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German Pages 413 [416] Year 2011
Lyrische Narrationen ⫺ narrative Lyrik
Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 16
De Gruyter
Lyrische Narrationen ⫺ narrative Lyrik Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur Herausgegeben von Hartmut Bleumer · Caroline Emmelius
De Gruyter
ISBN 978-3-11-021593-9 e-ISBN 978-3-11-021592-2 ISSN 1612-443X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Lyrische Narrationen, narrative Lyrik : Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur / edited by Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius. p. cm. ⫺ (Trends in medieval philology ; 16) Includes bibliographical references. ISBN 978-3-11-021593-9 (alk. paper) 1. Poetry, Medieval ⫺ History and criticism. 2. Literature, Medieval ⫺ History and criticism. 3. Narration (Rhetoric) I. Bleumer, Hartmut. II. Emmelius, Caroline, 1972⫺ PN691.L97 2011 8091.02⫺dc22 2011015385
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort So wie die Lyrik des europäischen Mittelalters auf narrative Strukturen angewiesen zu sein scheint, so nehmen verschiedene narrative Genres immer wieder lyrische Imaginationen und Diskursivierungen auf und erzielen damit besondere ästhetische Effekte. Dadurch bahnt sich offenbar ein generischer Interferenzprozess an, dessen historische Karriere sich, ausgehend von der Trobadorlyrik, in der französischen und italienischen Literatur ebenso beobachten lässt wie bei Shakespeare und der nicht zuletzt in der deutschen Literatur eine Fülle von irritierenden Spielarten hervorbringt. Für die Produktivität dieser generischen Interferenzen könnte eine gemeinsame Transgressionsfigur zwischen Lyrik und Narrativik verantwortlich sein, die nicht nur die Grenze von weltlicher zu geistlicher Ästhetik unterläuft, sondern die zugleich den historischen Brückenschlag zwischen mittelalterlicher literarischer Praxis und aktueller Literaturtheorie nahelegt: Die generischen Interferenzen zwischen Lyrik und Narrativik kommen in der älteren deutschen Literatur insbesondere auch in der Mystik zum Vorschein, sie entsprechen aber auch auffällig den Bestrebungen der neueren Literaturwissenschaft, Konzepte und Methoden von Narratologie und Lyriktheorie zu verbinden. Die Aufsätze des folgenden Bandes haben sich auf die Herausforderungen dieser Themenstellung eingelassen. Sie sind aus den Vorträgen und regen Diskussionen einer interdisziplinären Tagung hervorgegangen, die von der Fritz Thyssen Stiftung und der Stiftung der Georg-August-Universität Göttingen finanziert wurde und die vom 17.–19.9.2008 in der Evangelischen Akademie Loccum stattfand. Zu danken haben wir nicht nur den Vortragenden, sondern auch ihren Diskussionspartnern, die das Kolloquium mit ihren Anregungen sehr bereichert haben. Bei der Durchführung der Tagung und der späteren Arbeit an diesem Sammelband haben uns Katrin Dölle, Susanne Kaplan, Reinhard Spiekermann, Tina Uflacker, Anna Bers, Jochen Felsmann, Stefanie Krinninger, Lydia Merten und Hannah Rieger intensiv unterstützt. Auch ihnen möchten wir herzlich danken. Den Herausgebern der Reihe Trends in Medieval Philology danken wir für die Aufnahme des Bandes in die Reihe, dem De Gruyter-Verlag für die effektive Betreuung der Drucklegung und nochmals der Fritz Thyssen Stiftung für einen namhaften Druckkostenzuschuss.
Während der Arbeit an diesem Band verstarb unser lieber Kollege Armin Schulz. Wir vermissen in ihm einen klugen, freundlichen und kooperativen Wissenschaftler, mit dem wir gerne zusammengearbeitet haben. Wir werden ihn in guter Erinnerung behalten. Göttingen, im März 2011
Hartmut Bleumer
Caroline Emmelius
Inhalt Vorwort
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Hartmut Bleumer / Caroline Emmelius Generische Transgressionen und Interferenzen Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik
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I. Theorien, Konzepte, historische Leitmodelle Jan Borkowski / Simone Winko Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und zu seinen Ersetzungsvorschlägen
43
Peter Hühn Geschichten in Gedichten Ansätze zur narratologischen Analyse von Lyrik, mit einem Ausblick auf die Lyrik Shakespeares und den Petrarkismus
79
Dietmar Rieger Norm und Störung Zum Verhältnis lyrischer und narrativer Verfahren in der mittelalterlichen Lieddichtung Frankreichs
103
Michael Bernsen Formen und Funktionen des Narrativen bei Petrarca und seinen Nachfolgern
122
Thomas Haye Epik plus Lyrik ergibt Panegyrik Die Synthese der literarischen Gattungen in der Poesie des Johannes Michael Pingonius (1451–1505)
140
VIII
Inhalt
II. Episches in Lyrischem Albrecht Hausmann Verlust und Wiedergewinnung der Dame Zur inhaltlichen Funktion von Narrativierung und Entnarrativierung 157 im Minnesang Katharina Philipowski Zeit und Erzählung im Tagelied Oder: Vom Unvermögen des Präsens, Präsenz herzustellen
181
Caroline Emmelius Zeit der Klage Korrelationen von lyrischer Präsenz und narrativer Distanz am Beispiel der Minneklage
215
Timo Reuvekamp-Felber Literarische Formen im Dialog Figuren der matière de Bretagne als narrative Chiffren der volkssprachigen Lyrik des Mittelalters
243
III. Lyrisches in Epischem Manuel Braun Epische Lyrik, lyrische Epik Wolframs von Eschenbach Werk in transgenerischer Perspektive
271
Armin Schulz Minnedämmerung? Zur Funktion von Minnesang-Zitaten in Herborts von Fritzlar Liet von Troye
309
Hartmut Bleumer Die Zeit Ulrichs von Liechtenstein Oder: Die Entdeckung der Realität aus dem Geist der Lyrik
327
Inhalt
IX
IV. Lyrisch-narrative Übergänge in der Mystik Sandra Linden Der inwendig singende Geist auf dem Weg zu Gott Lyrische Verdichtung im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg
359
Burkhard Hasebrink Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler
387
Hartmut Bleumer / Caroline Emmelius
Generische Transgressionen und Interferenzen Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik I. Literarische Gattungen vor der Literatur? Für Texte vor dem Zeitalter der Literatur macht der Begriff der literarischen Gattung besondere Schwierigkeiten. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass die Literatur erst im Zuge ihrer Institutionalisierung auf den Begriff kommt, dann ist auch das Konzept der literarischen Gattung vom Institutionalisierungsprozess abhängig.1 Und daraus scheint sich ein historisches Problem zu ergeben: Angewandt auf die poetisch wirksamen Formen einer vorinstitutionellen Literatur, fordert die wissenschaftliche Frage nach den literarischen Gattungen zu trennscharfen Differenzierungen heraus, die in der historischen Praxis offenbar gar nicht benötigt werden. Diese Schwierigkeit lässt sich aber auch positiv wenden, führt sie doch auf genau jene faszinierende Fülle von ästhetischen Effekten, die der jüngere, institutionelle Literaturbegriff an sich zu binden versucht: In den literarischen Gattungen vor der Literatur erweisen sich auf besondere Weise die dynamischen Wechselbeziehungen von generischen Strukturen, Topoi und Medialisierungsformen des Literarischen, weil die historische Vorläufigkeit des Literaturbegriffs es erlaubt, Gattungsgrenzen vor ihrer Fixierung als liminale Übergangsbereiche spielerisch auszutarieren. Das hieße: Wenn sich Literatur 1
Vgl. kritisch zusammenfassend Ursula Peters: „Texte vor der Literatur“? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39 (2007), S. 59–88, hier S. 76–78; die systemtheoretische Denkfigur der Institutionalisierung bei Peter Strohschneider: Institutionalität. Zum Verhältnis von literarischer Kommunikation und sozialer Interaktion in mittelalterlicher Literatur. Eine Einleitung. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 1–26, bes. S. 4. Zur paradoxen Formel der Literatur vor der Literatur Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a. M. 2003, S. 24 f.; im weiteren Kontext der allgemeinen medialitätsgeschichtlichen Forschungstendenzen Ders.: Medialität in mediävistischer Perspektive. In: Poetica 39 (2007), S. 285–352, hier bes. S. 305–314.
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Hartmut Bleumer / Caroline Emmelius
erst institutionell verfestigen muss, um sich begrifflich abgrenzen und differenzieren zu lassen, dann sind literarische Gattungen vor dieser Begrenzung nicht taxonomisch zu denken, sondern als offene Felder zu konzipieren. Generische Spannungsverhältnisse wären hier also nicht schon über Gattungsdifferenzen zu bestimmen, sie wären zuerst als dynamische Praxis von Interferenzen nachzuvollziehen, die sich in historisch zentralen Fällen verdichten und von hier aus jene generischen Felder überhaupt erst aufspannen, die dann von Seiten der Literaturwissenschaft nachträglich als literarische Gattungen beschreibbar sind.2 Erlaubt man sich eine solche Skizze im Lichte der aktuellen mediävistischen Entwicklungen, dann könnte man ebenso pauschal wie vorläufig sagen: Vor dem Zeitalter der Literatur hat der poetisch wirksame Text genau jene generische Freiheit, die in der Institutionalisierung bezähmt, eben deshalb überhaupt als Spezifikum des Literarischen entdeckt und dann erneut ersehnt werden kann. Kurz: Das Feld der mittelalterlichen Literatur müsste der Traum moderner Gattungstheoretiker sein. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis von lyrischen und narrativen Formen. Dass Lyrik und Narrativik ganz offensichtlich nicht in schlichter Abgrenzung voneinander zu denken sind, sondern sich in ihnen wechselseitig wirksame Bedingungsverhältnisse artikulieren, deutet sich schon in ihren auffällig gegenläufigen Möglichkeiten an, Zeit zu figurieren und ästhetisch in Erfahrung zu bringen. Die Prozesse der narrativen Zeitaneignung durch die Erzählung und die zeitintensiven Präsenzeffekte lyrischer Formen müssten sich darum ihrer Grundstruktur nach als zwei Seiten einer Medaille betrachten lassen. Nimmt man diese allgemeine strukturelle Verwandtschaft genauer in den Blick, dann scheint sie jedenfalls eine Fülle von literarischen Übergangsphänomenen miteinander zu verbinden. So liefert gleich zu Beginn der lateinischen Literatur des Mittelalters Boethius in seiner Consolatio Philosphiae ein berühmtes Beispiel für die kulturell hochwirksame episch-lyrisch Mischform des Prosimetrums, in der 2
Vgl. als Ausgangspunkt Hugo Kuhn: Gattungsprobleme der mittelhochdeutschen Literatur. In: Ders., Kleine Schriften, Bd. 1: Dichtung und Welt im Mittelalter, 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 41–61 u. 251–254; Ders.: Versuch einer Literaturtypologie des deutschen 14. Jahrhunderts. In: Ders., Kleine Schriften, Bd. 3: Liebe und Gesellschaft. Hrsg. von Wolfgang Walliczek, Stuttgart 1980, S. 121–134. Die normierende Wirkung autoritativer Vorbilder als Zentralstellen der Gattungskonstitution betont Klaus Grubmüller: Gattungskonstitution im Mittelalter. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.–11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel F. Palmer/ Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 193–210, hier S. 209; diese These operiert in der Nähe des normativen lateinischen Gattungsverständnisses, vgl. Fidel Rädle: Literatur gegen Literaturtheorie? Überlegungen zu Gattungsgehorsam und Gattungsverweigerung bei lateinischen Autoren des Mittelalters. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hrsg. von Barbara Frank/Thomas Haye/Doris Tophinke, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 221–234, hier S. 222–226.
Generische Transgressionen und Interferenzen
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narrativ präsentierte Reflexionen lyrisch vergegenwärtigt und lyrische Inserate wiederum narrativ exponiert werden.3 Das hier praktizierte Korrelationsverhältnis macht im lateinischen Bildungswesen buchstäblich Schule: Die Transponierung bekannter epischer Figuren mit ihren spezifischen narrativen Konnotationen in lyrische Textformen ist eine Unterrichtsübung,4 eigenständige Beispiele für solche Übergänge finden sich dann später etwa im Codex Buranus.5 Dabei wird dieser Übergang vom Erzählen zur Lyrik offenbar dadurch erleichtert, dass die lateinische Literatur durch ihre schulisch-institutionelle Verfestigung einerseits ein weit stärker normatives Gattungsverständnis besitzt,6 dafür aber andererseits gar keine Großgattung Lyrik kennt, sondern diese als sangbares Genre vorläufig im Feld verwandter poetischer Formen verortet.7 Das hieße: Zwar gibt es hier Gattungsgrenzen, aber eben deshalb kann die Lyrik sie überschreiten. Deutlicher noch sind die generischen Transgressionsmöglichkeiten zwischen Erzählung und Lyrik in der südfranzösischen Literatur. Hier drängt die Trobadorlyrik gleich in zweierlei Hinsicht zur Narrativierung. Einzelne Lieder werden durch Erzählungen von speziellen Entstehungsanlässen in den razos narrativ erklärt, über die Biographisierung der Sängerinstanz in den vidas der Trobadors lassen sich aber auch ganze Sängerœuvres narrativ 3
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Zur Begriffsgeschichte des Prosimetrums, der Stellung des Boethius und den mittelalterlichen lateinischen Formen der knappe Überblick bis zu den französischen razos bei Jan Ziolkowski: The Prosimetrum in the Classical Tradition. In: Prosimetrum. Crosscultural Perspectives on Narrative in Prose and Verse. Hrsg. von Joseph Harris/Karl Reichl, Cambridge 1997, S. 45–65, bes. S. 52–60, sowie ausführlich Bernhard Pabst: Prosimetrum. Tradition und Wandel einer Literaturform zwischen Spätantike und Spätmittelalter, Köln 1994 (Ordo 4), S. 185–195, zur schulischen Rezeption S. 229, zu historischen Begriffsbildungen und zur Reflexion der ästhetischen Wirkung S. 270–275 u. 298–302. Vgl. zur Unterrichtsübung in poetisch-gebundener Rede Peter Stotz: Dichten als Schulfach – Aspekte mittelalterlicher Schuldichtung. In: Mittellateinisches Jahrbuch 16 (1981), S. 1–16, hier bes. S. 12–15 zu den Hinweisen der mittellateinischen Poetiken auf die Behandlung verschiedener Stoffe in Prosa, metrischer und rhythmischer Form. Dazu im germanistischen Kontext der Diskussionsbeitrag von Heinrich Lausberg zu Max Wehrli: Wolframs ‚Titurel‘, Düsseldorf 1974 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge. G, Geisteswissenschaften 194), der von einem Texttyp „manieristisch-lyrischer Bearbeitung epischer Teilstoffe für Feinschmecker“ (ebd., S. 28 f.) spricht. Zu einem der von Lausberg genannten Beispiele die Beschreibung von Ernst Robert Curtius: Das Carmen de prodicione Guenonis. In: ZfromPh 62 (1942), S. 492–509. Vgl. die Beispiele bei Susanne Daub: Vergil wechselt das Medium. Mittelalterliche AeneisKlänge. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 38 (2006), S. 145–184. Vgl. Rädle (Anm. 2); ähnlich auch Thomas Haye: Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung, Leiden, New York, Köln 1997 (Mittellateinische Studien und Texte 22), S. 1–8 u. 17 f. Vgl. zu den Termini Paul Klopsch: Die mittellateinische Lyrik. In: Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretation, Bd. 1: Die mittellateinische Lyrik, die altprovenzalische Lyrik, die mittelalterliche Lyrik Nordfrankreichs. Hrsg. von Heinz Bergner u. a., Stuttgart 1983, S. 19–196, hier S. 32 f. Als Gesamtüberblick unersetzt ist Irene Behrens: Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst. Vornehmlich vom 16. bis 19. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der poetischen Gattungen, Halle a. d. S. 1940 (Beihefte zur ZfromPh 92).
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verbinden.8 Komplementär dazu kennen auf Seiten der Narrativik die französischen Romanformen nicht nur lyrische Inserate, die Elemente der fiktionalen Erzählkontexte weiterführen oder umgekehrt in diese Kontexte zurückwirken. Darüber hinaus werden auch grundsätzlich die Möglichkeiten erprobt, lyrische Isotopien in narrativen Entwürfen umzusetzen.9 Als Beispiel für dieses Komplementärverhältnis sei auf Jeans de Renart Le Roman de la Rose verwiesen, der seiner Erzählung letztlich eine lyrische Semantik unterlegt. Dagegen zeigen sich wiederum im Bereich der Lyrik mit den Pastourellen oder Albas narrative Genres, die ihrerseits den narrativen Handlungsrahmen einer Geschichte dominant werden lassen und in ihn lyrische Isotopien eintragen.10 Nicht zuletzt ist daran zu erinnern, dass sich mit dem Begriff des Lais sowohl lyrische als auch narrative Formen verbinden können.11 Im Italienischen findet dann die Korrelation von Lyrik Vgl. zum Wechselverhältnis narrativer Kontextualisierung und narrativer Liedtypen Eckhart Höfner: Interdependenzen, Interferenzen, Intertextualitäten. Narrativik im provenzalischen Lied und in seinem Umkreis. In: Fragen der Liedinterpretation. Hrsg. von Hedda Ragotzky u. a., Stuttgart 2001, S. 158–187; zur Verschiebung von der Performanzsituation zur narrativen Textualisierung der Lyrik Michael Bernsen: Die Abkehr von der ritualisierten Aufführung altokzitanischer Trobadordichtungen und die Herausbildung eines modernen Autortyps in den razos des 13. Jahrhunderts. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Albrecht Hausmann unter Mitwirkung von Cornelia Logemann und Christian Rode, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 225–242; zur Exponierung, Differenzierung und Subjektivierung des Diskursschemas der Liebeswerbung in der provenzalischen Lyrik, das sich entschiedener als narratives Muster ansprechen lässt, Ders.: Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca, Tübingen 2001 (Beihefte zur ZfromPh 313), bes. S. 58–64, sowie schon hier zu der in den razos möglichen Diskursumstellung S. 157–167; zur Rolle des liebenden Dichtersängers, dessen Liebeserfahrung allein der im Zeitkontext unüblichen narrativen Biographisierung würdig sei, vgl. den nach wie vor grundlegenden Beitrag von Kurt Ruh: Dichterliebe im europäischen Minnesang [zuerst 1979]. In: Ders., Kleine Schriften, Bd. I: Dichtung des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Volker Mertens, Berlin, New York 1984, S. 324–345, hier S. 327–334. 9 Vgl. dazu in kritischem Umgang mit der Intertextualitätsdiskussion den Begriffsvorschlag von Dietmar Rieger: „Aufgehobene“ Genera. Gattungszitate und Gattungsinserate im altfranzösischen Thebenroman. In: Vox Romanica 46 (1987), S. 67–86; weiterführend zur Inferenz lyrischer Register in den Artusroman Ders.: Par force sos moi la mis. Intertextualité et littérature médiévale: L’exemple de la pastourelle et du roman arthurien. In: Studi Mediolatini e Volgari 34 (1988), S. 79–96. Als Überblicksskizze Sylvia Huot: From Song to Book. The Poetics of Writing in Old French Lyric and Lyrical narrative Poetry, Ithaca (N. Y.), London 1987, S. 2 f. u. 84–105. 10 Vgl. den methodischen Vorschlag zur Semantik narrativer Lyrik bei Rainer Warning: Pastourelle und Mädchenlied. In: FS Walter Haug und Burkhart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota u. a., Bd. 2, Tübingen 1992, S. 709–723, unter Verwendung von Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-Dietrich Keil, 4. unveränderte Aufl. München 1993 (UTB 103). 11 Zu den Deutungen der „ungewöhnliche[n] Erscheinung […], daß die Gattung Lai sowohl als epische wie als lyrische Geltung hat“, zusammenfassend Christoph März: Art. „Lai, Leich.“ In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 5 (1996), Sp. 852–867, zit. Sp. 853. 8
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und Narration einerseits in Dantes Vita Nova, andererseits in der Lyrik Petrarcas zwei meisterhaft gegenläufig konzipierte Höhepunkte, in denen die Gattungsfrage in kunstvoller Dialektik auf jeweils komplementäre Weise aufgehoben zu sein scheint.12 Und selbst ein dezidiertes Erzählwerk wie Boccaccios Decameron macht sich zur Charakterisierung der Brigata-Erzähler die Authentizitätseffekte mündlich aufgeführter Liebeslyrik zu nutze, wenn jeder Tag mit dem Vortrag einer ballata endet, deren biographischer Referenzgehalt für den Sänger oder die Sängerin anschließend diskutiert wird.13 Nimmt man noch die Beobachtung hinzu, dass einige Novellen des Decameron in der späteren Rezeption eine lyrische Umgestaltung erfahren, indem sie in Form von cantari, Erzählliedern, tradiert werden,14 so deutet sich analog zur französischen Literaturgeschichte ein offener Prozess epischlyrischer Interferenzen an, dessen Dynamik sich offenbar permanent fortpflanzt. Die germanistische Mediävistik kann ihre europäischen Nachbar- und Grundlagenphilologien um diese Evidenz ihrer Gegenstände nur beneiden, zumal deren Texte auch noch in ihrer poetischen Praxis Lösungen zu Problemen auszuformulieren scheinen, die bei einem isolierten Blick auf die mittelhochdeutsche Literatur immer noch erratisch anmuten. Denn natürlich kennt auch die mittelhochdeutsche Literatur vielfältige generische Übergangseffekte. Nur bedarf es hier einer entschiedeneren theoretischen Anstrengung, um die generischen Spannungsverhältnisse auch konzeptionell aufzuklären und systematisch fruchtbar zu machen. Bei näherem HinVgl. die Hinweise zu Dante im älteren Beitrag von Ruh (Anm. 8), S. 339–345; sowie Winfried Wehle: Dichtung über Dichtung. Dantes Vita Nuova: die Aufhebung des Minnesangs im Epos, München 1986, bes. S. 15–30; und Michael Bernsen (Anm. 8), S. 263–268 mit Hinweisen auf weitere Literatur; zu Petrarcas Canzoniere vgl. die Beiträge von Michael Bernsen und Peter Hühn in diesem Band. 13 Vgl. zu den ballate die ältere biographische Deutung von Luigi Manicardi und Francesco Massera: Le dieci ballate del Decamerone. In: Miscellanea storica della Valdelsa 9 (1901), S. 102–114; sowie deren Kritik bei Henri Hauvette: Les ballades du Décaméron. In: Journal des Savants N. S. 3 (1905), S. 489–500, der die Lieder als Allegorien in der Tradition Cavalcantis und Dantes liest; einen Überblick der Forschungsgeschichte auch im ausführlichen stilgeschichtlichen Beitrag von Gianluca D’Agostino: Le ballate del „Decameron“. Note integrative di analisi metrica e stilistica. In: Studi sul Boccaccio 24 (1996), S. 123–180; Hinweise auf die ästhetischen Effekte der ballate im Kontext der narrativen Konstruktion des Decameron bei Burghart Wachinger: Erzählen für die Gesundheit. Diätetik und Literatur im Mittelalter. Vorgetragen am 25. November 2000, Heidelberg 2001 (Schriften der Philosopisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 23), S. 30 f.; und Caroline Emmelius: Liebe und Geselligkeit. Geschlechterkommunikation in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzähltexten. In: Galanterie als Verhaltenskonzept in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Ruth Florack/Rüdiger Singer [erscheint vorauss. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit)]. 14 Vgl. Giorgio Varanini: Cantari e novelle. In: La novella italiana. Atti del Convegno di Caprarola 19–24 settembre 1988, Bd. 1, Rom 1989 (Biblioteca di “Filologia e critica” 3,1), S. 407–430.
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sehen verweisen die besagten generischen Interferenzen jedoch gerade in der mittelhochdeutschen Literatur auf eine verdeckte Genealogie von ästhetischen Phänomenen. Deren Strukturverwandtschaft führt von den narrativen Genres über die Lyrik bis in einen Bereich von Texten hinein, der nach der Institutionalisierung der Literatur in historisch ungerechtfertigter Weise als außerliterarischer, pragmatischer Bezirk erscheint: in den Bereich der geistlichen Literatur und hier insbesondere zur Mystik.15 Weil mystisches Schrifttum aber offensichtlich ästhetische Qualitäten aufweist, die sich u. a. den paradoxen Möglichkeiten eines narrativ gebundenen, gleichwohl präsentisch-lyrischen Ich-Ausdrucks verdanken, ist es systematisch in die Nähe der Korrelationsbeziehung von Lyrik und Narrativik zu rücken.16 Mehr Vgl. das dringliche Votum Kurt Ruhs für eine Rückführung der volkssprachlichen Mystik in die „Geschichte der Literatur[en]“, Ders.: Beginenmystik. Hadewijch, Mechthild von Magdeburg und Marguerite Porete. In: Ders., Kleine Schriften, Bd. II: Scholastik und Spätmittelalter. Hrsg. von Volker Mertens, Berlin, New York 1984, S. 237–249, hier S. 237 [zuerst in: ZfdA 106 (1977), S. 265–277]. 16 Zum Verhältnis von mystischen Offenbarungstexten und Autobiographie vgl. schon Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. 4. Bd., 1. Hälfte, 3. Tl.: Das Hochmittelalter in der Vollendung. Aus dem Nachlaß hrsg. von Dr. Leo Delfoss, Frankfurt a. M. 1967, S. 91–112; sowie Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart, Weimar 2000 (SM 323), S. 119–123; kritisch Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea N. F. 56), S. 53–67; und Susanne Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner. Rhetorik der Weiblichkeit und der autobiographische Pakt. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Hrsg. von Dörte Bischoff/Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 93), S. 79–102; zu den intertextuellen Bezügen der lyrischen Ich-Rede in der Frauenmystik vgl. die Ansätze bei Grete Lüers: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg, München 1926, S. 55–58; Wolfgang Mohr: Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg. In: Märchen, Mythos, Dichtung. FS zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens am 19. August 1963. Hrsg. von Hugo Kuhn/Kurt Schier, München 1963, S. 375–399; Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen, Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 71–73; Elizabeth Andersen: The Voices of Mechthild of Magdeburg, Oxford 2000, S. 147–181; Walter Haug: Gotteserfahrung und Du-Begegnung. Korrespondenzen in der Geschichte der Mystik und Liebeslyrik. In: Ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 464–479; sowie – für Mechthild – den Beitrag von Almut Suerbaum: ‚Gedenke ûf scheiden!‘ Transformationen des Tagelieds im 13. Jahrhundert. In: Transformationen der Lyrik im 13. Jahrhundert. Colloquium Wildbad/Rothenburg 2008. Hrsg. von Susanne Köbele/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder [erscheint vorauss. Berlin 2011 (WolframStudien 21)], bes. Abschnitt VII. Hinweise zur Verbindung und Verschränkung von brautmystischem Ich und lyrischem Ich bietet bislang nur die Forschung zur Barockmystik, vgl. Hans-Georg Kemper: Allegorische Allegorese. Zur Bildlichkeit und Struktur mystischer Literatur (Mechthild von Magdeburg und Angelus Silesius). In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug, Stuttgart 1979 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 3), S. 90–125; zur „Ich-Stärke“ der Mystik und zu ihrem ästhetischen Potential, das sich der Versprachlichung mystischer Erfahrung verdanke, vgl. 15
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noch: Speziell in der Mystik scheinen Lizenzen für generische Experimente gegeben zu sein, die für die weltliche Literatur aufschlussreich sind, weil sie deren strukturelle Möglichkeiten bestätigen und zugleich erweitern.17 Konzentriert man sich zunächst auf die mittelhochdeutsche Lyrik, und hier genauer auf den Minnesang, so zeichnet sich ein Prozess fortwährender Narrativierung ab, auf den die Forschung seit langem nachdrücklich aufmerksam gemacht hat.18 Nicht nur, dass sich im Minnesang wie in der Trobadorlyrik zwischen einem genre subjectif und einem genre objectif unterscheiden lässt, wobei das Letztere im Tagelied ein narratives Handlungsmodell verwendet; auch die subjektiven Liedtypen spielen schon in den Frühformen des Kürenbergers mit der Implikation narrativer Entwürfe.19 Sie könDers.: Einleitung. In: Ders., Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Barock-Mystik, Tübingen 1988, S. 1–33, hier S. 23 f. 17 Generische Offenheit bzw. programmatische Verschränkung von narrativen, reflexiven und lyrisch-hymnischen Aussageformen sind besonders für das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg konstatiert worden, vgl. Mohr (Anm. 16); Köbele (Anm. 16), S. 71–73; Ingrid Kasten: Formen des Narrativen in Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit. In: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hrsg. von Claudia Brinker u. a., Bern u. a. 1995, S. 1–18; Helena Stadler: Konfrontation und Nachfolge. Die metaphorische und narrative Ausgestaltung der unio mystica im Fließenden Licht der Gottheit von Mechthild von Magdeburg, Bern u. a. 2001 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 35); sowie den Beitrag von Sandra Linden im vorliegenden Band. 18 In literaturgeschichtlicher Perspektive zuerst maßgeblich Ingeborg Glier: Konkretisierung im Minnesang des 13. Jahrhunderts. In: From Symbol to Mimesis. The Generation of Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Franz H. Bäuml, Göppingen 1984 (GAG 368), S. 150–168. Aus den weiteren, einschlägigen Arbeiten von Volker Mertens sind besonders zu nennen Ders.: Erzählerische Kleinstformen. Die genres objectifs im deutschen Minnesang: „Fragmente eines Diskurses über die Liebe“. In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Hrsg. von Klaus Grubmüller/L. Peter Johnson/HansHugo Steinhoff, Paderborn u. a. 1988 (Schriften der Universität Gesamthochschule Paderborn; Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 49–65; Ders.: Liebesdichtung und Dichterliebe. Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub. In: Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 200–210; Ders.: ‚Biographisierung‘ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire littéraire au moyen âge. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris 16.-18.3.1995. Hrsg. von Ingrid Kasten/Werner Paravicini/ René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 331–344; Ders.: Fragmente eines Erzählens von Liebe. Die Konstruktion von Subjektivität bei Heinrich von Morungen. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u. a., Königsstein i. Ts. 2005, S. 34–55. Mit Blick auf die Symbolfunktion vgl. Jan-Dirk Müller: Ritual, Sprecherfunktion und Erzählung. Zu Literarisierungstendenzen im späten Minnesang. In: Ders., Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von Ute von Bloh/Armin Schulz, Tübingen 2001, S. 177–208. 19 Vgl. bes. der literarhistorische Überblick bei Mertens, Erzählerische Kleinstformen (Anm. 18); aufgrund der frühen narrativen Möglichkeiten auch die Aufnahme des Kürenbergers in die Beispiele der narratologisch-komparatistischen Studie von Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst, Heidelberg 2000 (Bei-
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nen später in der Minnekanzone des Hohen Sanges auf Figuren aus narrativen Kontexten rekurrieren, sie können aber auch das Ich des Sängers oder Minnenden vor dem Hintergrund einer zurückliegenden bzw. zukünftig erhofften Minnegeschichte inszenieren. Diese Möglichkeiten der Einzellieder finden sich auch auf intertextueller Ebene wieder, auf der ebenfalls narrative Anschlussmöglichkeiten gesucht werden. Zwei Richtungen lassen sich dabei ausmachen, die einer externen und einer internen Narrativierung. Walther von der Vogelweide arbeitet in seinen Liedern eine Sängerrolle mit Geschehensfragmenten aus, die einer Profilierung seines Œuvres im Sinne einer äußeren Geschichte zuarbeitet,20 die Neidhartlyrik scheint dagegen mit ihrer Dörperwelt und den sich darin abspielenden Ereignissen die narrative Struktur stärker in sich aufzunehmen, indem sie eine regelrechte Diegese des Sanges konstituiert.21 Schon diese narrativen Möglichkeiten sind derart ausgeprägt, dass es fast verwundert, dass sich im Deutschen kaum gemischte Formen wie die mittellateinischen Prosimetren oder die vidas oder razos der Romania finden. Eine Ausnahme bildet indes der Frauendienst Ulrichs von Liechtenträge zur neueren Literaturgeschichte 171), hier S. 35. Dass die Gleichsetzung des genre objectif mit narrativen und des genre subjectif mit nicht-narrativen Typen unzutreffend vereinfachend ist, ergibt sich als Konsequenz aus Warning (Anm. 10) auf der Basis des sujetBegriffs Lotmans. Als begriffsgeschichtlicher Überblick zur älteren germanistischen Mediävistik Hildegard Janssen: Das sogenannte „genre objectif“. Zum Problem mittelalterlicher literarischer Gattungen dargestellt an den Sommerliedern Neidharts, Göppingen 1980 (GAG 281), S. 40–67. 20 Vgl. zu den Möglichkeiten einer biographisch-äußerlichen Organisation grundsätzlich der Begriff der kommunikativen Wahrheit, der von der objektiven Wahrheit absehen kann, bei Wolfgang Haubrichs: Die Epiphanie der Person. Zum Spiel mit Biographiefragmenten in mittelhochdeutscher Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Elisabeth Andersen u. a. (Anm. 18), Tübingen 1998, S. 129–147, hier S. 131–133, sowie die Beobachtung, dass das biographische Ich im Laufe des 13. Jahrhunderts zugunsten anderer Narrativierungsmöglichkeiten verschwindet (ebd., S. 147). Auf der Basis der – freilich anfechtbaren (vgl. Anm. 19) – Unterscheidung in objektiv-narrative und subjektiv-lyrische Liedtypen die berechtigte Forderung von Manfred Eikelmann: wie sprach sie dô? war umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling/Peter Strohschneider, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 19–42, „den gesamten Bestand von Erzählabläufen und Erzählansätzen der Minnekanzone ins Blickfeld zu rücken und in seinen Erscheinungsformen zu analysieren“ (S. 21). Als konzeptioneller Versuch am Beispiel Walthers von der Vogelweide Hartmut Bleumer: Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang. In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hrsg. von Helmut Birkhan, Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse. Sitzungsberichte 721), S. 83–102. 21 Vgl. Müller (Anm. 18); Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters, Tübingen 2008 (MTU 136), zu Sujet, Zeit und Raum S. 102–136.
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stein mit seiner Kombination aus Autonarration und Minnesang, der am Ende des 13. Jahrhunderts wiederum den Züricher Minnelyriker Hadlaub zu seinen Erzählliedern angeregt hat.22 Erst später wird die Möglichkeit der Narrativierung der Lyrik wieder deutlicher genutzt, wobei sie ein biographisches Schema zur Œuvreprofilierung verwendet: Zu denken ist hier an Oswald von Wolkenstein und in Ansätzen vielleicht auch an Hugo von Montfort.23 In der Rezeption des Hohen Sanges entsteht parallel dazu nachträglich die Möglichkeit der lyrisch-epischen Hybridform der Minnesängerballade, die lyrische Motive sanglich narrativiert.24 Dabei arbeiten auch hier beide Formen wiederum mit den Möglichkeiten von externer und interner Narrativierung. Aus ihnen bilden sich interessante Kurzschlüsse, die erzähltheoretisch als Metalepsen zu bezeichnen wären, nur dass sich die Ebenenübergänge hier nicht etwa zwischen erzählter und wirklicher Welt vollziehen, sondern zwischen Lyrik und Epik: Die Ballade zieht den Sänger ins Lied und gibt ihm eine Geschichte, die biographisch strukturierten Œuvres projizieren dagegen das Lied in die Realität, indem sie mit der Illusion arbeiten, Stationen eines wirklichen Lebens zu repräsentieren. Die Möglichkeit der zuletzt genannten Biographisierung hängt augenscheinlich mit der Kategorie des lyrischen Ichs zusammen. In der weltlichen deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts ist die Lyrik der Ort der Ich-Rede schlechthin, während es in den epischen Texten zunächst keinen Ich-Erzähler gibt.25 Hinzu kommt, dass die lyrische Ich-Rede eine ästhetiZum Zusammenhang Volker Mertens: ‚Biographisierung‘ (Anm. 18), hier S. 338–340; Ders., Liebesdichtung und Dichterliebe (Anm. 18), hier S. 203–210. 23 Vgl. parallel hierzu die Fallbeispiele aus der italienischen Lyrik des 15. Jahrhunderts bei Ulrich Schulz-Buschhaus: Drei Figuren des Ich in der italienischen Renaissance-Dichtung. Berni – Bembo – Ariost. In: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis. Hrsg. von Alois Hahn/Volker Kapp, Frankfurt a. M. 1987 (stw 643), S. 265–280. 24 Vgl. zur Forschung Hanno Rüther: Der Mythos von den Minnesängern. Die Entstehung der Moringer-, Tannhäuser- und Bremberger-Ballade, Köln, Weimar, Wien 2007 (Pictura et poesis 23) S. 3–13, 20–24, 141–150 u. 269–272. 25 Dessen prekären Status markiert literarhistorisch am Beispiel eines geistlichen Problems der Gute Gerhart Rudolfs von Ems. Vgl. zu diesem Erzählproblem Hartmut Bleumer: Klassische Korrelation im ‚Guten Gerhart‘. Zur Dialektik von Geschichte und Narration im Frühwerk Rudolfs von Ems. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, S. 95–112. Im Gegenzug zum weitgehenden Ausfall des Ich-Erzählers in der weltlichen Literatur zeigen sich im geistlichen Diskurs spätestens mit dem vierten Laterankonzil von 1215, das die jährliche Beichte verbindlich macht, verstärkte Bemühungen um (auto-)biographische Reflexion und Selbstthematisierung, vgl. hierzu die grundlegenden Arbeiten von Alois Hahn, bes. Ders.: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse. Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 407–434; Ders.: Identität und Selbstthematisierung. In: Hahn/Kapp (Anm. 23), S. 9–24; Ders.: Biographie und Lebenslauf. In: Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Hrsg. von Hanns-Georg Brose/ 22
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sche Erfahrung ermöglicht, deren Intensität die Frage der Fiktionalität der Textinhalte unterläuft. Es dürfte diese eigentümliche Intensität des lyrischen Ichs sein, die das narrative Experiment des ersten Erzähler-Ichs der mittelhochdeutschen Literatur bei Wolfram von Eschenbach begründet: Das Erzähler-Ich wäre demnach in historischer Hinsicht nicht nur ein narratives Phänomen, es wäre womöglich auch ein transgenerisch begründeter Effekt.26 Gerade deshalb kann sich später z. B. der Ich-Erzähler Ulrich von Lichtenstein unter Anspielung auf Wolframs Selbstinszenierung profilieren. Umgekehrt kommt durch die spielerische Distanzierung von der Rolle des Minnelyrikers bereits der Erzähler Wolframs zu Aspekten einer fiktiven Biographie. Die Erzähltexte spielen die Möglichkeiten solcher lyrischer Übergänge aber auch auf der Ebene der erzählten Figuren aus. Um am Beispiel Wolframs zu bleiben, ist hier für den Parzival etwa auf den merkwürdig unwirklichen Eindruck zu verweisen, den die Figur und Welt Orgeluses machen, als Gawein sich in den Dienst dieser Dame begibt: Die Welt und das Handeln scheinen sich hier zunehmend auch nach minnelyrischen Isotopien zu organisieren, die der Erzählwelt ihre wundersam anmutende Logik verleihen. Ähnlich handeln auch Figuren wie der zeitenthobene Mabonagrin in der Joie de la court-Episode des Erec oder der geheimnisvolle Minneritter Gasozein in der Crône gemäß der Logik lyrisch bekannter Motive oder Dienstmodelle, was die Regeln der epischen Wahrscheinlichkeit auf irritierende Weise außer Kraft setzt.27 Selbst übergreifende Handlungsschemata
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Bruno Hildenbrand, Opladen 1988 (Biographie und Gesellschaft 4), S. 91–105; Ders.: Identität und Biographie. In: Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche. Hrsg. von Monika Wohlrab-Sahr, Frankfurt a. M., New York 1995, S. 127–152. Dass der Ich-Erzähler in dem Moment, wo er mit dem Aufkommen des spanischen Picaro-Romans im 16. Jahrhundert zu einer relevanten literaturgeschichtlichen Größe wird, wiederum an diese Diskurstradition der confessio und ihre wirkmächtigen Prätexte – wie Augustinus’ Confessiones – anknüpft, diskutiert etwa Hans Robert Jauss: Ursprung und Bedeutung der IchForm im Lazarillo de Tormes. In: Romanistisches Jahrbuch 8 (1957), S. 290–311; zum Verhältnis von confessio und Autonarration vgl. T. C. Price Zimmermann: Bekenntnis und Autobiographie in der frühen Renaissance. In: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hrsg. von Günther Niggl, Darmstadt 1989 (WdF 565), S. 343–366. Zum Übergang der erzählerischen Selbststilisierung zur minnesängerischen Ausdrucksform, bei der es zur „Travestie der Gattung Minnesang“ kommt, schon in der klassischen Studie von Michael Curschmann: Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs ‚Parzival‘. In: DVjs 45 (1971), S. 627–667, hier S. 653, vgl. ferner nur Klaus Ridder: Autorbilder und Werkbewusstsein im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. In: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von Joachim Heinzle/ L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), S. 168– 194, hier S. 176–181. Die These von der Entwicklung des Ich-Erzählers aus den Möglichkeiten der lyrischen Ich-Aussage bestätigt sich in der französischen Literatur, wo die lyrische Narration des Roman de la Rose die erste Ich-Erzählung darstellt. Vgl. Nicola Kaminski: „Wâ ez sich êrste ane vienc, Daz ist ein teil unkunt“. Abgründiges Erzählen in der Krone Heinrichs von dem Türlin, Heidelberg 2005 (Beiträge zur Älteren
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des Erzählens, wie das Schema der gestörten Mahrtenehe, lassen sich in diesem Sinne als narrative Varianten der lyrischen Minneparadoxie interpretieren.28 Auf die Spitze getrieben werden diese generischen Übergänge, wenn Diktion und Welt des Erzählens sich insgesamt auf die lyrische Sprache und ihre Semantiken zubewegen, wie dies in der experimentell-offenen Form des Titurel Wolframs vorgeführt wird, der sich in dieser Hinsicht wiederum als Gegenstück zum Tristan mit seinem Versuch verstehen lässt, die generischen Paradoxien in der Geschichte zu veranschaulichen und in der Sprache des Erzählers zu bändigen. In auffällig gegensätzlichem Sinne bleiben beide Erzähltexte lyrisches Fragment.29 Demgegenüber sind mystisches Denken und mystische Erfahrung grundsätzlich nicht an bestimmte Ausdrucksformen gebunden. Gerade dies begründet offenbar ihre Freiheit zum generischen Experiment: Zwar bedieLiteraturgeschichte), S. 175–193; Zum Erec die These eines trobadorhaften Freudekonzeptes in der Joie de la court-Episode von Alois Wolf: Die ‚Große Freude‘. Vergleichende Betrachtungen zur Eros-exsultatio in Minnekanzonen, im Erec und im Tristan. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993), S. 49–79, hier S. 64–66, sowie auch die These einer musikalischen Denkbewegung im Tristan (S. 76–78). 28 Mit Blick auf die französische Literatur ist etwa auf die Narrativierung des lyrischen paradoxe amoureux in der Handlung von Chrétiens Lancelot hinzuweisen, zu dem das Konzept der Tagelied-Minne ein Gegenstück bildet, wie es im Tristanroman zur Anwendung zu kommen scheint. Ein weiteres deutsches Fallbeispiel ist der Moriz von Crâun: Die narrative Umsetzung des lyrischen dienst-lôn-Konzepts führt hier zu Aporien, die auf der Ebene der erzählten Handlung nicht zu lösen sind, vgl. Christa Ortmann: Die Bedeutung der Minne im ‚Moriz von Craun‘. In: PBB 108 (1986), S. 385–407, bes. S. 393–402 mit der These zur Episierung von Minnesangrollen und zum Moriz als Gattungsexperiment. Dorothea Klein präzisiert die lyrische Semantik des dienst-lôn-Modells, deutet dessen in der erzählten Welt generierte Widersprüche jedoch nicht als Folgen von Narrativierung, sondern als parodistische Effekte eines auf seinen Wirklichkeitsanspruch geprüften literarischen Ideals, vgl. Dies.: ‚Mauricius von Craûn‘ oder die Destruktion der hohen Minne. In: ZfdA 127 (1998), S. 271–294. Im Rekurs auf soziologische Arbeiten zur Logik der Gabe argumentiert neuerdings Katharina Philipowski, dass die anökonomische dienst-lôn-Konzeption des Hohen Minnesangs in narrativen Texten als ökonomische Tausch-Relation erscheine, die ihrerseits für das Erzählproblem des Moriz verantwortlich zu machen sei, vgl. Dies.: Aporien von dienst und lôn in lyrischen und narrativen Texten am Beispiel von Mauritius von Craûn und Heidin. In: GRM N. F. 59 (2009), S. 211–238. Für eine Deutung, die den Text als generisches Experiment auffasst, wären allerdings noch entschiedener die zahlreichen heterogenen Minnesangreferenzen und -motive einzubeziehen, die nicht ausschließlich auf das Dienstmodell des Hohen, sondern auch auf das des Frühen Sangs zielen, so schon der Hinweis bei Helmut De Boor: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. II: Die Höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170–1250, 11. Aufl. bearb. von Ursula Hennig, München 1991, S. 138–143, bes. S. 141 f.; sowie Waltraud Fritsch-Rößler: ‚Moriz von Craun‘. Minnesang beim Wort genommen oder Es schläft immer der Falsche. In: Uf der mâze pfat. FS für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Ders. unter Mitarbeit von Liselotte Homering, Göppingen 1991 (GAG 555), S. 227–254. 29 Zu diesem Komplementärverhältnis die Versuche von Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61; Ders.: Titurel. Figurationen der Zeit zwischen Narrativik und Lyrik. In: Liebe, Begehren und Tod in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von John Greenfield, Berlin, New York (im Druck).
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nen sie sich traditioneller Schreibweisen des geistlichen Diskurses wie Predigt, Traktat oder Vita, sofern sie auf gelehrte Kleriker zurückgehen. Mit dem Auftreten von Beginen und Nonnen als Produzentinnen mystischer Texte erweitert sich jedoch das Spektrum der Aussagemöglichkeiten. Neben das diskursiv heterogene Modell des Offenbarungstextes treten insbesondere lyrisch-hymnische Formen: Das zeigen ganz praktisch die Werke von zwei der berühmtesten religiösen Frauen des Mittelalters. Hildegard von Bingen verfasst neben Visionen und Traktaten ein umfangreiches poetisches Werk: Ihre lateinischen Hymnen und Sequenzen gehören traditionell in den Kontext der Messliturgie.30 Von der flämischen Begine Hadewijch sind ebenfalls nicht nur volkssprachliche Visionen und Briefe, sondern auch Lieder überliefert. Ihre Strofische Gedichten werden formal der höfischen Lyrik zugeordnet, weil sie Liedformen der Trobador- und Trouvère-Lyrik übernehmen. Die Mengeldichten gelten dagegen als „gereimte Briefe“ und stehen somit zwischen dem lyrischen und dem Prosawerk Hadewijchs.31 Solche mystische Lyrik ist auch in der Germanistik bereits früh als eigenständige literarische Tradition empfunden und entsprechend gesammelt und ediert worden.32 In der Forschung zum geistlichen Lied hat sie bis heute ihren festen Platz.33 30
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Vgl. zum poetischen Werk Hildegards die Beiträge von Karlheinz Schlager, Barbara Thornton und Barbara Stühlmeyer in: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900sten Geburtstag. Hrsg. von Äbtissin Edeltraud Forster und dem Konvent der Benediktinerinnenabtei St. Hildegard, Eibingen, Freiburg, Basel, Wien 1997; sowie weiterhin die essayistischen Ausführungen von Wolfgang Scherer: Hildegard von Bingen. Musik und Minnemystik, Freiburg i. Br. 1987. Vgl. Paul Mommaers: Art. „Hadewijch.“ In: 2VL 3 (1981), Sp. 368–378, hier Sp. 372; sowie Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 158–232, bes. S. 163–191. Vgl. die Zusammenstellung Geistlicher Lieder bei Wilhelm Wackernagel: Deutsches Lesebuch. Erster Theil: Altdeutsches Lesebuch, 5. Aufl. Basel 1873, Sp. 1177–1182; Karl Bartsch: Lieder der Mystiker. In: Ders., Beiträge zur Quellenkunde der altdeutschen Literatur, Straßburg 1886, S. 311–333; den Abschnitt zu „Gedichten“ bei Wilhelm Preger: Geschichte der deutschen Mystik im Mittelalter. Nach den Quellen untersucht und dargestellt von Dems., II. Theil: Aeltere und neuere Mystik in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts. Heinrich Suso, Leipzig 1881, S. 53–66; Der Cyperwein. Lieder der deutschen Mystik. Ausgewählt und hrsg. von Joseph Bernhart, Paderborn 1940; sowie aus neuerer Zeit: Deutsche Mystik. Hildegard von Bingen, Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart, Johannes Tauler, Rulman Merswin, Heinrich von Nördlingen, Margaretha Ebner, Heinrich Seuse, Christine Ebner, Lieder. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Louise Gnädinger, 2. Aufl. Zürich 1994 (Manesse-Bibliothek der Weltliteratur), S. 471–489. Vgl. u. a. die Arbeiten von Eleonore Benary: Liedformen der deutschen Mystik im 14. und 15. Jahrhundert, Diss. Greifswald 1936; Johannes Janota: Studien zu Funktion und Typus des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter, München 1968 (MTU 23), S. 245–273; Ruth Meyer: Maister Eghart sprichet von Wesen bloss. Beobachtungen zur Lyrik der deutschen Mystik. In: ZfdPh 113 (1994, Sonderheft), S. 63–82; Burghart Wachinger: Gattungsprobleme beim geistlichen Lied des 14. und 15. Jahrhunderts. In: Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. FS für Johannes Janota. Hrsg. von Horst Brunner/Werner Williams-Krapp, Tübingen 2003, S. 93–107; sowie neuerdings die Freibur-
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Komplementär zu den poetisch verdichteten Formen mystischen Denkens im geistlichen Liedgut lässt sich das Phänomen einer lyrisch affizierten Prosamystik beschreiben, die sich als Brautmystik sowohl gedanklich als auch sprachlich lyrischen Prätexten verdankt: dem biblischen Hohen Lied und dem Psalter sowie weltlicher Liebesdichtung. Während die motivgeschichtlichen, intertextuellen und metaphorischen Dimensionen dieses Zusammenhangs zum Teil ausführlich beschrieben worden sind,34 fehlt es bislang an Untersuchungen jener ästhetischen Effekte, die sich aus den Interferenzen von lyrischem, narrativem und reflexiv-didaktischem Diskurs insbesondere für die Viten- und Offenbarungsliteratur ergeben. So wären etwa die Liedinserate in den narrativen Kurzviten der dominikanischen Schwesternbücher hinsichtlich ihrer funktionalen und ästhetischen Aspekte zu beschreiben.35 Komplexer noch ist das Verhältnis der Gattungsdiskurse ger Dissertation von Judith Theben: Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen, Texte, Repertorium, Tübingen 2010 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2). Für einige prominente und besonders komplexe Lieder der Mystiker wie das Granum Sinapis oder Von dem Überschall ist der Liedstatus hingegen in Zweifel gezogen worden, vgl. Kurt Ruh: Mystische Spekulation in Reimversen des 14. Jahrhunderts. In: Beiträge zur weltlichen und geistlichen Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. Würzburger Colloquium 1970. Hrsg. von Dems./Werner Schröder, Berlin 1973, S. 205–230. 34 Vgl. bes. die umfassenden motiv- und wortgeschichtlichen Arbeiten von Friedrich Ohly: Du bist mein, ich bin dein. Du in mir, ich in dir. Ich du, du ich [1975]. In: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruberg/Dietmar Peil, Stuttgart, Leipzig 1995, S. 145–176; Ders., Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen [1970]. In: Ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 2., unveränd. Aufl. Darmstadt 1983, S. 128–155; sowie Ders.: Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik. In: Collectanea Philologica. FS für Helmut Gipper zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Günther Heintz/Peter Schmitter, Bd. 2, Baden-Baden 1985 (Saecula spiritalia 15), S. 403–613; zu den terminologischen Übernahmen aus dem Hohen Lied in die weltliche mittellateinische und altfranzösische Liebesdichtung vgl. Peter Dronke: The Song of Songs and Medieval Love-Lyric. In: The Bible and Medieval Culture. Hrsg. von Willem Lourdaux/Daniel Verhelst, Löwen 1979 (Mediaevalia Lovaniensia 1,7), S. 236–262; zu den biblischen Prätexten des Fließenden Lichts pointiert Andersen (Anm. 16), S. 147–181; zum Verhältnis von Mystik und Minnesang vgl. grundlegend Haug (Anm. 16); sowie Suerbaum (Anm. 16, im Druck). Ohne generische Perspektive bleibt die neueste Arbeit von Christine Stridde, die weniger den gemeinsamen brautmystischen Hintergrund als vielmehr die differenten sprachpragmatischen Strategien von volkssprachlicher Hohelieddichtung und mystischem Offenbarungstext betont, vgl. Dies.: Verbalpräsenz und göttlicher Sprechakt. Zur Pragmatik spiritueller Kommunikation ‚zwischen‘ St. Trudperter Hohelied und Mechthilds von Magdeburg Das Fließende Licht der Gottheit, Stuttgart 2009, S. 122–146 u. 171–292. 35 So das in die Vita der Engelthaler Nonne Adelheit eingefügte Lied, vgl. Der Nonne von Engelthal Büchlein von der Genaden Uberlast. Hrsg. von Karl Schröder, Tübingen 1871 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 108), S. 29 f.; oder das Lied der Tösser Schwester Mezzi Sidwibrin, vgl. Das Leben der Schwestern zu Töß. Beschrieben von Elsbet Stagel. Samt der Vorrede von Johannes Meier und dem Leben der Prinzessin Elisabet von Ungarn. Hrsg. von Ferdinand Vetter. Mit zwei Tafeln in Lichtdruck und einer Nachbildung der Platte des Fürstengrabes von Töß, Berlin 1906 (DTM 6), S. 28 f.; vgl. auch die Hinweise bei Preger (Anm. 32), S. 56 f. Entsprechende Untersuchungen können allerdings
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in Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit: Hier wird wenigstens in den ersten beiden Büchern aus dem distinkten Nebeneinander von Prosa- und Liedform eine programmatische Verschränkung. Lieder, Gebete und dialogische Wechselgesänge stehen nicht nur unmittelbar neben reflexiven und narrativ-visionären Texten, vielmehr sind die Textsorten zum Teil regelrecht ineinander verzahnt.36 Noch einmal anders stellt sich die Verschränkung von lyrischer Diktion und narrativer Struktur in Seuses Vita dar. Die narrative Konstruktion der spirituellen Biographie des Protagonisten, des dieners, ist hier u. a. von minnesängerischen Topoi her entworfen: Der mystische kêr wird als Bändigung des wilden muots apostrophiert, die ewige wîsheit erscheint dem diener als Minnedame, die sich ihm willkürlich zeigt oder sich vor ihm verbirgt, die Beziehung ist insgesamt als Fernminne stilisiert.37 Vor dem Hintergrund der skizzierten Beispielfälle wäre die vorläufige Hypothese zu formulieren, dass sowohl (auto-)narrative als auch mystische Texte in dem Maße vom Spektrum lyrischer Ausdrucksmöglichkeiten Gebrauch machen, wie sie versuchen, die emotional existentielle Erfahrung von Liebe
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an die Forschung zu der in den Schwesternbüchern thematisierten Gnade des jubilus anknüpfen, vgl. Herbert Grundmann: Jubel. In: FS für Jost Trier zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1954. Hrsg. von Benno von Wiese/Karl Heinz Borck, Meisenheim a. Glan 1954, S. 477–511; Otto Langer: Mystische Erfahrung und spirituelle Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München 1987 (MTU 91), S. 149 f. u. 232–234; Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter, Kassel u. a. 2004 (Musiksoziologie 13), S. 286– 317; und den Beitrag von Burkhard Hasebrink in diesem Band. Die Grenze zwischen Sang und Rede wird u. a. dadurch bis zur Unkenntlichkeit verwischt, dass die Prosapartien Kolonreime, d. h. Reime und Assonanzen in syntaktisch markierten Positionen, aufweisen. Zu den programmatisch ‚fließenden‘ Gattungsgrenzen und den einzelnen Schreibweisen im Fließenden Licht liegen mittlerweile eine ganze Reihe von Überlegungen vor, vgl. grundsätzlich zum Gattungsspektrum des Fließenden Lichts Mohr (Anm. 16); zu Formen des Narrativen Kasten (Anm. 17); sowie Stadler (Anm. 17); zur Klage Burkhard Hasebrink: „Ich kann nicht ruhen, ich brenne“. Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (TMP 12), S. 91–107; zu Tageliedmotiven Suerbaum (Anm. 16). Eine Systematisierung der heterogenen Phänomene steht jedoch aus. Einen wegweisenden Ansatz für eine aus dem Verhältnis von narrativem und lyrischem Diskurs entworfene Textpoetik entwickelt der Beitrag von Sandra Linden in diesem Band. Vgl. grundsätzlich zur höfischen Diktion der Vita Maria Bindschedler: Seuses Begriff der Ritterschaft. In: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag. 1366–1966. Gesammelt und hrsg. von P. Dr. Ephrem M. Filthaut OP, Köln 1966, S. 233–239; zur Minnekonzeption der Vita, wenngleich ohne jeden intertextuellen Hintergrund Anna Margaretha Diethelm: Durch sin selbs unerstorben vichlichkeit hin zuo grosser loblichen heiligkeit. Körperlichkeit in der Vita Heinrich Seuses, Bern u. a. 1988 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 1), S. 71–102; pointiert im o. g. skizzierten Sinne demnächst Bruno Quast: Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie. In: Anfang und Ende. Finalität und Kausalität. Irseer Tagung 2010. Hrsg. von Udo Friedrich/Andreas Hammer/Christiane Witthöft (in Druckvorbereitung).
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zu biographisieren.38 In beiden Fällen läge dann eine Interferenz von narrativen und lyrischen Möglichkeiten zugrunde. Zur Beschreibung der ebenso dynamischen wie komplexen Korrelationsmöglichkeiten von Lyrik und Narrativik in lyrischen, narrativen und mystischen Texten ist nun zweifellos ein elaboriertes methodisches Instrumentarium nötig. Dass es gegenwärtig im Bereich der neueren Literaturwissenschaften vorbereitet wird, ist kein Zufall und dürfte damit zusammenhängen, dass der eingangs angesprochene Institutionenbegriff auch hier in seiner historischen Problematik virulent ist. Jedenfalls machen die neueren lyrik- und erzähltheoretischen Diskussionen zum Verhältnis von Narrativik und Lyrik methodische Angebote, die den historisch-generischen Übergangsphänomenen des Mittelalters und der frühen Neuzeit geradezu auffällig entgegenkommen, ebenso wie auch sie umgekehrt in historischer Perspektive auf ihre Implikationen hin durchsichtig werden. II. Narratologie und Lyriktheorie Der konzeptionelle Zusammenhang von Lyrik und Narrativik kommt in letzter Zeit durch einen Umweg in den Blick: durch ein Modell der Lyrikanalyse, das als rein methodischer Vorschlag zunächst gar nicht als Beitrag zu einer theoretischen Neukonzeptualisierung der Gattungsbegriffe gemeint war. Weil der Begriff des lyrischen Ichs vor allem in der neugermanistischen Interpretationspraxis anhaltend Schwierigkeiten macht,39 zugleich aber auch die theoretischen Bemühungen um ein angemessenes Modell der Lyrikanalyse auf eine höchst charakteristische Weise hinter den ästhetischen Möglichkeiten der Lyrik zurückbleiben,40 schien es naheliegend, die weit 38
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Forschungsgeschichtlich ließe sich hierfür auf zwei Arbeiten zur „Dichterliebe“ und „Gottesliebe“ von Kurt Ruh verweisen, die – ohne einen übergreifenden Zusammenhang explizit zu thematisieren – die Umsetzung irdischer bzw. spiritueller Liebeserfahrung in narrativbiographische Strukturen beschreiben, und zwar jeweils im unterschiedlich ausgeprägten Rekurs auf lyrische Diktionen, vgl. Ders. (Anm. 8); sowie Ders.: Gottesliebe bei Hadewijch, Mechthild von Magdeburg und Marguerite Porete. In: Romanische Literaturbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. FS für Franz Rauhut zum 85. Geburtstag. Hrsg. von Angel San Miguel/Richard Schwaderer/Manfred Tietz, Tübingen 1985, S. 243–254; ähnlich schon Ders. (Anm. 15). Vgl. die materialreiche Problemübersicht von Sandra Schwarz: Stimmen – Theorien lyrischen Sprechens. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Hrsg. von Hans Vilmar Geppert/Hubert Zapf, Bd. 3, Tübingen, Basel 2007, S. 91–123. Vgl. das Fazit bei René Wellek: Gattungstheorie, das Lyrische und „Erlebnis“. In: Ders., Grenzziehungen. Beiträge zur Literaturkritik, Stuttgart u. a. 1972 (Sprache und Literatur 75), S. 106–124, hier S. 124, sowie die identischen Ausgangspunkte in der Studie von Müller-Zettelmann (Anm. 19), S. 1–3, und dem Aufriss von Werner Wolf: The Lyric. Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation. In: Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Hrsg. von Eva Müller-Zettelmann/Margarete Rubik, Amster-
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elaborierteren Ansätze der Erzähltheorie und Narratologie für die Belange der Gedichtanalyse umzuformulieren. Solch ein methodischer Vorschlag ist mehr als nur hilfreich, denn er hat einen ebenso unfreiwilligen wie interessanten Effekt. Wenn man nämlich, mit Peter Hühn und Jörg Schönert, die narratologische Basisunterscheidung in histoire und discours auch für lyrische Texte verwendet und diese auf der Grundlage der Sequentialität eines Geschehens einerseits und der Stratifikation von diskursiven Vermittlungsebenen andererseits beschreibt, in der die Kategorien von Modus und Stimme wirksam werden,41 dann macht dies den Begriff des lyrischen Ichs nicht einfach verzichtbar. Obwohl die Abschaffung des Begriffs anfangs die ausdrückliche Absicht eines der Verfasser war,42 wird man konstatieren dürfen, dass sein intentionales Zentrum im Zuge der Entdeckung eines neuartigen narrativen Spannungsverhältnisses auf der discours-Ebene gerade wieder auftaucht. Die besondere Intensivierung des Ichs in der Lyrik wird beschreibbar in einer Selbstzuschreibung einer Geschichte.43 Deren eigentümliche Schwebe beruht jedoch auf einer Paradoxie; weil sich die narrative Selbstzuschreibung weitestgehend auf der Diskursebene vollzieht und dazu von der histoire-Ebene gerade absehen kann, ist diese Selbstzuschreibung einer Geschichte im klassisch-narratologischen Sinne geschichtslos. Der Begriff des lyrischen Ichs wäre damit in seinen populären Verfallsformen gewiss zu verwerfen. Aber ebenso wenig wie narratologische Versuche der Lyrikanalyse dazu führen, lyrische Texte als Varianten von Erzähltexten aufzufassen, genauso wenig schaffen sie das lyrische Ich ab: Sie führen vielmehr zur Präzisierung des Wahrnehmungseffektes, den die ältere Forschung schon mit
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dam, New York 2005 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 89), S. 21–56, hier S. 22 f. Vgl. als stark verknappendes Fazit voraufgehender Arbeiten Peter Hühn/Jörg Schönert: Einleitung. Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dens./Malte Stein, Berlin, New York 2007 (Narratologia 11), S. 1–18. Zuvor bes. Dies.: Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34 (2002), S. 287–305. Jörg Schönert: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis u. a., Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 289–294. Die Arbeiten Peter Hühns kommen ohne eine solche dezidierte Absage aus, da seine Argumentationen eher auf eine narratologische Neuformulierung hinauslaufen, indem er ein narrationsfähiges, emergentes Kompositionssubjekt ansetzt, vgl. etwa Ders.: Plotting the Lyric. Forms of Narration in Poetry. In: Müller-Zettelmann/Rubik (Anm. 40), S. 147–172, hier S. 152. Vgl. Hühn/Schönert, Zur narratologischen Analyse (Anm. 41), S. 300. Parallel zum Begriff der Selbstzuschreibung der Geschichte für den Bereich der narrativen Texte der vergleichbare Begriff der Erzählgeschichte durch Wolf Schmid: Die narrativen Ebenen „Geschehen“, „Geschichte“, „Erzählung“ und „Präsentation der Erzählung“. In: Wiener slawistischer Almanach 9 (1982), S. 83–110, hier S. 95; Ders.: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2005 (Narratologia 8), S. 268.
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dem Begriff des lyrischen Ichs zu fassen meinte. Darum ist diese Präzisierung auch insbesondere in historischer Hinsicht nutzbar. Schon Margarete Susman hatte versucht, den Begriff gegenüber seinen älteren Vorgaben stärker historisch anzulegen. Vor dem Hintergrund der aktuellen kulturhistorischen Orientierung der Geisteswissenschaften im Allgemeinen und der Mediävistik im Besonderen ist darum nicht nur die eher triviale Unterscheidung in die biographische Person des Dichters und das künstlich erzeugte lyrische Ich interessant, für die Susman in der Regel zitiert wird. Vielmehr liegt dieser Unterscheidung die Auffassung zugrunde, dass es sich beim lyrischen Ich um eine kulturhistorisch bedingte Symbolfunktion handelt. Das Beispiel, an dem diese Symbolfunktion zuerst namentlich verdeutlicht wird, ist Walther von der Vogelweide.44 Weil Susmans kulturhistorischen Grundvorstellungen teleologisch ausgerichtet sind, billigt sie der Lyrik in der Moderne wieder jene Funktion zu, die ursprünglich dem Mythos zugekommen sei. Lyrik ist demnach eine symbolische Form und ermöglicht in moderner, künstlich erzeugter Analogie zum Mythos eine ästhetische Präsenzerfahrung, in der Transzendenz und Immanenz nach ihrer historischen Differenzierung wieder verschmelzen.45 Im lyrischen Ich kulminiert diese Präsenzfigur insofern, als hier paradoxerweise gerade durch die Subjektivität des lyrischen Ausdrucks eine Objektivitätserfahrung erreicht wird; das Ich der Lyrik ist in seiner vollständigen Vereinzelung zugleich verallgemeinerbar, es spricht unmittelbar für alle. Es ist leicht zu sehen, dass Susman hier ihre eigenen ästhetischen Normvorstellungen als historisches Modell ausgibt.46 Darum wirken ihre Ausführungen zur symbolischen Wirkung der Lyrik insgesamt höchst spekulativ. Das erklärt auch, warum dieser dominante, geradezu pathetisch akzentuierte Aspekt ihres Buches – im Gegensatz zu der zwar nachgeordneten, aber Margarete Susman: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart 1910 (Kunst und Kultur 9), der Begriff des lyrischen Ichs zuerst, mit dem nicht nachgewiesenen Zitat von Walthers Elegie, S. 16 f. Vgl. zur voraufgehenden Theoriegeschichte im Überblick von Ludwig Völker: Einleitung. In: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Durchgesehene und bibliographisch ergänzte Ausgabe. Hrsg. von Dems., Stuttgart 2000 (RUB 8657), S. 7–25, sowie in der Textauswahl besonders der Begriff der Ichheit des Lyrikers bei Friedrich Nietzsche (ebd., S. 246 f.). 45 Vgl. Susman (Anm. 44), S. 13–15, 37 f., zur Verschmelzung von Transzendenz und Immanenz auf der Basis des Symbolbegriffs S. 21–23, etwa: „Darum sind die Symbole die eigentlichen Engel, die beständigen Mittler zwischen Himmel und Erde“ (S. 22). Susmans spekulativ vorgetragene Thesen bleiben ohne Begründung, sie ließen sich gleichwohl mit Hilfe einer strukturalen Argumentation fundieren, vgl. zur Illustration etwa das konvergente Diktum Jurij M. Lotmans: Die Entstehung des Sujets typologisch gesehen. In: Ders., Kunst als Sprache. Untersuchungen zum Zeichencharakter von Literatur und Kunst, Leipzig 1981 (RUB 905), S. 175–204, hier S. 184: „Es ist nicht zu übersehen, daß die Lyrik, in der sich das Sujet auf die Formel ‚ich=er (sie)‘ oder ‚ich=du‘ bringen läßt, in dieser Hinsicht das ‚mythologischste‘ Genre der modernen Literatur darstellt.“ 46 Im Hintergrund steht als Modell Stefan George, vgl. dazu Susman (Anm. 44), S. 103–125. 44
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leicht fasslichen Basisdifferenzierung zwischen lyrischer Aussageinstanz und historischer Dichterperson – kaum ausdrückliche Beachtung gefunden hat. Freilich sehr zu unrecht. Denn tatsächlich ist es das Problem der grundlegenden ästhetischen Konzeption der Lyrik und nicht allein das der Sprechinstanzen, um das sich dann auch die weitere Diskussion der lyrischen IchEffekte eigentlich dreht. Deutlich wird dies schon an den Präzisierungen von Oskar Walzel. Für ihn erweist sich das lyrische Ich nicht als Aussageinstanz, sondern eher als Qualität des lyrischen Textes, weshalb lyrische IchHaftigkeit gerade auch solchen Gedichten eignen kann, die diese Qualität sogar ohne die Einschaltung einer expliziten grammatikalisch fassbaren IchInstanz hervorbringen.47 Wie diese Qualität dann aber bestimmbar sein soll, wenn man ihrer nicht einmal über die Ich-Instanz habhaft werden kann, bleibt in der Folge eine strittige Frage. Sie nochmals zu verfolgen lohnt, weil in ihr von Anfang an uneingesehene narrative Implikationen wirksam sind, die erst in der jüngeren Diskussion an der Oberfläche des Theoriediskurses sichtbar werden. Die Behauptung einer solchen narrativen Implikation der Lyrik lässt sich zuerst mit Hilfe der Thesen von Emil Staiger illustrieren. Staiger gelingen am Beispiel subtiler Beobachtungen zu Brentano und Goethe grundsätzliche Einsichten in die semantischen Mechanismen von lyrischen Klang- und Zeiteffekten.48 Deren strukturelle Basis bleibt durch Staigers emphatischen Stil, obwohl er sie praktisch verwendet, gleichwohl theoretisch unaufgeklärt. Staiger projiziert sein hermeneutisches Ideal eines vollständigen Verstehens nämlich mit derartiger Verve auf die Lyrik, dass bei ihm die hermeneutische Paradoxie der Texte unversehens zum Dilemma verflacht.49 Die präsentischen Möglichkeiten der lyrischen Klangsemantik sind demnach für Staiger zwar ein Effekt einer besonders intensiven ästhetischen Zeitaneignung, aber anstatt sie damit auch konsequent als Endpunkt einer hermeneutischen Tätigkeit anzusehen, setzt er die Lyrik an deren Anfang in ein Diesseits der Hermeneutik. Darum beschreibt Staiger die Möglichkeiten von narrativer und lyrischer Zeitaneignung in Abgrenzung voneinander,50 obwohl seine Denkweise eigentlich eine dialektische ist: Für Staiger ist in der lyrischen Qualität die narrative Distanz aufgeho47 48 49 50
Oskar Walzel: Schicksale des lyrischen Ichs. In: Ders., Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung, Leipzig 1926, S. 260–276. Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, 3. Aufl. Zürich 1963, bes. zur Musikalität der Sprache Brentanos, S. 29–44, und daran anschießend zur Zeitwahrnehmung S. 70–78. Vgl. dazu die berühmte Formulierung: „Doch über lyrische Verse reden, sie beurteilen und das Urteil gar begründen, ist fast nicht möglich.“ Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, 4. Aufl. Zürich 1959, S. 49 f. Vgl. ebd., etwa S. 87: „Der Epiker nämlich vertieft sich nicht erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie der räumliche Abstand erhalten.“
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ben.51 Das impliziert nun aber zweifellos, dass die lyrische Qualität eines Textes die narrative Struktur nicht einfach abweist, sondern sie voraussetzt. Eben deshalb kann, wie Staiger selbst andeutet, die lyrische Qualität gerade auch in poetischen Narrationen emergieren.52 Weil die besondere ästhetische Dichte des lyrischen Präsenzeffektes jedoch mit semantischer Unmittelbarkeit verwechselt wird, bleibt der Zusammenhang verdeckt. Die gleiche dialektische Denkfigur findet sich später auch bei Käte Hamburger: in ihrer oft zum Missverständnis verkürzten Bestimmung des lyrischen Ichs als reales Aussagesubjekt.53 Dabei geht es natürlich gerade nicht um die Rückkehr zur Gleichsetzung von Text-Ich und historischem Dichter, sondern um die Aufklärung der sprachlichen Struktur, die jenen ästhetischen Unmittelbarkeitseffekt hervorruft, der die besagte Überblendung nahelegt.54 Gérard Genette hat diesen ästhetischen Effekt mit genügender Deutlichkeit hervorgehoben, als er dazu seinen Begriff der Diktion im Gegenzug zur Fiktion bildete. Von Genette ausgehend lassen sich darum die Begriffe Hamburgers nachträglich deutlicher konturieren. So wie Genette den Begriff der Fiktion unter Bezug auf Hamburger als Mimesis auffasst, so lässt sich die Diktion als Variante von Hamburgers implizitem Begriff der Poiesis auffassen.55 Weiter führt dann die mimetische Fiktion auf den Begriff der Fiktionalität, während die poetische Diktion auf den der Ästhetizität führt. Damit deutet sich aber auch hier noch einmal die latente Korrelation von Narrativik und Lyrik an. Narrative Fiktionen und lyrische Diktionen werden bei Genette gegeneinander differenziert, so wie zuvor 51
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In diesem Sinne ist erst seine Ergebnisformulierung sinnvoll, in der das Lyrische nicht den Anfang, sondern den Endpunkt der Poesie darstellt, womit diese freilich zu ihrem Ursprung zurückkehrt: „Das Lyrische also ist der letzte erreichbare Grund alles Dichterischen“ (ebd., S. 207). Vgl. ebd., S. 237: „Lyrisch, episch, dramatisch sind also keine Namen von Fächern, in denen man Dichtungen unterbringen kann. […] Die Adjektive lyrisch, episch, dramatisch […] erhalten sich als Namen einfacher Qualitäten, an denen eine bestimmte Dichtung Anteil haben kann oder auch nicht. […] Wir können von lyrischen Balladen, dramatischen Romanen, epischen Elegien und Hymnen sprechen.“ Offenkundig ist der Bezug zu Formulierungen Goethes, vgl. Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan. In: Ders., Werke II. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, 15. Aufl. München 1994, S. 187 f. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 4. Aufl. Stuttgart 1994, bes. S. 188, 215–221. Vgl. ebd., S. 12, 219 f. Vgl. Gérard Genette: Fiktion und Diktion. Aus dem Französischen von Heinz Jatho, München 1992 (Bild und Text), S. 16–33, im Rekurs auf die Kritik Hamburgers (Anm. 53), S. 16–32, an der aristotelischen Verengung der Poiesis durch die Dominanz des MimesisBegriffs und ihr gegenläufiges Votum, die Lyrik nicht von dem, was sie sprachlich hervorbringt her aufzufassen, sondern selbst als sprachliche Hervorbringung anzusehen, d. h. die dichtende Sprache als Teil des allgemeinen Aussagesystems der Sprache zu betrachten (S. 188). Dies impliziert bereits bei Hamburger, dass der Poiesis ihre weitere Wortbedeutung des herstellenden Tuns zurückzugeben ist, weil sie sich auch auf den Sprachakt selbst beziehen lässt. Der von Genette gewählte Terminus Diktionsliteratur (S. 31) macht dies deutlicher, ist freilich unfreundlich-technisch.
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bei Hamburger die Narrativik als fiktional und die Lyrik als nicht-fiktional apostrophiert wurde. Wie später bei Genette führt dieses Nicht-Fiktionale der Lyrik aber schon bei Hamburger zu keinem einfachen Oppositionsverhältnis zwischen Lyrik und fiktionalen Erzählungen. Darum ist es folgerichtig, wenn Hamburger sich am Ende ihres Buches episch-lyrischen Mischformen zuwendet, und zwar einerseits den lyrischen Inseraten in den Romanen Goethes und Eichendorffs und anderseits der lyrisch-epischen Übergangsform der Ballade. Gerade am Beispiel dieser generischen Interferenztypen findet Hamburger ihre Kategorien bestätigt, fordert indes etwa für Eichendorff entschieden dazu auf, ihre Begriffe in der interpretatorischen Praxis miteinander in Relation zu setzen.56 Was damit aber offensichtlich bei Hamburger fehlt, ist eine Struktur, die eben diese Relationierung und ihre Dynamiken beschreibt. Und wie es scheint, wird genau diese Struktur durch die aktuelle Annäherung von Lyriktheorie und Narratologie zugänglich. Die Versuche einer erzähltheoretischen Erschließung des Lyrikproblems beginnen nicht erst unter dem Einfluss der strukturalistischen Narratologie.57 Vielmehr lassen sich gerade aus der Sicht der typologisierenden Erzähltheorie im Gefolge Franz K. Stanzels deutliche Parallelelen zur Lyriktheorie beobachten. Weil sich die erzähltypologische Perspektive vor allem auf die Erzählinstanz fokussiert, kommen insbesondere durch sie die Übereinstimmungen mit den Konfigurationen der lyrischen Aussageinstanz in den Blick.58 Durch die besondere Autoreflexivität der lyrischen Aussage bleiben aber die Gemeinsamkeiten zwischen den Theoriebereichen auf eine charakteristische Weise unbestimmt. So wie das ‚Ich‘ in der Lyrik in besonderer Weise als Leerdeixis fungiert,59 d. h. seine pragmatische Eigenart, seinen Sprecher als Referenzpunkt zu markieren, durch Unterfüllung auf seine Textumgebung ausdehnt, so wirkt der lyrische Text insgesamt wie eine diskursive 56 57
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Vgl. Hamburger (Anm. 53), S. 231. Vgl. zu den Tendenzen die Hinweise bei Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Narratologie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera Nünning/ Ansgar Nünning, Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), S. 129–153. Vgl. Walter Bernhart: Überlegungen zur Lyriktheorie aus erzähltheoretischer Sicht. In: Tales and „their telling difference“. Zur Theorie der Geschichte der Narrativik. FS zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hrsg. von Herbert Foltinek/Wolfgang Riehle/ Waldemar Zacharasiewicz, Heidelberg 1993 (Anglistische Forschungen 221), S. 359– 375, hier S. 362 am Beispiel der Abgrenzungsschwierigkeiten von Lyrik und Epik bei Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 1989, sowie S. 366 bei Kaspar H. Spinner: Die Struktur des lyrischen Ichs, Frankfurt a. M. 1975 (Studien zur Germanistik; Studienreihe Humanitas). Vgl. einführend Eva Horn: Subjektivität in der Lyrik. ‚Erlebnis und Dichtung‘, ‚lyrisches Ich‘. In: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Miltos Pechlivanos u. a., Stuttgart, Weimar 1995, S. 299–310, hier S. 304–306. Der Begriff in der Lyrikanalyse zuerst bei Spinner (Anm. 58), S. 26.
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Leerstelle, welche die Regeln anderer Diskurse attrahiert und zugleich überschreitet. Karlheinz Stierle hat in diesem Sinne von der Lyrik als transgressivem Anti-Diskurs gesprochen.60 Dabei bildet jedoch der narrative Diskurs eine diskursive Dominante, weil sich die Zeitlichkeit des lyrischen Diskurses als Inversion der narrativen Zeitkonstitution erweisen lässt.61 Vor dem Hintergrund der These einer solchen multiplen, dominant narrativen Diskurszentrierung scheint es folgerichtig zu sein, ein möglichst komplexes Set unterschiedlicher Theoriekonzepte zu einem Modell der Lyrikanalyse zusammenzustellen. Vor allem könnte dabei aber die nach der Karriere der Narratologie ohnehin ungleich komplexere Erzähltheorie die dichte Leerstellenbildung der Lyrik mit Hilfe eines entsprechenden Mehrkomponentenmodells bereichern, wie dies Eva Müller-Zettelmann vorgeschlagen hat.62 Aber das Verfahren ist so nicht theoretisch begründet, sondern es weicht in eine deskriptive Methode aus, die lediglich Beschreibungswerkzeuge bereitstellt. Die Befunde lassen sich auf der Basis eines solchen Verfahrens in einem heuristischen Prototypenkatalog bündeln,63 die Struktur der Übergänge von der Lyrik zum Erzählen und vom Erzählen zur Lyrik bleibt dann aber immer noch zu beschreiben. In einem bloßen Mehrkomponentenmodell der Lyrikanalyse bleibt wiederum eine Leerstelle, nur diesmal auf Seiten der Theorie. Mit Hilfe der strukturalistischen Unterscheidung in histoire und discours ergibt sich nun aber in der jüngeren Theoriesituation eine Veränderung gegenüber der älteren typologisierenden Erzähltheorie, die für den Übergang zwischen Lyrik und Erzählen eine Wende bedeuten müsste. Als Ausgangspunkt für diese Behauptung bietet sich eine Unterscheidung an, die Walter Bernhart im Sinne der typologischen Erzähltheorie angeboten hat: Die Lyrik konzentriert sich auf ihre Aussageinstanz, um eine Bewusstseinshaltung zu fingieren. Demgegenüber stellt das Erzählen eine Aussagesubstanz dar, indem sie eine Wirklichkeit entwirft. Dabei ist die Lyrik auch für Bernhart grundsätzlich poetisch, die Erzählung grundsätzlich mimetisch angelegt.64 Vgl. Karlheinz Stierle: Die Identität des Gedichts – Hölderlin als Paradigma. In: Identität. Hrsg. von Dems./Odo Marquard, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 505–552, hier S. 514 und zum lyrischen Ich S. 519 f. 61 Vgl. die vorläufige Abgrenzung bei Jürgen Link: „Die Vorgänge […] erscheinen […] außerzeitlich. […] Dieser Effekt ist in erster Linie das Ergebnis der nicht-narrativen Textkonstitution, d. h. einer Textkonstitution, die sich nicht auf eine Geschichte stützt.“ Ders.: Das lyrische Gedicht als Paradigma des überstrukturierten Textes. In: Funk-Kolleg Literatur, Bd. 1. In Verbindung mit Jörn Stückrath hrsg. von Helmut Brackert/Eberhard Lämmert, Frankfurt a. M. 1977 (Fischer-Taschenbücher 6326), S. 234–256, hier S. 241. 62 Vgl. Müller-Zettelmann (Anm. 19), S. 17–19. 63 Vgl. Wolf, The Lyrik (Anm. 40), S. 32–37. Das typisierende Verfahren ist aus dem modernen Theorieproblem entwickelt, kommt aber von hier aus speziell für die Lyrik zu einem ähnlichen Verfahrensvorschlag, wie er für die mittelalterliche Literatur generell im Raume steht, siehe Anm. 2. 64 Vgl. Bernhart (Anm. 58), S. 369. 60
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Die Unterscheidung in poetische Aussageinstanz und mimetische Aussagesubstanz lässt sich über die strukturalistische Basisdifferenzierung in discours und histoire weiter spezifizieren. Diese Differenzierung gehört bekanntlich nicht nur zum Gründungsakt der Narratologie, sie gibt auch deren zwei Grundausrichtungen vor: Die discours-Narratologie bemüht sich um ein Instrumentarium zur Analyse des narrativen Aussageaktes, die histoire-Narratologie um die Struktur der Geschichte im Verhältnis zum Geschehen. Dies ist festzuhalten, weil über den Wechselbezug ihrer Grundbegriffe auch die beiden Theoriezweige der Narratologie als Korrelate angelegt sind: Ein Diskurs ohne Geschichte ist nicht narrativ, eine Geschichte ohne Diskurs nicht vorhanden; ebenso benötigt jede narratologische Diskurstheorie als Implikation einen klaren Begriff von der narrativen Struktur, wie umgekehrt kein histoire-Modell ohne die Implikation des Erzählers möglich ist.65 Schon auf dem Niveau dieser elementaren Kategorien fällt indes ein Unterschied zur typologisierenden Erzähltheorie auf. Diese hat nämlich in ihrer Vernachlässigung der histoire-Ebene das Problem, dass sie die Geschichte nur materiell-stofflich, aber nicht strukturell begreift. Ähnlich wie die Lyriktheorie hat damit paradoxerweise gerade die typologisierende Erzähltheorie ein Problem mit ihrer eigenen narrativen Implikation. Ihrem Verständnis zufolge wäre nämlich die Vorstellung von der reduzierten Aussagesubstanz der Lyrik lediglich auf das dargestellte Geschehen zu beziehen. Die Struktur der Geschichte, die das Geschehen als ihr semantisches Material sinnvoll figuriert und mit ihm gemeinsam die histoire-Ebene erst konstituiert, ist damit aber noch gar nicht angesprochen. Wenn demnach die Lyrik von der Substanz des Geschehens absehen kann, gleichwohl aber mit Rücksicht auf die narrative Struktur zu konzeptualisieren ist, dann liegt es nahe, die nunmehr theoretisch freigesetzte Struktur neu zu wenden. Als These formuliert: Die Struktur der Geschichte verlässt die horizontale Achse des dargestellten Geschehens und kommt im vertikalen Akt der narrativen Aussage zur Anwendung. Der semantische Prozess der dargestellten Handlung, in der ein Anfangs- und ein Endzustand aufeinander abgebildet werden, erscheint so als metaphorische Relation narrativen Handelns, in der Sprache, Sprecher und Gegenstand aufeinander abgebildet werden.66 Vgl. zur Korrelation der Ebenen die klassische Studie von Schmid (Anm. 43); unter Heranziehung neuer narratologischer Positionen wieder Ders. (Anm 43), bes. S. 241–272. 66 Vgl. als Ausgangspunkt die Bestimmung der poetischen Funktion über das am lyrischen Vers exemplifizierte Äquivalenzprinzip bei Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. von Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1993 (stw 262), S. 83–119, hier S. 94, bei der besonders die von Jakobson konstatierte „metaphorische […] Färbung“ (S. 83) festzuhalten ist. Inwiefern die paradigmatische Relation genauer als metaphorische Relation zu bezeichnen ist, erhellt ebenfalls an lyrischen Beispielen Jurij M. Lotman (Anm. 10), der die metaphorische Relation für die poetische Sprache in den Zeichenbegriff verlegt hat („Iconische Zeichen sind 65
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Der im Text gespiegelte Bewusstseinsprozess der Sprechinstanz übernimmt derart die Struktur der Geschichte und wäre für die Lyrik dann nicht nur als autopoetische, er wäre als autonarrative Qualität beschreibbar.67 Das integrative Modell einer narratologischen Lyrikanalyse, wie es Hühn und Schönert erarbeitet haben, fände dann in dieser autornarrativen Struktur eine mögliche Begründung. Denn das eingangs angesprochene Paradox, dass der ästhetische Effekt der lyrischen Ich-Präsenz hier durch eine geschichtslose Selbstzuschreibung einer Geschichte beschrieben werden kann, ließe sich nun genauer fassen: als Freisetzungsprozess der narrativen Struktur, die sich nicht innerhalb einer mimetischen Verlaufsform auf einer Ebene in einem Erzählmodell bewegt, sondern sich als poetische Qualität der Aussageinstanz quer durch alle Ebenen des Textes zieht und damit seine Stratifikationen rückgängig macht. Damit wäre auch eine strukturelle Basis für den Effekt der ästhetischen Verschmelzung der narrativen Ebenen gefunden, den Werner Wolf zu Recht als lyrische Illusion bezeichnet hat.68 Der ästhetische Zeitaufhebungsprozess der Lyrik fände in diesem sich selbst transgredierenden Modell sein adäquates Gegenstück.
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nach dem Prinzip einer immanenten Koppelung von Ausdruck und Inhalt konstruiert. [… ] Das Zeichen ist hier das Modell seines Inhalts.“ Ebd., S. 40) und diese Relation davon ausgehend fortwährend verwendet. Zum Verhältnis von Ausgangs- und Endzustand in Geschehen und Geschichte narrativer Texte bes. klar Schmid, Elemente (Anm. 43), S. 13 f. Da in der narrativen Semantik die metaphorische Relation sowohl in der zeitlichen Sukzession des narrativen Prozesses als auch im Erzählakt zwischen den Erzählebenen wirksam wird, hat dies Rainer Warning, unabhängig von aktuelleren erzähltheoretischen Debatten, die paradoxe These vom Erzählen im Paradigma ermöglicht (Ders.: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 [2001], S. 176– 209), dessen erzähltheoretisches Modell mit seinen verdeckten Implikationen noch prägnanter zu explizieren wäre. Vgl. dazu den ähnlich situierten Handlungsbegriff bei Ralf Simon: Handlungstheorie des Lyrischen. Mit Analysen zu Hölderlins Heidelberg, Mörikes Die schöne Buche und Georges Wir werden heute nicht zum garten gehen. In: Rhetorik und Anthropologie. Hrsg. von Peter D. Krause, Tübingen 2004 (Rhetorik 23), S. 50–80, hier S. 67 f., mit dem Vorschlag, den Akt der Gedichthandlung als narrative Organisation von Tropen aufzufassen. Werner Wolf: Aesthetic Illusion in Lyric Poetry? In: Poetica 30 (1998), S. 251–289, hier S. 268, zum Effekt mit narratologischer Terminologie S. 273: „If the utterance of the lyric persona is ‘performative‘ and refers to a present (inner or outer) experience, a major narratological distinction, which is crucial for narrative fiction and may perhaps be maintained for narrative poems centred on a past experience, becomes meaningless for a large group of lyric texts: the distinction between ‘extradiegetic’ and ‘intradiegetic‘ levels.“
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III. Performativität und Medialität Ob allerdings die Struktur dieser narrativen Selbstbezüglichkeit schon jene lyrische Qualität hinlänglich erfasst, welche die ältere Lyriktheorie so emphatisch akzentuierte, darf man bezweifeln. Mit Blick auf die historische Reichweite des Vorhabens ist dieser Abstand zu den früheren Ansätzen indes zunächst ein deutlicher Vorzug: Die autonarrative Struktur lässt sich als Grundlage von Präsenzeffekten beschreiben, ohne dass damit schon ein normativer Anspruch verbunden wäre oder ein historisch begrenzter Begriff von Subjektivität postuliert werden müsste. Da der fragliche Selbstbezug zudem unterschiedlich intensiv und auf verschiedenen Ebenen wirksam sein kann, ist es außerdem möglich, das offenkundige terminologische Dilemma jener Ansätze aufzulösen, die zwischen lyrischer und nicht-lyrischer Lyrik unterscheiden.69 Wo autonarrative Präsenzeffekte nicht angestrebt werden, mögen die Texte eine weniger oder kaum ausgeprägte lyrische Qualität haben, aber sie bleiben gleichwohl poetische Gedichtformen. Von unlyrischer Lyrik zu sprechen impliziert ein Werturteil, von lyrischen, nicht-lyrischen oder gar anti-lyrischen Gedichten zu sprechen dagegen nicht. Diese Beschreibungsmöglichkeit, die statt zwischen einer lyrischen und einer nicht-lyrischen Lyrik zwischen Gedichtformen mit ausgeprägter oder weniger ausgeprägter lyrischer Qualität unterscheidet, scheint nicht zuletzt für die historische Situation der sogenannten mittelhochdeutschen Lyrik nützlich, gehört es doch zum terminologischen Standardproblem der Mediävistik, von einer mittelhochdeutschen Lyrik zu sprechen, das Etikett dann aber mit Blick auf die Differenzen zu lyrischen Formen des 19. Jahrhunderts gleich wieder in Parenthese zu setzen. Das Problem kehrt innerhalb der mittelhochdeutschen Lyrik noch einmal wieder, weil hier wiederum zwischen den unterschiedlichen Genres von Sangspruch und Minnesang zu unterscheiden ist, wobei zunächst der Minnesang das lyrische, der Sangspruch das nicht-lyrische Genre wäre, dann aber mit der Vermischung der Möglichkeiten der Genres auch die lyrische Qualität in wechselnder Intensität auftritt. Dennoch erscheint die bisher diskutierte Pointierung der neueren Theorieangebote als historisch unzureichend. Was sie nämlich noch nicht genügend berücksichtigt, ist der historische Medienwandel. Das narratologisch begründete Modell der Lyrikanalyse beruht auf einem schriftlichen Textbegriff. Indessen ist für die mittelhochdeutsche Lyrik die intermediale Korrelation von Text und sängerischer Performanz essentiell.70 Allerdings ergibt 69 70
Vgl. dazu im Forschungsbericht von Schwarz (Anm. 39), S. 99–102. Vgl. dazu den Begriff der Stimme nach Paul Zumthor: Einführung in die mündliche Dichtung. Aus dem Französischen übersetzt von Irene Selle und durchgesehen von Jaqueline Grenz, Berlin 1990, S. 12 f. u. 143–146; Ders.: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Klaus Thieme, München 1994
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auch dies gerade keinen Gegensatz zwischen älterer und neuerer Literatur. Vielmehr scheint der historische Vergleich einmal die textuellen Implikationen lyrischer Intermedialität des Mittelalters und einmal die medialen Implikationen lyrischer Textualität der neueren Literatur aufzudecken. Für die neueren lyrischen Genres hat man die Musikalität der Sprache von Anfang an als eine Grundlage semantischer Operationen der Lyrik erkannt.71 Zudem hat die Lyriktheorie der neueren Literaturwissenschaft, etwa durch Rekurs auf das barocke Kirchenlied, auf die symbolisch vergemeinschaftende Wirkung der Texte hingewiesen.72 Den Brückenschlag zur symbolischen Wirkung des Sanges im Mittelalter hat für die neuere deutsche Literatur jedoch erst in jüngerer Zeit Heinz Schlaffer angedeutet. Er wäre allerdings entschiedener zu vollziehen. Schlaffer zufolge beruht die Intensivierung der Ich-Position in der neueren Lyrik auf einer historischen Umstellung von einer mündlich-performativen auf eine schriftlich-rezeptive Medialität. Der äußere rituelle Aufführungskontext des Sängers geht demnach verloren, dafür tritt der Rezipient des kontextlos gewordenen lyrischen Textes an die Stelle des Vortragenden. Die im performativen Akt des Sängers rollenhaft gefüllte Leerdeixis der Ich-Aussage wird dabei aber im (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 18), bes. S. 30–33 u. 95. Zum geltenden Performanzverständnis, das eher auf die Rekonstruktion der historischen Aufführungssituation als auf eine performative Ästhetik zielt, Helmut Tervooren: Die „Aufführung“ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 17), S. 48–66, und zur weiteren Illustration eines ganz auf das Aufführungsparadigma konzentrierten Vorgehens Volker Mertens: Autor, Text und Performanz. Überlegungen zu Liedern Walthers von der Vogelweide. In: sô wold ich in fröiden singen. Festgabe für Anthonius H. Touber zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Carla Dauven-van Knippenberg/Helmut Birkhan, Amsterdam 1995 (ABäG 43–44), S. 379–397, hier S. 381–383. Zu dieser Ansatzweise jetzt die kritische Anregung von James A. Schultz: Performance and Performativity in Minnesang. In: ZfdPh 128 (2009), S. 373– 398, statt der bloßen Performanz im Sinne der Aufführung stärker die Performativität des Textes zu beachten. Vgl. ferner auch die Literatur unten in Anm. 62. Zur weiterführenden Intermedialitätsdiskussion der neuen Literaturwissenschaft die Typologie von Werner Wolf: Intermediality Revisited. Reflections on Word and Music Relations in the Context of a General Typology of Intermediality. In: Word and Music Studies. Essays in Honor of Steven Paul Scher and on Cultural Identity and the Musical Stage. Hrsg. von Suzanne M. Lodato/Suzanne Aspden/Walter Bernhart, Amsterdam 2002 (Word and Music Studies 4), S. 13–34, hier S. 28. Vorausgehend Ders.: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality, Amsterdam 1999 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 35), S. 35–50. 71 Systematisch zuerst Johann Gottfried Herder: Die Lyra. Von der Natur und Wirkung der lyrischen Dichtkunst. In: Ders., Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhart Suphan. Bd. 27: Poetische Werke, Bd. 3. Hrsg. von Carl Redlich, Berlin 1881. Nachdruck Hildesheim 1968, S. 163–181. Vgl. auch besonders in der Hermeneutik Staigers: „Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in dieser Einheit der Bedeutung der Worte und ihrer Musik.“ Staiger (Anm. 49), S. 16. Hinweise auf das semantische Prinzip der Klanglichkeit liefert Lotman (Anm. 10), S. 260–299. 72 Vgl. den Begriff des Gemeinde-Ichs bei Hamburger (Anm. 53), S. 192.
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Übergang vom Sang zur Schrift textseitig intensiviert, gerade weil die rituelle Rahmung verschwindet, die zuvor die ästhetische Verschmelzung von Sänger und Liedaussage garantiert. Leselyrik würde demnach ihre Rezipienten in die ästhetische Sonderposition bringen, einen fehlenden Performanzrahmen nicht nur zu kompensieren, sondern sich selbst zum Ort der Medialisierung zu machen.73 Schlaffers selbstbewusste Pointierungen sind nicht nur umstritten.74 Für seine Vorstellungen rekurriert Schlaffer zudem ausdrücklich auf germanistisch-mediävistische Positionen,75 die bei näherer Betrachtung weit weniger eindeutig sind, als dies aus der neugermanistischen Distanz den Anschein haben mag. Dies sollte man jedoch nicht zu einem kurzschlüssigen Argument gegen die genannte Position machen, da die Vereinfachung es umgekehrt ermöglicht, jene ebenso latente wie zentrale Basisdifferenz des mediävistischen Lyrikdiskurses nachdrücklicher zu explizieren, die hier im Streit um die sog. Fiktionalität des Minnesangs Probleme erzeugt.76 Wie im Gegenzug zur lyrischen Medialität der Texte akzentuieren einige der mediävistischen Positionen die Textualität der mittelalterlichen deutschen Lyrik. Gleichzeitig beharren sie aber auf dem schon von Hugo Kuhn markierten Primat der Aufführungssituation, in welcher der Text durch Stimme und Körper des Sängers realisiert wird.77 Dies hat zu einem terminologischen Spannungsverhältnis zwischen einer texttheoretischen und einer performanztheoretischen Implikation geführt, das die Forschung bislang nicht recht aufzulösen vermag. Geht man nämlich von einem schriftlich konzeptualisierten Textbegriff aus, dann führt dies zur Annahme von performativen Spaltungsprozessen. Der Text lässt sich so zwar mit einem Handlungsbegriff verbinden, aber die Vorzeichen der Verbindung unterliegen dann einem Kurzschluss: Nicht der Text erscheint als Handlung, sonVgl. Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik. In: Poetica 27 (1995), S. 38–57, hier S. 39 f. zur Leerdeixis, S. 49 f. zur Übernahme der Aufführungsfunktion durch den Rezipienten; zur Verschiebung vom Aufführungskontext zur kontextlosen Lyrik Ders.: Orientierung in Gedichten. Text und Kontext in der Lyrik. In: Poetica 36 (2004), S. 1–24; abschließend die Parallelisierung mit dem Sprechakt des Gebets Ders.: Sprechakte der Lyrik. In: Poetica 40 (2008), S. 21–42. 74 Vgl. Schwarz (Anm. 39), S. 106, sowie besonders den Beitrag von Borkowski/Winko in diesem Band. 75 Vgl. Schlaffer, Aneignung (Anm. 73), S. 42 f. 76 Den vorläufigen Endpunkt der Diskussion markiert der Band: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Peters/Rainer Warning, Paderborn, München 2009. 77 Vgl. Hugo Kuhn: Minnesang als Aufführungsform. In: Ders., Kleine Schriften, Bd. 2: Text und Theorie. Stuttgart 1969, S. 182–190 u. 364–366, dazu Peter Strohschneider: Aufführungssituation. Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Hrsg. von Johannes Janota, Tübingen 1993 (Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Bd. 3), S. 56–71. 73
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dern die Handlung erscheint als Text. Konkret führt das zu der Auffassung, die durch Rainer Warning vertreten worden ist: Wenn der Sänger ein Lied vorträgt, wird er dabei durch den Text als Rollenspieler kenntlich, es kommt aus Sicht der texttheoretischen Betrachtung zu einer Situationsspaltung,78 in der die Nichtidentität der aus dem Text entworfenen Aussageinstanz mit dem Sänger in der Aufführung besonders auffällt. Dies würde dann für die Liedaussagen insgesamt zu einer Art Ausdrucksdilemma führen:79 Die textinternen lyrischen Fiktionen würden performativ gebrochen, gingen auf die Aufführungssituation über, und Minnesang wäre ebenso fiktional wie unverbindlich.80 Diese Sicht hat Widerspruch provoziert, mit Recht, da sie selbst einen Widerspruch enthält und über ihn performanztheoretisch auszuhebeln ist. Auch die texttheoretische Begründung konzipiert nämlich ihr Modell der Aufführungssituation als eine symbolische Handlung, die in der rituellen Praxis der höfischen Kultur zu verankern ist. Rituale und Symbole spalten jedoch nicht, sie verbinden. In der Performanzsituation dominiert darum auch nicht die kategoriale Differenz zwischen Text und Sänger, sondern deren ästhetische Verbindung. Damit kommt hier jener zweite Begriff ins Spiel, der schon in der oben angesprochenen neugermanistischen Diskussion Schwierigkeiten macht, hier aber den Begriff der Fiktionalität vollends kontert: der Begriff der Ästhetizität. Im performativen Akt gewinnt der Text eine eigene sinnliche Realität durch die Stimme des Sängers. Diese sinnliche Realität lässt sich durch die textuellen Fiktionen nicht aufheben, sie macht dafür umgekehrt die Fiktionen zu ästhetischen Objekten. Eine ästhetische Erfahrung ist aber eine wirkliche Erfahrung, auch wenn sie auf sprachlichen Fiktionen beruht.81 Damit wird der Begriff der Fiktionalität für die Aufführungssituation des Minnesangs unangemessen. 78
79 80 81
Vgl. Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159, hier S. 122; Ders.: Der Inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich/Wolfgang Iser, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 183–206, hier S. 195–198; Ders.: Fiktion und Transgression. In: Peters/Warning (Anm. 76), S. 31–55, hier S. 33 f. So Peter Strohschneider: „nu sehent, wie der singet!“ Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: Müller (Anm. 70), S. 7–30, hier S. 13–17 Vgl. die Kritik von Timo Reuvekamp-Felber: Kollektive Repräsentation als soziale Funktion von Minnesang? Zur Pluralität und Variabilität der Ich-Figurationen in der Minnekanzone am Beispiel Friedrichs von Hausen. In: Hausmann (Anm. 8), S. 203–224. Vgl. den Begriff der ästhetischen Erfahrung nach Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1982, S. 24–64; zu deren paradoxer Tatsächlichkeit wäre, konzentriert auf den Symbolbegriff, anzuschließen an Dieter Mersch: Paradoxien der Verkörperung. Zu einer negativen Semiotik des Symbolischen. In: Aktualität des Symbols. Hrsg. von Frauke Berndt/Christoph Brecht, Freiburg i. Br. 2005 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 121), S. 33–52, bes. S. 45–48.
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Zur Kontrolle lässt sich auf performanztheoretische Überlegungen der Theaterwissenschaft verweisen, die keinen Fiktionalitätsdiskurs, sondern einen ästhetischen Diskurs ansetzen,82 sowie auf entsprechende Überlegungen zur lyrischen Intermedialität.83 Demnach wäre für die mediale Situation der mittelhochdeutschen Lyrik zwischen Text und Performanz festzuhalten: Die texttheoretisch zu konstatierende Situationsspaltung wird in der Aufführung durch eine performanztheoretische Situationsverschmelzung unterlaufen,84 das vermeintliche Dilemma des Ausdrucks entpuppt sich so als eine Paradoxie der Lyrik. Zusammenfassend heißt das: Die mögliche Fiktionalität der lyrischen Texte ist eine schriftlich konzeptualisierte Vorstellung, ihr Begriff ist im Prozess der vokalen Medialisierung unzutreffend, denn Lyrik ist kein Text, sondern eine ästhetische Praxis. In der ästhetischen Erfahrung ist der Begriff der Fiktionalität aufgehoben.85 Diese ästhetische Aufhebung ist nun für die lyrische Aufhebung der Grenzen zum Erzählen offenbar entscheidend. Darum lassen sich über sie mediävistische Forschungspositionen sinnvoll verbinden, die ansonsten 82
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Vgl. den Begriff der Theatralität bei Erika Fischer-Lichte: Theater als kulturelles Modell. In: Dies., Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen, Basel 2001, S. 269–290, hier S. 282–288, sowie zum Performanzbegriff Dies.: Für eine Ästhetik des Performativen. In: ebd., S. 139–150, hier S. 149 f. Vgl. den Ansatz von Wolf (Anm. 68). Vgl. dazu demnächst den Vorschlag bei Hartmut Bleumer: Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung. Wandlungen des höfischen Diskurses zwischen Roman und Minnesang. In: Florack/Singer (Anm. 13). Diese unten weiter explizierte These könnte auch geeignet sein, ein Problem aufzuklären, das die Forschung mit dem Status mystischer Offenbarungen hat: Diese reklamieren spirituelle Authentizität, ohne dabei einem neuzeitlichen Begriff von autobiographischer Selbstreflexion zu unterliegen, vgl. Bürkle (Anm. 16); ihre sprachliche Medialisierung erfolgt dabei auf der Basis von literarisch erprobten Schemata und Stilisierungen (vgl. Peters [Anm. 16]), jedoch ohne dass die entworfenen Geschehensberichte als fiktiv oder gar fiktional zu bezeichnen sind (vgl. Alois M. Haas: Seuse lesen. In: ZfdPh 113 [1994, Sonderheft], S. 245–272, bes. S. 271 f.; sowie die provokativ gemeinte, gleichwohl missverständliche Diskussion zum Rheinischen Marienlob bei Stridde [Anm. 34], S. 120–122, sowie ebd., S. 122–131, den entsprechenden Problemaufriss zu Mechthild von Magdeburg). Fiktionalität erweist sich vielmehr für die Mystik ebenso wie für den Minnesang als irreführender Begriff, dessen Applikation das ästhetische Angebot der Texte gerade ignoriert. Denn fasst man die Texte der Viten- und Offenbarungsliteratur als ästhetische Objekte auf, treten das Authentizitätspostulat der versprachlichten Erfahrung und deren Orientierung an narrativen und poetisch konventionalisierten literarischen Mustern gerade nicht auseinander, sondern verschmelzen sowohl produktions- als auch rezeptionsseitig. Vgl. Alois M. Haas: Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1979 (Dokimion 4), einführend S. 19–36, zu Mechthild S. 67–103, dessen Dichtungs-Begriff insbesondere auf die Kategorie des Ästhetischen zielt; vgl. auch Ders., Seuse lesen (s. o.), S. 259 f. Für einen Ästhetik-Begriff mit „transzdente[r] Anbindung“, der „nicht im schönen Schein des Kunstwerks aufgeht, sondern immer auch die Differenz zu [seiner] eigenen Ermöglichung mitführt“ plädiert Hasebrink (Anm. 36), S. 105. Vgl. ferner Kemper, Einleitung (Anm. 16), S. 23 f., der freilich für die lyrische Barockmystik die allmähliche ästhetische Autonomisierung mystischer Erfahrung ansetzt.
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antagonistisch verhandelt werden müssen. Als Ausgangspunkt für diese Behauptung ist der Vorstoß von Albrecht Hausmann besonders geeignet. Ausgehend von der Beobachtung, dass im Minnesang einerseits narrative Strukturen zur textinternen Organisation lyrischer Fiktionen verwendet werden, hat Hausmann von der Erzählfiktionalität des Minnesangs gesprochen, diesen Begriff andererseits aber mit der Aufführung durch den Sänger zu korrelieren versucht und dabei die Differenz zwischen Sänger und Rolle als Rollenspielfiktionalität bezeichnet.86 Der Begriff der Erzählfiktionalität erweist sich als texttheoretisch begründet und den textinternen Phänomenen als angemessen, aber die postulierte Rollenspielfiktionalität zielt offensichtlich auch bei Hausmann auf eine ästhetische Schwebe, weshalb der Begriff der Fiktionalität im Begriffskompositum in die Irre führt. Hausmann steht hier bereits an der Schwelle zum Begriff der performativen Rollenästhetik. Akzeptiert man diese Anregung, dann lassen sich zwei gegensätzliche Forschungspositionen als Korrelate erweisen, die auf den ersten Blick als Gegensätze erscheinen. Wenn man die allgemeine symbolische Verbindlichkeit der Lyrik für zentral hält, in der das Sänger-Ich für die höfische Gesellschaft spricht, ergibt sich mit Jan-Dirk Müller die Vorstellung der Minnesangaufführung als eine Art Pararitual,87 akzentuiert man dagegen die besondere Intensivierung der Ich-Position im Vortrag, dann erscheint Minnesang als authentische Aussage eines Liebenden, wie sie Harald Haferland stark gemacht hat.88 Vor dem Hintergrund der Begriffe von Fiktion und Fiktionalität ergibt sich zwischen der objektivierenden und der subjektivierenden Position ein Gegensatz. Im ästhetischen Prozess bedingen sich die Positionen dagegen wechselseitig: Je intensiver und authentischer die Ich-Aussage im Sänger medialisiert wird, desto wirksamer werden die allgemeinverbindlichen Werte im symbolischen Akt des LiedVgl. Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 87–101. 87 Vgl. Müller (Anm. 18), S. 182; Müller hat den Begriff an die Kategorie der Fiktionalität anzuschließen versucht und ist dadurch in die Schwierigkeit geraten, auch dort von Fiktionalität sprechen zu müssen, wo offenkundig in der selbstreflexiven Steigerung des Pararituals Ästhetizität gemeint ist; Ders.: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. In: Hausmann (Anm. 8), S. 47–64; Ders.: Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur. In: Poetica 36 (2004), S. 281–311, zum Minnesang S. 306–309. Seine Lösung besteht darin, zwei Fiktionalitätsgrade anzusetzen, d. h. der Begriff wird für skalierbar erklärt, was ihn freilich als Differenzkategorie entwertet. Vgl. daher den kategorischen Widerspruch bei Andreas Kablitz: Fiktion und Bedeutung. Dantes Vita nova und die Tradition der volkssprachlichen Minnelyrik. In: Peters/Warning (Anm. 76), S. 339–362, hier S. 340. 88 Vgl. Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (Beihefte zur ZfdPh 10), bes. S. 30 f., 89 f., 125, 183–188, 374 f.; Ders.: Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen der Minnesänger für das Verständnis des Minnesangs? In: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik. Hrsg. von Thomas Cramer/Ingrid Kasten, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), S. 232–252. 86
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vortrags.89 Das Ich wäre so auch im Minnesang durch seine Subjektivierung eine Ich-Objektivation für alle.90 Diese letzte Formel scheint Bestimmungen der neueren Lyriktheorie vorzugreifen, angesichts der historischen Medienbedingungen der älteren lyrischen Ästhetik ist jedoch festzuhalten, dass sich die Begriffsverhältnisse im mediengeschichtlichen Übergang von der Stimme zur Schrift umkehren.91 In der historischen Performanzsituation ist die Klanglichkeit der Lyrik ästhetisch präsent, die musikalische Verbindung ihrer Worte ist der schriftlichen Differenzierung gegenüber vorgängig. In der Lektüresituation ist diese ästhetisch-semantische Unmittelbarkeit jedoch ein Desiderat, das vom Text erzeugt und nachträglich vom Rezipienten ästhetisch realisiert wird. Aber auch bei dieser Unterscheidung gilt: Es handelt sich um Bedingungsverhältnisse, die historisch nicht nacheinander, sondern immer schon miteinander koexistieren.92 Für die mittelalterliche Lyrik scheint es nämlich so, als ob diese immer schon sowohl schriftlich als auch mündlich konzipiert und tradiert wurde,93 ebenso wie auch die moderne Lyrik in die Auffüh89
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Gegen Reuvekamp-Felber (Anm. 80) wäre somit festzuhalten, dass es für die Frage nach der kollektiven Repräsentationsfunktion des Sangs unerheblich ist, ob die Ich-Instanz innerhalb eines Liedercorpus unterschiedlich modelliert ist und ob sie ihre Befindlichkeit nicht explizit als Identifikationsangebot formuliert. So – auch wenn Sprechinstanz und „Dichtersänger“ hier als identisch gedacht werden – schon Ruh (Anm. 8), S. 326; für das Ich der Barockdichtung, insbesondere das Gemeindelied, argumentieren ganz ähnlich Hamburger (Anm. 53), S. 191 f., und Schlaffer, Aneignung (Anm. 73), S. 47. Vgl. weiterhin Bernhard Sorg: Das lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn, Tübingen 1984 (Studien zur deutschen Literatur 80), bes. S. 50 f., der die Hoffnung des heteronomen Ichs der Barocklyrik, an einer „objektive[n] Gewalt“ außerhalb seiner selbst zu partizipieren, als „unio lyrica“ dem unioWunsch des mystischen Ichs analog setzt (S. 42 f., zit. S. 43). Vgl. zu dem in der Mediävistik vernachlässigten Begriff des Ästhetischen den Aufriss von Manuel Braun: Kristallworte, Würfelworte. Probleme und Perspektiven eines Projekts ‚Ästhetik mittelalterlicher Literatur‘. In: Braun/Young (Anm. 36), S. 1–40. Zum Minnesang der Vorschlag einer rhetorisch-poetischen Auffassung, die den ästhetisch-vergemeinschaftenden Wert der Liebesreflexion in seiner Pragmatik betont und zugleich den Fiktionalitätsbegriff für irrelevant erklärt, von Gert Hübner: Minnesang als Kunst. Mit einem Interpretationsvorschlag zu Reinmar MF 162,7. In: Hausmann (Anm. 8), S. 139–164, bes. S. 163. Vgl. zu den Konsequenzen für den Lyrik-Begriff Hartmut Bleumer: Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub. In: Köbele (Anm. 16, im Druck). Vgl. bes. die These von der schriftlichen Konzeptualisierung der fiktionalen Brechung schon in den Anfängen des Minnesangs bei Timo Reuvekamp-Felber: Fiktionalität als Gattungsvoraussetzung. Die Destruktion des Authentischen in der Genese der deutschen und romanischen Lyrik. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 23), S. 377–402. Zuvor die pauschalere These von einer primären Schriftlichkeit der Lyrik durch Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148), sowie besonders der plausibel ausgewogene, für das Nebeneinander von Schrift und Performanz argumentierende Beitrag von Dieter Kartschoke: Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur des
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rungssituation zurückdrängt. Vielleicht ist Lyrik dann aber immer schon ein paradoxer medialer Effekt zwischen Stimme und Schrift.94 Ihre Vertextung ermöglicht narrative Fiktionen. Dagegen führt die Instanz der Stimme, in der Performanzsituation außerhalb des Textes loziert oder in der Lektüresituation auf den impliziten Sprecher des Gedichts konzentriert, zu einer Intensivierung, in der die narrative Struktur aufgehoben ist. Diese narrative Implikation der Lyrik bedeutet dann aber umgekehrt für narrative Texte die Möglichkeit, lyrische Qualitäten zu entwickeln. Von dieser Annahme ausgehend, wären die historischen Möglichkeiten narrativer Fiktionen, mit musikalischen Formen nicht nur zu konkurrieren, sondern deren Medialität zu integralen Bestandteilen narrativer Texte zu machen, weitergehend zu erkunden.95 Jedenfalls ließe sich damit eine permanente Korrelation nachzeichnen: von lyrischen Narrativen und narrativer Lyrik. IV. Zu den Beiträgen Die Aufsätze des folgenden Bandes lassen sich als Bausteine eines sich in Umrissen abzeichnenden Projektes lesen. Zu seinen neugermanistischen Voraussetzungen zählen die Bemühungen um die Kategorie des lyrischen Ichs, die der terminologiegeschichtliche Beitrag von Simone Winko und Jan Borkowski kritisch durchmustert und um einen Modellvorschlag ergänzt. Einerseits bietet er eine Typologie der bisherigen Begriffskonzepte und ihrer Basisimplikationen, die insgesamt das Dilemma einer vorterminologischen Terminologie markiert. Andererseits werden dem die bisherigen Alternativkonzepte gegenübergestellt, zu denen auch die für die Dis-
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deutschen Südostens im Übergang zur Schriftlichkeit. In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980. Hrsg. von Alexander Cella/Peter Krämer, Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16), S. 103–143. Kritisch zusammenfassend das Plädoyer von Rüdiger Schnell: Vom Sänger zum Autor. Konsequenzen der Schriftlichkeit des deutschen Minnesangs. In: Peters (s. o.), S. 96–149, bes. der Exkurs zu den Indizien für eine schriftliche Kommunikationssituation (S. 112–115), zu Narrativierungstendenzen (S. 126– 128) und zu ästhetischen Überblendungseffekten von Text und Sänger bzw. Text und Autor (S. 124 u. 134). Zu der interpretatorisch oft vernachlässigten Musikalität des Minnesangs das Votum von Ulrich Wyss: „Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet“. Über die Lesbarkeit des Minnesangs. In: Der fremdgewordene Text. FS für Helmut Brackert zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Silvia Bovenschen u. a., Berlin, New York 1997, S. 24–41, hier S. 33–35, zur Wirkung der Euphonie Matthias Meyer: ‚Objektivierung als Subjektivierung‘. Zum Sänger im späten Minnesang. In: Andersen u. a. (Anm. 20), S. 185–199, bes. S. 190 u. 197 f., und Markus Stock: Das volle Wort – Sprachklang im späteren Minnesang. Gottfried von Neifen, Wir suln aber schône enpfâhen (KLD Lied 3). In: Hausmann (Anm. 8), S. 185–202, bes. S. 199 u. 201. Zu den Desideraten des entsprechenden Forschungsfeldes besonders Wolf (Anm. 68), S. 2–6.
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kussion des Tagungsbandes besonders interessierende narratologische Ansatzweise zu rechnen ist. Einer Abschaffung des lyrischen Ichs reden die Verfasser indes nicht das Wort, zumal der Begriff als historischer Terminus auf der literarischen Objektebene verankert ist. Darum schlagen sie ein Modell vor, das seine Differenzierungen nicht zuerst über textinterne Sprechinstanzen, sondern über Kontextualisierungstypen gewinnt. Über deren Rückkoppelung an die möglichen Sprecher des Gedichts ergibt sich ein Bestimmungsraster auf der Basis von Kontextzuschreibungen. Dessen Vorzug sehen Winko und Borkowski in seiner Offenheit und Beschreibungsneutralität, die es jeweils erlauben, weitere historische und genretypische Spezifizierungen zur Lyrikanalyse vorzunehmen. Als eine solche Spezifizierung ließe sich der narratologische Ansatz verstehen. Gleichwohl konkurriert er durch seinen Allgemeinheitsanspruch mit einer rein kontextbasierten Bestimmung. Dies gilt jedenfalls für das Analysemodell des Anglisten Peter Hühn, der zugleich als einer der Hauptvertreter des aktuellen narratologischen Paradigmenwechsels in der Lyrikanalyse gelten darf. Den Ausgangspunkt bildet hier nämlich das Axiom, nach dem es sich beim Erzählen um eine zentrale anthropologisch-semantische Universalie handelt. Dieser narrative Universalismus rechtfertigt es, narratologische Analysekategorien auf die Lyrik zu übertragen, hebt jedoch den generischen Status der Lyrik deshalb noch nicht grundsätzlich auf. Zwar ist Lyrik als Gattung weniger scharf determiniert als Epik und Dramatik, weil sie aber dennoch generische Spezifikationen aufweist, vermag Hühn Lyrik als einen medial spezifizierten Narrationsprozess zu beschreiben. Dazu ist der Ereignisbegriff von zentraler Relevanz: Im lyrischen Diskurs durchläuft die Ereignishaftigkeit die besagte genrespezifische Medialisierung, deren Parameter Hühn modellhaft skizziert und in den Sonetten Shakespears demonstriert. Demnach impliziert der Gedichtzyklus eine aus dem Petrarkismus übernommene narrative Basisstruktur und entwickelt sie insgesamt weiter. Während die narrative Struktur in den Ereignissen der Geschehensebene auf lyriktypische Weise unabgeschlossen bleibt, kommt es im Gegenzug bei der diskursiven Medialisierung zu Darbietungsereignissen von hoher Selbstreflexivität. Dabei zeigt sich, dass der in den Medialisierungseffekten anzutreffende lyriktypische Synkretismus von Sprechinstanzen nicht gegen die narratologischen Analysekategorien spricht, sondern durch diese allererst analytisch zugänglich wird. Im Unterschied zum hier verwendeten weiten Medialisierungsbegriff verwendet die Mediävistik eine konkretere, an Performanz oder an der Performativität der Lyrik ausgerichtete Vorstellung von Medialität. Die Konsequenzen dieser Annahme zeigen sich aus romanistischer Sicht im Beitrag von Dietmar Rieger. Dessen allgemeine These lautet, dass sowohl die lyrische Zeitenthobenheit als auch die Narrativierungstendenzen der Trobadorlyrik des 12. und 13. Jahrhunderts auf einer paradoxen axiologischen Grundstruktur beruhen. Deren Vorbedingung ist die historisch-mediale
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Stellung des trobadoresken je. Im genauen Unterschied zur romantischen Konzeption des lyrischen Ichs geht es im trobadoresken je um die Darstellung einer kollektiv-verbindlichen Subjektivität, die sich in der objektivierenden, kollektiv verbindlichen Position des Rezitators widerspiegelt. Die zeitliche Struktur dieses je bestimmt Rieger als die lyrische Zeitenthobenheit eines ‚Dazwischen‘, in dem die lineare Zeit ausgesetzt wird, aber eben deshalb über das paradoxe amoureux in eine permanente, reflexive Dynamik aus Norm und Störung gerät. Wo dieses Paradox mit seiner Norm dominiert, kommt es zur dynamischen Zeitenthobenheit, wo die Liebeserfüllung als dessen Störung nicht integriert werden kann, kommt es zur narrativen Verzeitlichung. Dabei bleiben Norm und Störung immer aufeinander angewiesen: Dies betont Rieger am Beispiel der Narrativierung größerer Liedzusammenhänge und ihres zyklischen Zeitverständnisses, aber auch für die Ebene des narrativen Einzelliedes, das in den Varianten von Tagelied oder Pastourelle zugleich die Störung narrativ ausagiert und die Norm in der Eigenzeitlichkeit der Lieder bestätigt. Ebenfalls aus romanistischer Perspektive, aber mit Blick auf die Lyrik Italiens und Portugals, verfolgt Michael Bernsen am Beispiel Petrarcas und dessen Nachfolger Boscán die Möglichkeiten narrativer Lyrikkonzeptionen. Allerdings setzt Bernsen nicht auf der Ebene strukturell wirksamer Axiologien an, sondern auf der narrativer Schemata, indem er zeigt, wie Subjektivität und Überstrukturiertheit der lyrischen Semantik auf narrative Muster übergreifen oder aber umgekehrt mit Hilfe narrativer Schemata überhaupt erst erzeugt werden. Dazu orientiert sich Bernsen an den diskurstheoretischen Überlegungen von Karlheinz Stierle und setzt speziell für seinen historischen Gegenstandsbereich ein narratives Diskursschema mit offenem Ende, d. h. mit einer fortgesetzten, unabgeschlossenen narrativen Dynamik an. Es mündet zunächst in der Trobadorlyrik in eine Zirkelbewegung des Liebenden und scheint dann in der petrarkistischen Weiterführung internalisiert zu werden, was wiederum einerseits zu narrativen Strukturierungen der Liedreflexionen, andererseits aber auch zu einem äußeren Erzählbedarf führt, der bis in die Novellistik nachweisbar ist. Dieser Mechanismus fortgesetzter narrativer Transgression zeigt sich besonders für Boscáns Subjektposition und Selbstreflexion, dem das allgemeinere Verfahren Petrarcas vorausgeht. Da das Werbungsnarrativ hier sogar das geistliche Erzählmuster von Fall, Erlösung und Aufstieg zu integrieren und im Sinne seiner offenen Logik aufzulösen vermag, lässt sich die permanente Ambivalenz des Canzoniere auf genau jene paradoxe narrative Dynamik zurückführen, die nach Bernsen die Geschichte der Lyrik auch insgesamt prägt. Im Unterschied zur strukturell-transgressiven Denkweise der romanistischen Beiträge erscheint aus latinistischer Sicht das Verhältnis von Lyrik und Narrativik eher als formal-additiver Prozess. In diesem Sinne argumentiert der Aufsatz von Thomas Haye und bringt damit die von der
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volksprachlichen Literatur abweichenden Bedingungen einer normativen lateinischen Poetik in die Grenzvermessung der Gattungsübergänge von Lyrik und Narrativik ein. Am Beispiel der Handschrift des weitgehend unbekannten, literarhistorisch aber aufschlussreichen Renaissance-Dichters Johannes Michael Pingonius verfolgt Haye, inwiefern die klaren normativen Vorgaben auf autoritativ eingespielte lateinische Gattungsbegriffe führen, eben darum aber auch deren Kombination in der poetischen Praxis erlauben, was im Falle des präsentierten Codes das kompositorische Miteinander von enkomiastischem Epos und lyrischen epigrammata ermöglicht. So unterscheiden sich carmen heroicum und lyrische Form etwa durch historisch konkrete Anspielungen auf der einen und stärker allgemein historische oder mythologisch-literarische Bezüge auf der anderen Seite, jedoch sind sie durch ihren gemeinsamen panegyrischen Anspruch zu einer poetischen Einheit verbunden, in der die kategoriale Differenz von Epik und Lyrik pragmatisch schwindet. Vor dem Hintergrund dieses Panoramas literaturwissenschaftlicher und historischer Aspekte von Lyrik und Narration erkundet Albrecht Hausmann die Möglichkeiten, die Geschichte des mittelhochdeutschen Minnesangs im 12. und 13. Jahrhundert über das Verhältnis von den gegenläufigen Tendenzen der Narrativierung und Entnarrativierung zu beschreiben. Hausmann insistiert darauf, dass deren Korrelationsverhältnis von den konfligierenden Handlungs- und Redenormen des Minnesangkonzeptes abhängig zu machen ist. Er argumentiert damit ähnlich wie Rieger über einen axiologischen Konflikt. Dieser liege aber nicht nur im Minne-, sondern auch im Sangeskonzept vor und wird weniger strukturell, denn formal begründet. Hausmann setzt zwei formale Optionen an – eine im frühen Minnesang stärker ausgeprägte narrative und eine im späteren Sang stärker ausgeprägte lyrische –, deren Zeitbezug durch den Umgang mit der Instanz der Frau bestimmt ist. Den Konflikt von Minne- und Redenormen beschreibt Hausmann historisch, und selbst wiederum narrativ, als konzeptionelle Abfolge von Verlust und Wiedergewinnung der Dame, wobei die spezifischen Strategien der Lieder narrative und lyrische Optionen im Einzeltext zunehmend gegeneinander ausdifferenzieren, indem sie diese oszillieren lassen oder aber in der Frauenrede paradox verschachteln. Damit ist die Frage nach den Narrativierungsmöglichkeiten in der Konsequenz von Hausmanns Überlegung ohne den Rekurs auf die konzeptionelle Stellung der Dame, sei sie explizit oder latent wirksam, nicht nur kaum zu beantworten, sie ist eigentlich von dieser her erst sinnvoll zu stellen. Anschließend fokussiert Katharina Philipowski die spezifische Zeitlichkeit der mittelhochdeutschen Lyrik anhand einer Aporie im narrativen Genre des Tageliedes. Ausgehend von Emil Staigers idealem lyrischen Präsenzkonzept beschreibt sie ein Problem, das sie komplementär auch für die narratologische Lyrikanalyse konstatiert. Während Staigers ideale lyrische
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Bedeutungspräsenz sich nicht unmittelbar zu realisieren vermag, da sie auf generische und sprachliche Vermittlung angewiesen bleibt, erfasst die narratologische Lyrikanalyse ausschließlich Vermittlungsprozesse, mit denen narrative Distanzmomente für Unmittelbarkeitseffekte der Lyrik zur Anwendung kommen. Diese theoretischen Schwierigkeiten scheinen für Philipowski praktisch im Tagelied auf, dessen Struktur sie als aporetisches Modell beschreibt, das sich in einem doppelten Raum- und Zeitkonzept niederschlägt. Philipowskis These ist die einer aporetischen Differenzierung der Erzählebenen: Die histoire-Ebene verhält sich demnach gegenläufig zum discours des Tageliedes, in dem Maße, wie die Geschichte der Liebenden danach trachtet, Zeit stillzustellen, muss der discours die Zeit gerade verfließen lassen. Diese Differenz gilt auch für die Sprechinstanzen: Weil der erzählende Sänger niemals der Liebende seiner eigenen Geschichte sein kann, wird das Tagelied logisch immer aus der dritten Person heraus präsentiert. Als eine Reaktion auf diese heterodiegetische Zeitaporie beschreibt Philipowski Walthers Lindenlied, Morungens Tageliedwechsel und zuletzt Walthers Tagelied, das als parodistisches Experiment die Aporie narrativer Tageliedpräsenz bestätigt. Der Temporalität im Minnesang widmet sich auch der Beitrag von Caroline Emmelius, der mit der Klage, am Beispiel der Minneklagen Friedrichs von Hausen und Reinmars, ein exemplarisches Genre des Zusammenspiels lyrischer und narrativer Qualitäten in den Blick nimmt. Dazu macht Emmelius auf den meist übersehenen Sachverhalt aufmerksam, dass Stierles These von der Transgression narrativer Strukturen im lyrischen Anti-Diskurs nicht zuletzt eine Inversion von Geschichte und Diskurs impliziert, die uneingesehen auch im Modell von Hühn und Schönert wirksam ist. Zugleich fehlt diesem Modell ein expliziter Geschichtsbegriff, der die narrative Temporalität hinlänglich erfasst. Auf der Basis einer entsprechenden Ergänzung unterscheidet Emmelius ausgehend vom Verhältnis von Diskurs und Geschichte zwei Klagetypen, einen einfachen retrospektiven und einen gedoppelten retro- und prospektiven, wobei die Minneklage dem letzten Typus angehört. In der stimmlich-klanglichen Medialisierung dieses Verhältnisses entsteht, wie an den Klagen Friedrichs von Hausen gezeigt wird, eine narrative Dynamik, die auf der histoire-Ebene nicht zum Abschluss kommt, dafür aber in der minnesängerischen Selbstreflexivität einen Zeitlichkeitseffekt hat, den Emmelius als paradoxe, zeitintensivierende Entzeitlichung fasst. Selbst bei Reinmar, dessen Klagen kaum noch eine histoireEbene aufweisen, ist die Geschichte implizit wirksam: Begründet über den bei Hausmann dargestellten Konflikt mit der minnesängerischen Norm der Ich-Rede, bestimmt gerade die Abwesenheit der Geschichte die Zeitlichkeit der Klage als latente Gattungsvoraussetzung mit. Eine doppelte Erweiterung des Textspektrums nimmt dann Timo Reuvekamp-Felber vor. Nicht nur, dass er mit einem weiten Lyrikbegriff ope-
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riert, indem er den mittelhochdeutschen Sangspruch am Beispiel des Tannhäusers in den Blick nimmt, er konzentriert sich auch auf Reflexe epischer Texte am Beispiel der Verwendung von narrativ präformierten Figurennamen. Dabei kritisiert Reuvekamp-Felber einen defizitären Intertextualitätsbegriff, der die Normgebundenheit mittelalterlicher Literatur zu hoch veranschlagt und daher eine prinzipielle Differenz zu neuzeitlichen Intertextualitätsrelationen ansetzt, wo nur von einer graduellen Differenz auszugehen wäre. Reuvekamp-Felbers Begriff der Interfiguralität versteht sich auf dieser Grundlage als ein Ansatz, das am Figurennamen haftende Wissen um episch präformierte Plotelemente in die Lyrik einzuspielen. Er unterscheidet demnach nicht nur typologisch zwischen partizipierend-assimilierendem und kritisch-distanzierendem Gebrauch von Namen, sondern markiert vor allem die Möglichkeit der spielerischen Freisetzung narrativer Konnotationen. Dabei zeigt Reuvekamp-Felber zum einen, wie anhand der Tristanfigur der narrative Prätext als Konnotation zersetzt wird. Zum anderen wird am Beispiel der Anfortasfigur deutlich, dass die Polyphonie, die in narrativen Texten problematisch wirkt, im Zusammenhang mit der lyrischen Semantik aufgehoben werden kann. In der transgenerischen Perspektive der Interfiguralität erweist sich so ein normatives Intertextualitätsverständnis als methodisch unangemessene Beschränkung der historischästhetischen Möglichkeiten lyrisch-narrativer Übergänge. Sucht man im Gegenzug in mittelhochdeutschen Erzählformen nach Übergängen zu lyrischen Möglichkeiten, dann bietet das Werk Wolframs von Eschenbach ideales Anschauungsmaterial. Manuel Braun nimmt es in den Blick, um die Möglichkeiten einer transgenerischen Analyse kritisch durchzuspielen. Einerseits insistiert Braun dazu grundsätzlich auf einem taxonomischen Gattungsbegriff, der eine strikte Trennung in Epik und Lyrik vorsieht, andererseits zeigt er komplementäre Übergangsphänomene zunächst für das Tagelied und den Parzival auf. Diese betreffen die generischen Annäherungen der forcierten Episierung des Tagliedes, die dort verlorengeht, wo sich auch seine Semantik einem epischen MinneKonzept annähert, und gegenläufig dazu die lyrischen Minnekonzepte in der Handlung des Parzival, deren Semantik wiederum dort ausfällt, wo der narrative Diskurs auch formal der lyrischen Diktion angenähert wird. Eine formale wie inhaltliche Korrelation zwischen Narrativik und Lyrik vollzieht erst der Titurel. Braun nimmt ihn auf der Basis einer vorläufigen Skalierung zwischen autoreflexiv-ludischer Sprachverwendung auf der einen und der narrativen Präsentation einer zeitlich vergangenen, sinnhaften Ereignisfolge auf der anderen Seite in den Blick. Zwischen diesen Polen kann dann der Titurel verortet werden, wobei Braun zur vorher angesetzten, traditionellen Gattungstaxonomie zurückkehrt und auf der Stellung des Titurel zwischen Epik und Lyik besteht, die dessen literarisches Potential ausmacht.
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Vollends im narrativen Kontext operieren die Überlegungen von Armin Schulz, die auf die poetische Funktion des Liet von Troye zielen, wie sie durch Elemente des Minnesangs in den Vordergrund tritt. Diesem Effekt liegt aber eine strukturelle Annäherung an die Lyrik voraus, die Schulz als Paradigmatisierung des Erzählens beschreibt. Das Spannungsverhältnis zwischen formalen Anklängen an den Minnesang mit seiner höfischen Axiologie und der antiken materia mit der ihr inhärenten Gewaltthematik lässt sich demnach nicht einfach als Diskreditierung der höfischen Ideologie lesen. Eine solche Interpretation ist nicht zuletzt mit Blick auf die Semantik der Minnesangmotive unzutreffend, schon weil diese die Spannung von Minne und Gewalt kennt. Freilich geht bei der Annäherung an die lyrische Motivik oder Topik nicht nur deren konnotative Semantik in das Erzählen über, sondern auch die Konnotationen der Minne scheinen zu allgemein höfischen Konnotationen ambiguisiert zu werden. Dies führt zu der These, dass insbesondere der Natureingang nicht einfach als episch oder lyrisch determiniert, sondern als generisch ambivalent zu betrachten ist, ebenso wie das Verhältnis von Minne und Gewalt in ihm immer schon als prekär erscheint. In der Zeitlosigkeit der erzählten Welt, die mit einer rekurrenten Paradigmatisierung des Erzählens einhergeht, kommt Herborts Roman stellenweise den Verfahren einer lyrischen Semantik nahe, was für Schulz vor allem heißt, dass die poetische Praxis dieses Textes eine Herausforderung an literaturwissenschaftlich eingespielte Kohärenzbegriffe darstellt. Den Übergängen von lyrischen und narrativen Semantiken gilt auch der Beitrag von Hartmut Bleumer. Er vertritt am Beispiel des Frauendienstes Ulrichs von Liechtenstein die These des wechselseitigen, paradoxen Bedingungsverhältnisses von narrativer und lyrischer Zeitform, wie sie sich in epischem Präteritum und in lyrischem Präsens niederschlägt. Index des lyrisch-narrativen Wechselverhältnisses ist zunächst der eigentümliche literarische Realitätseffekt, der sich auf die Dominanz lyrischer Isotopien in der narrativen Diegese zurückführen lässt, der aber zugleich auf ein dialektisches Verhältnis von narrativer und lyrischer Zeit führt. In den narrativen Schwierigkeiten des Erzählers und den entsprechenden praktischen Problemen der nicht enden wollenden Eskapaden seines Protagonisten wird deutlich, dass die in der Minne angestrebte, erst von der Lyrik erreichte Emergenz einer stetig wiederholbaren, nicht veraltenden und zugleich überzeitlichgegenwärtigen Minneerfüllung erst auf der Basis eines narrativen Zeitkonzeptes gedacht und erstrebt werden kann. Zugleich aber ist die Minneerfüllung in diesem narrativen Zeitkonzept nicht zu haben, weil die lyrische Zeit die narrative Zeit aufhebt. Während das erzählte Geschehen im narrativen Kontext zunehmend die Möglichkeiten der narrativen Sinnkonstitution einbüßt und eben darum als krude Realität erscheint, erweist sich die zeitliche Dialektik am Beispiel der Tagelieder und des Kuss-Gedichtes als Grund für den Erfolg der lyrischen Semantik und ihrer Metaphern.
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Dass transgenerische Übergangseffekte nicht auf die weltliche Literatur beschränkt sind, sondern sich auch in geistlicher Literatur finden und hier in ihren ästhetischen Möglichkeiten geradezu zu sich selbst kommen können, machen zwei Beiträge für den Bereich der deutschen Mystik deutlich. Sandra Linden zeigt auch für das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg jene narrative Transgressionsfigur auf, die sich als konzeptionelle Linie des Bandes abzeichnet. Gerade Mechthilds polygenerisch angelegter Text folgt einem narrativen Grundbedürfnis, das aber nur begrenzt realisierbar ist, da sich die Erzählversuche des Ichs mit zunehmender Gottesnähe auflösen müssen. Deshalb geht das Erzählen hier in lyrische Verdichtungen über. Die von Linden nachgezeichneten Parallelen zu weltlichen lyrischen Formen erweisen sich für das semantische Verfahren des mystischen Sprechens als höchst aufschlussreich, weil sich in der Musikalität des Fließenden Lichts die lyrische Engführung von Wortsinn und Sprachklang noch einmal verdichtet und sich als Übergangsstruktur erweisen lässt, in der einerseits die parallelen Stimmen von Ich und Gott ineinanderfließen, über die aber andererseits auch der Rezipient an der Gotteserfahrung ästhetisch teilhaben kann. Als innerer sinnlicher Vorgang findet in den derart lyrisch verdichteten Passagen das theoretische Konzept der inneren Sinne seine konsequente Realisierung. Der von Linden bereits angedeutete Übergang von narrativem Desiderat zur klanglichen Verdichtung des jubilus bildet schließlich das Zentrum der Überlegungen von Burkhard Hasebrink. Dieser übernimmt die These einer paradoxen stimmlichen Semantik von lyrisch-narrativen Präsenzeffekten in weltlicher Literatur und stellt diesem Modell vergleichbare Mechanismen der geistlichen Literatur zur Seite: am Beispiel des jubilus als eines die Grenze der sprachlichen Möglichkeiten überschreitenden, unmittelbaren sinnlichen Ausdrucks religiöser Freude. Zum einen kennt die Frauenmystik Strategien, in denen narrative Strukturen zunächst entworfen, an ihre Grenzen geführt und dann entsprechend im jubilus transgrediert werden. In den Predigten Taulers werden solche Verfahren aufgegriffen und bestätigt, um zum anderen selbst noch einmal kritisch überschritten zu werden. Mit Niklaus Largier kann Hasebrink zunächst betonen, dass die religiöse Praxis geistlicher Literatur sich auf ein spezifisches Konzept ästhetischer Erfahrung zurückführen lässt, das solche sinnlichen Paradoxierungen im Dienste religiöser Transzendenzerfahrung begründet. Weil aber in der spekulativen Mystik die sinnliche Praxis selbst als unzulänglich, ja trügerisch gilt, kommt es in einem Negationsverfahren sinnlicher Präsenz bei Eckhard zu deren nochmaliger Paradoxierung: Im Rückzug aus den spannungsreichen sinnlichen Vermittlungs- oder Simulationsverfahren göttlicher Präsenz führt das Konzept der Gelassenheit zur Erkenntnis Gottes, das die medialen Aspekte der ästhetischen Erfahrung nicht einfach verwirft, sondern nochmals übersteigt.
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Insgesamt erkunden die Beiträge damit ein Feld von strukturverwandten lyrisch-narrativen Interferenzen, deren transgenerische Dynamiken und Effekte eine entsprechend transgressive Forschungsdynamik als wünschenswert erscheinen lassen. Wenn die in diesem Band skizzierten historischen Effekte und theoretischen Begriffe eine permanente Interferenz von Narrativik und Lyrik wahrscheinlich machen können, die sich in verschiedenen Literaturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit beobachten lässt und die aktuelle Theoriebildungen und historisch-poetische Praxis in ein korrelatives Verhältnis bringt, dann wäre die systematische Erschließung dieser Interferenz weiterhin entschieden zu betreiben. Dadurch könnte eine Kartierung ästhetischer Effekte möglich sein, die bislang als generische Sonderfälle gelten – aber vielleicht nur deshalb, weil die Spuren ihrer konzeptionellen Verbindung noch nicht deutlicher nachgezeichnet wurden.
I. Theorien, Konzepte, historische Leitmodelle
Jan Borkowski / Simone Winko
Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und zu seinen Ersetzungsvorschlägen I. Vorbemerkung ‚Wer spricht das Gedicht?‘ – Die leitende Frage unseres Beitrags ist in der Forschungsgeschichte zur Lyrik ebenso unterschiedlich beantwortet worden wie die Wolfgang Kaysers nach dem Erzähler des Romans:1 Es ist der empirische Autor, der ein Gedicht spricht; es ist eine Instanz im Text, die das Gedicht äußert; es ist der Leser, der es hersagt; oder es gibt gegebenenfalls gar keine Sprechinstanz, denn Gedichte werden nicht gesprochen, sondern gesungen, manchmal sogar nicht-verbal artikuliert. Diese vorläufige Liste heterogener Antworten umreißt zugleich das Spektrum der Forschungspositionen. Am meisten verbreitet ist die Position, den Gedichttext dem lyrischen Ich zuzuschreiben. Diese Instanz, die ihre Bindung an die Gattung Lyrik schon im Namen führt, wird bekanntlich ebenfalls recht unterschiedlich bestimmt und ist umstritten. Nach seiner Einführung durch Margarete Susmann (1910), seiner Aufnahme durch Oskar Walzel (1916) und nach einer jahrzehntelangen Verwendungspraxis, die sich von den Zielen der Einführung teilweise deutlich entfernte, wurde der Begriff lyrisches Ich zuerst mit der Arbeit Kaspar Spinners (1979) und dann in einer Reihe von Studien der 1980er und 1990er Jahre sowohl kritisiert als auch immer wieder neu bestimmt. Ein radikaler Höhepunkt der Kritik ist seine Verabschiedung. Sie wurde eher pauschal bereits 1972 durch Walther Killy, dann begründet beispielsweise durch Dieter Burdorf (1995) und Jörg Schönert (1999) vollzogen, führte aber noch nicht dazu, den Begriff aus der Praxis des Faches zu verbannen. Gegen solche Abschaffungsbestrebungen setzen Forscher wie Harald Fricke und Peter Stocker (2000) sowie Matías Martínez (2002) Vorschläge für eine kontrollierte Weiterverwendung eines klar bestimmten Konzepts des lyrischen Ichs. 1
Wolfgang Kayser: Wer erzählt den Roman? In: Ders., Die Vortragsreise. Studien zur Literatur, Bern 1958, S. 82–101.
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Die wechselvolle Geschichte des Konzepts bildet den Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Auffällig ist, dass gerade in den lyriktheoretischen Debatten der letzten Jahre der Begriff lyrisches Ich an wissenschaftlicher Reputation verloren hat. Diese Debatten stehen im Zeichen unterschiedlicher Versuche, die Gattungstheorie der Lyrik zu verbessern und Begriffe und Verfahren der Lyrikanalyse zu präzisieren.2 Ein vielversprechender Weg zu diesem Ziel wird darin gesehen, die Lyriktheorie an die Standards der Narratologie anzupassen, die seit den 1980er Jahren als ein besonders erfolgreiches Forschungsgebiet gelten kann. Im Zuge des Versuchs, Modelle für eine verbesserte Lyrikanalyse aus der Übertragung bewährter erzähltextanalytischer Modelle zu gewinnen,3 wurde auch das lyrische Ich für verzichtbar erklärt und durch andere, für Erzähltexte einschlägige Instanzen ersetzt. Damit steht die neuere Debatte über das lyrische Ich in enger Beziehung zum Thema dieses Bandes; die Frage nach der Sprechinstanz in Gedichten lässt sich geradezu in Begriffen der Interferenzen zwischen Lyrik und Narrativik und mithin in Kategorien der Überschreitung traditioneller Gattungsgrenzen formulieren: Ist es angemessen, das überwiegend als gattungskonstitutiv eingeschätzte Konzept einer spezifisch lyrischen Sprechinstanz durch ein erzähltextanalytisches zu ersetzen, zumindest aber durch ein Konzept, das gattungsübergreifend verwendet werden kann? Zu klären ist, unter welchen Bedingungen eine solche Ersetzung sinnvoll ist und welchen begrifflichen und analytischen Nutzen sie bringt. In einem ersten Abschnitt wollen wir wichtige Positionen in der Verwendungsgeschichte des Begriffs lyrisches Ich in aller Kürze rekonstruieren. Dabei soll – anders als in vorliegenden Übersichten über die Verwendung dieses Konzepts –4 besonders hervorgehoben werden, unter welchen Aspek2
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Vgl. z. B. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989; Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse, 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 1997 (SM 284); Renate Homann: Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne, Frankfurt a. M. 1999; Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff, Paderborn 2009. Z. B. Walter Bernhart: Überlegungen zur Lyriktheorie aus erzähltheoretischer Sicht. In: Tales and „their telling difference“. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. FS zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hrsg. von Herbert Foltinek/Wolfgang Riehle/ Waldemar Zacharasiewicz, Heidelberg 1993 (Anglistische Forschungen 221), S. 359– 375; Peter Hühn/Jörg Schönert: Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34 (2002), S. 287–305; Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Narratologie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera Nünning/Ansgar Nünning, Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), S. 129–153. Hingewiesen sei hier auf die ausführliche Darstellung von Sandra Schwarz: Stimmen. Theorien lyrischen Sprechens. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Hrsg. von Hans Vilmar Geppert/Hubert Zapf, Bd. 3, Tübingen, Basel 2007, S. 91–123, hier S. 92–109. Obwohl auch Schwarz’ leitende Frage der Sprechinstanz im Gedicht gilt (vgl. ebd., S. 93), können wir ihren Überblick über die Antworten hier nicht übernehmen. Zum einen bezieht sie nicht nur Positionen aus der Lyrikforschung ein, sondern auch solche aus Poetiken sowie allgemeine literaturtheoretische Annahmen und wertet die verschiedenen
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ten die teilweise sehr heterogenen Positionen vergleichbar sind. Beabsichtigt ist ein typologischer Überblick über die Begriffsbestimmungen und Argumente für (II.1) und wider (II.2) die Verwendung des Konzepts lyrisches Ich. Besonders zu achten ist dabei auf die Abhängigkeit des Konzepts lyrisches Ich und seiner Alternativkonzepte von gattungsnormativen Vorgaben. Anschließend sollen in einem kurzen Vergleich der unterschiedlichen Positionen Folgerungen für ein Modell der Sprechinstanz in Gedichten gezogen werden (III.). Dabei werden gerade die Vielfalt und Langlebigkeit vorliegender Antworten zu berücksichtigen sein. Wir schließen unseren Beitrag mit einem Plädoyer für eine voraussetzungsarme, integrative und zugleich hinreichend differenzierte Antwort auf die Frage ‚Wer spricht das Gedicht?‘ (IV.). Sie ergibt sich aus den vorher aufgezeigten Problemen. II. Zur Debatte um den Begriff lyrisches Ich II.1 Positionen und Argumente der Befürworter Die eingangs erwähnte Heterogenität der Begriffsverwendung zeigt sich u. a. darin, dass zur Erläuterung des lyrischen Ichs unterschiedliche theoretische Annahmen herangezogen werden. Je nachdem, ob der Bezug auf den Autor, auf rezeptionstheoretische Konzeptionen oder auf gattungstheoretische Einteilungen im Vordergrund stehen, lassen sich mit relativer Trennschärfe drei Gruppen unterscheiden. Ferner werden innerhalb dieser Gruppen zum Teil widersprüchliche Argumente angeführt, um die vertretenen Positionen zu begründen. Im Zusammenhang mit den heterogenen Begriffsbestimmungen oder aus ihnen abgeleitet ergeben sich des weiteren verschiedene Auffassungen davon, wie das Verhältnis zwischen empirischem Autor und lyrischem Ich zu bestimmen ist, welche Kriterien zu seiner Identifikation im Text angegeben werden, und wie das Verhältnis des Begriffs zur Gattung Lyrik gesehen wird. Vertreter der ersten Gruppe bestimmen den Begriff vorrangig dadurch, dass sie sich in ihrer Argumentation auf den Autor bzw. ein bestimmtes Autorkonzept beziehen. Margarete Susmann führt den Begriff ein, um das ‚redende Ich‘ im Gedicht von dessen Autor in biographischer Hinsicht abzugrenzen. Sie weist die Vorstellung zurück, wonach Lyrik „ein persönliches, ja subjektives Gebilde“ sei,5 und sieht im lyrischen Ich „kein gegebe-
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Antworten nicht systematisch aus, was ihre Vergleichbarkeit erschwert. Zum anderen setzt Schwarz für ihre Rekonstruktion der Positionen passagenweise das narratologische Konzept der Stimme ein, was zu einer unfreiwilligen Homogenisierung unterschiedlicher Konzeptionen führt. Margarete Susmann: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart 1910 (Kunst und Kultur 9), S. 16.
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nes, sondern ein erschaffenes Ich“,6 das Träger der „über das persönliche Schicksal hinausgehobene[n] Wahrheit des Dichters“ ist.7 Das lyrische Ich verweist demnach insofern auf den empirischen Autor, als er Urheber allgemeingültiger Aussagen ist, die das lyrische Ich ausmachen.8 Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt auch Oskar Walzel, wenngleich auf der Grundlage anderer Prämissen. In reiner Lyrik im Sinne Friedrich Theodor Vischers, die Walzel auch als lyrische Gedichte bezeichnet,9 seien nicht Aspekte der Biographie des empirischen Autors relevant, „sondern das Gefühl, das zum Erlebnis geworden ist und zu vollem, reinem und allseitigen Ausdruck gelangen will“.10 Das lyrische Ich ist also auch hier Träger allgemeingültiger Aussagen, deren Urheber der empirische Autor ist. Im Unterschied zur Aufschwungslyrik, in der die „höchste Subjektivität auf lyrischem Feld“ zu finden sei,11 ist das lyrische Ich der ‚reinen Lyrik‘ durch „Entichung“ ausgezeichnet,12 d. h. durch den Verzicht auf subjektive und persönliche Aussagen. Eine biographische Deutung des Gedichtes muss daher auch dessen „eigentlichen künstlerischen und menschlichen Wert“ verfehlen, was Walzel am Beispiel eines Gedichtes von Goethe zu zeigen versucht.13 Während Susmann und Walzel mit je eigenen Begründungen die Allgemeingültigkeit der inhaltlichen Aussage eines Gedichts betonen, ist für Wolfgang G. Müller das lyrische Ich in der Subjektivität der sprachlichen Form des Gedichtes gegeben, d. h. – vereinfacht gesprochen – im Individualstil des Autors. Er erklärt: „Das lyrische Ich liegt vor, wo sich das Subjektive in besonderer Weise in der sprachlichen Form des Textes dokumentiert.“14 Anders als die drei eben genannten Vertreter, bei denen die Unterscheidung zwischen empirischem Autor und lyrischem Ich im Mittelpunkt der Überlegungen steht, unternimmt Käte Hamburger eine ‚aussagentheoretische‘ Bestimmung des lyrischen Ichs, bei der Autor und Textinstanz „im logischen Sinne identisch“15 sind. Hamburger nimmt an, dass 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Ebd., S. 18. Ebd., S. 16. In diesem Zusammenhang spielen bestimmte Konzeptionen von Mythos und Symbol eine Rolle, die an dieser Stelle jedoch unerörtert bleiben müssen; vgl. ebd., S. 11–28. Vgl. Oskar Walzel: Schicksale des lyrischen Ichs. In: Ders., Das Wortkunstwerk. Mittel seiner Erforschung, Leipzig 1926. Nachdruck Darmstadt 1973, S. 270. Ebd., S. 271. Ebd., S. 268. Ebd., S. 271. Ebd. Wolfgang G. Müller: Das lyrische Ich. Erscheinungsformen gattungseigentümlicher Autor-Subjektivität in der englischen Lyrik, Heidelberg 1979 (Anglistische Forschungen 142), S. 31. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Ungekürzte Ausg. Nach der 3. Aufl. 1977, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980 (Ullstein-Taschenbuch 39007), S. 242.
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das Aussage-Subjekt immer identisch mit dem Aussagenden, dem Sprechenden oder dem Verfasser eines Wirklichkeitsdokumentes ist. Darum ist das lyrische Aussagesubjekt identisch mit dem Dichter, ebenso gut wie das Aussagesubjekt eines historischen, philosophischen oder naturwissenschaftlichen Werkes identisch mit dem Verfasser des jeweiligen Werkes ist.16
Hamburger geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass Lyrik einen spezifischen Ort im Dichtungssystem hat – im Unterschied zu den anderen literarischen Gattungen liegt dieser Ort im „Aussagesystem der Sprache“ selbst.17 Lyrisches Sprechen stellt eine spezielle Form der „Aussage eines Subjekts über ein Objekt“ dar, bei der im Unterschied zu den fiktionalen Gattungen Prosa und Drama kein ‚fiktives‘ Aussagesubjekt erzeugt werde.18 Für Vertreter der zweiten Gruppe spielen bei der Bestimmung des lyrischen Ichs vor allem rezeptionstheoretische Erwägungen eine Rolle. Kaspar H. Spinner versteht das lyrische Ich in Anlehnung an die Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers mit ihrem Begriff der Leerstelle als „Leerdeixis“.19 Damit ist gemeint, dass das deiktische System eines Gedichtes im Gegensatz z. B. zu nicht-fiktionaler Rede unterdeterminiert ist. Spinner schreibt dem lyrischen Ich eine Funktion im Verstehensprozess zu.20 Um ein Gedicht zu verstehen, müsse sich der Leser „die durch die Ich-Deixis geschaffene Blickrichtung in einer Art Simulation aneignen“.21 Ähnlicher Ansicht ist Heinz Schlaffer, der die These vertritt, dass das lyrische Ich ein RollenIch sei, das sich der Rezipient durch Nachsprechen aneigne, wobei er für einen Moment sein ‚alltägliches Ich‘ suspendiere.22 So kann er pointiert formulieren: „Wer ist das Ich im Gedicht? – Jeder der es spricht.“23 Auch für Schlaffer ist dabei die Einsicht wichtig, dass das ‚Ich‘ im Gedicht semantisch unterdeterminiert ist. Im Anschluss an Emile Benvenistes Analyse des Pronomens ‚ich‘ als „‚leeres Zeichen‘ (‚signe vide‘), das erst durch den Gebrauch im jeweiligen Diskurs eines Sprechers aufgefüllt
16 17 18 19 20 21
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Ebd. Ebd., S. 214. Ebd., S. 207. Kaspar H. Spinner: Zur Struktur des lyrischen Ich, Frankfurt a. M. 1975 (Studien zur Germanistik; Studienreihe Humanitas), S. 17. Vgl. ebd., S. 19 und 26. Ebd., S. 18. Ähnlich argumentieren auch Fricke und Stocker: Das lyrische Ich bezeichne „eine poetische Leerstelle, die zur imaginativen Füllung ebenso einlädt wie gegebenenfalls zur persönlichen Identifikation“ (Harald Fricke/Peter Stocker: Art. „Lyrisches Ich“. In: RLW 2 (2000), S. 509–511, hier S. 509). Zur Kritik an Spinner und Schlaffer vgl. Matías Martínez: Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs. In: Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von Heinrich Detering, Stuttgart, Weimar 2002 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 24), S. 376–389, hier S. 385 f. Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik. In: Poetica 27 (1995), S. 38–57, hier S. 44. Ebd., S. 38.
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werde“,24 beschreibt er das lyrische Ich als eigenschaftslos und daher offen für die Aneignung durch den Rezipienten.25 Vertreter der dritten Gruppe schließlich beziehen sich auf Dieter Lampings Definition des lyrischen Gedichtes. Hier stehen also bestimmte gattungstheoretische Überlegungen im Vordergrund. Lamping versteht unter lyrischen Gedichten solche Gedichte, „die Einzelrede in Versen sind“.26 Einzelrede in Versen bestimmt er mithilfe dreier Kriterien als monologische, absolute und strukturell einfache Rede.27 Zum lyrischen Ich äußert er sich nur am Rande. Er geht davon aus, dass Einzelrede in jedem Fall ein sprechendes Subjekt voraussetzt, und nimmt an, dass es lyrische Gedichte gibt, die im Sinne der von Spinner vertretenen Position Rede eines lyrischen Ichs sind.28 Der Begriff spielt für ihn jedoch offensichtlich keine große Rolle, da er ihn in seiner Monographie nicht weiter thematisiert oder verwendet. Harald Fricke und Peter Stocker beziehen sich in ihrer Explikation des Begriffs insofern auf Lamping, als sie annehmen, dass das lyrische Ich das sprechende Subjekt in lyrischen Gedichten im erläuteten Sinne sei und auf dieser Grundlage vom Erzähler der Ballade und der Figur im Rollengedicht abgegrenzt werden könne.29 Deutlicher ausgeprägt ist der Bezug bei Matías Martínez. In enger Anlehnung an Lampings Definition des lyrischen Gedichtes bestimmt er das lyrische Ich als „den Typus eines Sprechers, der sich in absoluter Einzelrede äußert“.30 Während Fricke und Stocker den Begriff des lyrischen Ichs weitgehend im Einklang mit der von Lamping akzeptierten Bestimmung Spinners verwenden, weicht Martínez insofern deutlich von Lamping ab, als er sie auch auf Gedichte ausdehnt, die nach Spinner kein lyrisches Ich aufweisen.31 Die drei Gruppen bestimmen den Begriff lyrisches Ich also sehr unterschiedlich. Allerdings bedeutet die Zugehörigkeit zu einer der drei Gruppen noch nicht, dass die folgenden drei Fragen auch gleich beantwortet werden: (1) Wie verhalten sich empirischer Autor und lyrisches Ich zueinander? (2) Anhand welcher Kriterien lässt sich das lyrische Ich im Gedichttext identifizieren? (3) Ist das lyrische Ich gattungskonstitutiv? Vielmehr sind gruppenübergreifende Unterschiede festzuhalten, die im Folgenden näher beschrieben werden sollen. 24 25 26 27 28 29
Ebd., S. 40. Vgl. ebd., S. 48. Lamping (Anm. 2), S. 63 (Hervorhebung i. Original). Vgl. zu den einzelnen Kriterien: ebd., S. 64–68. Vgl. ebd., S. 75 f. Vgl. Fricke/Stocker (Anm. 21), S. 509. Lamping hingegen würde auch Rollenlyrik zu den lyrischen Gedichten zählen, vgl. Lamping (Anm. 2), S. 63. Ferner gehören auch Gelegenheits- und Chorlyrik zu dieser weit gefassten Gattung; vgl. ebd. 30 Martínez (Anm. 21), S. 389. 31 Martínez verzichtet bei seiner Bestimmung des lyrischen Ich explizit „auf linguistische Kriterien wie die Verwendung von Personalpronomen oder deiktische Termini“, ebd., S. 388 f.
