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German Pages 91 [97] Year 2014
Klaus W. Hempfer
Lyrik Skizze einer systematischen Theorie
Literaturwissenschaft Franz Steiner Verlag
Text und Kontext – Band 34
Klaus W. Hempfer Lyrik
TexT und KonTexT Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft Herausgegeben von Klaus W. Hempfer Band 34
Klaus W. Hempfer
Lyrik Skizze einer systematischen Theorie
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Umschlagabbildung: Kalathos, Alkaios und Sappho, 470 v. Chr., Staatliche Antikensammlungen und Glyptothek München, Inv. 2416 Foto: Renate Kühling Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10643-6
Für Edevandro Hempfer
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ...................................................................................................... 7 1 METHODISCHE GRUNDLAGEN AKTUELLER LYRIKTHEORIEN...................................................................................... 9 1.1 Das Redekriterium ............................................................................... 11 1.2 Lyrik und Narratologie......................................................................... 16 1.3 Familienähnlichkeiten und die Theorie der Prototypen ....................... 21 2 DER LYRISCHE PROTOTYP ALS PERFORMATIVITÄTSFIKTION.................................................... 30 2.1 Sappho, Catull und die prototypisch lyrische Äußerungsstruktur ....... 30 2.2 Petrarca: „Solo e pensoso“ ................................................................... 35 2.3 Goethe: „Erwache Friedericke“ ........................................................... 39 2.4 Rimbaud: „Plates bandes d’amarantes...“ ............................................ 42 3 PROBLEME UND LÖSUNGSMÖGLICHKEITEN ................................ 46 3.1 Tendenzen zur Dialogisierung ............................................................. 46 3.2 Tendenzen zur Narrativisierung ........................................................... 51 3.3 Tendenzen zur Entsubjektivierung ....................................................... 58 4 DAS PROBLEM DER ‚AUFFÜHRUNGSSITUATION‘ ODER PERFORMANZ VS. PERFORMATIVITÄT ........................................... 61 5 SCHLUSS: DAS PROTOTYPISCH LYRISCHE ALS INTERPRETATIVES KONSTRUKT .............................................. 68 6 BIBLIOGRAFIE ........................................................................................ 71 7 ANHANG: ÜBERSETZUNGEN .............................................................. 83 8 INDEX NOMINUM .................................................................................. 89
VORWORT Die ersten Skizzen dieser ‚Skizze‘ reichen einige Zeit zurück. Ich konnte sie in verschiedenen Kontexten diskutieren und zahlreiche Einwände und Anregungen in den vorliegenden Text einbeziehen. Mein besonderer Dank gilt Roger Friedlein (Bochum) und den Teilnehmer(inne)n des von Ulrike Schneider und mir geleiteten Oberseminars, in dem ich unterschiedliche Fassungen vorstellen konnte. Dass ich bei bestimmten Punkten beratungsresistent blieb, ist allein mir zuzuschreiben. Mein herzlicher Dank gilt auch der Fritz Thyssen Stiftung, deren Unterstützung den Abschluss des Manuskripts und die Drucklegung erheblich beschleunigt hat. Für die kompetente und gewissenhafte Einrichtung des Manuskripts danke ich Dominik Rosmiarek.
Berlin im April 2013
1 METHODISCHE GRUNDLAGEN AKTUELLER LYRIKTHEORIEN Es galt geraume Zeit als ausgemacht, dass eine systematische Lyriktheorie, die ‚Lyrik‘ als transhistorisches Konzept zu konstruieren sucht, eine theoretische Unmöglichkeit darstelle. Auch ich war früher dieser Meinung, und zwar mit der Begründung, dass sich ‚Lyrik‘ im Unterschied zu Narrativik und Dramatik nicht über das Redekriterium differenzieren lasse1. Letzteres scheint mir nach wie vor richtig, doch besagt dies nicht notwendig, dass es nicht andere Möglichkeiten einer systematischen Lyriktheorie geben könne. Wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe2, ist nun zwar nicht bei Platon und Aristoteles, wie bis in neueste Nachschlagewerke hinein behauptet wird3, wohl aber in der italienischen Renaissance zum ersten Mal ein Dreier- bzw. Viererschema zu finden, das die ‚Lyrik‘ als eigenständige ‚Großgattung‘ enthält. Dass ein solcher Systematisierungsprozess sich zuerst in Italien vollzog, habe ich zum einen damit zu begründen versucht, dass die zu Beginn des 16. Jahrhunderts einsetzende Kanonisierung Petrarcas als Modell volkssprachlicher Dichtung analog zu Vergils Rolle für das Lateinische die Berücksichtigung einer Praxis notwendig machte, die im durchkomponierten Liederbuch, dem canzoniere, zu einer Amalgamierung unterschiedlicher Gedichtformen geführt hatte, und dass zum anderen die Aristotelische Poetik zuerst in Italien ab etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts einen extensiven und durchaus subtilen Diskussionsprozess einleitete, in dem die Schwierigkeiten der Integration der heimischen Tradition in die von der Antike überlieferte Poetologie offenkundig und in unterschiedlicher Weise gelöst wurden. So kam es unter dem Druck insbesondere der heimischen Praxis zu einer Transformation antiker Poetologie, die bei Trissino, Minturno, Tasso, Castelvetro, Torelli und weiteren Autoren zur Konstitution eines zwar extensional wie intensional unterschiedlich definierten, aber gleichwohl umfassenden Lyrikkonzepts führte4, womit, so meine Folgerung, eines der zentralen Argumente gegen eine systematische Lyriktheorie hinfällig wird, nämlich dass es vor der Goethezeit kein (Vor-)Verständnis von ‚Lyrik‘ als einer unterschiedliche Gedichtformen subsumierenden ‚Großgattung‘ gegeben habe. Dies heißt natürlich nicht, dass das in der italienischen Renaissance entwickelte Lyrikkonzept – genauso wenig wie dasjeni1 2 3
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Vgl. Hempfer 1973, 148f. Ebenso Warning 1997, 17f. oder Mahler 2006, 217f. (mit weiteren Literaturangaben). Vgl. Hempfer 2008. Vgl. Reallexikon 1997–2003, II, 499: „Die Absonderung der Lyrik von Epik ( Episch) und Drama durch das Redekriterium findet sich im Kern schon bei Platon ausformuliert.“ Entsprechendes findet sich in Einführungswerken für Studierende wie etwa in Horn 1998, 19f. Vgl. hierzu nunmehr grundlegend Huss|Mehltretter|Regn 2012, insb. Kap. 2.
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ge der Goethezeit oder der Moderne – schlicht als Basis einer systematischen Lyriktheorie fungieren kann, dies heißt jedoch sehr wohl, dass es kein apriorisch ahistorisches Unterfangen ist, bei allen Unterschieden nach möglichen Gemeinsamkeiten zwischen epochal unterschiedlichen Lyrikverständnissen zu fragen und damit ‚Lyrik‘ als ein transhistorisches Konzept zu konstruieren, das sich als theoretisches Konstrukt dann gegebenenfalls auch auf Epochen applizieren lässt, die selbst kein umfassendes Lyrikkonzept theoretisiert haben5. Ich werde im Folgenden zunächst einige aktuelle Neuansätze zu einer systematischen Lyriktheorie skizzieren, um im zweiten Teil anhand von konkreten Texten von Sappho bis Rimbaud eine performative Lyriktheorie zu entwickeln. Im dritten Teil werde ich wiederum anhand konkreter Textbeispiele Probleme diskutieren, die meine Konzeption aufwirft. Abschließend werde ich auf der Basis der Unterscheidung von ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ die vor allem für die frühgriechische und die mittelalterliche Literatur relevante Problematik der ‚Aufführungssituation‘ diskutieren.
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Ein explizites Plädoyer für ein transhistorisches, ja universales Lyrikkonzept findet sich in Culler 2009, der unter anderem auf Forschungsergebnisse zu den außereuropäischen Literaturen zurückgreift wie z. B. Miner 2000, der feststellt: „Lyric is the foundation genre for the poetics or literary assumptions of cultures throughout the world. Only Western poetics differs. Even the major civilizations that have not shown a need to develop a systematic poetics (the Islamic, for instance) have demonstrably based their ideas of literature on lyric assumptions.“ (Miner 2000, 4f., zitiert in Culler 2009, 899, Anm. 37.). Culler folgert, „that it is perhaps only because the greatest systematic philosopher of the west, Aristotle, wrote a treatise on mimetic literature and did not include lyric that lyric has not been seen as a foundational genre in Western culture until the romantic era.,(sic!) whereas it is in other cultures, whose literature did not originate in epic or tragedy“ (Culler 2009, 896).
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1.1 DAS REDEKRITERIUM6 Dass sich gerade die Lyrik im Unterschied zu den beiden anderen Komponenten der Trias, für die in den letzten Jahrzehnten die Narratologie und die Dramen- und Theaterforschung eine Mehrzahl systematischer Beschreibungsansätze entwickelt haben, einer Systematisierbarkeit zu entziehen scheint, wurde, wie gesagt, unter anderem damit begründet, dass sich die Lyrik eben nicht über das Redekriterium von Epik und Dramatik unterscheiden lasse.7 Genau dies wird nun jedoch von der italienischen Renaissancepoetik bis zum Reallexikon immer wieder versucht, wenn etwa Trissino oder Minturno die Lyrik dadurch von Epik und Dramatik abheben, dass hier der Dichter in eigener Person spricht: […] tre sono i modi del la poetica imitatione: l’uno de’ quali si fà semplicemente narrando: l’altro propriamente imitando: il terzo dell’uno e l’altro è composto. Perche narrar veramente si dice il poeta, quando ritiene la sua persona, nè in altrui si trasfigura: il che fà le piû volte il 6
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Die beiden ‚klassischen‘ Stellen für die Definition des Redekriteriums sind Politeia 394 b–c und Poetik 1448a 19–20. Politeia 394 b–c: Ὀρθότατα, ἔφην, ὑπέλαβες, καὶ οἶµαί σοι ἤδη δηλοῦν ὃ ἔµπροσθεν οὐχ οἷός τ' ἦ, ὅτι τῆς ποιήσεώς τε καὶ µυθολογίας ἡ µὲν διὰ µιµήσεως ὅλη ἐστίν, ὥσπερ σὺ λέγεις, τραγῳδία τε καὶ κωµῳδία, ἡ δὲ δι' ἀπαγγελίας αὐτοῦ τοῦ ποιητοῦ· εὓροις δ' ἂν αὐτὴν µάλιστά που ἐν διθυράµβοις. ἡ δ' αὖ δι' ἀµφοτέρων ἔν τε τῇ τῶν ἐπῶν ποιήσει, πολλαχοῦ δὲ καὶ ἄλλοθι, εἴ µοι µανθάνεις. Ἀλλὰ ξυνίηµι, ἔφη, ὃ τότε ἐβούλου λέγειν. [Sehr richtig, sprach ich, hast du vermutet] Und jetzt denke ich dir schon deutlich zu machen, was ich vorher nicht vermochte, daß von der gesamten Dichtung und Fabel einiges ganz in Darstellung besteht, wie du sagst, die Tragödie und Komödie, anderes aber in dem Bericht des Dichters selbst, welches du vorzüglich in den Dithyramben finden kannst, noch anderes aus beiden verbunden, wie in der epischen Dichtkunst und auch vielfältig anderwärts, wenn du mich verstehst. Ich begreife jetzt sehr gut, sagte er, was du damals sagen wolltest. (Zitiert nach Platon 42005) Der Klammerzusatz ist in der Schleiermacher-Übersetzung ausgelassen. Ferner ist im griechischen Text nur von „der Dichtung und Mythologie“ die Rede, „gesamt“ ist ein Zusatz der Übersetzung. Die Übersetzung von µυθολογία mit dem mehrdeutigen und anders konnotierten „Fabel“ erschwert das Verständnis des Gemeinten im deutschen Text. Poetik 1448a 19–20: Ἔτι δὲ τούτων τρίτη διαφορά, τὸ ὡς ἕκαστα τούτων µιµήσαιτο ἄν τις. Καὶ γὰρ ἐν τοῖς αὐτοῖς καὶ τὰ αὐτὰ µιµεῖσθαι ἔστιν ὁτὲ µὲν ἀπαγγέλλοντα (ἢ ἕτερόν τι γιγνόµενον, ὥσπερ Ὅµηρος ποιεῖ, ἢ ὡς τὸν αὐτὸν καὶ µὴ µεταβάλλοντα), ἢ πάντας ὡς πράττοντας καὶ ἐνεργοῦντας τοὺς µιµουµένους. Nun zum dritten Unterscheidungsmerkmal dieser Künste: zur Art und Weise, in der man alle Gegenstände nachahmen kann. Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle des anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen. (Zitiert nach Aristoteles 1982) Zu einer eingehenderen Interpretation dieser Stellen vgl. Hempfer 2008, 35–41. Vgl. oben Anm. 1.
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1 Methodische Grundlagen aktueller Lyriktheorien melico, sicome il Petrarcha [sic] nelle canzoni, e ne’ sonetti. Ma propriamente si dice imitare, chi deponendo la sua persona, si veste dell’altrui, si come fà il Comico, & il Tragico poeta: il qual mai non parla, ma introduce altrui per tutto il Poema à parlare. Questo modo tenn’io nelle Egloghe, e nel Sonetto, che comincia, Io che fuggendo à le Thessaliche onde: ove fingo, che parli il lauro. Il terzo modo si vede nell’Epico ilqual’ hor parlando ritiene la sua persona, il che fà sempre nel principio dell’opera, si come il Petrarca, Nel tempo che rinuova i miei sospiri: e Dante, Nel mezzo del camin di nostra vita. Hor depone la sua persona, e fà parlare altrui. Qual’è, quando il Petrarca induce à parlar seco M. Laura, e cominciare, Riconosci colei: che prima torse I passi tuoi dal publico viaggio.8
Dass diese ‚Definition‘ nicht auf alle Lyrik zutrifft, macht Minturno mit dem Zitat des eigenen Sonetts klar, in dem ein Lorbeerbaum spricht, und Ende des Jahrhunderts setzt sich Torelli explizit von Minturno mit dem Verweis auf offenkundige Beispiele aus der antiken und heimischen Tradition ab, die belegen, dass nicht nur der Dichter selbst – was auch immer dies genau besagt – , sondern auch von ihm eingeführte Personen, Gegenstände usw. sprechen, dass es rein dialogisch gestaltete Lyrik gibt und dass Dichterrede und Personenrede zugleich auftreten können, was ihn zu der abschließenden Bemerkung führt: Io perciò mi risolvo che nei modi sia il lirico libero ancor che per lo più vi vegga il narrativo.9
Damit problematisiert Torelli bereits Ende des 16. Jahrhunderts eine Bestimmbarkeit der Lyrik über das Redekriterium und plädiert gleichzeitig für ein Vorherrschen des narrativen Modus10, was freilich die Lyrik zu einer dominant erzählenden Gattung machen und solchermaßen die etwa bei Minturno über das Redekriterium bestimmte Differenz von Texten wie Dantes Divina Commedia und Petrarcas Trionfi einerseits und dessen Canzoniere andererseits unterlaufen würde11. Die Sachlage ist jedoch bereits bei Minturno komplexer, als das oben angeführte Zitat zunächst nahezulegen scheint. Wie Huss|Mehltretter|Regn gezeigt haben, nimmt Minturno nicht nur in De Poeta (1559) und L’Arte poetica (1564), sondern auch in den einzelnen Büchern seiner volkssprachlichen Poetik unterschiedliche Zuordnungen der Lyrik zu den nach dem platonisch-aristotelischen Redekriterium differenzierten Modi der Darstellung vor12, ja er hebt im Zusammenhang einer Diskussion des Petrarkischen Canzoniere seine zu Beginn von L’Arte poetica gemachte Unterscheidung geradezu auf, wenn er feststellt:
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Minturno 1564|1971, 6 (die beiden Petrarca-Zitate stammen nicht aus dem Canzoniere, sondern aus den Trionfi (Tr. Cup. I,1 und Tr. Mort. II,13f.), einem Langgedicht in terza rima wie die Commedia. (Übersetzung des Minturno-Zitats in Anhang 1). Bei dieser Definition handelt es sich freilich bereits um eine grundlegende Modifikation der Bestimmungen bei Platon und Aristoteles. Näheres hierzu in Hempfer 2008, 45–49. 9 Torelli 1594|1974, IV, 316 (Übersetzung Anhang 2). 10 Zu einer analogen Lösung vgl. Küpper 2008. 11 Vgl. das Minturno-Zitat mit Anm. 8. 12 Vgl. Huss|Mehltretter|Regn 2012, 80–84 mit entsprechenden Belegen.
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Laonde chiaramente si vede, che la Melica compositione hor tutta è narratione, hor tutta imitatione, hor mista dell’una e dell’altra.13
Dieser Widerspruch scheint mir nun dadurch erklärbar und partiell auflösbar zu sein, dass Minturno zum einen seine anfängliche Zuordnung der Lyrik zum ‚Sprechen in eigener Person‘ als eine quantitative bestimmt hat („Perche narrar veramente si dice il poeta, quando ritiene la sua persona, né in altrui si trasfigura: il che fà le più volte il melico“ (Herv. v. mir)) und dass er zum anderen das Redekriterium ‚unter der Hand‘ uminterpretiert: Entscheidendes Differenzierungsmerkmal ist für Minturno nicht die Struktur der Sprechsituation, die in der Unterscheidung von Bericht vs. Darstellung vorausgesetzt ist, sondern ausschließlich das Kriterium des Sprechens in eigener bzw. nichteigener Person. Deshalb subsumiert er ein Sonett, in dem ein Lorbeerbaum spricht, unter denselben Modus wie Tragödien oder Komödien (vgl. das obige Zitat mit Anm. 8), das heißt Minturnos Schwierigkeiten bei der Differenzierung von Lyrik über das Redekriterium resultieren letztendlich daraus, dass er das platonisch-aristotelische Berichten ‚in eigener Person‘ zum Sprechen ‚in eigener Person‘ generalisiert und die Modusdifferenz somit nur noch an den Realitätsstatus der Sprecherinstanz (real, fiktiv, gemischt) bindet. Umgekehrt eröffnet ihm dies die Möglichkeit, unterschiedliche Modi („narratione“, „imitatione“ und die Mischung beider) innerhalb der Lyrik anzusetzen14, was gleichwohl die anfängliche Systematik aufhebt, da die ‚Lyrik‘ nicht mit denselben Kategorien binnendifferenziert werden kann, die zugleich zu deren Differenzierung von anderen Großgattungen dienen. In der aktuellen Theoriediskussion hat insbesondere Lamping auf das Redekriterium zurückgegriffen, dieses jedoch sowohl explizit wie gleichfalls ‚unter der Hand‘ grundlegend modifiziert. Ganz ausdrücklich schließt er nicht an Reinterpretationen des platonisch-aristotelischen Redekriteriums an, die für die Lyrik die Bestimmung anführen, die bei Platon und Aristoteles das reine Erzählen meint, nämlich dass der Dichter in eigener Person spricht [genauer: erzählt] und immer derselbe bleibt. In kühnem Zusammenzwingen von Redekriterium und Hegelscher Subjektivitätskonzeption lehnt Lamping „Subjektivität“ und „Personalität“ als Kriterien für Lyrik mit dem Argument ab, dass der Dichter vielfach weder allein (z. B. in der Chorlyrik) noch überhaupt (z. B. in der Rollenlyrik) spricht15 und definiert Lyrik stattdessen als „Einzelrede in Versen“16. Unter „Einzelrede“ versteht er explizit „monologische Rede im Unterschied vor allem zu dialogischer Rede“, und der Prädikator ‚Rede‘ wird näher bestimmt als „absolute Rede im Unterschied zu situationsgebundener Rede“ sowie als „strukturell einfache Rede im Unterschied zu strukturell komplexer Rede“17. Ich will hier nicht näher auf das offenkundige Problem der Einschränkung von ‚Lyrik‘ auf Versdichtung eingehen, weil ohne diese Einschränkung das Kriterium ‚Einzelrede‘ keinerlei Distinktivität 13 14 15 16 17
Minturno 1564|1971, 175, zitiert in Huss|Mehltretter|Regn 2012, 84 (Übersetzung Anhang 3). Vgl. Huss|Mehltretter|Regn 2012, 84. Vgl. Lamping 32000, 60f. Ebd., S. 63. Ebd.
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mehr besäße und trotz der näheren Charakterisierung als „absolute“ und „strukturell einfache Rede“ auch für Gattungen wie etwa den Essay, den Traktat, die wissenschaftliche Abhandlung u.a.m. zutreffen würde. Nun ist freilich auch das Kriterium der Einzelrede einschließlich der Zusatzkriterien kaum distinktiv. Als geradezu idealtypische Realisation der Einzelrede in Versen ließe sich etwa das Lehrgedicht betrachten, das nicht umsonst von Diomedes bis Scaliger als Beispiel für das Sprechen des Dichters in eigener Person, das genus enarrativum bzw. exegeticon, angeführt wurde18 und das man allenfalls durch das Kriterium der Kürze ausgrenzen könnte, ein Kriterium, das Lamping selbst freilich für nicht praktikabel, da nicht operationalisierbar hält19. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass Einzelrede nicht einfach monologische Rede heißt, sondern ‚einzel‘ wird ambig gebraucht, nämlich auch im Sinne von ‚vereinzelter Rede‘: Lyrische Rede ist allerdings auf besondere Weise monologisch. Äußerlich jeweils von anderer, sei es lyrischer, sei es nicht-lyrischer Rede abgesetzt, steht sie, zunächst, immer für sich. Sie stellt also zugleich eine vereinzelte Äußerung dar, die nicht als Replik oder Respons in einen umfassenden Redezusammenhang integriert ist. Das wiederum unterscheidet sie wesentlich vom dramatischen Monolog.20
Von der Zusammenstellung von Einzelgedichten in Büchern seit der Antike über Petrarcas Canzoniere und die an ihn anschließende Tradition bis zu den Gedichtsammlungen der Goethezeit und der Moderne wird das lyrische Gedicht nun freilich gerade nicht als einzelne Äußerung produziert und rezipiert, sondern ist in der Antike genauso wie dann insbesondere in der Petrarca-Nachfolge und später in eine vielfach höchst komplexe Sammlungsstruktur eingebunden, die gerade darauf aus ist, den Charakter der „vereinzelten Äußerung“ zu überwinden. Wenn Petrarca seine Gedichte als Rerum vulgarium fragmenta bzw. als „rime sparse“ bezeichnet, dann handelt es sich um eine Litotes, die durch die höchst kunstvolle ‚Architektur‘ des Canzoniere als solche ausgewiesen wird21 und gerade nicht um ‚vereinzelte Äußerungen‘ im Sinne ‚strukturell einfacher Rede‘, das heißt die Einzeltexte des Canzoniere sind angemessen eben gerade nicht „für sich zu verstehen“, sondern setzen eben jene „komplexeren Redezusammenhänge“ voraus, die es in lyrischen Texten nach der Definition von „strukturell einfach“ nicht geben darf22. Ließen sich die bisher formulierten Einwände gegebenenfalls durch Zusatzkriterien beheben, so scheint mir das eigentliche Problem darin zu liegen, dass Lamping unter der Hand aus dem Redekriterium, das auf der Ebene der Schreib18 19 20 21
Vgl. hierzu Behrens 1940, 25–29. Vgl. Lamping 32000, 87f. Ebd., S. 64. Aus der Fülle von Literatur zur Sammlungsstruktur des Petrarkischen Canzoniere sei hierzu nur verwiesen auf König 1983 und Regn 2003. Zu Rerum vulgarium fragmenta als Titel vgl. Friedrich 1964, 190. Von „rime sparse“ ist im ersten Vers des Proömialsonetts die Rede. Vgl. hierzu den Kommentar in Petrarca 22004, 7f. sowie Friedrich 1964, 235. 22 Zitate aus Lamping 32000, 68 im Zusammenhang mit der Definition von „strukturell einfach“.
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weisen bzw. Modi angesiedelt ist und narrative und dramatische Texte zu jeweils disjunkten Teilklassen zusammenfasst, die Opposition von zwei Redeformen – monologisch versus dialogisch – macht, die Mukařovský überzeugend als skalare Begriffe bestimmt hat (ein Text kann mehr oder weniger stark monologisch sein)23 und die das Problem aufwerfen, wie mit einer skalaren Dichotomie eine Trias von (Klassen-)Begriffen differenziert werden kann. Völlig vertrackt wird die Angelegenheit schließlich durch das Zusatzkriterium der situativen Absolutheit, da es Lamping so versteht, dass im genuin monologischen Text keinerlei deiktische Elemente, also auch keine Markierungen von Sprecher und Angesprochenem, vorkommen dürfen, womit der größere Teil dessen, was man spontan als ‚Lyrik‘ begreift, ausgeschlossen ist. Nach Auffassung Lampings wird die kommunikative Absolutheit lyrischer Rede schon eingeschränkt, wenn sie explizit eine emotionale Einstellung oder Haltung des Sprechers zum Ausdruck bringt. Ein solcher Bezug auf den Sprecher ist in aller Regel an dem – signifikanten – Vorkommen von Personal- und Possessivpronomen [sic] der ersten Person (Singular) zu erkennen, die eine subjektive Perspektive signalisieren24.
Eingeschränkt werden kann die Absolutheit lyrischer Rede aber auch durch Dialogisierung25, sodass sich der Lyrikbegriff immer mehr einem skalaren Begriff annähert. Was macht nun aber Lamping mit dem Problem von Dichotomie und Trias? Er ‚löst‘ dieses Problem, indem er abschließend der für die Lyrik spezifischen Einzelrede und der für das Drama spezifischen Wechselrede die für Epik spezifische „vermittelnde Rede“ hinzugesellt, die folgendermaßen definiert wird: Der komplexeste Typ poetischer Rede schließlich liegt dann vor, wenn sie aus mindestens zwei verschiedenen Äußerungen mindestens zweier verschiedener Sprecher in mindestens zwei verschiedenen Situationen besteht – in der Art, daß die eine (zeitlich frühere) Äußerung durch die andere (zeitlich spätere) vermittelt wird. Diesen Typ poetischer Rede stellt die Einzel- oder Wechselrede vermittelnde Rede dar.26
Dies ist offenkundig eine Definition der erzählenden Sprechsituation, auf deren Grundlage nun Texte aus der Lyrik ausgeschieden werden. Zunächst einmal die genuin narrativen Texte: Nicht als lyrisch zu bezeichnen sind […] zunächst einmal alle Gedichte, die durch die Struktur der Redevermittlung gekennzeichnet sind. Diese Struktur ist charakteristisch für epische Gedichte, als deren Prototyp das klassische Versepos gelten kann.27
Nach diesem Kriterium wären über die Jahrhunderte hinweg fraglos als Lyrik eingestufte Texte wie etwa eine Reihe von Gedichten aus Petrarcas Canzoniere als nicht lyrisch auszugrenzen, sodass der ‚Prototyp‘ des neuzeitlichen Lyrikbuches 23 Vgl. Mukařovský 1967. 24 Lamping 32000, 66. Demgegenüber konstituiert für Petzold 2012 gerade die emotionale Präsenz eines Sprechers den ‚Kern‘ der Lyrik. Vgl. insb. Petzold 2012, 165–192; zur Kritik auch an dieser Position vgl. unten Anm. 72. 25 Ebd., S. 67. 26 Ebd., S. 89. 27 Ebd.
