LONDON. The Unique City: Die Geschichte einer Weltstadt 9783034610933, 9783034608206

The standard work by Steen Eiler Rasmussen for the first time in German Originally published in 1934, London. The Uniq

199 72 13MB

German Pages 440 Year 2012

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Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
1 London, die gestreute Stadt
2 Die Unabhängigkeit Londons
3 Das Zentrum des Welthandels
4 Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen
5 Die Entstehung von Erholungsgebieten
6 Stadtplanungen im Jahre 1666
7 Verkehrsverbindungen in London
8 Der Englische Landschaftsgarten
9 Londons Plätze
10 Englischer Wohnbau
11 Die traurige, aber wahre Geschichte der Regent Street
12 Das Londoner Haus
13 Londoner Parks
14 Der Londoner Verkehr
15 Die Gartenstadt
16 Ein höchst unglückliches Ende
Ein Essay über Londons New Towns
Personenregister
Ortsregister
Karten
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LONDON. The Unique City: Die Geschichte einer Weltstadt
 9783034610933, 9783034608206

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Bauwelt Fundamente 149

Herausgegeben von Ulrich Conrads und Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hildegard Barz-Malfatti Elisabeth Blum Eduard Führ Thomas Sieverts Jörn Walter

Ulrike Franke Torsten Lockl (Hg.)

Steen Eiler Rasmussen London The Unique City Die Geschichte einer Weltstadt

Bauverlag Gütersloh • Berlin

Birkhäuser Basel

Titel der englischen Originalausgabe: LONDON: The Unique City © Una Canger, Ida Nielsen Aus dem Englischen von Ulrike Franke und Torsten Lockl Vordere Umschlagseite: Der Quadrant 1907, Fotograf unbekannt, aus: Steen Eiler Rasmussen, London: The Unique City, The MIT Press, Cambridge/London 1982 Hintere Umschlagseite: Die Gray’s Inn Walks, aus: Steen Eiler Rasmussen, London: The Unique City, The MIT Press, Cambridge/London 1982 Dieses Buch wurde publiziert mit Unterstützung der Realdania, Kopenhagen, der Ludwig Sievers Stiftung, Hannover, der Heinrich-Tessenow-Gesellschaft, Hamburg; sowie einer Reihe weiterer, dem Inhalt des Buches aufgeschlossener privater Förderer.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Der Vertrieb über den Buchhandel erfolgt ausschließlich über den Birkhäuser Verlag. © 2013 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel, Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz und Bauverlag BV GmbH, Gütersloh, Berlin

Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-0346-0820-6 9 8 7 6 5 4 3 2 1 

www.birkhauser.com

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

6

1 London, die gestreute Stadt

13

2 Die Unabhängigkeit Londons

27

3 Das Zentrum des Welthandels

40

4 Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

51

5 Die Entstehung von Erholungsgebieten

63

6 Stadtplanungen im Jahre 1666

85

7 Verkehrsverbindungen in London

107

8 Der Englische Landschaftsgarten

123

9 Londons Plätze

143

10 Englischer Wohnbau

177

11 Die traurige, aber wahre Geschichte der Regent Street 

243

12 Das Londoner Haus

263

13 Londoner Parks

277

14 Der Londoner Verkehr

305

15 Die Gartenstadt

325

16 Ein höchst unglückliches Ende 

345

Ein Essay über Londons New Towns

361

Personenregister409 Ortsregister427 Karten430

Vorwort der Herausgeber

Die prächtige Stadt Peking sei mit der Einführung von Häusern des europäischen Typs, welche die ganze Harmonie ihres Plans zerstörten, ruiniert worden 1, und nun sei London, die Hauptstadt der englischen Kultur, infiziert mit einer kontinentalen Experimentiererei, die im Widerspruch stehe zum Charakter der Stadt. Mit diesem Resümee entläßt der dänische Architekt, Stadtplaner, Lehrer und Autor Steen Eiler Rasmussen (1898–1990) in seinem erstmals 1934 erschienenen Buch London. The Unique City seine Leser und tritt mit seinem weit vorausschauenden Befund zugleich dafür ein, den individuellen Charakter von Städten zu bewahren. Rasmussen war eine der letzten großen Architektenpersönlichkeiten, die ihre Arbeiten in einen historischen und gesellschaftlichen Kontext stellten. Sein Buch über die faszinierende Entwicklung der Metropole London ist damit zugleich ein leidenschaftliches Plädoyer zur Besinnung auf die kulturellen, stadtgeschichtlichen und architektonischen Qualitäten von Städten. Und mehr als dies: Es verführt seine Leser, Experten kaum anders als stadt- und kulturgeschichtlich interessierte Laien, sich von der Biographie einer großen Stadt gefangennehmen, ja verzaubern zu lassen: London, eine einzigartige Stadt, die der Architekt und Stadthistoriker Rasmussen von sich erzählen läßt, von ihren römischen Anfängen bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Sein lehrreiches und überdies höchst unterhaltsam zu lesendes Buch zeigt, wie sich London zu einer starken Handels- und Bürgerstadt entwickelte, zu einer Stadt, die den König nie zu einem absolutistischen Herrscher werden ließ und sich damit von den großen Städten des europäischem Festlands wie Paris und Wien grundlegend unterscheidet. Es waren die Bürger Londons, die ihre Stadt vor einer ihren Lebens­bedürfnissen oktroyierten Planung bewahrten und sie vor den 1 R  asmussen denkt hier an die Zerstörung des von Hofhäusern (Hutongs) und Tempeln geprägten alten Peking durch den Bau von mehrgeschossigen Bauten Anfang/Mitte des 20. Jahrhunderts.

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architektonischen Repräsentationsinteressen der Herrscher schützten. London konnte sich freier als andere große Städte entwickeln. Es scheint, daß es in seiner langen Geschichte eine stetige – wenn auch ihren Akteuren kaum bewußte – Tendenz zu einem bestimmten Typus gegeben hat. Einem bestimmten Typ von Stadt, dem ein bestimmter Typ von Haus entsprach, und von Menschen, die sich in beiden wiedererkannten. Diese Tendenz aufzuspüren, ist Rasmussens Absicht. Eine Idee, meinen wir, auf die es sich zu besinnen gilt. Moderne Städte, die Stück für Stück gewachsen sind, lassen sich nur durch die Betrachtung ihrer Geschichte verstehen. Das gilt insbesondere für die Hauptstadt der Engländer. Stets hebt Rasmussen das in deren Stadtgeschichte auf wunderbare Weise entdeckte Unkonventionelle, Ungeregelte, sich der Verregelung Widersetzende als Vorbild hervor. Sein zuweilen idyllisch erscheinendes Weltbild findet im Detail eine Realität, die sich auf den ersten Blick nicht gleich erschließt. Die auf Erfahrungen gestützte Idee, daß die Zukunft der Stadt von eigenverantwortlich handelnden, sich ihrer Kultur bewußten Bürgern entscheidend mitgeprägt werden kann, von Menschen, die sich für ihre Stadt einsetzen, sie mitgestalten und diese Aufgabe nicht dem Staat überlassen, hat rund 80 Jahre nach dem Jahr der Erstveröffentlichung dieses Buches nichts an Aktualität eingebüßt. Der internationale Stadtdiskurs, wie ihn etwa die einflußreichen Urban Age-Konferenzen geführt haben, revitalisiert diese Idee und demonstriert sie an zahlreichen Beispielen. Die vorliegende, aus dem Englischen übersetzte Fassung von London. The Unique City bezieht sich auf die erweiterte, bei The MIT Press, Cambridge/London erschienene Ausgabe von 1982. Die vielen Verweise auf – vom Autor nicht immer vollständig bibliographierte – Veröffentlichungen sollen interessierte Leser zu weiteren Recherchen anspornen. Getrennte Personen- und Ortsregister sowie ein ergänzter Kartenteil bieten diesbezüglich Orientierung und Hilfestellung. Unsere auf das Wesentliche beschränkten Anmerkungen sind mit eckigen Klammern kenntlich gemacht; die im Original kursivierten Hervorhebungen des Autors wurden beibehalten. Der das Buch beschließende Essay zu Londons New Towns ist leicht gekürzt. Steen Eiler Rasmussen legte in seinen Büchern großen Wert auf gute Lesbarkeit sowie auf den visuellen Zusammenhang von Text und Bild. Bei einem Großteil der Abbildungen handelt es sich um seine eigenen Fotografien. Sie entstanden auf seinen unzähligen Spaziergängen durch die Stadt. Rasmussen würzt seinen Text 7