Wer spricht das Gedicht?
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(Zu 1) Mit Blick auf das Verhältnis zwischen lyrischem Ich und empirischem Autor gehen die Meinungen zum Teil weit auseinander. Eine Minderheitsposition nimmt Hamburger ein, wenn sie, wie oben zitiert, von der Identität der beiden Instanzen ausgeht. Die meisten Befürworter des Begriffs postulieren eine Nicht-Identität zwischen lyrischem Ich und empirischem Autor, begründen diese Entscheidung jedoch sehr unterschiedlich. Bei einigen bleibt der empirische Autor sogar eine wichtige, weil emphatisch konzipierte Bezugsinstanz, die Urheber von Texten besonderer Qualität ist, sei es, dass diese Qualität in der Allgemeingültigkeit der Aussage gesehen wird (Susmann, Walzel), sei es, dass sie durch den individuellen Stil des Gedichts auf das sprachkünstlerische Genie des Autors verweist, wie Müller dies annimmt. Er geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass „in der Lyrik eine engere und intensivere Beziehung von Autor und Werk möglich ist als in den beiden anderen Hauptgattungen“.32 In flagrantem Widerspruch zu Müller versteht hingegen Schlaffer die sprachliche Form des Gedichtes als vom Leser bestimmt, d. h. durch formale Merkmale wie Metrum, Reim, Vers- und Strophenform auf Nachsprechbarkeit hin angelegt.33 Der Autor spielt bei ihm keine Rolle.34 Spinner sieht im Rekurs auf den Autor eine in das Belieben des Lesers gestellte Möglichkeit, die jedoch für das Verstehen des Gedichtes nicht wesentlich sei; ein Umstand, durch den „sich das Gedicht als poetisches Gebilde aus[weist]“.35 In dieselbe Richtung geht auch der Hinweis von Fricke und Stocker, wonach man das lyrische Ich nicht ohne Weiteres mit dem empirischen Autor gleichsetzen könne.36 Einig sind sich die Vertreter dieser Position lediglich darin, dass sie alle mit im Einzelnen verschiedenen Argumenten eine biographische Deutung des lyrischen Ichs ablehnen. Eine vermittelnde Position nimmt in dieser Frage Martínez ein: Autoren könnten im Gedicht teils selbst, teils in der Rolle anderer sprechen und in beiden Fällen solle von einem lyrischen Ich die Rede sein.37 Er belegt diese Annahme anhand von Goethes Gedicht Vom Berge. Stehe es in seinem Reisetagebuch oder in Dichtung und Wahrheit, dann sei eine biographische Lesart vorzunehmen. Erscheine das Gedicht in einem Publikationskontext wie beispielsweise einer Gesamtausgabe, dann sei der biographische Kontext nicht erforderlich, um das Gedicht zu verstehen.38 32 33 34 35 36 37 38
Müller (Anm. 14), S. 9. Vgl. Schlaffer (Anm. 22), S. 38. Vgl. ebd., S. 38, 40 f., 47 f., 56. Spinner (Anm. 19), S. 16. Fricke/Stocker (Anm. 21), S. 509. Vgl. Martínez (Anm. 21), S. 388. Vgl. ebd., S. 383 f. Eine Variante der These, dass die Klassifikation eines Gedichts mit seinem Erscheinungskontext wechselt, findet sich auch bei Hamburger (Anm. 15), S. 214; je nach Publikationskontext ist ein und dasselbe Gedicht als lyrisches oder nicht-lyrisches Gedicht einzustufen.
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(Zu 2) Ebenfalls unterschiedlich beantwortet wird die Frage, anhand welcher Kriterien im Text das lyrische Ich zu erkennen sei. Es lassen sich zwei Positionen unterscheiden. Vertreter der ersten Position führen ein grammatisches Kriterium an. Dazu zählen im Einzelnen Pronomina der ersten und zweiten Person, Deiktika und die Verbflexion.39 Weitgehende Einigkeit besteht auch darin, dass es sich bei diesen grammatischen Kriterien um hinreichende, nicht jedoch um notwendige Bedingungen handelt. Auch wenn diese Kriterien fehlen, wird angenommen, dass das Gedicht ein lyrisches Ich aufweisen könne, was mit Zusatzannahmen begründet wird, die sich im Detail wieder sehr unterscheiden. Spinner nimmt unter Bezug auf die generative Transformationsgrammatik an, dass die Deixis ein Phänomen der Tiefenstruktur ist, die an der Textoberfläche grammatisch unterschiedlich realisiert werden kann.40 Daher sind Fälle denkbar, „in denen eine direkte Sprecherdeixis nicht vorhanden, aber doch als substituierte erkennbar ist“.41 Die gleiche Auffassung vertreten auch Fricke und Stocker.42 Auch Hamburger nimmt in der Regel ein pronominales Kriterium an, das jedoch nicht notwendigerweise gegeben sein muss. Relevant ist für sie in erster Linie das Vorliegen eines lyrischen Aussagesubjekts.43 Steht bei den drei genannten Positionen ein pronominales Kriterium bzw. die Sprecherdeixis im Zentrum der Überlegungen, so vertritt Schlaffer darüber hinaus die Ansicht, dass auch die Verbflexion, z. B. im Falle der Apostrophe, eine „Zuordnung zu einem sprechenden Ich zwingend“ erscheinen lassen kann, selbst wenn ein Pronomen fehlt.44 Vertreter einer zweiten Position legen dagegen andere Entscheidungskriterien zugrunde. Bei Martínez ist das Redekriterium entscheidend.45 Daher kann er z. B. auch bei einem Gedicht wie Brechts Aus allem etwas machen, in dem weder Pronomina noch Verbformen noch deiktische Ausdrücke auf einen Sprecher verweisen, ein lyrisches Ich ansetzen.46 Da Walzel die Allgemeingültigkeit der Aussage als Kriterium annimmt, kann er die Pronomina der ersten und zweiten Person ebenfalls für nicht relevant erklä39
40 41 42 43 44 45 46
Vgl. Spinner (Anm. 19), S. 12–16; Schlaffer (Anm. 22), S. 38 f.; Fricke/Stocker (Anm. 21), S. 509 f. Da Susmanns Überlegungen von der Verwechslung von empirischem Autor und lyrischem Ich ausgehen, nimmt auch sie ein pronominales Kriterium an; allerdings thematisiert sie die Frage der Identifizierung nicht; vgl. Susmann (Anm. 5), S. 16–20. Vgl. Spinner (Anm. 19), S. 16. Ebd., S. 26. Vgl. im Anwendungsteil die Beispiele von Rilke, Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens …, ebd., S. 115–125 und Trakl, Klage (Schlaf und Tod …), ebd., S. 126–136. Vgl. Fricke/Stocker (Anm. 21), S. 509 f. Die Autoren sprechen in diesem Fall auch von einem impliziten Ich, das z. B. im Dinggedicht vorliege, auch wenn der Sprecher nicht anhand pronominaler Kriterien zu erkennen ist, vgl. ebd., S. 510. Vgl. Hamburger (Anm. 15), S. 255. Schlaffer (Anm. 22), S. 38 f., zit. S. 39. Siehe dazu oben, S. 48. Vgl. Martínez (Anm. 21), S. 387.
Wer spricht das Gedicht?
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ren. Auch wenn in einem zur „reinen Lyrik“ gehörenden Gedicht z. B. ‚er‘ stehe, liege dennoch ein lyrisches Ich vor.47 Für Müller schließlich ist das Vorliegen eines lyrischen Ichs an den Stil des Gedichtes, d. h. an ein erneut völlig anderes Kriterium gebunden. (Zu 3) Was das Verhältnis zur ‚Lyrik‘ betrifft, besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass das lyrische Ich konstitutiv für die Gattung ist. Dabei kann angenommen werden, dass das Vorhandensein eines lyrischen Ichs ein notwendiges oder ein hinreichendes Merkmal für Lyrik sei, aber auch, dass sich das lyrische Ich nur mit Bezug auf ein notwendiges Merkmal der Gattung Lyrik bestimmen lasse. Beträchtliche Abweichungen ergeben sich jedoch im Hinblick auf die Merkmale, welche die Gedichte mit lyrischem Ich miteinander teilen und folglich im Hinblick auf die – z. T. nicht immer ganz klare – Extension des Lyrikbegriffs. Susmanns Auffassung der Gattung Lyrik hängt mit ihrer Mythoskonzeption zusammen. In der Lyrik und nur dort manifestierten sich „die ewigen Zusammenhänge des Mythos“ durch das „in den allgemeinen ewigen Zusammenhängen des Seins lebende Ich“, das sie als lyrisches Ich bezeichnet.48 Walzel ist nicht primär an gattungssystematischen Fragen interessiert.49 Das Vorhandensein eines lyrischen Ichs ist bei ihm an ‚lyrische Gedichte‘ gebunden, die mit Vischer von Aufschwungs- und Betrachtungslyrik abzugrenzen sind.50 Für Hamburger ist Lyrik der „Inbegriff aller lyrischen Gedichte“.51 Sie zeichnet sich durch einen besonderen Aussagetyp aus, genauer durch ein besonderes „Verhalten der Aussage zum Objektpol“, das darin gesehen wird, dass die Aussage des lyrischen Textes sich nicht auf das Objekt der Aussage richtet, sondern „ihr Objekt in die Erlebnissphäre des Subjekts hineinzieht und damit verwandelt“.52 Lyrik wird konstituiert durch den „‚kundgegebenen‘ Willen des Aussagesubjekts, sich als ein lyrisches Ich zu setzen, und das heißt durch den Kontext, in dem wir ein Gedicht antreffen.“53 Demnach weist nicht jedes Gedicht, wohl aber jedes zur Lyrik gehörende Gedicht ein lyrisches Ich auf. Für Spinner ist das lyrische Ich konstitutiv für solche Gedichte, die sich durch spezifische Formen des „Ich-Sagens im Gedicht“ auszeichnen.54 Den prototypischen Fall stellt die Aussage eines Subjekts über sich selbst dar. Müller geht davon aus, dass das lyrische Ich „nur (oder vorzugsweise) in der Lyrik“ vorkomme.55 Es trete 47 48 49 50 51 52 53 54 55
Vgl. Walzel (Anm. 9), S. 270 u. 274. Susmann (Anm. 5), S. 16. Vgl. Walzel (Anm. 9), S. 265. Vgl. ebd., S. 265 f., 270. Hamburger (Anm. 15), S. 213. Ebd., S. 255, auch S. 220. Hamburger (Anm. 15), S. 214. Spinner (Anm. 19), S. 20. Müller (Anm. 14), S. 31.
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eher selten in der Rollenlyrik und im (romantischen) Volkslied überhaupt nicht auf, weil in diesen Fällen dem Autor kaum Spielraum zur individuellsprachkünstlerischen Gestaltung gegeben sei.56 Die Gedichte, denen Schlaffer ein lyrisches Ich zuspricht, zeichnen sich dagegen durch andere formale Merkmale wie Kürze, Metrum, Vers, Reim u. a. aus, durch die sie nachsprechbar bzw. sangbar werden und „reflexionslose Aneignung“ ermöglichen.57 Nicht dazuzuzählen sei demnach ‚dunkle‘ Lyrik der Moderne seit Mallarmé, aber auch Erlebnisdichtung wie z. B. Klopstocks Der Zürchersee.58 Fricke und Stocker sowie Martínez gehen, wie die Begriffsbestimmung bereits gezeigt hat, davon aus, dass ein lyrisches Ich in lyrischen Gedichten im Sinne Lampings vorliegt. Aufgrund des Redekriteriums sind diese von dramatischen (z. B. dialogischen)59 und epischen Gedichten (wie z. B. Balladen) abgegrenzt. Es dürfte anhand dieses kurzen Überblicks deutlich geworden sein, dass die Annahme eines lyrischen Ichs mit sehr heterogenen, z. T. als gattungsspezifisch angesehenen Zusatzannahmen über Lyrik verbunden ist. Der Übersichtlichkeit halber sind die Ergebnisse unserer Rekonstruktion der unterschiedlichen Forschungspositionen in der folgenden Tabelle kurz zusammengefasst.
56 57 58 59
Vgl. ebd., S. 46 u. 50. Schlaffer (Anm. 22), S. 56 f., Zitat S. 57. Ebd., S. 57. Vgl. hierzu auch Martínez (Anm. 21), S. 389.
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Wer spricht das Gedicht?
Typologie verschiedener Positionen zum Begriff ‚lyrisches Ich‘ Begriffsbestimmung
Verhältnis lyrisches Ich / empirischer Autor
Kriterien der Identifikation im Text
Verhältnis zur Gattung ‚Lyrik‘
Susmann 1910
Das lyrische Ich ist „Form eines Ich“ (18); wird erschaffen aus dem ‚Material‘ des empirischen Dichter-Ichs (16, 19 u. ö.).
nicht identisch
[grammatisches Kriterium]
gattungskonstitutiv: lyrisches Ich ist wesentlich für die Gattung Lyrik (vgl. 16)
Walzel 1926
Das lyrische Ich nicht identisch liegt dort vor, wo ein allgemeingültiges Gefühlserlebnis Gegenstand des Gedichtes ist (vgl. 270 f.).
Vorliegen eines allgemeingültigen Gefühlserlebnisses (vgl. die Bestimmung des Begriffs)
gattungskonstitutiv: Vorhandensein eines lyrischen Ichs ist wesentlich für lyrische Gedichte (vgl. 265 f.)
Hamburger 1957
Das „lyrische Ich [ist] ein echtes, ein reales Aussagesubjekt“ (239, vgl. auch 207).
lyrisches Ich = reales Aussagesubjekt = Dichter
in der Regel grammatisches, notwendig aber strukturelles Kriterium (lyrisches Aussagesubjekt) (vgl. 242, 255)
gattungskonstitutiv: nur Vorhandensein eines lyrischen Aussagesubjekts bedingt ‚echte Lyrik‘ (vgl. 255)
Spinner 1975
Das lyrische Ich wird als „sprachliches Phänomen“ aufgefasst und bezeichnet „das abstrakte Etwas, dem die Eigenschaften, Handlungen, Erfahrungen des Gedichts zugeschrieben sind“ (12, 17).
nicht identisch
grammatisches Kriterium: Sprecher-Deixis (vgl. 16)
gattungskonstitutiv: Vorhandensein eines lyrischen Ichs ist wesentlich für eine spezifische Form der Ich-Aussage in Gedichten (vgl. 20)
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Begriffsbestimmung
Verhältnis lyrisches Ich / empirischer Autor
Kriterien der Identifikation im Text
Verhältnis zur Gattung ‚Lyrik‘
Müller 1979
Der Begriff lyri- nicht identisch sches Ich bezeichnet die subjektive sprachliche Form des Gedichtes (vgl. 31, passim).
Individualstil des Autors (folgt aus der Bestimmung des Begriffs)
gattungskonstitutiv: Vorhandensein eines lyrischen Ichs ist wesentlich für die Gattung Lyrik (vgl. 31)
Schlaffer 1995
Das lyrische Ich nicht identisch ist gekennzeichnet durch ein formelhaftes grammatisches ‚ich‘, das sich der Rezipient beim Nachsprechen des Gedichtes als Rollen-Ich aneignet (vgl. 40 f., 44, 48).
grammatisches Kriterium: Pronomina, Deixis, Verbflexion (vgl. 38 f.)
gattungskonstitutiv: Vorhandensein eines lyrischen Ichs ist wesentlich für Gedichte, die „reflexionslose Aneignung“ ermöglichen (57)
Fricke/ Stocker 2000
Das lyrische Ich ist die „nichtmarkierte Sprecherinstanz“ (510) in ‚lyrischen Gedichten‘ (vgl. Lamping 3. Aufl. 2000, 63–68).
nicht identisch
Vorliegen eines lyrischen Gedichtes im Sinne Lampings
gattungskonstitutiv: Vorhandensein eines lyrischen Ichs ist wesentlich für lyrische Gedichte (vgl. 509)
Martínez 2002
„Das lyrische Ich bezeichnet den Typus eines Sprechers, der sich in absoluter Einzelrede äußert.“ (389, vgl. Lamping 1989, 63–68).
kann, muss aber nicht mit den Autor identisch sein (vgl. 389)
Vorliegen eines lyrischen Gedichtes im Sinne Lampings
gattungskonstitutiv: Vorhandensein eines lyrischen Ichs ist wesentlich für lyrische Gedichte (vgl. 388)
Wer spricht das Gedicht?
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II.2 Positionen und Argumente der Kritiker Der Blick auf wichtige Stationen der fast einhundertjährigen Verwendungsgeschichte des Begriffs lyrisches Ich scheint eine durchaus erfolgreiche Karriere offenzulegen: Es handelt sich um einen weit verbreiteten Begriff, und seine Bedeutungsvielfalt dürfte seine häufige Verwendung begünstigt haben. Diese Bedeutungsvielfalt allerdings umfasst, wie gesehen, auch widersprüchliche Bestimmungen, und damit handelt es sich um einen unklaren Begriff, dessen Verwendung wissenschaftlich mindestens problematisch ist. Eben diese mangelnde Präzision und Widersprüchlichkeit nehmen die meisten Kritiker des Konzepts zum Ausgangspunkt für ihre Ablehnung und für die Suche nach Alternativkonzepten. So betonen beispielsweise Killy und Burdorf, der Begriff sei historisch belastet, da er an eine bestimmte Lyrikkonzeption gebunden sei; werde er auf Gedichte anderer als ‚erlebnislyrischer‘ Epochen übertragen, führe er zu Anachronismen.60 Schönert kritisiert darüber hinaus mangelnde Trennschärfe und eine zu geringe Differenzierungsleistung: Unterscheiden könne man mithilfe des Begriffs allenfalls zwischen dem empirischen Autor und einem textinternen Ich, nicht aber zwischen verschiedenen textinternen Instanzen, was für eine Gedichtanalyse nicht ausreichend sei.61 Schiedermair moniert eine unzulässige Implikation des Begriffs: Die Bezeichnung lyrisches Ich suggeriere eine Besonderheit in der sprachlichen Verwendung des Pronomens ‚ich‘ im Gedicht, die faktisch nicht gegeben sei.62 Im Unterschied dazu wendet sich Jaegle vor allem gegen die normative Verwendung des Begriffs, der zur Rekonstruktion historischer Entwicklungen ebenso wenig tauge wie zu definitorischen Zwecken.63 Über diese Einwände hinaus entwerfen einige der Kritiker aber auch Modelle, die die Gattungsspezifika der Lyrik angemessen beschreiben sollen, und schlagen Begriffe vor, die sich für die Analyse von Gedichten fruchtbarer einsetzen lassen als der Begriff des lyrischen Ichs. Diese Modelle beziehen sich auf unterschiedliche Auffassungen der Gattung Lyrik und fallen entsprechend unterschiedlich aus. Sie seien im Folgenden knapp gesichtet. Gemeinsam ist ihnen, dass sie als Mehrebenenmodelle bezeichnet werden können: Sie postulieren verschiedene und verschieden benannte 60 61 62 63
Walther Killy: Elemente der Lyrik, München 1972, S. 4; Burdorf (Anm. 2), S. 194; Hühn/Schönert (Anm. 3), S. 291. Jörg Schönert: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis u. a., Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 289–294, hier S. 294. Simone Schiedermair: ‚Lyrisches Ich‘ und sprachliches ‚ich‘. Literarische Funktionen der Deixis, München 2004, S. 89. Vgl. Dietmar Jaegle: Das Subjekt im und als Gedicht. Eine Theorie des lyrischen TextSubjekts am Beispiel deutscher und englischer Gedichte des 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 66 f.
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Instanzen in einem textuell oder kommunikativ bestimmten Zusammenhang. Jeweils einer dieser Instanzen wird die Funktion eines abstrakten oder impliziten Autors zugeschrieben. Jaegle unterscheidet zwischen dem historischen Autor-Subjekt und einer textuellen Instanz, die er „(lyrisches) Text-Subjekt“ nennt und die sich aus der Wechselbeziehung zweier selbstbezüglicher Ebenen im Text ergibt, dem „(Gedicht-)Text als Subjekt“ und dem „Subjekt im (Gedicht-)Text“.64 Da er mit Bezug auf kognitionsbiologische Annahmen Humberto Maturanas und anderer konstruktivistisch argumentiert, ist für ihn auch der historische Autor ein „Subjekt als Prozeß in Raum und Zeit“, das zu dem „Subjekt im und als Gedicht als Prozeß im Gedicht-Raum und der GedichtZeit“ in Beziehung gesetzt werden müsse.65 Den Blick auf diese wichtige Wechselwirkung verhindere aber gerade die Unterscheidung zwischen empirischem Autor und lyrischem Ich. Insofern ist die Instanz des lyrischen Textsubjekts als komplexeres Pendant zum lyrischen Ich aufzufassen. Dessen Fehler sollen zum einen durch die Binnendifferenzierung in Text als Subjekt und dem Subjekt im Text vermieden werden. Ein „Subjekt im (Gedicht-)Text“ liegt dann vor, wenn in einem Gedicht Pronomina der ersten Person Singular vorkommen. Ein solches Gedicht informiert in „persönlicher“ Weise über die „‚subjektive[]‘ Welt im (Gedicht-)Text“.66 Der Gedichttext ist dagegen dann selbst Subjekt, wenn Pronomina der ersten Person Singular fehlen. Ein solches Gedicht informiert in „unpersönlicher“ Weise, wenn auch als „Selbstbeschreibung des Subjekts“ über die „Welt im (Gedicht-)Text“.67 Zum anderen will Jaegle die Probleme des Begriffs lyrisches Ich dadurch umgehen, dass er die Instanz lyrisches Textsubjekt mit Bezug auf eine allgemeine Konzeption lyrischer Subjektivität bestimmt und so Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen ‚Subjekten‘ herstellt.68 Dem liegt eine noch allgemeinere, im konstruktivistischen Modell begründete Annahme zur grundsätzlichen Konstitution von Subjektivität zugrunde, auf deren Basis wiederum die Gattung Lyrik in herausragender Weise geeignet erscheint, „das Struktur-Phänomen Subjekt bzw. (Selbst-)Bewußtsein zu verkörpern“.69 Die Bestimmung des Alternativkonzepts von Jaegle hängt also entscheidend von der konstruktivistischen Basis ab. 64 65 66 67 68
69
Ebd., S. 81–84. Ebd., S. 30. Ebd., S. 84. Ebd., S. 82. Vgl. ebd., S. 81: Die Vergleichbarkeit zwischen Autor-Subjekt und lyrischem Textsubjekt sieht Jaegle durch die „unabweisbar[e]“ „(subjekt)konstituierende Eigenschaft selbstreferentieller, d. h. rückbezüglicher, Strukturen“ gegeben (Hervorhebung i. Original). Als solche Strukturen lassen sich, so Jaegle, alle von ihm angenommenen Instanzen „(re)konstruieren“. Ebd., S. 89.
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Weniger voraussetzungsreich argumentiert Dieter Burdorf. Er plädiert im Anschluss an Rainer Nägele für die neutrale Bezeichnung „artikuliertes Ich“ oder „das Ich“, um die sprechende oder sich anders artikulierende Instanz im Gedicht zu benennen.70 Ein solches Ich ist immer dann, aber auch nur dann anzunehmen, wenn im Gedicht entsprechende grammatische Hinweise zu finden sind. Eingebettet ist diese Instanz in ein DreiEbenen-Modell, in dem erstens der empirische Autor, zweitens das analytische Konstrukt des „Textsubjekts“ als „strukturierende Instanz“ im Gedicht71 und drittens die sich artikulierenden Figuren voneinander zu unterscheiden sind. Das „artikulierte Ich“ kann, so Burdorf, „sich selbst artikulieren“, wird zugleich aber auch vom Textsubjekt artikuliert.72 Mit der Annahme eines Textsubjekts als Stellvertreter des Autors im Text steht Burdorf in einer strukturalistischen Tradition, die sich auf den Text als das Gegebene konzentriert. Von dieser Annahme ausgehend wird eine ‚Systemstelle‘ definiert, deren Konstruktion unabhängig vom empirischen Autor erfolgt, die aber zugleich eine Beziehung zu ihm ermöglichen soll. Diese Beziehung ist notorisch unklar und wird in aller Regel bildlich umschrieben, in diesem Fall mit dem Bild vom „Platzhalter“ des Autors im Text.73 Ein vergleichbares Modell skizziert Jörg Schönert in seinem Plädoyer gegen den Begriff lyrisches Ich. Er unterscheidet die Ebenen der Textproduktion, Textorganisation und der Äußerungen im Text und ordnet ihnen entsprechende Instanzen zu, den empirischen Autor, den impliziten Autor und den Sprecher bzw. die Stimme.74 Damit ließen sich die heterogenen Instanzen, die in der Forschung seit Susmann als lyrisches Ich bezeichnet worden sind, klar voneinander trennen und der umstrittene Begriff werde verzichtbar.75 Gedichte können, so Schönert, entweder der dialogischen bzw. monologischen Rede ohne Vermittlungsinstanz oder der narrativen Rede zugeordnet werden; in beiden Fällen sind „bezüglich der Subjekt-Orientierung“ die genannten drei Ebenen zu unterscheiden.76 Wie bei Burdorf scheint hier kein Bedingungsverhältnis zwischen vorgeschlagener Begrifflichkeit und zugrunde gelegtem Lyrikkonzept vorzuliegen; vielmehr sind es Annahmen über Bedeutung und Interpretierbarkeit von Literatur generell, die zum Vorschlag eben dieser Modelle führen.
70 71 72 73 74 75 76
Burdorf (Anm. 2), S. 194 f. Ebd., S. 195. Ebd. Ebd.; ebenso Peter Hühn: Geschichte der englischen Lyrik, Bd. 1, Tübingen, Basel 1995, S. 13, der die „Kompositionssubjekt“ genannte gestaltende Instanz im Gedicht in „gewisse[r] Nähe“ zum empirischen Autor stehen sieht. Vgl. Schönert (Anm. 61), S. 293 f. Vgl. ebd., S. 293. Ebd.
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Das wird auch im verwandten Beitrag von Peter Hühn und Jörg Schönert sichtbar, der das Modell um eine weitere Ebene ausbaut.77 Für die Autoren liegt das Spezifische der Lyrik unter anderem im „Herausstellen und Thematisieren der Doppelreferentialität künstlerischer Sprache“.78 Aus dieser Bestimmung ergibt sich das Ebenenmodell nicht zwingend; es folgt allerdings aus einer anderen grundlegenden Annahme: Hühn und Schönert gehen von einer anthropologischen Universalität der Praxis ‚Erzählen‘ aus, deren Verfahren und Funktionen auch Lyriktexte nutzen. Dazu zählen „Strukturieren von Erfahrungen“, „Konstitution von Sinn“ und „Vermitteln von Bedeutung“.79 Die Annahme solcher Universalität legitimiert die Übernahme fruchtbarer und etablierter Beschreibungs- und Analysekategorien aus der Narratologie, mit deren Hilfe wiederum der unterkomplexe und wenig klare Begriffsapparat lyrikanalytischer Verfahren präzisiert werden soll. Unter dieser Voraussetzung lässt sich Lyrik wie ein Erzähltext behandeln, der bestimmten gattungskonventionellen Bedingungen unterliegt. Das Nicht-Erzählen (wenn es denn überhaupt möglich ist) bildet die Ausnahme. Abweichend von dieser Gruppe der Kritiker führt Simone Schiedermair in ihrer linguistischen Auseinandersetzung mit dem Begriff lyrisches Ich ausschließlich sprachpragmatische Argumente an. Sie stellt die Frage nach dem lyrischen Ich als „Frage nach dem sprachlichen Ausdruck ‚ich‘ in Gedichten“80 und zieht neuere Arbeiten zur linguistischen Analyse der Deiktika heran. Deiktika haben demnach die Aufgabe, „die Orientierung des Hörers mit der des Sprechers zu synchronisieren“.81 Anders als in referenzsemantischen Ansätzen geht es in pragmatisch ausgerichteten Arbeiten also nicht primär um die auch in der Literaturwissenschaft immer wieder gestellte Frage, auf wen der Ausdruck ‚ich‘ im Gedicht referiere, sondern in erster Linie um dessen Funktionen in der kommunikativen Situation des Gedichts.82 Die Funktionen bestehen darin, das Gesagte zu perspektivieren 77
78
79
80 81 82
Unterschieden werden nun vier „perspektivierende Instanzen“: „der empirische Autor/Textproduzent; das Kompositions- oder Textsubjekt/der abstrakte Autor; der Sprecher/das Äußerungssubjekt/die Stimme; der Protagonist/die Hauptfigur oder Figuren“; Hühn/Schönert (Anm. 3), S. 296. Vgl. ebd., S. 289. Lyriktexte „konstituieren ein (Text-)Signifikat und verweisen gleichzeitig auf die Materialität (die sinnliche Beschaffenheit des Signifikanten)“, wobei die besondere Strukturiertheit der Lyrik als gattungskonventionell „rezeptionssteuernde Kategorie“ anzunehmen sei (S. 290). Peter Hühn/Jörg Schönert: Einleitung. Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dens./Malte Stein, Berlin, New York 2007 (Narratologia 11), S. 1–18, hier S. 1. Schiedermair (Anm. 62), S. 88. Ebd., S. 83. Schiedermair vertritt einen funktional-pragmatischen Ansatz im Anschluss an Ehlich; vgl. z. B. Schiedermair (Anm. 62), S. 123 f.
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und die Aufmerksamkeit der Leser oder Hörer auf die sprechende Instanz zu lenken,83 und diese Funktionen weichen in Gedichten nicht von denen in nicht-lyrischen Sprachzusammenhängen ab. Statt vom ‚lyrischen Ich‘ sei es daher sowohl angemessener als auch weniger suggestiv, schlicht vom ‚Ich‘ zu sprechen. Eine weitere Möglichkeit, den Begriff zu kritisieren, liegt ferner darin, ihn zu vermeiden. Dieser Kritiker-Gruppe ist Rüdiger Zymner mit seiner neuesten Studie zur Lyrik zuzurechnen.84 Für seine pointierten Vorschläge zu einer Metatheorie der Lyrik, in der traditionelle strukturelle Kriterien mit Bezug auf kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse ergänzt oder revidiert werden, spielt der Begriff weder gattungstypologisch noch textanalytisch eine Rolle. Die Kritikerpositionen seien auch hier – mit fragestellungsbedingt abweichenden Kategorien – der Übersichtlichkeit halber tabellarisch zusammengefasst. Typologie kritischer Positionen zum Begriff ‚lyrisches Ich‘ Motiv für die Ablehnung des Begriffs ‚lyrisches Ich‘
bevorzugter Begriff bzw. bevorzugte Begriffe
der Gattung Lyrik angemessenes Instanzen-Modell
Killy 1972
geringer Nutzen für die meisten Epochen und Gegenstände
–
–
Jaegle 1995
normative Verwendung des Begriffs
„(lyrisches) TextSubjekt“, das aus dem „(Gedicht-) Text als Subjekt“ und dem „Subjekt im (Gedicht-) Text“ besteht (81–84)
Drei-Instanzen-Modell: Autor-Subjekt – lyrisches Text-Subjekt – Text als Subjekt; Annahme einer strukturellen Parallele in Bezug auf die Prozesse allgemeiner Subjektkonstitution zwischen den genannten Subjekt-Typen
83 84
Vgl. ebd., S. 116. Der Begriff findet sich nicht einmal im Sachregister; zur Diskussion, ob es sich beim lyrischen Ich um eine empirische oder fiktive Größe handelt, vgl. Zymner (Anm. 2), S. 12–14.
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Motiv für die Ablehnung des Begriffs ‚lyrisches Ich‘
bevorzugter Begriff bzw. bevorzugte Begriffe
der Gattung Lyrik angemessenes Instanzen-Modell
historisch zu stark belasteter und zu unklarer Begriff
„artikuliertes Ich“ oder „das Ich“ (194)
Drei-Instanzen-Modell: empirischer Autor – „Textsubjekt“ – artikuliertes Ich / Ich; letzteres kann (a) „sich selbst artikulieren“ oder (b) vom „Textsubjekt“ artikuliert werden (195)
Schönert 1999 zu wenig trennscharfe Kategorie
wegen Heterogenität der Begriffe und ihrer Referenten kein einzelner Alternativbegriff
Drei-Instanzen-Modell: realer, empirischer Autor – impliziter Autor – Sprecher/ Stimme
Hühn/ Schönert 2002
durch unterschiedliche Bestimmungen historisch belasteter Begriff
wegen Heterogenität der Begriffe und ihrer Referenten kein einzelner Alternativbegriff
Vier-Instanzen-Modell: „der empirische Autor/ Textproduzent; das Kompositions- oder Textsubjekt/der abstrakte Autor; der Sprecher/das Äußerungssubjekt/die Stimme; der Protagonist/die Hauptfigur oder Figuren“ (296)
Schiedermair 2004
Begriff unterstellt fälschlicherweise eine spezifische Sprachverwendung im Gedicht
„Ich“
[Deiktika funktionieren in Lyrik wie in anderen Textsorten auch: „Ich“ in sprachlichen Äußerungen bewirkt eine Perspektivierung des Dargestellten und leitet die Aufmerksamkeit des Hörers / Lesers auf den Sprecher als Instanz im Kommunikationsprozess.]
Burdorf 1995
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III. Folgerungen für ein Modell der Sprechinstanz in Gedichten Unsere leitende Frage ‚Wer spricht das Gedicht?‘ wird in der Forschung sehr unterschiedlich beantwortet, und auch wenn die sprechende Instanz überwiegend als lyrisches Ich bezeichnet wird, sind die Antworten nur homonym, haben aber, wie der vorausgehende Überblick belegt, abweichende Bedeutungen. Wer diesen Begriff verwendet, sollte sich der Implikationen bewusst sein, die er mit ihm übernimmt. Das gilt auch für die zahlreichen unspezifischen Vorkommnisse des Begriffs in der Analysepraxis. Wird mit lyrisches Ich allein die Sprechinstanz eines lyrischen Texts benannt, ist der Begriff redundant, weil der Zusatz ‚lyrisch‘ hier allein als Indikator dient, dass wir es mit einem Gegenstand zu tun haben, der zur Gattung Lyrik gehört; ebenso müsste man in der Analyse einer Erzählung vom ‚Prosa-Ich‘ des Textes sprechen. Diese Verwendungsweise ist sinnfrei und sollte vermieden werden, weil sie zwar harmlos, zugleich jedoch mehrdeutig ist, da es dem Begriff nicht anzusehen ist, in welcher Bedeutung er ‚gemeint‘ wird. Welche Voraussetzungen man eingeht, wenn man in einer terminologischen Weise vom lyrischen Ich spricht, haben die vorangehenden Rekonstruktionen gezeigt. Auf welche Variante im Spektrum der Bestimmungen man sich bezieht, sollte hinreichend klar markiert werden. Eine neutrale Verwendung des Begriffs lyrisches Ich ist unseres Erachtens nur in einem Sinne möglich: als Begriff auf der Objektebene, d. h. als Quellenbegriff in der Geschichte der deutschen Lyrik, der sich schwerpunktmäßig in poetologischen Äußerungen von Lyrikern in der Zeit zwischen 1900 und den 1960er Jahren findet.85 Dieser Begriff aus dem Gegenstandsbereich lyrikgeschichtlicher Forschungen wäre dann metasprachlich zu präzisieren. Es geht uns hier allerdings nicht vornehmlich darum, den Plädoyers für die Abschaffung des Begriffs ein weiteres hinzuzufügen. Vielmehr sollte der Durchgang durch die Positionen helfen, die Gemeinsamkeiten und die Merkmale zu ermitteln, die eine Bestimmung des Sprechers im Gedicht berücksichtigen sollte. Gemeinsam sind allen Bestimmungen zwei Funktionen, die der Begriff lyrisches Ich jeweils erfüllen soll: Er soll zum einen die Analyse von Gedichten verbessern, indem er Differenzierungen erlaubt, die ohne ihn nicht zu leisten wären. Dies schreiben ihm seit Susmann alle Befürworter zu, wenn sie auch seine Leistungen unterschiedlich bestimmen. Um diese Funktion geht es ebenfalls in der Gruppe der Gegenkonzepte, während die zweite Funktion (mit Ausnahme Jaegles) für sie keine Rolle spielt. Diese zweite 85
Der früheste uns bekannte Beleg des Begriffs lyrisches Ich stammt aus dem Jahre 1894 und findet sich in einem Brief Alfred Momberts an Richard Dehmel; vgl. Alfred Mombert: Briefe an Richard und Ida Dehmel. Ausgewählt u. eingeleitet von Hans Wolfheim, Mainz, Wiesbaden 1956 (Abhandlungen der Klasse der Literatur; Akademie der Wissenschaften und der Literatur 1955, Bd. 5), S. 27.
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Funktion liegt darin, dass das Konzept lyrisches Ich gattungskonstitutiv verwendet wird: Es dient dazu, das Spezifikum von Lyriktexten zu erfassen. Es wurde deutlich, dass die Annahmen zur Gattungsspezifik der Lyrik entweder auf eine besondere Art der Sprachverwendung zielen oder auf eine ‚hinter‘ der sprachlich manifesten Oberfläche der Texte stehende besondere Beschaffenheit von Lyrik, die in älteren Ansätzen ontologisch, in neueren ästhetisch oder epistemologisch bestimmt wird. Dabei variieren, wie gesehen, die Auffassungen dessen, was als zentrales lyriktypisches Merkmal oder sogar als notwendige Bedingung für Lyrik zu gelten habe. Allerdings beziehen sich die verschiedenen Positionen auf historisch oder systematisch unterschiedliche Typen von Gedichten, was den Vergleich erschwert.86 Angesichts dieser Lage ist in einem ersten Schritt die Frage zu klären, ob die Sprech-Instanz in Lyriktexten tatsächlich als eine besondere zu konzipieren ist, ob sie also mit Bezug auf gattungskonstitutive Merkmale bestimmt werden muss. Für diese Forderung gibt es unseres Erachtens keine zwingenden Argumente, vor allem dann nicht, wenn ein möglichst weites, auf alle Gedichttypen anwendbares Modell gefunden werden soll. Die verschiedenen Positionen, die eine solche Korrelation vornehmen, grenzen entweder die Extension des Begriffs Lyrik stark ein oder beziehen sich nur auf eine besonders ausgewiesene Gruppe innerhalb aller Lyriktexte. Sie untersuchen damit die Besonderheit eines Sprechertyps unter eingeschränkten Bedingungen, und diese Bedingungen variieren zudem mit den unterschiedlichen Forschungszielen und Fragestellungen, wie unser Überblick gezeigt hat. Wenn es sich tatsächlich um ‚eine Gattung‘ handeln soll, auf die sich die verschiedenen Positionen beziehen, dann sollten die genannten Kriterien mit weniger weitreichendem Anspruch versehen und eben nicht als konstitutiv für die Gattung Lyrik, sondern schwächer als ‚typisch‘ für bestimmte Ausprägungen (Subgenres, historische Formen) verstanden werden. In einem zweiten Schritt sind die Merkmale zu sichten, die in diesem Sinne als typisch für Lyriktexte gelten können, um zu klären, ob und in welcher Weise sie für die Bestimmung der Sprechinstanz relevant sind. Das ‚Ich‘ im Gedicht wurde in beiden untersuchten Gruppen bestimmt als Garant für eine von empirischer Subjektivität gereinigte Allgemeingültigkeit (Susmann, Walzel), als Ausdruck einer sprachlich manifesten Spielart von Subjektivität (z. B. Müller, Jaegle), als semantisch unterdeterminierte und um leserseitige Informationen ergänzungsbedürftige Instanz (Spinner, Schlaffer), als empirisches Aussagesubjekt (Hamburger), als Sprecher, der sich besonderer sprachlicher Mittel bedient – absolute, monologische 86
Dass sich die Auffassungen von Sprechern im Gedicht z. B. mit verschiedenen Subjektivitätskonzepten im Laufe der Lyrikgeschichte ändern, macht unter anderem Gnügs Monographie deutlich; vgl. Hiltraud Gnüg: Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit, Stuttgart 1983 (Germanistische Abhandlungen 54).
Wer spricht das Gedicht?
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und strukturell einfache Rede in Versen – (Fricke/Stocker, Martínez mit Bezug auf Lamping), in neutralerem Sinne als Pendant zu einem in aller Regel homodiegetischen Erzähler (Schönert, Hühn), als sich artikulierende textuelle Größe (Burdorf) und als deiktischer Ausdruck ‚ich‘ (Schiedermair). Rekurrente Merkmale zur Bestimmung dieser Instanz sind damit die Allgemeinheit einer scheinbar subjektiven Aussage (Susmann, Walzel für die reine Lyrik), die – unterschiedlich bestimmte – Subjektivität lyrischen Sprechens, seine Performativität (Schlaffer), die spezifische Redesituation im lyrischen Gedicht, die eng mit dem Problem lyrischer Fiktionalität verbunden ist (Hamburger, Lamping, Fricke/Stocker, Martínez) und – sehr allgemein und im Einzelnen unterschiedlich bestimmt – die Funktion für die Vermittlung textueller Informationen (Schönert, Hühn, Burdorf, Schiedermair). Mit Ausnahme der Allgemeingültigkeit werden alle genannten Merkmale in der langen Debatte über das ‚Ich‘ in Gedichten immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen angeführt. Allein diese Tatsache deutet darauf hin, dass jedes dieser Merkmale in einer Hinsicht ‚phänomenadäquat‘ ist, und zwar mit Bezug auf unterschiedliche Aspekte des Phänomens Lyrik und unterschiedliche Gruppen von Lyriktexten. Eine einfache Antwort auf die Frage ‚Wer spricht das Gedicht?‘ ist also nicht zu erwarten. Wenn dies so ist, sollte das Modell der Sprechinstanz in Gedichten, ohne zu vage zu geraten, doch so offen formuliert werden, dass es ‚Anschlussstellen‘ für jedes dieser allgemeinen Merkmale gibt, die mit Bezug auf den jeweils untersuchten Gegenstand konkretisiert werden müssten. Die neueren Vorschläge der Kritiker und der Befürworter des lyrischen Ichs gehen in diese Richtung: Sie suchen einen Gewinn an Differenzierung, indem sie unterschiedliche Ausprägungen möglicher Sprechinstanzen berücksichtigen. Wichtig ist dabei, dass das Modell es zulässt, keine der historischen und systematischen Möglichkeiten von vornherein auszuschließen. Daher sollte im Fall widersprüchlicher Annahmen über die Sprechinstanz die flexibelste gewählt werden. Dass und warum es sinnvoll ist, ein weitgehend offenes, ‚fallsensitives‘ Konzept der Sprechinstanz im Gedicht zu formulieren, lässt sich besonders gut am Beispiel der unterschiedlichen Annahmen zum Verhältnis von empirischem Autor und textuellem Ich illustrieren. Das Spektrum der Positionen reicht, wie gesehen, von ‚immer identisch‘ über ‚manchmal identisch‘ bis ‚nie identisch‘.87 Da die Identität oder Nicht-Identität von Autor und Sprecher oftmals als ein Kriterium für Fiktionalität angesehen wird,88 führen die beiden Extrempositionen zu der wenig plausiblen Konsequenz, Lyrik-Texte 87 88
Zu ihrer prinzipiellen Nicht-Identität vgl. z. B. Burdorf (Anm. 2), S. 195. Z. B. Gérard Genette: Fiktion und Diktion. Aus dem Französischen von Heinz Jatho, München 1992 (Bild und Text), S. 83.
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aus prinzipiellen Gründen als ‚stets fiktional‘ oder ‚nie fiktional‘ klassifizieren zu müssen. Auch wenn hier nicht hinreichend ausführlich auf die Kontroverse eingegangen werden kann, ob Lyrik fiktional sei oder nicht, ist doch so viel klar, dass ein ‚Entweder-Oder‘ die tatsächliche Begriffsverwendung nicht adäquat abbildet. Vielmehr scheint es uns mit Rüdiger Zymner89 angemessener zu sein, von vornherein beide Möglichkeiten im Modell anzulegen und fiktionale wie auch nicht-fiktionale Lyrik zuzulassen. Im Sinne eines programmatischen Verzichts auf voraussetzungsvolle Konzepte sehen wir, anders als etwa die vorgestellten narratologischen Positionen, auch davon ab, eine umstrittene Instanz wie den abstrakten oder impliziten Autor zu implementieren,90 da sie uns mit unnötig starken Vorgaben verbunden zu sein scheint. Stattdessen schlagen wir im Folgenden ein neutraleres, weniger voraussetzungsreiches Modell vor. Es muss in der Lage sein, die offenbar erforderliche Differenzierungsleistung zu erbringen, d. h. es muss die verschiedenen Typen von Sprechinstanzen erfassen können, die wir im Durchgang durch die Positionen identifiziert haben. IV. Modell der Sprechinstanz im Gedicht Ein Modell zur Beschreibung der Sprechinstanzen, das so voraussetzungsarm wie möglich und so differenziert wie nötig konzipiert ist, muss zwei Aspekte angemessen berücksichtigen können. Die Frage ‚Wer spricht das Gedicht?‘ kann zum einen mit Hinweis auf eine konkrete Person, Figur oder andere Instanz beantwortet werden, die das Gedicht äußert. Dies ist die ‚referenzielle‘ Lesart der Frage. Um diesen Aspekt soll es in einem ersten Schritt gehen. Zum anderen verweist die Frage auf die – historisch, medial und genrespezifisch – unterschiedlichen kommunikativen Kontexte, in denen Gedichte auftreten. Um diesen Aspekt soll es in einem zweiten Schritt gehen. Zunächst jedoch eine terminologische Festlegung: Statt von lyrischem Ich werden im Folgenden die Begriffe Sprecher 1 (textinterner Sprecher) und Sprecher 2 (textexterner Sprecher) verwendet. Sprecher 1 ist eine zur Textwelt gehörende Kommunikationsinstanz, die als Figur ausgestaltet werden oder nicht-figürlich bleiben kann. Innerhalb der Textwelt ist Sprecher 1 der Urheber der Äußerungen, die den Gedichttext ausmachen, d. h. dass er die einzige feststellbare Kommunikationsinstanz ist, der die gesamte Versrede als seine bzw. von ihm vermittelte Rede zugeschrieben wird. Ein solcher 89 90
Vgl. Zymner (Anm. 2), S. 10–20. Auch Genettes Klassifizierung der Poesie als ‚diktional‘ vermeidet es, den Fiktionalitätsstatus von Lyriktexten von vornherein festzulegen; vgl. Genette (Anm. 88), S. 31 f. Zur fundierten Kritik an diesem Konzept vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy, Berlin, New York 2006 (Narratologia 9).
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Sprecher 1 kann auch der Erzähler einer Ballade sein, nicht jedoch die Figuren, die in einer Ballade miteinander reden, weil sie – mit dem hierarchisch konzipierten narratologischen Ebenenmodell gesprochen – vom Erzähler abhängen.91 Es gibt eine Vielzahl von Gedichten, in denen sich ein Sprecher 1 in diesem Sinne feststellen lässt; gleichwohl gilt dies nicht für alle Gedichte. Solchen Gedichten fehlt dann ein textinterner Sprecher. Sprecher 2 ist dagegen eine reale Kommunikationsinstanz. Sie wird hier angenommen, um den vielfältigen textexternen Kommunikationskontexten Rechnung zu tragen, in denen Gedichte vermittelt und rezipiert werden. Ein solcher Sprecher 2 kann z. B. derjenige sein, der bei dem dafür bestimmten Anlass ein Gelegenheitsgedicht vorträgt, ein Sänger, ein Rezitator oder die ‚Stimme‘, die in einem Hörbuch den Gedichttext realisiert. Sprecher ist dabei in einem weiteren Sinn zu verstehen und meint allgemein die Instanz, die den Gedichttext artikuliert. Auch ein Sänger ist daher ein Sprecher im hier gemeinten Sinne. Die Festlegung auf Sprecher ist vor allem dem Streben nach terminologischer Einfachheit geschuldet. Die Frage nach der Referenz der Gedichtrede ist, wie oben gezeigt, in der Forschungsdiskussion sehr unterschiedlich beantwortet worden. Als besonders problematisch scheinen sich dabei zwei Merkmale zu erweisen: die ‚Abstraktheit‘ der Sprechinstanz, die im Gedicht ‚ich‘ oder ‚wir‘ sagt, ein ‚Du‘ oder ‚Ihr‘ anredet etc., und die fehlende Kommunikationssituation, auf die sich das ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘ der Sprechinstanz bezieht. Es scheint sich um ein „abstrakte[s] Etwas“92 bzw. einen „formelhafte[n]“, durch „Eigenschaftslosigkeit“ gekennzeichneten Sprecher zu handeln.93 Spinner weist zudem darauf hin, dass „[i]n der Lyrik […] weder eine fiktive noch eine tatsächliche Kommunikationssituation, auf die die Deixis verweisen könnte, deutlich faßbar [ist].“94 Auch sei hier „keine fiktive Person vorhanden, auf die das Ich verweisen könnte“.95 Folgt man der Argumentation Schiedermairs, so kann diesem Problem sprachpragmatisch begegnet werden. Wie oben erläutert, besteht die pragmatische Funktion der Deiktika auch in der kommunikativen Situation des Gedichtes primär darin, das Gesagte zu perspektivieren und die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf die Sprechinstanz zu lenken. Es erscheint daher sinnvoll, bei der Beantwortung der Frage ‚Wer spricht das Gedicht?‘ die Kommunikationsteilnehmer in den Blick zu neh-
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In den meisten Gedichten liegt nur ein Sprecher 1 vor. Einen Sonderfall stellen Gedichte dar, in denen die gesamte Versrede dialogisch auf zwei Sprecher 1 verteilt ist. Zu denken ist hier an Gedichte wie Claudius’ Der Tod und das Mädchen, Hölderlins Sokrates und Alcibiades, Eichendorffs Waldgespräch oder Storms Geh nicht hinein. Spinner (Anm. 19), S. 17. Schlaffer (Anm. 22), S. 48. Spinner (Anm. 19), S. 14. Ebd., S. 15.
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men, v. a. die – nicht immer angemessen einbezogenen96 – Rezipienten, und sowohl den Verstehensprozess als auch die kommunikativen Kontexte etwas eingehender zu beschreiben. Darum soll es im Folgenden gehen. Die Kontexte, in denen Gedichte vorkommen, können recht unterschiedlich sein. Gedichte stehen in einem Gedichtband oder in einer Anthologie, sie sind Bestandteil von Gedichtzyklen oder in eine andere Textsorte (z. B. Romane) integriert, sie können bei einer Lesung vorgetragen oder in stiller Lektüre gelesen werden, für eine Radiosendung oder ein Hörbuch aufgenommen werden etc. Um diese vielfältigen kommunikativen Kontexte der Lyrik zu klassifizieren und zu beschreiben, kann auf ein Modell von Paul Georg Meyer zurückgegriffen werden.97 Meyers linguistisches Modell ist für die hier zu erörternden Fragen insofern besonders fruchtbar, als es zum einen eine differenzierte Beschreibung unterschiedlicher Kontexte ermöglicht und zum anderen gerade auch solche Texte beschreiben kann, die scheinbar keine Kommunikationssituation aufweisen, wie dies bei Gedichten häufig der Fall ist. Ferner lassen sich im Rahmen seines Ansatzes Fragen der Rezeption behandeln. Meyer unterscheidet drei Kontext-Typen: Der sprachliche Kontext bzw. Kontext 1 (auch: Ko-Text) bezeichnet „für jede sprachliche Äußerung in einer Situation […] alle übrigen Äußerungen in dieser Situation, für jeden Bestandteil eines Textes alle übrigen Bestandteile dieses Textes“.98 Der individuell-situative Kontext bzw. Kontext 2 beinhaltet zum einen die Kommunikationssituation. Dazu zählen „Zeit, Ort, Umstände, kopräsente Objekte, Partnerreaktionen, Perlokutionseffekte, konkomitierende Handlungen, suprasegmentale Faktoren“.99 Zum anderen gehören hierzu „diejenigen Elemente der Komplexen Voraussetzungssituation, die nur in dem Maße aktualisiert werden können, wie die Kommunikationspartner
96
97
98 99
Ebd. und Schlaffer (Anm. 22) berücksichtigen zwar den Rezipienten, bleiben allerdings referenzsemantischen Positionen verpflichtet. – Zur Bestimmung des Gattungsbegriffs Lyrik berücksichtigt zum ersten Mal Zymner (Anm. 2) konsequent kognitive Rezeptionsbedingungen. Paul Georg Meyer: Sprachliches Handeln ohne Sprechsituation. Studien zur theoretischen und empirischen Konstitution von illokutiven Funktionen in situationslosen Texten, Tübingen 1983 (Linguistische Arbeiten 135). Meyer baut hier zum Teil auf Überlegungen auf, die er in Paul Georg Meyer: Satzverknüpfungsrelationen. Ein Interpretationsmodell für situationsunabhängige Texte, Tübingen 1975 (Tübinger Beiträge zur Linguistik 61) angestellt hat. Auch wenn sich die Redeweise von situationslosen Texten nicht durchgesetzt hat, arbeitet Meyer doch mit Annahmen, die in der neueren Textlinguistik zum Standardwissen gehören. Meyer (Anm. 97), S. 20. Die Nachweise beziehen sich hier und im Folgenden stets auf Meyer: Sprachliches Handeln ohne Sprechsituation, 1983. Meyer (Anm. 97), S. 19; Meyer übernimmt den Begriff der Kommunikationssituation und die zugehörigen Faktoren aus Siegfried J. Schmidt: Texttheorie. Probleme einer Linguistik der sprachlichen Kommunikation, München 1973 (UTB 202).
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füreinander individuell identifizierbar sind“.100 Die ‚Komplexe Voraussetzungssituation‘ beinhaltet bei Siegfried J. Schmidt „alle spezifischen Bedingungen, Beschränkungen und Bestimmungen, unter denen Kommunikationspartner in Kommunikationsprozessen stehen“.101 Sie bildet das Repertoire für Situationspräsuppositionen, die Kommunikationspartner in der jeweiligen Kommunikationssituation zugrundelegen.102 Ein Kontext 2 liegt mit anderen Worten da vor, wo Emittent und Rezipient einen gemeinsamen kommunikativen Kontext bzw. Aspekte desselben teilen. Ein prototypisches Beispiel sind handlungsbezogene Gespräche, in denen alle Kontext-2-Merkmale realisiert werden, während z. B. bei Rundfunknachrichten Emittent und Rezipient nur das gleiche ‚Jetzt‘ (Zeit) und den auditiven Kanal (suprasegmentale Faktoren) gemeinsam haben.103 Der institutionelle Kontext bzw. Kontext 3 umfasst die kommunikative Kompetenz (Lexikon, Grammatik, Illokutionsregeln) sowie „die typischen Elemente der Komplexen Voraussetzungssituation, die die Kommunikationspartner aufgrund eines Wissens über institutionelle Rahmenbedingungen, Gruppenzugehörigkeit, kurz: ohne die Notwendigkeit gegenseitiger individueller Identifikation, aktualisieren können“.104 Mithilfe von Meyers Terminologie lässt sich das hier zu erörternde Problem folgendermaßen formulieren: Bei vielen Gedichten handelt es sich um ‚situationslose‘ Texte,105 d. h. um solche, denen einige oder alle Merkmale des Kontexts 2 fehlen. Das ist vor allem bei schriftlicher Kommunikation der Fall. Rezipienten können sich daher allein auf Elemente der Kontexte 1 und 3 beziehen. In Abhängigkeit von diesen Rezeptionsvoraussetzungen kann die Versrede einem Sprecher 1 im oben erläuterten Sinne zugeschrieben werden. Werden Elemente des Kontexts 2 realisiert, ist darüber hinaus ein Sprecher 2 anzusetzen.106 Im Folgenden sollen diese drei Kontext-Typen in Bezug auf Lyrik erörtert werden. Wir beginnen mit dem institutionellen Kontext (Kontext 3). Auch ‚situationslose‘ Texte weisen einen solchen Kontext auf, d. h. auch sie stehen in einer bestimmten Kommunikationssituation.107 Im Falle von Gedichten ist
100 101 102 103 104 105 106 107
Meyer (Anm. 97), S. 20. Schmidt (Anm. 99), S. 104; vgl. Meyer (Anm. 97), S. 19. Vgl. Meyer (Anm. 97), S. 19. Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 21. Zur Kommunikativen Kompetenz vgl. wieder Schmidt (Anm. 99). Vgl. zu diesem Begriff und seinen Problemen Meyer (Anm. 97), S. 21–23. Siehe dazu unten, S. 73–75. Den ‚richtigen‘ Kontext 3 zu identifizieren dürfte nicht schwer fallen, da es Signale gibt, die beim Rezipienten die entsprechende, z. T. schon recht spezifische, Texterwartung hervorrufen, v. a. paratextuelle Signale wie Buchtitel (‚Die schönsten deutschen Gedichte‘, ‚Großstadtlyrik‘ etc.), Reihentitel (z. B. ‚Winkler Weltliteratur‘), Verlagsnamen (‚kookbooks‘, ‚Deutscher Klassiker Verlag‘). Zur Texterwartung vgl. Meyer (Anm. 97), S. 30–33.
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hier an die Institution Literatur zu denken, wie sie sich seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet hat, bzw. an die relativ stabilen Umgangsweisen mit Lyrik in vormoderner literarischer Kommunikation. Rezipienten müssen hier ebenfalls bestimmte Situationspräsuppositionen aus der komplexen Voraussetzungssituation auswählen.108 Dazu dürften v. a. die folgenden Aspekte zählen, die zum Weltwissen der Rezipienten gehören: – literaturbezogenes Wissen, d. h. Wissen darüber, was Literatur allgemein und Lyrik im Besonderen ausmacht, z. B. über die formalen Spezifika von Lyrik – eine besondere Rolle dürfte hier auch gattungsspezifisches Wissen spielen, z. B. Wissen darüber, was Erlebnislyrik o. Ä. ist;109 – autorbezogenes Wissen, d. h. Wissen über den Autor und seine Zeit,110 über bestimmte Autorkonzepte u. a. – hierher gehört auch die Frage, ob man die Aussagen in einem Gedicht dem Autor zuschreiben darf oder nicht; – rezeptionsbezogenes Wissen, d. h. Wissen darüber, wie man Gedichte rezipiert: ob man Gedichte eher distanziert und reflektiert liest oder ob man sich in sie hineinversetzen, sich mit dem Sprecher 1 identifizieren darf u. a.; – außerliterarisches Weltwissen, z. B. Wissen über historische Zusammenhänge, über mythologische Figuren oder die Fähigkeit, Anspielungen auf die Bibel o. Ä. zu erkennen. Es dürfte auf der Hand liegen, dass die Menge und Qualität der potentiell inferierbaren Wissensbestände111 von Faktoren wie Bildung, Sozialisation, Lektüreerfahrung u. a. ebenso abhängt wie von individuellen Faktoren. Anzunehmen ist darüber hinaus ein ökonomisches Prinzip: Rezipienten bilden nicht so viele Inferenzen wie möglich, sondern nur so viele, wie not108 Vgl. dazu die verschiedenen Typen des Wissens, die Scherner als kognitive Voraussetzungen des Textverstehens anführt; Maximilian Scherner: Textverstehen als „Spurenlesen“. Zur texttheoretischen Tragweite dieser Metapher. In: Text und Grammatik. FS für Roland Harweg zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Peter Canisius/Clemens-Peter Herbermann/Gerhard Tschauder, Bochum 1994 (Bochumer Beiträge zur Semiotik), S. 317–340, hier S. 225–235. 109 Zur Bedeutung textsortenspezifischen Wissens für das Verstehen literarischer Texte vgl. exemplarisch Simone Winko: Textualitätsannahmen und die Analyse literarischer Texte. In: ZGL (2008), S. 427–443, bes. S. 430 u. 441. 110 Einige Gedichtsammlungen stellen solche Informationen sogar im Paratext bereit, vgl. z. B. die Kurzportraits zu den Autoren in: Reclams großes Buch der deutschen Gedichte. Vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert. Hrsg. von Heinrich Detering, Stuttgart 2007, S. 819–967. 111 Zur Rolle semantischer Inferenzen im Sprachverstehensprozess allgemein siehe z. B. Gert Rickheit/Hans Strohner: Grundlagen der kognitiven Sprachverarbeitung. Modelle, Methoden, Ergebnisse, Tübingen, Basel 1993 (UTB 1735), S. 228 f. sowie Heinz Vater: Einführung in die Textlinguistik. Struktur und Verstehen von Texten, 3. überarb. Aufl. München 2001 (UTB 1660), S. 148–152.
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wendig sind, um das Gedicht zu verstehen, wertzuschätzen oder von ihm emotional involviert zu werden.112 Dann ist auch die eingangs erwähnte ‚Eigenschaftslosigkeit‘ bzw. ‚Abstraktheit‘ des Sprechers 1 kein wirkliches Problem mehr. Wer z. B. Wandrers Nachtlied liest, erfährt nicht viel über den Sprecher 1 dieses Gedichtes – deutlich weniger jedenfalls als der Leser von Werther über Charlotte oder der Leser der Wahlverwandtschaften über Ottilie. Aber er wird deswegen nicht unendlich viele Inferenzen bilden, sondern nur so viele, wie notwendig sind, um eine kohärente Lesart des minimalistischen Gedichts zu gewinnen, indem er z. B. auf die emotionalen Dispositionen und die Sprechakte des Sprechers 1 schließt. Zum institutionellen Kontext (Kontext 3) gehört, wie bereits erwähnt, auch die kommunikative Kompetenz (Lexikon, Grammatik, Illokutionsregeln). Sie spielt vermutlich eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, ob Rezipienten dem Gedicht einen Sprecher 1 zuschreiben oder nicht. Weist ein Text besonders viele grammatische Kriterien auf, anhand derer der Rezipient durch Rekurs auf seine sprachliche Kompetenz das Gedicht als Rede eines Sprechers 1 identifizieren kann, besteht die Möglichkeit, diesen Sprecher 1 als literarische Figur zu begreifen. Dazu als Beispiel Rilkes Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort: Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort. Sie sprechen alles so deutlich aus: Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus, und hier ist Beginn und das Ende ist dort. Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott, sie wissen alles, was wird und war; kein Berg ist ihnen mehr wunderbar; ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott. Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern. Die Dinge singen hör ich so gern. Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm. Ihr bringt mir alle die Dinge um.113
Hier spricht die Menge an grammatischen Kriterien sehr dafür, einen Sprecher 1 anzusetzen: Pronomina der 1. Pers. Sg. (‚ich‘, ‚mich‘, ‚mir‘), Deiktika (‚dieses‘, ‚jenes‘, ‚hier‘, ‚dort‘), Anreden (‚Bleibt fern‘, ‚Ihr rührt sie an‘, ‚Ihr bringt mir alle die Dinge um‘). Zudem sind alle Verse als Rede eines zur Textwelt gehörenden Sprechers 1 erkennbar, ohne dass weitere Kommunikationsinstanzen greifbar wären. Es spricht nichts dagegen, diesen Spre112 Vgl. dazu Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin 2004 (Narratologia 3), S. 57–62. 113 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke, Bd. I: Gedichte. Erster Teil. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1995, S. 194 f.
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cher 1 als eine literarische Figur aufzufassen, ähnlich wie in Rollenlyrik. Der Unterschied ist kein qualitativer, sondern ein quantitativer im Hinblick auf die Informationsvergabe.114 Daneben gibt es natürlich auch Gedichte, die solche grammatischen Kriterien kaum oder gar nicht aufweisen. Doch auch sie können potentiell als Rede eines Sprechers 1 begriffen werden, der dann jedoch nicht als konkrete Figur erscheint, sondern als nicht-figürliche Kommunikationsinstanz, die aus einer Kontext-3-Zuschreibung resultiert. Dazu als Bespiel Brechts Aus allem etwas machen, das auch Martínez diskutiert: 1934, im achten Jahr des Bürgerkriegs Warfen Flugzeuge der Bourgeoisregierung Über dem Gebiet der Kommunisten Flugblätter ab Die auf den Kopf Maotse Tungs einen Preis setzten. Umsichtig Ließ der Gebrandmarkte Mao angesichts des Mangels An Papier und der Fülle der Gedanken die einseitig Bedruckten Blätter aufsammeln und brachte sie Auf der sauberen Seite bedruckt mit Nützlichem Unter der Bevölkerung in Umlauf.115
Martínez weist darauf hin, dass hier „von einer unpersönlichen, wertneutralen Darstellung keine Rede sein“116 kann und schließt: „Wie der Sprecher dieses Gedichtes den Antagonismus zwischen Mao und Tschiang einschätzt, auf wessen Seite er steht, ist offensichtlich.“117 In der hier verwandten Terminologie heißt das: Die qua sprachlicher Kompetenz erkannte wertende Perspektive kann im Kontext-3-Rahmen Anlass dafür sein, das Gedicht einem nicht-figürlichen Sprecher 1 zuzuschreiben. Anders verhält es sich mit einem Gedicht wie Der Römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer118: Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, 114 Daher scheint es nicht zwingend erforderlich, zwischen figürlicher Rollenlyrik und Gedichten mit nicht-figürlichem lyrischen Ich zu differenzieren, wie dies z. B. Fricke und Stocker annehmen; vgl. Fricke/Stocker (Anm. 21), S. 509. 115 Bertolt Brecht: Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940–1956, Berlin, Weimar, Frankfurt a. M. 1993 (Bertolt Brecht Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe 15), S. 208 f. 116 Martínez (Anm. 21), S. 387. Erkennbar sei diese wertende Perspektive an der durch isolierte Präsentation emphatisch betonten ‚Umsichtigkeit‘ Maos sowie an der Parallelisierung der mit „Nützlichem“ bedruckten „sauberen Seite“ der Flugblätter mit der Partei Maos (vgl. ebd.). 117 Ebd., S. 387. 118 Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 1: Gedichte. Besorgt von Hans Zeller und Alfred Zäch, Bern 1963, S. 170.
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Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht.
Hier erlauben weder grammatische Kriterien noch sonstige textuelle Merkmale die Zuordnung zu einem Sprecher 1. Wenn hier ein Sprecher 1 angenommen werden soll, handelt es sich um eine reine Kontext-3-Zuschreibung. Um die Gedichtrede einem als Figur ausgestalteten Sprecher 1 zuzuschreiben, können darüber hinaus Elemente des sprachlichen Kontexts (Kontext 1) relevant sein. Es gibt eine Reihe von Gedichten, die einen recht informativen sprachlichen Kontext aufweisen. Zu denken ist hier zum einen an Gedichtüberschriften. Insbesondere im Falle von Rollenlyrik stellt die Gedichtüberschrift einen wichtigen Kontext 1 dar, z. B. bei Claudius’ Die Sternseherin Lise, Goethes Prometheus und Ganymed oder Brentanos Der Spinnerin Lied. Hier dürfte dem Rezipienten die Entscheidung eher leicht fallen, die Aussagen des ‚ich‘ im Gedicht einem als Figur gedachten Sprecher 1 zuzuschreiben. Zudem ermöglicht eine Gedichtüberschrift wie Prometheus die Inferenz von umfangreichem Wissen zu dieser mythologischen Figur und ihrer Rezeption in der Epoche des Sturm und Drang. Zum anderen können die Zugehörigkeit zu einem Gedichtzyklus oder die Einbettung in einen Roman oder eine Novelle als zusätzlicher Kontext 1 fungieren. Zu denken ist hier z. B. an Stefan Georges Gedicht Vogelschau aus dem Gedichtzyklus Algabal. Aufgrund dieser Zugehörigkeit ist die Rede des ‚Ich‘ in dem besagten Gedicht als Rede einer literarischen Figur (Algabal) erkennbar. Ähnlich verhält es sich bei Gedichten wie Kennst du das Land? Wo die Zitronen blühn (Lied der Mignon) und Nur wer die Sehnsucht kennt (Lied des Harfners) aus Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre.119 Der sprachliche Kontext kann auch in einer weiteren Hinsicht von besonderer Relevanz sein. Meyer weist in diesem Zusammenhang auf einen textuellen Faktor hin, der in einem Kontext 3 die Rezeption mitbestimmt. Er stellt fest: „Je weniger Elemente des Kontexts 2 aktualisiert werden, desto stärker wirkt sich dies in der Textstruktur aus.“120 Diese Auswirkungen sieht Meyer in einer im Vergleich zu situationsbezogenen Texten größeren ‚funktionalen Dichte‘ in situationslosen Texten.121 Für Gedichte ist diese These 119 Vgl. zu diesen Aspekten auch Heinz Schlaffer: Orientierung in Gedichten. Text und Kontext der Lyrik. In: Poetica 36 (2004), S. 1–24. 120 Meyer (Anm. 97), S. 24, vgl. auch S. 27. 121 Vgl. Meyer (Anm. 97), S. 33–35, 53 f. Eine ausführliche Behandlung des Meyerschen Modells kann an dieser Stelle nicht erfolgen, zumal der Fokus seiner Studie auf nicht-literarischen Texten liegt; vielmehr wird Literatur explizit aus seiner Untersuchung ausgeklammert; vgl. ebd., S. 54. An anderer Stelle schreibt er: „Am größten ist diese [i. e. die funktionale Dichte] selbstverständlich in der am bewußtesten gestalteten Sprache, der poetischen Sprache.“ (ebd., S. 34).
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insofern besonders bedenkenswert, als es ein vielfach genanntes prototypisches Merkmal der Lyrik ist, formal besonders stark strukturiert zu sein. Wie man sich diese funktionale Dichte im Falle von Gedichten vorstellen kann, soll hier an einem Beispiel, Rilkes Herbsttag, illustriert werden. Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren laß die Winde los. Befiehl den letzten Früchten voll zu sein; gieb ihnen noch zwei südlichere Tage, dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße in den schweren Wein. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.122
Zunächst lässt sich festhalten, dass es gute Gründe für die Annahme gibt, dass dieses Gedicht einen Sprecher 1 hat: Perspektivierung („Der Sommer“), Deiktika („jetzt“), eine Anredeform („Herr: es ist Zeit“) sowie das flektierte Verb in der Form Imperativ Singular („Leg“, „laß“, „Befiehl“, „gieb“, „dränge“ und „jage“). Was dieser Sprecher 1 jedoch sagt, scheint auf den ersten Blick paradox zu sein. Gleich der erste Vers befremdet mit seiner pragmatisch wenig einleuchtenden Ermahnung „Herr: es ist Zeit“ – das wird der Herr selbst am besten wissen. Die folgenden sieben Verse der ersten beiden Versgruppen laufen auf die Bitte hinaus, den Lauf der Jahreszeit zu beschleunigen, obwohl die in der dritten Versgruppe beschriebene schlechte Zeit, die sich anschließt, nicht sehr verheißungsvoll zu werden verspricht, sondern durch Unproduktivität und Einsamkeit gekennzeichnet ist. Wäre es da nicht plausibler, sich zu wünschen, der Spätsommer möge noch etwas länger dauern? Offensichtlich zeigt dieses Gedicht einen von Unruhe und Rastlosigkeit getriebenen Sprecher 1, der demnächst selbst ziellos und „unruhig wandern“ wird. Er gehört nicht zu denen, die zu dem Herrn sagen „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (Ps. 31, 16). Die ersten beiden Versgruppen zeigen das symptomatisch. Zur Stützung dieser Lesart kann auf ein wichtiges Element der Textstruktur, das Metrum, verwiesen werden. Das Metrum des Gedichtes kann als auftaktig-alternierend (jambisch) bestimmt werden. Die metrische Betonung steht jedoch in einigen Fällen in einem Spannungsverhältnis zum standardsprachlichen Wort- bzw. Satzakzent. Gleich zu Beginn des ersten Verses müsste es nach metrischer Betonung heißen „Herr: és ist Zéit“. Das wäre jedoch sinnentstellend und wider122 Rilke (Anm. 113), S. 398.
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spräche pragmatischen und semantischen Gesichtspunkten, ohne dass man diese Abweichung im Sinne einer gestalterischen Absicht als funktionstragend auffassen könnte. Man würde wohl eher betonen „Hérr: es ist Zéit“, weil „Herr“ hier als Apostrophe fungiert und durch den Doppelpunkt auch orthographisch abgesetzt ist, während „es“ überhaupt keine semantische Relevanz besitzt, sondern lediglich ein Scheinsubjekt darstellt, das deswegen erforderlich ist, weil ein grammatikalisch wohlgeformter deutscher Aussagesatz stets mindestens Subjekt und Prädikat enthalten muss. Zu Beginn des sechsten Verses müsste es nach metrischer Betonung „drängé“ heißen. Der Wortakzent liegt jedoch eindeutig auf der ersten Silbe, da diese den Wortstamm bildet und im Deutschen Initialakzent gilt. Weitere Bespiele dieser Art ließen sich anführen (vgl. die Verse 2, 5 u. 12). Wichtig ist hier, dass dieses prosodische Merkmal als Element der Textstruktur betrachtet werden kann, das zur funktionalen Dichte des Gedichtes beiträgt. Die Formulierung einer Verstehenshypothese liegt nahe, derzufolge die durch standardsprachlichen Wort- und Satzakzent konterkarierte metrische Betonung als semantisiert anzusehen ist, z. B. indem man annimmt, dass sich in diesen Abweichungen vom metrischen Schema an auch inhaltlich einschlägigen Stellen des Textes die Unruhe und Rastlosigkeit des Sprechers 1 manifestieren. Für das Verständnis des Gedichtes ist es demnach relevant, die emotionale Disposition des Sprechers zu erkennen, für die es auch in der Textstruktur Indizien gibt. Darüber hinaus gehende Inferenzen des Lesers sind nicht ausgeschlossen, tragen jedoch nicht zum Verständnis der Rede von Sprecher 1 bei.123 Nachdem bisher die Kontexte 3 und 1 behandelt wurden, soll nun abschließend der ‚individuell-situative Kontext‘ (Kontext 2) im Hinblick auf die Rezeption von Gedichten betrachtet werden. Vielfach liegen zwar keine Kontext-2-Elemente vor, gleichwohl gibt es Fälle, in denen Gedichte in Rezeptionskontexten auftreten, die neben den genannten Elementen der Kontexte 1 und 3 auch solche des Kontexts 2 in einem für die Rezeption potentiell relevanten Sinne aufweisen und für die ein Sprecher 2 im eingangs erläuterten Sinne anzusetzen ist. In Anlehnung an eine tabellarische
123 Zu einem linguistisch bestimmten Verstehensbegriff vgl. Fritz Hermanns: Linguistische Hermeneutik. Überlegungen zur überfälligen Einrichtung eines in der Linguistik bislang fehlenden Teilfaches. In: Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprachlichen Praxis. Hrsg. von Angelika Linke/Hanspeter Ortner/Paul R. Portmann-Tselikas, Tübingen 2003 (RGL 245), S. 125–163, bes. S. 133–139, 149, 151–154. Das anschließende Problem, in welchem Maße Inferenzen von Textstrukturen und von Leservoraussetzungen bestimmt sind bzw. ob Leser sie nur bei Rezeptionsschwierigkeiten wie fehlender Textkohärenz oder in jedem Textverstehensprozess herstellen, kann hier nicht vertieft werden; vgl. Rickheit/Strohner (Anm. 111), S. 229, Vater (Anm. 111), S. 152 sowie Margot Heinemann/Wolfgang Heinemann: Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion – Text – Diskurs, Tübingen 2002 (Reihe Germanistische Linguistik 230), S. 170–178.
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Aufstellung bei Meyer124 sollen einige dieser Fälle hier zunächst genannt und dann kurz erläutert werden. konkomitierende Handlungen
Mimik, kopräGestik sente Objekte
suprasegmentale Faktoren
individuelle Voraussetzungen, Partnerreaktionen (Ich-Du)
Zeit (Jetzt)
Gelegenheitslyrik
(+)
(+)
(+)
+
(+)
+
Konzert, Rezitation, Lesung
–
–
(+)
+
(+)
(+)
Radio
–
–
–
+
–
(+)
Hörbuch
–
–
–
+
–
–
Gedichtband
–
–
–
(+)
–
–
Die Kopfzeile der Tabelle nennt die Elemente des individuell-situativen Kontexts (Kontexts 2) nach Meyer, die Vorspalte enthält einige Situationen, in denen diese Elemente auftreten können. Es handelt sich hierbei nicht um eine erschöpfende typologische Beschreibung; genannt werden lediglich Beispiele, die der Illustration dienen sollen. Ein Beispiel für eine Rezeptionssituation, in der sehr viele Elemente des Kontexts 2 auftreten, ist die Gelegenheitslyrik. Da sie anlassgebunden vorgetragen wird, liegen suprasegmentale Faktoren125 und das geteilte ‚Hier‘ und ‚Jetzt‘ von Sprecher 2 und Rezipienten als rezeptionsrelevante KontextInformationen in jedem Fall vor. Alle übrigen Elemente können zusätzlich realisiert werden, z. B., wenn der Sprecher 2 bewusst Gestik und Mimik einsetzt, um das Vorgetragene zu verdeutlichen. Ein Beispiel für eine Rezeptionssituation, in der einige dieser Faktoren auftreten können, sind Darbietungsformen wie Konzert, Rezitation und Lesung. Neben den in jedem Fall realisierten suprasegmentalen Faktoren können hier Mimik und Gestik u. a. vorkommen. Bei einer medialen Vermittlung wie z. B. Radio oder Hörbuch bleiben allein die über den auditiven Kanal vermittelten suprasegmentalen Faktoren übrig, wobei es im erst124 Vgl. Meyer (Anm. 97), S. 25–27. Die Legende wurde gegenüber Meyer an die hier bearbeitete Fragestellung angepasst und dabei vereinfacht. Erläuterung: + meint, dass das genannte Element in einem für die Rezeption potentiell relevanten Sinne vorhanden ist; – meint, dass das genannte Element nicht vorhanden ist; (+) meint, dass die Realisierung dieses Elementes in einem für die Rezeption potentiell relevanten Sinne fakultativ ist. 125 Suprasegmentale Faktoren sind lautübergreifende Merkmale wie Akzentstruktur und Pausen.
Wer spricht das Gedicht?
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genannten Fall nicht ausgeschlossen ist, dass auch ein gemeinsames ‚Jetzt‘ von Vermittler und Hörer in einem verstehensrelevanten Sinne vorliegt. In einer gänzlich ‚situationslosen‘ Kommunikationssituation wie der individuellen Lektüre eines Gedichtbandes fehlen alle Kontext-2-Merkmale. Aber selbst hier kann der Leser in gewisser Hinsicht die Funktion eines Sprechers 2 übernehmen. Durch lautes Lesen kann er suprasegmentale Faktoren realisieren, die sein Verständnis des Gedichtes erleichtern. Es zeigt sich, dass die Funktion dieses Sprechers 2 vor allem darin besteht, dem Gedicht in einer gegebenen Kommunikationssituation zusätzliche, para- und nonverbale Informationen hinzuzufügen, die dem Verstehen dienen. Wie in solchen Fällen das Verhältnis zwischen dem im Gedicht Ausgesagten und dem Sprecher 2 zu modellieren ist, hängt wiederum von den Situationspräsuppositionen aus Kontext 3 ab. So kann z. B. im Falle der Gelegenheitslyrik der Sprecher 1 mit dem Sprecher 2 zusammenfallen, d. h. eine Unterscheidung zwischen textinterner und textexterner Ebene unterbleiben, während Rezipienten in dem Sänger an einem Konzertabend, dem professionellen Rezitator oder auch demjenigen, der Gedichte im Radio oder auf einem Hörbuch vorträgt, vermutlich einen Sprecher 2 im Sinne eines Vermittlers sehen werden, der nicht mit dem eventuell anzusetzenden textinternen Sprecher 1 zu verwechseln ist. V. Fazit Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Auf die Frage ‚Wer spricht das Gedicht?‘ lassen sich prinzipiell drei Typen von Antworten geben. (1) Sprecher des Gedichtes ist ein Sprecher 1 (textinterner Sprecher), der als Figur auftreten oder aber nicht-figürlich angelegt sein kann. Es handelt sich eventuell um eine fiktive, in jedem Fall jedoch vom Autor zu unterscheidende, literarische Figur. Die Annahme eines Sprechers 1 ist das Resultat einer Zuschreibung durch den Rezipienten. Sie hängt in erster Linie vom institutionellen Kontext (Kontext 3) ab, d. h. von Situationspräsuppositionen aus der Komplexen Voraussetzungssituation. Grammatische Kriterien, andere textuelle Merkmale und Elemente des sprachlichen Kontexts (Kontext 1) sind Textvorgaben, die eine Rolle im Verstehensprozess übernehmen. Für die Zuschreibung einer internen Sprechinstanz zu einem Gedichttext haben sie den Status von Indizien, welche die Annahme eines Sprechers 1 mehr oder weniger eindeutig nahe legen. Das kann, wie am Beispiel des Gedichtes von C. F. Meyer gezeigt, auch bedeuten, dass die Annahme eines Sprechers 1 sich allein auf Kontext-3-Annahmen stützt. (2) Sprecher des Gedichtes ist ein Sprecher 2 (textexterner Sprecher). Er ist anzusetzen, wenn Elemente des individuell-situativen Kontexts (Kontexts 2) realisiert werden. Es handelt sich um eine reale Kommunikationsin-
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stanz, die den Gedichttext vermittelt, indem sie ihn aufführt, rezitiert, singt etc., und auf diese Weise zusätzliche, zumeist para- und nonverbale Informationen bereitstellt, die im Verstehensprozess relevant sind. (3) Es gibt keinen identifizierbaren Sprecher des Gedichts. Gedichte haben immer dann keinen textinternen Sprecher 1, wenn entsprechende Kontext-1-Indizien fehlen und keine Kontext-3-Annahmen geltend gemacht werden.126 Sie haben keinen Sprecher 2, wenn kein Kontext 2 gegeben ist. Geht man von diesen drei Antworttypen aus und fragt nach dem Verhältnis der jeweiligen Sprechinstanz zum empirischen Autor, so ergeben sich insgesamt acht Möglichkeiten, die Sprechinstanz zu bestimmen. Es liegt (1.1) ein Sprecher 1 vor oder es wird (1.2) kein Sprecher 1 angenommen, sondern die Versrede unmittelbar dem empirischen Autor zugeschrieben. Dies kann in Gedichten der Fall sein, die als Gelegenheitsgedicht eingestuft oder nach der Erlebnislyrik-Konvention gelesen und damit auf einen realen biographischen Kontext bezogen werden. Es gibt (2.1) nur einen Sprecher 2, der nicht der Autor ist, oder es gibt (2.2) einen solchen Sprecher 2 und einen Sprecher 1. Ist der Autor selbst ein Sprecher 2, dann ist es zum einen möglich, dass er (2.3) nur Vermittler der Versrede ist. Ist das der Fall, dann kann es auch (2.4) zusätzlich einen Sprecher 1 geben. Zum anderen ist es auch möglich, dass (2.5) die von einem als Sprecher 2 auftretenden Autor vorgetragene Versrede auf den Autor selbst referiert. Bei (1.1), (2.2) und (2.4) liegt gestaffelte Kommunikation vor, da sowohl eine textexterne als auch eine textinterne Kommunikationsebene anzusetzen ist. Sind alle diese sieben Fälle auszuschließen, dann gibt es (3) keine Sprechinstanz und das Gedicht verweist auf den empirischen Autor in seiner Minimalfunktion als Produzent des Textes.127 Ein Beispiel für diesen Fall ist C. F. Meyers Gedicht Der römische Brunnen in einer Lesart, die keine Kontext-3-Annahmen geltend macht. Den Vorteil dieses Vorschlags sehen wir darin, dass er ein systematisches Modell bietet, das zugleich voraussetzungsarm und umfassend ist. Es erlaubt alle notwendigen Unterscheidungen, die der Überblick über die Debatten zum lyrischen Ich erbracht hat, und lässt sich je nach Fragestellung spezifizieren, kann also mit Blick auf Subgenres, historische Konstellationen, funktionsgeschichtliche Perspektiven (z. B. Subjektivität in der Lyrik), 126 Auf die Frage, ob ein Gedicht notwendigerweise einer textinternen Sprechinstanz zuzuschreiben ist, gehen wir hier aus Platzgründen nicht ein. Sie entspricht der in der neueren Narratologie kontrovers diskutierten Frage, ob jeder Prosatext notwendigerweise einen Erzähler haben muss, auch wenn es keine entsprechenden Hinweise im Text gibt; vgl. dazu systematisch Tilmann Köppe/Jan Stühring: Against Pan-Narrator Theories. In: Journal of Literary Semantics 40 (2011) (im Druck). 127 Vgl. dazu Fotis Jannidis u. a.: Rede über den Autor an die Gebildeten unter seinen Verächtern. Historische Modelle und systematische Perspektiven. In: Dies. (Anm. 61), S. 3–35, hier S. 23.
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ästhetische Wirkungspotentiale und Rezeptionsformen gleichermaßen konkretisiert werden. Auf starke gattungsnormative Vorgaben kann es ebenso verzichten wie auf Setzungen des Typs ‚Lyrik ist immer (oder nie) fiktional‘ oder ‚Das lyrische Ich ist immer vom Autor zu unterscheiden‘. Diese Offenheit mag auf den ersten Blick unbefriedigend wirken. Gleichwohl halten wir sie gerade wegen des Gegenstandes Lyrik für alternativlos. Es ist oft betont worden, dass in der Geschichte der Literatur so unterschiedliche Texte als Lyrik bezeichnet und so viele Spezifika für diese Gattung genannt worden sind – ganz zu schweigen von dem begriffsgeschichtlichen Befund, dass Lyrik als Oberbegriff überhaupt erst seit dem 18. Jahrhundert erscheint128 –, dass jeder Versuch, aus der heterogenen Begriffs- und Sachgeschichte der Lyrik einen ‚eigentlichen‘ Kern herauszupräparieren, darauf hinausläuft, historische Besonderheiten in den Rang allgemeingültiger Gattungsmerkmale zu erheben. Daher scheinen uns Beschreibungsmodelle, die eine präzise Kontextualisierung mit Blick auf die Rezeptionsvoraussetzungen und eine radikale Historisierung ermöglichen, unerlässlich zu sein.129
128 Vgl. z. B. Ludwig Völker: Einleitung. In: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. von Dems., Stuttgart 1990 (RUB 8657), S. 7–27, hier S. 15–17. 129 Wir danken Fotis Jannidis, Tom Kindt und Tilmann Köppe für Anregungen und Kritik.
Peter Hühn
Geschichten in Gedichten Ansätze zur narratologischen Analyse von Lyrik, mit einem Ausblick auf die Lyrik Shakespeares und den Petrarkismus I. Vorannahmen zur Narrativität Erzählen ist eine anthropologisch universale semiotische Praxis, mit der Menschen Erfahrungen (Wahrnehmungen, Beobachtungen, Vorstellungen, Reflexionen etc.) strukturieren, sinnhaft ordnen und deuten sowie anderen oder auch sich selbst mitteilen. Dieser Ordnungs- und Mitteilungsakt wird nicht nur im alltäglichen Leben und in der zwischenmenschlichen Kommunikation ständig angewandt, sondern unterliegt gleichfalls allen sprachlichen Kunstgattungen und -medien. Auch in diesen werden, mit genrespezifisch unterschiedlichen Ausprägungen,1 Geschichten vermittelt, offenkundig in der Erzählprosa (Romanen, Novellen, Anekdoten, Witzen, Autobiographien) und in Epen sowie in Dramen und in Filmen, darüber hinaus in explizit narrativen Lyrikformen wie der Ballade, der Romanze oder der Verserzählung. Jedoch auch die meisten lyrischen Gedichte im engeren Sinne − von dieser These gehen die folgenden Überlegungen aus − vermitteln Geschehensabläufe, typischerweise mentaler oder psychischer Art, aber auch solche mit äußeren, etwa sozialen Bezügen, und zwar zumeist von der Position und aus der Bewusstseinsperspektive einzelner Sprecher. Deswegen ist es zulässig und fruchtbar, das (im Unterschied zur unterentwickelten Lyriktheorie und -methodik) hoch differenzierte Instrumentarium der Narratologie zur Spezifizierung von Gedichtanalysen zu nutzen.2 1
2
Hierbei wird der Diskurstyp Erzählen in unterschiedlichem Maße mit anderen Diskurstypen wie Beschreiben, Argumentieren, Erklären kombiniert. Gattungen und Diskurstypen liegen auf unterschiedlichen kategorialen Ebenen. Erzählprosa wird zwar durch den Diskurstyp Erzählen dominiert, enthält aber auch Beschreibungen und Erklärungen. Zur ausführlichen Begründung und praktischen Anwendung dieses Ansatzes siehe Peter Hühn/Jörg Schönert: Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34 (2002), S. 287–305; Peter Hühn/Jens Kiefer: The Narratological Analysis of Lyric Poetry. Studies
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Peter Hühn
Diesen Überlegungen liegt folgende Definition von Narrativität zugrunde: Erzählen ist ein kommunikativer Akt, in dem eine zeitlich organisierte Kette von Geschehenselementen in einem sprachlichen Medium vermittelt (oder repräsentiert) und in eine kohärente, sinnhafte AbfolgeStruktur transformiert wird, und zwar durch eine sprachliche Vermittlungsinstanz (einen Erzähler) sowie aus einer bestimmten – räumlichen, zeitlichen, ideologischen etc. – Perspektive (der des Erzählers und/oder einer oder mehrerer der handelnden Figuren). An einer Erzählung lassen sich demgemäß modellhaft-idealtypisch drei konstitutive Dimensionen unterscheiden: (1) die zeitliche Sequenz von Geschehensmomenten und Gegebenheiten (Handlungen, Ereignissen, Figuren, Gegenständen, Räumen usw.), (2) deren auswählende, anordnende und interpretierende Vermittlung sowie (3) der kommunikative Artikulationsakt, in welchem diese Vermittlung in einem Medium (etwa einem sprachlichen Text) praktisch umgesetzt wird, kurz: die Dimensionen der temporalen Sequentialität, der Medialität und der Artikulation. Von diesen Dimensionen und deren Merkmalen ist die temporale Sequentialität konstitutiv für das Erzählen in Abgrenzung von anderen Diskursformen wie Erklären, Argumentieren oder Beschreiben, die alle notwendig ebenfalls vermittelt sind, deren vermittelte Bezugsdimension aber nicht temporal strukturiert ist. In der Narratologie werden diese Dimensionen unterschiedlich benannt und differenziert, z. B. als histoire, récit (oder discours), narration bei Gérard Genette3 oder (unvollständig) als fabula und sujet bei den russischen Formalisten,4 als story und discourse bei Seymour Chatman.5 Das Verhältnis der Ebenen des zeitlich angeordneten Geschehens und seiner Vermittlung im Erzähltext ist wechselseitig bedingt. In genetischer Betrachtungsweise ist grundsätzlich davon auszugehen, dass Geschichten (als sinnhafte, kohärente Sequenzstrukturen) nicht in der (faktischen oder fingierten) Wirklichkeit existieren, sondern erst in einem narrativen Artikulationsakt als Verknüpfung und Interpretation von Geschehenselementen durch eine menschliche Instanz
3 4 5
in English Poetry from the 16th to the 20th Century, Berlin, New York 2005 (Narratologia 7); Jörg Schönert/Peter Hühn/Malte Stein: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin, New York 2007 (Narratologia 11). Ein Vorschlag für die Anwendung von Narratologie auf Lyrik findet sich auch bei Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst, Heidelberg 2000 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 171). Gérard Genette: Diskurs der Erzählung. Ein methodologischer Versuch In: Ders., Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop, mit einem Nachwort hrsg. von Jochen Vogt, 2. Aufl. München 1998 (UTB), S. 11–192. Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Hrsg. von Klaus-Dieter Seemann, Wiesbaden 1985 (Slavistische Studienbücher N. F. 1). Seymor Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca, N. Y., 1978.
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erzeugt werden. Analytisch betrachtet setzt der Erzähltext jedoch die referierte und transformierte Geschehensfolge logisch und chronologisch voraus − er tut so, als ob er sie lediglich mitteile, obwohl er sie allererst erschafft. Dem Leser ist lediglich der vermittelnde Text der Erzählung (discours) zugänglich, aus dem er sowohl das Geschehen (histoire) als auch den Erzählakt (narration) rekonstruieren muss. Zur Vervollständigung der Modellierung des Erzählens als eines Kommunikationsaktes ist zu ergänzen, dass letztlich der empirische Autor als der tatsächliche Kommunikator von literarischen Erzähltexten zu gelten hat, der aber bei fiktionalen Texten wie Romanen, Dramen und (lyrischen) Gedichten − grundsätzlich anders als bei faktualen Texten − die narrative Äußerung nicht selbst verantwortet und nicht im eigenen Namen mitteilt, sondern an eine Mittlerinstanz, den Erzähler, delegiert. Vermutlich hat sich eben aufgrund dieser Ablösung des Erzählvorgangs bei fiktionalem Erzählen von unmittelbar lebensweltlichen Bezügen des Autors das komplexe Spektrum von Vermittlungstechniken herausgebildet, wie es für fiktionales Erzählen in der Literatur charakteristisch ist. Die folgenden Ausführungen zur Lyrik berücksichtigen nicht Fein-Differenzierungen einer epochenspezifischen Gattungstheorie, sondern übergreifen die historisch und kulturell wandelbaren Subkategorisierungen und Definitionen von Lyrikgenres. Wenn hier von Lyrik und lyrischen Gedichten die Rede ist, so sind damit generell relativ kurze, in ihrer Sprachgestalt prosodisch besonders überformte (d. h. überstrukturierte) Texte gemeint, wie sie konventionell der Lyrik zugeordnet und etwa in entsprechenden Anthologien zusammengestellt werden und wurden, in England z. B. seit dem 16. Jahrhundert. Damit wird keineswegs behauptet, dass Lyrik in derselben Art und Weise als eigenständige Gattung (definierbar etwa über das Redekriterium) zu gelten hat wie Dramatik und Epik. Dass sie diesen Status nicht besitzt, ist mittlerweile weitgehend Konsens in der Literaturwissenschaft.6 Dennoch lassen sich lyrische Gedichte durch Benennung von charakteristischen Merkmalen praktisch von Dramen und Prosaerzählungen abgrenzen.7 Die temporal organisierte Sequentialität des vermittelten Geschehens ist den drei traditionellen Genres Epik, Dramatik und Lyrik, insofern sie narrative Strukturen aufweisen, grundsätzlich gemeinsam, wenngleich mit unterschiedlicher Detailliertheit und Konkretheit. Diese Genres differieren jedoch im Hinblick auf die Vermittlungsdimension, nämlich hinsichtlich des Ausmaßes, in dem sie jeweils die möglichen Modi und Ebenen von 6
7
Vgl. z. B. Rainer Warning: Interpretation, Analyse, Lektüre. Methodologische Erwägungen zum Umgang mit lyrischen Texten. In: Ders., Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus, Freiburg i. Br. 1997 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 51), S. 9–43, hier S. 18; Werner Wolf: Aesthetic Illusion in Lyric Poetry. In: Poetica 30 (1998), S. 251–289. Vgl. auch das Mehrkomponentenmodell von Müller-Zettelmann (Anm. 2), S. 64–138.
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Vermittlung nutzen.8 Unter diesem Blickwinkel lässt sich die Besonderheit von Lyrik wie folgt benennen. Während Romane, Novellen etc. typischerweise alle verfügbaren Ebenen und Modi der Vermittlung (d. h. den übergeordneten Erzähler, Figuren aus dem Handlungszusammenhang als Artikulationsinstanzen sowie vielfältige Positionen der Fokalisierung) zur Präsentation, Bewertung und Strukturierung des Geschehens einsetzen, etwa durch Staffelung der Vermittlungsinstanzen und -ebenen, können lyrische und dramatische Texte als Reduktionsformen beschrieben werden, in denen die Nutzung der unterschiedlichen Vermittlungsinstanzen jeweils spezifisch eingeschränkt ist bzw. stark variiert. Dramen (in der Theateraufführung) präsentieren das Geschehen performativ leibhaft – durch sichtbare Aktionen und hörbare Äußerungen lebendiger Schauspieler vor den Augen und Ohren von Zuschauern – direkt, ohne einen vermittelnden Erzähler. Mit Wolf Schmid kann man diese beiden Präsentationsformen von Geschichten als ‚narrativ im engeren Sinne‘ bzw. ‚narrativ im weiteren Sinne‘ (oder mimetisch) differenzieren.9 Gegenüber dieser Alternative in Epik und Dramatik zeichnen sich lyrische Texte durch eine charakteristische Variabilität bei der Auswahl der Vermittlungsinstanzen und -modi aus. Gedichte können das Geschehen wie Prosaerzählungen distanzierend mittels übergeordnetem Sprecher oder durch Staffelung der Redeinstanzen von Sprecher und Protagonist sowie aus verschiedenen Blickpunkten vermitteln (narrativ im engeren Sinne), aber auch wie Dramen die Ebene eines vermittelnden Sprechers ausschalten und den Eindruck performativer Unmittelbarkeit einer gegenwärtig erfolgenden Äußerung des Protagonisten mit der Suggestion der Gleichzeitigkeit von Erleben und Sprechen, also die Illusion der Präsenz erzeugen (narrativ im weiteren Sinne oder mimetisch). Über Stimme und Perspektive hinaus findet ferner prinzipiell in allen Textsorten eine Vermittlung durch Segmentierung, Auswahl und Anordnung der Geschehenselemente statt, die demgemäß weniger an den konkreten Formulierungen als an der Struktur des Plot-Verlaufs ablesbar ist. Was ein narratologischer Ansatz zur Gedichtanalyse beitragen kann, betrifft zum einen die spezifische, explizite Analyse der Sequenzstruktur von Gedichten, zum anderen die präzisere Bestimmung der Vermittlungsmodalität mit einer Differenzierung zwischen Ebenen und Modi.10 Beide Aspekte 8
9 10
Vgl. Jörg Schönert: Normative Vorgaben als ‚Theorie der Lyrik‘? Vorschläge zu einer texttheoretischen Revision. In: Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Michael Titzmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Gustav Frank/Wolfgang Lukas, Passau 2004, S. 303–318. Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2005 (Narratologia 18), S. 18–19. Vgl. im Einzelnen auch Peter Hühn: Transgeneric Narratology. Application to Lyric Poetry. In: The Dynamics of Narrative Form. Studies in Anglo-American Narratology. Hrsg. von John Pier, Berlin, New York 2004 (Narratologia 4), S. 139–158.
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werden in herkömmlichen Methodiken der Lyrikinterpretation nur unzureichend oder gar nicht berücksichtigt. II. Sequentialität und Ereignishaftigkeit Zur genaueren Bestimmung der Sequentialität kann auf Ansätze in der kognitiven Psychologie und Linguistik zurückgegriffen werden.11 Diese Ansätze besagen, dass kontingentes Geschehen erst durch die Verknüpfung der einzelnen Geschehenselemente mit Kontexten und Weltwissen in sinnhafte Sequenzen − Geschichten − überführt wird. Sowohl Autoren als auch Leser verfassen bzw. verstehen solche Sequenzen erst auf der Basis von vorgängigen Sinnstrukturen (kognitiven Schemata), die ihnen bereits vertraut sind. Der Begriff Weltwissen umfasst hierbei kultur- und epochenspezifische Muster, die aus allgemeiner Erfahrung oder gesellschaftlich akzeptierten Anschauungen und Vorstellungen, aber auch aus der Literatur, den anderen Künsten, der Wissenschaft oder der Religion stammen können. Zwei Typen derartiger kognitiver Schemata sind zu unterscheiden − Frames und Scripts. Frames benennen thematische oder situative Kontexte, also Bezugsrahmen, innerhalb derer das betreffende Gedicht zu lesen ist − wie etwa die leidenschaftliche Liebe oder die Endlichkeit menschlichen Lebens. Scripts bezeichnen demgegenüber Sequenzmuster, d. h. bekannte Prozesse oder Entwicklungen, konventionelle Handlungsabläufe oder stereotype Prozeduren, zumeist in enger Beziehung zu dem jeweils relevanten Frame − beispielsweise der rituelle Ablauf der Liebeswerbung eines Mannes um eine Frau oder das Sterben als Grenzüberschreitung in eine jenseitige Welt. Während die Identifikation des Frame dem Leser die Integration der Elemente des Gedichtes mit Begriffen situativer und thematischer Signifikanz in statischer Hinsicht erlaubt, ermöglicht der Bezug auf Scripts die Modellierung der dynamischen, also der spezifisch narrativen Dimension des Textes. Die verschiedenen historischen lyrischen Untergattungen (im Mittelalter etwa höfische Liebesdichtung, Pastourelle, Tagelied und Kreuzzugslied) unterscheiden sich − außer eventuell in formal-prosodischer Hinsicht − durch die jeweils relevanten Frames und Scripts. Aufgrund der Konventionen von Kürze und Situationsabstraktheit der Geschehensvermittlung in Lyrik werden Frames und Scripts in Gedichten allerdings meist nur knapp angedeutet und erfordern vom Leser eine höhere Rekonstruktionsleistung als bei 11
Zum Folgenden vgl. z. B. Jerome Bruner: Acts of Meaning, Cambridge, Mass. 1990 (The Jerusalem-Harvard lectures); Roger Schank/Robert Abelson: Scripts, Plans, Goals and Understanding. An Inquiry into Human Knowledge Structures, Hillsdale 1977 (The artificial intelligence series); Elena Semino: Schema Theory and the Analysis of Text Worlds in Poetry. In: Language and Literature 4 (1995), S. 79–108; Mark Turner: The Literary Mind, New York 1996.
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Romanen. Hierin liegt ein lyrikspezifischer Aspekt der Narrativität in Gedichten. Mit diesem Merkmal hängt zusammen, dass in Gedichten Figuren und Handlungsabläufe wie auch die Kommunikationskonstellation von Sprecher und Adressat hinsichtlich der sozialen Situation, der Lebensumstände, der Namen und der Vorgeschichte etc. − anders als in Prosaerzählungen − üblicherweise nicht konkretisiert und spezifiziert werden. Zur weiteren Strukturierung der Geschehensdarstellung wird der Begriff des Ereignisses als eines entscheidenden Wendepunktes innerhalb einer Sequenz eingeführt – als das zentrale Moment der narrativen Organisation, das die Erzählwürdigkeit des Geschehens (tellability)12 begründet. Ereignishaftigkeit ist durch die Abweichung von der erwarteten Fortsetzung des im Text aktivierten Sequenzmusters definiert. Ein Ereignis kann aber auch dann zustande kommen, wenn eine erwartete Fortsetzung oder Veränderung wider Erwarten gerade ‚nicht‘ eintritt (denn auch das stellt eine Abweichung dar). Sequenzen weichen von den jeweils aufgerufenen Erwartungen mehr oder weniger stark ab und sind demgemäß mehr oder weniger ereignishaft: Ereignishaftigkeit ist gradierbar. Was jeweils als Ereignis gilt, hängt entscheidend ab von den Scripts und Frames und somit von dem anzusetzenden historischkulturellen sowie dem literarisch-gattungsmäßigen Kontext. Der Ereignisbegriff ist nach Maßgabe von Jurij Lotmans Sujetmodell13 als Grenzüberschreitung weiter spezifizierbar, als entscheidende Veränderung von Einstellung, Situation und Status der betreffenden Figur, im Übergang von einem Zustand in einen anderen, wesentlich veränderten Zustand. Ereignisse werden in der Regel einer Instanz, einem Handlungsträger zugeschrieben, durch den oder mit dem sich etwas Unerwartetes ereignet. Entsprechend der Zuordnung dieser Instanz zu einer der beiden narrativen Ebenen (des Geschehens oder der Darbietung) lassen sich zunächst zwei grundsätzliche Ereignistypen unterscheiden.14 Ist die Bezugsinstanz eine Figur, etwa der Protagonist in der erzählten Geschichte (also auf der Geschehensebene), so handelt es sich um ein Geschehensereignis. Bezieht sich die entscheidende Einstellungs- oder Verhaltensänderung auf den Sprecher oder Erzähler im dargebotenen Artikulations- oder Erzählakt im Sinne einer – performativ vermittelten – Erzählgeschichte, so ist dies ein Darbietungsereignis. Dabei kann als lyrikspezifische Tendenz gelten, dass in Gedichten Darbietungsereignisse – im Vergleich zu Erzählprosa – zahlreicher sind als Geschehensereignisse. D. h. Gedichte führen vielfach performativ, im Präsens, einen Bewusstseinsprozess vor, innerhalb dessen der Sprecher eine 12 13 14
Zu diesem Begriff vgl. z. B. Marie-Laure Ryan: Art. „Tellability“. In: The Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Hrsg. von David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan, London, New York 2005, S. 589–591. Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-Dieter Keil, München 1972 (UTB 103). Siehe Hühn/Kiefer (Anm. 2), S. 246–251.
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entscheidende Veränderung in seiner Einstellung oder in seinem Wissen durchläuft. Zusätzlich werden zwei weitere Ereigniskategorien eingeführt. Das ist zum einen der Typus des Vermittlungsereignisses als Grenz- und Sonderfall von Darbietungsereignissen, bei dem der entscheidende Umschlag nicht durch einen Wandel der personalen Einstellung zustande kommt, sondern durch eine primär textuell-rhetorische Umstrukturierung der Darbietungsform (als tiefgreifende Veränderung der Vermittlungsweise) – etwa durch Austausch der aufgerufenen Schemata oder Verschieben des Bezugs von der Geschehens- auf die Darbietungsebene, beispielsweise vom Scheitern des künstlerischen Schöpfungsaktes innerhalb des Gedichtes zum gelungenen Gedichttext in Kubla Khan des englischen Romantikers S. T. Coleridge. Durch solche Verschiebungen wird der Bezug von der Person des Sprechers auf die Ebene des abstrakten Autors, des Kompositionssubjekts, verlagert – vielfach durch Thematisieren des poetischen Kompositionsaktes. Zum anderen ist es der Typus des Rezeptionsereignisses mit dem intendierten Leser als Bezugsinstanz, für den eine entscheidende Einstellungsänderung als Ergebnis der Lektüre angestrebt wird; etwa als Erkenntnisgewinn oder ideologische Umorientierung, nämlich in Fällen, wo eine derartige Änderung bei dem Sprecher (dem Erzähler) und/oder dem Protagonisten des erzählten Geschehens gerade nicht eintritt, wie üblicherweise in der englischen Lyrikgattung des dramatic monologue (wo der Sprecher/Protagonist aus einer konkreten Situation heraus einen Adressaten anredet). Das Phänomen des Rezeptionsereignisses unterscheidet sich als Spezialfall strikt von der stets intendierten Wirkung auf den Leser und ist nur für solche Texte anzusetzen, bei denen der Leser in seiner Lektüre eine Bewusstseins- und/ oder Einstellungsveränderung vollziehen soll, wozu der Protagonist und/ oder der Sprecher des Gedichtes nicht fähig oder willens ist. III. Medialität und lyrischer Diskurs Die Modellierung der narrativen Sequentialität muss ergänzt werden durch Beschreibung von Formen und Instanzen der Vermittlung des Geschehens auf der Darbietungsebene. Hierzu sind zwei Grundverhältnisse der Medialität zu differenzieren: Modi und Instanzen der Vermittlung. Vermittlungsmodi umfassen zwei unterschiedliche Aspekte: (1) die verbalisierte Vermittlungsaktivität, also die Stimme eines Erzählers, mit der durch diesen vorgegebenen deiktischen Orientierung (personal, temporal, lokal, modal); (2) die Perspektive, d. h. die perzeptionelle, psychische, kognitive und/oder ideologische Sichtweise, Haltung und Einstellung, mit der die Geschehenselemente wahrgenommen und dargeboten, geformt und gedeutet werden. Stimme und Perspektive sind kategorial zu trennen; sie können im konkreten Fall aber auch auf dieselbe Figur bezogen sein.
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Hinsichtlich der Vermittlungsaktivitäten lassen sich vier gestaffelte Kommunikations-Ebenen und Vermittlungsinstanzen voneinander abgrenzen: (1) empirischer Autor, (2) abstrakter Autor oder Kompositionssubjekt, (3) Sprecher/Erzähler im Fiktions-Zusammenhang der Erzählung, des Gedichtes, (4) Protagonist/Figur im dargestellten Geschehen. Auch der Protagonist/die Figur kann wie der Sprecher eine Stimme erhalten, indem die zuzuordnende Rede entweder vom übergeordneten Sprecher zitiert wird oder Sprecher und Protagonist identisch sind. Der empirische Autor wird in der Textanalyse insofern berücksichtigt, als sicherzustellen ist, dass die herangezogenen Frames und Scripts sowie die unterstellten Wortbedeutungen für ihn kultur- und lebensgeschichtlich möglich sind. Dem abstrakten Autor/dem Kompositionssubjekt ist das in der formalen, stilistischen, rhetorischen und tropischen Organisation des Textes implizierte Werte-, Normen- und Sinnsystem zuzurechnen – eine Einstellung oder Haltung, die als Konstrukt und nicht als Eigenschaft einer individualisierten Person zu erfassen ist. Auf dieser Ebene lässt sich auch beobachten, was aus der Äußerung des Sprechers/des Erzählers – im Sinne einer personal kohärenten Perspektivierung – ausgeschlossen wird (das in ihr Verschwiegene, Verdrängte oder Latente): z. B. die der Äußerung zugrunde liegende Motivations- oder Problemlage (verborgene Antriebe, Wünsche, Ängste). Diese Ebene ist als eine dem Sprecher übergeordnete − sozusagen hinter seinem Rücken eingerichtete − Beobachtungsperspektive und somit als Beobachtungsebene zweiter Ordnung beschreibbar. Sie hat daher auch als eine besondere Perspektivform zu gelten. Die genaue Differenzierung zwischen den Vermittlungsinstanzen des abstrakten Autors und des Sprechers ist immer interpretationsbedürftig – und zwar mit Hilfe von Zuschreibungen: Zu entscheiden ist, welcher Bewusstheitsgrad und welche Bewusstseinsinhalte im Einzelnen dem Sprecher/dem Erzähler (oder auch dem erzählten Ich) sowie dem unpersönlichen Kompositionssubjekt zuzuschreiben sind, oder ob eine derartige Unterscheidung absichtlich erschwert wird. Über die Relation zum abstrakten Autor kann die Frage der Zuverlässigkeit des Sprechers/des Erzählers bestimmt werden: Widersprüche zwischen der Äußerung des Sprechers und der Komposition des Textes (die dem abstrakten Autor zuzuordnen ist) deuten auf die Unzuverlässigkeit des ersteren. Das Phänomen der Unzuverlässigkeit oder Begrenztheit des Sprechers kommt in der Lyrik ebenso vor wie in der Erzählliteratur, ist für die Lyrik jedoch noch nicht systematisch untersucht worden. Mit Hilfe dieser narratologischen Dimensionen seien abschließend zu diesen systematischen Ausführungen einige weitere gattungstypische Besonderheiten von Lyrik angedeutet. Gedichte haben in manchen Epochen die Tendenz, die Grenzen zwischen den Vermittlungsinstanzen zu verwischen und möglichst viele von ihnen scheinbar zusammenfallen zu lassen, also die Position des Sprechers mit der des empirischen Autors zu identifizieren,
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etwa in der Romantik und im Mittelalter (dies gilt für Autoren wie für Leser/Hörer). Charakteristisch ist ferner der suggerierte Zusammenfall der Instanzen von Sprecher/Erzähler und Protagonist (der oft zugleich als interner Fokalisator dient), d. h. eine typische narrative Präsentationsperspektive ist autodiegetisch: Der Sprecher erzählt primär und unmittelbar von sich. Derartige Konstellationen gibt es zwar auch in Romanen bei Ich-Erzählungen, aber die Lyrik steigert noch den Selbstbezug als rhetorische Strategie der Erfahrungsvermittlung. Damit verknüpft ist das schon erwähnte gattungsspezifische Mittel der Erzählung im Präsens: Sprecher und Protagonist scheinen nicht nur personal, sondern auch zeitlich und psychisch-kognitiv miteinander zu verschmelzen, mit dem Ziel, die Verarbeitung von Erfahrung in einem scheinbar unvermittelt und unmittelbar ablaufenden Prozess vorzuführen und nachvollziehbar zu machen. Kontrastiv hierzu gibt es aber auch ein Spektrum von Techniken zur Dissoziation von Sprecher und Protagonist und zur Differenzierung der verschiedenen Perspektivformen. So kann ein nicht-personalisierter Sprecher die Wahrnehmungen eines Protagonisten in der 3. Person mit dessen interner Fokalisierung wiedergeben, so dass eine bestimmte Bewusstseinshaltung zugleich von Innen und Außen präsentiert wird. Ein besonders interessantes Verfahren ist die Anrede in der 2. Person, in der ein nicht thematisierter Sprecher eine Erfahrungsgeschichte einem Adressaten zuschreibt. Auch hier zeigt sich eine betonte Ambiguität zwischen Distanz und Intimität, in der gezielt offen bleibt, ob die Perspektive hetero- oder autodiegetisch ist, ob der Sprecher sein eigenes Bewusstsein in einer Projektion nach außen oder ein fremdes Bewusstsein in empathischer Innen-Schau darstellt. Narratologisch kann man die im Gedichttext formulierte Äußerung vielfach als eine vom Sprecher über sich selbst erzählte Geschichte − in Form eines meist episodischen mentalen Prozesses − auffassen. Der Sprecher bestimmt sich dabei emotional wie kognitiv in seiner Identität, vielfach in einer Krisenlage, durch Selbst-Zuschreibung einer individuellen Erfahrungs- und Selbstklärungsgeschichte.15 In dieser in vielen Epochen vorherrschenden Neigung zur Selbstbezüglichkeit und narrativen Selbstdefinition ist strukturell und narratologisch das Moment der Subjektivität bedingt, das man gelegentlich als konstitutiv für die Lyrikgattung verstanden hat. Im Folgenden sollen diese Vorschläge zu einer narratologischen Lyrikanalyse an William Shakespeares Sonetten in ihrem Bezug auf die petrarkis-
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Zur narrativen Konstitution von Identität vgl. z. B. Anthony Paul Kerby: Narrative and the Self, Bloomington, Indiana 1991 (Studies in continental thought); Kim L. Worthington: Self as Narrative. Subjectivity and Community in Contemporary Fiction, Oxford 1996 (Oxford English monographs); Paul John Eakin: How Our Lives Become Stories. Making Selves, Ithaca, N. Y. u. a. 1999.
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tische Konvention16 der Liebeslyrik illustriert werden. Shakespeare, dessen Zyklus Sonnets 1609 in einer einzigen Ausgabe, möglicherweise ohne seine Autorisierung erschien, hat Petrarcas Canzoniere (lateinisch: Rerum vulgarium fragmenta) als Ganzes weder im Original noch in Übersetzung gekannt,17 sondern ist auf dies Modell nur über die Vermittlung durch englische Übersetzer und Nachfolger bezogen. Das sind zum einen die Übersetzungen einzelner Sonette Petrarcas durch die Dichter Thomas Wyatt und Earl of Surrey am Hofe Heinrichs VIII. in den 1530er und 1540er Jahren sowie zum andern die schöpferische Imitation der petrarkischen Zyklusstruktur durch Philip Sidney in Astrophel and Stella von ca. 1580 (gedruckt 1591) und die hierdurch ausgelöste Flut weiterer Zyklen. IV. Zur Narration im Canzoniere und in Shakespeares Sonnets Als mehrfach vermittelte Folie für die besondere Verarbeitung des Petrarkismus bei Shakespeare seien zunächst die narrativen Merkmale von Petrarcas Canzoniere skizziert.18 Seinem Zyklus liegen drei Makro-Geschichten zugrunde. Erstens handelt es sich um die Entsagungsgeschichte der leidenschaftlichen Liebe zu einer idealen Frau und der unermüdlichen Werbung um sie, die aber wegen ihrer vorbildlichen Tugendhaftigkeit (d. h. rigorosen Keuschheit) und endgültig durch ihren Tod keine Erfüllung finden kann: Das Ereignis, auf das die Sehnsucht gerichtet ist, tritt nie ein. Zweitens führt das Leiden, das die Nicht-Erfüllung der Liebe zur idealen Geliebten für den Liebhaber bedeutet, in manchen Momenten, besonders nach dem Tode der Geliebten, zu seiner eigenen moralisch-spirituellen Erhöhung und Läuterung, zu einer erhöhten Intellektualität und sublimierten Liebesfähigkeit: Damit stellt sich eine andere Art des Ereignisses ein, keine erotische Erfüllung, sondern eine moralisch-psychische Veränderung des Sprechers. Drit16
17 18
Vgl. z. B. die Überblicksdarstellungen der Tendenzen und Merkmale des Petrarkismus bei Gordon Braden: Petrarchan Love and the Continental Renaissance, New Haven u. a. 1999; Leonard Forster: The Icy Fire. Five Studies in European Petrarchism, Cambridge 1969; Gerhart Hoffmeister: Petrarkistische Lyrik, Stuttgart 1973 (SM 119). Petrarcas Canzoniere wurde erst im 19. Jahrhundert als Ganzes ins Englische übersetzt: R. G. MacGregor, Indian Leisure, London 1854. Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen z. B. in Francesco Petrarca: Canzoniere, Triumphe, Verstreute Gedichte. Hrsg. und mit Nachwort von Hans Grote, Düsseldorf, Zürich 2002 (Winkler Weltliteratur), S. 722–735; Gerhart Hoffmeister: Petrarca, Stuttgart 1997 (SM 301), S. 86–96; Bernhard König: Petrarcas Rerum vulgarium fragmenta als Liederbuch (Canzoniere). Kompositionsprinzipien, Form und Sinn, Paderborn u. a. 2007 (Vorträge. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften: G. Geisteswissenschaften 414); Gislinde Seybert: Dolce stil nuovo und die Moderne. Von Petrarca zu Baudelaire. In: Dies., Liebe als Fiktion. Studien zu einer Literaturgeschichte der Liebe, Bielefeld 1995, S. 15–27.
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tens wird in der endgültigen Zusammenstellung der Sonette das nicht realisierte erotische Ereignis durch ein religiöses ersetzt: Die Geliebte führt nach ihrem Tod wie ein Engel den Liebhaber zu Gott. Auch einzelne Gedichte weisen jeweils eine spezifische narrative Struktur auf, indem sie etwa episodische Erlebnis-Sequenzen innerhalb der Makro-Strukturen (etwa Momente des Leidens, der Reflexion, der Introspektion, der Selbstklärung), aber auch diese ereignishaften Umschwünge oder deren Scheitern darstellen.19 Petrarcas Vorlage wurde in der Folgezeit im Petrarkismus vielfach imitiert, modifiziert, vergröbert, schematisiert, parodiert und weiterentwickelt. In England geriet dies Muster, bei den zahlreichen Verfassern petrarkistischer Zyklen gegen Ende des 16. Jahrhunderts in der Nachfolge von Sidney, unter den Einfluss des Protestantismus und seines radikalisierten Sündenbewusstseins.20 Nur in dieser stark vermittelten Form ist Petrarcas Canzoniere als Bezugsrahmen für Shakespeares Sonettensequenz anzusehen.21 Shakespeare verändert die narrative Makrostruktur in der Anlage seines Zyklus radikal.22 Sind bei den Petrarkisten das sinnliche Verlangen nach der idealen weiblichen Schönheit und die selbstlose, nobilitierende Verehrung der physischen wie moralischen Idealität auf ein- und dieselbe Person bezogen und verursachen durch ihren internen Widerspruch Frustration und Leiden, so versucht Shakespeare eine Lösung durch Trennung dieser beiden Bezüge auf zwei verschiedene Personen zu erreichen.23 Die spirituell bereichernde, selbstlos liebende Verehrung richtet sich auf einen jungen Mann von hohem Stand und besonderer Schönheit, den Freund, an dem der Sprecher – wie er programmatisch erklärt (Sonett 20) – keinerlei erotische Interessen hat. Das sinnliche Begehren gilt einer faszinierenden, aber im konventionellen Sinne nicht schönen Frau (der sogenannten
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Die Liebe wird dabei − über die etymologische Assoziation des Namens der Geliebten, Laura, mit dem Lorbeer sowie mit dem Mythos von Apollo und der Nymphe Daphne (d. i. Lorbeer) − mit der Dichtungsthematik verknüpft, dem Streben des Dichters nach Ruhm (symbolisiert im Lorbeerkranz). Vgl. Alistair Fox: The English Renaissance. Identity and Representation in Elizabethan England, Oxford 1997, S. 59–92. Zu den verschiedenen Kontextbezügen vgl. generell: Shakespeares Sonette in europäischen Perspektiven. Hrsg. von Dieter Mehl/Wolfgang Weiß, Münster, Hamburg 1993 (Studien zur englischen Literatur 5). Zur allgemeinen Information über Hintergrund, Aufbau und Thematik von Shakespeares Sonettenzyklus vgl. z. B. William Shakespeare: The Sonnets and A Lover’s Complaint. Hrsg. von John Kerrigan, Harmondsworth 1986 u. ö., S. 7–74, oder Shakespeare’s Sonnets. Hrsg. von Katherine Duncan-Jones, [Walton-on-Thames] 1997 (The Arden Shakespeare), S. 1–102. Vgl. Fox (Anm. 20), S. 83–91. Siehe ferner Peter Hühn: Erfolg durch Scheitern. Zur Individualitätssemantik in Shakespeares Sonetten. In: Systemtheorie und Hermeneutik. Hrsg. von Henk de Berg/Matthias Prangel, Tübingen, Basel 1997, S. 173–198, hier S. 181–183.
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dark lady), die sein sexuelles Verlangen ohne moralische Skrupel erfüllt. Durch diese Konstellation scheint das Dilemma der petrarkistischen Liebe gelöst – ereignishafte Erfüllung ist damit getrennt sowohl in der Geschichte der selbstlosen liebenden Verehrung und der damit verknüpften eigenen Läuterung wie spirituellen Erhöhung als auch in der des leidenschaftlichen Begehrens möglich und erwartbar. Wie bei Petrarca und ebenfalls Sidney thematisiert der Sprecher auch bei Shakespeare seine Rolle als ‚Dichter‘. Während der dichterische Lobpreis bei Petrarca und noch bei Sidney der Schönheit und Idealität der Dame, aber auch dem Ausdruck seines Verlangens nach ihr (und andererseits dem eigenen Ruhm) dient, bezieht sich Shakespeares Sprecher mit seiner dichterischen Glorifizierung lediglich auf den Freund und dessen ideale Schönheit und Persönlichkeit, nicht jedoch auf die dark lady. Der Zyklus ist in seinem Aufbau im Hinblick auf diese beiden Beziehungen zweigeteilt. Der erste größere Teil (Sonett 1–126) ist dem Verhältnis zum jungen Freund gewidmet, der zweite, kürzere (Sonett 127–152) dem zur Geliebten. Dieser Lösungsansatz einer Trennung von veredelnder Verehrung und befriedigtem Begehren scheitert jedoch im Verlaufe des Zyklus. Denn zum einen werden die getrennten Haltungen gegenüber den beiden Personen von Freund und Geliebter aufgrund von deren Verhalten jeweils in sich enttäuscht und frustriert. Der junge Mann erweist sich als moralisch tadelhaft, und zudem verhält er sich kränkend und verletzend gegenüber dem Sprecher (z. B. Sonett 33–35, 41); die dark lady ist promiskuös und betrügt ihn mit anderen Männern − sie ist außerdem anderweitig verheiratet (z. B. Sonett 137, 138, 152). Zum anderen lässt sich die Trennung zwischen diesen Haltungen und Beziehungen in mehrfacher Hinsicht nicht aufrechterhalten. Der Sprecher entdeckt einerseits, dass seine Liebe und Verehrung zum jungen Freund letztlich keineswegs selbstlos ist, sondern ein offenbar latent homoerotisches Verlangen nach Gegenliebe enthält, und er muss andererseits erfahren, dass er unter dem unmoralisch promiskuösen Verhalten seiner Geliebten leidet, dass ihm die bloße Erfüllung seiner Begierde keineswegs genügt, sondern dass er von ihr moralische Integrität und Treue erwartet. Ferner bricht die Trennung dadurch praktisch zusammen, dass Freund und Geliebte, wie er mutmaßt, miteinander ein Verhältnis beginnen und ihn so gemeinsam hintergehen (z. B. Sonett 133, 134, 144). Seine Frustration wird noch gesteigert, da er dies nicht genau weiß, sondern ihm lediglich der Verdacht kommt. Beide Makroerzählungen gelangen somit nicht zu einem positiven Ereignis, sondern unterminieren die scheinbar erreichte ereignishafte Erfüllung immer stärker. Das Ergebnis ist die Auflösung der erwarteten und geplanten klaren Ereignisstruktur in einer allgemeinen Frustration, die ein ähnliches Leiden im Sprecher hervorruft wie in der petrarkistischen Liebeskonvention. Doch im Gegensatz dazu ist dies Leiden nicht läuternd und
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spirituell erhöhend. Das zeigt sich z. B. auch daran, dass der Sprecher seine Dichtergabe jetzt nicht mehr zum Lobpreis des Geliebten oder der Reflektion der eigenen Läuterung einsetzt, sondern als Machtmittel gegen den Freund, zur Demonstration seiner Überlegenheit sowie zu seiner Selbstbestätigung (z. B. Sonett 18, 55, 65, 107). Diese narrative Makrostruktur wird zwar nicht als kontinuierliche Geschichte konsequent chronologisch im Zyklus entwickelt, lässt sich aber relativ plausibel rekonstruieren. Es entsteht der Eindruck einer sich verkomplizierenden Dreiecksgeschichte, deren Anfang im Dunkeln bleibt, deren Entwicklung und zunehmende Degeneration sich detailliert vollzieht, deren Ende wiederum nur vage angedeutet ist, als ereignisloses Zerfließen und Scheitern dieser Beziehungen. Innerhalb dieser rekonstruierbaren MakroGeschichte präsentieren die einzelnen Sonette bestimmte Phasen oder Umschwünge der narrativen Sequenz. V. Antipetrarkistische Darbietungsereignisse: Zwei Fallstudien Im Kontext dieser makro-narrativen Konstellationen untersuche ich zwei Sonette24 genauer − je eines aus dem ersten und dem zweiten Teil des Zyklus − mit dem vorgestellten Modell im Hinblick darauf, wie sie Bezug auf die petrarkistische Liebeskonvention und ihre Erzählmuster nehmen und diese kritisch modifizieren.25 Das erste Beispiel – Sonett 18 – betrifft die Beziehung zum jungen Freund, das zweite – Sonett 150 – die zur dark lady. Sonett 18 greift als zentrales Merkmal des Petrarkismus den Lobpreis der idealen Schönheit der Geliebten auf, hier angewandt auf den jungen Freund, dem – wie der Sprecher behauptet – nur seine reine, selbstlose Verehrung und Bewunderung gilt. 1 Shall I compare thee to a summer’s day? Thou art more lovely and more temperate. Rough winds do shake the darling buds of May, And summer’s lease hath all too short a date. 5 Sometime too hot the eye of heaven shines, And often is his gold complexion dimmed; And every fair from fair sometime declines, By chance or nature’s changing course untrimmed. 24
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Zitiert nach der Ausgabe von Kerrigan (Anm. 22). Die hier genauer analysierten Sonette 18 und 150 stehen auf S. 85 bzw. 151. Ich zitiere stets nur das englische Original. Die beigegebenen, zur Erleichterung des Verständnisses annäherungsweise wörtlichen Übersetzungen der beiden Gedichte stammen von mir. Da es hier primär um die Demonstration der Anwendung des narratologischen Analysemodells geht, diskutiere ich nur selektiv die umfangreiche Sekundärliteratur zu Shakespeares Sonetten.
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But thy eternal summer shall not fade, 10 Nor lose possession of that fair thou ow’st, Nor shall Death brag thou wand’rest in his shade, When in eternal lines to time thou grow’st. So long as men can breathe or eyes can see, So long lives this, and this gives life to thee (Soll ich dich mit einem Sommertag vergleichen? Du bist lieblicher und milder: Rauhe Winde schütteln die lieben Knospen des Mai, und die dem Sommer gewährte Frist ist allzu kurz: Manchmal scheint das Himmelsauge allzu heiß, und oft ist sein goldenes Antlitz getrübt; und alles Schöne fällt mit der Zeit von der Schönheit ab, durch Zufall oder Wechsellauf der Natur verunstaltet. Aber dein ewiger Sommer soll nicht vergehen noch den Besitz der Schönheit verlieren, die du zu eigen hast [schuldest], noch soll der Tod sich brüsten, dass du in seinem Schatten wandelst, wenn du in ewigen Zeilen mit der Zeit eins wirst. So lange, wie Menschen atmen oder Augen sehen können, so lange lebt dies, und dies gibt dir Leben.)
Das Gedicht setzt im ersten Vers (Shall I compare thee to a summer’s day?) mit der Überlegung des Sprechers über die beste Art und Weise des Preisens ein, mit der Frage, ob ein Vergleich mit der Natur in ihrer höchsten Vollendung (im Sommer) der Idealität des Freundes angemessen sei. Er thematisiert hiermit seine Rolle als Dichter, in der er sein Handeln – das Komponieren eines poetischen Lobpreises – als Ausdruck seiner Verehrung in deren Dienst stellt. Dieser Vergleich mit der Natur erhält eine narrative Struktur in Form zweier komprimierter zeitlicher Sequenzen oder ‚Mini-Geschichten‘. Beide beziehen sich in unterschiedlich negativer Weise auf die Natur. Zunächst konstatiert der Sprecher die Unvergleichlichkeit des Freundes mit der Natur: Thou art more lovely and more temperate (V. 2), die er dann erstens hinsichtlich der Unangemessenheit des Vergleichsgegenstandes Natur (V. 3–8), zweitens in Bezug auf die Andersartigkeit der Eigenschaften des Freundes (V. 9–11) ausführt. In beiden Fällen ist die Zeit relevant, denn gerade in diesem Aspekt unterscheiden sich Natur und Freund, als veränderlich bzw. unveränderlich. In den Versen 3 bis 8 präsentiert oder ‚erzählt‘ der Sprecher die Wandelbarkeit der Natur in einer Reihe von knapp umschriebenen Veränderungs- und das heißt Verfallsprozessen auf verschiedenen Abstraktionsebenen: der Zerstörung der jahreszeitlichen Schönheit durch die Wechselhaftigkeit des Wetters (Rough winds do shake the darling buds of May, V. 3; Sometime too hot the eye of heaven shines, / And often is his gold complexion dimmed, V. 5–6), der generellen Endlichkeit des Sommers im Bilde des Ablaufens eines kurz befristeten Pachtvertrages (And summer’s lease hath all too short a date, V. 4) sowie der negativen Veränderlichkeit, der Verfallstendenz als Grundeigenschaft alles Schönen (And every fair from fair some time declines, / By chance or nature’s changing course untrimmed, V. 7–8). Ist diese narrative Präsentation der Natur negativ hinsichtlich der erzählten Abläufe, so ebenfalls die anschließende Aussage über den Freund
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in der ‚Negierung‘ einer derartigen Naturhaftigkeit seiner Eigenschaften (But thy eternal summer shall not fade, / Nor lose possession of that fair thou ow’st, / Nor shall Death brag thou wand’rest in his shade, V. 9–11). Auch hier ‚erzählt‘ der Sprecher stark verknappte − negierte − Veränderungssequenzen in unterschiedlichen Abstraktionsgraden mit verschiedenen Bildern: der Sommer des Freundes verfällt nicht (V. 9), er verliert seine Schönheit nicht (V. 10), der Tod (als die radikalste Verfallserscheinung) hat keine Macht über ihn (V. 11). Was der Sprecher hier formuliert, ist – narratologisch betrachtet – paradox. Er erzählt, was nicht geschieht − um zu vermitteln, dass der Freund sich nicht verändert; denn Unveränderlichkeit kann man per definitionem nicht erzählen, da Erzählen immer einen zeitlichen Veränderungsprozess voraussetzt. Diese beiden Sequenzen − auf der Ebene des Dargebotenen (auf der Geschehensebene) − bleiben jeweils ohne Ereignis: Es ereignet sich kein entscheidender Umschwung, weder bei den mitgeteilten veränderlichen Naturprozessen noch bei der behaupteten unveränderlichen Schönheit des Freundes. Anschließend an diese Stelle tritt dann unvermutet ein Ereignis ein, insofern die gepriesene zeitenthobene Unwandelbarkeit des Freundes plötzlich als Folge und Ergebnis einer ‚Bedingung‘ enthüllt wird: When in eternal lines to time thou grow’st (V. 12). When hat eine zeitliche und eine konditionale Bedeutung: es geschieht etwas ‚von einem bestimmten Zeitpunkt ab‘ (als) und ‚unter einer bestimmten Bedingung‘ (falls). Die unveränderliche Schönheit des Freundes ist das Ergebnis eines Veränderungsprozesses (grow’st), d. h. sie wächst ihm zu, und zwar durch die Dichtung des Sprechers (in eternal lines). Damit wird die ewige ideale Schönheit des Freundes in die Zeit gestellt − er erhält sie erst von einem Zeitpunkt ab. Die Ewigkeit seiner Schönheit (eternal summer) beruht auf der Ewigkeit der Dichtung (eternal lines); er besitzt sie nicht selbst, sondern ‚schuldet‘ sie dem Sprecher in seiner Dichterrolle: thou ow’st heißt neben ‚du besitzt‘ auch ‚du schuldest‘. Diese Abhängigkeit wird im Schlusscouplet expliziert: So long as men can breathe or eyes can see, / So long lives this, and this gives life to thee (V. 13–14). This bezieht sich selbstreferentiell auf das vorliegende Sonett. Nicht dem Freund schreibt der Sprecher also Ewigkeit zu, sondern dem eigenen poetischen Werk. Diese beruht auf der Dauer der Rezeption durch Menschen als Leser: Aus der Gleichsetzung der Dauer der Menschheit mit der des Gedichtes spricht ein hohes dichterisches Selbstwertgefühl des Sprechers. Eine ähnliche Gleichsetzung ist in der Identifizierung des Freundes mit der Zeit überhaupt in V. 12 impliziert: to time; der Freund wird mit der Existenz der Zeit gleichgesetzt, d. h. solange die der Zeit unterworfene Welt existiert, hat die Dichtung des Sprechers Bestand. Das Ereignis ist somit der plötzliche Umschwung im Vorgang des Lobpreisens. Obwohl im Ton, auf der Oberfläche, die Unveränderlichkeit der Schönheit des Freundes nach wie vor behauptet wird, erscheint sie effektiv als bedingt und vom Sprecher verliehen. Im Grunde preist der Sprecher
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hierbei vor allem seine eigene dichterische Fähigkeit, wenngleich diese immer noch dem Freund dient. Diese abrupte Unterminierung des Schönheitslobs ist ein eklatanter Bruch der Erwartung und eine radikale Verletzung der petrarkistischen Konvention bei deren gleichzeitiger oberflächlicher Einhaltung. Dieser Bruch bedeutet eine Machtverschiebung im Verhältnis von Verehrer und Verehrtem. Dass der Sprecher solchermaßen seine Überlegenheit gegenüber dem Freund herausstellt, deutet auf eine tiefe Störung des konventionellen Liebes- und Verehrungsverhältnisses.26 Die Prägnanz dieser Vorgänge wird durch die Vermittlungsmodalität spezifisch unterstrichen: Der Protagonist, zugleich der Sprecher (die sprechende Stimme), adressiert die wiedergegebenen Vorgänge an den Freund (in der 2. Person angeredet); er schreibt sie ihm zu, gestaltet somit dessen Erscheinung und erschafft ihn als Person gewissermaßen direkt durch seinen Artikulationsakt im Gedicht. Auf der obersten (extradiegetischen) Ebene vollzieht der Sprecher dabei, durch seine poetischen Äußerungsakte und die Zuschreibung an den Freund, performativ eine höchst ereignishafte Geschichte, vom konventionellen dienenden Lobpreis zur poetischen Selbstermächtigung. Narratologisch ist diese auf der Darbietungsebene (im discours) sich performativ vollziehende Geschichte von komplexer Struktur. Erstens stellt das Sonett einen hyperbolischen Schönheits-Lobpreis des Freundes mit selbstreferentiell dichterischen Mitteln dar, mit einem konventionellen Geschehensereignis: Die Schönheit wird solange bewundert werden, wie es Menschen oder zumindest Leser gibt (so wird dies Sonett tendenziell in der Sekundärliteratur gelesen27). Der Grad der Ereignishaftigkeit dieser panegyrischen Klimax, da erwartbar, ist nicht sehr hoch. Zweitens handelt es sich um ein 26
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Man kann das Verhältnis Sprecher – Freund auch (zusätzlich) als Patronageverhältnis rahmen (worauf vor allem der Beginn des Zyklus verweist), also den Fokus auf die Relation Autor – Adressat im sozialen Kontext richten. In diesem Rahmen betrachtet, ergibt sich eine sehr spezifische Intention und Funktion für dieses Sonett: der Hinweis des Autors auf den Wert und die Unverzichtbarkeit seiner dichterischen Leistung für den Mäzen, auf dessen Abhängigkeit von seinem poetischen Dienst. Vgl. generell John Barrell: Poetry, Language and Politics, Manchester 1988 (Cultural politics), S. 18–42; Arthur F. Marotti: Love is not Love. Elizabethan Sonnet Sequences and the Social Order. In: English Literary History 49 (1982), S. 396–428. Auch wenn Kommentare zu diesem Gedicht gelegentlich, jedoch keineswegs durchweg, die zweite Bedeutung von thou ow’st erwähnen (meist im quasi-religiösen Sinne von ‚dem Tod schulden/übergeben müssen‘ verstanden), wird dies gewöhnlich nicht konsequent im Sinne einer Unterminierung der panegyrischen Funktion unter dem Machtaspekt interpretiert, so stark ist offenbar die Dominanz der petrarkistischen Konvention trotz der veränderten Konstellation. Vgl. z. B. Kerrigan (Anm. 22), S. 196; Duncan-Jones (Anm. 22), S. 146; William Shakespeare: The Complete Sonnets and Poems. Hrsg. von Colin Burrow, Oxford 2002 (The Oxford Shakespeare. Oxford world’s classics), S. 416; Shakespeare’s Sonnets. Hrsg. von W. G. Ingram/Theodore Redpath, London u. a. 1978, S. 44; The Sonnets. Hrsg. von G. Blakemore Evans, Cambridge 1996 (The New Cambridge Shakespeare), S. 9–11, 130–131; Shakespeare’s Sonnets. Hrsg. von Stephen Booth, New Haven, London
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Darbietungsereignis, denn der Sprecher verändert im Vorgang des Sprechens (des Lobpreisens) unversehens seine Haltung; er vollzieht im Prozess der Äußerungen eine radikale Einstellungsänderung.28 Vor dem Hintergrund der Konvention und ihrer Scripts besitzt dieser Umschwung einen hohen Ereignisgrad. Und drittens trifft dieser performative Darbietungsvorgang eine veränderte Aussage über den Freund, enthält also auch ein Geschehensereignis hohen Grades (die Schönheit ist nicht unvergänglich, der Sprecher kein demütiger Verehrer). Trotz scheinbarer Beachtung petrarkistischer Konventionen stellt dies Sonett also aufgrund der Umkehrung von deren zentralen Normen insgeheim eine kritische Modifikation dar. Auch das zweite Beispiel, Sonett 150 aus dem zweiten Teil des Zyklus, verbindet eine oberflächliche Konformität zur petrarkistischen Konvention mit ihrer radikalen Unterminierung. 1 O, from what power hast thou this powerful might With insufficiency my heart to sway? To make me give the lie to my true sight And swear that brightness doth not grace the day? 5 Whence hast thou this becoming of things ill That in the very refuse of thy deeds There is such strength and warrantise of skill That in my mind thy worst all best exceeds? Who taught thee how to make me love thee more, 10 The more I hear and see just cause of hate? O, though I love what others do abhor, With others thou shouldst not abhor my state. If thy unworthiness raised love in me, More worthy I to be beloved of thee. (Oh, von welcher Macht hast du diese mächtige Gewalt, mit Unzulänglichkeit mein Herz zu beherrschen? Mich zu veranlassen, meine korrekte Wahrnehmung der Lüge zu zeihen, und zu schwören, dass nicht Helligkeit den Tag ziert? Woher hast du dies Wohlansehen von Schlechtem, dass selbst im Abfall deiner Taten so viel Stärke und Beweis von Trefflichkeit ist, dass in meinem Bewusstsein dein Schlimmstes alles Beste übertrifft? Wer lehrte dich, mich zu veranlassen, dich umso mehr zu lieben, je mehr wahren Grund zum Hass ich sehe und höre? Oh, wenn ich auch liebe, was andere verabscheuen, solltest du mit anderen nicht meinen Zustand verabscheuen: Wenn deine Unwürdigkeit Liebe in mir auslöste, bin ich umso würdiger, von dir geliebt zu werden.)
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1977, S. 161–162; Helen Vendler: The Art of Shakespeare’s Sonnets, Cambridge (Mass.), London 1999, S. 120–122. Rhetorisch-semiotisch ist diese Unterscheidung zweier Ereignisebenen bedingt durch die Möglichkeit, zwischen der Vermittlungsperspektive des Sprechers als des Protagonisten und der des abstrakten Autors/Kompositionssubjekts zu differenzieren. Zu dieser Differenzierung in Shakespeares Sonetten und generell in der Renaissance vgl. Adena Rosmarin: Hermeneutics versus Erotics. Shakespeare’s Sonnets and Interpretive History. In: PMLA 100 (1985), S. 20–37.
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Das hier zugrunde liegende Script besteht in der rhetorischen Strategie der Liebeswerbung als eines spezifischen konventionellen Sequenzmusters. Der Liebende leitet aus dem Umstand, dass die Dame mit ihrer Perfektion in ihm die Liebe zu ihr ausgelöst hat und er ihr nun verehrungsvoll dient, ihre Verpflichtung zur Erhörung seines Verlangens ab. Er stellt also eine kausale und temporale (quasi-narrative) Verpflichtungsfolge in drei Stufen zwischen der Ursache und der Erhörung her: Die Perfektion der Dame (Schönheit und moralische Integrität) weckt Verlangen, und dieses strebt nach Befriedigung, eine Kausalkette, die für den Sprecher und Liebenden den (sozusagen moralischen) Anspruch auf Erfüllung begründet. Dieser konventionelle Verlauf wird hier insofern von Vornherein auf den Kopf gestellt, als der Sprecher in wiederholten (narrativen) Sequenzen gerade die mangelnde Idealität der Dame, ihre moralischen Defizite als Auslöser für seine zwanghafte Liebe zu ihr und für die Zersetzung seiner Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit anführt. In jedem der drei Quartette wird dieses Einflussgeschehen der Dame auf ihn zusammen mit der Frage nach Herkunft und Möglichkeit dieser zutiefst paradoxen und perversen Wirkung in lyrik-typischer Verknappung erneut dargeboten oder ‚erzählt‘. Die Darbietung nennt jeweils zwei Momente oder Stufen des bezeichneten Verlaufs − die im Wesen der Dame liegende Ursache und die durch sie ausgelöste Veränderung in seiner Haltung des Begehrens und Liebens, mit jeweils unterschiedlichen Begriffen. Im ersten Quartett betrifft die Wirkung dieser Defizite (insufficiency) sowohl die Liebe in seinem Herzen (to sway − my heart) als auch die Trübung seiner korrekten Wahrnehmungsfähigkeit (give the lie to my true sight − swear that brightness doth not grace the day, V. 3–4). Im zweiten Quartett konzentriert er sich auf die geistig-moralische Verkehrung seiner Urteilsfähigkeit als Folge ihrer Schlechtigkeit: Whence hast thou this becoming of things ill / That in the very refuse of thy deeds / There is such warrantise of skill / That in my mind thy worst all best exceeds? (V. 5–8). Und im dritten Quartett benennt er die Steigerung seiner Liebe aufgrund der zunehmenden Wahrnehmung ihrer hassenswerten Eigenschaften: Who taught thee how to make me love thee more, / The more I hear and see just cause of hate? (V. 9–10). Ähnlich wie in Sonett 18 unterstreicht der Vermittlungsmodus die Signifikanz der präsentierten Geschehensfolge. Indem der Sprecher und Liebende die narrative Darbietung dieser Geschehensabfolge – in der 2. Person und in Form anklagender Fragen – direkt an die Geliebte adressiert, schreibt er ihr die Verursachung seiner Haltung und seines Verlangens unmittelbar zu, verbunden mit der Betonung der Unerklärlichkeit dieser Wirkungsmacht. Aus dieser paradoxen Wirkungsgeschichte seiner Liebe leitet er − im Sinne eines Rechtfertigungszusammenhangs − den Anspruch auf Erfüllung seines Liebesverlangens ab: O, though I love what others do abhor, / With others thou shouldst not abhor my state. / If thy unworthiness raised love in me, /
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More worthy I to be beloved of thee (V. 11–14). Die Formulierung und Begründung dieses Anspruchs sind, wie typisch für Shakespeares Sonette, doppeldeutig. Vordergründig besagt diese Schlussfolgerung, dass er als Lohn für die geradezu zwanghafte Liebe auch noch ihrer schlechten Seiten ihre Gegenliebe verdient habe − eine noch quasi-petrarkistische Argumentationsweise, wenngleich sie in der unterstellten Korrumpiertheit der Dame die Konvention selbstverständlich fundamental verletzt. Darunter impliziert diese Schlusswendung jedoch eine beleidigendere, paradoxe Bedeutung: Sie habe ihn durch die Korrumpierung seiner Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit derart unwürdig gemacht, dass er jetzt „würdig“, d. h. geeignet, sei, von ihr geliebt zu werden.29 Beide seien nun − dank ihrer Wirkung auf ihn − gleichermaßen schlecht. Damit fehlt hier nicht nur die im Petrarkismus vorausgesetzte Idealität der Dame, sondern darüber hinaus wird – noch spezifischer – die veredelnde und moralisch-spirituell erhöhende Wirkung der Liebe ins genaue Gegenteil verkehrt. Die Ereignishaftigkeit in diesem Gedicht ist in zwei Hinsichten bestimmbar. In einer ersten Betrachtungsweise steht das Ereignis − die Erfüllung der Bitte, die Gewährung tiefer Gegenliebe − noch aus. Strukturell stimmt diese Lesart mit der petrarkistischen Konvention noch halbwegs überein, wenn auch natürlich nicht in der verunglimpfenden Beschreibung der dark lady. Eine derartige unabgeschlossene Ereignishaftigkeit ist generell typisch für Lyrik. Der Sprecher treibt die narrative Wiedergabe des Geschehens bis (kurz) vor den Eintritt des erstrebten Ereignisses, z. B. um es mit seiner Erzählung endgültig herbeizuführen, wie hier und in vielen Verführungsgedichten, etwa in Andrew Marvells To His Coy Mistress. In einer zweiten Betrachtungsweise des Sonetts 150 tritt das Ereignis tatsächlich ein, nämlich als extreme Steigerung der moralischen Verunglimpfung und eklatanten Korrumpierung der petrarkistischen Idealität und Nobilitierung im Schlusszeilenpaar. Handelt es sich im ersten Fall um ein (unabgeschlossenes) Geschehensereignis, mit der Geliebten als Protagonistin der erwünschten Erfüllung der echten, seelischen und nicht nur sexuellen Liebe, so im zweiten Fall um ein (vollzogenes) Darbietungsereignis, insofern der Sprecher (als Protagonist) im Prozess des Sprechens seine Einstellung als Liebender radikal ändert, d. h. die Subversion der petrarkistischen Haltung plötzlich noch verschärft, in der Verunglimpfung der moralischen Qualitäten der 29
Die Doppeldeutigkeit des Schlusszeilenpaars wird von den meisten Kommentatoren gesehen, aber gewöhnlich vordergründig, nämlich im Sinne der Priorität der ersteren der genannten zwei Bedeutungen (generöse Liebe auch der schlechten Seiten) interpretiert. Vgl. z. B. Kerrigan (Anm. 22), S. 383; Duncan-Jones (Anm. 22), S. 416; Vendler (Anm. 27), S. 635–636; Ingram/Redpath (Anm. 27), S. 346; Evans (Anm. 27), S. 269–270. Mir scheint die letztere Bedeutung jedoch eine viel spezifischere Relevanz für die bei Shakespeare vorgenommene Verkehrung der petrarkistischen Konventionen zu besitzen (radikale Negierung der Nobilitierung durch die Liebe), siehe Booth (Anm. 27), S. 525.
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Dame wie vor allem in der Betonung seiner eigenen spirituellen Entwürdigung als Folge der Liebe. Die Plötzlichkeit dieser Verschärfung, nämlich die überraschende Entdeckung der verborgenen Zweitbedeutung der Formulierung, erhöht den Grad dieser Ereignishaftigkeit. In beiden Sonetten wird somit auf der Ebene des vermittelten Geschehens, in Form der Geschehensereignisse, die petrarkistische Einstellung (Lobpreis in Sonett 18 und Bitte um Erhörung in Sonett 150) strukturell noch weitgehend eingehalten. Aber auf einer zweiten, eher verborgenen und durch interpretatorische Anstrengung erst zu erschließenden Bedeutungsebene, der des sich vollziehenden Äußerungsaktes, wird in Form von Darbietungsereignissen das petrarkistische Liebeskonzept hinsichtlich seiner zentralen Momente, reine Verehrung (in Bezug auf den Freund) und Nobilitierung durch selbstlose Liebe (in Bezug auf die Dame), radikal unterminiert und damit das Scheitern des dem Zyklus zugrunde liegenden Lösungsansatzes für die mit dem Petrarkismus verbundene Frustration signalisiert und besiegelt. Zugleich reproduziert sich jedoch eine charakteristisch petrarkistische Erfahrung aufgrund von Versagung und Frustration – die Ausbildung einer Innerlichkeit und differenzierten Selbst-Reflektionshaltung. VI. Fazit Die Beispieluntersuchungen der beiden Shakespeare-Sonette im Kontext des Petrarkismus sollten zum einen allgemein die praktische Umsetzbarkeit des narratologischen Ansatzes zur Lyrikanalyse demonstrieren, insbesondere hinsichtlich der Art, wie lyrisches Sprechen sich narrativer Strukturelemente und narrativer Verfahren bedient, und dies auf prononciert lyrische Weise. Zum anderen sollte spezifisch gezeigt werden, wie sich der RenaissanceAutor Shakespeare kritisch, kreativ und quasi-existentiell (d. h. in inszenierter, suggerierter existentieller Relevanz) mit der mittelalterlichen höfischen Liebeskonvention, in Gestalt des Petrarkismus, auseinandersetzt und diese Auseinandersetzung mit Hilfe narrativer Formen durchspielt. Liebesgedichte – im weitesten Sinne – implizieren eine (glückliche oder unglückliche, ersehnte, erlebte oder imaginierte, begonnene oder vergangene u. ä.) Liebesgeschichte, die ihre Dynamik im wesentlichen aus dem Begehren im Konflikt mit (psychischen oder physischen) Widerständen bezieht, und enthalten insofern inhärent narrative Elemente. Diese narrativen Elemente, im Sinne entscheidender – ereignishafter – Veränderungen, können unterschiedlich platziert sein: Zum einen in der Abfolge der Gedichte bei einem Zyklus (wie bei Petrarca und bei Shakespeare) oder im Aufbau eines einzelnen Gedichtes, zum andern innerhalb des Zyklus wie innerhalb des Einzelgedichtes entweder auf der Geschehens-/histoire- oder auf der Darbietungs-/ discours-Ebene, d. h. entweder in der repräsentierten („erzählten“) Geschichte
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als Veränderung der Situation oder aber performativ, im Prozess des Sprechens und der Darbietung, als Veränderung der Einstellung des Sprechers selbst. Wie oben (vgl. Abschnitt I., S. 82 f.) dargelegt, zeichnet sich das Genre der Lyrik dadurch aus, dass in ihr das Geschehen sowohl mittels aller verfügbaren Ebenen und Modi der Vermittlung (also vor allem eines Erzählers) wie in der Epik, d. h. narrativ im engeren Sinne, als auch ohne diese, ohne vermittelnden Erzähler, performativ, wie in der Dramatik, d. h. narrativ im weiteren Sinne oder mimetisch, präsentiert werden kann. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Petrarca und Shakespeare auf charakteristische Weise. In Petrarcas Canzoniere ist eine ereignishafte Veränderung vornehmlich auf der Geschehensebene (im gesamten Zyklus wie im einzelnen Sonett) angesiedelt: zunächst tritt das erotische Ereignis nicht ein (das Begehren wird nie erfüllt), sodann wird der erotische Frame durch einen religiösen ersetzt: Laura führt als Engel die Seele des Sprechers zu Gott. Diese (erzählte, repräsentierte) Modifikation des (ersehnten, angestrebten) Ereignisses ist als solche ereignishaft. Aber der Sprecher – in seiner (verehrenden) Einstellung zu Laura – verändert sich nicht, sondern bleibt statisch. In Shakespeares Sonnets ist die Konstellation narrativer und ereignishafter Veränderungen komplexer, problematischer und dynamischer. Es handelt sich um ein dezidiertes Gegenprogramm zum Canzoniere. Zwar erfindet Petrarca nicht die höfische Liebe, sondern findet sie bereits als Konvention vor, aber sein Zyklus als Ablauf einer besonderen „Liebesgeschichte“ steht doch eher für sich da und begründet in der Folge seinerseits eine Konvention. Shakespeares Zyklus jedoch kann als – mehrfach vermittelte – Reaktion auf dessen (unerfüllte, sublimierte und schließlich umdefinierte) Ereignisstruktur gelesen werden. Der Zyklus versucht auf der Geschehensebene, die petrarkistische Ereignislosigkeit der Nicht-Erfüllung durch die Trennung und Erfüllung sowohl der selbstlosen Verehrung moralischer und physischer Perfektion als auch des erotischen Begehrens zu überwinden und so zu lösen. Diese Modifikation von Petrarcas Liebesgeschichte als solche – wenn sie gelänge – wäre als (positiv) ereignishaft zu bezeichnen, aber daraus entstünden anschließend ereignislose Beziehungen zu idealem Freund und begehrter Dame, da sich in diesen beiden Konstellationen (und ihren Geschichten) nichts mehr ändern, nichts Neues mehr ereignen würde. Doch dieser Versuch scheitert auf der Geschehensebene des Zyklus – und macht sozusagen diesen allererst möglich und nötig – denn ereignislose Beziehungsgeschichten sind nicht erzählwürdig, produzieren keine Gedichte und keine Zyklen. Erstens erfüllen die beiden Personen nicht die in sie gesetzten Erwartungen an Idealität und Integrität: Einstellung und Verhalten sowohl des Freundes als auch der Dame erweisen sich letztlich als korrupt; und zweitens vermag der Sprecher die beiden Haltungen (hier reine Verehrung, dort bloße Befriedigung) in sich, in seiner Psyche, weder für die
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Freundesverehrung noch für die Liebesleidenschaft dauerhaft und grundsätzlich zu trennen. Das Resultat – diese narrativen Veränderungen – zeichnet sich insgesamt in der Makrostruktur des Zyklus mit Bezug auf die implizierte Geschehensebene ab, aber nicht in Form eines prononcierten Umschwungs in der Abfolge der Einzelgedichte, denn die Sonnets sind – anders als Petrarcas Canzoniere – nicht chronologisch angeordnet (ob von Shakespeare selbst autorisiert oder vom Verleger veranlasst, bleibt unklar). Dadurch wird der Fokus entschieden stärker auf den Einzeltext und die sich in ihm – episodisch – vollziehende Veränderung gelenkt, wie dies an den beiden Gedichtbeispielen vorgeführt wurde. Diese Sonette präsentieren Reaktionen des Sprechers auf die Abweichung des Verhaltens von Freund bzw. Geliebter vom vorausgesetzten oder postulierten Idealbild, und diese Reaktionen sind ihrerseits (ereignishafte) Abweichungen von der erwarteten, angestrebten Haltung des Verehrers auf Seiten des Sprechers. Der Sprecher erfüllt die petrarkistische Konvention des verehrend Preisenden und selbstlos Liebenden auf der Geschehensebene scheinbar noch strukturell oder formal, nur um sie im Redeprozess einerseits hinsichtlich seiner poetischen Selbstaufwertung und Selbstermächtigung (in Sonett 18) und andererseits hinsichtlich einer Selbstabwertung in der Erfüllung erotischen Begehrens (in Sonett 150) ereignishaft zu überschreiten. Signifikanterweise werden diese Verhaltensänderungen aber nicht „erzählt“, also mit Bezug auf die Geschehensebene repräsentiert, sondern auf der Darbietungsebene, performativ, im Vollzug des Sprechens des Sonetts „inszeniert“ – in der dramatischen oder mimetischen Darbietungsweise, wie sie spezifisch und typisch für die Lyrikgattung ist (vgl. Abschnitt I., S. 82 f.). Mit Wolf Schmid kann man hierbei von „Erzählgeschichten“ sprechen.30 Diese Form narrativer Präsentation wird in der Lyrik verschiedener Epochen (zum Beispiel im Mittelalter und in der Romantik) relativ häufig praktiziert (im Gegensatz zu Prosaerzählungen, wo sie selten auftritt)31 und darf insofern als lyriktypisch gelten. Bei diesem performativen Präsentationsmodus von Geschichten scheinen die Instanzen von Sprecher/Erzähler und Protagonist sowie empirischem Autor zusammenzufallen (vgl. Abschnitt III., S. 86 f.). Dadurch erhält der Leser den Eindruck, er sei unmittelbarer Zeuge dieser Äußerung. Diese Sprechhaltung ist offenbar ein Grund dafür, dass derartige lyrische Aussagen vielfach nicht als fiktional aufgefasst, sondern dem Autor als eigene, lebensweltliche Erfahrungen zugeschrieben werden. Auch hier existiert die Geschichte nicht vorgängig, für sich, sondern wird – wie bei der 30 31
Siehe Schmid (Anm. 9), S. 18–19 und 268. Beispiele aus dem Bereich der Epik sind etwa Laurence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman (1759–67), wo die direkt geäußerten Meinungen das dargestellte Leben in den Hintergrund drängen, oder John le Carrés The Russia House (1989), wo der Erzähler im Laufe seines Erzählprozesses seine Einstellung zum Geheimdienst ändert.
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Narration im engeren Sinne – allererst durch den Präsentationsakt, die performative Rede, geschaffen (vgl. Abschnitt I., S. 80 f.), nur dass bei der mimetischen Narration die zeitliche Distanz zwischen Geschehen und Vermittlung fortfällt. Dieser Eindruck von lebensweltlicher Signifikanz gehört im Übrigen inhärent zur Konvention gewisser poetischer Subgenres wie gerade der höfischen Liebesdichtung und des Petrarkismus: Der Reiz liegt hier (unter anderem) in der Ambivalenz zwischen der Suggestion von Lebensechtheit und konventionalisierter Künstlichkeit. Es ist zu betonen, dass diese Lebensechtheit ein (absichtlich und gezielt) suggerierter Eindruck ist. Denn die scheinbar direkte Aussprache ist keineswegs unvermittelt und spontan, sondern sorgfältig komponiert (durch Segmentierung, Auswahl und Anordnung der Geschehenselemente sowie zusätzlich durch poetische Überstrukturierung): sie ‚simuliert‘ eine echte Aussage (wie im Drama) und stellt als solche eine spezifische gerade in Lyrik mögliche und typische erzählerlose Form der Vermittlung dar. Darüber hinaus liegt das Besondere der beiden hier ausgewählten Shakespeare-Sonette darin, dass diese auf zwei Ebenen gleichzeitig Geschichten präsentieren: auf der Geschehensebene die (scheinbare) Erfüllung der Liebeskonvention (Schönheitslob und Liebeswerben), auf der Darbietungsebene aber deren prononcierte, ereignishafte Durchbrechung.
