde trotzdem versucht, die Parteiüberlieferung so 261

gut wie möglich einzubeziehen. Hierbei waren die verfilmten Bestände der »Parteikontrollkommission« (KPK), die im Archiv der Hoover Institution der Stanford University durchgesehen werden konnten, von herausragender Bedeutung. Geheimdienstarchive blieben mir überall verschlossen. Hier halfen die umfangreichen Quelleditionen weiter, die seit Mitte der 1990er Jahre in Moskau erscheinen. Übersetzungen im Text stammen, wenn nicht anders angegeben, vom Autor. Auch Zitate aus englischsprachigen Publikationen und Quellen wurden übersetzt. Die alten russischen Maße, die bis Mitte der 1930er Jahre in Gebrauch waren, wurden umgerechnet: eine Desjatine entspricht 1,0925 Hektar, eintausend Pud sind 16,38 Tonnen. Auf Archivalien wird in der Kurzform »Bestand/Findbuch/Akte, Blatt« verwiesen. Zu allen benutzten Archivalien geben die Fußnoten den Titel und das Datum des betreffenden Dokuments an. Bei Briefen und Telegrammen sind Absender und Adressaten nach Möglichkeit namentlich genannt. Diese Angaben sowie das Register sollen es Leserinnen und Lesern erleichtern, die angeführten Informationen zu kontextualisieren und, so sie Zeit und die Möglichkeit haben, meine Darstellungen anhand der Quellen zu überprüfen.

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Glossar aqsaqal, aksakal Ältester, Gemeindevorsteher, Repräsentant aryq, aryk Bewässerungskanal (am unteren Amudaria auch ˇzap oder jab) baj, bey, bek Provinzgröße, Klanführer, »reicher Mann« in Zentralasien und im Mittleren Osten (von den Bolschewiki pejorativ und analog zum russischen Kulak gebraucht) basmatschi pejorative Bezeichnung (wörtlich »Räuber«) für die bewaffneten Selbstschutzeinheiten und Rebellengruppen, die die Sowjetmacht zwischen 1918 und 1932 bekämpften dekhqon, dechkan Bauer, Landmann, Bewohner eines qishloq Desjatine russisches Flächenmaß (entspricht 1,0925 ha) hashar, chaˇsar Gemeinschaftliche Kanalreinigungsarbeiten (am unteren Amudaria auch kazu) Haushalt (russ. chozjajstvo) Zähleinheit für Personengruppen, Familien oder Großfamilien, die gemeinsam Landwirtschaft betrieben oder gemeinsam in einer Kolchose arbeiteten; häufig bei Umsiedlungen und Deportationen verwendet, wenn die faktische Zahl der Einzelpersonen nicht bekannt oder nicht relevant war mirab Wassermeister, Wasserzuteiler, Kanalaufseher Pud russisches Gewichtsmaß (entspricht 16,38 kg) Sredazbjuro Zentralasienbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, zwischen 1922 und 1934 die wichtigste Parteibehörde in Zentralasien mit Sitz in Taschkent; 1922–1924 unter Vorsitz von Jan Rudsutak und Otto Karklin, 1924–1930 von Isaak Selenski, 1930–1934 von Karl Baumann qishloq, kiˇslak Dorf, ländliche Siedlungsgemeinschaft oder Streusiedlung, von den Bolschewiki analog, und oft ebenso pejorativ, zum russischen derevn’ja (»Dorf«) gebraucht vodchoz (Akronym für russ. Upravlenie vodnogo chozjajstva) Wasserbehörde, die es in wechselnden Formen auf der regionalen, republikanischen und gesamtstaatlichen Verwaltungsebene gab; wichtigste übergeordnete Instanzen waren in den 1920er Jahren die Mittelasiatische Wasserbehörde (Sredazvodchoz) und in den 1930er Jahren die Bewässerungshauptverwaltung (Glavvodchoz) des Moskauer Landwirtschaftsministeriums

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Quellen und Literatur BMDChT – Boigonii Markazii Davlatii Jumhurii Tojikiston