mit einer Fülle von Zitaten und Bildern und schafft es so, daß seine Leserinnen und Leser seiner Darstellung leicht folgen können. Er erzählt Geschichten, ohne jemals die Geschichte der Stadt aus den Augen zu verlieren. Dabei spart er nicht mit einer Ironie, deren Übersetzung ins Deutsche sich an mancher Stelle als Herausforderung erwies. Rasmussens kritische Haltung zu einer Moderne, die oft nicht so funktional war, wie sie es zu sein vorgab, zeigt sich an vielen Stellen unverhüllt. Das vom Autor gelegentlich als modernistisch postulierte Attribut modern haben wir in Anführungszeichen gesetzt.

Steen Eiler Rasmussen: Notizen zu seiner Vita

In Kopenhagen zum Architekten ausgebildet, war Steen Eiler Rasmussen in seinen jungen Jahren so erfolgreich, daß er bereits mit 24 Jahren in den Academic Council of the Royal Danish Academy of Fine Arts in Kopenhagen gewählt wurde. 1924 übernahm er die Dozentur des neu gegründeten Stadtplanungsinstituts, bevor er 1938 zum Professor ernannt wurde. Als Dozent an der Architectural Association hielt er sich 1927 für einige Monate in London auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg zurück in England, wurde er 1949 als Produktdesigner in die Royal Society of Arts berufen. Als Gastprofessor lehrte er unter anderem am MIT (1953) und in Yale (1954). 1958 folgte die Berufung zum Lethaby Professor für Architektur am Royal College of Art in London. Rasmussen war darüber hinaus langjährig Direktor der Architekturfakultät der Royal Academy of Fine Arts in Kopenhagen. Neben seinem Wirken als Architekt, Stadtplaner, Architekturlehrer und Ausstellungsgestalter veröffentlichte er seine Beobachtungen und Analysen in zahlreichen Publikationen. Deren weitaus bekannteste ist das hier vorgelegte Buch London. The Unique City. Rasmussen war deutschsprachigen Lesern vertraut: 1925 erschien sein Buch Moderne Architektur in Dänemark im Verlag Ernst Wasmuth, Berlin. Es folgten mehrere Architekturkritiken in Wasmuths Monatsheften für Baukunst und in der Zeitschrift Städtebau zwischen 1926 und 1932. Mit Werner Hegemann, dem Herausgeber der genannten Zeitschriften, verband ihn eine enge Freundschaft. Hegemann hatte sich bereits in seinem Artikel London (in: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebauausstellung in Berlin II, Berlin, Verlag Ernst Wasmuth, 1911–1913, S. 273-312) mit London 8

beschäftigt. Beide diskutierten die Polarität kontinentaler und angelsächsischer Städte und förderten einander: Rasmussen und Hegemann einte eine kritische Haltung zu einer von der Tradition und dem Gebrauchswert losgelösten Moderne, eine Haltung, mit der sie dem internationalen Stil entgegentraten. Gemeinsam reisten Sie 1926 nach Pessac, um Le Corbusier zu treffen. In Wasmuths Monatsheften (Le Corbusier. Die kommende Baukunst?, 1926) kritisiert Rasmussen Le Corbusiers Städtebaubuch Urbanisme von 1924. Corbusier denke in städtebaulichen Fragen wenig neuzeitlich und folge eher Hausmanns Gedanken, die bereits 1870 veraltet gewesen seien. Rasmussen beschreibt darin seine Sicht: „Der Wert eines Bauwerkes liegt – wie bei anderen Gebrauchs­ gegenständen – weniger in seinem Verhältnis zum Betrachter als in seinem Verhältnis zu der gestellten Aufgabe und in der Übereinstimmung seiner Teile.“ 1940 [!] erscheint bei Wasmuth, Berlin, sein in Deutsch verfasstes Buch Nordische Baukunst. Beispiele und Gedanken zur Baukunst unserer Zeit in Dänemark und Schweden. Daß diese Arbeit den bereits damals bekanntesten dänischen Architekten Arne Jacobsen unerwähnt läßt – und norwegische Beispiele übergeht –, provoziert Fragen. Fragen, die einer eigenen Untersuchung bedürfen.2 Steen Eiler Rasmussen war mit Heinrich Tessenow und seinem Werk sehr vertraut. Man kann ihn ohne weiteres einen ihm geistig Verwandten nennen. Ein Höhepunkt seiner Biographie ist darum die Würdigung seines Wirkens mit der Tessenow-Medaille in Gold, die ihm die Alfred Toepfer Stiftung, Hamburg, 1973 verlieh. Im darauffolgenden Jahr wird er für einen Festvortrag an die Bayerische Akademie der Schönen Künste eingeladen; er spricht über die „Gegenwärtigkeit überlieferter Kunst“. 1976 erscheint das Buch Heinrich Tessenow. Ein Baumeister 1876–1950. Leben, Lehre, Werk, zu dem er einen Aufsatz beisteuert. Sein noch heute in der Architekturlehre verwendetes Buch Om at opleve arkitektur (1957) erscheint 1980 unter dem Titel Architektur – Erlebnis in deutscher Übersetzung. Und erst heute, etwa 80 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, liegt sein bekanntestes Buch in einer deutschen Fassung vor: London. The Unique City. Rasmussen nutzte die Zeit seiner Gastprofessur an der Architectural Association in London 1927, um dort „seine Einfamilienhausstadt“ zu erleben und zu studieren. 2 A  ntje Wischmann, Rezension von Olaf Lind, Arkitekten Steen Eiler Rasmussen, 2008, in: Nordeuropaforum, Vol. 19, No. 1/2009, S.148-151

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Immer wieder kehrte er für längere Aufenthalte nach London zurück. In Wasmuths Monatsheften für Baukunst schilderte er in zwei Beiträgen erste Erkenntnisse seiner Recherchen: „Regent Street“ in London und ihre traurige Geschichte, 1927, und Neuzeitliche Baukunst in London, 1928. An diese Texte knüpfen die 1930 gehaltenen 18 Vorträge über London im Rahmen einer Vorlesungsreihe an der Kopenhagener Royal Danish Academy of Fine Arts an, bevor seine Betrachtungen erstmals 1934 als dänische und 1937 als englische Version in Buchform erscheinen. Später folgen Reprints, über­ arbeitete Auflagen, unter anderem eine englische Paperbackausgabe 1967 bei The MIT Press, die auch als italienische Übersetzung 1972 erscheint (Londra città unica in der Reihe Collana di Architettura). Schließlich publiziert Rasmussen die letzte, überarbeitete Ausgabe seines Buches 1982 in englischer Sprache. 1990 erscheint sie mit den Kapiteln 1 bis 13 in Französisch (Londres in der Reihe Villes et Sociétés) und bildet die Grundlage sowohl für die spanische Übertragung von 2010 (Londres, ciudad única) als auch für die vorliegende Ausgabe.