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Norm und Störung Zum Verhältnis lyrischer und narrativer Verfahren in der mittelalterlichen Lieddichtung Frankreichs I. Mittelalterliche Lyrik: Möglichkeiten und Probleme des Gattungsbegriffs Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, als man begann, die mittelalterliche Lyrik Frankreichs über das hinaus systematisierend zu durchforsten, was die mittelalterlichen volkssprachlichen Poetiken vor allem des Midi (Doctrina de compondre dictats, Regles d’Amors, Leys d’Amors usw.) uns an Klassifizierungen, Regeln und Funktionsbeschreibungen hinterlassen haben, spricht man von der Lyrik der Trobadors und der Trouvères. Dieser Terminus mag primär eine Entsprechung des französischen poésie im Sinn eines dichterischen Textes in metrischer Gestalt gewesen sein – Friedrich Diez selbst sprach beispielsweise meist noch von der „Poesie der Troubadours“ (1826). Der globale Terminus Lyrik bezieht seine Berechtigung indessen allein aus dem Umstand, dass die mittelalterliche lyrische Dichtung bis weit ins 13. Jahrhundert hinein in der Regel gesungene Dichtung, Lieddichtung mit Instrumentalbegleitung ist, also der ursprünglichen Bedeutung des Wortes lyrisch und seiner Bindung an Gesang und Musik entspricht.1
1
Eine andere, vor allem thematisch (Liebesthema) und/oder durch ein Sprecher-Ich begründete, deshalb aber relativ unscharfe Definition von lyrisch legt Sylvia Huot: From Song to Book. The poetics of Writing in Old French Lyric and Lyrical Narrative Poetry, Ithaca, London 1987, ihrer Darstellung der Entwicklung von der oralen Performanz der Dichtung des 13. und 14. Jahrhunderts zur Schriftlichkeit (Buch) zugrunde. Ich-Romane mit Liebesthematik wie der Roman de la Rose oder auch der Prosa-Version des Bestiaire d’amours gehören demnach zur „lyrical narrative poetry“. Vgl. dazu auch die von Paul Zumthor: Essai de poétique médiévale, Paris 1972 (Collection Poétique), S. 287–306, nach etwas anderen Kriterien definierte Textsorte des chant narratif, zu der viele chansons de toile, aber auch Alain Chartiers Belle Dame sans mercy zu rechnen sind. Zu dieser Dichtung des späten Mittelalters vgl. unter diesem Aspekt Joseph Brami: Un lyrisme de veuvage. Étude sur le ‚je‘ poétique dans ‚La Belle Dame sans mercy‘. In: Fifteenth Century Studies 15 (1989), S. 53–66.
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Legt man aber die moderne, romantisch-nachromantische Bedeutung von ‚Lyrik‘ und ‚lyrisch‘ zugrunde, dann verbietet sich strenggenommen die Applikation dieser Termini auf die Lieddichtung des französischen und okzitanischen Mittelalters – auch auf das Liebes- und Werbungslied. Und dies aus zwei Gründen: Einmal aus der Binsenweisheit heraus, dass die neuzeitliche landläufige, ihrerseits indessen auch auf die romantische Dichtung nicht applizierbare Definition des Lyrischen als spontanes Erlebnislyrisches nicht auf die Dichtung des Mittelalters zu übertragen ist – das je der Dichtung der Trobadors und der Trouvères ist kein ideal-romantisches je. Das mittelalterliche Publikum des 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts – und auf diese Phase will und muss ich mich beschränken2 – erwartet keine künstlerische Gestaltung subjektiven Erlebens, auch keine bloße künstlerische Inszenierung und Zurschaustellung von fiktiver, aber in jeder Hinsicht unverwechselbarer Subjektivität im modernen Sinn. Es erwartet indessen die möglichst geglückte, durchaus auch „originelle“3 künstlerische Umsetzung und Konstitution einer gesellschaftlichen Konstruktion von Subjektivität, einer ästhetischen Rolle, eines Rollenwechsels oder einer Rollenkombination, mit (nicht unbegrenzten) individuellen Ausgestaltungsmöglichkeiten im Rahmen eines soziokulturellen Codes und damit auch mit der Möglichkeit in 2
3
Deshalb kommen die an sich überzeugenden Ausführungen von Michel Zink zur literarischen Subjektivität seit etwa 1250 (Michel Zink: La subjectivité littéraire. Autour du siècle de saint Louis, Paris 1985), von der gesprochen werden kann, „quand il [sc. le texte] se désigne comme le produit d’une conscience particulière, partagé entre l’arbitraire de la subjectivité individuelle et la nécessité contraignante des formes du langage“ (S. 8), in diesem Zusammenhang weniger in Betracht; doch vgl. dort S. 47–58 Ausführungen zum grand chant courtois in Nord- und Südfrankreich, denen voll zuzustimmen ist. Vgl. im Übrigen Klaus Grubmüller: Ich als Rolle. ‚Subjektivität‘ als höfische Kategorie im Minnesang? In: Höfische Literatur. Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3.-5.11.1983). Hrsg. von Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 387–408. Dass sich in der Geschichte der dichterischen Subjektivität von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an ein grundlegender Wandel auch in der Lyrik vollzieht, hat die mediävistische Forschung der letzten beiden Jahrzehnte immer wieder plausibel zu machen versucht. Vgl. dazu und zum Aspekt der Ritualität bzw. Pararitualität auch: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 17); Ders.: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling/ Peter Strohschneider, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 17), S. 43–76; vgl. auch Christoph Huber: Ich – Du – Welt. Figurationen des Subjektiven im Minnesang. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u. a., Königstein/Taunus 2005, S. 17–33. Nur geringe neue Perspektiven eröffnen die meisten Artikel in: L’expérience lyrique au Moyen Âge. Actes du colloques tenu les 26. et 27. septembre 2002 à l’Ecole Normale Supérieure Lettres et Sciences Humaines de Lyon (organisé par Michèle Gally), Paris 2002 (Suppl. von Perspectives médiévales 28). Vgl. Dietmar Rieger: Tot est dit. Zum Konzept des „Neuen“ in der mittelalterlichen Literatur Frankreichs. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte/Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 29 (2005), S. 163–182.
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erster Linie ästhetischer Individualitätserfahrung (aber als für das Kollektiv schöpferisches Subjekt) sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf derjenigen der Reproduktion.4 Beim hochmittelalterlichen lyrischen Ich handelt es sich um ein fiktives, inszeniertes, aber über das dichtende Ich mit der kollektiven Wirklichkeit und mit deren traditionellen dichterischen Ausdrucksformen intertextuell kommunizierendes Subjekt. Anders formuliert: Ist nach romantischer Vorstellung – aber in sehr eingeschränktem Maß in deren künstlerischer Umsetzung – die subjektive Erfahrung der lyrischen Äußerung vorgängig, so geht in der Blütezeit der höfischen Lyrik umgekehrt die weitestgehend fiktionale lyrische Rede der realen rezeptionellen Erfahrung voraus – die trobadoresken vidas und razos könnten in diesem Sinn als Narrativierung dieser sekundären Erfahrung verstanden werden. Und zweifellos: Trotz aller Individualisierung der Sprechweisen kann in Frankreich bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts von einer wirklichen Herauslösung des lyrischen Subjekts aus dem überindividuellen Diskursschema des Liebeswerbens und seiner Freisetzung als ungebundene, (auch sich selbst) reflektierende Instanz in der Tat nur in Ansätzen gesprochen werden.5 Zum anderen ist die Begriffsapplikation schwierig, weil innerhalb dessen, was wir das lyrische Gattungssystem des mittelalterlichen Frankreich im 12. und 13. Jahrhundert mit erstaunlicher Gattungsvielfalt nennen, auch mehr oder weniger (im postromantischen Sinn) unlyrische Genera ihren festen funktionalen Platz haben. Da dieses Gattungssystem insbesondere in Südfrankreich ein außerordentlich kohärentes kulturelles Subsystem darstellt, das eine soziokulturell begründete Dominanz aufweist, angesichts derer alle anderen, im Midi nur spärlich überlieferten Subsysteme nahezu bedeutungslos erscheinen, hilft auch seine einst von Alfred Jeanroy vorge4
5
Erich Köhler spricht von einer Art „Idealkanzone“, die den Trobadors vorschwebte und die – das Strukturgesetz der Gattung ‚ganz‘ erfüllend – als virtueller Genotext zu gelten hat, zu dem sich alle Einzelrealisierungen wie Phänotexte verhalten – die Terminologie folgt Zumthor (Anm. 1), S. 185 –, und der auch die Publikumserwartung determiniert: „In der Natur dieser Idealkanzone selbst lag es, daß sie zugleich nie und öfters verwirklicht werden konnte, weil ihr Wesensgesetz die in ihrer Spannungsstruktur angelegte Verschiedenheit, besser: Variabilität war“ (Erich Köhler: Zur Struktur der altprovenzalischen Kanzone. In: Ders., Esprit und arkadische Freiheit. Aufsätze aus der Welt der Romania, 3. Aufl. München 1984, S. 28–45, hier S. 37 [Hervorhebung i. Original]). Vgl. dazu und zur Entstehung lyrischen Sprechens Michael Bernsen: Die Problematisierung lyrischen Sprechens im Mittelalter. Eine Untersuchung zum Diskurswandel der Liebesdichtung von den Provenzalen bis zu Petrarca, Tübingen 2001 (Beihefte zur ZfromPh 313). Das Buch von Ria Lemaire mit dem vielversprechenden Titel: Passions et positions. Contribution à une sémiotique du sujet dans la poésie lyrique médiévale en langues romanes, Amsterdam 1988, ist leider (nicht nur) für das gewählte Thema unergiebig. Die Darstellung von Catherine Attwood: Dynamic Dichotomy. The Poetic ‚I‘ in Fourteenth- and FifteenthCentury French Lyric Poetry, Amsterdam, Atlanta 1998 (FauxTitre 149), welche die Entwicklung des literarischen Bewusstseins und des textuellen „Ich“ in der Dichtung des späten Mittelalters fokussiert, ist relativ weit entfernt von Bernsens durchaus bedeutsamer Perspektivierung.
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nommene romantisierende Aufspaltung in genres subjectifs und genres objectifs6 nicht wirklich weiter. Die sogenannten genres subjectifs sind bei näherem Hinsehen ebenso wenig subjektive wie die genres objectifs objektive Dichtung, handelt es sich doch auch bei den genres subjectifs um „une poésie presque totalement objective, c’est-à-dire dont le sujet, la subjectivité qui jadis s’investit dans le texte, s’est pour nous abolie“7, und bei den genres objectifs in der Regel um Lieder aus dem Mund eines je, und dies aus Gründen des spezifischen Rezeptionsmodus auf jeden Fall auch dann, wenn – wie etwa in vielen Sirventesen – das grammatische je gänzlich fehlt. Etwas klarer sieht man nämlich erst, wenn man von der visuellen Erscheinungsform des Lieds abstrahiert und sich vergegenwärtigt, dass – von (gleichwohl im Einzelfall nicht bedeutungslosen) Ausnahmen abgesehen8 – das je des Liedtextes dem Rezipienten nicht als ein textgewordenes und als solches lesbares Ich kommuniziert wird, sondern sich ihm performativ-theatral – visuell-gestisch und vor allem auditiv – mitteilt. Mit anderen Worten: Es ist im allgemeinen die Stimme eines Rezitators,9 des Dichters selbst oder eines Jongleurs, die als eine Art Transmitter die Distanz zwischen jenem Text-Ich und den Augen und den Ohren des Rezipienten zu überwinden hat, bevor die Einheit von motz und son, von der die Dichter nicht von ungefähr so häufig sprechen, dessen Sinnstiftungsaktivität initiieren kann. Strenggenommen übernimmt der Rezitator – auch, wenn es sich um den Dichter selbst handelt – bei der die niemals individualisierte Dame und die Werbung um sie oder die Position des Ich im Machtbereich der analytisch angegangenen Liebe modellierenden Reproduktion eines Lieds eine Rolle, die vom Liebesdiskurs auch sozial determiniert ist. Auch das ist keine neue Erkenntnis, wird jedoch immer noch zu wenig der Textinterpretation ‚unterstellt‘. Das Ich des höfischen Lieds gelangt grundsätzlich immer als schauspielerisch vermitteltes Ich an einen Hörer, der dieses Ich während seiner ‚Reproduktion‘ im Rahmen der höfischen Festkultur10, die nicht zugleich als bloßes Spiel zu qualifizieren ist,11 von daher als während der Alfred Jeanroy: La Poésie lyrique des troubadours, Bd. 2: Histoire interne. Les genres. Leur évolution et leurs plus notables représentants, Toulouse, Paris 1934, S. 282–283. Zu den genres objectifs zählt Jeanroy die Pastourelle, das Tagelied, die chanson d’histoire und die chanson de femme. 7 Zumthor (Anm. 1), S. 64. 8 Vgl. dazu Dietmar Rieger: Senes breu de parguamina? Zum Problem des ‚gelesenen Lieds‘ im Mittelalter. In: Romanische Forschungen 99 (1987), S. 1–18. 9 Zur Bedeutung der Stimme vgl. u. a. Paul Zumthor: La poésie et la voix dans la civilisation médiévale, Paris 1984 (Essais et conférences du Collège de France 5/85). 10 Zur Bedeutung der Öffentlichkeit des höfischen Festes vgl. Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159. 11 Liebesideologische Probleme ‚durchzuspielen‘ heißt nicht mit ihnen lediglich zu ‚spielen‘ – auch nicht in einem rein intellektuellen Spiel. Dies würde auch dem mittelalterlichen Spiel6
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Performanz und durch diese vom Kollektiv abgehobenen, zu ihm eine Art Spannung aufbauenden Vertreter der höfischen Gemeinschaft – aber in prinzipieller Übereinstimmung mit ihr – und nicht als Individuum in seiner existentiellen Partikularität zur Kenntnis zu nehmen vermag. Geht man von dieser die historischen Bedingungen respektierenden Verständnisbasis aus, so kann man zu differenzieren versuchen – und zwar innerhalb einzelner Liedgattungen und zwischen ihnen –, um zu fragen, welche Definition des Lyrischen für das gewählte Corpus der Zeit von 1150 bis 1250 tragbar ist und welche Narrativierungsformen zu diesem Lyrischen in ein funktionalisiertes Verhältnis treten. Auf der Suche nach einer Antwort lege ich den Akzent auf den grand chant courtois und einige seiner Spielarten einerseits und auf das Tagelied und die Pastourelle andererseits. Ich bleibe also innerhalb des lyrischen Gattungssystems und werde, der Kohärenz wegen, in erster Linie das trobadoreske um 1200 in den Blick nehmen. Das diskriminatorische Kriterium, das ich bei der Relationierung lyrischer und narrativer Qualitäten fokussiere, ist nach dem bisher Gesagten zwangsläufig der Faktor der Temporalität. II. Das Liebesparadox als zeitliches Dazwischen Innerhalb des höfischen Gattungssystems der Trobadors, dessen umfassende Entwicklungs- und Funktionsgeschichte (nicht im Sinn einer chronologischen Ordnung einzelner Dichter) gegen das bislang vorherrschende statische Bild noch zu schreiben wäre,12 stellt die Liebes- und Werbungskanzone die Dominante dar. Wenn man davon spricht, dass das Anliegen einer chanson d’amour die Beschreibung eines liebespsychologischen Zustands ist, so bedarf dies der Präzisierung: Es handelt sich in der Regel nicht um einen Zustand im Sinn von Statik und Immobilität eines Fixums mit eindeutigen Konturen – denn der im paradoxe amoureux verhaftete Liebende befindet sich in dessen Koordinatensystem innerhalb eines einzelnen Liedes grundsätzlich in ständiger reflexiv-geistiger Bewegung, in einer permanenten, das
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begriff widersprechen. Die prinzipiell durchaus relevante Frage nach dem Sitz im Leben dieser Probleme wird im vorliegenden Beitrag aber nicht gestellt. Zu erforschen wäre, wie im Verlauf von zwei Jahrhunderten Innovationen durch Systemdifferenzierungen, Funktionsverlagerungen und -überschneidungen, Epigonalisierung, neuen Funktionsbedarf, ‚Teilungen‘ von Systemelementen, Entautomatisierungen – kurz durch aus internen und externen Impulsen resultierende Störungen und Irritationen der Systemstabilität bzw. durch Spannungszustände und Leerstellen Modernisierungen ausgelöst wurden, die sich in literarhistorischen/gattungsgeschichtlichen Modifikationen niederschlugen, wobei u. a. auch das Verhältnis von internen zu dem System heteronomen Störungen relevant wäre, aber auch zwischen Störungen, die zur Stützung und Stabilisierung des sich im Lauf der Zeit zunehmend destabilisierenden Systems beitrugen und solchen, die das System dynamisierten, zu unterscheiden wäre.
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Liebesparadox antithetisch ausreizenden und intern umkreisenden, jedoch prinzipiell nie seine Grenzen überschreitenden mentalen Binnendynamik: D’Amors ne sai nule issue, / ne ja nus ne la me die („Aus der Liebe weiß ich keinen Ausweg, und niemals möge irgendwer ihn mir nennen“) – so Chrétien in einer Liebeskanzone.13 Ein kleines Beispiel – die erste Strophe seiner anderen Liebeskanzone – mag dieses Hin und Her innerhalb präsentischer Grenzen, dieses relative Auf-der-Stelle-Treten mit wechselnder Blickrichtung (Anklage der Liebe – Zurückziehen der Anklage – Wiederaufnahme der Anklage mit Begründung), illustrieren: D’Amors, qui m’a tolu a moi N’a soi ne me veut retenir, me plaing ensi, qu’adés otroi que de moi face son plesir. Et si ne me repuis tenir Que ne m’en plaigne, e di por quoi: Car ceus qui la traïssent voi Souvent a lor joie venir Et g’i fail par ma bone foi.
Über die Liebe, die mich mir weggenommen hat, mich aber auch nicht bei sich behalten will, beklage ich mich dergestalt, dass ich sogleich wieder zugestehe, dass sie mit mir machen kann, was ihr beliebt. Aber andererseits wieder kann ich mich nicht davon abhalten, mich darüber zu beklagen, und ich sage warum: Weil ich diejenigen, die die Liebe verraten, oft zu ihrer Liebesfreude gelangen sehe, während ich sie mit meiner Treue verfehle.14
Beim liebespsychologischen Zustand, den ich meine, handelt es sich also um eine temporale Kategorie, um einen Zustand, der auf einen als immerwährend gedachten Moment begrenzt und zugleich ausgeweitet ist, dessen präsentische Qualität sich für die Dauer seiner Inszenierung im Rahmen der höfischen Festkultur dem Hörer in seiner Binnenkomplexität und -antithetik vermittelt. Oder besser: um einen dem Faktor Zeit enthobenen Zustand, der zwar vektorielle Kräfte aufweist, die indessen im präsentischen Raum des Lieds nur Spannungen auf- und abbauen, nicht aber in linear gerichtete Bewegungen münden. Sicherlich wird immer auch ein Vorher – und dies auch in ich-narrativer Form15 – und ein Nachher zur Sprache gebracht, doch das Vorher als ein vom präsentischen Zustand aus Erinnertes und diesen Erklärendes, und das Nachher als Ahnung und Befürchtung oder als Wunsch und Sehnsucht, meist aber als ein Begehren, das aus den Spannun-
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Mittelalterliche Lyrik Frankreichs, Bd. 2: Lieder der Trouvères. Französisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Dietmar Rieger, Stuttgart 1983 (RUB 7943), S. 46. Vgl. ebd., S. 48 f. Mertens nennt dies „eine narrative Form der Gegenwart“ (Volker Mertens: Fragmente eines Erzählens von Liebe. Poetologische Verfahren bei Heinrich von Morungen. In: Baisch [Anm. 2], S. 34–55, hier S. 37). Mertens stellt in seiner Morungen-Analyse völlig zu Recht heraus, „daß die Narration die Atemporalität der Liebe in Zeitlichkeit überführt, eine solche aber nun nicht nur eine Perspektivierung auf die Vergangenheit als Prozeß der Liebesentstehung, sondern auch auf die Zukunft umfaßt“ (S. 46).
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gen des Zustands auszubrechen strebt – oder aber narrative Exempel werden in Vergleichsform eingesetzt, um den gegenwärtigen Zustand zu veranschaulichen. In allen Fällen kann deshalb von Narrativierung nicht eigentlich die Rede sein. Der in sich paradoxale Zustand des Dazwischen wird nicht durch eine Fortsetzung aufgehoben. Nicht von ungefähr situieren ihn die Dichter im exorde saisonnier immer wieder im virtuellen Frühling (Ostern, Monat Mai) – der Jahreszeit, in der die (mehr oder weniger implizite) Erinnerung an die Unwirtlichkeit des Winters und die (meist sehr explizite) Erwartung des Hervorkeimens der Zukunft in ein wechselndes Verhältnis treten. Die Narrativierung dieses liebespsychologischen Zustands, seine Fortschreibung nicht in eine virtuelle, sondern eine tatsächliche Zukunft, also seine Überführung von der Zirkularität von Poetemen in die Linearität von Narremen,16 findet zwar in anderen Gattungen – auch und vor allem in den razos –, aber gerade auch innerhalb des lyrischen Gattungssystems selbst statt. Steht der paradoxale (im definierten Sinn lyrische) Zustand für die Norm, dann bedeuten dessen Narrativierungen nichts anderes als die Norm in Frage stellende und dennoch letztlich wiederum bestätigende Störungen, die Subjektivität im Umgang mit den Mustern inszenieren, ohne diese indessen letztlich zu liquidieren. Dies gilt es zu erläutern – ausgehend vom narrativierungsgenerierenden paradoxe amoureux selbst, wie Leo Spitzer es 1944 konturiert hat:17 Die größte kulturelle, in die Neuzeit weisende innovatorische Leistung des 12. und 13. Jahrhunderts war – auch wenn sie sich zunächst auf den höfischen Bereich beschränkte – bekanntlich die auf einem kulturellen Kompromiss zwischen verschiedenen Adelsschichten basierende ‚Erfindung‘ der höfischen Liebe in ihren verschiedenen Ausgestaltungen.18 Die Entanimalisierung und Spiritualisierung der Liebe, aber auch ihre Irrationalisierung und vor allem ihre allmähliche Vernetzung mit einem ausdifferenzierten System kultureller höfischer Praktiken (Minnedienst, Liebesrituale, Liebessprache, Liebesdichtung usw.) und Verhaltensnormen sind, fortschreitend, seit dem Beginn des 12. Jahrhunderts zu beobachten. Die kulturproduktive Affektregelung, die in der höfischen Liebe angelegt ist, musste auf der Ebene der Diskurse – natürlich zunächst weniger in der sozialen Wirklichkeit – den amor carnalis in besonderer Weise tangieren. 16 17 18
Diese Begriffe nach Pierre Bec: La lyrique française au moyen-âge, XIIe-XIIIe siècles. Contribution à une typologie des genres poétiques médiévaux. Etudes et textes, Bd. 1: Ètudes, Paris 1977, S. 21. Leo Spitzer: L’amour lointain de Jaufré Rudel et le sens de la poésie des troubadours, Chapel Hill 1944 (University of North Carolina Studies in the Romance Languages and Literature 5). Vgl. zum Folgenden auch Dietmar Rieger: Fleischeslust und Liebe. Stationen literarischer Semantisierung der „carnalis cupiditas“ vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. In: Frühneuzeitliche Darstellungen der Liebe in Italien und Frankreich. Hrsg. von Kirsten Dickhaut, Tübingen 2011 (im Druck).
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Zugleich zeigt sich, dass dem amor carnalis Auswege eröffnet werden, und zwar durch die räumliche, nicht aber personale Beschränkung der neuen Normen auf die kulturelle Praxis in der vom Zivilisationsprozess erfassten Welt der chevalerie. Das Werk des Andreas Capellanus ist – gleichgültig, wie es auch im einzelnen und in seinen Einzelteilen zu bewerten ist – dafür nur ein Symptom: Das Buch I von De amore (gegen 1184/1185) weist im Kapitel De amore rusticorum den reinen amor carnalis allein den Bauern zu, die naturaliter sicut equus et mulus („ihrer Natur entsprechend wie Pferd und Maultier“) lieben, weshalb sich die mulieres rusticanae („Bauersfrauen“) auch bestens dafür eigneten, den Rittern als Ventil für ihre im höfischen Bereich eingedämmten, ‚regulierten‘ sexuellen Begierden zu dienen – notfalls unter Zwang.19 Weit darüber erhebt sich die nicht zuletzt als gesellschaftliches Regulativ in Dienst genommene höfische Liebe in ihren (u. a. gattungsbedingt) verschiedenen Ausgestaltungen und Akzentuierungen: als Liebe, die das Leben und ritterliche Abenteuer des einzelnen bestimmt – als eine zwei nicht austauschbare, prinzipiell gleichwertige Individuen miteinander dauerhaft verbindende Liebe (Ehe) – als Liebe, die das selbstreflexive Individuum sich seiner selbst bewusst werden lässt – als irrationale Macht, der der einzelne bis zum tragischen Ende ausgeliefert ist – als Medium, das den moralisch-ethischen Perfektionierungsprozess des ‚demütigen‘ Individuums ermöglicht – als mystische Kraft, die eine Divinisierung der geliebten Dame voraussetzt – als eine Art ins Irdische transponierte caritas. III. Das Paradox von Norm und Störung Die in manchen höfischen Gattungen besonders weitgehende Spiritualisierung, die vor allem in einigen Genera des höfisch-lyrischen Gattungssystems zu konstatieren ist, schließt die sexuelle Komponente der dichterischen Liebe und deren Versprachlichung aber keineswegs aus. Nicht nur die zahllosen burlesken oder obszönen contre-textes auch und gerade der Trobadors20 dokumentieren dies ebenso eindringlich wie etwa die große Zahl altfranzösischer Schwankerzählungen derberotischer und skatologischer Ausrichtung 19
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Vgl. Andreae Capellani regii Francorum. De Amore libri tres. Hrsg. von Emil Trojel, München 1964, S. 236: si locum inveneris opportunum, non differas assumere, quod petebas et violento potiri amplexu („wenn du eine günstige Gelegenheit findest, sollst du nicht zögern, deine Begierde zu befriedigen und sie mit Gewalt zu nehmen“). Übersetzungen stammen hier und im Folgenden, sofern nicht anders ausgewiesen, vom Verfasser. – Vgl. u. a. Dietmar Rieger: Le motif du viol dans la littérature de la France médiévale entre norme courtoise et réalité courtoise. In: Cahiers de Civilisation Médiévale 31/3 (1988), S. 241–267; Ders.: Par force sos moi la mis. Intertextualité et littérature médiévale: l’exemple de la pastourelle et du roman arthurien. In: Studi Mediolatini e Volgari 34 (1988), S. 79–96. Vgl. vor allem Pierre Bec: Burlesque et obscénité chez les troubadours. Pour une approche du contre-texte médiéval (Série Moyen Âge), Paris 1984.
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(Fabliaux).21 Ein genauerer Blick auf die Liebeslyrik der Trobadors vermag aber zu zeigen, wie auch in einem extrem durchgeistigten dichterischen Liebesdiskurs der amor carnalis sich immer wieder als offene oder latente (anthropologische) ‚Störung‘ bemerkbar macht oder gar Bahn bricht – zumindest aber eine hohe Störanfälligkeit manifest macht. Nicht einmal in der in besonderer Weise als Modell der zivilisatorischen Affektregulierung fungierenden, ja diese performativ in einer „‚as if‘ situation“22 vorspielenden oder zumindest die Normen durchdiskutierenden Liebeskanzone ist die unverhüllte Sexualität prinzipiell ausgespart – geschweige denn die raffiniert verhüllte. Sie stellt eine konstitutive Komponente in dem paradoxe amoureux dar, „qui est à la base de toute poésie troubadouresque“: „amour-Minne contenant aussi bien le désir sensuel de ‚toucher‘ à la femme vraiment ‚femme‘ que le chaste éloignement […], qui veut ‚have and not have‘“23 – „Le chant se donne comme consubstantiel au désir, il a donc partie liée au manque; tension vers un inaccompli, célébration d’un inaccessible, défi de l’idéal au réel, la parole lyrique naît du déficit, du creux du monde“24. Dass der erste bekannte Trobador, Wilhelm IX. von Aquitanien, in einigen seiner Lieder, vor allem den Companho-Liedern, die Sexualität noch ohne sprachliche Hemmungen zu Wort kommen lässt, ist hinreichend bekannt.25 Doch selbst der Dichter der Fernliebe und des Verzichts, Jaufré Rudel, kann nicht umhin, offen den Beischlaf mit seiner von ihm begehrten Geliebten (dezirada companha) dinz vergier o sotz cortina, also in der freien Natur oder unter der Bettdecke zu begehren – wohl wissend, dass andererseits diese carnalis cupiditas, die cobezeza, als ‚Störung‘ seine Geliebte von ihm unwiederbringlich distanziert: volers m’enguana / Si cobezeza la·m tol („Das Begehren täuscht/betrügt mich, Wenn meine cupiditas mir die Geliebte wegnimmt“)26. Der Wunsch nach der vollkommenen Distanzver21
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Die These von der besonderen conditio corporea mittelalterlicher Subjektivität vertritt mit einigen stichhaltigen Argumenten Burkhardt Krause: lîp, mîn lîp und ich. Zur conditio corporea mittelalterlicher Subjektivität. In: Uf der mâze pfat. FS für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Waltraud Fritsch-Rössler unter Mitarbeit von Liselotte Homering, Göppingen 1991 (GAG 555), S. 373–396. Elaine Hoffman Baruch: He Speaks/She Speaks. Language in Some Medieval Love Literature. In: Women, Love, and Power. Literary and Psychoanalytical Perspectives. Hrsg. von Ders., New York 1991, S. 31–51, hier S. 33. Spitzer (Anm. 17), S. 1. Das trobadoreske Paradox wird allzu oft in Richtung chaste éloignement simplifiziert. Helene Basso: Le lyrisme comme rapport au monde. Retrait, ou engagement? In: Perspectives médiévales 28 (2002), S. 129–144, hier S. 129. Vgl. Dietmar Rieger: Der gardador zwischen Ross und Zelter. Überlegungen zum 2. Companho-Lied Wilhelms IX. von Aquitanien. In: ZfromPh 94 (1978), S. 27–41 und Ders.: Guillaume IX et l’idéologie troubadouresque. Remarques sur l’emploi des noms propres chez le „premier“ troubadour. In: Romania 101 (1980), S. 433–449. Les chansons de Jaufré Rudel. Hrsg. von Alfred Jeanroy, 2. Aufl. Paris 1965 (Les Classiques Français du Movenâge 15), Lied II, S. 3–5; von cambra und jardis als Orten der
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ringerung der sexuellen Vereinigung kämpft mit dem aus dem Regulativ der interiorisierten Affektkontrolle generierten Postulat extremer Distanzausweitung, die Norm kämpft gegen deren Störung, die in die Norm zu integrieren das Ziel ist. Allein dadurch ist das System zu stabilisieren. Und auch bei Bernart de Ventadorn, „le plus authentique et le plus sincère des troubadours“27, dem Dichter der fin’amors, dessen Liebeslieder im allgemeinen alle Gefühlsregister des vollkommenen fin’aman mit großem Metapherneinsatz durchspielen, bricht sich, weit über den auch lediglich rituell verstehbaren Kuss hinaus, der amor carnalis immer wieder durch die amor spiritualis-Rhetorik hindurch Bahn und verleiht der domna ihre ansonsten meist verflüchtigte Körperlichkeit: Der liebende Dichter wird an seinem Begehren zugrunde gehen, si·lh bela lai on jai / no m’aizis pres de se, / qu’eu la manei e bai / et estrenha vas me / so cors blanc, gras e le („wenn die Schöne mich nicht dort, wo sie liegt, bei sich aufnimmt, damit ich sie liebkosen und küssen und ihren weißen, fleischigen und glatten Körper umarmen kann“); lebenswert ist das Leben nur, wenn der Trobador täglich den „schneeweißen Körper“ seiner Geliebten „im Bett unter dem Fenster“ sieht, si c’amdui cominal / mesurem s’em egal („so dass wir beide gemeinsam messen können, ob wir gleich sind“); dort, wo die Dame sich nachts auszieht, möchte der Sänger, dass diese ihre Arme im Bett um ihn schließt: c’una noih lai o·s despolha, / me mezes, en loc aizit, e·m fezes dels bratz latz al col;28 dort, wo die Dame sich entkleidet, auf ihrer Bettkante, will er ihr beim Ausziehen der Schuhe helfen, wenn sie ihm ihre Füße hinstreckt.29 Ja sogar eine der adligen trobairitz, die Comtessa de Dia, formuliert in einem ihrer Lieder ihre große Sehnsucht, ihren ritterlichen Geliebten statt ihres Ehemanns (en luoc de marit) eines Nachts nackt in ihren Armen (en mos bratz nut) zu halten, ihm als Kopfkissen (a lui fezes cosseillier) zu dienen, ihn voll Liebe zu küssen (un bais amoros) und mit ihm zu schlafen (que iagues ab vos un ser).30 Man sieht: Die fleischliche Liebe bleibt trotz aller metaphorisch-rhetorischer Sublimierung selbst in den am meisten spiritualisierten Genera origo und finis des in der Liebeskanzone auf einen Zustand reduzierten höfischen Liebesnarrativs präsent, auch wenn nur höchst selten ein eindeutiges biologisch-physiologisches Vokabular verwendet wird und oberflächlich betrachtet – abgesehen von gelegentlichen Obszönitäten – vom joy of sex nicht die
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ersehnten und von Gott erflehten Begegnung mit der Fernliebe (amor de lonh) ist auch in Jaufre Rudels Lied V die Rede. Bernard de Ventadour, Troubadour du XIIe siècle: Chansons d’amour. Édition critique avec traduction, introduction, notes et glossaire par Moshe Lazar, Paris 1966 (Bibliothèque française et romane, Ser. B 4), S. 7. Zitate nach Lazar (Anm. 27), S. 128/130; 126; 134. Vgl. ebd., S. 172/174. Vgl. Text und Übersetzung bei Angelica Rieger: Trobairitz. Der Beitrag der Frau in der altokzitanischen höfischen Lyrik. Edition des Gesamtkorpus, Tübingen 1991 (Beihefte zur ZfromPh 233), S. 600–601.
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Rede ist.31 Ohne ihre gelegentliche – nicht nur verdeckte und verhüllte, sondern häufig durchaus auch offene – Evokation zumindest als Fernziel ist der entsagungsvolle Minnedienst nicht aufrechtzuerhalten. Anders ausgedrückt: Der liebespsychologische ‚lyrische‘ Zustand des Dazwischen drängt nach seiner Narrativierung. Von Verdrängung der Sexualität und des sexuellen Begehrens im psychoanalytischen Sinn kann deshalb eigentlich nicht gesprochen werden, sondern von einer weitgehenden Verdrängung auf der Ebene der Rhetorik. Die Rhetorik versucht die Störung zu verhindern, in den Griff zu bekommen. Sie ist mehr und etwas anderes als ein Symptom für Inauthentizität. Der amor carnalis erhält in dem Maß aber einen subversiven Charakter und das heißt auch narrativierende Potenzen, wie der gesamte Weg zwischen origo und finis der Liebe in den Blick genommen wird und je mehr die Grenzen des Dazwischen des paradoxe amoureux disponibel werden. Der Weg vom Ausgangs- zum Endpunkt führt in der Regel durch die kulturproduktive Sublimation, die Virulenz der Emotionen, den an asketische Praktiken heranreichenden Dienst, auch den ‚masochistischen‘ Verzicht. Die mittelalterlichen höfischen Dichter vor allem im Bereich der Lieddichtung haben die Kunst perfektioniert, dieses Dazwischen meist unter Ausblendung von origo und finis ästhetisch und (obiger Definition entsprechend) lyrisch auszugestalten. Das macht die zumindest latente Ambivalenz der höfischen Liebeskunstlyrik aus. Dass die Präponderanz der Momente aus dem Dazwischen, trotz gelegentlicher Einbeziehung und permanentem stummen Mitdenkens von origo und finis, innerhalb des höfischen Liebessystems die Subversion geradezu provozieren musste, zeigt beispielsweise das „poème le plus licencieux de toute la lyrique des troubadours“32, die Tenzone eines gewissen Montan mit einer Dame.33 Hier wird die Werbung des höfischen Trobadors um seine domna in eine vierstrophige reziproke, fast aller Metaphorik ledige, an terminologischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglassende sexuelle Werbung mit skatologischen Zutaten Schultz insistiert nicht nur für den Parzival Wolframs von Eschenbach darauf, dass in der höfischen Erzählliteratur statt des „joy of sex“ „there is the joy of making courtly love, which is closely related to the joy of being courtly itself. […] The courtly lover does not seek love. He or she is powerless by the courtly and noble attributes of the beloved“ (James A. Schultz: Parzifal, Courtly Love, and the History of Sexuality. In: Poetica 38 (2006), S. 31–59, hier S. 55, 58), vergisst dabei aber u. a. so etwas wie die sprachliche Affektkontrolle, eine Art mit Untertreibungen arbeitende bienséance in Rechnung zu stellen. Zum Problem vgl. auch Walter Haug: Erotik und Körperlichkeit in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Kulturen des Eros. Hrsg. von Detlef Clemens/Tilo Schabert, München 2001 (Eranos N. F. 8), S. 135–178. 32 Pierre Bec: La joute poétique. De la tenson médiévale aux débats chantés traditionnels, Paris 2000 (Architecture du Verbe), S. 273. 33 Alfred Pillet: Bibliographie der Troubadours. Ergänzt, weitergeführt und hrsg. von Henry Carstens, Halle a. d. Saale 1933 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Sonderreihe Bd. 3) [im Folgenden abgekürzt als P.-C.], 306,2.
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umgewandelt – sozusagen eine Störung von außen, der indessen ein ganz anderer Stellenwert zukommt als den verschiedenen internen Irritationen: – Eu venh vas vos, Sénher, fauda levada […] Qu’anc de fotre non fui assazonada […] Et ai gròs cul espés e tramejan E máger con [que] d’autra femna nada.
Ich komme zu Euch, Herr, mit hochgezogenem Rock […] denn niemals bekam ich genug vom Ficken […] und ich habe einen breiten, knackigen und quirligen Hintern und eine größere Vagina als jede andere Frau.
– Et eu vas vos, Dòmna, ab braga baissada, Ab màger viet de nulh ase en despan; E fotrai vos de tal arandonada 34
Und ich (komme), Dame, mit heruntergelassener Hose, mit einem größeren Glied als ein brünstiger Esel, und ich werde Euch mit solchem Ungestüm ficken
Und dennoch dürfen die explizite Krudität und die ostentatorische, nahezu jeder Möglichkeit einer rhetorisch-stilistischen Überbietung vorbauende Codetransgression dieses burlesken, zweifellos die höfische Liebe parodierenden, im Übrigen misogynen ‚Gegentextes‘ nicht darüber hinwegtäuschen: Sein und seiner Artgenossen Verhältnis zum (in sich selbst durchaus ambivalenten) höfischen Liebesdiskurs ist nicht eigentlich durch ein Gegeneinander, sondern eher ein Neben- und Miteinander von Norm und Störung charakterisiert. Der Subversivität der Formulierung muss – gemäß der kompensatorischen Zuordnung – im übrigen keineswegs im gleichen Maß die Subversivität von deren Wirkung entsprechen. IV. Narrativierung als systemische Störung Die eigentliche Narrativierung, die ich als Konsequenz des Vollzugs des Ausbruchsbegehrens aus dem normativen Labyrinth des paradoxe amoureux fasse, findet jedoch in anderen Liedgattungen deutlicher statt – von den narrativen vidas und razos, in der die Geschichte und die Wechselfälle des trobadoresken Liebesverhältnisses von der origo bis zum finis fortlaufend und meist aus der lyrischen Zustandsdarstellung im zugehörigen Kanzonenmaterial herausentwickelt erzählt werden35 und die zweifellos als Einlei-
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Vgl. Bec (Anm. 32), S. 274 f. Vgl. zu diesem Aspekt der Trobadorlyrik auch Angelica Rieger: „Gran dezir ai de ben jazer“. Die Bettgeschichten der Trobadors. In: Abkehr von Schönheit und Ideal in der Liebeslyrik. Hrsg. von Carolin Fischer/Carola Veit, Stuttgart, Weimar 2000, S. 48–65. Besonders aufschlussreich könnte die Narrativierung von Jaufre Rudels amor de lonh/ amors de terra lonhdana in der Vida des Trobadors sein.
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tung und Einführung in die dazugehörenden Lieder vorgetragen wurden,36 soll hier nicht die Rede sein: Die Toleranzgrenze des binnendynamischen Paradoxes wird bereits in zwei mit Ventilfunktion ausgestatteten Subgenres der Liebeskanzone überschritten, dem comjat, in dem der Trobador sich wegen Nichterfüllung des Begehrens nach langem Werben von seiner Dame trennt, und der diesen weiterführenden chanson de change, in der sich der Liebende zugleich mit neuer Hoffnung, neuer Glückserwartung und neuer Geduld einer anderen Dame zuwendet – also in den sogenannten Abschiedsliedern, den malas cansos.37 Hier weitet sich der lyrische Moment des immerwährenden Paradoxes mit der Kraft der ihm immanenten Vektoren zu einem Geschehen aus, das in den razos mit Vorliebe erzählerisch ausgesponnen wird – einem Geschehen, das eine grundlegende Veränderung des liebespsychologischen Zustands berichtet und dennoch, explizit in der chanson de change, wieder in diesen Zustand einmündet, denn die Narration jeder mala canso findet letztlich ihr Ende in einer (neuen) bona canso. Die Geschichte von der Loslösung von einer ineffektiven, weil die ausgewogene convenientia zwischen ihr und dem liebenden Sänger nicht einhaltenden Dame ist eine zyklische Geschichte, die das Abschiedslied erzählt und damit zugleich als eine das System stützende Spielart der Kanzone die Dauerhaftigkeit des paradoxe amoureux zu gewährleisten vermag und die Kraft verleiht, den Augenblick als Norm aufrechtzuerhalten: Atressim voill mudar de sa baillïa De lieis que m’a mort en sa seignorïa, E sai’n autra qui anc re no mespres38
Ebenso will ich mich aus ihrem Machtbereich entfernen, da sie mir darin den Tod gegeben hat, aber ich kenne eine andere, die noch niemals Übles tat
ieu m’en vau mudan aillors; E soi me partitz dels enjans Per autr’amor, cui soi comans39
ich gehe fort und wende mich woanders hin; und ich habe mich von den Täuschungen einer anderen Liebe wegen getrennt, deren Diener ich nun bin
Die Schlüsselwörter der Bewegung und des Veränderns sind rekurrent: mudar, camjar, tornar, anar (aillors), virar (aillors), aloignar, partir. Eine der 36 37
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Daran besteht seit Alexander Herman Schutz: Were the Vidas and Razos recited? In: Studies in Philology 36 (1939), S. 565–570, kein Zweifel. Vgl. dazu Erich Köhler: „Vers“ und Kanzone. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 2: Les genres lyriques, T. 1, Fasc. 3. Hrsg. von Dems./Ulrich Mölk/ Dietmar Rieger, Heidelberg 1987, S. 45–176, hier S. 167–176, und Dietmar Rieger: Gattungen und Gattungsbezeichnungen der Trobadorlyrik. Untersuchungen zum altprovenzalischen Sirventes, Tübingen 1976 (Beihefte zur ZfromPh 148), S. 305–318. P.-C. 305,1 [Mönch von Montaudon]. Text zitiert nach: Die Dichtungen des Mönchs von Montaudon. Neu hrsg. von Otto Klein, Marburg 1885 (Ausgaben und Abhandlungen aus dem Gebiete der Romanischen Philologie 7), S. 74–77 (Nr. 15), Str. 1, V. 6-8. P.-C. 411,2 [Arnaut de Tintignac]. Text zitiert nach: Le Troubadour Arnaut de Tintinhac. Hrsg. von Jean Mouzat, Tulle 1956, S. 30 (Nr. 4), Str. 2, V. 11-13.
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berühmtesten Liebeskanzonen der Trobadordichtung, Bernarts de Ventadorn Can vei la lauzeta mover,40 zeigt eindringlicher als viele andere Abschiedslieder und mit aus dem trobadoresken Rahmen fallenden metaphorischen Material (Lerchenmetapher der 1. Strophe) den Weg vom zugespitzten, seine Aporie zur Schau tragenden amar desamatz (eu d’amar no·m posc tener / celeis don ja pro non aurai („Denn ich kann mich nicht davon abhalten, diejenige zu lieben, von der ich niemals eine Gunst haben werde“) und seiner Spannungsgeladenheit über verschiedene Stufen der Desillusionierung und der Kritik an der unbarmherzigen Dame bzw. allen Damen bis zur Trennung nicht nur von der gegenwärtigen domna, sondern darüber hinaus zum Abschied vom dichterischen Liebeswerben überhaupt: Aissi·m part de leis e·m recre […] De chantar me gic e·m recre, / e de joi e d’amor m’escon („So trenne ich mich von ihr und sage mich von ihr los […] Vom Singen lasse ich ab und sage mich los, und vor der Freude und der Liebe weiche ich aus“). Kein Zuhörer des 12. Jahrhunderts wird allerdings an der Rückkehr des Dichters in den Kerker des amar desamatz und des dichterischen Liebeswerbens gezweifelt haben, so dass die These, in dieser Kanzone werde „zum ersten Mal das lyrische Ich vom Diskursschema der höfischen Liebesdichtung gelöst und als reflektierendes, sich selbst erforschendes Subjekt freigesetzt“41, mit erheblichen Fragezeichen zu versehen ist. Im Zusammenhang des Abschiedslieds ist wenigstens kurz eine andere Form der Narrativierung innerhalb des lyrischen Gattungssystems anzusprechen: Nicht eine solche in der Form eines im Gattungssystem eher randständigen Genres, sondern in der Form einer möglichen Zusammenstellung verschiedener – unterschiedliche Akzentuierungen des liebespsychologischen Zustands inszenierender – Lieder unter Einschluss von comjat und chanson de change zu einer Art Liebesroman in zyklischer Gestalt, dessen einzelne ‚Kapitel‘ aber natürlich nicht in der Reihenfolge gedichtet worden sein müssen, die ihnen im fiktiven Geschehen dieses ‚Romans‘ zukommt. Am Beispiel der Liebeslieder von Uc de Saint-Circ kann deutlich gezeigt werden, wie die ‚Geschichte‘ der Liebe des Trobadors zur idealtypischen domna evolutionären, aber im Fall des Abschiedslieds aber auch ‚revolutionären‘ Charakter aufweist und dennoch fast zwangsläufig dort endet, wo sie begonnen hat: im paradoxe amoureux42. Ausbruch aus dem Kerker des Präsentischen durch Abschied und Wechsel – die Ventil- und zugleich Stützfunktion der chanson de change ist auch der Pastourelle43 eigen, die vom Ausflug zu den mulieres rusticanae und 40 41 42 43
Vgl. Lazar (Anm. 27), S. 180–182. So Bernsen (Anm. 5), S. 143. Vgl. Dietmar Rieger: Bona domna und mala domna. Zum roman d’amour des Trobadors Uc de Saint-Circ. In: Vox Romanica 31 (1972), S. 76–91. Vgl. neuerdings die umfassende Studie von Claudio Franchi: Trobei pastora. Studio sulle pastorelle occitane, Alessandria 2006 (Scrittura e Scrittori 19).
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explizit oder zumindest implizit die schließliche Rückkehr zur höfischen Dame erzählt. Auch sie ist als narrativierte Transzendierung des Liebesparadoxes zu fassen – ob das Pastourellengeschehen zum Erfolg des Ritters, mit Gewalt oder auch nicht, oder zu seinem Scheitern führt. Das Ich der Pastourelle leuchtet nicht seinen gegenwärtigen problematischen liebespsychologischen Zustand aus wie das Ich der Liebeskanzone. Vielmehr hat es, von seiner höfischen Geliebten verlassen oder an ihrer Hartherzigkeit verzweifelnd, aus diesem Zustand und dem ihm zugrunde liegenden paradoxe amoureux zwischenzeitliche, wenn auch nicht definitive Handlungskonsequenzen in der Gegenwelt der freien Natur gezogen, die es rückblickend (L’autrier – „Neulich“) als Ich-Erzähler seinem Publikum mitteilt. Auch wenn die Pastourelle der Trouvères als weit volkstümlicher als diejenige der Trobadors zu gelten hat, die seit Marcabru immer mehr zum Vehikel für subtile liebeskasuistische, moralische, religiöse und politische Diskussionen wurde und bei der das galante Abenteuer als solches immer mehr zum bloßen Aufhänger geriet, so ist für beide Spielarten die Kombination narrativer und dramatischer Elemente tragend. Die systemische Funktion des die Normüberschreitung im Außerhöfischen ermöglichenden und damit legitimierenden Pastourellennarrativs, als Stärkung des Ich den Anforderungen des höfischen Liebesparadoxes gegenüber, wird auch durch die relative Stereotypie der Handlung (Zeit, ‚natürliche‘ Szenerie, Personal, Zufall der Begegnung, Strategie – Taktik, Rede – Gegenrede bzw. débat amoureux, dénouement) nicht tangiert. Nur in einem Ausnahmefall, in den beiden Pastourellen des Trobadors Gavaudan, gelingt dem Ritter-Ich so etwas wie eine utopische Harmonisierung von höfischer Liebe und erfüllter Sexualität, wird ihm joy de cambra en pastori („Kammerfreude auf der Weide“)44 zuteil, aber eben nicht mit der domna, sondern mit einer ihm geistig ebenbürtigen Hirtin.45 Andere Ritter müssen sich von der Hirtin selbst – Sprachrohr des Dichters – auf die naturrechtliche Ständeordnung hinweisen lassen, die ihrer beider Vereinigung entgegensteht (Marcabru), oder werden ausgerechnet von der Hirtin aufgefordert, sich wieder voller Geduld dem höfischen Zustand des amar desamatz anheimzugeben, oder aber die antihöfische Diatribe der Hirtin veranlasst den Ritter, das sexuelle Angebot der pastora auszuschlagen und reuevoll zu seiner unbarmherzigen Dame zurückzukehren. In jedem Fall endet die in narrativer Distanz wiedergegebene Exkursion an ihrem Ausgangspunkt, dem unveränderten Präsentischen.
44 45
P.-C. 174,6 [Gavaudan]. Text zitiert nach: Alfred Jeanroy, Poésies du Troubadour Gavaudan. In: Romania 34 (1905), S. 497–539, hier S. 519–521 (Nr. 5), zit. Str. 6, V. 43. Vgl. dazu Erich Köhler: Die Pastourellen des Trobadors Gavaudan. In: Ders. (Anm. 4), S. 67–82.
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Dietmar Rieger
Auch das Tagelied46 ist eine Gattung, die den liebespsychologischen Zustand im Bannkreis des paradoxe amoureux in die Zukunft hinein narrativiert und als vergangenes Geschehen vermittelt. Hier ist die Stützfunktion der in der Alba erzählten ‚Störung‘ noch deutlicher.47 Das die nächtliche, also heimliche sexuelle Vereinigung der Liebenden und die Reziprozität der Liebe weitgehend narrativierend glorifizierende Tagelied vermag, als poetisches Ventil- und Entlastungs-Phänomen im System der trobadoresken Liedgenera, die Dominanz der Liebeskanzone geradezu zu gewährleisten und zu konsolidieren. Das in unerreichbare Ferne gerückte Ideal der reziproken, erfüllten Liebe zwischen Trobador und höfischer domna wird in der zeitlichen und sozialen Gegenwart als verwirklicht erzählt – und dies nicht im Raum der Utopie und der arkadischen Freiheit, wie etwa in den Pastourellen von Gavaudan. Es ist dies eine Realisierung dieses Ideals, die trotz aller Selbstverständlichkeit des berichteten Geschehens von der positiven Auflösung des Liebesparadoxes ihre Problematik innerhalb der gesellschaftlichen Realität und ihres Kodexes indessen nicht abzustreifen vermag, die weiterhin des celar, der Heimlichkeit, bedarf und nur im Dunkel der gesellschaftlichen Existenz möglich erscheint: Der anbrechende Tag und seine realen Erfordernisse, die der Wächter unerbittlich wie die Realität selbst den Liebenden in Erinnerung ruft, setzt dem Traum einer positiven Entladung der grundlegenden Spannung ein notwendiges Ende und stellt die paradoxale Kanzonengegenwart schwebender Ungewissheit wieder her, restituiert das paradoxe amoureux. Das Refrainwort alba bezeichnet den Übergang vom einen zum anderen Bereich und damit gleichzeitig die Gattungsgrenzen zwischen Liebeskanzone und Tagelied. V. Fazit: Störung als Stabilisierung der Norm Anders gesagt: Der in der Kanzone mit ihrer präsentischen Struktur zum Ausdruck kommende gegenwärtige, die Zukunft nur als subjektiven Wunsch formulierende Zustand wird durch ein ersehntes zukünftiges, als objektiver, vergangener oder sich gerade ereignender Tatbestand dargebotenes Geschehen ersetzt, die subjektiv erstrebte Zukunft in die objektive Gegenwart geholt, episch und dramatisch „objektiviert“. Doch auch diese 46
47
Vgl. Jonathan Saville: The Medieval Erotic. Alba. Structure as Meaning, New York, London 1972; Dietmar Rieger: Zur Stellung des Tagelieds in der Trobadorlyrik. In: ZfromPh 87 (1971), S. 223–232; Ders.: La posizione dell’alba nella lirica trobadorica. In: Strumenti di filologia romanza. La lirica. Hrsg. von Luciano Formisano, Bologna 1990 (Problemi e prospettive; Serie di linguistica e critica letteraria), S. 157–169; Ders. (Anm. 37), S. 7–22; Ders.: Art. „L’alba“. In: Dictionnaire sur la temporalité et la caducité des formes et des genres littéraires. Hrsg. von Alain Montandon/Saulo Neiva, Genève 2011 (im Druck). Zu den ‚störenden‘ Stützgattungen siehe Rieger (Anm. 37).
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Narrativierung des Wegs vom Dazwischen zum finis, die ohne einen IchErzähler auskommt und ihre persuasive Wirkung meist der Kombination von narrativen Elementen und direkter Rede (Monolog oder Dialog oder auch Hintereinanderschaltung verschiedener Monologe) verdankt, hat ein durch die alba des Refrains markiertes Ende: Am Schluss steht nämlich die Einmündung in die Gegenwart des Tags – Oy, Dieus, oy Dieus, de l’alba! Tan tost ve (anon.), Et ades sera l’alba (Guiraut de Borneil), ieu vey lo iorn venir apres l’alba (Bertran d’Alamanon). Die anonyme Alba En un vergier sotz fuella d’albespi ist ein Frauenmonolog in narrativer Einkleidung, dessen 5. Strophe auch die eigentliche, durch den Wächter angekündigte Albasituation (Strophen 1–4) zeitlich überschreitet, d. h. die Trennung als schon vergangen erscheinen lässt. In der Alba findet sogar – im Monolog oder Dialog der Liebenden – so etwas wie eine Inszenierung des von der Klage über die endende Nacht durchwirkten Liebesgefühls einen angemessenen Platz – allerdings eingebettet in die Narration und distanziert vom expliziten oder impliziten Erzähler: Doussa res, ieu tenc ma via; vostres suy, on que ieu sia. per Dieu, no m’oblidetz mia, que·l cor del cors reman sai, ni de vos mais no·m partrai. ay! qu’ieu aug que li gaita cria: via! sus! qu’ieu vey lo iorn venir apres l’alba.48
Süßes Wesen, ich mache mich auf meinen Weg; ich bin der Eure, wo ich auch immer sein mag. Bei Gott, mögt Ihr mich doch nicht vergessen, denn das Herz meines Körpers bleibt hier, und von Euch werde ich mich nicht mehr trennen. Weh! Denn ich höre, dass der Wächter ruft: „Vorwärts! Auf! Denn ich sehe den Tag nach dem Morgenlicht kommen.“
Die besprochenen Formen von Narrativierung des lyrischen Zustands bedeuten also für das lyrische Gattungssystem in Frankreich um 1200 und innerhalb dieses funktionalen Bezugssystems sowohl eine Störung der Norm als auch gleichzeitig deren Stützung. Die Norm wird durch eine Störung in Frage gestellt, deren Einblendung indessen zugleich die weitere Geltung der prekären Norm des amar desamatz zu gewährleisten vermag.
48
P.-C. 76,23 [Bertran d’Alamanon]. Text zitiert nach: Provenzalische Chrestomathie. Mit Abriß der Formenlehre und Glossar. Hrsg. von Carl Appel, 6. Aufl. Leipzig 1930, S. 91 (Nr. 55), Str. 4.
Michael Bernsen
Formen und Funktionen des Narrativen bei Petrarca und seinen Nachfolgern I. Lyrik als Anti-Diskurs Erzählen ist für die Identitätskonstitution des Menschen von grundlegender Bedeutung. Gerade in jüngeren Zeiten der Postmoderne, in denen die Modellierungen menschlicher Identität durch die Historiographie ihre Plausibilität verloren haben, geraten die Verfahren, Strukturen und Funktionen des Erzählens zunehmend in den Blick. In den Geisteswissenschaften und z. T. auch in den Naturwissenschaften werden scheinbar objektive Wissenskonstruktionen im Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden Erzählungen kritisch unter die Lupe genommen. In einer Zeit der Durchdringung aller Lebensbereiche durch die Ökonomie fällt erst auf, inwieweit auch diese – denkt man allein an den Bereich des Marketings − auf Erzählungen angewiesen ist. Dass die Erzählung als eine offenkundig anthropologische Konstante schon immer Gegenstand der Lyrik gewesen ist, in deren Zentrum ja ebenfalls Fragen der menschlichen Identitätsfindung stehen, ist daher nicht verwunderlich. Allerdings erst im Zuge der postmodernen Aufwertung des Erzählens, der Erkenntnis, dass Erzählen nicht allein eine Angelegenheit des Mediums Literatur ist, werden die neusten Erkenntnisse der Erzählforschung verstärkt für transgenerische Überlegungen fruchtbar gemacht. Die Narratologie nimmt sich der Lyrik an.1 Der Anspruch, der mit solchen Untersuchungen erhoben wird, ist nach Peter Hühn und Jörg Schönert der einer „schärferen Profilierung der Spezifika der Gattung“ Lyrik.2 Dabei fällt auf, dass die transgenerischen Ansätze bei aller verdienstvollen Erhellung narrativer Strukturen einzelner 1
2
Vgl. dazu insbes. Vera Nünning/Ansgar Nünning: Produktive Grenzüberschreitungen. Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Dens., Trier 2002 (WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), S. 1–22. Vgl. auch Peter Hühn/ Jörg Schönert: Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34 (2002), S. 287–305. Vgl. Hühn/Schönert (Anm. 1), S. 288.
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Gedichte jener eigentümlichen „dualen Semantisierung des Lyrischen“,3 die eine verbindliche Definition bislang verhindert hat, nicht entrinnen: Lyrik erscheint auf der einen Seite durch die Versuche der Selbstkonstitution des Sprecher-Subjekts intuitiv und emotional geprägt und zeugt gemäß romantischer Anschauung von einer einzigartigen Selbstaussprache eines lyrischen Ichs. Auf der anderen Seite ist Lyrik aufgrund der Überstrukturiertheit ihrer Sprache und ihrer Verfahren auch immer als selbstreferentiell angesehen worden. Nun hat Karlheinz Stierle bereits gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre in mehreren Arbeiten grundlegende Überlegungen zur transgenerischen Beziehung von Erzählung und Lyrik angestellt. Lyrik ist für Stierle keine eigene Gattung wie die Epik und die Dramatik, sondern eine spezifische Weise der Überschreitung von Diskursschemata, z. B. des narrativen Diskursschemas. Stierle vergleicht diese lyrische Transgression mit einem Sonderfall des narrativen Diskurses, wenn in einer Erzählung nicht die Geschichte den Text der Geschichte dominiert, sondern der Text der Geschichte die Steuerung übernimmt. Wenn wie in diesem Fall die Lyrik Diskursschemata überschreitet, dann kann die Identität des Gedichts nicht im lyrischen Ich liegen. Dessen Identität wäre nur durch einen Diskurs mit identifizierbarem Schema herzustellen. Das lyrische Subjekt ist somit ein Fluchtpunkt. Es ist auf der Suche nach seiner − prekären − Identität. Die Überschreitung der Identität eines oder mehrerer Diskurse im Gedicht bedingt die Problematisierung der Identität des lyrischen Subjekts.4 Demzufolge gibt es auch keine poetische Sprache, da die poetischen Abweichungen der Lyrik auf der Ebene des Diskurses stattfinden.5 Im Gedicht wird die Sukzessivität der Diskursschemata in eine Simultaneität aufgelöst. Und die Normen, auf die sich die poetischen Abweichungen beziehen, sind historische Normen und damit fortwährenden Veränderungen unterworfen. II. Zur Geschichte des Basisnarrativs mittelalterlicher Lyrik Wendet man sich in dieser Perspektive der mittelalterlichen romanischen volkssprachlichen Dichtung zu, dann erscheint die höfische Minnedichtung ganz an ein Diskursschema gebunden. Dabei handelt es sich im Kern 3 4 5
Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Narratologie. In: Nünning/Nünning (Anm. 1), S. 128– 153, hier S. 130. Vgl. auch Hühn/Schönert (Anm. 1), S. 289 f. Vgl. Karlheinz Stierle: Die Identität des Gedichts – Hölderlin als Paradigma. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard/Karlheinz Stierle, München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 505–552, bes. S. 514 u. 520–522. Vgl. Karlheinz Stierle: Gibt es eine poetische Sprache? In: Poetica 14 (1982), S. 270–278.
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um ein narratives Schema, das von der Werbung um eine in der Regel hochgestellte Dame erzählt. Der Liebende erklärt seine Liebe. Er sieht die Liebe als ein Dienstverhältnis zu einer Herrin, für das er die Gewährung einer Gegenleistung erwartet. Die Herrin verweigert jedoch den Lohn und hält den Dienenden auf diese Weise in einem Schwebezustand aus Niedergeschlagenheit und der Hoffnung, doch irgendwann die Distanz überwinden zu können. Die dichterische Liebeswerbung enthält somit mehrere narrative Momente. Durch die Vorkehrung der prinzipiellen Unerfüllbarkeit der Liebe bleibt diese Interaktion, bei der Mann und Frau in einen geselligen Rahmen eingebunden werden, spielerisch und offen. Die Dichtung kann diese Situation immer wieder aufgreifen und beliebig variieren. Das Diskursschema, das der höfischen Liebesdichtung zugrunde liegt, ist in seinen Grundelementen ein narratives Schema mit zirkulärer Struktur.6 Der Diskurs dieser Dichtung ist primär referentiell, da er eine pragmatische Gebrauchssituation bedient. Nicht lyrische Subjektivität kommt hier zum Ausdruck, sondern das lyrische Ich zelebriert – wie Jan-Dirk Müller es formuliert − „höfische Minne […] eines jeden auf richtige Weise Liebenden“.7 Der Sprecher der Minnedichtung ist je nach Untergattung auf eine Rolle festgelegt. Auf der Seite der Rezipienten wird durch den Diskurs sowie die Bestimmung der Rolle des Sprechers eine Gruppenidentität hergestellt: Es geht um die Integration eines werbenden Ritters und die Sicherung der Identität der Gemeinschaft als ständische, also um eine interne Anpassung der Gesellschaft.8 Nun hat sich diese Situation der Liebesdichtung − aus zahlreichen Gründen, die hier nicht erörtert werden können − im 13. Jahrhundert grundlegend geändert. Schon innerhalb der okzitanischen Minnekanzone in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, z. B. dem berühmten Lerchenlied des Bernart de Ventadorn, wird die Erzählung vom werbenden Ritter, der trotz seiner erfolglosen Bemühungen letzten Endes doch weiterhin um die Dame wirbt, bis an die Grenzen getrieben: Der Sprecher wird in die Rolle des Narziss gerückt;9 er wird als fols en pons, als Irrer auf der Brücke beschrieben, und er lässt deutlich seine Selbstmordabsichten erkennen.10 In der Tornada redet er Tristan an und erklärt, er werde auf immer von der 6 7 8 9 10
Vgl. Paul Zumthor: De la circularité du chant (à propos des trouvères des XIIe et XIIIe siècles). In: Poétique 1 (1970), S. 129–140. Jan-Dirk Müller: Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik. In: Ders., Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von Ute von Bloh/ Armin Schulz, Tübingen 2001, S. 107–128, hier S. 113. Vgl. Reinhold Glei u. a.: Art. „Ritus“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8 (1992), Sp. 1052–1060. Zitierte Ausgabe: Bernard de Ventadour, troubadour due XIIe siècle. Chansons d’amour. Hrsg. von Moshé Lazar, Paris 1983 (Bibliothèque française et romane, Ser. B 4), S. 180, V. 24. Vgl. ebd., S. 182, V. 38.
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dichterischen Werbung ablassen.11 Der Sprecher bei Bernart ist derart selbstbezogen, dass er den institutionellen Rahmen der Minnewerbung zu verlassen und aus dem rituellen narrativen Geschehen auszutreten droht. Besonders interessant ist der Fall der Lieder des Trobadors Folquet de Marselha, deren Sprecher in immer neuen Anläufen die heroische Tat vollbringen will, den Fesseln Amors und damit der zirkulären Struktur der Werbung zu entrinnen, was Stanisław Strońksi veranlasst hat, die Lieder Folquets als einen regelrechten Canzoniere in der entsprechenden Reihenfolge herauszugeben.12 Die Lieder des Trobadors Uc de Saint Circ aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden − wie Dietmar Rieger gezeigt hat − zu einem regelrechten „gelebten Roman“ (roman vécu) verdichtet, der von der Abkehr von der mala domna erzählt.13 Mit der Dichtung der Sizilianer am Hofe Friedrichs II. bekommt die Liebesdichtung dann eine völlig neue Qualität: Sowohl in der neu entstehenden Gattung des Sonetts als auch in der Kanzone werden die Bekundungen über die Ermüdung angesichts der narratio der immergleichen Situation der höfischen Liebe aufgenommen: Der Werbung wird eine Absage erteilt. Die Liebesdichtung wird situationslos. Sie wird, wie die italienische Forschung einhellig feststellt, nun auch nicht mehr gesungen, sondern gelesen. Ab diesem Moment geht es nicht mehr darum, Überlegungen des Liebenden und Abläufe der Liebe mit dem Ziel der Werbung um die Dame zu erzählen. Es geht nunmehr um die Aufarbeitung von Liebeserfahrungen. Mit der Übersetzung und Rezeption der aristotelischen Erkenntnistheorie am Hof des Stauferkaisers gibt es denn auch ganz andere Dinge zu erzählen: Das lyrische Ich berichtet nun von jenem Verlauf des Sich-Verliebens, von dem was geschieht, wenn das Objekt der Begierde über die Augen ins Innere des Liebenden eindringt, die Imagination einsetzt, und der Vorgang im Zusammenspiel von Verstand, Gedächtnis und Willen seinen weiteren Weg nimmt. Parallel dazu benötigt die Analyse dieser inneren Vorgänge Formen der systematischen Argumentation, die die juristisch gebildeten Autoren von Hause aus mitbringen. Die Erzählung der inneren Stationen und Vorgänge wird zur gleichen Zeit von einem erhöhten Erzählbedarf auch äußerer Vorgänge flankiert. In den dem bereits erwähnten Trobador Uc de SaintCirc zugeschriebenen vidas und razos werden vornehmlich für ein städtisches Publikum in Italien die Verfasser der Minnelieder mit biographischen 11 12 13
Vgl. ebd., V. 56 f. Vgl. Stanisław Strońksi: Le Troubadour Folquet de Marseille. Edition critique, Krakau 1910. Nachdruck Genf 1968. Dietmar Rieger: Bona domna und mala domna. Zum roman d´amour des Trobadors Uc de Saint-Circ. In: Vox romanica 31 (1972), S. 76–91, bes. S. 77 f. Vgl. auch bereits Jean-Jacques Salverda de Grave in der Einleitung seiner Ausgabe der Dichtungen Uc de Saint Circs: Poésies de Uc de Saint-Circ. Hrsg. von Dems./Alfred Jeanroy, Toulouse 1913 (Bibliothèque méridionale. 1re série 15), S. XXXIV.
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Details ausgestattet und die Situationen der Kanzonen historisch, sozial und rechtlich konkretisiert. Die razo zur Elephantenkanzone des Trobadors Rigaut de Berbezilh wird nach ihrem Erscheinen auf altokzitanisch in die italienische Sprache übertragen und in die erste Novellensammlung Italiens, den Novellino, aufgenommen. Alle diese grundlegenden literarhistorischen Veränderungen der Normen der Liebesdichtung werden von Dante rezipiert und reflektiert. Dante hat die Möglichkeiten der inneren Erzählung des Liebesvorgangs aber auch die Gefahren durch die Verflachungen und Verfälschungen der äußeren Narrativierung der Liebesituation erkannt. In seiner Vita nova greift er die Situierung der Gedichte durch eine Erzählung in Prosa auf. Die Gedichte selbst schildern dann z. T. in direkter Auseinandersetzung mit denen der scuola siciliana die inneren Vorgänge des Liebenden. Und eine erste argumentative Auseinandersetzung mit diesen Vorgängen findet in den anschließenden divisioni statt. Doch damit nicht genug: Um gleichsam einer Verflachung der Liebesdichtung durch biographisch motivierte Ausstaffierungen vorzubeugen, werden Teile der Prosa in der Vita nova typologisiert. Im Zusammenspiel von Prosa und Gedicht wird eine allegorische Perspektive entworfen: Beatrice gewinnt zunehmend die Rolle einer Mittlerin im Jenseits, wodurch sich der sie besingende Sprecher Läuterung und spirituellen Aufstieg sichert. Und dieser Sprecher wird seinerseits mit biographischen Zügen des Autors Dante ausgestattet, dessen Leben damit biblische Aspekte gewinnt und der sich darüber hinaus die Rolle eines poeta theologus zuschreibt. Zeitgleich mit Dante ersetzt der letzte bekannte okzitanische Trobador Guiraut Riquier am Ende seiner Lieder die Dame Bel Deport durch die Jungfrau Maria.14 Und am Konsistorium des spanischen Königs Alfons des Weisen werden den auf galizisch-portugiesisch verfassten diversen Formen der weltlichen Dichtung (cantigas de amor, cantigas de amiga, cantigas de escarnh’ e de mal dizer) Marienkanzonen, die cantigas de Santa Maria, zur Seite gestellt. Am Ende des 13. Jahrhunderts lehnt sich die profane Liebesdichtung somit weitgehend an biblische Anschauungen an. Ihrer historia figuralis, sei es als innere oder äußere Geschichte, soll durch die Allegorisierungen der Status „eine[r] historica veritas […] und auf der Grundlage dieser Wahrheit Anspruch auf Spiritualität“ verliehen werden.15 Man kann die These aufstellen, dass zahlreiche Autoren des späten 13. Jahrhunderts angesichts der Krise des Symbolismus zum Mittel der Typologisierung und der Allegorisierung der Liebesdichtung greifen, um den sich 14 15
Vgl. Guiraut Riquier: Las Cansos. Kritischer Text und Kommentar. Hrsg. von Ulrich Mölk, Heidelberg 1962 (Studia Romanica 2). Gerhard Regn: Kartographie der Liebe. Die Regionalkarte der Sorgue und die Autorität des Canzoniere im rinascimentalen Petrarca-Kommentar. In: Questo leggiadrissimo Poeta! Autoritätskonstitution im rinascimentalen Lyrik-Kommentar. Hrsg. von Dems., Münster 2004 (Pluralisierung und Autorität 6), S. 233–261, hier S. 251.
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abzeichnenden Autorisierungen der Liebe durch Biographisierungen einen allgemeingültigeren, höheren Sinn zu verleihen. III. Der Fluchtpunkt der Biographisierung: Das Beispiel Boscán Diese Situation der Lyrik hat nun durch Francesco Petrarca eine qualitative Weiterentwicklung erfahren. Es ist der toskanische Dichter des Canzoniere, der maßgeblich für die Überwindung der Allegorisierung und die Hinwendung zur biographischen Autorisierung der Liebesdichtung verantwortlich ist. Diese Entwicklung lässt sich fassen, wenn man auf das vorläufige Ende der im 13. Jahrhundert eingeleiteten literarhistorischen Veränderung schaut. Ein Blick auf ein Sonett des spanischen Dichters Juan Boscán y Almogadáver kann dies konkret veranschaulichen. Das Sonett ist 1543 publiziert worden und stammt von einem Autor, der zusammen mit dem Katalanen Ausias March als einer der ersten die Lyrik Petrarcas auf der iberischen Halbinsel eingeführt hat. 1
Si en la mitad del dolor tener memoria del passado plazer es gran tormento, assí también en el contentamiento acordarse del mal pasado es gloria.
Wenn es eine große Qual ist inmitten des Schmerzes sich an vergangene Freude zu erinnern, dann ist es Ruhm, sich in der Zufriedenheit vergangenen Leids zu entsinnen.
5
Por do, según el curso d´esta istoria, no hay cosa que me venga ´l pensamiento, que toda no se buelva en un momento en lustre y en favor de mi vitoria.
Wodurch mir, gemäß dem Verlauf dieser Geschichte, nichts mehr durch den Sinn geht, was sich nicht in einem Augenblick gänzlich in Glanz und Gunst meines Sieges verwandelte.
Como en la mar, después de la tieniebla, pone alboroço el assomar del día, y entonces fue plazer la noche ´scura,
Wie über dem Meer nach der finsteren Nacht, der Anbruch des Tages mit Jubel begrüßt wird, und so die dunkle Nacht selbst fröhlich wurde,
assí, en mi coraçón, ida la niebla, levanta en major punto al alegría el passado dolor de la tristura.16
so erhebt er in meinem Herzen, nachdem der Dunst geschwunden war, zum Glück am höchsten Punkt den vergangenen Schmerz der Trauer.
10
16
Zitierte Ausgabe: Juan Boscán, Las obras de Boscán. De nuevo puestas al día y repartidas en tres libros. Hrsg. von Carlos Clavería, 2. Aufl. Barcelona 1993 (Lecturas Hispánicas y universales 23), S. 384 (Sonett 123). Übersetzungen stammen hier und im Folgenden – sofern nicht anders angegeben – vom Verfasser.
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Die erste Strophe dieses Sonetts beschreibt eines jener nur allzu gut bekannten Paradoxa der Liebe, wie man es bereits aus der mittelalterlichen Minnedichtung kennt und wie es dann charakteristisch für die Liebeskonzeption Petrarcas wurde: Es ist eine Qual, sich im Zustand des Leidens an vergangenes Glück zu erinnern, und es ist ruhmreich, im Zustand der Zufriedenheit an vergangenes Leid zurück zu denken. Liebe erscheint als Wechsel aus Leid und Freude, als Zustand der contrari affetti, wie es bei den italienischen Petrarkisten der Zeit heißt, bei Boscán als Widerspiel aus dolor und plazer. Beide Zustände bestimmen in ihrer Alternanz die Gegenwart des Liebenden, aber auch das Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart. In der zweiten Strophe wird dieser paradoxe Zustand völlig unvermittelt, man ist versucht zu sagen − wie selbstverständlich −, in eine Geschichte überführt. Der phonetisch abrupte Anschluss der adverbialen Bestimmung Por do (V. 5; „Dadurch“) macht einen Bruch spürbar, der allein auf das neue Paradigma der Erzählung aufmerksam macht. Das lyrische Ich, das hier gleich zweimal in Erscheinung tritt, hat im Verlauf dieser Geschichte, auf die der Leser durch das deiktische Pronomen in Vers 5 nachdrücklich hingewiesen wird, alle Gedanken unmittelbar siegreich überwunden. Die epische Vorstellung vom Sieg nimmt die ebenfalls epische Kategorie der Erlangung von Ruhm am Ende der ersten Strophe wieder auf. Offenkundig hat das lyrische Ich den Schmerz überwunden und befindet sich nun im Zustand einer gewissen Selbstzufriedenheit (contentamiento). Genauer betrachtet gibt es drei Entwicklungsstufen in der Geschichte des Sprechers: Ein Vergnügen der entfernten Vergangenheit wird während eines späteren qualvollen Zustandes erinnert und dieser qualvolle Zustand ist nunmehr der Zufriedenheit gewichen. Der Weg dorthin wird vom Sprecher als ruhmreich und als Sieg empfunden. Der Leser fühlt sich aufgefordert, diesen Werdegang zu verorten. Es könnte sich um eine stoische Überwindung der Leidenschaften, um die Erlangung einer tranquillitas animi des Sprechers handeln. Es könnte aber auch schlicht um einen Prozess des Alterns gehen, in dessen Verlauf durch den nicht immer reibungslosen Zugewinn an Erfahrung aus jugendlicher Qual Zufriedenheit des Alters geworden ist. Die dritte Strophe versucht, diese innere Geschichte durch einen Vergleich aus dem Bereich der Naturverläufe zu plausibilisieren: Die Geschichte des Sprechers ist ähnlich dem Anbruch des Tages über dem Meer, bei dem der Morgen wie in einem Jubel der Natur als Befreiung von der Finsternis der Nacht erscheint. Angesichts dieser Befreiung nimmt sich die Erinnerung an die Nacht dann gar nicht mehr so schrecklich aus. Die vierte Strophe setzt die Geschichte des Sprechers dazu noch einmal ins Verhältnis: Wie der Tagesanbruch über dem Meer und die Vertreibung der Nacht so endet die historia des lyrischen Ichs mit der Überwindung des vergangenen Schmerzes und seiner Verwandlung in ein summum bonum an einem höchsten Punkt der Freude.
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Die Geschichte, die das Sonett von Boscán erzählt, ist somit die eines Aufstiegs. Besonders die Terzette untermauern diese Lesart, ist doch vom Tagesanbruch, von der Erhebung zu einem höchsten Punkt der Freude, die Rede. Diese Aufstiegsgeschichte wird − und das ist für den an mittelalterlichen Texten geschulten Leser besonders auffällig – in diesem Gedicht ohne irgendeine Allegorisierung allein aus dem Lebensentwurf des Sprechers gespeist. Dabei handelt es sich nicht um eine durch lebensweltlich konkrete Details verbürgte Biographie, die sich angesichts der Kondensation lyrischer Texte in dieser Gattung ohnehin weitgehend verbietet, sondern um eine sekundäre Modellierung gemachter Erfahrung, welche die dargestellten Liebesaffekte in verbürgte philosophische Systeme einordnet. Und diese Konturierung als rein biographische Sinnfigur wird durch das versteckte DanteZitat der beiden ersten Verse besonders untermauert. Das Zitat zeigt, dass heilsgeschichtliche Ausrichtungen des Liebesgeschehens als maßgebliche Autorisierung der Vergangenheit angehören. Die Äußerung, dass die Erinnerung an vergangenes Glück im Zustand des Schmerzes besonders große Qualen verursacht, stammt von einem der berühmtesten Liebespaare der Literaturgeschichte, von Paolo und Francesca aus dem fünften Gesang des Inferno.17 Die Erinnerung an das vergangene Glück mit Paolo macht Francesca da Rimini einmal mehr bewusst, dass die beiden nunmehr auf ewig verbannt sind. Dante macht deutlich, dass die ausgelebte Leidenschaft zwischen Liebendem und verheirateter Frau, die auf die Lektüre eines mundanen Liebesromans, den Chrétienschen Lancelot, zurückzuführen ist, in der Hölle endet. Demgegenüber berichtet der Sprecher bei Boscán von seiner Überwindung der Leidenschaft. Und diese Abkehr ist ganz allein auf seinen nicht einmal mehr moralischen sondern eher pragmatisch motivierten Heroismus zurückzuführen. Die rein biographisch-mundane Dimension des Gedichts wird zudem offenbar, führt man sich das Eingangssonett der Rime Pietro Bembos vor Augen, jenes führenden Imitators der Dichtung Petrarcas, an dem sich nahezu alle Zeitgenossen abarbeiten.18 Auch in diesem Gedicht: Piansi e cantai lo strazio e l´aspra guerra („Ich beweinte und besang die Qual und den rauen Krieg“) war unter Verwendung von Formeln des Epos19 von einer Abwendung von der Liebe und von einem Aufstieg die Rede, der bei 17 18 19
Dante Alighieri: La Divina Commedia. Hrsg. von Giuseppe Vandelli, Mailand 1979, S. 42, V. 121–123. Von einer Palinodie auf Pietro Bembos Rime spricht bereits Anne J. Cruz: Imitación y transformación. El petrarquismo en la poesía de Boscán y Garcilaso de la Vega, Amsterdam, Philadelphia 1988 (Purdue University Monographs in Romance Languages 26), S. 52 u. S. 61 f. Vgl. dazu Alfred Noyer-Weidner: Lyrische Grundform und episch-didaktischer Überbietungsanspruch in Bembos Einleitungsgedicht. In: Romanische Forschungen 86 (1974), S. 314–358. Der Text ist zitiert nach der Ausgabe: Prose e Rime di Pietro Bembo. Hrsg. von Carlo Dionisotti, Turin 1960 (Classici italiani 26), S. 507.
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Bembo allerdings direkt auf eine Straße zum guten Ende (e quella strada, ch´a buon fine porti, V. 12) führt, gemeint ist die Anbetung Gottes (adorar Dio, V. 13). Boscáns Sonett steht dagegen in einer literarhistorischen Entwicklungslinie, die von den im 13. Jahrhundert eingeführten biographischerzählenden Motivierungen der Liebesdichtung der vidas und razos zu einem völligen Bedeutungsverlust des Allegorischen und im Gegenzug zum Eigenwert biographischer Faktizität führt.20 In Alessandro Vellutellos Edition des Canzoniere aus dem Jahre 1525 werden die Lebensdaten Petrarcas aus dessen Äußerungen, den Gedichten sowie Kommentaren Dritter zusammengetragen und zur Grundlage der Anordnung der Gedichte gemacht. Die Ausgabe spiegelt damit den romanzo der Liebe zu Laura des toskanischen Dichters. Laura-Liebe und Fakten aus der Biographie des Autors werden homogenisiert.21 Die Frage, die sich abschließend zu Boscán noch stellt, ist die, ob das Gedicht in der biographisch motivierten Erzählung der Geschichte des Sprechers aufgeht. Der Autor versucht, den narrativen Diskurs durch den Naturvergleich der dritten Strophe nachvollziehbar zu machen. Dies scheint ihm aber offenkundig nicht zu genügen, da er mit den Konstruktionen si […] así der ersten Strophe, por do […] que der zweiten und dem así der letzten Strophe auch noch auf einen argumentativen Diskurs zur Autorisierung der Geschichte des Sprechers zurückgreift.22 Dieser Diskurs entpuppt sich jedoch bei näherem Hinsehen als eine Pseudo-Argumentation. Der 20
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Damit soll nicht behauptet werden, die Liebesdichtung der späten Renaissance sei ausschließlich biographisch motiviert. Im Zuge der Pluralisierungsprozesse der späten Renaissance verlieren allegorische Autorisierungen an Bedeutung und treten gleichwertig neben rein biographische Motivierungen. Boscáns zweites, petrarkistisches Buch seiner Lyriksammlung endet mit einer spirituellen Auslegung des Aufstiegs. Die Plausibilität dieses Endes ist in der Literatur zum Autor höchst umstritten. Vgl. Ignacio Navarrete: Boscán’s Rewriting of Petrarch’s Canzoniere. In: Romanic Review 81 (1990), S. 256–269, v. a. S. 258, Anm. 7. Während Navarrete den Schlussteil der petrarkistischen Gedichte als christliche Läuterung des Sprechers interpretiert, sieht Menéndez y Pelayo darin ein Plädoyer Boscáns für die eheliche Liebe; vgl. Marcelino Menéndez y Pelayo: Juan Boscán. Antología de poetas líricos castellanos 13, Madrid 1908, S. 132–137. David H. Darst: Juan Boscán, Boston 1978 (Twayne’s world authors series 475), S. 61–68 u. 77–80 spricht diffus von einer Wende zum Neoplatonismus und zur christlichen Orthodoxie, während Antonio Armisén alle diese Elemente gleichermaßen gegeben sieht; vgl. Antonio Armisén: Estudios sobre la lengua poética de Boscán. La edicíon de 1543, Saragossa 1982 (Publicaciones del Departamento de Literatura Española de la Universidad de Zaragoza 5). Zur Interpretation der gesamten Schlusssequenz siehe Cruz (Anm. 18), S. 52 u. 61 f. Vgl. auch die Zusammenfassung bei Horst Weich: La polifonía del discurso en Juan Boscán. La Canción LII Gentil señora mía. In: Actas del V Congresso de la Asociación Internacional Siglo de Oro (Münster 1999). Hrsg. von Christoph Strosetzki, Madrid 2001, S. 1371–1384, bes. S. 1383 f. Vgl. dazu Catharina Busjan: Biographie und Moralphilosophie in Alessandro Vellutellos Canzoniere-Edition. In: Regn (Anm. 15), S. 189–231. Zur reflexiven Funktion der Lyrik vgl. bereits Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964, S. XIf., sowie Alfred Noyer-Weidner: Lyrik und Logik in Petrarcas Canzoniere. Zur „Gedanklichkeit“ in gattungsverschiedenen Gedichten, „Solo e
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argumentative Diskurs unterstellt einen logischen Zusammenhang der Ereignisse, der nirgendwo gegeben ist. Die erzählte Läuterung des Protagonisten wird relativiert, da sie offenkundig argumentativer Hilfen bedarf, um Plausibilität zu erlangen und als objektiv zu erscheinen. Sie ist letztlich nur die Erfahrung eines Subjekts, die durch nichts objektivierbar ist. Es ist nicht einmal klar, ob es sich bei den Erfahrungen des lyrischen Ichs in erster Linie um Liebeserfahrungen handelt, oder um andere Affekte, die heroisch gemeistert werden. Die petrarkistische Dichtung kann und will gar nicht mehr nur Liebesdichtung sein. Die Liebe ist nur ein exemplarischer Bereich des Weltlichen und die Dichtung des Spaniers steht im allgemeinen Kontext einer biographischen Perspektivierung.23 Das lyrische Ich ist bei Boscán ein Fluchtpunkt ohne eine fassbare objektivierbare Identität, die durch keinen geschlossenen Diskurs plausibilisiert wird. IV. Der lyrische Diskurs als Anti-Narrativ im Canzoniere Bevor es zu einer solchen Suche nach der Identität des Sprechers über die Ergründung mundan-biographischer Verhaltensmodelle im Gedicht kommt, bedarf es einer grundlegenden Erosion jener auf der analogia entis basierenden Einheit der Diskurswelt, die über die mittelalterliche Allegorie hergestellt wird. Es bedarf insbesondere einer Infragestellung des für das Mittelalter so typischen Aufstiegsschemas als Nucleus der Erzählung. Und diese beiden zentralen Paradigmenwechsel finden in der Dichtung Petrarcas statt,24 in der Erzählungen eine maßgebliche Rolle spielen. Erzählt wird in Petrarcas Canzoniere soviel wie in kaum einer anderen Gedichtsammlung. Die 366 Gedichte sind bekanntlich zu einem Lyrikbuch geordnet. Sein Gegenstand ist der Lebenslauf des Protagonisten, der von der jugendlichen Verstrickung in Liebesdinge zur Läuterung im Alter und zum Verzicht auf die mundane Leidenschaft führt. So jedenfalls avisieren es das Einleitungsund das Schlusssonett. Das den Sprecher betreffende Liebesgeschehen ist durch die Jahrestagsgedichte in genau bezeichnete Stationen der Begegnung
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pensoso“ und „Chiare, fresche e dolci acque“. In: Sprachen der Lyrik. FS für Hugo Friedrich zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Erich Köhler, Frankfurt a. M. 1975, S. 630–667. Dass dies auch schon bei Petrarca der Fall ist, zeigt Gerhard Regn: Poetik des Aufschubs. Giovanni Colonna und die Architektur des Canzoniere (zu RVF CCLXVI und CCLXIX). In: Petrarca-Lektüren. Gedenkschrift für Alfred Noyer-Weidner. Hrsg. von Klaus W. Hempfer/ Gerhard Regn, Wiesbaden 2003 (Text und Kontext 17), S. 185–211, bes. S. 192. Zur Multiplikation der erotischen Diskurse bei Petrarca vgl. Klaus W. Hempfer: Rerum vulgarium fragmenta XXXII. Diskursive Antinomien und die Konkurrenz alternativer Wirklichkeitsmodellierungen in Petrarcas Canzoniere. In: Hempfer/Regn (Anm. 23), S. 39–67, bes. S. 56.
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mit Laura eingeteilt.25 Der Sprecher erkennt im Verlauf der Geschichte, dass die irdische Liebe von Gott wegführt und er zeigt reuige Einsicht und die Bereitschaft zur Umkehrung. Im vorletzten Sonett des Buches wird diese Geschichte in ihren Stationen noch einmal rekapituliert: Tennemi Amor anni ventuno ardendo, / lieto nel foco, et nel duol pien di speme; / poi che madonna e ´l mio cor seco inseme / saliro al ciel, dieci altri anni piangendo. („Amor hielt mich einundzwanzig Jahre in Glut fröhlich im Feuer und hoffnungsvoll im Schmerz; / und seit die Herrin und mit ihr zusammen mein Herz / zum Himmel aufstieg, zehn weitere Jahre in Tränen.“)26 Die Liebe zu Laura hat somit 21 Jahre angedauert, die Trauer um die verstorbene Laura weitere 10 Jahre des Lebens des Liebenden in Anspruch genommen. Und mit der Äußerung: e le mie parti extreme, / alto Dio, a Te devotamente rendo, / pentito et tristo de´miei sí spesi anni (Nr. 364, V. 7–9; „meine letzten Minuten / großer Gott, weihe ich Dir ergebenst / reuevoll und traurig über meine so verflossenen Jahre“) scheint die Geschichte an ihr Ende gekommen zu sein. Damit erzählt auch Petrarca, folgt man großen Teilen der Sekundärliteratur, eine Geschichte mit mittelalterlichen Strukturen von Fall und Erlösung, vom letztendlichen Aufstieg der verlorenen Seele zu Gott. Die Literatur hat denn auch die Erzählmodi der Verarbeitung dieses Liebesgeschehens näher unter die Lupe genommen und festgestellt, dass Petrarca sich in den Gedichten, die die Zerrissenheit und Unentschlossenheit des Protagonisten beschreiben, an die Erzählweise der Ovidschen Metamorphosen anlehnt, dass diese Erzählweise letzten Endes jedoch durch die der allegorischen Aufarbeitung der Liebe sub specie aeternitatis im Stil der Vita nova Dantes eingeholt wird.27 Diese These löst nun aber bei einer näheren Betrachtung der Dinge erhebliche Irritationen aus.28 Wie wenig der Protagonist des Liebesgeschehens letztlich reuige Einsicht praktiziert, ist gerade in jüngerer Zeit an zahlreichen Texten Petrarcas aufgezeigt worden. So hat, um nur ein Beispiel zu
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Zur Unstimmigkeit dieser Einteilungen vgl. Marco Santagata: Petrarca. Il Canzoniere. In: Manuale di letteratura italiana. Storia per generi e problemi. Hrsg. von Franco Brioschi/ Costanzo Di Girolamo, Bd. 1: Dalle origini alle fine del Quattrocento, Turin 1993, S. 375–396, hier S. 380, Anm. 8. Zitierte Ausgabe: Francesco Petrarca. Canzoniere. Edizione commentata a cura di Marco Santagata, 2. Aufl. Mailand 1997 (I Meridiani), S. 1391, Nr. 364, V. 1–4. (Im Folgenden mit der Angabe der Gedichtnummer und Versangaben im laufenden Text zitiert). Vgl. dazu insbesondere Sarah Sturm-Maddox: Petrarch´s Metamorphoses. Text and Subtext in the Rime sparse, Columbia 1985, S. 2. Vgl. auch Marco Santagata: Dal sonetto al Canzoniere. Ricerche sulla preistoria e la costituzione di un genere, 2. Aufl. Padova 1989 (Saggi 22), S. 131–154. Die Feststellung solcher Irritationen dominiert die neuere Petrarca-Forschung. Vgl. den Band von Hempfer/Regn (Anm. 23) sowie Il Canzoniere. Lettura micro e macrotestuale. Hrsg. von Michelangelo Picone, Ravenna 2007 (Memoria del tempo 29).
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nennen, Gerhard Regn mit Blick auf den zweiten Teil des Canzoniere, in morte di Madonna Laura, gezeigt, dass dieser zwar mit der Kanzone 264 die reuige Einsicht des Sprechers in die Verfehlungen seines Lebens ankündigt, dann jedoch so gar keine narrative Dynamik einer Läuterungsgeschichte entwickelt wird. Dieses von Regn als „Poetik des Aufschubs“ bezeichnete Verfahren,29 das an die suspense-Techniken der modernen gothic novel und des Kriminalromans erinnert, bedarf noch einer genaueren Überprüfung anhand des Eingangs- und des Schlusssonetts. Auf den ersten Blick scheint es gar keine Frage zu sein, dass der Canzoniere die Geschichte von der Läuterung des Sprechers behandelt, erklärt dieser doch im Einleitungssonett, dass es sich bei den Gedichten um Jugendsünden (giovenile errore, V. 3) aus einer Zeit, in der das Ich noch ein anderes war, handelt (quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono, V. 4). Der Sprecher schämt sich, lange Zeit Gegenstand des Geredes der Leute gewesen zu sein und erkennt, dass das Gefallen an der Welt nur ein kurzer Traum ist (V. 10 und V. 14). Und auch die Stillagen des Gedichtes weisen auf eine Bekehrung des Sprechers hin, wird doch der ordo artificialis der Quartette durch einen sermo facilior abgelöst, den Alfred Noyer-Weidner mit dem christlichen sermo humilis in Verbindung gebracht hat.30 Diese Auffassung wird durch die Anklänge an das Buch der Prediger (Buch 1, 2 passim) in den abschließenden Äußerungen des Sprechers über die Eitelkeit der Welt gestützt. Bereits die beiden ersten Verse des Canzoniere weisen jedoch für die unter anderem von Alfred Noyer-Weidner vertretene These, dass der anfängliche „humanistische[] Bildungsenthusiasmus“ bei Petrarca eine „Kehrtwendung mit einem entschieden christlichen und in diesem Sinne zugleich mittelalterlichen Akzent“ vollziehe,31 ein hohes Störpotential auf. Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono / di quei sospiri ond’io nudriva ’l core (V. 1 f.; „Ihr, die ihr in verstreuten Reimen den Klang jener Seufzer hört, mit denen ich mein Herz genährt habe“), heißt es. Diese Verse rufen eine Geschichte auf. Im letzten Sonett der Vita nova hatte der Sprecher bei Dante einen Seufzer zum Himmel geschickt, um dort die donna de la salute („Herrin des Heils“),32 wie es in der Sammlung immer wieder heißt, zu schauen. Dieser peregrino spirito („pilgernde Geist“)33 kehrt zum Sprecher zurück und
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Vgl. Regn (Anm. 23). Vgl. Alfred Noyer-Weidner: Poetologisches Programm und „erhabener“ Stil in Petrarcas Einleitungsgedicht zum Canzoniere. In: Italienische Studien 8 (1985), S. 5–26, hier S. 21. Ebd., S. 9. Vgl. Dante Alighieri: Opere minori. Bd. 1, Teil 1: Vita Nuova. Rime. Hrsg. von Domenico de Robertis/E. Gianfranco Contini, Mailand, Neapel 1995 (Classici Ricciardi-Mondadori), S. 245 f. (§ 41, 10–14); das Zitat u. a. bereits S. 38 (§ 3, 4). Ebd., S. 245, V. 8.
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berichtet vom Gesehenen, was er allerdings nur in undeutlichen Worten tun kann, weil das Geschaute sich menschlicher Erkenntnis entzieht. Die an mystische Erfahrungen angelehnte Jenseitsschau, die die mundane Liebe zu Beatrice in eine Form unmittelbarer Gotteserfahrung überführt, wird bei Petrarca schon zu Beginn seiner Sammlung gleichsam pulverisiert. Aus der Erzählung vom Aufstieg des einen Seufzers bei Dante sind bei Petrarca Geschichten zahlreicher Seufzer geworden. Von diesen hören wir auch nur noch den Klang, und das in verstreuten Versen, die wenig Zusammenhalt und Strukturierung erwarten lassen. Und was die Reuebekundungen des Sprechers angeht, fällt auf, dass sie keinerlei Jenseitsbezug enthalten. Das Ich rechtfertigt sich vor den Kennern in Liebesfragen für seine angeblichen Phantastereien und nicht vor Gott: chi per prova intenda amore (V. 7; „der sich auf die Liebe versteht“), heißt es vom Adressaten des Gedichts. Und in den abschließenden Terzetten ist eher eine geradezu übersteigernde Hinwendung des klagenden Ichs zu sich selbst zu beobachten, als eine wirklich reuevolle Abwendung vom Mundanen: di me medesmo meco mi vergogno (V. 11; „ich schäme mich oft bei mir selbst“), heißt es in mit einer gleich viermaligen Lenkung des Leserblicks auf das am Boden liegende lyrische Subjekt. Selbst dieses pentimento-Gedicht bringt somit eine für die Dichtung des Canzoniere typische Dislozierung der operatio voluntatis von der operatio intellectus durch den einmal gewonnen Habitus des Sprechers zum Ausdruck, sich mit mundanen Fragen zu beschäftigen und weltlichem Ruhm hinterherzulaufen. Der Wille des Sprechers zur Abkehr ist vorhanden (’l pentérsi, V. 13) und die Erkenntnis, dies tun zu müssen, ebenfalls (’l conoscer chiaramente, ebd.). Eine wirkliche Abkehr wird jedoch durch den Habitus verhindert. Petrarcas Canzoniere suggeriert somit allenfalls eine Bekehrungsgeschichte nach mittelalterlichem Muster. Und das tut er selbst noch in der Schlussbildung, im abschließenden Sonett Nr. 365. I’ vo piangendo i miei passati tempi i quai posi in amar cosa mortale, senzar levarmi a volo, abbiend’io l’ale, 4 per dar forse di me non bassi exempi.
Tu che vedi i miei mali indegni et empi, Re del cielo invisibile immortale, socorri a l´alma disviata et frale, 8 e ’l suo defecto di Tua gratia adempi:
Ich betrauere meine vergangenen Zeiten, die ich auf die Liebe einer sterblichen Sache verwendet habe, ohne mich zum Fluge aufzuschwingen, obgleich ich Flügel besaß, um vielleicht von mir nicht (nur) schlechte Beispiele zu geben. Du, der du siehst meine unwürdigen und bösen Schlechtigkeiten, unsichtbarer, unsterblicher König des Himmels, stehe der vom Weg abgekommen und gebrechlichen Seele bei. Erfülle mit Deiner Gnade ihre Unzulänglichkeit:
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sì che, s’io vissi in guerra et in tempesta, mora in pace et in porto; et se la stanza fu vana, almen sia la partita honesta.
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A quel poco di viver che m’avanza et al morir, degni esser Tua man presta: Tu sai ben che ’n altrui non ò speranza.
So dass ich, wenn ich im Krieg und im Sturm lebte, in Frieden und im Hafen sterben werde; und wenn der Aufenthalt vergeblich war, möge wenigstens der Abgang ehrenhaft sein. Bei dem bisschen Leben, das mir noch bleibt, und beim Sterben, erwäge Deine Hand bereit zu halten: Du weißt sehr wohl, dass ich auf niemand sonst Hoffnung setze.
Petrarcas Sonett knüpft mit der Eingangsformel I´vo piangendo unmittelbar an die der Kanzone 264: I´vo pensando an, die den zweiten Teil der Sammlung eröffnet.34 Die dort bekundete Einsicht in die Vergeblichkeit der irdischen Liebe unmittelbar nach Lauras Tod scheint hier, wenn auch recht spät, letztlich und endlich eingelöst zu werden. Hatte es dort noch im berühmten letzten Vers geheißen: veggio ´l meglio, et al peggior m´appiglio (V. 136; „ich sehe das Gute; aber auf das Schlechtere höre ich.“), so herrscht hier – laut Bernhard König – der „Tenor christlicher Reue“ vor, durch den der „gesamte zweite Teil“ gerundet und zu einem „symmetrischen Abschluss“ gebracht wird.35 Im Sinne einer „christlich-moralischen Konzeption“ werde dem „Zwiespalt“ des lyrischen Ichs ein Ende gesetzt.36 V. Erosion der Narrative, Multiplikation der Diskurse In der Forschung zu Petrarca gibt es zwei Verfahren der Beweisführung, die sich großer Beliebtheit erfreuen: zum einen die Zuordnung des jeweiligen Textes zu einer Serie themenverwandter Gedichte, zum anderen die intratextuelle Suche gleicher sprachlicher Formeln in möglichst auch syntaktisch gleichen Positionen. Beide Verfahren hat man im Hinblick auf das Sonett 365 noch nicht allzu systematisch angewandt. Die Serialität der ultime rime des Canzoniere, insbesondere der Sonette 361–365, ist von niemandem bestritten worden. Die Serialität bildet nun aber auch in diesem Fall wie in zahlreichen anderen keineswegs eine Aufstiegsgeschichte ab. Wenn in Sonett 34
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Vgl. Bernhard König: Das letzte Sonett des Canzoniere. Zur „architektonischen“ Funktion und Gestaltung der Ultime Rime Petrarcas. In: Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. FS für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Klaus W. Hempfer/Gerhard Regn, Wiesbaden 1983, S. 239–257, hier S. 255. König zeigt, dass das Sonett 365 aus „Serien von Elementen gebaut [ist], die zugleich Bauelemente der Canzone 264 sind“ (ebd.). König (Anm. 34), S. 247 u. S. 249. Ebd., S. 249 f. Auch Hempfer (Anm. 24), S. 46, geht davon aus, dass die Sonette 364 und 365 „den unumstößlichen Vollzug der mutatio vitae mit der Abwendung vom Irdischen und der Hinwendung zu Gott zum Ausdruck bringen.“ (Hervorhebung i. Original).
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362 erzählt wird, wie der Sprecher con l’ali de’ pensieri (V. 1; „auf Flügeln der Gedanken“) zum Himmel auffährt, um dort auf Laura zu treffen, die ihn zu Gott führt, vor dem der Sprecher sich verneigt, so bedeutet dies nicht mehr und nicht weniger, als dass der Aufstieg zu Gott über die Mittlerin Laura ein bloßer Gedanke, ein Hirngespinst ist, wenn man es deutlich formulieren will. Im abschließenden Sonett 365 wird dieser Aufstieg für die Realität des Sprechers geradezu dementiert: Der Sprecher betont im ersten Quartett, er habe sich in der Vergangenheit seiner Beschäftigung mit Laura nur einer mortal cosa (V. 2; „sterblichen Sache“) zugewandt und die zum Aufstieg notwendigen Flügel nie ausgebreitet (V. 3 f.). Und jener Herrgott, den er im Sonett 362 nach dem Aufstieg im Gedanken schaut, ist in 365 in das invisibile (V. 6; „die Unsichtbarkeit“) entrückt. Auch in diesem Sonett ist über weite Strecken ausschließlich von der Hinwendung zur cosa mortale sowie von der alma disviata (V. 7; „der vom Weg abgekommene Seele“) des Sprechers die Rede. Man gewinnt schnell den Eindruck, dass der Sprecher immer noch völlig unter dem Eindruck jener sterblichen Sache steht. Und wenn man diesen Eindruck hat, lässt sich das Gedicht in seiner Gesamtheit ganz anders lesen: Es geht gar nicht in erster Linie um die Reue des lyrischen Ichs. Die Einsicht des Sprechers im Einleitungssonett, er habe den Zeitgenossen über lange Zeit ein schlechtes Vorbild gegeben (favola fui gran tempo, V. 10), wird hier durch das einschränkende forse („vielleicht“) des vierten Verses zurückgenommen: abbiend’io l’ale, / per dar forse di me non bassi exempi. (V. 3 f.; „Ich besaß Flügel, / um vielleicht von mir nicht nur schlechte Beispiele zu geben.“). Und parallel dazu würde dann die an gleicher Stelle in der zweiten Strophe stehende Formulierung in Vers 8: Gott möge dem Sprecher mit seiner Gnade dessen Unzulänglichkeiten erfüllen, bedeuten, dass der Herr ihn bei seiner Beschäftigung mit Laura unterstützen möge. Kongenial dazu heißt es dann in den letzten Versen der beiden Terzette: Wenn Gott seine schützende Hand über den mit der mortal cosa Laura beschäftigten Sprecher hält, dann wird das vormals als unehrenhaft empfundene Tun gleichsam sanktioniert und der Abgang des Sprechers ehrenhaft. In diesem Sinn setzt der Sprecher am Ende der letzten Strophe seine Hoffnung auf Gott. Das Sonett 365 nimmt also innerhalb der Serie der ultime rime scheinbar bereits gewonnene Positionen der Läuterung wieder zurück. Das letzte Sonett ist ein weiterer Beitrag zur Erosion der theologischen Positionen und zur Multiplikation der Diskurse. Ist Laura nur eine mortal cosa, kann sie nicht mehr im Sinne stilnovistischer Verklärung der Dame zur donna angelo Mittlerin im Jenseits sein. Der Sprecher verharrt auch hier in dem insbesondere von Augustinus beschriebenen Zustand der Schwäche des perversen Willens, den der Schlussvers der Kanzone 264 zum Ausdruck gebracht hatte. Mit den christlichen Vorstellungen von der Wiederauferstehung ist dieser Schluss jedenfalls nicht zu vermitteln. Er ist es insbesondere nicht,
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wenn man zum Abschluss einen Blick auf die zentrale Stelle des Sonetts, die Anrufung Gottes in Vers 6 f., wirft. Angesichts der höchst seltenen direkten Hinwendungen des Sprechers zu Gott ist es verwunderlich, dass die nahezu gleiche Anrede in der Kanzone Italia mia bislang niemand einer Kommentierung für würdig gehalten hat. Dies mag daran liegen, dass es sich um ein politisches Lied handelt und die Einordnung der politischen Texte des Canzoniere in die Thematik der Sammlung der Forschung bislang äußerst schwer gefallen ist. Geht man aber von der Überlegung aus, dass diese Texte dem Liebesgeschehen eine an der Lebenswelt der Zeit orientierte Umgebung bieten und die Liebesgeschichte damit wahrscheinlich machen wollen,37 dann wird schnell deutlich, wo der Bezug zwischen Sonett 365 und der Kanzone 128, die sich an die Herren Italiens wendet, liegt. Das Lied berichtet davon, dass das Land Italien daniederliegt. Seine Herren sind in ihrem Innern, in ihren Willen, entzweit (Vostre voglie divise, V. 55) und das Land ist daraufhin in inneren und auch äußeren Kämpfen aufgerieben. Den Mächtigen entflieht die Zeit (’l tempo vola, V. 97) und der Sprecher mahnt sie, sich anderen Dingen, ehrenhaften geistigen Beschäftigungen, hinzugeben. Der Bezug dieser politisch-moralischen Rüge zur Situation des Sprechers der Sammlung wird nicht nur über die zahlreichen ähnlichen Formulierungen deutlich, mit denen dieser seine eigene Lage mit der des danieder liegenden Landes Italien vergleicht. Bereits in der ersten Strophe setzt er sich zu Italien in Bezug, wenn es heißt, er sitze betrübt an den Ufern des Tiber, des Arno und des Po (V. 5). Mit der Anrufung Gottes im letzten Sonett wird an die in der Kanzone geschilderte Situation erinnert. Wenn der Sprecher der Kanzone mit der nahezu identischen Formel Rettor del cielo (V. 7; „Lenker des Himmels“) Gott um Gnade für Italien bittet, dann weiß er zugleich, dass diese Bitte vergeblich sein wird: „Mein Italien, obgleich alles Reden vergeblich sein wird“, beginnt das Lied, und dabei handelt es sich nicht nur um eine topische Formel. Am Ende des Liedes steht die Einsicht, dass die Änderungen des Willens stets von der einmal gewonnen Gewohnheit, der usanza pessima et antica (V. 117), bei der Hinwendung zum Besseren gebremst werden. Die Stimme Gottes ist im Canzoniere letzten Endes nicht zu hören. Aus eigener Kraft schafft es der Sprecher nicht, sich der Welt des Mundanen zu entziehen. Und genau aus diesem Grunde endet die Sammlung folgerichtig mit einem Gebet an die Jungfrau Maria, die als echte Mittlerin allein helfen kann. Die gedankliche Bewegung der Lyrik Petrarcas führt somit zu keinem Ende. Im Canzoniere liegen keine allegorischen Strukturen mehr vor. Es wird aber auch nicht eine irgendwie geartete sinnstiftende biographische Erzählung fassbar. Den Geschehensmomenten der inneren und äußeren 37
Vgl. Regn (Anm. 23), S. 190–198.
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Geschichte der 31 Jahre andauernden Liebe zu Laura wird im Text der Geschichte durch gezielte Aussagen des Sprechers immer wieder der Anschein verliehen, dass sie sich zu einer kohärenten Erzählung der Läuterung des lyrischen Subjekts zusammenfügen. Auf der gleichen Ebene, dem Text der Geschichte, werden diese Äußerungen jedoch auch wieder zurückgenommen bzw. ambivalent gesetzt. Petrarcas Canzoniere ist somit ein Fall, in dem der Text der Geschichte die Strukturierung des Erzählten erst generiert und zugleich wieder zurücknimmt.
Thomas Haye
Epik plus Lyrik ergibt Panegyrik Die Synthese der literarischen Gattungen in der Poesie des Johannes Michael Pingonius (1451–1505) I. Lyrik und Epik im lateinischen Mittelalter Anders als die volkssprachlichen Literaturen des Mittelalters und der Renaissance verfügt die zeitgleich produzierte Latinität über eine relativ stabile, normativ strukturierte und mit Exempeln angereicherte Dichtungslehre, welche im Wesentlichen auf paganen Autoritäten wie Aristoteles, Horaz und einigen spätantiken Grammatikern beruht. Innerhalb dieser poetologischen Tradition findet man eine recht klare Unterscheidung zwischen den beiden Großgattungen der Epik und der Lyrik. Auch wenn hierbei die Lyrik weit weniger scharf definiert ist als die Epik,1 läuft kaum ein mittel- oder neulateinischer Dichter Gefahr, die beiden Genera miteinander zu verwechseln. Allerdings suggeriert die textuelle Existenz der poetologischen Norm das Vorhandensein eines allgemein verbreiteten und allseits akzeptierten Gattungsverständnisses, das man in der poetischen Praxis keineswegs so eindeutig bestätigt findet. Im intellektuellen Freiraum der Zelle, des Skriptoriums, der Schule, der Kanzlei und der Studierstube ist die Lust am texttypologischen Experiment sehr viel größer, als es die Vorschriften der Dichtungsleh-
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Zum Epos vgl. Wolfgang Kirsch: Probleme der Gattungsentwicklung am Beispiel des Epos. In: Philologus 126 (1982), S. 265–288; Dieter Schaller: La poesia epica. In: Lo spazio letterario del Medioevo, I: Il Medioevo latino, Direttori: Guglielmo Cavallo/Claudio Leonardi/Enrico Menestò, Bd. I: La produzione del testo, T. II, Rom 1993, S. 9–42; L’Épopée. Hrsg. von Juan Victorio/Jean-Charles Payen, Turnhout 1988 (Typologie des Sources du Moyen Âge Occidental 49). Zur Lyrik vgl. Paul Klopsch: Die mittellateinische Lyrik. In: Heinz Bergner (Hrsg.): Lyrik des Mittelalters. Probleme und Interpretationen, Bd. 1: Die mittellateinische Lyrik, die altprovenzalische Lyrik, die mittelalterliche Lyrik Nordfrankreichs, Stuttgart 1983 (RUB 7896), S. 19–196; Joseph Szövérffy: Secular Latin lyrics and minor poetic forms of the Middle Ages. A historical survey and literary repertory from the tenth to the late fifteenth century, Bd. I-III, Concord, New Haven, 1992–1994 (Medieval Classics. Text and Studies 25–27).
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ren erwarten lassen.2 Interferenzen zwischen Epik und Lyrik sind naturgemäß vor allem bei solchen Autoren zu beobachten, die sich in beiden literarischen Gattungen bewegt haben, da die strenge artistische Trennung eine poetische Schizophrenie bedingen würde, welche selbst bei Literaten nur selten zu beobachten ist. Anders als in der deutschsprachigen Literaturtradition sind in der lateinischen Welt die Epiker zwar keineswegs immer auch als Lyriker hervorgetreten, doch lassen sich etwa aus dem hohen Mittelalter immerhin so exzellente Dichter wie Walter von Châtillon, Stephan von Rouen und Johannes de Garlandia als Repräsentanten einer solchen Doppelkompetenz anführen. II. Der Fall Pingonius Die mögliche Nähe oder Distanz der beiden Gattungen soll im Folgenden an einem weitgehend unbekannten, poetisch gleichwohl interessanten Autor überprüft werden, der in der Renaissance angesiedelt ist und aus Savoyen stammt. Während die literaturwissenschaftliche Kartierung der lateinischen Dichtung des 15. und auch des 16. Jahrhunderts insbesondere für die Gebiete des italienischen Stiefels sowie des damaligen Königreiches Frankreich in den letzten einhundert Jahren erhebliche Fortschritte erzielt hat, ist das zwischen diesen beiden Ländern gelegene, damals politisch selbstständige Herzogtum Savoyen bis heute eine philologische terra incognita geblieben.3 Die weitaus meisten und literarisch reizvollsten Produkte dieses geographischen Raumes liegen heute naturgemäß in der Turiner Nationalbibliothek.4 Der sprachmächtigste Dichter, den Savoyen in der Hochrenaissance hervorgebracht hat, ist Johannes Michael Pingonius (Gian 2
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Vgl. Fidel Rädle: Literatur gegen Literaturtheorie? Überlegungen zu Gattungsgehorsam und Gattungsverweigerung bei lateinischen Autoren des Mittelalters. In: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit. Hrsg. von Barbara Frank/Thomas Haye/Doris Tophinke, Tübingen 1997 (ScriptOralia 99), S. 221–234. Ein dürftiger Überblick (ohne Berücksichtigung der lateinischen Literatur) bei Réjane Brondy/Bernard Demotz/Jean-Pierre Leguay: La Savoie de l’an mil à la Réforme. Rennes 1984 (Éditions Ouest-France 2), S. 419–423; grundlegend ist das ältere Werk von Andrea Rossotti: Syllabus scriptorum Pedemontii, seu De scriptoribus Pedemontanis in quo brevis librorum, patriae, generis & nonnunquam, Monteregali 1667; hierauf beruht Onorato Derossi: Scrittori piemontesi, savoiardi, nizzardi registrati nei cataloghi del vescovo Francesco Agostino della Chiesa e del monaco Andrea Rossotto, Turin 1790. Erwähnenswert ist hier etwa ein lateinisches, anonym überliefertes Epos in zwölf Büchern auf Herzog Karl Emmanuel I. (1562–1630), das in der Handschrift Turin, BN, M M V 7, überliefert wird. Vgl. hierzu Paul Oskar Kristeller: Iter Italicum. A Finding List of Uncatalogued or Incompletely Catalogued Humanistic Manuscripts of the Renaissance in Italian and Other Libraries, Bd. 2: Italy. Orvieto to Volterra, Vatican City, London, Leiden 1967, S. 175. Im Codex Turin, BN, Q2 V 11, wird auch eine lateinische Elegie auf denselben tradiert, vgl. ebd., S. 183.
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Michele Pingone/Jean Michel Pingon; er ist möglicherweise mit dem zeitgenössischen Dichter Johannes Michael Nagonius identisch).5 Über sein Leben existieren nur rudimentäre Informationen, die im Wesentlichen auf einer möglicherweise von seinem Großneffen Philibertus Pingonius (1524– 1582),6 einem Dichter, Historiker und Sekretär des herzoglichen Hauses, geschriebenen Vita beruhen.7 Johannes Michael Pingonius wurde im März des Jahres 1451 als Spross des herzoglichen Sekretärs Petrus Pingonius in Chambéry, der Verwaltungszentrale des Fürstentums, geboren. Da er der jüngste von drei Söhnen war, wurde er für eine kirchliche Karriere bestimmt und mit einigen Pfründen ausgestattet. Nach einer Ausbildung in der Heimat und einem Studium in Paris lebte er lange Zeit in Rom, wo er den Päpsten Innocenz VIII. (1484–1492), Alexander VI. (1492–1503) und Pius III. (Sept.–Okt. 1503) sowie weiteren geistlichen Würdenträgern diente. Im Jahr 1488, d. h. wohl auf Initiative Innocenz’ VIII., wurde er für seine Leistungen mit dem Titel eines poeta laureatus ausgezeichnet;8 zu einem unbekannten Zeitpunkt erhielt er zudem das römische Bürgerrecht. Er starb in Rom im Jahr 1505. Die erwähnte Vita zitiert ein Epitaphium, in dem Pingonius von seinem Neffen als der erste große Dichter Savoyens gerühmt wird. Das umfangreiche literarische Œuvre dieses Mannes ist heute jedoch unbekannt und bislang auch unediert. Der Verfasser der Biographie weiß zu berichten, dass Pingonius in seiner frühen poetischen Phase vorzugsweise leoninische, d. h. binnenreimende Hexameter (und Pentameter) verfasst habe,9 und er überliefert eine entsprechende Grabinschrift, die Johannes und seine beiden Brüder Ludovicus und Petrus für den Vater aufstellen ließen. Da jedoch der 5 6
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Ein kurzer biographischer Eintrag bei Vincenzo Caputo: I poeti italiani dall’antichità ad oggi. Dizionario biografico, Mailand 1960, S. 430. Das biographische Verhältnis von Pingonius und Nagonius muss noch geklärt werden. Zu Person und Werk vgl. Derossi (Anm. 3), S. 122 f.; Rossotti (Anm. 3), S. 493–495. Die Handschrift Turin, BN, 0353–54 (olim M M III 5–6) aus dem 19. Jahrhundert überliefert Sabaudiae Historiae des F.(ilibertus) Pingonius, vgl. Kristeller (Anm. 4), S. 175. Turin, BN, Incerto 9 (X 9), ein Codex des 16. Jahrhunderts, tradiert zudem Gedichte auf Margarete von Valois, von denen einige aus der Feder des Philibertus Pingonius und des Petrus Maria Pingonius stammen; vgl. hierzu Gustavo Vinay: Contributo alla identificazione di alcuni manoscritti frammentari della Nazionale di Torino. In: Aevum 21 (1947), S. 209–232, hier S. 230, Nr. 113. Die Handschrift Turin, BN, Miscellanea Vernazza (eine Sammlung einzelner Blätter) bietet am Ende Notizen von Giuseppe Vernazza: Opera Philiberti Pingonii, Bd. 81, Nr. 8 u. Bd. 85, Nr. 4; vgl. auch Kristeller (Anm. 4), S. 184. Überliefert in der Handschrift Turin, BN, F V 5, fol. 216r-v (Abdruck im Anhang dieses Beitrags). Vgl. Vincenzo Lancetti: Memorie intorno ai Poeti laureati d’ogni tempo e d’ogni nazione, Mailand 1839, S. 221 f.; nicht verzeichnet bei Albert Schirrmeister: Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2003 (Frühneuzeitstudien N. F. 4). Sie werden in der Vita mit einer an die mittelalterliche Praxis anklingenden Bezeichnung auch rithmi genannt (obwohl es sich um endreimende Metren handelt).
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Reim in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien und bald darauf auch nördlich der Alpen als eine bereits antiquierte, typisch ‚mittelalterliche‘ Technik galt, überrascht es nicht, dass Pingonius diese poetische Methode nach seinem Wechsel an die römische Kurie konsequent vermieden und in seinen Versen nur noch antike Klauseln benutzt hat. Von seinen zahlreichen Werken hat sich jedoch nicht die in langen Jahren entstandene ‚römische‘, d. h. für ein kuriales Publikum komponierte Poesie erhalten, sondern nur jener Teil, welcher mit der zeitgenössischen Geschichte und Verherrlichung Savoyens und seiner Herzöge befasst ist. Doch selbst dieser Teil wäre beinahe untergegangen: Die Gedichte des Pingonius werden unikal tradiert in der Handschrift Turin, Biblioteca Nazionale, cod. F V 5 (Pasini 489),10 einem an Philibert II. (1480–1504), den Herzog von Savoyen, adressierten Widmungsexemplar. Dass dieser Überlieferungsträger noch existiert, ist nur einem glücklichen Zufall zu verdanken. Denn während des großen Brandes der Turiner Bibliothek im Jahr 1904 wurden zwar der Einband und die Seitenränder des Codex so stark beschädigt, dass jeweils auf den Recto-Seiten die Versenden, hingegen auf den Verso-Seiten die Versanfänge sowie die Randglossen heute nicht mehr lesbar sind; der wesentliche Inhalt der Texte lässt sich jedoch noch klar erkennen. III. Das Textensemble des Codex F V 5 (Pasini 489) III.1 Die Panegyris Die in diesem Codex mutilus enthaltenen Werke sind von Pingonius an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert komponiert worden. Sie befassen sich also mit der Blütezeit des Herzogtums Savoyen, welches damals eine wichtige Rolle auf der kirchen- und machtpolitischen Bühne Europas spielt.11 Diese herausragende kulturelle und politische Bedeutung des Fürstentums endet jedoch 1536 mit der Okkupation durch Frankreich.12 Sämtliche Texte der Turiner Handschrift sind ausgerichtet auf den bereits erwähnten Philibert II. (den Schönen), welcher seit 1497 als Herzog von Savoyen herrscht und am 1. Dezember 1501 in Brüssel Margarete von Österreich (1480–
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Vgl. Josephus Pasinus: Codices manuscripti Bibliothecae Regii Taurinensis Athenaei, Bd. 2: Latini, Italici & Gallici, Turin 1749, S. 112 f.; nicht verzeichnet bei Albano Sorbelli: Inventari dei manoscritti delle biblioteche d’Italia. Opera fondata dal Prof. Giuseppe Mazzatinti, Bd. 28: Torino, Biblioteca Nazionale, Florenz 1922. Vgl. Brondy/Demotz/Leguay (Anm. 3), S. 291–437. Vgl. Roger Devos/Bernard Grosperrin: La Savoie de la Réforme à la Révolution française, Rennes 1985 (Éditions Ouest-France 3), S. 17–24.
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1530), die Tochter des Kaisers Maximilian I., heiratet.13 Als Schwiegersohn ist Philibert in diesen Jahren dessen wohl wichtigster Helfer in Italien, zur strategischen Absicherung seiner Position kooperiert er jedoch auch mit König Ludwig XII. (1498–1515) von Frankreich. Seit 1497 führt er den Titel eines Königs von Zypern, Jerusalem und Armenien. Das poetische Œuvre, welches in der Turiner Handschrift überliefert wird, umfasst eine Serie von Texten, die ausnahmslos an Herzog Philibert adressiert sind: Zu Beginn steht ein mit dem passenden Titel Panegyris versehenes enkomiastisches Epos, das aus drei Büchern besteht und ingesamt knapp 3900 Hexameter umfasst.14 Das Werk muss zwischen 1501 (Heirat Philiberts mit Margarete) und 1505 (Tod des Autors) vollendet worden sein. Über den Inhalt gibt der Beginn des ersten, 1407 Hexameter umfassenden Buches Auskunft (fol. 1r):15 Arma Phyliberti describimus Clara ducis, quantumque parens Gessit in Ausonia. Bis victa Neapolis ide Approbat, insignes16 genitoris laudat et a Parthenope, vultumque patris commendat 17, Et quantum Solymi tollunt ad sydera 18, Illustres proavos et avos celebresque nep Laudibus innumeris, antiqua Sabaudia Quos genuit decorata notis pulchrisque tri Imperio subiecta tuo, quotiesque19 vetustam Iherusalem sanctosque locos20 animosa rede
Zur Person vgl. Renata Crotti Pasi: Art. „Filiberto II“. In: Dizionario biografico degli italiani 47 (1997), S. 652–654. 14 Der Text wird in den folgenden beiden Incipitarien nicht verzeichnet: Hans Walther, Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris Latinorum. Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittelalterlicher Dichtung, 2. Aufl. Göttingen 1969 (Carmina medii aevi posterioris Latina I,1); Ludwig Bertalot: Initia Humanistica Latina. Initienverzeichnis lateinischer Prosa und Poesie aus der Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts, Bd. I: Poesie. Im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts in Rom bearbeitet von Ursula Jaitner-Hahner. Mit einer Vorrede von Paul Oskar Kristeller, Tübingen 1985. Das Epos wird auch nicht erwähnt in der ansonsten ausgezeichneten Übersicht von Heinz Hofmann: Von Africa über Bethlehem nach America. Das Epos in der neulateinischen Literatur. In: Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik. Hrsg. von Jörg Rüpke, Stuttgart 2001 (Potsdamer altertumswissenschaftliche Beiträge 4), S. 130–182. 15 Rekonstruktion der verbrannten Versschlüsse gemäß Pasinus (Anm. 10), Bd. 2, S. 112 f., welcher die ersten Verse des zu seiner Zeit noch intakten Codex zitiert. Übersetzungen stammen hier und im Folgenden von Th. H. 16 Korrigiert aus insignem. 17 Randglosse: lippus dux, pater ducis Phyliberti, expeditionem hab Neapolitanam rege olo Francorum. 18 Vgl. Ovid, Fasti II 75: tollens ad sidera voltum; ähnlich Met. I 731. Vgl. Ovid, Met. IX 175: tollens ad sidera palmas. 19 Korrigiert aus quotiensque. 20 Über die Zeile geschrieben: lares. 13
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Hostibus invisis, propter quod nobilis albam21 Portat terra crucem, dominis22 insigne serenis23. Quid referam ulterius, dux inclyte, bellica , Castra ducum, votis patulum celebrata per Omnibus, […]? (V. 1–16) (Wir beschreiben mit wohlklingender Stimme die glänzenden Waffentaten des Herzogs Philibert und auch, welche großen Leistungen sein Vater Philipp in ausonischen [d. h. italischen] Landen vollbracht hat. Das zweimal besiegte Neapel bezeugt ebendies, und Parthenope [d. h. Neapel] lobt die aufgrund ihrer Kühnheit berühmten Taten des Vaters [d. h. Philipps II.] und empfiehlt sein ritterliches Antlitz, und [sc. wir beschreiben auch,] wie sehr die Gefilde von Jerusalem die großen Vorfahren, Großväter und Enkel durch zahllose Lobeshymnen zu den Sternen emporheben, jene, die das alte Savoyen hervorgebracht hat, welches mit schönen Auszeichnungen und Triumphen verziert und Deiner Macht unterworfen ist, und [sc. wir beschreiben,] wie häufig es [d. h. Savoyen] beherzt das alte Jerusalem und die heiligen Stätten von üblen Feinden befreit hat, weshalb dieses edle Land als Wappen für seine erlauchten Herren ein weißes Kreuz trägt.24 Berühmter Herzog! Was soll ich darüber hinaus noch berichten von Euren Kriegstaten, den Feldzügen der Herzöge, die doch auf der weiten Welt in den Dankgebeten aller Menschen gepriesen werden?)
Auch wenn hier der Texttypus, dem das Gedicht angehören soll, nicht explizit genannt wird (z. B. durch Verwendung der Gattungstermini carmen heroicum oder carmen epicum), erkennt jeder zeitgenössische Leser bereits in diesen ersten Versen, dass es sich um ein Epos handelt. Denn Pingonius spielt (insbesondere in den Versen 1 und 15) auf die einleitenden Hexameter der beiden zu seiner Zeit berühmtesten lateinischen Gattungsvertreter an: So beginnt Vergils Aeneis, das bekannteste Epos der Antike, mit den Signalwörtern: Arma uirumque cano (I 1); des Weiteren heißt es in der Aeneis: bellaque iam fama totum uulgata per orbem (I 457). Die Alexandreis des Walter von Châtillon, die größte epische Leistung des lateinischen Mittelalters, setzt hingegen mit dem Vers ein: Gesta ducis Macedum totum digesta per orbem (I 1).25 Herzog Philibert erscheint dem Leser somit in Personalunion als ein zweiter Aeneas, der Italien unterwirft, und als ein zweiter Alexander, der den Nahen Osten und das Heilige Land seinem Machtbereich einverleibt. Der Dichter verkündet zugleich die Absicht, die militärischen Leistungen nicht nur des Herzogs Philibert, sondern auch diejenigen seines Vaters Philipps II. (1438–1497, Herzog 1496–1497) sowie der gesamten Dynastie narrativ zu bewältigen. Die historischen Schauplätze liegen zum 21 22 23 24 25
Über die Zeile geschrieben: ideo crucis alma nitescunt. Über die Zeile geschrieben: stemmata perpetuis servata. Randglosse: num victorie Iheromitane duces Sabaudie albam portant pro insignibus. Ein weißes Kreuz auf rotem Grund. Hier zitiert nach: Galteri de Castellione Alexandreis. Hrsg. von Marvin L. Colker, Padua 1978 (Thesaurus mundi 17).
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einen in Italien (denn Philipp beteiligt sich an dem epochalen Feldzug, welchen Karl VIII. von Frankreich 1494/95 in Italien und gegen Neapel führt); zum anderen wird die Expedition zur Befreiung Jerusalems angesprochen. Thematisch bewegt sich das Werk somit auf der Grenzscheide zwischen dem klassischen heroischen Epos und dem speziellen, seit dem 11. Jahrhundert etablierten Typus des Kreuzzugsepos. Auch die im ersten Vers verwendete Junktur ore canoro verweist auf das genus grande der lateinischen Poesie. Der Aspekt der Verherrlichung wird zudem in Vers acht durch die Formulierung Laudibus innumeris explizit formuliert. Hätte der Leser nicht schon durch den intentional definierten Titel Panegyris hinreichende Klarheit über die texttypologische Einordnung dieser Dichtung gewonnen, so wüsste er spätestens nach Lektüre der ersten Verse, dass ihn ein panegyrisches Epos auf die Herzöge von Savoyen erwartet. Das erste Buch des Werkes schildert im Wesentlichen den sog. Ersten französischen Feldzug der Jahre 1494/1495 und endet mit der Darstellung einer Szene, in der Vater und Sohn in Rom einziehen (fol. 41r). Das zweite, 1143 Verse umfassende Buch skizziert sodann weitere Kämpfe in Italien sowie die Rückkehr nach Turin. Es endet mit dem Tod des alten Herzogs Philipp II. im Jahre 1497. Das dritte Buch, 1314 Verse umfassend, beginnt auf fol. 73r mit dem Regierungsantritt Philiberts und endet mit dem Aufbruch des Herzogs zum Krieg gegen die Türken. Im Ton des Abschiedsgedichts verheißt Pingonius am Ende auf fol. 110v seinem Fürsten große Siege und die Befreiung Jerusalems: Vade pius, foelix, invictus semper, in hostes Tende libens, populos et debellare rebelles, O Phyliberte, petunt mecum mare, sydera, terre. (V. 1312–1314) (O Philibert, gehe dahin, stets fromm [bzw. gnädig], vom Glück gesegnet und unbesiegt, ziehe mit Freuden gegen die Feinde, um die aufständischen Völker niederzuwerfen. Dafür beten zusammen mit mir das Meer, die Sterne und die Länder.)
Auch hier, am Ende des Opus, greift Pingonius programmatische Formulierungen der vergilischen Aeneis auf: Philibert wird als ein zweiter pius Aeneas (Aen. I 220 u. ö.) dargestellt, der eine von den Göttern bestimmte, historische Mission zu erfüllen hat. Diese besteht in der Besiegung der Türken, der Befreiung des Heiligen Landes und der endgültigen Befriedung der Welt. Ähnlich prognostiziert Anchises im sechsten Buch der Aeneis: Tu regere imperio populos, Romane, memento (hae tibi erunt artes), pacique imponere morem, parcere subiectis et debellare superbos. (VI 851–853) 26 26
Hier zitiert nach: P. Vergili Maronis Opera. Recognovit brevique adnotatione critica instruxit Roger Aubrey Baskerville Mynors, 7. Aufl. Oxford 1985 (Scriptorum classicorum bibliotheca Oxoniensis).
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(Du, Römer, denke daran, durch deine Macht die Völker zu lenken – das werden deine Künste sein – und den Frieden zu ordnen, die Unterworfenen zu schonen und die Aufständischen niederzuwerfen.)
Hier wird das Werk erneut dem Genre des Epos zugeordnet. Die Panegyris endet mit der folgenden handschriftlichen Notiz: Finis carminis heroici et libri tertii poetae Johannis Michaelis Pingonii, Romani. (fol. 110v); („Ende des heroischen Gedichts und des dritten Buches des Dichters und römischen Bürgers Johannes Michael Pingonius.“) In einer vorläufigen Bilanz darf man konstatieren, dass die Bedeutung dieses carmen heroicum weniger in seinem Inhalt denn in seiner literaturgeschichtlichen Stellung liegt: Es handelt sich um das erste lateinische Epos auf einen Herzog von Savoyen. Die Existenz des Gedichts demonstriert den machtpolitischen Aufstieg dieses recht kleinen, doch strategisch wichtigen Fürstentums, welcher mit der Wahl des Herzogs Amadeus VIII. von Savoyen zum Papst Felix V. im Jahr 1439 eingeläutet worden ist. Da Philibert durch seine Heirat mit der Kaisertochter in den europäischen Hochadel aufrückt, hat er es gleichsam verdient, in einem lateinischen Epos verherrlicht zu werden. III.2 Die Epigrammata Es folgt in der Turiner Handschrift auf fol. 111r eine lyrische Sammlung von Epigrammata, welche in zwei Büchern etwa hundert Gedichte (jeweils im Umfang von 10 bis 350 Versen) präsentiert. Die in Distichen und verschiedenen lyrischen Metra komponierten Texte wenden sich ebenfalls ausnahmslos an Philibert und glänzen durch zahlreiche gelehrte Anspielungen auf die antike Mythologie und Geschichte; Zeitbezüge findet man hingegen kaum. Nur die geplante Befreiung Jerusalems wird immer wieder thematisiert. Im ersten Text spricht Pingonius den Herzog erneut an: Omnis honor cedat: Gener es nam Cesaris alt, Aurea per quem nunc secla Sabauda tenet. Terra Phyliberto bellatrix plaude sereno, Cesaris ut maneat mitis in orbe gener. (V. 11–14) (Jede andere Ehrung trete zurück. Denn du bist der Schwiegersohn des Kaisers, durch den Savoyen nun ein goldenes Zeitalter erlebt. Kriegerisches Land [d. h. Savoyen], applaudiere dem erlauchten Philibert, auf dass der Schwiegersohn des Kaisers gnädig auf der Welt bleibe.)
Da der Herzog hier und in vielen anderen Texten der Sammlung als Schwiegersohn des Kaisers tituliert wird, kann die lyrische Kollektion frühestens im Jahr 1501 vollendet worden sein. Trotz ihrer formalen Differenz verfolgt sie dasselbe Ziel wie die im Codex vorhergehende epische Panegyris: Beide
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Teile dienen ausschließlich der literarischen Glorifizierung des Fürsten. Im ersten Buch der Epigrammata findet man auf fol. 134r ein weiteres distichisches Gedicht, in dem es hierzu programmatisch heißt: O Phyliberte, tuum solita pietate poetam Suscipe. Nam domino plectra canora tulit. Carmina sint quamvis, querit que laurea vestra, Parva tibi, magnis noster Apollo vacat Ludere nec tenui vestros meditatur honore Sed cupit Andina scribere gesta tuba. (V. 1–6) (O Philibert, nimm deinen Dichter in gewohnter Gnade auf. Denn er hat seinem Herrn wohlklingende Melodien überbracht. Obwohl diese Lieder, welche euer Ruhm erfordert, für dich zu gering sind, so ist doch unser Apoll bereit, in bedeutenderen Weisen zu spielen, und nicht sinnt er darüber nach, Euren Ruhm mit zartem Instrument [sc. mit einer Flöte] zu besingen, sondern er wünscht Eure Taten mit der andinischen Posaune zu beschreiben.)
In dieser Passage, welche mit Anspielungen auf den – aus dem Dorf Andes stammenden – Dichter Vergil durchsetzt ist,27 schärft Pingonius das Profil zweier Gattungen durch Kontrastierung: Bisher hat er seinem Herzog Gedichte angetragen, die auf der zarten Flöte gespielt, d. h. im Genre der Lyrik angesiedelt sind. Die Heldentaten des Herzogs verlangen nun jedoch nach einer lauten Posaune, d. h. nach einer epischen Darstellung, die in der Tradition der Aeneis steht. Hiermit dürfte die damals im Entstehen begriffene Panegyris gemeint sein (oder ein weiteres Epos über die zukünftigen Erfolge in Jerusalem). Wie sein Vorbild Vergil, so vollzieht auch Pingonius eine texttypologische Sukzession, die ihn von der Lyrik zur Epik führt. Der Dichter kündigt dabei zwar einen Wechsel des musikalischen Instrumentes (d. h. der literarischen Form) an, der Adressat und die Intention bleiben jedoch unverändert: Auch die nun folgende Epik dient der Verherrlichung des Fürsten. Die enkomiastische Melodie erfährt keine Veränderung, sie wird jetzt lediglich mit größerer Lautstärke gespielt. Am Ende des ersten Buches dieser Epigrammata heißt es sodann auf fol. 170v: Finis quarti libri. Sequitur quintus liber eiusdem poetae Joannis Michaelis Pingonii civis Romani et poetae laureati. („Ende des vierten Buches. Es folgt das fünfte Buch desselben Dichters Johannes Michael Pingonius, des römischen Bürgers und gekrönten Dichters.“) Eine solche Bemerkung ist außerordentlich erstaunlich: Obwohl die epische Panegyris abgeschlossen ist, setzt der Autor deren Buchzählung in der Lyrik fort: Das erste Buch der Epigramme bildet somit das vierte Buch des Gesamtwerks. Auf fol. 171r beginnt sodann das fünfte Buch (d. h. Buch 2 der Epigramme), welches ebenfalls dem Ziel der Glorifizierung dient. Auf fol. 27
Die Formulierung verweist insbesondere auf Vergil, Ecl. I 2 (siluestrem tenui Musam meditaris auena) und Georg. IV 564 (carmina qui lusi pastorum audaxque iuuenta).
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187v-188r begegnet hier ein in Hendekasyllaben komponiertes Gedicht, das Auskunft über das poetische Selbstverständnis des Pingonius gibt: O dilecta deo ducique tanto, Tu Sabaudia, et o beata multum, Que gaudere tuo potes poeta, Phoebo carmina digna qui reponit. Torvo Mantua leta sit Marone, Iactet Parthenope Papiniumque Et vates celebrent suos Hiberi: Tu gaudere tuo potes poeta. Iste est regius, elegans, politus, Qui nunc Iherusalem canet triumph, Constantinopolim disertus urbem Et sic imperium malis ademptum Thurcis et modo barbaris subactum. (V. 13–25) (O von Gott und dem großen Herzog geliebtes und vielfach beglücktes Savoyen! Du kannst dich über deinen Dichter freuen, welcher Verse schmiedet, die des Phoebus würdig sind. Mantua mag glücklich sein über den finsteren Maro [d. h. Vergil], und Neapel mag sich mit Papinius [sc. Statius] brüsten, und die Spanier sollen ihre eigenen Dichter [d. h. die Epiker Lucan und Prudentius] preisen. Du hingegen kannst dich deines Dichters erfreuen. Dieser ist [sc. in seinen Versen] königlich, anmutig und wohlgestaltet. Er wird nun in Siegesliedern Jerusalem und redegewandt die Stadt Konstantinopel besingen und [sc. er wird darstellen], wie auf diese Weise [d. h. durch die Siege des Herzogs] den bösen Türken die Herrschaft genommen und diese jetzt den Barbaren unterworfen worden ist.)
Pingonius weist hier zunächst die scheinbar übermächtige Tradition der antiken Epik in ihre Schranken: Andere Länder und Regionen mögen ihre lokalen Dichter loben; er selbst hingegen ist ‚der‘ Dichter Savoyens. Durch die von ihm in Versen behandelten Themen (Befreiung der Städte Konstantinopel und Jerusalem von den Türken) wird seine – angeblich ohnehin qualitätvolle – Poesie noch weiter nobilitiert, ja sie mag sich aufgrund der materia sogar über die anderen Dichter erheben. Es ist auffällig, dass Pingonius hier nicht zwischen Lyrik und Epik unterscheidet. Und es dürfte kein Zufall sein, dass sich auch die beiden namentlich genannten antiken Poeten, welche Pingonius zum Vergleich anführt (Vergil und Statius), sowohl im lyrischen als auch im epischen Genre betätigt haben (dasselbe gilt für Prudentius, nicht jedoch für Lucan). Das fünfte Buch schließt auf fol. 204r mit der Bemerkung: Finis quinti libri et ultinis lirici hendecllab poetae. („Ende des fünften Buches und des letzten lyrischen, in Elfsilblern verfassten Gedichts des Autors.“) Wie man auch aus dieser Zählung ersehen kann, bilden die heroische Panegyris (Buch 1–3) und die lyrischen Epigrammata (Buch 4–5) nach dem Willen des Autors eine kompositorische Einheit. Mit dem Ende des fünften Buches ist diese abgeschlossen. Im Turiner Codex folgt sodann auf
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fol. 204v die Ankündigung: Beatissimis Phyliberto duci et ducissae Margaritae carmen nuptiale eiusdem poetae Johannis Michaelis Pingonii. („Hochzeitslied desselben Dichters Johannes Michael Pingonius für Herzog Philibert und Herzogin Margarete.“) Dieser auf fol. 205r beginnende, 142 Hexameter umfassende Text ist somit anlässlich der Heirat von Philibert und Margarete im Jahr 1501 komponiert worden. Er zählt formal nicht zu dem vorhergehenden Opus, sondern stellt ein eigenständiges Lied dar, das auf fol. 208v mit dem Hinweis endet: Finis. Auf derselben Seite findet sich eine weitere Bemerkung: Ad eundem excellentissimum Sabaudie ducem de nuptiis futuris sylva edita subito calore per eundem poetam laureatum. („Ein an denselben vortrefflichsten Herzog von Savoyen gerichtetes Lied über die bevorstehende Hochzeit, verfasst von demselben gekrönten Dichter aus einem spontanen Impuls.“) Auch dieses titellose Poem von 104 Hexametern ist somit im Jahr 1501 entstanden. Es schließt auf fol. 211v mit der Bemerkung: Finis. / Vir illustrissime domine. / Idem servulus poeta laureatus. („Ende. [sc. Sei gegrüßt,] erlauchtester Mann und Herr! [sc. Dies sagt] derselbe unbedeutende Diener, der gekrönte Dichter.“) Auf fol. 212r folgt schließlich ein weiteres, moralisierendes Gedicht von 101 Versen, dessen nur fragmentarisch überlieferte Überschrift lautet: Ad eundem excellentissimum Sabaudie ducem Phylibertum carmen emphaticum, quo po ut semper virtutes colat vivatque […]. tuos […]. („Ein an denselben Philibert, den erlauchtesten Herzog von Savoyen, gerichtetes Lied, in dem mit Nachdruck gefordert wird, dass er stets ein tugendhaftes Verhalten zeige und lebe […]. Deine […].“) Am Ende liest man auf fol. 214v noch den Eintrag: Finis voluminis. / Vir illustrissime domine. / Devotus servulus Johannes Michaelis Pingonius, civis Romanus et poeta laureatus idem. („Ende des Bandes. [sc. Sei gegrüßt,] erlauchtester Mann und Herr! [sc. Dies sagt] derselbe ergebene Diener Johannes Michael Pingonius, römischer Bürger und gekrönter Dichter.“) Wie Blatt 215r zeigt, stellt der Turiner Codex ein Widmungsexemplar dar.28 Denn hier heißt es: Splendidissimo Phylib duci totum opus nostrum ob eius immortalitat editum dedicavimus pie. („Untertänigst gewidmet haben wir dem prächtigsten Herzog Philibert unser Gesamtwerk, welches verfasst worden ist, um ihm Unsterblichkeit zu verleihen.“) Offenbar ist jedoch nachträglich noch ein zweiter Widmungsnehmer hinzugefügt worden; denn es heißt ferner: et Margarite […], Caesareane coni bene merenti. („und [sc. gewidmet] auch der Margarete, der Tochter des Kaisers und würdigen Gemahlin.“) Vielleicht hat Pingonius diesen Zusatz 1504 nach dem Tode des Herzogs vorgenommen. Wie sich aus den Kolophonen 28
Allerdings weist der Codex einige nachträglich interlinear angebrachte Korrekturen und Varianten auf. Dies könnte darauf hindeuten, dass entweder die geplante Übergabe nicht stattgefunden hat oder aber der Dichter seine Werke für eine mögliche Drucklegung noch einmal überarbeiten wollte.
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ergibt, lebte er zur Zeit der Widmung dauerhaft in Rom, doch hat er sich vielleicht anlässlich der Übergabe für kurze Zeit wieder in Savoyen aufgehalten. Ob Philibert den Codex in Empfang nehmen und den Autor belohnen konnte, ist nicht bekannt. Er stirbt schon im Herbst 1504 als junger Mann im Alter von nur 24 Jahren. Bereits wenige Monate später folgt ihm der Dichter in den Tod. IV. Fazit: Panegyrik als episch-lyrische Synthese Das in dieser Handschrift tradierte literarische Œuvre umfasst nach vorsichtiger Schätzung mehr als zehntausend Verse. Da die Gedichte immer wieder auf zeitgenössische Ereignisse und Personen Bezug nehmen, stellen sie – über ihren bedeutenden poetischen und literaturgeschichtlichen Wert hinaus – eine wichtige Quelle für die Geschichte Savoyens in der Hochrenaissance dar. Trotz ihrer Attraktivität sind sie bisher unerforscht.29 Innerhalb der modernen Literaturgeschichtsschreibung ist der Dichter deshalb eine unbekannte Größe; eine Edition seiner überlieferten Texte fehlt bislang. Ungewöhnlich ist nicht so sehr ihr Inhalt wie ihre handschriftliche Präsentation: Wie die Gliederung des Turiner Widmungsexemplars belegt, synthetisiert Pingonius ohne texttypologische Scheu ein heroisches Epos und eine Sammlung lyrischer Gedichte zu einem aus fünf Büchern bestehenden Gesamtwerk (die kleineren Texte am Ende der Handschrift werden hingegen nicht in dieses Opus integriert). Wenngleich ein solches Vorgehen innerhalb der zeitgenössischen Latinität außergewöhnlich, vielleicht sogar singulär ist, sollte man berücksichtigen, dass Pingonius in seinem Werk die zwischen Epik und Lyrik verlaufenden texttypologischen Grenzen keineswegs aufhebt. Er kreiert keine neue Literaturgattung, sondern vollzieht die Synthese nur auf der materiellen Ebene des Codex und in der Addition der einzelnen Bücher. Gerade hinsichtlich der Formalia, d. h. vor allem hinsichtlich der Versmaße und der Sprechhaltung, werden die poetologisch etablierten Gattungsdifferenzen durchaus gewahrt.30 Hervorgehoben wird allerdings der gemeinsame texttypologische Nenner, welcher das behandelte Personal und die auktoriale Intention betrifft.31 In seiner Ars poetica hat 29 30
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Eine umfangreiche Studie zu den Texten ist in Vorbereitung. Es lässt sich jedoch in der epischen Panegyris beobachten, dass die Narration immer wieder von ausgedehnten hymnischen Partien unterbrochen wird, welche nicht die Handlung vorantreiben, sondern in einer präsentistischen oder zeitlosen Perspektive den Fürsten glorifizieren. Umgekehrt enthalten die grundsätzlich präsentistischen Epigrammata zahlreiche Pround Retrospektiven, in denen auch mit narrativen Mitteln verkündet wird, welche Leistungen Philibert entweder bereits vollbracht habe oder noch vollbringen werde. – Die Narration bildet somit das Fundament und die Begründung der hymnischen Verehrung. Vgl. Franz Bittner: Studien zum Herrscherlob in der mittellateinischen Dichtung, Diss. Würzburg 1962; Annette Georgi: Das lateinische und deutsche Preisgedicht des Mittelal-
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Horaz kurz und bündig erklärt, dass im Epos die kriegerischen Heldentaten von Königen und Fürsten verherrlicht würden.32 Nach mittelalterlichem Verständnis dient die Lyrik einem ähnlichen Zweck, da sie ebenfalls auf das Lob von Göttern und Königen zielt.33 Dass sich insbesondere hinsichtlich der enkomiastischen Intention eine poetische Schnittmenge finden lässt, ergibt sich unmittelbar aus dem Umstand, dass die numerisch wie quantitativ beeindruckende Menge jener lateinischen Epik, welche das Mittelalter und die Renaissance hervorgebracht haben, zum weitaus überwiegenden Teil dem speziellen Typ des zeitgeschichtlich-panegyrischen Epos angehört, in dem lebende Herrscher und deren Dynastien, Völker und Territorien verherrlicht werden.34 Ähnlich wie die Lyrik ist somit auch die Epik in den meisten Fällen als eine laus regum gestaltet, in der die hymnische Stimme des Dichters erklingt. Während ein Autor, der die Form des antikisierenden Epos wählt und somit über eine ferne und vergangene Zeit schreibt, einen moralisierenden, ja sogar kritischen Ton anschlagen darf, ist jener Dichter, der über ein zeitgeschichtliches Thema arbeitet, nach poetischem Gesetz dazu verpflichtet, Panegyrik zu betreiben. Diese Tendenz, Poesie ad maiorem gloriam principis zu verfassen, verstärkt sich, je weiter man auf der Zeitachse voranschreitet. In der Renaissance erobert die Panegyrik in nahezu allen literarischen Gattungen, somit auch in der Lyrik, eine beherrschende Position. Das verinnerlichte, an die Person des Dichters gerichtete und somit als Selbstgespräch organisierte lyrische Poem wird hingegen immer seltener. Jedes Metrum, jedes Genre, jeder Gedanke orientiert sich an der Figur des Fürsten.35 Es wäre aus Sicht eines Dichters, der im Dienst eines Herrschers steht, nicht nur taktisch verfehlt, sondern sogar ein Affront, in irgendeiner von ihm gepflegten Gattung auf eine Glorifizierung zu verzichten. Ein Pingonius dimidiatus, der seine Panegyris auf Herzog Philibert ausrichtete, seine Epigrammata hingegen ters in der Nachfolge des genus demonstrativum, Berlin 1969 (Philologische Studien und Quellen 48). 32 Vgl. Horaz, Ars poet. V. 73 f.: res gestae regumque ducumque et tristia bella / quo scribi possent numero, monstravit Homerus. („In welchem Versmaß die Taten und traurigen Kriege der Könige und Fürsten geschrieben werden können, hat Homer gezeigt.“) 33 Vgl. Honorius Augustodunensis: De animae exilio et patria. In: PL 172, Sp. 1241–1246, hier Sp. 1243 D. (Cap. II): lyrica, quae odas, id est laudes deorum vel regum hymnilega voce resonant. („Lyrische Stücke geben mit hymnischer Stimme Oden, d. h. Loblieder auf die Götter oder auf Könige, wieder.“) 34 Vgl. Thomas Haye: Die Ästhetisierung der Zeitgeschichte aus dem Geist des antiken Epos – Begründungen lateinischer Panegyrik im frühen und hohen Mittelalter. In: Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung. Hrsg. von Ernst Osterkamp, Berlin, New York 2008 (Transformationen der Antike 6), S. 97–109; Hofmann (Anm. 14), S. 146. 35 Vgl. Patronage in the Renaissance. Hrsg. von Guy Fitch Lytle/Stephen Orgel, Princeton, N. Y. 1981 (Folger Institute essays); The search for a patron in the Middle Ages and the Renaissance. Hrsg. von David G. Wilkins/Rebecca L. Wilkins, Lewiston, N. Y. u. a. 1996 (Medieval and Renaissance Studies 12).
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Thomas Haye
nicht, wäre somit kaum vorstellbar. Die Approximation und Iuxtaposition der beiden literarischen Gattungen im Turiner Codex gründet also nicht in dem Wunsch des Autors nach Überwindung texttypologischer Grenzen oder in dem Bestreben, auf einer metapoetischen Ebene mit ihnen zu spielen. Eine Einebnung ist keinesfalls beabsichtigt. Vielmehr avanciert die Fürstenpanegyrik in dieser Zeit zu einem so dominierenden Faktor, dass sie die formalen Differenzen hinsichtlich des Versmaßes, Umfanges und poetischen Formulars zwar bestehen, jedoch in den Hintergrund treten lässt. Die Gattungen behalten ihre Charakteristika, können jedoch addiert und auf einer höheren Ebene zu einem umfassenden Fürstenlob synthetisiert werden. Epik plus Lyrik ergibt Panegyrik. Anhang Auf fol. 216r-v des Codex findet man eine von anderer Hand niedergeschriebene Vita des Dichters:36 Ioannes Michael Pi, natione Sabaudus, filius fuit viri clarissimi Petri Pingonii, ducumque Sabaudiae consiliarii, et Girardae a Rovenno coniugum. patriae metropoli anno MCCCCLI mense Martio. Hic cum ulti sacris deditus et aliquot sacerdotiis auctus, postquam bonis lite tempora) Sabaudiae et Lutetiae patris exemplo et opera institutus f petiit, adeo profecit non fortunae sed ingenii dotibus, ut inter non infimum obtinuerit eoque nomine et pontificibus Innocentio Pioque III. et magnis aliis viris acceptissimus fuerit. Poesim inte feliciter amplexatus est, licet primum Leoninis delectaretur, vidi in eo genere argutissima carmina. Et illud extat in Camberii insculptum praegrandi marmore: HIC CLARO EST PETRUS DE PINGON SANGUINE CRETUS HOC SAXUM NATI TRES POSUERE PATRI LUDOVICUS PETRUS MICHAEL. Ita postmodum tamen rithmis37 relictis se recoquendum sub viris do optimum vatem euaserit et poeta laureatus Romae magna cum sua fuerit civitateque Romana ex senatus decreto donatus. Hoc vnum opus, q pervenire potuit, esto suae eruditionis certum testimonium. Istud in principum Philiberti Sabaudie ducis octavi et Margaritae Austriaca; quae nuptiae celebratae leguntur mense octobri anno MDI. annum attingebat. Alia plurima scripsit, ut ex hoc veter laceris chartis coniicitur. Obiit Romae anno MDV , magna sui seculi et suorum iactura. Caeterum prodiit. Ab hoc Philibertus, Ludovicus atres, primis annis poesis studio 36 37
Mit wenigen Fehlern abgedruckt auch bei Pasinus (Anm. 10), Bd. 2, S. 112 f. (die durch das Feuer vernichteten Wörter sind von mir nach diesem Abdruck ergänzt). h exp.
Epik plus Lyrik ergibt Panegyrik
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Michaelem imitari temtarunt. tamen, ut vix quisquam alius, sunt consequuti. Vincat, si possit, steritas; optanda semper in bonis literis melior victoria. Hoc pro patruo Philibertus Pingonius posuit: PRIMUS ILISSIADES VOLITARE MICHAEL IN URBEM EDOCUIT MUSAS, QUAE IUGA NOSTRA COLUNT: LISSIA PARNASSUSQUE BICEPS MUSAEQUE SABAUDOS NONNE ETIAM DECORANT? PINGON ID IPSE DOCET. ERGO, SABAUDE, VOLES VECTUS PHILIBERTIDE PENNA. ILLE TUUS VATES. TE TUA ROMA MANET.
II. Episches in Lyrischem
Albrecht Hausmann
Verlust und Wiedergewinnung der Dame Zur inhaltlichen Funktion von Narrativierung und Entnarrativierung im Minnesang I. Narrative Distanz und lyrische Präsenz Stellt man ein einfaches Tagelied wie Slâfest du, vriedel ziere (MF 39,18)1, eine Strophe aus dem Bereich des Frühen Minnesangs (etwa Jô stuont ich nehtint spâte, MF 8,9) und eine komplexe hochminnesängerische Minnekanzone wie etwa Reinmars des Alten Swaz ich nu niuwer maere sage (MF 165,10) nebeneinander, dann fällt sofort ein Unterschied ins Auge: Während bei Reinmar ein Ich über seinen gegenwärtigen Zustand spricht und dafür das Präsens verwendet, geht es im Tagelied und im Wechsel offenbar um etwas Vergangenes, was durch die Verwendung des Präteritums auch explizit wird. Der Unterschied in der Zeitstruktur der Texte ist Ausdruck einer grundsätzlich verschiedenen Inszenierung von Rede: Im Tagelied und auch im Wechsel hat das Gesagte einen narrativen Charakter; letztlich wird hier erzählt, das heißt: Es wird von Abwesendem gesprochen. Dagegen wird bei Reinmar ein Modus der Vergegenwärtigung gewählt, den man als lyrisch bezeichnen kann: Hier spricht ein Ich (das nicht mit dem Sänger oder dem Autor identisch sein muss)2 so von sich und seinem Zustand, als wäre die1
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Ich zitiere nach: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgabe von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser/ Helmut Tervooren, Bd. 1: Text, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. Auf die Debatte um die Authentizität und – im Anschluss daran – Fiktionalität von Minnesang, die durch die Beiträge von Harald Haferland neu entfacht wurde, gehe ich in diesem Beitrag nicht weiter ein. Die entsprechenden Positionen sind zu finden in Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (Beihefte zur ZfdPh 10); Ders.: Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen der Minnesänger für das Verständnis des Minnesangs? In: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik. Hrsg. von Thomas Cramer/Ingrid Kasten, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), S. 232– 252; Ders.: Minnesang als Posenrhetorik. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Albrecht Hausmann unter Mitwirkung von
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Albrecht Hausmann
ser hier und jetzt, im Moment der Rezeption, präsent.3 Es scheint also im Minnesang zwei grundlegend unterschiedliche Möglichkeiten des Sprechens zu geben: Eine narrative Option, mit der Geschehen, das aus der Perspektive der Aufführungssituation logisch in der Vergangenheit liegt, präsentiert werden kann, und eine lyrische Option, in deren Rahmen der Inhalt des Gesagten im Moment der Aufführung gegenwärtig erscheint. Dass im Rahmen dieser zweiten, lyrischen Option von dem als gegenwärtig inszenierten Ich auch wieder erzählt werden kann – es kann sich an Vergangenes erinnern –, liegt auf einer anderen Ebene. Mit der grundsätzlichen kommunikationspragmatischen Differenzierung zwischen narrativer und lyrischer Sprechweise im Rahmen der Aufführung des jeweiligen Liedes hat dies nichts oder nur mittelbar zu tun.4 Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, dass das in der Entwicklung des Minnesangs zu beobachtende Schwanken zwischen diesen beiden Möglichkeiten von Rede eng mit der inhaltlichen Auseinandersetzung um verschiedene Minnekonzepte verknüpft ist; Narrativierung und Entnarrativierung haben also eine inhaltliche Funktion. Schon gar nicht handelt es sich um ein ästhetisch selbstgenügsames Spiel. Deshalb ist es auch nicht möglich, das Phänomen dieses Schwankens zwischen lyrischer und narrativer Option allein mit narratologischen bzw. texttheoretischen Kategorien zu beschreiben. Vielmehr geht es darum zu zeigen, wie sich die Autoren des Minnesangs an einem inhaltlichen Problem abarbeiten und dabei fast zwangsläufig in Schwierigkeiten geraten, die mit seiner pragmatischen Poetik und der Inszenierung von Rede zu tun haben.