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plötzlich nicht mehr uneingeschränkt als ‚Lyrik‘ zu bezeichnen wäre, was als eine genauso unerwünschte Konsequenz erscheint wie die Einstufung eines Epigramms als nicht mehr lyrisch, wenn es erzählt28. Schließlich möchte Lamping auch alle dialogisierten Gedichte nicht der Lyrik zurechnen: Nicht als lyrisch zu bezeichnen sind auf der Grundlage der hier vorgeschlagenen Definition […] alle Gedichte, die substantiell durch die Struktur der Wechselrede bestimmt sind, in denen also mindestens zwei Sprecher, ohne Vermittlung eines dritten, mit-, gegen- oder auch nebeneinander reden.29
Wenn Lamping alle narrativen und ganz oder teilweise die dialogisierten Gedichte aus der ‚Lyrik‘ ausgrenzt, dann setzt er sich nicht nur dem Vorwurf der Beliebigkeit aus, dem er zu entgehen trachtete, da sich seine Neudefinition von ‚Lyrik‘ bzw. ‚lyrisch‘ gerade nicht am „überkommenen Sprachgebrauch“ orientiert30. Wenn ein ‚Liederbuch‘ in dialogisierte, erzählende und – im neuen Sinne– ‚lyrische‘ Gedichte zerfällt, dann scheint das für ‚lyrisch‘ applizierte Differenzierungskriterium nicht adäquat zu sein, da es gegenintuitiv das trennt, was über Jahrhunderte als wie auch immer zusammengehörig begriffen wurde. Dies um so mehr, als Lamping den von Staiger gewählten Ausweg der Trennung von ‚Lyrik‘ und ‚lyrisch‘ explizit ablehnt und nur das als ‚Lyrik‘ gelten lassen will, was seiner Definition von lyrischem Gedicht als „Einzelrede in Versen“ entspricht31. Das Grundproblem von Lampings Ansatz scheint mir in seinem rein klassifikatorischen Begriffsverständnis zu liegen, das ‚Lyrik‘ als eine Klasse von Texten zu definieren sucht, die durch zwei Merkmale – ‚Einzelrede‘ und ‚in Versen‘ – zu anderen Klassen von Texten disjunkt ist und das heißt weder Überlappungen noch Überschneidungen, fuzzy edges oder Skalierungen von ‚Lyrikhaftigkeit‘ zulässt. Ich werde im Folgenden zu zeigen versuchen, dass es eines grundsätzlich anderen Begriffsverständnisses bedarf32, um eine systematische Lyriktheorie mit den historisch variablen Lyrikverständnissen zu verbinden. Auf dieser Grundlage lassen sich dann auch Probleme der Narrativisierung und Dialogisierung anders angehen. 1.2 LYRIK UND NARRATOLOGIE Die ‚Blüte‘ der Erzählforschung seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts brachte es mit sich, dass seit den 90er Jahren zunehmend auch die Lyrik ins Blickfeld der Narratologie rückte. Diese ‚Blüte‘ war freilich von ihrem Anfang an mit einem theoretischen ‚Makel‘ behaftet, nämlich dass der Begriff des ‚Narrati28 29 30 31
Ebd., S. 89f. Zum Problem der ‚Narrativisierung‘ vgl. unten Kap. 3.2. Ebd., S. 90. Zum Problem der ‚Dialogisierung‘ vgl. unten Kap. 3.1. Ebd. S. 13. Ebd., S. 10f. Auch Burdorf 21997, 20 kritisiert „die Künstlichkeit von Lampings Begriffsverwendung“. 32 Zur Ablösung eines klassifikatorischen Gattungsverständnisses auf der Grundlage der Prototypentheorie vgl. Hempfer 2010.
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ven‘ und seiner Ableitungen ambig ist: Zum einen unterscheidet man mit diesem Begriff Erzähltexte im engeren Sinne von dramatischen oder lyrischen Texten, zum anderen bezeichnet man damit aber auch seit Barthes’ Aufsatz von 1966 all jene Texte, die durch die Doppelheit von discours und histoire bzw. récit charakterisiert sind, die also über einen ‚Diskurs‘ eine ‚Geschichte‘ konstituieren, und dies sind neben Erzähltexten im ‚eigentlichen‘ Sinn auch Theaterstücke, Filme, Comics, Opern u.a.m.33 Entwickelt sich aus der engeren Bedeutung von ‚narrativ‘ usw. die ‚klassische‘ Erzähltexttheorie, wie sie wesentlich durch Stanzel und Genette geprägt wurde, so führt das weitere Begriffsverständnis zur Herausbildung einer transgenerischen und transmedialen Narratologie, die zum Teil aber weiterhin mit Konzepten der ‚klassischen‘ Erzählforschung wie demjenigen der Mittelbarkeit arbeitet, die zur Unterscheidung des Erzählens im engeren Sinne von anderen Gattungen in der Regel sprachlicher Kommunikation gedient haben und gerade deshalb nicht als Fundierungskategorien einer transmedialen und transgenerischen Narratologie fungieren können34. In eben dieser Problematik situiert sich eine Reihe neuerer Arbeiten, die narratologische Konzepte für eine Neubestimmung des Lyrikbegriffs fruchtbar machen möchten35. Dabei wird jedoch nicht selten gerade der Zugriff auf die Spezifität lyrischer Texte verstellt bzw. diese Spezifität nur als ‚Abweichung‘ von im engeren oder weiteren Sinne narrativen Texten formulierbar, was bis zur schlichten petitio principii führen kann. Wenn man von folgender Hypothese ausgeht – Every poem tells a story. Every poem does so because narrative is a condition not just of poetry, but of textuality itself36 –,
dann verwendet man entweder einen Narrativitätsbegriff, der so weit ist, dass er sich mit ‚Bedeutung‘ deckt und damit funktionslos wird, oder aber die fundierende Hypothese ist schlicht falsch, da Narrativität im engeren oder weiteren Sinn keine generelle Bedingung von Textualität ist und deshalb auch nicht a priori für ‚Gedichte‘ postuliert werden kann. Die Applikation narratologischer Kategorien auf lyrische Texte kann also nicht einfach aus der – vorgeblichen – Narrativität von Lyrik abgeleitet werden (eben dies wäre eine petitio principii), sondern es ist zu fragen, inwiefern narratologische Kategorien in der Lage sind, Lyrikspezifi-
33 Vgl. Barthes 1966, insb. S. 1–3. 34 Die Problematik wird grundlegend im Hinblick auf das Drama in Rajewsky 2007 entwickelt. Dort auch ein fundierter Überblick über den gegenwärtigen Stand der transmedialen und transgenerischen Narratologie. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Übertragung narratologischer Kategorien auf die Lyrik analoge Schwierigkeiten mit sich bringt wie deren Übertragung auf das Drama. Dies bedeutet keine grundsätzliche Absage an das Theoriepotential einer transgenerischen und transmedialen Narratologie, dies bedeutet nur, dass mir das ‚Theoriedesign‘ noch verbesserungsbedürftig scheint, damit durch einen Theorietransfer nicht Objektdifferenzen verwischt werden. 35 Vgl. etwa Bernhart 1993, Hühn 2002, Hühn|Schönert 2002, Müller-Zettelmann 2002, Hühn|Schönert|Stein 2007, Bleumer|Emmelius (Hgg.) 2011, zusammenfassend Hühn 2011a. 36 Bristow 1991, 199, zitiert in Hühn|Schönert 2002, Anm. 6.
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sches als solches zu erfassen37. Welche Probleme bei der Durchführung eines ‚Narratologisierungsprogramms‘ für die Neudefinition von ‚Lyrik‘ auftauchen, sei paradigmatisch an Müller-Zettelmann 2002 skizziert. Müller-Zettelmanns Vertrauen in die Tragfähigkeit narratologischer Begrifflichkeit für eine Neubestimmung von ‚Lyrik‘ dürfte wesentlich aus einer Überdehnung des Begriffspaares discours und histoire resultieren, wie sich mit ausreichender Klarheit aus folgendem Zitat ergibt: Wie auch immer aber ein lyrischer Text gestaltet sein mag, welche kompositorischen Mittel er auch einsetzt, um seine ‚Botschaft‘ zu vermitteln, Tatsache ist, daß stets – also selbst bei Vorliegen tendenzieller poésie pure – zwischen einer Inhalts- und einer Vertextungsebene unterschieden werden kann. Die Differenzierung zwischen der Sphäre der Signifikate und allen der Modellierung, Reliefbildung und Sinngebung eben dieser Sphäre dienenden Techniken hat unter der Begriffsdichotomie histoire vs. discours in die Erforschung von Erzählliteratur längst Eingang gefunden. Nur durch eine strenge analytische Trennung zwischen dem ‚Wie‘ und dem ‚Was‘ des literarischen Diskurses […] können die Eigenheiten und Zielsetzungen eines Textes systematisch erfaßt und in all ihren maßgeblichen Details erkannt werden.38
Dass Müller-Zettelmann die histoire schlicht als Inhaltsebene eines Textes auffasst, bestätigt die Interpretation eines Herrick-Gedichts, das allenfalls eine Situation, aber keinen wie auch immer gearteten Handlungszusammenhang beinhaltet, wie sich aus folgender Zusammenfassung des Inhalts des Textes ergibt: Mit (scheinbar) leichter Feder zieht Herrick gegen puritanische Pedanterie zu Felde und demonstriert durch seinen unverkrampften Umgang mit Regelpoetik und Sittenkodex den Reiz der Devianz – „Delight in Disorder“ eben.39
Dass die durchaus einleuchtende Interpretation von Herricks Gedicht wenig mit der Applikation narratologischer Kategorien zu tun hat, ergibt sich vor allem aus den abschließenden Bemerkungen zur ‚Handlung‘ in der Lyrik, die „rudimentär ausfallen“ könne, weswegen Müller-Zettelmann denn auch für eine Ersetzung der Kategorien discours und histoire durch die gleichfalls auf Benveniste zurückgehende Unterscheidung von énonciation und énoncé plädiert40. Diese Unterscheidung gilt nach Benveniste jedoch für alle Texte41, etwa auch für wissenschaftliche 37 Dies betonen auch Hühn|Schönert 2002, insb. S. 288f. Fraglich ist freilich, ob nicht schon der Titel von Hühn 2002, „Reading Poetry as Narrative. Towards a Narratological Analysis of Lyric Poems“, die von mir angedeutete Gefahr impliziert: Wenn ich ‚Lyrik‘ als ‚Narration‘ lese, habe ich a priori als mögliches Ergebnis ausgeschlossen, dass ‚Lyrik‘ eben gerade keine Narration in irgendeinem von der Narratologie definierten Sinne ist bzw. sein kann. Hierauf ist in der Folge zurückzukommen. 38 Müller-Zettelmann 2002, 133. 39 Ebd., S. 136. 40 Ebd., S. 137. Wolf 2005, 39, Anm. 45 kritisiert bereits zu Recht die simple Übertragung der Begriffe discours und histoire auf die Lyrik. In lyrischen Texten finde sich in der Regel keine histoire im engeren Sinne. Eine analoge Kritik lässt sich auch gegen die Arbeiten von Hühn|Schönert vorbringen. Vgl. unten S. 20f. 41 Vgl. hierzu Benveniste 1966|1974, I, 79–88. Was Benveniste hier neu zu entdecken glaubte, nämlich die Bedeutung der Sprechsituation für eine systematische Sprachbeschreibung, hatte Bühler schon wesentlich früher zur Grundlage seiner Sprachtheorie gemacht. Vgl. Bühler 1934|1982, insb. §7.
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Abhandlungen, und kann demzufolge logisch nicht zugleich für einen bestimmten Texttyp spezifisch sein, sodass die Autorin mit ihrer Rückführung von histoire|discours auf énoncé|énonciation gerade nicht nachgewiesen hat, dass „sich grundlegende strukturelle bzw. analytische Kategorien […] von der Erzähl- auf Lyriktheorie übertragen lassen“42. Ähnlich verhält es sich mit der Kategorie der Mittelbarkeit. MüllerZettelmann wählt zur Demonstration ihrer These, dass man „quasi-narrative Mittelbarkeit auch der lyrischen Ich-Aussage“ zuschreiben könne oder dass man „selbst bei nicht-balladenhaften, ‚lyrischen‘ Gedichten zumindest von der Möglichkeit von Medialität ausgehen“ könne43, Brownings „Youth and Art“, einen dramatic monologue mit einem erzählenden Eingang – „it once might have been, only once“ lautet der erste Vers. Der Autorin entgeht mit ihrer Suche nach Strukturisomorphien von ‚Erzählen‘ und ‚Lyrik‘ dabei der eigentliche ‚Witz‘ des Textes, dass nämlich mit dem erzählenden Eingangsvers zugleich eine face-to-faceKommunikation mit einem in der Kommunikationssituation anwesenden Gegenüber präsupponiert wird, in die dann zunächst eine fiktionale ‚konversationelle Erzählung‘ eingebettet ist, die schließlich in den dramatischen Monolog übergeht, sodass gerade nicht die für das Ich-Erzählen spezifische Relation von ‚erzählendem‘ und ‚erlebendem‘ Ich konstituiert wird, in der ein ‚erzählendes‘ Ich ein ‚erlebendes‘ vermittelt. Vielmehr ist die in den letzten Strophen des Textes explizit gemachte face-to-face-Kommunikation die hierarchisch höchste Sprechsituation, von der die Erzählung abhängt. Wir haben also gerade keine übergeordnete Vermittlungsinstanz, vielmehr handelt es sich um einen narrativen Rückgriff im Rahmen einer face-to-face-Kommunikation, wie er in alltagssprachlicher Kommunikation44 genauso möglich ist wie im ‚Drama‘ (als Nachholen der Vorgeschichte, Botenbericht usw.). Da solchermaßen gerade nicht die „Existenz struktureller Analogien zwischen Erzählkunst und Lyrik“ nachgewiesen ist45, können auch die hierauf aufbauenden Ausführungen zur Subjektivitätsproblematik wenig überzeugen, und dies nicht zuletzt deshalb, weil nicht zutreffende Aussagen zum Forschungsstand gemacht werden: Die im Hinblick auf die vielfach kritisierte Sonderposition Käte Hamburgers formulierte Behauptung, „[…] noch vor kurzem wurde in einem überwiegenden Teil der Forschung davon ausgegangen, das lyrische Ich sei ‚identisch mit dem Dichter‘ (Hamburger 1980, 242)“46, entspricht nicht den Tatsachen, wie ein Blick auf den entsprechenden Eintrag im Reallexikon unschwer belegen kann. Dass der Subjektproblematik, das heißt der Frage, in welcher Weise ein wie auch immer näher bestimmtes Ich strukturbildend für lyrische Texte ist, in einer Lyriktheorie zentrale Bedeutung zukommt, werde ich im Fol42 Müller-Zettelmann 2002, 137. Müller-Zettelmann erliegt hier den generellen Missverständnissen der Benvenisteschen Unterscheidung in der englischsprachigen Kritik, die sich nach Mahler durch „a lot of confusion“ auszeichne. (Mahler 2006, 222 Anm. 19.) 43 Ebd., S. 137f. 44 Zum „Erzählen im Alltag“ vgl. die Beiträge in Ehlich (Hg.) 1980. Zur komplexen Kommunikationsstruktur des sog. dramatic monologue vgl. unten Kap. 3.2. 45 Müller-Zettelmann 2002, 141. 46 Ebd.
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genden zu zeigen versuchen. Hierfür scheint mir jedoch ein anderes Theoriedesign als dasjenige der klassischen oder postklassischen Narratologie besser geeignet. Dies belegt auch der zeitgleich erschienene Aufsatz von Hühn|Schönert 2002. Zwar betonen die Autoren stärker als Müller-Zettelmann die Eigenständigkeit der Lyrik, weil sie jedoch die „Spezifika der Lyrik aus narratologischer Sicht“47 bestimmen wollen, führt eben diese narratologische Sicht dazu, Lyrik als Sonderform des Erzählens zu begreifen, etwa wenn davon die Rede ist, dass „für viele Gedichte der Zusammenfall der Instanzen von Sprecher (Erzähler) und Protagonist“ charakteristisch sei48. Zu einem solchen ‚Zusammenfall‘ kann es freilich nur kommen, wenn man die für Erzähltexte spezifische Mittelbarkeit (Stanzel, Genette) apriorisch auf lyrische Texte projiziert und dann ein „Zusammenfallen“ von Instanzen konstatiert, deren strukturelle Zusammengehörigkeit, wie noch näher zu zeigen sein wird, gerade die prototypisch lyrische von der prototypisch narrativen Äußerung unterscheidet. Dass die narratologische Perspektive geradezu erkenntnisverstellend wirken kann und die intuitiv erkannte Differenz wieder beseitigt, zeigt folgendes Zitat: Ein weiteres gattungsspezifisches Mittel ist die simultane Erzählung im Präsens: Handeln und|oder Erleben sowie Reden sind synchron. Dadurch scheinen Protagonist und Erzähler nicht nur personal, sondern zusätzlich auch noch zeitlich und psychisch-kognitiv völlig miteinander zu verschmelzen – so als ob nicht der Sprecher|Erzähler nachträglich erzählte, sondern als Protagonist direkt aus der Situation heraus spräche und sich im ablaufenden Erfahrungsprozeß unmittelbar artikuliere und manifestiere [...]. Hierbei gewinnt das Sprechen häufig Handlungscharakter. In diesem Phänomen des aktionalen Sprechens (und des Performativen) ergeben sich deutliche Bezüge zwischen der Lyrik und der Dramatik und Anschlussmöglichkeiten an die aktuelle Diskussion zur Performativität.49
Im Ansatz gesehen wird hier das, was im Folgenden als Performativitätsfiktion beschrieben werden soll, doch wird dies nicht als eigenständige Äußerungsstruktur erkannt, sondern nur als Schein, als Verschleierung des eigentlichen, ‚normalen‘ aposteriorischen Erzählens: „so als ob nicht der Sprecher|Erzähler nachträglich erzählt“50. Die abschließend erwähnten Anschlussmöglichkeiten an die Performativitätsdiskussion werde ich im Folgenden anstelle der „narratologischen Perspektive“ aufgreifen, dabei aber auch versuchen, die spezifisch lyrische von der theatralen Performativität zu unterscheiden. Mir ging es zunächst nur um den Nachweis, dass ein Rekurs auf narratologische Kategorien die Lyriktheorie nicht notwendig voranbringt, ja die Einsicht in Differenzen gerade dadurch verstellt werden kann, dass eine identische theoretische Begrifflichkeit angelegt wird. So können die Kategorien von discours und histoire natürlich auch auf lyrische Texte angewendet werden, um zu zeigen, dass es auch in dem Bereich, den man normalerweise als ‚Lyrik‘ bezeichnet, Texte 47 Dies die Überschrift des abschließenden Teils in Hühn|Schönert 2002, 298–302, Zitat S. 298. 48 Hühn|Schönert 2002, 298. Dass Lyrik „nicht pauschal als Sonderform, gar als Schwundform des Erzählens aufgefaßt werden kann“, betont auch Zymner 2009, 152. 49 Hühn|Schönert 2002, 298f. 50 Der Sprecher kann logisch nicht nachträglich, das heißt ‚normal‘ erzählen, da er nur als être de papier existiert. Wenn überhaupt müsste man hier also wohl vom ‚Autor‘ sprechen.
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gibt, die eine ‚richtige‘ Geschichte erzählen, wohingegen sich eine Vielzahl anderer Texte benennen lässt – nicht nur die Sinngedichte – , wo die Geschichtskategorie nicht greift bzw. durch für Lyrik adäquatere Begriffe ersetzt werden muss. Das heißt, die ‚Rettung‘ für die Lyriktheorie kann nicht darin bestehen, dass man in lyrischen Texten dasselbe findet wie in im engeren oder weiteren Sinne narrativen, vielmehr muss die Applikation narratologischer Kategorien auch und gerade die Möglichkeit eröffnen, Differenzen von ‚Lyrik‘ und im engeren oder weiteren Sinne ‚erzählenden‘ Texten zu erfassen. Entscheidend ist auf jeden Fall, dass die Verwendung von narratologischen Kategorien nicht schon die Isomorphie, die Strukturgleichheit, von erzählenden und lyrischen Texten notwendig voraussetzt. Letzteres wäre genau die eingangs angedeutete petitio principii – bzw. schlicht ein logischer circulus vitiosus.51 1.3 FAMILIENÄHNLICHKEITEN UND DIE THEORIE DER PROTOTYPEN Eine Modifikation des platonisch-aristotelischen Redekriteriums oder die Projektion narratologischer Kategorien reichen offenkundig nicht aus, um die Lyrik als eine „notoriously illusive category“52 näher fassen zu können. Einen gänzlich anderen Weg geht Wolf 2005, der in einer Verbindung des Wittgensteinschen Konzepts der Familienähnlichkeiten mit der aus der kognitiven Psychologie stammenden Prototypentheorie einen grundlegenden Neuansatz vorschlägt, der simple Klassifikationsschemata überwindet und der Bestimmung der Lyrik bzw. des Lyrischen durch einen neuen Typus wissenschaftlicher Begriffsbildung näher zu kommen versucht. Wolf geht zunächst davon aus, dass es hinsichtlich der Bestimmung eines lyrischen Textes nur zwei Kriterien gebe, die unumstritten seien, nämlich dass es sich sowohl um einen literarischen wie um einen fiktionalen Text handle53. Bezieht man die sich insbesondere in Frankreich, aber nicht nur dort vollziehende Käte-Hamburger-Renaissance mit ein54, dann ist jedoch auch das Fiktionalitätskri51 Wenn Schenk-Haupt prognostiziert, die Weiterführung des Ansatzes von Hühn|Schönert speziell hinsichtlich der Analyse der histoire-Ebene habe „enorme Vorteile“, da dann die Lyrik „als eine ‚verkürzte Form‘ der Narrativik apostrophiert werden“ könne (Schenk-Haupt 2005, 231), dann hätte ihn die Feststellung von Jürgen Link im Funk-Kolleg Literatur von 1977, die auf der Analyse der histoire-Ebene lyrischer Texte (auch und gerade von Balladen!) beruhte, etwas perturbieren müssen: „Die erste und grundlegendste Eigenschaft des lyrischen Textes ist also seine Nicht-Narrativität.“ (Link 1977, 241; zur Entwicklung dieser These ebd., S. 234–241). Zu einer grundsätzlichen Kritik der Übertragung narratologischer Kategorien auf die Lyrik in der englischsprachigen Forschung vgl. Culler 2008. 52 Wolf 2005, 21. 53 Ebd., S. 23f. 54 Vgl. hierzu Schneider 2008. Nach meinem Fiktionsverständnis (s. hierzu unten) sind lyrische Texte fiktional, wohingegen mir Käte Hamburgers ‚System‘ logisch inkonsistent erscheint (vgl. hierzu schon Hempfer 1973, 150–155), was die ihrerseits höchst inkonsistenten lyrismeTheoretiker, wie Schneider zeigt, wenig stört. Zur spezifischen Problematik der mittelalterlichen Lyrik vgl. unten Kap. 4.
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terium keineswegs mehr unumstritten, und was jeweils als Literatur gilt, ist zumindest genauso variabel wie das Verständnis von ‚Lyrik‘. In der Folge stellt Wolf zunächst einen Katalog von neun Kriterien zusammen, die in der Literatur für die Bestimmung eines lyrischen Gedichts angeführt wurden55: 1. Lyrische Gedichte sind zum Vortrag bestimmt (was einerseits nur für bestimmte Epochen und andererseits wie etwa im Mittelalter auch für andere Gattungen wie z. B. die chanson de geste im Unterschied zum Höfischen Roman als ‚Buchepik‘ gilt); 2. Kürze; 3. Abweichung von der Normalsprache und von Diskurskonventionen (gilt für poetische Texte insgesamt); 4. Versifikation (ist in vielen Epochen notwendig, gilt zum einen aber auch für andere Gattungen zu bestimmten Zeiten und ist seit dem 19. Jahrhundert keine notwendige Bedingung mehr); 5. Autoreferentialität und Autoreflexivität (gibt es als solche in unterschiedlicher Weise in wohl allen Gattungen, müsste also in der lyrikspezifischen Ausprägung bestimmt werden); 6. Personalitätskriterium: Vorhandensein eines scheinbar nicht weiter vermittelten Bewusstseins bzw. Monologizität (weder haben alle Texte einen expliziten Sprecher noch ist das Sprechen in lyrischen Texten durchgängig monologisch); 7. Spezifizierung des Personalitätskriteriums durch das Subjektivitätskriterium, bei dem nicht einfach auf das Sprechen eines Ichs, sondern auf die je subjektive Perspektive der Wirklichkeitsdarstellung abgehoben wird (die Historizität dieses Kriteriums und dessen Ursprung in der romantischen Subjektphilosophie ist offensichtlich); 8. relative Bedeutungslosigkeit bzw. Fehlen einer histoire im Sinne einer sich entwickelnden Handlung (gilt nicht ohne weiteres für Zyklen und für Subgattungen wie die Ballade); 9. Absolutheit bzw. Situationsabstraktheit (gilt entweder für fiktionale Texte insgesamt oder ist in der spezifischen Bestimmung durch Lamping (s. o.) zu eng). Trotz der offenkundigen Heterogenität und Unstimmigkeit der Kriterien möchte sich Wolf nicht auf die These Mahlers, die von vielen geteilt würde, zurückziehen („Lyrik ist nicht allgemein definierbar“56), sondern er möchte einen Neuansatz entwickeln, der zumindest erklären können müsse
55 Vgl. hierzu Wolf 2005, 24–31. In den Klammern habe ich sehr summarisch mögliche Einwände gegen das jeweilige Kriterium angeführt, die Wolf auch selbst vorbringt. 56 Mahler 2002, 655.
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why recipients in general have a fairly accurate ability for identifying a poem when they are confronted with one57.
Diese „ability“ ist nun aber bereits eine historische oder allgemeiner gesagt eine indexikalische, sie ist personen-, zeit- und ortsabhängig und dürfte selbst für unser gegenwärtiges, westliches Literatursystem im Hinblick auf diastratisch und diatopisch unterschiedliche Rezipientengruppen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Dies soll kein ‚Totschlagsargument‘ sein, ganz im Gegenteil. Ich möchte jedoch bereits an dieser Stelle auf ein generelles Problem aufmerksam machen, das bei der Übertragung kognitionswissenschaftlicher Methoden, Begriffe und Fragestellungen auf historische Wissenschaften mitzureflektieren ist, insofern deren ‚Empirie‘ eine indexikalische ist, das heißt von Personen-, Zeit- und Ortsparametern abhängt. Der Neuansatz von Wolf situiert sich zum einen im Rahmen einer Weiterführung von Überlegungen, Gattungen nicht mehr als Klassen im logischen Sinn, sondern als ‚Familienähnlichkeiten‘ im Verständnis Wittgensteins zu beschreiben, und zum anderen rekurriert er auf ein semiotisches Gattungsverständnis, das ‚Gattungen‘ als Bestandteile der kommunikativen Kompetenz von Autoren und Lesern begreift58. Die wesentliche Weiterführung vorliegender Ansätze zur Gattungstheorie im allgemeinen und zur Lyriktheorie im besonderen scheint mir der Rekurs auf den Prototypenbegriff zu sein59, wobei ‚Gattungen‘ als „cognitive schemata or frames“60 über den Begriff des Prototyps beschrieben werden: A prototype is characterized by a number of features that are mentally stored and are then used as standards for the identification of phenomena which are intuitively felt to be similar, but on closer inspection may turn out to correspond to these standards to various degrees only. These features, however, are not fixed and in each case necessary defining qualities, but characteristic tendencies.61
Diese Merkmale sind also nicht in jedem Einzelfall notwendige Bedingungen dafür, dass ein Text als einer bestimmten Gattung zugehörig empfunden wird, sondern nur „tendencies“, das heißt, Dinge, auf die ein bestimmter prototypischer Rahmen angewendet wird, müssen nicht in einer bestimmten Anzahl von Merkmalen übereinstimmen, sondern es reicht eine „family resemblance“. Wie Wolf betont, werden mit dieser Konzeption sowohl historische Variation wie Skalierung in das Verständnis von Gattungsbegriffen integrierbar. Auf die Lyrik angewendet bedeutet dies:
57 Wolf 2005, 32. 58 Zu einem solchen Verständnis vgl. den Überblick in Hempfer 1973, 89–122. Ein konstruktivistisches Gattungsverständnis, das ‚Gattungen‘ generell und damit natürlich auch die ‚Lyrik‘ bzw. das ‚Lyrische‘ in einer „kommunikativen Kompetenz“ ansiedelt und dabei zwischen transhistorischen und historisch variablen Komponenten unterscheidet, wurde ebd., S. 122– 127 skizziert. 59 Andeutungsweise bereits in Fishelov 1993, 63f. 60 Wolf 2005, 33. 61 Ebd., S. 34.