Dank

Die vorliegende Übersetzung verdankt ihre Entstehung einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit Steen Eiler Rasmussens London-Buch im Rahmen der Architekturlehre am Lehrstuhl Entwerfen und Gebäudelehre der Bauhaus-Universität Weimar. Professor Hubert Rieß als Lehrstuhlinhaber regte das Vorhaben an, wofür wir ihm an dieser Stelle ausdrücklich danken möchten. Als wissenschaftliche Mitarbeiter betreuten wir, zusammen mit Henning Schulze-Steinen, im Zeitraum von 2003–2005 mehrere Seminare zu Steen Eiler Rasmussens Buch, womit die Übersetzung ins Deutsche ihren Anfang nahm. Wir bedanken uns an dieser Stelle bei allen Teilnehmenden. Charlotte von Uslar-Gleichen sei für die umfänglichen Überarbeitungen und ihr Engagement für das Projekt sehr herzlich gedankt. Gleiches gilt für die Herausgeber der Bauwelt Fundamente – Ulrich Conrads für die Unterstützung des Übersetzungsvorhabens und insbesondere Peter Neitzke für seine fachlichen Anregungen und sein sprachliches Gespür beim Lektorieren. Der selbstlosen und umfangreichen Unterstützung von Elisabeth von Uslar-Gleichen bei der Textkorrektur gilt unser besonderer Dank. Das Konzept, die komplexe Gesamtgestaltung des Originals auf 10

diese Ausgabe zu übertragen, beruht auf der Arbeit von Benedikt Reichenbach, der zusammen mit Ulrike Gödecke die graphische Umsetzung übernahm. Wir danken Jens Casper für sein räumliches Verständnis, Renee Tribble für ihre letzten Korrekturen, Lina Maria Müller für ihre umfangreichen Recherchen und vielen inhaltlichen Ratschläge sowie Bernd Schlinke für seine Unterstützung. Wertvolle Hinweise auf dem Weg zur Umsetzung dieses Buches erhielten wir von Hilde Barz-Malfatti, Konstanze Domhardt, Anna Elisabeth Gülzow, Eva Herr, Olaf Lind, Ulrich Müller und Lars-Christian Uhlig. Das Publikationsvorhaben wäre nicht ohne die finanziellen Zuwendungen der Stiftung Realdania, der Ludwig Sievers Stiftung, der Heinrich-Tessenow-Gesellschaft sowie der im folgenden genannten Personen realisierbar gewesen: Marion Aderhold und Melitta Schütz, Antje Bruske, Helga von der Decken, Tilman Dorn, Regina Franke und Stefan Gräser, Veronika und Dr. Gunther Franke, Anja und Martin Fröhlich, Till Hornawsky, Carl-Enno, Freiherr zu Inn- und Knyphausen, Stephan Kaczmarek und O. Oder, Sonja und Dr. Karl-Heinz Lockl, Irmgard von Massow, Jan Musikowski, Lina Maria Müller, Sonja Nagel und Jan Theissen, Jürgen Padberg, Oda Pälmke und Tobias Engelschall, Charlotte Riede, Brigitta und Dr. Erhard Schlinke, Karl und Maria Schneider, Philipp Julian Schneider, Alexander Stahr, Charlotte von UslarGleichen, Wolf-Christian und Elisabeth von Uslar-Gleichen und Stefan Weiszhuhn. Wir bedanken uns bei Una Canger und Ida Nielsen, den Töchtern von Steen Eiler Rasmussen. Überrascht hat uns die Begeisterung aller Beteiligten für das gesamte Projekt. Wir verstehen sie als Respekt vor einem Bild der Stadt, für das Steen Eiler Rasmussen unermüdlich eingetreten ist. Ulrike Franke, Torsten Lockl

Darmstadt und Berlin, im August 2012

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In Erinnerung an Raymond Unwin und Werner Hegemann, deren Arbeit mich zum Schreiben dieses Buches inspiriert hat

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1 London, die gestreute Stadt

Großstädte lassen sich in zwei Haupttypen einteilen: den konzentrierten und den aufgelockerten. Der erste ist der geläufigere auf dem Kontinent und spiegelt sich in den großen Regierungssitzen von Paris und Wien, die als Prototypen der europäischen Stadtplanung des letzten Jahrhunderts [des 19. Jh.s] galten. Den zweiten repräsentiert die englische Stadt [gemeint ist London], die heute [1932] vielen als das Ideal erscheint. Die Bodenpreise in der konzentrierten Stadt sind nicht nur in deren Zentrum, sondern auch in den Randgebieten vergleichsweise hoch. Demzufolge werden die Häuser in der Regel mit der maximal möglichen Anzahl von Geschossen errichtet, die das vorliegende Baugesetz zuläßt. Die meisten Menschen leben in Mietwohnungen. Da sie durch Kündigung gezwungen werden können, diese kurzfristig zu verlassen, hegen sie kein großes Interesse an den Häusern und stellen keine Ansprüche an sie. Die Quadratmeterpreise sind relativ hoch, und viele der Einwohner mit geringem Einkommen müssen daher in überbelegten Wohnungen leben. Die Umstände sind noch unvorteilhafter, da, über die hohen Mieten hinaus, die von der Stadt für ihre Bewohner angebotenen Freiräume für Sport und Erholung rar sind. Der Typus der aufgelockerten Stadt hat mäßige Bodenpreise. Die Gebäude weisen gewöhnlich wenige Geschosse auf und sind über eine größere Fläche verteilt. Als üblicher Wohnhaustyp gilt das Einfamilienhaus. Die Menschen sind stärker an ihr Haus gebunden und beanspruchen mehr Raum als in der dichten Stadt. Weiterhin gibt es angesichts der niedrigeren Grundstückspreise wesentlich größere Freiflächen, teils private Gärten, teils öffentliche Parks. Vor langer Zeit schon ist auf dem Kontinent die Verdichtung als etwas Schlechtes erkannt worden, jedoch meinte man, daß dies die natürliche Folge des Wachstums einer Großstadt sei. Es wurde vermutet, daß die enormen Interessen, die an ein bestimmtes Grundstück in einer Großstadt gebunden sind, die Mieten so weit in die Höhe trieben, daß sie nur durch die Errichtung vielgeschossiger, dicht gedrängter 13

London, die gestreute Stadt

London und Themse-Tal

Gebäude bezahlbar bleiben würden. Ebenso nahm man an, daß die durchgängige Bebauung mit Einfamilienhäusern zu großen Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsstätten und damit zu großen Verkehrsproblemen führen würde. In Kenntnis dieser Überlegungen ist das Beispiel Englands so erstaunlich, da seine großen Industriestädte, in denen jede Familie ihr eigenes Haus besitzt, ohne Schwierigkeiten errichtet worden sind – und London, die größte Stadt der Welt, verkörpert den Urtypus der aufgelockerten Stadt. Viele meinen, die unterschiedliche Entwicklung der englischen und kontinentalen Städte habe einen einzigen Grund. Manche sagen: Paris ist eine befestigte Stadt, deren Fläche durch die Befestigungen eingeschränkt war, während die offene Stadt, als die London gilt, eine freie Ausdehnung in alle Richtungen ermöglicht. Andere suchen die Erklärung in der Tatsache, daß die Londoner Baugrundstücke meist für lange Zeiträume (99 oder sogar 999 Jahre!) verpachtet wurden, was die Spekulation hemmte. Daß London zum Typ der sich ausbreitenden Stadt geworden ist, läßt sich allerdings nicht auf einen einzigen besonderen Grund zurückführen, sondern liegt vielmehr am Zusammentreffen mehrerer Umstände. Es scheint, daß es in der Entwicklung durch die gesamte Geschichte hinweg eine stetige – wenn auch unbewußte – Tendenz zu diesem bestimmten Typ gegeben hat. Diese Tendenz aufzuspüren, ist das Ziel dieses Buches. Moderne Städte, die Stück für Stück 14