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Cornelia Logemann und Christian Rode, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 65–105. Eine Gegenposition vertritt Jan-Dirk Müller: Die Fiktion höfischer Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. In: Hausmann, Text und Handeln (s. o.), S. 47–64. Meine Position dazu wird deutlich in: Albrecht Hausmann, Rezension zu Harald Haferland, Hohe Minne. In: ZfdA 131 (2002), S. 523–529. Ich greife hier zurück auf meinen älteren Vorschlag, die Sprechweisen von Frühem und Hohem Minnesang mit Hilfe der Begriffe narrativ und lyrisch zu differenzieren: Albrecht Hausmann, Die vröide und ihre Zeit. Zur performativen Funktion der Inszenierung von Gegenwart im hohen Minnesang. In: Hausmann, Text und Handeln (Anm. 2), S. 165–184, hier v. a. S. 171–177. Mit diesem Ansatz wollte ich die problematische Unterscheidung zwischen erzählfiktional und rollenspielfiktional revidieren, die ich in meiner Dissertation vorgeschlagen hatte; vgl. Albrecht Hausmann: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), hier S. 96–101. Zur (sicher weitgehend berechtigten) Kritik an dieser Unterscheidung vgl. Jan-Dirk Müller: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar. In: PBB 121 (1999), S. 379–405, sowie Müller (Anm. 2), S. 57–60. Deshalb entspricht meine Unterscheidung nicht der von Volker Mertens: Fragmente eines Erzählens von Liebe. Poetologische Verfahren bei Heinrich von Morungen. In: Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Martin Baisch u. a., Königstein i. Ts. 2005, S. 34–55, hier S. 37: „Schon in der Frühzeit des Minnesangs, im donauländischen Raum, gibt es zwei Arten, von Liebe zu sprechen: Symptome der Liebe zu thematisieren oder Geschichten zu erzählen, also die Narration.“
Verlust und Wiedergewinnung der Dame
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Das inhaltliche Problem, um das es dabei immer wieder geht, ist die fiktive Instanz der Frau,5 oder genauer: die Verfügbarkeit der Frau. Einem Erzähler ist die Figur, von der er erzählt, natürlich verfügbar; erzählt er von der Frau, wie es der Sänger des Frühen Minnesangs tut, dann kann er bestimmen, was sie gesagt, getan oder gedacht hat. Aber durch das explizite (häufig beim Tagelied) oder implizite (häufig beim Wechsel) Präteritum ist diese Fiktion im Frühen Minnesang zugleich distanziert in der Vergangenheit verortet und damit im Hier und Jetzt niemals präsent. Dem Liebenden des Hohen Minnesangs dagegen, der sich zugleich als Sänger inszeniert und der damit in der Aufführung gänzlich präsent erscheint, ist die Frau auf andere Weise unverfügbar: Die Fiktion unterliegt einem redepragmatischen Tabu. Der Sänger kann eben nie wissen und sagen, was die Frau denkt und tut, denn er kann nicht von ihr erzählen – das wäre rüemen, Angeberei. Es geht im Folgenden darum, diese Zusammenhänge als Entwicklung darzustellen, als fortgesetzten Prozess der Transformation einer tiefliegenden Aporie, die in den minnesängerischen Diskursen immer wieder zum Vorschein kommt, aber auch immer wieder in die Latenz verschoben wird. Daraus aber – so die These – bezieht die Entwicklung des Minnesangs um 1200 ihre Dynamik. 6 II. Narrative Distanzierung durch Frauenrede im Frühen Minnesang Ich lac den winter eine. wol trôste mich ein wîp, vore si mir mit vröiden kunde die bluomen und die sumerzît. daz nîden merkaere. dêst mîn herze wunt. ez enheile mir ein vrowe mit ir minne, ez enwirt niemêr gesunt. ‚Nû heizent sî mich mîden einen ritter: ich enmac. swenne ich dar an gedenke, daz ich sô güetlîchen lac, verholne an sînem arme, des tuot mir senede wê. von im ist ein als unsenftez scheiden, des mac sich mîn herze wol entstên.‘ (MF 16,15-26) (Den Winter über verbrachte ich meine Nächte allein. Gewiss hat mich eine Frau früher getröstet, damals verkündete sie mir mit Freude die Blumen (des Frühlings) und den Sommer. Das missgönnen die Aufpasser. Deshalb ist mein Herz verletzt. Es wird nie wieder gesund, außer eine bestimmte Dame heilt es mir mit ihrer Liebe. ‚Jetzt sagen sie mir, ich dürfe einen bestimmten Ritter nicht mehr sehen. Das kann ich nicht! Immer wenn ich daran denke, wie ich heimlich so wundervoll in seinem Arm lag, überkommt mich der Liebesschmerz. Es tut so weh, sich von ihm zu verabschieden, dass mein Herz das wahrlich zu spüren bekommt.‘) 5 6
Nach wie vor grundlegend für die Darstellung der Frau im Minnesang ist Günther Schweikle: Die frouwe der Minnesänger. Zu Realitätsgehalt und Ethos des Minnesangs im 12. Jahrhundert. In: ZfdA 109 (1980), S. 91–116. Vgl. dazu Hausmann, Reinmar (Anm. 3), S. 156.
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Prägend für den sogenannten frühen oder donauländischen Minnesang sind Frauenstrophen;7 das Ich, das hier im Text selbst spricht, ist offensichtlich nicht identisch mit dem männlichen Sänger, der das Lied vor einem Publikum vorträgt.8 Dieser Sänger schlüpft nicht etwa in die Rolle einer Frau – wie dies beispielsweise ein männlicher Frauendarsteller auf der Shakespearebühne tat –, vielmehr trägt er seinem Publikum vor, was eine Frau an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit sagte, dachte und tat. Diese Diachronie ist auch dann eine Form narrativer Distanz, wenn ein erläuternder präteritaler Zusatz wie sprach das wîp (z. B. MF 8,12) oder ähnliches fehlt. Auch ohne explizite Erzählerrede wird hier eine präsentische, für sich genommen nicht narrative Rede – nämlich die Rede der Frau – narrativ eingeklammert und dadurch in die Vergangenheit verschoben. In Frauenstrophen wird besonders klar erkennbar, was Rainer Warning im Zusammenhang mit dem Minnesang als Situationsspaltung bezeichnet hat.9 Die Situation, in der sich die Frau im Text befindet, ist offenbar nicht identisch mit der Situation, in der Sänger und Publikum aktuell interagieren. Die Differenz im Geschlecht zwischen textinternem Ich und textexternem Sänger macht diese Situationsspaltung beim Rezipienten in besonderer Weise wahrnehmbar. Dies hat übrigens noch gar nichts mit Fiktionalität zu tun:10 Die Situationsspaltung selbst ist noch kein sicheres Merkmal für den fiktionalen Charakter des Gesagten. Evoziert wird lediglich der Eindruck einer Distanz zwischen Erzähltem und Erzählen, und das heißt: Erkennbar wird hier lediglich der narrative Charakter der frühminnesängerischen Frauenstrophen. Diesen narrativen Modus haben dann aber auch Strophen mit männlichem Ich, die häufig inhaltlich und formal auf Frauenstrophen bezogen sind und mit diesen zusammen eine liedhafte Einheit, einen Wechsel, bilden. Auch diese männliche Rede weist den gleichen Status auf wie Frauen-
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Zu Frauenstrophen vgl. Werner Hoffmann: Frauenstrophen und Frauenlieder in der mittelhochdeutschen Liebeslyrik. In: Mannheimer Berichte 29 (1986), S. 27–37; Ingrid Bennewitz: Das Paradoxon weiblichen Sprechens im Minnesang. Überlegungen zur Funktion der sog. Frauenstrophen. In: Mediaevistik 4 (1991), S. 21–36; Rüdiger Schnell: Frauenlied, Manneslied und Wechsel im deutschen Minnesang. Überlegungen zu ‚gender‘ und Gattung. In: ZfdA 128 (1999), S. 127–184; sowie die Beiträge von Ingrid Kasten, Sabine Obermaier, Elisabeth Schmid und Ingrid Bennewitz in: Frauenlieder. Cantigas de amigo. Hrsg. von Thomas Cramer u. a., Stuttgart 2000. Vgl. Schnell (Anm. 7), S. 151. Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159, hier prägnant S. 122. Zur Fiktionalität des Minnesangs vgl. Müller (Anm. 2); die Gegenposition bei Haferland in den in Anm. 2 genannten Publikationen.
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rede; eigentlich müsste man auch sie in den Ausgaben in Anführungszeichen setzen.11 Die Situationsspaltung wird auch durch das im Frühen Minnesang häufige Element des Natureingangs befördert. Durch den Natureingang bekommt das Gesagte eine eigene Zeit, die nicht die Zeit der Aufführungssituation ist oder zumindest nicht sein muss.12 Dabei wird die Narrativität umso deutlicher, je größer die wahrnehmbare Differenz zwischen der Zeitkonzeption der Aufführungssituation und der durch den Natureingang angedeuteten Zeitkonzeption im Text ist. Einen besonderen Fall bildet dabei das Tagelied: Sicherlich wird kaum ein Tagelied je bei Sonnenaufgang gesungen worden sein; die dargestellte Handlung spielt aber fast immer genau zu dieser Zeit und steht unter den Bedingungen ihres Konzeptes. Allein diese Zeitdifferenz macht den narrativen Charakter des Tageliedes hinreichend klar. Das gehäufte Vorkommen von Frauenstrophen und Frauenrede und der damit verbundene narrative Charakter korrelieren im Frühen Minnesang mit einem spezifischen inhaltlichen Konzept, das man idealtypisch im Œuvre des Kürenbergers vorfindet und das hier die Zeitkonzeption prägt. Die Funktion der Frauenrede besteht hier offensichtlich darin, die weibliche Liebesbereitschaft und die erotisierende Wirkung des Mannes auf die Frau verlässlich vorzuführen.13 Verlässlich heißt: Der Sänger hat ein auktoriales Wissen über die emotionale Befindlichkeit der Frau; er weiß, was sie
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Zum Wechsel vgl. Schnell (Anm. 7), S. 129 f. (kurze Definition mit Hinweisen auf die ältere Forschung); ausführlich Jens Köhler: Der Wechsel. Textstruktur und Funktion einer mittelhochdeutschen Liedgattung, Heidelberg 1997 (Beiträge zur Älteren Literaturgeschichte). Von einer ‚eigenen Zeit‘ ist hier also in einem kommunikationspragmatischen Sinn die Rede. Einen anderen, im Ergebnis zum gegenteiligen Befund führenden Begriff von „Eigenzeit“ verwendet Ludger Lieb: Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Dems./Beate Kellner/Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 183–206. Für Lieb etabliert nicht der Frühe Minnesang mit seiner ausgeprägten Jahreszeitentopik eine je ‚eigene‘ Zeit, sondern der Hohe Minnesang, indem dort nämlich die Inkommensurabilität von dauerhafter Minne und herkömmlichen Zeitkonzepten betont werde. Ähnlich wie Lieb, aber die Unterschiede zwischen Frühem und Hohem Minnesang hier eher verwischend argumentiert Mertens (Anm. 4), S. 37: „Die natürliche Zeit existiert nur in Bezug auf den Liebenden und die Geliebte, sie dient, ganz wie die erzählte Geschichte, zur Klärung der subjektiven Befindlichkeit.“ Dabei ist klar, dass es sich um Entwürfe von weiblichem Verhalten handelt, die aus einer männlichen Perspektive heraus entwickelt werden. Ich vereinfache im Folgenden stark; dass es auch im Frühen Minnesang eine Spannbreite von Geschlechterkonzeptionen gibt, zeigt Sonja Kerth: ‚Jô enwas ich niht ein eber wilde‘. Geschlechterkonzeptionen im ‚Wechsel‘. In: ZdfA 136 (2007), S. 143–161.
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gesagt hat, und kann das aus einer narrativen Distanz heraus präsentieren.14 Dabei zeigt sich stets, dass die Dame willig ist, dass allenfalls die Gesellschaft – die huote – sie an der Minneerfüllung hindert und dass der Mann sich ihr und der Gesellschaft gegenüber souveräner verhält, auch emotional weniger engagiert ist. Er kann zum Beispiel zur Verheimlichung der Beziehung raten und sich damit über soziale Konventionen ohne Weiteres hinwegsetzen, etwa in MF 10,1. Es ist ein adliges Konzept, das archaisch wirkt oder wirken soll. Eine einzige Kürenbergerstrophe – die letzte im überlieferten Korpus – enthält in nuce das ganze Programm dieses Minnesangs: Wîp unde vederspil diu werdent lîhte zam. swer sî ze rehte lucket, sô suochent sî den man. als warb ein schoene ritter umbe eine vrouwen guot. als ich dar an gedenke, sô stêt wol hôhe mîn muot. (MF 10,17-20) (Frauen und Falken lassen sich leicht zähmen. Wenn einer sie richtig zu locken versteht, dann fliegen sie auf den Mann. So warb ein hübscher Ritter um eine edle Dame. Wenn ich daran denke, so schlägt das Herz mir höher.)15
Der frivole Vergleich zwischen den Frauen und den zur Beize abgerichteten Vögeln hat als behauptetes tertium comparationis die grundsätzliche Verführ- und Verfügbarkeit durch den Mann. In Vers 3 wird diese allgemeine Aussage auf einen einzelnen, ansonsten freilich völlig unbestimmten Fall in der Vergangenheit (Präteritum) angewendet, der den Vergleich bestätigen soll. Die Vergegenwärtigung dieses Falles (als ich dar an gedenke; MF 10,20) erzeugt beim Ich-Sprecher – und damit wohl auch bei seinem Publikum – hôhen muot.16 Hier geht es um die Affirmation männlicher Projektionen durch die erzählende Erinnerung an ein (fiktives) Ereignis, das sich nicht während des Vortrags dieser Strophe, sondern schon früher ereignet haben 14
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Vgl. ähnlich Mertens (Anm. 4), S. 38: „Die Narration ist der Versuch, Verfügungsmacht über die Liebe zu gewinnen.“ Mertens unterscheidet allerdings nicht zwischen den verschiedenen Subjektpositionen, die das Narrativ pragmatisch jeweils unterschiedlich perspektivieren: Erzählt ein Sänger, der nicht mit dem Ich des Liedes identifiziert werden soll und der insofern nicht selbst von der Minne betroffen ist, von dem, was dieses Ich gesagt oder erlebt hat – oder erzählt das Ich von dem, was es selbst erlebt hat (wobei dieses Ich auch als Sänger inszeniert werden kann). Die Übersetzung folgt teilweise derjenigen von Margherita Kuhn in: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare. Hrsg. von Ingrid Kasten. Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3), S. 51. Zu den Definitionsproblemen der narrativen Struktur des Fallbegriffs in der Mediävistik zuletzt Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius: Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers ‚Ring‘. In: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006. Hrsg. von Klaus Ridder in Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Eckhard Conrad Lutz, Berlin 2008 (Wolfram-Studien 20), S. 177–204.
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soll. Das Ich von Vers 4 ist hier in der Tat der Sänger, nicht der liebende oder geliebte Mann (allein in Vers 4 wird also die Situationsspaltung aufgehoben). Die Strophen des zweiten Kürenberger-Tones (MF 7,19-10,20) könnten den dritten Vers von MF 10,17 jeweils logisch ersetzen; es sind sehr knapp gehaltene, reduzierte Narrative,17 in denen sich männliche Überlegenheit und Autonomie sowie die Liebesbereitschaft und emotionale Abhängigkeit der Frau(en) bestätigen. Man kann MF 10,17 als programmatische Darstellung der Funktionsweise dieses Minnesangs verstehen, die auf der Vergegenwärtigung (als ich dar an gedenke) von nicht weiter explizierten Minnegeschehnissen beruht, die an einem anderen Ort und/oder zu einer anderen Zeit als der Vortrag selbst zu denken sind. Mit einer solchen Art von männlicher Souveränität gehen freilich mindestens zwei kaum zu übersehende Probleme einher: Zum einen lässt sie sich nicht bruchlos in das gültige soziale Normensystem integrieren. Die Vertreter dieses Normensystems – die huote – sind ja die Gegner der Liebenden. Der Frühe Minnesang stellt damit neben das Normensystem der Gesellschaft (huote) ein zweites, nämlich das der Minne, das dem ersten diametral entgegensteht. Das Verhältnis der beiden Systeme bleibt ungeklärt: Was die Liebenden auch schon im Frühen Minnesang als triuwe und staete bezeichnen, ist für die gesellschaftliche Instanz der huote offenbar verwerflich. Zweitens ist die männliche Souveränität eben doch noch vom Wollen einer anderen Person abhängig, nämlich vom Du, von der Frau. Zwar kann vom Sänger erzählt werden, dass die Frau liebesbereit ist, aber der liebende Mann im Text selbst könnte darüber gar nicht sprechen – das wäre Angeberei, rüemen. Er kann ja gar nicht objektiv wissen, ob sie wirklich liebt, denn als Figur der lyrischen Diegese verfügt er nicht über auktoriales Wissen. Der Souveränitätsnachweis ist im Konzept des Frühen Minnesangs also unabdingbar an die narrative Option gebunden: Ohne Frauenstrophen wäre der Mann hier nichts weiter als ein Angeber, weil seine Souveränität nicht objektiv – und das heißt hier: narrativ – bestätigt wird. Umgekehrt bedeutet dies, dass das Ich im Frühen Minnesang im Prinzip narrativ konstituiert ist; der Sänger kann von sich selber nicht sprechen, sondern nur von anderen. Als liebendes Ich würde sich der Sänger immer kompromittieren: Entweder als Angeber oder als eine Person, die sich über die Normen der Gesellschaft hinwegsetzt.
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Mertens (Anm. 4), S. 38 spricht von „fragmentierter Narration“ und denkt dabei nicht nur an sein eigentliches Objekt, den Minnesang Heinrichs von Morungen, sondern auch an den Wechsel im Frühen Minnesang. Die Konnotation des (womöglich intendiert) Unvollständigen, die der Fragment-Begriff transportiert, scheint mir jedoch für den Frühen Minnesang deutlich weniger passend zu sein als für Heinrich von Morungen.
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III. Zur Problematik der lyrischen Option im Hohen Minnesang Versteht man den Frühen Minnesang so, dann sind die Poetik und das Konzept der Hohen Minne die exakte Antwort auf die Probleme des Frühen Minnesangs. Man kann das an einem Text zeigen, der aufgrund seiner Zuschreibung an den Burggrafen von Rietenburg noch ganz in der Nähe des Frühen Minnesangs zu verorten ist, der aber schon alle wichtigen Innovationen des Hohen Minnesangs zeigt – MF 19,17, der Ton V des Burggrafen von Rietenburg.18 Sît si wil versuochen mich, daz nim ich vür allez guot. sô wirde ich golde gelîch, daz man dâ brüevet in der gluot Und versuochet ez baz. bezzer wirt ez umbe daz, lûter, schoener unde klâr. swaz ich singe, daz ist wâr: gluotes ez iemer mê, ez wurde bezzer vil dan ê. (MF 19,17-26)
Dass sie mich auf die Probe stellen will, das ist mir mehr wert als alles andere. Dann werde ich wie Gold, das man in der Glut läutert und harter Probe aussetzt. Es wird dadurch besser, reiner, schöner und glänzend. Was ich singe, ist wahr: Wenn es immer weiter glühen würde, dann würde es besser als zuvor.
Hier gibt es in kompletter Ausprägung die Kanzonenform, das Konzept der einseitigen und nobilitierenden Dienstminne und – offenbar erstmals im deutschsprachigen Minnesang – eine echte Sängerrolle: Das Ich ist hier nicht nur als Liebender oder Geliebter inszeniert, sondern auch als Sänger: swaz ich singe, daz ist wâr (MF 19,24). Damit ist die narrative Option zugunsten einer im engeren Sinne lyrischen verabschiedet, die Distanz zwischen einem Hier und Jetzt der Aufführung und einem Damals und Dort des Minnegeschehens oder der weiblichen oder männlichen Rede ist obsolet geworden. Vielmehr herrscht Synchronie: Die Zeit des Singens ist zugleich die Zeit des Liebens, und über diese Synchronie entsteht die Suggestion einer Identität von Sänger und textinternem Ich. Dieses Reden als Sänger möchte ich als im engeren Sinne lyrisch bezeichnen, es etabliert sich nicht, wie ich bereits andernorts deutlich zu machen versuchte, über Referentialität (Ich = Sänger), sondern über die behauptete Simultaneität von Minne und Vortrag.20 Nun ist auch ein Natureingang überflüssig geworden, ja er würde sogar stören: In welcher Zeit (z. B. Jahreszeit) man sich befindet, weiß der 18
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Vgl. dazu Franz Josef Worstbrock: Der Überlieferungsrang der Budapester MinnesangFragmente. Zur Historizität mittelalterlicher Textvarianz. In: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1998 (Wolfram-Studien 15), S. 114-142, hier S. 124-128. Vgl. die Übersetzung von Margherita Kuhn in Kasten (Anm. 15), S. 65 f. Hausmann, vröide (Anm. 3), S. 177–179.
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Rezipient ja selber: Er muss sich nur umsehen. Hier wäre es geradezu problematisch, wenn eine bestimmte Jahreszeit im Text als Gegenwart auftauchen würde, die mit der tatsächlichen Jahreszeit der Aufführung nicht übereinstimmt. Sofort würde die Simultaneitätsinszenierung zerstört werden. Eine Frauenstrophe kann es zu einer solchen Strophe im Prinzip nicht mehr geben. Denn dieser Sänger spricht von sich als Minnebetroffenen – wie könnte er auktorial wissen, was die Dame irgendwo fern von ihm gesagt hat. Und es muss konzeptionell auch keine Frauenrede mehr geben, denn die Souveränität des Mannes bestätigt sich hier schon in dem, was er selbst sagt: Dieser Dienst ist nicht von der Liebesbereitschaft der Frau abhängig, sondern völlig autonom, seine läuternde oder nobilitierende Funktion erfüllt er sogar um so mehr, je weniger die Dame entgegenkommt. Das ist eine völlig andere Konzeption adliger Souveränität als im Frühen Minnesang, und sie löst zugleich die im Frühen Minnesang zu beobachtende Konkurrenz verschiedener sozialer Normensysteme – das der huote und das der Minne – auf. Auch hier gilt also: Wie das frühminnesängerische Konzept die narrative Option bedingt, so bedingt das hochminnesängerische die lyrische Option mit der ausgeprägten ‚Ich singe und ich minne‘-Rolle. Während im Frühen Minnesang ein logisches Präteritum herrscht, bietet der Hohe Minnesang das Präsens, so dass letztlich der Vorgang des Singens selbst als Minnehandeln zu inszenieren ist. Das Publikum nimmt damit Teil an diesem Vorgang, der deshalb noch lange nicht in einem ‚subjektivistischen‘ Sinne authentisch sein muss. In den großen, vielstrophigen Minnekanzonen der Reinmar-Walther-Zeit werden diskursiv Minnekonzepte entwickelt, und die Zuhörer nehmen daran unmittelbar teil.21 Ihnen wird kein zurückliegendes Ereignis erzählt, sondern der Text wird als Ereignis aktuell vorgeführt. Die Teilnehmer erfahren dabei offenbar etwas – und das ist dann jene vröide, die den eigentlichen Zentralbegriff der Hohen Minne bildet. Im Diskurs des Hohen Minnesangs wird dieses Konzept sehr weit getrieben. In seiner bewusst gemachten Endform, etwa in der Strophe MF 165,37 Reinmars des Alten, kommt es zu dem paradoxen Zustand, dass der Mann an die Dame genau jene Norm heranträgt, die die Minneerfüllung verhindert – er selbst hat die Ansprüche der huote verinnerlicht und liebt die Dame, weil sie ohne Mann und damit wertvoll ist. Hier ist etwas nahezu erreicht, was einer höfischen Gesellschaft wichtig gewesen sein muss: die Integration, ja das Zusammenfallen von Sozialisiertheit und individueller Souveränität:22 21 22
Vgl. dazu Hausmann, vröide (Anm. 3). Vgl. zu dieser Strophe die originellen Überlegungen von Walter Haug: Gotteserfahrung und Du-Begegnung. Korrespondenzen in der Geschichte der Mystik und der Liebeslyrik. In: Ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 464–479, hier S. 473 f.; Hausmann, Reinmar (Anm. 3), S. 147.
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Zwei dinc hân ich mir vür geleit, diu strîtent mit gedanken in dem herzen mîn: ob ich ir hôhen wirdekeit mit mînen willen wolte lâzen minre sîn, Oder ob ich daz welle, daz si groezer sî und sî vil saelic wîp bestê mîn und aller manne vrî. siu tuont mir beide wê: ich wirde ir lasters niemer vrô; vergêt siu mich, daz klage ich iemer mê. (MF 165,37-166,6)
Ich habe mir zwei Möglichkeiten vorgelegt, die nun in meinem Herzen mit Gedanken miteinander kämpfen: Will ich, dass ihre Makellosigkeit geschmälert wird, indem mein Wille an ihr ergeht, oder will ich, dass sie noch höher steigt und als eine wirklich glückliche Frau von mir und allen anderen Männern unbehelligt bleibt. Beide Möglichkeiten bereiten mir Schmerz: Über ihre Verfehlung werde ich mich niemals freuen; wenn sie mich übergeht, dann werde ich das immerzu beklagen.
Auch wenn hier von einem Streit die Rede ist, dokumentiert sich in dieser Strophe doch eine erstaunliche Integrationsleistung, denn die Norm ist nichts Äußerliches mehr. Der Kampf ist nicht mehr einer, der zwischen dem Mann oder den Liebenden auf der einen Seite und der Gesellschaft (huote) auf der anderen ausgetragen werden müsste, er findet vielmehr ganz im Inneren des Mannes – eben in seinem herzen – statt und hat sich zu einem Dilemma entwickelt. Damit ist der Konflikt gesellschaftlich neutralisiert; alles, was davon nach außen dringt, ist die Klage in Gestalt des Singens. An diesem Punkt ist – zumindest auf den ersten Blick – eine Integration gelungen: Liebe und soziale Norm stehen sich nicht mehr wie im Frühen Minnesang konfligierend feindlich gegenüber, sondern erscheinen im Ergebnis als untrennbar zusammengehörig. Der zivilisatorische Schritt, der damit vollzogen ist, wird nirgends deutlicher als in MF 165,37: Die Norm erscheint derart internalisiert, dass die Normerfüllung durch die Frau für den Mann zur Bedingung ihrer erotischen Ausstrahlung wird. Er trägt die Norm an sie heran, für deren Erfüllung er sie dann liebt. Daraus kann nur die unerfüllte Liebe resultieren, es kann nur die Klage geben. Allerdings ist diese Lösung selbst höchst problematisch. Die Verinnerlichung geht hier nämlich so weit, dass man bezweifeln kann, ob hier überhaupt noch von Souveränität die Rede sein kann. Denn einem Du, einer Gesellschaft liefert sich das Ich hier gar nicht mehr aus. Ausgangs- und Endpunkt des Konzepts liegen ganz im Ich, und die Bestätigung der ‚Souveränität‘ findet damit in einer zirkulären und nach außen hermetischen Struktur im Ich selbst statt. Letztlich ist dieses Ich nicht einfach autonom, es steht vielmehr gar nicht mehr in Bezug zu einem Du, es setzt sich diesem Du nicht mehr aus. Was mit dem Konzept der Hohen Minne erodiert, ist die Beziehungshaftigkeit von Minne, ist das Du. Und diesem Effekt seiner ureigensten Konzeption kann der Hohe Minnesang auch kaum etwas entgegensetzen, eben weil er das Du, zumindest einmal zunächst, nicht narrativ in die Texte hereinholen kann: Aufgrund der inszenierten Simultaneität von
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‚ich singe‘ und ‚ich minne‘ kann im Hohen Minnesang die liebende Frau nicht in Frauenstrophen präsentiert werden. Das nämlich würde diese Simultaneität zerstören. Auf der Textoberfläche vieler Lieder kommt diese Problematik als Frage eines unverständigen Publikums daher: „Was ist das denn für eine Dame, von der du sprichst? Wie alt ist sie? Liebst du sie wirklich?“ (Etwa in MF 165,19). Allenfalls könnte das Ich behaupten, dass es diese liebesbereite Dame gibt: Aber das wäre rüemen, und im Übrigen widerspräche es auch dem Konzept selbst. Das Reinmar-Lied MF 189,5 sagt das in der ersten Strophe ganz explizit: Spraeche ich nu, daz mir wol gelungen waere, sô verlüre ich beide sprechen unde singen. waz touc mir ein alsô verlogenz maere, daz ich ruomde mich alsô vremeder dinge? Daz wil ich den hôchgemuoten lân, den dâ wol geschiht; die nemen sich des an. (MF 189,5-10)
Wenn ich jetzt sagen würde, dass ich Erfolg gehabt hätte, dann würde ich mein Sprechen und Singen zunichte machen. Was nützt es mir, wenn ich etwas so Verlogenes sagen würde, wie mich so abwegiger Dinge zu rühmen? Das will ich den Frohen überlassen, denen da Gutes widerfährt; die sollen sich das anmaßen.23
Die Aussage der Strophe lautet also im Prinzip: „Das überlasse ich denen, die so etwas erzählen wollen“; das Ich dieses Liedes hat nichts zu erzählen, es hat etwas zu erkennen und das Publikum auf diesem Erkenntnisprozess mitzunehmen. Am Ende, in den Strophen 3 und 4 des Liedes, weiß das Ich: sol mîn dienest alsô sîn verswunden, sô sîn doch gêret elliu wîp, sît daz mich einiu mit gedanken vreut an manegen stunden. (MF 189,29-31)
Sollte mein Dienst auch umsonst gewesen sein, so sind doch alle Frauen geehrt, weil mich eine allein dadurch, dass ich an sie denke, in vielen Stunden glücklich macht.
Das ist die Lösung und zugleich das Problem: Im Mann selbst wird die Freude erzeugt, mit gedanken. Die Dame braucht er dazu gar nicht mehr. Dem Hohen Minnesang kommt die Dame abhanden, und damit das letztlich eben doch unabdingbare Objekt der Liebe. Nirgends wird der Substanzverlust der Dame deutlicher als im Narzisslied Heinrichs von Morungen.24 Das Narzisslied ist ein arriviert hochminne23 24
Vgl. die Übersetzung von Margherita Kuhn in Kasten (Anm. 15), S. 369 f. Ich fasse im Folgenden meine Interpretation in Hausmann: Reinmar (Anm. 3), S. 161–164, zusammen. Einen Überblick über die Forschung zum Narzisslied bietet Beate Kellner: Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen. In: PBB 119 (1997), S. 33–66, hier S. 56 f. Ausführlich danach Christoph Leuchter: Dichten im Uneigentlichen. Zur Metaphorik und Poetik Heinrichs von Morungen, Frankfurt a. M, u. a. 2003 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 3), S. 90–110 (mit ausführlicher Diskussion der Überlieferungs- und Forschungsfragen). Vgl. auch Mertens (Anm. 4), S. 43–47, zu weiterer Literatur siehe dort.
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sängerischer Text. Das männliche Ich des Morungen-Textes ist einem aus Normverinnerlichung resultierenden, in sich widersprüchlichen Wollen unterworfen: Es begehrt, was es nicht will; nur die nicht habhafte Frau ist attraktiv. Erreicht der Mann das Objekt seiner Wünsche, so zerbricht er es gleichzeitig. Der Spiegel wird zerstört, weil der Mann sich wie ein Kind der destruktiven Berührung nicht enthalten kann. Vor allem, und darauf kommt es besonders an, hat das kindelîn nicht erkannt, dass es nicht etwa ein Du attraktiv findet, so dass es dieses Du unbedingt berühren will, es sieht sich ja vielmehr selbst im Spiegel. Im Moment des Zerbrechens wird die Selbstbespiegelung des Mannes entdeckt. Ebenso erscheint die Frau im Traum des Mannes, also in dem Moment, in dem er sich ihr körperlich nahe fühlt, ein wenig verletzt, und er befürchtet, dass ihre Attraktivität verbleichen könnte – Strophe 3. Hier findet sich das hochminnesängerische Dilemma des Mannes, der zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und dem Wissen, dass diese Nähe den endgültigen Verlust bedeuten würden, hin und hergerissen ist. Aus dieser inneren Disposition des männlichen Ich zieht Heinrich von Morungen einen absolut konsequenten Schluss: Die Frau ist bei ihm nicht mehr substantiell anwesend, sondern nur noch als Bedingung männlicher (Selbst-)Reflexion – in der Spiegelmetapher – und im Traum. Schließlich kann sie deshalb im Bild des selbstverliebten Narziss in Strophe 3 ganz wegfallen, und in der letzten Strophe ist diese ‚Minne‘ tatsächlich Klage ohne Objekt außerhalb des Mannes: des ist hin mîn wunne und ouch mîn gernder wân (MF 145,32; „Deshalb ist mein Glück dahin und auch alle meine sehnsuchtsvolle Hoffnung“). Das Narzisslied führt eine radikale Konsequenz der hochminnesängerischen Konzeption vor: Wenn Begehren nur noch die eigenen Normen zum Ziel hat, dann geht die Frau als Objekt und damit die Beziehungshaftigkeit von Minne verloren. Die Erosion der Ich-Du-Beziehung geht so weit, dass schließlich das Ich alleine, beziehungslos zurückbleibt. In der letzten Strophe des Liedes ummanteln hochminnesängerische Formeln ein Vakuum. Die Frau erscheint über weite Strecken nur noch als Person in einem der Innenwelt des Mannes angehörenden Traum. Sie ist nur noch da, wenn der Mann seinen Traum schildert, wenn er seine Immanenz nach außen trägt, wenn er sie in einer Spiegelmetapher herbeiredet, und selbst dann ist sie auf die wiedergebende Funktion des Spiegels reduziert. Dieser Spiegel ist nicht selbst als Objekt interessant; das Kind greift nicht nach dem Spiegel, sondern nach seinem eigenen Spiegelbild. Im Moment, da es den Spiegel zerbricht, macht es die überraschende Entdeckung, dass sich seine Zuwendung auf sich selbst bezieht. Wenn das aber gesagt ist, so wie es im Narzisslied gesagt wird, dann ist der Spiegel verloren, dann ist klargeworden, dass Minnesang nur noch Selbstreflexion ist und dass es an einer Stelle zu einer Lücke gekommen ist, wo Liebesliteratur niemals eine Lücke haben darf – nämlich dort, wo das Du stehen muss.
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IV. Zur dilemmatischen Komplementarität der Minnesangkonzepte Stellt man Frühen und Hohen Minnesang nebeneinander, dann erscheinen die beiden Konzeptionen als Alternativen, deren Zusammenhang als Kippfigur beschrieben werden kann. In beiden Konzepten lassen sich Defizite erkennen, die vom jeweils anderen Konzept kompensiert werden. Der Preis dafür aber ist in beiden Fällen ein nur scheinbar neues Problem, das sich am deutlichsten in der Figur der Frau zeigt. Es handelt sich nämlich von Anfang an um ein Entweder-oder: Entweder man zeigt die Frau wie im Frühen Minnesang als handelnde Person, zeigt ihre emotionale Befindlichkeit, ihre Substanz, behauptet, auktoriales Wissen über sie und ihre Liebesbereitschaft zu haben – dann aber kann man letztlich nur von ihr erzählen, dann ist das, wovon die Rede ist, nicht hier und jetzt, sondern in der narrativen Distanz des Präteritums – und zwar auch dann, wenn Präsens verwendet wird. Frauenstrophen, aber auch das Tagelied leisten dies, aber diese Leistung hat auch ihren Preis: Die Zeit der Erfüllungsvröide ist nie hier und jetzt, sondern damals, an einem Morgen usw. Und der Sänger, der solches vorträgt, ist nicht selbst der Betroffene, sondern er spricht letztlich über andere – alles andere nämlich wäre in diesem Zusammenhang rüemen, Angeberei, und würde die Frau und den Mann selbst kompromittieren. Oder aber man wählt die andere Option, die lyrische: Dann erweist sich das männliche Ich aus sich selbst heraus und über die Konzeption des freiwilligen Dienens auch ohne Lohn als souverän, es gibt keinen Konflikt mit der Gesellschaft mehr und das Ich kann sich selbst als Sänger inszenieren. Die Situationsspaltung ist überwunden, es herrscht eine erkennbare Simultaneität von Aufführung und textinternen Vorgängen (z. B. einem diskursiven Erkenntnisprozess, an dem auch das Publikum teilnehmen kann). Dann aber kann über die Dame auch nichts mehr mit auktorialer Gewissheit gesagt werden, dann verschwindet sie geradezu als handelnde und substantielle Person und es bleibt eine Leerstelle genau dort, wo im Minnesang ein Du zu finden sein müsste. Aber nicht nur die Position der Frau ist dann gelöscht, auch die Minneerfüllung kann nicht mehr zur Sprache kommen. Das Präsens der Lieder des Hohen Minnesangs suggeriert zwar ‚Präsenz‘, aber in dieser Gegenwärtigkeit ist das Objekt der Minne, die Dame und mit ihr die Erfüllung, immer absent. Auf der anderen Seite lässt sich im Präteritum des Frühen Minnesangs zwar von der Erfüllung erzählen, sie kann insofern präsentiert werden, aber bleibt doch eben immer vergangen und damit abwesend. Man kann sagen, dass von der Liebe im Minnesang grundsätzlich nur im Modus der Abwesenheit gesprochen werden kann: Entweder im Präsens über die Abwesenheit der Erfüllung, oder im Präteritum – dann liegt die Erfüllung und überhaupt die Liebe selbst in einem zeitlich entfernten ‚Anderswo‘. Es zeigt sich in dieser Kippfigur der eigentliche Zusammenhang zwischen dem Schwanken zwischen lyrischer und narrativer Option, dem
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Problem des Verlustes und der Wiedergewinnung der Dame und der Problematik von Souveränität und Sozialisiertheit. Genau diese drei Spannungsfelder (lyrisch – narrativ; Verlust der Dame; Souveränität – Sozialisiertheit) stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis zueinander, und die Geschichte des Minnesangs lässt sich interpretieren als eine fortgesetzte Transformation dieses Verhältnisses durch die je neue Justierung der verschiedenen Einflussgrößen. Die Alternative zwischen lyrischer und narrativer Option ist dabei besonders offensichtlich. Die Kippfigur, die hinter dieser Alternative steht, erzeugt eine ständige Instabilität; zur Debatte steht die Möglichkeit der Präsenz unter der grundlegenden Vorgabe der Abwesenheit von Erfüllung. An einigen wenigen Punkten in der Entwicklung des Minnesangs kommt die Figur genau im Umschlagpunkt zum Stillstand; es handelt sich dabei um hochorganisierte Texte, in denen spezielle – und für sich jeweils erstaunlich originelle – poetische Techniken zum Einsatz kommen, um einerseits die Frau, so weit es irgend geht, als anwesend erscheinen zu lassen, andererseits aber die stets drohende Problematik der offenkundigen narrativen Fiktion zu umgehen. Immer wieder kommt Frauenrede in diesen Experimenten wesentliche Bedeutung zu. Frauenrede erzeugt dabei eine Reminiszenz an den Frühen Minnesang und seine Möglichkeiten. Weil aber Frauenrede auch stets in der narrativen Distanz präsentiert wird und damit diachron als abwesend zu identifizieren ist, muss genau gegen diesen Effekt gearbeitet werden. In die Frauenrede muss also ein präsentisches Element integriert werden oder ein solches präsentisches Element muss die Frauenrede flankieren. Ich will an zwei Beispielen zeigen, auf wie unterschiedliche Weise dies erfolgen kann. Auf der einen Seite bezieht Reinmar der Alte Frauenlieder – genauer: ein Botenlied – auf ein Manneslied – und zwar so, als würden beide Texte ihrem Inhalt nach zu ein und demselben Wirklichkeitsentwurf gehören. Auf der anderen Seite nutzt Walther von der Vogelweide im Lindenlied die Assoziation zwischen Sänger und vogellîn, um die Trennung zwischen Frauenrede und Aufführungssituation zu überspielen. V. Vergegenwärtigung in der narrativen Distanz: Frauenrede Häufig begegnen in den unter dem Namen Reinmars des Alten überlieferten Corpora Frauenlieder und Frauenstrophen. Erstaunlich ist dies deshalb, weil sich die Sängerrolle der Reinmarschen Manneslieder mit ihrer ausgeprägten Inszenierung einer Simultaneität von Singen und Minnen nicht mit der durch Frauenrede evozierten Situationsspaltung zwischen interner Lied- und externer Aufführungssituation verträgt: Wenn das männliche Ich sich auch als Sänger geriert, wie kann er dann der Sänger
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von Frauenstrophen sein, deren Inhalte jenseits seines Wissenshorizontes als Liebender liegen müssen? 25 Besonders deutlich wird diese Spannung, wenn zwischen Mannesund Frauenliedern tatsächlich inhaltliche Bezüge bestehen und man annehmen muss, dass sich beide auf ein und dasselbe (fiktive) Minnegeschehen beziehen. Dies ist etwa bei dem Manneslied MF 163,23 und dem sogenannten Botenlied MF 177,10 der Fall; die Aussagen des Mannes, die in MF 177,10 der Frau durch einen Boten übermittelt werden, decken sich inhaltlich und teilweise wörtlich mit Ich-Aussagen des Mannes im Manneslied MF 163,23, die dadurch in der sprachlichen Funktion eines Botenauftrags erscheinen:26 Reinmar MF 163,23:
Reinmar MF 177,10:
ich hân noch trôst, swie klein er sî: swaz geschehen sol, daz geschiht. (MF 164,1 f.)
[Bote:] „er sprichet: allez daz geschehen sol, daz geschiht.“ (MF 177,21)
Ich habe noch Hoffnung, wie klein sie auch ist: Was geschehen soll, das wird geschehen.
Er sagt: Alles, was geschehen soll, das wird geschehen.
Zum Verhältnis von Mannes- und Frauenliedern im Minnesang Reinmars vgl. u. a. Günther Schweikle: Minnesang, Stuttgart 1989 (SM 244), S. 127: „Die Frau tritt in den Frauenliedern und -strophen in Rollen auf, die jeweils konträr zu ihrer Darstellung in den Mannesliedern und -strophen sind“; Helmut Tervooren: Reinmar-Studien. Ein Kommentar zu den ‚unechten‘ Liedern Reinmars des Alten, Stuttgart 1991, S. 236: Die Frauenlieder bildeten einen „Gegenentwurf zum zentralen Minnelied“; Hausmann, Reinmar (Anm. 3), S. 197–226, hier S. 226: „Die Frauenlieder […] lassen sich demnach als sehr genau auf die Minnekonzeption der Manneslieder abgestimmte Elemente Reinmarschen Minnesangs verstehen.“; Harald Haferland: Subjektivität, Fiktion und Realität in Reinmars Frauenliedern. In: ZfdPh 125 (2006), S. 368– 389, freilich verknüpft mit Haferlands problematischer ‚Authentizitätskonzeption‘; Mertens (Anm. 4), S. 35: „Reinmar treibt die Minnereflexion zu höchster Differenzierung und macht dadurch das Lied zum Medium subtiler Ich-Aussagen, sowohl in der Ich-Rolle wie auch in der Frauenrolle. Letzteres darf als besonderer Ausweis von psychologischer Sensibilität gelten“; sowie die in Anm. 7 genannte Literatur. 26 Besonders klar hat diesen längst bekannten Befund Ingrid Kasten: Das Frauenlied. Lieber bote, nu wirp alsô. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hrsg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 111–128, hier S. 123, formuliert, indem sie darlegt, dass „Reinmar in diesem Lied unmißverständlich klarstellt, daß der vil liebe man, von dem die Frau spricht, mit dem lyrischen Ich seiner Männerlieder identisch ist.“ Die Ausdehnung auf sämtliche Manneslieder erscheint allerdings etwas voreilig; spezifische Übereinstimmungen lassen sich zunächst nur mit Lied MF 163,23 finden. 25
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si saelic wîp enspreche: ‚sinc!‘, niemer mê gesinge ich liet. (MF 164,10 f.)
‚Hât aber er gelopt, geselle, daz er niemer mê gesinge liet, ez ensî, ob ich ins biten welle?‘ „vrowe, ez was sîn muot, dô ich von ime schiet. Ouch mugent irz wol hân vernomen.“ (MF 177,22-26)
Wenn sie, die glückliche Frau, nicht sagt ‚Sing!’, dann werde ich nie wieder ein Lied singen.
‚Mein Freund, hat er aber versprochen, dass er nie wieder Lieder singen wird, außer ich bitte ihn darum?‘ – „Herrin, es war seine Absicht, als ich von ihm weggegangen bin. Auch kann Euch das schon zugetragen worden sein.“
Es handelt sich hier nicht nur um Motivverwandtschaften oder thematische Übereinstimmungen, wie sie der Autor zur Markierung seines Werkes verwendet haben könnte.27 Vorgeführt wird vielmehr die schon auf der Ebene der Minnehandlung verortete inhaltlich-konzeptionelle Kompatibilität zwischen einem konzeptionell für den Reinmarschen Minnesang konventionellen Manneslied und einem Frauen- bzw. Botenlied. Swaz geschehen sol, daz geschiht – das ist mehr als das Selbstzitat eines Autors, der spielerisch eine „Eigentopik“28 aufbauen will. Hier überschreitet vielmehr die Minnehandlung selbst die Liedgrenze; sie ist über mindestens zwei Lieder hinweg fortgeschrieben. Das Manneslied MF 163,23 und das Frauen- bzw. Botenlied MF 177,10 referieren auf eine gemeinsame Geschichte im Sinne einer Diegese und bieten zwei Perspektiven auf eine zusammenhängende Handlung an. Möglich wird dies insbesondere durch die Figur des Boten, der in Lied MF 177,10 mit der Frau kommuniziert.29 Seine Botschaft – eben jene Zitate aus
27
28 29
Solche ‚Markierungen‘ gibt es beispielsweise schon bei Hartmann von Aue (Tod des Herren), vor allem aber bei Minnesängern des 13. Jahrhunderts. Für Neidhart wurde dieses Phänomen unter dem Leitbegriff Eigen-Topik von Elisabeth Lienert: Spiegelraub und rote Stiefel. Selbstzitate in Neidharts Liedern. In: ZfdA 118 (1989), S. 1–16, hier S. 15 eingehend untersucht. Lienert (Anm. 27), S. 15. Vgl. zu MF 177,10 vor allem Kasten (Anm. 26); Hausmann, Reinmar (Anm. 3), S. 214– 223; zuletzt und ausführlich Elke Brüggen: Die Wort gewordene Frau. Zur Vertextung ‚weiblicher‘ Selbstreflexion in Reinmars Lyrik. In: Innenräume in der Literatur des Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink u. a., Tübingen 2008, S. 225–245. Meine folgenden Ausführungen berücksichtigen nicht die Überlieferungsvarianz zwischen den Fassungen und wiederholen auch nicht meine von Brüggen sicherlich zu Recht kritisierte Auflösung des Strophenschlusses in Strophe bC 3. Weniger gerechtfertigt erscheint mir Brüggens Kritik an meiner ‚Vernachlässigung‘ der EmFassung. Sie ist nicht dem Umstand geschuldet, dass sich „das Lied in dieser Gestalt aufgrund des Fehlens der dritten Strophe der von ihm [Hausmann] entwickelten Lektüre nicht fügt.“ (Brüggen [Anm. 29], S. 233, Anm. 23). Vielmehr geht es um systematische Überlegungen: Ich gehe grundsätzlich davon aus, dass in E (bzw. im Vorfeld von E) Veränderungen sekun-
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dem Manneslied – stellt eine auf inhaltlicher Kontinuität beruhende Gattungsinterferenz her; der Bote ist insofern nicht nur Mittler zwischen Mann und Frau, sondern auch zwischen den Gattungen Manneslied und Frauenlied. Sein Auftreten indiziert die inhaltliche Kompatibilität der beiden Gattungen – jedenfalls im Fall der beiden Lieder MF 177,10 und MF 163,23. ‚Sage, daz ich dirs iemer lône, hâst du den vil lieben man gesehen? ist ez wâr und lebt er schône, alse si sagent und ich dich hoere jehen?‘ „Vrowe, ich sach in: er ist vrô. sîn herze stât, ob irz gebietent, iemer hô.“
‚Sag – und du kannst sicher sein, dass ich dich dafür belohnen werde –, hast du den geliebten Mann gesehen? Ist es wahr, dass er ein vortreffliches Leben führt, wie alle behaupten und wie ich auch dich sagen höre?‘ „Herrin, ich habe ihn gesehen: Er ist glücklich. Sein Herz ist, wenn Ihr es ihm gebietet, voller Freude.“
‚Ich verbiute ime vröide niemer; lâze eht eine rede, sô tuot er wol. des bite ich in hiut und iemer: deme ist alsô, daz manz versagen sol.‘ „Vrowe, nû verredent iuch niht. er sprichet: allez daz geschehen sol, daz geschiht.“
‚Ich verbiete ihm Freude niemals. Er verhält sich richtig, wenn er eine bestimmte Rede unterlässt. Darum bitte ich ihn heute und auch in Zukunft. Diese Rede ist so, dass man sie verbieten soll.‘ „Herrin, nun verrennt Euch nicht mit Euren Worten. Er sagt: Alles was geschehen soll, das wird geschehen.“
‚Hât aber er gelobt, geselle, daz er niemer mê gesinge liet, ez ensî ob ich ins biten welle?‘ „vrowe, ez was sîn muot, dô ich von ime schiet. Ouch mugent irz wol hân vernomen.“ ‚owê, gebiute ichz nû, daz mac ze schaden komen.
‚Mein Freund, hat er aber versprochen, dass er nie wieder Lieder singen wird, außer ich bitte ihn darum?‘ „Herrin, es war seine Absicht, als ich von ihm Abschied genommen habe, auch kann Euch das schon zugetragen worden sein.“ ‚O weh, wenn ich es nun erlaube, dann wird mir das zum Schaden gereichen.
Ist aber, daz ichz niene gebiute, sô verliuse ich mîne saelde an ime, und vervluochent mich die liute, daz ich al der welte ir vröide nime. Alrêst gât mir sorge zuo. owê, nu enweiz ich, obe ichz lâze oder ob ichz tuo.
Wenn ich es aber nicht erlaube, dann verliere ich mein Glück, das an ihm hängt, und die Leute werden mich verdammen, weil ich der ganzen Welt ihre Freude zerstöre. Wie auch immer – auf mich wartet Kummer. O weh, ich weiß nun nicht, ob ich es besser lasse oder besser tu.
därer Art durchgeführt wurden, die für den Zielpunkt meiner Überlegungen weniger relevant sind als Differenzen, die zwischen den ‚älteren‘ Überlieferungsstufen *BC und *AE zu verorten sind. Vgl. meine Überlegungen zur Hs. E (bzw. zur Überlieferungsstufe *E): Hausmann, Reinmar (Anm. 3), S. 301–307.
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Daz wir wîp niht mugen gewinnen vriunt mit rede, si enwellen dannoch mê, daz müet mich. ich enwil niht minnen. staeten wîben tuot unstaete wê. Waer ich, des ich niene bin, unstaete, liez er danne mich, sô liez ich in.‘ (MF 177,10-39)
Mich macht es traurig, dass wir Frauen keine Freunde gewinnen können, mit denen es beim Sprechen bleibt, ohne dass sie mehr wollen. Ich will nicht lieben! Beständigen Frauen schadet Unbeständigkeit. Wenn ich – was ich auf keinen Fall bin – unbeständig wäre und er mich lassen würde, dann würde ich ihn auch lassen.‘
swaz geschehen soll, daz geschiht – zweifellos bedarf gerade diese männliche Aussage aus Lied MF 163,23 der Kommentierung durch ein Frauenlied. Ist dieser trôst, mit dem sich der Mann der Frau und ihrem künftigen Tun auszuliefern scheint, nicht sogar als eine Form der Unterwerfung zu verstehen? Oder handelt sich gar um eine Aussage, die mit einer substantiellen Antwort von Seiten der Frau überhaupt nicht mehr rechnet, die also bloß noch für das Aussagesubjekt bedeutsam ist und die Frau als „Du“ nicht mehr ins Kalkül zieht? Es sind Fragen wie diese, welche durch das Frauen- bzw. Botenlied MF 177,10 beantwortet werden. Als einer, der sich der Frau und ihrem Willen unterwirft, wird der Mann auch an anderen Stellen in Lied MF 177,10 zitiert: sîn herze stât, ob irz gebietent, iemer hô (MF 177,15) heißt es am Ende der ersten Strophe, und in Strophe 3 berichtet der Bote, dass der Mann nur noch auf Geheiß der Frau singen werde. Aber diese Aussagen und auch die Auskunft er sprichet: allez daz geschehen sol, daz geschiht (MF 177,22) haben auf die Frau keine beruhigende Wirkung. Im Gegenteil: Gerade diese Passagen, in denen der Bote von der Unterwerfung des Mannes unter den weiblichen Willen berichtet, scheinen auf die Frau einen subtilen, aber doch deutlich erkennbaren Zwang auszuüben. Mehr und mehr verwickelt sie sich dabei in ein dilemmatisches Dickicht aus gebieten und verbieten. Als Antwort auf die erste Botenrede gebietet sie zwar in Strophe 2 nicht vröide, doch ist es offenbar eine Selbstverständlichkeit für sie, dass sie dem Mann vröide auch nicht verbietet. Sie bittet ihn aber, eine bestimmte rede zu unterlassen und will insofern einen Zusammenhang zwischen der rede und der vröide des Mannes nicht gelten lassen. Der Bote antwortet darauf mit einer Zurechtweisung (nu verredent iuch niht; MF 177,20) und zitiert den Mann mit der aus MF 163,23 bekannten Aussage, die tatsächlich zweideutig ist und jedenfalls nichts darüber aussagt, wer bestimmt, was geschehen soll. Die Frau spürt diese Zweideutigkeit offenbar, denn in der mit einem Widerspruch einsetzenden Strophe 3 fragt sie präziser nach: Hât aber er gelobt, geselle, / daz er niemer mê gesinge liet, / ez ensî, ob ich ins biten welle? (MF 177,22-24) Die Antwort des Boten könnte die Frau eigentlich beruhigen, doch gerade
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das ist nicht der Fall. Der Mann hat sich zwar ihrem Willen überantwortet, aber es ist unklar, was sie überhaupt will. In dieser Strophe gehört der letzte Vers nicht wie bisher in den Strophen 1 und 2 dem Boten, sondern der Frau, und der Widerspruchseinsatz in Strophe 4 bezieht sich nicht mehr auf eine vielleicht etwas zweideutige Aussage des Boten über den Mann, sondern auf ihre eigene Ich-Aussage in MF 177,27. Der Widerspruch Bote-Frau ist zurückgedrängt, oder besser: in modifizierter Form als Dilemma von der Frau internalisiert worden. Damit kommentiert das Botenlied MF 177,10 mit der darin enthaltenen Frauenrede genau jene männliche Position, die in MF 163,23 zum Ausdruck kommt; es zeigt sich, dass das wol sprechen gegenüber Frauen, konsequentes Festhalten am Dienst, Optimismus (trôst) und die Geste der Unterwerfung bei der Frau in der Tat die vom Mann gewünschten Effekte hervorrufen. Die auf die männliche Perspektive beschränkte Ich-Ausage von MF 163,23 erhält so einen dem Rezipienten unmittelbar zugänglichen quasi-objektiven Hintergrund und wird dabei auktorial bestätigt: Genau so muss der Mann auftreten, um die Frau in ein arges Dilemma zu stürzen. Das Botenlied zeigt, dass im Hintergrund der Klagelieder des Hohen Minnesangs nicht etwa gar keine und auch nicht eine abweisende Dame stehen muss; vielmehr ist auch eine grundsätzlich liebesbereite Frau mit dem Konzept der Hohen Minne kompatibel. Sie muss allerdings – und das ist eben gerade im paradoxen Wollen des Mannes angelegt – den Mann immer zurückweisen bzw. selbst in lähmender Reaktionslosigkeit verharren. Ein Botenlied wie MF 177,10 zeigt, dass dem Hohen Minnesang nicht notwendig die Frau als Gegenüber des Mannes abhandenkommen muss; sie kann sogar liebesbereit sein. Freilich ist diese Lösung der Problematik instabil. Denn die logische Spannung zwischen lyrischer Option im Manneslied (auch in MF 163,23) und narrativer Option im Botenlied (MF 177,10) oder Frauenlied bleibt erhalten. Der Bote überspringt auf dem Weg vom Manneslied zum Botenlied eine veritable Metalepse, weil die beiden Lieder ganz unterschiedliche Sprechweisen bedingen, die nicht auf einer Ebene kompatibel sind. Stellt man die beiden Lieder nebeneinander oder stellt man sie sich in einer Aufführungssituation unmittelbar nacheinander von einem Sänger präsentiert vor, dann kommt es zu einem Oszillieren zwischen narrativer und lyrischer Option, das nicht zum Stillstand gebracht werden kann. Die Überlieferung scheint diese Problematik durchaus realisiert zu haben: Die Handschrift A, in der Reinmars Korpus als überhaupt erstes verzeichnet ist, überliefert keines der Frauenlieder und ansonsten nur eine einzige Frauenstrophe unter Reinmars Namen. Ein Redaktor im Vorfeld der Handschrift A, dem erkennbar an der hochminnesängerischen Bereinigung des Reinmar-Korpus gelegen war, hielt Frauenrede offenbar für nicht kompatibel mit dem Rest des Korpus.
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Eine andere Lösung zu dieser Problemkonstellation scheint Walthers Lindenlied (L 39, 11)30 zu bieten. Hier lassen sich drei Zeitebenen unterscheiden: Die weibliche Ich-Figur erinnert sich (Ebene 1) an einen Vorgang in der Vergangenheit (Ebene 2), von dem es in ihrer Gegenwart noch Anzeichen gibt, etwa das zerdrückte Gras und das Bett aus Blumen. Aus der Perspektive der Aufführungssituation, die die dritte Zeitebene darstellt (Ebene 0), liegt die Gegenwart der Ich-Sprecherin in der Vergangenheit, denn Frauenrede erzeugt in der Aufführung immer eine zeitlich aufzufassende Situationsspaltung.31 An sich also wird hier in der Vortragssituation vom Sänger dargestellt, was eine Frau spricht; und deren Rede ist selbst wiederum Erzählung über ein vergangenes Ereignis, an das sie sich erinnert. Zweifellos hat Walther im Lindenlied das Problem der im hochminnesängerischen Konzept unsichtbar gewordenen Frau in gewisser Weise gelöst: Die Frau, die hier spricht, hat eine erhebliche erotische Präsenz. Der Preis für diese Präsenz ist aber die Narrativierung qua Frauenrede, die das liebesbereite weibliche Wesen dann eben doch wieder in die Abwesenheit des Präteritums rückt. Das Besondere am Lindenlied ist nun, dass Walther mit originellen Techniken eine Unmittelbarkeit des Vergangenen erzeugt – oder anders gesagt: Er verlängert das Präteritum ins Präsens.32 Das geschieht textintern durch die Wahrzeichen, die es angeblich ‚immer noch‘ (L 40,4) zu sehen gibt. Daraus bezieht das Lied seine Spannung: Was eigentlich heimlich geschehen ist und verheimlicht werden muss, wird im Lied selbst, aber eben auch in den Wahrzeichen, öffentlich, und zwar indem es die IchFigur sagt. Dreh- und Angelpunkt des Spiels um Intimität und Öffentlichkeit einerseits und um Vergangenheit und Präsenz/s andererseits aber ist der 30
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Ich beziehe mich auf die Ausgabe Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. Hrsg. von Christoph Cormeau, 14., völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner, Berlin, New York 1996, hier S. 77 f. Ich verwende die ‚alte‘ Liedzählung nach Lachmann. Zum Lindenlied vgl. v. a. Hartmut Bleumer: Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang. In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Hrsg. von Helmut Birkhan, Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wiss., Phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 721), S. 83–102, hier v. a. S. 95–99, mit einer insgesamt in eine ähnliche Richtung weisenden Interpretation, die allerdings vor allem die Interferenzen zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang ins Zentrum rückt; sowie Jan-Dirk Müller: ‚Gebrauchszusammenhang‘ und ästhetische Dimension mittelalterlicher Texte. Nebst Überlegungen zu Walthers Lindenlied (L 39,11). In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (TMP 12), S. 281–305; Susanne Köbele: Ironie und Fiktion in Walthers Minnelyrik. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Peters/Rainer Warning, München 2009, S. 289–317, hier S. 293–301. So auch Müller (Anm. 30), S. 294: „Auch als Gesang ist sie [die Rede der Frau] vom Hier und Jetzt der Vortragssituation distanziert.“ Vgl. Köbele (Anm. 30), v. a. S. 296, die die hier besprochenen Phänomene vor allem unter dem Gesichtspunkt der Ironie perspektiviert.
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lautmalerische Refrain tandaradei. Er ist in Strophe 1 Wiedergabe des Gesangs der Nachtigall im ‚Damals‘ der Liebeserfüllung; in den Strophen 2 und 3 ist er freudiger Ausruf der Frau in der Gegenwart ihrer Rede, und in Strophe 4 ist er Gesang eines kleinen Vögleins, das genau zwischen Intimität und Öffentlichkeit steht.33 In allen Strophen aber wird dieser Refrain in der Aufführung vom Sänger Walther von der Vogelweide gesungen. Das tandaradei ist in allen Zeitstufen des Liedes präsent; es lässt damit aber auch den Sänger in allen Zeitstufen gegenwärtig sein: Die Pointe des Liedes besteht ja darin, dass Walther als Sänger genau das tut, was das scheinbar verschwiegene Vöglein eben auch tut: Er singt so wie dieses.34 Dadurch kommt es zu einer Assoziation zwischen Sänger und vogellîn, die auch die mit Frauenrede verbundene Situationsspaltung überspielt. Die Frau täuscht sich also, wenn sie meint, das vogellîn könne verschwiegen sein: Walther von der Vogelweide ist jedenfalls nicht verschwiegen. Mit dem Lindenlied geht Walther sicherlich an eine konzeptionelle Grenze: Die Liebeserfüllung, auf die hier mit vielen sexuellen und erotischen Konnotationen angespielt wird, liegt zwar in der Vergangenheit, aber sie wird so weit wie nur irgend möglich aktualisiert und konkretisiert; die Zuhörer können das vogellîn hören, das als Augenzeuge dabei war, wenn sie Walther zuhören. Systematisch gesehen ist das der Versuch einer Integration von narrativer und lyrischer Option: Eine Geschichte, die durch die Lyrizität eines desemantisierten lautmalerischen Elements gegenwärtig wird. Das Lindenlied und die Reinmarschen Frauenlieder sind damit komplexe Reaktionen auf das Problem des ‚Verlustes‘ der Frau im Hohen Minnesang. Reinmars Versuch scheint darauf zu zielen, die Konzeption des Hohen Minnesangs zu ‚retten‘; sie bleibt für sich genommen unangetastet und wird lediglich durch einen ‚objektiven‘ Hintergrund – die liebesbereite Frau – ergänzt. Walther dagegen wählt Frauenrede hier nicht nur als Vehikel einer Ergänzung, sondern plädiert für eine grundlegend andere Konzeption, in der Erfüllung ihren Platz hat. Damit sind freilich nur zwei Antworten auf das Problem vorgeführt worden. In der Generation um Reinmar und Walther scheint das Problem der Re-Substantialisierung der Frau und damit der Wiederherstellung der Beziehungshaftigkeit von Minne wesentliche Motivation für eine Reihe von Innovationen gewesen zu sein. Wal33 34
Müller (Anm. 30), S. 295, spricht von einer „Verklammerung“ durch den Refrain. Anders als Müller (Anm. 30), S. 297, sehe ich darin nicht ein Dokument für eine spezifisch mittelalterliche Ästhetik, in der „Naturschönes, Kunstschönes und schöne Gesellschaft noch nicht voneinander geschieden“ sind. Vielmehr wird diese „Ungeschiedenheit“ durch das sehr spezielle poetische Verfahren des Liedes selbst erst erzeugt, und seine Ästhetik ist deshalb – gegen Müller – eine „rein literarische“, was aber nicht bedeutet, dass es sich um ‚autonome‘ Literatur handelt. Das Lindenlied fügt sich also gerade nicht in ein teleologisches Modell der zunehmenden ästhetischen Ausdifferenzierung ein, dem Müller hier verpflichtet zu sein scheint.
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thers Postulat der Gegenseitigkeit und die Wolframsche Option des Tageliedes gehen in eine Richtung, die das Konzept des Hohen Minnesangs letztlich überwindet. Reinmars Frauenlieder, vor allem aber auch Heinrichs von Morungen herzeliebe-Lieder bieten Versuche, den Hohen Minnesang unter Beibehaltung seiner grundlegenden Programmatik zu ergänzen. In dem einen Fall, bei Reinmar, wird die Frau durch Frauenrede wieder ‚präsent‘ gemacht, bei Heinrich von Morungen dagegen wird die Verinnerlichung der Frau zwar radikal auf die Spitze getrieben, doch dabei wird gerade die sinnliche Wahrnehmbarkeit der Frau ständig um so mehr in den Vordergrund gespielt. VI. Lyrische Reflexion auf konzeptionelle Verluste Den Integrations- und Lösungsversuchen der Reinmar-/Walther-Generation stehen Texte gegenüber, die den ‚Verlust‘ der Dame auf eine grundsätzliche Weise ernst nehmen und zum eigentlichen Thema machen. Verlust und Absenz werden nun als basale Wahrnehmungs- und Erfahrungsprobleme reformuliert. Man mag eine solche Bewusstwerdung der Tiefenstruktur auch im Narzisslied Heinrichs von Morungen erkennen können, besonders deutlich wird sie bei Walther von der Vogelweide in einer Strophe, die das Problem des konzeptionellen Verlustes des Du im Minnesang in grundsätzlicher Weise zum Thema hat. Ich hâte ein schoene bilde erkorn, und owê, daz ichz ie gesach und ouch sô vil zuo ime gesprach! ez hât schœne und rede verlorn. Dâ was ein wunder inne, daz fuor ich enweiz war. dâ von gesweic daz bilde iesâ. sîn lilienrôsevarwe wart sô karkervar, daz ez verlôs smac unde schîn. Mîn bilde, obe ich gekerket bin in dir, sô lâ mich ûz alsô, daz wir ein ander vinden frô, wan ich muoz aber wider in. (L 67,32-68,7)
Ich habe mir ein schönes Bild ausgesucht, ach je, hätte ich es doch nie gesehen und nicht so viel zu ihm gesagt. Es hat seine Schönheit und seine Fähigkeit zu sprechen verloren. Etwas Wundervolles wohnte in ihm, das jetzt verschwunden ist, und ich weiß nicht wohin. Deshalb verstummte das Bild, seine blumenbunte Farbe wandelte sich in Kerkergrau, es hat Duft und Glanz verloren. Mein Bild, ich bin in dir eingeschlossen, lass mich wieder hinaus, damit wir einander wieder finden können in Freude, denn hinein muss ich ja doch wieder in dich.
Zunächst ist das schoene bilde ein Objekt, das ein mit Ich bezeichnetes Subjekt sich erwählt, dem es wie einem Du gegenübertritt. Aber dieses Objekt hat seine Substanz verloren: Es ist nicht mehr schön, es redet nicht mehr, das wunder seiner Attraktivität ist verflogen. Das bilde verliert seine Wahrnehmbarkeit als Objekt: Farbe, Geschmack, Erscheinung, Äußerungen –
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das alles ist verschwunden. Vers 68,4 zeigt, warum: Das bilde ist eben gar kein Objekt mehr, es gibt keine Distanz mehr zwischen Ich und Du; vielmehr ist das Ich gefangen, wie Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat: Ich ist Du. Mit der Verinnerlichung endet die Subjekt-ObjektBeziehung zwischen Ich und Du und mit dem Ende dieser Beziehungshaftigkeit ist das Ich in seiner eigenen Projektion gefangen und – schlimmer noch – erkennt das Du als eigene Projektion; es weiß dies von Beginn der Strophe an und spricht nicht umsonst von Anfang an vom bild. Der Ausbruch aus dem Kerker der Ich-Befangenheit ist zugleich die Suche nach der Distanz zum Du, nach neuer Gegenseitigkeit. Erst wenn es die Distanz, die Subjekt-Objekt-Unterscheidung wieder gibt, kann das Ich das Du von neuem vrô finden als jenes bild, das durch Verinnerlichung verlorengegangen ist. Denn, so der letzte Vers der Strophe, ohne dieses „Du“ will das Ich nicht sein; dieser Vers ist jedoch schon resignativ: Die Distanz wird angestrebt, um sie wieder überwinden zu können, um die Anziehung wieder zu spüren und ihr nachzugeben. Am Ende wird wieder die Überwindung der Distanz stehen, wieder wird das Ich das bild als seinen Kerker erfahren. Von der Frau ist hier nicht mehr die Rede; ihre strukturelle Position wird als männliche Projektion entblößt. Der resignierte Unterton der Strophe bezieht sich nicht auf eine wie auch immer konzipierte Minnebeziehung, sondern auf die Unauflösbarkeit der Aporie, die im Minnesang selbst steckt: Das Du im Modus der Präsenz (und sprachlich: im Präsens) zu ‚haben‘, das ist im Minnesang um 1200 eben nicht möglich. VII. Fazit und Ausblick Die Bewusstwerdung dieser Aporie, die in der Walther-Strophe, aber auch im Narzisslied Heinrichs von Morungen erkennbar wird, bedeutet in der Entwicklung des Minnesangs einen nicht mehr hintergehbaren Verlust. Versuche, die oben beschrieben Kippfigur gerade in der Mitte zwischen den Polen still zu stellen (Lindenlied, Reinmarsche Frauenlieder) und damit eine Integration von narrativer und lyrischer Option zu schaffen, scheint es im 13. Jahrhundert nicht mehr zu geben. Vielmehr kommt es zu einer Ausdifferenzierung: Entweder wird die narrative Option gewählt – und dann bleibt das Minnegeschehen eben in der Distanz des Präteritums (etwa bei Neidhart oder im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein); oder aber es wird die lyrische Option gewählt – dann aber schreitet die inhaltliche Entsubstantialisierung voran, Minnesang wird zum Klang, wie man es etwa bei Gottfried von Neifen beobachten kann. An diesem Punkt der Entwicklung aber ist die Alternative zwischen lyrischer und narrativer Option von der anderen, ursprünglich dringlichen Problematik einer Integration von Minne und gesellschaftlichen Normen, von männlicher Souveränität und Soziali-
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siertheit entkoppelt worden. Ich möchte also letztlich vier Diskursphasen des Minnesangs unterscheiden: (1) In einer ersten Phase ist die Poetik des Minnesangs eng mit den jeweiligen inhaltlichen Programmen verbunden: Im Frühen Minnesang bedingt das Programm der gegenseitigen, von der huote verhinderten Minne eine narrative Sprechweise und die Spaltung zwischen interner und externer Situation. (2) Im Hohen Minnesang, der dazu in einem diskursiven Verhältnis steht, wird dann das inhaltliche Programm sozialisierter Souveränität mit der Sängerrolle gekoppelt; es kommt zu einer inszenierten Verschmelzung von interner Situation und Aufführungssituation bei gleichzeitiger Eliminierung der sozialen Nonkonformität des Frühen Minnesangs. (3) In einer dritten Phase werden die Defizite der hochminnesängerischen Konzeption (Verlust der Du-Perspektive, der Frau) wahrgenommen und es wird der Versuch unternommen, sie unter anderem durch Rückgriff auf die narrative Option zu überspielen und auszugleichen (‚Wiedergewinnung der Frau‘); hier sind die komplexen Experimente mit Frauenrede bei Reinmar und Walther zu verorten. Auf andere Weise versucht auch Heinrich von Morungen, die Frau zu visualisieren und damit nicht konkret sondern konzeptionell wiederzugewinnen: im Herzen; als poetisches Erzeugnis durch den ausgeprägten Gebrauch sinnlicher Metaphorik. (4) In einer vierten Phase schließlich erscheint die Problematik ganz literarisiert, nachdem sie zuvor in ihrer Unlösbarkeit bewusst geworden ist. Man entscheidet sich nun ohne weiteres für die narrative oder lyrische Option und nimmt den jeweiligen Preis in Kauf. Die Frau kann so zwar wiedergewonnen werden, aber sie ist dann ganz und gar Figur einer Erzählung (Neidhart, Ulrich von Liechtenstein). Auf der anderen Seite kann Minnesang in einer Steigerung der lyrischen Option ganz zum Klangspiel werden, ohne ein erkennbares inhaltliches Minne-Programm zu verfolgen (Gottfried von Neifen). Man könnte also eine ‚Geschichte‘ des Minnesangs schreiben, die von der Alternative zwischen lyrischer und narrativer Option ausgeht, die den Zusammenhang zwischen der Wahl einer dieser Optionen und der jeweiligen inhaltlichen Programmatik aufzeigt und die schließlich zeigt, wie dieser Zusammenhang in der Entwicklung abhandenkommt und damit ein Prozess der Literarisierung, vielleicht auch der Ästhetisierung stattfindet. Zugleich wäre dies eine Geschichte über den Verlust und die versuchte Wiedergewinnung der Frau im Minnesang.
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Zeit und Erzählung im Tagelied Oder: Vom Unvermögen des Präsens, Präsenz herzustellen I. Emil Staiger: Präsenz als Stillstand der reissenden Zeit Es ist mittlerweile 60 Jahre her, dass Emil Staiger ausgehend von der Beobachtung, dass es „kaum möglich ist, das Wesen des lyrischen Gedichts, des Epos, des Dramas zu bestimmen“1, den Versuch unternommen hat, demgegenüber „eine Bestimmung des Lyrischen, Epischen und Dramatischen“2 vorzunehmen. Dass das Lyrische in seiner literarischen Manifestation, also etwa im Gedicht, schwerer zu fassen ist denn als reine Idee erklärt Staiger damit, dass Lyrik immer schon Resultat einer Vermittlung und Vermischung des Lyrischen mit Sprache und mit dem Epischen und dem Dramatischen sei. Diese Vermittlung ist zwar zwingend notwendig, damit das Lyrische Form und Gestalt annehmen und sich dadurch überhaupt mitteilen kann, führt aber andererseits dazu, dass es in der Form, die es dadurch erlangt, sein ursprüngliches reines Wesen verliert: Das Lyrische wird zu Lyrik, doch „Lyrik braucht keineswegs lyrisch zu sein, und Lyrisches gibt es nicht nur in der Lyrik.“3 Die eine der beiden Vermittlungen, die das Lyrische durchlaufen muss, ist gattungstypologischer Natur. Das Lyrische lässt sich Staiger zufolge seinem „Wesen nach […] nie rein verwirklichen“ und bedürfe des Ausgleichs durch das Epische oder Dramatische.4 Das hat zur Folge, dass „jede echte Dichtung an allen Gattungsideen in verschiedenen Graden und Weisen beteiligt ist und daß die Verschiedenheit des Anteils die unübersehbare Fülle der historisch gewordenen Arten begründet.“5 Dichtung ist also immer Effekt einer Mischung von Lyrischem, Epischem oder Dramatischem. Staiger zieht bezeichnenderweise zur Illustration des Verhältnisses von Lyrischem, Epischem und Dramatischem die Analogie von Seele, Körper und 1 2 3 4 5
Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1946, S. 8. Hervorhebung K. Ph. Ebd. Emil Staiger: Lyrik und lyrisch. In: Der Deutschunterricht 4/2 (1952), S. 7–12, hier S. 7. Staiger (Anm. 1), S. 25. Ebd., S. 10.
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Geist heran.6 Zwar geht es ihm bei dieser Analogisierung vorrangig darum zu zeigen, dass alle drei stets nur miteinander einen Text konstituieren können, doch die platonistische Deutung des Bildes drängt sich wohl nicht ganz zu Unrecht auf. Denn das Lyrische, die Seele, ist für Staiger immer auch der Gefangene des Körpers Sprache,7 derer das Lyrische sich zwar – und das ist die zweite Vermittlung, die das Lyrische durchläuft – bedienen muss, von deren Unzulänglichkeit es aber immer auch beeinträchtigt und eingeschränkt wird. Und so wie die Seele im Platonismus den Moment herbeisehnt, in dem sie ihr Gefängnis abstreifen kann und wieder frei wird, schwingt auch bei Staiger stets die Sehnsucht nach einer Verwirklichung des innersten Prinzips des Lyrischen, der reinen Abstandslosigkeit, mit: Abstandslosigkeit wäre die Aufhebung des Abstandes, der dem Lyrischen durch die Sprache auferlegt ist.8 In keiner anderen Gattung ist das Rauschen des Mediums Sprache so vernehmbar wie in der Lyrik, nirgends wird die Eigenschaft der Sprache, sowohl Medium als auch Mitteilung zu sein, so deutlich wie in ihrem Falle.9 Lyrik geriert sich als unmittelbare Mitteilung, die jedoch, vermittelt durch die Sprache, Staiger zufolge niemals wirklich unmittelbar sein kann:
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Vgl. Staiger (Anm. 3), S. 12: „Halten wir alles Theologische fern, so scheint es richtig, diesem Menschlichen, das in der Literaturwissenschaft den Namen ‚lyrisches Element‘ erhält, im allgemeinen Sinne den guten alten Namen ‚Seele‘ zu geben und es dem Epischen als dem Körper, dem Dramatischen als dem Geist gegenüberzustellen. Auch dann ist wieder ersichtlich, daß die drei sich immer vereinigen müssen.“ Der Sprachskeptizismus Staigers ist bekanntlich romantischen Ursprungs – und damit hochaktuell, vgl. Hans Lösener: Subjektivierung und Artikulation – Zum Begriff des lyrischen Ichs. In: Individualität als Herausforderung. Identitätskonstruktionen in der Literatur der Moderne (1770–2006). Hrsg. von Jutta Schlich/Sandra Mehrfort, Heidelberg 2006 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 234), S. 1–16, hier S. 8: „Die Sprache selbst – so scheint es – verhindert, dass die Seelen sich mitteilen können; denn sie besteht aus Zeichen (den Wörtern), die zwar allgemeine Begriffe, aber keine individuellen Gefühle zum Ausdruck bringen können. Diese in der Sprachphilosophie des 18. Jahrhunderts häufig geäußerte Auffassung findet sich beispielsweise auch bei Johann Gottfried Herder und wird ein Jahrhundert später von Friedrich Nietzsche in seinem Fragment Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (1875) aufgegriffen und radikalisiert. Sie lässt sich in modifizierter Form bis in die postmoderne Sprachtheorie von Jacques Lacan und Roland Barthes, bis Jacques Derrida und Paul de Man verfolgen, wo sie in die Aporie der unsagbaren Subjektivität und der Entfremdung zwischen Sprache und Ich mündet.“ Auch René Wellek: Gattungstheorie, das Lyrische und ‚Erlebnis‘. In: Ders., Grenzziehungen. Beiträge zur Literaturkritik, Stuttgart 1972 (Sprache und Literatur 75), S. 106–124, versteht Staiger so, dass „ein Widerspruch zwischen dem Lyrischen und dem Wesen der Sprache behauptet wird.“ (S. 114) Vgl. Paul Zumthor: Körper und Performanz. Aus dem Französischen übersetzt von K. Ludwig Pfeiffer. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1988 (stw 750), S. 703–713, hier S. 711: „Offensichtlich ist die Stimme das wichtigste Instrument des poetischen Spiels. Sie ist aber andererseits auch sein Gegenstand.“
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Demnach liegt überall, wo überhaupt vollständige Sätze gesprochen werden, schon eine sprachliche Äußerung vor, die lyrisch-episch-dramatisch, wenngleich in verschiedenen Graden und Arten, ist. Nur Silbenfolgen wie ‚Eiapopeia‘ könnten als rein lyrisch, und höchstens eine mathematische Formel könnte als rein dramatisch gelten.10
Weil das Lyrische sich nicht nur mit dem Dramatischen und dem Epischen vermischen muss, um zur Mitteilung zu werden, sondern überhaupt erst der ‚Übersetzung‘ in Sprache bedarf, ist das ‚rein‘ Lyrische an sich gar nicht vernehmlich, denn wenn die Seele spricht, so spricht sie – bekanntlich – im eigentlichen Sinne schon nicht mehr. Das Lyrische ist für Staiger ein „an sich unmögliche[s] Sprechen der Seele.“11 Es müsste sich also nicht nur der Vermischung mit dem Epischen und dem Dramatischen, sondern auch mit der Sprache entziehen, um reine Lyrik hervorzubringen: Sprache verwirklicht das Lyrische nicht, sondern kontaminiert es, sie ist ein Medium, das beständig rauscht und stört. Entscheidend für das Verständnis von Staigers Begriff des Lyrischen ist, dass es – anders als die Lyrik – eben gerade keine sprachliche Kategorie ist, sondern eine anthropologische.12 Es ist „der literaturwissenschaftliche Name für eine fundamentale Seinsmöglichkeit des Menschen, die nicht nur im Bereich der Dichtung, auch nicht nur im Bereich der Kunst, sondern
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Staiger (Anm. 3), S. 9. So liegt es auch nahe, das Lyrische mit Musik zu analogisieren, vgl. Andrea Polaschegg: Tigersprünge in den hermeneutischen Zirkel oder Gedichte nicht verstehen. Gattungspoetische Überlegungen (lange) nach Emil Staiger. In: 1955–2005. Emil Staiger und Die Kunst der Interpretation heute. Hrsg. von Joachim Rickes/Volker Ladenthin/Michael Baum, Frankfurt a. M. 2007 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 16), S. 87–109, hier S. 93: „Seine [Staigers, K. Ph.] Methodologie […] fußt auf einem radikal ent-schriftlichten Konzept von Dichtung; von Lyrik zumal, die er durchgängig – metaphorisch und systematisch – als klingende Musik begreift.“ Staiger (Anm. 1), S. 83. Genau in diesem Punkt ist Staiger oft missverstanden worden, etwa von Wellek (Anm. 8), S. 124: „Man sollte den Versuch gänzlich aufgeben, die allgemeine Natur der Lyrik oder des Lyrischen bestimmen zu wollen. Es können doch nur die krassesten Verallgemeinerungen dabei herauskommen. Wesentlich fruchtbarer scheint es mir, sich einer Untersuchung der Mannigfaltigkeit der Dichtung sowie der Geschichte und damit einer Beschreibung der Gattungen zuzuwenden, die in ihren konkreten Überlieferungen und Konventionen erfaßt werden können.“ Die Frage ist nur, nach welchen Kriterien eine solche Gattung Lyrik definiert werden sollte. Bereits 1952 schreibt Staiger (Anm. 3), dass es „längst schon nicht mehr möglich [ist], die Gattungsgesetze der Lyrik zu bestimmen. Die Beispiele haben sich seit der Antike so vermehrt und sind so mannigfaltig geworden, daß jeder Versuch, einen Generalnenner zu finden, nur bei den gleichgültigsten Begriffen enden kann.“ (S. 7). Genau aus dieser Verlegenheit heraus versucht Staiger ja, das den vielfältigen Ausgestaltungen zugrunde Liegende zu bestimmen: „Wohl aber ist es auch heute noch möglich, das Wesen des Lyrischen herauszuarbeiten“ (ebd.). An den Begriffen, die Staiger verwendet, ist leicht Kritik zu üben. Schwieriger ist es, Lösungen für die Probleme zu finden, die ihn bewogen haben, sie zu entwickeln. Vgl. auch Fritz Breithaupt: Emil Staiger und das Anthropologische. In: Monatshefte 95/1 (2003), S. 6–13.
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überall in Erscheinung tritt, wo Menschen leben, sprechen und handeln.“13 Deshalb interessiert ihn auch die Lyrik weit weniger als das Lyrische; seine ‚Fundamentalpoetik‘ begreift er nicht als einen Beitrag zur Literaturwissenschaft, sondern als einen „zur philosophischen Anthropologie.“14 Staiger gilt in der modernen Theoriebildung zur Lyrik weithin als überholt. Doch seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Lyrischem und Lyrik ist insofern hochaktuell, als sie einen auch für die moderne Lyriktheorie zentralen Begriff fokussiert, nämlich den des Abstandes oder der Vermittlung. Für Staiger sind es zunächst die Sprache selbst und darüber hinaus die beiden anderen fundamentalpoetischen Formen, also das Dramatische und Epische, die die Abstandslosigkeit des Lyrischen dort unterlaufen, wo es sich in Sprache und dadurch in Lyrik umsetzt. In diesem Prozess wird das Lyrische dem System Sprache und den spezifischen Merkmalen und Eigenschaften von Epik und Dramatik unterworfen. Was das Lyrische von der Lyrik unterscheidet, ist also, dass die Abstands- und Vermittlungslosigkeit, die Signum des Lyrischen sind,15 in der Lyrik, die aus der Vermischung des Lyrischen mit der Sprache und dem Epischen und dem Dramatischen hervorgeht, aufgegeben werden muss. Würde sich die moderne Lyriktheorie zwar kaum seiner Bestimmung des Lyrischen anschließen, so sind doch seine Äußerungen zur Lyrik als gattungstypologischer Mischform in gewisser Weise Vorwegnahmen dessen,
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Staiger (Anm. 3), S. 12. Ebd., S. 12. Vgl. auch die Einleitung in Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, 2. Aufl. Zürich 1953. Staiger schreibt dort: „Die Literaturgeschichte steht, wie alle Geisteswissenschaften, unter der Frage: ‚Was ist der Mensch?‘“ (S. 9). Vgl. Staiger (Anm. 3), S. 8: „Das Wesen des Lyrischen, das vollständig darzulegen die Aufgabe einer Fundamentalpoetik ist, schließt sich darin zusammen, daß hier jede Art von Abstand fehlt. Es gibt keinen Abstand zwischen Subjekt und Objekt; Stimmung ist immer ununterscheidbar Stimmung der Seele und Stimmung der Landschaft. Es gibt keinen Abstand von Inhalt und Form; die Form ist vom Inhalt nicht ablösbar. […] Es gibt keinen Abstand von Dichter und Leser.“ Polaschegg (Anm. 10), die von einer „Entlinearisierung und Entzeitlichung von Literatur“ bei Staiger spricht (S. 102), weist zurecht darauf hin, dass diese Abstandlosigkeit auch einen temporalen Aspekt besitzt: „So betrachtet, liegt die Eigenwilligkeit der Staiger’schen Hermeneutik also weit weniger in der zentralen Bedeutung des ‚Gefühls‘, als vielmehr in der radikalen Ent-Zeitlichung des Verstehensprozesses innerhalb seines Modells. Der Umstand, da[ss] sich das Verstehen literarischer Kunstwerke in einem zeitlichen Nacheinander vollzieht, das mit einem sukzessiven Lektüreprozess verbunden ist, wird in Staigers Konzept des augenblickshaften Angesprochen-Seins aufgehoben. Staiger streicht also die zeitliche Dimension des Nacheinanders aus seiner hermeneutischen Konzeption heraus“ (ebd., S. 98; Hervorhebung i. Original).
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was sie als „zeitliche Sequentialität“16, bzw. „Medialität“17 in der Lyrik bezeichnet: Eine Mittelbarkeit des Ausgesagten an der Textoberfläche liegt sowohl bei einem persönlichen Erzähler wie auch bei einem lyrischen Ich vor, und eine Illusion von Unmittelbarkeit an der Textoberfläche bei gleichzeitiger Vermittlung auf der Tiefenebene des Produktionsvorgangs findet sich gleichermaßen beim Reflektormodus des Erzählens wie beim autonomen Gedicht.18
Lyrik wird aus dieser Perspektive heraus, die ihre prinzipielle Vermitteltheit betont, beschreibbar als eine besondere Variationsform des Erzählens mit unterschiedlichem Nutzungsgrad der prinzipiell möglichen Vermittlungsinstanzen: [Die Erzählung ist] narratologisch beschreibbar in der Unterscheidung der zwei Grundkonstituenten ‚zeitliche Sequentialität‘ und ‚Medialität‘ (im Sinne von Vermitteltheit) sowie der prinzipiellen Differenzierung der Medialität im Bezug auf Vermittlungsinstanzen (realer Autor – abstrakter Autor / Kompositionssubjekt – Sprecher / Erzähler – Figur) und Vermittlungsmodi (Stimme und Perspektive). Dementsprechend ist Lyrik im engeren Sinne […] als besondere Variationsform des Erzählens mit unterschiedlichem Nutzungsgrad der prinzipiell möglichen Vermittlungsinstanzen zu bestimmen. Lyrische Texte können […] wie in der Erzählprosa die Staffelung von Vermittlungsinstanzen und die Differenzierung von Vermittlungsmodi realisieren; sie können die Vermitteltheit aber auch zugunsten des performativen Vollzugs des Sprechens […] scheinbar aufgeben.19
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Peter Hühn/Jörg Schönert: Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen zu den Aspekten von Narratologie, Lyrik-Theorie und Lyrik-Analyse. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dens./Malte Stein, Berlin, New York 2007 (Narratologia 11), S. 311–333, hier S. 312. Ebd., S. 312. Werner Wolf: The Lyric. Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation. In: Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Hrsg. von Eva MüllerZettelmann/Margarete Rubik, Amsterdam, New York 2005 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 89), S. 21–56, beschreibt die Position, von der die moderne Lyriktheorie sich abgrenze, als die Behauptung der „existence of a seemingly unmediated consciousness or agency, perhaps even of a ‚persona‘ as the fictional origin of the text. Scholars often address this agency as the ‚lyric I‘, and it is said to constitute the centre of the lyric utterance and of the experience discursivized by it. […] The ‚lyric I‘ as a discursive agency or voice and the alleged origo of the text is often referred to as ‚unmediated‘, in contrast to narrative characters, who are mediated through a narrator […], and this impression of an immediate presence of a (human of anthropomorphic) consciousness and of gaining access to it through the text can be linked to the possibility of a rudimentary aesthetic illusion triggered by lyric poetry.“ (S. 27; Hervorhebungen i. Original). Walther Bernhart: Überlegungen zur Lyriktheorie aus erzähltheoretischer Sicht. In: Tales and ‚their telling difference‘. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. FS zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hrsg. von Herbert Foltinek/Wolfgang Riehle/Waldemar Zacharasiewicz, Heidelberg 1993 (Anglistische Forschungen 221), S. 359–375, hier S. 367 f. Hühn/Schönert (Anm. 16), S. 312.
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Die Vermittlungslosigkeit lyrischen Sprechens stellt sich dann nicht als Signum, sondern als Inszenierung des lyrischen Textes dar: Auf diese Weise ist etwa die – als lyriktypisch geltende – anscheinende Unmittelbarkeit der Selbstpräsentation als strategische Inszenierung des Ichs in der Rolle des Protagonisten des vermittelten Geschehens durch das Ich als Sprecher oder Erzähler darzustellen und der Effekt zu erklären, dass die personale Identität der beiden Positionen den Inszenierungscharakter verdeckt.20
Diesen Aspekt der Vermitteltheit hatte bereits Staiger an der Lyrik in Abgrenzung zum Lyrischen herausgestellt. Signifikante Unterschiede bestehen allerdings in der Begründung der Vermitteltheit von Lyrik. Die narratologische Lyriktheorie führt sie zurück auf die ‚prinzipielle Vermitteltheit‘ menschlicher Erfahrung: Die beiden Darstellungsweisen [Erzähler- und Reflektormodus] sind zwei Ausformungen der prinzipiellen Medialität menschlicher Erfahrung, die zumindest seit Kant zum allgemeinen Erkenntnisschatz gehört und die Stanzel in Käte Friedemanns Formulierung zitiert: […] daß wir die Welt nicht ergreifen, wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen.21
Zumeist wird jedoch ein anderes Argument für die Narrativität von Lyrik herangezogen, nämlich, dass beide Gattungen die gleichen Textstrategien nutzten: […] since lyric poems generally feature the same fundamental constituents as narrative fiction – referring to a temporal sequence – of incidents (in connection with existents), mediating it from a particular perspective, and indicating the act of utterance or articulation through which the sequence is mediated in the medium of a verbal text – narratological categories may profitably be applied to the analysis of lyric poetry.22
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Ebd., S. 328 f. Bernhart (Anm. 18), S. 368. Bernhart verweist auf Käte Friedemann: Die Rolle des Erzählers in der Epik, Berlin 1910. Nachdruck Darmstadt 1965 (Untersuchungen zur neueren Sprach- und Literaturgeschichte N. F. 7), S. 26. Wolf (Anm. 17) kritisiert dieses Argument folgendermaßen: „Bernhart […] comes to the correct conclusion that the criterion of mediacy (or allegedly lyric immediacy) is not valid. However, he uses an unconvincing argument that focusses on the de-facto and ‚deep-structural‘ mediation of all discourse through the author (what is at stake in the question of mediacy is, however, the appearance of a mediator on the textual surface).“ (S. 28, Anm. 25 mit Bezug auf Bernhart [Anm. 18]; Hervorhebung i. Original). Peter Hühn: Transgeneric Narratology. Application to Lyric Poetry. In: The Dynamics of Narrative Form. Studies in Anglo-American Narratology. Hrsg. von John Pier, Berlin, New York 2004 (Narratologia 4), S. 139–158, hier S. 140; vgl. auch S. 139: „The ordering function of narrative primarily rests on the close combination of two distinct dimensions – the dimension first of sequentiality, i.e. the temporal organization and concatenation of individual elements (existents and incidents) into some kind of coherence, and, second, of mediacy, i.e. the presentation (and interpretation) of this sequence from a particular perspective.“ (Hervorhebungen i. Original).
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Allerdings scheinen die Merkmale Sequentialität und Vermitteltheit kaum spezifisch für Narration, sondern vielmehr auf die Textualität zurückzuführen zu sein, die nicht nur narrative und lyrische, sondern eben alle Texte in ihrer Eigenschaft, Texte zu sein, auszeichnet.23 Vielleicht müssten jedoch Sequentialität und Vermitteltheit sogar noch allgemeiner denn als Merkmale von Textualität gefasst werden, nämlich als Eigenschaften von Sprache.24 Dann allerdings wäre man wieder bei Staigers Theoriebildung angekommen, für den sie, die Sprache, ursächlich für den Abstand, die Vermittlung, ist, die die Lyrik vom Lyrischen unterscheidet und ursächlich dafür, dass Letzteres sich niemals rein verwirklichen lässt. Allerdings ist Sprache als Figur der Vermittlung immer ambivalent; in ihrer Klanglichkeit scheint ihre Medialität aufgehoben zu sein: „Der Linearität der Zeit, die in der Gegenwart aufgehoben ist, entspricht der lineare Prozess der zeichenhaften Sinnkonstitution, die im Klang gegenwärtig wird. Das in der zeitlichen Wortfolge Gemeinte scheint durch den Klang der Stimme direkt hörbar zu sein. Im Wortklang emergiert Bedeutung.“25 Diese klangliche Qualität der Sprache ist offenbar gemeint, wenn Staiger über Brentano schreibt, dieser verfüge „nicht über die Sprache, sondern die Sprache verfügt über ihn. Sie reisst den Dichter mit sich fort.“26 Dass Klang und Sprache für Staiger nämlich durchaus nicht identisch sind, zeigt fol23
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Auch die Begründung einer syntagmatischen Analyse von Lyrik nach Aspekten der kognitivistischen Linguistik basiert eher auf der Syntagmatik von Text als von Narration, vgl. ebd., S. 143: „For an explicit construal of the syntagmatic structures informing the sequential dimension in poetry (as well as in narrative fiction), I will draw on concepts from cognitive linguistics and cognitive psychology. The underlying premise of such an approach consists in the notion that it is only through the paradigmatic reference to extra-textual contexts and to world knowledge, i.e. to cognitive schemata already familiar and meaningful, that readers can make sense of texts.“ Vgl. hierzu Hans-Martin Gauger: Linearität. In: Zeit und Text. Philosophische, kulturanthropologische, literarhistorische und linguistische Beiträge. Hrsg. von Andreas Kablitz/ Wulf Oesterreicher/Rainer Warning, München 2003, S. 89–101. Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61, hier S. 33; vgl. auch S. 41: „Was der Klang leistet, ist aber etwas Paradoxes. Denn das sprachliche Zeichen ist eine Distanzkategorie, die Stimme dagegen eine Kontaktkategorie. Die Semantik des Zeichens beruht auf der unhintergehbaren Trennung von Signifikant und Signifikat. Die Distanz zwischen dem Zeichen und seinem Sinn ist der Preis für die Semantik. Wo diese Distanz endet, gibt es keinen Sinn. Der Klang der Stimme dagegen berührt körperlich unmittelbar. Aber er ist asemantisch. Das ist der Preis für die Unmittelbarkeit.“ Daraus resultiert eine gewisse „Tragik der narrativen Struktur“ (ebd., S. 59 f.): „Der Erzähler ist kein Sänger und verfehlt durch die narrative Form seines Zeichenarrangements von vornherein, was er anstrebt. Wie soll man von Liebe erzählen, wo man doch von ihr singen müsste?“ (Ebd., S. 44). Vgl. zum Zusammenhang von Zeit, Erzählung und Klang demnächst Katharina Philipowski: Vergangene Gegenwart, vergegenwärtigte Vergangenheit. Zeit und Präsenz in der mediävistischen Alteritätsdebatte. In: Alterität des Mittelalters? Aufforderung zur Revision eines Forschungsprogramms. Hrsg. von Manuel Braun (in Druckvorbereitung). Staiger (Anm. 14), S. 41.
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gendes Zitat, in dem er sich über ein Gedicht Brentanos äußert: „niemals scheint der Reim gesucht, niemals scheint er auch nur erstrebt. Vielmehr ist’s, als sei der Reim oder die Assonanz zuerst da, und die Sprache schwinge von selber immer wieder ins Gleiche zurück, wie angezogen von einem Magnet.“27 Staiger ist in Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters allerdings durchaus bewusst, dass der reine Klang notwendig der Vermittlung durch „Zögerung und Spannung“ bedarf, um Kunst werden zu können.28 Deren höchste Vollendung ist für Staiger gerade nicht dort verwirklicht, wo die reissende Zeit herrscht (wie in Brentanos Gedichten),29 sondern dort, wo die zeitlose ‚Anschauung des Typus‘ Zeit aufhebt, indem sie „die reissende Zeit30 zum Stehen“31 kommen lässt. Deshalb nennt er die „Gegenwart des klassischen Goethe, im Unterschied zu Brentanos reissendem Jetzt und Da, den ‚Augenblick‘.“32 Staiger zufolge ist Präsenz also nicht in der Klanglichkeit der Sprache, sondern im Typus gegeben, der Zeit aufhebt: „Erst in Goethes ‚Augenblick‘, der wach und klar das Ewige des Typus quer zur Strömung des Vergänglichen wahrzunehmen vermag, ist der Widerspruch gelöst und das Unpräsentische gänzlich aufgehoben in der Präsenz.“33 Staigers Begriff des Typus’ lässt sich weder dem zuordnen, was in der Narratologie discours, noch dem, was dort histoire genannt wird, sondern umfasst beides gleichermaßen.34 Ich möchte im Folgenden an ausgewählten Liedern des Minnesangs zeigen, wie Zeit auf der Ebene der histoire durch den Erzähler aufgehoben werden kann. II. Minnesang zwischen Textualität und Situativität Sprache ist jedoch nicht nur langue, sondern auch parole, d. h., sie ist nicht allein abstraktes Zeichensystem, sondern auch stimmliche Verwirklichung einer Mitteilung. Staiger und die narratologische Lyriktheorie legen ihrer Argumentation schriftliche Texte zugrunde und beschreiben ihre Gegenstände als Texte unter dem Aspekt der langue, selbst dort, wo sie sie als Lie-
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Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 215: „Brentano, Gottfried Keller, Goethe: in dieser Folge würden wir die drei Gestalten auch nach ihrer dichterischen Größe ordnen.“ Und mit ihr, nimmt man Staigers Ausführungen in den Grundbegriffen dazu, wohl auch die Sprache selbst. Ebd., S. 120. Ebd., S. 121. Ebd., S. 215. Vgl. etwa ebd., S. 123–137.
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der konzipieren.35 Dabei spielen Kategorien wie Stimmlichkeit, Situativität und Präsenz in Erzähl- und Lyriktheorie eine zunehmend wichtige Rolle.36 Welche Auswirkungen der Wandel eines Gedichts zum Lied, der Schrift zur Stimme und der Textualität zur Situativität hat, wird in der Altgermanistik, anders als in der Neugermanistik, jedoch lebhaft diskutiert, weil z. B. Minnesang […] publikumsbezogen [ist] und […] mit Blick auf seine Aufführung produziert [wird]. Das ist nicht nur historischen und literarischen Zeugnissen zu entnehmen oder modellhaft mit Hilfe pragmatischer Analysen zu erschließen, es ergibt sich auch aus der sprachlichen Verfaßtheit der Texte selbst. Es sind Texte, die stark durch Pronominalisierung gekennzeichnet sind (was auf eine orale Vergangenheit deuten könnte) und die zum angemessenen Verständnis nichtsprachlicher Zeichen bedürfen.37
Das heißt, dass die Altgermanistik es aufgrund der Tatsache, dass ihre Texte in aller Regel keine reinen Lesetexte sind, sondern Vortragsdichtung, zusätzlich zu den Vermittlungsinstanzen im Text auch noch mit der außerhalb des Textes zu tun haben: Das Performanz-Ich, also das Ich des Vortragenden, steht in einem nach wie vor umstrittenen Verhältnis zu den ihrerseits umstrittenen Vermittlungsinstanzen im Text, denen es seine Stimme leiht. Die Kommunikationssituation, für die Minnesang konzipiert und in der er rezipiert wird, ist insofern kompliziert, als sich in ihr Formen von Face-to-Face-Kommunikation und die Verwendung von Wiedergebrauchsrede38 überlagern. Was vorgetragen wird, ist Text, weist also Merkmale von Strukturiertheit, Abgeschlossenheit, Kohärenz und Schreibbarkeit auf, aber dieser Text wird implementiert in eine Face-to-Face-Situation, die durch die So etwa Wolf (Anm. 17), S. 24. Vgl. zu den Begriffen Stimme und Performativität etwa: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Hrsg. von Andreas Blödorn/Daniela Langer/Michael Scheffel, Berlin, New York 2006 (Narratologia 10); sowie den Forschungsbericht von Sandra Schwarz: Stimmen – Theorien lyrischen Sprechens. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. 3. Hrsg. von Hans Vilmar Geppert/Hubert Zapf, Tübingen 2007, S. 91–123; ferner den neuesten Beitrag zur Lyriktheorie von Heinz Schlaffer: Sprechakte der Lyrik. In: Poetica 40 (2008), S. 21–42, der behauptet, dass sich die ‚illocutionary forces‘ des Gedichts aus den ursprünglich illokutionären Sprechakten des Gebetes entwickelt hätten und immer noch etwas von dessen Kraft aufwiesen: „Wenngleich der Glaube an die magischen Wirkungen von Worten in der Neuzeit geschwunden ist, sprechen Gedichte noch immer so, als besäßen sie eine geistige Kraft, die auf den Zustand der Welt einwirken […] kann“ (ebd., S. 21). Diese geistige Kraft komme – so Schlaffer – jedoch nur der Rede in der ersten Person Präsens zu. Nur dieses Sprechen kann ein Segnen, Entsagen, Mahnen oder Verkünden sein. 37 Helmut Tervooren: Die ‚Aufführung‘ als Interpretament mittelhochdeutscher Lyrik. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart u. a. 1996 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 17), S. 48–66, hier S. 58. 38 Jan-Dirk Müller: Ir sult sprechen willekomen. Sänger, Sprecherrolle und die Anfänge volkssprachlicher Lyrik. In: IASL 19/1 (1994), S. 1–21, hier S. 20, spricht von dem prekären Punkt im System des Minnesangs, an dem sich „die Pragmatik der Aufführungssituation und die Literarizität der Rede kreuzen.“
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Stimme des Vortragenden, seinen Körper, das Publikum und seine Reaktionen wesentlich mitkonstituiert wird. Weil im Rahmen eines MinnesangVortrages ein in sich geschlossener, prinzipiell wiederholbarer Text,39 also Wiedergebrauchsrede,40 auf eine unwiederholbare, ereignishafte und niemals vorhersehbare ‚Situation‘ trifft,41 überlagern sich in ihm zwei Kommunikationsakte: ein textinterner und ein textexterner. Diesen Sachverhalt hat Warning bekanntlich mit dem Stichwort der Situationsspaltung42 bezeichnet, die zwischen textinterner und textexterner Sprechsituation bestehe. Dass die Situationsspaltung – die eigentlich eine Situationsverdoppelung ist – der Germanistischen Mediävistik immer noch Gesprächsstoff bietet, hat seinen guten Grund. Denn mit der Überlagerung zweier Sprechsituationen überlagern sich auch zwei Sprecher, zwei Adressaten der Rede und auch zwei Gegenwarten.43 Jedes Lied handelt den Grenzverlauf zwischen den textinternen und den textexternen Sprechsituationen neu aus, indem es Zum Begriff vgl. Clemens Knobloch: Zum Status und zur Geschichte des Textbegriffs. Eine Skizze. In: LiLi 20 (1990), S. 66–87; Paisley Livingston: Texts, Works, and Literature. In: Spiel 11/2 (1992), S. 197–210; vgl. auch: ‚Textus‘ im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld. Hrsg. von Ludolf Kuchenbuch/Uta Kleine, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 216). 40 Konrad Ehlich: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. von Aleida Assmann/Jan Assmann/Christof Hardmeier, München 1983 (Archäologie der literarischen Kommunikation 1), S. 24–43. 41 Zumthor (Anm. 9) hat zur Beschreibung dieser Situation zwei (leider etwas missverständliche) Begriffe geprägt: Den des Textes, der „jene zur Geschlossenheit tendierende linguistische Folge“ bezeichnet, „deren Gesamtbedeutung nicht auf die Summe einzelner Bedeutungseffekte reduzierbar ist, die durch die aufeinanderfolgenden Bestandteile des Textes hervorgerufen werden“, und den des Werkes, das „die Gesamtheit performativer Merkmale“ umfasst (S. 704 f.). Der Text wird also in dem Moment zum Werk, in dem er Teil einer Vortragssituation wird: „Dem Text entnimmt die Stimme in der Performanz das Werk“ (ebd., S. 705). Etwas klarer definiert Zumthor in: Ders., Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft. Aus dem Französischen von Klaus Thieme, München 1994 (Forschungen zur Geschichte der älteren Deutschen Sprache 18): „Mit dem Terminus oeuvre werde ich künftig die Gesamtheit aller zur performance gehörenden Faktoren bezeichnen, alles, was hic et nunc poetisch mitgeteilt wird: Worte und Sätze, Klänge, Rhythmen, visuelle Elemente. Mit dem Terminus Text bezeichne ich die sprachliche Sequenz, also Worte und Sätze; sie bilden einen der genannten Faktoren.“ (S. 36; Hervorhebungen i. Original). 42 Rainer Warning: Der inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich/Wolfgang Iser, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 183–206, hier S. 193: „Was hier vorliegt, ist vielmehr eine Situationsspaltung dergestalt, daß eine interne Sprechsituation in Opposition tritt zu einer externen Rezeptionssituation. Fiktionale Rede bestimmt sich also pragmatisch über die Simultaneität zweier Situationen, die über ein je eigenes deiktisches System verfügen.“ Vgl. auch Ders.: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven – Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159. 43 Bei diegetischen Texten sind es sogar drei Gegenwarten, nämlich die der Diegese (eine Dame weint, weil ihr Geliebter sie bei Anbruch des Morgens verlassen muss), der Extradiegese (ein
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ihn entweder unterstreicht oder überspielt, also die Identifikation von Performanz- und Text-Ich nahelegt oder unterbindet.44 Das heißt, dass es dem Text, nicht dem Vortragenden, gelingen muss, die Aussagen, die er trifft, mit der Situation, in der er rezipiert wird, zu verknüpfen.45 Eine Strategie, das zu tun, ist eine „Fiktion der Unmittelbarkeit.“46 Wie sie erzeugt werden kann, macht Bleumer deutlich: Der konkrete Sänger wird mit dem Sang identifiziert, und dies führt wiederum dazu, daß es von Seiten der Rezipienten zur Identifikation mit dem konkreten adligen Sänger kommt, weil Publikum und konkreter Sänger über den Sang Teile einer Wertegemeinschaft sind. Da der adlige Rezipient die Übereinstimmung des textinternen und des textexternen sängerischen Ichs, der literarischen und der historisch konkreten sozialen Rollen durch seinen eigenen sozialen Wertehorizont wünscht
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Erzähler spricht über die Situation, in der eine Dame weint, etwa diu vrouwe begunde weinen) und der Vortragssituation. Vgl. Claudia Händl: Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide, Göppingen 1987 (GAG 467); Albrecht Hausmann: Wer spricht? Strategien der Sprecherkonstituierung im Spannungsfeld zwischen Sangspruchdichtung und Minnesang. In: Sangspruchtradition. Aufführung – Geltungsstrategien – Spannungsfelder. Hrsg. von Margreth Egidi/Volker Mertens/Nine Miedema, Frankfurt a. M. 2004 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 5), S. 25–43; Müller (Anm. 38); Ders.: Ritual, Sprecherfiktion und Erzählung. Literarisierungstendenzen im späteren Minnesang. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling/Peter Strohschneider, Heidelberg 1996 (GRM, Beiheft 13), S. 43–76; Peter Strohschneider: Aufführungssituation. Zur Kritik eines Zentralbegriffs kommunikationsanalytischer Minnesangforschung. In: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Hrsg. von Johannes Janota, Tübingen 1993 (Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991, Bd. 3), S. 56–71; Tervooren (Anm. 37). Margreth Egidi: Der performative Prozess. Versuch einer Modellbildung am Beispiel der Sangspruchdichtung. In: Dies./Mertens/Niedema (Anm. 44), S. 13–24, hat unlängst darauf hingewiesen, dass die Rolle des Publikums für die Frage, ob mit dem Liedvortrag „ein Sprechakt oder [die] Inszenierung eines Sprechaktes“ vorliegt, nicht unterschätzt werden dürfe (S. 14). „Es ist keine Frage, dass der Sänger in der Face-to-Face-Kommunikation, auch was diese flüchtigen, wechselnden Festlegungen betrifft, durch Stimmklang, Gestik und Mimik Vorgaben zu machen sucht; insofern legt er bestimmte Zuschreibungen nahe. Aus den erwähnten Gründen sollte in ihm jedoch nicht die alles entscheidende Instanz erblickt und der Kommunikationsprozess für abgeschlossen erklärt werden, bevor die Zuhörer/ Zuschauer ins Spiel kommen“ (ebd., S. 21). Zumthor (Anm. 9), S. 708: „Auch wenn es [das Poem] erst lange nach seiner Entstehung gehört wird, gelangt es im Hören zu einer Art unmittelbarer Existenz. Daher stammt die spezifische Autorität, die dem Text als Performanz innewohnt.“ Die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass die Frage, ob die Situationsspaltung in der Vortragssituation reflektiert wird oder nicht, ob der Vortrag also als vermittlungslose, absolute Rede des Vortragenden über sich selbst verstanden worden ist oder gar als fiktionale Rede, der Komplexität der Sache nicht gerecht wird. Denn einerseits müssen seine Äußerungen zumindest als Text, also als situationsabstrakte Wiedergebrauchsrede, verstanden und anerkannt werden, damit ihnen Geltung zugesprochen und die Situation überhaupt als Vortragssituation verstanden werden kann, sie dürfen also gerade nicht als situative Sprache der Nähe aufgefasst werden. Andererseits muss die vorgetragene Wiedergebrauchsrede soviel Situationsbezug aufweisen, dass sie in der jeweiligen Vortragssituation Aufmerksamkeit und Interesse zu mobilisieren vermag.
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und bejaht, dürfte dies den Anschein einer Unmittelbarkeit der Ich-Aussagen erwecken. Da es sich aber um eine Aufführung handelt, ist das durch die literarischen Rollen erzeugte Bild zugleich immer als Fiktion erkennbar.47
Die Frage, wem die Aussagen, die im Rahmen eines Minnesang-Vortrages getroffen werden, vom Publikum zugerechnet werden, ist unter anderem auch deshalb so schwer zu beurteilen, weil wir zwar über elaborierte Theorien sozialer, kaum aber über Theorien zur Funktion literarischer Rollen verfügen, die uns helfen könnten zu beurteilen, ob Rollenhaftigkeit den Eindruck von Unmittelbarkeit der Rede vor Publikum verstärkte oder verminderte;48 Jauss’ Gegenüberstellung von sozialer und ästhetischer Rolle legt jedoch eher ersteres nahe, da der Handelnde über den distanznehmenden Akt der ästhetischen Einstellung in ein Gegenüber zu seiner Rolle gelangt, das ihn vom Ernst und Motivationsdruck alltäglicher Rollen spielerisch freisetzt. Gleichviel ob man diesen inneren Abstand als ein Sich-in-der-Rolle-Genießen oder als ein reflektiertes Übernehmen und Thematisieren der Rolle als Rolle versteht, entspringt er der ästhetischen Illusion des Spiels, Hartmut Bleumer: Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang. In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. September 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hrsg. von Helmut Birkhan, Wien 2005 (Sitzungsberichte; Österreichische Akademie der Wissenschaften; Philosophisch-Historische Klasse 721), S. 83–102, hier S. 91. 48 In der Minnesangtheorie wird derzeit an solchen Rollenkonzepten gearbeitet; vgl. z. B. Albrecht Hausmann: Die vröide und ihre Zeit. Zur performativen Funktion der Inszenierung von Gegenwart im hohen Minnesang. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Dems. Unter Mitwirkung von Cornelia Logemann und Christian Rode, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 165– 184, der sich vorsichtig kritisch zum Rollen-Begriff äußert: „Das Minnelied ist nicht mediale Vergegenwärtigung von Abwesendem, es behauptet vielmehr die unmittelbare Gegenwart dessen, was gesagt wird. Wenn im hohen Minnesang etwas gespielt wird, dann nicht ‚die Rolle des Sängers‘ (also eine abwesende Person), sondern der Sänger ‚spielt sich selbst‘: Er behauptet, daß sein Handeln – der sängerische Vortrag – mit dem Handeln der Ich-Figur im Text identisch ist. Diese Behauptung muß aber keineswegs im Sinne einer referentiellen Übereinstimmung zwischen dem Text-Ich und der Person des Sängers ‚wahr‘ sein. Der Sänger spielt zwar nicht einen anderen, aber dennoch kann (und wird) es sich um ein Spiel handeln.“ (S. 174). Vgl. auch Harald Haferland: Minnesang als Posenrhetorik. In: Hausmann, Text und Handeln (s. o.), S. 65–105, hier S. 73 f.: „Reinmar singt nicht von einem unbestimmten Ich, er verkörpert es auch nicht, sondern sagt (oder könnte sagen): ‚Ich, Reinmar […].‘ Wer sich hier mit Sprachregelungen wie ‚Reinmar schlüpft in eine Ich-Rolle‘ oder ‚in eine ich-Rolle‘ oder gar ‚Reinmar schlüpft in eine Reinmar-Rolle‘ behelfen wollte, ließe alle Fragen offen.“; sowie Timo Reuvekamp-Felber: Kollektive Repräsentation als soziale Funktion von Minnesang? Zur Pluralität und Variabilität der Ich-Figurationen in der Minnekanzone am Beispiel Friedrichs von Hausen. In: Hausmann, Text und Handeln (s. o.), S. 203–224, hier S. 223: „Die Leistung der Gattung [Minnelyrik] läge dann einerseits in ihrer formalen Ausgestaltung im Sinne einer poésie formelle und andererseits in einer subjektzentrierten Selbstreflexion, die in der rhetorischen Rede analytisch und kunstvoll zugleich Befindlichkeiten der Gefühlswelt in einer Als-ob-Situation systematisch auszuloten verstünde.“ 47
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freiwillig tun zu können, was man sonst im Ernst tun muß. Das ästhetische Rollenverhältnis ist also nicht wesensverschieden von dem habituellen oder engagierten Sich-Verhalten in einer sozialen Rolle; es macht nurmehr die Verdoppelung, die allem Rollenverhalten inhärent ist, kontrastiv bewußt und ermöglicht es, sich selbst in der Erfahrung der Rolle zu genießen.49
Unmittelbar wäre dann allerdings eben nicht die Verkörperung der Rolle, sondern ihre Reflexion in der Rollen-Thematisierung. Ursächlich für Rollenhaftigkeit ist nicht der Vortragende, sondern der Text, der den, der ihn spricht, zu ‚seinem‘ Sprecher macht. Gewissermaßen nimmt deshalb jeder Sprecher eines Textes eine Rolle ein, nämlich die, die der Text ihm in den Mund legt. Allerdings kann es erhebliche Differenzen in der Gestaltung dieser Rollen geben. Sie kann deutlich ausgeprägt und damit unmissverständlich sein, etwa wenn sie durch Geschlecht oder Alter als different zum Sprecher wahrnehmbar wird. Sie kann aber auch konturlos sein, etwa wenn das Text-Ich keine Aussagen über sich selbst macht. Dann ist fraglich, ob überhaupt von einer Rolle die Rede sein kann; stellenweise wird in der Forschung der Begriff der ‚Ich-Rolle‘ verwendet. Entscheidend für das Vorliegen einer Rolle sind aber nicht Geschlecht, Dramatik, Prägnanz oder Expressivität einer Rolle, sondern entscheidend ist, dass ein Sprecher einen Text vorträgt, dass also nicht der Sprecher als er selbst spricht, sondern der Text, den er spricht.50 Denn während für den alltäglichen Sprachgebrauch gilt, dass „der Akt des Sprechens selbst [das Pronomen ‚Ich‘] bereits definiert: ‚ich‘ ist, wer spricht,“51 ist diese Verknüpfung aufgehoben, sobald Wiedergebrauchsrede gesprochen wird. Diese ist schließlich auch ursächlich dafür, dass es zur Situationsspaltung kommt: Hans Robert Jauss: Soziologischer und ästhetischer Rollenbegriff. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard/Karlheinz Stierle, 2. Aufl. München 1996 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 599–607, hier S. 603. 50 In diese Richtung gehend deute ich die Überlegung Müllers (Anm. 38), dass das „Als-ob der Repräsentation […] freilich vermittelt [ist] durch das Als-ob poetischer Rede. In diesem Als-ob zweiten Grades tritt der Sprecher nicht mehr als leibhaftiger Garant für den Wahrheitsgehalt seiner Aussage hervor, sondern als deren Erfinder.“ (S. 21). So dürfte auch Warnings Bestimmung von „fiktionale[r] Rede über die Opposition von interner Sprechsituation und externer Rezeptionssituation“ (Warning, Der inszenierte Diskurs [Anm. 42], S. 198) zu unspezifisch sein, denn diese Opposition setzt nichts anderes als Text voraus. Warning selbst schreibt ja: „So scheint es beispielsweise irreführend, einen Text ohne Deiktika als ‚Text ohne Sprecher‘ zu bezeichnen, weil der Verzicht auf eine textuelle Manifestation der Sprechsituation […] eine gezielte Strategie sein kann. Auch der textuell abwesende Sprecher ist auf pragmatischer Ebene stets vorhanden. Die textuelle Manifestation eines Sprechaktes ist nicht schon mit diesem Akt selbst identisch. Als solcher, d. h. als Handlung, präsupponiert jeder Text ein Handlungssubjekt und also einen Sprecher“ (ebd., S. 186). Es ist dieser Sprecher eines Textes, der die Situationsspaltung herbeiführt, nicht die Fiktionalität des Textes. Dass Warning unter Fiktionalität etwas wie Textualität zu verstehen scheint, suggerieren auch Definitionen wie die von fiktionaler Rede als Wiedergebrauchsrede (ebd., S. 203). 51 Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik. In: Poetica 27 (1995), S. 38–57, hier S. 39. 49
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In gewissem Sinn besteht jede dramatische Aufführung […] aus zwei Sprechakten. Der erste wird vom Schauspieler vollzogen, der eine performative Aussage vollzieht – ‚Ich spiele das‘. Mit dieser impliziten Aussage sagt der Schauspieler die Wahrheit, denn er gibt bekannt, daß er von diesem Moment an lügen wird. Der zweite Sprechakt wird durch eine Scheinaussage repräsentiert, bei welcher das Subjekt der Aussage bereits die Figur und nicht der Schauspieler ist.52
Gleiches dürfte für jede Situation gelten, in der ein Text durch einen Vortragenden zum Vortrag kommt: Dadurch, dass der Text einen Sprecher erhält, den er zum Rollenträger macht, erlangt er eine ‚zusätzliche‘ Vermittlungsstufe.53 Zwar gibt es keine Sprache ohne Medien,54 aber Schrift führt, anders als der mündliche Vortrag, nicht zu einer Situationsüberlagerung.55 So gesehen wäre davon auszugehen, dass der mündliche Vortrag dem Liedtext dadurch, dass er ihm Körper, Stimme und Präsenz verleiht, nicht zu einer Reduktion der Vermittlungsebenen und zu Unmittelbarkeit verhilft, sondern die Mittelbarkeit gegenüber der Lektüre erhöht. „Stimme und Geste“ stiften deshalb gerade nicht „die Wahrheit und Kohärenz“56 eines Textes im Vortrag, vielmehr unterminieren sie sie, und zwar aufgrund der „Spannung zwischen Wort und Stimme; sie resultiert aus einem Quasi-Widerspruch
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Umberto Eco: Semiotik der Theateraufführung. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Uwe Wirth, Frankfurt a. M. 2002 (stw 1575), S. 262–276, hier S. 273 f. (Hervorhebung i. Original). Noch deutlich komplizierter wird die Sache dadurch, dass die Texte des Minnesangs die Diskrepanz zwischen einem Ich, das spricht und dem Text, der gesprochen wird, thematisieren und inszenieren – etwa dadurch, dass in den Texten von auferlegtem Schweigen und Verstellung im Dienst einer Gesellschaft, die die Stiftung von vreude erwartet, die Rede ist. Dann wird die Spaltung des Ichs, die bereits in der Vortragssituation angelegt ist, im Text ein weiteres Mal gespiegelt: Der Sänger „spielt eine Rolle und sagt, daß er eine Rolle spielt; doch Theater spielt er nicht. Der Blick wird gerade nicht auf eine imaginäre Welt gelenkt, sondern auf eine Realität, die sich unter dem, was sich zeigt, verbirgt. Der Referenzbezug wird also nicht gekappt, sondern neu begründet. Dies kann nur in paradoxer Form geschehen, in einer Rede, die ausspricht, daß sie schweigen muß. Allerdings, indem Performanz und Thema in ein paradoxes Verhältnis treten, werden beide gebrochen: Die Aufführung weist auf etwas anderes, was sie aussparen muß, und die Rede sagt etwas, was sie zu verschweigen vorgibt.“ (Müller [Anm. 38], S. 11). Vgl. auch Haferland (Anm. 48), S. 74: „[E]s ist offensichtlich, daß jedes einem festen Wortlaut eingedichtete ‚ich‘ eine Art von Autonomie besitzt. Es kann nicht mehr unmittelbar ausgesprochen werden, ist eher distanzsprachlich, d. h. von einer konkreten Sprechsituation durch vorherige Festlegung des Wortlauts losgelöst. Der Text steht fest, das ‚ich‘ mit ihm, welche Situation der Realisierung des Textes auch immer eintritt. Der Vortragende nimmt das vorher festgelegte ‚ich‘ dann in einer Situation in den Mund, in der er es nicht mehr spontan oder unmittelbar verwenden kann.“ Vgl. Sybille Krämer: Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Wirth, Performanz (Anm. 52), S. 323–346, hier S. 331 f.: „Medien [sind] konstitutiv für die menschliche Sprachlichkeit […]. So wie es keine Sprache ohne Medien gibt, so gibt es auch keine sprachliche Form, die nicht immer Form-in-einem-Medium ist.“ Deshalb ist auch „das ‚lyrische Ich‘ […] primär eine Instanz des verschriftlichten Textes“ (Müller [Anm. 38], S. 6). Zumthor (Anm. 41), S. 76.
Zeit und Erzählung im Tagelied
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zwischen ihren wechselseitigen Zielsetzungen, […] zwischen der Abstraktheit der Sprache und der Räumlichkeit des Körpers.“57 Die in der Performanz zustandekommende ‚Präsenz‘ entzieht dem Hörer großenteils die Möglichkeiten interpretativer Selbststeuerung, unter anderem die eigene Wahrnehmung der textlichen Erzählerstimme, für die nun die des Vorlesers in präsenzbildender, vom Vorleser selbst geschaffener, interpretierender Rolle eintritt. […] Der einzelne Leser hingegen bleibt unberührt von einem traditionalisierenden, kommunal-steuernden Ritual […].58
Denn die Schrift ist – anders als die Person des Vortragenden – nicht personalisiert; wenn ein Text-Ich ‚ich‘ sagt, entstehen keine Referentialisierungszweideutigkeiten wie in der Vortragssituation.59 Allerdings legt der Ausfall von Referentialisierungszweideutigkeiten die Frage nahe, wie das Text-Ich in der Lektüre gefüllt wird. Schlaffer geht davon aus, dass es der Leser selbst einnimmt: Wo der Sänger fehlt, wird der Leser des Gedichts zu solcher Identifikation mit dem anredenden ‚ich‘ und nicht mit dem angeredeten ‚du‘ bereits durch die performative und illokutionäre Struktur der Apostrophe angehalten. Die Anrede verlangt nämlich nach einer Stimme; der Leser leiht seine dem Gedicht, wodurch er notwendigerweise den Gestus des sprechenden ‚ich‘ nachahmt.60 57 58
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Ebd., S. 65. Franz H. Bäuml: Autorität und Performanz. Gesehene Leser, gehörte Bilder, geschriebener Text. In: Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen. Hrsg. von Christine Ehler/Ursula Schaefer, Tübingen 1998 (ScriptOralia 94), S. 248–273, hier S. 253. So übrigens auch Margreth Egidi: Dissoziation und Status der Ich-Rolle in den Liedern Suchensinns. In: Neue Forschungen zur mittelhochdeutschen Sangspruchdichtung. Hrsg. von Horst Brunner/Helmut Tervooren. Berlin 2000 (ZfdPh 119, Sonderheft), S. 237–251, hier S. 251: „Nicht Vereindeutigung wäre somit die wahrscheinliche Tendenz der Sinnbildung im performativen Geschehen, sondern die Verstärkung der Ambivalenz.“ Deshalb ist durchaus nicht klar, dass der Text im Vortrag ‚in sich ruht‘, wie Zumthor (Anm. 9), S. 708, meint: „Auch wenn ihn eine lange Zeit des Schreibens erschaffen hat, als Aufgeführter, Inszenierter, ruht er in sich selbst. Für den Vortragenden besteht die ‚poetische‘ Kunst gerade darin, jene Unmittelbarkeit zu verkörpern, sie in der Form seines Wortes zum Ausdruck zu bringen.“ Hier ist doch zu fragen, ob Verkörperung und Unmittelbarkeit sich nicht ausschließen, denn im Vortrag stört das ‚Rauschen‘ des Mediums Körper die Unmittelbarkeit des Textes. Dass „Stimme und Geste Wahrheit liefern“ (ebd.), wird gerade dadurch in Frage gestellt, dass „die Rede […] nicht einfach Vollstreckerin des Sprachsystems“ ist (ebd., S. 709). Weil sie das nicht ist, ist die einzige Unmittelbarkeit, die sie erschaffen kann, ihre eigene, nicht die des Textes. Die Rede gibt sich, wie Zumthor richtig feststellt, „als Erzählung, sie wird aber gleichzeitig im Klang der Stimme und der Bewegung des Körpers, die ihr Ausdruck verleihen, zum Kommentar des Erzählten“ – und weil sie unentwegt das Erzählte kommentiert, kann sie ihm gerade nicht Unmittelbarkeit oder gar „Wahrhaftigkeit“ (ebd.) verschaffen, es nicht vergegenwärtigen, sondern es immer nur unterlaufen. Schlaffer (Anm. 51), S. 43. Die Argumente Schlaffers sind überzeugend: „Im Gespräch also, beim Anreden oder bei Ansprechen, auf Zetteln oder in Briefen vermutet er, wenn er nicht gerade Zeuge einer Kommunikation Dritter ist, daß das von einem anderen geäußerte Pronomen in der 2. Person ihm gelte. Während er in diesen Fällen den Satz ‚ich liebe dich‘ so versteht, daß ‚dich‘ ihn meine, er also der Geliebte sei, kehren sich im Gedicht die Relati-
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Während der Text den, der ihn spricht, zum Boten, Kreuzfahrer oder zum jungen Mädchen macht, definiert der Situationsrahmen den Vortragenden als Träger, als Vermittler der Rede und dissoziiert ihn so von ihrer Aussage. Wenn der Vortragende als Bote, als Kreuzfahrer oder als Mädchen spricht, wird er damit zur Kippfigur zwischen Situativität und Textualität: Der Text vermag das Lied also sehr wohl zur absoluten und vermittlungslosen Rede zu machen, jedoch nur, wenn das Publikum bereit ist, den Geltungsanspruch der Rolle, die der Text dem Vortragenden zuschreibt gegenüber der Situation zu akzeptieren. Ich komme in meiner Auseinandersetzung mit dem Lindenlied darauf zurück. Dass sich dort, wo schriftliche Texte vorgetragen werden, Merkmale von Textualität und Situativität überlagern und dadurch Zuschreibungsspielräume entstehen, ist ein universales Phänomen. Was die altgermanistische Theoriebildung zu berücksichtigen hat, ist, dass die mittelalterliche Literatur für den Vortrag konzipiert ist und in ihrer ästhetischen Funktion die Situationsspaltung einkalkuliert, indem sie mit konkurrierenden Zuschreibungsoptionen operiert. Texte verfügen – wie oben bereits erwähnt – insbesondere über zwei Techniken der Herstellung einer „Fiktion der Unmittelbarkeit“61, nämlich erstens die Verwendung der ersten Person Singular und zweitens die Verwendung des Präsens, also einer Rede, die ein ‚ich‘ jetzt führt. Deshalb wird die Situationsspaltung am stärksten überspielt oder überbrückt durch ein Sprechen in der ersten Person Präsens – also Ich-Rede – und am deutlichsten markiert durch die Rede in der dritten Person Präteritum, also durch Er- oder Sie-Erzählung. III. Das Tagelied Die Sprechhaltung des Tageliedes – also jener Textsorte des Minnesangs, die die durch den Tagesanbruch erzwungene Trennung eines Liebespaares nach einer heimlich gemeinsam verbrachten Nacht zum Gegenstand hat – weist in der Regel beide Markierungen von Situationsspaltung auf, die des Präteritums und die der dritten Person: Der Ritter ist ja in der Kanzone identisch gesetzt mit dem Sänger-Ich, Liebhaberrolle und Autorrolle sind kurzgeschlossen. Diese Überlagerung ist im Tagelied aufgelöst. Wie die Liebespartner ihr Empfinden reflektieren, ist der lyrische Kern des
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onen um. Hier fühlt sich der Leser nicht als ‚du‘ angesprochen. Vernimmt er die klassische Formel der europäischen Lyrik ‚ich liebe dich‘, so wird er sich nie in die Rolle des geliebten ‚du‘, sondern stets in die des liebenden ‚ich‘ versetzen.“ (Ebd., S. 41 f.). Zumthor (Anm. 9), S. 708: „Auch wenn es [das Poem] erst lange nach seiner Entstehung gehört wird, gelangt es im Hören zu einer Art unmittelbarer Existenz. Daher stammt die spezifische Autorität, die dem Text als Performanz innewohnt.“
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Tagelieds. […] Diese Reflexion artikuliert sich aber als Personenrede in einer vergegenwärtigten Situation. Die Sprecherrolle der Kanzone ist abgelöst und zurückgenommen in die Funktion des objektiven Erzählers […].62
In der Forschung werden mehrere Gründe dafür genannt, dass das Tagelied Erzählung und nicht Rede ist. Der offenkundigste Grund ist, dass minne im Tagelied nicht Zustand ist wie im Klagelied, sondern Ereignis – nämlich das Ereignis der körperlichen Vereinigung: „Der Sinn des Tageliedes und seiner Schilderung des Abschieds zweier Liebender liegt in der Evokation der sexuellen Vereinigung.“63 Dieses bildet das Zentrum des Tageliedes, auch wenn es in vielen Tageliedern nur vorausgesetzt oder angedeutet und nicht auserzählt wird. Als Ereignis ist die minne des Tageliedes in den Ablauf der Zeit eingebunden: Dem Augenblick der Vereinigung korrespondiert der herannahende Zeitpunkt der Trennung, auf den sie bezogen ist und aus dem sie ihre Dramatik gewinnt. Anders als die minne der Werbekanzone, deren Charakteristikum darin besteht, von der Zeit gerade nicht berührt zu werden, ist die Tageliedminne der Zeit geradezu existentiell unterworfen, sie behauptet sich gegen die Zeit, sie erlangt ihre Bedeutung durch die und von der vergehenden Zeit:64 „Daß der Tag in vollem Licht erstrahlt, ist zugleich Zeitpunkt, Anlaß und Bedingung der Gemeinsamkeit, die die Liebenden erfahren.“65 Diese Zeit, die der Tageliedminne ihre Tiefe verleiht, indem sie vergeht, ist jedoch, anders als die Zeit der Kanzone (die beispielsweise im Jahreszeitentopos66 veranschaulicht wird, um mit der der Vortragssituation ver62 63 64
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Christoph Cormeau: Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang. In: FS Walter Haug und Burghart Wachinger, Bd. 2. Hrsg. von Johannes Janota u. a., Tübingen 1992, S. 695–708, hier S. 700. Volker Mertens: Dienstminne, Tageliederotik und Eheliebe in den Liedern Wolframs von Eschenbach. In: Euphorion 77 (1983) S. 233–246, hier S. 239. Zur Frage von „ir liehten vel, diu slehten / kômen nâher, sus der tac erschein“ (MF 3,24 f.) oder „ir liehten vel, diu slehten / kômen nâher, swie der tac erschein“ in Wolframs Den morgenblic vgl. Eberhard Nellmann: ‚Swie der tac erschein‘. Zu Wolframs erstem Tagelied. In: Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. FS Hugo Moser zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Werner Besch u. a., Berlin 1974, S. 113–118. Karl Heinz Borck: Wolframs Tagelied den morgenblick bî wahtaers sange erkôs. Zur Lyrik eines Epikers. In: Studien zur deutschen Literatur. FS Adolf Beck zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Fülleborn/Johannes Krogoll, Heidelberg 1979 (Probleme der Dichtung 16), S. 9–17, hier S. 15. Vgl. dazu Wolfgang Adam: Die ‚wandelunge‘. Studien zum Jahreszeitentopos in der mittelhochdeutschen Literatur, Heidelberg 1979 (Beihefte zum Euphorion 15); Thomas Bein: Jahreszeiten – Beobachtungen zur Pragmatik, kommunikativen Funktion und strukturellen Typologie eines Topos. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993. Hrsg. von Peter Dilg/Gundolf Keil/DietzRüdiger Moser, Sigmaringen 1995 (Kongreßakten des Symposions des Mediävistenverbandes 5), S. 215–237; Ludger Lieb: Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 183–206;
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schränkt zu werden) eine unteilbare. Denn während die Zuhörer eines Sommerliedes, das die blühenden Bäume preist, dann, wenn das Lied im Sommer vorgetragen wird, tatsächlich die wunnecliche zît um sich herum wahrnehmen und so an der Zeit, die das Lied beschreibt, teilhaben können,67 ist die Zeit, die den Liebenden vor Sonnenaufgang davonläuft, niemals die Zeit des Vortrages.68 Sowohl über seine Thematik (die körperliche Intimität), als auch über seine Zeit (die Zeit vor Sonnenaufgang) ist das Tagelied aus der Situation des Vortrages ausgeschlossen. Das, was sich ihr durch Raum, Zeit und Personal entzieht, ist also allein durch die Erzählung und in ihr selbst zu vergegenwärtigen, nicht durch deiktische Hinweise, nicht durch das ‚Ich‘ des Vortragenden und nicht durch das Präsens seiner Aussagen. Tatsächlich ist aber die Erzählung die einzige Möglichkeit, das Vergehen von Zeit darzustellen. Denn anders als die Rede in der ersten Person Singular steckt der Erzähler durch seinen Ausgriff auf die Vergangenheit mit der Diegese einen abgeschlossenen Zeit-Raum ab, dessen Zeit ihm frei verfügbar und gestaltbar wird. Innerhalb dieser Diegese kann das Erzählte eine Vergegenwärtigung erfahren, die das abstandslose und ziellose Sprechen im Präsens, dessen Reichweite sich nie über den gegenwärtigen Moment hinaus erstrecken und damit auch niemals abgeschlossen sein kann, nicht herzustellen vermag. Allerdings ist die Behauptung, dass ausgerechnet die Erzählung Zeit vergegenwärtige, kontraintuitiv, denn – anders als die Gegenstände der Rede im Präsens – ist, was im Präteritum erzählt wird, ja immer schon vergangen und muss vergangen sein, um überhaupt zum Gegenstand der Erzählung werden zu können. Das Erzählen verleiht dem Erzählten zwar Gegenwärtigkeit, aber nicht als Ereignis oder als Begebenheit – also als das, als was es erzählt wird – sondern allein dadurch, dass von ihm erzählt wird, also als Erzählung. Nur die Vermittlung verleiht dem Erzählten Gegenwär-
Jan-Dirk Müller: Jahreszeitenrythmus als Kunstprinzip. In: Dilg/Keil/Moser, Rhythmus und Saisonalität (s. o.), S. 29–47; demnächst Katharina Philipowski: ‚diu werlt ist ûf daz herbest komen.‘ Vom Natureingang zur Jahreszeiten-Allegorie in der Lyrik des 13. bis 15. Jahrhunderts. In: Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hrsg. von Sonja Glauch/Susanne Köbele (in Druckvorbereitung). 67 Hausmann (Anm. 48), S. 176, spricht treffend von einer Simultaneitätssuggestion: „Grundprinzip ist dabei [im hohen Minnesang] die Verknüpfung von Handlungen der ‚internen‘ und der ‚externen‘ Sprechsituation, erst in zweiter Linie geht es um referentielle Relationen. Durch die Simultaneitätssuggestion wird das Handeln des Sängers – also der Liedvortrag – zu einem Gemeinschaftshandeln, das für die Rezipienten Teilhabe an der Minnereflexion des Text-Ich bedeutet.“ 68 So auch Hausmann (Anm. 48): „Die im Tagelied vorgestellte Situation – der frühe Morgen nach einer Liebesnacht – ist weder zeitlich noch räumlich identisch mit der Vortragssituation, beim Vortrag des Liedes wird also Abwesendes vergegenwärtigt.“
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tigkeit, nur solange der Erzähler von ihrer Zusammenkunft erzählt, ist das Paar in der Vortragssituation gegenwärtig. So ist die Zeit des Erzählens stets die Gegenwart, die des Erzählten aber die Vergangenheit. Doch auch das ist eine Simplifizierung, denn wenn von der Klage der Liebenden bei Anbruch des Tages erzählt wird, ist in der Erzählung die Vergangenheit der erzählten Begebenheiten gleichsam im ‚Jetzt‘ des Erzählens aufgehoben. In der Stimme des Erzählers, der uns ‚jetzt‘ erzählt, was längst vergangen ist, ist das Vergangene nämlich gerade nicht mehr vergangen, sondern so sehr ‚jetzt‘ wie das Erzählen selbst.69 Zu ihrer Vergegenwärtigung in der histoire bedarf das Geschehen also der Sukzession des discours. Hält dieser in seinem Fortgang ein, entsteht nicht Präsenz, sondern Schweigen. Eine dritte Option außer Schweigen und Sukzession gibt es nicht. Das gilt jedoch nicht allein für das Verhältnis zwischen histoire und discours, sondern für Sprache insgesamt. Genau das begründet ja Staigers Zweifel am Vermögen der Sprache, das zeitlose, vermittlungslose, abstandslose Lyrische auszudrücken. IV. Stillstand und Vergehen der Zeit: Zeiträume des Tageliedes Jeder Erzähltext kommt auf die beschriebene Weise zustande: Ein als vergangen imaginiertes Geschehen kann dadurch, dass von ihm erzählt wird, der Vergangenheit entrissen und zum Gegenstand der Erzählung werden, so dass diese mit jedem Wort sowohl an der Vergangenheit des Geschehens als auch an der Gegenwart seiner Repräsentation teil hat. Das Besondere am Tagelied gegenüber anderen Formen des Erzählens ist, dass es dieses Verhältnis zwischen der Zeitlosigkeit der Vereinigung und dem Fortschreiten der Erzählung, die diese erst hervorbringt, in der Ausdifferenzierung zweier einander entgegengesetzter Zeiträume veranschaulicht: Eines ‚Draußen‘, jenem Raum außerhalb der Kemenate, in dem die Zeit unaufhaltsam vergeht, die Dunkelheit sich verflüchtigt, der Tag anbricht, die Vögel zu singen beginnen, der Morgen die Nacht verdrängt und eines ‚Drinnen‘,70 in dem die zeitlose Zeit der Liebe herrscht,71 die in dem Moment stehen bleibt, in dem das Paar zu einem Körper verschmilzt, durch den, wie es in Wolframs Ez ist nu tac heißt, selbst drei Sonnen keinen Licht-
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Vgl. dazu Katharina Philipowski: Negative Präsenz. Die gespaltene Zeit der Erzählung bei Paul Ricœur. In: JLT 2 (2008), S. 71–98. Vgl. dazu Jürgen Kühnel: Das Tagelied. Wolfram von Eschenbach. Sîne klâwen. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hrsg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 144–168, hier S. 161–164. Mertens (Anm. 63), S. 239, spricht vom „Hauch der Ewigkeit“, den die Liebesumarmung verbürge.
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strahl hindurch senden könnten.72 Dieses Bild der drei Sonnen ist überaus signifikant, denn die Sonne steht im Tagelied nicht nur für die Helligkeit, die sich im Raum der Liebenden ausbreitet und sie zum Abschied zwingt, sondern auch für das Fortschreiten der Zeit. Doch zumindest für den Augenblick der Vereinigung vermag auch die aggregierte Zeit dreier Sonnen es nicht, die Zeitlosigkeit, die innerhalb der Kemenate herrscht, der Sukzession der Zeit zu unterwerfen. Beide Zeiträume aber, das Drinnen, in dem die Zeit stehen bleibt, wie das Draußen, in dem sie fortschreitet, bleiben selbst in ihrer Antithetik noch eng aufeinander bezogen: Bevor beide Räume schließlich ineinander diffundieren, indem das Licht in den Innenraum einbricht oder der Liebende die Schwelle zwischen drinnen und draußen überschreitet,73 bleibt die Zeit in diesem Innenraum nicht ‚trotz‘ der Sukzession der Zeit draußen stehen, sondern gerade ‚ihretwegen‘. Nur ‚weil‘ die Sonne draußen aufzugehen beginnt, rücken die Körper drinnen immer näher zusammen. Nur weil sie gezwungen werden, sich zu trennen, nehmen sie Abschied, indem sie ein letztes Mal miteinander verschmelzen. Nur das Fortschreiten der Zeit draußen bildet eine Zeitblase innen aus, innerhalb derer das Fortschreiten der Zeit außer Kraft gesetzt werden kann. Genau dies aber ist das Verhältnis von histoire und discours: Es ist die unausgesetzte Bewegung des Erzählens, der Erzähl-Vor-Gang, der Vers für Vers, Strophe für Strophe die Erzählung produziert, die vom Stillstand der Zeit in der Kemenate erzählt.74 Erst dieser Erzähl-Vor-Gang erlaubt es der Zeit in der Erzählung, stehen zu bleiben. Und das ist die im Grunde schlichte, aber weit reichende Beobachtung, auf die ich hinweisen möchte: Der Stillstand der Zeit, also die Entstehung von Präsenz in der histoire, den ich für den zentralen Aspekt der Erfüllung halte, setzt die Sukzession des discours voraus, bzw. die Vermittlung durch den Erzähler. Nur dadurch, dass er von ihr erzählt, kann die Vereinigung in der Vortragssituation vergegenwärtigt werden, nur er kann die Vereinigung ‚vollziehen‘. Weil sie immer schon vergangen ist, findet sie immer nur als seine Beschreibung statt und erlangt deshalb nur in ihr Gegenwärtigkeit. Nicht der Wächter ist der „Katalysator der
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„ob der sunnen drî mit blicke waeren, / sine möhten zwischen sî geliuhten.“ (MF 8,28–29). Kühnel (Anm. 70), S. 160, sieht im urloup einen solchen Synthese-Punkt: „[E]r bezeichnet als Leitwort den einen Augenblick, in dem, an der Grenze zwischen Nacht und Tag, der Anspruch der minne noch, der Anspruch der Gesellschaft schon gilt – Abschied der Liebenden voneinander. Der urloup ist damit auch der Augenblick, in dem der Standpunkt des Wächters […] und der gegensätzliche Standpunkt der Dame […] – wenn auch eben nur für einen Augenblick – zu einer Synthese finden.“ Ebd., S. 161: „[D]er Tagesanbruch als einmaliges und individuelles Ereignis und als Ereignis, in dem das Gesetz der Zeit sichtbar wird; die Unaufhaltsamkeit der Zeit und der Wunsch, das Gesetz der Zeit aufzuheben, die Zeit stillstehen zu lassen“.
Zeit und Erzählung im Tagelied
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Liebesvereinigung,“75 wie Kiening meint,76 und auch das Paar vollzieht die Liebesvereinigung auf der Ebene des discours nicht, sondern allein der Erzähler tut es, indem er sie beschreibt. Vereinigung findet im Tagelied – wie in der Literatur ganz generell – nur als beschriebene, genauer, als vom Erzähler beschriebene statt. Wo er fehlt, entsteht keine Intimität oder Unmittelbarkeit, sondern Dialog, denn dieser ist das einzige, wodurch sich die Figuren selbst äußern können. Dialog ist aber gerade das, was die körperliche Nähe zwischen Liebenden weder herstellen, noch darstellen kann. Nirgends wird das deutlicher als in Walthers Tagelied. Nur der Erzähler erlöst die Figuren vom Zwang zu reden, erst er lässt sie verstummen und im Schweigen jene Nähe zueinander herstellen, die den Gegenstand des Tageliedes bildet; das Lyrische, die Abstandslosigkeit der Figuren, kann allein durch Vermittlung (und – um im Beispiel des Tageliedes zu bleiben – durch die Vermittlung des Erzählers) entstehen. Der Moment der Vereinigung, jener Moment, in dem die Zeit stehen bleibt, in dem die größte Nähe herrscht, dieser Moment kann nur narrativ gestaltet werden. Was ich im Folgenden zeigen möchte ist, dass das Tagelied diesen Sachverhalt reflektiert und verschiedene Strategien der Auseinandersetzung mit ihm erprobt, also immer wieder neu versucht, die Vermittlung durch den Erzähler zu umgehen, um die räumliche und zeitliche Kluft zwischen dem ‚Hier‘ des Singens und dem ‚Damals‘ und ‚Dort‘ der minne-Gewährung anders als durch ihn zu überbrücken. Drei Strategien, die allerdings auf ganz unterschiedlichen narratologischen Ebenen liegen, möchte ich kurz skizzieren: die Spur, die Erinnerung und die Abwesenheit von Vermittlung durch den Erzähler.
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Christian Kiening: Poetik des Dritten. In: Ders., Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003 (Fischer-Taschenbücher 15951), S. 157– 175, hier S. 168: „Der Wächter, dieser Katalysator der Liebesvereinigung, wird scheinbar depotenziert, genau dadurch aber auch profiliert. Als personale Figur steht er nun neben der personifizierten des Tages, und das macht sichtbar, worum es im Ganzen geht: eine ‚gläserne Differenz‘, die trennt und zugleich verbindet, ein Drittes, das zwischen innen und außen vermittelt und doch weder dem einen noch dem anderen ganz angehört.“ Vgl. auch: „Mit ihm [dem Wächter] nimmt sich der Epiker Wolfram, Autor von Parzival, Titurel und Willehalm, in besonderer Weise der Episierung lyrischer Rede an. Mit ihm ist ein Sprecher eingeführt, der die häufig situationsentbundene Minnereflexion auf einen sozialen Raum zu beziehen scheint, einen Raum, in dem Allianzen und Konkurrenzen bestehen, Momente zeitgenössischer höfischer Lebenswelten aufblitzen“ (ebd., S. 159). Das aber leistet nicht er, sondern der Erzähler. Schließlich unterstreicht der Wächter gerade nicht das epische, sondern „das szenische Element im Tagelied.“ (Cormeau [Anm. 62], S. 700).
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V. Präsens: Singen oder Lieben Für die Vortragssituation bedeutet das Vorhandensein eines Er-Erzählers, wie er im Tagelied dominiert, einen Verlust an Unmittelbarkeit, denn das ‚Ich‘, das spricht, spricht nicht von sich selbst, sondern von Dritten, von anderen. Und auch das, was thematisiert wird, ist nicht gegenwärtig, sondern abgeschlossen und vergangen. Während Kummer, Zweifel und Hoffnung im Augenblick des Vortrages stets gegenwärtig sind und folglich im Präsens ausgesprochen werden können, kann das Ereignis der Hingabe immer nur zukünftig oder vergangen sein. Allein schon dadurch, dass das Tagelied mit der Vereinigung eine Handlung und nicht einen Zustand zum Gegenstand hat, ist das Präteritum unumgänglich. Der Hohe Sang thematisiert demgegenüber einen bestimmten Zustand und spricht folglich im Präsens: Die Zeit des hohen Minnesangs [ist] die Gegenwart: Was das Ich eines hochminnesängerischen Liedes als seine Minnereflexion vorstellt, geschieht nicht in der ‚epischen Distanz‘, sondern – zumindest vorgeblich – hier und jetzt, es ist Teil der Gegenwart des minnesängerischen Vortrags. Textinterne Minnereflexion und Vortrag laufen angeblich simultan ab und gehen so ineinander über.77
Doch das Präsens kann niemals eine Geschichte erschaffen, sein Radius umfasst immer nur das Gegenwärtige, Augenblickliche, Momentane, auch das Mögliche, niemals jedoch das Vergangene. Allein dieses aber konstituiert Geschichte. Um eine Geschichte mitteilen zu können, um das zu vergegenwärtigen, was nicht ‚jetzt‘ ist, ist das Präteritum alternativlos. Das Tagelied, das zum Gegenstand hat, worauf das Werbe- und Klagelied zielt, was es erhofft, ersehnt und erfleht, ist also nicht nur inhaltlich, sondern auch grammatikalisch vom Hohen Sang getrennt, und das aus gutem Grund: Das Text-Ich der Minnekanzone kann, wie Bleumer gezeigt hat, keine ‚Geschichte haben‘: Im Hohen Sang [wird] die Struktur der Geschichte zum Problem; die Entfaltung einer vollständigen Geschichte unterbindet das Handlungsmodell des Minnesangs. Denn einerseits setzt dieses Modell zwar die Abfolge von Liebesbegehren, Minnedienst und Liebeserfüllung voraus. Da aber die Wirkung der Minne auf einem Dienst liegt, der das Ziel beständig vor sich sieht, ohne es je zu erreichen, läßt sich die Minnehandlung nicht zur Geschichte ausrunden, ohne ihren gesellschaftlichen Wert zu zerstören. Oder etwas überpointiert gesagt: Der Sänger der Hohen Minne hat keine Geschichte.78
Er kann keine Geschichte haben, weil er im Präsens spricht, weil seine Rolle dem Publikum gegenüber sich auf einen Zustand beschränkt, dessen Totalität die gesamte Gegenwart ausfüllt, aber gerade deshalb keine Vergangenheit zu umfassen vermag. Weil der Sänger der Hohen Minne ganz entscheidend 77 78
Hausmann (Anm. 48), S. 173. Bleumer (Anm. 47), S. 92.
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dadurch charakterisiert ist, im Präsens zu sprechen, muss Cormeaus Versuch, das Tagelied als „eine ergänzende Abwandlung der Minnediskussion“79 zu beschreiben und dadurch der Kanzone anzunähern, scheitern. Die Tageliedminne kann nicht anders denn als Erzählung in die Vortragssituation integriert werden, die Kanzone hingegen immer nur das Präsens umfassen. Insofern besteht gerade keine „spiegelbildliche Symmetrie“80 zwischen ihnen, vielmehr ist der, der die Tageliedminne erfährt, immer ein anderer als der, der in der Kanzone spricht, und dieser vermag, außer in Morungens Tageliedwechsel, aus dem ‚jetzt‘ des Sprechens heraus nicht wie die Erzählung auf ein ‚einst‘ auszugreifen. Geschichte und Situativität schließen sich aus: Wenn es sich so verhält, dass das lyrische Präsens […] also eine grammatische Voraussetzung für die Aneignung von Gedichten [ist]: Weil das ‚ich‘, das spricht, gegenwärtig sein muß, erfüllt diese Bedingung nicht (mehr) das ehemalige und einmalige Ich des Verfassers, sondern das aktuelle und jeweilige Ich des Sprechers,81
dann ist das Präteritum die grammatische Voraussetzung für eine Aneignungs-Vereitelung. Das, was im Rahmen des Tageliedes mitgeteilt wird, ist weder die Erfahrung des Hörers, noch die des Vortragenden, sondern die des Paares. Dass der Sänger der Hohen Minne keine Geschichte hat, heißt aber nur, dass er keine eigene, abgeschlossene Geschichte hat. Er kann folglich sehr wohl von Vereinigung singen, aber nur als Erzähler in der dritten Person. Die Tageliedminne ist, wie auch Reinmars Tagelied eines Einsamen Sô ez iener nâhet deme tage (MF 154,32) deutlich macht,82 nie die eigene, sondern stets die eines andern. VI. Homo- und heterodiegetisches Erzählen Unlängst hat Müller ein neues Argument dafür vorgebracht, dass das Tagelied als heterodiegetische Erzählung konzipiert ist: Neu ist, dass sich diese Tradition [des Tageliedes] nicht auf die Rolle der Ersten Person Singular […] zurückzieht, sondern eine dritte Person – inhaltlich und grammatikalisch – einführt: Man kann das poetologisch als Episierung des Liedes beschreiben, als Etablierung eines textinternen Situationsrahmens, der eine erste und zweite Person, aber nun auch eine dritte Instanz adressierbar macht. Mit dem Heraustreten aus der Beschränkung auf die Erste und Zweite Person und eine Erweiterung auf den Bereich der Dritten wird im Lied ein textuell organisierter, abgeschlossener 79 80 81 82
Cormeau (Anm. 62), S. 706. Ebd., S. 707. Schlaffer (Anm. 51), S. 56. Vgl. dazu Albrecht Hagenlocher: Das ‚Tagelied‘ Reinmars des Alten (MF 154,32). Zur Umwandlung einer literarischen Form. In: ZfdPh 96 (1977), S. 76–89.
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Rahmen der Referentialisierungen aufgebaut, der ganz anders als die dominant performative Integration der Rollenlyrik funktioniert.83
Funktion dieses abgeschlossenen Rahmens der Referentialisierungen ist es, die Aussage textuell zu strukturieren: Die Verwendung der Ersten und Zweiten Person nämlich geht von der Kommunikation unter Anwesenden aus, die Dritte Person (und ihre Pronomina) dagegen verweist auf potentiell Abwesende und muss deshalb z. B. etwas über das Geschlecht dieser dritten Person aussagen. Diese Eigenschaft[en] der Tagelieder rücken sie näher als die Rollenlieder an die Dimension der Schrift.84
Diese Beobachtungen sind zu unterstreichen, können sie doch plausibel darlegen, warum Tagelieder sich erst im hohen und dann verstärkt im späten Minnesang gegenüber den Rollenliedern, die dann ebenfalls dazu tendieren, Erzähllieder zu werden, behaupten können. Allerdings wirft eine medientheoretische Antwort auf die Frage, warum das Tagelied heterodiegetisch erzählt, ihrerseits die Frage auf, warum die Lösung, die Morungen favorisiert, dann nicht Schule gemacht hat.85 Denn das Tagelied lässt sich ja durchaus aus der ersten Person erzählen und Müllers Argumentation zufolge wäre zu erwarten, dass die Tagelied-Situation dem Schema des performativen Rollenliedes86 durch eine homodiegetische Erzählhaltung angepasst würde. Dass das nur ausnahmsweise stattfindet, legt demgegenüber die Schlussfolgerung nahe, dass die Tagelied-Situation, also Vereinigung und Erfüllung, nur in der Form der Erzählung, in der dritten Person, mitgeteilt werden kann – nicht, weil das Tagelied „auf die Schrift zu[geht],“87 sondern weil diese Erzählform gegenüber der in der ersten Person unverzichtbare Vorteile hat.