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1 Methodische Grundlagen aktueller Lyriktheorien The lyric prototype is a multi-componential phenomenon and consists of a number of traits or tendential attributes that apply more or less in individual cases and allow the lyric to be conceived of as a field with ‘fuzzy’ or ‘permeable’ edges and as a group of texts that, for all their heterogeneity, are linked to each other through a more or less intense family resemblance.62
Die Unterscheidung von Gattungen erfolgt demnach auf der Ebene von Prototypen, wobei der einzelne Text Merkmale anderer Prototypen aufweisen kann oder sogar gänzlich außerhalb des Prototypen liegt, wie dies vielleicht von einer ‚besonders‘ narrativen Ballade gelten könnte63. So überzeugend der konzeptionelle Rahmen ist, den ich im Folgenden übernehmen möchte, so scheint mir die konkrete Bestimmung des lyrischen Prototyps gleichwohl diskussionsbedürftig. Diese verläuft nämlich genau über die neun Merkmale, die eingangs aufgeführt und als jeweils isolierte von Wolf als nicht distinktiv ausgewiesen wurden, nunmehr aber in leichter Modifikation als Komponenten des lyrischen Prototyps aufgegriffen werden64 wobei die Frage nach der Validität des einzelnen Kriteriums als solchem davon abhängt, ob es auf „a majority of relevant texts“65 zutrifft. Für mich ergeben sich dabei folgende Probleme: –
62 63 64 65 66 67
Zum einen scheint mir die Signifikanz der einzelnen Merkmale für eine Bestimmung von Lyrik historisch unterschiedlich. Der Vers ist in der rhetorischen Tradition, gegen die bereits Aristoteles in Poetik 1447b anschreibt, die differentia specifica von Dichtung und Prosa im allgemeinen, wäre also für ‚Lyrik‘ gerade nicht spezifisch, d. h. es handelt sich um eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung. Umgekehrt ist seit dem 19. Jahrhundert der Vers keine notwendige Bedingung mehr. Eine von der Prosa abweichende Rhythmisierung und Sequenzialisierung sowie eine entsprechende Gestaltung der Buchseite wird aber gerade in lyrischen Texten in höchst unterschiedlicher Weise verwendet und damit geradezu zum Signal von Lyrik. Des weiteren treffen für bestimmte Epochen höchst signifikante Merkmale wie die „existence of one seemingly unmediated consciousness or agency“ und die „(emotional) perspectivity and subject- rather than object-centredness“66 auf andere Strömungen innerhalb ein und desselben Zeitraums gerade nicht zu. So ist die Entsubjektivierung im Sinne einer Aufhebung der „(emotional) perspectivity and subject- rather than object-centredness“ eines der zentralen Verfahren, mit denen sich die Parnasse-Lyrik von der romantischen Lyrikkonzeption abzusetzen versucht67. Damit wäre zum einen die Signifikanz der einzelnen Merkmale historisch unterschiedlich und zugleich wären gerade bestimmte historische Ausprägungen von Lyrik nicht prototypisch lyrisch. Ebd., S. 35. Ebd. Ebd., S. 38f. Ebd., S. 39. Ebd. Vgl. hierzu etwa Hempfer 1993.
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Hieraus ergibt sich eine zweite grundsätzliche Frage, nämlich ob die einzelnen Kriterien nicht noch zu sehr an bestimmten historischen Ausprägungen von ‚Lyrik‘ orientiert sind. So hat sich etwa Lamping entschieden gegen die Kriterien ‚Personalität‘ und ‚Subjektivität‘ mit Hinweis auf die ‚Absolutheit‘ moderner Lyrik gewehrt, kommt damit allerdings in ähnliche Probleme, weil für einen Großteil der Lyrik diese beiden Kriterien, wie auch immer sie näher zu bestimmen sind, fraglose Bedeutung haben. Damit sind wir schon bei meiner dritten Frage, nämlich ob der Prototyp aus sich ausschließenden bzw. nicht miteinander kompatiblen Merkmalen bestehen kann|darf. So ist die Perspektivitäts- und Subjektivitäts- sowie die Personalitätskonzeption von Lyrik nicht mit dem zu vermitteln, was Lamping und Wolf unter ‚Absolutheit‘ subsumieren, vielmehr lässt sich, wie erwähnt, zeigen, dass sich etwa in der französischen Lyrik des 19. Jahrhunderts unterschiedlich ausgeprägte Tendenzen der Entsubjektivierung und Entreferentialisierung ausbilden, die sich gerade hierdurch von der „(emotional) perspectivity and subject- rather than object-centredness“ der Lyrik der Romantik unterscheiden und neue lyrische Paradigmen zu etablieren suchen. Damit das Prototypenmodell ‚funktioniert‘, scheint es mir notwendig, den Prototyp so zu formulieren, dass er nicht sich ausschließende Merkmale enthält. Ein letztes Problem ergibt sich schließlich aus der Vermittlung des primären Prototyps der Lyrik mit dem, was Wolf „secondary historical prototypes“68 nennt. Als solche sekundären historischen Prototypen fungieren nun einzelne Gedichte aus unterschiedlichen Epochen, so wenn Wolf etwa das Sonett 81 aus Spensers Amoretti „as a secondary prototype of Elisabethan love poetry in the Petrarchan tradition“ bezeichnet69. Sekundäre historische Prototypen sind demnach für ein bestimmtes historisches Lyrikverständnis paradigmatische Texte, die den je historischen Prototyp idealtypisch realisieren70. Diese sekundären Prototypen hätten demnach jedoch einen anderen Status als das Konstrukt des primären Prototyps, der sich nach Wolf weder in einzelnen Gedichten noch in der Lyrik einer spezifischen Epoche manifestiert. Um ‚im System‘ zu bleiben71, müsste man wohl auch die sekundären historischen Prototypen als Konstrukte begreifen, die in unterschiedlichen Texten eines Zeit-
68 Vgl. die Skizze solcher sekundärer historischer Prototypen in Wolf 2005, 43–46. 69 Ebd., S. 43. 70 Das Verhältnis von ‚Prototypen‘ und ‚Idealtypen‘ (im Sinne Max Webers) scheint bisher nicht systematisch diskutiert zu sein (zu letzterem Begriff vgl. s.v. ‚Idealtyp‘ in Mittelstraß (Hg.) 2004). Ich verstehe unter einer idealtypischen Realisation die größtmögliche Ähnlichkeit zwischen einem konkreten Exemplar und dem Prototyp als Abstraktion. 71 Wie Taylor 32003 ausführt, können als Prototypen (1) einzelne charakteristische Exemplare einer bestimmten Kategorie (= „prototype-as-exemplar-view“) sowie (2) Subkategorien (= „prototype-as-subcategory-approach“) und schließlich (3) „an abstract representation of the category’s centre“ aufgefasst werden (S. 64). Mit guten Gründen scheidet Taylor die erste Möglichkeit aus und macht eine Entscheidung für (2) oder (3) von den jeweiligen Kategorien abhängig. Für eine Lyriktheorie scheint mir nur (3) eine mögliche Grundlage zu sein, also ‚Prototyp‘ verstanden als abstrakte Repräsentation des Kerns der Kategorie.
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raums unterschiedlich realisiert sein können, womit sich dann natürlich das alte Problem der Gattungstheorie stellt, wie man den transhistorischen, primären Prototyp mit den sekundären, historischen Prototypen vermittelt, sofern man den primären Prototyp nicht schlicht als ‚Summe‘ all dessen begreifen möchte, was historisch möglich war. Einem solch allumfassenden Konzept kann dann andererseits wiederum nicht der Status eines kognitiven Rahmens als Konstituens einer kommunikativen Kompetenz zukommen, weil ein dergestalt definierter Prototyp ja gerade alle historisch vorfindlichen kommunikativen Kompetenzen ‚übersteigt‘. In die Definition des primären Prototyps dürften folglich weder historisch spezifische Bedingungen eingehen, noch dürfte diese über Merkmalskomplexionen erfolgen, sondern müsste wohl auf ‚abstrakterer‘ Ebene angesiedelt sein, um auch oppositive Lyrikparadigmen, wie sie etwa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Frankreich nebeneinander existieren, als ‚Lyrik‘ von anderen Diskursformationen unterscheiden zu können. Zu konstruieren wäre also ein Prototyp, der die historisch unterschiedlichen kommunikativen Kompetenzen beschreibbar macht, als theoretisches Konstrukt aber auch nicht einfach unser heutiges Lyrikverständnis nachkonstruiert, weil dieses eben gerade Bestandteil einer historisch spezifischen kommunikativen Kompetenz ist72. Auf das Prototypenkonzept rekurrieren auch Mahler 2006 und Zymner 200973 und verabschieden damit gleichfalls ein wie auch immer klassifikatorisches Lyrikverständnis. Auch wenn sich Mahler vehement gegen eine systematische Lyriktheorie wehrt, scheint er sie gleichwohl im Ansatz zu konzipieren, wenn er sein Beschreibungsmodell nach den drei Zeichendimensionen – syntaktisch, semantisch und pragmatisch74 – auffächert und abschließend „poetry (or the lyric) [...] as a super72 Damit scheidet die bei Wolf 2005, S. 39, Anm. 46 konzipierte empirische Rezeptionsuntersuchung als Validierungstest aus, da der ‚Normalrezipient‘ in der Regel nur über gegenwärtige Lyrikkonzepte und nicht notwendig über mehr oder weniger transhistorisch valide verfügt. Diesem Problem entgeht auch Petzold 2012 nicht, wenn er sein Lyrikkonzept auf „eine gesteigerte Subjektivität oder Emotionalität der Texte“ (S. 9) gründet und diese Hypothese u.a. durch empirische Leserbefragungen zu belegen versucht. Explizit heißt es auf der hinteren Einbandseite: „Empirische Studien belegen, dass Leser solche Gedichte als besonders ‚lyrisch‘ bewerten, die sich als emotionale Selbstoffenbarung des Sprechers lesen lassen.“ ‚Empirisch‘ belegt ist damit zunächst nur die Persistenz eines romantischen Lyrikverständnisses, das bei gegenwärtigen Lesern ggfs. als kognitives Schema fungiert, das sich seinerseits jedoch als ein historisch entstandenes begreifen lässt. Ob das theoretische Konstrukt eines Prototyps ‚Lyrik‘ valide ist, kann empirisch demnach nur an der historischen Vielfalt der Texte selbst überprüft werden. 73 Vgl. Mahler 2006, 221 und Zymner 2009, 148. 74 Mahler scheint ‚pragmatisch‘ ambig zu verwenden, einmal als Bezeichnung für eine textinterne Strukturebene, wenn er von „[t]he pragmatic structure [sic] of a poem“ spricht (Mahler 2006, 249), das andere Mal als Bezeichnung für den textexternen Gebrauch (z. B. ebd.,
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ordinate category“75 auffasst, die Gattungen wie das Sonett als „lower level (basic level) categories as (typical) members“76 enthält. Zumindest diese Relation ist eine systematische und situiert damit das Lyrische auf einer abstrakteren Ebene als die Gattung ‚Sonett‘. Wichtiger für meine Argumentation ist folgende, eher beiläufige Feststellung Mahlers: A great many poems in the mimetic canon are homodiegetic and homochronous, i. e. they textually [...] construct speakers [...] who (pretend to) instantaneously speak about themselves.77
Und in der Anmerkung hierzu heißt es: This tendency towards homochronicity seems to distinguish a lot of [sic] poems from narrative texts (in the narrow sense) which traditionally report on things past [...].78
Hier ist angedeutet, was ich in der Folge als Performativitätsfiktion zu bestimmen versuche, wobei ich unter ‚performativ‘ allerdings etwas wesentlich anderes verstehe als Mahler.79 Zymner gelangt auf der Grundlage einer umfassenden Forschungsdiskussion und einer Fülle konkreter Textbeispiele zu folgender Definition: Lyrik ist graphische oder phonische Repräsentation von Sprache als Sprachwerk oder Sprachkunstwerk, welche als generisches Display sprachlicher Medialität fungiert und ästhetische Evidenz prozedural konstituiert.80
Hierbei handelt es sich um die mittlere einer längeren und einer noch kürzeren Version81, deren zentrale Konzepte der „Display sprachlicher Medialität“ und die Konstitution „ästhetische[r] Evidenz“ sind. Was Zymner hiermit meint, lässt sich am knappsten vielleicht folgendem Zitat entnehmen: Die ästhetische Evidenz von Lyrik beruht auf der graphischen oder phonischen Repräsentation eigensinniger Sprache – ikonisch in einem ‚Schriftbild‘ oder performativ. Diese
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220f.). Es ist offenkundig, dass jeder einen Text ‚gebrauchen‘ kann, wie er will, das enthebt aber noch nicht von der Frage, ob der Text auch adäquat ‚gebraucht‘, d.h. verstanden wird oder nicht. Mahler 2006, 256. Wenn Mahler von „poem“ bzw. „poetry“ spricht, präsupponiert er, wie das ‚or‘ eindeutig belegt, ‚lyrisches Gedicht‘. Es geht ihm also nicht um eine ‚Pragmasemiotik ‚der Dichtung‘, sondern ‚der Lyrik‘. Ebd. Ebd., S. 246f. Ebd., S. 247, Anm. 99. Mahler verwendet die Opposition von ‚performativ‘ vs. ‚mimetisch‘|‚referentiell‘, wie sie z.T. im englischen Sprachraum üblich ist (vgl. ebd., 225f. und Anm. 30). Zum Performativitätsverständnis, das ich im Folgenden voraussetze, vgl. Hempfer 2011, insb. S. 19–24. Eine völlige Entgrenzung des Konzepts findet sich in Landwehr 2006, dem es nicht um die Performativität von Lyrik, sondern „um den Prozess des Lesens, das Lesen als Handeln, als Performanz“ geht (Landwehr 2006, 234). Feststellungen wie die folgende: „‚Gedicht‘ und Gedichte sind implizite Performative; unvorgreifliche Versprechen einer unvorgreiflichen Performanz“ (ebd., 252), erzeugen eine gewisse Perplexität. Zymner 2009, 140. Vgl. ebd., S. 139 (für die längere Version) und S. 140 für die kürzere.
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1 Methodische Grundlagen aktueller Lyriktheorien eigensinnige Sprache, die ‚aufmerksamkeitsheischend‘-störende Attraktoren bereithält (vor allen Dingen prosodischer, phonästhetischer, metrischer und stilistischer Art, aber auch ikonischer oder performativer Art), weist primär auf die Medialität der Sprache hin und ermöglicht sodann die (rekursiv transkribierende) Konstituierung von Sinn, welcher sich nicht in propositionalen ‚Inhalten‘ erschöpft.82
Ich verstehe Zymners Ausführungen dergestalt, dass lyrische Texte so strukturiert sind, dass sie die Aufmerksamkeit auf das Medium als solches – nicht nur auf dessen Materialität83 – lenken und damit Sinnbildungsprozesse auslösen, die sich nicht mehr in rein propositionale Aussagen ‚übersetzen‘ lassen. Folgt man Zymner bis hierher, dann stellt sich natürlich die Frage, inwiefern der beschriebene Prozess der Generierung ästhetischer Evidenz lyrikspezifisch ist. Will man nicht auf das „Kaugummikriterium“84 der Kürze rekurrieren, dann lässt sich etwa die Versepik schwerlich ausgrenzen, vor allem wenn sie in Strophenform wie der ottava rima verfasst ist: Ariosts Orlando Furioso (1532) oder Tassos Gerusalemme liberata (1581) stellen den ‚Eigensinn der Sprache‘ mindestens in dem Maße aus, wie dies zeitgleiche Lyriksammlungen tun. Und Ähnliches dürfte von Shakespeares Theater und seinen Sonnets gelten. Ich würde folglich Zymners Ansatz als Neuformulierung eines transgenerischen Poetizitätskonzepts begreifen, das eine weitergehende Ausdifferenzierung generischer Strukturen unterschiedlichen Abstraktionsgrades nicht ausschließt. Einen prototypischen Ansatz vertritt schließlich Petzold 2012, der eine literarische Gattung explizit „als mentales Konstrukt mit unscharfen Rändern“ definiert, „dessen Binnenstruktur sich durch die Erkenntnisse der Prototypentheorie erklären lässt“85. Die Applikation der breit referierten Grundlagen der Kognitionspsychologie im Hinblick auf eine Neubestimmung von ‚Lyrik‘ ist jedoch weniger überzeugend. Dies resultiert zum einen aus der im Unklaren verbleibenden Differenzierung von „Lyrik im engeren Sinne“ und „Lyrik im weiteren Sinne“, wobei mit letzterem Konzept Lyrik „im Sinn der Gattungstrias in Abgrenzung zu Drama und Erzählprosa“ gemeint ist und dieser Begriff zugleich synonym zu „Dichtung“ verwendet wird86. ‚Gedicht‘ wird sodann als „Teil der Kategorie DICHTUNG“ definiert und „LYRISCHES GEDICHT ist in DICHTUNG enthalten“. Was schließlich ein lyrisches Gedicht ausmacht, soll „im vierten Kapitel erläutert werden“87. Das vierte Kapitel ist jedoch überschrieben mit „Das mentale Gattungsschema ‚Dichtung‘“88. Ein weiteres Problem ergibt sich aus der Übernahme narratologischer Kategorien, die einmal mehr gerade die Differenz von prototypisch narrativen und proto82 83 84 85 86
Ebd., S. 134. Hierauf insistiert Zymner mit Nachdruck. Vgl. ebd., S. 122–126. Ebd., S. 79. Petzold 2012, 79. Ebd., S. 18 (Herv. v. mir). Die Trias war natürlich nicht auf Erzählprosa eingeschränkt. Hier scheint das begriffliche Durcheinander seinen Ausgangspunkt zu haben, insofern die Trias Epik-Lyrik-Dramatik durch eine Dichotomie von Dichtung vs. Prosa überlagert wird. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 79–135.
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typisch lyrischen Texten verwischt, indem z.B. allein aus der Tatsache, dass auch in lyrischen Texten zwischen dem empirischen Autor und dem textinternen Sprecher zu unterscheiden sei, eine prinzipielle „Vermitteltheit“ auch des lyrischen Textes abgeleitet wird89. Schließlich belegt das zentrale 5. Kapitel – „Sprechinstanz und Sprechsituation im (lyrischen) Gedicht“ – mit seiner Einklammerung von ‚lyrisch‘90, dass mit der vorrangigen Fokussierung auf die Äußerungsinstanz als solcher keine prototypisch lyrische Äußerungsstruktur ausdifferenziert werden kann. Hierzu bedarf es einer spezifischen Relationierung von Sprechsituation und besprochener Situation.
89 Vgl. ebd., insb. S. 206–214 und den „Schluss“ S. 275–280. Die Doppelung der Senderinstanz als Basis des Fiktionskontrakts im Sinne von Warning 1983 sollte nicht mit der „Mittelbarkeit“ allen Erzählens – auch des nichtfiktionalen – im Sinne Stanzels – verwechselt werden. 90 Vgl. ebd., S. 137–215.
2 DER LYRISCHE PROTOTYP ALS PERFORMATIVITÄTSFIKTION Ich möchte im Folgenden eine Äußerungsstruktur skizzieren, die sich in als Lyrik bezeichneten Texten über zweieinhalb Jahrtausende hinweg finden lässt, die diese von anderen Formen literarischer Äußerung unterscheidet und die sich wegen ihrer Distinktivität als prototypisch lyrisch bezeichnen lässt, von der aus sich dann andere in ‚Lyrik‘ vorfindliche Äußerungsmodalitäten nach dem Grad ihrer Nähe oder Ferne skalieren lassen. Dabei wird sich auch und gerade an besonders stark ‚dramatisierten‘ und ‚narrativisierten‘ Subgattungen wie etwa dem dramatic monologue oder den Balladen deren spezifische ‚Lyrisierung‘ dramatischer und narrativer Kommunikationsmodi aufzeigen lassen, die sie an den Prototyp ‚Lyrik‘ anschließbar machen. 2.1 SAPPHO, CATULL UND DIE PROTOTYPISCH LYRISCHE ÄUßERUNGSSTRUKTUR Wenn ich im Folgenden als erstes einen Text Sapphos (ca. 630–ca. 560 v. Chr.) wähle, dann postuliere ich solchermaßen nicht die Existenz eines Lyrikbegriffs im neuzeitlichen Sinne – ich habe an anderer Stelle das genaue Gegenteil zu zeigen versucht1. Mir geht es vielmehr um den Nachweis, dass sich bereits bei einer Autorin, die seit den alexandrinischen Philologen zu den neun kanonisierten lyrikoí und damit zu den Musterautoren der Odendichtung zählt2, eine Äußerungsstruktur findet, die sich sodann in späteren Texten von der Antike über das Mittelalter bis in die Moderne nachweisen lässt und diese grundsätzlich von prototypisch narrativen und prototypisch dramatischen Texten unterscheidet:
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Φαίνεταί µοι κῆνος ἴσος θέοισιν ἔµµεν' ὤνηρ, ὄττις ἐνάντιός τοι ἰσδάνει καὶ πλάσιον ἆδυ φωνείσας ὐπακούει
Mir scheint den Göttern gleich zu sein jener Mann, der dir gegenüber sitzt und nahe süß dich sprechen hört
καὶ γελαίσας ἰµέροεν, τό µ’ ἦ µὰν καρδίαν ἐν στήθεσιν ἐπτόαισεν, ὠς γὰρ ἔς σʹ ἴδω βρόχε’ ὤς µε φώνας οὖδεν ἒτ’ εἴκει,
und lieblich lachen, das hat mir wahrlich das Herz in der Brust in Schrecken versetzt, denn sowie ich dich kurz erblicke, erreicht mich nichts mehr von der Stimme,
Vgl. Hempfer 2008. Vgl. hierzu Primavesi 2008.
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ἀλλὰ κὰµ µὲν γλῶσσα +ἔαγε+, λέπτον sondern die Zunge ist gebrochen, zartes δ’ αὔτικα χρῶ πῦρ ὐπαδεδρόµηκεν, Feuer ist alsbald unter die Haut gekrochen, ὀππάτεσσι δ’ οὐδ’ ἒν ὄρηµµ’, ἐπιρρόµ- mit den Augen sehe ich nichts, βεισι δ’ ἄκουαι die Ohren sausen, ἀ δέ µ’ ἴδρως κακχέεται, τρόµος δὲ παῖσαν ἄγρει, χλωροτέρα δὲ ποίας ἔµµι, τεθνάκην δ’ ὀλίγω ’πιδεύης φαίνοµ' ἔµ’ αὔται
der Schweiß ergießt sich, Zittern ergreift mich ganz, bleicher noch als Gras bin ich, fast bin ich tot, so erscheint es mir selbst.
ἀλλὰ πὰν τόλµατον ἐπεὶ +καὶ πένητα+3 Aber alles ist erträglich, da …
Der Text setzt ohne jegliche weitere Begründung für das Sprechen mit der Evokation einer konkreten Situation ein, in der mit einem deiktischen Ausdruck (κῆνος = jener) auf eine bestimmte Person in dieser Situation, den göttergleichen Mann, Bezug genommen wird, der seinerseits in einer konkret örtlichen Position zur Adressatin situiert wird (Vers 2: ἐνάντιός τοι = dir gegenüber), um sodann die nur einem in der Situation Anwesenden erkennbaren äußeren Erscheinungsformen einer erotischen Beziehung zwischen diesen beiden zu thematisieren (Vers 3–5), die ihrerseits eine bestimmte, sich zeitgleich entwickelnde psycho-physische Reaktion der Sprecherin auslösen, deren Geschlecht sich explizit als solches in der weiblichen Form des Komparativs (χλωροτέρα = bleicher, V. 14) manifestiert. Der nur als Fragment überlieferte Text bricht mit einer Sentenz ab, die uns hier nicht weiter zu interessieren braucht. Entscheidend ist vielmehr die Struktur der Äußerung, die darauf basiert, dass die Situation, die der Sprechakt repräsentiert, sich simultan zu diesem konstituiert, dass es also eine gemeinsame hic-et-nuncDeixis für das Sprechen und die im Sprechen entworfene Situation gibt oder anders formuliert: Im Augenblick des sprachlichen Vollzugs ereignet sich das, was die Sprecherin (nicht die Autorin, dies wäre logisch unmöglich) sprachlich artikuliert. Damit basiert der Text jedoch auf der Grundstruktur einer performativen Äußerung, wie sie Austin formuliert hat: There is something which is at the moment of uttering being done by the person uttering.4
Im Unterschied zu Austin beziehe ich die Performativitätsrelation jedoch nicht auf einen einzelnen Sprechakt, der eine spezifische Handlung konstituiert, sondern auf eine Abfolge von Sprechakten, die im Akt des Sprechens die Situation entwerfen, die sie zeitgleich besprechen. Nun konstituiert jeder fiktionale Text ‚Welt‘. Das spezifisch Lyrische scheint im Unterschied zum Erzählen gerade darin zu liegen, dass nicht eine Instanz – sei
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Zitiert nach Sappho 61979, 24. Für die deutsche Übersetzung danke ich Frau Dr. Angelika Lozar. Austin 1962, 60.