Römisches London

gewachsen sind, können nur durch die Betrachtung ihrer Geschichte verstanden werden, und dies trifft insbesondere für die Hauptstadt der Engländer zu, denen die Tradition unvergleichlich lieb und teuer ist. Für uns [Rasmussen spricht als Autor] ist die Geschichte Londons nicht der Zweck, sondern das Mittel, und davon ist für uns auch nur jener Teil von Interesse, der uns die gegenwärtige Stadt besser verstehen läßt. Eine immense Anzahl von Büchern ist über die Geschichte Londons verfaßt worden. Doch was wir suchen, läßt sich in keinem von ihnen finden. Anscheinend können Engländer die Besonderheiten ihrer Stadt nicht mit den Augen von Fremden sehen. Zu allen möglichen Details gibt es jede Menge Informationen in zahl­reichen Büchern, aber nicht ein einziges umfassendes Gesamtbild zur Entwicklung von London. So müssen wir aus vielen unterschiedlichen Quellen schöpfen und dabei stets unser Ziel im Auge behalten. Wir wollen uns einen Überblick darüber verschaffen, wie die Menschen in London leben, und verstehen, warum diese Stadt zu dem wurde, was sie ist – nämlich anders als die Hauptstädte des Kontinents. Wann und wie London entstand, ist ungewiß. Einige Autoren behaupten, daß es bereits in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, noch bevor die Römer das Land besetzten, eine Art Siedlung an der Stelle der heutigen Stadt gegeben hat. Dies scheint jedoch unwahrscheinlich, und ihre Existenz wäre für unser Interesse kaum von Bedeutung. Andererseits gibt es viele Hinweise auf eine römische Stadt, die mit mächtigen Mauern befestigt war. Deren Stadtplan ist unbekannt. Möglicherweise ließe er sich unter Zuhilfenahme von Ausgrabungen und Untersuchungen rekonstruieren, was von archäologischem Interesse sein könnte. Doch für uns, die wir einzig und allein daran interessiert sind, die heutige Stadt besser zu verstehen, wäre es irrelevant, von der antiken Stadt auf das moderne London zu schließen, wie es immer und immer wieder versucht worden ist. Abgesehen von den Mauern, gibt es im Plan des späteren London nichts, was nicht schlüssig ohne die Entwicklung aus einer römischen Stadt heraus hätte erwachsen können. Das, was die Römer schufen und was von größter Wichtigkeit für die Geschichte Londons war, ist das Great Centre of Communications. Dieses Zentrum bestimmte den Standort. Der bedeutenden Stellung Londons als Hauptzentrum des Handels – damals wie 15

London, die gestreute Stadt

The Weald von Dover (A) bis Beachy Head (B)

heute – verdankt die Stadt ihre Lage. Die Stadt war nicht Regierungssitz. Es gab fünf Städte, die als solcher bezeichnet werden könnten, doch London zählte nicht dazu. Die nächstgelegene Stadt war Verulamium, an der Stelle des heutigen St. Albans, 20 Meilen nördlich der Themse. Möglicherweise war London sein Hafen. Betrachtet man die Karte, so fällt es nicht schwer, die bedeutsame Position Londons auszumachen. Die Themse fließt durch ein weites lehmiges, beidseitig durch Hügel begrenztes Tal und mündet in die Nordsee. Die südlichen Hügel, The Weald genannt, waren von undurchdringlichem Urwald bedeckt, der sich bis hinunter zur Küste ausbreitete und sich noch auf dem Festland bis Artois-Picardie fortsetzte [siehe Abbildung]. Vom Ärmelkanal und dessen steilen Klippen unterbrochen, zog sich der Urwald von Dover (A) bis hin nach Beachy Head (B). Südlich dieses Punktes kommen wieder Flachland und ausgedehnte, für Schiffe leicht anzusteuernde, Küsten­streifen vor. Nahe der Seinemündung liegend, war dieses Gebiet schon früh besiedelt. Die Themse liegt der Mündung des Rheins gegenüber und empfing die sich entlang der großen Wasserwege nordwärts bewegenden Stämme mit offenen Armen. 16

London, der Schlüssel zu England

Römische Stadtgründungen und Straßen

Die britischen Inseln übten eine beträchtliche Anziehungskraft auf die verschiedenen Völker des Kontinents aus. Trotz seiner nördlichen Lage hatte das Land ein überraschend mildes Klima. Große Gebiete waren leicht zu kultivieren, und das feucht-milde Klima war günstig für einfache Landwirtschaft. Unter derartigen Voraussetzungen wurde der Standort Londons sozusagen zum Schlüssel eines vielversprechenden Landes. Der Ort war nicht nur durch die natürlichen geographischen Bedingungen bestimmt, sondern profitierte auch vom römischen Straßensystem. Die Römer hatten es geschafft, das Land vollständig zu beherrschen und in ein sicheres und friedliches Territorium zu verwandeln. Viele Römer lebten ohne Angst vor Angriffen in ungeschützten Villen auf dem Land. Diese Sicherheit, die erst Jahrhunderte später wieder erreicht werden sollte, war das Ergebnis des strengen römischen Gesetzes. Die gesetzgebende Macht war stark zentralisiert; die Armeen – wie auch die Flotten – waren zugleich in ständiger Bereitschaft und sicherten so den Frieden. Keine noch so disziplinierte und bestausgerüstete Armee hätte allerdings in den bei der Ankunft der Römer noch vorhandenen undurchdringlichen Waldgebieten etwas ausrichten können. So durchschnitten die Römer die Wälder mit 17

London, die gestreute Stadt

Die große Kreuzung London

breiten und hervorragend konstruierten Straßen, deren strategisch bedeutende Punkte von Forts gesichert waren, so daß bewaffnete Truppen, wo auch immer sie benötigt wurden, verhältnismäßig schnell ausgesendet werden konnten. Einer der wichtigsten befestigten Punkte war London. Die Stadt war nicht nur Knotenpunkt einer Reihe von Hauptstraßen, sondern schützte die Truppen auch dort, wo sie die breite Themse überquerten. Londons Möglichkeiten als Handelszentrum waren einzigartig. London war ein großer Seehafen und zugleich Schnittstelle aller Straßen des Landesinneren. Es gab in der Tat zwei recht nah beieinander liegende Orte von großer Bedeutung, die später London und Westminster genannt wurden. Dabei kann nicht mit Gewißheit gesagt werden, welcher von beiden zu Beginn der übergeordnete gewesen ist. Eine Straße, später Watling Street genannt, führte, aus der Nähe von Dover kommend, zu besagter Schnittstelle. Sie verlief am nördlichen Ufer der Themse in nordwestlicher Richtung nach Verulamium, eine der damals bestimmenden Städte, und weiter gen Nordwesten. Diese Straße kreuzte in einer recht ungebrochenen Linie die Themse und passierte das nördliche Ufer an der Stelle, an der die Halbinsel von Westminster hervorragt. Mit einiger Wahrscheinlichkeit befand sich hier die erste Überquerung der Themse, auch wenn keinerlei befestigte Verbindung existierte; es gab lediglich eine Fähre oder Pontonbrücke. Die andere Hauptstraße, Stane Street [Stone Street], die von einem Hafen im Südwesten kam, führte, geschützt von der Isle of Wight, weiter in 18