(Staatsarchiv der Republik Tadschikistan, Duschanbe) f. 18 Sovet Ministrov Tadˇzikskoj SSR Ministerrat der Tadschikischen SSR f. 268 Upravlenie Vachˇsskogo irrigacionnogo stroitel’stva (»Vachˇsstroj«) Leitung des Wachsch-Bewässerungsbaus f. 288 Ministerstvo sel’skogo chozjajstva Tadˇzikskoj SSR) Landwirtschaftsministerium der Tadschikischen SSR GARF – Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii (Staatsarchiv der Russischen Föderation, Moskau) CKK VKP(b) – NK RKI SSSR f. 374 Zentrale Parteikontrollkommission – Volkskommissariat der Arbeiter- und Bauerninspektion der UdSSR f. 3316 Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet SSSR Zentrales Exekutivkomitee der UdSSR f. 3292 Irrigacionnyj Komitet pri SNK SSSR Bewässerungskomitee beim Rat der Volkskommissare der UdSSR f. 5446 Sovet Narodnych Kommissarov SSSR Rat der Volkskommissare der UdSSR f. 5457 Central’nye komitety Professional’nych Sojuzov rabotnikov tekstil’noj i lëgkoj promyˇslennosti Zentralkomitees der Gewerkschaftsverbände der Arbeiter der Textil- und Leichtindustrie f. 6892 Komissija CIK SSSR po rajonirovaniju Kommission des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR für Kreisverwaltungsreformen f. 9414 Glavnoe upravlenie mest zakljuˇcenija MVD SSSR Hauptverwaltung des Gefängniswesens des Innenministeriums der UdSSR HPSSS – Harvard Project on the Soviet Social System

http://hcl.harvard.edu/collections/hpsss/index.html Schedule B, Vol. 8, Case 221 Schedule B, Vol. 8, Case 228 Schedule B, Vol. 8, Case 252 HILA – Hoover Institution Library and Archives, Stanford Willard Livermore Gorton Papers Dmitrii Antonovich Volkogonov Papers Archives of the Soviet Communist Party and Soviet State Microfilm Collection

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ORMDA – O’zbekiston Respublikasi Markaziy Davlat Arxivi

(Staatsarchiv der Republik Usbekistan, Taschkent) f. 111 Chlopkovyj Komitet pri SNK Turkestanskoj ASSR (»Turkchlopkom«) Baumwollkomitee beim Rat der Volkskommissare der Turkestanischen Autonomen SSR f. 218 Upravlenie Vodnogo Chozjajstva NKZ Uzbekskoj SSR (»Uzvodchoz«) Wasserbehörde des Landwirtschaftsministeriums der Usbekischen SSR f. 756 Upravlenie Vodnogo Chozjajstva Srednej Azii i Kazachstana (»Sredazvodchoz«) Wasserbehörde für Zentralasien und Kaschstan f. 837 Upravlenie delami SNK Uzbekskoj SSR Administration des Rates der Volkskommissare der Usbekischen SSR QROMA – Qaraqalpaqstan Respublikası Oraylıq Mamleketlik Arxivi

(Staatsarchiv der Autonomen Republik Karakalpakstan, Nukus) f. 50 Postojannoe Predstavitel’stvo Karakalpakskoj ASSR pri CIK SSSR Ständige Vertretung der Karakalpakischen Autonomen SSR beim Zentralen Exekutivkomitee der UdSSR f. 322 Sovet Ministrov Karakalpakskoj ASSR Ministerrat der Karakalpakischen Autonomen SSR f. 325 Narodnyj Komissariat Vodnogo Chozjajstva Karakalpakskoj ASSR Volkskommissariat für Wasserwirtschaft der Karakalpakischen Autonomen SSR RGAE˙ – Gosudarstvennyj Archiv E˙ konomiki

(Russisches Staatliches Wirtschaftsarchiv, Moskau) f. 7486 Ministerstvo sel’skogo chozjajstva SSSR Landwirtschaftsministerium der UdSSR f. 7604 Ministerstvo lëgkoj promyˇslennosti SSSR Ministerium für Leichtindustrie der UdSSR f. 8378 Glavnoe Upravlenie vodnogo chozjajstva NKZ SSSR (»Glavvodchoz«) Hauptwasserverwaltung des Landwirtschaftsministeriums der UdSSR RGASPI – Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv social’no-politiˇceskoj istorii

(Russisches Staatliches Archiv für soziale und politische Geschichte, Moskau) f. 17 Central’nyj Komitet VKP(b) Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) f. 62 Sredneaziatskoe Bjuro CK VKP(b) (»Sredazbjuro«) Zentralasienbüro des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) f. 73 Nachlass A. A. Andreev f. 78 Nachlass V. V. Kujbyˇsev f. 82 Nachlass V. M. Molotov f. 85 Nachlass G. K. Ordˇzonikidze f. 121 Upolnomoˇcennyj CKK VKP(b) – NK RKI SSSR v Srednej Azii