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sie nun hetero- oder homodiegetisch – eine Geschichte vermittelt5, sondern dass ein Sprecher im Akt des Sprechens das tut bzw. erfährt, worüber er zeitgleich spricht. Ein lyrisches Sprechen erzählt also nicht, was geschehen ist, sondern konstituiert im Sprechen, worüber gerade gesprochen wird, oder anders formuliert: Lyrisches Sprechen basiert auf der Simultaneität bzw. Koinzidenz von Sprechsituation und besprochener Situation6. Diese Simultaneität ist nun freilich eine fiktionale, insofern der schriftlich fixierte Text diese nicht de facto realisieren, sondern immer nur ‚inszenieren‘ kann: Der Autor konstituiert einen Sprecher, der so redet, als befände er sich in der Situation, über die er zeitgleich redet, und der Leser rezipiert den Text, als würde er der Situation beiwohnen, die zeitgleich durch den Text konstituiert wird. D. h. spezifisch für den lyrischen Prototyp wäre nicht eine performative Äußerung als solche, sondern die Fiktion von Performativität, deren Fiktionalität genau darauf beruht, dass der Text seine Performativität nur inszeniert, indem er einerseits analog zu einer performativen Äußerung strukturiert ist und andererseits zugleich die Differenz zu einer normalen performativen Äußerung signalisiert7 (qua schriftlich vorliegender Text8). 5
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Zur „Mittelbarkeit“ als Gattungsmerkmal der Erzählung vgl. Stanzel 1979, 15–38. Bernhart 1993, 336f. identifiziert lyrisches Sprechen mit dem „Reflektormodus“ nach Stanzel und leitet daraus die grundsätzliche „Mittelbarkeit“ auch der Lyrik ab. Stanzel spricht aber nicht vom „Reflektormodus“, sondern von der „Reflektorfigur“ in Opposition zur „Erzählerfigur“ (Stanzel 1979, insb. 195–202) und differenziert hierüber zwei unterschiedliche Modi des Erzählens (showing vs. telling). Narrative Texte konstituieren sich in der Regel aus beiden Modi in historisch je unterschiedlicher Mischung und Ausgestaltung. Die Zurückdrängung der Erzählerfigur gegenüber einem ‚Reflektor‘ ist eine typische Erscheinung (post-)modernen Erzählens und ist als historisch spezifische Transformation der prototypischen ‚Mittelbarkeit‘ des Erzählens zu begreifen. Der im Folgenden explizierte Prototyp lyrischen Sprechens zielt demgegenüber auf eine transhistorische Äußerungsstruktur, die prototypisch ‚lyrische‘ von prototypisch narrativen Texten unterscheidbar macht. Vgl. hierzu auch unten Kap. 3.1, Anm. 11. Es ist dieses spezifische Verhältnis, das aus ‚normalen‘ Sprechakten, die Schlaffer 2008 analysiert, allererst Sprechakte der Lyrik macht. Zur Notwendigkeit der Unterscheidung von ‚Sprechakt‘ und ‚Sprechsituation‘ vgl. Hempfer 2011, 21. Aufgrund der hier vertretenen fundamental unterschiedlichen Äußerungsstruktur von erzählenden und lyrischen Texten scheint es mir auch sinnvoll, weiterhin vom ‚lyrischen Ich‘ im Unterschied zum ‚Erzähler‘ zu sprechen. Für eine Abschaffung des Begriffs plädieren auf anderer methodischer Grundlage Borkowski|Winko 2011. Zu dieser Bestimmung von ‚Fiktionalität‘ vgl. Hempfer 1990, wieder abgedruckt in Hempfer 2002, 107–133, insb. S. 123–125. Bei der skizzierten Äußerungsstruktur handelt es sich nicht etwa um einen Sonderfall im Rahmen der frühgriechischen Lieddichtung (melopoiía). Wie Deufert 2004 im Anschluss an Rösler 1984 ausführt, bespricht der lyrische Dichter im Unterschied zum Epiker „ganz vorwiegend Gegenwärtiges. Es handelt sich um Rede ‚nicht einfach nur in einer bestimmten Situation, sondern zugleich für eine bestimmte Situation [...], auf die bzw. auf deren zeitliches Umfeld sich der Gedichtsinhalt bezieht‘“ (Deufert 2004, 24f.; das Zitat aus Rösler 1984, 188). Selbst wenn im Fall des Sappho-Gedichts beim Erstvortrag die besprochene Situation genau den Gegebenheiten der aktualen Sprechsituation entsprochen haben sollte, was aufgrund der ‚pikanten‘ dreistelligen Relation höchst unwahrscheinlich ist, ist eine solche Identität bei Vor-
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Wenn Texte sehr deutlich markierte, intertextuelle Bezüge aufweisen, dann verstärken diese natürlich die Fiktionalität des vorgeblich Performativen, indem sie dessen Inszeniertheit unterstreichen. Dies belegt der folgende Catull-Text genauso wie die Tatsache, dass mit der am Beispiel Sapphos skizzierten Äußerungsstruktur auf etwas anderes abgehoben wird als mit der Definition von ‚Lyrik‘ nach dem Redekriterium (‚der Dichter spricht in eigener Person‘): Ille mi par esse deo videtur, ille, si fas est, superare divos, qui sedens adversus identidem te spectat et audit
Wie ein Gott – so will mir der Mann erscheinen, mehr als Gott – so dieses zu sagen statthaft – der gegenüber sitzend nur immerfort dich anblickt und hört dein
dulce ridentem, misero quod omnis eripit sensus mihi: nam simul te, Lesbia, aspexi, nihil est super mi < Lesbia,vocis,>
süßes Lachen! Wahrlich um alle Sinne bringt dies mich Unseligen. Wenn mein Blick nur dir begegnet, Lesbia, gleich verstummt, ach Lesbia, meine
lingua sed torpet, tenuis sub artus flamma demanat, sonitu suopte tintinant aures, gemina teguntur lumina nocte.–
Stimme, starrt die Zunge, ergießt sich lohend Feuer in die Glieder, im Ohr klingt’s und dröhnt’s, die Augensterne umschattet doppelt nächtliches Dunkel. –
Otium, Catulle, tibi molestum est: otio exultas nimiumque gestis. otium et reges prius et beatas perdidit urbes.9
Müßiggang, Catullus, erweckt dir Leiden, Müßiggang verlockt dich zu frechem Schwärmen, Müßiggang hat Könige einst gestürzt und blühende Städte.
Die ersten drei Strophen sind strukturell vollkommen und inhaltlich weitgehend identisch mit Sapphos Text: Ein nunmehr eindeutig männlicher Sprecher („misero...mihi“) wendet sich an Lesbia und klagt über sein Leiden, das er beim Anblick der dem anderen, dem göttergleich scheinenden Mann („Ille mi par esse deo videtur“, V. 1), zulachenden Geliebten empfindet. In der Schlussstrophe werden durch
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tragswiederholungen nicht ohne weiteres anzunehmen. Im übrigen kann Deufert auf explizite Fiktionalisierungen der Relation von Sprechsituation und besprochener Situation in der frühgriechischen Lyrik verweisen, so etwa wenn in einer Reihe von Fragmenten des Alkaios der Sprecher vorgibt, „sich gemeinsam mit seinen Kameraden auf einem Schiff zu befinden, das von einem schweren Sturm bedroht ist,“ und diese Situation als aktuale bespricht (Deufert 2004, 25). Schließlich wird das angesprochene Problem mit der Dominanz der Schriftkultur seit dem späten 5. Jh. v. Chr. obsolet, insofern „individuelles Lesen allmählich das kollektive Zuhören als Normalfall der Rezeption“ verdrängte (Rösler 2011, 277). Vgl. ferner Rösler 2011a. Das Problem der Aufführungs- bzw. Vortragssituation, das frühantike und mittelalterliche Literatur verbindet, scheint bisher am subtilsten in der mediävistischen Germanistik diskutiert worden zu sein. Hierzu und zur notwendigen Unterscheidung von ‚Performativität‘ einerseits und ‚Performanz‘ qua Aufführung andererseits vgl. unten Kap. 4. Zitiert nach Catull 1960, 44–47.
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die Selbstapostrophe Autor und Sprecher explizit identifiziert, folglich spricht hier der Dichter prototypisch ‚in eigener Person‘, die spezifische Äußerungsstruktur der ersten drei Strophen ist damit jedoch in keiner Weise getroffen, weil nicht gesagt ist, wie der Autor spricht – er könnte ja auch erzählen oder ausschließlich reflektieren. Das heißt, das von mir vorgeschlagene Modell ist deutlich komplexer, insofern es auf vier interdependenten Komponenten beruht, die ihrerseits Relationen von Elementen, also Strukturen darstellen und in ihrer Interdependenz die prototypische Struktur lyrischer Äußerung konstituieren. Dies sind: 1. eine Sprechsituation, die durch die Bühlersche Ich-Origo, sprich eine IchHier-Jetzt-Deixis charakterisiert ist; 2. eine besprochene Situation, die als ‚Geschehen‘, Prozess, Ereignis u.ä. ausdifferenziert werden kann und die sich in und durch den Sprechakt gleichzeitig zu diesem auf der Grundlage einer identischen Deixis konstituiert; 3. eine Performativitätsfiktion, deren performativer Charakter aus der Simultaneität bzw. Koinzidenz von Sprechsituation und besprochener Situation resultiert und deren Fiktionalität darauf basiert, dass die Simultaneitätsrelation eine textinterne, inszenierte ist, die nicht der Kommunikationssituation zwischen Produzent und Rezipient entspricht; 4. das Fehlen bzw. die Asymmetrie der Sprecher-Adressaten-Relation, insofern der Sprecher die ‚Lizenz‘ hat, sich sowohl adressatenlos, unmittelbar und ohne explizite Motivation zu äußern (hierauf ist anhand des nächsten Textbeispiels zurückzukommen) als auch einen Adressaten explizit anzusprechen10. Dieser kann jedoch seinerseits im Unterschied zur normalen face-to-faceKommunikation gerade nicht selbst zum Sprecher werden, sondern allenfalls als zitierter Sprecher fungieren, der durch den ‚eigentlichen‘ Sprecher eingeführt und in abhängiger direkter Rede spricht. Es geht mir also nicht einfach um die Doppelheit von énonciation und énoncé11, sondern mein Bestimmungsversuch der prototypisch lyrischen Äußerungsstruktur 10 Culler 2009 betont, neben der Anrede realiter möglicher Adressaten, die besondere Bedeutung der Apostrophe in der Lyrik, und leitet daraus die grundsätzliche Performativität von Lyrik ab: „The fundamental characteristic of lyric [...] is not the description and interpretation of a past event but the performance of an event in the lyric present, a time of enunciation. What lyrics demand of the world is often something to be accomplished by the performativity of lyric itself.“ (S. 887) Und etwas weiter heißt es, Lyrik sei „an active form of naming, which performatively seeks to create what it names“ (ebd.). Culler hebt auf dasselbe ab, was ich in den Kriterien (1) und (2) formuliert habe, allerdings ist die spezifische Performativität lyrischer Rede wohl nicht aus der Anrede an empirisch mögliche oder nicht mögliche Entitäten abzuleiten, nicht zuletzt deshalb, weil es eine solche Performativität auch in adressatenlosen Texten, wie ich sogleich zeigen werde, gibt. Gleichwohl erscheint es mir wichtig, dass Culler eine grundsätzlich ähnliche ‚Intuition‘ hinsichtlich der fundamentalen Differenz von prototypisch – Culler verwendet den Begriff nicht – narrativen und prototypisch lyrischen Texten formuliert, wie sie meinen Ausführungen zugrundeliegt. 11 Hierauf hatte Müller-Zettelmann 2002 abgehoben. Vgl. oben S. 18f. Im Unterschied zu Petzold 2012 geht es mir auch nicht nur um die Sprechsituation als solche, sondern um die spezi-
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basiert auf einer Spezifizierung der Ebene der énonciation und derjenigen des énoncé sowie auf einer näheren Bestimmung der spezifischen Relation zwischen diesen beiden Ebenen. Das, was die Spezifität des lyrischen énoncé ausmacht, ist, wie auch Wolf feststellt, prototypisch keine ‚Geschichte‘12, verstanden als ein Ereigniszusammenhang basierend auf einer ‚Handlungslogik‘13, sondern ein Geschehen im eher vagen Sinn eines einzelnen Ereignisses, einer Situation, eines Vorgangs, eines Zustandes u.ä. Dies sei im Folgenden an einem der bekanntesten Petrarca-Sonette etwas näher illustriert: 2.2 PETRARCA: „SOLO E PENSOSO“ Solo et pensoso i più deserti campi vo mesurando a passi tardi et lenti, et gli occhi porto per fuggire intenti ove vestigio human la rena stampi. 5
Altro schermo non trovo che mi scampi dal manifesto accorger de le genti, perché negli atti d’alegrezza spenti di fuor si legge com’io dentro avampi:
sì ch’io mi credo omai che monti et piagge 10 et fiumi et selve sappian di che tempre sia la mia vita, ch’è celata altrui. Ma pur sì aspre vie né sì selvagge cercar non so, ch’Amor non venga sempre ragionando con meco, et io co·llui. (RVF XXXV, 1–14)14
Im Unterschied zu dem Sappho- und dem Catull-Gedicht wird hier kein Adressat angesprochen, vielmehr konstituiert sich der Text als nicht näher begründeter Äußerungsakt, der über etwas spricht, das sich im Akt des Sprechens vollzieht – das „vo mesurando“, eine der englischen Verlaufsform entsprechende Fügung, realifische Interdependenz von Sprechsituation und besprochener Situation und die sich daraus ergebende Differenz zur prototypisch narrativen und prototypisch dramatischen bzw. theatralen Äußerungsstruktur. 12 Vgl. Wolf 2005, Anm. 45. Hieraus resultiert ein zentraler Unterschied zum präsentischen Erzählen. Vgl. ferner unten Kap. 3.1, Anm. 11. 13 Zum Begriff der ‚Geschichte‘|histoire im erzähltheoretischen Sinn vgl. Hempfer 1982, insb. S. 134f. (= Hempfer 2002, 86). 14 Zitiert nach Petrarca 22004, 190 (im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert). Zu einer Übersetzung vgl. Anhang 4.
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siert grammatikalisch explizit die Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation. Die Funktion des Textes als Selbstaussprache eines einsamen („solo“) und melancholischen („pensoso“) Ich ergibt sich aus der Semantik des Textes selbst wie dessen Integration in die Sammlung, deren „rime sparse“ das Einleitungssonett ja als Ausdruck der „sospiri“ des Sprechers ankündigt: Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono di quei sospiri ond’io nudriva ’l core in sul mio primo giovenile errore quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono [...] (RVF I, 1–4)15.
Petrarca zitiert mit diesen Eingangsversen die Vortragssituation mittelalterlicher Lyrik – hierauf ist zurückzukommen – , die für ein Liederbuch freilich gerade nicht mehr gilt16 und schafft in der Figur des Zuhörers den eigentlichen Adressaten für ein adressatenloses Sprechen. Aber warum bedient sich Petrarca einer medialen Metaphorik („voi ch’ascoltate“), die der realen Rezeption einer komplex strukturierten Sammlung von 366 Gedichten nicht mehr entsprechen kann? Er tut dies meines Erachtens deshalb, weil er in der Schriftlichkeit des Canzoniere ein mündliches Sprechen des lyrischen Ich fingiert, das in dem im letzten Terzett von „Solo et pensoso“ evozierten Sprechen mit Amor („ragionando“), das den Sprecher aus der kommunikativen ‚Isolation‘ befreit, explizit thematisch wird. Wenn ein adressatenloses Sprechen in RVF XXXV also über die besprochene Situation bis zu einem gewissen Grad plausibilisiert wird, so wird dieses (spätestens) mit der Goethezeit und der gesamteuropäischen Romantik zu einer selbstverständlichen Konvention des lyrischen Diskurses, die durch ihre Differenz zur normalen face-to-face-Kommunikation und die gleichzeitige Präsupposition eines impliziten Adressaten qua Rezipient|Leser des Textes, dessen Fiktionalität signalisiert. Der Petrarca-Text weist noch einen weiteren Unterschied zu dem Sapphound dem Catull-Gedicht auf, der das Verhältnis von Sprechsituation und besprochener Situation betrifft. Es handelt sich nämlich nicht um die Evokation einer singulären, sondern einer iterativen Situation, die wie beim iterativen Erzählen17 mehrfach geschieht, aber nur einmal vermittelt wird. Dass es sich um eine wiederholt sich ereignende Situation handelt, in der sich der Sprecher befindet, ergibt sich mit Eindeutigkeit aus dem letzten Abschnitt, wo es von Amor heißt, dass er immer wieder („sempre“ V.13) zum Sprecher käme, um sich mit diesem zu unterhalten, welch rauhe und wilde Wege dieser auch einschlage. Die einmalige Wie15 Übersetzung Anhang 5. 16 Vom Canzoniere sind über Jahrzehnte hinweg eine Mehrzahl unterschiedlicher Handschriftenfassungen erhalten, die auf eine ganz bewusste Konstitution eines nur schriftlich rezipierbaren ‚Liederbuchs‘ verweisen, dessen komplexe ‚Architektur‘ der Autor bis kurz vor seinem Tod beständig umorganisiert hat (vgl. hierzu die Zusammenstellungen der verschiedenen handschriftlichen Fassungen in Petrarca 22004, CCV–CCIX, sowie Santagata 1992). 17 Zum iterativen Erzählen vgl. Genette 1972, insb. S. 145–153.
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dergabe eines mehrfachen Vorgangs bzw. einer wiederholt sich ereignenden Situation ist nun performativ eigentlich paradox, da die Simultaneität von Sprechakt und Situationskonstitution ja nur einmalig möglich ist, doch unterstreicht dies zum einen eben die Fiktionalität lyrischen Sprechens, ja ist geradezu als ‚Fiktionalitätssignal‘ zu begreifen18, und markiert zum anderen die intendierte Generalisierung der Aussage, die über eine scheinbar aktuelle Situation des Sprechers dessen generelle Befindlichkeit zu vermitteln sucht. Petrarca erreicht dies, indem die Quartette und das erste Terzett eine – scheinbar – einmalige Situation evozieren, die durch das „omai“ (=nunmehr, jetzt, V.9) als solche unterstrichen wird, um im abschließenden Terzett dann die Generalisierung des scheinbar Einmaligen sozusagen ‚nachzuschieben‘. Als Aussage des Textes fungiert damit nicht die Artikulation des einmaligen ‚Erlebnisses‘, wie dies durch das „vo mesurando“ sowie durch das präsentische „porto“ und die weiteren Präsensformen eingangs und in der Folge signalisiert zu werden scheint, sondern die eines generellen ‚Zustandes‘ des melancholischen Sprechers, für den die Welt nur als Projektionsfläche seiner seelischen Befindlichkeit fungiert, d. h. die „deserti campi“ (V.2), die „monti et piagge“ (V.9), die „fiumi et selve“ (V.10) spielen nur insoweit im Text eine Rolle, als sie die Transponierung eines inneren Vorgangs in eine äußere Situation ermöglichen, doch kommt ihnen keine Selbständigkeit im Sinne romantischer Naturlyrik zu. Wenn Petrarcas Text immer wieder mit der romantischen Subjektivitätskategorie belastet wurde19, dann dürfte dies nicht zuletzt aus der hier skizzierten transepochal möglichen Äußerungsstruktur lyrischer Texte resultieren, deren historisch-spezifische Realisationsformen aber freilich gerade nicht auf das goethezeitliche „Erlebnispostulat“20 reduziert werden dürfen. Wie bereits das „pensoso“ des Eingangsverses andeutet, das in diesem Zusammenhang wohl weniger als ‚nachdenklich‘ denn als ‚betrübt‘, ‚traurig‘, ‚bekümmert‘ zu verstehen ist21, ist der Text und die evozierte Situation nicht Ausdruck eines ‚spontanen‘, ‚individuellen‘ Gefühls, sondern Darstellung einer bestimmten Affektstruktur, nämlich der accidia bzw. aegritudo. In Petrarcas Secretum, einem Dialog zwischen Franciscus und Augustinus, wird im Rahmen des Sündenkatalogs des zweiten Buches diese „pestis animi“ ausführlich beschrieben und von Augustinus explizit als die Krankheit des Franciscus ausgewiesen22, die im dritten Buch ihre Begründung in dem verfehlten Streben nach amor und gloria erfährt, die den Menschen als adaman18 Vgl. hierzu Hempfer 1990, insb. S. 126–129 (=Hempfer 2002, 123–125). 19 Vgl. hierzu kritisch Hempfer 2001 und Hempfer 2003 (it. Übersetzung Hempfer 2007). Zu grundsätzlichen Argumenten gegen eine ‚romantisierende‘ Lektüre von Petrarcas Naturlyrik vgl. bereits König 1980. 20 Zu diesem Konzept und zur Problematik der ‚Erlebnislyrik‘ im allgemeinen vgl. Wünsch 1975. 21 Vgl. hierzu König 1980, 258. 22 Vgl. Petrarca 2004, 178f.: "AUGUSTINUS. Habet te funesta quedam pestis animi, quam accidiam moderni, veteres egritudinem dixerunt." [„AUGUSTINUS. Es hat dich eine tödliche Seuche des Geistes im Griff, die die Modernen accidia und die Alten aegritudo nennen.“] Zu einer grundlegenden Interpretation des Secretum vgl. Huss|Regn ebd., S. 493–539, zum Verhältnis von Canzoniere und Secretum Hempfer 1993|94 und Hempfer 1995.
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tinae catenae an das Irdische ketten und ihm den Weg zum ewigen Heil versperren23. Dabei werden etwa die Wirkungen der Liebe in einer Art geschildert, die geradezu als Paraphrase unseres Textes gelten kann: Cogita nunc, ex quo mentem tuam pestis illa corripuit, quam repente, totus in gemitum versus, eo miseriarum pervenisti ut funesta cum voluptate lacrimis ac suspiriis pascereris; cum tibi noctes insomnes et pernox in ore dilecte nomen; cum rerum omnium contemptus viteque odium et desiderium mortis, tristis et amor solitudinis atque hominum fuga, ut de te non minus proprie quam de Bellorophonte illud homericum dici posset: "qui miser in campis merens errabat alienis ipse suum cor edens, hominum vestigia vitans."24
Bis hinein in wörtliche Übernahmen – tristis25 und miser, amor solitudinis, campi, hominum fuga und hominum vestigia vitans – wird im Secretum ein Verhalten beschrieben, das der in RVF 35 evozierten Situation entspricht, sich von dieser aber genau durch die spezifisch performative Relation von Sprechsituation und besprochener Situation unterscheidet. Diese Situation ist nun aber keineswegs Niederschlag einer subjektiv-individuell-spontanen Erfahrung, eines ‚Erlebnisses‘ im goethezeitlichen Sinn, sondern Realisationsmodus einer generellen Affektstruktur, der notwendig jeder anheim fällt, der über den Reiz des Irdischen das ewige Heil vergisst. Pointiert könnte man sagen: Das performative Sprechen konstituiert bei Petrarca kein individuelles, sondern ein paradigmatisches Ich, das in der Pluralisierung vorgängiger Diskurse Neues schafft, sich aber noch nicht als Produzent eines je individuellen Diskurses inszeniert26. Ich kann diese These hier nicht weiter ausführen, für die historische Validität des von mir vorgeschlagenen Strukturmodells schien es mir jedoch zentral, deutlich zu machen, dass hiermit gerade keine bestimmte Konzeption des Subjekts und des Verhältnisses von Diskurs und Subjekt impliziert ist, was natürlich nicht heißt, dass sich dieses Modell nicht in besonderem Maße für den Ausdruck romantischer Subjektivität eignet, was wohl auch der Grund dafür sein dürfte, dass
23 Vgl. hierzu die zentrale Passage zu Beginn des III. Buches in Petrarca 2004, 228–230. 24 Ebd., S. 278–280. [Denke daran, wie rasch du seit dem Zeitpunkt, da jene Seuche sich in deinem Sinn ausgebreitet hat, ganz dem Jammern verfielst und in solches Unglück gerietest, daß du dich mit unheilvoller Lust an Tränen und Seufzern weidetest; als deine Nächte schlaflos waren und du die ganze Nacht hindurch den Namen der Geliebten auf den Lippen hattest; als du alle Dinge verachtetest, das Leben haßtest und den Tod ersehntest! und als du traurig die Einsamkeit liebtest und vor den Menschen flohst! Da hätte man über dich genauso zutreffend wie über Bellerophon die Homerverse sagen können: „der unglücklich und voll Traurigkeit in fremden Gefilden umherirrte, | sein eigenes Herz verzehrte und die Spuren der Menschen mied.“ Auf den Zusammenhang mit dem Secretum verweist auch König 1980, 257– 259. 25 Das tristis des Secretum ist ein weiterer Beleg dafür, dass pensoso nicht als ‚nachdenklich‘ zu verstehen sein dürfte, auch wenn die gängigen Canzoniere-Kommentare hierzu nichts anmerken. 26 Vgl. hierzu ausführlicher insb. Hempfer 2001 und 2003 (it. 2007). Zu einer glänzenden Synthese der Forschung zur Lyrik Petrarcas und der Frühen Neuzeit insgesamt vgl. Penzenstadler 2011.
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die ‚abstrakte‘ Struktur und deren historisch konkrete Füllung häufig vorschnell aufeinander reduziert wurden. Eben dies ist mir in meiner Dissertation unterlaufen, als mir zum ersten Mal diese Simultaneität von „Sprechakt und sprachgewordenen Vorgang“ an einem ïambe Chéniers auffiel und ich dieses Phänomen nicht als transhistorisch möglich erkannte, sondern mit dem unglücklichen Begriff der ‚Erlebnisstruktur‘ belegte und darin Ansätze zu einem Transformationsprozess der Lyrik im Übergang vom Klassizismus zur Romantik sah, der sich solchermaßen nicht begründen lässt27. Dass es neben einer spezifischen Biografie28 diese und analoge Strukturen waren, die in der Folge Chénier immer wieder als précurseur eines romantischen Lyrikverständnisses erscheinen ließen29, liegt auf der Hand. Umgekehrt hat Marianne Wünsch gezeigt, welch neue Bedeutung dem, was sie als „Erlebnis-Postulat“ bezeichnet30, in der Lyrik Goethes zukommt, sodass sich der traditionelle Erlebnisbegriff in der Tat neu konstruieren lässt, auch wenn er nach dem bisher Gesagten nicht allein über die „Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation“ bestimmt werden kann31. 2.3 GOETHE: „ERWACHE FRIEDERICKE“ Im Folgenden möchte ich einen Text aus der sogenannten „Geniezeit“ des frühen Goethe analysieren, der die uns interessierende Struktur so pointiert einsetzt, dass deren fiktionaler Charakter explizit gemacht wird: I
5
II
Erwache Friedericke Vertreib die Nacht Die einer Deiner Blicke Zum Tage macht. Der Vögel sanft Geflüster Ruft liebevoll Daß mein geliebt Geschwister Erwachen soll
III
Es zittert Morgenschimmer Mit blödem Licht Errötend durch Dein Zimmer 20 und weckt Dich nicht. Am Busen Deiner Schwester Der für Dich schlagt Entschläfst Du immer fester Je mehr es tagt.
IV 25 V
VI
Die Nachtigall, im Schlafe Hast Du versäumt: So höre nun zur Strafe Was ich gereimt 45 Schwer lag auf meinem Busen Des Reimes Joch. Du schönste meiner Musen, Du – schliefst ja noch.32
32 Zitiert nach Goethe 1987|1998, 132f. Vgl. hierzu die Anmerkungen des Hg. ebd., S. 813–820 (zur „Geniezeit“) und S. 844 zu „Erwache Friedericke“; zu einer Interpretation dieses Textes Wünsch 1975, 113–117.
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41
Dieser Text richtet sich im hic et nunc des Sprechenden an eine noch schlafende Adressatin – dies die eindeutige Präsupposition von „erwache“, die mit „noch schlummerst du“ (V.12) explizit gemacht wird – und konstituiert solchermaßen eine Situation simultan zu einem Sprechakt, der realiter nur von jemanden vollzogen werden kann, der sich im Schlafzimmer der Adressatin befindet bzw. in das Zimmer hineinschauen kann. Genau diese Situation wird in Strophe 3 suggeriert und in Strophe 4 explizit gemacht: „Ich seh Dich schlummern, Schöne“ konstituiert im Sprechakt die Situation, die besprochen wird, als eine zeitgleich sich vollziehende. In Strophe V wird dasselbe Prinzip angewandt, indem der Sprecher von sich als Bild redet, das der Adressatin im Traum erscheint. In Strophe VI erfolgt nun freilich ein Bruch der Simultaneität von Sprechakt und besprochener Situation, indem der Sprecher über seinen Sprechakt redet, also eine Metaisierung vornimmt. Der Sprecher kann nun allerdings nicht zugleich über sein Sprechen reden und simultan Sprechakt und besprochene Situation konstituieren, er kann nicht die schlafende Friedericke im hic et nunc ihres Schlafes anreden und zugleich in der Rolle des Autors das fertige Gedicht vorlesen („So höre nun zur Strafe […]“), insofern das Reden über das Gedicht Teil eben des vorliegenden Gedichts ist. Es handelt sich also offenkundig um eine Metalepse33, die daraus resultiert, dass der Sprecher als ‚erlebendes Ich‘ aktuell etwas simultan tut und sagt und zugleich der Sprecher in der Rolle des Autors über eben dieses Tun und Sagen redet. Nun könnte man sich vielleicht eine realiter mögliche Situation dergestalt vorstellen – auch wenn hiervon in dem Text nicht die Rede ist –, dass die Adressatin zwischen Strophe V und VI aufgewacht ist und der Sprecher sich in Strophe VI dann an die erwachte Friedericke wendet, der er sein Gedicht vortragen will. Wie schon Wünsch 1975 gezeigt hat, würde dies jedoch bedeuten, dass der Sprecher nochmals von vorne anfangen müsste, um dann vor Strophe VI mit seinem Vortrag zu enden, da es sonst zu einer Wiederholung ad infinitum käme34. Der Text lässt sich also gerade nicht in eine realiter mögliche Kommunikationssituation überführen, sondern stellt explizit die Performativität des lyrischen Diskurses als literarische Fiktion aus. Dies geschieht zum einen durch die Paradoxien, die aus der metaleptischen Identifizierung von Sprecher im Text und Autor des Gesamttextes resultieren35, und dies geschieht zum anderen bereits durch die Art und Weise, wie die Performativität des lyrischen Diskurses realisiert wird: Der Sprecher redet zu einer Schlafenden, die jedoch all das nicht hören kann, was er ihr sagt („Vertreibe 33 Zu einer Klärung des Begriffs der ‚Metalepse‘ und zu deren unterschiedlichen historischen Konkretisationen vgl. umfassend Häsner 2005. 34 Vgl. hierzu Wünsch 1975, 114f. 35 Eben diese Paradoxien wären überhaupt nicht analysierbar, würde man nach einer von Borkowski|Winko postulierten „Erlebnislyrik-Konvention“ Sprecher-Ich und empirischen Autor identifizieren (Borkowski|Winko 2011, 76). Selbst wenn diese Identifizierung historisch vorgenommen wurde, ist sie theoretisch inadäquat. Um einer solch biografistischen Tendenz des traditionellen Erlebnisbegriffs zu entgehen, hat Wünsch 1975 den Begriff des ‚Erlebnispostulats‘ geprägt, der gerade keine apriorisch reale Referenz der intratextuellen Propositionen des lyrischen Ich präsupponiert.