Der große Knotenpunkt

nördliche Richtung. Später wurde sie Ermine Street genannt. Als einzige Verbindung über die Themse blieb bis 1729 eine feste Brücke, die London Bridge. Am nördlichen Ende dieser Brücke lag die Stadt London. Die strategische Bedeutung dieser Brücke war offenkundig, und es war notwendig, sie zu schützen. Dies geschah durch die Errichtung von Mauern rund um die Stadt. Eine weitere Straße verlief entlang des nördlichen Themseufers. Sie führte vom Nordosten zum Südwesten Englands, durch­ querte London von Ost nach West und verband die Ermine Street mit der Watling Street. Die für die Stadt entscheidenden Charakteristika waren somit die Themse, die Straßen, die Stadtmauern sowie die Ansiedlungen von London und Westminster. Mit dem Fall des Römischen Imperiums schwand auch die Sicherheit im Land. Spürbar wurde dies im vierten Jahrhundert, als die Regierung Roms an anderen Stellen des Imperiums Legionen benötigte. Die in England stationierten Truppen zogen im fünften Jahrhundert ab und überließen das nun ungeschützte Land seinem Schicksal. Die dem römischen Gesetz unterworfene keltische Bevölkerung war in der Entwicklung ihrer eigenen Zivilisation noch nicht so weit fortgeschritten, um das bereits Erreichte in irgendeiner Weise aufrechterhalten oder weiterführen zu können. Sobald die Römer das Land verlassen hatten, fiel dieses in nahezu den gleichen Zustand zurück, in dem es sich vor ihrer Ankunft befunden hatte. Die britischen Inseln wurden zur leichten Beute der teutonischen Stämme. Die Angelsachsen überschwemmten das Land in großen Wellen von Ost nach West. Es scheint, sie hätten jegliche Spur römischer Zivilisation, die sie vorfanden, zu zerstören versucht. Anstatt sich in den luxuriösen und unbewohnten Villen niederzulassen, brannten und rissen sie diese nieder, um daneben ihre primitiven Holzhütten zu errich­ ten. Einige Städte zeigen Spuren vollständiger Zerstörung, und in vielen Fällen wurden neue Siedlungen in einiger Entfernung gegründet. Es gibt keinen Beweis dafür, daß die Geschichte Londons seit der römischen Besatzung ohne Unterbrechung verlaufen ist. Möglicherweise lag die Stadt für nahezu ein Jahrhundert als eine Ansammlung unbewohnter Ruinen brach. Fast der gesamte Handel muß zum Erliegen gekommen sein. Nachdem die Römer England verlassen hatten, lebte die Bevölkerung auf dem Land und kümmerte sich im großen und ganzen um sich selbst. Jeder Haushalt war gerade in der Lage, genug für den eigenen Bedarf zu produzieren, Nahrung, Kleidung, ein klein wenig Komfort; ledig­ lich Gewürze, bestimmte Luxusartikel und Metallwaren mußten importiert werden. 19

London, die gestreute Stadt

Sobald Großgrundbesitzer wohlhabender waren und die Nachfrage über die heimÂ�iÂ�sche Produktion hinaus wuchs, entstanden wieder günstige Voraussetzungen dafür, eine Stadt an der Stelle zu gründen, an der das römische London gelegen hatte – an eben jenem Punkt, an dem die Waren von Übersee in Empfang genommen und über große Straßen, die sich immer noch nach allen Seiten durch das undurch­ dringliche Land ausdehnten, weiterbefördert werden konnten. Es ist bewiesen, daß London seit dem sechsten Jahrhundert als eine lebendige Stadt existierte. Bede erwähnt London als „Marktstadt vieler Nationalitäten, die sich durch das Meer und das Land speist“. Wie London ansonsten war, weiß niemand. In einem von einfallenden und verwüstenden Stämmen überschwemmten Land, war es für die Händler von großer Bedeutung, einen Hafen zu finden, in dem sie nicht nur anlegen, sondern auch Schutz finden konnten. Ob sie von einem wichtigen Mann, von irgendeinem bedeutenden Lord, geschützt wurden, oder ob die Händler eine eigene Miliz gründeten, wissen wir nicht. Der Handel allein konnte nicht so viel einbringen, als daß er ausgereicht hätte, eine ganze Stadt zu versorgen. (Um 1800 zählte Reykjavik, die Hauptstadt Islands, mit einer Kathedrale, einer Schule und Ämtern lediglich circa 300 Einwohner und war Handelszentrum eines hoch zivilisierten Landes, dessen EinwohnerÂ�schaft mehr Lebensnotwendiges forderte als die Engländer des frühen Mittelalters.) Wenn allerdings einflußreiche Lords mit großen Besitztümern und Gefolge innerhalb der Mauern Londons hohe Ansprüche an die Versorgung durch Händler gestellt hätten, wären weitaus mehr Möglichkeiten für die Existenz einer Stadt gegeben gewesen. Der sogenannte Port-Reeve [Stadthalter] Londons, ursprünglich als Vicgerêfa – Herr der Wikinger – bezeichnet, wird bereits früh erwähnt. Doch ist ebenfalls sehr früh schon von der Unabhängigkeit Londons die Rede. Auf jeden Fall scheint die Stadt auf beiden Seiten der Themse relativ unabhängig von den angelsächsischen Königen gewesen zu sein. Sir Laurence Gomme meinte, die Stadt habe ihre Existenz als Relikt der römischen Zeit, als unabhängige römische Gemeinde, aufrechterhalten. Es gäbe ebenso guten Grund anzunehmen, daß die allgemeine Unsicherheit im Land den Zusammenhalt der Bevölkerung innerhalb der Stadtmauern gestärkt habe. Als Papst Gregor der Große im Jahre 597 Missionare nach England sandte, zeigte London so einen großen Freiheitsgeist und Unwillen, daß der Papst, anders als ursprünglich beabsichtigt, Canterbury und nicht London zur geistlichen Haupt­ stadt des Landes erwählte. 20

Die befestigte unabhängige Stadt

Alfred der Große sah deutlich die strategische Bedeutung Londons. Um den Süden Englands gegen die Dänen zu verteidigen, festigte er die Grenzen seines HoheitsÂ�g ­ zuschließen. Die befestigte Stadt, welche die Verbindung über die Themse schützte, wurde zum großen Tor seines Königreiches. Noch war es nicht der Regierungs­ sitz, doch sorgte Alfred der Große dafür, daß die römischen Mauern erhalten und erweitert wurden. Von nun an war London eine befestigte Garnison, die den Interessen des Königs diente, indem sie ihre Unabhängigkeit bewahrte. Alfred nutzte die Taktik der Normannen gegen diese selbst und konzentrierte seine Kräfte auf befestigte Städte. London wurde, wie in den isländischen Sagen erwähnt, zu Lundunaborg. ‚Borg‘ bedeutet Erdwall oder Fort, doch war für die Normannen die Bedeutung dieses Wortes so eng mit der Idee von Stadt verknüpft, daß das Suffix letztlich die Bedeutung ‚Stadt‘ annahm. Von außen betrachtet waren es auch die Mauern, die der Stadt ihren Charakter verliehen. Der dänische Mönch Saxo Grammaticus (13. Jh.) spricht in seiner History of Frode von London als einer Stadt, die so stark war, daß sie nur durch List hätte eingenommen werden können. Der isländische Historiker Snorre Sturlason bezeichnet London ebenfalls als ‚Borg‘, es war eine regelrechte Festung, deren Eroberung wiederholt versucht wurde. Bereits um diese Zeit gab es eine Ansiedlung auf der südlichen Seite der London Bridge – Snorre [Sturlason] nennt sie Sudvirki –, die südliche Befestigung. Diese Vorstadt, das heutige Southwark, besaß wahrscheinlich keine Steinmauern, sondern Erdwälle oder Bollwerke, die jedoch gänzlich verschwunden sind, und nicht wie in anderen Städten eine Reminiszenz in Form eines ‚Boulevards‘ hinterlassen haben – das französische Wort ist übrigens vom nordischen ‚bulwark‘ abgeleitet. Um sich die Bedeutung Londons im frühen Mittelalter vor Augen zu führen, muß man sich England, weit entfernt von den Zentren der großen Welt, als teilzivilisiertes Land vorstellen. Händler zogen von den wohlhabenden Handelsstädten des Südens nordwärts und gründeten Niederlassungen, die einem modernen Handelsverkehr mit fernöstlichen Häfen entsprachen. London war für die italienischen und französischen, später auch deutschen Händler annähernd das, was heutzutage Shanghai für England ist: ein Zentrum für internationalen Handel und ein Zugang zu einem großen Markt eines unbekannten Landes. Während der anhaltenden Invasion fremder Völker nach England und der andauernden Kämpfe um die Vorherrschaft bewahrte London seine 21