Stephan Müller: Sprechende Bücher – verschwundene Schrift. Probleme und Praktiken der Kodifizierung von Intimität in der Volkssprache im Früh- und Hochmittelalter. Zugleich eine These zur Spätüberlieferung des Minnesangs. In: Liebe und Schrift in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder, Berlin, New York 2008 (TMP 13), S. 49–61, hier S. 59 f. 84 Ebd., S. 60. So auch Cormeau (Anm. 62), S. 702: „Das Tagelied trennt externe und interne Sprechsituation sehr viel offensichtlicher [als die Kanzone]. Die fingierte Liebesbegegnung wird nun in Rollenfiguren ohne explizite Verklammerungshinweise zum Liedvortrag vergegenwärtigt.“ 85 Und das hat sie definitiv nicht – weswegen es (zumindest für mich) unverständlich ist, warum Glenn Ehrstine: Die Nacht zum Tage gemacht. Zu Elementen des Tageliedes bei Heinrich von Morungen MF 136,25. In: Euphorion 87 (1993) S. 187–199, hier S. 187, schreibt: „Abgesehen von den Liedern Wolframs von Eschenbach ist das Tagelied Heinrichs von Morungen (MF 143,22) wohl das Paradebeispiel dieser Gattung [des Tageliedes] in der mittelhochdeutschen Literatur. Auch den Zeitgenossen, oder zumindest den Nachfolgern, scheint es vorbildlich gewesen zu sein.“ 86 So Müllers Begriff für das Werbelied in der ersten Person Präsens, vgl. Müller (Anm. 83), S. 59. 87 Ebd., S. 61. 83
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Mertens sieht diese Vorteile darin, dass die Darstellung von Sexualität in der ersten Person die höfische Minneideologie unmittelbar in Frage stelle: „Hier zieht sich der Komplex ‚Sexualität‘ in die erzählenden Gattungen zurück, weil es der höfischen Minneideologie widerspricht, ihn argumentativ als Wert zu vertreten“88 und äußert sich damit ganz ähnlich wie Cormeau, der behauptet, dass die höfische Tageliedliebe die Trennung der Sprechebenen nötig machte, um eine Diskretions- oder Reizschwelle nicht zu überschreiten […]. Folge dieser Trennung ist ein Verlust an lyrischer Unmittelbarkeit, weil kein betroffenes, sondern nur ein erzählendes Ich vor dem Publikum spricht.89
So argumentiert auch Johnson, der einen Vorteil des Epischen darin sieht, dass es die Möglichkeit biete, „ohne Preisgabe des Anstands Erotisch-Körperliches zu behandeln.“90 Die spezifische Leistung der hetero- gegenüber der homodiegetischen Erzählung besteht jedoch nicht darin, den ‚Anstand zu wahren‘, auch nicht darin, die Lied-Aussage textuell zu strukturieren,91 sondern darin, eine Ausdifferenzierung von histoire und discours zu bewirken. Durch den extradiegetischen Erzähler, und – darauf hatte Hamburger energisch bestanden92 – ‚nur‘ durch ihn, hebt sich eine Diegese von einer extradiegetischen Erzählebene ab, es entsteht also eine Welt des Erzählten, die durch eine unüberwindliche Grenze getrennt ist von der Erzählebene, auf der der Erzähler spricht. Mit dieser Grenzziehung wird auch eine Differenzierung zweier Zeiten vorgenommen: Während die Zeit der Erzählung und des Erzählers das Präsens ist, kann die erzählte Zeit immer nur die Vergangenheit sein, denn um Gegenstand der Erzählung werden zu können, muss das 88
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Volker Mertens: Erzählerische Kleinstformen. Die genres objectifs im deutschen Minnesang: „Fragmente eines Diskurses über die Liebe.“ In: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987. Hrsg. von Klaus Grubmüller/L. Peter Johnson/HansHugo Steinhoff, Paderborn u. a. 1988 (Schriften der Universität-Gesamthochschule Paderborn, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 49–65, hier S. 53. Cormeau (Anm. 62), S. 702. L. Peter Johnson: Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30), Tübingen 1999 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle, Bd. 2: Vom hohen zum späten Mittelalter, Teil 1), S. 174. Dass sie das auch tut, ist unbestritten. Der homodiegetische Erzähler aber ist – anders als der heterodiegetische – ein Teil der fiktionalen Welt, die deshalb für Hamburger über keinen Erzähler verfügt. Weil er im Fall der Ich-Erzählung unentwegt von und über sich selbst spricht, ist sein Aussageakt Rede und nicht Erzählung. Das Tempus der Ich-Erzählung ist folglich ein reales, während das der Er-Erzählung die Gegenwart der fiktionalen Figuren bezeichnet und mithin eine fiktionale Gegenwart, vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 2. Aufl. München 1987, S. 87: „Wir können die fiktive Gegenwart der Romanpersonen nicht mit dem Erlebnis des Nicht-Vergangenseins gleichsetzen, d. h. ein durch die Bezeichnung ‚fiktive Gegenwart‘ angegebenes Zeitmoment nicht in das Erlebnis von einer Romanhandlung einführen, die überhaupt nicht auf ein Zeiterlebnis des Lesers (und Autors) Bezug hat.“
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Erzählte bereits vergangen sein. Diese Spaltung der Zeit in die Zeit der Erzählung und die des Erzählten ist für das Tagelied von entscheidender Bedeutung, weil sie die Voraussetzung dafür darstellt, Ablauf und Stillstand der Zeit zu gestalten. Ein Text, in dem ein Erzähler von sich selbst erzählt, überspielt die Spaltung zwischen histoire und discours, indem er Diegese und Extradiegese über die Instanz des Erzählers verknüpft, vielleicht sogar vereint.93 Dieser erzählt also immer von seiner eigenen Vergangenheit, seiner eigenen Wahrnehmung und von seiner eigenen Zeit.94 Da die erzählte Zeit die Zeit des Erzählers ist, kann er weniger frei über sie verfügen als der Erzähler in der dritten Person; der Erzähler, der über und von sich selbst spricht, ist gleichsam auf seine eigene Wahrnehmung beschränkt, während der heterodiegetische Erzähler uneingeschränkt über die Diegese und ihre Zeit verfügen kann. Der homo- und insbesondere der autodiegetische Erzähler bleibt demgegenüber stets in sich selbst befangen und auf sich selbst zurückgeworfen. Genau dadurch disqualifiziert sich diese Erzählhaltung für das Tagelied. Denn das Tagelied bedarf eines Erzählers, dessen Blick die Zeit der Vereinigung als eine ‚andere‘ beschreiben kann. Dazu darf er aber gerade nicht Teil der Diegese sein, er darf nicht – wie z. B. der Wächter – zur Welt des Paares gehören. Er muss ein Außenstehender sein, um ihnen Zeit geben zu können. Und nur er vermag auch, beide Protagonisten als Paar zu adressieren.95 Der homodiegetische Erzähler kann über sich selbst und die Dame sprechen, niemals aber von sich als von einem Paar, dessen Handlungen und Empfindungen erzählen. Das wird ganz besonders deutlich in Morungens Tageliedwechsel, der durch zwei Ich-Erzähler gesprochen wird, die übereinander sprechen und dabei nur ihre jeweils eigene Wahrnehmung auf den Moment des Tagesan93 94
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Dieser Sachverhalt hat Hamburger dazu bewogen, dieser Erzählform Fiktionalität abzusprechen. Fasst man Fiktionalität als den Effekt einer Spaltung von histoire und discours auf, kann man sich ihrer Überlegung sehr viel leichter anschließen. Deshalb dürfte der Unterschied zwischen Ich- und Er-Erzähler tatsächlich entscheidender sein als Wellek (Anm. 8) ihn in seiner Auseinandersetzung mit Hamburger darstellt: „Viele Gedichte und Romane benutzen ein ‚Ich‘ als Sprecher, während andere Gedichte und Romane ‚Er‘ brauchen und Personen für sich sprechen lassen. Das ganze Gerede über die ‚Logik der Dichtung‘, aller Scharfsinn, den die Verfasserin darauf verwandt hat, ihre Beobachtungen mit einer Erkenntnistheorie zu verknüpfen, führen nur zu einem mageren Resultat: einer Art Grammatik der Dichtung, der Beschreibung stilistischer Mittel, einer Neuformulierung der uralten Dichtungseinteilung vom Sprecher aus gesehen.“ (S. 112). So bereits auch Borck (Anm. 65), S. 16: „Wolfram begnügt sich nicht damit, die epische Ausgangssituation zum Anlaß lyrischer Bekundungen zu nehmen, wie es seine deutschen, französischen und provenzalischen Vorgänger getan hatten. Er fragt, was wirklich vorgeht, mit und an den Liebenden geschieht, von ihnen zwar erfahren, aber nicht ins Wort gebracht werden kann. Das Geschehen selbst rückt beherrschend in den Vordergrund. Damit gewinnt notwendigerweise auch das Epische an Bedeutung, denn was nun zu sagen ist, läßt sich mit lyrischen Mitteln nicht mehr bewältigen.“
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bruchs mitteilen, die das Bewusstsein des anderen ausschließt und gerade dadurch die Einsamkeit, die den Grundton des Liedes bildet, unterstreicht96 – Ruh spricht in Bezug auf den Wechsel von der „Form der Trennung,“97 bzw. des „Getrenntseins.“98 Die Einsamkeit des Wechsels resultiert im Falle von Morungens Tagelied nicht nur daraus, dass seine Sprecher getrennt sind und eine Erinnerung mitteilen, sondern daraus, dass diese Trennung bereits zum Zeitpunkt des Beisammenseins herrscht; die Perspektiven, die Mann und Frau auf den Augenblick des Tagesanbruchs einnehmen, sind ganz verschieden und bereits im Beisammensein einsam und ungeteilt. Nur der Erzähler, der nicht am Geschehen teilhat, vermag aufgrund seiner Distanz der Vereinigung des Paares Worte zu verleihen, denn dieses selbst ist stumm. Das Tagelied ist deshalb gerade nicht über die „Einheit von Liebendem und Sprechendem“99 organisiert. Wo der Erzähler nicht spricht, bleibt sie – wie in Walthers Tagelied – aus. Denn es sind gerade nicht die Liebenden, die diese körperliche Vereinigung vollziehen, sondern es ist der Erzähler, der sie durch seine Beschreibung und mit ihr vollzieht. Sie findet folglich immer nur auf der Ebene des Erzählerkommentars statt. Denn auch im Tagelied kann der, der die Erfüllung erfährt, sie nicht mitteilen. Dass das Tagelied episch ist, liegt also nicht – wie Karl Heinz Borck meint100 – daran, dass Wolfram als ausgemachter Epiker ihm früh eine verbindliche 96 So schreibt etwa Marianne E. Kalinke: sô taget ez in dem herzen mîn. In: Semper idem et novus. FS Frank Banta. Hrsg. von Francis G. Gentry, Göppingen 1988 (GAG 481), S. 247–254, hier S. 253: „Heinrich’s Wechsel illustrates the disparity between the male and female psyche, as well as the negative and positive aspects of dialogue: the frustration of talking past one another but also the possibility of eventual understanding, provided the partners do not lapse into silence.“ 97 Kurt Ruh: Das Tagelied Heinrichs von Morungen. In: Trivium 2 (1944), S. 173–177, hier S. 175. 98 So Ruh (Anm. 97): „Er [Morungen] erkannte in ihr [der Form des Wechsels] die Form der Trennung: Trennung nicht als unmittelbaren Vollzug, sondern als Getrenntsein.“ (Hervorhebung i. Original); sowie ferner: „Sie [die Erinnerung, K. Ph.] überwindet nur scheinbar die Zeit, sie macht diese erst recht fühlbar, sie ist Bewusstwerden der zeitlichen Räume.“ (Ebd.). Treffend nennt Peter Wapnewski: Morungens Tagelied. In: Ders., Waz ist minne. Studien zur Mittelhochdeutschen Lyrik, München 1975 (Edition Beck), S. 65–73, hier S. 71, den Wechsel deshalb auch den Antipoden des Tageliedes. Allerdings wirft die Vereinigung „als höchste Möglichkeit der Selbstaufgabe […] den Menschen auch zurück auf sich, macht ihm die Grenzen des Aufgehens im anderen bewußt, läßt ihn wesensmäßig auch seine Individuation, sein Alleinsein erfahren“ (ebd., S. 71 f.). Diese Haltung der Einsamkeit ist wesentlich abhängig von der grammatischen Perspektive, die auf die Erfahrung der Vereinigung eingenommen wird. Einsamkeit lässt sich vom Erzähler, der stets die gesamte Szene im Blick hat, schwerer artikulieren als von der einsamen Figur selbst. Das Aufgehen im Anderen aber lässt sich umgekehrt aus der Perspektive des Einzelnen kaum darstellen. Aus diesem Grunde ist der Wechsel Antipode des Tageliedes und die Form, in der der Sprecher oder die Sprecherin ihre Einsamkeit artikulieren. 99 Kiening (Anm. 75), S. 158. 100 Vgl. Borck (Anm. 65).
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Form verlieh, sondern daran, dass das Thema des Tageliedes des Erzählers zwingend bedarf. Während der homodiegetische Erzähler vom Anderen immer nur ‚als‘ dem Anderen sprechen kann, kann der heterodiegetische Erzähler beide zugleich und gleichermaßen nah beschreiben, weil er selbst keinen Ort innerhalb der Diegese einnimmt. Das unterscheidet ihn auch vom Wächter.101 Cormeau schreibt über ihn: „Er übernimmt auf der immanenten Ebene den Part des im Einverständnis beteiligten Mitwissers und sichert damit intensiver als der vermittelnde Erzähler und ihn oft nahezu völlig ersetzend die Verbindung zur externen Sprechsituation.“102 Doch der Wächter kann ebenso wie der homodiegetische Erzähler nur die Wahrnehmung einer Figur wiedergeben. Erst die Auktorialität des Erzählers in der dritten Person ermöglicht die Darstellung dessen, was Zentrum des Tageliedes ist: die körperliche Nähe zwischen Mann und Frau. Das Grundproblem des Tageliedes ist also das der Vergegenwärtigung durch Vermittlung. Erfüllung gibt es – anders als minne oder Leid – in der Vortragssituation nur als entweder vergangene oder zukünftige, in jedem Falle aber als abwesende. Sie kann niemals ‚jetzt‘ statthaben, denn ‚jetzt‘ ist in der Vortragssituation immer nur die Vortragssituation. Obwohl sie sie ausschließt, hat die Vortragssituation zum Ziel, im Singen von der minne diese gegenwärtig zu machen. Diese Vergegenwärtigung kann allerdings nur durch Vermittlung geleistet werden: Erstens durch die Vermittlung der Zeit, in deren Fluss das ‚Jetzt‘ der Erfüllung eingebettet werden muss, um erfahrbar zu werden und zweitens durch die Vermittlung eines Erzählers, der von der Zeit, die vergeht, angehalten wird und weiterläuft, erzählt.103 Drittens kommt auch die Vereinigung nur durch ihn zustande. Dennoch ist immer wieder versucht worden, Alternativen zur auktorialen Erzählhaltung zu finden. Walthers Lindenlied ist einer dieser Versuche.
101 Wie spannungsvoll das Verhältnis zwischen diesen beiden Beobachtern des Tagelied-Geschehens ist, zeigt Wolframs Lied Der helden minne (MF 5,34), in dem die beiden Instanzen Wächter und Erzähler – ohne die Beteiligung von weiteren Figuren oder Handlung – durch eine Rede des Erzählers, die den Wächter adressiert, in Bezug zueinander gesetzt werden. 102 Cormeau (Anm. 62), S. 702. 103 Weil die Vermittlung durch den Erzähler geradezu konstitutiv für das Tagelied ist, ist kaum anzunehmen, dass es diese Vermittlungsinstanz zu überspielen trachtet und die Unmittelbarkeit der Werbelieder anstrebt, wie Rod Fisher: Medieval alienation techniques. Some observations on Wolfram’s dawn-song Ez ist nu tac. In: ABäG 55 (2001), S. 61–74, hier S. 74, vermutet: „[T]he intention will presumably have been to preserve the fiction, to allow the audience to lose itself in identification with the lovers.“
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VII. Spur, Erinnerung, Absenz Das Lindenlied Walthers von der Vogelweide ist meines Wissens das einzige Frauenlied, das es wagt, sein Publikum dadurch zu provozieren, dass es dieses aus der Frauen-Rolle heraus anspricht, etwa mit: dâ mugent ir vinden104 (L 39,14) oder seht, wie rôt mir ist der munt (L 39,28). Publikumsadressierungen finden sich ansonsten ausschließlich in Mannesliedern.105 Natürlich ist das Lindenlied kein Tagelied, aber es diskutiert das gleiche Problem wie das Tagelied, nämlich, wie Abwesendes und Vergangenes in der Vortragssituation zu vergegenwärtigen ist. Das Lindenlied löst das Problem zunächst durch eine Rolle: Der Vortragende wird für die Dauer des Liedes zum Mädchen. Was es erzählt, ist seine eigene Erfahrung. Zwar ist durch das Geschlecht eine unüberbrückbare Grenze zwischen Performanz-Ich und Text-Ich gezogen, doch die textinterne Rolle ist hier so plastisch und lebhaft, dass sie gleichsam aus dem Lied ausbricht und sich mit dem roten Mund nicht nur des Sänger-Körpers bemächtigt, sondern durch die Publikumsadressierung auch der gesamten Vortragssituation. Im Lindenlied dominiert nicht die Vortragssituation den Text des Liedes, sondern umgekehrt unterwirft das Lied sich der Situation, in der es zum Vortrag kommt. Seine spezifische Performativität ist jedoch nur eine Strategie, dem Vergangenen und Abwesenden Gegenwärtigkeit zu verleihen. Textintern wird dieses Problem durch eine Kontinuitätssuggestion gelöst. Dazu bedient sich die Sprecherin der paradoxen Figur der Spur, die die Vereinigung in Form von rotem Mund und gebrochenen Blumen hinterlassen hat. Die Begegnung am Waldesrand ist vergangen, ihre Spuren aber sind ‚jetzt‘ – in diesem Moment, dem Moment des Vortrages – noch vorhanden, und zwar im Wald und auf den Lippen der Sprecherin. Hierin liegt freilich eine der großartigen Pointen des Liedes, denn die Evidenz, die es beansprucht, erstreckt sich eben nur auf den Geltungsbereich des Textes selbst. Nur im Lied und nur für das textinterne Publikum ist die Röte ‚sichtbar‘ – zumindest, wenn man nicht davon ausgeht, dass Walther (oder wer auch immer es vortrug) das Lindenlied mit rot gefärbten Lippen vorgetragen hat. Das Lindenlied vermag also, die Sprechsituation – die textintern, wie ich meine, nicht als Dialog mit der heren vrouwe, sondern bewusst als Reden 104 Zitiert nach Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche, 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996, hier Nr. 16. 105 Vgl. Rüdiger Schnell: Frauenlied, Manneslied und Wechsel im deutschen Minnesang. Überlegungen zu ‚gender‘ und Gattung. In: ZfdA 128 (1999), S. 127–184, hier S. 147: „Eine interessante und, wie mir scheint, absichtlich provozierende Ausnahme stellt das berühmte Lied Under der linden (L 39,11) dar. Denn hier verbinden sich zwei Momente, die gemäß meiner Argumentation nicht zusammen auftreten dürften: Eine weibliche Person berichtet sehr offen und relativ konkret von einer beglückenden sexuellen Vereinigung, tut dies aber nicht in einem privaten Sprechraum, sondern spricht das (fiktive) Publikum an“.
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von der minne gegenüber mehreren Anderen inszeniert ist106 – in eine gemeinsame Situation, zumindest in Kontinuität mit der Liebesgewährung zu bringen und so eine Situationsspaltung spielerisch zu unterlaufen. Allerdings setzt diese Suggestion einer zeitlichen und räumlichen Kontinuität zwischen der Erfahrung von minne und dem Sprechen über minne die Kooperation des textexternen Publikums voraus. Dieses nämlich muss bereit sein, im Sänger das Mädchen zu erkennen und auf seinem Mund ihre roten Lippen. Wenn es sich auf diese Suggestion nicht einlässt, scheitert auch die Verknüpfung von Ort und Zeit der minne mit der minne-Kommunikation. So ist es letztlich nicht „nur [die] Kunst Walthers“107, die das Wunder vollbringt, die textinterne Situationsspaltung aufzuheben, sondern eher das Wunder der szenischen Suggestion, die man Fiktionalität nennen kann, aber nicht muss. Einen gänzlich anderen Weg beschreitet Morungen in seinem TageliedWechsel, der ebenfalls auf Auktorialität vollständig verzichtet und einen anderen Zugang zum vergangenen Ereignis sucht. Handlung und Sprechsituation werden über zwei Erzähler verknüpft, die in je zwei verschränkten Strophen ihre Erinnerung an die gemeinsame Liebesnacht mitteilen. Tubach spricht zwar vom „lyrischen Charakter des Wechsels“108, doch der Effekt, der durch ihn entsteht, ist ein widersprüchlicher. Der Wechsel ist im Vortrag in seiner Aussage einerseits unmittelbarer als das Tagelied, andererseits aber auch mittelbarer: unmittelbarer, weil er dadurch, dass Erinnerung Gegenstand des Liedes ist, den Eindruck der Situationsspaltung mindert und den Aussagen so einen subjektiven Charakter verleiht.109 Diese – man könnte vielleicht sagen ‚personale‘ – Unmittelbarkeit dürfte Cormeau im Blick gehabt haben, als er über das Tagelied sagte, dass es den Erzähler einführe, um „eine Diskretions- oder Reizschwelle nicht zu überschreiten“110 – die vom Wechsel überschritten wird. Obwohl – oder genauer: weil – aber der Wechsel von einem ‚Ich‘ gesprochen wird, kann er genau jene andere Diskretionsschwelle nicht überschreiten, die das Tagelied seinerseits durch den Erzähler überschreiten kann. Dem Wechsel mangelt es an jener Auktorialität, die es ihm erlauben würde zu beschreiben, was das Paar schweigend
106 Vgl. dagegen Bleumer (Anm. 47), S. 96 f.: „[…] und sie hat ein aktuelles Gegenüber: Sie spricht nicht zum Publikum. Das ‚Ihr‘, das in der ersten Strophe als Adressat angesprochen worden war, konkretisiert sich textintern. Denn die Sprecherin wendet sich an eine offenbar gesellschaftlich höherstehende hêre frouwe, der sie enthüllt, daß die sichtbaren Spuren im eingangs geschilderten Minneort auf die eigene Begegnung mit dem Geliebten zurückzuführen sind.“ 107 Ebd., S. 99. 108 Frederic C. Tubach: Wechselform und Tageliedsituation in dem Tageliedwechsel (MF 143,22) Heinrichs von Morungen. In: ZfdPh 79 (1960), S. 309–315, hier S. 314. 109 Ruh (Anm. 97), S. 174, spricht von einer „stofflichen Abstraktion“ des Tageliedwechsels. 110 Cormeau (Anm. 62), S. 702.
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vollzieht. Wolfram weist auf dieses Vermögen des Erzählers explizit hin, wenn er dessen Beschreibung einleitet mit: Der trûric man nam urloup balde alsus (MF 3,23) oder in Ez ist nu tac: urloup er nam, daz dâ wol zam, nu merket wie (MF 8,23).111 Was sich dann jeweils anschließt, hat aber nicht allein zum Gegenstand, wie der Ritter die Trennung vollzieht oder auf welche Weise er sich von seiner Dame verabschiedet, sondern wie ‚das Paar‘ zum letzten Mal Paar wird. Genau diese auktoriale Perspektive ist dem Wechsel verwehrt. Das ist es, was Wapnewski meint, wenn er die Diskretion des Wechsels dem ‚Bestürzenden‘ des Tageliedes gegenüber stellt: An die Stelle der epischen Beschreibung des Dinglichen, der brennenden Worte der Leidenschaft im Abschiedsdialog, der Aktualität der gestohlenen Liebe, setzt [der Wechsel] die Erscheinung fernher erklingender, fernher singender Stimmen, in denen die Wirklichkeit körperlicher Liebe durch die Unwirklichkeit der Wechselform entdinglicht wird, körperlos und entrückt.112
Ich würde Wapnewski darin Recht geben, dass die Stilisierung durch den Wechsel eine der Entrückung, der Körperlosigkeit und Entdinglichung ist, würde diesen Effekt aber nicht auf die Wechselform zurückführen. Wenn nur eine der beiden Stimmen sprechen würde, wäre der Effekt der selbe, denn die von Wapnewski betonte ‚Entrückung‘ resultiert daraus, dass Gegenstand des Liedes Erinnerung ist,113 es also immer nur die Perspektive eines Einzelnen repräsentieren kann. Eine dritte Option zur Gestaltung jener Kluft zwischen Ort und Zeit von Hingabe und Vortrag realisiert Walther in seinem Tagelied Friuntlîche lac (L 88,9). Wie übereinstimmend unvorteilhaft seine Beurteilung durch die Forschung gewesen ist, kann ich hier nicht ausführen.114 Die Kritik ist nachvollziehbar: Das Missbehagen des Lesers und Hörers entsteht zunächst dadurch, dass zahlreiche Waisen ihm den Genuss des Reimes vorenthalten. Dadurch lässt sich der Text sowohl als Lyrik als auch als Erzähltext in Reim111 Vgl. Fisher (Anm. 103), S. 73: „Yet the construction nu merket wie, which Wapnewski finds intrusive and indicative of a sermonizing style […] is yet another example of an alienation effect, like the unrhymed verses and (possibly) the disrupted rhymes.“, sowie S. 74: „Here Wolfram’s performer consciously interrupts this illusion, drawing attention to himself as communicator in a manner common in his narratives, where such injunctions as ‚behold how …‘ and ‚now hear how …‘ abound.“ 112 Wapnewski (Anm. 98), S. 71. 113 Sie ist, so Ruh (Anm. 97), S. 175 f., ursächlich für das „Wunder dieses Tageliedes, dass gerade durch diese Entkleidung von aller realen Unmittelbarkeit die wesensgemässe Unmittelbarkeit, deren jedes echte Kunstwerk bedarf, hervorblüht.“ 114 Vgl. Mertens (Anm. 88), S. 56: „Aus der leidenschaftlichen Liebesbegegnung wird ein schulmäßiger Liebesdisput mit Behauptung und argumentativer Widerlegung. Statt einer Liebesszene also ein rationaler Dialog über ein Zentralthema des Tageliedes“; sowie Jutta Goheen: Zeit und Zeitlichkeit im mittelhochdeutschen Tagelied. In: Momentum dramaticum. FS Eckehard Catholy. Hrsg. von Linda Dietrick/David G. Jahn, Waterloo, Ont. 1990, S. 41–53, hier S. 46: „Das Lied ist kein Meisterwerk Walthers, weil ihm zu sehr an der Rechtfertigung der moralischen Integrität des Ritters gelegen ist“.
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prosa lesen.115 Darüber hinaus aber lässt der Dialog des Paares kaum einen Aufbau erkennen, Ritter und Dame plappern vielmehr inhaltsleer vor sich hin, und das über quälende sieben Strophen hinweg. Offenbar geht es hier nicht um das, was geredet wird, auch nicht um den „Versuch […] Wolfram technisch-formal zu überbieten“116, sondern um die Darstellung des Vorganges des Redens an sich. Dass Tagelieder nahezu ausschließlich aus Figurenrede bestehen, kennen wir z. B. von Dietmars von Aist Slâfestu, friedel ziere? (MF 39,18), doch dieses Lied vermeidet den Eindruck des Geredes durch entschiedene Kürze. Walther scheint es demgegenüber auf den Verdruss des Hörers geradezu anzulegen und diesen nicht nur durch die Reimlosigkeit absichtsvoll zu unterstreichen, sondern vor allem durch die nahezu schmerzliche Abwesenheit des Erzählers. Dieser leitet die Szene nur ein und schließt sie ab. Dazwischen ist das Paar sich selbst überlassen. Ich verstehe das Lied als das – vielleicht parodistische117 – Experimentieren mit der Abwesenheit von Narrativität und Auktorialität. Dass der Text ein Lied über das Tagelied ist und seine Bedingungen reflektiert, wird bereits dadurch signalisiert, dass zweimal das Singen eines Tageliedes thematisiert wird, einmal in Strophe 6, wo der Mann darauf hinweist, dass der Wächter bereits Tagelieder singe (der wahter diu tageliet / sô lûte erhaben hât L 89,35 f.) und in der letzten Strophe, in der die Dame über jene spricht, die Tagelieder singen: si sprach: ‚swer ie gepflac / ze singenne tageliet, / der wil mir wider morgen / beswæren mînen muot. […]‘ (L 90, 9–12). Die Abwesenheit des Erzählers stiftet in Walthers Tagelied also keine Intimität, sondern verhindert ihre Entstehung. Das Paar ist auf das einzige zurückgeworfen, was ihm bleibt, und das ist seine Sprache. Gerade die direkte Figurenrede verhindert jedoch, dass aus der Begegnung eine Vereinigung wird. Damit sind wir wieder bei Staigers Sprachskepsis angelangt; diese liegt auf einer anderen Ebene, denn ihm ging es ja um die Sprache des Gedichts, nicht um das Sprechen der Figuren im Gedicht. Und doch spiegelt sich zwischen beidem die Unhintergehbarkeit der Sprache; diese Erfahrung lässt sich auf der Ebene des discours ebenso machen wie auf der der histoire: Nirgends sind wir – scheinbar – näher am erzählten Ereignis als dort, wo die Figuren im Präsens zueinander sprechen. Doch in genau diesem Sprechen kann die Figur immer nur wieder Sprache mitteilen. Das Erzählen des Erzählers perspektiviert demgegenüber das Geschehen selbst, und er pers115 Den Hinweis auf diesen Sachverhalt verdanke ich Hartmut Bleumer. 116 Mertens (Anm. 63), S. 246. 117 Parodistische Züge sind schon oft in diesem Lied erkannt oder vermutet worden, u. a. von Kiening (Anm. 75), S. 159: „Walther bewegt sich durch Häufung von Konventionalitäten schon an der Grenze zur Ironisierung“ und John A. Asher: Das Tagelied Walthers von der Vogelweide. Ein parodistisches Kunstwerk. In: Mediaevalia litteraria. FS Helmut de Boor zum 80. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Hennig/Herbert Kolb, München 1971, S. 279–286.
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pektiviert es aus der Distanz des discours. Er ist in der Diegese so wenig anwesend wie wir selbst es sind. Und dennoch vermag seine Erzählung aus der Distanz uns die Begebenheit unmittelbarer zu vergegenwärtigen als die Figuren selbst – vielleicht, weil seine Position als Beobachter uns so vertraut ist, ist doch unsere Wahrnehmung (sogar auf uns selbst) immer die eines Außenstehenden. Die Perspektive des Erzählers von der Ebene des discours aus auf das Geschehen in der histoire spiegelt unsere Erfahrung von Gegenwärtigkeit als einem Geschehen, das die Distanz aufhebt, die wir immer zu ihm unterhalten: „Präsenz setzt die räumliche Distanz voraus, die sie tilgt und in unmittelbare Nähe verwandelt.“118
118 Bleumer (Anm. 25), S. 32. Jan-Dirk Müllers Aufsatz: Präsens und Präsenz. Einige Beobachtungen zum Tempusgebrauch bei Neidhart. In: Zeit und Text. Philosophische, kulturanthropologische, literarhistorische und linguistische Beiträge. Hrsg. von Kablitz/Oesterreicher/Warning (Anm. 24), S. 192–207, verfolgt andere Fragen als die hier aufgeworfenen. Müller zeigt auf, auf welche Weise Neidhart in seinen Liedern deutlich macht, „daß das Hier poetischer Rede nicht nur nicht das Hier von Alltagsrede ist, sondern auch nicht das Hier des jetzt vorgetragenen Liedes. Das geschieht, indem der fingierten Kommunikation unter Anwesenden ganz unterschiedliche Situationsrahmen zugeordnet werden können, die einander stören und gegenseitig aufheben“ (ebd., S. 205; Hervorhebungen i. Original).
Caroline Emmelius
Zeit der Klage Korrelationen von lyrischer Präsenz und narrativer Distanz am Beispiel der Minneklage Da Klang das einzige Vermögen von Sprache ist, das ihr wirklich eigen ist und das keine Beziehung zu irgendetwas aufweist, das außerhalb der Sprache selbst gelegen wäre, wird er als das einzig verfügbare Mittel übrig bleiben. (Paul de Man, Allegorien des Lesens)1
I. Vorbemerkung: Die Klage als transgenerischer Diskurs Die Klage ist eine im Wesentlichen über ihren Inhalt determinierte Sprechweise, die an keinen spezifischen Gattungsdiskurs gebunden ist. Es gibt sie in Dramatik und Epik und besonders in liedhafter Form.2 Diese Gattungs1 2
Paul de Man: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher/ Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher, Frankfurt a. M. 1988 (es 1357), S. 64. Vgl. Irmgard Scheitler: Art. „Klagerede, -gesang“. In: HWRh Bd. 4 (1998), Sp. 958–964, bes. Sp. 958; sowie mit einem Schwerpunkt auf Klageliedern Lauri Honko: Art. „Klagen“. In: EM 7 (1993), Sp. 1400–1406. Zu den „Urtypen“ der Lyrik zählt Heinz Werner die Klage, vgl. Ders.: Die Ursprünge der Lyrik. Eine entwicklungspsychologische Untersuchung, München 1924, S. 16–18, Zitat S. 13; auch Heinz Schlaffer führt die Klage unter den zentralen Sprechakten der Lyrik, vgl. Ders.: Sprechakte der Lyrik. In: Poetica 40 (2008), S. 21–42, u. a. S. 22 u. 26 f. Zur Klage in antiker Epik und Dramatik Christos Tsagalis: Epic grief. Personal laments in Homer’s Iliad, Berlin, New York 2004 (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 70); Markus Schauer: Tragisches Klagen. Form und Funktion der Klagedarstellung bei Aischylos, Sophokles und Euripides, Tübingen 2002 (Classica Monacensia 26); sowie die Beiträge von Christine Perkell, Ann Suter und Alison Keith im Band: Lament. Studies in the ancient Mediterranean and beyond. Hrsg. von Ann Suter, New York 2008. Zu den biblischen Klageformen vgl. Gregory D. Alles u. a.: Art. „Klage“. In: RGG 4 (2001), Sp. 1389–1394; Ottmar Fuchs: Art. „Klage“ (I. Anthropologisch-theologisch). In: LThK 6 (1997), Sp. 108 f.; Gunther Wanke: Art. „Klagelieder (Threni)“. In: TRE 19 (1990), S. 227–230. Zum germanischen Klagelied vgl. Andreas Krause: Art. „Klagelied“. In: RGA 16 (2000), S. 598–601. Zu den epischen Klagen der mhd. Literatur u. a. Richard Leicher: Die Totenklage in der deutschen Epik von der ältes-
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ungebundenheit der Klage ist kein Zufall, sondern lässt sich als ein Zusammenspiel generischer Qualitäten3 beschreiben, die ihr inhärent sind: Mit der doppelten Funktion, ein zurückliegendes Geschehen in seiner determinierenden Relevanz für die Gegenwart stimmlich-klanglich präsent zu halten und es zugleich als abgeschlossenes, unwiderbringliches rational zu reflektieren und damit auf Abstand zu bringen, vereinigt der Diskurs der Klage sowohl lyrische als auch narrative Qualitäten.4 Als Sprechakt, der sich als Teil einer übergeordneten Handlung verstehen lässt, gewinnt der Klagediskurs überdies dramatische Qualität. Die These, dass sich generische Diskurse – insbesondere vor der Institutionalisierung eines Systems literarischer Schreibweisen – durch gegenseitigen Ausschluss und zugleich durch wechselseitige Abhängigkeit konstituieren,5 müsste sich folglich an der Klage als transgenerischem Diskurs exemplarisch diskutieren lassen. Der Beitrag nimmt hierfür die Interferenzen lyrischer und narrativer Qualitäten in mittelhochdeutschen Minneklagen in den Blick.6 II. Methodischer Ansatz: Geschichten in Gedichten? Einen gattungstheoretischen Ansatzpunkt für eine solche Untersuchung bietet der Beitrag von Karlheinz Stierle zur „Identität des Gedichts“, der hier mit den methodischen Vorschlägen von Peter Hühn und Jörg Schönert für eine am narratologischen Begriffsinventar ausgerichtete Analyse von Lyrik verbunden wird.
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ten Zeit bis zur Nibelungen-Klage, Breslau 1927. Nachdruck Hildesheim, New York 1977 (Germanistische Abhandlungen 58). Zu den verschiedenen frühneuzeitlichen Klageformen vgl. schließlich Marcel Lepper: Lamento. Zur Affektdarstellung in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 9–26, zum lamento im neuen transgenerischen Medium der Oper S. 139–160. Zu den Begriffen des Epischen, Lyrischen und Dramatischen vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, 4. Aufl. München 1978, einführend S. 7–10. Vgl. die analoge Beobachtung bei Lepper (Anm. 2), S. 9–17, der die Klage zwischen den Polen unmittelbaren, unregulierten Wehgeschreis und reflexiven, kunstvoll rhetorisierten Klagegesangs ansiedelt, freilich ohne dabei traditionelle Gattungsbegriffe zu verwenden. Die Klage wird stattdessen ganz grundsätzlich als rhetorisches Ausdrucksmedium mit unterschiedlichen Funktionsbereichen gefasst (bes. S. 17 u. 25). Vgl. hierzu ausführlich die Einleitung dieses Bandes. Vgl. insbesondere Manfred Eikelmann: wie sprach sie dô? war umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling/Peter Strohschneider, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 19–42, dessen Beitrag bereits grundlegend nach der Funktion von „in die Minnekanzone eingearbeiteten Erzählszenen“ für die Diskursinstanz fragt (S. 20), ohne damit jedoch eine narratologische Bestimmung der Klage anzustreben.
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Stierle bestimmt Lyrik programmatisch als „Anti-Diskurs“:7 Lyrik ist gewöhnlich an ein Diskursschema zurückgebunden, das sie in spezifischer, markierter Weise über- oder auch unterschreitet. Alle elementaren Diskursschemata sind zugleich mögliche Bezugsschemata für lyrische Transgression. So kann man von vornherein die Möglichkeit der Lyrik dadurch bestimmen, daß sie nicht eine eigene Gattung ist, sondern eine spezifische Weise, ein Gattungs-, das heißt Diskursschema zu überschreiten.8
Eine mögliche Variante solch einer lyrischen Diskursüberschreitung ist die „Transgression eines narrativen Schemas“, die sich in der Sprache der Erzähltheorie beschreiben [lässt] als Dominanz des Diskurses über die Geschichte. Während der narrative Diskurs sich dadurch bestimmt, daß in ihm die Geschichte den Diskurs dominiert, bedeutet die Reversion dieser Relation die Möglichkeit lyrischer Transgression.9
Stierle deutet hier eine Bestimmung von Lyrik an, die für die Arbeiten von Hühn und Schönert konstitutiv ist: Sie besagt, dass Lyrik strukturanalog zu narrativen Texten eine durch Sequentialität gekennzeichnete Geschichts(histoire) und eine mediale Vermittlungs- oder Darbietungsebene (discours) besitze.10 Dass Stierle das Verhältnis von Diskurs und Geschichte grund7 8 9
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Karlheinz Stierle: Die Identität des Gedichts. Hölderlin als Paradigma. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard/Dems., München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 505– 552, hier S. 514. Ebd. Ebd., S. 515. Vgl. auch die weitgehend analoge These von Walter Bernhart: Überlegungen zur Lyriktheorie aus erzähltheoretischer Sicht. In: Tales and „their telling difference“. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. FS zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hrsg. von Herbert Foltinek/Wolfgang Riehle/Waldemar Zacharasiewicz, Heidelberg 1993 (Anglistische Forschungen 221), S. 359–375, hier S. 368, dass in der Lyrik die Aussageinstanz primär und die Aussagesubstanz sekundär sei; sowie die Kritik hieran bei Werner Wolf: The Lyric. Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation. In: Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Hrsg. von Eva Müller-Zettelmann/Margarete Rubik, Amsterdam, New York 2005 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 89), S. 21–56, hier S. 29. Vgl. Peter Hühn/Jörg Schönert: Einleitung. Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dens./Malte Stein, Berlin, New York 2007 (Narratologia 11), S. 1–18, hier S. 2 f., wobei die Autoren einschränken, dass diese Bestimmung „faktisch […] nicht auf sämtliche lyrische Texte“ zutreffe. Die „Strukturanalogie zwischen Lyrik und Erzählliteratur“ sei vielmehr als potentielle zu verstehen (ebd.). In dieser Hinsicht stimmen sie mit Stierle überein, der die Transgression des narrativen Schemas nur als eine denkbare Möglichkeit lyrischer Diskursüberschreitung ansieht, vgl. Ders. (Anm. 7), S. 514 f. Einen in der Sache identischen, in der Begrifflichkeit jedoch verschiedenen Ansatz verfolgt die Monographie von Eva Müller-Zettelmann, die grundsätzlicher noch als Hühn und Schönert davon ausgeht, dass in der Lyrik eine Ebene der Äußerung (enunciation) von der des Geäußerten (enounced) zu unterscheiden sei, wobei sie sich auf die Terminologie von Emile Benveniste bezieht, vgl. Dies.: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst, Heidelberg 2000 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 171), S. 66–72. Vgl. zur Diskussion der Begriffe auch Dies.: Lyrik und Narratologie. In: Erzähltheorie transgene-
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sätzlich hierarchisiert und die Möglichkeit der Lyrik aus der Inversion dieser hierarchischen Relation bestimmt, markiert allerdings eine gravierende Differenz zu den Prämissen von Hühn und Schönert. Der Versuch, Lyrik als einen generischen Modus zu beschreiben, der die Basisoperationen anderer Gattungen transgrediert, indem er sie z. B. invertiert, impliziert demnach bereits eine definitorische Festlegung des Gattungsverhältnisses, die Hühn und Schönert zunächst einmal vermeiden.11 Die Annahme einer invertierten Korrelation von Diskurs und Geschichte für Epik und Lyrik könnte aber geeignet sein, auf ein Problem des Ansatzes von Hühn und Schönert aufmerksam zu machen, denn auch dieser versagt es sich nicht vollständig, auf der Basis der narratologischen Methodologie einen Vorschlag zum Verhältnis der Gattungen zu machen: Definiert man Erzählen als Kommunikationsakt zur sinnkonstitutiven Strukturierung von Geschehensfolgen durch gestaffelte Vermittlungsinstanzen (insbesondere durch eine Erzählinstanz), so lassen sich sowohl lyrische als auch dramatische Texte als Reduktionsformen mit variablen Reduktionsgraden im Anlegen möglicher Vermittlungsebenen bestimmen.12
Die Differenz zwischen narrativen, lyrischen und dramatischen Texten entschiede sich demnach auf der Diskursebene. Während narrative Texte mit ihren Erzählinstanzen die komplexeste Vermittlungsebene aufweisen, zeichnen sich lyrische Texte „durch eine besondere Variabilität im Nutzen möglicher Vermittlungsebenen und Vermittlungsinstanzen aus“.13 Die Diskursebene erscheint hier in Gradabstufungen realisiert, in dramatischen Texten entfällt sie durch die Gleichzeitigkeit von Erleben, Sprechen und Handeln der Figuren (vermeintlich) ganz.14 Diese starke Fokussierung der Diskursebene lässt die Ebene der Geschichte zunächst in den Hintergrund treten. Hühn und Schönert scheint sie unabhängig von der Komplexität der Vermittlungsebene gegeben zu sein, insofern sie die kulturgeschichtliche Funktion der Lyrik definieren als „perpektivisch vermittelte Selbstzuschreibung einer (mentalen) Geschichte“.15 Wenn man jedoch daran festhält, dass es ohne Erzählinstanz
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risch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera Nünning/Ansgar Nünning, Trier 2002 (WVT-Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium 5), S. 129–153, hier S. 133– 137. Da es im Folgenden um das Korrelationsverhältnis von Narration und Lyrik geht, wird der dezidiert narratologische Ansatz und die entsprechende Begrifflichkeit von Hühn und Schönert präferiert. Die Verwendung des Begriffspaars histoire und discours geht zurück auf den Vorschlag von Tzvetan Todorov: Les catégories du récit littéraire. In: Recherches sémiologiques. L’analyse structurale du récit. Hrsg. von Roland Barthes, Paris 1966 (Communications 8), S. 125–151. Hühn/Schönert (Anm. 10), S. 3 f. Ebd., S. 4. Ebd. Ebd. Peter Hühn/Jörg Schönert: Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34 (2002), S. 287–305, hier S. 300, sowie die ausführlichere Definition S. 301: „Narratologisch
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keine Geschichte gibt,16 dann kann die graduelle Reduktion der Vermittlungs- und Darstellungsebene nicht ohne Folgen für die Ebene der Geschichte bleiben. Denn in dem Maße, in dem die Vermittlungsinstanz reduziert wird, verschwindet zugleich die Geschichte. Der texttheoretische Ansatz von Hühn und Schönert scheint insofern jene Unterscheidung zwischen Erzählen und Besprechen aufzulösen,17 die Harald Weinrich als grundständige Ausdrucksfunktionen der indoeuropäischen Sprachen beschrieben hat.18 Das Erzählen braucht demnach zwar nicht notwendig ein Vergangenheitstempus,19 um sich zu konstituieren, aber es benötigt zwingend die Distanz des Erzählers zu seiner Geschichte.20 Wenn hingegen die „Vermitteltheit“ des Erzählens „zugunsten des performativen Vollzugs des Sprechens scheinbar aufgegeben ist, so dass sich vom Rezipienten nur eine einzige ‚Stimme‘ wahrnehmen lässt“21, und wenn diese Stimme überdies Gegenwartstempora verwendet, dann liegt nach Weinrich die Sprechhaltung des Besprechens vor. In dieser aber geht die allein
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kann man die im Gedichttext formulierte Äußerung vielfach als eine vom Sprecher über sich selbst erzählte Geschichte (in Form eines – meist episodischen – mentalen und psychischen Prozesses) mit Anfang, Mitte und Ende auffassen, durch deren Selbst-Zuschreibung sich das Ich emotional sowie kognitiv bestimmt oder in einer Krisenlage narrativ restabilisiert.“ Vgl. ebd. auch die Beispielfälle zum Verhältnis von Sprecher/Figur und Geschichte in lyrischen Texten. Vgl. die so einfache wie bestechende Bestimmung bei Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Vorwort hrsg. von Jürgen Vogt, München 1994 (UTB für Wissenschaft), S. 17: „Geschichte und Narration existieren für uns also nur vermittelt durch die Erzählung. Umgekehrt aber ist der narrative Diskurs oder die Erzählung nur was sie ist, sofern sie eine Geschichte erzählt, da sie sonst nicht narrativ wäre […] und sofern sie eben von jemandem erzählt wird, denn sonst wäre sie […] überhaupt kein Diskurs.“ Die Formulierung ist überpointiert, denn etwa der terminologische Vorschlag von Jörg Schönert weist auf der Ebene der Äußerung durchaus eine Differenzierung zwischen Erzählen und Besprechen aus, vgl. Ders.: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich. In: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis u. a., Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 289–294, hier S. 292 f. und bes. S. 294. Die programmatische Einbeziehung narrativer Lyrik, durch die Schönert die Übertragung narratologischer Terminologie auf die Lyrik rechtfertigt (S. 292), führt zu Differenzierungen auf der discours-Ebene, die das Subjekt der Äußerung in seiner Bedeutung relativiert und die Modi seiner Äußerung kategorial gleichsetzt (S. 293 f.). Dass der Sprecher bzw. die Stimme des Gedichts auch ein Erzähler sein kann, wird so allerdings gerade in einem narratologischen Entwurf zu einem terminologisch irrelevanten Befund. Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 6., neu bearb. Aufl. München 2001, S. 29–33, 41–72. Zu den Möglichkeiten der Tempora, unterschiedliche Zeitstufen zu bezeichnen vgl. ebd., S. 57–67. Aufschlussreich hierzu die Hinweise von Weinrich zum Erzählen-Lernen von Kindern, die eben jene Distanz zur Geschichte, indem sie das Perfekt als Erzähltempus wählen, erst in Ansätzen beherrschen, vgl. ebd., S. 67–72. Hühn/Schönert (Anm. 10), S. 4.
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für das Erzählen konstitutive Ebene der Geschichte verloren: Denn im Modus des Besprechens ist die Distanz zwischen dem Wie und dem Was der Rede eingeebnet. Eine Stimme, die den Modus des Besprechens verwendet, kann also nicht wie ein Erzähler über eine eigene Geschichte verfügen. Dass die Sprechhandlung einer Stimme im lyrischen Text narrative Merkmale aufweist oder selbst zum Bestandteil eines Narrativs wird, ist damit freilich nicht ausgeschlossen. Die Sprechinstanz kann als Figur einer übergeordneten Textinstanz eine Geschichte haben, sie mag auch zeitweilig als deren autodiegetischer Erzähler auftreten und schließlich kann ihre Sprechhandlung vom Rezipienten als Teil einer noch unabgeschlossenen Geschichte wahrgenommen werden. Der Einwand gegen das Modell von Hühn und Schönert zielt daher ganz spezifisch auf die Bezeichnung Geschichte für die im Modus des Besprechens vorgetragene Reflexion einer lyrischen Stimme: Dieser fehlt, um als Geschichte im narratologischen Sinne bezeichnet werden zu können, zum einen die notwendig vermittelnde zeitliche Distanz des Erzählers. Zum anderen ergibt die sequentielle Anordnung von mentalen Ereignissen noch kein hinreichendes Kriterium für eine narrative Struktur, kennzeichnet sie doch in gleicher Weise die Dispositio eines reflexiven oder argumentativen Gedankengangs. Eine Geschichte benötigt dagegen eine determinierte zeitliche Form mit Anfang, Mitte und Schluss und eine axiologische Struktur, die der dargestellten Handlung einen sinnstiftenden Mehrwert verleiht.22 Für die in einem Gedicht geäußerten (nicht nur mentalen) Vorgänge ist insofern statt des Begriffs der Geschichte der des Geschehens vorzuziehen.23 Wenn man dennoch mit Hühn und Schönert dabei bleiben möchte, dass die Lyrik mentale Geschichten präsentiert, „durch deren Selbst-Zuschrei22
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Vgl. zur Axiologie der Geschichte Algirdas Julien Greimas: A Problem of Narrative Semiotics. Objects of Value. In: Ders.: On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Translation by Paul J. Perron/Frank H. Collins. Foreword by Fredric Jameson. Introduction by Paul J. Perron, Minneapolis 1987 (Theory and History of Literature, 38), S. 84–105. An Greimas anknüpfende und zugleich präzisierende Ausführungen zum Zusammenhang von Wert und Handlung sowie Axiologie und Perspektive bei Hartmut Bleumer: Die narrative Interferenz. Schritte einer historischen Narrativistik im literarischen Feld um Dietrich von Bern, Habil. masch. Hamburg 2002, S. 146–159. Die terminologische Differenzierung von Geschehen und Geschichte bezieht sich auf das idealgenetische Modell der narrativen Ebenen bei Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, 2. verb. Aufl. Berlin, New York 2008, S. 251–271, das seinerseits einen Vorschlag von Karlheinz Stierle aufgreift, vgl. Ders.: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte. In: Ders., Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1975 (UTB 423), S. 49–55. Im methodologischen Vorschlag von Hühn und Schönert werden die konzeptuelle Differenz und die Möglichkeiten der Transformation von Geschehen in Geschichte ausführlich reflektiert, vgl. Dies. (Anm. 10), S. 7–11. Dass der Geschichts-Begriff für die histoire-Ebene von lyrischen Texten gleichwohl nur bedingt greift, für die discours-Ebene hingegen durchaus fruchtbar zu machen ist, kommt hier jedoch nur am Rande in den Blick (ebd., S. 9, Anm. 29).
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bung sich das Ich emotional sowie kognitiv bestimmt oder in einer Krisenlage narrativ restabilisiert“24, ohne dabei die Weinrichsche Basisdifferenz von erzählender und besprechender Sprechhaltung aufzugeben, dann sind Struktur und Ort dieser Geschichten in der Lyrik noch einmal zu präzisieren.25 Eine solche Präzisierung hat bei dem Postulat der Strukturanalogie von lyrischen und narrativen Texten anzusetzen. Es ist insofern mit Hühn und Schönert davon auszugehen, dass lyrische Texte eine discours- und eine histoire-Ebene besitzen. In welchem Verhältnis die beiden Ebenen zueinander stehen und in welcher Weise sich dieses in lyrischen Texten von dem in narrativen Texten unterscheidet, soll im folgenden am Beispiel der Minneklage untersucht werden. Dabei ist zunächst offen zu halten, ob die Relation der Ebenen in der Lyrik mit Stierle als invertiertes Dominanzverhältnis im Sinne einer Vereinnahmung der histoire durch den discours oder im Sinne der von Hartmut Bleumer postulierten generischen Paradoxie als ein Bedingungsverhältnis realisiert ist, das auf die Abweisung, Aufhebung und Löschung der histoire durch den discours zielt.26 III. Das Zeitmodell der Klage Die lyrische Klage ist besonders geeignet, das problematische Verhältnis von discours- und histoire-Ebene im Sang anschaulich zu machen. Burkhard Hasebrink hat sie kürzlich als ein literarisches Medium bestimmt, dessen Paradoxie darin bestehe, dass es ein Abwesendes beklage, ihm aber gerade dadurch Anwesenheit, Dauer und Geltung verschaffe.27 Nun sind An- und Abwesenheit Begriffe, die zeitliche und räumliche Konnotationen in ein 24 25
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Hühn/Schönert (Anm. 15), S. 301. Der Beitrag von Peter Hühn in diesem Band kommt dieser Forderung bereits selber nach, insofern er den Begriff der Geschichte von der histoire-Ebene ablöst und lediglich für die Ebene des Diskurses realisiert sieht, als Erzählgeschichte der sprechenden Ich-Instanz. Zum Begriff vgl. Schmid (Anm. 23), S. 280 f. Das Theorem von der generischen Paradoxie besagt, dass die Lyrik, insbesondere der Sang, bemüht ist, die Zeit im Klang aufzuheben, in diesem Bemühen aber auf die Vorstellung von Zeitlichkeit, wie sie vor allem für narrative Texte konstitutiv ist, angewiesen bleibt, vgl. Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61, bes. S. 35 f. Burkhard Hasebrink: „Ich kann nicht ruhen, ich brenne“. Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (TMP 12), S. 91–107, bes. S. 94 f. und S. 102–107, der sich hiermit auf eine Gedankenfigur bei Paul de Man (Anm. 1), S. 78, bezieht. Vgl. auch die analogen Bestimmungen bei Lepper (Anm. 2), der die Funktionen der Klage in der persuasiven Vergegenwärtigung von Leid und der Verankerung des Klagegrunds in der memoria sieht (S. 25 f.).
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bestimmtes Verhältnis setzen. Abhängig davon, wie die Situationen der Anund Abwesenheit von der wahrnehmenden Instanz bewertet werden, dominieren entweder der Faktor Zeit oder der Faktor Raum. Eine vorläufige Bestimmung, die von der Alltagserfahrung ausgeht, kann hier genügen: Empfindet man die räumliche Anwesenheit einer Person als unangenehm, wirkt sich dies intensivierend auf die Zeitwahrnehmung aus, empfindet man sie hingegen als angenehm, verliert die Zeitwahrnehmung an Bedeutung. Analog gilt für die Situation räumlicher Abwesenheit: Bewertet man sie als positiv, wird der Faktor Zeit irrelevant; bewertet man sie als negativ, intensiviert sich die Zeitwahrnehmung entsprechend. Für die Klage, in der Abwesenheit als fehlende Anwesenheit verstanden und also negativ bewertet wird, ergibt sich somit folgende ZeitRaum-Korrelation: Während in der Situation der Anwesenheit die räumliche Dimension den Faktor Zeit dominiert, tritt in der Situation der Abwesenheit der Faktor Zeit als dominant hervor. Die Klage über die Abwesenheit von etwas ist demnach vorwiegend auf eine zeitliche Struktur bezogen. Zur Beschreibung der histoire-Ebene der Minneklage sind dabei ein retrospektiver und ein sowohl retro- als auch prospektiver Klagetypus zu unterscheiden. Im Fall retrospektiver Klage bezieht sich der Diskurs der Klage zurück auf eine narrative Struktur: Auf eine tragische Geschichte im planctus, auf eine Lebengeschichte in der Totenklage oder auf das Ende einer Liebesbegegnung im Tagelied. Dass das vorgängige Geschehen bereits zu einem Abschluss gefunden hat, bedingt die retrospektive Position der Klage. Zugleich zeichnet sie sich durch eine zeitliche Nähe zum Geschehen aus, die vielfach noch nicht die reflexive Distanz ermöglicht, auf Grund derer sich der immanente Sinn der Geschichte erschlösse. Zwar ist ein Geschehen zum Abschluss gekommen, aber der Sinn der durch es konstituierten Geschichte ist noch unverstanden: Das Geschehen wirkt unbegreiflich, zufällig, sinnlos. Die Klage markiert also exakt jene Wahrnehmungsposition, von der aus die reflexive, hermeneutische Arbeit an der Geschichte beginnt. Die Minneklage repräsentiert demgegenüber einen zweiten, erweiterten Typus von Klagen: Auch hier singt eine Stimme28 in gebundener Form 28
Der Begriff der Stimme wird im Anschluss an den terminologischen Vorschlag von Jörg Schönert (Anm. 17), S. 291 f. u. 294, verwendet, der darauf zielt, die für einen Gedichttext relevanten diskursiven Instanzen zu differenzieren und damit den problematischen Begriff des lyrischen Ichs verzichtbar zu machen. Schönert setzt Stimme parallel zum Begriff des Sprechers und bezeichnet damit diejenige textinterne Instanz, der die Äußerungen des lyrischen Textes zuzuordnen sind, insbesondere wenn sie sich grammatikalisch über die Verwendung von Pronomen oder Apostrophen identifizieren lässt. Die bei Schönert offen gelassene Frage, ob Sprecher und Stimme als austauschbar zu denken sind oder sich konzeptuell ggf. doch unterscheiden, entscheidet der forschungsgeschichtliche Beitrag von Sandra Schwarz, indem er mit Rückgriff auf die diskursnarratologische Diskussion den Begriff der Stimme für Lyriktheorie und -analyse stark macht, vgl. Dies.: Stimmen. Theorien lyrischen
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über ihr leit, das ihre Situation im Hier und Jetzt bestimmt.29 Auch dieser discours des seine gegenwärtige Situation besprechenden Ichs30 ist auf ein vorgängiges Narrativ bezogen. Aber anders als im ersten Typus wird dessen Ende von der Diskursinstanz nicht als solches gewertet oder akzeptiert, denn die Minneklage zielt nicht nur auf Äußerung, sondern auch auf Überwindung des sie verursachenden Leids. Damit transformiert sie das vorgängige Narrativ zugleich in ein offenes, unabgeschlossenes Geschehen, das sich mit der Klage selbst und idealerweise über diese hinaus in die Zukunft fortsetzt. Am Beispiel eines Gedichts von Rilke hat Paul de Man diese beiden zeitlichen Erstreckungen der Liebesklage beschrieben: „Die Abwesenheit von Sein […] ist der Ursprung einer Sehnsucht, die sich selbst in der elegischen Tonart der Klage ausdrückt. […] Da jedoch die Klage von einem Verlangen nach Präsenz herrührt, ist sie fast notgedrungen in die Ungeduld eines Wunsches verwandelt.“31 Die Minneklage beklagt den Ist-Zustand als ein defizitäres Resultat zeitlich zurückliegender Handlungen und richtet sich mit ihrem Wunsch nach Kompensation zugleich auf zukünftige HandSprechens. In: Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven, Bd. 3. Hrsg. von Hans Vilmar Geppert/Hubert Zapf, Tübingen, Basel 2007, S. 91–123, bes. S. 94–96. Schwarz argumentiert zum einen mit dem „buchstäblichen, akustischen Sinn“ des Stimmenbegriffs, zum anderen mit dem im Vergleich zum Begriff des Sprechers offenerem Verhältnis zum „Konzept der Person“ (S. 94 f.), durch das er auch für Texte ohne grammatische Referentialisierung auf einen figürlichen Sprecher anwendbar ist. Für die im Folgenden untersuchten Texte ist das zweite Argument weniger einschlägig, ist hier doch in der Regel eine sich selbst mit der 1. Ps. Sg. bezeichnende Sprechinstanz greifbar. Daher verwende ich alternativ zu Stimme auch Ich oder Ich-Stimme. Gewichtiger ist Schwarz’ Argument der akustischen Konnotation von Stimme. Da es sich beim mhd. Minnesang um Liedtexte handelt, deren mediale Doppelexistenz in vokaler und schriftlicher Form kaum in Frage steht, ist der Begriff dem Terminus Sprecher vorzuziehen, lässt sich mit ihm doch sowohl die analytische Ebene der Sprechinstanz als auch deren klangliches Symbolisierungspotential bezeichnen. Als heuristisches Instrument, das zugleich die lyrische Qualität des Gegenstands erfasst, eignet sich Stimme damit als präziser Ersatz für das analytisch und forschungsgeschichtlich missverständliche lyrische Ich. Zugleich lässt sich so auch der in der mediävistischen Forschung vielfach genutzte Terminus Sänger vermeiden, dessen Verwendung sich zwar für eine Reihe von Texten rechtfertigen lässt – insofern sich das Ich hier als singendes versteht –, dessen analytische Unterscheidung von einem textexternen Vortragenden aber häufig unscharf bleibt. Vgl. zur Bezeichnung der Sprechinstanz im Gedicht und des Gedichts auch den forschungskritischen Beitrag von Jan Borkowski und Simone Winko in diesem Band, der auf der Basis eines neuzeitlichen Lyrikmodells, das vor allem mit einem Schrifttext bzw. seiner sprechsprachlichen Realisierung rechnet, den Begriff des textinternen und -externen Sprechers präferiert. 29 Damit erfüllt sie die Definition von Dieter Lamping, nach der ein lyrisches Gedicht absolute „Einzelrede in Versen“ ist, vgl. Ders.: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, S. 55–78, Zitat S. 63. Kritik an der dieser Position impliziten Annahme, Lyrik kenne keine Vermittlungsinstanz, übt u. a. MüllerZettelmann, Lyrik und Narratologie (Anm. 10), S. 137–141, bes. S. 141. 30 Der Gebrauch des Präsens zeigt die Zugehörigkeit zu den besprechenden und zugleich die Differenz zu den erzählenden Tempora an, vgl. Weinrich (Anm. 18), S. 57–62. 31 de Man (Anm. 1), S. 78.
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lungsoptionen.32 Damit wird sie selbst als Sprechhandlung zum Bestandteil eines noch unabgeschlossenen, offenen (Liebes-)Geschehens und zugleich zur Mitte einer sich nur als Möglichkeit andeutenden, imaginierten Geschichte der Sprechinstanz.33 Der Dominanz der temporalen Struktur auf der histoire-Ebene der Minneklage stehen die Präsenzeffekte entgegen, die die Stimme auf der Ebene des discours generiert.34 Sie werden durch eine Kombination von textinternen Faktoren hervorgerufen, die sich in der Situation des sanglichen Vortrags noch intensiviert. Der Eindruck, das, was die Stimme äußere, könne ihr als authentische Erfahrung zugeschrieben werden, ist somit ein Effekt. Er ergibt sich aus der Sprechhaltung des Besprechens, die ein Tempus der besprochenen Welt, zumeist das Präsens, fordert, sowie ferner einer grammatikalisch greifbaren, vorzugsweise als ‚Ich‘ bezeichneten Sprechinstanz. Für die Gattung der Klage spielen diese Merkmale programmatisch in Aussagen wie ich muoz […] sîn unvrô35 oder: ich enbin niht vrô36 zusammen. Man könnte nun annehmen, dass sich der Präsenzeffekt dieser IchAussagen in dem Moment bricht, wenn sie im Modus des Sangs vorgetragen werden, schließlich lässt sich die formal-ästhetische Künstlichkeit gesungener Aussagen kaum überbieten. Dass die Künstlichkeit des Singens im Minnesang jedoch gerade keine Situationsspaltung,37 sondern vielmehr 32
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In den biblischen Klagepsalmen entspricht dieser Struktur die diskursive Bewegung von der Klage zu Lob und Bitte, vgl. Claus Westermann: Lob und Klage in den Psalmen. 6. Auflage von Das Loben Gottes in den Psalmen, Göttingen 1983, S. 125–164; Christiane de Vos: Klage als Gotteslob aus der Tiefe. Der Mensch vor Gott in den individuellen Klagepsalmen, Tübingen 2005 (Forschungen zum Alten Testament, 2. Reihe 11). Auch für diesen zweiten Klagetypus gilt somit: Die Klage generiert zwar keine Geschichte(n), aber sie stellt das hermeneutische Begehren nach ihnen aus. Insofern markiert sie nicht nur die Differenz zwischen amorphem, sinnlosen Geschehen und geordneter, sinnhafter Geschichte, sondern besetzt gattungs- und texttypologisch die Position zwischen beiden Kategorien. In der Lyriktheorie werden sie unter den Begriffen Subjektivität und Illusion verhandelt, vgl. bes. Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik (Anm. 10), S. 107–138; Müller-Zettelmann, Lyrik und Narratologie (Anm. 10), S. 143–146. Vgl. MF 42,1 (Friedrich von Hausen); vgl. auch MF 51,13 f.: Sich möhte wîser man verwüeten / von sorgen, der ich manige hân. Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. I: Texte. 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. Abweichungen vom hier gebotenen Text sind in den Anmerkungen nachgewiesen. MF 165,11 (Reinmar der Alte). Der Begriff nach Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 120–159, hier S. 122–133; Ders.: Der Inszenierte Diskurs. Bemerkungen zur pragmatischen Relation der Fiktion. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich/Wolfgang Iser, München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 183–206, S. 195–198.
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deren Gegenteil, Situationsverschmelzung, bewirkt,38 hat Hartmut Bleumer mit der Wirkung des Klangs zu erklären versucht. Demnach erzeugt der Klang des Sangs den Anschein von Unmittelbarkeit, er schafft einen Kontakt zum Rezipienten, dem dieser sich nicht willentlich entziehen kann.39 Klang scheint sogar regelrecht zu entdifferenzieren.40 Der Klang ist damit ein Phänomen des Raums, er macht räumliche Anwesenheit in besonderer Weise wahrnehmbar. Für ihn gilt analog, was grundsätzlich für die Situation der Anwesenheit skizziert wurde: Indem der Klang den Faktor Raum intensiviert, lässt er zugleich den Faktor Zeit in den Hintergrund treten. Wenn es also der Modus des Sangs in der Situation des Liedvortrags vermag, die Raumwahrnehmung zu intensivieren und zugleich zu entzeitlichen, dann verstärkt er die auf das Hier und Jetzt beziehbare Aussage der Stimme ich enbin niht vrô und verschafft ihr unmittelbare Geltung und Authentizität.41 Das Zusammenspiel von histoire- und discours-Ebene in der Minneklage scheint somit gegenläufige Zeit- und Raumwahrnehmungen zu implizieren: Die histoire-Ebene bedarf der zeitlichen Struktur. Sie ist von Distanzeffekten bestimmt, in denen der Faktor Zeit den Faktor Raum determiniert. Die discours-Ebene generiert hingegen Präsenzeffekte, in denen der Faktor Raum den der Zeit aufhebt. Oder anders gesagt: Die Raumintensität des KlageSangs ist die Kehrseite eines zeitlich immer schon distanzierten, gleichwohl noch unabgeschlossenen, in jedem Fall unbewältigten Geschehens. Wie diese Gegenläufigkeit von discours- und histoire-Ebene, von Zeit- und Raumwahrnehmung Minneklagen in je unterschiedlicher Weise strukturiert, ist im folgenden an zwei Fallbeispielen zu diskutieren.42
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Diese Gedankenfigur ist in der Einleitung zum vorliegenden Band (Hartmut Bleumer/ Caroline Emmelius: Generische Transgressionen und Interferenzen. Theoretische Konzepte und historische Phänomene zwischen Lyrik und Narrativik, S. 1–39, hier S. 26–28) expliziert. Vgl. Bleumer (Anm. 26), S. 36–44, sowie S. 45 mit einem Fallbeispiel aus dem Tristan. Zu anthropologischen Wirkungen des stimmlichen Klangs vgl. Judit Frigyesi: The Sound of the Synagogue. Magic and Transcendence. In: Paragrana 16/2 (2007), S. 151–163; sowie Johannes Bilstein: Schöne Stimme, Stimme des Verrats. In: Paragrana 16/2 (2007), S. 164–176. Auch in der modernen Lyriktheorie ist deshalb die Kategorie der Musikalität zentral, vgl. Müller-Zettelmann, Lyrik und Metalyrik (Anm. 10), S. 61 f. u. 91–96. Neuerdings wird die Bedeutung von Klanglichkeit auch für narrative Texte reklamiert, vgl. Werner Wolf: The Musicalization of Fiction. A Study in the Theory and History of Intermediality, Amsterdam, Atlanta 1999 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 35). Einen inhaltlichen Überblick zu den mhd. Minneklagen bietet Günther Schweikle: Minnesang, 2. korrigierte Aufl. Stuttgart, Weimar 1995 (SM 244), S. 121–124.
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Caroline Emmelius
IV. Korrelationen von Raum und Zeit, discours und histoire in der Minneklage IV.1. Friedrich von Hausen Im Liedkorpus Friedrichs von Hausen stellen die Trennungsklagen einen Klagetypus dar, der den Zusammenhang von Raum und Zeit in besonders einfacher Weise evident macht. Die histoire-Ebene dieser Lieder entwirft eine Zeitachse, die einer in der Vergangenheit liegenden Nähe der Dame ihre gegenwärtige Ferne gegenüberstellt. Mit dieser Zeitachse korreliert eine Raumachse, die sich zwischen der Gegend umb den Rîn als dem Ort der Dame und den Orten des Ichs jenseits der Berge aufspannt.43 Der Nichterhörung des Ichs in der Vergangenheit wird die gegenwartsbestimmende Erfahrung räumlicher Distanz zur Geliebten als primärer Klagegrund entgegengesetzt: Ich wânde ir ê vil verre sîn, dâ ich nû vil nâhe waere. alrêrste hât daz herze mîn von der vrömde grôze swaere. (MF 45,10–13)44
Ich glaubte, ich stünde ihr früher fern, dort, wo ich ihr jetzt sehr nah wäre. Erst jetzt ist mein Herz wegen der großen Entfernung (von ihr) sehr betrübt.
Um die konkrete Distanz auf der Ebene der histoire zu überwinden, setzt das Ich auf eine Strategie, die zu den Topoi mittelalterlicher Minnetheorie gehört: Wenn man die Dame nicht von Angesicht zu Angesicht sehen und sprechen kann, so lässt sich ihre Anwesenheit wenigstens in Gedanken imaginieren.45 So formuliert es die vierte Strophe der Minneklage MF 51,33:46 43
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So explizit MF 45,14–18; 48,6; vgl. zur räumlichen Trennung von Ich und Dame auch MF 43,1 f.; 43,10–14; 43,19–27; 51,29 f.; die Klage MF 51,33 (hierzu die Ausführungen unten) sowie das Kreuzlied MF 45,37. Die frühe Forschung neigte zu einer biographischen Deutung dieser Hinweise, vgl. die kritische Diskussion bei D. G. Mowatt: Friderich von Hûsen. Introduction, Text, Commentary and Glossary, Cambridge 1971 (Anglica Germanica Series 2), S. 12–23. Vgl. die analoge Argumentation in MF 52,17–19 u. 25 f.: Ez ist ein grôze wunder: / die ich alre sêrste minne, / diu was mir ie gevê. […] mir was dâ heime wê / und hie wol drîstunt mê. („Es ist sehr erstaunlich: Diejenige, die ich am meisten liebe, war mir immer feindlich gesinnt. […] Dort zuhause ging es mir schlecht, und hier ist es noch dreimal schlimmer.“) Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, von mir. Vgl. hierzu Beate Kellner: Ich grüeze mit gesange – Mediale Formen und Inszenierungen der Überwindung von Distanz im Minnesang. In: Text und Handeln. Zum kommunikativen Ort von Minnesang und antiker Lyrik. Hrsg. von Albrecht Hausmann unter Mitwirkung von Cornelia Logemann und Christian Rode, Heidelberg 2004 (Beihefte zum Euphorion 46), S. 107–137, bes. S. 122–126, die für die Überwindung der Distanz zwischen Ich und Dame vor allem auf die herz-lîp-Metaphorik, das Motiv der Gedankenminne und das des Übersendens von Liedstrophen durch Boten verweist. Die Klage ist in den Hss. B und C in identischer Strophenfolge überliefert. Die Herausgeber von Des Minnesangs Frühling (Anm. 35) folgen der Textfassung von Hs. B; vgl. auch Mowatt (Anm. 43), S. 134–137, hier S. 154–156.
Zeit der Klage
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Swie klein ez mich vervâhe, sô vröwe ich mich doch sêre, daz mir nieman kan erwern, ich gedenke ir nâhe, swar ich landes kêre. den trôst sol sî mir lân. (MF 52,27–32)
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Wie wenig es mir auch nützt, so freue ich mich doch sehr darüber, dass mir niemand verwehren kann, ihr in Gedanken nah zu sein, wohin ich mich auch immer wende. Diesen Trost soll sie mir lassen.
Imagination bringt die Dame dem Ich aber nicht nur räumlich in die Nähe, sie vermag als iterierende Praxis auch die Zeit aufzuheben:
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Ich denke underwîlen, ob ich ir nâher waere, waz ich ir wolte sagen. daz kürzet mir die mîlen, swenne ich mîne swaere sô mit gedanken klage. Mich sehent manige tage diu liute in der gebaerde, als ich niht sorgen habe, wan ich si alsô vertrage. (MF 51,33–52,6)
Ich denke von Zeit zu Zeit, was ich zu ihr sagen würde, wenn ich ihr näher wäre. Das verkürzt mir die Distanz zu ihr, wann immer ich meinen Kummer auf diese Weise denkend klage. Häufig sehen mich die Leute in der Haltung als ob ich keine Sorgen hätte, denn ich ertrage sie auf diese Weise geduldig.
Die Reimworte wîlen und mîlen bereiten die in den Versen 4–6 dieser Strophe explizierte Denkfigur bereits klanglich vor: Die in der Zeit gegebene Möglichkeit der Wiederholung – immer wieder an die Dame zu denken, Kontakt mit ihr zu imaginieren und dem eigenen Kummer Ausdruck zu verleihen – bringt den Zeitbegriff zum Verschwinden und verkürzt daher symbolisch auch die räumliche Distanz zu ihr. Auf diese Weise wird die Dame dem Ich unabhängig von den Faktoren Raum und Zeit, überall und jederzeit, in der Klage mit gedanken verfügbar.47 Gleichwohl kann sich die 47
Dass das Ich seine Klage ganz nach innen richtet und sie als Selbstkommunikation denkt, an der die Außenwelt gerade keinen Anteil nehmen kann (MF 52,1–6), steht in einer für den Minnesang typischen Spannung zur Kommunikationsfunktion des Liedes, die z. B. auch Walthers Lindenlied aufweist, hierzu Hartmut Bleumer: Walthers Geschichten? Überlegungen zu narrativen Projektionen zwischen Sangspruch und Minnesang. In: Der achthundertjährige Pelzrock. Walther von der Vogelweide – Wolfger von Erla – Zeiselmauer. Vorträge gehalten am Walther-Symposion der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vom 24. bis 27. 9. 2003 in Zeiselmauer (Niederösterreich). Hrsg. von Helmut Birkhan, Wien 2005 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.- Hist. Klasse, Sitzungsberichte, 721), S. 83–102, hier S. 95–99. Unabhängig jedoch davon, wie ein solcher paradoxer Kommunikationsakt aufgefasst werden kann, verschafft der selbstbezogene, reflektierende Klagediskurs, indem er die auf der histoire-Ebene gegebenen zeitlichen und räumlichen Distanzen symbolisch aufzuheben und in Gegenwart und Nähe zu verwandeln vermag, dem Ich gedankliche, emotionale und damit auch soziale Autonomie (MF 52,27–31), vgl. Klaus Grubmüller: Ich als Rolle. ‚Subjektivität‘ als höfische Kategorie im Minnesang? In: Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hrsg.
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zeit- und raumaufhebende Verinnerlichung des äußeren Minnegeschehens über Reflexion und Imagination nur um den Preis seiner Konkretheit vollziehen, so dass der Klagegrund, die swaere, dennoch vorhanden bleibt. Die Strophe bringt damit die paradoxen Bedingungen für die Möglichkeit des Klagediskurses auf den Punkt: Die Klage mit gedanken vermag zwar die Anwesenheit der Dame zu fingieren, sie kann dies aber nur vor dem Hintergrund ihrer tatsächlichen, konkreten Abwesenheit.48 So erklärt sich auch die einleitende Frage des Ichs als Reflexion über die Bedingungen des Diskurses: Was würde es sagen, wäre die Dame tatsächlich anwesend? Da die konkrete räumliche Anwesenheit der Dame den Klagegrund aussetzt, wären die Voraussetzungen für die Klage nicht länger gegeben. Der Diskurs verlöre seine Legitimation.49 Komplexer gestaltet sich das Verhältnis von Raum- und Zeitstrukturen auf der histoire- und discours-Ebene der Minneklage, wenn räumliche Distanz zum sekundären Ergebnis eines emotional distanzierenden Ereignisses wird, das wie im Fall der folgenden dreistrophigen Klage MF 42,1 zeitlich bestimmt ist:50 Ich muoz von schulden sîn unvrô, sît sî jach, dô ich bî ir was, ich mohte heizen Enêas und solte aber des wol sicher sîn,
48 49
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Es ist mir zurecht bestimmt, unfroh zu sein, nachdem sie sagte, als ich bei ihr war, ich könne gerne Eneas heißen, solle aber sicher sein,
von Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 387–406, hier S. 400 f.; aufgenommen ist der Gedanke bei Kellner (Anm. 45), S. 125. Dass es dem Ich des Mannesliedes ganz grundsätzlich darum zu tun ist, „sozialisierte[] männliche[] Souveränität“ zu demonstrieren, hat für Reinmar besonders Albrecht Hausmann betont, vgl. Ders.: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Überlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 40), u. a. S. 148–153, Zitat S. 152. Dagegen steht die Ansicht von James A. Schultz, dass insbesondere „Hausen’s lover has little experience of ‚freie Unterwerfung‘, ‚freiwillige Bindung‘, or the ‚Ethos männlicher Freiwilligkeit‘“, sondern „knows only ich muoz“, vgl. Ders.: Performance and performativity in Minnesang. In: ZfdPh 128 (2009), S. 373–396, hier S. 382 f., Zitat S. 383. Vgl. Hasebrink (Anm. 27), S. 94 f. In Reinmars Liedern wird das Problem, ob sich das Ich in Anwesenheit der Dame überhaupt artikulieren kann, explizit entfaltet und dahingehend zugespitzt, dass die Ausdrucksmöglichkeiten des Ichs an die Abwesenheit der Dame gekoppelt werden, vgl. hierzu unten Abschnitt IV.2 zu Reinmar dem Alten. Der Text folgt der Fassung von Hs. B. Die Hss. B und C haben dieselbe Strophenfolge, C kennt eine vierte Strophe (MF 43,1), die in B nicht enthalten ist, dafür hat B zwei inhaltlich anschlussfähige Strophen (B4 und B5: MF 43,10 und 43,19), die metrisch geringfügig von B 1–3 abweichen. Diese sind in C an späterer Stelle, zudem als Kurzzeilenstrophen, überliefert (C18 und 19). Vgl. Mowatt (Anm. 43), S. 106–109, S. 145–148; sowie Friedrich von Hausen: Lieder. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar von Günther Schweikle, Stuttgart 1984 (RUB 8023), S. 64–71, S. 133–136.
Zeit der Klage
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si wurde niemer mîn Tidô. wie sprach sie dô? aleine vrömidet mich ir lîp, sî hât iedoch des herzen mich beroubet gar vür alliu wîp. (MF 42,1–9)
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dass sie nicht meine Dido werde. Wie konnte sie das sagen? Nun ist sie mir ganz fern, dabei hat sie allein (vor allen anderen Frauen) mich des Herzens ganz und gar beraubt.
Die als Ich hervortretende Stimme des Textes konstatiert im Präsens ihr für die Gattung der Klage konstitutives Leid. Auch hier gibt es dafür einen angebbaren Grund: Er besteht in einem Dialog mit der Dame, der zeitlich zurückliegt und den die Stimme im Präteritum rekapituliert. Die Dame hat dem Ich auf den Kopf zugesagt, dass sie, auch wenn es sich als Eneas sehe, niemals seine Dido werde. Das Ich äußert sich hierüber empört51 und beschreibt – wiederum im Präsens –, dass sie sich ihm räumlich-körperlich entzieht. Die Strophe endet mit der metaphorischen Aussage, sie allein habe ihm das Herz geraubt. Für die discours-Ebene dieser Strophe lässt sich beobachten, dass in die besprechende Rede der Stimme die erzählende Rede eines autodiegetischen Erzählers eingefügt ist, die wiederum in der indirekten Wiedergabe von Figurenrede besteht. Der Einschluss erzählender in besprechende Rede wird in der Figurenrede der Dame noch einmal wiederholt, wenn auch mit anderen Mitteln. Indem die Dame für ihr Verhältnis zum Ich die Analogie zu Dido und Eneas aufruft, um sie umgehend abzuweisen, integriert sie ebenfalls ein Narrativ in ihre Rede, auch wenn dieses hier nur chiffriert vorliegt. Dadurch kann die Aussage der Dame unterschiedliche Bedeutungen annehmen: Ob sie sich ganz allgemein auf die Fatalität von erotischen Paarbeziehungen, auf die einseitige Abhängigkeit der Frau oder auf den Wankelmut des Partners bezieht, lässt sich zunächst nicht eindeutig entscheiden.52 Erst in der dritten Strophe bietet das Ich seine Deutung an: Es legt die Chiffre als impliziten Vorwurf von unstaete aus, wenn es die Hoffnung äußert: nu werde schîn / ob rehte staete iht müge gevromen. (MF 42,24 f.; „nun mag sich zeigen, ob nicht wahre Beständigkeit etwas nützen kann“).53 In der Deutung des Ichs möchte die Dame in einer Minnehandlung, in der sie sich der Verlässlichkeit des Partners nicht sicher sein kann, keine Rolle spielen.
51 52 53
Auf diese Lesart lassen sich die verschiedenen Übersetzungen bringen, die der Fragesatz in der Forschung erfahren hat, vgl. zusammenfassend Eikelmann (Anm. 6), S. 21 f., Anm. 10, dort auch die ältere Literatur. Das spiegelt die Forschung, vgl. stellvertretend Eikelmann (Amm. 6), S. 22, Anm. 11 und S. 31 f. Von hier aus lässt sich der Hinweis auf den Herzensraub (MF 42,8 f.) als Beteuerung der Ernsthaftigkeit seiner Bindung verstehen, dessen emphatisches iedoch unmittelbar auf den Vorwurf der Dame reagiert.
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Daher muss es die Aufgabe des Ichs sein, sie mit seiner Aussage54 vom Gegenteil zu überzeugen. Die für die discours-Ebene der Strophe beobachtbaren vertikalen Kippeffekte zwischen erzählen und besprechen, finden auf der histoire-Ebene der Strophe ein horizontales Analogon in der raum-zeitlichen Struktur des dargestellten Geschehens: Die erzählende Rede des Ichs führt mit der Wiedergabe der Dido/Eneas-Referenz ein Ereignis ein, das nicht nur die Stimme des Textes mit einem Stück Lebensgeschichte ausstattet, sondern dem Sprecherdiskurs insgesamt eine temporale Struktur verleiht: Das Ereignis, die Aussage der Dame, markiert einen Wandel in der Beziehung des Ichs zur Dame, dessen Ergebnis räumliche und emotionale Distanz ist.55 Insofern der räumlichen Distanz nach dem Ereignis (vgl. V. 7) die räumliche Nähe davor korreliert ist (vgl. V. 2), gilt eine entsprechende Relation auch für die emotionale Situation des Ichs. Auch der für die Sprechgegenwart relevante Verlust von vroide hat vor dem distanzierenden Ereignis ein Gegenstück. Auf diese Weise ergibt sich der klassische Anfang einer einfachen Geschichtsstruktur. Eine positive Ausgangssituation wird durch ein Ereignis schlagartig in ihr negatives Gegenteil, eine Mangelsituation, verkehrt, die nach Kompensation verlangt. Träte die Kompensation ein, könnte die Ausgangssituation restituiert werden und das Narrativ käme zum Abschluss. An die Stelle der notwendigen Kompensationshandlung tritt hier jedoch die Klage des Ichs, das den Mangel reflektiert. Der lyrische discours verselbständigt sich gegenüber der histoire-Ebene. In der zweiten Strophe wird entsprechend die räumliche und emotionale Distanz zur Dame entfaltet: Mit gedenken56 muoz ich die zît vertrîben, als ich beste kan, und lernen, des ich nie began, trûren unde sorgen pflegen. (MF 42,10–13)
Mit Denken muss ich die Zeit vertreiben, so gut ich es nur kann. Und das lernen, was ich nie zuvor tat: Klagen und meinen Kummer pflegen.
In der Abwesenheit der Dame, die zugleich die emotionale Ferne zu ihr symbolisiert, wird die Zeit lang. Um sie buchstäblich zu vertreiben bzw. sie unmerklich zu machen, ersetzt das Ich konkretes durch mentales Gesche-
54 55 56
Auch wenn diese Aussage im Text als gebundene Rede erscheint, was auf ihre sangliche Medialisierung als Lied verweist, bleibt festzuhalten, dass sich die Ich-Stimme hier noch nicht – wie später bei Morungen oder Reinmar – als singende thematisiert. So auch Eikelmann (Anm. 6), S. 22. Hs. B: gedenken, Hs. C hat hier: gedanken, was in der Ausgabe Des Minnesangs Frühling (Anm. 35) gegen die Leithandschrift ohne Nachweis in den Text gesetzt wurde. Vgl. dagegen Mowatt (Anm. 43), S. 106 f.; Schweikle (Anm. 50), S. 64.
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hen. Im Nachdenken, genauer: in der auf die Dame gerichteten Reflexion, lässt sich die Zeit punktuell aufheben. Diese Form des gedenkens wird als trûren unde sorgen pflegen und damit als Sprechhaltung der Klage selbst spezifiziert. Das Ich behauptet, es müsse diese neue Form des Zeitvertreibs erst erlernen, hatte es doch das Klagen zuvor nicht nötig, denn da war das Beisammensein mit der Dame sein Zeitvertreib. Die Aussage selbst aber ist bereits im Klagemodus realisiert.57 Zum trûren gehört die Selbstbeobachtung in Gegenwart und Vergangenheit und so gerät das Ich unversehens wieder in die Rückschau: 5
des was vil ungewent mîn lîp. durch alliu wîp wânde ich niemer sîn bekomen in sô rehte kumberlîche nôt, als ich von einer hân genomen. (MF 42,14–18)
Daran war ich nicht gewöhnt. Niemals nahm ich an, dass ich um aller Frauen willen (je) in solch kummervolle Not geraten könnte, wie sie mir nun einer wegen widerfahren ist.
Anders aber als in der ersten Strophe liegt hier kein Wechsel der Sprechhaltung vor, der Sprecher gerät nicht ins Erzählen, sondern zitiert eine mittlerweile überholte Position: Er habe nicht geglaubt, dass ihm das Leid, das nun eine einzige Frau verursache, jemals von der Gesamtheit der Frauen habe entstehen können. Die Rückblende hat also nicht die Funktion, die Sprechsituation narrativ zu kontextualisieren, sondern sie markiert eine Wahrnehmungsveränderung, die durch den Akt des gedenkens erreicht wird. Das trûren bewirkt Erkenntnis und ermöglicht die Distanzierung von überholten Positionen. Auch die erkenntnisfördernde Introspektion generiert somit ein dynamisches Geschehen, das hier jedoch nicht der histoire-, sondern der discours-Ebene zuzuordnen ist. Der dynamische Erkenntnisprozess des Ichs wäre demnach als Darbietungsereignis zu bezeichnen, durch das die Stimme des Gedichts eine Erzählgeschichte erhält.58
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Dieser im sprechakttheoretischen Sinne performative Charakter des lyrischen Diskurses ist auch in Liedern gegeben, in denen sich die Ich-Instanz als singende apostrophiert, in denen sie um die Dame wirbt oder sie preist. Dass die Lyrik grundsätzlich aus performativen Sprechakten hervorgegangen ist, betont Schlaffer (Anm. 2). Zum Performanzbegriff der Minnesangforschung vgl. die kritischen Differenzierungen bei Schultz (Anm. 47), bes. S. 373–377. Die Unterscheidung von Geschehens- und Darbietungsereignissen bei Hühn/Schönert (Anm. 10), S. 8 f.; der Begriff der Erzählgeschichte nach Schmid (Anm. 23), S. 280 f.
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Das Ergebnis des gedenkens und trûrens beschreibt schließlich die dritte Strophe:
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Mîn herze muoz ir klûse sîn, al die wîle ich hân den lîp. sô muossen59 iemer alliu wîp vil ungedrungen drinne wesen.60 swie lîhte sî sich getroeste mîn, nû werde schîn, ob rehte staete iht müge gevromen. der wil ich iemer gên ir pflegen, diu ist mir von ir güete komen. (MF 42,19–27)
Mein Herz soll ihre Klause sein, so lange ich am Leben sein werde. Dagegen konnten (früher) alle Frauen immer ungedrängt darin sein.61 Wie gleichgültig ich ihr auch sein möge, nun möge sich zeigen, ob nicht wahre Beständigkeit von Nutzen sein kann. Die will ich ihr immer erweisen, (denn) sie ist mir durch ihre Güte möglich geworden.
Das Ich kontert den auf unstaete lautenden Vorwurf der Dame mit der Zusage, es werde ihr ein Leben lang treu sein (V. 1 f. u. 6–8). Es verwendet hierfür eine topische Präsenzmetapher – das Herz des Ichs als Wohnung der Geliebten62 –, die das Bild des Herzensraubs aus der ersten Strophe wieder
So in den Hss. B und C, die Herausgeber von Des Minnesangs Frühling (Anm. 35) emendieren zu müezen, vgl. hierzu Mowatt (Anm. 43), S. 146. 60 In Des Minnesangs Frühling (Anm. 35) ist nach V. 2 und V. 5 dieser Strophe ein Satzpunkt gesetzt, entsprechend wird V. 3-5 als Satzgefüge gewertet, vgl. dagegen die Argumentation von Mowatt (Anm. 43), S. 145–147. 61 Vgl. dagegen die Übersetzung von Schweikle, der freilich wie die Herausgeber von Des Minnesangs Frühling (Anm. 35) eine alternative Satzkonstruktion für den mhd. Text annimmt: „deshalb wird es durch andere Frauen niemals irgendein Gedränge darinnen geben, wie leicht sie auch auf mich verzichten mag“ (Friedrich von Hausen [Anm. 50], S. 67). Diese Lesart rechnet mit einer Verdoppelung der Aussage der Verse 1 f. (= Sie allein besitzt mein Herz). Das nû in V. 6 verliert so sein adversatives Potential, das m. E. gegen das Präteritum in V. 3 steht. 62 Vgl. zum Motiv des Wohnens im Herzen in der mhd. Lyrik Xenia von Ertzdorff: Die Dame im Herzen und Das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ‚Herz‘ in der höfischen Liebeslyrik des 11. und 12. Jahrhunderts. In: ZfdPh 84 (1965), S. 6–46; Friedrich Ohly: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen [1970]. In: Ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, 2., unveränd. Aufl. Darmstadt 1983, S. 128– 155; Ludger Lieb: Innenräume der Dame. Imaginationen von Präsenz in den ‚Tageliedern‘ des Mönchs von Salzburg. In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink u. a., Tübingen 2008, S. 267–293, bes. S. 272–274. Speziell zur Funktion des Motivs bei Hausen, auch zum komplementären Motiv des Herzens bei der Dame (u. a. MF 50,9), Kellner (Anm. 45), S. 122 f. Zur Motivtradition in der Romania vgl. Sebastian Neumeister: Das Bild der Geliebten im Herzen. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Transferts culturels et histoire littéraire au moyen âge. Hrsg. von Ingrid Kasten/Werner Paravicini/René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte zur Francia 43), S. 315–330; ohne spezifischen Fokus auf die lyrische Dimension des Motivs auch Nigel F. Palmer: Herzeliebe, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ‚Einwohnen im Herzen‘ bei Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta. In: Hasebrink u. a., Innenräume (s. o.), S. 197–224. 59
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aufgreift und es semantisch invertiert.63 Die Metapher setzt die raum-zeitlichen Dimensionen von Präsenz anschaulich ins Bild. Sie stellt nicht nur die räumliche Kopräsenz der Liebenden im Körper des Ichs her, sie versucht sie auch im dem Ich gegebenen Rahmen zeitlich zu verstetigen (vgl. MF 42,20). Mit der Bezeichnung des Herzens als klûse wird die unio der Liebenden überdies religiös konnotiert.64 Durch Tempus und Bildungsweise des Prädikats (muoz sîn) bezieht sich die Aussage auf die Sprechgegenwart und erstreckt sich von dieser aus auf die dem Ich zur Verfügung stehende Zukunft. Wie in den vorangegangenen Strophen auch, kontrastiert sie mit einer Rückblende.65 Anders als im Hier und Jetzt hatten in der Vergangenheit alliu wip im Herzen des Ichs Platz,66 daher wird sich auch erst jetzt unter den Bedingungen rehter staete mit ihrer raum-zeitlichen Exklusivstellung der Dame erweisen können, ob sie bereit ist, ihre abweisende Haltung gegenüber dem Ich aufzugeben. An Hausens Lied lassen sich demnach sowohl Gegenläufigkeit als auch paradoxe Verschränkung von discours- und histoire-Ebene in der Minneklage exemplarisch nachvollziehen. Die histoire-Ebene des Liedes modelliert in den drei Strophen geradezu mustergültig die zeitliche Bewegung der Klage nach, wie sie de Man beschrieben hat: Die erste Strophe präsentiert ein narratives Ereignis aus der Vergangenheit, das den Grund für die Distanz zwischen Ich und Dame angibt, die zweite Strophe reflektiert die Konsequenzen dieses Ereignisses in der Gegenwart und die dritte Strophe formuliert das auf die Zukunft gerichtete Begehren nach Überwindung der Distanz.67
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Dem Raub des Herzens durch die Dame, dem sich das Ich passiv ausgeliefert sieht, wird der Einschluss der Dame im Herzen des Ich gegenübergestellt. Auch wenn die Bezeichnung des Herzens als klûse den freiwilligen Akt des Einschlusses betont, wird in der kontrastiven Setzung gegen den Raub die Bedeutung der Gefangennahme präsent gehalten, die in der Tradition der Metapher prominent ist, vgl. Ohly (Anm. 62), S. 129 f. Das muss noch kein Indiz für die semantische Hierarchie von geistlichem und weltlichem Diskurs sein, sondern bestätigt vielmehr, was Friedrich Ohly für die Immanenzformel Du bist mîn, ich bin dîn gezeigt hat: dass Motive und Metaphern sowohl für sakrale als auch für profane Liebesverhältnisse verwendet werden können und dabei häufig auf die Semantik des jeweiligen Paralleldiskurses ausgreifen, vgl. Ders.: Du bist mein, ich bin dein, du in mir, ich in dir, ich du, du ich. In: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruberg/Dietmar Peil, Stuttgart, Leipzig 1995, S. 145–176, pointiert S. 176. Die These von der Desymbolisierung der geistlichen Metapher des Wohnens im Herzen im literarischen Feld vertritt dagegen – mit behutsamer Kritik an Ohly – Palmer (Anm. 62), S. 220–224. Auf diese allen drei Strophen gemeinsame Zeitstruktur macht schon Mowatt (Anm. 43), S. 146, aufmerksam. Vor dem Hintergrund dieser Aussage, erscheint der unstaete-Vorwurf der Dame aus der ersten Strophe berechtigt. Vgl. de Man (Anm. 1), S. 78.
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Im Unterschied zu narrativen Texten allerdings leistet die histoire-Ebene des Liedes in keiner Strophe die Transformation eines amorphen, offenen Geschehens zu einer Geschichte als zeitlich abgeschlossener und axiologisch besetzter Handlungsstruktur. Zwar lässt sich der in Strophe 1 referierte Vorwurf der Dame als Geschehensereignis interpretieren, das auf Kompensation zielt und damit den Ausgangspunkt einer einfachen narrativen Struktur darstellt. Diese Struktur bleibt im Folgenden jedoch ein Desiderat, denn in der zweiten Strophe verlagert sich die Dynamik des Geschehens von der histoire- auf die discours-Ebene, indem sie einen Reflexionsprozess des Ichs vorführt, der den Diskursmodus der Klage selbst in den Mittelpunkt rückt. In der Performanz der Klage tritt für das Ich wiederum die Wirkmächtigkeit der einen Dame hervor, die die gedankliche Verbindung zur dritten Strophe darstellt. Die kategorische Allein- und Zentralstellung der Dame in der Metapher vom Wohnen im Herzen und die gleichzeitige Zusicherung rehter staete sind zwar eine adäquate Antwort auf den in der ersten Strophe berichteten Vorwurf der Dame, als durch Reflexion gewonnene Darbietungsereignisse bleiben sie aber gleichfalls der discours-Ebene verhaftet und bringen die auf der histoire-Ebene offene narrative Handlung zwischen Ich und Dame somit zu keinem konkreten, geschichtswirksamen Abschluss. Das verhindert überdies die mit Blick auf die Zukunft formulierte Potentialität des Diskurses. Aus dem zeitlichen Dreischritt der drei Liedstrophen kann sich eine Geschichte schon deshalb nicht konstituieren, weil deren Ende abgeschlossen und nicht in eine lediglich mögliche Zukunft hinein offengehalten sein müsste. Gleichwohl bleibt im auf die Zukunft hin formulierten Begehren des lyrischen Diskurses das Desiderat der Geschichtsstruktur erhalten. Pointiert könnte man formulieren, dass das glückliche Ende der Geschichte zweier Liebender in der Herzensmetapher sogar überschritten oder aufgehoben wird. Denn Ziel der Ich-Stimme ist ja nicht die retrospektive Bewältigung von Zeiterfahrung, sondern ihre prospektive Überwindung durch einen auf Dauer gestellten Wiedergewinn der Dame. Zugleich aber setzt der Diskurs der Stimme den temporalen Strukturen der histoire-Ebene Strategien entgegen, die Zeitlichkeit abweisen: Indem das trûren, also die Sprechhaltung der Klage selbst, als Zeitvertrîben angesehen wird und indem die Raummetapher des Herzens als klûse die Vorstellung von zeitlicher Dynamik ausschließt, besetzt die Klage des Ichs einen sprachlichen Raum jenseits narrativierbarer Verläufe: Im Bewusstsein, Teil eines Geschehens zu sein, ohne über die aus diesem hervorgehende Geschichte verfügen zu können, sucht sich die Stimme der Klage dem Zugriff zeitlicher Dynamik zu entziehen und sie in der unio mit der geliebten Dame zu entgrenzen. Im vorliegenden Lied wäre die Transgression des lyrischen Diskurses (Stierle) also grundsätzlich als Bemühen der Stimme zu fassen, sich
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zeitlichen Strukturen zu entziehen. Dieses Bemühen gipfelt im Entwurf einer Raummetapher, in der räumliche Anwesenheit Zeitlichkeit aufhebt. IV.2 Reinmar der Alte Während die Minneklagen Friedrichs von Hausen mit räumlicher und emotionaler Distanz zwischen Ich und Dame konkrete, angebbare Gründe haben und entsprechend konkret auf deren Überwindung angelegt sind, wird der Klagegrund in den Liedern Reinmars zunehmend abstrakt. Generell konstituiert die Reinmarschen Klagen, dass die Dame das werbende Ich nicht erhört. Aber schon die Frage, ob es die Erhörung durch die Dame überhaupt noch anzielt, kann nicht mehr eindeutig beantwortet werden: Die Strophe MF 165,37 formuliert diese Möglichkeit als unentscheidbares Dilemma: Zwei dinc hân ich mir vür geleit, / diu strîtent mit gedanken in dem herzen mîn (MF 165,37 f.; „Zwei Fragen habe ich mir vorgelegt, die fechten in meinem Herzen einen gedanklichen Streit aus“). Das Dilemma sieht wie folgt aus: Würde die Dame das Ich erhören, dann wertete sie dies als Repräsentantin idealer Werte ab, was wiederum dem Ich Anlass zur Klage gäbe (MF 166,5). Bleibt sie hingegen den Werten treu und erhört weder das Ich noch irgendeinen anderen Mann, gibt das ebenfalls dauerhaften Grund zur Klage (daz klage ich iemer mê, MF 166,6). Reinmars Minneklagen büßen offenbar die auf die Zukunft gerichtete Dimension der sie basierenden histoire-Ebene ein. Sie wären somit nicht dem für Minneklagen typischen retro- und prospektiven Klagetypus zuzuordnen. Aber auch zum ausschließlich retrospektiven Typus scheinen die Reinmarschen Minneklagen nicht recht zu passen. Sieht man für das einer Klage vorgängige, potentiell geschichtswirksame Geschehen u. a. das Vorhandensein einer zeitlichen Abfolge von veränderungsindizierenden Ereignissen als konstitutiv an,68 dann kennzeichnet Reinmars Klagen gerade der Rekurs auf deren Abwesenheit. So begründet das Ich in zwei Strophen der Klage MF 163,2369 sein leit mit einem zurückliegenden Treffen mit der Dame, bei dem sich seine anfängliche Freude, die Dame sehen zu können, in Leid verkehrt (MF 68 69
Vgl. Hühn/Schönert (Anm. 10), S. 8–11, pointiert S. 10; vgl. auch Schmid (Anm. 23), S. 11–18. Das Lied ist mit sechs Strophen in den Hss. C, E und mit vier Strophen in Hs. A überliefert, wobei die Strophenfolge stark variiert. In C und E erscheinen die beiden hier interessierenden Strophen MF 164,12 und 164,21 jeweils als Strophenverbund. Zitiert wird hier nach: Deutsche Lyrik des Frühen und Hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten. Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 2005 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 6), S. 318. Dem Text liegt Hs. C zugrunde. Zu den überlieferten Fassungen ebd., S. 840.
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164,12). Obwohl die Stimme ins Präteritum wechselt, bietet sie nicht mehr als den Bericht des Stimmungsumschwungs als solchen. Ein hierfür verantwortliches Geschehensereignis, das sie zum Erzähler machte, bleibt gerade aus. Vielmehr wird der Umschlag von Freude in Leid durch ein dezidiertes Nicht-Ereignis bewirkt, denn in der Anwesenheit der Dame findet das Ich keine Worte: Ôwê, daz ich einer rede vergaz, daz tuot mir hiute und iemer wê. dô sî mir âne huote vor gesaz, war umbe redte ich dô niht mê? (MF 164,21–24)
Ach, dass ich meine Sprache verlor, das schmerzt mich heute noch und wird mich immer schmerzen. Als sie ganz ohne Aufsicht vor mir saß, warum konnte ich da nicht mehr sagen?
Die Selbstdeutung des Ichs folgt unmittelbar im Anschluss und mit der kausalen Begründung der Sprachlosigkeit findet die Stimme zugleich in die Sprechhaltung des autodiegetischen Erzählers: dâ was eht ich sô frô der stunde unde ouch der wîle, daz man [die guoten mir ze sehenne gunde, daz ich vor liebe niene sprach. ez möhte manigem noch geschehen, der sie sæhe, als ich si sach. (MF 164,25–29)
Da war ich tatsächlich so froh über Zeit und Stunde, die es mir vergönnt war, die Gute zu sehen, dass ich aus Freude nichts sagte. So könnte es noch manchem widerfahren,sähe er sie, wie ich sie sah.
Das Ereignis, auf das die Klage des Ichs rekurriert, besteht also in der Negation einer Sprechhandlung. Was für die Ebene der histoire wie eine Reduktion oder Entleerung aussehen mag, liefert zugleich eine Begründung für die discours-Ebene der Klage: Das Ich kann im Angesicht der Dame nicht sprechen, weil es so von Freude erfüllt ist. Die räumliche Präsenz der Geliebten unterbindet somit jenes Kontaktmedium, das allererst ihre Voraussetzung sein sollte.70 Der Versuch des Ichs, die eigene Klage narrativ zu begründen, zieht somit die programmatische Abkopplung von der Anwesenheit der vrouwe nach sich, die sich bei Hausen lediglich andeutete.71 Sprechen bzw. Singen kann das Ich demnach nur unter der Bedingung ihrer räumlichen Abwesenheit. Während bei Hausen die Abwesenheit der Dame jedoch die Bedingung für den Modus der Klage darstellt, erscheinen bei Reinmar Ursache und Wirkung verkehrt: Nicht die Abwesenheit der Dame verur-
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Dass allein der Anblick der Dame eine unvollständige Präsenzerfahrung ist, artikuliert die Stimme in der vorausgehenden Strophe MF 164,12. Dies bestätigt in anderen Werbungsund Klageliedern die Hoffnung der Sprechinstanzen auf einen gruoz ihrer Dame. Vgl. oben zu MF 51,33–35.
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sacht die Klage, sondern die Klage erfordert die Abwesenheit der Dame.72 Entsprechend ist das Leid des Ichs ein Effekt des Sangs, das daher auch gar nicht überwunden werden darf, sondern perpetuiert werden muss, um dem Ich die Ausdrucksmöglichkeit des Sangs zu erhalten.73 In Reinmars Klagen geht es demnach nicht darum, die Dame raum-zeitlich präsent zu machen, sondern sie dauerhaft so auf Abstand zu bringen, dass sich die Ausdrucksform der Klage selbst entzeitlichen lässt.74 Warum aber knüpft die Stimme der Reinmarschen Klagen ihre künstlerische Äußerungsfähigkeit so nachdrücklich an die Erfahrung von leit? Warum scheint es ihr geradezu unzulässig, in einem anderen Modus als klagend vor einem Publikum zu sprechen? Um dieses spezifische Zusammenspiel von histoire- und discours-Ebene für die lyrische Klage aufzuklären, ist es nützlich, die verwandte Sprechhaltung autodiegetischen Erzählens kontrastierend heran zu ziehen. Der Ich-Erzähler ist in der weltlichen Literatur des Mittelalters vergleichsweise selten.75 Grund hierfür scheint zu sein, dass ein Ich, das sich 72
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Vgl. zu diesem Effekt auch Hartmut Bleumer: Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung. Wandlungen des höfischen Diskurses zwischen Roman und Minnesang. In: Galanterie als Verhaltenskonzept in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Ruth Florack/Rüdiger Singer, Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit, im Druck). Hierzu und zu alternativen Lösungen im Reinmarschen Sang, etwa, den ungelohnten Dienst an der Dame als vröide aufzufassen und damit vom Konzept der Erfüllungsfreude Abstand zu nehmen vgl. Albrecht Hausmann: Die vröide und ihre Zeit. Zur performativen Funktion der Inszenierung von Gegenwart im hohen Minnesang. In: Hausmann (Anm. 45), S. 165– 184, bes. S. 178 f. Vgl. MF 156,27; 163,5; 165,10. Auch wenn es darum geht, den Klageton auf Dauer zu stellen, kann die Stimme die Zeitwahrnehmung nicht immer ausblenden, vgl. die ersten drei Strophen der Klage MF 154,32 und die Strophe MF 157,1. Zum Motiv der langen klage bei Reinmar und zum daran anschließenden Alterstopos vgl. Bleumer (Anm. 72), mit der These des bewusst ausgespielten Gegensatzes von iterativ erneuerter Klage und konkretem Zeitverlauf. Zu einem entzeitlichten Minne(sang)konzept bei Walther vgl. schon Volker Mertens: Alter als Rolle. Zur Verzeitlichung des Körpers im Minnesang. In: PBB 128 (2006), S. 409–430, pointiert S. 430. Mertens schreibt die lyrischen Aussagen über das Altern der Körper einer „Poetik des Alters“ (S. 418) zu, deren Divergenzen sich u. a. aus einer Überblendung der Subgattungen Sangspruch und Minnesang ergeben (S. 427 f.); dagegen noch Christoph Cormeau: Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Einbettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide. In: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Kolloquium Würzburg 1984. Hrsg. von Ernstpeter Ruhe/Rudolf Behrens, München 1985 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelaltes 14), S. 147–165, zu Reinmar S. 156–158, der v. a. das Verhältnis von biographischer Referenz und literarischer Rolle fokussiert. Für die mittelhochdeutsche Literatur sind vor allem zwei Texte zu nennen: der Guote Gerhart Rudolfs von Ems und der Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. Vgl. Georg Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. 4, 1. Hälfte, 3. T.: Das Hochmittelalter in der Vollendung. Aus dem Nachlaß hrsg. von Dr. Leo Delfoss, Frankfurt a. M. 1967, S. 311–543 zur weltlichen Literatur des europäischen Mittelalters, S. 433–437 zu Ulrichs Frauendienst. Zur Diskussion des Autobiographiebegriffs für die mittelalterliche Literatur vgl. Hartmut Bleumer: Der Frauendienst als narrative Form. In: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit –
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anschickt, seine eigene Geschichte zu erzählen, ganz grundsätzlich prekär ist, denn es steht im Verdacht des rüemens, des Selbstlobs, das als Hybris beargwöhnt wird.76 Daher verfügen autodiegetische Erzähler im Mittelalter nur über Geschichten von Niederlagen: Das belegen eindrucksvoll die Confessiones des Augustinus oder Abälards Historia Calamitatum77 sowie jene Rede- und Schweigeregeln der Artusliteratur, nach denen ein Artusritter nur von seinen Niederlagen, nicht aber von seinen Erfolgen erzählen darf. Die Selbstermächtigung des Ich-Erzählers auf der Ebene des discours scheint das Korrelat der Selbstabwertung auf der Ebene der histoire zu erfordern.78 Diese Konstellation aber impliziert die für narrative Texte grundsätzlich gegebene Distanz zwischen Erzähler und Geschichte, die in mittelalterlichen Autonarrationen als kritische Distanznahme des erzählenden zum erzählten Ich pointiert ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Fall der Ich-Rede in der lyrischen Klage profilieren: Einerseits ist der Klagediskurs des Ichs – wie bei Hausen – durch ein ereignishaftes Geschehen bedingt, das dem Ich Leid verschafft und daher Analogien zur spezifischen histoire-Ebene der mittelalterlichen Autonarration aufzuweisen scheint. Andererseits wird die Klage – wie bei Reinmar – gerade durch die Abwesenheit eines ereignishaften Geschehens zwischen Ich und Dame möglich: Das Ich kann im Sang deshalb prominent und durchaus selbstbewusst hervortreten, weil es keine Geschichte von sich und seiner Dame zu erzählen hat und ein Konflikt mit dem Diskursverbot des rüemens somit von vornherein ausgeschlossen ist.79 Für beide Klagety-
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Werk – Forschung. Hrsg. von Sandra Linden/Christopher Young, Berlin, New York 2010 (De Gruyter Lexikon), S. 358–397, bes. S. 358–363. Vgl. zu lyrischer und narrativer Ich-Rede auch die Einleitung dieses Bandes (Bleumer/Emmelius [Anm. 38], bes. S. 9 f.). Vgl. hierzu Anja Becker: Poetik der wehselrede. Dialogszenen in der mittelhochdeutschen Epik um 1200, Frankfurt a. M. 2009 (Mikrokosmos 79), S. 153–181, die nicht nur auf die zentrale Bedeutung dieser kommunikativen Regel aufmerksam macht, sondern auch ihre jeweils differierenden Begründungen im theologischen, rhetorischen und höfischen Diskurs nachweist. Hierzu demnächst Caroline Emmelius: Das Ich und seine Geschichte(n). Paradigmatische und syntagmatische Erzählstrukturen in der Novellistik, der mittelalterlichen Ich-Erzählung und im deutschen „Lazaril von Tormes“ (1614). In: Das Syntagma des Pikaresken. Hrsg. von Peter Strohschneider unter Mitarbeit von Jan Mohr und Michael Waltenberger (erscheint vorauss. Heidelberg 2011 [GRM-Beiheft]). Zum Problem von Ich-Konstitution und Autorschaft bei Abälard vgl. Frank Bezner: ‚Ich‘ als Kalkül. Abaelards ‚Historia calamitatum‘ diesseits des Autobiographischen. In: Abaelards „Historia calamitatum“. Text – Übersetzung – literaturwissenschaftliche Modellanalysen. Hrsg. von Dag Nikolaus Hasse, Berlin, New York 2002 (De Gruyter Texte), S. 140–177. Hierzu mit Beispielen aus der mhd. Artusliteratur Caroline Emmelius: Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2010 (Frühe Neuzeit 139), S. 69–93. So auch die Beobachtung im Beitrag von Albrecht Hausmann in diesem Band. Das Verbot des Selbstlobs gilt dabei nur für die histoire-Ebene, auf der Ebene des discours ist es hingegen ausgesetzt, vgl. für Reinmar u. a. MF 163,5.
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pen, sowohl den narrativ basierten als auch denjenigen, in dem narrative Strukturen lediglich die latente Bedingung der Möglichkeit von Klage darstellen, gilt, dass die Diskursinstanz anders als ein autodiegetischer Erzähler nicht bereits über eine reflexive Distanz zu ihrer eigenen zeitlichen Vergangenheit verfügt, sondern diese im Vollzug der Klage – wenn überhaupt – erst herstellt. Es scheint diese offene Suche der Ich-Stimme nach der Deutung vergangener Erfahrung bzw. nach der eigenen Geschichte schlechthin zu sein, die im Mittelalter die Lyrik zum Ort der Ich-Rede macht und sie damit als Anti-Diskurs80 bzw. als paradoxes Komplement zum prekären Modell autodiegetischen Erzählens ausweist. V. Fazit In Reinmars Liedern wird die Klage zum Synonym für den kunstvollen Sang an sich.81 Diese Vorstellung findet außerhalb des Minnesangs eine Bestätigung im poetologischen Exkurs von Gottfrieds Tristan.82 Dort wird der Minnesang vor allem über das leit definiert: die [die nahtegalen] sint ir dinges wol bereit / und kunnen alle ir senede leit / sô wol besingen und besagen (V. 4775–77; „Die [Nachtigallen] sind sehr geschickt und können von all ihrem Liebeskummer sehr schön singen und sprechen“).83 Als Leitstimme eines so verstandenen Sangs wird diu von Hagenouwe, also vermutlich Reinmar, genannt (V. 4779 f.), die ihr zugeordnete Sprechhaltung, das besingen und besagen, ist in der Terminologie Weinrichs das Besprechen. Aber bei dieser discours-orientierten Definition des Sangs bleibt der Literaturexkurs nicht stehen. Er schreibt ihm zugleich eine histoire-Ebene zu, die nur aus der Perspektive des Publikums wahrnehmbar ist: ez wecket friuntlîchen muot, / hie von kumt inneclîch gedanc, / sô der vil liebe vogelsanc / der werlde ir liep beginnet zalen. (V. 4770–4773; „Wenn der liebliche Vogelgesang beginnt,
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Vgl. Stierle (Anm. 7). S. 514. Vgl. programmatisch MF 163,5–9: Des einen und dekeines mê / wil ich ein meister sîn, al die wîle ich lebe: / daz lop wil ich, daz mir bestê / und mir die kunst diu werlt gemeine gebe, / Daz nieman sîn leit alsô schône kan getragen. („So lange ich lebe will ich in dieser einen und keiner anderen Sache die Meisterschaft haben. Ich möchte, dass mir das Lob bleibt und mir die Welt das Vermögen zuspricht, dass keiner sein Leid so schön ausdrücken kann.“). Zur Poetologie des Minnesangs im Literaturexkurs vgl. Gert Hübner: Minnesang als Kunst. Mit einem Interpretationsvorschlag zu Reinmar MF 162,7. In: Hausmann (Anm. 45), S. 139–164, hier S. 139–142, zur Übereinstimmung mit Konzeptionen bei Reinmar S. 151. Zitiert nach Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, 2., durchgesehene Aufl. Stuttgart 1981 (RUB 4471).
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der Welt von ihrer Liebesfreude zu erzählen, weckt dies angenehme Empfindungen, die die inneren Gedanken anregen.“)84 Der Sang ist also nicht nur Leid-Diskurs, sondern auch Erzählung von den Freuden der Liebe. Das jedoch meint hier gerade nicht vergangene Liebesfreuden der Ich-Stimme, wie sie im Tagelied erzählt und in den narrativen Rückblenden der Klage angedeutet werden. Der Sang wird vielmehr definiert als Erzählung von den Liebesfreuden seines Publikums. Damit ergibt sich ein weiterer Kippeffekt zwischen lyrischer Präsenz und narrativer Distanz, denn die Erzählung des Sangs wäre demnach ein rezeptionästhetischer Effekt: Die entzeitlichte, zeitlose Klage der Stimme vermag die Zuhörer zu berühren85 und Erinnerungen wach zu rufen, die als narrative Formen Zeitstrukturen neuen Raum geben.86 In der Bestimmung des Sangs als einer sprachlichen Kunstform, die liep zalt und leit besingt und besagt, findet die Korrelation von histoire- und discours-Ebene und mit ihr die von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit in der mittelalterlichen Liebeslyrik zu einer adäquaten historisch-terminologischen Selbstbeschreibung. Über sie lässt sich auch eine Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage nach den generischen Transgressionsmöglichkeiten des lyrischen Diskurses andeuten: Der lyrische Diskurs setzt auf die Entzeitlichung des von ihm Geäußerten, aber seine Entzeitlichungseffekte sind ohne die Vorstellung von Zeitverläufen nicht generierbar. Von sequentiellen Geschehensdynamiken – wie sie für Narrationen kennzeichnend sind – kann sich der lyrische Diskurs gerade nicht frei machen, auch wenn die Transformation von Geschehen in Geschichte auf der histoire-Ebene der Klage geradezu gattungsnotwendig verfehlt wird. Vielmehr interferiert die histoire-Ebene auf unterschiedliche Weise mit dem lyrischen Diskurs: 1) indem sie ihn – wie in den Klagen Friedrichs von Hausen – als Ergebnis eines ereignishaften Geschehens exponiert, ihn selbst als ereignishaft ausweist und so zum Teil eines übergreifenden Geschehens macht; 2) indem sie – wie bei Reinmar – 84
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Die Übersetzung der Stelle ist umstritten. Im hier favorisierten Sinn übersetzt auch Krohn (Anm. 83), Bd. 1, S. 293. Dagegen hält Hübner (Anm. 82), S. 141 f., den genauen Bezug des ir in V. 4773 offen und lässt damit unbestimmt, von wessen Liebesfreude der Welt erzählt wird. Den Kontrast zur Aussage in V. 4776 f. sieht er als einen zwischen Wirkung (V. 4773: Minnesang verschafft dem Publikum Freude) und Thema (V. 4776 f.: im Minnesang geht es um das leit). Vgl. mit dieser Stoßrichtung auch Hausmann (Anm. 73), S. 183 f. Dass der Sang auf vröide beim Publikum zielt und diese beabsichtigte Wirkung in merkwürdiger Spannung zum Aussagemodus der Klage steht, ist zwar nicht in Abrede zu stellen, die hier gleichfalls zum Ausdruck gebrachte Gegenläufigkeit der Sprechhaltungen von zalen und besingen und besagen ist damit aber noch nicht hinreichend aufgeklärt. Vgl. Tristan, V. 4759–4761: ir stimme ist lûter unde guot / si gebent der werlde hôhen muot / und tuont rehte in dem herzen wol. („Ihre Stimmen sind rein und schön, sie vermitteln der Welt ein Hochgefühl und erfreuen das Herz“; Übersetzung nach Krohn [Anm. 83], Bd. 1, S. 293). Diesen Zusammenhang, also die erinnerungsstimulierende Funktion von Musik, nutzt etwa die moderne Demenztherapie.
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in die Latenz verschoben wird und nurmehr als abwesender Grund für die diskursive Selbstermächtigung der Ich-Stimme fungiert; schließlich 3) indem sie – wie im Literaturexkurs des Tristan – als Erinnerungsarbeit der Hörer zu einem Rezeptionseffekt des Diskurses wird. Kennzeichnend für den lyrischen Diskurs der Minneklage wäre somit der beständige Versuch, narrativ organisiertes Geschehen zu überschreiten, stillzustellen oder ganz abzuweisen, der sich dabei – insofern er es sogar zu generieren vermag – seiner Vergeblichkeit stets bewusst ist.
Timo Reuvekamp-Felber
Literarische Formen im Dialog Figuren der matière de Bretagne als narrative Chiffren der volkssprachigen Lyrik des Mittelalters I. Alterität und Intertextualität Es ist ein Allgemeinplatz der Forschung, dass literarische Gattungen in der Regel nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern in einzelnen Vertretern auf verschiedene Art und Weise interagieren können: in der Assimilation bzw. Konvergenz narrativer und reflexiver Strukturen, poetischer und rhetorischer Verfahren, situationaler und personaler Ensembles sowie schließlich zugrunde liegender Ideologeme. Solche generischen Interferenzen sind Untersuchungsgegenstand einer seit den 70er Jahren intensiv geführten Intertextualitätsdebatte in den neueren Philologien.1 Mediävistische Arbeiten haben zu Recht weniger auf die einen total entgrenzten Text1
Mit Intertextualität soll im vorliegenden Beitrag nicht wie in poststrukturalistischer Theoriebildung das Paradigma literarischer Sprache überhaupt bezeichnet werden, das jeden Text als Ausfluss einer unendlichen Reihe von textgewordenen kulturellen Codes versteht, die sich stets neu und anders kombinieren lassen, sondern der markierte Bezug von Texten auf vorgängige Texte, der zur Sinnkonstitution des neuen Textes beiträgt – allerdings hier unter generischer Perspektivierung (vgl. die grundlegenden und operablen Überlegungen zur Konstituierung und Funktion intendierter Fremdtextverweise bei Karlheinz Stierle: Werk und Intertextualität. In: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hrsg. von Wolf Schmid/Wolf-Dieter Stempel, Wien 1983 [Wiener slawistischer Almanach. Sonderband 11], S. 7–26). Zur Markierung von Intertextualität vgl. Jörg Helbig: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität, Heidelberg 1996 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. Folge 3, 141); Ulrich Broich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Hrsg. von Dems./Manfred Pfister, Tübingen 1985 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), S. 31–47. Zum generischen Bezugsfeld der Intertextualität vgl. z. B. Ulrich Suerbaum: Intertextualität und Gattung. Beispielreihen und Hypothesen. In: Broich/Pfister (s. o.), S. 58–77; Bernd Lenz: Intertextualität und Gattungswechsel. Zur Transformation literarischer Gattungen. In: Broich/Pfister (s. o.), S. 158–178; aus mediävistischer Perspektive Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 36), S. 53–58.
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begriff voraussetzende, kultursemiotische Theoriebildung Julia Kristevas zurückgegriffen,2 als vielmehr nach den instrumentellen Funktionen von intertextuellen Bezügen für die Sinnkonstitution von Einzeltexten gefragt – jedenfalls dort, wo der Intertextualitätsbegriff nicht allein als modernistisches Etikett für traditionelle Quellen- und Einflussforschung diente.3 Jan-Dirk Müller hat die Übertragbarkeit eines an modernen Texten entwickelten Intertextualitätsbegriffs auf Literatur der Vormoderne problematisiert sowie dessen Modulation und Historisierung eingeklagt. Das theoretische Konzept legitimiere sich nach Müller nur aus einer Ästhetik, die Kunst als Auseinandersetzung mit Kunst bestimmt. Das wiederum setzt voraus, daß Kunst als selbstreferentielles System verstanden wird, in dem sich jedes Element primär auf andere Elemente desselben Systems bezieht […]. Eine solche Ästhetik ist Produkt von Ausdifferenzierungsprozessen, die in der theoretischen Reflexion erst im 18. Jahrhundert die entscheidende Schwelle überschreiten […]. Für ältere Literatur gelten grundsätzlich nicht die Bedingungen der Selbstreferentialität und des Innovationspostulats.4
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Vgl. Julia Kristeva: Le mot, le dialogue et le roman (1967). Dt.: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. Übersetzt von Michel Korinman/Heiner Stück. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hrsg. von Jens Ihwe, Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft 2, Frankfurt a. M. 1972 (Ars poetica. Texte 8), S. 345–375. Anwendung gefunden hat Kristevas Theoriebildung nur in wenigen Arbeiten, z. B. bei Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans, Würzburg 1990 (Epistemata, Reihe Literaturwissenschaft 66), S. 186–191 sowie Volker Roloff: Intertextualität und Problematik des Autors (am Beispiel des Tristan von Béroul). In: Artusroman und Intertextualität. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67), S. 107–125. Vgl. zur Problematik, Kristevas Intertextualitätskonzept auf mittelalterliche Literatur zu transferieren, Draesner (Anm. 1), S. 37–63. Zur pluralen Verwendungsweise des Begriffs Intertextualität in der Forschung vgl. Manfred Pfister: Konzepte der Intertextualität. In: Broich/Pfister (Anm. 1), S. 1–30, sowie Jay Clayton/ Eric Rothstein: Figures in the Corpus. Theories of Influence and Intertextuality. In: Influence and Intertextuality in Literary History. Hrsg. von Dens., Madison, Wis. 1991, S. 3–36. Vgl. Friedrich Wolfzettel: Zum Stand der Intertextualitätsforschung im Mittelalter (aus romanistischer Sicht). In: Ders. (Anm. 2), S. 1–17. Mit der Zitation von Strukturen, Figuren, Situationen und Versen für die Bedeutungskonstitution literarischer Texte beschäftigen sich u. a. Walter Haug: Der ‚Tristan‘ – eine interarthurische Lektüre. In: Wolfzettel (Anm. 2), S. 57–72; Draesner (Anm. 1); Cornelia Schu: Intertextualität und Bedeutung. Zur Frage der Kohärenz der Gasozein-Handlung in der Crône. In: ZfdPh 118 (1999), S. 336–353; Dies.: Vom erzählten Abenteuer zum „Abenteuer des Erzählens“. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. u. a. 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 2), v. a. S. 191–207. Eine mit Rekurs auf die mittelalterliche (Alexander-) Literatur profilierte analoge Position vertritt Markus Stock: Alexander in der Echokammer. Intertextualität in Ulrichs von Etzenbach Montagewerk. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, S. 113–134, v. a. S. 115–121. Jan-Dirk Müller: Texte aus Texten. Zu intertextuellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts Ehzuchtbüchlein und Geschichtsklitterung. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und ihren praktischen Perspektiven.
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Mit dieser normativen Setzung partizipiert Müller an dem die mediävistische Forschung weiterhin bestimmenden Alteritätsparadigma, ohne dass dessen voraussetzungsreiche Implikationen kritisch reflektiert würden.5 Eine solche möglicherweise institutionell sich begründende Rhetorik grundsätzlicher Differenz verkennt jedoch, dass die poetischen Verfahren des Fremdtextverweises und ihre Implikationen sich nicht grundlegend zwischen Texten der Vormoderne und Moderne unterscheiden. Jenseits der postulierten Binarität von Fremd- und Selbstreferenz gleichen sich die Literatursysteme von Vormoderne und Moderne nämlich typologisch in ihren Bezügen zwischen Prä- und Phänotexten und zu einem Großteil auch in ihren hermeneutisch-pragmatischen Funktionen.6 Diese Entdifferenzierung gilt allerdings nur auf dem Feld der diskursiven Praktiken, nicht schon auf dem Gebiet der lateinischen Dichtungslehren. Hier hat Müller zeigen können, dass mittelalterliche Poetiken mithilfe der Begriffe imitatio und aemulatio Fremdtextverweise anders wahrnehmen als die moderne Literaturtheorie.7 Noch in humanistischen Poetiken der Frühen Neuzeit bestimmt sich das Verhältnis zwischen Prä- und Phänotext nicht als wechselseitiges, sondern als hierarchisches: Der Prätext stellt als Vorbild die Norm für den Nachfolger unter dem Aspekt der poetisch-rhetorischen Qualität. Dass man zwischen poetischer Praxis und poetologischer Theorie allerdings trennen muss, wird schon allein dadurch deutlich, dass die wichtigsten Gattungen volkssprachiger Literatur zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert gerade außerhalb des Kanons der Poetik stehen. So gibt es auch eine größere Zahl intertextueller Beziehungen zwischen volkssprachigen Werken, die durch die traditionelle Terminologie der Dichtungslehren nicht gedeckt ist.8 Müller versucht die historische Differenz zwischen mittelalterlicher und moderner Intertextualität im Kern auf zwei entscheidende Differenzpunkte zu gründen. Zum einen erkennt er im verpflichtenden Bezug von Prä- und Phänotext auf eine gemeinsame normative Poetik einen funda-
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Hrsg. von Wilhelm Kühlmann/Wolfgang Neuber, Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), S. 63–109, hier S. 67. Problematisierend zu den Alteritätsparadigmen der Forschung Ursula Peters: „Texte vor der Literatur“? Zur Problematik neuerer Alteritätsparadigmen der Mittelalter-Philologie. In: Poetica 39 (2007), S. 59–88. Vgl. auch die kritisch bilanzierenden Beiträge im demnächst erscheinenden Band: Alles anders? Alterität in der Mediävistik – Probleme und Alternativen. Hrsg. von Manuel Braun, Göttingen 2011 (Aventiuren, in Vorbereitung). Vgl. dazu die grundlegende Arbeit Draesners (Anm. 1). Vgl. Müller (Anm. 4), S. 68–72. Vgl. dazu auch Draesner (Anm. 1), S. 129: „Fragen danach, wie der Prozeß der Einbindung des Exempels als eines Versatzstückes vorgegebener Rede in den Kontext des eigenen Textes so geschieht, daß eine Sinntransformation auf die causa hin stattfindet und die ‚fremden‘ und ‚eigenen‘ Redeteile miteinander interagieren, sowie Reflexionen darüber, wie diese Sinntransformationen sich im einzelnen vollzieht – also durch welche Mechanismen beispielsweise der Konnex zwischen dem Inhalt des Vergleichsbildes und dem Gegenstand bewirkt wird –, finden in dem pragmatischen Rahmen der Poetik des 12. und 13. Jahrhunderts kein Interesse.“
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mentalen Unterschied zu den Beziehungen moderner Texte, die den Rückgriff auf den Intertextualitätsbegriff obsolet mache. Es gehe im mittelalterlichen Text-Text-Bezug nicht darum, „wie der alte Text im neuen vergegenwärtigt wird oder welche Funktion der Verweis auf ihn erfüllt, sondern ob die ihn leitenden poetischen Prinzipien erfüllt oder gar überboten werden“.9 Dies mag sich unter Rückgriff auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Poetiken so darstellen, die von einer regelhaft-normativen Perspektive auf Literatur geprägt sind. Anders allerdings verhält es sich, wenn man konkrete intertextuelle Relationen von Texten untersucht: Da sind Fragen nach Art und Weise der Vergegenwärtigung des Prätextes sowie der Funktionalität des Fremdtextverweises für die eigenen Ausdrucksformen des Phänotextes – wie in der Analyse moderner Literatur auch – ganz entscheidend. Zum anderen sieht Müller eine weitere Form des Traditionsbezugs in mittelalterlicher Literatur in Geltung: Das Einspielen fremder Texte diene in der Moderne nicht länger „dem Ziel der Rückversicherung bei einer Autorität“.10 Allerdings ist dies in vielen Fällen intertextueller Beziehungen in mittelalterlicher Literatur auch nicht der Fall. Und umgekehrt gibt es Fälle in moderner Literatur, wo der Fremdtextbezug von einer autoritären Beziehung zwischen Prä- und Phänotext geprägt ist (auch wenn diese Fälle in der literaturwissenschaftlichen Analyse unterrepräsentiert sein mögen). Das Verhältnis von Literatur zur Tradition ist daher in Moderne und Vormoderne kein grundsätzlich, sondern bestenfalls ein graduell anderes. In der Folge wird – gegen die Bedenken Müllers: im Rekurs auf die moderne Intertextualitätsdebatte – einem bestimmten Phänomen dialogischer Prozesse zwischen zwei Gattungen nachgegangen: der Interfiguralität. Konkret soll den Transpositionen epischer Figurenensembles der matière de Bretagne in lyrischen Reflexionen des 12.–14. Jahrhunderts und deren Funktionalisierungen Aufmerksamkeit geschuldet werden, da sich hier die Interferenz von Begrenzung und Entgrenzung von Gattungen beispielhaft vorführen lässt.11
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Müller (Anm. 4), S. 69 f. Ebd., S. 71. Ausführlich zur Verwendung von Namen in spätmittelalterlicher Lyrik Wilfried Wittstruck: Der dichterische Namengebrauch in der deutschen Lyrik des Spätmittelalters, München 1987 (Münstersche Mittelalterschriften 61). Einen konzisen Überblick über Figurennamen aus biblischen, antiken und mittelalterlich-epischen Kontexten in deutschsprachiger Minnelyrik bietet auch Olive Sayce: Exemplary comparisons in the medieval German lyric. In: Blütezeit. FS L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Mark Chinca/Joachim Heinzle/Christopher Young, Tübingen 2000, S. 3–28; neuerdings auch Dies.: Exemplary comparison from Homer to Petrarch, Cambridge 2008.
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II. Interfiguralität Die volkssprachige Lyrik greift relativ selten auf Figuren antiker Dichtung, der Bibel, der Historie und auch mittelalterlicher Erzählungen zurück, um das Ich, die Dame oder die angesprochenen Sachverhalte (eine spezifische Liebe, politisch-kulturelle Zustände u. a. m.) in Analogie oder Kontrast zu setzen, wobei der Kontrast entweder mit dem Topos der laudatio temporis acti oder mit einem, dem rhetorischen Mittel der comparatio entstammenden Überbietungstopos versehen ist:12 Man beschwört also entweder eine idealisierte Vergangenheit herauf, die Orientierungsfunktion für eine im kulturellen Niedergang oder im moralischen Verfall befindliche gegenwärtige Gesellschaft übernimmt – solche Funktionalisierungen begegnen vor allem in der Spruchdichtung – oder die geliebte Dame, die eigene Liebe bzw. die Verhaltenssemantik des Ichs werden in ihrer Überlegenheit gegenüber anderen liebenden Personen in Entwürfen der Minne profiliert, wobei zugleich oft ein poetologisches Überbieten epischer Entwürfe mit anklingt. Schon zu Beginn der Ausprägung deutschsprachiger Liebeslyrik nach romanischem Vorbild im 12. Jahrhundert werden alle Stofftraditionen bei der Suche nach Exempelfiguren berücksichtigt; allerdings finden Namen oder Namenzitate insgesamt nur selten Verwendung: In Minnesangs Frühling begegnen gerade einmal 69 Namen in mehr als 9000 Versen.13 Neben den dominierenden biblischen, antiken und historischen Stoffbereichen sind von Beginn an auch Namen aus der matière de Bretagne in der lyrischen Rede präsent, allerdings im 12. Jahrhundert noch ausschließlich in Form der Liebesgeschichte Tristans und Isoldes. Der Rückgriff auf den Tristanstoff liegt nicht fern, da der Roman die Minnebeziehung der dominierenden lyrischen Textsorten in Frankreich und Deutschland, des grand chant courtois bzw. des Werbungsliedes, in Narration überführt.14 Alle rekurrenten Stofftraditionen bleiben auch im 13. und 14. Jahrhundert erhalten, doch werden nun auch Figurennamen aus den Artusromanen eingespielt, die anscheinend erst ab Mitte des 13. Jahrhunderts traditionsbildend wurden.15 12 13 14 15
Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2., durch einen Nachtrag vermehrte Aufl. München 1973, § 404. Dies kann nicht weiter verwundern, ist doch Namenlosigkeit zuerst einmal konstitutiver poetologischer Grundsatz von Minnelyrik; vgl. auch Wittstruck (Anm. 11), S. 233–255. Vgl. zu den Interferenzen von Lyrik und Epik im Tristan neuerdings Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61, hier v. a. S. 44–56. Die Sangspruchdichtung rekurriert auf alle klassischen und viele der nachklassischen Artusromane, nur nicht auf den Erec Hartmanns von Aue. Kein einziges Namenszitat aus dem ersten deutschen Artusroman findet sich in den lyrischen Texten des 12.-15. Jahrhunderts; vgl. das Namenregister im: Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Horst Brunner/Burghart Wachinger. Tübingen 1986 ff. Möglicherweise ein Indiz dafür, dass Hartmanns Erec weit weniger bekannt war, als man
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Vor allen Dingen in Leich und Sangspruchdichtung tauchen Figurennamen auf. Dies scheint nicht weiter verwunderlich, bietet der Leich doch als Großform lyrischer Rede den Raum, um in Namen sedimentierte Narrativa zu transformieren.16 Das Zitieren von Figurennamen, Dingbezeichnungen oder Handlungselementen aus der matière de Bretagne in lyrischen Texten mag einerseits der Beschwörung einer als klassisch saturierten Welt literarischer Tradition dienen, die zu der Evokation führt, zu einer exklusiven Bildungselite zu gehören. Doch wichtiger ist, dass zitierte Namen zu einer Anreicherung lyrischer Reflexivität mit narrativen Textwelten führen, die mit den sie verkörpernden epischen Figuren untrennbar verbunden sind. Verkörperte Namen haben nicht nur eine Identitätsfunktion, sondern rufen vor allem Bedeutung auf: In einem Wort verdichten sich der gesamte plot oder die mit der Figur verbundenen
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bislang in der Forschung vermutet. Eine Prominenz des Romans im 13. Jahrhundert unterstellt hingegen Sonja Glauch: Zweimal Erec am Anfang des deutschen Artusromans? Einige Folgerungen aus den neu gefundenen Fragmenten. In: ZfdPh 128 (2009), S. 347–371. In der Tat gibt es gerade in der intertextuellen Erzählwelt spätmittelalterlicher Artusromane eine Reihe von Anspielungen und Namenzitaten. Vgl. dazu Peter Kern: Reflexe des literarischen Gesprächs über Hartmanns Erec in der deutschen Dichtung des Mittelalters. In: Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie. Vorträge des Symposiums der deutschen Sektion der internationalen Artusgesellschaft vom 10. bis 13. November 1983 im Schloß Rauischholzhausen. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Gießen 1984 (Beiträge zur deutschen Philologie 57), S. 126–137, sowie im Nachwort der neuen Edition Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Manfred Günter Scholz, übersetzt von Susanne Held, Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek deutscher Klassiker 188; Bibliothek des Mittelalters 5), S. 584–586. Die meisten Belege lassen jedoch nicht erkennen, ob sie sich auf einen Erecroman Hartmanns beziehen. Einige dieser Stellen weisen nicht mehr als die Namen Erec oder Enite auf, deren Herkunft sich auch aus der Kenntnis von Romanen wie dem Iwein oder dem Parzival erklären lassen. Andere Stellen wie die im Jüngeren Titurel oder auch in der Crône vertragen sich besser mit Chrétiens Fassung als mit dem im Ambraser Heldenbuch überlieferten Erec Hartmanns von Aue (vgl. auch Kern [s. o.], S. 132). Am Beispiel Frauenlobs lassen sich Frequenzen der Namenverwendung in spätmittelalterlicher Lyrik paradigmatisch verdeutlichen. 56 Namen historischer Persönlichkeiten (zumeist weltliche und geistliche Fürsten) stehen 47 biblischen Namen gegenüber, wohingegen der Anteil literarischer Namen (22) sich doch bescheiden ausnimmt. Von den 22 Referenznamen entfallen acht auf den Bereich der matière de Bretagne, was einer Frequenz von etwa 6 % aller Namenszitate entspricht; vgl. Dietrich Huschenbett: Literarische Modelle zur Bewältigung der Gegenwart. Zu Frauenlobs Artus-Sprüchen. In: Cambridger ‚Frauenlob‘-Kolloquium 1986. Hrsg. von Werner Schröder, Berlin 1988 (Wolfram-Studien 10), S. 190– 206, hier S. 191. Zur Liedgattung Leich vgl. Hermann Apfelböck: Tradition und Gattungsbewußtsein im deutschen Leich. Ein Beitrag zur Gattungsgeschichte mittelalterlicher musikalischer discordia, Tübingen 1991 (Hermaea N. F. 62); Ingeborg Glier: Der Minneleich im späten 13. Jahrhundert. In: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Hrsg. von Ders. u. a., Stuttgart 1969, S. 161–183; Christina Kreibich: Der mittelhochdeutsche Minneleich. Ein Beitrag zu seiner Inhaltsanalyse, Würzburg 2000 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 21); Olive Sayce: The Religious and Secular Leich. In: Dies., The Medieval German Lyric 1150– 1300. The development of its themes and forms in their European context, Oxford 1982, S. 346–407.
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Handlungselemente des Prätextes.17 Der Name als Referenzsignal markiert eine Beziehung zwischen Phäno- und Referenztext, die man als Kontiguitätsbeziehung bezeichnen kann: Durch das als metonymisches pars pro toto fungierende konstitutive Referenzsignal kann der Prätext oft als Ganzes evoziert werden.18 Namen wie Parzival, Tristan und Artus oder Dingbezeichnungen wie der Gral lösen, wenn sie in einem lyrischen Text inseriert werden, ganze Assoziationskomplexe aus. So speist der Name in den Phänotext einen Subtext ein, der durch seine Implikativität gekennzeichnet ist, d. h. Mitverstandenes als stummes Wissen transportiert.19 Wenn ein zitierter Figurenname samt seiner semantischen Ladung in den neuen Kontext eingeschrieben wird, wird er zum Teil eines Dialogs, den ein unauflösbar ambivalentes Nebeneinander von alter und neuer Bedeutung evoziert:20 „Der Text als Werk spielt […] ein anderes Werk herein, macht es gegenwärtig durch die Weise des Hereinspielens und gibt ihm so eine spezifische Konturiertheit, die es von sich selbst aus noch nicht hat.“21 Auf der Textoberfläche wird dabei die Originalbedeutung beibehalten oder suspendiert, indem die lyrischen Texte neue Prozesse der Sinngebung in Bewegung setzen oder eine Semantik der Transformation von Sinn entwickeln, d. h. die Originalbedeutung kann bewahrt, verborgen oder 17
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Namenzitaten kommen gerade in der verdichteten Sprache der Lyrik eine prominente Rolle als Intertextualitätsmarker zu, da sie den Prätext in kürzest möglicher Form aufrufen können. Vgl. generell zum Thema, aber im Falle der generischen Intertextualität wenig hilfreich: Wolfgang G. Müller, Namen als intertextuelle Elemente. In: Poetica 23 (1991), S. 139–165. Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen bei Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt a. M. 1990, v. a. S. 60–64, auf deren präzise Nomenklatur dieser Beitrag zuweilen zurückgreift. Die Metapher des Palimpsests scheint mir nur bedingt geeignet, um die Latenz und zugleich auch die durch den Namen sichergestellte Präsenz des Fremdtextes zu fassen. Palimpsest ist eine zentrale Metapher der Intertextualitätsforschung, vgl. zuerst Gérard Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré (1982). Dt.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2008 (es. Aesthetica N. F. 683). Die Erstschrift ist zwar durch den verkörperten Namen noch in der Zweitschrift lesbar. Funktional anders als beim Palimpsest ist aber hier die Zweitschrift auf die Lesbarkeit der Erstschrift angewiesen, um deren semantisches Potential auszuschöpfen: Bei der Interfiguralität geht es nicht um Auslöschung von vorausliegenden Bedeutungsinhalten wie beim Palimpsest, sondern um deren Aktivierung oder Transposition, die zu einer Dynamisierung der Bedeutungsstruktur des Phänotextes führen. Vgl. Johanna Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie, Stuttgart, Weimar 2000 (SM 324), S. 98. Der Begriff „Dialog“ soll hier aber keineswegs im Sinne Kristevas universalisiert und zum Definiens literarischer Kommunikation überhaupt erhoben werden. Mir geht es darum, mit diesem Begriff eine signifikante semantische Beziehung zwischen zwei Einzeltexten oder Gattungen zu markieren, die von Wechselseitigkeit der Sinnkonstitution geprägt ist. Zur berechtigten Kritik an dem Konzept einer basalen Dialogizität aller Literatur und dem nur metaphorischen Gebrauch des Begriffs vgl. Wolfgang Preisendanz: Zum Beitrag von R. Lachmann „Dialogizität und poetische Sprache“. In: Dialogizität. Hrsg. von Renate Lachmann, München 1982 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Reihe A: Hermeneutik – Semiotik – Rhetorik 1), S. 25–28. Stierle (Anm. 1), S. 17.
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verschoben werden.22 Solche Transformationsbewegungen sind über Distanz und Souveränität sich vollziehende Aneignungen des Prätextes, die mit diesem spielen, ihn respektlos umpolen oder respektvoll assimilieren.23 Das hermeneutische Verhältnis eines Textes zu einem Prätext ist gerade im Bereich höfisch-volkssprachiger Literatur seltener durch Formen von Applikation geprägt (Übersetzung, Zitat, Anspielung), sondern häufiger durch Paradigmen des Überschreitens (ironisch-parodistische Distanznahme, Korrektur, spielerische Erweiterung, Kritik).24 Eine wieder verwendete Figur ist dabei nicht als identisch mit ihrem Urbild im Referenztext aufzufassen, da sie in die formale und ideologische Struktur des Phänotextes transponiert wird. Das semantisch konnotative Potential von literarisch traditionalisierten Namen (also die Eigenschaften und Merkmale der bezeichneten Figur, ihr Verhalten, ihre Geschichte, ihre mentalen Dispositionen sowie ihre Textfunktionen) kann in ganz unterschiedlichen Relationstypen im lyrischen Text aktualisiert werden, die sich entweder erstens als Korrespondenz bzw. Partizipation, zweitens als Kontrastierung oder drittens als Travestie fassen lassen.25 Diese Typen sollen im Folgenden in exemplarischen Analysen ausgewählter Lyriktexte in ihren je eigenen monologischen oder dialogischen Beziehungen näher vorgestellt werden. III. Relationstyp 1: Korrespondenz und Partizipation Mit Korrespondenz bzw. Partizipation sei eine Rekapitulation des Prätextes bezeichnet, dessen Sinnpotential konserviert wird. Eine in Spruchdichtung wie Minnesang häufig genutzte Form korrespondierender Intertextualität ist das Namenzitat, das als Exempel fungiert.26 Die für die Literatur des 22 23
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Vgl. Lachmann (Anm. 18), S. 37. Vgl. ebd., S. 39, sowie auch Stierle (Anm. 1), S. 13–15. Nach Jan-Dirk Müller fehle allerdings in einem für das Mittelalter charakteristischen hierarchischen, jede Wechselseitigkeit ausschließenden Verhältnis von Prä- und Phänotext geradezu die den modernen Intertextualitätsbegriff prägende Dialogizität. M. E. steht das in der Tat gegebene Hierarchieverhältnis einer Re-Lektüre des Prätextes durch die rezeptionsästhetische Funktionalisierung des Figurennamens im Phänotext nicht zwingend im Wege. Vgl. dazu die Beispiele weiter unten. Dies gilt sogar für die Integration von traditionsgeprägten und autoritätsgebundenen Mikrotexten wie Sprichwort und Sentenz im höfischen Roman, die durch eine produktive Funktionalisierung im Romankontext und häufig auch durch eine intertextuelle Bezüglichkeit auf einen Prätext gekennzeichnet ist; vgl. dazu Silvia Reuvekamp: Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin, New York 2007, v. a. S. 140–167 (Kap. 5: Sentenzen und Sprichwörter als Gestaltungsmittel einer intertextuellen Erzählwelt in der Krone). Vgl. dazu auch das triadische Modell Lachmanns (Anm. 18), S. 38 f., die von Partizipation, Tropik und Transformation spricht. Grundsätzliche Überlegungen zur Funktionalisierung von exempla in literarischen Texten stellt Draesner (Anm. 1), S. 69–131, an. Nach wie vor grundlegend Peter von Moos:
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Mittelalters relevante antike Rhetorik empfiehlt, den in der argumentatio ausgeführten Sachverhalt durch Beweise zu stützen. Zur beweisenden Illustration oder Erläuterung sollte sich ein Redner der Exempelfiguren aus historischen und literarischen Quellen bedienen.27 Ein Sangspruch, der in der Überlieferung mit dem Namen Frauenlob verbunden ist, verdeutlicht diese Überlegenheit des Exempels gegenüber argumentierender Rede poetologisch: Vrî krefteclîcher twanc erzeiget wart, swie diu minne tuot, swenn sî sich zeiget; ir twingen ist gar manecvach, des maneger wirt geneiget. Diu rede ist alsô kranc: hie kumt ein ander: Ez wart gesehen an Gamurette, und ouch an Dieterîch von Latrisette, an Îsenharte ez ouch geschach: der starp durch solch gewette; es ist hie sam an Tschîônâtulander. Swie lûte schrei der Troyer schar, ie Minne hât die schulde gar. an Amfortâs geschach vür wâr der Minne slac, deist offenbar. si twinget beidiu, her unt dar, des ist vil maneger an daz knie gevellet, und im nie gelanc dâ bî.28
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Unbeschränkt machtvoller Zwang wurde sichtbar, wie es die Liebe immer dann tut, wenn sie sich zeigt; ihr Zwingen ist ausgesprochen vielfältig, weswegen mancher unterworfen wird. So ist die Rede schlecht. Hier nun eine andere: Es zeigte sich an Gachmuret und auch an Dietrich von Latrisette, Isenhart geschah es auch: der starb wegen solcher Strafe; bei ihm zeigt es sich wie auch bei Schionatulander. Wie laut auch die Truppe der Trojaner schrie, es ist immer die alleinige Schuld der Liebe. Es ist offenkundig: auch Anfortas wurde von der Liebe wahrhaftig geschlagen. Sie zwingt sowohl hierhin und dorthin, daher wurde so mancher aufs Knie gefällt, doch hatte er dadurch auch keinen Erfolg.
Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus“ Johanns von Salisbury, Hildesheim, Zürich, New York 1988 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit 2). Vgl. Lausberg (Anm. 12), § 410–426. Heinrichs von Meissen des Frauenlobes Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder. Erläutert und hrsg. von Ludwig Ettmüller, Quedlinburg, Leipzig 1843. Nachdruck Amsterdam 1966 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 16), Str. 359. Die Strophe hat wegen Unechtheitsvermutung keine Aufnahme gefunden in die maßgebliche Ausgabe Frauenlob (Heinrich von Meissen): Leichs, Sangsprüche, Lieder, auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hrsg. von Karl Stackmann/ Karl Bertau, Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge 119/120). Übersetzungen stammen hier und im Folgenden – sofern nicht anders angegeben – vom Verfasser.
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Das Thema des Sangspruchs, die zwingende Macht der Liebe, die Männer zu Fall bringt, wird in den ersten fünf Versen in kranker rede, in unzureichender Argumentationsform, dargebracht. Erst mit den zahlreichen Exempeln aus den verschiedenen Großepen wird die Warnung vor der Liebe anhand der Quantität der Namen, der Qualität der von ihnen verkörperten Figuren, der Drastik der angedeuteten Folgen (starp, lûte schrei, slac, vil maneger an das knie gevellet), die auf physische Auslöschung, Verstümmelung, Macht- und Kontrollverlust hinweisen, und der Ergebnislosigkeit der Bemühungen (und im nie gelanc dâ bî ) in einer wirkungsvollen, aber auch poetisch ansprechenden Form dargeboten. Wie hier gesehen, kann sich die Interfiguralität auf mehrere Einzelelemente aus verschiedenen Referenztexten erstrecken, die im Sinne einer Montage im Phänotext kombiniert bzw. über- oder ineinander geschaltet werden. In dieser Kontamination wird das Element aus seinem ursprünglichen Referenzrahmen herausgelöst und ein Kontakt zu jeweils anderen fremdtextlichen Elementen hergestellt. Man könnte sagen: Die Stellung einer Figur in ihrer narrativen Texttotalität wird aufgegeben, ihr Stellenwert hingegen wird in den neuen Text aufgenommen. Die Analogie solcher Reihenelemente wird über die Gemeinsamkeit der zu vergleichenden Eigenschaften hergestellt. Als ein weiteres, gleichwohl komplexeres Beispiel sei hier eine Sangspruchstrophe des Wilden Alexanders angeführt: Her Gâwein stîc noch strâze vant, dô er ze Gâlois in daz lant hin wider rîten wolde. sô mac Burgou Gâlois wol sîn: dâ kunde ich nie noch komen în; doch versuochte ichz alse ich solde. mir wart dâ gruoz und rede verzigen; si sâhen hin ûz unde swigen und heten ir herren sô verspart und teten alle dem gelîch alse ez wær künc Ermenrîch und ich der zornic Eckehart.29
Herr Gawein fand weder einen Weg noch eine Straße, als er wieder in das Land Galois zurückreiten wollte. So muss Burgau wohl Galois sein: da konnte ich noch nie hineingelangen; dennoch versuchte ich es auf angemessene Art und Weise. Mir wurden Gruß und das Sprechen versagt; sie sahen hinaus und schwiegen und hatten auf diese Weise ihren Herrn abgeschottet und verhielten sich so, als wäre er König Ermenrich und ich der zornige Eckehart.
Typisch für Namenszitate in lyrischen Texten ist die herausgehobene Positionierung: Namen begegnen meist an signifikanten Stellen wie am Anfang eines Gedichts, am Anfang eines Versikels im Leich, als Reimwort usw.30 Hier beginnt die Strophe mit einer epischen Einleitung, einem Mini-Narra-
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Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts (KLD). Hrsg. von Carl von Kraus, 2. Aufl. durchgesehen von Gisela Kornrumpf, Bd. 1: Text, Tübingen 1978, S. 9 (II,24). Vgl. Sayce (Anm. 11), S. 20.
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tiv, das mit einem Toponym (Gâlois) und einem Namen arthurischer Provenienz (Gâwein)31 den Referenzrahmen absteckt: Eingespielt ist Wirnts von Grafenberg Wigalois, der einzige Text, in dem beide Namen eine prominente Rolle spielen. Das Narrativ greift eine zentrale Episode aus dem Wigalois auf: Gawein gelangt mit einem Zaubergürtel in das Land Gâlois, wo er die Nichte König Jorams, Florie von Syrie, ehelicht und schwängert. Doch verlässt er Frau und Land, um an den Artushof und zu seinen Zerstreuungen zurückzukehren. Als er sich dann am Artushof jedoch nach seiner Frau sehnt und nach Gâlois zurückzukehren trachtet, muss er erkennen, dass es ohne den Zaubergürtel keinen Rückweg gibt: Dieser ist ihm dauerhaft und unabänderlich versperrt.32 Diese Anspielung auf die Eingangsaventiure des Wigalois findet im Sangspruch als exemplarischer Vergleich Verwendung: Burgau wird hinsichtlich seiner Erreichbarkeit mit Gâlois gleichgesetzt, das Ich parallelisiert sich mit Gawein in seinem Bemühen, in das Land hineinzugelangen. Doch anders als im Wigalois ist es kein Zauber, der den Ort unzugänglich macht; an die Stelle der topographischen Unerreichbarkeit rückt im Sangspruch die Depravierung des Künstlers, der schlicht unwillkommen ist. Gruß und Rede werden ihm verweigert, also gerade die Formen der Kommunikation, auf die das Ich als fahrender Künstler in der Spruchdichterrolle angewiesen ist. Man missachtet ihn und seine Kompetenzen: Seiner von Performanz und Mündlichkeit geprägten Kunstform wird schlicht keine Aufmerksamkeit geschuldet (si sâhen hin ûz unde swigen). Schließlich werden die falsche Ordnung und das Fehlverhalten der Burgauer durch die Verkehrung der Machtverhältnisse abgebildet: Der Herrscher ist weggesperrt. Am Ende der Strophe werden zwei Namen aus der Dietrichsage zitiert, einerseits um mit den beiden positiven literarischen Beispielfiguren (Gawein und Eckehart) den Textkörper wie das Ich zu umschließen, andererseits um den Herrn von Burgau zu diskreditieren. Als Ermenrich ist er der böse Gegenspieler Dietrichs, während sich das Ich mit einer positiven Figur des Stoffkreises identifiziert, hier dem Pflegevater der Harlungen, der sich in Alpharts Tod an einem Rachefeldzug gegen den Onkel des Berners beteiligt und in einigen Versionen der Heldensage (in der sog. Heldenbuch-Prosa und in der Sprich-
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Zur Figurenpoetik des arthurischen Musterhelden vgl. neuerdings Bernhard Anton Schmitz: Gauvain, Gawein, Walewein. Die Emanzipation des ewig Verspäteten, Tübingen 2008 (Hermaea N. F. 117). Wigalois, der Ritter mit dem Rade, von Wirnt von Gravenberc. Hrsg. von Johannes Marie Neele Kapteyn, Bonn 1926 (Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 9), V. 599–1202.
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wortsammlung des Johannes Agricola) gar Ermenrich tötet.33 Das Attribut zornic verweist zum einen auf den Habitus des kampfbereiten Heroen aus der Heldendichtung34, zum anderen möglicherweise auf den Gefühlszustand des abgewiesenen Spruchdichters, dessen Kunst in Burgau nicht als herrscherfähig eingestuft wird. Beide Beispiele zeigen eine monologische Beziehung zwischen Prä- und Phänotexten: Die Bedeutungsevokationen des autoritativen Epiktextes werden exemplarisch in die Liedaussage eingebettet und präsent gehalten.35 IV. Relationstyp 2: Kontrastierung Von Kontrastierung soll die Rede sein, wenn das ursprüngliche Sinnpotential zersetzt bzw. usurpiert wird. Als Beispiel für ein solch kontrastierendes Verfahren sei auf eine im 12. Jahrhundert sich ausprägende und dann den weiteren Traditionsstrang dominierende Transposition verwiesen, die den tristanischen Entwurf der Liebesentstehung in der lyrischen Rede spielerisch zurückweist. Heinrich von Veldeke und Bernger von Horheim diskreditieren analog zu einer auch in der romanischen Liedtradition von Chrétien de Troyes begründeten Argumentation der Überbietung der Tristanliebe diese als mechanistische Trank- und Zwangliebe, um den eigenen Minneentwurf zu profilieren und diesem wegen seiner Freiwilligkeit den Vorrang 33
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Alpharts Tod. Dietrich und Wenezlan. Hrsg. von Elisabeth Lienert/Viola Meyer, Tübingen 2007 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 3). Zur HeldenbuchProsa vgl. Joachim Heinzle: Einführung in die mittelhochdeutsche Dietrichepik, Berlin, New York 1999, S. 46–50 (mit weiterführender Literatur). Eckehart als Bezwinger Ermenrichs findet sich bei Johannes Agricola: Die Sprichwörtersammlungen. Hrsg. von Sander L. Gilman, Bd. 1, Berlin, New York 1971 (Ausgabe der Deutschen Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), Nr. 667. Vgl. zu den Spezifika nibelungischer und heldenepischer Anthropologie Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 201–248. Zur Situativität von zorn und seiner Abkoppelung von einer psychischen Disposition der Figuren vgl. S. 203–208; vgl. auch Ders.: Das Nibelungenlied, 3., neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin 2009 (Klassiker-Lektüren 5), S. 124–128. Allerdings wäre für beide hier vorgestellten Sangspruchstrophen zu erwägen, ob nicht Dialoge anklingen. Der strukturellen Gleichsetzung von Ich und Gawein in der Sangspruchstrophe des Wilden Alexander wohnt ein irritierendes Moment inne. Neben einem homologen Bezug (die Unerreichbarkeit des Landes Gâlois) entwirft die Strophe nämlich auch einen heterologen Bezug: Während die von Gawein verlassene Larie sich wünscht, dass ihr Ehemann zurückkehrt, verwünschen die Bewohner Burgaus das Ich. Das problematische Licht, das auf Gawein im Wigalois fällt (er lügt seine schwangere Ehefrau an und verlässt sie für eine längere Zeit), wird im Sangspruch komplett abgeblendet: eine Aussparung der Texttotalität und Umdeutung des Prätextes, die die Gaweinfigur entlasten und die Gleichsetzung mit dem Ich möglich machen sollen. Auch in der Frauenlob zugeschriebenen Sangspruchstrophe zeigt sich ein ähnlicher Befund: Der die Exempelreihe einleitende Gahmuret ist im Parzival gerade kein Opfer der Minne, sondern seiner Kampfgier. Die Funktionalisierung als Exempelfigur geht auch hier einher mit einer Transposition der Bedeutung des Prätextes.
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zu geben.36 Als ein prägnantes Beispiel sei auf folgende Strophe Veldekes verwiesen (MF 58,35): Tristran muose sunder sînen danc staete sîn der küneginne, wan in daz poisûn dar zuo twanc mêre danne diu kraft der minne. Des sol mir diu guote sagen danc, wizzen, daz ich sölhen tranc nie genam und ich sî doch minne baz danne er, und mac daz sîn. wol getâne, valsches âne, lâ mich wesen dîn unde wis dû mîn.37
Tristan mußte gegen seinen Willen der Königin treu sein, denn ihn zwang mehr der Zaubertrank dazu als die Kraft der Liebe. Dafür soll mir die Gute danken, daß ich diesen Trank niemals nahm und sie doch mehr liebe als er, falls das möglich ist. Du Schöne, Makellose, laß mich dein sein, und sei du mein.