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die Nacht[…“]), um im Nachhinein eben dies festzustellen, nämlich dass sie seine Rede genauso wenig vernommen hat wie den Gesang der Nachtigall. Das heißt, der Sprecher redet, als ob er ‚normal‘ rede, und tut eben dies nicht. Damit wäre der Text nicht nur explizit metapoetisch als ‚Dichtung‘ ausgewiesen, sondern entspräche wiederum strukturell genau dem Fiktionalitätskriterium, wie ich es an anderer Stelle formuliert habe36. Im Unterschied zum Petrarcatext bleibt der Goethetext durch die Anrede an eine konkret referentialisierbare Adressatin und durch die ‚Privatheit‘ der im Sprechakt konstituierten Situation auf eine individuelle Erfahrungssphäre bezogen, die trotz der explizit gemachten Fiktionalität des lyrischen Sprechens das zeitgenössisch spezifische Erlebnispostulat mittels der potentiellen Referentialisierbarkeit einer individuell-privaten Situation in besonderem Maße realisiert37. Gleichzeitig macht der Text klar, dass es sich beim Sprechen des lyrischen Ich nicht um das Reden des empirischen Autors handeln kann, und negiert damit das naive Erlebniskonzept, dem eben eine solche Identifizierung zugrunde liegt. 2.4 RIMBAUD: „PLATES BANDES D’AMARANTES“ Ich überspringe zunächst die mit der französischen Parnasse-Lyrik seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzende Entsubjektivierungstendenz, um an einem Text Rimbauds zu zeigen, dass ‚situative Absolutheit‘ auch und gerade für moderne Texte keineswegs (‚proto)typisch‘ ist. Das folgende Gedicht findet sich in den ‚klassischen‘ Rimbaud-Ausgaben unter dem Titel „Bruxelles“ als Teil der Sammlung der Derniers Vers bzw. der Vers nouveaux et chansons38, die Rimbaud selbst freilich nie zusammengestellt hat39, für die das folgende Gedicht gleichwohl paradigmatisch ist: Juillet.
Bruxelles, Boulevart du Régent
Plates-bandes d’amarantes jusqu’à L’agréable palais de Jupiter. – Je sais que c’est Toi, qui, dans ces lieux, Mêles ton Bleu presque de Sahara! 5
Puis, comme rose et sapin du soleil Et liane ont ici leurs jeux enclos, Cage de la petite veuve!...
36 Vgl. oben S. 32 mit Anm. 7. 37 Zu einer partiell anderen Begründung für die potentielle ‚Erlebnishaftigkeit‘ performativen lyrischen Sprechens vgl. Wünsch 1975, 101. 38 Vgl. Rimbaud 1960, Rimbaud 1991|1997 oder Rimbaud 1972. 39 Vgl. hierzu die Einleitung in Rimbaud 1991, insb. S. XXXVIII–XLI. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert.
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Quelles Troupes d’oiseaux, o iaio, iaio!... – Calmes maisons, anciennes passions! 10 Kiosque de la Folle par affection. Après les fesses des rosiers, balcon Ombreux et très bas de la Juliette. – La Juliette, ça rappelle l’Henriette, Charmante station du chemin de fer 15 Au cœur d’un mont comme au fond d’un verger Où mille diables bleus dansent dans l’air! Banc vert où chante au paradis d’orage, Sur la guitare, la blanche Irlandaise. Puis de la salle à manger guyanaise 20 Bavardage des enfants et des cages. Fenêtre du duc qui fais que je pense Au poison des escargots et du buis Qui dort ici-bas au soleil. Et puis C’est trop beau! trop! Gardons notre silence. 25 – Boulevart sans mouvement ni commerce, Muet, tout drame et toute comédie, Réunion des scènes infinie, Je te connais et t’admire en silence.40
Im Unterschied zu den gängigen Ausgaben ist im hier abgedruckten Autograf „Bruxelles“ kein Titel, sondern eine Angabe, wie man sie etwa in Briefköpfen findet41. Durch diese wird der folgende Sprech- bzw. Schreibakt zeitlich und örtlich eindeutig fixiert, die angegebene Zeit und der angegebene Ort werden zur hicet-nunc–Deixis des folgenden Briefes. Genau dies geschieht in unserem Text: Nach einer indirekten Markierung der Jahreszeit durch die Amarant-bzw. Fuchsschwanzbeete – Fuchsschwänze blühen nach Auskunft einschlägiger Lexika von Juli bis in den Spätherbst – und einer nicht referentialisierbaren Ortsangabe („pa40 Ebd., S. 316f. (Übersetzung Anhang 6). Die Bedeutung der Gedankenstriche ist nicht klar. Hiermit kann in ‚normalen‘ Texten ein Sprecherwechsel markiert werden, doch lässt sich anhand anderer, nicht so dunkler Texte Rimbauds wie etwa von „Le Forgeron“ (ebd., S. 126– 131) zeigen, dass Rimbaud den Gedankenstrich nicht in dieser Funktion verwendet. Er dient vielmehr zur Hervorhebung einzelner Verse und|oder zur Markierung semantischer Richtungswechsel. Letzteres dürfte im vorliegenden Text der Fall sein. 41 Suzanne Bernard hatte in ihrer Ausgabe hierauf bereits in einer Fußnote hingewiesen, aber gleichwohl den Erstdruck aus La Vogue 1886 (n° 8) übernommen. Vgl. Rimbaud 1960, 166, Anm.
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lais de Jupiter“) erscheint in der dritten Verszeile ein Ich, das sich in der Anrede an ein Du explizit als jemand ausweist, der ein Wissen von „ces lieux“ besitzt. Das in der Rede des Ich nur deiktisch den Ort des Sprechens markierende „ces lieux“ erhält durch den Paratext („Bruxelles, Boulevart du Régent“) eine bestimmte Referenz, sodass die Folge nun als ‚Inszenierung‘ dieses Boulevard durch das Ich zu verstehen ist, was in der abschließenden Strophe durch die textinterne Erwähnung von „Boulevart“ explizit gemacht wird. Ich spreche bewusst nicht von ‚Beschreibung‘, sondern von ‚Inszenierung‘ des Boulevard, denn dieser wird in einem Prozess vor Augen gestellt: Durch deiktische Ausdrücke wie „dans ces lieux“ (V.3), „ici“ (V.6) oder „ici-bas“ (V.23) wird die Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation markiert, die den Sprecher und Angesprochenen zum Teil dessen machen, worüber gesprochen wird, und das, worüber gesprochen wird, wird durch das wiederholte „puis“ (V.5, 19, 23) oder „après“ (V.11) im Sprechen als Vorgang artikuliert. Wenn wir in diesem wahrscheinlich 1872 entstandenen Gedicht also zum einen eine idealtypische Realisation der Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation, von Sprechakt und sprachgewordenem Vorgang vor uns haben, so ist doch die besprochene Situation und damit zugleich die Relation von Sprecher und ‚Welt‘ eine spezifisch moderne. Wie schon Eva Riedel gezeigt hat42, ist dem Gedicht einerseits durch die Ortsangabe ein konkret referentialisierbarer Rahmen vorgegeben, dieser wird andererseits jedoch durch eine Reihung von Aussagen gefüllt, für die es nicht nur keinen Bezug in einer realiter vorstellbaren Welt gibt, sondern deren Bedeutung teilweise bereits als solche ‚dunkel‘ ist. Das „palais de Jupiter“ ist verständlich, aber ohne konkreten Bezug, da es auf dem Boulevard du Régent in Brüssel kein palais de Jupiter gibt43, während die Verse 13–16 etwa weitgehend semantisch dunkel bleiben: Man versteht zwar die einzelnen Wörter, aber man versteht nicht, was es ‚bedeuten‘ soll, dass sich „die Henriette, eine reizende Eisenbahnstation, im Herzen der Berge wie tief in einem Obstgarten befindet, wo tausend blaue Teufel in der Luft tanzen“. Das heißt, die Satzsemantik ergibt Propositionen, die wir nicht verstehen, weil wir die zwischen den Elementen hergestellten Beziehungen nicht auf ein Wirklichkeitsmodell beziehen können. Dadurch, dass es das Ich ist, über das die Informationen zu einer vorgeblich äußeren Wirklichkeit wiedergegeben werden, erweisen sich diese aufgrund ihrer Nichtreferentialisierbarkeit im Rahmen eines aktual gültigen Wirklichkeitsmodells als Assoziation eben dieses Sprechers, der ‚Wirklichkeit‘ auf eine solche Weise ‚sieht‘. Ein solcher Assoziationsprozess wird an zwei Stellen des Textes explizit thematisch, einmal als ein spezifischer Wahrnehmungsprozess des Subjekts, das durch etwas an etwas anderes erinnert wird:
42 Vgl. Riedel 1982, 99–103. 43 Die in der Auslegungsgeschichte des Textes vorgenommenen Referentialisierungen etwa auf den Königspalast oder das Akademiegebäude widersprechen sich (vgl. hierzu Rimbaud 1960, 440 (Anm. 2 zu S. 166)) und versuchen gerade eine Referentialisierung vorzunehmen, die der Text verweigert.
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Fenêtre du duc qui fais que je pense Au poison des escargots et du buis […] (V.21f.),
und das andere Mal als ein durch phonologische Ähnlichkeiten ausgelöster, rein sprachlicher Prozess: – La Juliette, ça rappelle l’Henriette (v. 13).44
Die grundsätzlich subjektive Vermitteltheit des Wirklichkeitsbezugs wird in der abschließenden Apostrophe des Sprechers an den Boulevard explizit thematisch („Je te connais […]“) und mündet in ein Schweigen, das die Aufforderung zum Schweigen als Höhepunkt des Vermittlungsprozesses („C’est trop beau! trop! Gardons notre silence“) mit dem und durch das Gedichtende realisiert. Wenn sich jedoch ein subjektives Wissen von ‚Welt‘ adäquat nur noch im Schweigen artikulieren kann, sind der romantischen Ausdrucksästhetik die Grundlagen entzogen. Damit erhält der Text eine explizit metapoetische Bedeutungskomponente, indem zunächst die absolute Subjektivierung in der nicht mehr referentialisierbaren, d. h. nicht mehr auf ein intersubjektives Wirklichkeitsmodell beziehbaren Assoziationsfolge vorgeführt wird, um abschließend auch diesen Versuch der Wirklichkeitserfassung als inadäquat auszuweisen. Solchermaßen fungiert jedoch das seit den Anfängen abendländischer Lyrik nachweisbare Modell lyrischer Vertextung selbst noch zur Thematisierung von dessen Verabschiedung.
44 Vgl. hierzu sowie zu weiteren Assoziationsverfahren Riedel 1982, 102f.
3 PROBLEME UND LÖSUNGSMÖGLICHKEITEN Es wäre nun natürlich unsinnig, wenn ich behaupten würde, der von mir konstruierte Prototyp des Lyrischen würde sich in allen Gedichten wiederfinden lassen, die in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren geschrieben wurden. Dies ist auch gar nicht der Sinn einer Prototypenanalyse. Es geht vielmehr darum, aufzuzeigen, wie sich die konkreten Manifestationsformen von ‚Lyrik‘ im Verhältnis zu diesem Prototyp bestimmen lassen. Zentral ist hierfür nach Taylor der Begriff der Ähnlichkeit, der ein skalierbarer und notwendig subjektiver1, für die Prototypenanalyse aber gleichwohl unverzichtbarer Begriff ist: Let us suppose that entities are assigned membership in a category in virtue of their similarity to the prototype; the closer an entity to the prototype, the more central its status within the category. The notion of similarity thus underlies all categorization processes.2
Ich werde im Folgenden tatsächliche oder scheinbare Abweichungen von dem bisher skizzierten Prototyp des Lyrischen analysieren und zu zeigen versuchen, worauf die Ähnlichkeit zum Prototypen basiert und inwiefern diese größer ist als zu anderen Prototypen wie dem Erzählen oder dem Drama bzw. dem Theater. ‚Zwei Abweichungstendenzen‘ sind dabei am auffälligsten, nämlich diejenigen zur Dialogisierung und zur Narrativisierung, die vielfach als Argument dafür angeführt wurden, dass der Lyrik bzw. dem Lyrischen kein systematischeigenständiger Status zugeordnet werden könne3. Schließlich ist auf das bereits mehrfach angeschnittene Problem der ‚Entsubjektivierung‘ zurückzukommen. 3.1 TENDENZEN DER DIALOGISIERUNG Dass in traditionell der Lyrik zugerechneten Texten Dialogisierungstendenzen auszumachen sind, ist nicht weiter verwunderlich. Solche Dialogisierungen sind jedoch nicht einfach mit ‚Dramatisierung‘ zu identifizieren, denn der Dialog als Redeform ist genauso wie monologisches Reden in den verschiedensten Gattungen – selbstverständlich in unterschiedlicher Ausprägung und Gewichtung – möglich. Ein Roman wird ganz offenkundig nicht deshalb zum Drama, weil sich dort auch Wechselreden der dargestellten Figuren finden. Genauso wenig wird ein Gedicht zum Drama, wenn der Sprecher weitere Sprecher einführt, die mit dem 1
2 3
Taylor 32003, 65: „Things can be more similar, or less similar. […] Things are similar to the extent that a human being, in some context and for some purpose, chooses to regard them as similar.“ Ebd. Vgl. etwa Schönert 2004, insb. S. 311–313 oder Küpper 2008.
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dominanten Sprecher oder miteinander reden. Solche Dialogisierungen finden sich bekanntermaßen wiederum in besonderem Maße bereits in Petrarcas Canzoniere, etwa in der Kanzone 264, wo die Grundspannung des Sprechers zwischen Diesseitsverfallenheit und Jenseitsbestimmung durch zwei in seinem Inneren in Widerstreit liegende pensieri zum Ausdruck gebracht wird, deren einer sich in direkter Rede an den Verstand des Sprechers wendet: L’un penser parla co la mente, et dice: – Che pur agogni? onde soccorso attendi? Misera, non intendi con quanto tuo disnore il tempo passa? (RVF CCLXIV, 19–22)4
Noch auffälliger ist die Dialogisierung in Rerum vulgarium fragmenta CCCLX, wo der Sprecher in der ersten Strophe der Kanzone eine im hic et nunc des Sprechakts sich vollziehende Situation konstituiert, in der Amor vor dem Richterstuhl der Vernunft mit dem Sprecher ein Streitgespräch über die Positivität (dies ist die Auffassung Amors) bzw. die Negativität (dies ist die Auffassung des Sprechers) der Liebe führt, das die Ragione entscheiden soll, die sich der Entscheidung freilich im Hinblick auf die Schwierigkeit der Frage entzieht: Quel’antiquo mio dolce empio signore fatto citar dinanzi a la reina che la parte divina tien di nostra natura e ’n cima sede, 5 ivi, com’oro che nel foco affina, mi rappresento carco di dolore, di paura et d’orrore, quasi huom che teme morte et ragion chiede; e ’ncomincio; – Madonna, il manco piede 10 giovenetto pos’io nel costui regno, ond’altro ch’ira et sdegno non ebbi mai; et tanti et sì diversi tormenti ivi soffersi, ch’alfine vinta fu quell’infinita 15 mia patïentia, e ’n odio ebbi la vita. (RVF CCCLX, 1–15)5
Nach den ersten fünf Zeilen, die der Umschreibung und der metaphorischen Ortsangabe der Vernunft dienen, die ihren Sitz im Kopf des Menschen hat („e ’n cima sede“), wird mit dem Deiktikum „ivi“ („dort“) auf den Sitz der Vernunft Bezug genommen und mit dem präsentischen „mi rappresento“ („stelle ich mich ein“) 4 5
Übersetzung Anhang 7. Übersetzung Anhang 8.
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3 Probleme und Lösungsmöglichkeiten
und dem gleichfalls präsentischen „e ’ncomincio“ („und beginne“) der Vorgang als ein sich im hic et nunc vollziehender vorgeführt, um sodann in das in direkter Rede wiedergegebene Streitgespräch der beiden ‚Protagonisten‘ überzugehen (V. 9–75: Rede des Sprechers, V. 76–146: Rede Amors), worauf die Kanzone mit der Entscheidung der Ragione, wiederum in direkter Rede, schließt: – Nobile donna, tua sententia attendo.– Ella allor sorridendo: – Piacemi aver vostre questioni udite, ma più tempo bisogna a tanta lite.– (RVF CCCLX, 154–157)6
Die Kanzone ist trotz der Dialogisierung offensichtlich eine idealtypische Realisation des skizzierten Strukturmodells des Lyrischen, weil die Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation die gesamte Kanzone, von der Sprechereinleitung über die Dialogpartien bis zum ‚Schlusswort‘ der Ragione, strukturiert. Im Unterschied zu Lamping ist für mich die monologische Redeform als solche also gerade keine notwendige Bedingung des lyrischen Prototyps. Wie bereits ausgeführt, kann der dominante Sprecher – wie der Erzähler im Roman – andere Sprecher qua zitierte einführen, ohne dass deshalb das Gedicht – oder der Roman – zum Drama würde. Eine solche Dialogisierung hat natürlich eine je spezifische Funktion: In unserem Beispieltext handelt es sich um die Konstruktion einer realiter unmöglichen (Sprech-)Situation, nämlich dass sich der Sprecher und Amor im Kopf des Sprechers als dem Sitz der Vernunft zu einem Streitgespräch über die Liebe treffen, d. h. eine realiter unmögliche (Sprech-)Situation wird durch die Dialogisierung so gestaltet, als handle es sich um eine realiter mögliche, nämlich eine disputatio, aus deren Als-ob-Charakter die Fiktionalität des Gesamttextes resultiert. Dass Dialogisierung keineswegs notwendig ‚Dramatisierung‘, d. h. Transformation des lyrischen Textes in ein ‚Drama‘, bedeutet, können nun auch und gerade durchgängig dialogische Gedichte zeigen: Der Wandrer
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6
Wandrer Gott segne dich, junge Frau, Und den säugenden Knaben An deiner Brust! Laß mich an der Felsenwand hier, In des Ulmbaums Schatten, Meine Bürde werfen, Neben dir ausruhn.
Übersetzung Anhang 9.
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Frau Welch Gewerbe treibt dich Durch des Tages Hitze 10 Den staubigen Pfad her? Bringst du Waren aus der Stadt Im Land herum? Lächelst, Fremdling, Über meine Frage? Wandrer 15 Keine Waren bring’ ich aus der Stadt: Kühl wird nun der Abend. Zeige mir den Brunnen, Draus du trinkest, Liebes junges Weib! Frau 20 Hier den Felsenpfad hinauf. Geh voran! Durch’s Gebüsche Geht der Pfad nach der Hütte, Drin ich wohne, Zu dem Brunnen, 25 Den ich trinke.7
Hier wird – wie in einem Dialog im Theater – in der Wechselrede der Figuren ein Geschehen, eine Situation usw., worüber die Figuren reden, konstituiert, d.h. der Dialog ist hier nicht ‚Zitat‘ innerhalb der Rede eines dominanten Sprechers, sondern konstituiert selbst das Gedicht. Dies ist durchaus eine Abweichung vom lyrischen Prototyp: Hier wird nicht durch einen Sprecher in einer asymmetrischen Sprechsituation ein Geschehen simultan zum Sprechakt vermittelt, sondern dies geschieht durch ein Wechselgespräch von zwei bzw. gegebenenfalls mehreren Sprechern, womit für den Leser der Fokus nicht nur auf einer Instanz ruht, sondern er zugleich unterschiedliche Perspektiven koordinieren muss. Hieraus resultiert eine gewisse Nähe zur Polyperspektivik des Theaters8. Dennoch ist ein solches Dialoggedicht noch lange kein Drama. Der dramatische Text ist prototypisch für die Aufführung bestimmt – daran ändern auch ‚Lesedramen‘ nichts, diese sind eben gerade nicht prototypisch dramatisch –, und es ist die Aufführungssituation mit der „leibliche[n] Ko-präsenz von Akteuren und Zuschauern“9, aus der die Plurimedialität als strukturelle Spezifität des Dramas resultiert, die durch das tra-
7 8 9
Goethe 1988|1998, 350 (zitiert nach der Endfassung; zu einer teilweise abweichenden Fassung vgl. Goethe 1987|1998, 208 und S. 342). Vgl. Pfister 1977, 60–103. Vgl. Fischer-Lichte 2004, insb. S. 63–126.
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ditionelle Redekriterium als solchem nicht angemessen abgedeckt wird10, auch wenn diese seit der Aristotelischen Poetik systematisch mitgedacht ist11. Demgegenüber sind Texte wie Goethes „Der Wandrer“ schlicht Gedichte in Dialogform, die weder über die Doppelheit von Akteuren und dargestellten Figuren (Der Wanderer ist der Wanderer, während der Schauspieler X die Figur Y spielt) noch über die Ko-Präsenz von Bühnenfiguren und Zuschauern verfügen, durch die der Produktionsprozess des Bühnengeschehens simultan zu dessen Rezeption verläuft. Es handelt sich also lediglich um die Modifikation eines Merkmals des lyrischen Prototyps, insofern die asymmetrische Kommunikationssituation, in der ein Gegenüber angesprochen werden kann, dieses in der Regel aber nicht antwortet, in eine symmetrische Relation überführt wird, die Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation ansonsten aber gewahrt bleibt. Wenn man also die Redeform (‚Dialog‘) nicht mit der (Groß-)Gattung (‚Drama‘) verwechselt und beide identifiziert12, dann ist ‚Dialogisierung‘ als solche keine ‚Dramatisierung‘, son10 Das Redekriterium in der oben S. 11, Anm. 6 zitierten Formulierung von Platon und Aristoteles würde auch reine Dialoggedichte wie Goethes „Der Wandrer“ als ‚dramatisch‘ ausweisen. Für Aristoteles ist das Redekriterium jedoch nur eines von drei Kriterien – neben den Mitteln und dem Gegenstand der Nachahmung – über die die Gattungsbestimmung erfolgt (vgl. Poetik, Kap. 1). Die Plurimedialität von Tragödie und Komödie ist in der Mehrzahl der Mittel impliziert, die die beiden theatralen Gattungen verwenden können (vgl. insb. Poetik 1447b 24–27). Zur Plurimedialität als Konstituens von ‚Drama‘ vgl. Pfister 1977, 24–29. 11 Die vielleicht durch das Redekriterium ausgelöste Identifizierung von ‚Dialog(isierung)‘ und ‚Drama(tisierung)‘ impliziert umgekehrt, dass die Redeform des ‚Dialogs‘ die differentia specifica der (Groß-)Gattung ‚Drama‘ darstellt, was offensichtlich falsch ist. Sollers hat mit seinem im Untertitel explizit als roman gekennzeichnetem Drame (1965) intuitiv erkannt, dass die Differenz zwischen ‚Drama‘ als genuin performativer und ‚Roman‘ als genuin erzählender Gattung auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist, nämlich derjenigen der Sprechsituation, weswegen ein Roman auch immer nur pseudoperformativ sein kann. Vgl. hierzu Hempfer 1976, 71–94, und Hempfer 1999. Während die Performativisierung des Erzählens, wie sie sich vor allem in der modernen Erzählliteratur findet, eine grundsätzliche Modifikation des narrativen Prototyps darstellt, in dem eine hetero- oder homodiegetische Instanz ein vergangenes Geschehen vermittelt, fungiert in meiner Konzeption des lyrischen Prototyps die Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation als zentrales Konstituens. Ich spreche deshalb vom pseudoperformativen Erzählen, weil dieses die kategoriale Grenze von erzählender (diegetischer) und dramatischer (mimetischer) Konstitution einer Geschichte aufzuheben sucht, dies aufgrund der unterschiedlichen Rezeptionssituation (Leser bzw. Hörer einer Geschichte vs. körperliche Präsenz bei der mise en scène) aber gar nicht kann – genau auf diese Diskrepanz zielt Sollers’ Drame betitelter roman –, während die Performativitätsfiktion eine den lyrischen Diskurs als solchen auszeichnende und in diesem sozusagen ‚naturalisierte‘ Konvention darstellt. Präsentisches Erzählen gibt es natürlich auch in älterer Literatur, doch handelt es sich hierbei – im Kontext prototypisch narrativer Texte – um eine rhetorische Lizenz, die von Quintilian als translatio temporum bezeichnet wird (Inst. or. IX, 2, 41) und zu den sprachlichen Realisationsmöglichkeiten der Hypotyposis bzw. evidentia zählt. (Vgl. Lausberg 31990, §§ 810–814). 12 Dass zwischen ‚Redeform‘ und ‚Gattung‘ zu unterscheiden ist, ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass mit ‚Dialog‘ auch eine Gattung des theoretischen Diskurses bezeichnet wird, die offenkundig ebenfalls kein ‚Drama‘ ist. Zur grundsätzlichen Unterscheidung von ‚Redeform‘ und ‚Gattung‘ vgl. Reallexikon 1997–2003, s. v. Dialog1 und Dialog2.
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dern grundsätzlich in der Lyrik genauso möglich wie in narrativen Texten. Bei reinen Dialoggedichten kommt es freilich zu einer partiellen Modifikation des Prototyps, die jedoch in keiner Weise die Grenze zum prototypischen Drama verwischt, auch wenn sie nicht im Zentrum des lyrischen Prototyps anzusiedeln sind. 3.2 TENDENZEN ZUR NARRATIVISIERUNG Ein zur ‚Dialogisierung‘ analoges Problem stellt die in der Lyriktheorie immer wieder thematisierte Tendenz lyrischer Texte zur Narrativisierung dar. So offenkundig zu sein scheint, dass traditionell unter ‚Lyrik‘ subsumierte Texte narrative (Teil-)Strukturen aufweisen, so wenig scheint bisher die Interdependenz von prototypisch-lyrischen und narrativen Strukturen und die damit gegebenenfalls einhergehenden Transformationen beider Teilstrukturen beachtet worden zu sein. Ich hatte bereits oben13 im Zusammenhang der Diskussion von MüllerZettelmanns Interpretation eines Browning-Gedichts zu zeigen versucht, dass die spezifische Verwendung narrativer Strukturen gerade keine Mittelbarkeit konstituiert, sondern dass es sich vielmehr um die Einbettung einer konversationellen Erzählung in die im dramatic monologue präsupponierte face-to-face-Kommunikation handelt, die freilich nur durch das Sprechen des Sprechers und damit in lyrikspezifischer Asymmetrie realisiert wird. Dass „Youth and Art“ keinen Sonderfall darstellt, sondern die Grundstruktur des sogenannten dramatic monologue realisiert, möchte ich noch an Brownings vielleicht bekanntestem Gedicht zeigen: My Last Duchess Ferrara That’s my last Duchess painted on the wall, Looking as if she were alive. I call That piece a wonder, now: Frà Pandolf’s hands Worked busily a day, and there she stands. 5 Will ’t please you sit and look at her? I said ‘Frà Pandolf’ by design, for never read Strangers like you that pictured countenance, The depth and passion of its earnest glance, But to myself they turned (since none puts by 10 The curtain I have drawn for you, but I) And seemed as they would ask me, if they durst, How such a glance came there; so, not the first Are you to turn and ask thus. Sir, ’t was not Her husband’s presence only, called that spot 15 Of joy into the Duchess’ cheek: perhaps Frà Pandolf chanced to say, ‘Her mantle laps 13 Vgl. oben S. 19f.