London, die gestreute Stadt

führende Position, nicht als Hauptstadt Englands, die es niemals war, sondern als sein Haupthandelszentrum. Als schließlich die Kirche Zugang zu London erlangte, geschah dies in unbegrenztem Maße. Unzählige Kirchen wurden gebaut. Da es für Klöster innerhalb der Stadtmauern keinen Platz gab, breiteten sich diese bis weit ins Landesinnere aus. Die Bedeutung der befestigten unabhängigen Stadt ist besonders in der Zeit, bevor sie unter die Regentschaft der mächtigen normannischen Könige geriet, leicht zu verstehen. Ohne eine starke Regierung, die, wie die Römer dies getan hatten, den Frieden mit Hilfe von Armeen, einem Straßennetz und befestigten Städten sichern konnte, war das Schicksal des undurchdringlichen Landes von den großen Landbesitzern abhängig. Diese teilten, Feudalherren gleich, das Königreich unter sich auf, und selbst wenn sie einen König anerkannten, waren sie nichts anderes als eine unabhängige Räuberbande. Inmitten dieser Verwirrung stand die ‚Borg‘ von London mit ihren starken Mauern als ein fester zentraler Punkt, von dem sich die Zivilisation, verbunden mit den kulturellen Einflüssen des Südens, die Handel und Kirche mit sich brachten, ausbreitete. Die Bedeutung der Kirche zu jener Epoche ist heute kaum mehr vorstellbar. Sie war eine internationale Organisation, welche die Zivilisation der damaligen Zeit in ihrer höchsten Form repräsentierte. Sie wurde von äußerst weit­ sichtigen Männern regiert, die weder an eine bestimmte Stadt noch ein bestimmtes Land gebunden waren, sondern durch die gesamte zivilisierte Welt von einem Ort zum anderen zogen. Sie brachten, auf der großen Literatur einer internationalen Sprache basierend, Kultur und Bildung und standen in ständigem Austausch mit Gelehrten in fernen Städten. Viele der heute staatlich betreuten Aufgabenfelder waren damals von der Kirche besetzt. Sie trug Sorge für die Kranken und Notleidenden, und zu jenen sollte man sicherlich auch diejenigen zählen, die auf den furchtbaren Straßen des Mittelalters reisen mußten. Die Kirche kümmerte sich nicht nur um jene, welche Dieben zum Opfer fielen, sondern auch um den Unterhalt der Straßen. Die römischen Mauern formten eine enge Barriere um die Stadt. Normalerweise stellt man sich mittelalterliche Städte als überfüllt und eng vor. Doch dies entsprach keinesfalls immer den Tatsachen. Die Befestigungen sind häufig so weit nach außen erweitert worden, daß innerhalb der Mauern genug Raum für Gärten und offene Felder blieb – im Fall einer Belagerung ein bedeutender Umstand. London indessen war dicht gepackt. Im Vergleich mit Paris und Köln kann man sehen, wie wenig Fläche die Stadt einnahm. Und dennoch wurden die Mauern nie versetzt. Diese gigantischen alten 22

Die Mauern, eine enge Barriere

Vergleich der Stadtflächen Londons mit Paris und Köln

Mauern waren so kostbar, daß niemand jemals in Erwägung gezogen hätte, sie zu ver­ setzen. Neben dem inneren Distrikt – den Wards within – gab es Ländereien außerhalb der Befestigungen – die Wards without –, doch dehnte sich die City of London niemals über sie aus. Andere Städte entwickelten sich ringförmig um den Ursprungskern. London City behielt seine Form, jedoch nicht weil sie dem Verfall preisgegeben war. Die wohl­ habende Stadt als Magnet für den Handel des ganzen Landes zog nicht nur Händler an, die hier besonders günstige Bedingungen vorfanden, sondern nach und nach wurden auch sämtliche Regierungsbereiche hierher verlegt. Diese siedelten sich nicht innerhalb der Mauern an, sondern gründeten in einiger Entfernung von der City neue Zentren. So paradox es klingen mag, und nur weil Londons Begrenzungen so eng ge­ zogen waren, die Stadt entwickelte sich durch neue Siedlungen vor den Toren schon früh zu einer gestreuten Stadt. Währenddessen füllte sich beispielsweise die Stadt Köln, die innerhalb ihrer Mauern über so viel Platz verfügte, daß diese bis 1882 unverrückt blieben, immer mehr und entwickelte sich somit zum Typus der konzentrierten Stadt. Anstelle einer konzentrierten Hauptstadt war London eine Gruppierung von Gemeinden, jede mit ihrer eigenen wichtigen Funktion innerhalb des Königreiches. Diese Streuung, die so charakteristisch für Greater London [den Großraum London] ist, hat ihren Ursprung im Mittelalter. Zwar lebten die Könige manchmal für kurze Zeit in London, hatten hier aber nie ihre feste Resi­ denz. Wir werden später sehen, wie die Stadt als nahezu unabhängig von der Krone galt. Bis heute existiert die ungewöhnliche Tradition, daß der König an die Grenze der City wie an ein fremdes Land herantritt, dessen Oberhaupt, der Bürgermeister, ihn willkommen heißt und ihm das Schwert der City überreicht. Westminster wurde 23

London, die gestreute Stadt

zum Regierungssitz. Sir Laurence Gomme stellt eine interessante Hypothese vor, der zufolge es einst eine erhöhte Stelle auf dem sogenannten Thorn Island hoch ober­ halb der Themse gegeben habe, wo der König zwischen seinen Mannen unter freiem Himmel saß und öffentlich Recht sprach. Daher ist dieser Platz für das Volk von besonderer Bedeutung. Er bleibt als der Ort in Erinnerung, den man aufsuchen konnte, um durch den König zu seinem Recht zu kommen. Der Stein, auf dem der König saß, wurde später in Westminster Hall eingebaut und gepolstert. Er wurde die King’s Bench genannt, ein Name, der später einen wirklichen Gerichtshof bezeichnete. Wie dem auch sei, die Könige fühlten sich seit frühesten Zeiten sehr eng mit Westminster verbunden. Edward der Bekenner baute hier Kirchen und Klöster und lebte selbst dort. Wilhelm der Eroberer, der als rechtmäßiger König von England anerkannt zu werden wünschte, krönte sich hier selbst. Allmählich wurden alle wich­ tigen Regierungsfunktionen, die königliche Schatzkammer, der oberste Gerichtshof und schließlich das Parlament nach Westminster verlagert. Direkt vor den Mauern hatten die Tempelritter 1185 ihren Tempel errichtet. Sie hatten Tempel dieser Art in vielen Städten, doch war der Londoner der wichtigste von allen. Die Tempelritter wurden so reich, daß der Neid des Königs wuchs, bis dieser einen Anlaß fand, sie zu vertreiben und ihre Schätze zu beschlagnahmen. Vom 13. Jahrhundert an erlangte der Tempel eine neue Bedeutung: Er wurde zur ‚Heim­ stätte der englischen Rechtsprechung‘. In seiner History of England sagt Trevelyan: „Und während die englischen Universitäten Colleges gründeten, bauten die eng­ lischen Rechtsgelehrten ihre Inns of Court. Während der Regierungszeit der ersten drei Edwards gruppierten sie ihre Hallen, Bibliotheken und Wohnungen in und um die verlassenen Orte der Templer. Der Platz für öffentliche Auftritte der Rechts­ gelehrten liegt zwei Meilen weiter westlich, im Schatten der königlichen Residenz. Dort waren sie in Westminster Hall, in jener großartigen Erweiterung, die William Rufus dem Confessor’s Palace wie in einer Rivalität zur Abtei angefügt hatte, könig­ lich untergebracht. Aber die Rechtsgelehrten schliefen, aßen und studierten in ihren eigenen Inns of Court, auf halbem Wege zwischen der Handelsstadt London und dem politischen Zentrum in Westminster, einer Lage, die ihnen half, ihre wahre politische Funktion als Mediatoren zwischen Krone und Volk zu entdecken.“ Aus sehr frühen Zeiten finden wir noch andere Ansiedlungen nahe den Mauern Londons. So war Southwark eine Art London zweiter Klasse. Bis 1554 war es noch 24