Im Rahmen der Werbung um seine Dame vergleicht sich das Ich mit Tristan und bemüht das Prinzip der Freiwilligkeit als besondere Auszeichnung in der Liebe. So werden der Minnetrank und seine narrative Funktion, Tristan und Isolde zu vereinen, diskreditiert: Nicht die Macht der Liebe, sondern der Automatismus des Trankes ist es, der die staete des Protagonisten sicherstellt. Dem mit Tristan und dem Minnetrank verbundenen negativen Wortfeld (sunder danc, poisûn, twanc) wird in der lyrischen Rede eine positive Semantik freiwilliger Liebe entgegengesetzt (danc sagen, kraft der minne, guote), an der das Ich partizipiert und deren überlegenen Wert es für seine Werbung argumentativ funktionalisiert. Egal ob Heinrich von Veldeke den Tristrant Eilharts von Oberg gekannt hat und sein Lied auf dessen Minnetrankkonzeption rekurriert oder er sich direkt auf die französische Version
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Dass gerade die Tristan-Minne ein beliebtes Thema in der okzitanischen und mittelhochdeutschen Lyrik war, betont Ulrich Wyss: Tristan und die „Nachtigallen“. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000. Hrsg. von Christoph Huber/Victor Millet, Tübingen 2002, S. 327–338. Vgl. zur Auseinandersetzung der Trobadors und Minnesänger mit der durch den Zaubertrank hervorgerufenen Zwangliebe in den französischen und deutschen Tristandichtungen Volker Mertens: Intertristanisches. Tristan-Lieder von Chrétien de Troyes, Bernger von Horheim und Heinrich von Veldeke. In: Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis. Hrsg. von Johannes Janota, Tübingen 1993 (Vorträge des Augsburger Germanistentags 1991: Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik 3), S. 37–55. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser/Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. Die Übersetzung folgt der Ausgabe: Deutsche Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten. Übersetzungen von Margherita Kuhn, Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker 129; Bibliothek des Mittelalters 3), S. 91.
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Bérouls bezieht:38 Beide Tristangeschichten sind vornehmlich durch Zwanghaftigkeit sowie eine begrenzte Wirkdauer des Minnetranks geprägt und unterscheiden sich von der nur mehr symbolischen Funktion des Zaubers in Gottfrieds Version doch maßgeblich.39 Die Namenformen in den Liederhandschriften A und B weisen auf die Verbindung zu den frühen Tristanfassungen des 12. Jahrhunderts hin, heißt der Protagonist in A doch Tristrant und in B Tristran, beides Schreibweisen, die sich auch in den Handschriften Eilharts von Oberg wieder finden oder sich mit den altfranzösischen Tristangeschichten in Verbindung bringen lassen.40 Abweichend hat der Schreiber im Codex Manesse die für Gottfried signifikante Schreibweise Tristan übernommen. Mit dieser Modulation in C ist angezeigt, dass der Literaturbetrieb spätestens zu Beginn des 14. Jahrhunderts das Lied Veldekes nicht nur im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Tristanliebe im Eilhartschen Prätext verortete, sondern auch im Kontext einer Gottfriedschen Konzeption der Liebesentstehung. Während der Roman Gottfrieds den Minnetrank allerdings als Symbol einer außerordentlichen Minnebeziehung figuriert, das alle anderen Geschlechterverhältnisse im Tristan abwertet, transponiert ihn das Lied zum Zwangsmechanismus und poisûn und hebt damit ein Moment hervor, das im Roman Gottfrieds gerade keine Relevanz besitzt.41 Die Forschung hat eine ideologische Abwertung der Tristanliebe in 38
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Das altfranzösische poisûn ist jedenfalls im Mittelhochdeutschen nur bei Veldeke belegt und bezeugt möglicherweise dessen Kenntnisse der romanischen Tristantradition. Béroul spricht in Bezug auf den Minnetrank von poison (Berol: Tristan und Isold. Übersetzt von Ulrich Mölk und hrsg. von Hans Robert Jauss/Erich Köhler, München 1962 [Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 1], V. 1384). Vgl. dazu auch den Hinweis von L. Peter Johnson in: Die höfische Literatur der Blütezeit (1160/70–1220/30). In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle, Bd. 2: Vom hohen zum späten Mittelalter, Teil 1, Tübingen 1999, S. 243. Nach dem versehentlichen Genuss des magischen Getränks wird umgehend der Zwang hervorgehoben, den anderen lieben zu müssen: sie vorlorin alle ire sinne: / sie musten ein ander minne (Eilhart von Oberge. Hrsg. von Franz Lichtenstein, Straßburg, London 1877 [Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 19], V. 2355 f.) Die körperliche Abhängigkeit der Liebenden vergeht nach vier (bei Béroul nach drei) Jahren: swelch wîp unde man / des getrunkin beide, / die enmochten sich mit nichte scheiden / innewendig vîr jâren (V. 2280–2283). Allerdings erlischt die Trankwirkung bei Eilhart nicht gänzlich: Das Protagonistenpaar muss sich lieben, solange es lebt, doch wird die hier an körperliche Nähe angebundene Leidenschaftlichkeit abgeblendet. Zu den unterschiedlichen Versionen von Liebe in den Tristanromanen zu erzählen, vgl. Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts, München 1999 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 24). Zu den unterschiedlichen Variationen in der Bezeichnung des Protagonisten in deutschen Liederhandschriften und deren möglichen Bezügen zu französischen Namensformen vgl. Sayce: Exemplary comparisons (Anm. 11), S. 24 f. Zum Minnetrank als positiv konnotierte poetologische Metapher vgl. den Beitrag von Christopher Young: Der Minnetrank als Literarisierungsprozeß bei Gottfried von Straßburg. In: Huber/Millet (Anm. 36), S. 257–279, sowie nach wie vor auch Rüdiger
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den lyrischen Äußerungen gesehen.42 Mir scheint es sich eher um eine witzig-pointierte Verdrehung des Trankmotivs zu handeln, das hier für die eigene Werbung instrumentalisiert wird, gleichwohl aber eine im Roman blind gemachte Problemkonstellation aufhellt: So wird einerseits die Unfreiwilligkeit der Tristanliebe ins Bewusstsein gehoben, zugleich jedoch die auszeichnende Funktion des Minnetranks in ihr Gegenteil verkehrt. Diese Art der intertextuellen Bezugnahme auf die Tristangeschichte stiftet für die lyrische Rede eine Tradition. Sowohl Minnesänger als auch Spruchdichter partizipieren in der Nachfolge Veldekes in ihrem Rückgriff auf den Tristan an dieser Form der Zersetzung des ursprünglichen Sinnpotentials.43 Als Beispiel für diese virulente Tradition, die artifizielle Konstruiertheit der Tristanliebe zugunsten einer „natürlichen“ oder – in Form der personifizierten Frau Minne – übernatürlichen Entstehungsgeschichte abzuwerten, sei abschließend ein zum Frau-Ehren-Ton gehörender Sangspruch Reinmars von Zweter zitiert, der der mechanistischen Distanz der Tristanliebe die Unmittelbarkeit der Empfindungen des Ichs entgegenstellt, das direkt aus der Quelle der Liebe – den Augen der Frau – schöpft: Tristram der leit vil grôze nôt, von eines wîbes minne lac er vil jæmerlîchen tôt: daz quam von sînen triuwen: der selben minne ûz eime glase er tranc. Daz selbe ouch ich getrunken hân ûz mîner vrouwen ougen, des ich in grôzem kumber stân: des mac mir niht gehelfen des meien schîn noch cleiner vogellîn sanc. Si hât mich verwundet alsô sêre durch mîn herze mit ir minnegêre, ezn sî daz mich ir trôst noch heile, ich wære anders schiere tôt, wan ir vil süezer munt sô rôt der werde noch mir senedem man ze teile.44
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Schnell: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985 (Bibliotheca Germanica 27). Allein die Liebe der Eltern Tristans besitzt einen ähnlichen Status wie die Liebe des Protagonistenpaars. Die Präfiguration der Tristanliebe in der Eltern-Beziehung drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass Blanscheflur, nachdem die Liebe mit Gewalt über sie eingebrochen ist, in einem ausführlichen Soliloquium glaubt, ein Zaubermittel (zouberlist, V. 1001) sei für ihren Zustand verantwortlich: „daz was daz zouber, dâ von ich / mîn selber sus vergezzen hân“ (V. 1038 f.). Während sich die Elternliebe nur anfühlt, als sei sie durch einen Zauber zustande gekommen, realisiert sich das Zauberhafte der Liebe erst bei Tristan und Isolde. Der Trank ist in der Fassung Gottfrieds Symbol für die Einzigartigkeit der Verbindung zwischen den Liebenden. Vgl. z. B. Mertens (Anm. 36), der im Artefakt des Trankes die anthropologische Grunderfahrung der Unmanipulierbarkeit und Unkontrollierbarkeit des Eros symbolisiert sieht, gegen die die aristokratisch-exklusive Form der Liedliebe in ihrem paradoxe amoureux, „der immer wieder produktiven unaufhebbaren Spannung von Begehren und Nichterfüllung“, ein Moment von Rationalität stelle (S. 54). Vgl. Sayce, Exemplary comparisons (Anm. 11), S. 24 f. Die Gedichte Reinmars von Zweter. Hrsg. von Gustav Roethe, Leipzig 1887. Nachdruck Amsterdam 1967, Nr. 25. Zu Literarizität der Gattung Sangspruch und Interferenzen zum
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(Tristan litt sehr große Not, weil er seine Frau liebte, musste er jämmerlich sterben. Das war Resultat seiner Treue: diese Liebe trank er aus einer Karaffe. Dasselbe habe auch ich getrunken aus den Augen meiner Dame. Deshalb habe ich großen Kummer. Deshalb kann mir weder der Glanz des Maien noch der Gesang der kleinen Vögelein helfen. Sie hat mich mit ihrem Liebesspeer so sehr an meinem Herzen verwundet, dass ich – wenn mich ihr Trost nicht noch gesund macht – bald schon sterben muss, es sei denn, ihr so roter, sehr süßer Mund der werde mir sehsuchtsvollem Mann noch zufallen.)
Auch wenn sich das Ich in seinem Liebesschicksal mit Tristram45 parallelisiert, diskreditiert es zugleich die Exempelfigur des Prätextes. Zwar ist die Not die Gleiche, doch verbleibt das Ich in Zukunftshoffnung, während Tristrams Schicksal längst besiegelt ist und sein Liebestod dem Nachfolger jæmerlîchen erscheint. Getreu dem ovidianischen Topos von der Liebeskrankheit und -verwundung kann dem Ich nur diejenige Heilung bringen, die ihn auch verwundet hat. Der Topos von der Minne als Ärztin, der auch in der Blanscheflur-Handlung des Gottfriedschen Tristan eingespielt ist, stellt konjunktivisch eine Hoffnung auf (körperliche) Erlösung in Aussicht. Diese für die höfische Liebe in Reflexionsliedern aus Minnesang und Sangspruch konstitutive Zukunftsoption resultiert m. E. aus den unterschiedlichen Modi der Liebesentstehung – das scheint mir der Clou der Strophe zu sein: Während Tristan die minne nur aus eime glase trank (was eine Distanz zu Isolde impliziert, die konstitutiv für den plot der Tristangeschichte ist), ist die Liebe des Ichs unmittelbar an die Dame gebunden und damit zugleich als höherwertig markiert. Die Liebesentstehung in der Tristangeschichte ist als greifbarer physischer Vorgang entworfen, wohingegen das Ich sich eines allegorischen Trinkens aus den Augen der Dame rühmen kann: eine Steigerung, die analog zu geistlichen Konzepten der spirituellen Textauslegung funktioniert. Zugleich wird mit diesem metaphorischen Bildgebrauch eine körperliche Nähe und Verbundenheit zwischen Ich und Dame konstituiert, die – anders als in der Tristangeschichte – eine Erlösungsmöglichkeit des Liebenden denkbar werden lässt. Die Tristanliebe ist episch realisierte lyrische Rede – allerdings mit einem signifikanten Unterschied: Der Entstehung der Liebe aus dem Minnetrank und der daraus resultierenden Folgen einer unaufhebbaren dilem-
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Minnesang vgl. die Arbeit von Margreth Egidi: Höfische Liebe. Entwürfe der Sangspruchdichtung. Literarische Verfahrensweisen von Reinmar von Zweter bis Frauenlob, Heidelberg 2002 (GRM-Beiheft 17). Die Namensform geht wohl auf französische Thomas-Handschriften zurück, vgl. Sayce, Exemplary comparisons (Anm. 11), S. 24 f.
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matischen Struktur zwischen Liebenden und Gesellschaft, die notwendigerweise zum Tod der Protagonisten führen muss. Aus der Perspektive der Reflexionslieder erscheint die Tristanliebe defizient, da ihre Zwanghaftigkeit oder ihre durch den Trank verursachte systemische Distanz eine Betonung erfahren kann, die für die eigene Werbung instrumentalisiert wird. Solcherart Kontrastierungen von Ich-Figuration und Tristanfigur evozieren nicht nur Sinnkomplexion für den manifesten Text, sondern eröffnen dem Rezipienten zugleich einen Reflexionsraum für den Referenztext: die Tristangeschichte. Der Prätext wird durch den Verständnisrahmen, der dem Phänotext eigen ist, in seiner Bedeutung affiziert: Die in Gottfrieds Tristan nicht problematisierte Form der Liebesentstehung durch den Trank wird nachträglich diskreditiert und damit dessen radikale Symbolisierung zurückgewiesen. V. Relationstyp 3: Travestie Mit Travestie seien hier Formen der Transposition bezeichnet, die mit einer Tendenz zum Ludismus und Synkretismus das Sinnpotential des Referenztextes komisieren. Die Travestie versucht, kanonisierte Texte, Gattungen oder Stoffe der adligen Elitekultur zu dominieren, indem sie sich diesen zum Schein unterwirft.46 Ein Beispiel dafür ist der 4. Minneleich des Tannhäusers.47 Der Leich beginnt als konventioneller Frauenpreis, allerdings klingt in den hyperbolischen Formulierungen bereits Ironie an:48 1. Ich lobe ein wip, diu ist noch bezzer danne guot, sist schoene und ist noch schoener vil und hochgemuot (V. 1 f.). (Ich lobe eine Frau, die noch besser als gut ist; sie ist schön und noch viel schöner und hochgestimmt).
Ab dem zweiten Versikel wird eine Reihe von weiblichen Vergleichsfiguren aus antiker und mittelalterlicher Literatur bemüht, die aber auch wohl erfundene, antikisierende Namensformen enthält. Hier im TannhäuserLeich ist das verbindende Element des Namenkatalogs die Schönheit bzw.
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Vgl. Stierle (Anm. 1), S. 19. Der Dichter Tannhäuser. Leben – Gedichte – Sage. Hrsg. von Johannes Siebert, Halle a. d. Saale 1934, S. 94–99. Mittlerweile ist auch eine Online-Ausgabe im Erscheinen: www.lapidarius.de/Tanhuser/index.html. Die Dichtungen des Tannhäusers. Kommentierte Kieler Online-Edition. Hrsg. von Ralf-Henning Steinmetz, Kiel 2006–2010. Keinen ironischen Hyperbelgebrauch erkennt hier Gabriela Paule: Der Tanhûser. Organisationsprinzipien der Werküberlieferung in der Manessischen Handschrift, Stuttgart 1994, der es S. 172–187 um die Entfaltung der Autorrolle im vorliegenden Leich geht.
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Außerordentlichkeit der Frauenfiguren, die in den epischen Referenztexten allesamt Männer ins Verderben stürzen. Dem Frauenpreis und dem angestrebten Vergleich entsprechend beginnt die synkretistische Namenreihe mit Isolde und antiken Göttinnen: 2. Isalde wart so schoene nie noch Djone, diu ein gütin was. Medea swaz diu noch begie, des half mit wisheit frou Pallas (V. 5–8).
Weder Isolde noch Djone, die eine Göttin war, waren jemals so schön. Was auch immer Medea tat, dazu riet Frau Pallas mit Weisheit […].
Aus dem Frauenpreis wird jedoch sehr schnell eine scheinbar Gelehrsamkeit ausstellende Parforcetour durch die Motiv- und Wissensgeschichte antiker und mittelalterlicher Literatur, die nach und nach in eine parodistische Verkehrung literaturgeschichtlicher Inhalte und Zusammenhänge mündet.49 Die Travestie erfährt einen ersten Höhepunkt mit der Verbindung von mittelalterlicher Artus- und Graldichtung einerseits sowie antiker Trojageschichte andererseits ab Versikel 8: 8. Sarmena50 klagt groz ungemach, daz Gamuret als müezic saz; ze Kuraz51 si mit zorne sprach: „do Lanzelet sich des vermaz,
Sarmena beklagte großes Leid, dass Gachmuret so untätig herumsaß; zornig sprach sie zu Kuraz: „Da Lanzelet sich anmaßte,
9. Daz er mich raeche an Parzival, der Hector sine veste brach – er nam ze Karidol den gral – do des Achilles niht enrach, so richetz mir Kalogriant, swaz Opris52 mir ze leide tuot“ (V. 33–42).
mich an Parzival zu rächen, der die Festung Hectors zerstörte – dieser hatte in Karidol den Gral gestohlen –, nachdem das Achill nicht gerächt hatte, so rächt für mich Kalogreant, was immer auch mir Opris zu leide tut.“
Vgl. auch Claudia Händl: Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide, Göppingen 1987 (GAG 467), S. 441. 50 Der Name entstammt nicht der uns überlieferten literarischen Tradition. Siebert (Anm. 47), S. 141, erwägt wenig einleuchtend eine Verschreibung (bewusste Entstellung?) für Amena, die Mutter von Larie, der Ehefrau von Wigalois; vgl. Wigalois (Anm. 32), V. 8851. 51 Einen Kuraz, der aus Liebe im See ertrank, erwähnen Rudolf von Rotenburg, Boppe und der Verfasser des Weinschwelgs (genaue Angaben bei Siebert [Anm. 47], S. 141). 52 Ein Opries findet im Jüngeren Titurel Albrechts als eren richer kunic von Itolac und Teilnehmer am Turnier zu Florischanz Erwähnung (V. 2023: orpries, V. 2134: opries). In: Albrechts von Scharfenberg Jüngerer Titurel. Nach der ältesten und besten Handschrift hrsg. von Werner Wolf/Kurt Nyholm, Bd. 2, Berlin 1968 (DTM 55). Vgl. auch Siebert (Anm. 47), S. 141.
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Eine Form verkehrter Kompetenz wird ausgestellt: Mit dem zunehmend scheiternden Versuch, an der literarischen Tradition zu partizipieren und diese in einen sinnvollen Zusammenhang mit der eigenen Absicht (Frauenpreis und -werbung) zu setzen, bezichtigt das Ich sich selbst, nichts an literarischem Wissen zu besitzen außer den leeren Namen. Dabei werden die in den Referenztexten mit den Namen verbundenen Eigenschaften und Handlungen travestiert. So hören wir im Leich, dass Gawain den Anker im Wappen trägt, was im Parzival bekanntermaßen Gahmuret und Tschionatulander eigen ist, dass Iwein sich nicht mehr aus dem Wald hervortraut, dass Gahmuret den Müßiggang pflegt, dass Lanzelet eine gewisse Sarmena an Parzival rächt, dass Wigamur und Wigalois vor Kamvoleis einen Zweikampf austragen, wo ja im Parzival Gahmuret Herzeloyde im Turnier erringt, und derlei Absurditäten mehr. Am Ende dieser 58 Verse umfassenden Reihe kommt der Text wieder beim Tristanstoff an, von dem er seinen Ausgang genommen hat: 15. Tristan erwarp die künegin von Marroch, als wir hoeren sagen. ein moerin was diu heidenin. der alden suln wir hie gedagen
Tristan bekam die Königin von Marokko, wie wir in Erzählungen hören. Die Heidin war eine Schwarze. Von der/den Alten sollen wir hier schweigen
16. Und loben mine guoten, die reinen, wolgemuoten, swa si get an dem tanze mit ir rosenkranze, […] (V. 59–66).
und meine Gute loben, die Reine, Schöne, wo auch immer sie mit ihrem Rosenkranz zum Tanz geht, […]
Der Tristanstoff wird nicht nur falsch referiert, die Tristanliebe wird durch die Travestie zugleich über die Maßen diskreditiert, da Inhalte eingespeist werden, die den Grundkonsens höfischer Liebe in Frage stellen (Tristans Dame ist schwarz, alt und keine Christin). Hier, auf diesem Tiefpunkt der literarischen Reihe, kann der Literaturexkurs wieder in einen dann überbordenden Frauenpreis hinübergespielt werden: Vor der vermeintlichen Dame Tristans hebt sich die eigene umso positiver ab: 17. Von Oriende unz z’Occidende wart nie schoener wip geborn. ich han die guoten, wolgemuoten iemer mer ze troste erkorn. ir munt gewelwet, niht geselwet ist ir wengel unde kel. ob ich jaehe, daz ich saehe, da ir lip ist sinewel […] (V. 75–78). (Nirgendwo auf der Welt lebte eine schönere Frau. Ich habe mir die Gute, Hochgestimmte für immer als Trost erwählt. Ihre Lippen sind gewölbt, ihre Wänglein und ihre Kehle sind nicht beschmutzt. Wenn ich nur behaupten könnte, ihren Körper zu sehen, wo er gerundet ist […]).
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Der Frauenpreis wird dann in eine Werbung in direkter Anrede an die Auserwählte überspielt: 21. Volge mir, sam tuon ich dir, herzeliebiu reine, du guote, du süeze! tuost du daz, so wirt mir baz. daz dich got fristen müeze! minne mich, sam tuon ich dich! sol ich iemer helfe alde fröude gewinnen, frouwe min, daz müeste sin vil gar von dinen minnen (V. 97–100). (Folge mir wie ich dir, von Herzen geliebte Reine, du Gute, du Süße! Tust du das, so geht es mir besser. Gott schütze dich! Liebe mich wie ich dich! Werde ich jemals Hilfe oder Freude erhalten, meine Dame, so müsste das ganz und gar von deiner Liebe kommen).
Doch dann gibt es nach Frauenpreis, travestierter literarischer Exempelreihe und erneutem Frauenpreis mit Werbung abermals einen poetologischen Neueinsatz: Der Leich gerät zum Tanzlied, der Sprech- und Aktionsraum des Ichs wird konkretisiert als Tanzplatz zuo der linden (V. 103). Allerdings ist dieser Tanzplatz ein virtueller. Er ist gebunden an die Präsenz der Dame, die der Tannhäuser in seinem Frauenpreis imaginiert hat. Der Tanzplatz als Ort minnesängerischer Freude existiert für ihn dort, wo die Geliebte bei ihm ist: in seinem Sang. Er stellt ihn erst her. Die imaginierte Szenerie, in der nun eine Begegnung mit der Dame möglich ist, ist folglich die des Tanzes. Entsprechend heißt es: 24. […] nu heia, Tanhusaere! zergangen ist din swaere. swa din liep bi dir waere, diu ist so fröudebaere, da wurde wol gesungen, getanzet und gesprungen.
[…] nun hei, Tannhäuser! Dein Trübsinn ist verflogen. Wo auch immer deine Liebe bei dir wäre – die ist so Freude bringend –, da würde wohl gesungen, getanzt und gesprungen.
25. Nu dar! nemet war, wa diu liebe springet, vor mir, nach mir, swie der seite erklinget, gestricket wol ze prise, ze blicken also lise (V. 113–122). (Nun auf! Schaut dorthin, wo die Liebe springt, vor mir, hinter mir, wie auch immer die Saite erklingt, wohl rühmenswert zusammengefügt, so sanft anzuschauen).
Dieser Akt der poetischen Imagination und Konstruktion des Ortes in der Rede wird deutlich durch den Umschlag des konjunktivischen wurde gesprungen in das indikativische springet: Der Wunschraum der Möglichkeit wird zum imaginierten Begegnungsraum im Hier und Jetzt konkretisiert. Und mit dieser Verräumlichung in der Tanzszenerie unter der Linde klingt
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auch schon der Clou des Leichs an: Szenerie, Figurenensemble, und sprachlich-rhetorische Gestaltung sind Neidhart-Zitat aus den Sommerliedern:53 23. Swa si get zuo der linden mit wolgemuoten kinden, da zimt ir wol daz reien, si zieret wol den meien (V. 103–106).
Wo auch immer sie mit hochgestimmten Jugendlichen zur Linde geht, da steht ihr der Reigentanz gut; sie schmückt vortrefflich den Mai.
Entsprechend endet der Leich des Tannhäuser mit der Demaskierung der eigenen Dame als dörperin: 25. […] wa ist min frou Matze? der springe ich ze tratze nu seht an ir fuoze, die machentz so suoze; seht an ir beinel! reitbrun ist ir meinel.
[…] Wo ist meine Dame Matze? Nun seht, der springe ich aus Trotz auf ihre Füße. Die machen sie so süß; Beachtet ihre Beinchen! Braungelockt ist ihr Schamhärchen.
26. Wa ist min frou Jutze, diu liebe also lange? Wo bleibt meine liebe Dame Jutze so lange? (V. 123–129)
Die guote, reine, wolgemuote des Frauenpreises, der sich des Sprechregisters des Werbungsliedes bedient, wandelt sich im Neidhartzitat zur frou Matze, der man nur im Springen beikommt und deren Schönheit sich in ihren suozen fuozen und ihrer reitbrunen meinel körperlich sowie unverhohlen sexuell manifestiert. Der Travestierung der Werbungsliedminne dient auch die Verdoppelung der Dame im dörperlichen Sang. Neben min frou Matze taucht auch noch min frou Jutze, diu liebe als Objekt der Begierde auf: Zwei frouwen nennt das Ich sein eigen; die Exklusivität der Liebe sowie die Einzigartigkeit der Dame, die im Frauenpreis noch behauptet wurden, werden durch die Verdopplung der Position der Geliebten hier destruiert. Das Ich travestiert Erzähl- und Liebeskultur der adligen Gesellschaft in Gestalt des aus den Sommerliedern Neidharts bekannten Verführers beim Tanze. Die durch die Namenreihe zu Beginn des Textes indizierte intertextuelle Travestie bekommt einen außerhöfischen Raum zugewiesen, in dem sie sich realisieren lässt: die kulturferne Welt der dörper. Hier, außerhalb des höfischen Kontextes, kann der Leich ein Ich Tannhäusers präsentieren, das sich weder
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Ähnlich schon Karl Heinrich Bertau: Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs, Göttingen 1964 (Palaestra 240), S. 162. Zur Poetik der Sommerlieder vgl. Jessika Warning: Neidharts Sommerlieder. Überlieferungsvarianz und Autoridentität, Tübingen 2007 (MTU 132); sowie Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters, Tübingen 2008 (MTU 136).
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der literarischen Tradition der adligen Gesellschaft noch ihrer exklusiven Form der Liebe richtig verbunden weiß, sondern allein deren Nomenklatur und Sprachgesten sinnentleert imitiert. Das ironische Ende des Leichs spielt dann auch doppeldeutig mit dem Ende der Kunst, die der eigenen, aus der Lüsternheit geborenen Emphase nicht standzuhalten vermag: 29. Nu singe ich aber hei! heia, nu hei!
Nun singe ich abermals hei! Heia, nun hei!
30. Nu ist dem videlaere sin videlboge enzwei! (V. 141–144)
Nun ist dem Fiedler der Fiedelbogen zerbrochen!
VI. Sinnkonstituierende Rückkopplungsphänomene Wenn man die hier gewählten, für die Möglichkeiten der Lyrik paradigmatischen Beispiele einer intertextuellen Bezugnahme auf Figurennamen der matière de Bretagne überblickt, sollte folgendes deutlich geworden sein: Offensichtlich befinden sich alle in lyrischer Rede zitierten Namen in einer charakteristischen Spannung zwischen Assimilation und Dissimilation, d. h. in einem Konflikt zwischen den Kontexten von Prä- und Phänotext. Dieser Konflikt wird bei korrespondierenden Kontexten allerdings geradezu nivelliert (wie bei der Identifizierung des Ichs mit Protagonisten der beliebtesten Stoffkreise des 13. Jahrhunderts beim Wilden Alexander), bei kontrastierenden Kontexten pointiert (wie in der den Prätext simplifizierenden und nicht entsprechenden Entsymbolisierung des Minnetranks bei Heinrich von Veldeke, Reinmar von Zweter sowie vielen anderen) und in der Travestie transzendiert (wie in der parodistischen Indienstnahme der verkörperten Namen, die nicht der Auseinandersetzung mit dem Prätext, sondern ausschließlich der Profilierung der eigenen Travestie dient). Formen der Kontrastierung sind für meine Fragestellung – der Dialogisierung der Gattungen Epik und Lyrik – von erheblicher Bedeutung, führt die Transposition verkörperter Epiknamen in die lyrische Rede zum Zwecke der Pointierung zu spezifischen Rückkopplungseffekten, insofern als nicht nur die lyrischen Phänotexte in ihrer Bedeutung modifiziert werden, sondern diese zugleich einen perspektivischen Verstehensrahmen für solche epischen Narrativa entwerfen können, die ganz unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten evozieren. Das heißt, dass wir eine intendierte Intertextualität, die die Textoberfläche organisiert, hier das Zitat des Namens und dessen neue Funktionalisierung, von einer latenten Intertextualität zu unterscheiden haben, die die Sinnkonstitution (auch des Referenztextes) mitbestimmt und sich als Rezeptionsintertextualität markieren lässt.
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Als ein illustratives Beispiel für ein solches Rückkopplungsphänomen sei hier zum Schluss ein Frauenlob zugeschriebener Sangspruch angeführt:54 Jâ sô wær al mîn leit verswunden, ob ich liep von ir lîbe hæte enpfunden in rehter liebe tougenlîch, dâ wær mir vreude vunden. mîn vreude diu wirt breit unt vreudenrîche, Ob mich ir umbevanc besliuzet unt mich ir liehter ougen blic an schiuzet. mîn sendez herze swæret mich dar in diu sorge diuzet, unt hillet immer nâch ir stæteclîche Vil herzenlîcher lieber lîp, wil dû, mîn herzenliebes wîp, al mîner sorgen leitvertrîp, sô gip mir vreude sunder kîp vil vreuden in mîn herze; schrîp: „du bist Amfortâs an dem zil.“ bî dîner werdekeit, daz niht enlâ.
Ja, so wäre mein ganzes Leid verschwunden, wenn ich von ihr körperliche Liebe bekommen hätte, heimlich in wahrer Liebe, daran hätte ich Freude gefunden. Meine Freude wird riesig und freudenreich, wenn mich ihre Umarmung umschließt und mich der Blick ihrer leuchtenden Augen erlegt. Mein sehnsüchtiges Herz, worin die Sorge laut rauscht und das immer rasch und beständig ihr entgegeneilt, macht mich traurig. Sehr von Herzen Geliebte, willst Du, meine herzensliebe Frau, du meiner ganzen Sorgen Leidvertreib, so gib mir, Du unzweifelhafte Freude, viel Freude in mein Herz; schreib: „Du bist Anfortas am Ziel.“ Bei deiner Herrlichkeit, unterlass das nicht.
Eine recht konventionelle Mannesklage über das Leid in einer unerwiderten Liebe, die zugleich den Möglichkeitsraum einer sexuell erfüllten, heimlichen Liebe entwirft, die Freude garantiert. Dieses mögliche Glück liegt – auch das ein vertrautes Bild aus der Lyriktradition – ganz in den Händen der Geliebten, die – und hier verlässt nun der Spruch die konventionellen Bahnen – das Ich im Modus der Schrift als am Ziel angelangten Anfortas identifizieren soll. Anfortas’ Ziel – so suggeriert der Spruch – ist die Freude verheißende Liebe; nur dann ist der Wunsch des Ichs sinnvoll. Tatsächlich entwirft der Parzival Wolframs von Eschenbach die Figur des Anfortas als größtmöglich Leidenden, der auf Erlösung angewiesen ist.55 Das unmäßige Leiden und die Erlösungsbedürftigkeit sind wohl das tertium comparationis für das an der Minne leidende Ich im Sangspruch. Nun ist die Wunde und damit das Leid des Fischerkönigs Resultat eines sündhaften Verlangens nach sexuellen Freuden, die den Gralshütern durch göttlichen Willen versagt ist. Das Ich im Sangspruch verspricht sich also Erlösung seines Leids genau von dem, was Anfortas erst zum Leidenden macht: der Geschlechterliebe. Zwar ist diese paradoxe Figur, dass die Liebe, die verwundet, zugleich auch einziges Heilmittel ist, ein gängiges Motiv des mittelalterlichen Liebesdiskurses, 54 55
Ettmüller (Anm. 28), Str. 360. Auch dieser Sangspruch hat keine Aufnahme gefunden in die Göttinger Frauenlob-Ausgabe von Stackmann/Bertau (Anm. 28). Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns, revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann. Übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 110; Bibliothek des Mittelalters 8,1–2).
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doch ist dieses Motiv gerade in der Anfortas-Geschichte im Parzival abgewiesen. Das einzige Heilmittel, das Anfortas Erlösung bringen kann, ist die Frage Parzivals. Der Kausalnexus zwischen Liebe und Leid ist im Parzival und im Sangspruch entgegengesetzt gestaltet. Daher ist die Aufforderung des Ichs an die Dame, ihn mit Anfortas zu identifizieren, eine kalkulierte Paradoxie im vorliegenden Text. Zudem ist die Aussage polyvalent, da Anfortas im Handlungsverlauf des Romans verschiedene Ziele besitzt: die Erringung der Liebe in seinen sündigen Jugendjahren,56 die Herrschaft in Munsalvaesche,57 die Erlösung durch Parzivals Frage,58 schließlich der Tod nach dem Versagen des Titelhelden bei dessen erster Einkehr auf der Gralsburg59 sowie schließlich, demütig und keusch Gott zu dienen. Die Entsagung körperlich-weltlicher Begierden ist das letzte Ziel, das Anfortas im Parzival für sich formuliert, bevor er aus der Handlung entschwindet: nu hân ich diemuot mir erkorn. rîchheit und wîbe minne sich verret von mîm sinne. […] durch wîp gestrîte ich niemer mêr: ein wîp gab mir herzesêr (Parz., V. 819,20–30).
Nun hab ich Demut mir erkorn. Reichtum, Liebe zu den Frauen sind meinem Herzen völlig fern. […] Für Frauen kämpfe ich nicht mehr – Jene Frau ließ mich sehr leiden.
Das im Sangspruch erwünschte zil steht im Roman gerade einmal am Anfang der Lebensgeschichte des Anfortas und ist Auslöser seines Unglücks: Eine gattungs- und kontextbedingte Modulation und Festlegung der Anfortasfigur, die deren Komplexität, verschiedene Handlungskonstellationen in der zeitlichen Sukzession der Romanhandlung zu bündeln, nicht gerecht werden. Wenn man bedenkt, dass das letzte Ziel Anfortas’ im Parzival die Erlösung von seiner durch die Liebe erlittenen, körperlich manifesten Verwundung ist, transformiert der Sangspruch die ursprüngliche Textstrategie im Referenztext zugunsten einer Erlösung durch die Liebe. An diesem letzten Beispiel sollte deutlich geworden sein, dass Namen einen Konflikt zwischen den Kontexten von Prä- und Phänotext evozieren können. Als epische Figur ist Anfortas im Parzival ein Aggregat diverser narrativer Funktionen, eine Schnittstelle multipler Handlungskonstellationen und thematischer Rollen. Der Sangspruch überführt die polyphone 56 57 58 59
In der Diktion Trevrizents: „er [Anfortas] gerte minne / ûzerhalp der kiusche sinne“ (Parz., V. 472,29 f.). So bezeugt es Trevrizent in seinem Gespräch mit Parzival: „dô Frimutel den lîp verlôs, / mîn vater, nâch im man dô kôs / sînen eltsten sun ze künege dar, / ze vogte dem grâl unter grâles schar. / daz was mîn bruoder Anfortas“ (Parz., V. 478,1–5). Auch dies ist Trevrizents Rede zu entnehmen: „wurd des frâge aldâ vernomn, / sô solde der kumber ende hân“ (Parz., V. 483,22 f.). So beginnt das 16. Buch: „Anfortas unt die sîne / noch vor jâmer dolten pîne. / ir triwe liez in in der nôt. / dick er warb umb si den tôt“ (Parz., V. 787,1–4).
Literarische Formen im Dialog
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Figur in die der Gattung eigene Monodie: nämlich Exempel für erwünschtes Liebesglück zu sein. Zugleich öffnet der Sangspruch eine neue Bedeutungsebene, der sich der Parzival verweigert. Er entwirft ein Liebesglück für das Ich als Gralkönig, das durch die Schrift (schreip) legitimiert und auf Dauer gestellt ist (das zil ist erreicht). Die Geliebte rückt mit dieser Imagination eines Schreibaktes in die strukturelle Position Gottes im Parzival ein, dessen offenbarte Inschrift auf dem Gral bekanntlich festlegt, wen der Gralkönig zu seinem eigenen Glück lieben soll. Die Gott strukturell entsprechende Dame des Sangspruchs schreibt sich selbst als Ziel des Anfortas-Ich aus. So verstanden ist die Zielankunft des Anfortas der Dienst an einem weltlichen Gott: die Liebe in Gestalt der Dame. So ist hier die religiöse Dimension der Anfortashandlung im Parzival abgewiesen und in den weltlichen Liebesentwurf zurückgespielt. Das Heil auf Erden ist die Liebe in der Gestalt der Frau: eine die thematischen Rollen im Parzival geradezu konterkarierende Lektüre. VII. Fazit Die Inkorporation fremdtextverweisender Namenchiffren erweitert durch die Einspeisung narrativer Textwelten die poetologischen Möglichkeiten der lyrischen Rede in erheblichem Maße, wobei sich typologisch drei Funktionalisierungsmöglichkeiten (Partizipation, Kontrastierung und Travestie) unterscheiden lassen. Dort, wo sich die Namenzitate nicht in der Funktion exemplarischer Gültigkeit erschöpfen, garantieren sie eine konfligierende Beziehung zwischen Prä- und Phänotext. Der durch den intertextuellen Bezug evozierte Prozess der Sinndynamisierung erfasst dabei nicht nur einseitig den manifesten Text, sondern affiziert auch den Referenztext. In diesem Sinne kann von einer dialogischen Struktur der Texte die Rede sein: „Der evozierend-referierende (und usurpierende) Text stört den fremden Text gleichsam auf, bringt dessen zur Ruhe gekommenes Zeichengefüge in Bewegung.“60 Namenchiffren können in der pointierenden Kontrastierung eine neue Lektüre des Prätextes evozieren (wie die Tristan-Beispiele zeigten) oder im Referenztext abgewiesene Alternativen präsent halten (wie die Andeutung der Möglichkeit einer gottgefälligen glücklichen Liebesbeziehung für den Gralkönig im Anfortas-Beispiel). In der Inklusion epischer Namenzitate in lyrischen Texten wird weder eine heile Welt literarischer Tradition beschworen, wie es Jan-Dirk Müllers Intervention gegen die Übertragbarkeit des Intertextualitätsbegriffs auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Text-TextKontakte nahe legt, noch geht es um einen Nachweis kultureller Elitenbil60
Lachmann (Anm. 18), S. 60. Vgl. auch Pfister (Anm. 2), S. 29.
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dung im stillen Einverständnis von Autor und Rezipient: Grundsätzlich nicht anders als in moderner Literatur auch geht es – zumal bei kontrastierender oder travestierender Funktionalisierung der Namenszitate – „um die Erzeugung einer ästhetischen und semantischen Differenz“.61 Diese setzt einen Dialog zwischen den Einzeltexten und in übergeordneter Perspektive auch zwischen den Gattungen in Gang, die mit ihren je eigenen poetischen Verfahren, Redeweisen sowie Ideologemen Handlungs- und Figurenensembles ganz unterschiedlich funktionalisieren. In diesem Dialog zwischen zwei Einzeltexten – und im hier besprochenen Fall der intertextuellen Bezugnahme von Lyrik auf Epik: zwischen zwei literarischen Formen – sind die Rückkopplungseffekte von Referenzen, die sich im Phänotext finden, auf das Verständnis des Prätextes stets mit zu reflektieren.
61
Lachmann (Anm. 18), S. 57.
III. Lyrisches in Epischem
Manuel Braun
Epische Lyrik, lyrische Epik Wolframs von Eschenbach Werk in transgenerischer Perspektive I. Texte zwischen Epik und Lyrik: Möglichkeiten und Grenzen eines Experiments Lassen sich Chrétiens Lieder als kurze Romane beschreiben oder seine Romane als lange Lieder? Diese beiden Fragen wirft Sarah Kay in einem aufschlussreichen Buchbeitrag auf, und während sie die erste unter Hinweis auf die nicht-sukzessive bzw. nicht-narrative Zeitkonzeption der Lieder verneint, bejaht sie die zweite, indem sie Passagen des Cligès auf lexikalische Rekurrenzen, besondere Reime und Überlieferungsvarianten hin untersucht und dabei eine große Nähe zur Liedlyrik ausmacht.1 Im Folgenden möchte ich Kays Frage nach der generischen Verwandtschaft von Roman und Liedlyrik aufgreifen, sie theoretisch reformulieren und sie an die Literatur des deutschen Hochmittelalters richten.2 Von den zahlreichen zentralen Autoren, die hier in Frage kommen – unter ihnen Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue und Konrad von Würzburg –, habe ich mich für Wolfram von Eschenbach entschieden.3 Konkret gliedern sich die folgenden Beobachtungen und Überlegungen in fünf Abschnitte: Nach der Explikation des Ansatzes geht es zunächst darum, Wolframs Tagelieder seinem Parzival möglichst weit anzunähern (II). Diese Operation, die gegen sämtliche Gewohnheiten germanistischmediävistischer Gattungsklassifikation gerichtet ist – nach ihnen zählen die Tagelieder zum Minnesang und damit zur Lyrik –, lässt sich auf geradezu gegensätzliche Weise begründen: Man könnte entweder darauf abstellen, 1 2 3
Sarah Kay: The „changeful pen“. Paradox, Logical Time, and Poetic Spectrality in the Poems Attributed to Chrétien de Troyes. In: Thinking Through Chrétien de Troyes. Hrsg. von Zrinka Stahuljak u. a. (im Druck). Angeregt durch Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61. Vgl. hierzu den Hinweis bei Bleumer (Anm. 2), S. 36 f.
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Manuel Braun
dass die Tagelieder gar nicht unter die Lyrik fallen, wenn man diese mit Dieter Lamping als „Einzelrede in Versen“ definiert.4 Oder man könnte aus dem Umstand, dass selbst solche Minimaldefinitionen von Lyrik mittlerweile als gescheitert gelten, folgern, dass man sich der Lyrik am besten mit Hilfe narratologischer Instrumentarien nähern sollte.5 Jedenfalls soll es hier darum gehen, Wolframs sogenannte ‚lyrische‘6 seinen epischen Texten anzunähern, wofür die narrative Verfasstheit der Tagelieder den Anlass liefert. Anschließend greife ich auf die Semantik aus und suche auch hier nach entsprechenden Berührungspunkten. Dann richtet sich der Blick auf den Parzival, und zwar mit der Frage, inwieweit sich dieser als lyrischer Text beschreiben lässt (III). Dabei setze ich zunächst bei der Minnesemantik an, um anschließend den lyrischen Qualitäten seiner formalen Organisation nachzuspüren. Bereits an dieser Stelle ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass dem skizzierten Vorhaben der Status eines Experiments eignet. Dieses soll durchspielen, wo man eigentlich hinkommt, wenn man die verschiedenen Anregungen aus der Literaturtheorie aufnimmt, die darauf hinauslaufen, lyrische Texte zunächst einmal als narrative und also als epische Texte zu behandeln.7 4 5
6 7
Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, S. 63–94; im Anschluss hieran auch die Definition bei Harald Fricke/Peter Stocker: Art. „Lyrik“. In: RLW 2 (2000), S. 498–502, hier S. 499. Vgl. Walter Bernhart: Überlegungen zur Lyriktheorie aus erzähltheoretischer Sicht. In: Tales and ‚their telling difference‘. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. FS zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel. Hrsg. von Herbert Foltinek/Wolfgang Riehle/ Waldemar Zacharasiewicz, Heidelberg 1993 (Anglistische Forschungen 221), S. 359– 375, hier S. 360–364; Jörg Schönert: Normative Vorgaben als ‚Theorie der Lyrik‘? Vorschläge zu einer texttheoretischen Revision. In: Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Michael Titzmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Gustav Frank/Wolfgang Lukas, Passau 2004, S. 303–318, hier S. 304, 317; Peter Hühn/Jörg Schönert: Einleitung. Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse. In: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Hrsg. von Dens./Malte Stein, Berlin, New York 2007 (Narratologia 11), S. 1–18, hier S. 3 f. Die Kritik an Lampings Lyrik-Definition hat hier denn auch die Konsequenz, die lyrischen an die epischen Texte anzunähern. Vgl. auch die Kritik an Lamping bei Werner Wolf: The Lyric – an Elusive Genre. Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualization. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 28 (2003), S. 59–91, hier S. 70, sowie das Fazit zum Scheitern der Lyrik-Definitionen bei Rainer Warning: Interpretation, Analyse, Lektüre. Methodologische Erwägungen zum Umgang mit lyrischen Texten. In: Ders., Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus, Freiburg i. Br. 1997 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 51), S. 9–44, hier S. 18. Ich verwende den Begriff Lyrik vorläufig im Sinne der resignativen Formel bei Warning (Anm. 5), S. 17: „Lyrik ist ein Sammelbegriff für Texte, die im Laufe der Literaturgeschichte unter eben diesen Begriff subsumiert wurden.“ Neben Kay (Anm. 1) sind hier vor allem die Arbeiten der Hamburger Forschergruppe um Peter Hühn und Jörg Schönert zu nennen, vgl. Peter Hühn/Jörg Schönert: Zur narratologischen Analyse von Lyrik. In: Poetica 34 (2002), S. 287–305 sowie Dies.: Lyrik und Narratologie (Anm. 5), darin bes. die Einleitung, S. 1–18. Zudem wäre zu bedenken Eva
Epische Lyrik, lyrische Epik
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Dieser Versuch sieht sich einer zweifachen Schwierigkeit gegenüber: Zum einen gehören die ersten beiden Abschnitte der vorliegenden Studie zu jenem Typ von Gedankenexperimenten, die etwas zu erweisen suchen – hier: die Ununterscheidbarkeit von Lyrik und Epik bei Wolfram –, was ihr Urheber, zumindest in dieser radikalen Form, für unzutreffend hält. Dennoch könnte sich ein konsequentes Durchspielen der genannten Annahme lohnen, indem es die Perspektive auf altbekannte und vieldiskutierte Texte verändert und so neue Beobachtungen an ihnen ermöglicht. Deshalb ersuche ich meine Leserinnen und Leser, die eingeschlagene Denkbewegung zunächst einmal mitzumachen, obwohl auch sie ständig Einwände erheben werden. Zum anderen – und dieses Problem wiegt schwerer, weil es nicht nur eines der dispositio, sondern eines der argumentatio ist – mischt die Untersuchung theoretisch abgeleitete allgemeine Merkmale von Lyrik und Epik mit solchen, die sich der konkreten Anschauung von deren spezifisch historischer Ausprägung als Minnesang und als höfischer Roman verdanken. Ich halte diese Vermengung der Ebenen selbst für heikel, nehme sie aber einstweilen als Folge meiner Versuchsanordnung hin, die ein literaturtheoretisches und ein interpretationspraktisches Interesse gleichberechtigt verfolgen möchte. Viertens – und hiermit endet das Experiment und ändert sich folglich auch der Status der Argumente – werden jene Grenzen bezeichnet, die ich dem Versuch gesetzt sehe, Lyrik und Epik einander anzunähern. Dazu ist zunächst der Abstand zu vermessen, der trotz aller Verwandtschaft zwischen Wolframs Tageliedern und dem Parzival bestehen bleibt (IV). Weniger metaphorisch gesprochen: Es wird nach Kriterien gesucht, die Wolframs lyrische von seinen epischen Texten unterscheiden. Auf dieser Grundlage wird dann das Verhältnis von Lyrik und Epik grundsätzlicher überdacht. Die Tragfähigkeit dieser Überlegungen möchte ich – fünftens – erproben, indem ich den Gattungsstatus des Titurel und damit jenes Wolfram-Textes diskutiere, bei dem dieser Status am unsichersten ist (V). II. Narrativierung im Tagelied Geht man von der üblichen Gattungsklassifikation aus, dann handelt es sich bei Wolfram von Eschenbach um einen Epiker, der nebenbei auch ein wenig Lyrik verfasst hat: Neben einen Roman, der in der kanonischen AusMüller-Zettelmann: Lyrik und Narratologie. In: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Hrsg. von Vera Nünning/Ansgar Nünning, Trier 2002 (WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 5), S. 129–153, und Ralf Simon: Handlungstheorie des Lyrischen. Mit Analysen zu Hölderlins Heidelberg, Mörikes Die schöne Buche und Georges Wir werden heute nicht zum garten gehen. In: Rhetorik 23 (2004), S. 50–80.
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gabe Karl Lachmanns 24.810 Verse umfasst, ein unvollendetes Heldenepos mit 13.988 Versen und einen weiteren, ebenfalls fragmentarischen Roman von 610 Versen treten ganze neun Lieder mit einem Gesamtumfang von 337 Versen.8 Letztere machen, setzt man sie zu den 39.408 epischen Versen ins Verhältnis, weniger als ein Prozent des Wolfram’schen Œuvres aus. Man könnte von hier aus einen Schritt weitergehen und fragen, ob sich diese Neigung zum Narrativen nicht auch im lyrischen Werk selbst auffinden lässt. Denn Wolfram bevorzugt wie kein anderer Autor vor ihm das Tagelied und damit diejenige Gattung, die die deutlichsten narrativen Züge aufweist: Fünf der neun in den Handschriften A, B, C und G überlieferten Lieder sind Tagelieder, was umso erstaunlicher ist, als das Tagelied im Minnesang des 12. Jahrhunderts sonst eher randständig bleibt. Die Aussage, wonach das Tagelied den narrativen Gattungen besonders nahesteht, kann man zuspitzen, indem man es einmal probeweise in diesen aufgehen lässt. Selbst die Überlieferung enthält eine Aufforderung zu einem solchen Experiment, da die Münchener Handschrift cgm 19 neben dem Parzival auch zwei Tagelieder enthält und also beide Gattungen nebeneinander stellt, während Epenhandschriften sonst nur selten Minnesang bewahren.9 Ich nehme diese Vorgabe auf und versuche die Tagelieder in drei Schritten an den Roman heranzuführen: Erstens wird rekapituliert, inwiefern das Tagelied narrative Strukturen aufweist. Um diese deutlich herauszuarbeiten und dabei zugleich jene Anregungen aufzunehmen, die die transgenerisch orientierte Lyrikforschung bietet, verwende ich durchgängig narratologische Beschreibungsinventare.10 Diese kommen weiterhin zum 8
9
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Die Angaben zu den epischen Texten beziehen sich auf: Wolfram von Eschenbach. Hrsg. von Karl Lachmann, 6. Aufl. Berlin, Leipzig 1926, die zur Lyrik auf: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser/Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. Allerdings setzt die Handschrift die Lieder von den epischen Texten insofern ab, als sie ersteren „Gliederungs- und Strukturierungszeichen“ hinzufügt, die nach Volker Mertens: Tagelieder singen. Ein hermeneutisches Experiment. In: Wolfram von Eschenbach – Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Kolloquium 2000. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs/Eckhart C. Lutz/Klaus Ridder, Berlin 2002 (Wolfram-Studien 17) S. 276–293, hier S. 285, auf den Vortrag verweisen. Einen Parallelfall stellt möglicherweise die Riedegger Handschrift dar, die neben mehreren Epen ein Neidhart-Korpus überliefert, dessen Lieder eine Tendenz zum Narrativen aufweisen, die auch im Vergleich zur übrigen Neidhart-Überlieferung hervortritt. Vgl. dazu Anna Kathrin Bleuler: Überlieferungskritik und Poetologie. Strukturierung und Beurteilung der Sommerliedüberlieferung Neidharts auf der Basis des poetologischen Musters, Tübingen 2008 (MTU 136), S. 117–133. Vgl. dazu die in Anm. 7 genannte Literatur. Was die narratologischen Inventare angeht, beziehe ich mich auf Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999 (C. H. Beck Studium). Solche Anleihen bedeuten einen Neuansatz für die mediävistische Lyrikforschung, die sich bislang lediglich auf das Phänomen der residualen Narrativität (dieser Begriff nach Monika Fludernik: Allegory, Metaphor, Scene and Expres-
Epische Lyrik, lyrische Epik
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Einsatz, wenn – zweitens – genauer erfasst werden soll, wie sich die Narrativität der Gattung bei Wolfram ausprägt. Drittens möchte ich plausibel machen, dass Wolfram das Tagelied nicht nur narrativiert, sondern es auch der Semantik des höfischen Romans annähert. Erstens: Nimmt man die Narrativität des Tageliedes in den Blick, ist zum einen daran zu erinnern, dass es einen Plot ausbildet: Mit Anbruch des Tages laufen die Liebenden Gefahr, entdeckt zu werden.11 Sie müssen also Abschied nehmen, und diese Aussicht liefert den Anlass für eine Klage. Diese Minimalsequenz aus Tagesanbruch und Klagebeginn lässt sich zudem um jene Ereignisse erweitern, die ihr vorausgehen oder ihr folgen: die gemeinsam verbrachte Liebesnacht und die kommende Trennung.12 Beide sind nämlich im Gespräch der Liebenden gegenwärtig, als aufbauende Rückwendung und als zukunftsgewisse Vorausdeutung. Zum anderen enthält jedes Tagelied eine im engeren Sinn narrative Passage, die die Figurenrede rahmt und deren Minimalfall die inquit-Formel darstellt.13 Dieser narrative Rahmen wird von einem extra- und heterodiegetischen Erzähler gehalten, und er entspricht dem Normalfall epischen Erzählens insofern, als später erzählt wird. Folglich findet hier auch das epische Präteritum Verwendung. Zweitens: Alle Aussagen darüber, wie sich die Tagelieder Wolframs in Sachen Narrativität zum Gattungstypus stellen, haben zu berücksichtigen, dass mit Dietmars von Aist Slâfest du, vriedel ziere? (MF 39,18) nur ein einziges deutsches Tagelied überliefert ist, das mit Sicherheit älter ist. Deshalb ziehe ich mich an den Stellen, an denen mir der Bezug auf einen abstrakten Idealtypus ‚Tagelied‘ zu unsicher erscheint, darauf zurück, Vergleiche innerhalb des Wolfram’schen Tageliedkorpus anzustellen. Mit fünf Liedern ist
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sion. The Example of English Medieval and Early Modern Lyric Poetry. In: Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Hrsg. von Eva Müller-Zettelmann/Margarete Rubik, Amsterdam, New York 2005 [Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 89], S. 99–124) beschränkt, wenn sie nach der Narrativität des Minnesangs fragt. Für entsprechende Forschungen sei hier nur stellvertretend genannt Manfred Eikelmann: wie sprach sie dô? war umbe redte ich dô niht mê? Zu Form und Sinngehalt narrativer Elemente in der Minnekanzone. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling/ Peter Strohschneider, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 19–42. Knapp John Greenfield: wahtaere, swîc. Überlegungen zur Figur des Wächters im tageliet. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von Ricarda Bauschke, Frankfurt a. M. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 10), S. 41–61, hier S. 42. Anders Christoph Cormeau: Zur Stellung des Tagelieds im Minnesang. In: FS Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota u. a., Bd. 2, Tübingen 1992, S. 695–708, hier S. 703 f., der meint, eine Elementarsequenz lasse sich für das Tagelied nicht bilden. Diese rekonstruiert, im Blick auf Wolfram, hingegen Jürgen Kühnel: Das Tagelied. Wolfram von Eschenbach: Sîne klâwen. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hrsg. von Helmut Tervooren, Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 144–168, hier S. 149. Hierzu und zum Folgenden Cormeau (Anm. 12), S. 700, und Greenfield (Anm. 11), S. 44.
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dieses groß genug, und außerdem sind die einzelnen Lieder ja auch durchaus unterschiedlich.14 Die erste meiner drei Beobachtungen lässt sich freilich an fast allen Liedern machen: Von Der helden minne (MF 5,34) einmal abgesehen, erzählen sie sämtlich von der sexuellen Vereinigung der Liebenden in der Situation des Abschieds.15 Damit wird der Plot des Tageliedes auf zweifache Weise erweitert: in direkter, indem der Liebesakt ein zusätzliches narratives Ereignis darstellt, und in indirekter, indem die Geschehnisse der vorausliegenden Nacht qua Wiederholung vergegenwärtigt werden. Die zweite Beobachtung betrifft den Wächter, der sich ebenfalls in vier der fünf Lieder findet. Er gilt als ‚Erfindung‘ Wolframs und erweitert das Figurenensemble des Tageliedes, das aus einem Mann und einer Frau besteht, um eine dritte Position.16 Deren Bedeutung tritt besonders in dem Lied Von der zinnen (MF 6,10) hervor, in dem zwei der drei Strophen ausschließlich die Rede des Wächters enthalten.17 Dabei bringt der Wächter auch eine andere Perspektive in das Geschehen ein – das betrifft, narratologisch beschrieben, sowohl den Aspekt der Stimme als auch den der Fokalisierung –, indem er etwa den Tagesanbruch sieht, während die Liebenden hiervon nur hören, oder indem er die Situation anders einschätzt und bewertet.18 Die veränderte Figurenkonstellation bedeutet einerseits einen Schritt auf den Roman zu, weil dieser ja stets eine größere Zahl handelnder Personen und von diesen eingenommener Perspektiven kennt, und sie entfernt sich andererseits einen Schritt von der Zweierkonstellation, wie sie den stärker lyrischen Gattungen des Minnesangs, dem Wechsel und dem Dialoglied, zugrunde liegt.19 Von letzteren muss man auch ausgehen, wenn man – die dritte Beobachtung – die Umstellung von einem dramatischen auf einen narrativen Modus als Annäherung an epische Texte deuten will. Denn der Wechsel und das Dialoglied stellen die jeweiligen Reden der Liebenden nur nebeneinander, ohne sie irgendwie zu rahmen.20 Beiden Liedgattungen steht etwa Dietmars Tagelied nahe, wo lediglich einer von zwölf Versen Erzählerrede 14
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Peter Wapnewski: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition, Kommentar, Interpretation, München 1972, S. 167, spricht von einem „Variationenzyklus“; ähnlich Greenfield (Anm. 11), S. 49; Kühnel (Anm. 12), S. 148, 165; Marianne Wynn: Wolfram’s Dawnsongs. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. FS für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Gärtner/Joachim Heinzle, Tübingen 1989, S. 549–558, hier S. 549. Vgl. Cormeau (Anm. 12), S. 704; Wapnewski (Anm. 14), S. 35; Wynn (Anm. 14), S. 552. Zur Figur des Wächters Wapnewski (Anm. 14), S. 135–140, am Beispiel von Von der zinnen. Vgl. bei Wapnewski (Anm. 14), S. 135. Vgl. Greenfield (Anm. 11), S. 47 f. Ebd., S. 44 f. Ich beziehe mich hier auf den klassischen Minnesang, dessen Dialoglieder nicht ganz, aber doch sehr weitgehend auf narrative Rahmen verzichten. Denn Hartmanns Dir hât enboten, vrowe guot (MF 214,34), Reinmars Sage, daz ich dirs iemer lône (MF 177,10), War kan iuwer schoener lîp (MF 195,37) und Herre, wer hât si begozzen (MF S. 402 [(Pseudo-) Reinmar
Epische Lyrik, lyrische Epik
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enthält. Insofern bedeutet es mehr als nur den Wechsel des Modus, wenn einzelne Tagelieder Wolframs die narrativen Anteile massiv ausbauen.21 In Sîne klâwen (MF 4,8) sind die ersten vier Strophen zur Gänze Figurenrede,22 erst die fünfte und letzte ist dem Erzähler zuzuordnen. In Von der zinnen bestehen die ersten beiden Strophen aus Figurenrede, die dritte teilen sich der Erzähler und die Frau. Höher ist der Anteil der Erzählerrede in dem Lied Ez ist nu tac (MF 7,41). Dort besteht nur noch die erste Strophe durchgängig aus Figurenrede,23 in der zweiten liegt deren Anteil bei knapp der Hälfte und in der dritten und vierten bei genau der Hälfte, wobei die Redeanteile zwischen den Figuren und dem Erzähler genau gegensätzlich verteilt sind: Die dritte Strophe bringt zehneinhalb Verse Erzählerrede und zweieinhalb Verse Figurenrede, die vierte lässt auf zweieinhalb Verse Erzählerrede zehneinhalb Verse Figurenrede folgen. In Den morgenblic (MF 3,1) erlangt die Erzählerrede dann gar das Übergewicht: Sie macht mehr als die Hälfte der ersten beiden Strophen aus und bestreitet die dritte ganz allein.24 In Der helden minne schließlich findet sich überhaupt keine Figurenrede mehr, allerdings tritt an ihre Stelle nicht einfach Erzählerrede, sondern ein Sprecher, der sich zunächst an den Wächter wendet, um dann allgemeine Ratschläge zu erteilen – das ist noch genauer zu beschreiben. Die eben herausgearbeitete Verschiebung vom dramatischen zum narrativen Modus – der Anteil der Figurenrede sinkt von 80 Prozent über 73, 61 und 28 auf 0 Prozent – ist nicht nur ein quantitatives Phänomen, sondern auch ein qualitatives. Denn die Lieder präsentieren die Figurenrede auch in unterschiedlicher Weise. Während sie in Sîne klâwen ausschließlich als autonome direkte Figurenrede erscheint, die auf jegliche Vermittlung durch den Erzähler verzichtet, kommt sie in Von der zinnen und Ez ist nu tac teils als autonome direkte Figurenrede, teils aber auch als narrativ eingeleitete direkte Figurenrede vor. In Den morgenblic schließlich findet sich nur noch letztere; und diese wiederum stellt in epischen Texten den Normalfall dar.
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LXVII]) haben gar keinen, stark reduziert erscheint er in Johansdorfs Ich vant si âne huote (MF 93,12). Erst Neidharts Sommerlieder betten die Figurenrede narrativ breiter ein. Hierzu und zum Folgenden Mertens (Anm. 9), S. 286. Wenn man Dietmars Tagelied zum (einzig möglichen) Bezugspunkt nimmt, liegt es zumindest in dem oben skizzierten Zusammenhang nahe, die Tagelieder Wolframs in eine Reihe zu bringen, die einen Ausbau der narrativen Anteile erzählt, zumal man sich Der helden minne (MF 5,34) auch aus inhaltlichen Gründen gerne als Endpunkt der Gattung bei Wolfram vorstellen wird. Das heißt aber selbstredend nicht, dass Wolfram die Texte nicht in einer ganz anderen Abfolge verfasst bzw. vorgetragen haben könnte. Insofern ist die im Folgenden beschriebene Entwicklung nur ein Konstrukt, das dem Argumentationsrahmen entspricht. Genauer Kühnel (Anm. 12), S. 150–153, 164 f., und Wapnewski (Anm. 14), S. 107 f.: strophenweise Wechselrede zwischen Wächter und Frau, die trotz der wechselseitigen Anreden nicht dialogisch aufeinander bezogen ist und deren Hauptthema der Mann darstellt. Genauer Wapnewski (Anm. 14), S. 68–71: Im ersten Stollen spricht der Wächter, im zweiten sowie im Abgesang dann die Dame. Zum ausgeprägt narrativen Charakter des Liedes ebd., S. 34.
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Drittens: Wenn Wolfram das Tagelied derart von den lyrischen Gattungen weg- und es auf die epischen Gattungen zubewegt, stellt sich die Frage, ob dieser formalen eine semantische Annäherung entspricht. Auszugehen ist dabei von jenem Themenbereich, welcher der mittelalterlichen Lyrik ihren Namen gegeben hat: dem der Minne oder, allgemeiner, dem des Geschlechterverhältnisses. Denn während der Minnesang die (vergebliche) Liebeswerbung des Mannes um die frouwe inszeniert, unterzieht der Artusroman die Ehe der Protagonisten einer Belastungsprobe. Auf ihre Art tun das auch die Tristanromane, wenn sie von einem Ehebruch erzählen.25 Das Tagelied steht zwischen diesen Polen. Denn anders als das Werbelied führt es die (auch sexuelle) Einheit der Liebenden vor. Außerdem ist durch die Momente der Heimlichkeit und der Gefahr gesetzt, dass ihre Beziehung illegitim ist. Die wahrscheinlichste Erklärung dieser Illegitimität – die Texte selbst schweigen sich hierüber zumeist aus – lautet, dass die Liebenden des Tageliedes ein ehebrecherisches Verhältnis pflegen. Sowohl die Erfüllung als auch der Ehebruch nähern das Tagelied der Semantik des höfischen Romans an, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die Nähe beider kann selbst auf der Textoberfläche fassbar werden, wenn sie etwa dieselbe Metaphorik verwenden: sus kunden sî dô vlehten / ir munde, ir bruste, ir arme, ir blankiu bein (MF 3,27 f.; „So verflochten sie Mund, Brust, ihre Arme, ihre schimmernden Beine.“26) heißt es in Den morgenblic und si vlâhten arm unde bein27 im Parzival. Vor allem aber zeichnen sich Wolframs Tagelieder dadurch aus, dass sie eine Annäherung an die Semantik der Ehe und damit an die Form des Geschlechterverhältnisses vollziehen, die im Artusroman vorherrscht. Sie können das in kleinen Schritten tun, etwa wenn das Lied Den morgenblic die Eheformel et erunt duo in carne una (Gn 2,24; Mt 19,6) zitiert und variiert: Zwei herze und ein lîp hân wir (MF 3,18).28 Auch hier besteht wieder eine direkte Parallele zum Parzival, wo es heißt: mîn bruoder und ich daz 25
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Zum Bezug der Wolfram’schen Tagelieder auf den Tristan vgl. Georg Steer: Das lebende paradîs. Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Tagelieder Wolframs von Eschenbach. In: Germanistische Tangenten. Deutsch-britische Berührungen in Sprache, Literatur, Theatererziehung und Kunst. Hrsg. von Herta-Elisabeth Renk/Margaret Stone, Regensburg 1989 (Eichstätter Beiträge 25), S. 13–21. Die Übersetzungen der Tagelieder entnehme ich Wapnewski (Anm. 14), S. 40. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann, Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok, Stuttgart 1989 (RUB 3681/3682), hier V. 203,6. Der mittelhochdeutsche Text und Übersetzung sind dieser Ausgabe entnommen. Diese herkömmliche Deutung – etwa bei Wapnewski (Anm. 14), S. 27 f. – scheint mir überzeugender als der Bezug auf den Cligès, mit dem Dorothee Lindemann: zwei herze und ein lîp. Zu Wolframs erstem Tagelied. In: bickelwort und wildiu mære. FS für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ders./Berndt Volkmann/Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 144–150, rechnet und der sie veranlasst, die Stelle im Sinne des Herzenstausches zu lesen.
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ist ein lîp, / als ist guot man unt des guot wîp. (740,29 f.; „Im Grunde waren sie nämlich eins und untrennbar, mein Bruder und ich sind ebenso untrennbar eins wie Mann und Frau.“) Anders als im Roman bezeichnet die Eheformel in Den morgenblic jedoch ein potentiell ehebrecherisches Verhältnis.29 Diese Differenz bearbeitet dann das Lied Der helden minne: Der helden minne ir klage du sunge ie gên dem tage, Daz sûre nâch dem süezen. swer minne und wîplîch grüezen alsô enpfienc, daz si sich muosen scheiden, – swaz dû dô riete in beiden, dô ûf gienc Der morgensterne, wahtaere, swîc, dâ von niht sinc.
Der heimlichen Liebe sangest du ihren Klageanlaß von je in den Tagesanbruch hinein: das Bittere auf das Süße folgen lassend. Wer je Liebe und die Umarmung der Geliebten so nur empfangen durfte, daß sie sich darob trennen mußten, – wessen du sie da mahntest, als aufging der Morgenstern: Wächter schweig, davon sing nicht weiterhin!
Swer pfliget oder ie gepflac, daz er bî lieben wîben lac, Den merkaeren unverborgen, der darf niht durch den morgen dannen streben. er mac des tages erbeiten. man darf in niht ûz leiten ûf sîn leben. Ein offeniu süeze wirtes wîp kan sölhe minne geben. (MF 5,34–6,10)
Wer hingegen es so hält oder je so gehalten hat, daß er bei seiner Geliebten lag den Aufpassern durchaus bekannt: der hat nicht nötig, durch das Morgengrauen fortzuhasten, er kann getrost den Tag abwarten. Man braucht ihn nicht hinauszugeleiten unter Gefahr für sein Leben. Eine legale geliebte Ehefrau vermag solcher Art Liebe zu gewähren.
Die erste Strophe nimmt eine Metaposition ein, und zwar sowohl gegenüber der Gattung des Tageliedes als auch gegenüber ihrer autortypischen Ausprägung. Die Gattung im Allgemeinen wird aufgerufen durch die Klage aus heimlicher Liebe (Der helden minne ir klage, Str. I, V. 1), den Tagesanbruch (gên dem tage, I, 2; Der morgensterne, I, 9), die Verkehrung von Freude in Leid (Daz sûre nâch dem süezen, I, 3), die verklausuliert ausgedrückte sexuelle Erfüllung (swer minne und wîplîch grüezen / alsô enpfienc, I,4 f.) sowie die Notwendigkeit der Trennung (muosen scheiden, I, 6).30 Auf die Tagelieder Wolframs im Besonderen verweisen die Figur des Wächters (wahtaere, I, 9) sowie eine Reihe von Selbstzitaten.31 An dem Gebrauch, den die Strophe vom Wächter macht, lässt sich aber auch ablesen, dass mit ihr nicht einfach ein weiteres Wolfram’sches Tagelied anhebt, sondern ein Lied
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Vgl. Wapnewski (Anm. 14), S. 36. Vgl. ebd, S. 160. Vgl. Wapnewski (Anm. 14), S. 164 f.
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über ein Tagelied.32 Denn der Wächter erscheint hier nicht als Figur, die in einem narrativen Rahmen agiert, sondern als mit du (I,2; I, 7) angesprochener Adressat all dieser Äußerungen. Ihr Urheber tritt pronominal nicht hervor, und es fehlt an einer Rahmung, die seine Identität klären könnte. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Sprecherinstanz der ersten Strophe zu besetzen, und die Entscheidung wird auch die zweite Strophe einbeziehen müssen. Nimmt man die erste Strophe für sich, wäre sie als Figurenrede denkbar. Sowohl der Liebende als auch die Geliebte des Tageliedes könnten sie an den Wächter richten und ihn also bitten, sein verhängnisvolles Tun dieses Mal zu unterlassen: wahtaere, swîc, dâ von niht sinc (I, 9 f.). Man müsste dann freilich konstatieren, dass eine Figur sich reflexiv auf die Gattung bezieht, in der sie vorkommt. Die Konsequenz aus ihrer Äußerung würde dann in der zweiten Strophe eine andere Sprecherinstanz ziehen, die im Stile des Ratgebers im Sangspruch gestaltet ist. Naheliegender als einen solchen Sprecherwechsel anzunehmen, wäre es, auch die erste Strophe dieser Instanz zuzuweisen, die dann als eine Art Autorinstanz zu verstehen wäre.33 Diese Sprecherinstanz würde zuerst das Problem des Tageliedes benennen und dann eine Lösung bieten. Diese Lösung lautet, so könnte man die zweite Strophe zusammenfassen, Eheliebe statt Ehebruch.34 Die Voraussetzung dafür, dass die Liebesnacht nicht mit der angstvollen Trennung am Morgen endet, besteht darin, dass sie Den merkaeren unverborgen (II, 3) ist. Zusammen mit der Heimlichkeit entfällt auch die Gefahr: man darf in niht ûz leiten / ûf sîn leben (II, 7 f.). Die Liebe ist also, anders als im Tagelied, nicht mehr illegitim, und die Erklärung hierfür steht am Schluss der Strophe: Es handelt sich um die Liebe zur eigenen Frau. Damit aber empfiehlt das Lied genau das, was der Roman anlässlich des Wiedersehens von Parzival und Condwiramurs erzählt. Dieses findet nämlich am Morgen statt: do ez tagt, dô vant er lieben vunt (799,16; „bis er bei Tagesanbruch eine beglückende Entdeckung machte“), es trägt von Anfang an einen erotischen Akzent – si hete niht wan daz hemde an (800,30; „Da sie nur ein Hemd trug“) –, und es besteht denn auch in einer kuzwîle, die unz an den mitten morgens tac währt (802,10; „genoß er die Freuden, die seine Frau ihm schenkte, bis in den späten Vormittag“). Bei dieser sind zwar nur der Erzähler und sein Publikum zugegen, weil Kyot die Kinder des Paares und die Jungfrauen der Königin aus dem Zelt bringen lässt, doch wird man mit dem Wissen der Figuren um das Tun der Eheleute durchaus rechnen dürfen. Wenn der Parzival also auserzählt, was das Lied Der helden minne anempfiehlt, so ist damit doch zugleich eine Differenz Ähnlich Mertens (Anm. 9), S. 286, der von einem „Sangspruch über das Thema ‚Tagelied‘“ spricht. 33 Vgl. Wapnewski (Anm. 14), S. 158 f. 34 Vgl. hierzu die von Wapnewski (Anm. 14), S. 156–158, kritisierte ältere Forschung, die diese auch auf den Parzival bezieht, sowie Greenfield (Anm. 11), S. 55. 32
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gesetzt: die von Narration und Didaxe.35 Demnach ist festzuhalten, dass ausgerechnet dort, wo das Tagelied die Ehesemantik des Romans übernimmt, eine neue Distanz dadurch entsteht, dass das Lied nicht narrativ ist, jedenfalls nicht in derselben Weise wie Wolframs übrige Tagelieder, und dass es zudem die Gestaltung der sexuellen Erfüllung übergeht.36 Das ändert freilich nichts daran, dass das Wolfram’sche Tagelied als solches sowohl formal als auch semantisch durchaus einen Schritt auf den Roman hin tut. III. Annäherungen: Minnelyrisches Dienstkonzept und sprachliche Lyrismen im Parzival Der Parzival wiederum gestaltet das Geschlechterverhältnis – das zeigt bereits die eben zitierte Tageliedsituation –, indem er sich seinerseits auf den Minnesang und dessen Semantik bezieht. Je einen weiteren Beleg hierfür entnehme ich den Geschichten der drei wichtigsten männlichen Protagonisten: Gahmuret, Parzival und Gawan. Gahmuret stellt sein Leben in den Dienst des Kampfes und der Minne, und entsprechend oft greift die Elternvorgeschichte auf die Semantik des Minnesangs zurück.37 Bereits seinen Aufbruch, der eigentlich durch eine Enterbung erzwungen wird, begründet Gahmuret mit dem Frauendienst: ob mich gelücke wil bewarn, so erwirbe ich guotes wîbes gruoz. ob ich ir dar nâch dienen muoz, und ob ich des wirdec bin, sô raetet mir mîn bester sin daz ichs mit rehten triuwen pflege. (Parz. 8,10–15)
Ist mir das Glück hold, so wird mir edler Frauen Gunst zuteil. Bin ich würdig genug, mit Ritterdienst darum zu werben, so will ich dies in rechter Treue tun; das ist meine wohlerwogene Absicht.
Das Streben nach dem Gruß der Frauen, die Versicherung der Dienstbereitschaft, der Rekurs auf den eigenen Wert und die Erklärung der Treue – sie alle könnten auch in einem Werbelied stehen.38 Selbst das im Minnesang vorherrschende syntaktische Muster, das Konditionalgefüge, findet Verwen-
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Auch Greenfield (Anm. 11), S. 55, betont den Verzicht auf die gattungskonstitutive Narration und begründet sie damit, dass es in der gesellschaftskonformen Ehe keine Spannung gebe, die sich in Handlung umsetzen lasse. Vgl. Volker Mertens: Dienstminne, Tageliederotik und Eheliebe in den Liedern Wolframs von Eschenbach. In: Euphorion 77 (1983), S. 233–246, hier S. 242–244. Vgl. Anja Becker: Parzivals redegewandter Vater. Zur Einschätzung Gahmurets und der Auszugsszene (4,27–13,8). In: Focus on German Studies 9 (2002), S. 155–174, hier S. 167. Vgl. Holger Noltze: Gahmurets Orientfahrt. Kommentar zum ersten Buch von Wolfram [sic] Parzival (4,27–58,26), Würzburg 1995 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 13), S. 61.
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dung.39 Dieser Anfang erweist sich als durchaus symptomatisch, denn auch die beiden Liebesgeschichten Gahmurets rekurrieren in unterschiedlicher Weise auf den Minnesang.40 Auch das, was von Parzival und Condwiramurs berichtet wird, bezieht sich immer wieder auf das Modell der Hohen Minne. Beispielsweise meldet sich der Erzähler anlässlich der Blutstropfenszene mit folgender Einlassung zu Wort: unversunnen hielt dâ Parzivâl. daz vuogten im diu bluotes mâl und ouch diu strenge minne, diu mir dicke nimt sinne unt mir daz herze unsanfte regt. ach nôt ein wîp an mich legt: wil si mich alsus twingen unt selten hilfe bringen, ich sol si es underziehen und von ir trôste vliehen. (Parz. 287,9–18)
Parzival verharrte immer noch geistesabwesend auf derselben Stelle. Ihn bannten die Blutstropfen und die übermächtige Liebe, die auch mich oft genug jede Vernunft vergessen läßt und mein Herz mit Leid erfüllt. Ach, einer Frau verdanke ich diese Liebesqual! Doch bringt sie mich in Not, ohne mich hoffen zu lassen, dann ist sie selbst schuld daran, wenn ich mich von ihr wende.
Während der Hauptsatz noch die paralysierende Wirkung der Minne auf den Helden beschreibt – das attributive Adjektiv strenge stellt sie als seine Beherrscherin vor –, bezieht sich der Relativsatz auf den Erzähler, dem sie den Verstand raubt und Leid zufügt. Damit ist die Semantik der Hohen Minne bereits anzitiert, und entsprechend folgt, durch den Seufzer ach (287,14) eingeleitet, eine regelgerechte Minneklage, die mit der Möglichkeit einer Dienstaufsage endet.41 Ähnlich begründet der Erzähler seine Invektive gegen Frau Minne, die nur wenig später folgt, mit persönlichen Misserfolgen in Sachen Minne. Dass schließlich auch Gawans Liebe zu Orgeluse vom Modell der Hohen Minne inspiriert ist – die schwierig zu entscheidende Frage, ob es sich dabei parodistisch auf den Minnesang bezieht, kann hier ausgeklammert bleiben –, macht bereits die Begrüßung der beiden sichtbar: 39 40 41
Vgl. Manfred Eikelmann: Denkformen im Minnesang. Untersuchungen zu Aufbau, Erkenntnisleistung und Anwendungsgeschichte konditionaler Strukturmuster des Minnesangs bis um 1300, Tübingen 1988 (Hermaea N. F. 54), S. 61–187. Vgl. dazu die Hinweise bei Noltze (Anm. 38), S. 110, 112, 131. Die Forschung – etwa Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach, Tübingen 2001 (Hermaea N. F. 94), S. 112–116; Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 36), S. 335–354 – ist der intertextuellen Markierung des Textes gefolgt und hat die Bemerkungen des Erzählers zur Minne vor allem auf Heinrichs von Veldeke Eneit bezogen, was genauso Sinn erzeugt wie meine Lektüre, weshalb keine als die allein richtige zu erweisen sein wird.
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Gâwân bôt ir sînen gruoz. er sprach ‚ob ich erbeizen muoz mit iuweren hulden, vrouwe, ob ich iuch des willen schouwe daz ir mich gerne bî iu hât, grôz riuwe mich bî vröuden lât: sone wart nie ritter mêr sô vrô. mîn lîp muoz ersterben sô daz mir nimmer wîp gevellet baz.‘ ‚deist et wol: nu weiz ich ouch daz.‘ (Parz. 509,1–10)
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Gawan grüßte sie und sprach: „Edle Frau, wenn Ihr mir gestattet, hier bei Euch abzusitzen, und gar zu erkennen gebt, daß Euch meine Anwesenheit nicht unangenehm ist, dann fühle ich ungetrübte Freude, dann war nie ein Ritter glücklicher als ich. Ich schwöre Euch bei meinem Leben: Keine Frau gefällt mir so gut wie ihr!“ „Schon gut! Das weiß ich auch selbst!“
Gawan grüßt Orgeluse, er spricht sie als vrouwe (509,3) an, und wie eine Herrin bittet er sie auch um Erlaubnis, absteigen und sich ihr nähern zu dürfen – beides würde ihm Freude bringen –, und er schließt seine Ansprache mit einem Preis ihrer Schönheit. Orgeluse antwortet hierauf knapp und schnippisch. Auch für ihre Replik finden sich in den Dialogliedern des Minnesangs Vorbilder, man denke nur an Albrechts von Johansdorf Ich vant si âne huote (MF 93,12). In diesem Duktus – preisende Werbung hier, spöttische Ablehnung dort – fährt das Gespräch fort, bis die beiden zu ihrer Fahrt aufbrechen. Dabei zieht Gawan in dem Wissen darum los, dass der weibliche Zorn am Ende doch der genâde (515,18) weichen wird und dass auf den dienst (515,21) der Lohn zu folgen hat. Selbst auf die Spottrede, mit der Orgeluse den Diebstahl seines Pferdes bedenkt, antwortet Gawan mit einer Werberede, welche die minne (523,14 u. 22) zum höchsten Lebensziel und ihn zu ihrem eigen (523,26 u. 28) erklärt. Folgerichtig flicht er in die Rede, die er an den Fährmann Plippalinot richtet, ein Zitat aus Walthers Saget mir ieman, waz ist minne (L 69,1) ein, wobei er freilich den Frage- in einen Aussagesatz verwandelt: diu mir diz ungemach gebôt, / diu kan wol süeze siuren (547,14 f.; „Die Frau, der ich diese Prüfung verdanke, kann wirklich alle Süßigkeit verbittern“). In diesem Ton geht es auch hier weiter, und der Erzähler weist sogar direkt auf die Folie hin, vor der er die Liebe Gawans zu Orgeluse gestaltet: maneger hât von minnen sanc, / den nie diu minne alsô getwanc. (587,7 f.; „Von Liebe singt schließlich gar mancher, den ihre Allgewalt längst nicht so wie Gawan bezwang“). Offenbar rekurriert der Parzival, das scheint mir nach diesem Durchgang durch den Text festzustehen, inhaltlich immer wieder auf die Liedlyrik des Minnesangs. Von dieser Basis aus möchte ich nun Erkundungen auf einem eher unübersichtlichen Gelände unternehmen und fragen, ob Wolframs Roman nicht auch auf der Formebene lyrische Züge aufweist. In diesem Zusammenhang ist zunächst einmal eine Grundtatsache mittelalterlicher Literatur zu notieren: Ihre narrativen Texte sind nahezu ausnahmslos in Versen oder Strophen abgefasst. Für Mediävisten ist das offenbar derart selbstverständlich, dass sie, wenn ich recht sehe, nur ausnahmsweise darüber
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nachdenken, was dieses formale Kleid eigentlich für das Erzählen bedeutet. Die eine Ausnahme stellt die Diskussion um die Mündlichkeit der mittelalterlichen Literatur dar, in der Verse und Strophen wahlweise als Memorieroder als Rezeptionshilfe gedeutet werden. Die andere Ausnahme stellt die Gattungsdiskussion dar, die Vers und Strophe als Indikatoren dafür auffasst, ob ein Text eher der Heldenepik oder doch dem Roman zugehört. Im Rahmen meiner Ausführung wäre allerdings eine andere Perspektive einzunehmen, die ich probeweise ‚Poetik des mittelhochdeutschen Reimpaarverses‘ nennen möchte. Zunächst einmal wäre also zu konstatieren, dass der Parzival in Reimpaarversen verfasst ist. Mithin handelt es sich bei ihm um einen metrisch geformten Text, was bedeutet, dass neben die Ebene der Semantik auch die des Klangs tritt. Letzterer ereignet sich vor allem im Reim. Der Klang beeinflusst die Rezeption des Textes, und das verbindet den Ritterroman mit dem Minnelied. Zugleich hängt es aber auch vom Rezipienten ab, ob er sich eher dem Klang überlässt oder ob er sich eher auf den Fortgang der Narration konzentriert. Im Vergleich etwa zum Tristan42 spielt der Parzival den Klang auch nicht in den Vordergrund. Des Weiteren stellt der Reimpaarvers eine eigene Struktur bereit, in die die Inhalte der Erzählung gegossen werden. Zu untersuchen ist dabei zum einen das Verhältnis von Syntax und Vers.43 Mustert man die eben zitierten drei Stellen aus dem Parzival hierauf, erhält man folgendes Ergebnis: In 24 von 26 Versen stimmen Vers- und Satz(teil)grenze überein, nur in zwei Versen läuft der Satz über die Versgrenze hinweg. Aufs Ganze gesehen dürfte das Enjambement im Roman zwar etwas häufiger vorkommen, dennoch ergibt sich kein Befund, der gegenüber dem Minnesang insgesamt irgendwie signifikant wäre, wo Satz- und Versgliederung ebenfalls einmal ineinandergreifen und einmal gegeneinanderlaufen.44 Zum anderen ist zu prüfen, inwiefern die Wortfolge eine Rhythmisierung oder gar Alternation erlaubt. Ich gehe also mit Christian Wagenknecht davon aus, dass die Verse des höfischen Romans nicht einfach als Vierheber aufgefasst werden können, sondern als Verse mit Endreim, die
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43 44
Vgl. hierzu zuletzt Bleumer (Anm. 2), bes. S. 40–46, 56–60, und Christian Kiening: Ästhetik des Liebestodes. Am Beispiel von Tristan und Herzmaere. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/ Christopher Young, Berlin, New York 2007 (TMP 12), S. 171–193, hier S. 180–184. Am Beispiel der Lyrik Lamping (Anm. 4), S. 41–44, und Warning (Anm. 5), S. 24. Für Wolframs Lieder vgl. Olive Sayce: Die Syntax der Lieder Wolframs. In: Gärtner/ Heinzle (Anm. 14), S. 535–548.
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sich auf einen geregelten Bau erst hinbewegen.45 Im ersten Beispiel lassen sich freilich sämtliche Verse als regelmäßige Vierheber lesen, wobei man allerdings konzedieren muss, dass der Auftakt ungeregelt bleibt und dass öfter eine Senkung auf einen langen Vokal fällt.46 Sehr viel schwieriger hat man es im zweiten Beispiel, wo sich nur drei der insgesamt neun Verse glatt als Vierheber lesen lassen: der zweite, der fünfte und der achte. Alle anderen sind entweder über- oder unterfüllt,47 oder sie lassen eine Senkung vermissen.48 Im dritten Zitat sind es dann wieder nur der siebte und der neunte Vers, die sich gegen das Schema sperren. Ob man dieses hohe Maß an Regellosigkeit, wie es vor allem im zweiten Beispiel hervortritt, als Entfernung vom oder als Annäherung an den Minnesang versteht, ist Interpretationssache. Denn man könnte einerseits argumentieren, dass der geringe Grad an rhythmischer Regulierung den Roman vom Minnesang absetzt, man könnte aber auch sagen, dass ihn der versweise Wechsel der Hebungszahl diesem annähert. Letztere Deutung fordert eine weitere Passage heraus, die sich im 15. Buch und also am Ende der Joflanze-Handlung findet. Exakt einen Dreißiger nimmt dort Feirefiz’ Aufzählung jener Ritter ein, die er bisher besiegt hat:
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Vgl. Christian Wagenknecht: Die Quadratur des Kreises – Zur Lehre von der Vierhebigkeit des Reimpaarverses. In: Runica – Germanica – Mediaevalia. Hrsg. von Wilhelm Heizmann/Astrid van Nahl, Berlin, New York 2003 (Ergänzungsbände zum RGA 37), S. 892– 904. Eine solche Deutung der Verhältnisse legt im Grunde auch die vergleichende Untersuchung nahe, die William Jervis Jones: rîmen, die sich zeinander lîmen. Ansätze zur computergestützten Analyse des mittelhochdeutschen Reimpaarverses. In: ZfdPh 110 (1991), S. 384–406, angestellt hat und die noch bei den ‚Klassikern‘ erhebliche Variationen in der Bauform der Verse feststellt. Jones selbst hält hingegen noch an der Sichtweise der älteren mediävistischen Forschung fest und arbeitet mit dem Konstrukt der Füllungsfreiheit (S. 385, 390–392). Auch Helmut Lomnitzer: Beobachtungen zu Wolframs Epenvers. In: Probleme mittelhochdeutscher Erzählformen. Marburger Colloquium 1969. Hrsg. von Peter F. Ganz/Werner Schröder, Berlin 1972, S. 107–132, verteidigt zunächst die Annahme eines vierhebigen Verses für Wolfram trotz aller damit verbundenen Probleme, die er auf die Schreiber auslagert, um dann doch die Möglichkeit fünfhebiger Verse und insgesamt eine große Flexibilität des Versbaus zu konzedieren. Was beides völlig normal ist. Für den Auftakt zeigt das die Statistik von Jones (Anm. 45), S. 405: Zwar bevorzugt der Parzival den einsilbigen Auftakt, doch kommen um die 40 Prozent der Verse ohne Auftakt aus oder verwenden zweisilbigen Auftakt. Überfüllt ist der Vers 287,9: unversunnen hielt dâ Parzivâl. Unterfüllt sind hingegen die Verse 287,11: und ouch diu strenge minne, 287,15: wil si mich alsus twingen, 287,16: unt selten hilfe bringen sowie 287,18: und von ir trôste vliehen. Eine Senkung zwischen nimt und sinne fehlt im Vers 287,12: diu mir dicke nimt sinne. Für den Vers 287,14: ach nôt ein wîp an mich legt muss man entweder auch das Fehlen einer Senkung zwischen mich und legt konstatieren oder den gesamten Vers gegen den Wortakzent betonen und die Hebungen auf ach, ein, an und legt legen.
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Der künec Papirîs von Trogodjente, und der grâve Behantîns von Kalomidente, der herzoge Farjelastis von Affricke, und der künec Liddamus von Agrippe, der künec Tridanz von Tinodonte, und der künec Amaspartîns von Schipelpjonte, der herzoge Lippidîns von Agremuntîn, und der künec Milôn von Nomadjentesîn, von Assigarzîonte der grâve Gabarîns, und von Rivigitas der künec Translapîns, und Hiberborticôn der grâve Filones, und von Centriûn der künec Killicrates, der grâve Lysander von Ipopotiticôn, und der herzoge Tiridê von Elixodjôn, von Orastegentesîn der künec Thôarîs, und von Satarchjonte der herzoge Alamîs, der künec Amincas von Sotofeititôn, und der herzoge von Duscontemedôn, von Arâbîe der künec Zarôastêr, und der grâve Possizonjus von Thilêr, der herzoge Sennes von Narjoclîn, und der grâve Edissôn von Lanzesardîn, von Janfûse der grâve Fristines, und von Atropfagente der herzoge Meiones, von Nourjente der herzoge Archeinor, und von Panfatis der grâve Astor, die von Azagouc und Zazamanc, und von Gampfassâsche der künec Jetakranc, der grâve Jûrâns von Blemunzîn, unt der herzoge Affinamus von Amantasîn (Parz. 770,1–30).
Es sind dies der König Papiris von Trogodjente, der Graf Behantins von Kalomidente, der Herzog Farjelastis von Affricke, der König Liddamus von Agrippe, der König Tridanz von Tinodonte, der König Amaspartins von Schipelpjonte, der Herzog Lippidins von Agremontin, der König Milon von Nomadjentesin, der Graf Gabarins von Assigarzionte, der König Translapins von Rivigitas, der Graf Filones von Hiberborticon, der König Killicrates von Centriun, der Graf Lysander von Ipopotiticon, der Herzog Tiride von Elixodjon, der König Thoaris von Oraste Gentesin, der Herzog Alamis von Satarchjonte, der König Amincas von Sotofeititon, der Herzog von Duscontemedon, der König Zaroaster von Arabie, der Graf Possizonjus von Thiler, der Herzog Sennes von Narjoclin, der Graf Edisson von Lanzesardin, der Graf Fristines von Janfuse, der Herzog Meiones von Atropfagente, der Herzog Archeinor von Nourjente, der Graf Astor von Panfatis, die Könige von Azagouc und Zazamanc, der König Jetakranc von Gampfassasche, der Graf Jurans von Blemunzin und der Herzog Affinamus von Amantasin.
Die Kommentare zu dieser Stelle beschäftigen sich damit, die Herkunft des Namensmaterials nachzuweisen. Sie bleiben – wer hätte es gedacht – ohne rechtes Ergebnis.49 Ich möchte mich hingegen einem Aspekt zuwenden, der noch nicht weiter beachtet worden ist: der eigenartigen Form dieses Inserates. Dieses ragt schon dadurch aus dem Kotext heraus, dass die Verse länger sind als sonst im Roman. Dort zählen die Verse zwischen fünf/sechs und neun/zehn Silben, was einen Durchschnitt von 7,7 Silben pro Vers ergibt.50 49
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Vgl. dazu die Bilanz der älteren Forschung durch Eberhard Nellmann: Kommentar. In: Wolfram von Eschenbach. Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Dems., übertragen von Dieter Kühn, Bd. 2, Frankfurt a. M. 2006 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 7), S. 411–790, hier S. 764. Diese Angaben nach Jones (Anm. 45), S. 405, der außerdem zeigen kann, dass die Verslänge im Parzival sonst vergleichsweise stark normiert ist (S. 400).
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Hier hingegen umfassen die Verse zwischen neun und vierzehn Silben, womit der Durchschnitt bei 11,7 liegt. Von der Zielform des Vierhebers sind sie also denkbar weit entfernt. Zudem lassen sie sich möglicherweise in Daktylen bringen. Denn der Wortakzent des neunmal vorkommenden herzoge gibt einen Daktylus vor – eine Vorgabe, die der restliche Vers dann aufnehmen kann: der herzoge Sennes von Narjoclîn (770,21). Bei aller Unsicherheit über die metrische Gestaltung der Passage, die daraus resultiert, dass sie vor allem aus Phantasienamen besteht, deren Betonung offen ist, scheint mir ihre Sonderstellung im Kontext des Romans doch zweifelsfrei festzustehen. Sie beruht zum einen auf der Form, zum anderen darauf, dass die Stelle eine reine Aufzählung enthält und also nicht narrativ ist. Auch könnte man überlegen, ob nicht der Freiheit des Versmaßes eine solche der Phantasienamen entspricht und ob der Text sich also an dieser Stelle nicht eines Verfahrens der referenzlosen Weltkonstitution bedient, das eher für Lyrik charakteristisch ist.51 Dazu passt es, dass man die Stelle als spielerische Verfremdung desjenigen Modus epischen Erzählens verstehen könnte, der im Aufzählen von Namen besteht und dessen Modell der Schiffskatalog der Ilias darstellt. Indem hier allerdings nur Material verwendet wird, das sich nicht auf eine bekannte Realität beziehen lässt, wird dieser seiner überkommenen Funktionen – zu umreißen durch Stichworte wie Wissen, Autorität und Memoria – entkleidet und ist so offen für eine neue Funktionalisierung, die auf der Seite der Formspiels liegt. Hier lässt sich eine weitere Beobachtung anschließen: Der Reimpaarvers endet, das sagt ja schon der Begriff, mit einem Reim. Jeder Reim zwingt aber, so schon Roman Jakobson, die Reimwörter zu einem Paradigma zusammen und erzeugt so Sinneffekte jenseits der Syntagmatik.52 Selbstredend nutzt nicht jedes Reimpaar diese Möglichkeit mit voller Intensität, etwa weil die Reimwörter semantisch blass bleiben oder weil ihre Verbindung schlechterdings keinen Sinn ergibt. Dennoch lohnt es sich, beim Parzival einmal auf die Reimwörter zu achten, was ich anhand des Erzähleinsatzes demonstrieren möchte, der die Enterbung Gahmurets wie folgt erklärt: 51
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Vgl. die (wohl zu weitgehende) Interpretation der Namensstrophe in Konrads von Kilchberg Lied KLD V durch Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148), S. 173 f. Zum Namenkatalog im Parzival vgl. auch Elisabeth Schmid: Semantische Illusionen. Zu einigen Namen bei Wolfram von Eschenbach. In: GRM N. F. 28 (1978), S. 291–309, hier S. 303–306, die die Namen im Kern ebenfalls für „Zeichen, die auf nichts außer sich verweisen“ (S. 306), hält, auch wenn sie überlegt, ob nicht einige der Namen doch semantische Assoziation ermöglichten. Vgl. bei Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. von Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1993 (stw 262), S. 83–121, hier bes. S. 94; dazu auch Lamping (Anm. 4), S. 48, und Warning (Anm. 5), S. 23.
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swer ie dâ pflac der lande, der gebôt wol âne schande (daz ist ein wârheit sunder wân) daz der altest bruoder solde hân sîns vater ganzen erbeteil. daz was der jungern unheil, daz in der tôt in pflihte brach als in ir vater leben verjach. dâ vor was ez gemeine: sus hâtz der alter eine. daz schuof iedoch ein wîse man, daz alter guot solde hân. jugent hât vil werdekeit, daz alter siuften unde leit. ez enwart nie niht als unvruot, sô alter unde armuot. künge, grâven, herzogen, (daz sag ich iu vür ungelogen) daz die dâ huobe enterbet sint unz an daz elteste kint, daz ist ein vremdiu zeche. der kiusche und der vreche Gahmuret der wîgant verlôs sus bürge unde lant, dâ sîn vater schône truoc zepter unde crône mit grôzer küneclîcher craft, unz er lac tôt an ritterschaft. (Parz. 5,1–28)
Der Herrscher von diesem Lande konnte, ohne sich dessen schämen zu müssen, verfügen, daß das gesamte väterliche Erbteil dem ältesten der Brüder zufalle. Für die jüngeren Brüder war es natürlich ein Unheil, daß ihnen der Tod des Vaters den Anteil entzog, der ihnen zu seinen Lebzeiten zustand. Worüber erst alle gemeinsam verfügten, gehörte nun einem einzigen. Gewiß hat es ein recht weiser Mann so eingerichtet, daß Alter Besitz haben soll, denn wenn die Jugend viele Vorzüge hat, so bringt das Alter Seufzer und Leid mit sich. Und nichts ist schlimmer als Alter und Armut zugleich. Daß nun aber, außer dem ältesten Sohn, Könige, Grafen und Herzöge vom Erbe ausgeschlossen werden, ist eine merkwürdige Einrichtung, das dürft ihr mir glauben. Durch diese Rechtsbestimmung verlor der gefaßte, doch kühne Held Gachmuret alle Burgen und das Land, in dem sein Vater glanzvoll und mit großer königlicher Machtvollkommenheit Zepter und Krone getragen hatte, bis er ihn ritterlichem Kampf den Tod fand.
Zunächst legen die drei aufeinander folgenden Reimpaare lande /schande (5,1 f.), wân /hân (5,3 f.) und erbeteil /unheil (5,5 f.) jedes für sich eine Kritik der Einerbenregelung nahe, welche auf der syntagmatischen Ebene so nicht vermittelt oder sogar dementiert wird. Denn dort heißt es beispielsweise âne schande (5,2) oder sunder wân (5,3). Trotzdem wird man sagen dürfen, dass die ‚Wahrheit‘, blickt man auf die folgende Geschichte, eher in der Paradigmatik als in der Syntagmatik steckt. An dieser Stelle spricht sie, schaut man auf die Syntagmatik, aber allenfalls der Satz: daz was der jungern unheil (5,6) aus.53 In den Fällen von gemeine /eine (5,9 f.) und werdekeit /leit (5,13 f.) arbeitet der Reim jeweils die Antithese nach, die das entsprechende Verspaar formuliert. Auch die Verbindung unvruot /armuot (5,15 f.) erweist sich als aussagekräftig, und in zeche /vreche (5,21 f.) tritt das Adjektiv vreche (5,22) neben das grammatikalisch zum Substantiv zeche gehörige Attribut vremdiu
53
Zur Ambivalenz in der Beurteilung der Einerbenregelung vgl. Noltze (Anm. 38), S. 36, 217 f.
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und unterstreicht die in diesem bereits formulierte Distanz (5,21). Und bei der Kombination wîgant /lant (5,23 f.) könnte man überlegen, ob sie nicht bereits Gahmurets spätere Existenz als Eroberer enthält. Ich breche hier ab und äußere nur den Verdacht, dass sowohl der Parzival als auch andere mittelalterliche Erzähltexte den Reim bewusst zur Erzeugung zusätzlicher semantischer Effekte nutzen und dass entsprechende Analysen durchaus weiteren Ertrag versprechen. Damit bin ich bei der Bilanz dieses Abschnittes angelangt: Auch wenn man vom Parzvial aus auf den Minnesang und damit auf die Lyrik blickt, rücken beide Gattungen nahe zusammen. Zum einen rekurriert der Roman regelmäßig auf den Minnesang, zum anderen weist er als metrisch geformter Text Analogien zur Lyrik auf. IV. Differenzen und Skalierung der Gattungen: eine Zwischenbilanz Sind Wolframs Tagelieder also, mit Sarah Kay gefragt, kurze Romane? Oder handelt es sich bei seinem Parzival eigentlich um ein langes Minnelied? Ich denke, man wird beide Fragen entschieden verneinen müssen, weil bei aller Verwandtschaft doch grundlegende Differenzen zwischen Lied und Roman, zwischen lyrischen und epischen Texten bestehen bleiben. Ich setze zunächst bei der narratologischen Beschreibung der Tagelieder an. Eine erste Differenz zeigt sich hier bei der Fokalisierung: Während die Tagelieder durchgehend intern fokalisiert sind, arbeitet der Parzival auch mit Nullfokalisierung. Schließlich erzählt er ja die Geschichte eines Helden, der, anders als der Erzähler, weder seinen Namen noch seine Herkunft kennt. Auch ist die Erzählerrolle, das wäre die zweite Differenz, insofern unterschiedlich gestaltet, als nur der Roman das pronominale Hervortreten des Erzählers kennt, nicht aber das Tagelied. Das ist deswegen erstaunlich, weil der Minnesang zu einem überwiegenden Teil Ich-Rede ist und sich von hier aus eine Ausgestaltung der Erzählerinstanz eigentlich angeboten hätte. Wechselt man auf die Ebene der Semantik – dritte Differenz –, ist zu konstatieren, dass die Ehe in den Tageliedern zwar anempfohlen, nicht aber erzählt werden kann, was sich aus der spruchhaften Sprechhaltung von Der helden minne ergibt. Dagegen erzählt der Parzival sowohl von der Ehe Gahmurets als auch von der Parzivals, wenn auch nicht eben besonders viel. Blickt man umgekehrt auf den Parzival, lässt sich rasch erkennen, dass die Minne-Semantik durch den Einbau in eine Romanhandlung tiefgehend umgestaltet wird. Das zeigt sich gleich bei Gahmurets Ankunft in Zazamanc:
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die clageten al gelîche Isenharten, der den lîp in dienste vlôs umbe ein wîp. des twang in Belacâne, diu süeze valsches âne. daz si im ir minne nie gebôt, des lag er nâch ir minne tôt. Den râchen sîne mâge […] (Parz. 16,4–11).
Dort beklagte man allenthalben Isenhart, der sein Leben im Ritterdienst für eine Frau verloren hatte. Die liebliche, tugendreiche Belakane hatte ihn in den Tod getrieben. Und zwar brachte ihm die Liebe zu ihr den Tod, da sie ihm die ihre versagte. Dafür nahmen nun seine Verwandten Rache […].
Die Geschichte Isenharts erzählt das aus, was im Minnesang nur angelegt ist. Der Ritter dient Belakane, die zwar als süeze valsches âne (16,8) attribuiert wird, ihm aber ir minne (16,9) versagt und so seinen Tod herbeiführt. Während der Sänger im Minnesang seinen Tod immer nur androht, tritt er hier tatsächlich ein; und da die Minnesituation im Roman nicht isoliert ist, fühlen sich die Verwandten des Liebhabers zur Rache aufgefordert. Folglich bereut es Belakane, sich Isenhart zu lange verweigert und ihn dadurch zu seiner verderblichen Mutprobe, dem Kampf ohne Rüstung, provoziert zu haben. Dass sich Gahmuret zwischen den drei Königinnen Belakane, Ampflise und Herzeloyde zu entscheiden hat, spricht der Exklusivität der Liebesbeziehung Hohn, die der Minnesang stets einfordert. Dass der Rahmen eine so zentrale Prämisse der Hohen Minne negiert, wirkt sich aber auch auf die eingelagerte Minnesemantik aus: Er [Gahmuret, M. B.] hete iedoch von jâmer pîn. dô was des abrillen schîn zergangen, dar nâch komen was kurz cleine grüene gras. daz velt was gar vergrüenet; daz bloediu herzen küenet und in gît hôchgemüete. vil boume stuont in blüete von dem süezen luft des meien. sîn art von den feien muose minnen oder minne gern. des wolte in vriundîn dâ gewern. (Parz. 96,11–22)
Er litt aber noch immer unter seinem Schmerz. Nun war jedoch der April bereits vergangen. Das erste Gras sproß, und die Flur ergrünte, was selbst schüchterne Herzen ermutigt und mit Frohsinn erfüllt. Die linden Mailüfte brachten viele Bäume zum Blühen, und Gachmurets Abkunft von den Feen ließ ihn Liebe fühlen oder nach ihr verlangen.
Dass man von jâmer pîn (96,11) empfindet, gehört zur Hohen Minne. Doch Gahmuret leidet nicht an der Zurückweisung durch eine Dame – die Frauen buhlen vielmehr um seine Gunst –, sondern er trauert um seinen Bruder Galoes, von dessen Tod er soeben erst erfahren hat. Die frühlingshafte Natur verändert denn auch die Stimmung des Protagonisten und erklärt, warum Gahmuret trotz des Trauerfalls schon wieder liebt. Dass die
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Liebesbereitschaft, die sich auch der feenhaften Abstammung verdankt, auf Resonanz der vriundîn (96,22) stößt, steht ebenfalls im Kontrast zur Hohen Minne. Dieser widerspricht es auch, wenn Gahmuret Herzeloyde erklärt: ‚vrouwe, sol ich mit iu genesen, sô lât mich âne huote wesen, wan verlât mich immer jâmers craft, sô taete ich gerne ritterschaft […]‘ (Parz. 96,25–28).
„Gebieterin, wenn ich mich an Eurer Seite glücklich fühlen soll, so laßt mir meine Freiheit. Habe ich meinen Schmerz erst überwunden, so werde ich mich sicher nach ritterlichen Kampfestaten sehnen […].“
Die huote (96,26) hindert hier nicht etwa die Frau am Umgang mit dem Mann, sondern sie wird von ihr selbst ausgeübt, um den Mann bei sich zu halten. Entsprechend verbittet sie sich Gahmuret in seinem Drang nach ritterlicher Bewährung – ein Grundmotiv des Artusromans –, und er verleiht seiner Bitte dadurch Nachdruck, dass er Herzeloyde androht, sie andernfalls gleich wieder zu verlassen. Die Differenz ist an dieser Stelle derart groß, dass in Frage steht, ob das huote-Konzept des Parzival das des Minnesangs überhaupt noch aufruft. Auch in der Parzival-Handlung erscheint die Semantik des Minnesangs nur in gebrochener Form. So meldet sich der Held am Stadttor Pelrapeires mit den Worten: […] ‚vrouwe, hie habt ein man der iu dienet, ob ich kan. iuwer gruoz sol sîn mîn solt: ich bin iu dienstlîchen holt.‘ (Parz. 182,25–28)
[…] „Edle Frau, hier steht ein Mann, der Euch nach Kräften helfen will. Mein Lohn sei Euer Gruß. Ich stehe Euch zu Diensten!“
Die Aussage, wonach der Dienst mit einem Gruß zu belohnen ist, stellt geradezu die Grundformel des Minnesangs dar; hier jedoch bleibt sie, an ein beliebiges Burgfräulein gerichtet, bloße Grußformel. Immerhin verschafft sie Parzival Zutritt zur Stadt, und schon bevor er irgendwelche Dienste geleistet hat, kommt es zu einer invertierten Tageliedsituation: Am Ende der Nacht, die Condwiramurs und Parzival in Sorgen, aber ohne Sex verbracht haben, muss die Frau den Mann verlassen. Und als Parzival Kingrun besiegt und Condwiramurs geheiratet hat, verbringen die beiden ihre Hochzeitsals Tobiasnacht, was den Erzähler zu folgenden Reflexionen veranlasst: er lac mit sölhen vuogen, des nu niht wil genuogen mangiu wîp, der in sô tuot. daz si durch arbeitlîchen muot ir zuht sus parrierent und sich dergegen zierent!
Er lag aber so sittsam neben ihr, daß heutzutage viele Frauen mit solch einem Manne unzufrieden wären. Ach, daß sie heute nur daran denken, sich aufreizend zu schmücken, und damit alle gute Erziehung verleugnen.
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vor gesten sint si an kiuschen siten: ir herzen wille hât versniten swaz mac an den gebaerden sîn. ir vriunt si heinlîchen pîn vüegent mit ir zarte. des mâze ie sich bewarte, der getriuwe staete man wol vriundinne schônen kan. er denket, als ez lîhte ist wâr, ‚ich hân gedienet mîniu jâr nâch lône diesem wîbe, diu hât mîme lîbe erboten trôst: nu lige ich hie. des hete mich genüeget ie, ob ich mit mîner blôzen hant müese rüeren ir gewant. ob ich nu gîtes gerte, untriuwe es vür mich werte. solte ich si arbeiten, unser beider laster breiten? vor slâfe süeziu maere sint vrouwen site gebaere.‘ sus lac der Wâleise: cranc was sîn vreise. (Parz. 201,21–202,20)
Vor Fremden spielen sie die Keusche, doch ihr eigentliches Verlangen straft dies heuchlerische Gehabe Lügen. Mit aufreizendem Wesen quälen sie den Liebenden. Ein treuer, ehrenfester Mann, der Maß zu halten weiß, ist rücksichtsvoll zu seiner Geliebten. Er denkt – und das ist recht so –: „Ich habe dieser Frau Jahr um Jahr in Hoffnung auf Liebeslohn gedient. Nun hat sich mein Sehnen erfüllt; ich liege neben ihr. Dabei wäre ich zufrieden gewesen, mit der Hand ihr Gewand berühren zu dürfen. Verlangte ich jetzt gierig mehr, so handelte ich unrecht und falsch. Warum soll ich sie in Gewissenskonflikte und uns beide in Schande stürzen? Mit edlen Frauen sollte man vor dem Schlafengehen lediglich zärtlich plaudern!“ So lag also unser Jüngling aus Valois, den man den Roten Ritter nannte, still und zufrieden neben ihr.
Die Ausführungen setzen mit einer Kritik der Frauen ein, die mit Parzivals Zurückhaltung unzufrieden wären, weil sie verdorben sind und die Keuschheit nur nach außen hin hochhalten. Die Männer sind dagegen vorsichtig, weil sie nach langem entbehrungsreichen Dienst gar nichts mehr zu hoffen wagen als eine Berührung des Kleidersaums oder eine Gutenachtgeschichte. So wie sich der Erzähler über seinen sexuell unerfahrenen Helden lustig macht, macht er sich hier auch über die Semantik der Hohen Minne lustig, die, ins wirkliche Leben versetzt und auf eher abgebrühte Frauen angewandt, deplatziert wirkt. Auch an der Geschichte Gawans und Orgeluses ließen sich verschiedene Veränderungen an der Minnesemantik aufzeigen, die durch die neue Kotextualisierung erzeugt werden. So ist Orgeluses Verhalten eben nicht einfach Ausfluss ihres Wesens, sondern die Folge ihrer Leidensgeschichte und ihres Rachewunsches.54 Und so erreicht Gawan nach allen Proben und Kämpfen jenes Ziel, das im Werbelied immer nur anvisiert wird: die rehten hirzwurz, […]. Diu […] bî dem blanken brûn (643,28–644,1; „das rechte Hirschkraut, […]; das Kraut war dunkel auf hellem Grund.“) ist. Der Parzival verändert 54
Vgl. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart, Weimar 2004 (SM 36), S. 160, und Friedrich Michael Dimpel: Dilemmata. Die Orgeluse-Gawan-Handlung im Parzival. In: ZfdPh 120 (2001), S. 39–59, hier S. 43–47.
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also die Semantik des Minnesangs, indem er das dort Ausgesparte ergänzt und es in neue Kotexte beziehungsweise in vollständige Geschichten einbaut. Mitunter parodiert er das Modell der Hohen Minne gar. An diesem Punkt möchte ich innehalten und grundsätzlicher fragen, was die Beschreibung einer semantischen Kontaktzone zwischen Wolframs Parzival und seinen Tageliedern für die Frage nach dem Verhältnis von Lyrik und Epik überhaupt erbringt. Am ehesten wird man sich noch auf die Aussage einigen können, dass die semantische Nähe einen veranlassen könnte, beide Text(gruppen) zueinander in Beziehung zu setzen. Schon fraglicher ist dagegen, ob die angeführten Beobachtungen für eine bewusste Bezugnahme sprechen oder ob sie sich nicht eher der Partizipation an den übergeordneten Themen- und Diskursfeldern ‚Ehe‘ und ‚Minne‘ verdanken. Ich selbst halte die Verknüpfung der Hohen Minne mit dem Minnesang für so eng und zumindest einen Teil der entsprechenden Formulierungen für so spezifisch, dass ich die angeführten Parzival-Stellen durchaus als Anspielungen auf den Minnesang verstehe. Auch das trägt freilich nichts für die Frage nach dem Profil der Gattungen Lyrik und Epik bei, denn diese könnten ein- und dieselbe Semantik ja auf ganz unterschiedliche Weise darbieten. Die systematische Frage nach dem Status lyrischer und epischer Texte lässt sich durch die Untersuchung der Semantik also nicht beantworten, doch liefert diese immerhin ein Indiz für deren Berechtigung. Anders sieht es dagegen aus, wenn man das Verhältnis von Lyrik und Epik in literaturgeschichtlicher Hinsicht betrachtet. Denn für die Geschichte der Gattungen, verstanden als Geschichte ihrer Relation, besitzen solche semantischen Annäherungen durchaus Relevanz. Für die theoretische Frage ist die Entscheidung hingegen auf der Ebene der Form zu suchen. Auch hier ergeben sich Berührungspunkte zwischen Lyrik und Epik insofern, als auch der Parzival sich des Verses sowie des Reims bedient und sich damit in eine Form kleidet, die man zunächst einmal als lyrische Form verstehen kann, zumal der Text beide Verfahren offenbar bewusst nutzt. Trotzdem unterscheidet sich ein Text, der durchgehend in Reimpaarversen abgefasst ist, deutlich von einem Lied, das in Kanzonenform gebracht ist. Bei der Kanzone handelt es sich zwar auch um ein Bauschema, doch eröffnet es einen viel weiteren Raum für Variationen als das Reimpaar. Damit liegt aber auch ein stärkerer Akzent auf der Form, als das beim Roman der Fall ist. Außerdem vermag ein Text, dessen Strophen wie im Falle der Wolfram’schen Tagelieder zwischen zehn und fünfzehn Verse umfassen, die poetische Funktion ganz anders zur Geltung zu bringen als einer, der dafür nur über die beiden benachbarten Verse eines Reimpaares verfügt.55 Die letzte Differenz, die ich benennen möchte, besteht im Bereich 55
Zur Form der Wolfram’schen Tagelieder vgl. bei Wapnewski (Anm. 14), S. 22–25, 52–61, 96–101, 122–124, 148–152.
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der Pragmatik. Zwar wird man für die Lieder wie für den Roman zunächst einmal einen mündlichen Vortrag annehmen dürfen, doch unterscheidet sich eine Stimme, die als Gesang erscheint und von Musik begleitet wird, erheblich von einer reinen Sprechstimme.56 Auf den Vortrag bezogen, gewinnt auch das Merkmal der Textlänge an Bedeutung. Für eine Gattungsdefinition, die auf Systematik setzt, ist das Kriterium des Textumfangs problematisch,57 doch übersetzt man Länge in die Dauer eines Vortrags, so macht sie durchaus einen Unterschied. In Verlängerung solcher Befunde halte ich es für wichtig, transgenerische Fragestellungen nur im Bewusstsein der grundsätzlichen Differenz von Lyrik und Epik zu verfolgen. Vor diesem Hintergrund können Bestrebungen, diese Grenze probeweise zu überspielen, aber durchaus ertragreich sein. So überzeugt – erstens – das forschungspraktische Argument, die Lyrik könne von der Erzählforschung lernen und mit Hilfe von deren Beschreibungsinventaren die Präzision der Textanalysen erhöhen.58 Der Verfremdungseffekt, den die transgenerische Perspektive erzeugt, könnte zweitens dazu anregen, bestens bekannte Texte wie den Parzival in einem anderen Licht und damit neu zu sehen. Von hier aus könnte man dann auch zu grundsätzlicheren literaturtheoretischen Fragen wie der vorstoßen, was die Vers- und Strophenform eigentlich für das Erzählen bedeutet. Drittens könnte ein Ansatz, der die Differenz der Gattungen von einem Faktum in eine Frage überführt, literaturgeschichtliche Untersuchungen anregen, die das Verhältnis von Lyrik und Epik in verschiedenen Epochen zu bestimmen und mögliche Unterschiede zu erklären versuchen. Die mittelalterliche Literatur etwa zeichnet sich dadurch aus, dass lyrische und epische Texte hier vergleichsweise nah nebeneinander stehen. Gründe hierfür kann man auf unterschiedlichen Ebenen suchen, man könnte etwa auf die Identität der Autoren und wohl auch der Publika verweisen oder auf die Mündlichkeit, in der sowohl die Lyrik als auch die Epik leben und die letzterer formale Strukturen wie Vers und Reim nahelegt, die später allein der Lyrik zugehören. Gerade um die vielfältigen Möglichkeiten der Frage, die dem Überspielen der Grenze von Lyrik und Epik gilt, nutzen zu können, scheint es mir jedoch nicht sinnvoll, diese Grenze von vornherein sehr schwach zu markieren. Dazu neigen jedoch einige der Arbeiten, wie sie Peter Hühn, Jörg Schönert und andere Narratologen vorgelegt haben.59 In der Praxis der Textanalyse und Textinterpretation entsteht der entsprechende Eindruck 56 57 58 59
Vgl. die spekulativen Überlegungen zum Vortrag der Tagelieder bei Mertens (Anm. 9). Vgl. Lamping (Anm. 4), S. 87 f.; Wolf (Anm. 5), S. 67. Vgl. zu diesem Anspruch Hühn/Schönert (Anm. 5), S. 1, 3; Dies. (Anm. 7), S. 288; Müller-Zettelmann (Anm. 7), S. 131 f.; Simon (Anm. 7), S. 50. Dem widerspricht es nicht, dass auch Hühn/Schönert (Anm. 7), S. 302, auf „Differenzen“ zwischen beiden Gattungen verweisen. Diese sehen sie aber vorwiegend darin, dass lyrische Texte anders erzählen als narrative.
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dadurch, dass der Fokus eindeutig auf den narrativen Strukturen der Gedichte liegt, wohingegen deren spezifisch lyrische Faktur kaum einmal in Blick kommt. Was die Theorie anbelangt, wäre hier vor allem die Annahme anzuführen, dass „Erzählen als anthropologisch universelle (kulturen- und epochenübergreifende) Praxis im Strukturieren von Erfahrungen, in der Konstitution von Sinn und im Vermitteln von Bedeutung“ zu verstehen und also „auch als Basisoperation für weite Bereiche von Lyrik anzusetzen sei“.60 Damit das möglich wird, muss Narrativität jedoch rein als „Sequentialität“ bestimmt werden, als „zeitliche Folge von Geschehnissen (meist mentaler oder psychischer, aber auch äußerer, etwa sozialer Art)“.61 Hiermit verwandt ist der Versuch Ralf Simons, lyrische Texte über den Begriff der Handlung zu erschließen.62 Sowohl der Begriff des Erzählens als auch der der Handlung werden dabei aber wesentlicher Konstituenten beraubt: Der Begriff des Erzählens wird zentral auf das Moment der Abfolge ausgerichtet, während das der Abgeschlossenheit, das sich im Präteritum äußert, und das der Transformation, wie es im Begriff des Sujets steckt, nebensächlich werden,63 und der Begriff der Handlung wird weitgehend seiner pragmatischen Dimension entkleidet.64 Wenn man die Lyrik nun derart „als besondere Variationsform des Erzählens“65 modelliert, übergeht man freilich eines ihrer Merkmale, wenn nicht gar ihr wichtigstes Merkmal: ihren besonderen Bezug zur Form. Während eine Vorstudie von Hühn/Schönert diese Dimension unter der Überschrift „Grundmerkmale der Lyrik“66 noch berücksichtigt, scheint sie im weiteren Verlauf des Projekts zunehmend aus dem Blickfeld geraten zu sein. Auf sie würde ich meinen Versuch, Lyrik und Epik voneinander abzusetzen, aber in erster Linie stützen. Wenn man die Möglichkeiten des Men60 61 62 63
64 65 66
Hühn/Schönert (Anm. 5), S. 1. Ebd., S. 2. Vgl. Simon (Anm. 7), S. 50 f. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, 4. Aufl. München 1993 (UTB 103), S. 329–340, konzipiert Sujet als Überschreitung einer Grenze. Zwar rekurrieren Hühn/Schönert (Anm. 5), S. 5 f., hierauf und definieren auch „Geschehenselemente“ als „Veränderung von Eigenschaften, Zuständen oder Konstellationen“ (S. 6), doch wird man genau diesen Bezug häufig abschwächen und diese Definition ausdünnen müssen, wenn man alle Arten lyrischer Texte und mit ihnen sämtliche „innere Phänomene wie Wahrnehmungen, Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen, Erinnerungen, Wünsche, Imaginationen oder Einstellungen“ (S. 10) als narrativ organisiert auffassen will. Der ihm selbst dort innewohnt, wo Handlung als Sprachhandlung gefasst wird, vgl. Alexander Schwarz: Art. „Sprechakt“. In: RLW 3 (2003), S. 484–486. Peter Hühn/Jörg Schönert: Auswertung der Text-Analysen und Schlussfolgerungen zu den Aspekten von Narratologie, Lyrik-Theorie und Lyrik-Analyse. In: Dies./Stein (Anm. 5), S. 311–333, hier S. 312. Allerdings auch hier eher vermittelt, denn Hühn/Schönert (Anm. 7), S. 289–291 (zit. S. 289), sehen Lyrik durch ihre spezifische Kombination von Fremd- und Selbstreferenz ausgezeichnet, zu der wiederum die Form beiträgt.
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schen mustert, Sprache einzusetzen, und wenn man sich dann bemüht, diese den verschiedenen Gattungen zuzuordnen, könnte man zu folgender Unterscheidung kommen: Die Lyrik wird vor allem durch einen spielerischen Umgang mit Dimensionen der Sprache wie Klang, Rhythmus und Reim charakterisiert.67 Eine Reihe weiterer, in Lyrikdefinitionen häufig angeführter Kriterien wie die Mündlichkeit und die Performativität, die Verseinteilung, die Abkoppelung von der Alltagssprache und die semantische Überdetermination sowie die Selbstreferentialität und die Selbstreflexivität lassen sich hiervon ableiten.68 Hinter dem von mir angenommenen ludistisch-formalen Grundimpuls der Lyrik stehen anthropologische und sprachtheoretische Annahmen, insbesondere solche zum Spiel und zum Spracherwerb, die ich hier nicht explizieren kann.69 Das zentrale Argument wäre, dass die Phase spielerischer kindlicher Lautproduktion, die noch nicht auf Semantik ausgerichtet ist, in der Lyrik in gewisser Weise fortlebt. Recht unmittelbar gilt das für Kinderreime oder Unsinnsverse, die man entsprechend als Beispiele für Lyrik im elementaren Sinn ansehen kann. Hingegen würde ich die Epik auf die Fähigkeit der Sprache zurückführen, sich auf vergangene Ereignisse zu beziehen und sie in eine zeitliche und zudem sinnträchtige Folge zu bringen. Diese Dimension der Sprache prägt sich zunächst in einfachen Alltagserzählungen aus, in denen Sprecher ihre auf irgendeine Weise herausragenden Erfahrungen bzw. Erlebnisse mündlich mitteilen, wobei sie sich an bestimmten Bauschemata orientieren.70 Damit ist keine Definition gefunden, die es erlaubte, jeden Text eindeutig als lyrisch oder episch zu klassifizieren. Wohl aber sollte der Bezug auf sprachliche Grundimpulse, die sich über Jakobsons Unterscheidung verschiedener Sprachfunktionen näher explizieren ließe,71 die Möglichkeit bieten, Texten Tendenzen zuzuweisen.72 Führte man des Weiteren das Konzept 67
Das ist gar nicht neu, schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich Versuche, Lyrik in einem solch elementaren Sinn zu begreifen; vgl. etwa bei Heinz Werner: Die Ursprünge der Lyrik. Eine entwicklungspsychologische Untersuchung, München 1924. Diese Dimension bleibt etwa bei Hühn/Schönert (Anm. 5) ausgeblendet. 68 Vgl. den Katalog bei Wolf (Anm. 5), S. 67–73. 69 Derzeit noch Manuel Braun: Spiel – Kunst – Autonomie. Minnesang jenseits der PragmaParadigmen, Habil. masch. München 2007. 70 Vgl. dazu das klassische Strukturschema von William Labov/Joshua Waletzky: Erzählanalyse. Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jens Ihwe, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1973 (Fischer Athenäum Taschenbücher. Literaturwissenschaft), S. 78–126, sowie die kritische Weiterentwicklung bei Klaus Brinker: Zur Analyse der narrativen Themenentfaltung am Beispiel einer Alltagserzählung. In: Varietäten der deutschen Sprache. FS für Dieter Möhn. Hrsg. von Jörg Hennig/Jürgen Meier, Frankfurt a. M. u. a. 1996 (Sprache in der Gesellschaft 23), S. 279–289. 71 Vgl. Jakobson (Anm. 52). 72 In ähnlicher Weise tritt auch Wolf (Anm. 5), S. 74–76, für eine flexiblere Lyrikdefinition ein, die nicht alle Texte unter ein einziges Kriterium zu zwingen sucht, sondern Merkmal-
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der Dominante, das ebenfalls dem Prager Strukturalismus entstammt,73 in die Diskussion ein, verfügte man über ein Werkzeug, gerade auch mit Zweifelsfällen umzugehen, welche die Grenzen der Gattungen queren.74 Sie sind dann nicht einfach als Lyrik oder Epik zu kategorisieren, sondern auf einer Skala zu verorten.75 Solche Zweifelsfälle entstehen immer dann, wenn sich die Gattungen einander annähern. Annäherungen können von beiden Seiten aus erfolgen, entweder dadurch, dass ‚lyrische‘ Texte den Formaspekt abbauen oder dass sich umgekehrt der ‚narrative‘ Text in eine Form kleidet, die ihn der Lyrik anverwandelt – für beide Möglichkeiten hält die Literaturgeschichte Beispiele bereit. V. Der Titurel als generisches Experiment Eines davon stellt Wolframs Titurel dar, an dessen Gattungsstatus sich die Forschung immer wieder abgearbeitet hat.76 Selbst dort, wo man den Text als „höfische[s] Epos“ anspricht, gilt er als „Sonderfall“77 desselben. Die erste Besonderheit des Titurel besteht in seiner Länge respektive Kürze: Nach Lachmann umfasst er 170 Strophen mit insgesamt 610 Versen, nach den neueren Ausgaben, die die gesamte heute bekannte Überlieferung berücksichtigen, sind es 175 Strophen mit 700 Versen.78 Von langen Leichs, die um die 200 Verse einnehmen, ist der Titurel damit nicht derart weit bündel verwendet, Familienähnlichkeiten beschreibt, wesentliche Tendenzen erfasst und mit historischen Differenzen rechnet. 73 Vgl. Roman Jakobson: Die Dominante. In: Ders. (Anm. 52), S. 212–219; Jan Mukařovský: Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten. In: Ders., Kapitel aus der Ästhetik, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1970 (es 428), S. 7–112, hier S. 18. 74 Auch Wolf (Anm. 5), S. 76, geht es um „a gradation of the lyric as a category that can be fulfilled more or less“ (Hervorhebung im Original). 75 Vgl. ebd., S. 82. 76 Vgl. Hartmut Bleumer: Titurel. Figurationen der Zeit zwischen Narrativik und Lyrik. In: Liebe, Begehren und Tod in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von John Greenfield, erscheint vorauss. Berlin, New York 2011; Walter Haug: Erzählen vom Tod her. Sprachkrise, gebrochene Handlung und zerfallende Welt in Wolframs Titurel. In: Wolfram-Studien 6, Berlin 1980, S. 8–24, hier S. 11; Elke Krotz: Der Leser an der Leine. Zu Wolframs Titurel. In: helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. FS für Wolfgang Walliczek. Hrsg. von Horst Brunner u. a., Göppingen 1999 (GAG 668), S. 167–200, hier S. 181–188; Max Wehrli: Wolframs Titurel, Opladen 1974 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge G 194), S. 7, 12; Ulrich Wyss: Selbstkritik des Erzählers. Ein Versuch über Wolframs Titurelfragment. In: ZfdA 103 (1974), S. 249–289. 77 Bumke (Anm. 54), S. 415. 78 Wolfram von Eschenbach: Titurel. Hrsg., übersetzt und mit einem Stellenkommentar sowie einer Einführung versehen von Helmut Brackert/Stephan Fuchs-Jolie, Berlin, New York 2003 (nach dieser Ausgabe werden Text und Übersetzung im Folgenden zitiert); Wolfram von Eschenbach: Titurel. Mit der gesamten Parallelüberlieferung des Jüngeren Titurel. Kritisch hrsg., übersetzt und kommentiert von Joachim Bumke/Joachim Heinzle, Tübingen 2006.
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entfernt, dass man die Gattungsfrage einfach über seinen Umfang entscheiden könnte, ganz abgesehen davon, dass dieses Kriterium ohnehin unzureichend ist. Auch der Hinweis auf den Fragmentcharakter hilft hier nicht weiter, weil man ihm immer auch das Argument entgegensetzen kann, dass dieser dem Text gleichsam inhärent und der Titurel also keineswegs unvollständig ist.79 Zwar mag es sich hierbei um ein Argument handeln, das eher der modernen Buchkultur und der postmodernen Ästhetik verpflichtet ist als der mittelalterlichen Handschriftenkultur, der mittelalterlichen Vortragspraxis sowie dem mittelalterlichen Werkverständnis. Doch sind die Frage nach dem Fragmentcharakter und die nach der Gattungszugehörigkeit derart ineinander verschränkt, dass man die Antwort auf die erste Frage nicht zur Voraussetzung für die Klärung der zweiten wird machen wollen.80 Die folgende Interpretation bleibt deshalb strikt auf die überlieferten Strophen beschränkt, von deren Zusammengehörigkeit sie ausgeht.81 Auch die zweite Eigenheit des Titurel liegt auf der Formseite, ist er doch in Strophen und nicht mehr im „Allerweltsmaß des stichischen ritterlichen Reimpaars“82 abgefasst. Als Hinweis auf die Gattungszugehörigkeit ist dieses Formmerkmal zwar wohl primär,83 es bleibt jedoch mehrdeutig, denn strophisch ist sonst sowohl die Heldenepik als auch der Minnesang.84 Das Grundschema der Titurelstrophe sieht wohl so aus: 4+4a / 4+6a / 6b / 4+6b. Da paargereimte Langverse mit Zäsur ihre Grundeinheit bilden,85 könnte man die Wolfram’sche Titurel- als Weiterentwicklung der Nibelungen- bzw. der Kudrunstrophe auffassen.86 Dann ließe sie sich aber genauso auch auf die mit diesen eng verwandte Kürenbergerstrophe beziehen, und man könnte zusätzlich darauf verweisen, dass Varianten dieser Strophe, darunter solche mit Steg, vielfach im frühen Minnesang vorkommen,87 nicht aber in 79
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Vgl. dazu die Diskussion in Bleumer (Anm. 76); Christian Kiening/Susanne Köbele: Wilde Minne. Metapher und Erzählwelt in Wolframs Titurel. In: PBB 120 (1998), S. 234– 265, hier S. 237–239; Krotz (Anm. 76), S. 172–188; Kurt Ruh: Bemerkungen zur Liebessprache in Wolframs Titurel. In: Gärtner/Heinzle (Anm. 14), S. 501–512, hier S. 501– 503; Wehrli (Anm. 76), S. 8. Vgl. Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens, Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), S. 216–226. Zur Verknüpfung der beiden Titurel-Stücke vgl. Kiening/Köbele (Anm. 79), S. 261, zur Nahtstelle zwischen ihnen vgl. Krotz (Anm. 76), S. 170 f. Wehrli (Anm. 76), S. 14. Vgl. Glauch (Anm. 80), S. 236–239. Vgl. ebd. (Anm. 80), S. 229. Dass Langzeilen, nicht lange Zeilen das Grundmuster darstellen, sucht zu erweisen Elfriede Stutz: Wolframs Titurelstrophe – Vers 1. In: Gärtner/Heinzle (Anm. 14), S. 455–483. Vgl. Glauch (Anm. 80), S. 230; Volker Mertens: Zu Text und Melodie der Titurelstrophe: Iamer ist mir entsprungen. In: Wolfram-Studien 1, Berlin 1970, S. 219–239, hier S. 236 f.; Wyss (Anm. 76), S. 254–256. Vgl. Mertens (Anm. 86), S. 236; Wehrli (Anm. 76), S. 14, 17; Wyss (Anm. 76), S. 255. Auch Stutz (Anm. 85), S. 468 f., verteidigt mit Blick auf Sigunes Liebesklage gegen Ruth Harvey: Zu Sigunes Liebesklage (Tit. 117–119). In: Wolfram-Studien 6, Berlin 1980,
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der Vor-Wolfram’schen-Heldenepik. Dazu passt es, dass Wolfram den Vers insofern ganz anders behandelt als der/die Nibelungendichter, als bei ihm die Syntax ständig das Gerüst sprengt, das der Vers vorgibt.88 Sowohl die Zäsur als auch der Versschluss, ja sogar der Strophenschluss werden im Titurel regelmäßig überspielt, wodurch der Text einen sehr viel lebendigeren Charakter bekommt als das sprachlich eher statuarische Nibelungenlied.89 Als Gefäß für den Inhalt gewinnt der Vers so eine größere Bedeutung als das sonst bei Reimpaarversen der Fall ist.90 Die große Freiheit bei der Füllung der Verse trägt ebenfalls zu diesem Eindruck bei. Noch näher an den Minnesang rückte die Strophe heran, wenn man sie als „eine der Rundkanzone ähnliche Form“91 auffasste – eine Interpretation, die allerdings nicht überzeugt, weil sie viele Abweichungen vom Schema (Stollen aus nur einem Vers; Ungleichheit derselben; Abgesang aus nur einem Vers) annehmen muss und vor allem den blockhaften Charakter der beiden Reimpaare92 sowie das Merkmal des Langverses übergeht, die beide auf eine andere Formtradition verweisen. Allerdings wird man konzedieren müssen, dass die Strophe auch für die spätere Lieddichtung noch anschlussfähig war, denn Otto zum Turm II. hat auf ihren Ton zwei Lieder abgefasst, und möglicherweise hat sie auch Hugo von Montfort aufgegriffen.93 Dass eine Melodie vorhanden ist und dass man also von der Sangbarkeit der Strophe auszugehen hat,94 rückt sie ebenfalls an die Liedlyrik heran. Und wie im Lied waren die Strophen offenbar gegeneinander isolierbar, was die S. 54–62, die Möglichkeit, dass Wolfram auf den frühen Minnesang rekurriert haben könnte. 88 Vgl. Stephan Fuchs-Jolie: Eine Einführung. In: Brackert/Fuchs-Jolie (Anm. 78), S. 3–24, hier S. 21; Volker Mertens: Konstruktion und Dekonstruktion heldenepischen Erzählens. Nibelungenlied – Klage – Titurel. In: PBB 118 (1996), S. 358–378, hier S. 371; Wehrli (Anm. 76), S. 14. 89 Dagegen verfügen für Stutz (Anm. 85), S. 482 f., die Titurel- und die Nibelungenstrophe über einen vergleichbaren „Freiheitsraum“ (S. 482), weshalb sie den Titurel von seiner Form her dem Epos, nicht dem Lied zuordnet. 90 Vgl. Bleumer (Anm. 76) sowie Glauch (Anm. 80), S. 204. 91 Fuchs-Jolie (Anm. 88), S. 22, in Anlehnung an Horst Brunner: Strukturprobleme der Epenmelodien. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Beiträge der Neustifter Tagung 1977 des Südtiroler Kulturinstitutes. Hrsg. von Egon Kühebacher, Bozen 1979 (Schriftenreihe des Südtiroler Kulturinstitutes 7), S. 300–328, hier S. 309, der sich allerdings auf die Melodie, nicht auf den Strophenbau an sich bezieht. 92 Diese Schwierigkeit sieht auch Brunner (Anm. 91), S. 309. 93 Vgl. Karl H. Bertau/Rudolf Stephan: Zum sanglichen Vortrag mhd. strophischer Epen. In: ZfdA 87 (1956/1957), S. 253–270, hier S. 263; zu den Folgerungen für den Status des Textes Bleumer (Anm. 76). 94 Vgl. Bertau/Stephan (Anm. 93), S. 253 f., 262–270; Brunner (Anm. 91), S. 300, 307– 310; Glauch (Anm. 80), S. 229; Wehrli (Anm. 76), S. 14, 17. Einen Schritt weiter noch geht Mertens (Anm. 86), S. 232, der auch Instrumentalbegleitung nicht ausschließen möchte. Kritisch zur Möglichkeit des Gesangsvortrags äußert sich hingegen Joachim Heinzle im Diskussionsbericht zu Wehrli (Anm. 76), S. 27–37, hier S. 34.
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Varianz der Überlieferung anzeigt.95 Insgesamt sorgt die Strophe dafür, dass der Titurel deutlich lyrischer ausfällt als etwa der in Reimpaaren gehaltene Parzival.96 Die entscheidende Frage lautet drittens nun, ob diese Einschätzung durch das bestätigt wird, was der Titurel erzählt und wie er es erzählt. In thematischer Hinsicht lässt sich eine Konzentration auf die Minne ausmachen, während der ritterliche Kampf ganz an den Rand rückt.97 Während Titurel für seine Person noch beiden, der Minne und dem Kampf, entsagt, benennt er als entscheidenden Faktor für die Zukunft seines Geschlechts nur noch die wâre minne (4,4).98 Indem aus der Enkelgeneration mit Schoysiane eine Frau in den Fokus gerät, steht auch bereits fest, dass es im Folgenden nur um minne (13,2 f.), nicht etwa um Kampf gehen kann. Das setzt sich darin fort, dass Schoysiane mit Sigune eine Tochter zur Welt bringt und dass ihr Tod, den sie bei der Geburt findet, ihren Mann Kiot veranlasst, sich des swertes, helmes unt schiltes verzîhen (22,4). Schon für sich genommen wäre dieser Rückzug vom Rittertum einigermaßen auffällig; um ein Vielfaches gesteigert wird er in seiner Wirkung aber dadurch, dass Manfilot dem Beispiel seines Bruders folgt und sich ebenfalls aus der Welt der Krieger verabschiedet.99 Die Geschichte Sigunes schließlich, die das eigentliche Zentrum des Titurel ausmacht, ist die Geschichte ihrer Liebe zu Schionatulander. Beide teilen sich die Position des Protagonisten, was eine weitere Differenz zum Roman mit seinem männlichen Helden setzt.100 Ritterlicher Kampf wird im Titurel hingegen kein einziger erzählt, doch spielen seine Folgen wiederholt in die Erzählung herein und prägen damit auch den Entwurf der Minne. Minne erscheint im Titurel untrennbar mit Leid verknüpft –101 ein Leid, das aber nur zu einem geringen Teil auf das Konto unerfüllter Liebe geht. Zwar wird vergleichsweise ausführlich erzählt, wie Sigune und Schionatulander je für sich daran leiden, dass sie noch nicht zueinander gefunden haben, und wie Herzeloyde und Gahmuret diesen Zustand erkennen und dabei helfen, ihn zu überwinden. Das wahre Leid 95 Vgl. Glauch (Anm. 80), S. 204 f. 96 Ähnlich Wyss (Anm. 76), S. 257. 97 Vgl. Volker Mertens: Wolfram von Eschenbach, Titurel. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Interpretationen. Hrsg. von Horst Brunner, Stuttgart 1993 (RUB 8914), S. 196–211, hier S. 199. 98 Vgl. hierzu und zum Folgenden Wyss (Anm. 76), S. 277; zur Bedeutung der Genealogie für die Struktur und den Status des Textes sowie zur Semantik der Hohen Minne in Titurels Rede Bleumer (Anm. 76). 99 Vgl. Ernst S. Dick: Minne im Widerspruch. Modellrevision und Fiktionalisierung in Wolframs Titurel. In: „Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig“. FS zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff. Hrsg. von James Hardin/Jörg Jungmayr, Bd. 1, Bern u. a. 1992, S. 399–420, hier S. 405 f. 100 Vgl. Glauch (Anm. 80), S. 251–253. 101 Vgl. Haug (Anm. 76), S. 13 f.; Wehrli (Anm. 76), S. 24.
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jedoch, daran lässt der Text keinen Zweifel, entsteht den Liebenden daraus, dass der Tod sie auseinanderreißt.102 So bleibt Kiot allein zurück, als Schoysiane im Kindbett stirbt. Herzeloyde wird zweimal zur Witwe, zuerst verliert sie Kastis, der stirbt, bevor er die Ehe überhaupt vollzogen hat, dann Gahmuret, der im Orient umkommt. Und genauso wird Sigune, darauf deutet der Erzähler mit einer Parzival-Anspielung voraus, Schionatulander verlieren.103 Liebesleid beruht hier auf anderen Voraussetzungen als im Minnesang, und anders als dort ist Gewalt nicht nur eine Metapher, sondern eine Tatsache, die immer wieder in das Leben der Liebenden eingreift. Andererseits ließe sich diese Struktur, die das Liebesbegehren zu einem unerfüllten macht, auch als Ausfaltung und Verzeitlichung der Minneparadoxie auffassen,104 und immerhin stiftet der Gestus der Klage, die den Titurel bestimmt und die in der Strophe ihre adäquate Form findet, eine Beziehung zum Minnesang, für den die Klage ebenfalls konstitutiv ist – eine Beziehung, die freilich nicht exklusiv ist, da sich die Klage auch in zahlreichen anderen Gattungen ausprägt.105 Dass die Minne im Titurel derart vom Kampf und damit vom Leid überschattet wird, ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen steht, dass die Minne selbst jene Kampfestaten motiviert.106 Von Gahmuret heißt es beispielsweise: sus iaget in diu minne an den rê. (74,4; „So jagte ihn die Minne in den Tod.“) Über Ilinot, den Geliebten Flories, sagt der Erzähler: Der holt ouch nâch ir minne under helme sîn ende. (153,1; „Unterm Helm holte er sich im Streben nach ihrer Minne auch den Tod.“) Gurzgri, der Vater Schionaturlanders, wiederum lac tôt umbe Schoydelakurt (41,4; „starb wegen Schoydelakurt“), womit die Verstrickung von Liebe und Kampf bis in den Erec und damit in die Vorgeschichte des Parzival zurückverlegt ist.107 Auch Gurzgris Sohn wird, daran besteht kein Zweifel, ein ähnliches Schicksal erleiden. Der fatale Kreislauf, wonach die Minne eben jenen Kampf motiviert, der sie an ihr tödliches Ende bringt, läuft in jeder Generation der Gralsgenealogie erneut ab, wodurch der Text das Erzählen, verstanden als ein Prozessieren, im Grunde hinter sich lässt.108 Hierzu stimmt es, dass diese Konstellation des fatalen Minnedienstes gleichsam am Rande ein Moment enthält, das sie dem Minnesang annähert: die (Willkür-)Herrschaft der frouwe. Vgl. Dick (Anm. 99), S. 403 f. Genauer Wyss (Anm. 76), S. 251 f. Vgl. Bleumer (Anm. 76). Vgl. Wehrli (Anm. 76), S. 18 f.; den lyrischen Charakter der Klage betont hingegen Bleumer (Anm. 76). 106 Zum Mechanismus Kampf – Minne vgl. genauer Dick (Anm. 99), S. 404–408. 107 Dass der Titurel unweigerlich im Zeitfeld des Parzival steht, arbeitet Bleumer (Anm. 76) heraus. 108 Vgl. ebd. (Anm. 76). 102 103 104 105
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Dazu gehören im Falle Sigunes die Voraussetzung, dass sie dem Geliebten ständisch überlegen ist, sowie ein Wesen, das als hertzen hochgemüete („Selbstbewußstsein in ihrem Herzen“) beschrieben und mit den Attributen stoltz[] und lose[] (36,3 f.; „stolz und übermütig“) belegt wird. Auch das Minnegespräch zwischen Sigune und Schionatulander rekurriert auf die Semantik der Hohen Minne, wenn letzterer den Appell formuliert: frouwe, ih ger genâden (60,2; „Herrin, ich bitte um Zuwendung“) und erstere darauf antwortet: ‚Owê, kunde diu minne ander helfe erzeigen, dane daz ich gæbe in dîn gebot mînen frîen lîp für eigen! mich hât dîn iugent noch niht reht erarnet. du muost mich under schilteclîchem dache ê gedienen: des wis vor gerwarnet!‘ (Tit. 71) („Oh weh, könnte doch die Minne andere Hilfe gewähren, als daß ich jetzt schon meine Freiheit wie eine Leibeigene unter dein Gebot stellte! So jung wie du bist, hast du mich noch nicht auf die rechte Weise erworben. Du mußt mich unter dem Schild zuvor erst verdienen: Laß dir dies von vornherein gesagt sein!“)
Die Weigerung der Frau, sich unter die Herrschaft des Mannes zu begeben und damit auf das konventionelle mittelalterliche Geschlechterverhältnis einzuschwenken, findet sich verschiedentlich im Minnesang, genauer gesagt in einigen Dialog- und Frauenliedern. Dagegen stellt die Forderung, der Mann müsse die Frau gedienen (71,4), im Minnesang einen Allgemeinplatz dar, während die Konkretisierung, wonach dieser Dienst als Waffendienst abzuleisten ist, eher auf den höfischen Roman verweist. Dass Schionatulander seine Bereitschaft zu süezen sûren arbeiten (72,2; „süßen, herben Bewährungskämpfen“) bekundet, zitiert sowohl Walthers Minnesang als auch Wolframs Parzival.109 Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass Sigune darauf beharrt, die Liebesgeschichte auf dem Seil zu Ende zu lesen, und deshalb Schionatulander auf eine Fahrt schickt, von der er nicht zurückkehren wird.110 Als Lohn stellt sie genâde (173,1) in Aussicht, einen solt (174,2), der den Ritter zu seinem dienst (174,1) antreibt. Enthält des Erzählte also deutliche Anklänge an den Minnesang, so lässt sich auch das Erzählen durchaus von der Lyrik her erfassen, zwar nicht durchgehend, aber doch in einigen zentralen Zügen. Ich beginne mit dem Beginn des Textes, der in mehrfacher Weise untypisch ist. Er ist es in äußerer Hinsicht, jedenfalls dann, wenn man vom höfischen Roman herkommt,
109 Vgl. oben S. 283. Weitere Walther-Anklänge verzeichnet Glauch (Anm. 80), S. 245. 110 Dass hier das Modell der Minneherrin in Anschlag zu bringen ist, betont Ruh (Anm. 79), S. 505, während die übrige Forschung die Stelle vor allem unter die Überschrift der ‚Schuldfrage‘ stellt – zu dieser etwa Haug (Anm. 76), S. 19–22; Siegfried Christoph: Wolfram’s Sigune and the question of guilt. In: Germanic Review 56 (1981), S. 62–69; Wehrli (Anm. 76), S. 24 f.
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weil ihm ein Prolog fehlt.111 Der unvermittelte Einsatz erinnert eher an den Minnesang oder allenfalls noch an die Heldenepik.112 Selbst dort wäre jedoch ein Anfang merkwürdig, der so gar kein Anfang sein will, weil er die Abdankungsrede eines alten Mannes, gemeint ist Titurel, enthält und diese nicht einmal raum-zeitlich einordnet. Auch der Rest dessen, was man als Exposition bezeichnen könnte, bleibt ungeordnet und unklar.113 Sie vermittelt eher einen Stimmungswert – den der Trauer –, als dass sie ein nachvollziehbares Geschehen entwerfen würde: Die Geschichte gerät „immer wieder in eine lyrisch-überzeitliche Schwebe […], weil die Ebenen des Erzählens […] merkwürdig verschwimmen“114. Selbst zu erkennen, von wem denn nun eigentlich erzählt werden soll, ist schwierig. Auch das Ende verweigert sich jeder erzählenden Gattung insofern, als die eben begonnene Geschichte von Schionatulanders Fahrt nach dem Brackenseil nicht erzählt wird (und auch, besieht man den Text, nicht zwingend erzählt zu werden braucht).115 Dass man das Ergebnis zu ergänzen hat, passt eher zur Lyrik, wo man sich beispielsweise auch selbst ausmalen muss, was jenseits der Klage des Tagelieds passiert.116 Dass die Ergänzung in diesem Fall (und in vielen anderen Fällen) aus dem Parzival vorzunehmen ist, dass dieser also als der zentrale Prätext des Titurel zu gelten hat,117 stiftet hingegen qua Intertextualität so etwas wie einen Gattungsbezug hin zum Roman. Dass dabei freilich mit Sigune und Schionatulander jene Figuren herausgegriffen werden, denen der Parzival im Grunde eine Geschichte verweigert, lässt auch den Signalcharakter dieser Zuordnung verschwimmen.118 Den Hauptteil des Titurel machen Dialoge aus, zuerst das Minnegespräch Sigunes und Schionatulanders, dann die beiden Gespräche, in denen 111 Hierzu und zum Folgenden vgl. Glauch (Anm. 80), S. 201; Krotz (Anm. 76), S. 168 f., und Wyss (Anm. 76), S. 261–268. Zu einfach macht es sich wohl Christa Ortmann: Titurel im Parzival-Kontext. Zur Frage nach einer möglichen Strukturdeutung der Fragmente. In: Wolfram-Studien 6, Berlin 1980, S. 25–47, hier S. 34 f., wenn sie die ersten zwölf Strophen als Prolog auffasst und den Titurel dann als höfischen Roman versteht. 112 Für die Heldenepik veranschlagt ihn Mertens (Anm. 88), S. 371. 113 Vgl. auch Haug (Anm. 76), S. 14. 114 Bleumer (Anm. 76). 115 Mit Glauch (Anm. 80), S. 224 f., und Krotz (Anm. 76), S. 176 f., würde ich hier gegen den Fragmentcharakter des Textes argumentieren, wie ihn Helmut Brackert: Sinnspuren. Die Brackenseilinschrift in Wolframs von Eschenbach Titurel. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland/Michael Mecklenburg, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 155–175, hier S. 155, behauptet. 116 Dass der Text das Ende bewusst verweigert, ist die Deutung etwa von Krotz (Anm. 76), S. 197–200. Hiergegen argumentiert Glauch (Anm. 80), S. 220–224. 117 Genauer zum komplexen „Verhältnis der beiden Texte“, das zugleich ein „komplementäres“ und „ein auf paradoxe Weise simultanes“ ist, vgl. Kiening/Köbele (Anm. 79), S. 235–237, 263 f. (das Zitat S. 237); außerdem auch Bleumer (Anm. 76) und Ortmann (Anm. 111). 118 Vgl. Bleumer (Anm. 76); Glauch (Anm. 80), S. 205–207.
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diese je mit einem Vertrauten über ihre Liebe sprechen. Dass die Wechselrede der Liebenden (56–72) nicht weiter exponiert ist, spricht ebenso für ihren lyrischen Charakter wie ihre Verfasstheit.119 Denn wie in vielen dialogischen Liedern des Minnesangs120 wechselt die Sprecherposition strophenweise – nur in zwei Fällen hält einer der Redenden gleich zwei Strophen (63 f.; 67 f.) –, und eine narrative Vermittlung der Figurenrede fehlt entweder ganz oder bleibt auf das Minimum einer dürren inquit-Formel beschränkt: Sie sprach (61,1; 69,1).121 Hiervon unterscheiden sich die Unterredungen zwischen Gahmuret und Schionatulander (97–112) und zwischen Herzeloyde und Sigune (116–136), indem sie jeweils aus längeren Einlassungen bestehen. Auch diese respektieren freilich die Strophengrenze, und die große Bedeutung, welche die Strophe für die Gliederung der Gespräche besitzt, distanziert sie genauso von Dialogen des Romans wie der geringe Anteil einbettender narrativer Partien.122 Dass die drei Gespräche über Isotopien – vor allem die Metapher der Jagd spielt in ihnen allen eine zentrale Rolle – eng verknüpft sind,123 nähert sie ebenfalls lyrischem Sprechen an. Dass sich im letzten der drei Gespräche Sigune zur Frau auf der Zinne stilisiert, die mit ihren Blicken Heide und Wiese nach dem Geliebten absucht, ruft ebenfalls die Minnesangtradition auf.124 Was die Erzählerrolle angeht, so schwankt diese zwischen dem heldenepischen Wir, das das Publikum mit einbezieht, und dem romanhaften Ich, das souverän über den Text verfügt.125 Letzteres entäußert sich gerade auch im Humor, der nach Max Wehrli dem elegischen Ton des Textes korrespondiert.126 Allerdings fehlt im Titurel jener metanarrative Erzählerdiskurs, der den höfischen Roman im Allgemeinen und den Parzival im Besonderen auszeichnet.127 Dafür kommt das Ich des (Minne-)Sängers vor, wenn von Sigune gesagt wird: lât ir lîp in diu lobes iâr volwahsen, ich sol ir lobes sagen mêre. (32,4; „Laßt sie erst heranwachsen zu dem Alter, in dem man die Frauen rühmt, dann werde ich sie noch mehr rühmen.“) Das Ich, das einen Frauenpreis anstimmt, ist das des Werbeliedes. Diese Pluralität
119 Vgl. Krotz (Anm. 76), S. 184; Wyss (Anm. 76), S. 268. 120 Diese Zuordnung auch bei Bleumer (Anm. 76). 121 Die einzige Ausnahme stellt die Strophe 59 dar, in der der Erzähler zur Empathie mit den Liebenden auffordert und eine leidvolle Geschichte ankündigt. 122 Ähnlich Wehrli (Anm. 76), S. 16. Insofern scheint es mir nicht sinnvoll, sie wie Mertens (Anm. 88), S. 372, zu unmittelbar auf den höfischen Roman und dabei insbesondere auf Veldekes Eneit zu beziehen. 123 Vgl. dazu die minutiöse Untersuchung in Kiening/Köbele (Anm. 79), S. 240–250. 124 Vgl. Bleumer (Anm. 76). 125 Vgl. hierzu und zum Folgenden Glauch (Anm. 80), S. 243 f., und Mertens (Anm. 88), S. 373–376. 126 Vgl. Wehrli (Anm. 76), S. 20. 127 Vgl. Glauch (Anm. 80), S. 226–229.
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von Rollenentwürfen erklärt wohl auch, warum eine Autorinstanz ‚Wolfram‘, wie es sie im höfischen Roman gibt, im Titurel fehlen muss. Abschließend ist noch auf eine Eigenschaft der Titurel-Erzählung einzugehen, die man als „Begrenzung auf isolierte Episoden, auf Gespräche und Bilder“,128 als „Handlungsarmut“129 oder als „Verweigerung des Erzählens“130 bezeichnet hat und die ich mit dem Begriff der Sujetlosigkeit belegen möchte. Diese tritt allerdings erst auf den zweiten Blick hervor, auf den ersten kennt der Text zahlreiche Grenzüberschreitungen, die sich etwa in der Form von Statuswechseln ereignen: Aus Herrschern werden Pensionäre (Titurel), aus Erben Herrscher (Frimutel), aus Jungfrauen Ehefrauen (Schoysiane, Clauditte), aus Rittern Eremiten (Kiot, Manfilot), aus Ehefrauen Witwen (Herzeloyde, Florie), aus Witwen Ehefrauen (Herzeloyde), aus Lebenden Tote (Schoysiane, Tampunteire, Kastis, Gurzgri, Gahmuret, Ilinot), aus Kindern Erwachsene (Sigune, Schionatulander, Ilinot). Auch räumliche Grenzen werden überschritten, darunter die von Okzident und Orient. An letztgenanntem Beispiel lässt sich aber gut veranschaulichen, warum der Titurel trotzdem weitgehend sujetlos bleibt, denn eine Grenzüberschreitung, die einen Normbruch bedeutet, setzt eine semantische Differenz der beiden Teilräume und, mit ihr verbunden, die Markierung einer Grenze voraus. Beides ist nicht gegeben, wenn Gahmuret mit Schionatulander in den Orient zieht. Das hängt damit zusammen, dass auch diese Reise nicht wirklich erzählt, sondern dass sie lediglich erwähnt wird. Und ihr dramatisches Ergebnis, der Tod Gahmurets, wird nicht einmal erwähnt, sondern nur im Ergebnis, der Witwenschaft Herzeloydes, vorausgesetzt. Ähnlich verhält es sich mit einem Großteil der eben aufgelisteten Statuswechsel, die auch nur in wenigen Versen berichtet werden. Eingetretene Zustände und ihre Veränderung aber nur zu vermelden, ohne sie näher auszuführen und herzuleiten, ist eher der Modus lyrischer als epischer Texte.131 Das zweite Textstück ist zwar deutlich sujethaltiger – der Bracke bricht in das Liebesidyll ein und zerstört es durch seine baldige Flucht –,132 doch wird dieses Erzählen dann sogleich selbstbezüglich, indem es von der Erzählung erzählt, die sich auf dem Halsband des Hundes befindet. Die Geschichte Claudittes und Ehcunats spiegelt die Geschichte Sigunes und Schionatulanders, und sie wird wiederum selbst gespiegelt, indem der Erzähler ihr die
128 Wehrli (Anm. 76), S. 12. 129 Bumke (Anm. 54), S. 414. 130 Wyss (Anm. 76), S. 257: „Insbesondere das erste Stück (Str. 1–131) erzählt weniger [sic] als daß es verschiedene Themen in immer neu ansetzenden Strophen heraufbeschwört.“ 131 Vgl. Wehrli (Anm. 76), S. 13. 132 Vgl. Bleumer (Anm. 76).