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3 Probleme und Lösungsmöglichkeiten Over my lady’s wrist too much,’ or ‘Paint Must never hope to reproduce the faint Half-flush that dies along her throat:’ such stuff Was courtesy, she thought, and cause enough For calling up that spot of joy. She had A heart – how shall I say? – too soon made glad, Too easily impressed; she liked whate’er She looked on, and her looks went everywhere. Sir, ’t was all one! My favour at her breast, The dropping of the daylight in the West, The bough of cherries some officious fool Broke in the orchard for her, the white mule She rode with round the terrace – all and each Would draw from her alike the approving speech, Or blush, at least. She thanked men, – good; but thanked Somehow – I know not how – as if she ranked My gift of a nine-hundred-years-old name With anybody’s gift. Who’d stoop to blame This sort of trifling? Even had you skill In speech – (which I have not) – to make your will Quite clear to such an one, and say, ‘Just this Or that in you disgusts me; here you miss, Or there exceed the mark’ – and if she let Herself be lessoned so, nor plainly set Her wits to yours, forsooth, and made excuse, – E’en then would be some stooping; and I choose Never to stoop. Oh, sir, she smiled, no doubt, Whene’er I passed her; but who passed without Much the same smile? This grew; I gave commands; Then all smiles stopped together. There she stands As if alive. Will ’t please you rise? We’ll meet The company below, then. I repeat, The Count your Master’s known munificence Is ample warrant that no just pretence Of mine for dowry will be disallowed; Though his fair daughter’s self, as I avowed At starting, is my object. Nay, we’ll go Together down, sir. Notice Neptune, though, Taming a sea-horse, thought a rarity, Which Claus of Innsbruck cast in bronze for me!14
Der Text setzt völlig unvermittelt mit einer Zeigegeste ein, mit der ein Sprecher auf ein Bild an der Wand verweist. Die Zeigegeste ist, wie aus Vers 5 klar wird 14 Browning 1970, 367–369.
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(„Will ’t please you sit and look at her?“), an ein in der Sprechsituation präsentes Gegenüber gerichtet, das auch im Folgenden als Adressat für die Geschichte der letzten Herzogin dient, die bereits der erste Vers als die verstorbene Gemahlin des Sprechers ausweist. Der Sprecher ist damit der Herzog, der seinem Gegenüber in höchst indirekter Weise andeutet, dass es die Herzogin mit der ehelichen Treue wohl nicht allzu genau nahm (vgl. insbesondere V. 13–15 und 43–45) und dass sie deswegen nur noch als ‚Bild‘ existiert (V. 45–47). Die Geschichte der Herzogin, ihr Verhalten und ihr plötzlicher Tod werden natürlich erzählt, aber deswegen ist der Text insgesamt keineswegs ein narrativer: Mit „there she stands|As if alive“ (V.45f.) wird der Zeigegestus des ersten Verses wiederholt und mit der Aufforderung an den Adressaten „Will ’t please you rise?“ wird die Situation, die mit „Will ’t please you sit“ eröffnet wurde, abgeschlossen. Das Folgende ist dann wieder direkte Anrede an den in der Sprechsituation gegenwärtigen Adressaten und konstituiert simultan eine Situation, in der der Herzog sein Gegenüber einen Stock tiefer führt („We’ll meet/ The company below“, V. 47f.) und in dieser Situation seinem Gesprächspartner seine Vorstellungen hinsichtlich einer Wiederverheiratung mit der Tochter eines Grafen, in dessen Diensten der Gesprächspartner steht, entwickelt. Die Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation wird dadurch noch besonders hervorgehoben, dass auf dem Weg ‚nach unten‘ der Herzog auf ein weiteres Kunstwerk, eine Neptun-Statue zeigt: „Notice, Neptune…“ (V.54–56). Die dominante Sprechsituation des Textes entspricht also vollkommen dem lyrischen Prototyp: Ein Sprecher konstituiert im hic et nunc seines Sprechaktes eine Situation, wobei sich der Sprechakt an ein in der Sprechsituation präsentes Gegenüber wendet, das seinerseits nicht spricht, die Kommunikation also asymmetrisch verläuft. Die Spezifität des sogenannten dramatic monologue resultiert sodann daraus, dass zwar nur der Sprecher spricht, dieser aber in seinem Gespräch das Gegenüber dergestalt einbezieht, dass die besprochene Situation zu einer Interaktion von Sprecher und Adressaten wird, in der auch dieser etwas tut, indem er das Bild betrachtet, sich setzt und wieder aufsteht, wenngleich dieses Tun des Adressaten immer nur in der Rede des Sprechers präsupponiert ist. Somit entsteht ‚vor den Augen‘ des Lesers in der monologischen Rede des Sprechers eine ‚Quasi-Szene‘ – metaphorisch eben ein dramatic monologue, auch wenn diese Bezeichnung als solche, ohne Rückgriff auf das, was sie bezeichnen soll, missverständlich ist. Um einen tatsächlichen ‚dramatischen Monolog‘ handelt es sich natürlich nicht, weil für diesen nicht nur die Nichtexistenz eines in der Sprechsituation präsenten Adressaten charakteristisch ist, sondern eben auch „körperliche KoPräsenz von Akteuren und Zuschauern“15. Wenn Brownings „My Last Duchess“ und die Subgattung des dramatic monologue sich also gerade nicht unter dramatische Kommunikation subsumieren lassen, dann gilt das gleiche vom Erzählen. Der Text basiert nicht auf der Vermittlung einer Geschichte durch einen Erzähler, vielmehr konstituiert er im hic et nunc des Sprechens eine Situation, in der der Sprecher einem Gegenüber die 15 Vgl. oben S. 50.
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‚Vorgeschichte‘ des Bildes erzählt, das die beiden gerade betrachten. Die dominante Sprechsituation ist also diejenige des lyrischen Prototyps, nur dass nicht nur über Gegenwärtiges, sondern auch über Vergangenes gesprochen wird, was im Theater – speziell in der Exposition – genauso möglich ist wie in jeder Form alltäglicher face-to-face-Kommunikation, oder anders formuliert: Es geht nicht um narrative Vermittlung einer Geschichte, sondern die narrative Vermittlung einer Geschichte ist selbst vermittelt, sie ist als Binnenstruktur abhängig von der übergeordneten lyrischen Äußerungsstruktur. Nachdem der dramatic monologue nicht so ohne weiteres als ‚narrativ‘ bezeichnet werden kann, bleibt die Ballade als ein der Lyrik subsumiertes Genus, bei dem man gleichwohl immer vom Erzählen spricht. Auch hier sind die Dinge bei näherem Hinsehen etwas komplexer als die communis opinio. Als Beispiel wähle ich einen Text, der als nicht untypisch für das Subgenus Ballade gelten dürfte: ERLKÖNIG Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind; Er hat den Knaben wohl in dem Arm, Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? – Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? – Mein Sohn; es ist ein Nebelstreif. – »Du liebes Kind, komm, geh mit mir! Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir; Manch’ bunte Blumen sind an dem Strand; Meine Mutter hat manch’ gülden Gewand.« Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht, Was Erlenkönig mir leise verspricht? – Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind; In dürren Blättern säuselt der Wind. – »Willst, feiner Knabe, du mit mir gehen? Meine Töchter sollen dich warten schön; Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn, Und wiegen und tanzen und singen dich ein.« Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? – Mein Sohn, mein Sohn, ich seh’ es genau: Es scheinen die alten Weiden so grau. –
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»Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.« – Mein Vater, mein Vater, jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan! – Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, Er hält in Armen, das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.16
Der zum ersten Mal 1782 publizierte, 1800 in die Neuen Schriften unter der Rubrik „Balladen und Romanzen“ und in die Sammlung von 1815 unter „Balladen“ aufgenommene Text17 erzählt ganz offenkundig eine Geschichte: Wir haben einen – hetero- oder homodiegetischen? – Erzähler als dominanten Sprecher, der die anderen Figuren als sekundäre Sprecher einführt und entscheidende Teile der Geschichte ‚in eigener Person‘ vermittelt. Narrativ im weiteren Sinne ist dieser Text nun auch deshalb, weil er tatsächlich eine ‚Geschichte‘ konstituiert, d. h. einen Handlungsablauf mit einem Beginn und einem Ende, der auf einer Situationsveränderung basiert. Die Art und Weise, wie diese ‚Geschichte‘ vermittelt wird, unterscheidet sich allerdings deutlich vom prototypischen Erzählen im engeren Sinne. Der Erzähler ist zwar ein allwissender wie im auktorialen Roman, denn er weiß, wer da durch Nacht und Wind reitet; im Unterschied zum auktorialen Erzählen wird in dieser Ballade aber im Präsens erzählt, und die erzählte Geschichte vermittelt sich simultan zum Prozess der Versprachlichung: Dieser wird in der Eingangs- und Schlussstrophe unmittelbar vom Erzähler vorgenommen, in den dazwischenliegenden Strophen durch reine Wechselrede zwischen dem Vater, dem Kind und dem Erlkönig. Im engeren Sinne erzählt wird also nur in den beiden Rahmenstrophen, während der Dialog, wie wir gesehen haben, weder spezifisch für das Erzählen noch das Drama ist, wohl aber die für das prototypisch Lyrische spezifische Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation realisiert, wenngleich ohne die Asymmetrie. Durch das präsentische Erzählen wird nun auch in den Rahmenstrophen diese Simultaneität erzeugt, indem der Erzähler durch eben dieses ‚Erzählen‘ eines im hic et nunc der Sprechsituation sich vollziehenden Geschehens in diesem als präsent präsupponiert ist18. Damit kommt es zu einer entscheidenden Transformation des prototypischen Erzählens, das trotz der Vermitt16 Goethe 1987|1998, 303f. 17 Vgl. ebd., S. 303f.; 362f. und Goethe 1988|1998, 107f. sowie die entsprechenden Anmerkungen des Herausgebers in Goethe 1987|1998, 1022f. 18 Dagegen spricht auch nicht das Präteritum der letzten Zeile, das ich als Vorzeitigkeit zum Präsens der vorletzten Zeile interpretiere. Ich würde den Schluss etwa folgendermaßen paraphrasieren: ‚Der Vater erreicht zwar noch den Hof, doch das Kind war schon tot (in diesem Moment)‘. Die Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation würde also daraus resultieren, dass im Augenblick der Äußerung der letzten Zeile das Kind schon tot war.
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lungsinstanz eines Erzählers an prototypisches lyrisches Sprechen angenähert wird. Aus dieser strukturellen Ambivalenz, also nicht nur aus der Gedichtform oder der relativen Kürze, ließe sich somit erklären, warum die goethezeitliche Ballade traditionell der Lyrik und nicht den Erzählgattungen ‚zugeschlagen‘ wird. Wenn man allein das Goethesche Korpus betrachtet19, so gibt es sicherlich Balladen, die stärker narrativisiert sind wie etwa „Der König in Thule“ und solche, die paradigmatisch die Äußerungsstruktur des lyrischen Prototyps realisieren wie etwa „Kennst Du das Land? wo die Citronen blühn“, und Goethe selbst hat die Ballade als Mischung aller drei Naturformen verstanden20. Mir ging es hier nur um den Nachweis, dass Balladen nicht so einfach als ‚narrativ‘ zu klassifizieren sind und folglich nicht ungeprüft als Argument gegen die Spezifizierbarkeit von ‚Lyrik‘ verwendet werden können21, sondern dass ganz im Gegenteil erst auf der Basis der Konstruktion eines lyrischen Prototyps die lyrikspezifische Transformation narrativer Strukturen erfassbar wird. Dies müsste freilich anhand eines größeren Korpus systematisch überprüft werden22. Ein letztes Argument, das immer wieder für die vorgebliche Narrativität von Lyrik ins Feld geführt wird, ist die canzoniere-Struktur, wie wir sie seit Petrarca kennen und wie sie insbesondere in der italienischen Lyrik bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert eine zentrale Rolle gespielt hat. Unstrittig ist, dass den canzonieri „eine rudimentäre Geschichte“ zugrunde liegt und die Einzeltexte jeweils „Fragmente der übergreifenden Geschichte“ implizieren23. Wie Gerhard Regn gezeigt hat, können diese Fragmente nun „im Rahmen einer narrativen oder nichtnarrativen Sprechsituation vermittelt werden, wobei in letzterer die für den narrativen Modus typische Doppelung in ein ‚erlebendes‘ und ein ‚erzählendes‘ Ich 19 Ich orientiere mich an den in der Sammlung vor 1815 unter der Gattungsangabe „Balladen“ zusammengestellten Texten (vgl. Goethe 1988|1998, 103–153). 20 Vgl. Goethes früher als „Noten und Abhandlungen“ bezeichnete Anmerkungen zum Westöstlichen Divan in Goethe 1994, 206. 21 Vgl. hierzu auch Link, der eine Kurzgeschichte Hebels mit zwei balladenhaften Umdichtungen vergleicht (Link 1977, 234–241). 22 Ein analoges Problem werfen die spanischen romances auf (Hinweis von Roger Friedlein). Genetisch stellen sie wohl Ausgliederungen aus der Heldenepik, den cantares de gesta, dar, werden aber in Lyrikanthologien wie Rico (Hg.) 41998 aufgenommen und in Literaturgeschichten unter folgender Überschrift abgehandelt: „Die Hauptgattung der spanischen Lyrik: el romance“ (Neuschäfer (Hg.) 1997, 48–51, Zitat S. 48). Rico deutet Unterschiede zwischen den ‚Fragmenten‘ und den narrativen Großformen an (Rico (Hg.) 41998, 83), die sich ggfs. in dem hier skizzierten Theorierahmen präzisieren ließen. Dabei geht es vor allem um das partiell präsentische Erzählen sowie um spezifische Gestaltungen der Geschehensebene, die eine Annäherung an den lyrischen Prototyp bewirken (vgl. etwa „ Romance de Doña Alda“ in Rico (Hg.) 41998, 84f.). Eine weitgehende Realisation des lyrischen Prototyps findet sich in modernen Romanzen wie etwa García Lorcas „Romance sonámbulo“ (ebd., S. 825–827), doch finden sich daneben auch immer noch stark narrative Ausprägungen wie etwa in García Lorcas „La casada infiel“ (ebd., S. 828f.). Wenn die Romanze jedoch eine „Hauptgattung der spanischen Lyrik“ sein soll und gerade nicht der Versepik zugerechnet wird, müsste bestimmbar sein, inwiefern sie sich von narrativen Genera entfernt. Vielleicht könnte der Prototypenansatz hierfür eine Grundlage sein. 23 Regn 1987, 32f.
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entfällt und der zu vermittelnde Sachverhalt somit direkt an das Hier und Jetzt der Sprechsituation gebunden wird“24, also die von mir für den lyrischen Prototyp als spezifisch postulierte Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation realisiert wird. Trotz einer partiellen Narrativität von Einzeltexten und der Konstitution einer „rudimentären Geschichte“ werden die canzonieri schon in der Petrarca-Exegese des 16. Jahrhunderts explizit von ‚normalen‘ narrativen Texten wie etwa dem Epos abgesetzt, weil die ‚Liederbücher‘ einerseits nur eine höchst diskontinuierliche Vermittlung der zugrundeliegenden Geschichte leisten25 und andererseits durch die mehrfache Wiederholung desselben Themas – paradigmatisch sind etwa die drei Augenkanzonen RVF LXXI–LXXIII, denen nochmals zwei Sonette mit demselben Thema folgen (RVF LXXIV–LXXV) – die Vermittlung der Geschichte „redundant“ werden lassen, „und zwar weit über ein normal vertretbares Maß hinaus“26, sodass „ein beträchtlicher Teil der syntagmatischen Achse zum Manifestationsort eines dominant paradigmatischen Prinzips [wird], als dessen Konsequenz sich immer wieder eine Suspension des Ereignisfortgangs einstellt“27. Die Konstitution einer diskontinuierlichen Geschichte durch Aussparen einerseits und durch repetitierende Häufung derselben Thematik andererseits sowie die Verwendung der prototypisch lyrischen Sprechsituation in einer Mehrzahl von Einzeltexten unterscheiden canzonieri grundlegend von prototypisch narrativen Texten wie Epen oder romanzi, ja es ist gerade die spezifische Art und Weise der Konstitution einer Geschichte, die die Differenz zu Texten genuin narrativer Gattungen markiert.28 Solchermaßen scheint mir auch die canzoniere-Struktur kein ausreichendes Argument für die grundsätzliche Narrativität der Lyrik, wenngleich es natürlich unbestritten ist, dass allein aufgrund der Erinnerungsthematik narrative Rückgriffe von einem Hier und Jetzt des je aktuellen Sprechakts immer möglich sind.29
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Ebd., S. 33. Näheres hierzu mit den entsprechenden Quellenverweisen in Regn 1987, 53. Ebd. Ebd., S. 54. Vgl. hierzu auch Stierle 2008, 139, Anm. 17. Hinsichtlich der Trobadorlyrik betont Selig 1996 explizit, „daß die interne Sprechsituation, die in den Texten inszeniert wird, in fast allen Gattungen nicht die der narrativen Rede ist“ (S. 23, Herv. v. mir). Und die positive Charakterisierung der canso entspricht in wesentlichen Punkten dem hier entwickelten Strukturmodell: „In der canso spricht|singt ein ‚Ich‘, das auf sich selbst bezogen ist, das sich zum sujet de l’énonciation und zum sujet de l’énoncé macht. Es äußert sich, artikuliert seine Liebe, seinen Schmerz und verbleibt damit in der Gegenwart der Sprechsituation, in die alles Gesagte, auch die Erinnerungen an die Vergangenheit und die Ausblicke auf die erwünschte Zukunft, schleifenförmig zurückmündet.“ (S. 24, Herv. v. mir). Dass auch der mittelhochdeutsche Minnesang gerade nicht erzählend sei, betont Müller 2004, 58f. gegen Hausmann 1999: „Ob aber vorgetragen oder gelesen, lyrische Rede ist durchweg nicht narrativ, wenn sie natürlich auch narrative Elemente aufnehmen kann.“ (S. 58) 29 Zur Überformung narrativer und deskriptiver Diskursformationen im lyrischen Text vgl. Stierle 2008. Auch wenn man ‚Lyrik‘ nicht über eine spezifische Äußerungsstruktur, sondern als „Gattung zweiter Ordnung“ begreift wie Stierle, lassen sich also lyrikspezifische Transformationen der Basisstrukturen feststellen.
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Die bisherigen Argumente zielen nun keineswegs darauf ab, dass es nicht Texte gäbe, die weit(est)gehend dem narrativen Prototyp entsprechen, aufgrund anderer Merkmale aber doch (eher) der Lyrik, sofern eine solche Kategorie im jeweiligen Literatursystem existiert, zugeordnet oder aposteriorisch solchermaßen klassifiziert werden. Der systematische Ort für diese Texte im Rahmen einer Prototypentheorie wären dann die fuzzy edges der jeweiligen Kategorie, die sich mit anderen Kategorien überlagern können und unterschiedliche Zuordnungen der einzelnen Exemplare je nach Gewichtung der jeweiligen Merkmale erlauben. 3.3 ENTSUBJEKTIVIERUNG Ich habe bereits oben bei der Diskussion der Wolfschen Kriterien für das prototypisch Lyrische das Problem angesprochen, dass mit der französischen ParnasseLyrik seit den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts eine dezidierte Tendenz zur Entsubjektivierung aufkommt, die erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wenn als eine der Ingredienzen des lyrischen Prototyps Subjektivität und Personalität angesetzt wird30. Ich möchte abschließend an einem Text Leconte de Lisles skizzieren, wie sich diese historisch spezifische Ausprägung von Lyrik zu dem hier entwickelten Prototyp des Lyrischen verhält. Le rêve du jaguar. Sous les noirs acajous, les lianes en fleur, Dans l’air lourd, immobile et saturé de mouches, Pendent, et, s’enroulant en bas parmi les souches, Bercent le perroquet splendide et querelleur, 5 L’arraignée au dos jaune et les singes farouches. C’est là que le tueur de bœufs et de chevaux, Le long des vieux troncs morts à l’écorce moussue, Sinistre et fatigué, revient à pas égaux. Il va, frottant ses reins musculeux qu’il bossue; 10 Et du mufle béant par la soif alourdi, Un souffle rauque et bref, d’une brusque secousse, Trouble les grands lézards, chauds des feux de midi, Dont la fuite étincelle à travers l’herbe rousse. En un creux du bois sombre interdit au soleil 15 Il s’affaisse, allongé sur quelque roche plate; D’un large coup de langue il se lustre la patte; Il cligne ses yeux d’or hébétés de sommeil; Et, dans l’illusion de ses forces inertes, Faisant mouvoir sa queue et frissonner ses flancs, 20 Il rêve qu’au milieu des plantations vertes, 30 Vgl. hierzu oben S. 24f.
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Il enfonce d’un bond ses ongles ruisselants Dans la chair des taureaux effarés et beuglants.31
Der erstmals im ersten Parnasse contemporain von 1866 erschienene Text ist ein Anthologiestück parnassischer Lyrik, das die spezifischen Merkmale dieser Dichtung idealtypisch realisiert32. Liest man diesen Text auf dem Hintergrund romantischer Lyrik33, so fällt sofort auf, dass er weder einen Sprecher noch einen Angesprochenen explizit über Deiktika konstituiert. Neben personalen fehlen auch explizite temporale Deiktika, über das Tempus der Verben erfolgt freilich, wie wir sehen werden, eine zeitliche Fixierung. Das durch eine mise en relief emphatisch hervorgehobene „là“ (V. 6) hat sowohl anaphorische wie deiktische Funktion. Zum einen verweist es zurück auf die in den ersten fünf Zeilen erfolgte tableauhafte ‚Exposition‘ des Urwaldes als situativem Kontext für das folgende ‚Geschehen‘, und zum anderen ‚zeigt‘ es auf eben diesen Kontext als Ort des aktuell sich vollziehenden Geschehens: Der folgende Text beschreibt nämlich zunächst, wie der Jaguar durch den Urwald streift und was er dort macht, bis er sich auf einer „roche plate“ (V.15) niederlässt, um dort von erfolgreicher Jagd zu träumen. Dass es sich um ein aktuelles Geschehen handelt, resultiert aus der temporalen Deixis der Verben, die alle im Präsens stehen (V. 8, 9, 12, 15, 20) und die das beschriebene Geschehen als ein simultan zum Sprechakt sich vollziehendes ausweisen. Aber wer spricht, nachdem kein explizites Ich im Text erscheint? Das Sprechen über den Jaguar in der dritten Person setzt eindeutig eine Instanz voraus, die ‚ich‘ sagt, d. h. ‚tiefenstrukturell‘ ist natürlich auch für unseren Text wie für jede Äußerung ein Sprecher anzusetzen34. Dieser Sprecher konkretisiert sich jedoch noch näher durch die Semantik der Verben als ein am Ort des Geschehens anwesender Beobachter, der sieht, was der Jaguar tut („[il] „revient“, „Il va“, „un souffle […] trouble“, „Il s’affaisse“, „Il rêve“). Mit dem letzten Verb („Il rêve…“) geht die Beobachtung eindeutig in die Deutung des Verhaltens des Jaguars über, und spätestens hier wird klar, dass die gesamte Darstellung der Szene aus der Perspektive eines Beobachtungssubjekts erfolgt, die zugleich Deutungen des Beschriebenen vornimmt, indem sie Trauminhalte des Gegenstands der Beschreibung wiedergibt, zu denen sie realiter keinen Zugang haben kann35. Worauf es mir ankommt, ist die Feststellung, dass hier gerade nicht prototypisch erzählt wird, weil der Sprechakt des impliziten Sprechers sich simultan zur besprochenen Situation vollzieht, damit also vielmehr die prototypisch lyrische Äußerungsstruktur realisiert wird, die jedoch dadurch eine spezifisch entsubjekti31 32 33 34 35
Zitiert nach Leconte de Lisle 1976|1978, II, 185. Zu den Konstituenten parnassischer Lyrik vgl. Hempfer 1993. Zur romantischen Subjektivität vgl. Küpper 1988. Vgl. zu dieser Annahme auch Petzold 2012, 165. Sprecherlose Texte können also nicht einfach dem empirischen Autor als Sprechinstanz zugeordnet werden, wie dies Borkowski|Winko 2011, 76 vorschlagen, weil dieser nicht zugleich als Beobachtungssubjekt Teil der Situation sein kann, die der implizite Sprecher simultan zu seinem Sprechakt ‚sieht‘, oder anders formuliert: Der Autor Leconte de Lisle ‚dichtet‘ nicht im Urwald in Präsenz eines Jaguars.
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vierte Ausprägung erfährt, dass das implizite Subjekt der Rede zwar als Beobachtungssubjekt in der Szene präsent ist, nicht aber zugleich als Erfahrungssubjekt selbst zum Redegegenstand wird36: Im vorliegenden Text redet der implizite Sprecher nicht über sich und seine Reaktion auf den Jaguar, sondern er redet nur über seinen ‚Gegenstand‘, auch wenn er dessen externer Beschreibung ‚subjektive‘ Deutungen („rêve…“) unterlegt, die jedoch gerade nicht seine eigene Subjektivität betreffen. Indem der Sprecher nicht über sich selbst redet37, ist die für den romantischen Erlebnisbegriff zentrale ‚Fiktion‘ einer Identität von Redesubjekt und Erfahrungssubjekt, von sujet de l’énonciation und sujet de l’énoncé, aufgehoben, an die Stelle einer Dominanz der Ausdrucksfunktion, wie sie seit Abrams für die romantische Literatur als spezifisch herausgearbeitet worden ist38, tritt die Dominanz der referentiellen Funktion mit einer für parnassische Lyrik spezifischen Gegenstandskonstitution39. Entscheidend für unseren Zusammenhang sind jedoch nicht diese historischen Transformationen, sondern die Tatsache, dass auch dann, wenn im Text kein expliziter Sprecher, sondern nur eine implizite Sprecherinstanz erscheint, die prototypisch lyrische Äußerungsstruktur der Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation realisiert werden kann. Damit sind auch diejenigen Texte, die nach Lamping und Wolf durch das Kriterium der ‚Absolutheit‘ gekennzeichnet sind auf den skizzierten Prototyp des Lyrischen beziehbar, ohne dass es zu einem Widerspruch von ‚Subjektivität‘ und ‚Absolutheit‘ kommt, weil keines der beiden Kriterien als solches Definiens für ‚lyrisch‘ bzw. ‚Lyrik‘ ist. ‚Subjektivität‘ und ‚Entsubjektivierung‘ bzw. ‚Absolutheit‘ sind vielmehr historisch mögliche Ausprägungen des lyrischen Prototyps, die sich in der Ausgestaltung der Sprecherinstanz und der daraus folgenden Verschiebung der Dominanz von der expressiven zur referentiellen Sprachfunktion manifestieren. Die Entsubjektivierung resultiert also nicht daraus, dass die Sprecherinstanz auf der Textoberfläche weitgehend getilgt ist, sondern dass der Sprecher nicht über sich selbst redet, aber gleichwohl die Situation, über die er spricht, als simultan zu seinem Sprechakt sich vollziehend ausweist40.