Eine Gruppe von Ansiedlungen

nicht eingemeindet, wurde aber schon lange davor mit der Stadt in Verbindung gebracht. Zahlreiche Divergenzen können festgehalten werden. Southwark beher­ bergte den Abschaum der City, wurde aber auch von Menschen anderer Klassen zum Zeitvertreib aufgesucht. Zu Zeiten Elisabeths fanden in Southwark die beiden beliebtesten Unterhaltungsformen statt: Theatervorstellungen und Bärenkämpfe. Das Land zwischen London und Westminster wurde nach und nach bebaut. Sir Laurence Gomme ist der Meinung, daß die Dänen, die London selbst nicht betraten, außerhalb der Mauern an der Stelle des heutigen St. Clement Danes eine Kolonie hatten. (Saint Clement war der Schutzheilige der dänischen Seeleute, wie man in der St. Clement’s-Kirche im dänischen Århus sehen kann.) Die Begünstigten von Henry III., die Onkel seiner französischen Gemahlin, erhielten ausgedehnte Ländereien in England. Einer von ihnen, Peter von Savoyen, errichtete im 13. Jahrhundert am Strand [Straße in London] den Savoy Palace (dessen Name im ,Savoy‘-H stattlicher Gebäude mit zauberhaften Gärten. Der Strand wurde damals zum viel­ bewunderten Viertel der Aristokratie. Folglich finden wir bereits im Mittelalter eine Anzahl von Ansiedlungen um die beiden bedeutenden – und sehr unterschiedlichen – Städte London und Westminster. Es gab kaum Kriegsgefahr, weshalb man ohne Risiko außerhalb der Mauern bauen konnte. Eine freie Entfaltung wurde jedoch durch mehrere Klöster und deren Güter, die die Stadt umringten, aufgehalten. Das gesamte Gebiet von Middlesex unterstand der Souveränität der City of London. Aber da der größte Teil des Landes als Lehen an die Kirche gegangen war, gab es nur wenige Gebäude von Bedeutung. Als dieses Gebiet erschlossen wurde, entstand eine Vielzahl von Dörfern. Nach der Auflösung der Konvente durch Henry VIII. gab es keine weiteren Hindernisse für die wachsende Stadt. Dennoch kam es nicht zu einer Erweiterung der Stadtfläche, deren mittelalterliche Begrenzungen bis zum heutigen Tag existieren. Um jedes der kleinen Dörfer formierten sich Gebäude zu einem Viertel. Jene Entwicklung, die wir zu Beginn sahen, setzte sich fort, so daß London zu einer immer größer werdenden Ansammlung von Städten wurde, zu einer ungeheuren Kolonie von Siedlungen, in denen die Menschen bis heute in ihren eigenen Häusern in kleinen Gemeinden mit eigener Verwaltung leben, so wie sie dies schon im Mittelalter taten. 25

London, die gestreute Stadt

Bibliographie Unter den vielen Büchern über London behandelt nur eines die Materie aus dem hier eingenommenen Blickwinkel: Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung II, Berlin, 1913, das auf den Seiten 272-306 ein kurzes, aber durch und durch gut gezeichnetes Bild von der Entwicklung Londons bietet. Der Autor steht tief in der Schuld dieses inspirierenden Buches. John Stows Survey of London, 1598, von dem viele Auflagen veröffentlicht wurden, diente als Grundlage für die Studie über die Geschichte Londons. Neuere Bücher, wie W. J. Loftie: A History of London I-II, 1884, und Walter Besant: London [vermutlich The History of London, 1894] mit ihrer Vielzahl von Details erweisen sich als sehr unterhaltsame Lektüre, sind jedoch für unsere Betrachtung von geringerem Interesse. Eine Reihe von Büchern von Sir Laurence Gomme ist insofern bedeutsamer, als sie die Geschichte Londons aus einer klar definierten Perspektive beschreiben: London, 1914; The Governance of London, 1907; Making of London, 1912. Die Geographie Londons ist in London on the Thames von Hilda Ormsby [1924] exzellent dargestellt. Robert Sinclairs Metropolitan Man: The Future of the English, 1937, sollte von niemandem übersehen werden, der sich für die Entwicklung Londons interessiert.

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2 Die Unabhängigkeit Londons

London entwickelte sich freier als andere Hauptstädte. Der Grund dafür liegt vor allem darin, daß sich die Stadt schon immer einer bemerkenswert unabhängigen Stellung innerhalb des Königreiches erfreute. Sie war möglicherweise niemals so unabhängig wie die freien deutschen Städte, doch da sich die Umstände in England in so völlig anderer Weise als auf dem Kontinent entwickelten, brauchte sie dies auch nicht zu sein – sie wurde niemals so abhängig wie Paris, Wien oder andere kontinentale Regierungssitze. Es war ein glücklicher Umstand, daß die Handelsstadt und der Sitz der Regierung nicht an ein und demselben Ort, sondern nah beieinander lagen. Die City of London wurde niemals zum Regierungssitz. Daß sie seit dem frühesten Mittelalter alle anderen englischen Städte an Reichtum und Größe übertraf, liegt an ihrer Bedeutung als Handelsstadt. Wenn wir auf die Zeit vor der Eroberung 1066 durch die Dänen zurückblicken, sehen wir, daß, wenn überhaupt von einer Hauptstadt des Landes gesprochen werden kann, es Winchester gewesen sein muß. Winchester war die führende Stadt des kleinen Königreiches Wessex. Als der König von Wessex ganz England unterwarf, machte er Winchester zu einer Art politischen Hauptstadt. Diese Tradition setzte sich während der Herrschaft der Dänen fort. Die Regierung von Canute dem Großen hatte dort ihren Sitz; die Könige wurden in der Kathedrale von Winchester beigesetzt. Zur gleichen Zeit erfreute sich London einer völligen Unabhängigkeit unter einer eigenen Verwaltung. Londons Status war in keinem einzigen Dokument definiert und war mit Sicherheit nicht abhängig von der Gunst der Könige. Während der zahlreichen und anhaltenden Kriege befand sich die Stadt stets unangegriffen innerhalb ihrer Mauern, und ihre Unabhängigkeit wurde zu einem Traditionsrecht. Es war unnötig, diese zu bestätigen, da niemand auf die Idee kam, sie zu verletzen. Als Wilhelm der Eroberer nach England kam, fand er dort zwei Städte von besonderer Bedeutung vor: die königliche Stadt Winchester und die kommerzielle City of London. Winchester, nahe Southampton gelegen und einer der wichtigsten 27

Die Unabhängigkeit Londons

Häfen für den Kontinent, fiel schnell unter seine Herrschaft. London folgte bald. Er ging geschickt vor und richtete keine Waffen gegen die City, sondern kündigte seine Ankunft an, indem er das London gegenüber gelegene Southwark in Flammen aufgehen ließ. Anschließend zog er sich zurück, und während er die Stadt umstellte, gab er den Londonern Gelegenheit, ihre Lage zu überdenken. Wie wir wissen, gab es viele ausländische Einwohner, unter ihnen nicht wenige Normannen, und es war wahrscheinlich ein leichtes für sie, die Lage zu Williams Gunsten zu beeinflussen. Man schickte eine Gesandtschaft in sein Lager nach Berkhampstead, um ihn darüber zu informieren, daß London ihn zum König erkoren habe. Kurz darauf wurde er in Westminster gekrönt. Die Entscheidung Londons bestimmte die Wahl des Königs. Nicht der König bestimmte London, sondern London bestimmte den König. Theoretisch wurde der Thron vererbt, doch sobald es günstig erschien, wurde dies mißachtet. So hatte London einem ungeschriebenen Gesetz folgend das Recht, einen König zu wählen. Später, bei der Wahl Stephens [Stephan von Blois] im Jahre 1135, machte die Stadt von diesem Recht Gebrauch. Es wurde nie vergessen. Freeman sagt in seinem Norman Conquest of England: „Dieses Recht starb nie vollständig aus, seine Tradition lebte weiter und wurde zweimal in turbulenter und einmal in geordneter Form angewandt. Edward IV. und Richard III. wurden ebenso wie Stephen durch die Einwohner Londons zum König ernannt. In der Versammlung, die William von Oranien einberief, um die Übergangsregierung des Königreiches anzustreben, saßen wie eh und je neben den Lords und den Mitgliedern des früheren Parlaments die Bürger Londons.“ Nach der hastigen Eroberung Englands folgte allmählich die Ordnung des Königreiches. William arbeitete stetig daran, größere Macht als in anderen feudalen Staaten für die Krone zu erringen. Er legte das Fundament für eine Herrschaft, die sich später so sehr von den Systemen auf dem Kontinent unterscheiden sollte. Dies müssen wir nun eingehender betrachten, da die englische Verfassung die Grundlage für die Entwicklung Londons bildete. Die Art und Weise, in der die normannischen Könige mit der Stadt umgingen, wirft ein klares Licht auf ihre eigenwillige Stellung. William hatte mit Hilfe einer – nach modernen Gesichtspunkten verblüffend kleinen – Armee von normannischen Adligen, die sich seiner Unternehmung in der Hoffnung auf reiche Beute angeschlossen hatten, das Land erobert. Sie wurden nicht enttäuscht. In den folgenden Jahren teilte er das Land in eine Vielzahl von Lehen, die 28