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Geschichte Flories und Ilinots vorschaltet.133 Außerdem entzieht sich auch dieses Erzählen einer unmittelbaren Zugänglichkeit, es verrätselt, obwohl es an konkreten Details nicht spart, das Geschehen auf allen Ebenen der Darstellung und lässt es so zur Metapher seiner selbst werden.134 Sein Medium ist, neben der „ausladende[n], ebenso schwierige[n] wie variable[n] Strophenform“, eine „virtuos verschlüsselte und wohl auch verquälte Sprache“.135 Deren Tendenz zur Selbstreflexivität136 verweist aber ebenfalls auf die Lyrik. Versucht man, alle diese Beobachtungen zusammenzusehen, wird man den Titurel auf der Grenze zwischen Lyrik und Epik oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, in der Mitte der oben erwähnten Skala verorten. Argumentiert man vom Erzählen her, muss man feststellen, dass der Titurel zwar erzählt, dass dieser Impuls aber vergleichsweise schwach ausgeprägt ist und sich nicht recht zu entfalten vermag. Er bleibt gleichsam im Diskontinuierlichen und im Dialogischen stecken. Auch die Selbstreflexivität des Erzählens wäre hier anzuführen, da sie ebenfalls eine Schlagseite hin zur Lyrik aufweist. Sieht man auf die Form, so ordnet sich der Text über die Strophe eher der Lyrik zu, und die Behandlung der Sprache passt sich dem an. Im Spiel mit der Sprache, in der Reflexion auf ihre Möglichkeiten und Schwierigkeiten das Hauptinteresse des Textes zu sehen, schiene mir nicht verkehrt. Doch das kann auch das (Fehl-)Urteil eines Literaturwissenschaftlers sein, der durch die Erfahrungen mit moderner Literatur geprägt ist. Ein Ausweichen auf die Ebene der Intertextualität – aus der Hoffnung heraus, so zu einem leichter objektivierbaren Urteil zu kommen – stellt sich insofern als vergeblich heraus, als sie widersprüchliche Informationen liefert. Zwar bezieht sich der Titurel zuallererst auf den Parzival und damit auf einen epischen Text, doch distanziert er sich von diesem auch wieder, etwa über die Form, die nicht nur an die Heldenepik, sondern auch an den Minnesang gemahnt, über den Inhalt, der sich ganz auf eine Minne konzentriert, die als Klage erscheint, sowie über die Art des Erzählens, die sich dem Aufbau einer Geschichte im Grunde verweigert und die auch die Inszenierung eines Erzählers vermissen lässt, der sein Tun beständig reflektiert. Die genannten Schwierigkeiten der Zuordnung bleiben auch dann bestehen, wenn man den Titurel nicht nur auf historisch belegte Gattungen bzw. auf tatsächlich überlieferte Texte bezieht, sondern auch auf lediglich 133 Vgl. Brackert (Anm. 115), S. 159, 163–165, 175; Kiening/Köbele (Anm. 79), S. 254. Dass die Clauditte-Ehcunaht-Geschichte eine Alternative bereitstellt, arbeitet bes. Dick (Anm. 99), S. 408–415, heraus. 134 Genauer Bleumer (Anm. 76); Brackert (Anm. 115), S. 156 f.; Fuchs-Jolie (Anm. 88), S. 16 f.; Haug (Anm. 76), S. 14–17; Sidney M. Johnson: Das Brackenseil des Gardeviaz zwischen Wirklichkeit und Phantasie. In: Gärtner/Heinzle (Anm. 14), S. 513–519; Kiening/Köbele (Anm. 79), S. 240 f., 250 f.; Wehrli (Anm. 76), S. 17; Wyss (Anm. 76), S. 278–285. 135 Wehrli (Anm. 76), S. 20. 136 Vgl. Brackert (Anm. 115), S. 173; Wehrli (Anm. 76), S. 20.
Epische Lyrik, lyrische Epik
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erschließbare literarische Typen. Sonja Glauch hat diese Option gewählt, den Titurel als „episch-lyrische[s] carmen“137 bestimmt und dafür gute Gründe beigebracht. Der eine lautet, dass ein Text, der mündlich vorgetragen wird, einer Gattung zuzuordnen sein muss, wenn die Kommunikation gelingen soll.138 Der andere besteht in dem Hinweis auf die Existenz verschiedener kleiner Formen, deren Status zwischen Epik und Lyrik schwankt, indem sie in lyrischen Strophen erzählen. Allerdings ist das Erzähllied selbst für die deutsche Literatur des Mittelalters nur zu postulieren. Aber auch wenn man seine Existenz annimmt, was durchaus plausibel ist, und wenn man den Titurel einer solchen Gattung zuordnet, ist für die Bestimmung seines Status’ zwischen Lyrik und Epik im Grunde nichts gewonnen. Denn zum einen schwankt dieser ja auch beim Erzähllied, zum anderen ist dieses nicht in weiteren Vertretern bekannt, womit man sich mit der entsprechenden Frage wieder auf Wolframs Unikat zurückverwiesen sieht. Für den Titurel würde ich die Frage nur unter Entscheidungszwang beantworten wollen und dann sagen, dass der Text letztlich von seinen lyrischen Impulsen bestimmt wird. Sinnvoller dürfte es sein, sich einer solchen Entscheidung zu verweigern, und dies in dem Bewusstsein zu tun, dass es immer wieder Texte gibt, die das literaturwissenschaftliche Instrumentarium übersteigen. Das spricht dann nicht gegen dessen Qualität, sondern für die Ausnahmestellung der jeweiligen Texte. Um Ausnahmen handelt es sich, geht man von Idealtypen aus, allerdings bei sämtlichen untersuchten Wolfram-Texten. Die Tagelieder sind in einem ganz handfesten Sinn narrativ, sodass ihre Zuordnung zum Minnesang nicht umstandslos erfolgen kann, zumindest dann nicht, wenn man diesen nicht von seiner Semantik, sondern von seiner lyrischen Qualität her bestimmt. Selbst was die Semantik angeht, entzieht sich das Wolfram’sche Tagelied ja den Vorgaben der Gattung – die sich wiederum nur als Variation des im Werbungslied Gesagten begreifen lässt – und sucht die Nähe zum Roman. Entscheidend aber ist, dass der narrative Impuls hier den formalen überwiegt, was dem Tagelied im Allgemeinen und dem Wolframs im Besonderen einen Sonderstatus innerhalb des Minnesangs zuweist, vergleichbar vielleicht mit der späteren Ballade. Dass die Tagelieder vorwiegend mit dem Minnesang überliefert sind, dass sie dessen Forminventar übernehmen und dass auch sie das Singen selbst thematisieren, verdeckt ihre Sonderstellung freilich. Der Parzival wiederum lässt sich nicht auf seine Erzählabsicht reduzieren, auch wenn diese fraglos zentral ist. Indem er in Versen erzählt und diese auch noch lyrisch variiert, partizipiert er in gewissem Umfang an den Besonderheiten der lyrischen Sprachverwendung. Dass er sich dieser Mög137 Glauch (Anm. 80), S. 239. 138 Hierzu und zum Folgenden ebd., S. 234–241.
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lichkeiten bewusst ist, belegt die Nutzung des Reims für Sinneffekte genauso wie der Namenskatalog, dessen formale Gestaltung an eine lyrische Einlage gemahnt. Dazu passt es dann auch, dass der Parzival immer wieder auf die Semantik der Minne rekurriert und also inhaltliche Bezüge zur Lyrik stiftet. Der transgenerische Blick auf Wolframs Werk erweist sich für dessen Signatur als aufschlussreich. Inwiefern sich die hier gemachten Beobachtungen auf die Œuvres anderer Autoren ausweiten lassen, müsste einmal umfassend untersucht werden. Dass eine solche Untersuchung für die Einschätzung der mittelalterlichen Literatur wohl ähnlich aufschlussreich wäre wie die derzeit üblicheren narratologisch oder kulturwissenschaftlich ausgerichteten Lektüren, verweist auf das Potential, das einer erneuten Zuwendung zur Formseite der mittelalterlichen Literatur eignet.
Armin Schulz (†)
Minnedämmerung? Zur Funktion von Minnesang-Zitaten in Herborts von Fritzlar Liet von Troye I. Höfisches Ethos in der Kritik? Die gängige Vorstellung, die man sich von Herbort von Fritzlar macht, rückt ihn in eine deutliche Distanz zu den Gegenständen, über die er schreibt: in eine deutliche Distanz zum feudalen Kriegertum und zur höfischen Minne. Herbort verfolge, so Ricarda Bauschke, „mit der Bezugnahme auf den höfischen Diskurs einen ganz besonderen Zweck, nämlich die Demontage eben dieses Diskurses“.1 In der Forschung erscheint Herbort als Kleriker, der unwillens gewesen sei, eine Welt zu idealisieren, die ihm innerlich fremd gewesen sei, zumal eine vorchristliche und heidnische. Dabei bleibt festzuhalten, dass die relative Kürze des Liet von Troye gegenüber seiner Vorlage, dem Roman de Troie des Benoit de Sainte-Maure,2 nicht allein solchem Unwillen geschuldet sein kann, sondern auch den Vorgaben gelehrter Schulrhetorik (Stichwort: brevitas) – und somit einem ausgespro1
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Ricarda Bauschke: Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar. Verfahren interdiskursiver Sinnkonstitution im ‚Liet von Troye‘. In: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 347–365, hier S. 358. Zitierte Ausgaben: Herbort’s von Fritslâr liet von Troye. Hrsg. von Georg Karl Frommann, Quedlinburg, Leipzig 1837. Nachdruck Amsterdam 1966 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 5); Benoit de Sainte-Maure: Le roman de Troie. Hrsg. von Léopold Constans, 6 Bde., Paris 1904–1912 (Publications de la Société des anciens textes français 77, 84, 85, 89, 92, 93); Benoît de Sainte-Maure: Le roman de Troie. Extraits du manuscrit Milan, Bibliothèque ambrosienne, D 55. Hrsg. und ins Neufranzösische übersetzt von Emmanuèle Baumgartner/Françoise Vielliard, Paris 1998 (Lettres gothiques); Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser/Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. Übersetzungen mhd. Textzitate stammen, sofern nicht anders angegeben, vom Verfasser.
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chenen Gestaltungswillen.3 Zusätze und Erweiterungen gegenüber Benoit stellen die zahlreichen Zitate und Anspielungen dar, die zeitgenössischer Liebeslyrik gelten. Sie sind von der Forschung – zu nennen sind besonders Franz Josef Worstbrock, Rüdiger Schnell und Dietrich Huschenbett4 – längst ausführlich dokumentiert worden. Gemeint sind Referenzen auf einzelne Lieder Heinrichs von Morungen in der Episode, in der sich Jason und Medea ineinander verlieben; es handelt sich um Topoi amoener Natur, wie sie auch aus dem Minnesang und aus der mittellateinischen Liebeslyrik – etwa aus den Carmina Burana – bekannt sind; und es handelt sich schließlich um Wecklieder des trojanischen Burgwächters, die in diesem Zusammenhang stark an Tagelieder erinnern. Allerdings ist in ihnen nicht von einer Bedrohung heimlich Liebender durch die soziale Instanz der huote die Rede, sondern vom Aufmarsch der griechischen Truppen. Man ist folglich leicht geneigt, solche Referenzen einer Kontrastästhetik zuzuschlagen. Denn die sommerliche Naturtopik erscheint im Text zuerst im Bericht des Paris über seine Begegnung mit den drei Göttinnen, bei der ihm Helena versprochen worden sei, und dann wieder, als die Griechen ausfahren, um Helena zu entführen, am Morgen vor dem Beginn mehrerer Schlachten, schließlich als Paris tot im sommerlichen Gras liegt – und beim Exkurs des Erzählers über die Fortpflanzungsgewohnheiten der Amazonen, die ausgezogen sind, auf Seiten der Trojaner in den Krieg einzugreifen. Ihr Anfangserfolg weicht bald einer katastrophalen Niederlage; die Leiche ihrer Anführerin Penthesilea wird wie ein toter Hund ins Wasser geworfen. Die Minnesang-Referenzen erscheinen so unmittelbar an Szenen der Gewalt und des Krieges gekoppelt. Auch die Begegnung zwischen Jason und Medea gehört in diesen Zusammenhang, weil die Argonautenfahrt den Anlass für die erste Zerstörung Trojas geliefert hat. Es drängt sich der Eindruck auf, dass diese Referenzen und Zitate vor allem das Konzept höfischer
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Vgl. Franz Josef Worstbrock: Zur Tradition des Troiastoffes und seiner Gestaltung bei Herbort von Fritzlar. In: ZfdA 92 (1963), S. 248–274; Ders.: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128–142; Hans Fromm: Herbort von Fritslar. Ein Plädoyer. In: PBB 115 (1993), S. 244–278; Ludger Lieb: Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des Wiedererzählens. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Joachim Bumke/Ursula Peters, Berlin 2005 (ZfdPh 124, Sonderheft), S. 356–379. Vgl. Worstbrock (Anm. 3); Rüdiger Schnell: Andreas Capellanus, Heinrich von Morungen und Herbort von Fritslar. In: ZfdA 104 (1975), S. 131–151; Ders.: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern, München 1985 (Bibliotheca Germanica 27); Dietrich Huschenbett: Zur deutschen Literaturtradition in Herborts von Fritzlar ‚Liet von Troye‘. In: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen. Hrsg. von Horst Brunner, Wiesbaden 1990 (Wissensliteratur im Mittelalter 3), S. 303–324; vgl. auch Fromm (Anm. 3).
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Minne diskreditieren sollen – die von der Minne übermannte Medea, die über sich selbst in Morungen-Floskeln redet, ist immerhin eine Nigromantin, die die Höllengeister beschwören kann, und die sich auf amoenem Terrain fortpflanzenden Amazonen stellen mit ihrer männlich-kriegerischen Lebensweise einen massiven Affront gegen die gottgewollte Ordnung der Dinge dar. In einer solchen Lektüre wären die Zitate und Referenzen als Markierungen und Indices mit Blick auf die Semantik höfischer Minne zu verstehen, die so einerseits konnotativ heraufbeschworen würde, andererseits aber zugleich durch den jeweiligen narrativen Kontext implizit massiv herabgesetzt würde, ohne dass es eines explizit formulierten Kommentars bedürfte. Die generische Interferenz zwischen Lyrik und Epik stellte sich folglich so dar, dass der textuelle Kontakt, die narrative Kontiguität zwischen Liebe, Tod und Gewalt, den Effekt hätte, die Hoffnung auf weltliches Heil, die durch die Minnesang-Zitate markiert oder indiziert wird, zu dementieren. Dass die Verweise bzw. die Indices in ihrem Wortlaut der Lyrik entnommen sind, hätte in dieser Perspektive seinen besonderen Grund in der besonderen Bedeutung, die der Liedvortrag in der volkssprachigen Epik hat. Denkt man an die Geschichten über Tristan oder den Sänger Horant, dann kommt dem Vortrag eine besondere Präsenzqualität zu, er erscheint als Inbegriff höfischer Kunst, bei dem die Präsenz der Stimme (und womöglich auch der musikalischen Begleitung) die Zuhörenden auf eine Weise ästhetisch affiziert, die zugleich eine ethische ist. Sie verzaubert und pazifiziert zugleich, sie artikuliert Sehnsüchte, sie zelebriert höfische Minne als Kult eines profanen summum bonum, sie inszeniert und affirmiert die höfische Identität des Sängers wie die des Publikums und stiftet so höfische Gemeinschaft. Ein solcher Präsenzeffekt wäre vielleicht nicht ‚die‘, aber zumindest ‚eine‘ Qualität des Lyrischen, eine sich historisch konkretisierende zumal.5 Der Wertschätzung, die diese Kunst in den Texten genießt, ist zu entnehmen, dass sie damit immer auch als Inbegriff des Höfischen selbst gelten darf,6 mit aller prekären Ambivalenz, die dazugehört. Denn in den Geschichten über Tristan und den Sänger Horant erscheint der Liedvortrag zugleich auch im Zusammenhang von List und Verstellung, die höfischste aller Künste steht wie das Höfische selbst immer auch im Generalverdacht des Nicht-Authentischen: Der kunstvoll artikulierte Affekt könnte eben auch 5 6
Dies knapp zu den Thesen von Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61. Vgl. Gerd Dicke: Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von ‚Rotte und Harfe‘ im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdA 127 (1998), S. 121–148; Marion Oswald: Kunst um jeden Preis. Gabe und Gesang in Gottfrieds von Straßburg Tristan. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 129–152.
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nur Simulationskunst sein.7 Dieses Problem wird, wenn der Ebenensprung erlaubt sei, in zahlreichen Minneliedern artikuliert, gerade auch bei Morungen, dessen Texte Herbort offenbar gekannt hat.8 In dieser Deutung würde die epische Thematisierung von Lyrik dem Liet von Troye ihre eben skizzierte Semantik inserieren, die dann dort durch das narrative Arrangement und den Kontext von Dämonie, Gewalt und Leid der Lächerlichkeit preisgegeben würde. Eine solche Lektüre ist verführerisch, aber sie gelingt nur auf dem Hintergrund des gängigen Herbort-Bildes, ja sie ist sogar dessen direkte Konsequenz. Die Forschung ist nach wie vor darauf fixiert, das Liet von Troye vor allem axiologisch zu interpretieren, darauf also, die Funktion der literarischen Verfahren des Textes allein auf Wertungsimplikationen zu reduzieren, und zwar im Hinblick auf diejenigen Implikationen, die man einem skeptischen Kleriker mit einer Neigung zum Sarkasmus zutrauen darf. Am deutlichsten formuliert das Hans Fromm: „Es waltet reine Negativität. Aus Herbort spricht ein geistlicher Fundamentalist, der Kampf und Tötung im Kampf explizit als Sünde bezeichnet. Auch die Idealisierungen der höfischen Kultur […] sind in seine Skepsis eingeschlossen.“9 Letztlich schleicht sich so dann doch wieder ein nur scheinbar überwundener Biographismus in die Textinterpretation ein. Das biographische Argument im Hintergrund gibt allzu rasch eine eindeutige Richtung vor, wo die Analyse erst einmal den Befund festzuhalten hätte, dass die Inszenierung der Minne wie der höfischen Kultur im Liet von Troye insgesamt ebenso komplex wie ambivalent ist.
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Vgl. Beate Schmolke-Hasselmann: Tristan als Dichter. Ein Beitrag zur Erforschung des lai lyrique breton. In: Romanische Forschungen 98 (1986), S. 258–276; Ulrike Draesner: Zeichen – Körper – Gesang. Das Lied in der Isolde-Weißhand-Episode des Tristan Gotfrits von Straßburg. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling/Peter Strohschneider, Heidelberg 1996 (GRM-Beiheft 13), S. 77–101. Vgl. Peter Strohschneider: „nu sehent, wie der singet!“ Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 17), S. 7–30; Harald Haferland: Was bedeuten die Aufrichtigkeitsbeteuerungen der Minnesänger für das Verständnis des Minnesangs? In: Mittelalterliche Lyrik. Probleme der Poetik. Hrsg. von Thomas Cramer/Ingrid Kasten, Berlin 1999 (Philologische Studien und Quellen 154), S. 232–252. Fromm (Anm. 3), S. 272.
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II. Liebe zwischen lyrischer und narrativer Semantik Merkwürdigerweise wird diese Ambivalenz – die doch erst einmal nur Zeichen dafür ist, dass das Imaginäre der Adelskultur in ihrer Literatur reflexiv wird – grundsätzlich als eine wertende Textstrategie verstanden.10 Dass im Liet von Troye nicht nur die Liebe zwischen Jason und Medea „in konnotativer Beziehung zu Zauber und Dämonie [steht]“, wird auch für Jan-Dirk Müller jüngst zum Indiz dafür, dass in ihr „das Höllenfeuer“ brenne. Herbort reduziere „die Liebespassion seiner Helden auf heillose Verfallenheit an die Sexualität […]. In dieser moralischen Perspektive gibt es keinen Raum für eine positivere Einschätzung der Liebespassion“.11 Wo man hingegen, wie Rüdiger Schnell 30 Jahre zuvor, das Dämonische an der Minne lediglich als einen literarischen Topos sieht, der über Morungen auf Ovid zurückgeht, klingt die Schlussfolgerung weniger drastisch: „Herbort von Fritslar […] spielt verschiedene literarische Traditionen in parodierender Absicht gegeneinander aus. Die Medeaszene wirkt so als Ganzes wie eine Art Komödie“,12 freilich keine moralfreie, wie Schnell dann in seiner Causa amoris ausführt: Herborts Liet von Troye übe „Kritik an einer außerehelichen Liebesbeziehung“, weil sein Autor von „Skepsis gegenüber höfischen Vorstellungsmustern und Darstellungskonventionen“ erfüllt sei. Wenn Jason und Medea doch recht bald miteinander im Bett landen, dann kontrastiert Herbort ‚höfische‘ Liebestopoi mit der ‚wahren‘ sinnlich-sexuellen Leidenschaft. […] Somit gibt sich wieder einmal die kritische Distanz Herborts zur höfischen Minne-Darstellung seiner Zeit zu erkennen. In einem ersten Schritt baut er das ‚höfische‘ Liebesinventar auf, im zweiten reißt er es ironisch-relativierend nieder.13
Unabhängig davon, ob die Darstellung höfischer Liebe als Verdammung oder als ironische Relativierung gewertet wird, scheint man sich doch auf eines geeinigt zu haben: auf Herborts grundsätzliche Distanz zu seinen Gegenständen, die sich in seinen literarischen Verfahren manifestiere. Auch die Tendenz zur Kürzung sieht Elisabeth Lienert so im funktionalen 10
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Jüngst explizit bei Olga Seus: Heilsgeschichten vor dem Heil? Studien zur christlichen Überformung der mittelhochdeutschen Trojaverserzählungen, Diss. masch. München 2008. Seus wertet die Ambivalenzen der Figuren und die Widersprüchlichkeit ihres Verhaltens als indirekte Attribuierung mangelnder stæte, womit sie ihre Befähigung zum Heil verlören. Ihre These lautet: Herbort benenne die Unbeständigkeit der Figuren nicht nur, sondern vollziehe sie narrativ nach, wodurch der „Eindruck einer heillosen Welt“ entstehe (S. 266), die gleichwohl faszinierend sei. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 449 u. 451. Schnell, Andreas Capellanus (Anm. 4), S. 143–150; Zitat S. 150. Schnell, Causa Amoris (Anm. 4), S. 170, 264, 283 f. Zustimmend jüngst: Andrea Sieber, Medeas Rache. Liebesverrat und Geschlechterkonflikte in Romanen des Mittelalters, Köln u. a. 2008 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Große Reihe 46), S. 198. Sieber sieht bei Herbort eine „instabile[] Ironie“ nach Wayne C. Booth (S. 228).
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Zusammenhang dieser Distanznahme: Sie nehme „mit der höfischen Verbrämung den idealisierenden Glanz von den Liebesaffären wie von den Kampftaten“ und reduziere sie „auf Sexualität und Treuebruch, auf brutales Gemetzel und Abschlachten.“14 Nahezu alle Textstrategien und literarischen Verfahren im Liet von Troye werden nach wie vor hauptsächlich danach befragt, inwiefern sie zur impliziten Bewertung und Kommentierung des Geschehens beitragen. Dafür freilich muss das Widersprüchliche in ein einheitliches Deutungskonzept integriert werden, in dessen Zentrum die gemutmaßte Intention des geistlichen Autors steht. Bei anderen mittelalterlichen Autoren – sie müssen nicht einmal Wolfram oder Gottfried heißen – würde eine solche Fragerichtung als nicht mehr ganz zeitgemäß gelten. Dazu muss man weder an die Sinnexplosionen der emphatischen Intertextualitätstheoretiker vergangener Jahrzehnte glauben, noch radikaler Dekonstruktivist sein. Der Grund für den methodischen Anachronismus liegt vermutlich darin, dass wir Schwierigkeiten damit haben, einer schulrhetorisch verfassten Geschichtsdichtung, die eine als real geglaubte Vergangenheit erzählend erklärt, a priori die gleiche ästhetische Komplexität und die gleiche axiologische Uneindeutigkeit zuzugestehen wie einem Roman der matière de Bretagne. Die folgenden Überlegungen zielen am Beispiel der Gattungsinterferenz im Liet von Troye auf eine sehr grundsätzliche Frage, wie nämlich mit dem Verhältnis zwischen Semantiken, die durch Referenz auf andere Texte importiert werden, und dem je textspezifischen Bedeutungsaufbau umzugehen sei – zumal wenn dieses Verhältnis ebenso widersprüchlich erscheint wie der Bedeutungsaufbau selbst. Dazu werde ich zunächst einige Fragen skizzieren und vor diesem Hintergrund dann genauer auf den Text eingehen. Sie haben damit zu tun, ob wir im Liet von Troye überhaupt je mit Eindeutigkeiten rechnen dürfen. Wenn Herbort die Idee der höfischen Minne kritisieren wollte, dann stellt sich die Frage, wieso er gegen seine Quelle (und gegen die antike Tradition) Medeas einseitige Leidenschaft zu einer wechselseitigen Minnebeziehung gemacht hat. Cornelia Herberichs hat darauf hingewiesen, dass diese Umformung den Spielraum, der der Reflexion über die Minne eingeräumt wird, massiv vergrößert, weil nun auch Jason als Zurückgewiesener sprechen kann, so dass bereits hier die These der eindeutigen Abwertung höfischer Minne fragwürdig wird, weil sie offenbar nicht im Fokus des Textes selbst steht.15 Wenn die beiden Liebenden ihre Erfahrungen und Reflexionen ausgerechnet in Versatzstücke aus Morungens Minnelyrik fassen, sollte das gegenüber der Vorstellung skeptisch stimmen, dass hier ein Elisabeth Lienert: Deutsche Antikenromane des Mittelalters, Berlin 2001 (Grundlagen der Germanistik 39), S. 114. 15 Vgl. Cornelia Herberichs: Poetik und Geschichte. Das ‚Liet von Troye‘ Herborts von Fritzlar, Würzburg 2010 (Philologie der Kultur 3), S. 249–258, hier S. 251. 14
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idealisierendes Minnekonzept hereinzitiert und letztlich abgewiesen werde. Wie vor allem Beate Kellner herausgearbeitet hat, sind gerade Morungens Lieder davon geprägt, dass in ihnen die systemkonstitutiven Ambivalenzen der klassischen Minnedoktrin im Zusammenhang mit Gewalt massiv thematisiert werden.16 Überhaupt sind Liebe und Gewalt im Minnesang häufig auf der Ebene der Metaphorik, manchmal auch auf der Ebene der vorgestellten oder dargestellten Handlungen direkt aneinander gekoppelt,17 so dass die idealisierende Vorstellung höfischer Minne womöglich gar keine mittelalterliche, sondern eine der neuzeitlichen Interpreten ist. Minne hat eine agonale Struktur. Sie ist als Teil des kollektiven Imaginären immerhin die Liebeskonzeption einer Gesellschaft, die sich als Kriegerkultur versteht. Nebenbei wirft dies auch ein Licht auf das Leid des Kriegs, das Herbort immer wieder als ein sich numerisch Vervielfachendes ausstellt, und auf seine zahllosen Sarkasmen. Beides ist immer wieder als Indiz für die kritische Distanz des Klerikers zu seiner materia gewertet worden; beides jedoch würde beim Wechsel des Interpretationsrahmens keinesfalls axiologisch bewertet werden, dann nämlich, wenn man es in den Zusammenhang einer heroischen Anthropologie stellt, in deren Rahmen das Aushalten und Ertragen körperlicher Gewalt ebenso dazugehört wie die Klage und der Spott über Leid und Gewalt.18 Wie andere Antikenromane auch (etwa Veldekes Eneasroman oder Konrads Trojanerkrieg) changiert das Liet von Troye zwischen höfischen und heroischen Weltentwürfen, indem es die heroischen Gründungs- und Vernichtungsakte im Blick auf Minne und Aventiure perspektiviert. III. Minnesangtopik und narrative Äquivalenzrelationen Die starke Affinität zwischen Minne und Gewalt lässt es grundsätzlich verfehlt erscheinen, in der Jahreszeitentopik der Natureingänge nichts als pure Idyllik zu sehen. Nicht erst ein Blick auf die Neidhartschen Sommerlieder lehrt, dass es auch hier wieder um Gewalt und Agon geht: erstens um den Krieg des Sommers gegen den Winter, zweitens um Sexualität, die wiederum 16 17 18
Vgl. Beate Kellner: Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen. In: PBB 119 (1997), S. 33–66. Vgl. Cornelia Herberichs: Auf der Grenze des Höfischen. Gewalt und Minnesang. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Ders./Manuel Braun, München 2005, S. 341–363. Vgl. Manuel Braun: Mitlachen oder verlachen? Zum Verhältnis von Komik und Gewalt in der Heldenepik. In: Braun/Herberichs (Anm. 17), S. 381–410; Wolfgang Haubrichs: ‚Labor sanctorum‘ und ‚labor heroum‘. Zur konsolatorischen Funktion von Legende und Heldenlied. In: Die Funktion außer- und innerliterarischer Faktoren für die Entstehung deutscher Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Christa Baufeld, Göppingen 1994 (GAG 603), S. 27–49.
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durchaus gewaltsam imaginiert werden kann.19 Hinzu kommt, dass das Höfische in der Adelsliteratur kaum je als eine stabile Harmonie beschrieben wird, sondern als das stets neu zu verteidigende Resultat einer beständigen gewaltsamen Auseinandersetzung mit den Mächten des Unhöfischen, die selbst am Hof immer wieder zu bannen sind und die auch von den Helden selbst Besitz ergreifen. Narrativ kann sich das Höfische nur dort errichten, wo auch seine ausgegrenzte Schattenseite, das Nicht-Höfische, thematisiert wird.20 Es stellt sich nicht allein die Frage, ob die über die Lyrik-Versatzstücke hereinzitierten Semantiken überhaupt eine dann abgewiesene Idealität heraufbeschwören sollen, sondern auch die Frage, wie viel Semantik die Inserate überhaupt transportieren können. Patrick Fortmann hat die Thematisierung von Liedvorträgen in der heroischen Epik untersucht und ist dabei zu dem auffälligen Ergebnis gelangt, dass die spezifische Semantik der hereinzitierten Lieder und Aufführungssituationen kaum eine Rolle spielt. Sie indizieren nur etwas sehr allgemein Höfisches; ihre Funktion hängt gerade nicht von ihrer ursprünglichen Semantik ab, sondern von der Narration, in die sie eingebettet sind.21 In Bezug auf das Liet von Troye hat Cornelia Herberichs dafür plädiert, die kaum zu beantwortende Frage nach „‚dem‘ Minnekonzept Herborts“ ebenso in den Hintergrund zu rücken wie die Fixierung des Blicks auf die intertextuell importierten Semantiken. Stattdessen schlägt sie für die Minnehandlungen eine Lektüre vor, die neben der syntagmatischen Einbettung der Szenen vor allem auf ihre Paradigmatik abzielt, auf ihre Ähnlichkeiten (im Sinne von Äquivalenzrelationen). [Die] Analogien und Vergleichspunkte legen den Lesern sowohl kontrastive als auch komplementäre Lektüren der einzelnen Minnehandlungen nahe. Gefordert ist deshalb ein zweifacher Fokus auf die Minnehandlungen, um die einzelnen Szenen einerseits in ihrem spezifischen Handlungskontext und andererseits in Anbetracht paradigmatischer Bezüge innerhalb des Romans zu verorten: Auf syntagmatischer Ebene ist zu beobachten, dass Herbort Topoi und Motive der Liebesdialoge und -reflexionen durch den jeweiligen unmittelbaren Handlungskontext semantisch ambiguisiert; auf paradigmatischer Ebene ist für das Liet von Troye bemerkenswert, dass Herbort auffällige semantische Bezüge zwischen den einzelnen MinnehandVgl. Jan-Dirk Müller: Strukturen gegenhöfischer Welt. Höfisches und nicht-höfisches Sprechen bei Neidhart. In: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hrsg. von Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller, Düsseldorf 1986 (Studia humaniora 6), S. 409–453; Ders.: Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993. Hrsg. von Peter Dilg/Gundolf Keil/Dietz-Rüdiger Moser, Sigmaringen 1995 (Kongreßakten des Symposions des Mediävistenverbandes 5), S. 29–47. 20 Vgl. Armin Schulz: Die Ambivalenzen des Höfischen und der Beginn arthurischen Erzählens. In: Scientia Poetica 13 (2009), S. 1–20; James A. Schultz: The shape of the round table. Structures of middle high German Arthurian Romance, Toronto u. a. 1983. 21 Vgl. Patrick Fortmann: … und sanc ir sîniu liet. Der Auftritt des Sängers in der Epik. In: ZfdPh 125 (2006), S. 342–367. 19
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lungen herstellt, was deren sprachliche Präsentation und die Techniken der Metaphernverwendung betrifft.22
Die Minnesang-Zitate und -Referenzen sind nun genuin in diese Wiederholungsstrukturen eingebunden. Dietrich Huschenbett, der eine instruktive Zusammenstellung der entsprechenden Stellen verfasst hat, sieht in der Rekurrenz der Tagelied-Anklänge und der Natureingangs-Zitate Mittel der Textgliederung und der Aufmerksamkeitslenkung, mit denen vorausgehende Szenen wieder in Erinnerung gerufen würden.23 Das meint offenbar eine textuelle Paradigmatik, auch wenn Huschenbett sich mit funktionalen Deutungen stark zurückhält. III.1 Morungen-Referenzen Man muss sich grundsätzlich vor Augen halten, dass die Minnesang-Referenzen im Text zwar durchaus häufig sind, im Gesamt aber keine besonders große Menge Text bilden. Anders als die Tagelied-Anklänge und die Natureingangstopik sind die Morungen-Zitate zunächst kaum auffällig, weil sie vollkommen stringent in die Textur ihres narrativen Kontexts eingebunden sind. In der Forschung hat man besonders auf das berühmte Elbenlied aufmerksam gemacht, das Herbort dazu nutzt, Jasons Irritationen über die Liebe, die ihn bei der Begegnung mit Medea so plötzlich überfallen hat, in Worte zu fassen. Anfänglich spricht Jason in bekannten Topoi, er formuliert die gängige Paradoxierung von liep vˉn leit (V. 733; „Freud und Leid“), zwischen denen er keinen Unterschied mehr erkennt, weil er truric vnˉ […] fro (V. 740; „traurig und froh“) zugleich ist, so dass min herze swebet / In einer vnsenften senftickeit (V. 744 f.; „mein Herz schwebt in einer unsanften Sanftheit“). Dann aber glaubt er sich von den Elben getrogen, in einen Traum versetzt, nein verzaubert, dann aber wieder nicht verzaubert, sondern lediglich unter dem Einfluss der Minne stehend. Das Herz ist ihm wie eine glühende Kohle, Mark und Bein kochen und brennen, er fürchtet vor innerer und äußerer Hitze zu verbrennen, wenn ihm die vrauwe medea (V. 774) nicht mit ihrer kvnst und ihrer list (V. 776 u. 778) das Leben rette. Das erinnert natürlich an das Elbenlied (MF 126,8 f.: Von den elben wirt entsehen 22
23
Herberichs (Anm. 15), S. 248 f. Die von ihr hier gemeinten Analogien sind die folgenden: „Die diversen Minnehandlungen der Trojaromane zeichnen sich durch gewisse Gemeinsamkeiten aus, was die jeweiligen Konstellationen betrifft: Minne verbindet Personen der verfeindeten Parteien, wenn ein Trojaner an eine Griechin (Paris und Elena), wenn ein Grieche an eine Trojanerin (Achill und Polyxena; Diomedes und Briseida) sein Herz verliert. Verheiratete Damen werden ihrer Familie entrissen und gehen in ihrer neuen Heimat eine Liaison ein (Elena, Briseida); die eifersüchtigen Männer werden zu Kampfgegnern (Menelaus und Paris; Troylus und Diomedes). Minne kann Voraussetzung dafür sein, eine Bewährungsprobe zu bestehen (Jason) oder kann die Heldentaten eines Mannes gerade behindern (Achill)“ (S. 248). Vgl. Huschenbett (Anm. 4), S. 309–312.
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vil manic man, / sô bin ich von grôzer liebe entsên; „Durch den Blick der Elben wird manch ein Mann verzaubert, genau so bin ich von großer Liebe verzaubert worden“), so dass Rüdiger Schnell hier gar eine „literarische Abhängigkeit“ Herborts vermutet, weil „erst Heinrich von Morungen […] eine Herbort vergleichbare Gegenüber- und Zusammenstellung von zouber, alp/elbe, minne und Feuer/Hitze hervorgebracht“ habe.24 Nachdem Medea diese Klage gehört hat, spricht sie bei sich, in ihrem Herzen, davon, dass sie ihren Geist immer um Jason herumschweben lassen wolle, solange er lebe; wenn er denn sterbe, sollten sie beide sich von Gott ins svnnen paradise (V. 814; „Sonnenparadies“) weisen lassen, wo sie für immer zusammenbleiben könnten. In der Forschung hat man dies mehrfach in Zusammenhang mit Morungens Konzept der Jenseitsminne gebracht. Herberichs weist darauf hin, dass die Pointe der Episode vor allem darin besteht, dass die Minnesangtopik der Figurenrede mit dem Geschehen selbst verwoben ist: Jason fühlt sich von der Minne zu einer Frau verzaubert, die selbst dem Geschäft des Zauberns nachgeht; lebensbedrohliche Hitze begegnet ihm gleich am nächsten Morgen bei seinem Kampf gegen den Drachen, der das Goldene Vlies bewacht, und die Rettung, die der liebeskranke Heros von seiner Dame erhofft, wird ihm ganz wörtlich zuteil, indem Medea ihm vor dem Kampf mit lebensbewahrenden Segenssprüchen und Zaubergegenständen ausstattet. Herberichs plädiert daher dafür, die Funktion und das semantische Potenzial der Minnesangtopik vorrangig vom Handlungskontext der Argonautenfahrt her zu beschreiben.25 Ob dieses Gattungszitat auf eine Verabschiedung des Konzepts Hoher Minne oder eine ironische Abweisung minnesängerischer Sprache abziele, sei letztlich nicht entscheidbar.26 Deutlich werde nur, dass die Minne in den Figurenreden reflexiv werde, indem die Protagonisten darüber nachdächten, inwiefern die genannten und andere Minnetopoi (Herzens- bzw. Identitätstausch; Minne als Erbe) auf sie zuträfen. Die Einbettung in den narrativen Kontext, die Vernetzung der Topoi mit den Handlungselementen, insgesamt die Kohärenz der Szene dämmen die Konnotationen ein, die das jeweilige Inserat aus seinem ursprünglichen Gattungskontext mitbringt, weil die Semantik dann vor allem durch den nachgeschobenen Drachenkampf bestimmt wird, der Minne und Kampf paradigmatisch aneinander koppelt. Die zitierten Topoi werden also durch Rekurrenz und Kontiguität intern umcodiert, sie werden im Sinne des Äquivalenzprinzips paradigmatisiert.27 Paradigmatisierung meint nun das zentrale Poetizitätskriterium im Sinne der berühmten Definition von 24 25 26 27
Schnell, Andreas Capellanus (Anm. 4), S. 144. Herberichs (Anm. 15), S. 253. Ebd., S. 254. Vgl. Michael Titzmann: Art. „Äquivalenzprinzip“. In: RLW 1 (1997), S. 12 f.
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Roman Jakobson: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination. Die Äquivalenz wird zum konstitutiven Verfahren der Sequenz erhoben. […] [I]n der Dichtung […] dient die Gleichung zum Bau einer Sequenz.“28 Rekurrenz stiftet so ‚Sequenzen‘; Rekurrenz sorgt für poetische Selbstreferenz. Dasjenige, was aus fremder Rede stammt, bleibt durch die Wiederholung nicht bloß isoliertes Inserat, sondern wird ins eigene Textsystem integriert und gewinnt dort eine eigene Funktion. Die Koppelung zwischen dem Kampf und der Minne, gegen die die wenigsten Protagonisten sich wehren können, weil sie sie als eine beinahe zauberische Macht von außen befällt, bleibt dann auch für den weiteren Verlauf der Handlung bestimmend. In ihrer Engführung erscheinen Sexualität und lebensbedrohlicher Kampf in der Jason-Medea-Passage als aneinander gebunden und als ineinander übersetzbar; genau das ist für den weiteren Verlauf paradigmatisch. Tragend für die Handlung ist gerade nicht ein spezifisches Minnekonzept, wie es im Minnesang bei Morungen vorgebildet sein könnte, sondern das skizzierte Muster, das sich durch textinterne Rekurrenzen, Äquivalenzen und syntagmatische Koppelungen allererst konstituiert. Hierunter fällt auch die Rede vom svnnen paradise. Die Vorstellung mag womöglich aus Morungens Konzept der Jenseitsminne entlehnt sein, aber im narrativen Kontext des Liet von Troye gewinnt sie eine völlig andere Bedeutung, denn schon zuvor ist dort beschrieben worden, wie Jason und Medea den Anblick des jeweils Anderen mit dem Strahlen der Sonne gleichsetzen (V. 635–642); dieses Motiv begegnet zwar auch bei Morungen (Si liuhtet sam der sunne tuot, MF 129,20; „Sie leuchtet, wie es die Sonne macht“), ist aber ebenso bei anderen Autoren, zumal in der Epik, verbreitet. Insgesamt verliert das svnnen paradise die Markiertheit, die auf einen spezifischen extratextuellen Zusammenhang hinweist und reiht sich ein in ein Paradigma der Wirkung, die der Anblick der geliebten Person auch in anderen Minnebeziehungen des Textes hat. Mit alledem sei nicht gesagt, dass die Minne im Liet von Troye nicht durchaus ambivalent inszeniert würde. Sie ist von Anfang an ein prekäres Faszinosum, das die Ordnung der Welt immer wieder erschüttert, so aber auch die gewaltigen Kampftaten allererst hervortreibt, die man bedauern, bespotten, bestaunen kann.29 In reiner Negativität aber geht die Minne 28 29
Roman Jakobson: Linguistik und Poetik [1960]. In: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. von Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert, Frankfurt a. M. 1979 (stw 262), S. 83–121, hier S. 94 f. (Hervorhebung i. Original). Die mittelalterlichen Bearbeitungen des Argonautenstoffes sind besonders darum bemüht, die Liebe von Jason zu Medea nicht mehr als einseitige, sondern als gegenseitige herauszustellen, welche essentiell mit dem Gewinn des Goldenen Vlieses verkoppelt ist, so dass sich hier eine paradigmatische Verbindung zwischen Minne und Aventiure nach Art des höfischen Romans ergibt; vgl. Armin Schulz: Das Goldene Vlies und das mythische Außerhalb des Höfischen.
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nicht auf, weil Herborts literarische Verfahren ihre Komplexität massiv steigern. Womöglich geschieht dies gewissermaßen hinter dem Rücken des Autors und gegen seine Intention, aber es ist zwingendes Resultat seines Schreibens. Gerade der kunstvolle Umgang mit der materia und der literarischen Tradition erzeugt eine poetische Übercodierung. III.2 Semantische Markierungen durch Naturtopik Ich komme abschließend in systematischer Perspektive darauf zurück, möchte aber zuvor das Problem an einem zweiten Beispiel noch deutlicher werden lassen. Es handelt sich dabei um Gattungszitate, deren Inseratcharakter im Gegensatz zu den besprochenen Topoi weitaus auffälliger ist.30 Sie fügen sich nicht nahtlos in den Kontext ein wie die schon erwähnten Versatzstücke aus dem Minnesang, die aus den Reflexionen der Protagonisten nicht weiter hervorstechen. Das Kontinuum der Erzählung wird nun aber durch Minnesang-Elemente gestört, die weder thematisch noch stilistisch zu ihrem narrativen Umfeld passen: durch Natureingänge und durch topische locus amoenus-Anklänge. Sie sind weitgehend bei Benoit vorgebildet, werden jedoch von Herbort deutlich ausgebaut. Insofern ist die generische Interferenz hier klar markiert, im Unterschied zum ersten Beispiel. Anders als Dietrich Huschenbett, der auf die Gattung der Minnereden verweist,31 würde ich die hier um 1200 relevante Gattungstradition eher im Minnesang oder in der mittellateinischen Liebeslyrik sehen. Natürlich ist der Topos des locus amoenus auch ein Erbe antiker Dichtungstradition und in der Epik weit verbreitet; es kommt aber zunächst womöglich gar nicht so sehr auf die tatsächliche Provenienz an als vielmehr darauf, dass dieser Topos ein Weltmodell impliziert, das von demjenigen der übrigen dargestellten Welt deutlich getrennt ist, im Sinne eines davon unterschiedenen Chronotopos, eines anderen Raum-Zeit-Gefüges, das der Qualität des Lyrischen, wie sie Hartmut Bleumer für diese Tagung heuristisch beschrieben hat, näher kommt, als dies sonst in der Epik üblich ist. Denn dieses Raum-ZeitGefüge setzt den Fortgang der Zeit zugleich voraus (Jahreszeiten) und stellt ihn in der Präsenz des Augenblicks still.32 Solche Paradoxierungen finden
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31 32
Narrative Spekulationen über das Andere von Minne und Aventiure in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. In: Unorte. Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Matthias Däumer/Annette Gerok-Reiter/Friedemann Kreuder, Bielefeld 2010 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 3), S. 291–310. Ich verwende bewusst den Topos-Begriff mit all seinen Unschärfen, weil er historisch an derjenigen systematischen Stelle steht, an der mittelalterliche Rhetorik und Poetik Phänomene der Intertextualität behandeln; vgl. Peter Hess: Art. „Topos“. In: RLW 3 (2003), S. 649–652. Vgl. Huschenbett (Anm. 4), S. 312. Vgl. Bleumer (Anm. 5).
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sich besonders auffällig dort, wo der antike Topos in die matière de Bretagne übernommen wird: im Zusammenblenden von Stillstand und Wandel, Leben und Tod in den immer auch amoenen Orten von Joie de la curt, Laudines Gewitterquelle, Iwerets Behforet und anderswo. In diesen Idyllen stirbt man auch um der Minne willen. Dietrich Huschenbett sieht in den späteren Natureingängen im Liet von Troye Rückverweise auf das Paris-Urteil, das auffällig vom Topos des locus amoenus geprägt ist, und damit Rückverweise auf eine Anderweltlichkeit, die von der Minne bestimmt sei. In diesem Sinne solle das Thema der Geschichte präsent gehalten und ihr Ursprung markiert werden; Huschenbett hält dabei allerdings schon fest, dass der tatsächliche Ablauf der Geschichte nicht mit dieser Verweisstruktur konform geht.33 Nachdem Jason Medea entführt hat und mit dem Goldenen Vlies heimgekehrt ist, wirbt Hercules um Verbündete, weil er sich für die schmähliche Behandlung rächen möchte, die den Argonauten bei ihrer Rast vor Troja zuteil geworden ist. 15 Schiffe und ein mächtiges Heer bringt er zusammen. Es gibt nun einen merkwürdigen Einschnitt. Der Beginn der Secunda distinctio – die einzige vollständige Handschrift ist in 21 Distinctiones gegliedert – wird durch einen auffälligen Wechsel vom epischen ins lyrische Register markiert: Als iz quam an die zit Daz die kelde gelit Vn¯ die werme zv gat So daz iar die svzze hat Noch zv heiz noch zv kalt Swēne saffet der walt Vn¯ entspringet daz gras Vn der wint gut was Do schiften vz dem lande Die krichischē wigande Sie furen ir heruart Daz in ruwe niht enwart (V. 1233–1244).34
Als die Zeit gekommen war, da die Kälte aufhört und die Wärme zunimmt, so dass die Jahreszeit lieblich wird, weder zu heiß noch zu kalt, wenn der Wald austreibt und das Gras sprießt und der Wind gut ist, da stachen die griechischen Helden in See. Sie begaben sich auf einen Kriegszug, so dass sie keine Ruhe mehr hatten.
Das ist der erste von mehreren Natureingängen, die den Handlungsfortgang deutlich zu gliedern scheinen, deutlicher jedenfalls als der Rhythmus von Schlachten und Waffenstillständen. Auch hier ist der entsprechende Topos bereits weit unauffälliger zuvor eingeführt worden, nämlich bei der 33 34
Vgl. Huschenbett (Anm. 4), S. 309 f. Derlei fehlt bei Benoit. Dort markiert der Erzähler den Übergang durch den Hinweis auf die unübertroffene Größe der Kriegstaten, von denen er nun singen wolle. Von einer locus amœnus-Topik, die zugleich das semantische Feld der Minne mit aufruft, ist an dieser Stelle nichts zu bemerken.
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Rast der Argonauten auf trojanischem Terrain, das einzelne Züge eines locus amoenus trägt: Sie hettē fundē eine habe Bi eime wazzer kleine Luter vnd fil reine Frisch vnˉ gut in allen wis (V. 350–353).
Sie hatten einen Naturhafen gefunden, bei einem kleinen Fluss, klar und ganz rein, frisch und gut auf jederlei Art.
Derlei begegnet dann später mehrfach an signifikanter Stelle: Als die Trojaner nach der ersten Zerstörung der Stadt darüber beraten, wie man darauf reagieren solle, dass die Griechen die entführte Priamus-Schwester Hesiona nicht herausgeben, berichtet Paris von einer Hirschjagd in der Sommerhitze, bei der er zur Abkühlung im Schatten eines Baums ausgeruht habe. Dieser sei von einem kühlen Bach umflossen worden, der dort aus einer Quelle entsprungen sei (V. 2164–2190).35 Dann seien drei Göttinnen mit einem goldenen Apfel auf ihn zugekommen. Gegen warnende Stimmen beschließen die Trojaner daraufhin den Raub der Helena. Als sie zu Beginn der dritten Distinctio nach Kitharea aufbrechen, gibt es wieder einen merkwürdigen Einschnitt: Senfte weter lichter tag / Blumē schin wurze smac / Der vogel sanc das grune ris (V. 2349–2351; „angenehmes Wetter, heller Tag, der Anblick der Blumen, der Geruch der Kräuter, der Gesang der Vögel, der grüne Zweig“) „sorgen dafür, dass Paris sich gut auf den Sommer vorbereitet“ (V. 2352 f.). Leid und Lieblichkeit der Jahreszeiten wechseln einander ab; der „süßen Tage wegen“ (V. 2364) vergessen die Trojaner nun all ihr Leid und all ihre Klage.36 Nach der Entführung der Helena sammeln die Griechen sich zu Beginn der fünften Distinctio, Als der winter abe nam / Vnˉ ez gein sumerzit quā (V. 3299 f.; „als der Winter vergangen war und der Somme nahe war“). Die siebzehnte Distinctio, die vom Tod des Paris gegen Ajax handelt, beginnt mit der lyrischen Beschreibung eines frühlingshaften locus amoenus, die mit einem Mal in die Negativität kippt: So die wurz enspringet Vnd der vogel singet Vn¯ langet der tac Vnd ruch vnd smac Svzzet vf der owe So das gras vō dem towe 35
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Als die Pflanze aufblüht und der Vogel singt und der Tag länger wird und Geruch und Duft auf der Wiese süß werden, als das Gras von Tau
Dies ist bei Benoit vorgebildet, aber nicht mit derartig ausführlichen Topoi des Amoenen. Das ‚Andere‘ der Szene wird hier dadurch ausgedrückt, dass die folgende Begegnung mit den drei Göttinnen – und auch mit Merkur, der bei Herbort fehlt – im Traum stattgefunden habe (V. 3860–3872). Deutlich knapper vorgebildet bei Benoit: El tens que chantent li oisel, / Orent mer coie e le tens bel. / […] / Mout lur venta dreit Eürus (V. 4167 f. u. 4172; „Au temps où les oiseaux recommencent à chanter, la mer se fit calme et le temps serein. […] et l’Eurus soufflait favorablement“).
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Nazzet hin gein morgē So die werlt vō sorgē In die freude keret Do wart ir leit gemeret Die svzze zit in svre wart (V. 13873–13883).37
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zum Morgen hin nass wird, wenn die Welt sich von den Sorgen weg hin zur Freude kehrt, da wurde ihr Leid vermehrt: Die süße Jahreszeit wurde ihnen sauer.
Der Schönling Paris stirbt in der schönen Jahreszeit (Der schone in der schonē zit, V. 13979) und liegt tot im grünen Gras, das schöne Gesicht bedeckt [m]it blumē mit krute / Daz gezam dem vrowē trute (V. 13985 f.; „mit Blumen und mit Blättern, das passte zum Liebling der Damen“).38 Ein letztes Mal an signifikanter Stelle begegnet die Natureingangstopik dann in dem langen Exkurs, den der Erzähler den Amazonen widmet, die Rache für die gefallenen Heroen der Trojaner nehmen wollen, zumal für Hector, in den die Königin Penthesilea verliebt ist. Sie stammen aus Weltgegenden, in denen die Sonne aufgeht, wo es heiß ist: Sie ligent bi der svnnē (V. 14300; „Sie liegen bei der Sonne“). Um sich fortzupflanzen, treffen sie sich mit Rittern drei Monate lang in einem benachbarten Land, das wiederum amoene Züge trägt: Da ist zv mīnen gut gemach (V. 14341; „Da gibt es jede Bequemlichkeit, um sich zu lieben“). Bäche fließen durch Wiesen und Auen, es gibt Wälder und Bäume, Blumen und Kräuter.39 Aber die kämpfenden Frauen verstoßen gegen die göttliche Ordnung der Dinge, was vom Erzähler ebenso wie innerhalb der dargestellten Welt deutlich markiert wird. Die Bildlichkeit amoener Orte in Minnesang und mittellateinischer Liebesdichtung kartiert gewissermaßen den Grenzsaum der höfischen Kultur. Sie kartiert den Ort, wo diese Kultur mit ihrer Affektkontrolle und ihrem Affektaufschub sich idealerweise revitalisiert: in Muße, Ruhe, erfüllter Sexualität, Tanz und Fest; sie kartiert damit aber auch einen Raum, hinter dem und selbst in dem schon dasjenige lauert, was gewöhnlich von ihr ausgegrenzt wird: Enthemmung, radikale Gewalt, animalische Natur. Auffälligerweise bringt Herbort die Anklänge an den Topos des locus amoenus immer wieder in die unmittelbare textuelle Nähe zu Darstellungen der Gewalt und des Unrechts. Gesetzt den Fall, dass man die kulturell beding37
38 39
Dies wieder nur sehr knapp bei Benoit: En juing, quant sunt plus lonc li jor, / Que li soleiz rent grant chalor / Se ratornerent, ce sai dire (V. 22599–22601; „En juin, au moment où les jours sont les plus longs et où le soleil est le plus chaud, les Grecs, je le sais bien, reprirent les armes“). Ihre Kampfesglut bildet ein semantisches Feld mit dem Waffenglanz, der dem spanischen Gold und dem Sonnenschein gleichgesetzt wird; dieser Bildbereich rückt hingegen bei Herbort in den Hintergrund, weil hier nur vom morgendlichen Sonnenschein die Rede ist (V. 13886 f.). Dies fehlt bei Benoit. Dem Schlachtfeld fehlt jede kontrastive Idyllik, und dem Paris steckt Ajax’ Schwert im Gesicht (V. 22823 f.). Deutlich kürzer bei Benoit. Dort wird die Natur des schönen Landes, das die Amazonen im Frühjahr zur Fortpflanzung nutzen, nur sehr knapp und ohne idyllische Anklänge beschrieben (V. 23311–23318).
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ten Konnotationen idyllischer Naturschilderung im Liet von Troye bei jeder Verwendung als präsent setzt, als aktualisiert, dann drängt sich gerade von der zuletzt besprochenen Passage aus der Eindruck auf, dass die textuelle Nähe zum schöpfungswidrigen Verhalten der Amazonen auch all dasjenige konnotativ kontaminiert, was die Topoi des Amoenen positiv zum Ausdruck bringen können; es bleibt allein ihre Schattenseite. In der textuellen Engführung mit der Mechanik von Rache und Vergeltung, mit Akten der Gewalt und des Unrechts, mit Verstößen gegen die von Gott eingerichtete Ordnung der Geschlechter, mit Szenen des Verlusts an Selbstkontrolle erschienen so Minne und Sexualität als abgewiesene Alternativen40 ebenso abgewertet wie die höfische Kultur selbst. Das von dieser Kultur Ausgegrenzte kehrte so als ihr Eigentliches wieder, als ihr wahres Zentrum. Eine solche Lektüre lieferte gewissermaßen die Bestätigung des gängigen Herbort-Bildes aus der Perspektive der Intertextualitätstheorie. Damit wäre man aber den eingangs skizzierten Wertungen nicht entronnen. IV. Fazit: Paradigmatisierung amoener Topik Denn eine solche Lektüre funktioniert nur dann, wenn man etwas sehr Wesentliches ausblendet: die Paradigmatisierung der amoenen Topik, die sich aus der variierenden Wiederholung ihrer Elemente ergibt. Im Verständnis von Jan Mukařovský ist das Kunstwerk eine Bündelung unterschiedlicher – inner- wie außerästhetischer – Elemente, Codes, Werte und Wertsprachen, die durch selbstreferentielle künstlerische Verfahren untereinander derart dynamisiert werden, dass sie „von der aktuellen Verbindlichkeit gelöst“ werden, d. h. ihre Referenz auf Realitäten und das kulturelle Imaginäre verlieren und im Freiraum der Kunst verhandelbar werden.41 In dem Augenblick, da die Amazonen und ihre Liebhaber sich im idyllischen Gelände treffen, hat der Natureingang längst nicht mehr die gleiche Semantik wie bei seiner erstmaligen Verwendung im Liet von Troye. Er zieht gewissermaßen die konnotative Spur all seiner vormaligen Verwendungen im Text mit sich, und diese Spur überlagert die ursprünglichen kulturell bedingten Konnotationen. Zu dieser Spur gehört ein Set von Themen, strukturellen Konfigurationen, Darstellungsmustern und Lexemen, die zu Beginn der Handlung etabliert werden und in je unterschiedlicher Kombination wiederkehren. Rekurrenz und Rekombination paradigmatisieren dieses Set von Motiven und Topoi. Ich nenne nur ein paar besonders auffäl40 41
Vgl. Armin Schulz: Fragile Harmonie. ‚Dietrichs Flucht‘ und die Poetik der ‚abgewiesenen Alternative‘. In: ZfdPh 121 (2002), S. 390–407. Jan Mukařovský: Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten [1935/36]. In: Ders., Kapitel aus der Ästhetik, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1982 (es 428), S. 7–112, hier S. 105.
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lige ‚Bestandteile‘, so wie sie eingangs eingeführt werden: 1. Intrige und Verrat (Peleas schickt seinen Neffen Jason auf die lebensgefährliche Suche nach dem Goldenen Vlies); 2. Minne als zauberische Gewalt, gegen die man sich nicht wehren kann (Jason und Medea); 3. die Engführung von Minne und Kampf (in der Liebesnacht mit Medea erhält Jason die Mittel und die Informationen, mit denen er am nächsten Tag den Drachen besiegen kann); 4. die Entführung einer Frau (Jason und Medea); 5. der durch Liebe bedingte Frontenwechsel einer Figur (Medea); 6. die Sonnenmotivik (Jason und Medea sehen sich wie auch einige andere Liebespaare gegenseitig als Sonnen, Medea wünscht sich nach dem Tod mit Jason ins Sonnenparadies, vor der ersten Zerstörung Trojas vergleicht der Burgwächter die vergoldete Ausrüstung des fremden Heeres mit der Sonne [V. 1295–1306], Paris sieht die drei Göttinnen als Sonnen, die Amazonen kommen aus einem Land, das bei der Sonne liegt und heiß ist); 7. Weckrufe des trojanischen Burgwächters, die manchmal Reminiszenzen an Tagelieder und auch an den Topos des locus amoenus evozieren; 8. eben solche Versatzstücke aus Natureingängen und Darstellungen amoener Natur; 9. das Konzept der Einleiblichkeit, die Liebende, Verwandte und Freunde miteinander verbindet (Medea glaubt, sie sei Jason; Achill fühlt sich mit dem Tod des Patroklus selbst halb tot).42 Die Liste ließe sich fortsetzen. Eben weil dieses Set von Themen, Motiven und Topoi immer wieder in unterschiedlichen Kombinationen durchvariiert wird, gewinnt der Text eine erstaunliche poetische Dichte, die der ‚historiographischen‘ Reduktion auf die Essentials des Stoffs und der Handlungsgründe diametral entgegenläuft. Herbort macht das Liet von Troye textuell kohärent – mit den zeitgenössisch üblichen Verfahren der Sujetfügung, die sich nirgends kodifiziert finden, aber allerorten in der literarischen Praxis beobachten lassen: Dazu gehören die Paradigmatisierung von Rekurrenzen, die nicht kausale, sondern assoziativ-kontiguitäre Koppelung unterschiedlicher Bedeutungsbereiche (wie beim Einsatz der Naturtopik) und der wechselseitige Überschlag zwischen der Ebene der bildhaften Rede und der Ebene der Handlung (wie, verkürzt gesagt, bei Minnesymptomatik und Drachenkampf ). Das Resultat für den Bedeutungsaufbau ist, dass die semantischen Echos, die aus der beständigen textinternen Rekombination entstehen, die Konnotationen, die etwa die lyrischen Elemente anfänglich noch aus ihren ursprünglichen Kontexten importieren, mehr und mehr überlagern. Der Text verweist in erster Linie auf sich selbst, im Sinne der poetischen Funktion Jakobsons. Ebenso überlagert die Komplexität der internen Bezüge und Echos die Eindeutigkeit der planen Abfolge des Geschehens und seiner punktuellen moralischen Kommentierung durch den Erzähler. Durch diesen Echoraum dringt kein klares 42
Herberichs (Anm. 15), S. 249–258, bes. S. 255 f., zieht hier eine Verbindung zur Diskussion der minnesängerischen Herzensmetaphorik in der epischen Dichtung um 1200.
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Wort mehr über richtiges und falsches Verhalten der Protagonisten, auch wenn es diese klaren Worte und ebenso klare Sanktionslogiken durchaus gibt. Das mag dem zeitgenössischen Verständnis von Geschichtsdichtung und der Intention des Autors Herbort zuwiderlaufen, aber es ist das zwingende Resultat eines Könnens, das man nicht immer nur an zeitgenössischen Rhetorikhandbüchern messen sollte. Was im Text selbst geschieht, gemahnt vom modernen Standpunkt aus eher an ein lyrisches Verfahren denn an ein episches. Fragen textueller Kohärenz werden in der Narratologie zumeist noch immer als Fragen der Handlungsmotivation diskutiert: im Sinne kausaler Verknüpfung, die freilich nicht je neu und je beliebig sein darf, sondern auf den übergeordneten Handlungszusammenhang bezogen sein muss, im Sinne einer Konvergenz von kausaler und finaler Handlungsmotivation. Ein solcher Kohärenzbegriff orientiert sich vor allem an der syntagmatischen Integration von Episoden, nicht jedoch an der paradigmatischen Organisation der Texte. Dass hingegen Wiederholungsstrukturen auf unterschiedlichen Ebenen – vom Wortlaut bis hin zu strukturellen Reprisen – mittelalterliches Erzählen dominanter prägen als syntagmatisch schlüssige Verknüpfungen, ist jenseits des arthurischen Doppelwegs lange nicht angemessen beachtet worden. Erst im Gefolge der Nibelungenlied-Forschung und anschließend an Rainer Warnings Überlegungen zur Tristan-Tradition hat sich der Blickpunkt inzwischen doch insgesamt verändert, so dass nun mehr und mehr auch die Paradigmatik des Erzählens und das Erzählen als paradigmatisches zur Geltung kommen.43 Indem paradigmatisches Erzählen geringeres Gewicht auf syntagmatische Integration und Verknüpfung legt, nähert es sich in seinem zentralen Verfahren der Sujetfügung, eben der Paradigmatisierung, stark der Lyrik an. Ein solches Verfahren ließe sich womöglich an kürzeren Texten erlernen und dann auf die Bearbeitung längerer epischer Vorlagen übertragen. Auffälliger als bei Herbort ist es freilich bei der späteren TrojanerkriegBearbeitung Konrads von Würzburg, in der etwa die allesamt scheiternden Liebesgeschichten in einem auffälligen Parallelismus entworfen sind. 43
Vgl. Jan-Dirk Müller: Motivationsstrukturen und personale Identität im Nibelungenlied. Zur Gattungsdiskussion um ‚Epos‘ oder ‚Roman‘. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hrsg. von Fritz Peter Knapp, Heidelberg 1987 (Germanische Bibliothek), S. 221–256; Rainer Warning: Die narrative Lust an der List. Norm und Transgression im Tristan. In: Transgressionen. Literatur als Ethnographie. Hrsg. von Gerhard Neumann/Rainer Warning, Freiburg i. Br. 2003 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 98), S. 175–212; Anne Sophie Meincke: Finalität und Erzählstruktur. Gefährdet Didos Liebe zu Eneas die narrative Kohärenz der Eneide Heinrichs von Veldecke? Stuttgart 2007; Armin Schulz: Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im Nibelungenlied und in der Kaiserchronik. In: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland/Matthias Meyer unter Mitarb. von Carmen Stange u. Markus Greulich, Berlin, New York 2010 (TMP 19), S. 339–360; Harald Haferland/Armin Schulz: Metonymisches Erzählen. In: DVjs 84 (2010), S. 3–43.
Hartmut Bleumer
Die Zeit Ulrichs von Liechtenstein Oder: Die Entdeckung der Realität aus dem Geist der Lyrik I. Zwischen Lyrik und Epik Grenzüberschreitungen zwischen Literatur und Realität gehören zu den interessantesten Fiktionen der literarischen Sinnbildung. Dies dürfte darin begründet sein, dass in solchen Grenzüberschreitungen die semantische Operation des literarischen Textes auf besondere Weise anschaulich wird.1 Nur hat diese Beobachtungsmöglichkeit ihren Preis, denn die semantischen Transgressionen wirken bisweilen recht desillusionierend. Könnte man etwa die Gestalt eines ritterlichen Frauendieners aus dem Raum der höfischen Literatur in den Raum der mittelalterlichen Realität versetzen, so müsste ein solcher Frauendiener schnell feststellen, dass die feudale Welt wohl kaum nach den Regeln einer literarischen Semantik funktioniert. Eines der bekanntesten Beispiele dafür liefert Miguel de Cervantes, dessen Don Quichotte demonstriert, wie schmerzhaft der Konflikt an der Grenze von Literatur und Wirklichkeit sein kann. Diese Grenze zur Realität bekommt aber nicht nur der Protagonist dieses Textes zu spüren, sie betrifft den Roman als Ganzes. So wird schon am pragmatischen Realismus von Don Quichottes Begleiter Sancho Pansa deutlich, dass auch die Erzählung nicht aus jenem Dilemma herauskommt, das sie für ihren Helden darstellt. Auch das Modell der harten Realität, auf das der Frauendiener trifft, ist im Roman nämlich immer nur ein literarisches. Literarische Figuren lassen sich nicht in die Realität versetzen. Die Grenzüberschreitung von der Literatur zur Realität erzeugt ihre eigene Realität – als literarischen Effekt.2 1
2
Vgl. am Beispiel der Metapher der räumlichen Grenzüberschreitung die klassische Position von Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-Dietrich Keil, 4. Aufl. München 1993 (UTB 103), hier bes. S. 14–18 allgemein zur Leistung der poetischen Sprache am Beispiel von Metaphern in der Lyrik, S. 295 explizit zur metaphorischen Grundoperation und S. 300–340 zu deren Verwendung als theoretische Schlüsselfigur anhand von Raummetapher und Sujetbegriff. Vgl. die semiotische Beschreibung des Mechanismus durch Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt. In: Ders., Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Aus dem Französischen
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Hartmut Bleumer
Einen strukturverwandten Fall solcher literarischen Realitätseffekte scheint der Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein zu bieten, weshalb schon in der frühesten Forschung eine gewisse Ähnlichkeit zum Roman von Cervantes konstatiert worden ist.3 Gewiss liefert der Frauendienst kein Beispiel von weltliterarischer Geltung, aber immerhin doch eine für die deutsche Literatur des Mittelalters recht ungewöhnliche Erzählung, deren Sonderstatus in den einschlägigen mediävistischen Forschungsresümees mit der charakteristisch-widersprüchlichen Etikettierung als erste fiktive Autobiographie angezeigt wird.4 In einem gewissen Sinne scheint der Protagonist des Frauendienstes sogar erfolgreicher zu sein als der Ritter bei Cervantes. Denn
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von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006 (es 1695), S. 164–172, hier bes. S. 171 der Begriff der „referentielle[n] Illusion“ als eines durch die Umkehrung rhetorisch-poetischer Deskriptionsprinzipien entstehenden, der historiographischen Schreibweise analogen Bezeichnungsverfahrens, in dem die Signifikanten der literarischen Erzählung funktionslos anmuten, dadurch ihre Signifikate verlieren und eine allgemeine Referenz suggerieren. Zuerst Friedrich Heinrich von der Hagen: Minnesinger. Deutsche Liederdichter des zwölften, dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts, aus allen bekannten Handschriften und frühen Drucken gesammelt und berichtigt, mit den Lesarten derselben, Geschichte des Lebens der Dichter und ihrer Werke, Sangweisen der Lieder, Reimverzeichnis der Anfänge, und Abbildungen sämmtlicher Handschriften. Vierter Theil: Geschichte der Dichter und ihrer Werke, Leipzig 1838, S. 321–404, hier S. 396. Ferner Anton E. Schönbach: Zu Ulrich von Liechtenstein. In: ZfdA 26 (1882), S. 307–326, hier S. 316; kritisch Reinhold Becker: Wahrheit und Dichtung in Ulrich von Lichtensteins Frauendienst, Halle 1888, S. 99; wieder Walther Brecht: Ulrich von Lichtenstein als Lyriker. In: ZfdA 49 (1908), S. 1–122, hier S. 119 u. 121; Friedrich Neumann: Ulrich von Lichtensteins Frauendienst. Eine Untersuchung über das Verhältnis von Dichtung und Leben. In: Zeitschrift für Deutschkunde 40 (1926), S. 373–386, hier S. 386; Karl Ludwig Schneider: Die Selbstdarstellung des Dichters im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. Bedeutung und Grenzen des Autobiographischen in der älteren deutschen Dichtung. In: Festgabe für Ulrich Pretzel zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Hrsg. von Werner Simon/ Wolfgang Bachofer/Wolfgang Dittmann, Berlin 1963, S. 216–222, hier S. 222; Urs Herzog: Minneideal und Wirklichkeit. Zum ‚Frauendienst‘ des Ulrich von Lichtenstein. In: DVjs 49 (1975), S. 502–519, hier S. 509. Vgl. zur Forschungsgeschichte Sandra Linden: Kundschafter der Kommunikation. Modelle höfischer Kommunikation im „Frauendienst“ Ulrichs von Lichtenstein, Tübingen, Basel 2004 (Bibliotheca Germanica 49), S. 13–21; ergänzend jüngst Christiane Ackermann: Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach und im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein, Köln u. a. 2009 (Ordo 12), S. 207–216. Die Literaturzusammenstellung bei Klaus M. Schmidt: Bibliographie zu Ulrich von Liechtenstein. In: Ich – Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter. Akten der Akademie Friesach „Stadt und Kultur im Mittelalter“, Friesach (Kärnten), 2.-6. September 1996. Hrsg. von Franz Viktor Spechtler/Barbara Maier, Klagenfurt 1999 (Schriftenreihe der Akademie Friesach 5), S. 495– 509, wird jetzt abgelöst durch die kommentierte Bibliographie von Sandra Linden in: Ulrich von Liechtenstein. Leben – Zeit – Werk – Forschung. Hrsg. von Ders./Christopher Young, Berlin, New York 2010 (deGruyter Lexikon), S. 535–586. Vgl. bes. das Stichwort bei Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 1, 11, 35 f., 367 u. 375 f. Zuvor Jan-Dirk Müller: Art. „Ulrich von Liechtenstein“, in: 2VL 9 (1995), Sp. 1274– 1282, hier Sp. 1275; Ders.: Lachen – Spiel – Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im Frauendienst Ulrichs von Lichtenstein. In: DVjs 58 (1984), S. 38–73, hier S. 57 u. 73. Die weiteren Versuche einer terminologischen Erfassung sind
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Ulrichs Frauendiener scheitert zunächst nicht an der Realität, die in seinen Text eingespielt wird. Vielmehr sieht es zunächst so aus, als könne Ulrich seine Realität tatsächlich literarisieren. Der Erzähler entwirft seine Lebensgeschichte anhand einer Gestalt, die sich selbst nicht nur in einer geradezu extremen Weise literarisch inszeniert: Mit seinen Ankündigungen, Botschaften, Briefen, Büchlein, Liedern, Gebärden und nicht zuletzt seinen Kostümierungen als Frau Venus oder als König Artus gelingt es dem erzählten Ulrich von Liechtenstein angeblich auch noch, die literarischen Spielregeln seiner Selbstinszenierung auf seine historische Umwelt auszuweiten.5 Er scheint das historische Österreich aus der Zeit des 13. Jahrhunderts vorübergehend in ein literarisches Panoptikum zu verwandeln. Was diese literarische Überformung der historisch anmutenden Wirklichkeit letztlich als prekär erscheinen lässt, das ist allerdings noch nicht die Grenze von literarischer Semantik und Realität, sondern erst die innerliterarische Grenzüberschreitung zwischen Epik und Lyrik. Der Erzähler präsentiert seine literarische Realität in einer Geschichte, aber diese Geschichte folgt zugleich immer wieder lyrischen Formulierungen: Die erzählten Selbstinszenierungen des Helden wirken zum großen Teil wie fortgesetzte narrative Interpretationen eines vorgängigen lyrischen Programms.6 Dieses
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zusammengestellt bei Hartmut Bleumer: Der Frauendienst als narrative Form. In: Linden/ Young (Anm. 3), Anm. 3 u. 4. Zum problematischen Verhältnis von historischer Referenz und poetischer Fiktion zuerst Becker (Anm. 3). Zu den historischen Daten und den im Text verzeichneten Namen bilanzierend die geschichtswissenschaftlichen Beiträge von Heinz Dopsch: Zwischen Dichtung und Politik. Herkunft und Umfeld Ulrichs von Liechtenstein. In: Spechtler/Maier (Anm. 3), S. 49–104; Gerald Krenn: Historische Figuren und/oder Helden der Dichtung? Untersuchungen zu den Personen im Roman „Frauendienst“. In: ebd., S. 105–132; und die nochmals korrigierten Urkunden-Regesten von Franz Victor Spechtler: Die UrkundenRegesten zu Ulrich von Liechtenstein. In: ebd., S. 441–493. Zu dem von Müller: Lachen – Spiel – Fiktion (Anm. 4), bes. S. 70 charakterisierten fiktionalen Status des Erzählens einerseits die Kritik durch die entschiedenere Akzentuierung der Fiktionalität bei Christelrose Rischer: wie süln die vrowen danne leben? Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion am Beispiel des ‚Frauendienstes‘ von Ulrich von Lichtenstein. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hrsg. von Gerhard Hahn/Hedda Ragotzky, Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 133–157, andererseits das Insistieren auf dem historischen Anspruch der Fiktion durch Klaus Grubmüller: Minne und Geschichtserfahrung. Zum ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Liechtenstein. In: Geschichtsbewußtsein in der deutschen Literatur des Mittelalters. Tübinger Colloquium 1983. Hrsg. von Christoph Gerhardt/Nigel F. Palmer/Burghart Wachinger, Tübingen 1985, S. 37–51. Das Argument des historischen Anspruchs kehrt in jüngerer Zeit wieder im Rahmen des Votums für die Klassifizierung des Frauendienstes als Autobiographie durch Harald Haferland: Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone, Berlin 2000 (Beihefte zur ZfdPh 10), S. 248. Vgl. dazu erste Hinweise schon bei Brecht (Anm. 3), S. 1–33. Der dezidierte Erklärungsansatz der narrativen Sonderform aus den Möglichkeiten der Lyrik bei Schneider (Anm. 3); parallel dazu anhand komischer Brüche Humphrey Milnes: Ulrich von Lichtenstein and the Minnesang. In: German Life & Letters 17 (1963), S. 27–43. Zu den Folgen eines aus dem Minnesang abgeleiteten Handlungsmodells Anthonius H. Touber: Der literarische
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lyrische Programm durchzieht den Text zudem ganz konkret – ähnlich wie in den vidas und razos der Romania – in Form des kompletten lyrischen Œuvres aus 57 inserierten Minneliedern und einem Leich.7 Und in der generischen Spannung zwischen Epik und Lyrik bricht sich das Verhältnis von Literatur und Realität. Denn so erstaunlich die Inszenierungserfolge Ulrichs und seiner Lieder immer wieder sein mögen, in der erzählten Welt sind sie nie von Dauer. Wiederholt scheitert der Protagonist. Von Anfang an stellt sich darum die Frage ein: Scheitert Ulrich von Liechtenstein zunehmend an den Regeln der Realität, oder scheitert seine erzählte Geschichte nicht vielmehr bereits an den Regeln der lyrischen Semantik? Diese Frage wird umso dringlicher, als dieses Scheitern letztlich auf den Erzähler und den Erzähltext als Ganzes überzugreifen scheint. Denn am Ende gerät der Frauendienst zu einer offenbar unzulänglich zwischen Epik und Lyrik ausbalancierten Gattungshybride.8
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Charakter von Ulrich von Lichtensteins „Frauendienst“. In: Neophilologus 51 (1967), S. 253–262, bes. S. 260; detailliert mit den Nachweisen lyrischer Motivvorgaben Ursula Peters: Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung, Göppingen 1971 (GAG 46), S. 129–161 passim. Allgemeine Vorüberlegungen zur Frage lyrischer Kohärenzkonzepte im narrativen Kontext bei John Wesley Thomas: The minnesong structure of Ulrich von Liechtenstein’s ‚Frauendienst‘. In: ZfdA 102 (1973), S. 195–203, bes. S. 196 u. 202. Grundlegend zur systematischen Leistung der Lyrik auf der Basis eines rhetorischen Ansatzes Gert Hübner: Frauenpreis. Studien zur Funktion der laudativen Rede in der mittelhochdeutschen Minnekanzone, Bd. I., BadenBaden 1996 (Saecula spiritalia 34/35), S. 255–337; sowie zur Taxierung der Verhältnisse im narrativen Kontext zusammenfassend Ders.: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008, S. 86–88 u. 94. Vgl. zuerst Ludwig Uhland: Werke. Hrsg. von Helmut Fröschle/Walter Scheffler, Bd. 3: Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter. Nach der Erstausgabe, der ‚Geschichte der altdeutschen Poesie‘ (1865/66, 1870) mit einer Einführung, Anmerkungen, Bibliographie, Personenregister und Namenindex der Sagengestalten. Hrsg. von Hartmut Fröschle, München 1981, S. 693, 720 f. Die Überprüfung der Relation anhand von Motivvergleichen bei Martha Schlereth: Studien zu Ulrich von Lichtenstein, Diss. masch. Würzburg 1949, S. 117–136; dazu ergänzend die Frage nach vergleichbaren Grundstrukturen bei Peters (Anm. 6), S. 163–165, vgl. das entschiedene Plädoyer für eine Herleitung von Ulrichs Form der Ich-Erzählung aus den razos bei Kurt Ruh: Dichterliebe im europäischen Minnesang. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau, Stuttgart 1979, S. 160–183, hier S. 171. Zu interpretatorisch aussagekräftigen Einzelparallelen Anthonius H. Touber: Ulrichs von Lichtenstein unbekannte Melodie. In: ABäG 26 (1987), S. 107–118; Ders.: Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauendienst‘ und die Vidas und Razos der Troubadours. In: ZfdPh 107 (1988), S. 431–444. Zum generischen Übergangsstatus im Zusammenhang mit der changierenden Medialität des Frauendienstes vor dem Hintergrund verwandter französischer Formen Dieter Kartschoke: Ulrich von Liechtenstein und die Laienkultur des deutschen Südostens im Übergang zur Schriftlichkeit. In: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen/Längsee vom 8. bis 13.9.1980. Hrsg. von Alexander Cella/Peter Krämer, Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie 16), S. 103–143, hier S. 116–126. Zuvor, auch mit Hinweisen auf vergleichbare Möglichkeiten der lateinischen Literatur, Schlereth (Anm. 7), S. 110–112; Xenja von Ertzdorff: Typen des Romans im 13. Jahrhundert. In: Der Deutschunterricht 20/2 (1968), S. 81–95, hier
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Das vielleicht markanteste Indiz für diesen Problemzusammenhang zeigt sich darin, dass die Realität gerade dort hervorzubrechen scheint, wo sich die Erzählstruktur auflöst.9 Das literarische Spiel aus Lyrik und Epik schlägt insbesondere in seinen narrativen Krisenmomenten immer wieder in eine geradezu hyperreale Wirklichkeit um, während der Erzähler zusehends um seinen Begriff kommt. Diese Auflösungsbewegung bestimmt den Frauendienst als Ganzes, sie wirkt damit aber wie eine Konsequenz der Verschiebung vom epischen zum lyrischen Text: Im zweiten Teil des Werks verblasst die narrative Grundstruktur, bis schließlich die Dichotomie von Lyrik und Realität übrig bleibt. Was zu Anfang vielleicht noch wie ein mit Fiktionssignalen durchsetzter Erzähltext anmutet, der über Namen und Ortsbezeichnungen auf die geschichtliche Wirklichkeit referiert, erscheint so am Ende als historisierte Liedersammlung. An den Zeitangaben des Textes ist diese Verschiebung recht deutlich abzulesen. Nur zwei Ereignisse des Textes lassen sich tatsächlich in der historischen Zeit des 13. Jahrhunderts wiederfinden: Für den ersten Teil des Frauendienstes ist die kompositorisch wichtige Schwertleite des jungen Ulrich zu nennen, die im Zusammenhang mit der Hochzeit der Tochter Leopolds VI. (39 f.) genannt wird und damit auf das Jahr 1222 zu datieren wäre.10 Für den zweiten Teil des Textes bildet der drastische Fundbericht der Leiche Herzog Friedrichs II. in der Schlacht an der Leitha einen entscheidenden strukturellen Umschlagspunkt (1659–75). Gerade diese letzte Angabe – die auf das Jahr 1246 führen würde – macht aber deutlich, dass es weniger um eine Fixierung des Geschehens in der historischen Zeit geht als vielmehr um eine Markierung in der Geschichte von Ulrichs Minnesang. Über die Minnelyrik lassen sich nämlich sehr genaue Zeitangaben machen. Am Ende erklärt Ulrich, in 33 Jahren 58 Töne gedichtet zu haben (1845 f.), wovon wiederum präzise 13 Jahre auf die Lieder entfallen, die im ersten Teil des Frauendienstes versammelt sind (XXV, 50). Gravierender noch für das Zeitverständnis des Textes dürfte es sein, dass die lyrische Zeit mit ihren Isotopien in die Erzählwelt einwandert. Die topischen Zeiten des Minne-
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S. 88 f.; Jürgen Ruben: Zur ‚gemischten Form‘ im ‚Frauendienst‘ Ulrichs von Lichtenstein. Untersuchungen über das Verhältnis der Lieder, Büchlein und Briefe zum erzählenden Text, Phil. Diss. Hamburg 1969, S. 145–148. Zu dem seit Becker (Anm. 5), S. 113, oft konstatierten Verblassen der narrativen Struktur im zweiten Teil besonders Ingeborg Glier: Diener zweier Herrinnen. Zu Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst. In: The Epic in Medieval Society. Aesthetic and Moral Values. Hrsg. von Harald Scholler, Tübingen 1977, S. 290–306, hier S. 299 f.; Müller (Anm. 4), S. 68; Rischer (Anm. 5), S. 140 f.; Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 204 f.; Bleumer (Anm. 4). Ausgabe: Ulrich’s von Liechtenstein Frauendienst. Hrsg. von Reinhold Bechstein, Leipzig 1888 (Deutsche Dichtungen des Mittelalters 6/7). Zum Problem der Ausgaben zuletzt zusammenfassend Ackermann (Anm. 3), S. 2 f., Anm. 4.
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sangs semantisieren die Diegese nach ihren eigenen Regeln.11 Aus dieser Dominanz der lyrischen Zeit über die erzählte Zeit lässt sich folgern: Im Frauendienst brechen sich nicht einfach narrative Fiktionen an der Realität, sondern offenbar entsteht diese Realität erst durch die Grenzüberschreitungen zwischen Lyrik und Epik. Das Konzept des Frauendienstes ist damit zweifellos ebenso ungewöhnlich radikal wie die Handlungen seines Protagonisten, und in eben dieser Radikalität liegt der besondere Aufschlusswert für das Verhältnis von Epik und Lyrik sowie von Literatur und ihrer Realität. Als These formuliert: Der Frauendienst treibt die Verbindung von Epik und Lyrik in pointierter Weise über die Grenze ihrer literarischen Harmonisierungsmöglichkeiten hinaus und macht darin das Paradox ihrer gemeinsamen semantischen Struktur anschaulich.12 Diese Grenzüberschreitung artikuliert sich in einem Realitätseffekt. Ihr direktes Indiz ist die Zeit des Textes, in der letztlich noch das narrationstypische epische Präteritum zum einfachen Präsens wird.13 Was man als Scheitern der Erzählung ansprechen möchte, wäre demnach auch ein metadiskursiver Gewinn. In den kuriosen Eskapaden des Protagonisten, der den Gesetzen des Minnesangs entsprechend in der Erzählwelt zu handeln versucht, und den vergleichbaren Schwierigkeiten des Erzählers, eine narrative Ordnung für eine Lyriksammlung zu entwerfen, könnte ein Bedingungsverhältnis spürbar und beobachtbar werden, das aus der zeitlichen Schwebe der lyrischen Fiktionen über die Zeitaneignungsform des literarischen Erzählens auf die realistische Zeit des Erzählers führt.
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Die vorgängige Wirkung der Minnesemantik auf eine narrativ verfasste Zeittopik zeigt grundsätzlich Ludger Lieb: Die Eigenzeit der Minne. Zur Funktion des Jahreszeitentopos im Hohen Minnesang. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 64), S. 183–206; zum Frauendienst anders Jan-Dirk Müller: Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip. In: Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993. Hrsg. von Peter Dilg/Gundolf Keil/Dietz-Rüdiger Moser, Sigmaringen 1995 (Kongreßakten des Symposions des Mediävistenverbandes 5), S. 29–47, hier S. 39–46, der die lyrische Topik weitgehend von der narrativen Realitätsfiktion her in den Blick nimmt und damit die von Lieb herausgestellte Eigenzeitlichkeit – und das heißt weiter: den Bedeutungsprimat der lyrischen Zeit – vernachlässigt. Zu dieser Paradoxie als Interpretationsansatz Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61. Vgl. besonders Rischer (Anm. 5), S. 155; vgl. auch Renate Hausner: Ulrichs von Liechtenstein „Frauendienst“. Eine steirisch-österreichische Adaption des Artusromans. Überlegungen zur Struktur. In: FS für Adalbert Schmidt zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Gerlinde Weiss, Stuttgart 1976 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 4), S. 121–192, hier S. 142; David Fletcher Tinsley: Die Kunst der Selbstdarstellung in Ulrichs von Lichtenstein „Frauendienst“. In: GRM 40 (1990), S. 129–140, hier S. 135.
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II. Lyrische Imagination und narrative Umsetzung Der Ich-Erzähler des Frauendienstes weist schon in den ersten Versen seines Textes auf eine grundsätzliche Schwierigkeit hin, an der er sich dann fortwährend abarbeitet: Was unbegrenzt ist, lässt sich nicht in einer endlichen Form vermitteln. Weil es ihm um die grenzenlose Güte der Frau geht, muss der Erzähler zugestehen, dass die Möglichkeiten seiner Lobpreisungen unzulänglich sind, denn […] wîbes güete niemen gar volloben an ein ende mac. (2,2 f.)
[…] Niemand vermag es, das Gute der Frau vollständig bis zu dessen Endpunkt zu loben.
Wie sol man des vol ze ende komen des ende nimmer wirt vernomen und daz für wâr nicht endes hât? (4,1–3).
Wie soll man vollständig zum Ende dessen gelangen, dessen Ende niemals vernommen wird und das wahrlich kein Ende hat?
Diese Endlosigkeit betrifft die endlichen Möglichkeiten der Sprache und ihre begrenzten Zeiträume,14 denn der Erzähler führt aus: sich endent sanfter elliu wort und swindent lîhter elliu jâr, ê daz der wîbe güete gar und ouch ihr hôhe werdekeit mit worten werde gar volseit. (3,4–8)
Eher enden alle Worte und eher schwinden alle Jahre, bevor das Gute der Frauen und auch ihre hohe Würde vollständig mit Worten ausgesagt werden können.
Man mag das für einen Unfähigkeitstopos halten, denn der Ich-Erzähler beginnt seiner Einschränkung zum Trotz mit dem Lob dieses weiblich Guten, aus dem er dann die Geschichte seines Frauendienstes, so gut es eben geht, entwirft: Nâch disem lob sô heb ich an / ein mære, als ich beste kan. (7,1 f.; „Nach diesem Lobpreis beginne ich also mit einer Geschichte, so gut
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Vgl. zu dem sich aus der Idealisierung ergebenden Zeitproblem des Erzählens ausgehend von dieser Stelle Rischer (Anm. 5), S. 139–141; zur minnelyrischen Axiologie des Prologes, die konkreter in der Mitte des Textes im Rahmen der Lyrik, nämlich hier im Leich (XXV) wieder aufgenommen und ausformuliert wird, Marie-Luise Dittrich: Die Ideologie des guoten wîbes in Ulrichs von Lichtenstein Vrowen dienst. In: Gedenkschrift für William Foerste. Hrsg. von Dietrich Hofmann/Willy Sanders, Köln, Wien 1970 (Niederdeutsche Studien 18), S. 502–530, hier S. 502–505; vgl. dazu das Diktum von Schneider (Anm. 3), S. 217, der generell von einem „lyirsch-epischen Ich“ des Erzählers geprochen hat. Dass der Prolog damit eigentlich kein narrationstypischer, sondern ein lyrischer Texteingang ist, betont Hausner (Anm. 13), S. 129 f.; trotz der Polemik gegen Hausner in diesem Punkt ähnlich Winfried Frey: mir was hin ûf von herzen gâch. Zum Funktionswandel der Minnelyrik in Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst. In: Euphorion 75 (1981), S. 50–70, hier S. 55.
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ich es vermag“). Doch auch topische Argumente sind ernst zu nehmen. In der Überforderung des Erzählers durch seinen Gegenstand steckt nämlich eine strukturelle Überforderung der Geschichte durch ihr Thema. Die narrative Axiologie eines Erzählens, das dem Lob der wîbes güete dient, ist von vornherein überdeterminiert. Die Schwierigkeiten des Erzählers liegen damit auf der Hand: Denn wie soll eine Geschichte dieses unendliche Gute erfassen, wo sie doch selbst auf einer dezidiert endlichen Struktur aus Anfang, Mitte und Ende beruht? Und wie soll dann ein Erzähler in seiner zeitlich begrenzten Narration erfolgreich einen derart idealen und damit stets uneinholbaren Werthorizont erreichen, wenn schon seine erzählte Geschichte an dieser Aufgabe scheitern muss?15 In der erzählten Handlung prägt sich die axiologische Überdetermination durchgängig aus. Dem Unfähigkeitstopos des Erzählers entspricht hier die anfängliche Unfähigkeit des jungen Ulrich. Dieser Jüngling wird nämlich zu Beginn seiner Geschichte vom Erzähler und den Figuren gleich mehrfach als tump bezeichnet (10,1–4; 76,1; 151,6; 152,2; 400; 406,1; 427,7; 448,6; 1236,6; vgl. auch im ersten Büchlein 77, 82, 218, 334), wie es scheint, weil er sich mit den Spielregeln des Minnediskurses noch nicht auskennt. Wenn der Erzähler immer wieder auf diese tumpheit rekurriert, dann klingt das immerhin so, als sei er inzwischen klüger geworden und übe sich in topischer Bescheidenheit.16 Tatsächlich nimmt sich der junge Ulrich aber von Anfang an dieselbe unmögliche Aufgabe vor, die ihn als Erzähler am Ende immer noch prägt: Auch ihm geht es um das lop der Frau. Nur erzeugt er es nicht sprachlich, sondern er wird von seiner sprachlichen Erzeugung angezogen. Weil Ulrich sich diesem lop entsprechend verhält, könnte man sogar sagen: Der Erzähler erzeugt extradiegetisch das lop der Frauen, so wie das lop einer Dame intradiegetisch Ulrichs Handlungen erzeugt. In seiner vollständigen Naivität übt das lop jener höfischen Dame eine unwiderstehliche Attraktivität auf Ulrich aus, die alle anderen Frauen in idealer Weise überragt (14,3; 16,1). Durch die Macht ihres hôhen lobes verfällt Ulrich geradezu dem Frauendienst. Deshalb gerät er ebenfalls in ein Dilemma. Wie sich der Jüngling selbst klar macht, ist die Dame für ihn ze hôhe (18,7). Er begehrt ein Ziel, das unerreichbar ist. Sein tumbe[r] hôher wân (45,6), soviel wird bei seinen weiteren Bemühungen um ein konkretes Dienstverhältnis zur Dame schnell deutlich, lässt ihn zwar in hôhem muote 15 16
Vgl. zum Problem Rischer (Anm. 4), S. 139 f. Dazu die frühe These Schneiders (Anm. 3), S. 216, von der Transponierung eines lyrischen Ichs in einen Ich-Erzähler, sowie Peters (Anm. 7), S. 63. Die These zur Verschiebung des Bescheidenheitstopos von der Ebene der Narration auf die Ebene der Geschichte bei Schneider (Anm. 3), S. 221 f. Zur Distanz zwischen Erzähler und Protagonist Tinsley (Anm. 13), S. 131; Carolyn Dussère: Humor and Chivalry in Ulrich von Lichtenstein’s Frauendienst and Gerhard Hauptmann’s Ulrich von Lichtenstein. In: Colloquia Germanica 16 (1983), S. 297–320, hier S. 302.
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leben (68,8), enthält jedoch eine aus dem Minnesang wohlbekannte ethische Schwierigkeit: Durch die Überhöhung der Dame ist diese ein stets fernes Ziel, durch das Paradox des Hohen Sanges ist die Herrin der Hohen Minne ihrem Diener ständig vor Augen und doch prinzipiell entzogen.17 Solange der Protagonist dieses Paradox nicht durchschaut, erzeugt es einen dilemmatischen Handlungsmechanismus. Der Held versucht nämlich unbeirrt, ein transzendentes Ziel ganz konkret zu erreichen und verfehlt damit beides: Transzendenz und Immanenz.18 Der junge Ulrich will die Paradoxie des Frauendienstes partout nicht einsehen, selbst dann nicht, als sie ihm von seiner Dame ausdrücklich in einer Weise erläutert wird, die in jedem mediävistischen Proseminar erfolgreich sein müsste. Ulrich bleibt selbst dann noch gegen sô hôhen dingen blint (151,2), als ihm seine Minneherrin in Anspielung auf den Kaisertopos der Hohen Minne klar macht, dass sein konkretes Ziel auch einem künige […] ze vil (406,3) wäre, weil es jenseits der sozialen Ordnung liegt.19 Der Lohn des Frauendienstes liegt in der Erhöhung von Ulrichs gesellschaftlichem Ansehen, wie die Dame sagt: ob ez im gegen mir nicht enfrumt, / an lobe ez im ze staten kumt (467,7 f.; „Auch wenn es ihm bei mir nichts nützen wird, seinem Ruf wird es zustatten kommen“). Gerade in jener Szene, in der Ulrich seine Dame, um mit Albrecht von Johansdorf zu sprechen, âne huote, d. h. außerhalb der gesellschaftlichen Obhut vorzufinden glaubt und ähnlich wie 17
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Weil die tumpheit des Liebenden als verbreiteter, reflexives Unvermögen anzeigender minnesängerischer Topos, der den Liebenden geradezu, um mit Heinrich von Morungen zu sprechen, zu einem kindelîne machen kann, auch in den Liedern Ulrichs erscheint (bes. III,9; X,13; XXI,32; XXVII,16), ist sie wohl eher nicht in Beziehung zum narrativen Muster von Parzivals tumpheit zu sehen (so Hausner [Anm. 13], S. 124; noch weitere Ähnlichkeiten sieht John Wesley Thomas: Parzival as a source for Frauendienst. In: Modern Language Notes 4 [1972], S. 419–432, hier S. 419–420), sondern verdankt sich, in Verbindung mit dem voraufgehenden Motiv des Dienstes von Kindheit an, einer minnelyrischen Provenienz. Vgl. Peters (Anm. 7), S. 131 f. Zu Recht hat Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 57, diesen Effekt auf das sogenannte Ausdrucksdilemma des Minnesangs bezogen. Vgl. die Begriffsprägung durch Peter Strohschneider: „nu sehent, wie der singet!“ Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 17), S. 7–30, hier S. 17–29, wobei jedoch festzuhalten ist, dass der Begriff Strohschneiders die paradoxe Medialität minnesängerischer Performativität in genau jener Weise unterläuft, die im Frauendienst zum Problem wird: Die Schwierigkeiten Ulrichs, sich seiner Dame gegenüber verständlich zu machen, beruhen auf der Verkürzung des lyrischen Aussageaktes um seine ästhetische Funktion, die ihn zu einer dilemmatischen, weil nur referentiellen Botschaft werden lässt. Vgl. dazu genauer Hartmut Bleumer: Ritual, Fiktion und ästhetische Erfahrung. Wandlungen des höfischen Diskurses zwischen Roman und Minnesang. In: Galanterie als Verhaltenskonzept in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Ruth Florack/Rüdiger Singer, Berlin, New York (im Druck), Anm. 50. Zum Topos grundlegend Peter Wapnewski: Kaiserlied und Kaisertopos. Zu Kaiser Heinrich 5, 16. In: Ders., Waz ist minne. Studien zur Mittelhochdeutschen Lyrik. München 1975, S. 47–64.
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bei Albrechts witzigem Erzähllied (MF 93,12) nun seine Chance erblickt,20 ihr endlich nahe zu kommen, belehrt sie ihn ausdrücklich, dass er durch seinen Dienst ausschließlich êre (1209,6), niemals aber die vrouwe als konkretes Objekt seines Begehrens erlangen kann. Ulrichs Minneherrin versucht ihm damit letztlich klar zu machen, was es heißt, ein Ideal zu begehren: Die ideale Dame hat êre, darum kann sie die gesellschaftliche Kontrollinstanz der huote prinzipiell nicht verlassen, ohne sich als ideales Ziel des Minnedienstes zu entwerten (1210 f.). Die vrouwe ist in der Welt des Minnesangs nur als Imagination zu haben. Angesichts solch konkreter Aufklärungsbemühungen ist die Erkenntnisresistenz Ulrichs gewiss erstaunlich, strukturell ist sie aber durchaus erklärlich. Ulrich mag die lyrische Welt des Minnesangs mit ihren Imaginationen vor Augen haben, nur ist er zugleich eine Figur einer erzählten Welt. Bei Ulrichs permanentem Unverständnis handelt es sich demnach um die konsequente narrative Interpretation eines Minnestrebens, das in der Lyrik unproblematisch wirkt, weil es hier aus der begrenzten Zeitlichkeit der narrativen Struktur entlassen ist. Das erste Lied des Textes erhellt diesen Zusammenhang sofort, denn hier zeigt sich umgekehrt: Was im Erzählen ein Dilemma produziert, erscheint in der Lyrik wiederum als eine Paradoxie. Im ersten lyrischen Inserat Wîbes güete niemen mac volloben / an ein ende gar (I,1 f.) wird das Problem des Erzähleingangs wörtlich aufgenommen.21 In dem Lied zeigt sich ein Ich von der grenzenlosen Frauengüte in ebenso grenzenloser Weise beglückt. Diese endlose Beglückung konkretisiert sich in der Schönheit einer Dame und ist mit einem Zeiteffekt verbunden: Die Schönheit erfreut den liebenden Sänger iterativ – immer, wenn er seine Dame sieht – und sie führt zu einer Dienstbeziehung, die auch in zeitlicher Hinsicht als endlos erscheint. Das liebende Ich bekundet am Anfang und am Ende des Liedes, seiner Dame stets dienen zu müssen (daz ich ir immer dienen muoz / […] / ich dien dir immer I,9 u. 25). Diesem stetigen Dienst ist die klassische Unterwerfungsbewegung des Minnesangs eingeschrieben: Der Sänger macht sich zum Diener der Dame und diese Unterwürfigkeit erhöht ihn. Er will ihr wesen undertân und gewinnt daraus hôhen muot, für den er am Ende eine Sanktionierung von Seiten der Dame fordert:
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Ausgabe: Des Minnesangs Frühling. 36., neugestaltete u. erw. Aufl. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt u. Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser/Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Aufl. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 1988. Zur Entwicklung der Argumentationsstruktur des Liedes aus dem Unsagbarkeitstopos Hübner, Frauenpreis (Anm. 6), hier Bd. I, S. 259–261.
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Dû bist guot ân argen wân: ich dien dir immer âne wanc. Nu sprich, daz ez dîn wille sî: son wird ich nimmer mêre vrî und wone dir mit dienste bî (I, 24–28).
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Du bist ganz ohne Zweifel gut, ich werde dir stets dienen ohne zu schwanken. Nun sprich, dass es dein Wille sei: Dann werde ich niemals wieder frei und dir durch den Dienst nahe sein.
Mit anderen Worten: Der Dienst ist durch die ideale Schönheit und Güte der Herrin motiviert, er ist schon im Gange und prinzipiell überzeitlich gedacht. Er hat keinen Anfang und kein Ende und ist darum der grenzenlosen Frauengüte angemessen. In seiner Permanenz soll er aber noch einmal durch die aktuelle Zustimmung der Dame in der Gegenwart des Liedes verstetigt werden. Diese paradoxe Forderung nach einer Vergegenwärtigung des Ewigen hat eine deutliche Funktion: Sie zielt auf die Intensivierung der Gegenwart. Den ästhetischen Effekt einer solchen zeitlichen Intensität kann man als Präsenz bezeichnen. Von einer solchen intensivierten Gegenwart zu reden, setzt freilich die zeitkonstituierende Struktur der Geschichte immer schon voraus. Denn dies gilt es im Zusammenhang mit Präsenzeffekten grundsätzlich festzuhalten: Es gibt keine Zeitwahrnehmung ohne Geschichte. Für diese Behauptung könnte man die theoretischen Positionen zur Zeitauffassung im Mittelalter bemühen,22 man könnte auch auf moderne Positionen zum Verhältnis von Zeit und Erzählung hinweisen.23 Für den Zweck der folgenden Überlegungen genügt es jedoch, daran zu erinnern, dass mittelalterliche Erzählungen vielfach die Leistung ihrer eigenen narrativen Zeitfigurationen ausstellen und damit genau dies als praktisches Wissen dokumentieren: Es gibt keine Zeitwahrnehmung ohne narrativen Prozess, Zeit zu denken und zu erfahren, ist ohne die Kategorien von Geschichte und Erzählung nicht möglich. Das heißt weiter: Von einer intensiven Gegenwart, Präsenz oder Ewigkeit zu sprechen, setzt die Zeitstruktur der Geschichte immer schon voraus. Die von Ulrich thematisierte Zeit ohne Anfang und Ende beruht damit auf einer Absenzfigur. Ihre Endlosigkeit kann nur gedacht werden als die Abwesenheit der Geschichte. Das im Lied erhoffte endlose Minnegeschehen wird dann wieder durch die Struktur der Geschichte interpretiert
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Vgl. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin, New York 2007 (De-Gruyter-Studienbuch), S. 7–22. Vgl. die These von Ricœur, „daß die Zeit in dem Maße zur menschlichen wird, in dem sie sich nach einem Modus des Narrativen gestaltet, und daß die Erzählung ihren vollen Sinn erlangt, wenn sie eine Bedingung der zeitlichen Existenz wird.“ Paul Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1988 (Übergänge 18/1), S. 87. Vgl. zum Ansatz besonders ebd. S. 13–136, sowie Ders.: Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die erzählte Zeit. Aus dem Französischen von Andreas Knop, München 1991 (Übergänge 18/3).
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und intensiviert. Das Ziel der Minneerfüllung ist nach dem Verschwinden des zeitlichen Endes nicht das Ende einer Minnehandlung, es dient ihrer Bestätigung und Intensivierung. Im narrativen Entwurf der erzählten Welt des Frauendienstes wird aus dieser Intensivierung eine konkrete Verzeitlichung. So wie eine Geschichte Anfang und Ende hat, so soll nun eine Dienstbeziehung in Kraft treten und sich auf ein konkretes Ziel richten. Den Unterschied zwischen lyrischer Intensität des Lohnwunsches und narrativer Prozessualität des Dienstes kann man sich vielleicht am einfachsten so klar machen: Das Lied Ulrichs kann man immer wieder singen, ohne dass dies einen zeitlichen Prozess in Gang setzt, der die Position des Ichs verändert. Der Inhalt des Liedes ist dabei immer gleich gegenwärtig. Und das heißt nicht nur, dass sich diese lyrische Zeitlichkeit antithetisch zum narrativen Zeitverlauf gegen den Übergang in die Vergangenheit behauptet. Vielmehr emergiert diese Gegenwart des Liedes in dialektischer Aufhebung der narrativen Zeitstruktur immer wieder neu – ein Zeiteffekt, den man aus Gründen der terminologischen Symmetrie wohl am besten als lyrisches Präsens bezeichnet.24 Narrative Handlungen mit Anfang und Ende formen dagegen den zeitlichen Prozess der subjektiven Zeitwahrnehmung zwischen Vergangenheit und Zukunft aus. Gegen diesen Prozess muss sich der Protagonist im Frauendienst immunisieren, wenn er immer wieder unbeirrt um seine Dame werben will. Demnach wäre die fehlende Urteilskraft oder tumpheit eine aus der überzeitlichen Gegenwärtigkeit der Lyrik abgeleitete Gegenbewegung zur konkreten zeitlichen Spannung der narrativen Struktur. Der Held verweigert sich der Geschichte. Er vollzieht nur eine Wiederholungshandlung auf der objektivierten Ebene des Geschehens. Damit ist die Struktur der objektiven Zeit des Geschehens von der subjektiven Zeit der Geschichte verschieden.25 24
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Dies wäre als lyrischer Komplementärbegriff zum Begriff des epischen Präteritums von Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, 4. Aufl. Stuttgart 1994, S. 59–72 vorzuschlagen. Der bei Hamburger so bezeichnete ästhetische Spaltungseffekt, dass der Rezipient an der Sukzession eines narrativ präsentierten Geschehens gleichsam aktuell teilzunehmen meint, obwohl es als Teil der Geschichte prinzipiell als vergangen gedacht werden muss, darf als direkte Konsequenz des zeitlichen Doppelcharakters narrativer Prozesse gelten: In ihnen repräsentiert der erzählerische Entwurf der Geschichte die subjektive Seite, das in der Geschichte implizierte Geschehen dagegen die bloß physikalisch-objektivierte Sukzession der Zeit. Weil das narrationslogisch Vergangene vom Rezipienten im Nachvollzug der Narration zuerst als Geschehen vergegenwärtigt werden muss, um auch von ihm am Ende mit Hilfe der Geschichtsstruktur interpretiert zu werden, nimmt das Präteritum präsentische Bedeutung an. Von der Präsenz der Lyrik bzw. vom lyrischen Präsens wäre in Weiterführung dieses Ansatzes also dann zu reden, wenn sich das Verhältnis von Geschehen und Geschichte umkehrt, indem an die Stelle der zeitlichen Spaltung von subjektiver und objektiver Zeit, von Geschichte und Geschehen, eine zeitliche Intensivierung des aktuellen Geschehens durch die dialektische Aufhebung der Geschichte tritt. Die hier angedeutete Korrelation von subjektiver Zeit der Geschichte und objektiver Zeit des Geschehens bedeutet den Versuch einer pointierten Überführung der Grundthese Ricœurs
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III. Intensität der Lyrik – Realität des Geschehens Die anfängliche Resistenz der Ulrich-Figur gegen den narrativen Erkenntnisprozess bleibt auch für den Erzähler nicht ohne Folgen. Fast scheint es, als würde die Unfähigkeitsbeteuerung des Erzählers schon dadurch bestätigt, dass die erzählerischen Topoi selbst Schwierigkeiten machen. Jedenfalls gehört die topische Bescheidenheit eines Erzählers nicht zu den Stärken der narrativen Sprechinstanz. Dabei hätte diese Bescheidenheit insbesondere für einen Ich-Erzähler zu gelten. In der Beziehung des Erzählers zu seiner Erzählwelt ist dieses Problem virulent. Ulrich bekundet hier eine geradezu phantastische Leistungsfähigkeit als Ritter. Bereits in seiner ersten Saison als Ritter ist er in jedem Kampf erfolgreich (47), bei der Aufzählung seiner weiteren Taten kürzt er seine Erfolgsmeldungen dann immerhin mit der Bescheidenheitsformel ab, sich nicht zu sehr rühmen zu wollen (158,1–4).26 Insbesondere in seiner sogenannten Venusfahrt, in der Ulrich als allegorische Venusgestalt kostümiert durch die Lande zieht, tritt er praktisch gegen die gesamte Ritterschaft Österreichs an und bleibt immer ohne Niederlage. Der Ich-Erzähler bekundet auch noch, mit seinen Inszenierungen eine öffentliche Attraktion gewesen zu sein: Seine Lieder gefallen den Damen und sind in aller Munde (316; vgl. 360);27 ebenso erregen seine inszenierten
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zur narrativen Zeitstrukturierung in die narratologische Terminologie nach Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, Berlin, New York 2005 (Narratologia 8), bes. S. 246–249. Dieser Hinweis erscheint notwendig, da Ricœur auf der Basis der entsprechend gegenläufigen philosophischen Zeitbegriffe (Zeit und Erzählung III [Anm. 24], S. 15–95, hier: Augustinus vs. Aristoteles, Husserl vs. Kant) die Begriffe von Geschehen und Geschichte anhand der für ihn von Anfang an richtungsweisenden Überlegungen von Heidegger (ebd. S. 116–157, vgl. bereits Ders., Zeit und Erzählung I [Anm. 24], S. 103) in einer ontologisch-hermeneutischen Gesamtfigur zusammenbringen kann, deren Nichtberücksichtigung für die narratologische Terminologie höchst prekär wäre. Vgl. besonders Ricœurs ebenso elegante wie fundamentale Kritik an der wirkungsmächtigen Position von Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Nachwort hrsg. von Jochen Vogt, 2. Aufl. München 1998 (UTB). Ricœur macht an dessen an der Recherche du temps perdu gewonnenem Erzählmodell nämlich deutlich, dass die klassische Narratologie letztlich mit einem defizitären Zeitbegriff operiert, in dem die Struktur der Zeit ebenfalls verloren geht (Zeit und Erzählung II [Anm. 24], S. 148 f.). Vgl. auch den umständlichen Versuch, die Selbstrühmung nicht überhand nehmen zu lassen (308), die vergebliche Verschiebung des Problems auf die Instanz von Ulrichs niftel, deren rühmender Brief (b) entsprechend kritisch im Antwortbrief von Ulrichs Dame zurückgewiesen wird (c), sowie schließlich die Einsicht des Erzählers am Textende Ich weiz wol, daz ez missestât, / daz mîn munt von mir selben hât / getihtet ritterlîche tât. (1849,1–3: ‚Ich weiß sehr wohl, dass es unpassend ist, dass mein Mund über mich selbst ritterliche Taten dichterisch gestaltet hat.‘) Vgl. zahlreiche weitere Nachweise bei Werner Rust: Freud und Leid in Ulrich v. Lichtensteins „Frauendienst“ (Affekte, Affektsäußerungen, Gebärden und Stimmungen), Anklam 1918, in dessen psychologisierender Bestandsaufnahme der Charakter des Protagonisten sogar generell über diesen Aspekt dargestellt wird. Vgl. Claudia Händl: Rollen und pragmatische Einbindung. Analysen zur Wandlung des Minnesangs nach Walther von der Vogelweide, Göppingen 1987 (GAG 467), S. 370.
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Auftritte als grüner Ritter, als Frau Venus und später als König Artus größtes Aufsehen (bes. 214–234; 470–985; 1400–1609). Wer glaubhaft von derart staunenswerten Publikumserfolgen berichten will, braucht Beweise. Der Text liefert sie in Fülle: Die genauen Orts- und Zeitangaben zu Ulrichs Weg durch Österreich fixieren das Geschehen in einem genau nachvollziehbaren objektiv-linearen Verlauf; die langen Aufzählungen von historischen Namen des steirischen und österreichischen Rittertums wirken dazu wie historische Zeugenlisten, mit denen sich die Richtigkeit des Zeitprotokolls bestätigt.28 Aber mit dieser Annäherung an reale Zeitverläufe ist für das Erzählproblem noch nicht viel gewonnen, weil der Bericht eines wirklichen Geschehens noch nicht oder nicht mehr das Erzählen einer wahren Geschichte ist. Der Unterschied zwischen Geschehen und Geschichte wird anhand des zeitlichen Eindrucks spürbar, den die Schilderung der Venusfahrt hinterlässt: Der Bericht zieht sich hin, denn die Kämpfe folgen in ermüdender Reihung aufeinander. Hinzu kommt, dass die Ritter, die nacheinander gegen den Venus-Ritter antreten, schon für ihre bloße Teilnahme am Kampf mit einem Ring beschenkt werden. Der Sieg gegen Venus ist offenbar nicht vorgesehen, auf das praktische Ergebnis der Kämpfe kommt es ohnehin nicht an. So geschieht außerordentlich viel auf der Venusfahrt, am Ende hat Ulrich 271 Ringe verschenkt und 307 Lanzen verstochen (979,2 f.; 980,2– 5), aber diese Quantitäten des Geschehens begründen gerade keine narrative Qualität der Geschichte: Die Venusfahrt läuft als langweiliges lineares Geschehen vor sich hin, ihr fehlt die narrative Spannung zwischen Anfang und Ende. Diese Struktureigentümlichkeit zeigt sich auch darin, dass Ulrichs Erfolge gerade dann zum Problem werden, wenn der Protagonist versucht, sie im Sinne einer narrativen Struktur zu einem Ziel oder Abschluss zu bringen. Am deutlichsten bekunden sich die Schwierigkeiten vielleicht in der berühmten Episode von Ulrichs sogenanntem Minnefinger. Der Erzähler widmet sich dieser Episode ausführlich, letztlich entpuppt sie sich sogar geradezu als Prototyp einer Minneerzählung – nur dass es letztlich nicht die Geschichte Ulrichs ist, um die es geht. 28
Vgl. im Frauendienst bes. 187 f.; 607–617; 626–629 sowie 633–635 u. ö. Die Zeitangaben protokolliert Franz Viktor Spechtler: Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein, Habil. masch. Salzburg 1974, S. 284–289. Zu Erzählzeit und erzählter Zeit die Bestandsaufnahme bei Ruben (Anm. 8), S. 97–100; vgl. auch die ausführliche Musterung der Zeitangaben als Argument für einen historisch-autobiographischen Anspruch des Erzählten bei Haferland (Anm. 5), S. 262–268. Auf den Listencharakter der Namensnennungen reagiert in der frühen Forschung Anton E. Schönbach: Zum Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. In: ZfdPh 28 (1896), S. 198–225, hier S. 202, mit der These, die Namen müssten einer historischen Urkunde entnommen sein, wobei Schönbach diese Urkunde freilich nicht beibringen kann.
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In einem Turnier in Brixen verletzt sich Ulrich einen Finger seiner Hand. Die übertrieben realistisch geschilderte Verletzung – der Finger hängt nur noch an einer Ader herab und verfärbt sich schwarz – wird in ihrer Wundheilung wieder mit genauen Zeitangaben protokolliert (345,6; 347; 374). Durch die Schilderung des schmerzhaften Heilungsprozesses fungiert der Finger dabei nicht nur als Zeitgeber, er avanciert sogar zum semantischen Zentrum der Episode. Aus dem anhaltenden Fingerschmerz heraus, in dem Ulrich seinen eigenen Minneschmerz praktisch vor Augen hat, kann dieser nämlich nicht umhin, in einem Akt dichterischer Freiheit seiner Dame die Botschaft zu senden, er habe durch sî gar einen vinger vlorn. / der was ze dienste ir geborn (389,3 f.; „um ihretwillen einen Finger vollständig verloren, der zu ihrem Dienst geboren war“; vgl. 2. Büchlein 281–284). In dieser Wendung wird der Finger in der rhetorischen Gedankenfigur der Prosopopöie wie eine handelnde Figur angesprochen, was seinen Verlust umso stärker hervorhebt und zugleich metonymisch auf Ulrich als Minnediener verweist. Freilich kann die Dame später feststellen, dass der Finger in Wirklichkeit noch an seinem Platz ist, womit die Rhetorik Ulrichs entlarvt wäre. Gemessen an der Realität wird die Rede vom Verlust des Minne-DienstFingers sogar zur Lüge und die Dame bezichtigt Ulrich des ungerechtfertigten Selbstlobes (430; 432). Die Spiegelung des Bescheidenheitsproblems des Erzählers in seinem erzählten Helden ist auffällig, nur sind seine Konsequenzen für die Figur in der erzählten Welt eben nicht bloß sprachliche, sondern die Sprache erzeugt recht unvermittelt ihre Realität. Der Vorwurf der trügerischen Selbstrühmung lässt sich nur aus der Welt schaffen, indem die Wirklichkeit nachträglich der rhetorischen Figur angepasst wird.29 In diesem Sinne schafft Ulrich harte Fakten: Er schneidet sich den Finger kurzerhand ab und schickt ihn der Dame als Beweis seiner Liebe – verbunden mit einem in Samt und Gold gebundenen Büchlein, in dem er die Aufrichtigkeit seiner Minne bekundet und an dem der Finger als Teil der Buchschließe fungiert (vgl. bes. 393–397; 444–446).30 29
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Vgl. Judith Klinger: Ich: Körper: Schrift. Potentiale und Grenzen der Kommunikation im „Frauendienst“. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel, Berlin 1997 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 106–126, hier S. 124. Das Detail haben bislang nur Karina Kellermann/Christopher Young: You’ve got mail! Briefe, Büchlein, Boten im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität 1200–1300. Cambridger Symposion 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst/Christopher Young, Tübingen 2003, S. 317–344, hier S. 337 präzise bezeichnet. Die Interpretation des Fingerabschneidens als Meineidstrafe zuerst bei Hausner (Anm. 13), S. 161 f., vgl. auch Kellermann/Young (ebd.), S. 338 f. Eine Beziehung auf das Detail einer razo vermutet Touber, Ulrichs von Lichtenstein unbekannte Melodie (Anm. 7), S. 110; Ders., Vidas und Razos (Anm. 7), S. 440–442; Guillem de Balaun: Razo de 208, 1. In: Biographies des Troubadours. Textes provençaux des XIIIe et
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Die Dame nimmt daraufhin die Prosopopöie prompt wieder auf, bedauert nun des vingers sterben (450,4) und erklärt, diesen wol alle tage (453,7) betrachten zu wollen. Der Finger wird damit vom sprachlichen Element einer rhetorischen Gedankenfigur zum konkreten Teil eines materialen Kunstwerks, das der Dame nahe ist, in dem aber die metonymische Relation zwischen Ulrich und seinem Finger buchstäblich gekappt ist.31 Der Finger verweist nicht auf den Helden im Minnedienst, er wird so behandelt, als wäre er dieser Held. Von Ulrichs Dienstangebot will die Dame aber weiterhin nichts wissen, auch wenn er ihr diente tûsent jâr (454,6). Auch ein ewiger Dienst Ulrichs ist in der Erzählwelt praktisch nutzlos. Der Minnefinger erreicht damit, was Ulrich verwehrt bleibt, und er zeigt zugleich auch, warum es Ulrich verwehrt bleiben muss. An ihm wiederholt sich so nicht nur auf besonders pointierte Weise ein für den Frauendiensts insgesamt typischer Effekt von unvermittelter Verwirklichung übertragener Rede,32 sondern der Finger wird dabei auch noch zu einer Allegorie des narrativen Problems auf der Handlungsebene. Der Finger erscheint nämlich als der Protagonist einer veritablen Geschichte:33 Anfangs wurde er XIVe siècles. Hrsg. von Jean Boutiere/Alexander H. Schutz, 2. Aufl. Paris 1973 (Les Classiques d’Oc 1). 31 Zur damit erhofften Grenzüberschreitung zwischen Text und Körper Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 72; die Transgressionshoffnung ist auf das Verhältnis von Signifikant und Signifikat appliziert bei Christiane Ackermann: „min lip reht als ein stumbe sweic.“ Ich ≠ Subjekt ≠ Körper. Zu Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst. In: Körperinzenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999). Hrsg. von Klaus Ridder/Otto Langer, Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur 11), S. 139–155, hier S. 152; Dies. (Anm. 3), S. 232–235. Zuvor zum Körper als Textprodukt und -medium allgemein Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur, Frankfurt a. M. 2003, S. 202–222. 32 Signalartig zum Textbeginn die witzige Anspielung auf die deflorare-Formel: Der junge Ulrich gerät auf merkwürdig-naive Weise in freudige Hochstimmung, wenn er iht schœner pluomen brach (24, 2) und seine Herrin diese dort berührt, wo er die Blumen zuvor auch angefasst hat. Oder aber das berühmt Motiv des ungevüegen mundes (79 f.), das als Vorwurf der Minneherrin beginnt, die Ulrich damit im übertragenen Sinne seine ungehörigen Rede vorwirft. Dieser Vorwurf realisiert sich daraufhin aber unversehens als körperlicher Defekt des Helden in der erzählten Welt, den der Held auch noch operativ entfernen lässt. Vgl. dazu Müller (Anm. 3), S. 67; Klinger (Anm. 28), S. 115 f.; Ackermann (Anm. 30), S. 149; Claudia Brinker-von der Heyde: Biographisches Spiel und gespielte Biographie. Ulrichs von Lichtenstein Frauendienst und Gerhart Hauptmanns Ulrich von Lichtenstein. In: Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. FS für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Günter Helmes u. a., Tübingen 2002, S. 27–37, hier S. 31. Mit gegenläufiger Tendenz Karina Kellermann: Formen der Kommunikation. Zum Beispiel Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘. In: Wolfram-Studien 15 (1998), S. 324–343, hier S. 341, die den Körper im literarischen Text weniger als Diskursprodukt denn als eine der Literatur vorgängige Entität behandelt, indem sie auf der „Überlegenheit des Körpers über das Wort“ insistiert. 33 Vgl. Alois Wolf: Komik und Parodie als Möglichkeiten dichterischer Selbstdarstellung im Mittelalter. Zu Ulrichs von Lichtenstein ‚Frauendienst‘. In: ABäG 10 (1976), S. 73–101, hier S. 86–88. Vom Finger als „Minnemärtyrer“ spricht in diesem Sinne auch Kellermann
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im Dienst verletzt, er drohte abzusterben, wurde gerettet, fand aber dann doch sein Ende in der Amputation. Dieses Ende ist tragisch und ermöglicht so eine Grenzüberschreitung: Das Ende des Helden, der den Tod im Minnedienst fand, wird in der kontemplativen Betrachtung durch die Dame aufgehoben, die sich dann ohne zeitliche Begrenzung beliebig oft wiederholen kann. Diese Betrachtung des Fingers ist ein Ergebnis seiner tragischen Geschichte, aber deshalb vollzieht sie sich auch jenseits von ihr. Die Zeitlichkeit der narrativen Struktur ist so auf klassische Weise dialektisch aufgehoben und die gedankliche Vereinigung mit der Dame wird auf genau jene transzendente Weise verstetigt, die Ulrich nicht verstehen kann. Solange man nur Teil des Geschehens bleibt, gibt es noch keinen derartigen semantischen Überschuss der Geschichte, geschweige denn, dass man diesen einfach einstreichen könnte. Für Ulrich führt dies, in genauer Umkehr zu jener dauerhaften Erfüllung, die der Minnefinger jenseits der Geschichte repräsentiert, zu einem dauerhaften Dienst, der als Geschehen der Geschichte noch vorausliegt. Die faktisch intensivierte, raumzeitlich lineare Realität des aktuellen Geschehens vor der Geschichte wäre dann die genaue Kehrseite der erhofften zeitlichen Intensität in einer Gegenwärtigkeit, die hinter dem Ende der Geschichte beginnt. Dieser narrativen Spiegelungslogik von linearer Dauer und überzeitlicher Gegenwärtigkeit entspricht es, wenn Ulrich in diesem Dienst zu einer wiederholten praktischen Erfolglosigkeit verdammt bleibt. Diesem Problem versucht der Erzähler übrigens schon im ersten Vers des Textes zu begegnen: Was sein alter ego in der Diegese erst äußerst schmerzvoll erfährt – dass man nämlich im Frauendienst die Dame nicht wirklich erreichen kann – bildet für den Erzähler sogar die logische Voraussetzung seines Tuns: Den guoten wîben sî genigen von mir, swie sî mich doch verzigen nâch dienest ofte ir lônes hânt. (1,1–3)
Ich verneige mich vor den guten Frauen, wie oft auch immer sie mir ihre lohnende Hand nach dem Dienst vorenthielten.
Auch das Erzählen wäre demnach ein Frauendienst, aber dieser Dienst ist von Anfang an nicht konkret zu verstehen, daher hat er auch kein praktisches Ende. Der Ich-Erzähler weiß, dass es keinen Lohn geben wird. Er weist souverän nach, dass er die Spielregeln des Frauendienstes verstanden hat, während sein Protagonist immer wieder versucht, den Frauendienst zu konkretisieren und seiner Dame tatsächlich nahe zu kommen. Nur macht diese Einsicht die Ausgangssituation auch für einen Erzähler nicht besser: Wenn das Erzählsubjekt seine narrative Handlung als einen Frauendienst (Anm. 31), S. 339; ausführlicher wieder Kellermann/Young (Anm. 29), S. 337 f.; vgl. auch Kiening (Anm. 31), S. 211, der darüber hinausgehend auf das Erzählmuster der Heiligenlegende verweist.
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ohne Lohn ausführt, dann ist er gewiss klüger als sein Protagonist, aber in der misslichen Lage, dass sich sein Erzählen zu einem endlosen Lob verstetigen müsste, das nirgends mehr ankommt. Mit anderen Worten: Ein Erzähler im Frauendienst ist unmöglich, weil im Frauendienst die Struktur der Geschichte abhanden kommt.34 Genau das ist im weiteren Verlauf des Erzähltextes der Fall: Der Akt des Erzählens findet kein rechtes Ende, sondern löst sich schließlich grundsätzlich auf. Darum verliert der Erzähltext im Verlaufe des Erzählens seine narrationstypische Zeitform und fällt vom epischen Präteritum ins einfache Präsens.35 Parallel dazu wandeln sich die Lieder Ulrichs. Die zeitlich hochintensiven Klagelieder des ersten Teils werden im zweiten Teil des Frauendienstes von Freudenliedern abgelöst.36 Dies geht mit einem Wechsel des Minnekonzepts einher, deshalb ändert sich auch die Erzählwelt. Ulrich wendet sich nach seinen vergeblichen Bemühungen um die ferne Herrin der Hohen Minne nunmehr einer vrouwe zu, deren Minnekonzeption auf Gegenseitigkeit angelegt ist. Konkret wird die Minneerfüllung dadurch natürlich immer noch nicht – sie liegt nur in den Liedern vor. Ebenso wie die Ewigkeitsbeteuerungen des ersten Teils nur lyrisch realisiert werden können, so findet die Minneerfüllung jetzt ebenfalls nur im und durch den Sang statt. Aber mit dem Konzeptwechsel ändert sich auch die Zeit des Minnesangs. In der Lyrik der zweiten Texthälfte nimmt die nun vorherrschende Freudenkanzone die narrative Intensität zurück und wird zum Teil selbst narrativ. Für den Protagonisten in der Erzählwelt heißt das im Gegenzug: Weil er kein konkretes Ziel mehr anstreben kann, gibt es auch keine Geschichte mehr zu erzählen. Die erzählte Welt bietet schließlich nur noch einen sinnentleerten Gegensatz zu den Freudenliedern. Ihre Realität erscheint als sittlich verfallen, was den Klagegestus vom lyrischen Ich auf den Erzähler übergehen lässt, der diese Realität nicht mehr verstehen kann. IV. Kuss und Klage: Zwischen lyrischer Präsenz und narrativer Distanz Von den geschilderten Schwierigkeiten zwischen erzählendem und erzähltem Subjekt wissen die Lieder nichts. Von ewigem Dienst und größtem Schmerz, von Glück und Erfüllung kann hier problemlos die Rede sein. In der Diegese klagt Ulrich anfangs bis zur Lächerlichkeit, in der Lyrik ist dagegen die Klageintensität nicht nur gänzlich unproblematisch, sie wird 34 35 36
Der Begriff des Erzählers entfällt, weil schon die basale Ausgangsdefinition des Erzähltextes verfehlt wird: Der „narrative Diskurs oder die Erzählung [ist] nur was sie ist, sofern sie eine Geschichte erzählt“, Genette (Anm. 25), S. 17. S. o. Anm. 11. Vgl. Hübner, Frauenpreis (Anm. 6), Bd. I, S. 258.
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auch anders aufgefasst: Die Klageintensität ist hier eine Zeitintensität. Darum ist die Minneklage das bevorzugte Genre im ersten Teil des Frauendienstes. Der linear gedehnten Zeit der Erzählwelt, in der Ulrich konkret klagt und jammert, wird nämlich in der lyrischen Klage ein Klang von spannungsvoller Dauer gegenübergestellt. Ob der Liebesschmerz, den die Lyrik besingt, real ist oder nicht, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Vielmehr wird der Schmerz für das Aussagesubjekt auf andere Weise bedeutsam, weil er jenseits der Geschichte liegt. An den zwischen Lyrik und Epik verschobenen Zeitverhältnissen zeigen sich die unterschiedlichen Semantisierungen recht deutlich. Was am Beispiel der Finger-Episode bereits sichtbar wurde, gilt auch für den Text als Ganzes: In der Diegese des Frauendienstes ist die Zeit auffällig doppelt bestimmt. Die Zeit wird einerseits durch die Geschichte des Protagonisten subjektiv zwischen Anfang und Ende entworfen, andererseits benötigt dieser Entwurf eine objektiv-lineare Geschehenszeit als Grundlage, auf der sich die Handlung bewegt. In der Erzählwelt sind dann etwa die Jahreszeiten sukzessive aufeinander folgende raum-zeitliche Bedingungen des Handelns, eingeführt werden sie aber, damit sich die Geschichte des Protagonisten entfalten kann. Im Frauendienst sieht das so aus: Im Sommer zieht Ulrich auf Turniere und zeichnet sich dort in Kämpfen aus, im Winter lebt er zurückgezogen und verbringt diese Zeit z. B. damit, Minnelieder zu dichten. Die Zeit scheint dabei einen direkten Einfluss auf den Helden zu haben. Vor allem der Winter schlägt dem Helden nämlich aufs Gemüt: Im Sommer, wenn die Vögel singen und die Blumen blühen, ist Ulrich vergleichsweise hochgestimmt, im Winter jedoch betrübt (48 ff.; 159; 327; 419 f.). Der Minnesang konzeptualisiert das Bedingungsverhältnis von Stimmung und Jahreszeit dagegen üblicherweise genau umgekehrt und stellt damit den Zeitbegriff konsequent um: Die Zeit ist nicht zuerst eine Kategorie eines Handlungsraumes, sie ist zuerst eine semantische Kategorie.37 Um Trauer auszudrücken, ist es im Minnesang Winter, wenn die Stimmung freudig ist, kehren Frühling und Sommer in die Gedichte zurück. Dieses konventionelle Prinzip lyrischer Zeitsemantik fasst Ulrich im narrativen Kontext in die Worte: an ir gar al mîn freude lît: / si ist mînes herzen meienzît
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S. o. Anm. 11. Zur Verkoppelung von lyrischem Jahreszeitentopos und Befindlichkeit des Helden besonders ausführlich Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 267–273. Zum Jahreszeitenprinzip zuerst Brecht (Anm. 3), S. 24 f. Zur veränderten zeitlichen Dynamik zwischen erstem und zweitem Teil infolge des Wechsels der Minnedame Dittrich (Anm. 14), S. 514; zum Jahreszeitentopos danach Touber (Anm. 6), S. 256; zuletzt Nicola McLelland: Seht ir dort jene hohe lin? Der unerreichbare Innenraum in Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘ (ca. 1255). In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. AngloGerman Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink u. a., Berlin, New York 2008, S. 87–100, hier S. 97 f.
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(456,7 f.; „allein bei ihr liegt meine ganze Freude, sie die Maienzeit meines Herzens“). Als davon abgeleitete Varianten treten im Frauendienst Trauer und Sommer sowie Winter und Glück in ein gegenläufiges Spannungsverhältnis. Spürbar wird dieser Unterschied von narrativer und lyrischer Zeitbegründung dann, wenn sie in der Realität des Frauendienstes miteinander in Beziehung treten. Dies ist besonders dort interessant, wo der Protagonist das Minneparadox in einem seiner Lieder begriffen und programmatisch umgesetzt zu haben scheint. Dieses Lied führt, nachdem Ulrichs Dame es rezipiert hat, endlich zu der ersehnten Einladung des Protagonisten (1101– 1116). Offensichtlich ist der Text also mit diesem Lied an einen poetologisch zentralen Punkt gelangt. Die Frauendienstthematik betonen schon die ersten beiden Verse Vil sælic Minne, hab ich nu getân / den dienest, den dîn gewalt mir gebôt (XI,1 f.; „Beglückendste Minne, wenn ich nun den Dienst geleistet habe, den deine Macht mir befahl“). Minne ist hier als das Prinzip eines Frauendienstes an der Frauengüte schlechthin begriffen, womit die konkrete Liebeserfüllung gleichgültig wird.38 Das Ich dient nicht der Dame, es dient der Minne selbst und damit zugleich allen Frauen: Ir edeln vrouwen, ir vil reinen wîp, / ich hân geworben mîn und iuwer dinc (XI,8 f.; „Ihr adeligen Damen, ihr reinsten Frauen, ich habe um meine und eure Angelegenheiten geworben“), hält der Sänger fest. Aus dem allgemeinen Dienst ergibt sich dann als Implikation die spezielle Hoffnung auf die geliebte Herrin, die Ulrich aber wiederum als Mîn trôst, mîn wunne, mîner sælden keiserîn (XI,26; „meine Hoffnung, meine Freude, Kaiserin meiner Glückseligkeit“) so vollständig idealisiert, dass es gleichgültig wird, wie sie konkret handelt. Ihre Idealität ist jenseits ihrer tatsächlichen Gunst prinzipiell wirksam: […] wan ir güete ist sô guot daz ich hôhen muot hân von ir güete, swie sô sie mir tuot. (XI,33–35)
[…] Denn ihre Güte ist so vollkommen, dass ich von ihrer Güte hochgestimmt bin, ganz gleich wie sie mit mir umgeht.
Die Freude über die Minne entsteht so nicht im konkreten Lohn durch die Dame, sie emergiert bereits im Minnesang selbst. Genau deshalb ließ sich in den Minneliedern auch zuvor bereits der Wunsch nach der Vereinigung mit der Minneherrin sehr deutlich artikulieren: Es geht um die unio mit einem Ideal von höfischer Weiblichkeit, das sich jenseits der Realität vollzieht. Der 38
Zu dieser Generalisierungstendenz des Liedes auch Hübner, Frauenpreis (Anm. 6), Bd. I, S. 275–277, der seinem Interpretationsmodell zufolge aber die konkrete Lohnforderung für unabdingbar hält, weshalb die im Lied propagierte ästhetische Selbstgenügsamkeit des Dienstes als argumentatives Problem des Textes erscheint. Verallgemeinernd formuliert entsprechend Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 278: „Die Lieder sind somit nicht nur mühsames Mittel zum Zweck, sie tragen durch die literarische Entfaltung der erotisch-sinnlichen Komponente die Belohnung bereits in sich.“
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wiederholte Wunsch nach Liebeserfüllung ist in der Lyrik gerade nicht konkret zu verstehen. Die Liebesvereinigung ist eine lyrische Transzendenzfigur (II,30–34). Folgerichtig kann die Minnedame in der Diegese Ulrich endlich zu sich bitten, denn konkret geschehen kann nun nichts mehr. Doch der Reflexionsstand des Liedes ist dem Handeln des Protagonisten wiederum weit voraus. Obwohl Ulrich von der Dame sicherheitshalber mehrfach darauf hingewiesen wird, dass sie keinesfalls die Absicht habe, bei dem heimlichen Treffen mit ihm zu schlafen (1104; 1116; 1207; 1228; 1237), hat Ulrich gerade dies zum erklärten praktischen Ziel: sol ich iu hie geligen bî, sô bin ich alles des gewert, des mîn lîp ie ze vreuden gert. (1206,2–4; vgl. 1232).
Wenn ich hier mit euch schlafe, so wird mir all das zuteil, was ich immer zu meiner Freude begehrt habe.
Und so wie Ulrich hier die Metaphorik der Liebesvereinigung beim Wort nimmt, so tut dies auch der Erzähler: Die Metaphern der Minnelyrik schlagen sich direkt in der Form seiner Welt nieder. Gemäß dieser Logik werden Zeit und Raum selbst zu schwierigen Hindernissen auf dem Weg zur Minneburg der Dame, die von einem metaphorischen Ort der lyrischen Imagination zu einem konkreten Gebäude wird. Aus der lyrischen Metapher emergiert unversehens die Burg der Minneherrin als eine erzählte AntiUtopie.39 Zuerst kann der Bote, der die Einladung zu dem Stelldichein überbringen soll, Ulrich tagelang nicht finden. Darum ist es für den Liebenden eigentlich unmöglich, in der genau festgelegten Frist bei seiner Herrin zu erscheinen. Doch Ulrich holt die verlorene Zeit ein: Die ersten 36 Meilen zur Burg der vrouwe legt er in nur einem Tag zurück (1125,2 f.), dabei reitet er allerdings zwei Pferde zu Tode.40 Entsprechend erweist sich auch die Wirklichkeit, der Ulrich ausgesetzt ist, geradezu als hyperreal, was zuerst zum genauen Gegenteil der erhofften idealen Minnenacht führt. Die Sache zieht sich auf ziemlich unappetitliche Weise: Ulrich muss sich als Aussätziger verkleiden und unter den Leprakranken, mit denen er sogar sein Essen teilt, vor der Burg auf Einlass warten. Das ist ihm auf die Dauer so widerlich, dass 39
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Vgl. McLelland (Anm. 37), S. 93, dort der strukturell wichtige Hinweis auf die vorherige Verwendung der Burg als Herzmetapher schon im zweiten Büchlein (307–314). Zur weiteren Verwendung der Herzmetapher im Frauendienst Tobias Bulang: Zur Exponierung von Imagination in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey/Horst Wenzel, Stuttgart 2007, S. 65–84. Zur praktischen Unmöglichkeit der Zeitangaben zuerst Becker (Anm. 5), S. 70 f. Vgl. auch zu übersteigerten Angaben bei den Reisegeschwindigkeiten am Beispiel der Venusfahrt den Hinweis bei Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 89.
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er es schließlich vorzieht, die Nacht abseits in einem Kornfeld zu verbringen, wo es auch wenig amoen zugeht: Regen und Ungeziefer plagen ihn heftig (1167 f.), so dass Ulrich den Tagesanbruch mit Erleichterung vernimmt. Dô Êreck an Enîten arm lac, dô was im verre baz danne mir die naht, gelaubet daz. (1169,6–8)
Glaubt mir, als Erec im Arm Enites lag, da war die Nacht für ihn weit besser als für mich.
Auch sonst widersetzt sich die Realität hartnäckig jeglicher Minneromantik: Bei Anbruch der dritten Nacht schließlich wartet Ulrich am Fuße der Burg seiner Herrin auf Einlass, als der Wächter auf der Burgmauer erscheint und erst einmal genau über Ulrich zu urinieren beginnt. Schließlich wird Ulrich nach langem Warten an einem Betttuch mühsam zur Dame emporgezogen, wobei sich unvermittelt das Gewicht seines offenbar massigen Körpers als äußerst realistisches Problem erweist. Diesem Realismus des erzählten Raumes entsprechend fordert Ulrich seine Herrin dann sofort wortreich auf, mit ihm zu schlafen (bes. 1221–1227). Nach den Anspielungen der bisherigen Szenerien auf die Nacht, die Liebesvereinigung und den Tagesanbruch heißt dies: Der Held glaubt offenbar, die lyrische Situation des Tageliedes in seiner Welt tatsächlich herbeiführen zu können.41 Aber alles, was ihm gewährt werden kann, ist eine symbolische Auszeichnung: Ulrich darf seine vrouwe küssen. Doch noch der Kuss scheitert an der erzählten Realität. Ein zweites Mal soll sich Ulrich für den Kuss über die Mauer ziehen lassen. Außen an der Burg hängend, hält er dazu die Hand der Dame, doch als er sie endlich küssen will, lässt er ihre Hand los – und jenseits der Transzendenz des lyrischen Ausdrucks schlägt die Physik des Körpers grausam zu: Ulrich saust in die Tiefe (1269). Die entscheidende Berührung der Minneherrin gelingt nicht. Wie sich später herausstellt, hat der Wächter auf der Zinne Ulrichs kuriosen Absturz mit angesehen und irritiert davon berichtet (1308–1310).42 Deutlicher kann man die konkrete Unerreichbarkeit der lyrischen Gemeinschaft in der Erzählwelt fast nicht ausdrücken: Die Möglichkeiten des Tageliedes werden systematisch auf den Kopf gestellt. Dabei gilt die Unerreichbarkeit der lyrischen Geliebten nicht nur für den Protagonisten, sie gilt auch für den Ich-Erzähler. Denn ebenso wie die Dame für Ulrich in seiner Geschichte körperlich unnahbar bleibt, 41 42
Auf den Handlungstyp des Tageliedes verweist für diese Erzählphase Wolf (Anm. 32), S. 93. Vgl. zuvor Milnes (Anm. 6), S. 38. Zur Weiterführung dieses Motivs im Umgang mit dem Wächtertagelied in den Tageliedvarianten des zweiten Teils zusammenfassend Hartmut Bleumer: Minnesang als Lyrik? Desiderate der Unmittelbarkeit bei Heinrich von Morungen, Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub. In: Transformationen der Lyrik im 13. Jahrhundert. Colloquium Wildbad/ Rothenburg 2008. Hrsg. von Susanne Köbele/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder, Berlin (Wolfram-Studien 21, im Druck).
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so wäre auch eine konkrete Liebesbegegnung von einem Ich-Erzähler vor dem Hintergrund des höfischen Dekorums schlicht unerzählbar.43 Gleichwohl hängt die Interpretation der gesamten Episode vom Motiv des Kusses ab. In der Minnelyrik ist der Kuss ein ubiquitäres Motiv, es wird im Frauendienst jedoch genau spezifiziert. In der epischen Handlung hatte der Text das Motiv bislang schon dreimal kompositorisch variiert, im zweiten Teil des Frauendienstes wird es zu einem bevorzugten Thema der lyrischen Inserate. So wird das Kussmotiv am Anfang des Stelldicheins akzentuiert, als Ulrichs Nichte versehentlich den Helfer Ulrichs küsst, weil sie diesen mit Ulrich verwechselt (1195,5–1196,3).44 Ulrich kommt dagegen gar nicht mehr zum Zuge, denn die ganze Szene endet in einem sprachlich anspielungsreichen Scherz. Nach dem Sturz von der Mauer ist Ulrich derart verzweifelt, dass man ihn nur mühsam davon abhalten kann, sich in einem Gewässer zu ertränken. Die Rettung aus der Not ist bezeichnend: Zwar hat er den Kuss der Dame nicht erhalten, dafür wird ihm aber ihr wangeküsse, ihr Kopfkissen, übergeben. Dieses sei ihm zum Zeichen der Liebe von der Dame gesandt worden, so erklärt es Ulrichs Helfer (1275). Kompositorisch ist diese Lösung ebenfalls vorbereitet worden. Als Ulrich die Dame in ihrer Kemenate erreichte, sitzt diese auf ihrem Bett und es heißt: Dâ lage ein bolster kosterîch / und ouch zwei küsse wunneclîch (1202, 1 f.; „Da lagen ein wertvolles Polster und auch zwei ‚Küssen‘.“). Die Erwähnung des Kissens fällt auch sprachlich auf, denn die Form küsse, die hier für das mittelhochdeutsche starke Neutrum küssen, also für ‚Kissen‘ stehen soll, ist auch noch falsch, für den Nominativ Plural des starken Maskulinums kus, nhd. ‚Kuss‘, wäre sie dagegen richtig. Hinter dem Versprecher des Erzählers steckt eine komposiVgl. mit Bezug auf die Handlungsstruktur des Tageliedes Annette Volfing: Die Burgen Ulrichs von Liechtenstein und seine Tagelieder. In: Die Burg im Minnesang und als Allegorie im deutschen Mittelalter. Hrsg. von Ricarda Bauschke, Frankfurt a. M. u. a. 2006 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 10), S. 63–73, hier S. 70. Auf das Verbot des sich rüemens, das solche Erzählungen prinzipiell ausschließt, geht Ulrich in seinem ‚Frauenbuch‘ ausdrücklich ein, vgl. Elke Brüggen: Minnelehre und Gesellschaftskritik im 13. Jahrhundert. Zum Frauenbuch Ulrichs von Liechtenstein. In: Euphorion 83 (1989), S. 72–97, hier S. 81–83. 44 Dazu stellen sich zwei Szenen der sog. ‚Venusfahrt‘: Ulrich empfängt als Venus in Treviso einen Friedenskuss in einer Messfeier (538), was dem Erzähler Anlass zu einem exaltierten Lob des Kusses gibt, das beginnt: wan vrowenküssen sanfte tuot. / daz ist für wâr den allen kunt, / die ie gekusten vrowen munt, / daz nie niht alsô süezes wart / sô vrowenkus von hôher art. (539, 4–8: „Denn es tut gut, Herrinnen zu küssen. Wahrlich, das wissen alle diejenigen, die jemals den Mund einer Herrin geküsst haben: dass es niemals etwas so Süßes gegeben hat wie den Kuss einer Herrin von hoher Abkunft.“) In einer späteren Wiederholung des Friedenskusses am Ende der Venusfahrt verschiebt sich das Motiv bereits zusehends ins Konkret-Begehrliche, weshalb sich die nun anwesenden Damen zu schämen beginnen und den Kuss ablehnen (947). Vgl. bes. Michael Mecklenburg: Ritter Venus und die Rückeroberung verlorenen Terrains. In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Martin Baisch u. a., Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 175– 207, hier S. 198 f., mit Kritik der voraufgehenden gender-orientierten Forschungsliteratur.
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torische Absicht,45 denn schließlich kommt heraus, dass der Helfer Ulrichs die Botschaft mit dem Kissen nur erfunden hatte, um den Verzweifelten zu beruhigen: Sus hân ich im von iu gelogen (1304,1; „Auf diese Weise habe ich ihm etwas von euch vorgelogen“), gibt der Bote später vor der Dame zu – der vermeintliche Beweis der Zuneigung verweist auf eine lyrische Fiktion, in der Realität ist er wiederum eine Lüge. Im Minnesang hat das Wortspiel bekanntlich Tradition. Die Homonymie von Kissen und Kuss ist zuerst bei Reinmar Gegenstand eines Scherzes: in Reinmars berühmtem Kussraubmotiv (MF 159,37). Dieser Kussraub wird von Walther von der Vogelweide einerseits in einer konservativen Replik zurückgewiesen (Ein man verbiutet ein spil âne pfliht L 111,22). Andererseits spielt auch Walther in einem weiteren Lied mit dem Doppelsinn des Wortes küssen, in der Wendung: Si hât ein küssen, daz ist rôt (L 54,7).46 Ulrich nimmt dieses Motiv nun nicht nur mehrfach auf.47 Im Frauendienst wird es sogar zu einem regelrechten Running Gag der Lyrik. An der zitieren Stelle gibt er dem Motiv insofern eine neue Wendung, als er es im epischen Kontext wörtlich nimmt: Der Liebende muss das Kissen tatsächlich für den Kuss nehmen, weil es in der epischen Realität keine Präsenz der Lyrik gibt. Freilich führt das Motiv auch narrative Konnotationen mit sich. Auch wenn man das Kuss-Motiv als lyrisch determiniert betrachtet, so fällt auf, dass die Maskerade als Aussätziger eine Opposition dazu bildet. Im Kuss ist der Wunsch nach Präsenz der Geliebten auf den Punkt gebracht: Der Kuss ist und bedeutet den Kontakt zur Herrin. Die Maskerade als Leprakranker impliziert dagegen eine prinzipielle Distanz. Der Kuss berührt, der Leprakranke hingegen ist unberührbar. Wenn Ulrichs Dame von ihm verlangt, Ulrich solle sich als Aussätziger verkleiden und unter den Leprakranken vor der Burg verbergen, dann ist das für eine Minnebegegnung nicht eben ver45 46 47
Vgl. Bechstein (Anm. 10), der in Bd. 2, S. 63, irritiert bemerkt: „seltenere Form“. Ausgabe: Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner. Hrsg. von Christoph Cormeau, Berlin, New York 1996. Zuerst in seinem ersten Büchlein (192–196), vgl. den Hinweis auf Reinmar bei Frey (Anm. 14), S. 61; sowie als mediale Pointe des ersten Buches Thomas Gutwald: Der Minnediener als Souverän. Die Ordnung von buoch und büechelin im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms/C. Stephen Jaeger/Horst Wenzel, Stuttgart 2003, S. 143–163, hier S. 153; vgl. wieder in Lied XIV,22. Allgemein zu möglichen wörtlichen Ähnlichkeiten mit Reinmar Erich Schmidt: Reinmar von Hagenau und Heinrich von Rugge. Eine litterarhistorische Untersuchung, Strassburg, London 1874 (QuF 4), S. 116–119; Karl Knorr: Über Ulrich von Lichtenstein. Historische und litterarische Untersuchungen, Strassburg 1875 (QuF 9), S. 44. Die Relevanz direkter wörtlicher Übernahmen relativierend Brecht (Anm. 3), S. 97–102 zu sprachlichen Formeln, S. 3 zur Ähnlichkeit mit dem Minnesangkonzept Reinmars; allgemein Touber (Anm. 6), S. 258 f. und die Übersicht bei Michael Pieper: Die Funktionen der Kommentierung im „Frauendienst“ Ulrichs von Liechtenstein, Göppingen 1982 (GAG 351), S. 124–126.
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heißungsvoll. Dies gilt schon durch den Kontrast zur lyrischen Ästhetik. Die ersehnte Berührung der Liebenden, wie sie über die Kuss-Metapher angesprochen werden kann, realisiert sich hier als sinnliche Vorstellung einer idealen Begegnung. Die Widerwärtigkeit der Leprosen hat dagegen den genau umgekehrten ästhetischen Effekt. In seiner Ekelhaftigkeit wirkt der Leprakranke schon in der Imagination so real, das sich selbst die Vorstellung seiner Berührung verbietet.48 Das Scheitern der erhofften Minnebegegnung zeichnet sich aber auch deshalb ab, weil das Verkleidungsmotiv aus einer entsprechenden narrativen Tradition stammt: Die geforderte Verkleidung ist dem Tristrantroman Eilharts nachgebildet. Nach einem Streit mit seinem Gefährten Kehenis, der zum Zweifel an der Aufrichtigkeit von Tristrants Liebe zu Isolde geführt hatte, versucht sich Tristrant im Roman als Aussätziger verkleidet Isolde zu nähern. Isolde durchschaut die Maske, aber sie verzeiht Tristrant nicht, sondern lässt ihn verprügeln und hinauswerfen (7026–48).49 Mit Blick auf Eilharts Tristrant liefert also schon die Verkleidung keine besonders ermutigenden Konnotationen für ein Stelldichein. Aus diesem narrativen Zusammenhang des Tristrant heraus lässt sich aber auch noch der merkwürdige Umgang mit dem Kissen der Dame genauer interpretieren.50 Der Streit von Tristrant und Kehenis hatte die Episode um Gymeles Kissen zur Grundlage (6672– 6808). Ähnlich wie Ulrich, versucht in dieser Episode Kehenis auf unhöfische Weise den Beischlaf mit Gymele zu ertrotzen, was durch ein Kissen mit Zauberkraft verhindert wird: Auf diesem schläft Kehenis ein, anstatt mit Gymele zu schlafen. Das Kissen kann daher über die narrative Provenienz des Aussatzmotivs ebenfalls aus seinem narrativen Kontext heraus reinter48
„Die bloße Erinnerung oder eine verbale Anspielung auf Ekelhaftes ruft dieselbe affektive Wirkung hervor wie die Begegnung mit einem ekelhaften Objekt. […] Demnach ist es für die Qualität der Emotion Ekel unerheblich, ob Ekelhaftes nur in der Vorstellung existiert oder unmittelbar präsent ist.“ Rüdiger Schnell: Ekel und Emotionsforschung. Mediävistische Überlegungen zur ‚Aisthetik‘ des Häßlichen. In: DVjs 79 (2005), S. 359–432, hier S. 363 f., mit ausführlichen Nachweisen zu den Möglichkeiten in mittelalterlicher Rhetorik und Poetik. Die Verbindung von Kuss und Ekel dokumentiert für die Heiligendarstellung am Beispiel des Motivs des Leprosenkusses Klaus Schreiner: „Er küsse mich mit dem Kuß seines Mundes“ (Osculetur me osculo oris sui, Cant 1,1). Metaphorik, kommunikative und herrschaftliche Funktionen einer symbolischen Handlung. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky/Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 89–132, hier S. 102 f. 49 Ausgabe: Eilhart von Oberge. Hrsg. von Franz Lichtenstein, Strassburg 1877 (QuF 19). Vgl. zuerst von der Hagen (Anm. 3), S. 358, Anm. 4, später z. B. Karl Knorr (Anm. 47), S. 29 f. Danach wiederholte Hinweise bei Jutta Goheen: Ulrich von Lichtensteins ‚Frauendienst‘: Maere und liet. In: ABäG 3 (1972), S. 147–180, hier S. 163; Herzog (Anm. 3), S. 507; Peters (Anm. 7), S. 123; Thomas (Anm. 6), S. 199, sowie die Interpretation des Aussatzmotivs von Daniela Hempen: „Nach unser armer liute siten“. Die Aussätzigen in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst. In: Germanic notes and reviews 27 (1996), S. 19–22. Zuletzt Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 181 f. und Ackermann (Anm. 3), S. 266–272. 50 Vgl. die Vermutung der Motiventlehnung bei Hausner (Anm. 13), S. 124.
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pretiert werden. Das Kissen steht im Erzählzusammenhang immer für eine Täuschung. Im Unterschied zum Frauendienst hat nun aber der Tristrantroman Eilharts den Vorzug, eindeutig fiktional zu sein. Darum kann hier die Distanz der Liebenden immer wieder überwunden werden und Tristrant und Isolde kommen in der Diegese wiederholt zusammen. In der Pseudo-Realität des Frauendienst bleibt dies indes ein fernes Ziel, das sich nur lyrisch imaginieren lässt. Dies besingt nach dem fehlgeschlagenen Stelldichein das Lied XII: Mîn hend ich valde mit triuwen algernd ûf ir füeze, dazs als Ysalde Tristramen getrœsten mich müeze Und alsô grüeze, daz ir gebære mîn swære mir büeze, daz sie mich scheide von leide, sie liebe, sie süeze. (XII,11–15)51 (Zu ihren Füßen falte ich getreulich und voller Verlangen meine Hände, damit sie mich so tröstet, wie Isolde dies bei Tristrant tat, und mich so grüßen möge, dass ihr Gebaren mir meinen Kummer nimmt, dass sie mich von meinem Leid trennt, sie, die Liebe, sie, die Süße.)
Genau dies hätte in der Erzählung geschehen sollen: Ulrich hat sich wie Tristrant verkleidet, und die Herrin hat ihm einen Gruß angeboten, der ihm seine Trauer hätte nehmen können. Dieser Gruß war ein Kuss, ein unmittelbarer Kontakt, der die Minne bedeutet. Der Kuss steht damit geradezu für das Präsenzversprechen der Lyrik, und eben darum findet er in der Epik nicht statt. Denn in der narrativen Handlung dominiert die Distanz. Im Frauendienst wird diese Distanz nur in der Lyrik überbrückbar. Nach dem lyrischen Konzeptwechsel vom ersten zum zweiten Teil des Textes ist dies der Fall:52 In einem späteren Tagelied (XXXVI) werden die zeitlichen Implikationen zwischen der im lyrischen Kuss angedeuteten Kontaktkategorie und dem narrativen Distanzprimat noch einmal sehr deutlich. Denn hier kann der Liebende sagen: Dîn wîplîch friundes grüezen, dîn küssen und dîn umbevanc Kan sich sô lieplîch süezen daz mir diu wîle nimmer lanc Bî dir wirt, vil herzenliebiu frouwe. (XXXVI,9–14).
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Dein weiblicher Freudensgruß, dein Küssen und deine Umarmung kann sich zu einer derartig lieblichen Süße steigern, dass mir die Zeit niemals bei Dir lang wird, herzallerliebste Herrin.
Vgl. dazu Hübner, Frauenpreis (Anm. 6), Bd. I, S. 271, mit der Akzentuierung des Hoffungsmotivs. Zum oft diskutierten Konzeptwechsel bes. Händl (Anm. 26), S. 382–385, zur Funktion im narrativen Verlauf zuletzt Hübner, Minnesang (Anm. 6), S. 98.
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Im Akt des Kusses, das sagt diese Stelle, verschwindet für den Küssenden die Zeit. Im Rahmen eines Liedes ist dies eine bedeutungsschwere Aussage. Der lyrische Kuss stellt einen räumlich-körperlichen Kontakt her und überwindet die Zeit, so wie das gesungene Lied den Hörer berührt und eine besondere Form der Gegenwart herstellt. Vollends ausgesprochen wird dieser direkte Zusammenhang in Lied LVI, das die Herzensvereinigung thematisiert:53 Das Wort der Liebenden, so wünscht es das lyrische Ich, möge nicht wie ein Kuss, es möge der Kuss selbst sein: Solde ich der vil minneclîchen / ein wort küssen in den munt (LVI,19 f.; „Sollte ich der Liebenswerten ein Wort in den Mund küssen“), und dieses Wort der Minne findet zugleich im Kuss seine unaussprechliche Erfüllung: Küssen ist der Minnen rôse, dâ sie reizet wunne mit, Sô sie mit der liebe lôse ist nâch ir vil süezem sît. Sô getet nie niht sô wol, wan daz eine, des man nennen niht ensol (LVI,31–36).
Das Küssen ist die Rose der Minne, mit der sie die Wonne hervorlockt, wenn sie, ihrer süßen Eigenart entsprechend, mit der Liebe freundlich ist. So hat nie etwas so gut getan, außer dem einen, was man nicht sagen darf.
Nach dem bisher Gesagten hat aber gerade hier zu gelten: Diese im lyrischen Kuss symbolisierte Präsenz beruht in der Lyrik auf der Überwindung narrativer Strukturen. Der lyrische Kuss ist ein zeitenthobenes und zeitenthebendes Ziel einer narrativen Handlung. V. Fazit und Ausblick Die Lyrik Ulrichs enthält ein Präsenzversprechen, das zeitlich über die Negation narrativer Strukturen entsteht und in den metaphorischen Kontakt zur Transzendenz der Minne führt. Als Gegenbewegung dazu entwirft der Text eine Realität, die ebenso manifest daherkommt, wie die Lyrik transzendent ist. Dies gilt zunächst mit Blick auf die Zeitlichkeit der Diegese.
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Vgl. Hübner, Frauenpreis (Anm. 6), Bd. I, S. 292 f., die Bestimmung des Typus als Minnephantasiekanzone. Zu dem von Hübner postulierten Grundmechanismus Ders.: ‚Gerne ich von dem selben spraeche…‘. Leibhaftiges in den Liedern Ulrichs. In: Spechtler/Maier (Anm. 3), S. 319–345, hier S. 332 f. Dazu die Zusammenstellung bei Linden, Kundschafter (Anm. 3), S. 273–280, mit der Abschwächung der von Hübner betonten erotischen Komponente, Anm. 774. Die Transzendierung der Vereinigungsmotive in Ulrichs Lyrik betonen zuvor Dittrich (Anm. 14), S. 512; Frey (Anm. 14), S. 69; Herzog (Anm. 3), S. 516 u. 518. Zur religiösen Überhöhung der Vereinigung Jürgen Kühnel: Zu den Tageliedern Ulrichs von Liechtenstein. In: JOWG 1 (1980/81), S. 99–138, hier S. 119, der die Kussformel des Liedes in seiner Interpretation besonders akzentuiert, vgl. S. 100–117.