36 Zur Differenzierung von ‚Redesubjekt‘ und ‚Erfahrungssubjekt‘ als Grundlage parnassischer Entsubjektivierung vgl. ausführlicher Hempfer 1993, insb. S. 78–80. 37 In dem poetologischen Gedicht „Les Montreurs“ distanziert sich Leconte de Lisle explizit von romantischer Selbstaussprache. Vgl. Leconte de Lisle 1976/1978 II, 190. 38 Vgl. Abrams 1978, insb. S. 36–42. 39 Vgl. hierzu Hempfer 1993, insb. S. 81–89 und Hempfer 2000. ‚Entsubjektivierung‘ muss also keineswegs ‚Entreferentialisierung‘ bedeuten, wie dies Wolf 2005, 30 zu implizieren scheint. Wie ich am Beispiel des Rimbaud-Gedichts zu zeigen versuchte, kann gerade ein Höchstmaß an Subjektivität zur ‚Entreferentialisierung‘ führen. Vgl. oben S. 42–45. 40 Analoges ließe sich an thematisch verwandten Texten wie etwa Leconte de Lisles „Les éléphants“ (Leconte de Lisle 1976/78, II, 159–160) genauso zeigen wie an thematisch gänzlich verschiedenen (vgl. hierzu etwa die Interpretation von Gautiers „Le Poëme de la femme“ in Hempfer 1993, insb. S. 78–83).
4 DAS PROBLEM DER ‚AUFFÜHRUNGSSITUATION‘ ODER PERFORMANZ VS. PERFORMATIVITÄT Ich habe bisher die mittelalterliche Lyrik völlig ausgespart, nicht, weil ich nicht um die Probleme der ‚Aufführungssituation‘ wüsste, die sich ja auch für die antike Lyrik vor deren Transformation in ‚Buchlyrik‘ durch die alexandrinischen Philologen stellen1, sondern weil ich glaube, dass die in der Performativitätsdebatte höchst unglückliche Vermischung von ‚Performanz‘ und ‚Performativität‘ und die Ambiguität des Performanzbegriffs selbst zu erheblicher Verwirrung beigetragen haben, die ich zunächst ausgrenzen wollte2. Mein Versuch einer performativen Bestimmung des Lyrikbegriffs rekurriert explizit nicht auf die Aufführungs- bzw. Vortragssituation, die nur für bestimmte historische Ausprägungen von Lyrik angesetzt werden kann und auf die schon Petrarca in seinem Proömialsonett nurmehr zitierend rekurriert. Wenn ‚Lyrik‘ bzw. das ‚Lyrische‘ über eine als Prototyp verstandene Struktur definiert wird, dann kann es sich hierbei natürlich nicht um ‚Performanz‘ im linguistischen Sinne handeln. Die ursprünglich auf Chomsky 1965 zurückgehende linguistische Unterscheidung von compentence und performance, die auf anderer theoretischer Grundlage die Saussuresche Dichotomie von langue und parole aufgreift3, hat in den letzten Jahrzehnten eine vielfältige und unterschiedliche Diskussion erfahren4, die außerhalb der Linguistik nicht immer angemessen rezipiert worden zu sein scheint, die für eine adäquate Theoretisierung des Performativitätskonzepts aber zentral ist. Zum einen gilt nach wie vor die grundsätzliche Unterscheidung, wobei mit ‚Kompetenz‘ „die Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache“ gemeint ist und mit ‚Performanz‘ „der aktuelle Gebrauch der Sprache in konkreten Situationen“5. Die nähere Bestimmung dieser Opposition hat sich in den letzten Jahrzehnten jedoch grundsätzlich geändert und bei Choms1 2
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Vgl. hierzu oben S. 32f., Anm. 8. Schultz 2009 betont zurecht die Notwendigkeit der Unterscheidung von performativity und performance, versteht unter ‚Performativität‘ im Anschluss an Butlers Derrida-Rekurs aber die diskursive Konstitution von gender (-Identität) durch iterative Normzitation und überträgt dies auf den Liebenden in der Minnelyrik („The Lover as a Performative Identity“ S. 377– 383), womit nichts weiter als der längst bekannte Rekurs der Einzeltexte auf ein übergeordnetes Normensystem ‚höfische Liebe‘ gemeint ist. Die Ausführungen zum Zusammenhang von „performative identity“ und performance qua ‚Aufführung‘ geraten weitgehend anachronistisch. Zum Anschluss Butlers an Derrida und zu dessen grundsätzlichem Missverständnis der Sprechakttheorie vgl. Hempfer 2011, insb. S. 26–30. Vgl. hierzu die explizite Feststellung in Chomsky 1969, 14f. Vgl. hierzu mit ausführlicher Bibliografie in Lehmann 2007. Chomsky 1969, 14.
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4 Das Problem der ‚Aufführungssituation‘
ky selbst und anderen zur Herausbildung einer „kommunikativen“, „pragmatischen“ oder „Diskurskompetenz“6 geführt, die die ‚Systematizität‘ von Sprache nicht mehr an den Satz als oberste Einheit bindet, wie dies ursprünglich bei Chomsky der Fall war7, sondern auch und gerade die ‚Regelhaftigkeit‘ von Äußerungen, Diskursen oder Texten in den Blick nahm. Was den theoretischen Status der Sprechakte betrifft, so hat Searle seine Theorie explizit dem Bereich der langue, also der Kompetenz im Chomskyschen Sinne, zugeordnet8, und Habermas entwickelt von hier aus sein Konzept der kommunikativen Kompetenz: Diese allgemeinen Strukturen möglicher Redesituationen sind Gegenstand der Universalpragmatik oder einer, wie ich vorschlagen möchte, Theorie der kommunikativen Kompetenz.9
D. h. bei der Untersuchung von Typen von Sprechakten, Sprechsituationen usw. handelt es sich gerade nicht um eine Performanztheorie, weil es nicht um die einzelne konkrete Äußerung, das Vorkommen (token), sondern den Typ (type) von Äußerungen geht10. Auch eine performative Lyriktheorie, die das Performativitätskonzept von der Ebene der Sprechakte auf die Ebene der Diskurse überträgt, ist somit natürlich keine Performanztheorie, sondern Teiltheorie einer einzelsprachenübergreifenden ‚Universalpragmatik‘, die nicht notwendig ‚universell‘ sein muss11. Performanzerscheinungen sind die einzelnen historischen Texte, die sich einerseits über epochal spezifische Transformationsregeln bestimmen lassen und die andererseits je individuelle Realisations- und Modifikationsformen des generellen ‚Strukturmodells‘ aufweisen. Die fundamentale Ambiguität auch des Performanzbegriffs als solchem resultiert nun daraus, dass mit performance im Englischen wie im Französischen auch die Aufführung(ssituation) bezeichnet wird, was offenkundig etwas grundsätzlich anderes ist als die für jede sprachliche Äußerung konstituierbare Analyseperspek6 7 8
Vgl. hierzu den Überblick in Lehmann 2007, insb. S. 238–244. Vgl. Chomsky 1969, 19f. Vgl. Searle 1971, 32: „Nun könnte es immer noch scheinen, also ob der Gegenstand meiner Untersuchung einfach – in Saussures Terminologie – ‚parole‘ im Gegensatz zu ‚langue‘ wäre. Ich behaupte jedoch, daß es sich bei der adäquaten Untersuchung von Sprechakten um eine Untersuchung der langue handelt.“(Originalzitat in Searle 1969, 17). 9 Habermas 1971, 102. 10 Zu der auf Peirce zurückgehenden Unterscheidung von type und token vgl. Mittelstraß (Hg.) 2004, s. v. type and token (IV, 359f.) 11 Die von Searle 1971, 63f. und Habermas 1971, 102f. konstatierte einzelsprachenübergreifende ‚Universaliät‘ von Sprechaktregeln ist orientiert an europäischen Sprachen. Ob sich die von Searle implizierte und von Habermas explizit formulierte ‚Universalpragmatik‘ etwa auch für ostasiatische oder semitische Sprachen generalisieren lässt, kann ich aufgrund fehlender Kenntnisse nicht beurteilen. Die von mir konzipierte performative Lyriktheorie begreift sich deshalb auch nicht als ‚universal‘, sondern ‚nur‘ als ‚transhistorisch‘ für den europäischen Sprachraum, da sie auf Sprachstrukturen rekurriert, die vielleicht nur für eben diesen Sprachraum anzusetzen sind. Miner plädiert unter Einbezug ostasiatischer Literaturen allerdings explizit für ein universales Lyrikkonzept, dessen Kern er folgendermaßen bestimmt: „In my view (Miner 1990), the distinguishing features of lyric are a presence and intensity that make it, in a double sense, literature of moment.“ (Miner 2007, 14 mit Bezug auf Miner 1990, 82–134). Ich sehe hier durchaus eine Nähe zu meinem Bestimmungsversuch.
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tive von Kompetenz vs. Performanz. Hugo Kuhn hat, soweit ich sehe, als erster auf die Bedeutung der ‚Aufführungssituation‘ für ein adäquates Verständnis mittelalterlicher Lyrik verwiesen12, und bei Zumthor wird performance zur zentralen Kategorie seiner Bestimmung oraler Dichtung im allgemeinen, die freilich ein „phénomène hétérogène“ darstelle, „dont il est impossible de donner une définition générale simple“13, auch wenn Vokalität und Körperlichkeit als zentrale Merkmale fungieren14. Insgesamt oszillieren Zumthors Umgrenzungsversuche des Begriffs zwischen Ritual und Theater15, wobei ich hier nur noch auf den Zusammenhang mit dem Theater eingehen möchte: Je suis en particulier convaincu que l’idée de performance devrait être largement étendue: elle devrait englober l’ensemble des faits qu’embrasse aujourd’hui le mot de réception, mais en la rapportant au moment décisif où tous ces elements cristallisent dans et par une perception sensorielle – c’est-à-dire un engagement du corps. Il me semble du reste que c’est dans une telle direction que s’engage, depuis peu et assez confusément parfois, la critique. D’ores et déjà, le terme et l’idée de performance tendent (en tout cas, dans l’usage anglosaxon) à recouvrir toute espèce de théâtralité: c’est là un signe. Toute «littérature» n’est-elle pas, fondamentalement, théâtre?16
Wenn man will, kann man natürlich jede Literatur als ‚Theater‘ bezeichnen. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, dass der Sänger im Minnesang eben kein Schauspieler ist, der eine andere Figur darstellt, dessen Sprechen also kein apriorisch fiktionales ist. Wie Strohschneider ausführt, ist für „die Situation des Singens bei Hofe“ kein „Fiktionalitätskontrakt zwischen Sänger und Hörer fest etabliert […]; dieser setzt sich allenfalls erst sukzessive durch und steht damit immer wieder in Frage“17. Neben der unterschiedlichen Ausgestaltung des ‚Fiktionalitätskontrakts‘ führt Strohschneider eine Reihe weiterer Kriterien an, die das ‚Singen bei Hof‘ grundsätzlich von einer theatralen Aufführung unterscheiden18, sodass sich die ‚Vortragssituation‘ mittelalterlicher Lyrik grundsätzlich von der theaterspezifischen ‚Aufführungssituation‘ abgrenzen lässt, weshalb mir auch eine terminologische Differenzierung sinnvoll erscheint. Schließlich kommt der ‚Aufführung‘ in Lyrik und Theater ein systematisch völlig anderer Status zu, der durch das überdehnte performance-Konzept nur verwischt wird: Die ‚Aufführungssituation‘ konstituiert die Spezifität von Theater19, während die ‚Vortragssituation‘ eine historisch spezifische ‚Gebrauchsfunktion‘ von Lyrik darstellt, der gerade kein transhistorischer Status zukommt, ja die nicht einmal für mittelalterliche Ly12 13 14 15 16
Vgl. hierzu Kuhn 1969, Cormeau 1996, 4 sowie Strohschneider 1993, 56. Zumthor 1990, 37. Vgl. Zumthor 1983, insb. S. 145–206. Vgl. hierzu Zumthor 1990, insb. S. 49f. Ebd., S. 19. Das Zitat macht eindeutig, dass Zumthor unter „performance“ etwas wesentlich anderes versteht als Kuhn und die ihm folgende germanistische Mediävistik unter der ‚Aufführungssituation von Lyrik‘. Vgl. auch Strohschneider 1993, 64f. 17 Strohschneider 1996, 10. Vgl. hierzu grundlegend Müller 1994|2001 und 2004. Zu einer systematischen Diskussion des Begriffs der Aufführungssituation vgl. Strohschneider 1993. 18 Vgl. Strohschneider 1996, 11–13. Vgl. ferner Müller 2004. 19 Vgl. Fischer-Lichte 2004, insb. S. 58–126.
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rik generell anzusiedeln ist20, wie u.a. folgender Text Wilhelms IX. von Aquitanien (1071–1127), des ersten Trobador, dessen Texte uns überliefert sind, belegen kann: WILHELM IX. VON AQUITANIEN Farai un vers de dreyt nien I
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Farai un vers de dreyt nien: non er de mi ni d’autra gen, non er d’amor ni de joven, ni de ren au, qu’enans fo trobatz en durmen sobre chevau. No sai en qual hora·m fuy natz: no suy alegres ni iratz, no suy estrayns ni sui privatz, ni no·n puesc au, qu’enaissi fuy de nueitz fadatz, sobr’ un pueg au.
III No sai quora·m suy endurmitz ni quora·m velh, s’om no m’o ditz. Per pauc no m’es lo cor partitz d’un dol corau; e no m’o pretz una soritz, per sanh Marsau! IV Malautz suy e tremi murir, e ren no·n sai mas quan n’aug dir; metge querrai al mieu albir, e no sai cau; bos metges er si·m pot guerir mas non, si amau. V
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Amigu’ ai ieu, no sai qui s’es, 25 qu’anc non la vi, si m’ajut fes; ni·m fes que·m plassa ni que·m pes, ni no m’en cau, qu’anc non ac Norman ni Frances dins mon ostau. 30
20 Zu einem fundierten Überblick über zentrale Aspekte der europäischen Lyrik des Mittelalters insgesamt vgl. nunmehr Bauschke 2011, zu einer umfassenden Diskussion der Schriftlichkeits-Mündlichkeits-Problematik bei den Trobadors Selig 1996.
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VI Anc non la vi et am la fort, anc no n’aic dreyt ni no·m fes tort; quan non la vey, be m’en deport, no·m pretz un jau, qu’ie·n sai gensor et bellazor, e que mais vau. VII Fag ai los vers, non say de cuy; e trametrai lo a selhuy que lo·m trametra per autruy lay vers Anjau, que·m tramezes del sieu estuy la contreclau. 21
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Im vorliegenden Zusammenhang kann es mir naheliegender Weise nicht um eine eingehende Analyse dieses komplexen Textes gehen22, vielmehr möchte ich abschließend nur zwei Dinge belegen, zum einen, dass das hier skizzierte performative Lyrikmodell auch mittelalterliche Texte erfasst, und zum anderen, dass eine strukturelle Performativität Performanz im Sinne einer Vortragssituation nicht impliziert. Die Eingangsstrophe ist genuin performativ im Austinschen Sinn, indem im Reden über das Dichten simultan der Text konstituiert wird. Mit dem Satz, in dem der Sprecher sagt, dass er ein Gedicht über nichts machen werde, hat er eben das Machen dieses Gedichts begonnen. Dabei handelt es sich nun freilich um einen besonderen Fall von Performativität, nämlich um eine metasprachliche, indem im Reden nicht simultan eine außersprachliche ‚Realität‘ erstellt wird, sondern das Reden über das Gedicht ist das Gedicht. Der besondere ‚Witz‘ dieses Verfahrens beruht dabei darauf, dass der Text sich eben darüber konstituiert, dass er sagt, was er nicht macht, wobei das, was er nicht macht, das ist, was in lyrischen Texten der Zeit im Akt des Sprechens als simultanes ‚Geschehen‘ sich konstituiert: das Sprechen von Liebe („amor“) und Jugend („joven“), von fröhlich („allegres“) und traurig („iratz“) sein, von (Liebes-)Krankeit und Todesfurcht („Malautz suy e tremi murir“). Kurzum, wir haben es mit einem Text zu tun, der sagt, dass er das nicht sagt, was normalerweise in lyrischen Texten der Zeit gesagt wird, und sich eben hierüber qua Text konstituiert. Dieser seltsame Text über nichts, der in der Negation, worüber er nicht redet, vorführt, worüber normalerweise geredet wird, wird in der Eingangsstrophe explizit als Traum ausgewiesen, vom Sänger „trobatz en durmen|sobre chevau“ (V. 5f.). Dieses Traumgedicht wird in der Schlussstrophe medial explizit als schriftlich ausgewiesen, das jemandem übergeben wird, der es an bzw. für eine(n) ande21 Zitiert nach Rieger (Hg.) 1980, I, 16–18. Die deutsche Übersetzung s. Anhang 11. 22 Zu den verschiedenen Deutungsansätzen vgl. die Anmerkungen des Herausgebers in Rieger (Hg.) 1980, I, 233–236 und die dort angegebene Literatur.
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re(n) („per autruy“) weiterschickt, damit diese(r) den ‚Schlüssel („la contreclau“) für die Hülle („estuy“) findet. Damit wird textimmanent eine Gebrauchsfunktion des Textes qua Text thematisiert, die uns zu Beginn von Dantes Vita Nova näher erläutert wird. Der Sprecher der Vita Nova berichtet, dass er eine Traumvision hatte, die ihn zum Verfassen eines bestimmten Textes („A ciascun’alma presa e gentil cuore“) veranlasste, der im Bild des von der Geliebten verzehrten Herzens des Liebenden das innamoramento thematisiert. Diesen Text sandte er an die „famosi trovatori“, „pregandoli che giudicassero la mia visione“23. Dies ist keine Fiktion, sondern ein realer Vorgang, wie wir nicht nur aus der Behauptung des Sprechers selbst („a questo sonetto fu risposto da molti“24), sondern aus den – allerdings nur wenigen – erhaltenen Antwortsonetten wissen25. Worauf es mir hier ankommt, ist nicht die Feststellung, dass Träume auch schon vor Freud einer Auslegung bedurften26, sondern dass Texte nicht einfach im ‚höfischen‘ Kontext vorgetragen wurden, dass es vielmehr das Medium der Schriftlichkeit voraussetzende Umgangsweisen mit Texten gab, die bereits beim ersten volkssprachlichen Lyriker explizit thematisiert werden. Eben diese Thematisierung erzeugt nun freilich ein Paradoxon, das sich nicht grundsätzlich von demjenigen unterscheidet, das oben anhand von Goethes „Erwache Friedericke“ konstatiert wurde27, und das sich grundsätzlich von Dantes Differenzierung des Gedichts selbst von der Explikation von dessen Gebrauchsfunktion in der Prosa unterscheidet. Wenn der Sprecher in der Einleitungsstrophe formuliert, er werde ein Lied über nichts machen, dann ‚macht‘ er dies bereits, indem er diese Zukunft thematisiert, und wenn er am Schluss sagt, dass er ein Lied gemacht habe, dann kann er dies im Text eigentlich gar nicht sagen, weil er den Text noch immer ‚macht‘. D. h. der Text redet nicht nur über das, was ihn allererst konstituiert („farai un vers…“), sondern er verfügt zugleich über das Produkt („fag ai lo vers“), das noch gar nicht ‚fertig‘ ist, weil erst in den Folgezeilen der Bezug zum Adressaten und dessen hermeneutischer Aufgabe formuliert wird, womit sich der Text explizit als auszulegendes ‚Rätsel‘ (devinalh) ausweist28. Indem der Text nicht über nichts reden kann, sondern, indem er über nichts redet, immer schon über etwas redet und sich eben dadurch qua Text konstituiert, und indem er abschließend über etwas redet, worüber er textintern gar nicht reden kann, nämlich seinen Gebrauch, inszeniert sich der Diskurs in seiner Entsprechung und gleichzeitigen Differenz zum Normaldiskurs und signalisiert eben hierdurch seine Fiktionalität. Ganz anders scheinen mir nun die Dinge zu liegen, wenn der Text vorgetragen oder einfach vorgelesen wird, wenn es sich also um eine mündliche Kommunikationssituation handelt. Dann treten die erwähnten Paradoxien überhaupt nicht 23 24 25 26 27 28
Dante 1996, 22 [Vita Nova 1, 20]. Ebd., S. 26 [Vita Nova 2, 1]. Vgl. hierzu die Anm. des Herausgebers ebd., S. 26, Anm. 1. Zur Traumexegese im Mittelalter vgl. etwa Haubrichs 1979. Vgl. oben S. 39–42. Vgl. hierzu Rieger 1975.
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auf, und es handelt sich um keine Performativitätsfiktion, sondern um genuine Performativität, insofern das Gedicht im Akt des Sprechens tatsächlich konstituiert wird: Wenn der Sprecher sagt, dass er ein Gedicht über gar nichts machen wird, dann liegt in der mündlichen Kommunikation das Folgende eben noch nicht vor, sondern es entsteht im Prozess des Weitersprechens, sodass der Sprecher am Ende auch sagen kann, dass er das, was er gesagt und damit ‚gemacht‘ hat, die vers, an einen anderen weiterreicht, der diese Verse an noch einen anderen sendet, der schließlich den ‚Schlüssel‘ für die Bedeutung des Textes liefern wird. Aus der nur inszenierten Simultaneität von Sprechsituation und besprochener Situation wird im mündlichen Vortrag eine aktuale, die zugleich notwendig eine Referenzidentität von sprechendem und besprochenem Ich, von Sänger und textinternem lyrischen Ich erzeugt, die sprachstrukturell nicht hintergehbar ist, da ein Ich, das Ich sagt, notwendig auf das Aussagesubjekt referiert29. Um diese durch die Vortragssituation apriorisch gegebene Referenzidentität von sprechendem und besprochenem Ich aufzuheben, hat die mittelalterliche Lyrik höchst komplexe Strategien entwickelt, die Fiktionalität auf andere Art und Weise, nämlich durch die textuell markierte Aufspaltung von Autor und|oder Sänger einerseits und textinternem Ich andererseits, realisieren30. Die unterschiedliche Fiktionalitätskonstitution in mündlicher und schriftlicher Kommunikation wäre solchermaßen unmittelbar auf die mediale Differenz rückführbar. Im Unterschied zur prekären Fiktionalität mündlich vorgetragener Texte macht die schriftliche Fassung von „Farai un vers“ bereits zu Beginn der volkssprachlichen Lyrik die Performativitätsfiktion lyrischer Texte ähnlich explizit, wie wir dies anhand von „Erwache Friedericke“ gesehen haben. Dies scheint mir ein gewisses Indiz für die Validität des vorgeschlagenen Prototyps des Lyrischen zu sein, soweit sich dieser aus einem poetischen knowing how als knowing that extrapolieren lässt31. Die wohl knappste Realisation des lyrischen Prototyps findet sich in folgendem Zweizeiler Ungarettis: M’illumino d’immenso.32
29 Vgl. hierzu auch Müller 1994|2001, insb. S. 109–112. Anders Grubmüller, der glaubt, dass die Zuschreibung nur an die grammatische Person erfolgt, ob der Sprecher tatsächlich sich selbst mit ‚ich‘ meint, müsse nicht entschieden werden (Grubmüller 2009, 274). Da das ‚Ich‘ jedoch nicht auf eine grammatische Form referiert, sondern eine grammatische Form ist, die sich notwendig auf den Sprecher bezieht (vgl. Bühler 1934|1982, insb. S. 102–107), müssen textuelle bzw. paratextuelle Signale zur Dissoziation von Autor|Sänger und Text-Ich anleiten. Wie sich der Autor zum Sänger verhält, scheint mir dann nochmals eine andere Problemkonstellation. 30 Vgl. hierzu Warning 1997a (zuerst 1979) sowie Müller 1994|2001 und 2004 und Strohschneider 1996. 31 Zur Differenzierung dieser beiden Wissensbegriffe vgl. Ryle 1945|1946 sowie Hempfer|Traninger 2007, 9–12. 32 Ungaretti 111986, 65 [„Ich erleuchte mich|mit Untermeßlichem.“].
5 SCHLUSS: DAS PROTOTYPISCH LYRISCHE ALS INTERPRETATIVES KONSTRUKT Ziel der vorliegenden Ausführungen war der Versuch, eine systematische Lyriktheorie zu skizzieren, die es ermöglicht, prototypisch lyrische von prototypisch narrativen und prototypisch dramatischen, für die theatrale Aufführung bestimmten Texten zu unterscheiden. Grundlegend hierfür war ein Prototypenbegriff, wie er in den letzten Jahrzehnten in den Kognitionswissenschaften im Unterschied zum Klassenbegriff entwickelt und in unterschiedlicher Weise für die Gattungstheorie fruchtbar zu machen versucht wurde1. In Hempfer 2010 habe ich vorgeschlagen, zwischen dem Begriff des ‚Prototyps‘ und dem Begriff der ‚Familienähnlichkeiten‘ zu unterscheiden und die Schreibweisen bzw. modes in der Terminologie Genettes u.a. als Prototypen zu (re-)konstruieren, wohingegen die historischen Gattungen wie Roman, Epos, Kanzone, Sonett, Komödie, Tragödie usw. mir am ehesten über Wittgensteins Familienähnlichkeiten erfassbar scheinen. Der Prototyp einer Kategorie darf nun freilich nicht mit einem konkreten Exemplar, z.B. einem spezifischen Text, verwechselt werden2, wie dies durchgängig in der literaturwissenschaftlichen Rezeption der Fall ist. Vielmehr ist der konzeptionelle Kern einer Kategorie wie z.B. der Lyrik als abstrakte Repräsentation der zentralen Attribute der Kategorie zu verstehen, und der Prototyp ist dieser konzeptionelle Kern einer Kategorie, der sie von anderen Kategorien unterscheidet und der einzelne Entitäten über Ähnlichkeitsrelationen als Elemente bzw. Exemplare dieser – und ggf. weiterer – Kategorien ausweist3. Der prototypische Kern der Kategorie Lyrik – das prototypisch Lyrische – wäre demnach die Äußerungsstruktur, wie ich sie aus Texten von der frühgriechischen melopoiía bis zur ‚dunklen‘ Lyrik der Moderne herauszuarbeiten versucht habe. Diese sei hier nochmals angeführt: 1. eine Sprechsituation, die durch die Bühlersche Ich-Origo, sprich eine IchHier-Jetzt-Deixis charakterisiert ist;
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Die mittlerweile gegen die Prototypentheorie vorgebrachten Einwände sind für deren Übertragung auf die Gattungstheorie nicht relevant. Sie zielen wesentlich auf die Frage, ob die Ergebnisse von Rosch als eine Theorie der Kategorienstruktur zu verstehen sind, wie sie mental repräsentiert ist. Den Literaturwissenschaftler interessiert naheliegenderweise nicht, was den empirischen Befunden mental entspricht, sondern dass es empirische Befunde dafür gibt, dass unsere Kategorienbildung wesentlich prototypisch und nicht klassifikatorisch ist. Zur Kritik an der Prototypentheorie und deren Weiterentwicklung vgl. Evans|Green 2007, 268–292. Zur Kritik an diesem Missverständnis vgl. Hempfer 2010, 21f. mit Bezug auf Rosch 1978 und Taylor 32003. Zur zentralen Bedeutung der Ähnlichkeitsrelation vgl. das Zitat von Taylor oben S. 46 mit Anm. 1.