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f. 558

Bevollmächtigter der Zentralen Kontrollkommission und des Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauerninspektion der UdSSR in Zentralasien Nachlass I. V. Stalin

RGANI – Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv novejˇsej istorii (Russisches Staatliches Archiv für Zeitgeschichte, Moskau) f. 6 Komissija Partijnogo Kontrolja pri CK VKP(b) Parteikontrollkommission beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) f. 89 »Delo KPSS« Strafprozess gegen die KPdSU Beide Bestände sind in der »Archives of the Soviet Communist Party and Soviet State Microfilm Collection« enthalten und in den Hoover Institution Library and Archives benutzt worden. USHMM – United States Holocaust Memorial Museum Archives

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Namens- und Ortsregister Abdurachmanow, Abdudschabar 221, 224, 228 Afghanistan 11, 85, 142, 144, 148–149, 165, 170, 242 Ägypten 26, 30, 82, 143, 243 Ammosow, Maksim 78–80, 121 Amudaria (Fluss) 24–27, 59, 63, 86–90, 103–106, 146, 195–198, 200–203, 211, 222, 239 Andischan (Andijon) 34, 134, 189, 235 Andrejew, Andrej 187, 215, 220–221, 233, 250 Aralsee 25, 88 Arbeitslager (Gulag) 166–167, 187, 188–189, 197, 206, 233, 251 Asfendjarow, Sandschar 49, 74 Atabajew, Kaigysyz 46, 108 Baberowski, Jörg 15, 18, 20, 48, 53, 83, 121, 217, 198 Baumann, Karl 146, 155, 157, 160, 171, 178–180, 183, 261 Bayly, Christopher 15 Beckert, Sven 33 Belski, Lew 131, 215, 244 Beria, Lawrenti 224, 227, 235 Buchara 11–12, 19, 22, 25, 28, 31, 59–61, 67, 69, 72–73, 77, 79–80, 82, 91, 134, 140, 184–185, 200, 227, 232, 234 Bucharin, Nikolaj 118, 198, 206, 210 Burnaschew, Chanif 78, 80 Buttino, Marco 23, 44–47 Chanka (Xonqa) 87–88 Chiwa (s. Choresm) 11, 19, 28, 31, 59, 91, 223 Chodschajew, Fajzulla 69, 73, 77–78, 123, 126–127, 133, 195–196, 198–202, 204, 207–208, 210 Chodschibajew, Abdurrachim 146, 149, 155 Chodschanow, Sultanbek 46, 54, 56, 63, 70, 204

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Chodschibajew, Abdulrachim 49, 73, 77–78 Choresm (s. Chiwa) 25, 60–61, 87, 89, 100, 133, 166, 197, 201, 222 Chydyraliew, Imamdschan 73–74, 80 Davies, Robert 174–175 Duschanbe s. Stalinabad Ferghanatal 22, 25, 31–34, 39, 42–45, 49–50, 60, 65, 67–68, 71, 80, 99–100, 106, 114–115, 133–134, 139–140, 178, 188, 217 Geheimpolizei (Tscheka – OGPU – NKWD – MGB) 10, 15, 64, 66, 74–76, 100, 118–119, 125–126, 131–135, 140, 144, 149–151, 166–169, 183, 187, 191, 204, 221, 222, 224, 227, 232, 237, 239, 244, 251, 259 Gestwa, Klaus 142, 188, 212, 218 Gikalo, Nikolaj 78–80, 121 Gorton, Willard 143, 147, 173–174 Green, Linda 185, 248 Gulag s. Arbeitslager Hildermeier, Manfred 119, 241 Hungersteppe 35–37, 40–41, 65, 94–95, 104–105, 230–231, 246 Ikramow, Akmal 69–70, 73, 77–78, 80–82, 126–127, 131, 181, 189, 204–207, 210, 214–215 Indien 26, 29, 30, 40, 82, 242, 243 Islam 17–18, 28, 30–31, 46–47, 55, 69, 71, 88, 134, 137, 140, 215, 233, 243 Italien 7, 157, 241 Jangi-Jul (Yangiyo’l) 129–130 Jeschow, Nikolaj 198, 204, 206 Jusupow, Usman 212–225, 230–234, 253, 255 Kaganowitsch, Lasar 46, 122, 131, 146, 183 Karaganda 167, 189 Karakalpakstan 59, 64, 181, 190, 192–193, 196–199, 211, 235, 238–239