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Denn in Umkehrung zu den in der zweiten Texthälfte zunehmenden narrativen Tendenzen der Lyrik bringt der Erzähltext die Struktur der Geschichte zum Verschwinden. In der schließlich nur noch berichteten und chronologisch verzeichneten Realität wird der subjektive Zeitentwurf der narrativen Struktur zugunsten der Dominanz einer objektiv-linearen Zeit vernachlässigt, statt eine Geschichte zwischen Anfang und Ende zu erzählen, wird ein Geschehen als sukzessive Handlung präsentiert. Das real anmutende Geschehen wird so gleichsam vor der subjektiven Zeitaneignung durch die Geschichte objektiviert. Die lyrischen Texte dagegen verschieben die Position des Subjekts in ein Jenseits der Geschichte. Die subjektive Zeitkonstituierung narrativer Strukturen ist damit in der Lyrik gerade nicht zurückgenommen, sie wird intensiv und zum gegenwärtigen Geschehen verstetigt: Sie erscheint als eine entzeitlichte Gegenwart, als lyrisches Präsens im Komplement zum epischen Präteritum. Zeiteffekte sind notwendig auch Raumeffekte. Die vollständige zeitliche Gegenwart impliziert damit auch das Fehlen jeglicher räumlicher Distanz: Die Lyrik sucht darum Kontakt. Die Funktion lyrischer Kontaktkategorien, deren semantische Wirkung erst noch systematisch zu beschreiben wäre, wird schlaglichtartig am Symbol des Kusses deutlich. Der Kuss verbindet die Liebenden unmittelbar, er bedeutet die Liebe und hebt im selben Moment den Zeitverlauf in einer erfüllten Gegenwart auf. In der Lyrik ist dieser Kuss selbst wiederum eine Figur, die von der Immanenz zur Transzendenz führt: Der lyrische Kuss symbolisiert die überzeitliche Präsenz der Minne. An die Stelle solch raumzeitlicher Unmittelbarkeit treten in der dargestellten Welt die Medien, an denen immer wieder genau jener Kontakt forciert wird, den sie als zeichenhafte Vermittlungsformen prinzipiell nicht herstellen können. Der Körper des Protagonisten, der zerschnitten wird, schmerzt, blutet, ja an die Geliebte verschickt wird, seine Handlung, die räumlich und zeitlich genau protokolliert und mit historischen Namen bezeugt wird – das alles scheint insgesamt eine geradezu greifbare, objektive Realität zu ergeben. Aber diese wird nicht etwa verzeichnet, weil sie einfach da ist, sie wird vielmehr in dieser Weise konkret, weil Ulrich die Idee seiner Dame in der Erzählwelt tatsächlich zu berühren wünscht. So wie sich der Protagonist bemüht, die lyrische Sprache körperlich-drastisch zu realisieren, so gestaltet auch der Erzähler die erzählte Welt forciert realistisch. Ihr Ziel erreichen aber beide nicht. Aus der paradoxen Schwebe der vorgängigen lyrischen Semantik wird so im narrativen Kontext ein Referenzdilemma, in dem die Sprache stets die Bedeutung jener Wirklichkeit verfehlt, die sie erzeugt. Damit wäre aber Ulrichs Eigenrealität ein fiktiver narrativer Entwurf aus dem Geist des lyrischen Präsenzphantasmas. Weil dieses lyrische Präsenzphantasma ohne narrative Strukturen nicht gedacht werden kann, mag es sein, dass der narrative Handlungsentwurf
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praktisch scheitert und eine zunehmend sinnlose Realität zurücklässt. Ebenso mag es sein, dass die Geschichte am Ende des Textes in der konkreten Erzählwelt verschwindet. Aber in genauer Umkehrung dazu sind in der Lyrik die narrativen Strukturen intensiv wirksam. Und so scheitert der Held zwar am Paradox des Frauendienstes ebenso wie der Erzähler, der aus diesem Frauendiener hervorgeht. Aber vielleicht formt sich die eigentliche narrative Struktur ja auch über einen ganz anderen Protagonisten aus. Wenn man die Geschichtsstruktur in den Liedern, ihrer Abfolge, ihren programmatischen Wechseln, in dem Erkenntnisprozess, den sie ermöglichen, sehen könnte, dann wäre zu sagen: Der eigentliche Held des Frauendienstes, das ist nicht die Figur eines Ritters, es ist der Sang Ulrichs von Liechtenstein.
IV. Lyrisch-narrative Übergänge in der Mystik
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Der inwendig singende Geist auf dem Weg zu Gott Lyrische Verdichtung im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg I. Das Fließende Licht der Gottheit als Panorama der Aussageformen Die christliche Mystik ist geprägt durch eine Spannung von Transzendenz und Immanenz, von Geistigem und Sinnlichem. Oft gestaltet sie den Weg zu Gott als Loslösung vom Irdischen und macht dennoch die Annäherung an das Transzendente in sinnlichen Kategorien präsent. Die menschliche Seele ist bemüht, alles Irdische zu lassen, sich vom Leib und seinen Versuchungen zu lösen, und dann werden ihr mit zunehmender Gottesnähe plötzlich sinnliche Genüsse und erotische Erfahrungen eröffnet, die zwar über die Tradition der Hoheliedauslegung eine geistliche Legitimation erfahren, aber von Wolfgang Mohr mit Blick auf die Mystik Mechthilds von Magdeburg dennoch als „kühn“1 bezeichnet werden. Über solch eine rückhaltlose Sinnlichkeit wundert sich auch der Protagonist in Rainer Maria Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In Erinnerung an seine Tante Abelone, in die er sich unglücklich verliebt hatte, formuliert Malte: Manchmal früher fragte ich mich, warum Abelone die Kalorien ihres großartigen Gefühls nicht an Gott wandte. […] Fürchtete sie, halben Wegs von ihm aufgehalten, an ihm zur Geliebten zu werden? […] Fast glaube ich es, wenn ich bedenke, wie an dieser Erleichterung Gottes eine so einfältige Liebende wie Mechthild, eine so hinreißende wie Therese von Avila, eine so wunde wie die Selige Rose von Lima, hinsinken konnte, nachgiebig, doch geliebt. […] wo sie schon nichts mehr erwarteten, als den unendlichen Weg, da tritt sie noch einmal im spannenden Vorhimmel ein Gestalteter an und verwöhnt sie mit Unterkunft und verwirrt sie mit Mannheit. Seines stark brechenden Herzens Linse nimmt noch einmal ihre schon parallelen
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Wolfgang Mohr: Darbietungsformen der Mystik bei Mechthild von Magdeburg. In: Märchen, Mythos, Dichtung. FS zum 90. Geburtstag Friedrich von der Leyens. Hrsg. von Hugo Kuhn/Kurt Schier, München 1963, S. 375–399, hier S. 393.
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Herzstrahlen zusamm, und sie, die die Engel schon ganz für Gott zu erhalten hofften, flammen auf in der Dürre ihrer Sehnsucht.2
Auf dem Weg zu Gott, als die Seele das Gestaltete schon längst zurückgelassen hat, kommt noch einmal die geballte Sinnlichkeit auf sie zu und lässt sie in Liebesbegierde lodern. Die bei Rilke als einfältig Liebende charakterisierte Mechthild von Magdeburg gilt als Autorin des Fließenden Lichts der Gottheit,3 das in mehreren Arbeitsphasen zwischen 1250 und 1282 entstanden ist. Das Fließende Licht vereint in einer lockeren Offenbarungsstruktur ganz unterschiedliche mystische Textsorten, vom innigen Liebeslied bis zur lebenspraktischen Anweisung für das Klosterleben, vom ekstatischen Dialog zwischen Seele und Gott bis zum lehrhaft-nüchternen Traktat.4 Die Texte sind – wohl durch einen Redaktor5 – in sieben Büchern organisiert, für die man eine Ordnung nach der Entstehungszeit vermutet. Dabei ist die Überlieferungssituation denk2 3
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Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Ders., Sämtliche Werke. Hrsg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1966, S. 709–946, hier S. 937. Zitiert nach: Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von Gisela Vollmann-Profe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek deutscher Klassiker 181; Bibliothek des Mittelalters 19), vergleichend herangezogen: Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung hrsg. von Hans Neumann, Bd. 1: Text. Besorgt von Gisela VollmannProfe, München 1990 (MTU 100), Bd. 2: Untersuchungen. Ergänzt und zum Druck eingerichtet von Gisela Vollmann-Profe, München 1993 (MTU 101). Die Zitate werden im Folgenden verkürzt mit der gängigen Buch- und Kapitelzählung sowie mit Seiten- und Zeilenangabe belegt. Übersetzungen stammen im Folgenden – sofern nicht anders angegeben – von der Verfasserin. Zum Verfahren der Gattungsmischung im Fließenden Licht vgl. Walter Haug: Grundformen religiöser Erfahrung als epochale Positionen. Vom frühmittelalterlichen Analogiemodell zum hoch- und spätmittelalterlichen Differenzmodell. In: Ders., Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters, Tübingen 1995, S. 501– 530, v. a. S. 520: „Bild und Abstraktion, Aufschrei und nüchterner Kommentar, Poesie und Reflexion gehen atemberaubend ineinander über. Es gibt keinen medialen Boden, auf dem man stehen könnte“. Vgl. auch Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache, Tübingen, Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30), S. 71–73, und Dies.: Vom Lob der Hölle. Grenzen des felix culpa-Modells in der Mystik. In: DVjs 82 (2008), S. 168–192, die S. 183 den ständigen Systemwechsel als bewusste Markierung dafür sieht, wie flüchtig das Sprechen von der unio mit Gott ist und dass es immer nur im gegenwärtigen Augenblick Bestand hat. Die Diskussion, welche Gattungsbezeichnung man für das Fließende Licht wählen soll, ist dargestellt bei Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993, S. 255 f., wobei Ruh den von Morel (Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder Das fließende Licht der Gottheit. Aus der einzigen Handschrift des Stiftes Einsiedeln, hrsg. von Gall Morel, Regensburg 1869) eingebrachten und hier favorisierten Offenbarungsbegriff verwirft und für die etwas umständliche Bezeichnung „Bekenntnisse einer minnenden Seele“ (S. 256) votiert. Das Ausmaß der Redaktionstätigkeit ist umstritten: Während Ruh (Anm. 4), S. 249, meint, die redaktionellen Eingriffe des Beichtvaters Heinrichs von Halle seien für das Fließende Licht gering gewesen und man habe es mit originalen Gedanken Mechthilds zu tun, relativiert
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bar ungünstig:6 Das niederdeutsche Original ist verloren, es liegt nur eine alemannische Fassung aus der Mitte des 14. Jahrhunderts vor, die Einsiedler Handschrift. Doch gibt es mit der Lux divinitatis, die in Anlehnung an die Textedition mitunter auch unter dem Titel Revelationes begegnet,7 für die ersten sechs Bücher des Fließenden Lichts eine Übersetzung ins Lateinische, die als Kontrollinstanz bei der Textherstellung dienen kann. Das Fließende Licht, das sich selbst als Wort Gottes ausgibt und Mechthild bzw. der Autorinstanz die Position einer Mittlerin zuteilt, ist von einer ganzen Reihe von Traditionen angeregt: An erster Stelle steht natürlich der Bezug auf das Hohelied und die Auslegung der Braut auf die anima diligens, die liebende Seele. Doch es werden mit dem Buch Mose, Davids Psalmen und den prophetischen Schriften von Jeremia und Daniel auch weitere biblische Inspirationsquellen genannt.8 Nicht explizit erwähnt, aber allenthalben greifbar sind Anregungen durch die volkssprachige höfische Literatur, vor allem die Minnelyrik, hinzu kommen Elemente aus der Liturgie und der seelsorgerischen Unterweisung. Keiner dieser Quellen vertraut sich der Text gänzlich an, vielmehr wird das Springen zwischen verschiedenen Redeformen zum durchgängigen Prinzip des Fließenden Lichts und lässt eine Vielfalt der Stimmen entstehen, die Klaus Grubmüller als „suggestive Pluralität des Redens und Erfahrens“ bezeichnet hat.9
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Ursula Peters die Rolle Heinrichs von Halle als Beichtvater, indem sie auf die Topizität eines Schreibbefehls des bîhters hinweist; vgl. Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988 (Hermaea N. F. 56), S. 116–129. Mit einem eher hohen Einfluss der Beichtväter rechnet Susanne Bürkle: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), vgl. v. a. das Kapitel zur cura monialium als Deutungsmuster mystischer Literatur, S. 57–71. Zur Überlieferungssituation des Fließenden Lichts vgl. den Kommentarband der Edition von Neumann (Anm. 3), S. 171–290, der neben der Einsiedler Handschrift auch die Hss. C, W und B bespricht, die jeweils Auszüge des Fließenden Lichts bieten. Sanctæ Mechtildis virginis Ordinis Sancti Benedicti Liber specialis gratiae. Accedit Sororis Mechtildis eiusdem Ordinis Lux Divinitatis. Opus ad codicum fidem nunc primum integre editum Solesmensium O. S. B. Monachorum cura et opera apud Henricum Oudin Fratres, Paris 1877 (Revelationes Gertrudianae ac Mechtildianae 2), S. 425–710. Vgl. III,20, wo das Versprechen Gottes ausgeführt wird, er welle dis bůch erlúhten mit fúnf liehten (S. 204,14 f.; „er wolle dieses Buch mit fünf Lichtern erleuchten“). Vgl. zu den Rezeptionsbeziehungen auch Elizabeth A. Andersen: The Voices of Mechthild of Magdeburg, Oxford u. a. 2000, v. a. S. 118, sowie Dies.: ‚Das Fließende Licht der Gottheit‘ und der Psalter. Dialogische Beziehungen. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel/Martin H. Jones/Nigel F. Palmer unter Mitwirkung von Christine Putzo, Tübingen 2003, S. 225–238, die die Intertextualität des Fließenden Lichts vor allem anhand der Psalmenzitate nachzeichnet. Klaus Grubmüller: Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechtild von Magdeburg. In: FS Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota u. a., Bd. 1, Tübin-
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Auch im Blick auf eine Interferenz zwischen Lyrischem und Narrativem zeigt sich der Text als eine Größe zwischen den Kategorien, denn in das Fließende Licht sind nicht nur ab und an lyrische Passagen inseriert, sondern auch die Prosakapitel arbeiten mit einer rhythmischen Strukturierung und Intensivierung des sprachlichen Ausdrucks durch Kolonreime.10 Diese sind mal stärker, mal schwächer ausgeprägt und oft durch die Übertragung ins Alemannische verwischt. Diese lockere klangliche Grunddisposition des Prosatextes erlaubt graduelle Verdichtungen und schleichende Übergänge in ein geschlossenes Metrum, so dass lyrisches und narratives Sprechen nicht in einen klaren Gegensatz treten. Das Sprachproblem, d. h. die Spannung zwischen einem Kapitulieren sprachlicher Ausdruckskraft angesichts der göttlichen Transzendenz und einem wortreichen Umkreisen der unio in mystischen Texten, ist in der Mystikforschung breit diskutiert.11 Tatsächlich macht die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens es dem Mystiker nicht leicht: Während die menschliche Sprache auf einer Differenzrelation von Zeichen und Bezeichnetem basiert und ihre Begriffe notwendig begrenzt sein müssen, herrscht in der göttlichen Sprache völlige Identität. Das Zeichen ist zugleich seine Referenz: Begriff und Gegenstand fallen in ontologischer Einheit zusammen, d. h., Gott spricht das Wort und ist es zugleich selbst. In ihrem Bemühen, die Sprache kreativ zu erweitern und für die Einheitsdarstellung zu öffnen, konzentrieren sich die mystischen Texte, wie die Diskussion zwischen Walter Haug und Susanne Köbele gezeigt hat,12 auf eine Überwindung der Begriffssprache durch die bildsprachliche Präsenz der Metaphorik. Ein
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gen 1992, S. 335–348, hier S. 343. Die Multiperspektivität als spezifische narrative Strategie analysiert Ingrid Kasten: Formen des Narrativen in Mechthilds Fließendem Licht der Gottheit. In: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hrsg. von Claudia Brinker u. a., Bern u. a. 1995, S. 1–18, v. a. S. 5–7. Eine detaillierte Beschreibung der Reimstruktur bietet die Edition von Neumann (Anm. 3), Bd. 1, S. XXIIf. Am Anfang der Sprachdiskussion steht Josef Quint: Mystik und Sprache. Ihr Verhältnis zueinander, insbesondere in der spekulativen Mystik Meister Eckharts. In: Altdeutsche und altniederländische Mystik. Hrsg. von Kurt Ruh, Darmstadt 1964 (WdF 23), S. 113–151; zuerst in: DVjs 27 (1953), S. 48–76, der davon ausgeht, dass die Autoren mystischer Texte ständig gegen die Sprache ankämpfen. Vgl. dagegen die frühe Position von Walter Haug: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens. In: Ders. (Anm. 4), S. 531–544. Vgl. zur weiteren Diskussion Anm. 12. Der These Haugs (Anm. 11), mystische Sprache ziele im Modell der unähnlichen Ähnlichkeit auf Differenz, hat Susanne Köbele mit dem Argument widersprochen, dass die Differenz im mystischen Sprechen durch die – nach Blumenberg – absolute Metapher überwunden und zu einer Identität geführt werde; vgl. Köbele (Anm. 4), v. a. S. 64–68, sowie die Reaktion von Walter Haug: Überlegungen zur Revision meiner ‚Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens‘. In: Ders. (Anm. 4), S. 545–549. Den Gegensatz von begrifflicher Differenzierung und einer Differenzlosigkeit Gottes diskutiert auch Michael Egerding: Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, Bd. 1: Systematische Untersuchung, Paderborn u. a. 1997, S. 37–44.
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anderes Moment mystischer Sprache, das wie die Metapher das alltägliche Sprachverständnis erschüttert und mit dem sich dieser Beitrag beschäftigt, ist das lyrische Sprechen, das eine besondere Produktivität im Erfassen des mystischen Geschehens entwickelt. Nach einigen allgemeinen Überlegungen zur Parallelität von lyrischem und mystischem Sprechen soll in der Textanalyse zunächst der exzessive Gebrauch anaphorischer Reihungen beleuchtet werden. Darauf folgen Überlegungen zur Musikalität als zentralem Charakteristikum des Lyrischen im Fließenden Licht, was für die drei Instanzen Seele, Gott und Rezipient analysiert werden soll. Die abschließenden Gedanken gehen der Frage nach, wie sich das lyrische Sprechen oder Singen im Fließenden Licht zur Theorie der inneren Sinne verhält. II. Lyrisches Sprechen im mystischen Diskurs und narrative Nebeneffekte Das Lyrische ist als Darstellungsform für die mystische Einheit keineswegs selbstverständlich: Die unio ist eine Erfahrung, die das Sprecher-Ich als historische Realität für sich behauptet, und primärer Vermittlungsmodus für eine vergangene Erfahrung, auf die man mit Distanz zurückblickt, ist zunächst einmal das Erzählen. Die Seele will berichten, was sie erlebt hat, sie will erzählen, um die Rezipienten an ihrer Erfahrung teilhaben zu lassen und sie zur Nachfolge zu befähigen. Dieses narrative Bedürfnis einer direkten Vermittlung von Erlebnisinhalten schlägt sich auch im Fließenden Licht nieder, wenn etwa über das Hilfsmittel der Personifikation eine Bühne mit allegorischen Figuren das geistige Geschehen narrativ zugänglich macht. Emotionen und Tugenden, die sich als geistige oder abstrakte Phänomene einer konkreten Darstellung entziehen, bieten der Seele in der Gestalt von Frau Demut und Frau Treue ein vielschichtiges Interaktionspotential. Doch mit zunehmender Nähe zu Gott geht der narrative Rahmen immer wieder in den von der Forschung intensiv diskutierten präsentischen Dialog13 über 13
Vgl. grundlegend Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: Ders. (Anm. 4), S. 550–578, der S. 567 für den Dialog im Fließenden Licht vier Dimensionen unterscheidet: a) Vergegenwärtigung gegenüber der Vergangenheit, b) die direkte Rede des Dialogs als größtmögliche sprachliche Annäherung an die unio, c) Konkretisierung im Sinne individueller Präsenz und d) die Reaktualisierung als Weg zum neuen unio-Erlebnis. Als narrative Strategie, die sich dem Rezipienten öffnet und eine besondere Präsenzwirkung verfolgt, untersucht den Dialog Niklaus Largier: Anima mea liquefacta est. Der Dialog der Seele mit Gott bei Mechthild von Magdeburg und Heinrich Seuse. In: Internationale katholische Zeitschrift Communio 16 (1987), S. 227–237, hier S. 236: „Die Seele ist – um es verkürzt und auf die Spitze getrieben zu sagen – der dialogische Aspekt menschlicher Existenz, der darin seinen Höhepunkt findet, daß jedes Sprechen und Handeln transparent wird hinsichtlich des Absoluten, in dem es gründet“. Vgl. auch Gerd Dicke:
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und wird schließlich ganz gesprengt. So ist im häufig besprochenen 44. Kapitel des ersten Buches die affektive Annäherung an Gott als eine erzählte Szene gestaltet, in der sich die Seele mit verschiedenen Tugenden bekleidet. In Interaktion mit den Sinnen als Kämmerin wird vom Ankleiden der Seele berichtet, bevor sie tanzend zum himmlischen Bräutigam eilt. Es kommt zum Gespräch zwischen den Liebenden, doch kurz vor der unio setzt die Narration aus, und die Erzählinstanz kann nur noch ratlos ihr Unvermögen eingestehen. Obwohl bereits im ersten Buch die Unzulänglichkeit der Narration für die unio-Darstellung erkannt ist, bleibt das narrative Streben dennoch im gesamten Fließenden Licht erhalten. En passant ergibt sich daraus ein Mehrwert für einen ganz anderen Bereich, nämlich für die Darstellung des menschlichen Inneren,14 wenn das Erleben der Seele in differenzierte Erzählwelten und plastisch vorstellbare Innenräume umgesetzt, das Subjekt in der Tradition der Psychomachie in einzelne Strebungen auseinander dividiert wird. Als Beispiel für dieses Verfahren kann Kapitel 48 im siebten Buch dienen, wo das sprechende Ich den eigenen Körper als bescheidene Behausung der Seele imaginiert, in die die Tugenden als Zofen der Minne eintreten und von der Seele Aufgaben zugewiesen bekommen: Sie bietet Frau Demut den Platz zu ihrer Rechten an, wo diese Hochmut und Ruhmsucht von ihr vertreiben soll. Frau Hoffnung bittet die Seele, die Wunden ihres Herzens zu verbinden, während Frau Huote das Haus wachsam gegen Übel verteidigen soll und Frau Genügsamkeit zur Kämmerin ernannt wird, um Bettstatt und Speise zuzubereiten.15 Knapp zwanzig Zofen bevölkern am Ende die Hausgemeinschaft der Seele und entwerfen ohne erhobenen
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Aus der Seele gesprochen. Zur Semantik und Pragmatik der Gottesdialoge im ‚Fließenden Licht der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. In: Henkel/Jones/Palmer (Anm. 8), S. 267–278, sowie in demselben Band Almut Suerbaum, Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg, S. 239–255, und Annette Volfing, Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg, S. 256–266. Wie der Dialog als literarisches Mittel zur Darstellung der Liebeseinheit eingesetzt wird, analysiert nicht nur mit Blick auf mystische Literatur Burkhard Hasebrink: Ein einic ein. Zur Darstellbarkeit der Liebeseinheit in mittelhochdeutscher Literatur. In: PBB 124 (2002), S. 442–465, hier S. 464: „Die Zentrierung auf Einheit korrespondiert mit der dialogischen Entfaltung, einem Zwiegespräch, einem Wechsel, einer Spiegelung, deren stete Erneuerung in der Wiederholung erst die Struktur erzeugt, die sich auf ‚Einheit‘ als orientierendes Zentrum bezieht“. Zur Abbildung von Innenräumen in der mystischen Literatur und der schwierigen Vermittlung von „vertextete[n] Innenräume[n]“ (S. 325) in eine äußere Welt vgl. Caroline Emmelius: Begnadung und Zweifel. Zur Interaktion von Innen- und Außenraum in den „Offenbarungen“ der Adelheid Langmann. In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink u. a., Tübingen 2008, S. 309–325. Die Verteilung von Aufgaben an die einzelnen Zofen findet sich in VII,48, S. 624,23– 626,38.
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Zeigefinger, sondern im szenischen Auserzählen des Personifikationsarrangements ein differenziertes ethisches Verhaltensprogramm. An der unio zwischen Seele und Gott gescheitert, bricht sich das narrative Bedürfnis an einem alternativen Darstellungsgegenstand Bahn, der durch seine ungeordnete Simultaneität verschiedener Regungen und Emotionen und die diffus herabgesetzte Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber dem eigenen Inneren auch nicht gerade ein besonders einfacher ist. Dass auch für das menschliche Innere eine narrative Darstellung nicht problemlos verfügbar ist, zeigt sich etwa in dem recht holzschnittartigen Erzählen vom Brautzug der Seele im 46. Kapitel des ersten Buches. Indem die Tugenden und Eigenschaften der Braut als die verschiedenen Personen des Brautzugs vom Kaplan über den Kämmerer, den Bischof, die verteidigungskräftigen Ritter usw. zur Darstellung kommen, eröffnet der Text eine differenzierte Seelenlandschaft, die in ihrer hierarchischen Struktur innere Zustände abbildet. Doch die Vielschichtigkeit bringt zugleich eine gewisse Statik und Handlungsarmut mit sich: In dem Bemühen, jedem Teilnehmer des Zuges über Kleidung und Krone exakt zwei Eigenschaften zuzuweisen, tendiert die Darstellung zur schematischen Deskription und lässt in der strengen Auslegungsstruktur kaum Freiraum für ein lebhaftes Agieren der Personen: v
Die brut hat vier jungfrowen: Die minne leittet die brut; die minne ist gekleidet mit der e e kúschekeit und ist gekronet mit der wirdekeit. Die ander ist demutekeit, die haltet die brut; e e v die ist gekleidet mit der unahtberkeit und ist gekronet mit der hohi. Die dritte juncfrowe, e e das ist rúwe; dú ist gekleidet mit den wintrúbelin und ist gekronet mit der vrode. Die vierde v e juncfrowe ist erbarmherzekeit; die ist gekleidet mit der salbe und ist gekronet mit der e wunne. Dú zwoi tragent der brut den mantel uf, das ist das helige gerúhte. (I,46, S. 68,1–9) (Die Braut hat vier Zofen: Die Minne führt die Braut, die Minne ist mit der Keuschheit bekleidet und mit der Herrlichkeit gekrönt. Die zweite ist die Demut, die stützt die Braut; die ist mit der Geringschätzung bekleidet und mit der Hoheitlichkeit gekrönt. Die dritte Zofe, das ist die Reue; die ist mit den Weinträublein bekleidet und mit der Freude gekrönt. Die vierte Zofe ist die Barmherzigkeit, die ist mit der Salbe bekleidet und mit der Wonne gekrönt. Die zwei tragen der Braut den Mantel, das ist der Duft der Heiligkeit.)
In der Figurenbeschreibung findet sich oft das Naheliegende und Erwartbare,16 die descriptio bemüht sich zwar um große Sorgfalt bezüglich der Fakten, zeigt aber kaum erhöhte Ansprüche an die Anschaulichkeit, die Evidenz des Dargestellten.17 Das Fließende Licht bietet so zwar auf Seitenwe16 17
Das Spektrum der beschreibenden Adjektive ist im Fließenden Licht recht eng und durch die hochfrequenten Begriffe lieht, wolgetan, guot, hôchgemuot, vrô und schœne geprägt. Auch Visionen, die eigentlich über eine lebhafte Handlungsstruktur verfügen, bleiben in der narrativen Entfaltung mitunter recht blass; so wird etwa im vierten Kapitel des zweiten Buches das Erzählen durch das ungelenk wiederholte temporale Adverb dô in ein zeitliches Nacheinander gezwungen, wodurch der Fluss der Narration blockiert, die rhetorische Evidenz des Dargestellten massiv einschränkt ist: Do sach si einen jungeling komen. Der brahte ein
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gen durchaus mehr Narration, als man angesichts des erzählerischen Scheiterns an der unio eigentlich erwarten würde, doch bleiben die narrativen Passagen punktuell und bilden kein erzählerisches Gesamtkonstrukt. Vielmehr gibt es, wie Ingrid Kasten herausgestellt hat, eine Reihe von Erzählkernen, die wiederholt narrativ umkreist werden.18 Wenn das Narrative mit seiner Distanz zum erzählten Geschehen sich nicht zur Einheitskonzeption der unio fügt, ruft dies in letzter Konsequenz der präsentischen und unmittelbaren direkten Rede die monologische Ich-Äußerung, die für das lyrische Sprechen charakteristisch ist, auf den Plan. Entsprechend hat Wolfgang Mohr für das Fließende Licht 1963 zum ersten Mal von einer „lyrische[n] Disposition“19 gesprochen, die vor allem in den ersten beiden Büchern signifikant mit der Annäherung an Gott verknüpft ist. Doch welche Eigenschaften machen das Lyrische für das Darstellungsziel der Mystik geeignet und attraktiv? Aus der vielschichtigen und mitunter kontroversen Gattungsdiskussion der Lyrik20 seien hier lediglich drei Aspekte hervorgehoben, die eine Parallelität des Lyrischen zu den besonderen Bedingungen mystischen Sprechens erkennen lassen. Eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen lyrischem und mystischem Sprechen ist die radikale und dennoch sanktionierte Abweichung von den Normen der Alltagssprache.21 Logische Widersprüche oder syntaktische Brüche werden in der
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gebunt wisser blůmen. Die stroewete er niden in dem turne und gieng hin. Do kam ein anderer und brahte ein gebunt vielaten. Die stroewete er mitten in die kilchen. Do kam aber einer und v brahte ein gebunt rosen. Die stroewete er schone vor únser frowen alter. Do kam der vierde und brahte ein gebunt wisser lilien und stroewete si in dem kore. Do si dis hatten getan, do nigen si schone und giengen enweg. (II,4, S. 84,16–23; „Da sah sie einen Jüngling herankommen. Der brachte ein Bund weißer Blumen. Die streute er unten im Turm aus und ging fort. Dann kam ein anderer und brachte ein Bund Veilchen. Die streute er mitten in die Kirche. Dann kam wieder einer und brachte ein Bund Rosen. Die streute er schön vor den Altar unserer Herrin. Dann kam der vierte und brachte ein Bund weißer Lilien und streute sie in den Chor. Als sie das getan hatten, verneigten sie sich auf schöne Weise und gingen weg.“) Vgl. Kasten (Anm. 9), v. a. S. 17 f. Mohr (Anm. 1), S. 381, wobei er dem Fließenden Licht daneben auch eine epische und eine dramatische Qualität zugesteht. Vgl. auch Ruh (Anm. 4), S. 245: „Wo sie mit Rhythmen und Reimen spielt, wo sie ‚singt‘, treten uns Formen und Bilder entgegen, die ihre Welt- und Seelenerfahrung in einer für das Mittelalter sonst nicht bezeugten Unmittelbarkeit spiegeln.“ Zur Problematik der Theoriebildung im Bereich der Lyrik vgl. Renate Homann: Theorie der Lyrik. Heautonome Autopoiesis als Paradigma der Moderne, Frankfurt a. M. 1999, S. 19–27. Vgl. z. B. Werner Wolf: The Lyric. Problems of Definition and a Proposal for Reconceptualisation. In: Theory into Poetry. New Approaches to the Lyric. Hrsg. von Eva MüllerZettelmann/Margarete Rubik, Amsterdam, New York 2005 (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 89), S. 21–56, hier S. 36, oder Eva Müller-Zettelmann: Lyrik und Metalyrik. Theorie einer Gattung und ihrer Selbstbespiegelung anhand von Beispielen aus der englisch- und deutschsprachigen Dichtkunst, Heidelberg 2000 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 171), die S. 53–55 den ästhetischen Effekt dieser Regelverletzungen analysiert.
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Lyrik leichter akzeptiert als in der Narration, zentrale Faktoren des Narrativen wie Chronologie oder Kausalität können problemlos ausfallen. Und so ergibt sich in diesem poetischen Freiraum ein produktiv-experimenteller Umgang mit dem Sprachmaterial, ein Spielen mit normativen Grenzen der Sprachverwendung, das alternative Aussageformen produziert. Diese maximale Abweichung der Lyrik von der Alltagssprache ist freilich – und damit ist das zweite Kriterium benannt – durch einen Mangel an direkter Referenz auf die äußere Welt erkauft.22 In einer Verweigerung alltäglicher Bezugnahmen sind oftmals nicht die wahrgenommenen Objekte einer äußeren Welt im Blick, sondern die innere Welt, die Befindlichkeit des reflektierenden Ich – eine Fokussierung auf das Innere, die auch in mystischen Praktiken der kontemplativen Versenkung geläufig ist. Das meist kontextlose lyrische Ich ähnelt in der Absage an einen konkreten lebensweltlichen Bezug der mystischen Seele, die sich vom Irdischen löst und sich in zunehmender Eigenschaftslosigkeit einer Aufnahme im Göttlichen annähert. Lyrische Texte – ein drittes Merkmal – verfolgen erhöhte Ansprüche an die sprachliche Schönheit, an die ästhetische Dimension des Gesagten, so dass für den Lyrik-Rezipienten Verstehen des Sinns und Genießen der Sprachgestalt Hand in Hand gehen.23 Dabei muss man keineswegs die vielfach diskutierte Entsemantisierung im lyrischen Sprechen und das rauschhafte verstandesfreie Aufgehen in einer bezaubernden Klangstruktur24 beschwören. Vielmehr ergibt sich der besondere ästhetische Effekt gerade aus dem Zusammenwirken von Sprachklang und Wortsinn, aus dem Miteinander von präsentischem Sinneseindruck und nachhaltendem semantischen Deutungsprozess, von flüchtiger Lautmagie und verdichtetem Sinn. Ganz ähnlich verfolgen auch die mystischen Texte oft einen besonderen ästhetischen Anspruch, indem sie die göttliche Transzendenz über eine Ebene sinnlicher Schönheit, die sich auch in der Sprachgestalt manifestiert, zum Ausdruck bringen. Auch sie wollen dabei nicht nur ein dumpfes Ein22
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Vgl. z. B. Heinz Schlaffer: Die Aneignung von Gedichten. Grammatisches, rhetorisches und pragmatisches Ich in der Lyrik. In: Poetica 27 (1995), S. 38–57, hier S. 41, oder Walter Bernhart: Überlegungen zur Lyriktheorie aus erzähltheoretischer Sicht. In: Tales and ‚their telling difference‘. Zur Theorie der Geschichte der Narrativik. FS für Franz K. Stanzel. Hrsg. von Herbert Foltinek/Wolfgang Riehle, Heidelberg 1993 (Anglistische Forschungen 221), S. 359–375, hier S. 368–370. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung, Göttingen 1989, S. 69, begründet die ästhetische Komplexität des Lyrischen gerade als Ausgleichsbewegung zur geringeren praktischen Funktion der Sprache im Gedicht. Vgl. auch Bernhart (Anm. 22), S. 374. Vgl. Müller-Zettelmann (Anm. 21), S. 44–48, die S. 46 auf Mallarmés Diktum vom ‚Buchstabenzauber‘ verweist. Eine linguistische Perspektive auf die Klangstruktur bietet Jan Mukařovský: On Poetic Language. Übersetzt und hrsg. von John Burbank/Peter Steiner, Lisse 1976 (PdR Press Publications in poetic language 1), S. 23–37.
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heitsgefühl sinnlich nachleben, sondern die in der mystischen unio gewonnenen Erfahrungen inhaltlich treffend und genau vermitteln. III. Vom Einüben in das lyrische Sprechen zum anaphorischen Rausch Das Zusammenspiel von sprachlicher Schönheit und hermeneutischer Tiefe wird auch durch die Kolonreime im Fließenden Licht verstärkt, die keineswegs reiner ornatus sind, sondern in ihrer Gliederungsfunktion die inhaltliche Struktur des Textes stützen können. Dies zeigt sich bereits im Eröffnungskapitel des ersten Buches, das eine Art Programm für die sprachliche Gestaltung des weiteren Werks vorgibt. Die menschliche Seele beschwert sich hier bei der personifizierten Minne, dass diese ihr alle irdischen Werte geraubt habe, muss sich aber belehren lassen, dass dies ein guter Tausch, ein selige[r] wehsel (I,1, S. 18,27), war: v
„Frowe minne, ir hant mir benomen mine kintheit.“ v „Frowe kúneginne, da wider han ich úch gegeben himelsche vriheit.“ v „Frowe minne, ir hant mir benomen alle mine jugent.“ v „Frowe kúnegin, da wider han ich úch gegeben manig helige tugent.“ v „Frowe minne, ir hant mir benomen gůt, frúnde und mage.“ v e „Eya frowe kúnegin, das ist ein snodú klage.“ (I,1, S. 18,28–20,5) („Frau Minne, Ihr habt mir meine Kindheit genommen.“ „Frau Königin, dafür habe ich Euch himmlische Freiheit gegeben.“ „Frau Minne, Ihr habt mir meine ganze Jugend genommen.“ „Frau Königin, dafür habe ich Euch viele heilige Tugenden gegeben.“ „Frau Minne, Ihr habt mir Besitz, Freunde und Verwandte genommen.“ „Ach, Frau Königin, das ist eine schmähliche Klage.“)
Die einzelnen Gesprächsbeiträge sind mit der Anrede und der Benennung dessen, was die Minne geraubt, bzw. je nach Perspektive geschenkt hat, parallel aufgebaut. In einem Hin und Her von Verlust und Gewinn wird die irdische Perspektive einer Negativeinschätzung durch die Minne aufgebrochen und positiviert; die reguläre Zuordnung von Gut und Schlecht versagt und wird durch eine neue Bewertung ersetzt. Über den Gleichklang der Reimwörter werden verlorenes irdisches und neu erworbenes geistiges Gut verknüpft: Statt kintheit hat die Seele nun vriheit, statt jugent tugent usw., insgesamt werden so sieben Gegensatzpaare gebildet. Dabei verwandelt erst die Antwort von Frau Minne die Prosa, in der die Seele spricht, in ein durch Reime gebundenes Sprechen, denn erst die Minne setzt auf die Anklage der Seele konsequent das passende Reimwort. Und so dient dieser Text nicht nur als einleitender Hinweis, dass man die irdische Perspektive durch eine geistliche eintauschen muss, sondern übt auch das lyrische Sprechen ein, das Frau Minne hier exemplarisch vorführt und das die Seele im weiteren Verlauf des Textes als eine geeignete Kommunikationsform gegenüber Gott
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entdeckt. Das Streitgespräch entwickelt sich implizit zur programmatischen Konzeption einer besonderen, aus dem alltäglichen Zusammenhang herausgehobenen Sprache in einem festen metrischen ordo. In diesem einleitenden Kapitel wird nicht nur eine Neuordnung der Bewertungsmaßstäbe vorgenommen, sondern auch eine der sprachlichen Gestalt. Die lyrische Form ist Signal dafür, dass auf einer anderen Sprachebene als der regulären gesprochen wird, dass die göttliche Präsenz die Seele zu einem nichtalltäglichen Ausdruck befähigt. Im ersten Buch dominiert dabei als freiere lyrische Form die anaphorische Reihung im emphatischen Lobpreis, so etwa in Kapitel 22, wo die Erzählung von Mariä Empfängnis durch eine Beschreibung der liebestrunkenen Braut Christi unterbrochen wird. In dieser anaphorischen Sequenz werden jeweils zwei Teilsätze verknüpft, die zwei Eigenschaften der Seele in einen – oft gegensätzlichen – Bezug zueinander setzen. Der Text springt assoziativ von einer Qualität zur nächsten, was der Serie trotz der festen Struktur einen dynamischen Charakter verleiht. Eine logische Verknüpfung der aneinander gereihten Doppelelemente ist nicht nötig, sondern der Zusammenhalt ergibt sich schon allein durch die Form, die so überpräsent ist, dass sie ihre Ordnungsleistung auch jenseits der Semantik vollziehen kann. Dabei wird die klare Gegensätzlichkeit der Zuordnungen im Verlauf der Reihe immer undeutlicher. Zu Beginn heißt es noch in strenger Korrelation: e
Ie si langer tot ist, ie si vrolicher lebt; e Ie si vrolicher lebt, ie si mer ervert; ie si minner wirt, ie ir mer zůflússet (I,22, S. 38,26–28).
Je länger sie tot ist, desto fröhlicher lebt sie; je fröhlicher sie lebt, desto mehr erfährt sie; je geringer sie wird, desto mehr fließt ihr zu.
Dann nimmt die anaphorische Klangkaskade langsam Fahrt auf, doch die Edition zeigt mit Auslassungszeichen an, dass die Überlieferung hier wohl einzelne ie-Sätze ausgelassen hat, ohne dass sich der Schreiber daran gestört und eine inhaltliche Unstimmigkeit bemerkt hätte. Der an das Zitat anschließende Satz ie si sich mere vorhtet (I,22, S. 38,29; „je/desto mehr sie sich fürchtet“) hat keine Entsprechung, denn das folgende Paar mit Reich und Arm scheint eine feste Korrelation zu sein. Die danach gesetzte Zuordnung ie si tieffer wonet, ie si breiter ist (I,22, S. 38,31; „je tiefer sie wohnt, um so weiter ist sie“) ist nicht zwingend, eine Koppelung der Weite mit der Eigenschaft der Gewaltigkeit im nächsten Vers wäre ebenso gut möglich. Zwischen einige unumstrittene Zuordnungen wie ie si stiller swiget, ie si luter ruffet (I,22, S. 40,8; „je stiller sie schweigt, desto lauter ruft sie“) treten undeutliche Verbindungen, die sich nicht genau aufeinander beziehen. Der Ausfall einzelner Halbsätze demonstriert, dass die Reihe mühelos einige Elemente entbehren kann. In diesem automatischen Vorangehen erinnert die Sequenz an gleichlaufende rituelle Sprachformen aus Magie und Initiation, e
e
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die laut Kenneth Burke ein kontinuierliches Fortschreiten in Gang setzen, das unkritisch angenommen wird, solange es nur im Rhythmus bleibt und das einmal vom Rezipienten akzeptierte Muster in der Repetition beibehält.25 Die anaphorische Beschreibung in I,22 präsentiert sich auf der Ebene der Handlungslogik als radikale Folge der zu Beginn des Kapitels erwähnten Trunkenheit der Braut.26 Der Zustand des Rauschs wird mit der anaphorischen Reihe unmittelbar in Text transformiert, und es scheint, als ob sich hier die Seele selbst in eine Art Trunkenheit hineinmanövriert, in der ihr Gott zugänglich ist. Das sinnliche Erleben Gottes wird in eine direkt entsprechende sprachliche Gestalt transponiert, eine Sprachgestalt, die im festen Satzschema auch Irrationales und Halbbewusstes zulässt. Die Braut ist trunken, der Text ist es ebenfalls, und dem Rezipienten bleibt nichts anderes übrig, als mitzutorkeln und sich von einem Halbsatz zum nächsten zu hangeln. Der anaphorische Gleichlauf findet kein logisches Ende, sondern wird gewaltsam zum Schweigen gebracht durch die plötzliche Frage nach dem Bräutigam (I,22, S. 40,20), mit der die Textregie die Fäden wieder aufnimmt und den ursprünglichen Handlungszusammenhang in Erinnerung ruft. Nun kann die Vereinigung zwischen Seele und Gott stattfinden, und zwar im jubilus der heligen drivaltekeit (II,22, S. 40,20 f.),27 im überbordenden Jubelgesang, was zum Aspekt der Musikalität im lyrischen Sprechen überleitet. IV. Musikalität als Kategorie des Lyrischen Dass man das lyrische Sprechen im Fließenden Licht nicht ohne das Ausdrucksmedium des Gesangs sehen kann, ergibt sich aus der Tradition des Hohenlieds, auf die Mechthild sich immer wieder bezieht, aber auch aus der leitmotivischen Erwähnung musikalischer Elemente, wie sie Grete Lüers 25
26 27
Vgl. zur grundsätzlichen Identifikations- und Persuasionsmöglichkeit, die die Form bereitstellt, Kenneth Burke: A Rhetoric of Motives, Berkeley, Los Angeles 1969, S. 46. Mit Blick auf die Wiederholung bereits ausführlich Ders.: Counter-Statement, 2. Aufl. Los Altos 1953, etwa S. 124: „Form in literature is an arousing and fulfillment of desires. A work has form in so far as one part of it leads a reader to anticipate another part, to be gratified by the sequence.“ Das Konzept wird S. 125 für die „repetitive form“ ausgeführt: „A succession of images, each of them regiving the same lyric mood; a character repeating his identity, his ‚number‘, under changing situations; the sustaining of an attitude, as in satire; the rhythmic regularity of blank verse; the rhyme scheme of terza rima – these are all aspects of repetitive form. By a varying number of details, the reader is led to feel more or less consciously the principle underlying them – he then requires that this principle be observed in the giving of further details“. Zu Beginn des Kapitels heißt es: die brut ist trunken worden von der angesihte des edeln antlútes (I,22, S. 38,21 f.; „Die Braut ist betrunken geworden von der Schau des edlen Antlitzes“). Zum jubilus als produktivem, nicht intentional gesteuertem Ausdruck vgl. den Beitrag von Burkhard Hasebrink in diesem Band.
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zusammengestellt hat.28 Als Bildfeld im religiösen Diskurs ist die Musik ohnehin recht gängig und tritt in ein dichtes Verweisnetz mit Metaphern des Fließens, des Lichts usw. ein. So weist beispielsweise Rupert von Deutz im Kommentar zum Johannesevangelium auf das dynamische Potential der göttlichen Musik hin: Quid ergo? Nonne antequam instrumenta componeret, aderat ludens in mente et uoce eius musica? Ludens in diuersitate uel distinctione modorum et deliciae eius in multorum suauitate cantuum? 29 (Was also? Bevor er die Instrumente zusammenfügte, war da nicht Musik in seinem Geist und in seiner Stimme spielend präsent? Spielend zu seinem Entzücken in der Vielfalt oder der Unterscheidung der Melodien und in der Süße zahlreicher Gesänge?)
Rupert schafft hier mit der Metapher eine vielschichtige Vergleichsbeziehung, die er im Folgenden mit Blick auf die Beziehung zwischen Mensch und Gott ausführt, denn wie der Musiker sein Instrument beherrscht, kann auch Gott dem menschlichen Instrument einen guten, einen göttlichen Klang entlocken: Nam quid sumus nos nisi magni musici Dei quaedam instrumenta? Vnde et in citharis et in organis, quae profecto corda et corpora nostra sunt, Domino laudare iubemur. […] Immo totus mundus diuinae laudis instrumentum est30 (Denn was sind wir anderes als Instrumente des großen Musikers Gott? Darum ist uns durch Gott befohlen, sowohl mit Zithern wie mit Orgeln, die in der Tat unsere Herzen und Körper sind, zu lobpreisen. Tatsächlich ist die gesamte Welt ein Instrument des Gotteslobs).
Doch im Fließenden Licht dient die Musikmetapher weder als simple Vergleichsrelation, noch als Identitätsfigur nach dem Muster ‚Gott = Musik‘, sondern wird im aktuellen Vollzug des Textes in konkreten Gesang umgesetzt und eröffnet so eine zusätzliche Ausdrucksdimension: Die Seele spricht nicht über das Singen, sondern singt die lyrischen Passagen und nähert sich und auch den Rezipienten im Singen Gott an. Wenn der Text ein Lobpreisen Gottes oder der Seele ankündigt und die Versform eine besondere 28
29 30
Vgl. Grete Lüers: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg, München 1926. Nachdruck Darmstadt 1966, S. 229–232. Vgl. zur Musikmetaphorik im Fließenden Licht auch Margot Schmidt: Versinnlichte Transzendenz bei Mechthild von Magdeburg. In: „Minnichlichiu gotes erkennusse“. Studien zur frühen abendländischen Mystiktradition. Hrsg. von Dieter Schmidtke, Stuttgart 1990 (Mystik in Geschichte und Gegenwart I, 7), S. 61–88 und 107–133, hier S. 80–88. Es stellt sich allerdings die Frage, ob man die Referenzen auf Sang und Musik anderen metaphorischen Bildbereichen des Fließenden Lichts gleichordnen kann, wie Lüers es tut, oder ob sie einen Sonderstatus im Ringen um die mystische Ausdrucksfähigkeit einnehmen. [Rupert von Deutz: Kommentar zum Johannesevangelium] Rvperti Tvitiensis. Commentaria in Evangelivm Sancti Iohannis. Hrsg. von Rhabanus Haacke, Turnhout 1969 (CCCM 9), I,1,3, S. 15. Ebd.
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rhythmische Durchformung der Sprache signalisiert, so kann man sich die Passage wohl als gesungene vorstellen. Tatsächlich verweist der Begriff Lyrik in seiner ursprünglichen Bedeutung ja auf die Leier, auf eine akustisch erfahrbare Klangdimension, die anders als in der modernen Leselyrik in der mittelalterlichen sangbaren Dichtung ganz konkret musikalisch umgesetzt wird. In Kombination mit dem Ausdrucksmittel der Musik wird die Sprache im Lyrischen transzendiert, kann die Musik den Rezipienten unmittelbar affizieren. Noch stärker als beim lauten Vorlesen muss sich der Rezipient beim gesungenen und musikalisch untermalten Lied auf Klang und Wortbedeutung gleichermaßen konzentrieren, wobei mal der Klangzauber, mal das semantisch ausdeutende Sprachverstehen überwiegt.31 Mit der Musik wird eine zusätzliche mediale Ebene in den Text eingewoben, doch dem schreibenden Ich bleibt schmerzlich bewusst, dass die Schrift das Klangerlebnis nicht adäquat abbilden kann. Nach dem Gesang der Seele im 25. Kapitel des zweiten Buches heißt es in einer kommentierenden Notiz: Dis sint dú wort des sanges. e e Der minne stimme und der susse herzeklang musse bliben, wan das mag kein irdenschú hant geschriben! (II,25, S. 134,19–21) (Das sind die Worte des Gesangs. Die Stimme der Minne und der süße Herzensklang müssen fehlen, denn das kann keine irdische Hand aufschreiben!)
Die Worte allein bleiben defizitär, die Stimme der Minne und der süße Herzensklang verweisen auf die Transzendenz, die sich im Medium der Schrift zwar nicht nachbilden, aber immerhin erahnen lässt. IV.1 Die singende Seele auf ihrem Weg zu Gott In der Begegnung mit Gott wird der Seele das Singen zu einer naturhaften Bestimmung, die nicht willentlich gelenkt ist, sondern einfach geschieht, ebenso wie die singende Nachtigall qua natura singen muss: Die nahtegal dú můs ie singen, wan ir nature spilet al von minnen;32 der ir das beneme, so were si tot. Eya grosser herre, bedenke min not! (II,2, S. 78,10–13) 31 32
Die Nachtigall muss stets singen, denn ihre Natur ist ganz lebhaft vor Minne; wenn ihr das jemand nähme, wäre sie tot. Ach, großer Herr, bedenke meine Not!
Zum Einfluss der metrischen Form auf die Semantik vgl. Lamping (Anm. 23), S. 41–51. Mitunter kann der Klang auch eine Tiefendimension der Bedeutung erschließen und die Sprache transzendieren, vgl. Müller-Zettelmann (Anm. 21), S. 47. Der Vers wird hier nach der Ausgabe von Neumann (Anm. 3) zitiert, um den Reim zu erhalten. Die Klassiker-Ausgabe bietet die Lesart der Hs. E: wan ir nature spilet von minnen al.
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Kapitel II,25,33 das aus locker gestrickten paar- oder kreuzgereimten Versen besteht, bietet einen lyrischen Dialog, in dem die sehnsüchtig klagende Seele Gott immer wieder zu einer Antwort bewegt. Eine feste Strophenform ergibt sich dabei nicht, sondern die Strukturierung des Textes erfolgt vor allem durch die wechselnden Sprecherzuweisungen. In seiner letzten Antwort entwirft Gott prospektiv ein Stelldichein in einem Baumgarten. Als zentrales Liebesszenario schlägt er neben dem Umarmen des Baums der Dreifaltigkeit eine gesangliche Annäherung vor: v
So du den bon umbevahest, denne lere ich dich der megde sang, e die wise, dú wort, den sussen klang (II,25, S. 134,4–6).
Wenn du den Baum umarmst, dann lehre ich dich den Gesang der Jungfrauen, die Melodie, die Worte, den lieblichen Klang.
Im harmonischen Zusammenspiel von wise, wort und klang kann die Seele sich diese als zukünftig ausgewiesene Szenerie auch aktuell bereits aneignen, denn die Rede Gottes mündet in eine präsentische Aufforderung: Liebú, nu sing an und la horen, wie du es kanst (II,25, S. 134,10; „Liebe, nun fang an zu singen und lass hören, wie gut du es kannst“). Die Seele wird unvermittelt in eine Prüfungssituation hineingezogen: Indem der Gesang als exklusiver Zugang zu Gott ausgewiesen wird, muss sie nun im Singen ihre Eignung für die liebende Begegnung unter Beweis stellen. Nach kurzem Zögern und mit göttlicher Hilfe beginnt die heisere Seele schließlich ihr Lied: e
Herre, din blůt und min ist ein, unbewollen – din minne und minú ist ein, ungeteilet – din kleit und min ist ein, unbevleket – din munt und min ist ein, ungekust – etc. (II,25, S. 134,15–18)
Herr, dein Blut und meines sind eins, unverdorben – deine Liebe und meine sind eine, ungeteilt – dein Kleid und meins sind eins, unbefleckt – dein Mund und meiner sind einer, ungeküsst – etc.
Abgesehen von dem differenzierten Spiel aus Zweiheit und Einheit,34 fällt auf, wie das Lied in die Gesprächsszenerie integriert wird: Es handelt sich nicht um ein eigenes persönliches Empfinden der Seele in der aktuellen 33
34
Vgl. die grundlegende Analyse des Kapitels von Burkhard Hasebrink: „Ich kann nicht ruhen, ich brenne“. Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 (TMP 12), S. 91–107. Vgl. ebd., S. 103–105, Hasebrink hat dem Lied ein Zusammenspiel von Identität und Differenz attestiert, indem die durch die Possessivpronomina dîn und mîn als getrennt ausgewiesenen Einzelelemente zwar wiederholt in eine Einheit zusammengefügt werden, Gott und Seele aber dennoch als diskrete Personen bestehen bleiben. Seelhorst hingegen betont eher die Einheit: Wenn die beiden Münder im letzten Vers ein einziger Mund werden, bleiben sie logischerweise ungeküsst, weil der Kuss das Gegenüber von zwei Personen erfordert, vgl. Jörg Seelhorst: Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckhart und Heinrich Seuse, Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 46), S. 102 f.
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Liebesbegegnung, sondern um eine schon zuvor existierende, vorgegebene Ausdrucksform, die Gott der Seele als der megde sang (II,25, S. 134,5), als Gesang der Jungfrauen, vorstellt. Dieser Sang ist der Seele durch einen Lernprozess zugänglich, denn Gott will sie den Gesang ja lehren, und das Lied wird nicht nur von ihr, sondern, wie der Plural megde signalisiert, von einer ganzen Reihe von Jungfrauen in ritueller Wiederholung gesungen. Dass diese singenden Jungfrauen – zumindest der Möglichkeit nach – mit den Rezipienten des Fließenden Lichts identisch sind, ergibt sich aus einem Detail der Überlieferung: Die alemannische Handschrift zitiert das Lied nämlich nicht in voller Länge, sondern setzt nach vier Liedversen ein et cetera. Der Schreiber rechnet anscheinend damit, dass der Rezipient das Lied kennt und die fehlenden Verse aus dem Gedächtnis ergänzen kann.35 Er baut auf ein Vorwissen des mittelalterlichen Lesers, das ihn – in Gedanken oder laut – zum Mitsingen mit der Seele befähigt und ihm über eine gemeinsame Liedtradition die unmittelbare Aneignung ihres Erlebens eröffnet.36 Das Singen ist somit beides: exklusiver Zugang zu Gott in der persönlichen Begegnung und ein dem Rezipienten verfügbares Allgemeingut. Anders die lateinische Übersetzung, denn sie hat keinen Rückhalt in der mündlichen Liedtradition und schreibt folglich auch die beiden letzten Verse des Liedes aus: pectus tuum et meum est unum incompressum ab omnibus viris praeter te solum.37 Der letzte Vers – dies nur en passant – eröffnet nun ein alternatives Verständnis für die Separationsausdrücke am Ende jedes vorangehenden Verses: In ihrer Einheit mit Gott ist die Seele nicht von Gott ungeküsst, unbefleckt, ungeteilt usw., sondern von allen anderen 35
36
37
Eine andere Erklärung bietet Hubert Stierling: Studien zu Mechthild von Magdeburg, Nürnberg 1907, S. 88, der das et cetera als konkreten Verweis auf den Gesang der Jungfrauen in III,1 auffasst. Dieser ist in der Einsiedler Handschrift nicht ausgeführt, muss aber laut Stierling in einer früheren Fassung in diesem Kapitel gestanden haben. Wenn man nicht mit einer anderen ursprünglichen Buch- und Kapitelreihenfolge argumentieren will, gilt es jedoch zu bedenken, dass der Zusatz ‚etc.‘ nur dann eine der Rezeptionslogik entsprechende Verweisfunktion hätte, wenn er nicht vorne in II,25, sondern bei der wiederholenden späteren Anführung des Lieds in III,1 stünde. Zudem ist keineswegs zwingend, dass in II,25 und III,1 überhaupt dasselbe Lied gemeint ist, vgl. den Kommentarband der Edition von Neumann (Anm. 3), S. 49. Vgl. ähnlich I,44, wo der Bräutigam zuerst mit seinem Gesang beginnt, bevor die Seele einstimmt, S. 60,6–14: „Ich mag nit tanzen, herre, du enleitest mich. Wilt du, das ich sere springe, so můst du selber vor ansingen […].“ Unde můs der jungeling singen alsus: „Dur mich in dich und dur dich von mir.“ „Gerne mit dir, von dir noe te!“ („‚Ich kann nicht tanzen, Herr, wenn du mich nicht führst. Wenn du willst, dass ich lebhaft springend tanze, so musst du selbst vorher zu singen beginnen […].‘ Und dann wird der Jüngling so singen: ‚Um meinetwillen zu dir hin, um deinetwillen von mir getrennt.‘ ‚Gerne mit dir, freudlos von dir getrennt!‘“). Lux divinitatis (Anm. 7), IV,3, S. 545; „Deine Brust und meine sind eine, ungedrückt von allen Männern außer dir allein“. Dass der Schreiber der alemannischen Handschrift seinem Leser die letzten Verse aus inhaltlichen Gründen in einem Akt der Zensur vorenthält, ist unwahrscheinlich, da er durch den Zusatz ‚etc.‘ explizit darauf verweist, dass hier eine Passage fehlt und zu ergänzen ist.
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Männern, auf die sie für den göttlichen Geliebten verzichtet. So wird die jeweils am Versende aufgebaute Irritation am Schluss der Strophe augenzwinkernd, aber ganz logisch mit der nachträglichen Nennung des Bezugs aufgelöst. Nur wer das ganze Lied kennt und das et cetera zu ergänzen weiß, kann die Pointe verstehen. Angesichts der Konzentration der lyrischen Insertionen in den ersten Büchern des Fließenden Lichts mag man fragen, ob die Annäherung der Seele an Gott über den Gesang lediglich eine Phase ist, die schließlich von einem stärker rational geprägten Sprechen abgelöst wird. Doch auch in den späteren Büchern, wenn die Liebesbegegnung in der unio nicht mehr so zentral die Schilderungen beherrscht,38 bleibt das Lyrische als Ausdrucksform erhalten. Allerdings begegnet es nun eher im Modus eines theoretischen und bereits erworbenen Konzepts als in der praktischen Ausführung.39 Selbst in der absoluten Gottesferne, der vromedunge, bleibt der Gesang als Möglichkeit vorhanden und bietet der Seele ein Tröstungspotential: Zwar ist die sinnliche Erfahrung der Gottesnähe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aktuell, doch vergessen ist sie auch nicht. Und so geht die Beschreibung selbst in extremen Momenten der Distanz, etwa wenn die Seele unter Lucifers zagel (V,4, S. 328,23; „Luzifers Schwanz“) gesunken ist, zumindest für einen kurzen Moment durch die Kraft der diemutigen minne (ebd., S. 328,26) in ein anaphorisches Sprechen über: e
e
e
Aber die sele ist also schone in irme lichamen als im himmelriche, si ist aber also gewis nit, e si ist also kune, si ist aber also stark nit, si ist also gewaltig, si ist aber also stete nit, e si ist also minnesam, si ist aber also vrolich nit (V,4, S. 328,32–36). (Die Seele jedoch ist in ihrem Leib ebenso schön wie im Himmelreich, sie ist aber nicht so sicher, sie ist ebenso kühn, sie ist aber nicht so stark, sie ist ebenso mächtig, sie ist aber nicht so beständig, sie ist ebenso liebenswert, sie ist aber nicht so fröhlich).
38
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Vgl. z. B. Buch IV, in dem die liebende unio kaum zur Sprache kommt, Gott sich aber in Visionen und Offenbarungen auf eine sehr vertraute und selbstverständliche Weise der Seele präsentiert, ihr wichtige Glaubensinhalte mitteilt und Einblicke in das göttliche Geschehen gewährt. Vgl. etwa IV,18 zur Natur des geistlichen Menschen, IV,14 zum Beschluss der Menschwerdung Christi usw. Vgl. beispielsweise die anaphorische Anrufung der Minne in V,30, in der die Seele den wohltuenden Gesang der Minne zwar nicht direkt hört, aber lebhaft imaginiert, S. 394,14–17: Eya, sue ssú gotz minne, swenne ich alze lange sclaffe an versumekeit gůter dingen, so tů wol und wekke mich und singe mir, vrowe, dinen sang, da du die sele mitte rue rest als ein sue sse seitenklang („Oh, liebliche Gottesminne, wenn ich in der Säumigkeit gegenüber guten Dingen zu lange schlafe, so handle gut und wecke mich und singe mir, Herrin, deinen Gesang vor, mit dem du die Seele bewegst wie lieblicher Saitenklang“).
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Über die Vergleichspartikel also kann auch in der Gottesferne die himmlische unio imaginiert werden – ein Zustand, den die gesunkene Seele zwar in einigen Aspekten nicht mehr erfüllen kann, in anderen aber durchaus. IV.2 Klangharmonie der Trinität und partnerschaftlicher Lobgesang Wechselt man die Perspektive, so zeigt sich das Lyrische im Fließenden Licht nicht nur als Sprache der Seele, die sich Gott annähert, sondern ebenso als Sprache Gottes, die im Zusammenspiel der Trinität eine vielschichtige kosmische Klangharmonie ergibt. Allumfassendes Prinzip dieses musikalischen Spiels ist die Minne: e
wie dú gotheit clinget, dú monscheit singet, der helig geist die liren des himelriches vingee ret, das alle die seiten mussent clingen, die da gespannen sint in der minne! (II,3, S. 80,28–30) (Wie die Gottheit klingt, die Menschheit [sc. Christus – S. L.] singt, der Heilige Geist die Leier des Himmelreichs zupft, dass alle Seiten klingen müssen, die dort in Liebe gespannt sind!)
Die Trinität wird zu einer Einheit in der Musik, die weniger auf eine lineare kommunikative Mitteilung von Sender zu Empfänger setzt, sondern vielmehr in sich kreist und in dieser perfekten Geschlossenheit geschaut und genossen werden kann. Und so rechnet der Gesang der Trinität nicht mit seiner Wirkung auf ein äußeres Publikum, sondern bleibt in ir selben: e
e
e
Nu hore die allersussosten, die allerhohsten, die allerwunneklichosten stimme, wie dú helige drivaltekeit in ir selben singet mit einer ganzen stimme (V,26, S. 386,8–11) (Nun höre die allersüßeste, die allerhoheitlichste, die allerherrlichste Stimme, wie die Heilige Dreifaltigkeit in sich selbst singt mit einer einheitlichen Stimme).
In diesem zirkulären Charakter ist der Gesang als Lob Gottes einerseits selbstreflexiv und strömt andererseits in Kombination mit der Fließmetaphorik wie in einer naturhaften Bewegung nach außen. Das Ausfließen der göttlichen Güte und das Fließen des Gesangs werden eng ineinander verschränkt, so dass die zitierte Passage im weiteren Verlauf das Singen der Trinität als Ursprung allen Sangs in einem Emanationsprozess präsentiert: e
da aller heligen sussen stimmen usgevlossen sint, die ie gesungen wurdent in himmelrich e und in ertriche und noch sollent ewekliche! (V,26, S. 386,11–13) (aus der die lieblichen Stimmen aller Heiligen ausgeflossen sind, die im Himmelreich und auf Erden je gesungen wurden und noch ewig werden.)
Der Gesang der Trinität fügt sich harmonisch zur Fließmetaphorik des Werks, das Fließen Gottes kann sich ebenso in Musik verwandeln, und die fließende Sprache ist nichts anderes als die dynamisierte Sprache des Lyrischen, des Gesangs. Wenn im ersten Kapitel des dritten Buches die Trinität
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dann als klingende Symphonie beschrieben wird, meint die spielende vlůt eben nicht nur die Flut, sondern im aktuellen Kontext auch ein musikalisches Fließen, das sich von der Trinität harmonisch auf die Gruppe von Jungfrauen, Predigern und Märtyrern überträgt: e
Sust gat diser drier seligen schar us spilen fúr die heligen drivaltekeit in einem sussen reien. So flússet inen engegen us von gotte drierleie spilunde vlůt, die erfúllet iren můt, e das si singent die warheit mit vroden ane arebeit, als si got an si hat geleit. (III,1, S. 152,29–33) (So geht die Schar dieser drei Seligen hinaus, um in einem lieblichen Reigen vor der Heiligen Dreifaltigkeit zu spielen. Dann fließt ihnen aus Gott heraus eine dreifach spielende Flut entgegen, die ihr Inneres erfüllt, so dass sie mit Freude ohne Mühsal die Wahrheit singen, wie Gott sie ihnen verliehen hat.)
Die Vorstellung einer kosmischen Musik, einer klanglichen Sphärenharmonie ist im theologisch-wissenschaftlichen Diskurs freilich gängig.40 In Rezeption des platonischen Schöpfungsmythos fügt die christliche Tradition mit der göttlichen Person einen Erzeuger der Sphärenharmonie ein und entwirft mit dem musizierenden Gott an der Spitze einen „Archimusicus“41, der mit seiner siebensaitigen Leier einen im wörtlichen Sinne harmonischen ordo formt. Die Musikmetaphorik setzt neben der perfekten Ordnung eine ästhetische Dimension der Schöpfung an, die seit den Kirchenvätern gern als dulcis sonus42 mit der Eigenschaft der Süße verknüpft wird. Der Fokus der lateinisch-theologischen Diskussion zielt dabei meist mit dem Lobgesang der Gestirne oder dem Tönen der Planeten43 auf die Gesamthierarchie des Kosmos. Bei Mechthild hingegen bildet die Musik nicht einen übergeordneten kosmischen ordo ab, sondern erhält im Wechselgesang zwischen Gott und der Seele einen zutiefst personalen Charakter und wird von einem vielstimmigen Chor auf das intime Miteinander zweier Singstimmen verengt. Das Singen ist im Fließenden Licht immer als gemeinsames Singen konzipiert, es kommt erst im Gleichklang beider Partner zur Erfüllung, so dass die Seele im fünften Kapitel des zweiten Buches recht bestimmt den Antwortgesang Gottes als Gegenleistung auf ihr Lob einfordert:
40
41 42 43
Vgl. Hans Schavernoch: Die Harmonie der Sphären. Die Geschichte der Idee des Welteneinklangs und der Seeleneinstimmung, Freiburg, München 1981 (Orbis academicus 6), zur mittelalterlichen Tradition S. 89–110. Vgl. auch Jean Pépin: Art. „Harmonie der Sphären“. In: Reallexikon für Antike und Christentum 13 (1986), Sp. 593–618. Ebd., S. 89. Ambrosius: Expositio evangelii secundum Lucam. In: PL, S. 1–400, hier S. 177 f. (Lib. VI,9 f.), zitiert nach Schavernoch (Anm. 40), S. 93. Vgl. ebd., S. 195–213.
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Nu han ich dir gesungen, noch ist mir nit gelungen; e woltest du mir singen, e so muste mir gelingen. (II,5, S. 92,14–17)
Nun habe ich für dich gesungen, noch ist es mir nicht gelungen; wenn du für mich singen würdest, müsste es mir gelingen.
Das Fließende Licht kennt mehrere dialogische Gesänge zwischen der Seele und Gott, in denen sich beide Stimmen im gegenseitigen Lobpreisen einander angleichen – auch das ein klangliches Zusammenspiel, das im Hohenlied bereits traditionsreich vorgebildet ist. Im neunten Kapitel des zweiten Buches findet sich eine anaphorische Lobeshymne Gottes auf die Seele, die die Seele in ihrer Antwortstrophe wie ein Echo und gleichzeitig in superlativischer Steigerung zurückspielt. Gottes Lobvers auf die Seele, Du bist ein lieht der welte (II,9, S. 98,2; „du bist ein Licht der Welt / für die Welt“), steigert die Seele in ihrem ersten Vers von einer irdischen Leuchtkraft zu einer kosmischen: Du bist ein lieht in allen liehten (II,10, S. 98,8; „Du bist ein Licht in allen Lichtern“), und diese Überbietungsstruktur setzt sich auch in den folgenden Antwortversen der Seele fort. Konzentriert nimmt sie die Vorgaben Gottes auf und spielt sie in genauer Bezüglichkeit zurück, um sich erst im letzten Vers zu einer größeren Improvisationskraft durchzuringen, indem sie das vorgegebene Faktum der personalen Aufnahme im Bildbereich der Gastlichkeit spiegelt: du bist ein brut der heligen drivaltekeit. […], du bist ein wirt in allen herbergen (II,9, S. 98,6 und II,10, S. 98,12; „Du bist eine Braut der Heiligen Dreifaltigkeit. […], du bist ein Wirt in jeder Unterkunft“). Eine noch engere Bezüglichkeit bieten die strophischen Kapitel 17 und 18 im zweiten Buch, ein Lobgesang, der mit der Seele als Taube seine Bildlichkeit beim Hohenlied borgt. Auch hier lässt sich die Seele ganz auf die Vorgabe des göttlichen Gesangs ein, auch hier findet sich ein festes Schema: Gott versieht Körperteile oder Eigenschaften der Taube mit einem beschreibenden Attribut, in ihrer Antwort akzeptiert die Seele diese Zuschreibung und bindet sie an Gott zurück, indem sie einen Bezug zu seinem heilsgeschichtlichen Handeln aufdeckt. Wenn Gott im ersten Vers die rote Farbe ihrer Taubenfüße erwähnt (II,17, S. 102,10), vervollständigt sie im ersten Antwortvers: Herre, min fu sse sint geverwet mit dem blůte diner waren losunge (II,18, S. 102,19 f.; „Herr, meine Füße sind mit dem Blut deiner wahrhaftigen Erlösung gefärbt“). Die göttliche Feststellung im zweiten Vers, din vedern sint eben (II,17, S. 102,11; „deine Federn sind glatt“), findet ihre Entsprechung im zweiten Vers der Seele: min vedern sint verebent mit diner edeln erwelunge (II,18, S. 102,21; „meine Federn sind durch deine edle Erwählung geglättet“). Was aus göttlichem Mund zunächst wie eine einfache Beschreibung des Gegenübers anmutet, wird in der Antwort der Seele als existentielle Verknüpfung, als ein festes Band zwischen Seele und Gott e
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erkannt. Sie hat ihre Eigenschaften nicht aus sich heraus, sondern allein durch Gott: Lyrischer Gleichklang und hermeneutische Auslegung gehen fließend ineinander über. Das Wissen über sich selbst erwirbt die Seele erst aktuell im Singen in der Ausdeutung des anstoßenden göttlichen Impulses, und so ist es nur konsequent, wenn der Gesang Gottes als eine Einheit von Liebes- und Lernprozess für die Seele inseriert wird: Alsust vriet got die einvaltigen sele und machet si wise in siner liebi (II,17, S. 102,8 f.; „So wirbt Gott um die einfältige Seele und macht sie weise in seiner Liebe“). Was die Forschung für den mystischen Dialog als enge gegenseitige Bezüglichkeit festgestellt hat,44 gilt für das dialogische Singen in gesteigertem Maße, denn hier gehen inhaltliche und formale Parallelität der Stimmen als gemeinsames Einstimmen auf das Einheitserlebnis der unio Hand in Hand. IV.3 Der Rezipient in partizipatorischer Aneignung des Sangs Das gemeinsame Singen von Seele und Gott hat für den Rezipienten den Effekt, dass er nicht nur auf einer rationalen Vermittlungsebene angesprochen, sondern über den Klang sinnlich affiziert wird, da das persönliche Klangerleben der Seele sich zu einem kollektiven Erleben in der Rezeptionsgemeinschaft öffnet. Dass ein solches aneignendes Rezipieren von den lyrischen Passagen stärker forciert wird als von den narrativen, entspricht einem Grundcharakteristikum der Gattung: Die sprachliche Strukturierung eines Gedichts durch Metrum, Reim, Refrain, Strophe usw. hat eine leichtere Memorierbarkeit zur Folge; Techniken des Auswendiglernens und Reproduzierens gehören seit jeher elementar zur Lyrikrezeption und sind eben nicht gleichermaßen auf narrative oder dramatische Texte zu übertragen.45 Eine narrative Handlungsfolge in einer fiktionalen Welt kann man sich nicht ohne weiteres im eigenen Sprechen aneignen, während das in der Gegenwart des Sprechens verankerte lyrische Ich eine kontextlose Ich-Hülle entwirft, in die man als Sprecher mühelos eintreten kann.46 Diese „Didaktik des Mitmachens“,47 die man dem Lyrischen immer wieder attestiert, kommt Mechthilds Intention, nicht nur in der eigenen Gottesnähe zu schwelgen, sondern auch anderen einen Zugang zu Gott zu vermitteln, entgegen. 44 45 46
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Zur Erforschung des Dialogs in mystischen Texten vgl. die Literaturangaben in Anm. 13. Vgl. Schlaffer (Anm. 22). Kaspar Spinner hat mit Bezug auf Jakobson und Lotman das lyrische Ich insofern als leer beschrieben, als es erst aktuell im Textvortrag gefüllt wird, vgl. Kaspar H. Spinner: Zur Struktur des lyrischen Ich, Frankfurt a. M. 1975, v. a. S. 12–19, hier S. 15: „Der ‚aktuelle Bezug‘, den […] das Wort ‚ich‘ jeweils besitzt, weist bei der Lyrik ins Leere, weil das Gedicht im Augenblick des Verstehens den Bezug zum Augenblick der Entstehung verloren haben und trotzdem adäquat verstanden werden kann.“ Vgl. auch Schlaffer (Anm. 22), S. 47. Ebd., S. 56.
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Gerade die Wortmagie des Lyrischen ist in der Lage, jenseits von konkreten mystagogischen Verhaltensanweisungen dem Rezipienten den Weg zu Gott in sinnlicher Direktheit präsent zu machen. Das Nachsprechen oder Mitsingen der lyrischen Passagen nähert sich, auch wenn es nur in Gedanken erfolgt, Formen liturgischer Rede an, wird in der direkten sinnlichen Wirkung auf den Rezipienten zu einem heiligen Akt. Diese Sakralisierung des Sprechens funktioniert nicht in einer distanzierten Rezeptionshaltung, sondern nur im Sich-Versenken in den Text, im anteilnehmenden Miteinstimmen der Gemeinde, wozu die lyrische Form mit ihrer Klangdimension anregt. Spätestens dann, wenn man, wie im Vorwort empfohlen, das Fließende Licht neun Mal liest,48 stellt sich beim Rezipienten eine Vertrautheit mit dem Text ein, die ein solches Mitsingen in einer Art liturgischem ordo ermöglicht. Dennoch ist der Gesang kein rein affektiver Zugang, sondern spricht zugleich den Verstand an, d. h., Sinnlichkeit und Hermeneutik, Klang und Semantik bilden keinen strikten Gegensatz, sondern treten in eine sich ergänzende Korrelation. V. Der inwendig singende Geist. Das Lyrische und die Theorie der inneren Sinne Die direkte Kommunikation mit Gott, die das Fließende Licht auszeichnet, gestaltet die lateinische Tradition oft über das Konstrukt der inneren Sinne,49 die als sensus interiores, sensus animae, oculi cordis oder oculi contemplationis50 die Differenz zur alltäglichen menschlichen Wahrnehmung betonen. Sobald 48 49
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Vgl. den deutschsprachigen Prolog des Fließenden Lichts, S. 18,6 f. Zur Konzeption der inneren Sinne vgl. grundlegend Karl Rahner: Le début d’une doctrine des cinq sens spirituels chez Origène. In: Revue d’Ascétique et mystique 13 (1932), S. 113– 145, der vor allem die Entwicklung der Theorie durch Origenes nachverfolgt und dabei auf die Schriften Contra Celsum und De principiis Bezug nimmt. Zur Verknüpfung der Theorie der inneren Sinne mit der Beziehung zwischen Seele und Gott im Hohenlied vgl. ebd., S. 120–123. Vgl. auch mit spezifischer Perspektive auf Bernhard von Clairvaux Ulrich Köpf: Religiöse Erfahrung in der Theologie Bernhards von Clairvaux, Tübingen 1980 (Beiträge zur historischen Theologie 61), S. 143–161, und Niklaus Largier: Inner Senses – Outer Senses. The Practice of Emotions in Medieval Mysticism. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. Stephen Jaeger/Ingrid Kasten, Berlin, New York 2003 (TMP 1), S. 3–15. Eine Zusammenstellung einschlägiger auctoritates-Zitate zum Thema findet sich bei Rudolf von Biberach: De septem itineribus aeternitatis. Nachdruck der Ausgabe von Peltier 1866 mit einer Einleitung in die lateinische Überlieferung und Corrigenda zum Text von Margot Schmidt, Stuttgart-Bad Cannstatt 1985 (Mystik in Geschichte und Gegenwart I,1), S. 468–472 (iter 6, distinctio 6: Qualiter quilibet sensus interior spiritualis æterna experiatur [„Wie jeder innere geistliche Sinn ewige Dinge erfährt“]). Vgl. Gudrun Schleusener-Eichholz: Das Auge im Mittelalter, Bd. 2, München 1985 (Münstersche Mittelalter-Schriften 35, 2), S. 953–1059, die S. 957 f. die Begrifflichkeit – wenn auch mit einer Fokussierung auf den Gesichtssinn – präzise umreißt.
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die Braut im Hohenlied als menschliche Seele ausgedeutet wird, werden die inneren Sinne als eine Möglichkeit der unmittelbaren Verständigung mit Gott entworfen. Schon Origenes skizziert in seinem Hoheliedkommentar eine Theorie der inneren Sinne, die für eine ungetrübte menschliche Wahrnehmungskraft vor dem Sündenfall stehen.51 Auch Bernhard von Clairvaux beschreibt die Annäherung an Gott, indem er eine geistige Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen explizit als inneres Pendant der auf die äußere Objektwelt beschränkten körperlichen Sinne formuliert und den Gegensatz in einem Wortspiel mit den Begriffen sapor und sapientia beschreibt: Bona et vera SAPIENTIA TRAHITUR DE OCCULTIS, ut sapit beatus Iob. Quid foris eam quaeris in corporis sensu? Sapor in palato, in corde est sapientia. Ne quaeras sapientiam in oculo carnis, quia caro et sanguis non revelat eam, sed spiritus.52 (Gute und wahre Weisheit zieht man aus dem Verborgenen, wie der glückselige Hiob weiß. Was suchst du sie außen in den Sinnen des Leibes? Der Geschmack ist im Gaumen, im Herzen ist die Weisheit. Suche die Weisheit nicht im fleischlichen Auge, denn Fleisch und Blut offenbaren sie nicht, sondern der Geist.)
In seiner 45. Hohelied-Predigt beschäftigt sich Bernhard nicht nur mit dem wahrnehmenden Erkennen Gottes durch die inneren Sinne, sondern mit der Frage, wie eine aktive Verständigung zwischen göttlichem Logos und Seele stattfinden kann, und nimmt eine spezifisch geistige Kommunikationsform an: Quoties proinde audis vel legis Verbum atque animam pariter colloqui, et se invicem intueri, noli tibi imaginari quasi corporeas intercurrere voces, sicut nec corporeas colloquentium apparere imagines. Audi potius quid tibi sit in huiusmodi cogitandum. Spiri-
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Vgl. Rahner (Anm. 49), passim, sowie Largier (Anm. 49), S. 9. Bernhard von Clairvaux: Sermo 28. In: S. Bernardi Opera. Sermones super Cantica Canticorum. Hrsg. von Jean Leclercq/Charles H. Talbot/Henri M. Rochais, 2 Bde., Rom 1957/58, Bd. 1: 1- 35, S. 192–202, hier S. 197. Vgl. auch Sermo 62, ebd., Bd. 2: 36–86, S. 154–161, hier S. 160: Non erit digna videri, quamdiu non erit videre idonea. Cum autem per inhabitationem fossae humi in sanando oculo interiori tantum profecerit, ut revelata facie speculari gloriam Dei et ipsa possit, tunc demum quae videbit fiducialiter iam loquetur voce et facie placens („Sie wird nicht wert sein, angeschaut zu werden, solange sie nicht fähig ist zu schauen. Wenn aber die Heilung des inneren Auges durch die Einwohnung im Erdengraben hindurch so weit fortgeschritten sein wird, dass die Seele selbst mit enthülltem Antlitz die Herrlichkeit Gottes schauen kann, dann darf die, die schauen wird, sofort zuversichtlich sprechen, weil nun Stimme und Antlitz Gott gefallen“). Die Gegenüberstellung von innerem und äußerem Sehen ist ein gängiger Punkt in der Diskussion um die Gotteserkenntnis und findet sich beispielsweise auch bei Wilhelm von St. Thierry: Tractatus de natura et dignitate amoris. In: PL 184, Sp. 379–408, hier Sp. 390B und C (Cap. 6,15): Habet enim anima etiam sensus suos, habet visum suum vel oculum, qui videt Deum. Sicut enim corpus habet suos quinque sensus, quibus animae conjungitur, vita mediante: sic et anima suos quinque sensus habet, quibus Deo conjungitur, mediante charitate (Hervorhebung S. L.) („Auch die Seele hat nämlich ihre Sinne, sie hat ihren Gesichtssinn oder ein Auge, mit dem sie Gott sieht. So wie der Körper seine fünf Sinne hat, mit denen er der Seele verbunden wird, vermittelt durch das Leben: so hat auch die Seele ihre fünf Sinne, mit denen sie Gott verbunden wird, vermittelt durch die Liebe“).
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tus est Verbum spiritusque anima, et habent linguas suas, quibus se alterutrum alloquantur praesentesque indicent.53 (Sooft du daher hörst oder liest, das [sc. göttliche – S. L.] Wort und die Seele sprächen miteinander und schauten sich gegenseitig an, so darfst du dir nicht vorstellen, da würden körperliche Stimmen hin und her gehen, und stell dir nicht vor, die Sprechenden würden einander körperlich sichtbar gegenüberstehen. Höre vielmehr, was du dir dabei zu denken hast. Das Wort ist etwas Geistiges, und die Seele ist etwas Geistiges, und sie haben ihre eigene Sprache, in der sie miteinander reden und sich ihre Gegenwart anzeigen.)
Mit den inneren Sinnen der Seele, die speziell für die Gotteserkenntnis zuständig sind, entsteht ein Seelenraum, in dem sich innere Erfahrungen ausbilden und eine affektive Wahrnehmung Gottes geleistet werden kann. Genau wie die äußeren Sinne Licht zum Sehen brauchen, werden die inneren Sinne der Seele durch das göttliche Wort illuminiert und angeregt.54 Auch wenn diese innere Wahrnehmungskraft in jedem Menschen als Potential angelegt ist, kann sie erst über den direkten gnadenhaften Kontakt mit Gott aktiviert werden und avanciert somit zum Indikator für eine besondere Gottesnähe. Das Schauen Gottes mit dem sensus interior wird für die liebende Seele zum Modus einer wesenhaften Anverwandlung: Amat enim, et amor suus sensus suus est, quo sentit eum quem sentit; et quodammodo transformetur in id quod sentit, non enim eum sentit, nisi in eum transformetur, hoc est nisi ipse in ipsa, et ipsa in ipso sit. Etenim sicut se habet sensus exterior corporis ad corpora et corporalia, sic est interior ad similia sibi, id est, rationabilia ac divina, vel spiritualia.55 (Sie [sc. die Seele – S. L.] liebt nämlich, und ihre Liebe ist ihr Sinn, mit dem sie den wahrnimmt, den sie wahrnimmt, und sie wird irgendwie verwandelt in das, was sie wahrnimmt, denn sie nimmt ihn nicht wahr, bevor sie nicht in ihn verwandelt wird, d. h. bevor er nicht in ihr und sie in ihm ist. Und tatsächlich wie der äußere Sinn des Körpers auf Körper und körperliche Dinge ausgerichtet ist, so ist auch der innere Sinn auf Dinge ausgerichtet, die ihm ähnlich sind, d. h. auf rationale, göttliche oder spirituelle Dinge.)
Über die innere Erfahrung werden die Sinne rehabilitiert, und so kann sich trotz der mystischen Abwendung von den äußeren Dingen in der Innenschau eine eigene sinnliche Dimension entfalten, die ohne das Element des Körperlichen gedacht wird.56 53 54
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Bernhard von Clairvaux: Sermo 45. In: S. Bernardi Opera (Anm. 52), Bd. 2, S. 49–56, hier S. 54. Vgl. z. B. Richard von St. Viktor: In Cantica Canticorum Explicatio. In: PL 196, Sp. 405– 524, hier Sp. 450B (Cap. XV): Spiritus iste oculos exteriores simplices facit, interiores aperit; quia sensum hominis illuminat et provebit ad intelligenda et comprehendenda spiritualia et superna. („Dieser Geist macht die äußeren Augen einfältig, die inneren öffnet er, weil er den Wahrnehmungssinn des Menschen erleuchtet und fortführt, damit er die geistigen und himmlischen Dinge einsieht und versteht.“) Wilhelm von St. Thierry: Speculum Fidei. In: PL 180, Sp. 365–398, hier Sp. 390D. Diese Konzeption eines inneren Sinns ist nicht zu verwechseln mit der stärker naturwissenschaftlich ausgerichteten Vorstellung der inneren Sinne (meist im Plural), die laut Galen in
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Dass die Theorie einer spezifischen inneren Wahrnehmungskraft für die Gottesschau auch volkssprachigen Hoheliedinterpretationen zugänglich ist, beweist das St. Trudperter Hohelied,57 das um 1150/60 entstanden ist. Im zweiten Werkeingang wird hier das Hohelied als Weide für die inneren Sinne bezeichnet,58 und auch der lobpreisende Gesang der Jungfrauen wird als innere Kommunikation deutlich von jedem weltlichen Singen abgesetzt.59 Wenn die inneren Sinne im mystischen Sprechen des 14. Jahrhunderts schließlich so etabliert sind, dass Heinrich Seuse im Büchlein der Ewigen Weisheit ganz selbstverständlich und ohne Erklärungen auf diese Instanz zurückgreifen kann,60 wundert es nicht, dass auch das Fließende Licht bereits
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den Gehirnventrikeln anzusiedeln sind und in der alltäglichen Sinneswahrnehmung die Umsetzung äußerer Wahrnehmung in innere Vorstellungsbilder regeln. Hier muss man zwischen scholastischer Psychologie und mystischer Theologie trennen; vgl. Eckart Scheerer: Art. „Sinne, die“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie 9 (1995), Sp. 824–869, hier Sp. 838, und Mariette Canévet: Sens spirituel. In: Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique 14 (1990), Sp. 598–617, S. 599 f., die die Pluralgestalt der inneren Sinne als Analogiebildung zu den fünf körperlichen Sinnen versteht. Zur naturwissenschaftlich-medizinischen Konzeption der inneren Sinne vgl. E. Ruth Harvey: The Inward Wits. Psychological Theory in the Middle Ages and the Renaissance, London 1975 (Warburg Institute Surveys 6); Simon Kemp/Garth J. O. Fletcher: The Medieval Theory of the Inner Senses. In: American Journal of Psychology 106/4 (1993), S. 559–576, sowie Harry Austryn Wolfson: The Internal Senses in Latin, Arabic, and Hebrew Philosophical Texts. In: Harvard Theological Review 28/2 (1935), S. 69–133, der, beginnend bei Aristoteles’ De anima, den Bogen bis zu Avicenna, Algazali und Averroes spannt. Zur Bedeutung der arabischen Wissenschaft für die Rezeption der Theorie der inneren Sinne vgl. auch Dag Nikolaus Hasse: Avicenna’s De Anima in the Latin West. The Formation of a Peripatetic Philosophy of the Soul 1160–1300, London, Turin 2000 (Warburg Institute Studies and Texts 1), S. 13–79 und v. a. S. 247. Das St. Trudperter Hohelied. Eine Lehre der liebenden Gotteserkenntnis. Hrsg. von Friedrich Ohly unter Mitarbeit von Nicola Kleine, Frankfurt a. M. 1998 (Bibliothek deutscher Klassiker 155; Bibliothek des Mittelalters 2). Vgl. auch ebd., S. 511, den Kommentar zu den inneren Sinnen. Zur frühen volkssprachigen Hoheliedrezeption vor allem im St. Trudperter Hohenlied vgl. Urban Küsters: Der verschlossene Garten. Volkssprachliche Hohelied-Auslegung und monastische Lebensform im 12. Jahrhundert, Düsseldorf 1985 (Studia humaniora 2). Vgl. Das St. Trudperter Hohelied (Anm. 57), 6,6, S. 28: ez ist ouch sehen der gesiuneclichen tugende. / ez ist ein weide der inneren sinne. / ez ist ein rîchiu / kamere des hoehesten wîstuomes. (Übersetzung nach Ohly, ebd., S. 29: „Es ist eine Sehkraft der anschauenden Fähigkeiten. Es ist eine Weide der inneren Sinne. Es ist eine reiche Schatzkammer der höchsten Weisheit.“) Vgl. Das St. Trudperter Hohelied (Anm. 57), 11,6, S. 40: nû singet ir schoenesten, / ir der welte mit vlîze nie gesunget. / iuwer brüste werdent von gote gehalsen, / wan sie nie nehein man bevie. / nû singet ir liebesten, / wan ir nie heiser enwurdet von weltlicheme sange. / disiu stimme enlûtet niht ze den ôren der menneschen (Übersetzung nach Ohly, ebd., S. 41: „Nun singet, ihr Schönsten, die ihr nie mit Hingabe an die Welt gesungen habt. Eure Brüste mögen von Gott geliebkost werden, da sie nie ein Mann berührte. Nun singet, ihr Liebsten, da ihr von weltlichem Gesang nie heiser wurdet. Diese Stimme soll nicht für die Ohren der Menschen erklingen“). Vgl. Heinrich Seuse: Büchlein der Ewigen Weisheit. In: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften. Hrsg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 196–325, hier Kap. 10, S. 237,3 f.: Entschlús din inren sinne, tů uf dienú geistlichen ogen und lůg („Schließ deine inneren Sinne auf, öffne deine geistlichen Augen und schau“). Vgl. auch Meister Eckhart: Predigt 10. In: Meister
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eine Reihe von Belegstellen für ein besonderes inneres Wahrnehmen und Sprechen bietet. Zu Beginn des siebten Buches heißt es in der visionären Schau einer göttlichen Krone: Die crone wart gesehen mit geistlichen ogen der minnenden sele in der ewigen ewikeit (VII,1, S. 524,2 f.; „Die Krone wurde mit den geistlichen Augen der liebenden Seele in der ewigen Ewigkeit gesehen“). Von der Übermittlung des Fließenden Lichts durch Gott berichtet das Erzähler-Ich, dass es nicht schreiben könne, wenn es das Offenbarte nicht mit den Augen seiner Seele schaue und mit den Ohren seines ewigen Geistes höre.61 Ein inwendiges Sprechen fordert die Seele dann auch explizit von Gott ein: So ich mit minem súndigen munde nit sprechen mag, so sprich denne miner sele inwendig zů (VII,35, S. 596,21 f.; „Wenn ich mit meinem sündigen Mund nicht sprechen kann, so sprich dann meiner Seele im Inneren zu“). Die Vorstellung einer andersartigen, besonderen Wahrnehmung und Verständigung in der Gotteserfahrung kulminiert schließlich in Kombination mit dem musikalischen Element im inwendig singenden Geist: v
Alle, die sere minnent innewendig, die werdent uswendig gestillet, wand allú uswendig arbeit hindert den inwendigen geist; das denne der geist inwendig singet, das gat úber alle irdensche stimme. (VII,34, S. 594,1–4) (Alle, die innerlich sehr lieben, werden nach außen hin ganz ruhig, denn alle nach außen gehende Mühsal hindert den nach innen gerichteten Geist; was der Geist dann nach innen gewandt singt, geht über jede irdische Stimme.)
Dieser inwendig singende Geist verweigert die reguläre Kommunikation nach außen, er richtet sich nach innen und tritt in diesem inneren Erfahrungsraum in einen Dialog mit Gott ein. So kann sich trotz der mystischen Abwendung von den äußeren Dingen in der Innenschau eine eigene sinnliche Dimension entfalten, die ohne das Körperliche auskommt, aber dennoch über das Medium des Gesangs die hermetische Inklusion durchbricht und für den Rezipienten erfahrbar wird. Zwar sind im lateinischen Diskurs die inneren Sinne breit eingeführt, doch werden sie stets als theoretisches Konstrukt verhandelt, als ein erkenntnistheoretisches Wahrnehmungsmodell, das die Kluft zwischen Immanenz
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Eckhart, Werke I. Texte und Übersetzungen. Hrsg. von Niklaus Largier, Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek des Mittelalters 20), S. 118–131, hier S. 122,22–24: Diu sêle hât zwei ougen, einz inwendic und einz ûzwendic. Daz inner ouge der sêle ist, daz in daz wesen sihet und sîn wesen von gote âne allez mittel nimet („Die Seele hat zwei Augen, eins nach innen und eins nach außen gewandt. Das innere Auge der Seele ist das, welches in das Sein schaut und sein Sein von Gott ohne jede Vermittlung nimmt“). v Vgl. IV,13, S. 266,3–6: Ich enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den ogen miner sele und e hore es mit den oren mines ewigen geistes und bevinde in allen liden mines lichamen die kraft des heiligen geistes („Ich kann und vermag nicht zu schreiben, wenn ich es nicht mit den Augen meiner Seele sehe und mit den Ohren meines ewigen Geistes höre und in allen Gliedern meines Körpers die Kraft des Heiligen Geistes spüre“).
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und Transzendenz überwindet. Mechthild hingegen – und das ist der entscheidende Punkt – nutzt nun die Chance einer Umsetzung der Theorie und gibt dem inneren Sinn mit dem lyrischen Sprechen einen eigenständigen Ausdrucksraum. Das lyrische Sprechen wird ihr zur adäquaten Umsetzung der erkenntnistheoretischen Konzeption des inneren Sinns; die spielerische lyrische Harmonie zwischen Wort und Klang, die in der Schrift nicht abgebildet, aber mitgedacht wird, bietet einen vielschichtigen Ahnungsraum für ein Verstehen und Sprechen in der Sprache Gottes. Die Gottesbegegnung präsentiert sich im Fließenden Licht weniger als grundsätzliches Problem der sprachlichen Vermittlung, die im lyrischen Gesang gefunden wird, sondern als ein Problem der Narration, die eine reflektierende Distanz zu ihrem Gegenstand erfordert, wie sie in der unio gerade überwunden wird. Um den Effekt zu erzielen, den Burkhart Hasebrink für den mystischen Diskurs als Heterologie, als Sprechen vom anderen her, bezeichnet hat,62 nutzt Mechthild die mit dem Lyrischen verknüpfte Signalwirkung der Andersartigkeit. Sie spricht nicht über Gott, sondern von Gott her, die Sprache der Seele ist nicht mehr die reguläre Sprache, sondern eine lyrische, eine göttliche Sprache, die sich merklich von der gängigen Kommunikation absetzt und dennoch für den Rezipienten verständlich bleibt. Die Fähigkeit zu dieser besonderen Wahrnehmung und Ausdruckskraft wird der Seele zum einen im Zwiegespräch mit Gott vermittelt, der sie zum richtigen Singen motiviert und anleitet, zum anderen über die Minne zugänglich gemacht, die im ersten Kapitel programmatisch ihre Reimkunst demonstriert. So ist der lyrische Gesang im Fließenden Licht als spezifische Kommunikationsform Gottes und des inwendig singenden Geists reserviert, er signalisiert, dass die Seele jenseits menschlicher Alltagssprache in einer locutio cordis63 gottgleich singt. Ein Blick zurück zum Ausgangspunkt, zu Maltes Erinnerung an Abelone in Rilkes Roman: Unmittelbar vor seinen Überlegungen zu den sinnlich affizierten Mystikerinnen besucht Malte einen vornehmen Empfang in Venedig, wo er eine junge Dänin trifft, die, von der Gesellschaft um eine Probe ihrer Sangeskunst gebeten, ein Liebeslied vorträgt und die Zuhörer in ihren Bann schlägt. Dieses Lied ist die einzige lyrische Insertion in den Auf-
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Vgl. Burkhard Hasebrink: Sprechen vom Anderen her. ‚Heterologie‘ mystischer Rede als epistemischer Fluchtpunkt mittelalterlicher Literarizität. In: Germanistik in und für Europa. Faszination – Wissen. Hrsg. von Konrad Ehlich, Bielefeld 2006 (Texte des Münchener Germanistentages 2004), S. 391–399, der mit der Heterologie ein Konzept von Michel de Certeau auf den mystischen Text anwendet. Vgl. Susanne Köbele: ‚Ausdruck‘ im Mittelalter? Zur Geschichte eines übersehenen Begriffs. Mit Überlegungen zu einer ‚emphatischen Ästhetik‘ der Mystik. In: Braun/Young (Anm. 33), S. 61–90, hier S. 81 f., die die locutio cordis in der Mystik Meister Eckharts als Modus des emphatischen Sprechens analysiert.
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zeichnungen des Malte Laurids Brigge, und ausgerechnet dieses Singen ruft in der Erinnerung des Tagebucheintrags die Assoziation zu den Mystikerinnen auf ihrem Weg zu Gott hervor. Lyrik und Mystik werden von Rilke auf engstem Raum verknüpft, und nach der Lektüre des Fließenden Lichts muss man das wohl nicht mehr für einen Zufall halten.
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Gegenwart im Klang? Überlegungen zur Kritik des jubilus bei Tauler I. Vorbemerkung In einem grundlegenden Beitrag zum Tristan Gottfrieds von Straßburg hat Hartmut Bleumer das Lyrische als präsentisches Sprechen beschrieben, in dem nicht nur Wort und Klang konvergieren, sondern die Aufhebung des sprachlichen Zeichens in seiner physischen Lautung zugleich auch das Thema der Liebe in sinnlich-unmittelbarer Weise evoziert.1 Seine Überlegungen sind weit über die höfische Epik und den Minnesang hinaus von Bedeutung. Im Rahmen der mediävistischen Mystikforschung ließen sie sich beispielsweise auf die Brautmystik und die Offenbarungsliteratur beziehen, deren Textur, so die Veranstalter der Loccumer Tagung, über die Dialektik präsentischen Sprechens und (auto)narrativen Erzählens beschreibbar wäre.2 Ein Schlüsselpunkt für diese Theorie der Interferenzen von Epik und Lyrik ist die These, dass im Lyrischen ein Präsenzversprechen liege, „dem das Erzählen nachstrebt, ohne es je erreichen zu können.“3 Zugleich lässt Bleumer keinen Zweifel daran, wie nah Narration und Lyrik einander stehen und dabei paradox verschränkt sind. Dieser Theorieansatz hat, wie der vorliegende Band zeigt, eine reiche Diskussion ausgelöst. Ich möchte mit meinem Beitrag auf eine ähnliche Thematik in der geistlichen Literatur des Mittelalters hinweisen und damit homologe Strukturen sichtbar werden lassen, die quer zu den Grenzen der unterschiedlichen Sprechweisen und Diskurse zu verlaufen scheinen.4 1 2 3 4
Vgl. Hartmut Bleumer: Gottfrieds ‚Tristan‘ und die generische Paradoxie. In: PBB 130 (2008), S. 22–61. Vgl. die Einleitung zu diesem Band. Ich danke den Herausgebern sehr herzlich für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts sowie für wichtige Hinweise und Verbesserungsvorschläge. Bleumer (Anm. 1), S. 22. Damit greife ich, wenn auch mit einigen Umakzentuierungen, besonders Überlegungen von Otto Langer zu den konkurrierenden religiösen Deutungsmodellen innerhalb des Dominikanerordens des Spätmittelalters auf. Vgl. Ders.: Mystische Erfahrung und spirituelle
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Dabei stelle ich die Predigt Vetter Nr. 41 von Johannes Tauler in den Mittelpunkt, in der präsentisches Sprechen weder lyrisch inszeniert noch narrativ kompensiert, sondern vom Text-Ich dezidiert abgewiesen wird.5 Im Gegenzug zum narrativ-lyrischen Verfahren privilegiert Tauler ein rhetorisch-diskursives. Seine volkssprachige Predigt aus dem 14. Jahrhundert verhandelt so die Bedingungen der Möglichkeit präsentischen Sprechens und relativiert dabei ein Modell der Heiligung, das im jubilus die höchste Intensität göttlicher Präsenz gegeben sieht. Die Lektüre dieser Predigt möchte ich zudem in den Kontext der Thesen stellen, wie sie Niklaus Largier in dem 2007 erschienenen Band Die Kunst des Begehrens gebündelt vorgelegt hat.6 II. Simulation spiritueller Sinnlichkeit Diese Thesen Largiers, auf die ich zu Beginn etwas ausführlicher eingehen möchte, bieten ein faszinierendes Bild von den Präsenzeffekten einer rhetorisch induzierten Sinnlichkeit in den Klöstern des Mittelalters, die aus der Lehre von den inneren Sinnen und ihrer spezifischen Modalität der Wahrnehmung hergeleitet ist. „Die Theorie der inneren Sinne, von der ich hier spreche, geht […] nicht von einer Psychologie der Vermögen aus, sondern von einer Phänomenologie der aisthesis, das heißt, vom Umgang mit der sinnlichen Erfahrung von Welt und Schrift. Exegetische Texte des Kirchenvaters Origenes werden in der Regel als einflussreichste Quelle dieser Theorie der inneren Sinne betrachtet, auch wenn andere patristische Autoren in ähnlicher Weise über die inneren Sinne sprechen.“7 Die Theorie dieser inneren, spirituellen Sinne – gemeint sind das Schmecken, Berühren und geist-
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Theologie. Zu Meister Eckharts Auseinandersetzung mit der Frauenfrömmigkeit seiner Zeit, München, Zürich 1987 (MTU 91). Johannes Tauler: Predigt Nr. 41 Ascendit Jhesus in naviculam que erat Symonis. In: Die Predigten Taulers aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Straßburger Handschriften. Mit drei Tafeln in Lichtdruck hrsg. von Ferdinand Vetter, Berlin 1910 (DTM 11), S. 170–176, hier S. 175,3–7: Kinder, kumet der mensche recht in disen grunt und in dis wesen, sint sicher, so můs dis netz von not rissen. Nút wenent das ich mich dis út anneme das ich út her zů komen si, allein enkein lerer nút ensúlle leren das er selber von lebende nút enhabe. Doch ist es ze nten gnůg das er es minne und meine und nút do wider entů. („Kinder, gelangt ein Mensch wahrhaft zu diesem Grund und zu diesem Sein, seid sicher: so muss dieses Netz mit Notwendigkeit reißen. Glaubt nicht, wenn ich mich dessen annehme, dass ich selbst dazu gelangt sei. Zweifellos soll kein Lehrer über etwas lehren, über das er selbst in seinem eigenen Leben nicht verfügt. Doch reicht es notfalls aus, wenn er es liebt und bedenkt und diesem nicht zuwider handelt.“) Übersetzungen stammen hier und im Folgenden – sofern nicht anders vermerkt – vom Verfasser. Niklaus Largier: Die Kunst des Begehrens. Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese, München 2007. Ebd., S. 44.
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liche Sehen des Göttlichen, was als geistliche sinnliche Erfahrung gedacht ist, nicht die Seelenvermögen der ratio, imaginatio und memoria – steht also im Kontext der Bibelexegese. Largier verweist insbesondere auf den Kommentar des Origenes zum Hohenlied und spricht von einer „ästhetischen Heuristik“ als „hermeneutischem Leitkonzept“: Nicht eine historische oder dogmatische Deutung (explicatio) des biblischen Textes werde gefordert, sondern ästhetische Anwendung (applicatio) und damit die „Überführung des Textes in sinnliche Erfahrung“.8 Das Verständnis der Schrift und ihres spirituellen Sinns bekundet sich damit performativ in einer Neuausrichtung der Sinne, wobei diese Transformation als künstlich induzierte, aber real vollzogene ästhetische Erfahrung gedacht wird. Insofern stellt das Konzept der inneren Sinne keine metaphorische Übertragung der äußeren Sinne auf psychische Vermögen dar, sondern fasst einen spezifischen Modus der Wahrnehmung, der durch besondere Praktiken geistlichen Lebens erst generiert wird. Im stetigen Vollzug solcher Praktiken, etwa der Kontemplation oder der Askese, so verstehe ich Largier, bilde sich ein spezifischer Habitus, der nicht in einem einfachen Sinne ‚natürlich‘ ist, sondern erst durch beständige Ausübung artifiziell hergestellt wird. Es geht also um einen Modus der Sinnlichkeit, der Produkt einer Simulation ist und zugleich seine eigene Wirklichkeit konstituiert.9 Mit dieser Theorie der Simulation ‚innerer‘, spiritueller Sinnlichkeit rückt ein Spannungsverhältnis in den Vordergrund, das für die mittelalterliche Mystik konstitutiv ist.10 Walter Haug hat vor einigen Jahren diese Spannung und deren jeweilige Verarbeitung in das Zentrum eines historischen Abrisses gestellt.11 Darin beschreibt er nicht nur das „theoretische Paradox“12 einer gleichzeitigen Ähnlichkeit und Differenz von Gott und 8 9
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Ebd., S. 45. Largier bezieht sich bei seinen Überlegungen ausdrücklich auf den Kulturphilosophen Jean Baudrillard, der in der Agonie des Realen den Verlust des Realen in einer Welt wachsender Virtualisierung diagnostiziert hatte. Simulation bezeichnet bei Baudrillard keine Vorspiegelung einer falschen Realität, sondern vielmehr die künstliche Erzeugung einer virtuellen Welt ohne Referenzen, ohne Wahrheit, in der das Reale durch bloße ‚Zeichen des Realen‘ ersetzt wird. Während das Fingieren die Unterscheidung von ‚Wahrem‘ und ‚Falschem‘ unangetastet lasse, unterlaufe die Simulation diese Unterscheidung und schaffe eine Welt ohne objektiven Grund. Vgl. Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Aus dem Französischen übersetzt von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer, Berlin 1978, bes. S. 9–11. Largier spricht von einer radikalen Opposition zu stoischen Idealen der apatheia und ihren aus der Spätantike herreichenden Traditionen. Vgl. Niklaus Largier: Inner Senses – Outer Senses. The Practice of Emotions in Medieval Mysticism. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter/ Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. Stephen Jaeger/Ingrid Kasten, Berlin, New York 2003 (TMP 1), S. 3–15, hier S. 4. Vgl. Walter Haug: Wendepunkte in der abendländischen Geschichte der Mystik. In: Ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 446–463. Ebd., S. 447.
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Schöpfung. Wichtiger für seinen historischen Überblick ist die Feststellung, dass diese Paradoxie in einen „frömmigkeitspragmatischen Widerspruch“ münde, „der das religiöse Denken und Erfahren über Jahrhunderte hin bewegt, beunruhigt und vorangetrieben hat.“13 Die Frage, ob die Erfahrung der Transzendenz in der Immanenz über ‚Wege‘ erreicht werden kann, die Erfahrung des Göttlichen im oben genannten Sinne artifiziell hergestellt und ‚simuliert‘ werden kann, oder ob die Einheit mit Gott nicht vielmehr in einer Unmittelbarkeit liegt, die jede aszetische Medialisierung dementiert, wird bei Haug geradezu zu einer historiographischen Leitkategorie.14 III. Präsenz im mystischen jubilus An diese grundlegende Ambivalenz möchte ich am Beispiel einer Äußerungsform anknüpfen, die in Texten der mittelalterlichen Mystik als jubilus bezeichnet wird. Es handelt sich um einen klanglich-stimmlichen Ausbruch einer mit Worten nicht zu fassenden Freude, die im mystischen Kontext als Zeugnis einer unmittelbaren Erfahrung göttlicher Liebe gesehen wird und insofern von den liturgisch bedeutsamen Melismen des Alleluia zu unterscheiden ist, auch wenn es vielfältige Wechselbeziehungen des mystischen jubilus zum Freudengesang des Alleluia zu konstatieren gibt.15 Anhand der Taulerpredigt möchte ich nachzeichnen, wie innerhalb der Klosterkultur des Mittelalters das Modell einer Animation der Sinnlichkeit im Sinne Largiers diskutiert wird, indem es in ein Stufenmodell einrückt, das dem Jubilieren nur einen ersten Grad zubilligt. Der Erzeugung der sinnlichen Intensität des jubilus, der in seiner Übermäßigkeit und Unkontrollierbarkeit geradezu zum Signum eines unmittelbaren Verkostens des in der Schrift verborgenen Sinnes geworden ist, steht der Verdacht gegenüber, dass gerade in dieser überbordenden Sinnlichkeit die Einheit mit dem Transzendenten in ihrer kategorialen Unterschiedenheit verfehlt, und eine vorgängige Struktur des Wollens eher verdichtet als überschritten wird. Das Präsenzmodell 13 14
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Ebd. Diese Problemkonstellation hat jetzt Bent Gebert in einen neuen theoretischen Rahmen gestellt und grundsätzlich als Spannung von Technik und Ereignis beschrieben. Vgl. Bent Gebert: Technik und Ereignis. ‚Gelassenheit‘ in Johannes Schefflers Cherubinischem Wandersmann. In: Semantik der Gelassenheit. Beiträge des Freiburger Kolloquiums 2008. Hrsg. von Burkhard Hasebrink/Susanne Bernhardt/Imke Früh (im Druck). Vgl. die grundlegenden Arbeiten von Herbert Grundmann: Jubel. In: FS für Jost Trier zu seinem 60. Geburtstag am 15. Dezember 1954. Hrsg. von Benno von Wiese/Karl Heinz Borck, Meisenheim a. Glan 1954, S. 477–511. Wieder in: Herbert Grundmann, Ausgewählte Aufsätze, Bildung und Sprache, Stuttgart 1978 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 25,3), S. 130–162 [zit.], Langer (Anm. 4); Wolfgang Fuhrmann: Herz und Stimme. Innerlichkeit, Affekt und Gesang im Mittelalter, Kassel u. a. 2004 (Musiksoziologie 13). Zum Alleluia vgl. ebd., S. 174–177.
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einer Vergegenwärtigung qua Sinnlichkeit wird in dieser Relativierung durch ein Modell ergänzt, das Tauler getrenge nennt – er referiert damit auf Traditionen der negativen Theologie, um auch den Grad des jubilus mit seiner Gewährung eines Überflusses göttlicher Zuwendung zu übersteigen. Zugleich lässt sich von dieser Ebene aus, und das scheint mir über die aktuelle Debatte um das Präsentische hinaus von Belang zu sein, ein historisch begründeter Blick auf die Logik einer solchen Induzierung von Sinnlichkeit wie im jubilus werfen – und möglicherweise auf das Paradigma der Präsenz selbst. Es wäre meines Erachtens erforderlich, in diesem Zusammenhang auch ausführlicher auf die Funktion der Gnade für die inneren oder spirituellen Sinne einzugehen.16 In Largiers These von der Artifizialität der spirituell-sinnlichen Wahrnehmung des Göttlichen dominiert der Konstruktcharakter; auf die Wirkung der Gnade weist er nur vereinzelt hin.17 Ich muss mich im Rahmen dieses Beitrages auf einige Bemerkungen beschränken, die sich unmittelbar auf den jubilus beziehen werden. Die geistliche Wahrnehmung dessen, was sich jeder Wahrnehmung entzieht, kommt aber nicht ohne das Moment der Gabe aus; und es scheint gerade diese rezeptive, passive Seite der Erfahrung des Göttlichen zu sein, die in der Literatur der volkssprachigen Mystik ihre besondere Ausformung erhält und in der neueren ästhetischen Theorie wieder einen prominenten Ort bekommen hat.18 Schlägt man von hier aus einen Bogen zur Diskussion um präsentisches Sprechen in der Lyrik, ist es verblüffend, wie ähnlich die Momente des jubilus dem – zugespitzt gesprochen – orphisch begründeten Lyrikbegriff Bleumers sind. Diese Ähnlichkeit sehe ich vor allem in der paradoxen Engführung von Sinn und Sinnlichkeit, in der die Gegenwart des Abwesenden in der Fülle des lautlichen Klangs zugleich die Erfahrung der Liebe evoziert (und damit, wenn ich es richtig sehe, ästhetische Erfahrung und ‚Liebe‘ zusammendenkt). Doch könnte es lohnend sein zu fragen, ob es nicht auch eine Bewegung innerhalb des Lyrischen gibt, der Präsenzwirkung des Klangs zu misstrauen oder sie zumindest in ein Spannungsverhältnis zur Artifizialität ihrer Herstellung zu setzen. Es wäre aussichtsreich, in der Geschichte lyrischen Sprechens nach solchen Formen des Zweifels zu suchen – mitsamt den entsprechenden poetischen Verfahren, die Lyrik als Ort eines paradoxen Selbstverlusts und damit einer Selbstüberschreitung zu inszenieren.19 Als 16 17 18 19
Vgl. die Hervorhebung der Gnade für die Verlebendigung der geistlichen Sinne bei Hans Urs von Balthasar: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Bd. 1: Schau der Gestalt, Einsiedeln 1961, S. 358. Vgl. Largier (Anm. 10), S. 9. Vgl. insbes. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002 (es. Aesthetica 2219). Ich denke beispielsweise an das Gedicht Stille! von Paul Celan, in dem die Süße des lyrischen Klangs sich in einem vom Wein berauschten Lallen verliert, das durch Wiederholung performativen Charakter gewinnt: „und die Zunge lallte uns Süße … / (So lallt sie, so lallt sie noch immer.)“. Mit den weit zurückreichenden Motiven des Zerbrechens und Verwundens wirkt
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einen solchen Selbstverlust – ich komme damit zur Predigt – versteht die Predigt Taulers das getrenge, und ich möchte im Folgenden zeigen, wie dieser Begriff genutzt wird, um einen auf Sinnlichkeit gegründeten Präsenzbegriff auf die Gottesgeburt und damit auf die Gnade hin zu entparadoxieren. Ich wähle damit einen punktuellen Ansatz für meine Überlegungen, möchte aber zum Schluss meines Beitrages wenigstens in Stichworten noch andere Möglichkeiten einer solchen Transformation des Modells monastischer Selbstanimation und damit des Paradigmas der Askese ansprechen. IV. Diskursivierung in der Predigt Predigten betreiben nicht nur die Auslegung von Schriftworten. Sie haben eine Informationsfunktion im etymologischen Sinne des Wortes – informare als Vermittlung einer inneren Form.20 Sie bilden also in dem komplexen Medialisierungsprozess, in dem der Literalsinn der Schrift in eine Bildwelt transformiert wird, die wiederum in der klösterlichen Rezeption zur Habitualisierung und zur Inkorporierung der kulturellen Muster und Schemata dient – in diesem religiösen Medialisierungsprozess bilden Predigten zentrale Schnittstellen diskursiver Verhandlung und performativer Aneignung religiöser Bilder und Deutungsmuster.21 Dabei spreche ich bereits von Predigten im Rahmen religiöser Seelsorge, denn so sehr sich auch solche Predigten als mediale Schnittstellen verstehen lassen, so wenig müssen sie den Prozess jener informatio erst begründen. Sie setzen diesen ebenso bereits voraus wie den Rahmen der Liturgie, der religiösen Normen und die unablässige Einübung in die Struktur des überlieferten und gleichwohl stets neu
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das Gedicht an manchen Stellen wie ein ferner, gebrochener Reflex des Narzißliedes Heinrichs von Morungen. Vgl. Paul Celan: Gedichte in zwei Bänden, Bd. 1: Mohn und Gedächtnis; Von Schwelle zu Schwelle; Sprachgitter; Die Niemandsrose, 12. Aufl. Frankfurt a. M. 1995 (Bibliothek Suhrkamp 412), S. 75. Vgl. beispielsweise bei Alanus von Lille: Summa de arte praedicatoria. In: PL 210, Sp. 109– 198, hier Sp. 111 C bis D (Cap. I): Praedicatio est, manifesta et publica instructio morum et fidei, informationi hominum deserviens, ex rationum semita, et auctoritatum fonte proveniens. Vgl. auch Marianne G. Briscoe/Barbara H. Jaye: Artes praedicandi and Artes orandi, Turnhout 1992 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental 61), S. 21. Mit dem Begriff der Medialisierung möchte ich weniger die Predigt als Kommunikationsmedium im Sinne des Trägers einer Botschaft verstehen. Es geht vielmehr um einen interaktiven Vermittlungsprozess, der die Transformation von Einstellung und Haltung zum Ziel hat. Wenn ich hier das Kloster als privilegierten Ort eines solchen Transformationsgeschehens anspreche, will ich damit keineswegs die Predigten Taulers historisch auf Klosterkirchen begrenzen. Die öffentliche Predigt der Dominikaner im urbanen Kontext verstehe ich vielmehr als gezielte Entgrenzung der Klosterkultur und damit als Urbanisierungsphänomen, in dem Modelle des geistlichen Lebens auch für Laien außerhalb der Klostermauern Bedeutsamkeit erlangten. Mit diesem Medialisierungsbegriff beziehe ich mich auf Christian Kiening: Medialität in mediävistischer Perspektive. In: Poetica 39 (2007), S. 285–352.
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zu aktualisierenden und auszudeutenden Glaubenssystems. Diese Referentialisierung auf die pragmatischen und diskursiven Kontexte einer religiösen Bildungskultur zeichnet gerade die Predigten Taulers aus, insofern sie weniger die theologischen Deutungsmuster als die performativen Prozesse ihrer Aneignung und Realisierung verhandeln. Die Predigt Ascendit Jhesus in naviculam que erat Symonis (Vetter Nr. 41), die sich auf Lk. 5,1 bezieht, leistet genau dies, indem sie die Auslegung des Schriftwortes zur Konstruktion eines mystischen Stufenwegs nutzt, mit dem sie zugleich die Strukturen religiösen Wissens neu formatiert.22 Das fünfte Kapitel des Lukasevangeliums hat zweifellos den Charakter eines Narrativs. Es setzt mit der Lehre Jesu am See Gennesaret ein; er sieht Boote am Ufer liegen, während die Fischer ihre Netze waschen. Jesus steigt in das Boot des Simon und bittet ihn, ein Stück weit vom Land weg zu fahren. Im Anschluss an seine Rede fordert er die Fischer auf, erneut auf den See hinaus zu fahren und ihre Netze auszuwerfen. In der Auslegung werden die Leitworte dieses Schriftzitats auf ihren spirituellen, mystischen Sinn hin befragt, um dadurch zur Chiffre einer aktualisierenden Lektüre zu werden. Damit wird die narrative Struktur des Evangeliums offenbar abgewiesen. Das Narrativ wird nicht auserzählt, es wird abgebrochen und bleibt damit auf der Ebene eines Geschehens, das ausgelegt wird. Nach einer einleitenden Passage über die Kontingenz der Welt – das Schiff fährt in dem sorgenvollen, wütenden Meer dieser beängstigenden Welt, die in ständigem Wechsel befangen ist: nu liep nu leit, nu sus nu so (170,17–18) – wendet sich der Prediger seiner Materie zu: duc in altum, übersetzt aber altum nicht mit ‚weit‘, sondern mit ‚hoch‘ und lenkt damit die Ausführungen direkt auf jene vertikale Dimension, die für den Gedanken einer der Kontingenz der Welt entfliehenden Aufstiegsmystik konstitutiv ist.23 Noch vor den eigentlichen Stufen des Aufstiegs, die mehr Grade der Nähe als Stadien der Annäherung sind, sei das gemüete des Menschen in die Höhe zu führen – weit über alle Kreatürlichkeit hinaus. Dieses Motiv der Weltflucht, der Apotaxis, ist paradox gebaut – das ist nicht nur die Einsicht von Systemtheoretikern, sondern dient der Predigt selbst als generierendes Prinzip ihrer Argumentation.24 Als 22
23 24
Vgl. Predigten Taulers (Anm. 5), S. 170–176. Eine textkritische wie textanalytische Untersuchung dieser Predigt bietet Paul Michel: „Agamemnon“ unter den Gottesfreunden. Editionsprobleme der germanistischen Mediävistik anhand einiger Beispiele bei Johannes Tauler. In: FIMFCHUSTIM. Fona fimfchur tim. FS für Stefan Sonderegger zum 50. Geburtstag am 28. Juni 1977. Hrsg. von Robert Hinderling/Viktor Weibel, Bayreuth 1978 (Bayreuther Beiträge zur Sprachwissenschaft 1), S. 137–184. Zum Spiel mit der Homonymie von altum vgl. Michel (Anm. 22), S. 153. Vgl. Peter Fuchs: Die Weltflucht der Mönche. Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens. In: Reden und Schweigen. Hrsg. von Niklas Luhmann/Peter Fuchs, Frankfurt a. M. 1989 (stw 848), S. 21–69, hier S. 24 f.: „Die These […] lautet: Apotaxis (Weltflucht) ist Paradoxieeffekt und selbst paradox gebaut. Sie erzeugt unweigerlich, was sie vermeiden will; sie stößt sich von Immanenz ab und produziert sie eben damit.“
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die Fischer das Netz erneut auswerfen, ist ihr Fang so ergiebig, dass die Netze reißen – das Netz als Metapher einer Fülle, die vor der Auferstehung nur im Vorgriff gewährt wird. Was ist also dieses Netz, das der Herr auszuwerfen hieß? Dis netz das man us sol werfen, das ist der gedank: dis gehúgnisse des menschen das sol der mensche zem ersten us werfen in heiliger betrachtunge und sol mit ganzem flisse fúr sich nemen alle die materien die in ze heiliger andacht reissen oder neigen múgen: das hochwirdig leben und liden und die heilige minnekliche wandelunge und werk unsers lieben herren, und sol sich dar in als tief erbilden daz im die minne und die liebe durch ge alle e e sine krefte und sine sinne mit also grosser minne und froiden das er die froide nút verbergen enmúge, si breche us mit einem jubilieren. (171,16–23). (Dieses Netz, das man auswerfen soll, das ist das Denken: Diese Erinnerung des Menschen, die soll der Mensch zuerst in heiliger Betrachtung auswerfen und soll sich mit ganzer Sorgfalt alle Gegenstände vornehmen, die ihn zu heiliger Andacht anzuregen oder hinzuführen vermögen – das hochwürdige Leben und Leiden, den heiligen und lieblichen Wandel und das Wirken unseres lieben Herren. Der Mensch soll sich darin so intensiv vertiefen, dass ihm die Liebe und das Wohlgefallen alle seine Kräfte und Sinne mit solch heftiger Liebe und solcher Freude durchziehen, dass er die Freude nicht verbergen kann und sie im Jubilieren ausbricht.)
Der Text beschreibt eine Übung der Kontemplation, die in Akten der memoria begründet ist – die Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte als imaginiertes Heilsgeschehen. Das Ziel dieser Übung ist aber nicht Andacht im Sinne eines mentalen Prozesses vergegenwärtigender Erinnerung des in der Schrift vermittelten Lebens, Leidens und Wirkens des Herrn. Die Exerzitien einer solchen imaginativen Vergegenwärtigung zielen vielmehr auf einen Prozess des Erbildens, der habituellen Angleichung und Einbildung.25 In einem solchen Prozess lässt sich die Lektüre der Schrift im Sinne Largiers als Animation verstehen, die in realer Weise die sinnliche Erfahrung von Liebe und Freude evoziert und damit jenen Aneignungsvorgang überschreitet, dem sie sich verdankt. So wird der Prozess der Lektüre in einen Prozess der Inkorporierung transformiert, in dem Liebe alle Seelenkräfte und Sinne des Menschen mit einer solchen Intensität durchzieht, dass man die Freude nicht verbergen kann – also alle vorhergehenden Habitualisierungen durchgestrichen werden – und die Freude im jubilus ausbricht. Wenn Liebe nicht nur das Thema der Lyrik ist, sondern in ihrer Sinnlichkeit geradezu zum Klang drängt, in ihm ihre adäquate Artikulation findet, so dass Sinn auf spannungsreiche Weise in Sinnlichkeit aufgeht wie die Liebe im Klang, und der Begriff einer „lyrischen Präsenz“26 darin sein Recht 25 26
Zu înbildunge als Interpretament zu habitus vgl. etwa „Vocabularius Ex quo“. Überlieferungsgeschichtliche Ausgabe. Gemeinsam mit Klaus Grubmüller hrsg. von Bernhard Schnell u. a., Bd. 3: Text D-K, Tübingen 1988 (Texte und Textgeschichte 24), S. 1188. Vgl. Bleumer (Anm. 1), S. 53 (hier bezogen auf den Klang des Namens Îsôt).
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hat – dann scheint mir der Bezug zu einer solchen Praktik der Kontemplation, in der die Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens in der sinnlichen Erfahrung der göttlichen Liebe einen nicht zurückzuhaltenden Jubel freisetzt, der in seiner Modalität das Prinzip der Emergenz selbst performativ realisiert, mehr als evident. V. Zirkulation religiöser Deutungsmodelle Der kulturelle Kontext, auf den die Predigt sich mit diesem Entwurf bezieht, ist aber selbst symbolisch kodiert und nur in der Mittelbarkeit seiner Literarisierung kenntlich. Langer hat grundlegend den intertextuellen Zusammenhang der dominikanischen Predigt zu den Schwesternbüchern der Dominikanerinnen zum Thema gemacht und den jubilus nach dem Kirchberger Schwesternbuch und die Vorbehalte Eckharts ausführlich untersucht.27 Wenn ich kurz diese dominikanischen Nonnenviten28 als Referenzpunkt heranziehe, möchte ich allerdings nicht das Modell der cura monialium revitalisieren und damit die These bestätigen, dass es Aufgabe der gelehrten Predigerbrüder gewesen sei, die affektive Spiritualität der Klosterfrauen im Zuge ihrer Seelsorge zu kanalisieren.29 Vielmehr geht es in diskursgeschichtlicher Absicht darum, die Zirkulation und Diskussion unterschiedlicher religiöser Deutungsmodelle aufzuzeigen. Auch die Nonnenviten sind in ihrer Funktion zu lesen, an der Diskursivierung klösterlicher Lebensformen mitzuwirken; und in ihnen wirken auch religiöse Konzepte nach, die durchaus mit denen der dominikanischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts in Konkurrenz standen.30 Nicht zuletzt aber verwenden Nonnenviten narrative Muster. Wie sehr in der Vitenliteratur das narrative Verfahren der Biographisierung als Medium einer solchen Konzeptualisierung genutzt wird, lässt sich besonders in der ersten Vita der Dominikanerinnen von Kirchberg, der Vita Vgl. Langer (Anm. 4), S. 149–150 u. 232–234. Sabine Jansen: Die Texte des Kirchberg-Corpus. Überlieferung und Textgeschichte vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Köln 2005. 29 Zur cura monialium vgl. jetzt Loris Sturlese: Meister Eckhart und die cura monialium. Kritische Anmerkungen zu einem forschungsgeschichtlichen Mythos. In: Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt. Hrsg. von Andrés Quero-Sánchez/Georg Steer, Stuttgart 2008 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 2), S. 1–16. Vgl. auch Dagmar Gottschall: Nikolaus von Straßburg, Meister Eckhart und die cura monialium. In: Quero-Sánchez/Steer (s. o.), Meister Eckharts Straßburger Jahrzehnt, S. 95–118. Meines Erachtens trifft die Kritik Sturleses an Langer nur einen Teilaspekt. Es geht bei dem Verhältnis der deutschen Predigten Eckharts zur Vitenliteratur der Dominikanerinnen um einen diskursgeschichtlichen Referenzrahmen, nicht um historische Kontakte. 30 Zu den unterschiedlichen Ausformungen des Konzepts des mystischen jubilus vgl. bes. die genannten Arbeiten von Grundmann (Anm. 15) und daran anschließend Fuhrmann (Anm. 15). 27 28
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der Werntraud von Büren, aufzeigen. Diese Vita wechselt gerade an der Stelle das Register, an der dieser Schwester die Gnade des jubilus, zu dem sie mit irem steten fleisz gekommen sei, zugeschrieben wird.31 Die Vita geht genau an diesem Punkt in eine allgemeine theoretische Abhandlung über den jubilus über, der dezidiert als Gnade benannt wird. Die Inszenierung der Heiligkeit eines Lebens bricht unvermittelt um in die Verhandlung ihrer logischen Bedingungen: Wer zu dieser Gnade gelangen wolle, der müsse gänzlich frei sein im Herzen und im gemüete (derselbe Begriff wie bei Tauler) von aller Anhaftung an vergängliche Dinge und müsse völlige, unvermischte Reinheit besitzen. Mit dieser Forderung nach Reinheit bezieht sich die Vita auf das Schema eines Aufstiegs, der in der purgatio seinen Anfang nimmt.32 Im selben lehrhaften Duktus definiert die Vita auch den jubilus selbst: Aber was die genad jubilus seÿ, das merkt: Es ist ein genad, die vnmeszig ist vnd als grosz, das sie nÿman versweigen mag vnd das sie doch niemant volkumenlich gesagen kan an suszigkeit, die so vberfluszig ist, das hercz, sel vnd gemut vnd alle die adern des menschen durch goszen werden mit vnseglicher suszikeit so volicklichen, das nieman so zuchtig ist, der sich enthalten mug in diser genad. Volkummene mÿnne, durch leuchtet in der genad mit gotlichem licht, das ist jubilus.33 (Aber was die Gnade des jubilus sei, das merkt. Es ist eine Gnade, die maßlos ist und so groß, dass sie niemand verschweigen kann und dass sie doch in ihrer Süßigkeit niemand vollkommen aussprechen kann, und die so überfließend ist, dass Herz, Seele und Geist und alle Adern des Menschen durchgossen werden mit unsäglicher [!] Süßigkeit so gänzlich, dass niemand so erzogen ist, dass er sich in dieser Gnade zurückhalten könnte. Vollkommene Liebe in der Gnade mit göttlichem Licht durchleuchtet – das ist jubilus.)
Hier leistet die Vita selbst wiederum auf poetische, wenn nicht emphatische Weise Arbeit am Begriff. Es ließe sich ein weiter Traditionshintergrund aufspannen; es war, so Grundmann, Augustinus, der den jubilus als Singen des Herzens und als Ausbruch einer unsagbaren Freude bestimmte, die sich mit Worten nicht ausdrücken und doch gleichzeitig nicht verschweigen ließe und mit der Stimme bezeugt werde.34 Auch im jubilus, den Augustinus
Vgl. Jansen (Anm. 28), S. 98. Jansen beschreibt den jubilus als Ausdruck mystischer Ekstase und als Ausgangspunkt eines Aufstiegsschemas, das allerdings im Kirchberger Schwesternbuch vage bleibe. Vgl. Jansen (Anm. 28), S. 84–87. 33 Jansen (Anm. 28), S. 145 f. 34 Vgl. Grundmann (Anm. 15), S. 136 und jetzt Fuhrmann (Anm. 15), bes. S. 10–13 u. 101–117. Siehe bereits die Hinweise bei Grete Lüers: Die Sprache der deutschen Mystik des Mittelalters im Werke der Mechthild von Magdeburg, München 1926. Unveränderter reprografischer Nachdruck Darmstadt 1966, S. 202 f., mit Verweisen auf die Psalmenerklärung bei Augustinus und Thomas von Aquin. Entsprechend Heinrich Seuse in der Vita: wan jubilieren ist ein froede, daz dú zung nit gesagen kan, und es doch herz und sel krefteklich durgússet. Nach: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften. Im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte hrsg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907, S. 173. 31 32
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offensichtlich auch in Liebesliedern weltlicher Provenienz verortete,35 emergiert der Sinn in Klang und Sinnlichkeit, auch hier artikuliert sich die Liebe nicht in der semantischen Differenz, sondern in paradoxer Weise in der stimmlichen Unmittelbarkeit.36 Und schließlich ist es die ästhetisch-sinnliche Qualität der Süße, die einem realen Erfahrungsgehalt entspricht und in dieser Vita als Gnade verstanden wird, die den Prozess der Selbstreinigung an sein Ziel führt und zugleich die Erfahrung der vollkommenen Liebe als Gabe, als ein vom Anderen Herkommendes, ausweist. Die liturgische Einbindung einer solchen alles überfließenden Freude kommt im Kirchberger Schwesternbuch ebenso zur Geltung wie die Reduktion auf die pure Vokalität im unkontrollierten und unfreiwilligen schreÿen, in dem sich der Empfang vberflussiger suszikeit äußert und zugleich unsagbar bleibt.37 Der Präsenzeffekt dieses Lautes kann in der Narration der Vita zwar in seinen Auswirkungen beschrieben, in seiner Intensität aber erzählerisch nicht unmittelbar eingeholt werden. Die Pointe liegt in präsenztheoretischer Hinsicht auf der Hand: Die Freude göttlicher Gegenwärtigkeit in der Fülle der Liebe repräsentiert sich nicht im Ausbruch des jubilus, sie ‚ist‘ dieser Laut; und genau dieser Effekt ist dem narrativen Text selbst verschlossen. Stattdessen weicht die Erzählung auf die Auswirkungen dieses Übermaßes an Erleuchtung und göttlicher Erkenntnis aus, indem sie berichtet, dass die betroffene Schwester (Elisabeth von Öttingen) in den Chor lief, um ihr Haupt im Altar zu bergen: die doppelte Bewegung von Verkünden und Verbergen. Damit fügt sie sich genau jenem Ort ein, an dem sich die Wandlung schlechthin vollzieht, und macht so den Altar, bleibt man bei dem Ausbruch des jubilus im ungezügelten Laut, zum liturgischen Klangraum jener ekstatischen Freude, in der die vollkommene, vom göttlichen Licht durchflutete und gnadenhaft gewährte Liebe gegenwärtig ist.38 Und so, wie die Dramatisierung einer solchen konkreten, zeitlich gebundenen, sinnlichen Erfahrung nach Largier zu Recht als Effekt eines Prozesses der 35 36
37 38
Vgl. Grundmann (Anm. 15), S. 136, Anm. 2. Zur Bedeutung von Klanglichkeit in Texten der Frauenmystik vgl. Andrea Zech: Die zirkuläre Konstruktion von „Schmerz und Genuss“ in den ‚Offenbarungen‘ Elsbeths von Oye, Staatsarbeit Freiburg 2006, aus der ihr 2008 begonnenes Promotionsprojekt ‚Genuss und Genießen in der Frauenmystik des 13. Jahrhunderts‘ hervorgegangen ist (zum Hinweis auf das von Kurt Ruh angemahnte Forschungsdesiderat vgl. Burkhard Hasebrink: „Ich kann nicht ruhen, ich brenne“. Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun/Christopher Young, Berlin, New York 2007 [TMP 12], S. 91–107, hier S. 107). Ich danke Andrea Zech sehr herzlich für die bereichernden Diskussionen. Vgl. Jansen (Anm. 28), S. 153. Zum Ausbruch des jubilus im Schrei vgl. Grundmann (Anm. 15), S. 154; Fuhrmann (Anm. 15), S. 301 (mit Berufung auf David von Augsburg). Zum häufigen jubilus bei Mechthild von Waldeck, einer weiteren Schwester aus den Kirchberger Nonnenviten, als Ergebnis großer Andacht, beständigen Begehrens, göttlicher Liebe und der Empfindung Gottes in der Seele vgl. Langer (Anm. 4), S. 144.
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Schriftlektüre und der sinnlichen Aktualisierung ihres Bildgehaltes verstanden werden kann – wobei ich vorschlagen würde, über die Praxis monastischer Lektüre hinaus auch andere Formen der Habitualisierung und Inkorporierung mit in das Modell der Induzierung religiöser Erfahrung aufzunehmen –, so lassen sich auch die Viten als literarische Katalysatoren einer solchen experimentellen Kultur begreifen, die sich wiederum in den medialen Prozess jener habituellen Transformation einreihen, den Tauler wie bereits vor ihm Meister Eckhart als erbilden bezeichnet hatte. Ich beschränke mich auf diese knappen Hinweise zum mystischen jubilus, ohne damit eine historische Semantik dieses Begriffs bieten zu können, für die die Forschungen Grundmanns noch immer Ausgangspunkt sind. Dabei ist der Kritik Langers zuzustimmen, der auf ältere Arbeiten verweisend die Notwendigkeit hervorhebt, sich nicht allein auf den Terminus des jubilus zu beschränken, sondern die entsprechenden Traditionszusammenhänge zu untersuchen – eine Forderung, die heute als Grundbedingung einer diskursanalytisch begründeten historischen Semantik zu nennen ist.39 Ich beschränke mich auch bewusst auf die Verwendung als Lehnwort, um zumindest modellhaft die Funktion dieses Terminus im Kontext volkssprachiger Klosterliteratur zu skizzieren. Zudem wäre es meines Erachtens sehr aufschlussreich, von hier aus einen Bogen zu den hymnischen Lobgesängen etwa im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg zu schlagen, um zu fragen, wie in ihnen die Unsagbarkeit jener überwältigenden Fülle der Liebe ihre sprachliche Umsetzung erfährt.40 Zu nennen wäre beispielsweise die Preisung Gottes im ersten Buch des Fließenden Lichts der Gottheit, wenn Gott als unerschöpflicher Brunnen, als unfassbare Höhe, als unermessliche Klarheit und als unergründliche Weisheit gerühmt wird (I,8). Hier erscheint der jubilus zum Hymnus literarisiert; und wenn die Seele Gott als hohen Felsen preist (I,14), der so schön durchhöhlt ist, dass in ihm außer Tauben und Nachtigallen niemand nisten kann, dann ist, ähnlich wie im Literaturexkurs des Tristan Gottfrieds von Straßburg, über das Bild der Nachtigall das lyrische Sprechen evoziert.41 Der jubilus bleibt also an Sinnlichkeit, Klanglichkeit 39
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Vgl. Langer (Anm. 4), S. 149. Langer hebt hier hervor, dass der Begriff des jubilus keineswegs ein Zentralbegriff der Nonnenviten insgesamt sei. Andererseits scheint mir aber seine Folgerung zu weitgehend, von einem „spezielle[n] Terminus der Verfasserin des Kirchberger Nonnenbuchs“ zu sprechen. Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von Gisela VollmannProfe, Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek Deutscher Klassiker 181; Bibliothek des Mittelalters 19). Mir scheint jedoch in diesem Kontext besonders wichtig, die kompositorische Anlage des Fließenden Lichts der Gottheit insgesamt im Blick zu behalten, da sich die hymnisch-lyrischen Passagen bekanntlich in den ersten beiden Büchern verdichten. Vgl. jetzt den Beitrag von Sandra Linden in diesem Band. Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von Friedrich Ranke, Dublin, Zürich 1968, V. 4751–4820. Zur Signatur der Nachtigall mit Blick auf den Tristan vgl. Bleumer (Anm. 1),
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und die Erfahrung einer Fülle gebunden, deren Überfließen nicht übersehen lässt, dass diese ästhetische Intensität selbst wiederum die Hervorbringung eines komplexen Medialisierungsprozesses darstellt, der über die Animierung der inneren Sinne bis hin zu einer völligen Habitualisierung des inneren Menschen führt. VI. Transgression der Simulation An dieser Stelle bietet die Taulerpredigt einen abrupten und im Rahmen dominikanischer Lehre nicht überraschenden Perspektivenwechsel. Doch sie vollzieht nicht einfach eine Antithese, sondern eher eine Transgression. Gelassenheit, Läuterung, Verklärung und damit Gottförmigkeit müssen über den Grad des jubilus hinausgeführt werden.42 Das Konzept des Erbildens im Sinne einer intensiven, affektiven Andacht, die in einer Praxis unablässigen Einübens, und das meint Askese, den Effekt einer realen sinnlichen Erfahrung erzeugt, erscheint gegenüber den Ansprüchen einer vollkommenen deiformitas defizitär. Man könnte gegen das Modell Largiers einer rhetorischen Induzierung der sinnlichen Erfahrung Gottes einen gleichsam metaphysischen Einwand gelten machen und damit die Kunst des Begehrens in den mittelalterlichen Klöstern deutlich von modernen und postmodernen Kultformen sinnlicher Erfahrung abgrenzen. Doch wichtiger scheint mir die Auseinandersetzung mit einem solchen Modell sinnlicher Erfahrung in der spätmittelalterlichen geistlichen Literatur selbst. Denn die Predigt fährt nach den Ausführungen zum jubilus fort: Sol der mensche werden uswendig und inwendig ein gelassen mensche und gelútert, und inwendig ein verklert mensche, den S. Dyonisius nemmet ein verklert, gotformig mene e sche, so můs sin schif verre me in der hohi gefurt werden, das ist: der mensche kumet dar zů das im alles das enphellet das die nidersten krefte begriffen múgen: alle die heiligen e gedenke und die minneklichen bilde und die froide und jubel und was im von Gotte ie geschenket wart, das dunket in nu alles ein grob ding, und wirt dannan us alzemale getriben, also das ime das nút ensmakt noch enmag da bi nút bliben, und dis enmag er nút, und des in lust, des enhat er nút, und also ist er enzwischen zwein enden und ist in grossem we und getrenge. (171,25–34) (Soll der Mensch äußerlich und innerlich ein gelassener und gereinigter und innerlich ein verklärter Mensch werden, den der heilige Dionysius einen verklärten, gottförmigen Menschen nennt, so muss sein Schiff weit mehr in die Höhe gelenkt werden. Das bedeutet: Der Mensch erreicht, dass ihm alles das verloren geht, was die niedersten Kräfte begreifen können: die heiligen Vorstellungen und die lieblichen
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S. 40. Vgl. auch den Prolog des Trojanerkriegs Konrads von Würzburg. In: Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg. Nach den Vorarbeiten von K. Frommanns und F. Roths. Hrsg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1858. Nachdruck Amsterdam 1965, V. 188–205. Vgl. Grundmann (Anm. 15), S. 158 f.; Fuhrmann (Anm. 15), S. 314 f.
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Bilder und die Freude und der Jubel; und was ihm je von Gott geschenkt wurde, das erscheint ihm nun alles als eine unangemessene Sache und wird deshalb gänzlich ausgetrieben, so dass ihm das nicht schmeckt noch bleiben kann. Doch dies gelingt ihm nicht, und worauf er Lust hat, das hat er nicht. So befindet er sich zwischen zwei Polen und ist in großem Schmerz und Zwiespalt.)
Diesmal bezieht sich die Forderung nach Gelassenheit nicht allein auf alles Weltliche und Kreatürliche, sondern auf die in neuer Innerlichkeit gewonnene Sinnlichkeit selbst – auf dieser Stufe ‚entfallen‘ dem gelassenen Menschen bilde, fröide und jubel. Gelassenheit hatte auf der ersten Stufe den mystischen jubilus ermöglicht; jetzt übersteigt sie diesen, wobei Tauler als Autorität Dionysius Areopagita heranzieht. Dionysisus fasst in seiner Schrift De mystica theologia die absolute Transzendenz Gottes im Begriff des ‚überhellen Dunkels‘.43 Damit bestimmt er zugleich den höchsten Punkt in der Erkenntnis des Transzendenten, in dem sich die höchsten Geheimnisse in einer nicht-erkennenden Erkenntnis enthüllen. In dieser nicht-erkennenden Erkenntnis gelangt der Geist im Heraustreten, der Ekstasis, zur Einigung, „bildhaft zum ‚überwesentlichen Strahl des göttlichen Dunkels‘“.44 Der Grad des getrenge, der innere Bedrängnis und Finsternis meint, in dem Freude und Jubel als ‚grobe Dinge‘ erscheinen, ist somit nicht der letzte Zielpunkt der Vereinigung mit dem Göttlichen, die Tauler als úbervart (transitus) bezeichnet.45 Aber es ist dieser Grad des getrenge, in dem die sinnliche Erfahrung der Gegenwärtigkeit Gottes als das erkannt wird, als das sie Largier etabliert: als Animation, als Dramatisierung, als Artifizialität, als Effekt. Das Sinnliche wird auf diesem Grad nicht als Teilhabe am Göttlichen begriffen, sondern als dessen Verfehlung. In der Bedrängnis dieses Grades erfährt der Mensch nach Tauler die intensive Spannung einer solchen Induzierung sinnlicher Präsenz. Ist aber das Schiff in die Höhe geführt, und steht der Mensch in dieser Not der Verlassenheit, dann steht, so Tauler, in ihm diese Bedrängnis erst auf und die überwunden geglaubte Unseligkeit greift ihn in heftigem Sturm an. Diese Finsternis müsse der Mensch durchleiden, damit sich in ihm die göttliche Geburt und damit die eigentliche Gabe wahrhaft vollziehen kann – das ist ein anthropologisches Modell doppelter Negation, das die Seelenkräfte des Menschen abgeleitet denkt aus dem Seelengrund, der in einem Versinken über die Vernunft hinaus mit dem göttlichen Abgrund 43 44 45
Vgl. Dionysius Areopagita: De mystica theologia. In: PG 3, Sp. 997–1064, hier Sp. 998 B (Cap. I): in caligine plus quam lucente. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, S. 59. Zu jubilacio, getrenge und úbervart vgl. Louise Gnädinger: Johannes Tauler. Lebenswelt und mystische Lehre, München 1993, S. 160–169. Vgl. auch Alois M. Haas: Struktur der mystischen Erfahrung. In: Ders., Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, Freiburg/Schweiz 1979 (Dokimion 4), S. 272–295, hier S. 290 f.
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eins ist.46 Gelassenheit von allen Dingen erfüllt sich in diesem Modell nicht in einem sinnlich qualifizierten Empfindungsprozess – ich erinnere daran, wie Hans Ulrich Gumbrecht in Diesseits der Hermeneutik eine, wie er schreibt, „bewußt anschauliche Formulierung“ für sein Verständnis von Gelassenheit wählt und „von dem Gefühl“ spricht, „daß man im gleichen Rhythmus schwingt wie die Dinge dieser Welt.“47 Tauler hingegen entwirft Gelassenheit als Kalkül permanenter Überschreitung und benennt das Wechselspiel von Gegenwärtigkeit und Simulation als Bedingung der Möglichkeit von Einheit: Viele Menschen, die in einer solchen inneren Armut stünden, suchten immer etwas anderes, mit dem sie dem getrenge entgehen könnten.48 Oder sie gehen, um zu klagen oder Lehrer zu fragen, und werden noch mehr verwirrt. Stattdessen empfiehlt er, bei sich selbst zu bleiben und dieses Leiden ohne jeden Zweifel zu durchleben, denn nach der Finsternis komme der helle Tag. Die Koinzidenz von Helle und Dunkelheit erscheint hier prozessualisiert. Keinen Trost zu suchen und Gott alles zu überlassen sei der sicherste und kürzeste Weg zur göttlichen Geburt, die sich ohne Mittel vollziehe. Es ist signifikant für Taulers Predigten, das Spannungsreiche und Unabschließbare im Verhältnis von Wegstruktur und Unmittelbarkeit immer wieder vergessen zu machen. Die Taulerlektüre möchte ich hier nicht über diese Stelle hinausführen. Meine Absicht war es, sie in den Kontext der Debatte um Präsenz und präsentisches Sprechen zu setzen. Ausgangspunkt war die These vom „lyrischen Präsenzversprechen“49 und dessen Einlösung im Klang. Diese These wird sicher weit über die Literaturwissenschaft hinaus diskutiert werden. Empfindungen sind jedoch nicht bereits deswegen unmittelbar, weil sie nicht hermeneutisch sind oder sich nicht rational kontrollieren lassen. Doch zielte meine Argumentation nicht auf eine kognitionswissenschaftliche oder neurophysiologische Ebene, auch wenn die Diskussion um die Funktion der sinnlichen Wahrnehmung für eine Präsenzkultur von einer solchen Verbindung wahrscheinlich profitieren würde. Ich wollte vielmehr mit dem mysti46 47 48
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Vgl. Bernard McGinn: The Problem of Mystical Union in Eckhart, Seuse, and Tauler. In: Meister Eckhart in Erfurt. Hrsg. von Andreas Speer/Lydia Wegener, Berlin, New York 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 538–553, hier S. 547. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Übersetzt von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2004 (es 2364), S. 138 (Hervorhebung i. Original). Zum Begriff der Gelassenheit bei Tauler vgl. Stefan Zekorn: Gelassenheit und Einkehr. Zu Grundlage und Gestalt geistlichen Lebens bei Johannes Tauler, Würzburg 1993 (Studien zur systematischen und spirituellen Theologie 10); Markus Enders: Gelassenheit und Abgeschiedenheit. Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008 (Boethiana. Forschungsergebnisse zur Philosophie 82) und die Untersuchung gegenläufiger Semantisierungsstrategien bei Imke Früh: Im Zeichen und im Kontext von Gelassenheit. Semantisierungsstrategien in den Predigten Johannes Taulers. In: Hasebrink/Bernhardt/Früh (Anm. 14). Vgl. Bleumer (Anm. 1), S. 22.
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schen jubilus ein Konzept ansprechen, das in eminenter Weise mit einer vergleichbaren Präsenzverheißung verbunden ist und in der Vorstellung eines wortlosen Jubels die phonetische Bindung an die Sprache sogar aufgibt, wobei dabei besonders die hymnischen Reinszenierungen eines solchen jubilus von Interesse wären. Zugleich wollte ich an die dominikanische Kritik am jubilus erinnern, um mit dem Grad von getrenge eine Transgression zu Wort kommen zu lassen, die Präsenz nicht in Klang und Empfindung sucht, sondern in einer „Arbeit der Nacht“.50 Ich belasse es bei diesem bildhaften Ausdruck; es geht um Bewegungen der Negation, die auch für eine moderne ästhetische Theorie in Anschlag zu bringen sind, die Kunst auf Dissonanz und damit dem Nicht-Schönen gründet. Mit dem getrenge nimmt Tauler eine solche Dynamik der Erkenntnis durch Entfremdung in den Blick, um die Präsenzerfahrung in der Sinnlichkeit zu einer úbervart in den Abgrund der Ununterschiedenheit zu transformieren.51 Eine Kritik an einer Verkürzung innerer Armut hatte vor Tauler auch Meister Eckhart geübt, als er sich polemisch von der Ansicht abgesetzt hatte, innere Armut bestünde in der Abgeschiedenheit von allen weltlichen Dingen und zugleich im Besitzen und Haben Gottes. Eine solche Präsenz Gottes für wahre innere Armut zu halten, hält die Armutspredigt explizit für Dummheit. Im Sinne der Armutspredigt ist erst der Mensch wahrhaft arm, der nicht weiß, dass Gott in ihm wirkt: er sol alsô quît sîn alles wizzennes, daz er niht enwizze noch enbekenne noch engevüele, daz got in im lebe („Er soll so ledig sein allen Wissens, dass er nicht wisse noch erkenne noch empfinde, dass Gott in ihm lebt“).52 In einem solchen Denken dementiert die sinnliche Erfahrung geradezu die konstitutive Einheit und Ununterschiedenheit von Gott und Mensch im Ich des ersten Grundes. Es sucht auch nicht die Anwesenheit eines Abwesenden, nicht die Vergegenwärtigung eines Vergangenen, nicht die Darstellung eines Undarstellbaren, nicht die Berührung eines Anderen, sondern geistige Abgeschiedenheit in der Einheit gänzlicher Ununterschiedenheit. Seine Kritik einer solchen sinnlichen Vergegenwärtigung Gottes hatte Meister Eckhart bereits in den frühen Erfurter Reden formuliert, d. h. jenen Ansprachen zur klösterlichen Unterweisung, die Ende des 13. Jahrhunderts 50 51
52
Vgl. Alois M. Haas: „Die Arbeit der Nacht“. Mystische Leiderfahrung nach Johannes Tauler. In: Die dunkle Nacht der Sinne. Leiderfahrung und christliche Mystik. Hrsg. von Gotthard Fuchs, Düsseldorf 1989, S. 9–40. An dieser Stelle möchte ich Paul Michel sehr herzlich für die gemeinsame (Re)lektüre dieser Predigt danken, bei der mir erst deutlich wurde, wie sehr die ‚dritte Stufe des Aufstiegsweges‘ selbst wiederum aus stets neuen ‚Aufschwüngen‘ besteht, mit denen die Predigt den beschriebenen Prozess selbst performativ inszeniert. Meister Eckhart: Beati pauperes spiritu (Predigt 52), mit einer Übersetzung von Kurt Flasch. In: Lectura Eckhardi. Predigten Meister Eckharts von Fachgelehrten gelesen und gedeutet. Hrsg. von Georg Steer/Loris Sturlese, koordiniert von Dagmar Gottschall, Bd. 1, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, S. 168–181, hier S. 172, 27 f.
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in Erfurt entstanden sind.53 Diese Erfurter Reden sind in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen: Ich lese sie insofern als Dekonstruktion mittelalterlicher Klosterkultur, als in ihnen die Leitbegriffe des religiösen Lebens ihrer Bedeutung entkleidet und dadurch zu Signifikanten werden, die in paradoxer Weise jene Welt reproduzieren, die sie zu transzendieren vorgeben.54 Seine Kritik an sinnlich empfundener Präsenz artikuliert Eckhart im zehnten Kapitel der Erfurter Reden; und es ist für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse, dass er dabei von der Liebe ausgeht, wie Langer gezeigt hat.55 Denn zwei Dinge seien in der Liebe zu finden: das eine ist das Wesen der Liebe, das andere das Werk oder der Ausbruch der Liebe. Das Wesen der Liebe liege insofern verborgen in der Seele, als Gott im Grund der Seele verborgen liegt. Das Werk oder der Ausbruch der Liebe steche recht ins Auge, wie bei Innigkeit, Andacht oder Jubilieren – und doch ist dieser Ausbruch der Liebe im Jubilieren nicht das Beste. Man könnte von einem Authentisierungsproblem sprechen: Ein solches Wohlgefühl und süßes Empfinden komme bisweilen aus der Natur oder sei Produkt der Sinne. Und wenn ein solcher Jubel auch wirklich von Gott stamme (das Gnadenkonzept), so täte Gott das eher, um solche Menschen zu locken – wie groß die Liebe zu Gott aber ist, würde erst dadurch deutlich, dass die Menschen Gott auch dann Treue bewahrten, wenn sie nicht mehr so viele Gefühle und Empfindungen hätten. Selbst wenn also der jubilus voll und ganz Liebe sei, so sei er doch nicht das Allerbeste. „Der affektive Zustand ist also kein verläßliches Kriterium für die Präsenz Gottes.“56 Oder in der Terminologie der Abgeschiedenheit: Eckhart versteht Abgeschiedenheit nicht als Bedingung für den jubilus in der Erfahrung der göttlichen Liebe, sondern als deren Transgression. Gerade indem es die Sinne selbst sind, die diese Art der Erfahrung induzieren, verfehlen sie das, was Eckhart das 53
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Vgl. die Erfurter Reden bzw. Die rede der unterscheidunge Eckharts. In: Meister Eckharts Traktate. In: Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, Bd. 5. Hrsg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1963, S. 185–311. Zur ordensgeschichtlichen Situierung vgl. Walter Senner: Die ‚Rede der underscheidunge‘ als Dokument dominikanischer Spiritualität. In: Speer/Wegener (Anm. 46), S. 109–121. Vgl. Burkhard Hasebrink: sich erbilden. Überlegungen zur Semantik der Habitualisierung in den ‚Rede der underscheidunge‘ Meister Eckharts. In: Speer/Wegener (Anm. 46), S. 122–136. Vgl. Langer (Anm. 4), S. 232–234, hier S. 232: Eckhart „wendet sich in mehreren Argumentationsschritten gegen den Gemeinplatz, daß intensive Empfindungen, ekstatische Einheitsgefühle unverwechselbar-eindeutige Wirkungen Gottes und damit sichere Indizien der göttlichen Liebe seien.“ Ich sehe aber in dieser „radikalen Desensualisierung“ (ebd.) nicht so sehr eine Abgrenzung von der Frauenmystik, sondern, wie Langer selbst andeutet (vgl. etwa ebd., S. 165: „implizit gegen eine ganze Tradition“) grundsätzlicher eine Auseinandersetzung mit Heiligkeitsmodellen aus der monastischen Tradition und den Aufstiegmodellen des 12. Jahrhunderts. Vgl. dazu den Überblick bei Haug (Anm. 11), S. 453. Langer (Anm. 4), S. 233: Ein solches Kriterium ist vielmehr das minnewerk, das praktische Werk aus Liebe.
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Wesen der Liebe nennt. Die Präsenzeffekte der artifiziellen Animation fallen damit auf ihre eigenen medialen Bedingungen zurück, und es ist die Aufgabe der Abgeschiedenheit, solche Vermittlungen und Simulationen der göttlichen Präsenz zu übersteigen, um im Dunkel des Nichtwissens das göttliche Licht zu erkennen. Der Weg von hier aus zum höfischen Minnesang scheint weit – aber in dem, was als Authentizitätsproblem des höfischen Sangs diskutiert wurde, steckt meines Erachtens genau dieses theoretische Problem.57 Wenn man, ich darf das einmal so vereinfachen, das Lyrische als generisches Muster versteht, in dem die Liebe Klang wird, dann steht zugleich der Verdacht im Raum, dass Liebe in der Lyrik zum Effekt des artifiziellen Klangs wird. Dann schlüge aber die Rede von der lyrischen Präsenz um in ihr Gegenteil einer medial inszenierten und rhetorisch induzierten Simulation. Das Glaubwürdigkeitsproblem der höfischen Sänger – besonders Reinmar – wäre dann nur eine Maske des Legitimitätsproblems einer lyrischen Präsenz, die in ihrer kunstvollen Hervorbringung vielleicht das Werk oder den Ausbruch der Liebe darstellt, das Wesen der Liebe im Sinne Eckharts aber durch diese mediale Selbstinduzierung verfehlt. Insofern ist es auch kein Akt der Deautorisierung, wenn der Sprecher in Taulers Predigt für sich die Erfahrung eines Versinkens im ewigen Abgrund nicht in Anspruch nimmt. Er akzeptiert damit nur den Umstand, dass auch die Predigt als kommunikatives Medium der Animierung die Paradoxie einer Rede vom Transzendenten nicht ignorieren kann.
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Vgl. programmatisch Peter Strohschneider: „nu sehent, wie der singet!“ Vom Hervortreten des Sängers im Minnesang. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische-Symposien-Berichtsbände 17), S. 7–30. – Ich bedanke mich schließlich sehr herzlich bei Ramona Raab (Freiburg i. Br.) für die Unterstützung bei der Fertigstellung des Manuskripts.