Schluss
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2. eine besprochene Situation, die als ‚Geschehen‘, Prozess, Ereignis u.ä. ausdifferenziert werden kann und die sich in und durch den Sprechakt gleichzeitig zu diesem auf der Grundlage einer identischen Deixis konstituiert; 3. eine Performativitätsfiktion, deren performativer Charakter aus der Simultaneität bzw. Koinzidenz von Sprechsituation und besprochener Situation resultiert und deren Fiktionalität darauf basiert, dass die Simultaneitätsrelation eine textinterne, inszenierte ist, die nicht der Kommunikationssituation zwischen Produzent und Rezipient entspricht. 4. das Fehlen bzw. die Asymmetrie der Sprecher-Adressaten-Relation, insofern der Sprecher die ‚Lizenz‘ hat, sich sowohl adressatenlos, unmittelbar und ohne explizite Motivation zu äußern als auch einen Adressaten explizit anzusprechen. Dieser kann jedoch seinerseits im Unterschied zur normalen faceto-face-Kommunikation gerade nicht selbst zum Sprecher werden, sondern allenfalls als zitierter Sprecher fungieren, der durch den ‚eigentlichen‘ Sprecher eingeführt und in abhängiger direkter Rede spricht. Wenn ich diese vier Merkmale als konstitutiv für den prototypischen Kern von ‚Lyrik‘ – abgekürzt: das prototypisch Lyrische – bestimme, kann ich mich natürlich nicht auf empirische „judgments of prototypicality“ von Versuchspersonen wie die neueren Kognitionswissenschaften berufen4. Empirische Befragungen gegenwärtiger Probanden fördern nur, wie oben schon erwähnt, ein gegenwärtiges Verständnis von ‚Lyrik‘ zutage5. Ein Prototyp des Lyrischen als transhistorische Invariante lässt sich nur durch einen interpretativen Prozess anhand einer diachronen Serie von Texten konstruieren, der ein knowing how der Textproduzenten expliziert, das von ihnen selbst in der Regel nicht oder nur im Hinblick auf die je eigene historische Praxis in ein knowing that überführt wurde. Die theoretische Validität des solchermaßen (re-)konstruierten Prototyps bemisst sich dann zum einen an dessen Differenz zu anderen Prototypen wie dem Erzählen oder dem Dramatischen qua theatraler Aufführung und zum anderen an der relativen Häufigkeit von Texten, die den Prototyp mehr oder weniger idealtypisch realisieren. Gegen prototypische Gattungsbestimmungen wurde eingewendet, dass sie unscharfe Ränder erzeugen6. Dieses Problem der Grenze verliert jedoch dadurch sein Gewicht, dass die Differenz zwischen Kategorien durch den jeweiligen prototypischen Kern konstituiert wird, sich die Kategorien an ihren Rändern jedoch durchaus überlagern können bzw. ein Exemplar, sei dies nun eine Gattung oder ein Einzeltext, jeweils unterschiedliche Ähnlichkeiten zu unterschiedlichen prototypischen Kernen aufweisen kann. Entscheidend ist die begriffliche Verlagerung der Differenzqualität der Kategorien von deren ‚Grenzen‘ auf deren ‚Kerne‘ und die Bestimmung der Zugehörigkeit einer Einheit zu einer Kategorie über deren Ähnlichkeitsrelation zum prototypischen Kern7. Genauso wie ‚Telefon‘ ein weniger 4 5 6 7
Das Zitat aus Rosch 1978, 40. Vgl. oben S. 26, Anm. 72. Vgl. etwa Fishelov 1993, 53–68, insb. S. 56. Vgl. hierzu Rosch 1978, 35f.
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5 Schluss
typisches Exemplar der Kategorie ‚Möbel‘ darstellt8, stellt die Gattung ‚Ballade‘ bzw. eine einzelne Ballade wie „Der König in Thule“ aufgrund von mehr oder weniger stark ausgeprägten Narrativisierungstendenzen ein weniger typisches Exemplar des lyrischen Prototyps dar als etwa „Erwache Friedericke“ und andere Gedichte aus der sogenannten „Geniezeit“. Dass es eher diese Gedichte sind als die Goetheschen Balladen, die den lyrischen Prototyp realisieren, ergibt sich aus deren prototypischer Differenz zu erzählenden Texten und aus der Diachronie, indem schon in den frühesten Zeugnissen dessen, was wir heute unter ‚Lyrik‘ subsumieren, diese Äußerungsstruktur nachweisbar ist, die die frühgriechische Lyrik grundlegend von der frühen Epik oder Dramatik unterscheidet. Dass vom Prototypischen relativ stark abweichende Gattungen und|oder Einzeltexte dennoch der Kategorie ‚Lyrik‘ zugeordnet werden, beruht zum einen, wie oben gezeigt wurde, auf der lyriktypischen Modifikation eines anderen prototypischen Kerns – im Fall des „Erlkönig“ dem Erzählen – und|oder auf sekundären, im jeweils historischen Literatursystem geltenden Merkmalen für ‚Lyrik‘ wie Metrik, spezifischen Strophenformen, typischer grafischer Anordnung u.a.m. Wenn sich umgekehrt im Bewusstseinsroman der klassischen Moderne oder im autoreferentiellen Strang postmodernen Erzählens Performativisierungstendenzen unterschiedlicher Ausprägung finden9, dann werden gleichwohl weder der Ulysses noch Sollers’ Drame oder Calvinos Se una notte d’inverno un viaggatore zu lyrischen oder dramatischen Texten noch sind sie ein Argument gegen die Konstruktion prototypisch definierter Schreibweisen, sondern werden in ihrer historischen Spezifität allererst durch die Überschreitung bzw. den Überschreitungsversuch der Grenzen von Prototypen beschreibbar. Während also die Performativitätsfiktion konstitutiv für den lyrischen Prototyp ist, sind Performativisierungstendenzen im Roman historisch spezifische Transformationen des auf Mittelbarkeit und einer deutlich ausgebildeten histoire-Ebene basierenden prototypischen Kerns des Narrativen. Ich würde also die Hypothese wagen, dass der Prototypenansatz eine neue Perspektive auf die generische Dynamik literarischer Evolution eröffnen kann. Ob der vorliegende Versuch der Konstruktion einer prototypisch lyrischen Äußerungsstruktur valide ist, bedarf natürlich weiterer systematischer und historischer Überprüfung.
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Zu diesem Beispiel vgl. Taylor 32003, 46 die Tabelle 3.1. Vgl. hierzu Hempfer 1976 und 1999. Während es im Bewusstseinsroman der klassischen Moderne um die Illusion der Präsenz des Lesers im Bewusstsein der dargestellten Figuren geht, versucht der autoreferentielle Roman im Umkreis von Tel Quel eine selbstverständlich immer nur metasprachlich und metaleptisch mögliche Präsenz des Lesers im Schreibakt des Autors zu suggerieren.
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ANHANG: ÜBERSETZUNG DER GEDICHTE UND LÄNGEREN TEXTAUSSCHNITTE In der Folge werden die nicht-englischen Texte und Textausschnitte, die oben nur im Original zitiert wurden, übersetzt. Die Übersetzung stammt, sofern nicht anders angegeben, von mir. Ziel ist eine möglichst genaue Wiedergabe der Struktur der Originale, auch wenn hierdurch die Möglichkeiten der deutschen Syntax gelegentlich überdehnt werden.
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(1) MINTURNO 1564|1971, 6: [...] die Modi der dichterischen Nachahmung sind drei: der eine besteht in einfachem Berichten, der andere ist im eigentlichen Sinne nachahmend [ = darstellend], der dritte besteht aus beidem. Denn man sagt, dass der Dichter wirklich berichtet, wenn er die eigene Person beibehält und sich nicht in jemand anderen verwandelt: so wie es in den meisten Fällen der Lyriker macht, z. B. Petrarca in den Kanzonen und Sonetten. Von im eigentlichen Sinne nachahmen [darstellen] spricht man, wenn jemand seine Person ablegt und in der Rolle eines anderen spricht, wie es der Komödien- und Tragödiendichter macht, welcher nie spricht, sondern jemanden anderen einführt, der das ganze Gedicht hindurch spricht. Diesem Modus folgte ich in den Eklogen und in dem Sonett, das mit dem Vers beginnt „Ich, der ich den Thessalischen Wellen flüchtete... „, wo ich vorgebe, dass der Lorbeerbaum spricht. Den dritten realisiert der Epiker, der in seiner Rede einmal die eigene Person beibehält, was er immer zu Beginn des Werkes tut wie Petrarca in „Zu der Zeit, die meine Seufzer erneuert“ [Triumphus Cupidinis I,1] und Dante „In der Mitte unseres Lebenswegs“. Das andere Mal gibt er seine Person auf und lässt einen anderen sprechen, so wenn Petrarca Madonna Laura zum Sprechen mit ihm bewegt, und diese beginnt „Erkenne jene, die als erste deine Schritte vom gewöhnlichen Weg ablenkte.“ [Triumphus Mortis II, 13f.] (2) TORELLI 1594|1974, IV, 316: Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass der Lyriker hinsichtlich des Modus frei ist, obgleich ich eine Dominanz des narrativen sehe. (3) MINTURNO 1564|1971, 175: Daraus [sc. den angeführten Beispielen] ergibt sich eindeutig, dass lyrische Dichtung einmal ganz Bericht, das andere Mal ganz Nachahmung [ = Darstellung] und schließlich eine Mischung von beidem ist. (4) PETRARCA, „SOLO E PENSOSO“ Einsam und betrübt die verlassensten Gefilde durchmesse ich zögerlichen und langsamen Schritts, mit aufmerksamem Auge darauf bedacht zu fliehen, wo menschliche Spur die Fluren prägt. Nicht anderen Schutz finde ich, der mich bewahrt vor der Menschen durchdringendem Blick, denn in meinem freudlosen Tun
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liest man von außen wie ich innen brenne, sodass ich nunmehr glaube, dass Berge und Strände [Abhänge] und Flüsse und Wälder wissen, von welcher Art mein Leben ist, das anderen verborgen bleibt. Aber noch so rauhe und wilde Wege kann ich nicht suchen, ohne dass Amor immer wieder kommt, um mit mir zu reden, und ich mit ihm. (RVF XXXV, 1–14) (5) PETRARCA: „VOI CH’ASCOLTATE“ Ihr, die ihr in verstreuten Gedichten den Klang der Seufzer hört, mit denen ich das Herz nährte zur Zeit meines ersten jugendlichen Irrtums als ich zum Teil ein anderer Mensch war als ich es [nunmehr] bin [...] (6) RIMBAUD: „PLATES D’AMARANTES“ Im Juli
Brüssel, Boulevard du Régent
Fuchsschwanzbeete bis hin zum Angenehmen Jupiterpalast. - Ich weiß, dass Du es bist, der an diesen Orten sein Fast-Sahara-Blau einmischt! Sodann, wie Rose und Sonnentanne Und Liane hier ihre Spiele eingeschlossen haben, Ein Käfig der kleinen Witwe! ... Was für Vogelschwärme, oh ia io, ia, io! ... Ruhige Häuser, alte Leidenschaften, ein Kiosk der durch Zuneigung Verrückten. Nach den Rosenstielen, ein Balkon, schattig und sehr niedrig, der Juliette (Julia) - Juliette, das erinnert an Henriette, eine reizende Eisenbahnstation, Mitten in einem Berg wie tief in einem Obstgarten, Wo tausend blaue Teufel in der Luft tanzen!
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Eine grüne Bank, wo im Sturmparadies Auf der Guitarre die blonde Irländerin singt. Sodann, aus dem Guyana-Esszimmer Kinder- und Käfiggeplapper. Ein Herzogsfenster, das mich denken lässt an das Gift der Schnecken und des Buchsbaums, Der hier unten in der Sonne schläft. Und dann Es ist zu schön! Bewahren wir unser Schweigen. Boulevard ohne Bewegung oder Geschäftigkeit, Stumm, ganz Drama und ganz Komödie, Unendliche Vereinigung von Szenen, Ich kenne dich, und bewundere dich schweigend. (7) RVF CCLXIV, 19–22: Der eine Gedanke spricht mit dem Verstand und sagt: - Was willst du noch? Wodurch erwartest du Hilfe? Unseliger [auf ‚Verstand‘ = la mente bezogen], verstehst du nicht, mit wieviel deiner Ehrlosigkeit die Zeit vergeht? (8) RVF CCCLX, 1–15: Nachdem ich jenen ehrwürdigen, für mich süßen und grausamen Herrn habe zitieren lassen vor die Königin, die den göttlichen Teil unserer Natur ausmacht und ihren Sitz im Kopf hat, erscheine ich dort, wie Gold, das im Feuer schmilzt, beladen mit Schmerz, Angst und Schrecken, fast wie ein Mensch, der den Tod fürchtet und Recht verlangt, und beginne; – Herrin, den linken Fuß als Jüngling setzte ich in das Reich desjenigen, von dem ich anderes als Zorn und Verachtung nie erfuhr; und so viele und so verschiedene Qualen erlitt ich dort, dass schließlich besiegt wurde meine unendliche Geduld, und ich das Leben hasste.
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(9) RVF CCCLX, 154–157: - Edle Frau, deinen Richterspruch erwarte ich. – Und sie darauf lächelnd: Ich habe gern eure Argumente vernommen, aber es bedarf mehr Zeit für einen solchen Streit. (10) LECONTE DE LISLE: Traum des Jaguars Unter den schwarzen Mahagonibäumen, den blühenden Lianen, In der schweren Luft, die unbeweglich und voller Fliegen ist, Hängen und, sich unten inmitten der Baumstümpfe einrollend, Wiegen sich der glänzende und streitsüchtige Papagei, Die Spinne mit gelbem Rücken und die wilden Affen. Dorthin kehrt der Rinder- und Pferdetöter, Entlang den alten abgestorbenen Stämmen mit moosbewachsener Rinde, Unheimlich und müde mit gleichmäßigen Schritten zurück. Seine muskulös anschwellenden Lenden reibend bewegt er sich, Und aus dem offenen, vor Durst betäubten Maul Stört ein rauher und kurzer Atem mit einem plötzlichen Stoß Die großen, durch die Mittagshitze glühenden Eidechsen, Deren Flucht durch das rötliche Gras funkelt. In einer dunklen, der Sonne verborgenen Waldmulde Läßt er sich langgestreckt auf einer Felsenplatte nieder; Mit weitem Zungenschlag leckt er seine Pfote; Seine vom Schlaf befallenen Augen sind halbgeschlossen; Und in der Einbildung seiner regungslosen Kraft Bewegt er seinen Schwanz, und lässt seine Flanke zittern Und träumt, dass inmitten der grünen Pflanzungen Er mit einem Sprung seine blutüberströmten Krallen In das Fleisch der aufgeschreckten und brüllenden Stiere treibt. (11) WILHELM IX. VON AQUITANIEN Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen 1 I Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen: / 2es wird nicht von mir noch von anderen Leuten handeln [sein], / 3es wird nicht von Liebe noch von Jugend handeln, / 4noch von etwas anderem, / 5denn es wurde vielmehr im Schlaf [wörtl.: schlafend] gedichtet [gefunden], / 6auf dem Pferd.
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7 II Ich weiß nicht, zu welcher Stunde ich geboren bin: / 8ich bin nicht fröhlich und nicht traurig, / 9ich bin nicht von dort [wörtl.: fremd] und ich bin nicht von hier [wörtl.: vertraut, einheimisch] / 10und ich kann in dieser Hinsicht nicht anders, / 11denn so wurde ich des Nachts vom Schicksal begabt, / 12auf einem hohen Berg. 13 III Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin / 14noch wann ich wache, wenn man es mir nicht sagt. / 15Beinahe [per pauc no = um ein Weniges nicht] ist mir das Herz gebrochen / 16wegen eines aus dem Herzen kommenden Schmerzes; / 17aber [und] ich schätze dies nicht (einmal wie) eine Maus ein, / 18beim heiligen Martial! 19 IV Ich bin krank und zittere davor zu sterben / 20und ich weiß nichts darüber, außer was ich darüber sagen höre; / 21ich werde nach meinem Gutdünken einen Arzt (auf)suchen / 22und ich weiß nicht welchen; / 23ein guter Arzt wird es sein, wenn er mich heilen kann, / 24jedoch nicht, wenn ich kränker [schlechter] werde. 25 V Ich habe eine Geliebte [Freundin], ich weiß nicht wer sie ist, / 26denn ich sah sie (noch) nie, bei meiner Treu [wörtl.: so möge mir Treue helfen]; / 27und sie tat mir nicht(s), was mir gefallen noch mich bekümmern möchte, / 28und es liegt mir nicht(s) daran, / 29denn (noch) niemals gab [hatte] es einen Normannen oder einen Franzosen / 30in meinem Haus. 31 VI (Noch) niemals sah ich sie und liebe sie sehr [stark], / 32(noch) niemals bekam [hatte] ich von ihr Recht [Genugtuung, Gunst], noch tat sie mir Unrecht; / 33 wenn ich sie nicht sehe, macht es mir überhaupt nichts aus [wörtl.: finde ich wohl Spaß daran], / 34denn ich schätze es nicht (einmal wie) einen Hahn ein, / 35 denn ich weiß eine lieblichere und schönere Geliebte), / 36und die mehr wert ist. 37 VII Ich habe das Lied gemacht, ich weiß nicht über wen; / 38und ich werde es demjenigen übermitteln, / 39der es für mich [mir] für1 eine(n) andere(n) (weiter)schicken wird, / 40dort gegen Anjou hin, / 41–42damit diese(r) (andere) mir den Nachschlüssel [Auflösung] für dessen [d. h. des Lieds] Hülle übermittle. (aus: Rieger (Hg.) 1980, I, 17|19)
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Es fragt sich, ob es hier im Deutschen nicht ‚an‘ heißen müsste und der Wechsel der Präposition nur stilistische Funktion hat. Das Possessivum ‚sieu‘ verstehe ich wie Rieger als auf ‚Lied‘ bezogen, d. h. gemeint ist, dass der Adressat in Anjou die Lösung des Rätsels liefert, während der Erstgenannte („selhuy“, V. 38) nur der Überbringer des Textes ist.
INDEX NOMINUM Kursive Zahlen beziehen sich auf die Anmerkungen Abrams, M. H. 60 Aristoteles 9, 11, 12, 13, 24, 50 Austin, J. L. 31, 65 Barthes, R. 17 Bauschke, R. 64 Behrens, I. 14 Benveniste, É. 18, 19 Bernhart, W. 17, 32 Bleumer, H. 17 Borkowski, J. 32, 41, 59 Bristow, J. 17 Browning, R. 19, 51, 52, 53 Bühler, K. 18, 34, 67, 68 Burdorf, D. 16 Catull 5, 30, 33, 35, 36 Chomsky, N. 61, 62 Cormeau, C. 63 Culler, J. 10, 21, 34 Dante Alighieri 12, 66, 84 Deufert, M. 32, 33 Ehlich, K. 19
Emmelius, C. 17 Fischer-Lichte, E. 49, 63 Friedrich, H. 14 Genette, G. 17, 20, 36, 68 Goethe, J. W. 5, 9, 10, 14, 36–40, 42, 49, 50, 55, 56, 66, 70 Grubmüller, K. 67 Habermas, J. 62 Häsner, B. 41 Hamburger, K. 19, 21 Haubrichs, W. 66 Hausmann, A. 57 Hempfer, K. W. 9, 11, 12, 16, 21, 23, 24, 27, 30, 32, 35, 37, 38, 39, 50, 59, 60, 61, 67, 68, 70 Horn, A. 9 Hühn, P. 17, 18, 20, 21 Huss, B. 9, 12, 13, 37 König, B. 14, 37, 38 Küpper, J. 12, 46, 59 Kuhn, H. 63 Lamping, D. 13–16, 22, 25, 48, 60 Landwehr, J. 27
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Index nominum
Lausberg, H. 50 Leconte de Lisle 58, 59, 60, 87 Lehmann, C. 61, 62 Link, J. 21, 56 Mahler, A. 9, 19, 22, 26, 27 Mehltretter, F. 9, 12, 13 Miner, E. 10, 62 Minturno, A. S. 9, 11, 12, 13, 84 Mittelstraß, J. 25, 62 Müller, J.-D. 57, 63, 67 Müller-Zettelmann, E. 17, 18–20, 34, 51 Mukařovský, J. 15 Neuschäfer, H.-J. 56 Penzenstadler, F. 38 Petrarca, F. 5, 9, 12, 14, 15, 35–38, 42, 47, 56, 57, 61, 84, 85 Petzold, J. 15, 26, 28, 34, 59 Pfister, M. 49, 50 Platon 9, 11, 12, 13, 21, 50 Primavesi, O. 30 Quintilianus, M. F. 50 Rajewsky, I. O. 17 Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 9, 11, 19, 50 Regn, G. 9, 12, 13, 14, 37, 56, 57 Rico, F. 56 Riedel, E. 44, 45
Rieger, D. 65, 66, 88 Rimbaud, A. 5, 10, 42, 43, 44, 60, 85 Rösler, W. 32, 33 Ryle, G. 67 Santagata M. 36 Sappho 5, 10, 30, 31, 32, 33, 35, 36 Schenk-Haupt, S. 21 Schlaffer, H. 32 Schneider, U. 7, 21 Schönert, J. 17, 18, 20, 21, 46 Schultz, J. A. 61 Searle, J. R. 62 Selig, M. 57, 64 Sollers, P. 50, 70 Stanzel, F. K. 17, 20, 29, 32 Stein, M. 17 Stierle, K. 57 Strohschneider, P. 63, 67 Taylor, J. R. 25, 46, 68, 70 Torelli, P. 9, 12, 84 Traninger, A. 67 Ungaretti, G. 67 Warning, R. 9, 29, 67 Winko, S. 32, 41, 59 Wolf, W. 18, 21–26, 35, 58, 60 Wünsch, M. 37, 39, 40, 41, 42, 57
Index nominum Zumthor, P. 63 Zymner, R. 20, 26–28
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t e x t u n d ko n t e x t Romanische Literaturen und Allgemeine Literaturwissenschaft
Herausgegeben von Klaus W. Hempfer.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0933–4769
Andreas Kablitz Lamartines Méditations poétiques Untersuchungen zur Bedeutungs konstitution im Widerstreit von Leser erwartung und Textstruktur 1985. XI, 259 S., kt. ISBN 9783515042246 Klaus W. Hempfer Diskrepante Lektüren: Die OrlandoFurioso-Rezeption im Cinquecento Historische Rezeptionsforschung als Heuristik der Interpretation 1987. 325 S., kt. ISBN 9783515047371 Alfred NoyerWeidner Umgang mit Texten I Vom Mittelalter bis zur Renaissance. Hg. von Klaus W. Hempfer 1986. VIII, 401 S., kt. ISBN 9783515048163 Alfred NoyerWeidner Umgang mit Texten II Von der Aufklärung bis zur Moderne. Hg. von Gerhard Regn. Mit einem Register für beide Bände 1986. VIII, 371 S., kt. ISBN 9783515048170 Andreas Bomba Chansons de geste und französisches Nationalbewußtsein im Mittelalter Sprachliche Analysen der Epen des Wilhelmszyklus 1987. VII, 330 S., kt ISBN 9783515049306 Klaus W. Hempfer (Hg.) Ritterepik der Renaissance Akten des deutschitalienischen Kolloqui ums in Berlin vom 30. März – 2. April 1987 1989. XIII, 361 S., kt. ISBN 9783515052016 Orlando Grossegesse Konversation und Roman Untersuchungen zum Werk von Eça de Queiroz 1991. 343 S., kt. ISBN 9783515057424
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Walter Koneffke Fiktion und Moral Die Vermittlung moralischer Normen im Romanwerk des Rétif de la Bretonne am Beispiel des Paysan perverti 1992. VIII, 295 S., kt. ISBN 9783515059633 9. Klaus W. Hempfer (Hg.) Poststrukturalismus – Dekonstruktion – Postmoderne 1992. 169 S., kt. ISBN 9783515059855 10. Klaus W. Hempfer (Hg.) Renaissance Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen 1993. 215 S., kt. ISBN 9783515060462 11. Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn (Hg.) Der petrarkistische Diskurs Spielräume und Grenzen. Akten des Kolloquiums an der Freien Universität Berlin vom 23.–27. Oktober 1991 1993. 427 S., kt. ISBN 9783515061346 12. Marc Föcking Rime sacre und die Genese des barocken Stils Untersuchungen zur Stilgeschichte geistlicher Lyrik in Italien 1536–1614 1994. 324 S., kt. ISBN 9783515063524 13. Horst Weich Paris en vers Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne 1998. 275 S., kt. ISBN 9783515072250 14. Otfried Lieberknecht Allegorese und Philologie Überlegungen zum Problem des mehr fachen Schriftsinns in Dantes Commedia 1999. IX, 256 S., kt. ISBN 9783515073264 15. Klaus W. Hempfer (Hg.)
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Möglichkeiten des Dialogs Struktur und Funktion einer literarischen Gattung zwischen Mittelalter und Renaissance in Italien 2002. XV, 312 S., kt. ISBN 9783515079532 Klaus W. Hempfer / Helmut Pfeiffer (Hg.) Spielwelten Performanz und Inszenierung in der Renaissance 2002. XIV, 163 S., kt. ISBN 9783515079076 Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn (Hg.) Petrarca-Lektüren 2003. 246 S., kt. ISBN 9783515080835 Marc Föcking / Bernhard Huss (Hg.) Varietas und Ordo Zur Dialektik von Vielfalt und Einheit in Renaissance und Barock 2003. XV, 251 S., kt. ISBN 9783515082587 Michael Schwarze Generische Wahrheit – Höfischer Polylog im Werk Jean Froissarts 2003. 341 S., kt. ISBN 9783515082440 Susanne Zepp Jorge Luis Borges und die Skepsis 2003. 156 S., kt. ISBN 9783515083430 Klaus W. Hempfer (Hg.) Poetik des Dialogs Aktuelle Theorie und rinascimentales Selbstverständnis 2004. 191 S., kt. ISBN 9783515085762 Klaus W. Hempfer / Gerhard Regn / Sunita Scheffel (Hg.) Petrarkismus-Bibliographie 1972–2000 2005. XIII, 214 S., kt. ISBN 9783515086189 Roger Friedlein (Hg.) Der Renaissancedialog auf der iberischen Halbinsel 2005. 146 S., kt. ISBN 9783515087773 Klaus W. Hempfer (Hg.) Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs 2006. 203 S., kt. ISBN 9783515089913 Ulrike Schneider Der weibliche Petrarkismus
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Entgegen der gängigen Auffassung, dass sich ‚Lyrik‘ nur historisch bestimmen lässt, entwickelt Klaus W. Hempfer in diesem Band eine systematische Lyriktheorie. Hierfür ist der Prototypenbegriff, wie er in den neueren Kognitionswissenschaften im Unterschied zum traditionellen Klassenbegriff entwickelt wurde, grundlegend. Anhand konkreter Textbeispiele von der frühgriechischen Lieddichtung bis zur ‚dunklen‘ Lyrik der Moderne zeigt der Autor, dass sich prototypisch lyrische Texte durch eine spezifische Äußerungsstruktur von prototypisch narrativen und prototypisch dramatischen, für die theatrale Aufführung bestimmten Texten unterscheiden lassen. Diese Äuße-
rungsstruktur wird im Anschluss an aktuelle Performativitäts- und Fiktionstheorien als ‚Performativitätsfiktion‘ bestimmt und in eingehender Auseinandersetzung mit an deren, insbesondere narratologischen Versuchen der Fundierung einer systematischen Lyriktheorie entwickelt. Ausführlich diskutiert Hempfer auch die Probleme, die die vorgeschlagene Neukonzeptualisierung aufwirft. Der Band richtet sich an Studierende und Lehrende aller literaturwissenschaftlichen Fächer von der Klassischen Philologie bis zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10643-6