Karakul (Qorako’l) 89 Karakumwüste 25, 29, 103–105, 148, 239 Karklin, Otto 58, 261 Kasachstan 39, 43, 46, 60, 63, 68, 98, 149, 153 Kaschkadaria (Qashqadaryo) 92–93, 227, 232 Katta-Kurgan (Kattaqo’rg’on) 224, 238 Kaukasus 18–19, 23, 29, 43, 68, 79, 82, 153, 236, 254 Kerki (Atamurat) 105–106, 108–109, 111 Khalid, Adeeb 33, 53, 56, 241 Kirgistan 67, 181, 232 Kisch, Egon Erwin 143, 147, 163 Kobulow, Amajak 224–225, 227, 232, 235–236 Kokand (Qo’qon) 34, 43–45, 80, 133 Kotkin, Stephen 69, 83, 119, 147, 158, 243 Kriwoschejn, Alexander 40, 94 Krschischanowski, Gleb 110–111 Kudrjawzew, Alexander 220–221 Kujbyschew, Walerian 46, 165–166, 186, 250 Kuropatkin, Alexej 41–44 Kysylkumwüste 25, 211 Lenin, Wladimir 10, 48, 54–55, 94 Leninabad (Xo’jand) 237 Leningrad, s. Petersburg Lewin, Moshe 120, 125, 171, 175, 242 Ljubimow, Isidor 187, 199 Lomakin, A. 221, 224, 225, 228 Luhmann, Niklas 21 Maksum, Nusratullo 145–146, 155 Mirsatschul (Guliston) 230 Molotow, Wjatscheslaw 117, 118, 131–132, 196, 197, 198–199, 218, 219 Morgunenkow, Fjodor (Ingenieur) 41, 102, 104–105, 245 Namangan 32–33, 134 Nikolaj Konstantinowitsch (Großfürst) 36, 103

Ordschonikidse, Sergo 22–23, 107–108, 112–113, 118, 123, 247 Orient 13, 24, 29, 79, 82, 86, 229, 242, 244 Parteikontrollkommission (KPK) 193–194, 221, 228, 260 Penati, Beatrice 32–33, 245 Petersburg 31, 36, 39–41, 43, 94, 97, 102, 104, 167, 197, 211 Polen 30–31, 219, 225, 227 Politbüro 48, 58, 68, 100, 117, 118, 122–123, 166, 176–177, 183, 187, 205, 231, 251 Radkau, Joachim 14, 196, 255 Reingold, Isaak 110 Riesenkampf, Georgi (Ingenieur) 93–94, 102, 104, 245 Rote Armee 10–11, 15, 22–23, 46, 47, 50, 52, 66, 71, 117, 147, 170, 183, 211, 219, 228–230 Rudsutak, Jan 46, 100–101, 261 Rykow, Alexej 110, 118, 206 Rykunow, Michail 95–98, 100–102, 108–109 Safarow, Georgi 23–24, 48–49, 70 Samarkand 12, 25, 31, 36, 42, 62, 67, 71, 77, 79, 134, 137, 193, 224, 232 Scharow, Iwan (Ingenieur) 84 Scott, James 15–17, 88 Serafschan (Fluss) 12, 25, 41, 67, 89 Selenski, Isaak 53, 57, 67–68, 81, 96, 98, 106, 110–111, 115, 123–125, 129, 131, 135, 146, 206–207, 210, 261 Semiretschje 38–39, 42–43, 48–49 Stalin, Joseph 11, 13, 17–18, 22, 53–54, 58, 68–69, 73–74, 83, 109, 115–121, 125, 128–129, 131–132, 139, 141, 144, 148, 165–168, 171, 174, 176, 178–182, 192, 205, 208–209, 218, 221, 233, 235, 239, 243–244, 250, 251–255 Stalinabad (Duschanbe) 146, 150, 155–156, 166, 169, 172, 237 Stolypin, Pjotr 39 Spittler, Gerd 120–121, 135, 186

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Surchandaria (Surxondaryo) 133 Syrdaria (Fluss) 24–25, 27, 36, 38, 41, 63, 86–87, 217 Syromjatnikow, Sergej (Ingenieur) 41, 105, 109, 111, 150, 158–160, 203 Tadschikistan 60, 65, 88, 141, 144–146, 148, 155, 161, 168, 193, 219, 221 Taschaus (Da¸soguz) 91 Taschkent 11, 23, 28, 31, 36, 39, 42, 45–46, 60, 69, 71, 77, 79, 81, 84–85, 95–96, 109–111, 134, 144, 160, 178, 186, 193, 197–198, 209, 220, 222, 225–226, 237 Termes (Termiz) 146 Tjurakulow, Nasir 46, 49 Tolstopjatow, Iwan 151–155, 157–160, 165, 169 Trotha, Trutz von 62, 119, 242 Tschernow, Michail 200–202 Türkei 19, 22, 69, 187, 241

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Turkestan 11, 24, 28–29, 31, 34–35, 37–39, 42, 59–61, 72–73, 257 Turkestan-Kommission 46–47, 49, 53 Turkmenistan 59–60, 64–65, 91–92, 98, 103–105, 108, 148, 201, 239 Turtkul (To’rtko’l) 197, 199, 201–203, 211 Ukraine 10, 23, 37, 81, 84–85, 117, 127, 128, 131, 135, 153, 215 Vereinigte Staaten von Amerika 7, 30–31, 104, 143, 170, 173, 179, 243 Wachsch (Fluss) 25, 142, 162 Wachschtal 142–143, 145–146, 163–167, 237–238, 250, 259 Wat, Alexander 225–226, 229 Wittfogel, Karl August 119, 254–255 Zentralasienbüro 53, 57–58, 96, 111, 113, 124, 131, 146, 157, 160, 178, 243, 259, 261 Zinserling, Wladimir (Ingenieur) 104–105

Dank Aus einer Reise nach Taschkent ist eine Odyssee geworden. Ohne die Unterstützung der Volkswagenstiftung Hannover, der Humboldt-Universität Berlin, des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes, des Institut français d’études sur l’Asie centrale, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Hoover Institution wäre sie nicht möglich gewesen. Es war ein großes Abenteuer. Weggefährten, Kritikern und Mitstreitern, die mir in seichten Gewässern und in schwerer See zur Seite gestanden haben, danke ich aus ganzem Herzen: Jörg Baberowski, Ingeborg Baldauf, Claus Bech Hansen, Daniela Bergelt, Judith Beyer, Dietrich Beyrau, Matthias Braun, Katja Bruisch, Andy Bruno, Michael David-Fox, Andrea Dorn, Askar Dzhumashev, Adrienne Edgar, Laura Elias, Aftandil Erkinov, Gero Fedtke, Sheila Fitzpatrick, Kai Franke, Alexander Frese, Mirjam Galley, Klaus Gestwa, Valerij Germanov, Beate Giehler, Sharon Gordon, Paul Gregory, Christoph Gumb, Olaf Günther, Jörn Happel, Daniel Hedinger, Nadin Heé, James Heinzen, Ulrike Huhn, Makset Karlybaev, Botakoz Kassymbekova, Marianne Kamp, Adeeb Khalid, Julia Khmelevskaia, Michael Khordarkovsky, Robert Kindler, Matthias Klingenberg, Stephen Kotkin, Maike Lehmann, Benjamin Loring, Thomas Loy, Britta Margraf, Mathias Mutz, Igor Narskij, Andreas Oberender, Alexandra Oberländer, Gisela Ostermay, Julia Obertreis, Bakhodir Pasilov, Maya Peterson, Jan Plamper, Kim Christian Priemel, Qahramon Rajabov, Frank Reichherzer, Julia Laura Rischbieter, Gábor Rittersporn, Malte Rolf, Niccolò Pianciola, Luisa Piart, Ulrich Sachs, Thomas Sanders, Susanne Schattenberg, Franziska Schedewie, Katharina Schmitten, Felix Schnell, Sanobar Shadmanova, David Shearer, Walter Sperling, Fabian Thunemann, Lynne Viola, Martin Wagner, Amir Weiner, Mike Westren sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive und Bibliotheken in Duschanbe, Moskau, Nukus, Stanford und Taschkent. Meine Familie war der Fels in der Brandung. Die Dissertation, die der vorliegenden Publikation zugrunde liegt, wurde im Februar 2010 an der Humboldt-Universität Berlin verteidigt. Birgit Otte von der Hamburger Edition, Sigrid Weber, die das wunderbare Lektorat besorgt hat, und dem Herausgeberkreis der »Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« habe ich zu verdanken, dass zu guter Letzt ein düsteres und dennoch leichtes Buch erscheinen konnte. 287

Zum Autor Christian Teichmann, Dr. phil., ist Osteuropahistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin. Er hat Germanistik und Geschichte an den Universitäten Leipzig und Warschau studiert, war 2002/2003 Lektor an der Staatlichen Universität Samara, Russland und hält sich seitdem regelmäßig zu Forschungsaufenthalten in Russland, Zentralasien und den Vereinigten Staaten auf.

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