Wilhelm der Eroberer und London

er seinen Gefolgsleuten überließ. Von Zeit zu Zeit mußten Aufstände niedergeschlagen werden, und immer, wenn dies der Fall war, ersetzte er einen englischen durch einen normannischen Adligen, bis praktisch das gesamte Land an Normannen vergeben war. Indessen achtete er sehr darauf, ihnen nicht zu viel Macht zu übertragen. Das Land war zuvor in einige große Grafschaften gegliedert, welche, wie dies bei kleineren deutschen Fürstentümern der Fall war, leicht zu einer Bedrohung für die Einheit des Landes hätten werden können. Nun gliederte er es in kleinere Teile, und aufgrund des Erbrechtes eigneten sich viele Barone Lehen an, die aus weit auseinander liegenden Ländereien bestanden. Um die Obergewalt der Krone sicherzustellen, setzte William – und dies war eine große Neuerung – königliche Beamte, Sheriffs und andere Kontrolleure an die Seite der Barone oder gar über diese und konnte so die ordnungsgemäße Zahlung der Steuern überwachen. Mit dieser Einrichtung, die dem ganzen Land auferlegt wurde, stieß er eine Entwicklung an, die von seinen Nachfolgern fortgeführt wurde und der Regierung des Königreiches allmählich eine nirgendwo in Europa erreichte Einheit und Sicherheit gewährte. Das Domesday Book, ein detaillierter Überblick über den gesamten Grundbesitz in England mit Angaben über Ackerland, Personen, Vieh und allem, was für die Erwirtschaftung von Staatseinkünften von Bedeutung war, gilt als bedeutendes Zeugnis seiner Verwaltung. Bezeichnenderweise waren London und Winchester von dieser nationalen Inventur ausgenommen! In London verfolgte Wilhelm der Eroberer nicht die gleiche Politik wie in England. Er versuchte nicht, die Stadt zu unterdrücken, indem er ihr neue Herren aufzwang. Im Gegenteil, er sicherte der Stadt umgehend Privilegien zu, welche ihr die bis dahin erlangten Rechte vollständig bestätigten. Wilhelm verstand, daß ein Einvernehmen mit den Händlern das Beste war, beabsichtigte jedoch, im Falle von Streitigkeiten der Stärkere zu sein. In ihrer Charta gestand er ihnen all die Freiheiten zu, die sie sich wünschen konnten, doch begann er zur gleichen Zeit an der Stadtgrenze mit dem Bau des Tower, jener unbezwingbaren und drohenden Festung der Krone. Seine Nachfolger setzen den Bau fort, so wie sie gleichzeitig der Stadt, Charta für Charta, ihre freundschaftlichen Absichten versicherten. London erhielt die Staatseinnahmen von ganz Middlesex, durfte sich seinen Sheriff selbst wählen und konnte sich so die Autorität bewahren, die in allen anderen Teilen des Landes durch die Krone ausgeübt wurde. Überraschenderweise erwies der König der City of London viel Gunst, doch hatte er gewiß gute Gründe. Als William mit einer Armee von 12.000 Mann in England 29

Die Unabhängigkeit Londons

an Land ging, war eine Stadt mit festen Mauern und etwa 20.000 Einwohnern nicht unbedeutend. Die nachfolgenden Jahrhunderte zeigten, daß die Bevölkerung Londons nicht aus schwächlichen Ladenbesitzern, sondern unternehmerischen Menschen bestand, die kampftauglich waren und keine unwichtige Rolle in den Kreuzzügen und im Hundertjährigen Krieg spielten. Man konnte nicht von einer Armee Londons sprechen, doch unterstützte die Stadt den König in Kriegszeiten mit beträchtlichen Einheiten. Und London hatte einen überragenden Vorteil: Es hatte Geld. Dies war von größter Bedeutung, wichtiger noch als Waffenmacht. Der Mangel an Banken und Bargeld erschwerte im Mittelalter jede Unternehmung, die größerer Summen bedurfte. Das mußte die Krone besonders deutlich spüren. Darüber hinaus war die soziale Ordnung jener Zeit nur in geringem Maße flexibel, und die Regierung hatte keinerlei Ressourcen, aus denen sie bei unvorhergesehenen Krisen schöpfen konnte. Theoretisch war das System sorgfältig und wohlbedacht konstruiert. Jede Person im Königreich hatte einen Herrn über sich, und jedermann hatte verbindliche Pflichten im Gegenzug für gewisse Vorteile. Der Feudalherr bekam vom König sein großes Lehen, wofür er das Land zu bewirtschaften, Sorge für die Gerechtigkeit in seinen Ländereien zu tragen, Steuern zu zahlen und für ihn zu kämpfen hatte. Um diese Pflichten wahrnehmen zu können, mußte er wiederum sein Land an diejenigen unter ihm verteilen, die Arbeit und Steuern erbrachten. In dieser Weise ging es bis hinunter zu den Leibeigenen, die ihre Arbeitskraft stellten und sich dafür der Sicherheit unter ihren Herren gewiß sein konnten. Mit diesem System wurde das Land kultiviert und der Frieden gesichert. Doch die Aussichten auf neue Unternehmungen waren sehr gering. Ein möglicherweise ausbrechender Krieg oder die Errichtung großer Gebäude, Kirchen oder Festungen mußte vom König getragen werden. Obwohl im Namen des Staates, hatte er dies als Privatmann zu bestreiten. Es gab keine Organisation, welche die Verantwortung hätte aufteilen und die notwendigen Mittel beschaffen können. So mußte der König all die Aufgaben, die heute dem Staat zufallen, auf eigenes Risiko und eigene Kosten bewältigen. Demzufolge benötigte er ständig Geld und blickte gierig auf all jene Orte, an denen sich Geld ansammelte. Die Städte waren die Hauptleidenden, und eines der Mittel des Königs, Geld zu beschaffen, war die Vergabe von Privilegien. Als Wilhelm der Eroberer die Unabhängigkeit Londons in seiner Charta bestärkte, gab er damit zu verstehen, daß nun nichts mehr wie früher als selbstverständlich ange­ nommen werden könne. Nein, ebenso wie er den Bürgern formell Unabhängigkeit 30

Wilhelm der Eroberer und London

gewähren konnte, war es ihm nach Belieben möglich, sie ihnen zu nehmen. In Wirklichkeit war die Macht der City innerhalb des Staates jedoch so groß, daß sie sich damit nicht abfinden mußte. Wenn Londons wesentliche Interessen angegriffen wurden, war die Stadt fähig, sich dem König erfolgreich zu widersetzen. Doch lag dies offenbar nicht in ihrem Interesse. Krieg ist immer von Nachteil für den Handel, und so machte die City für gewöhnlich das beste aus ihrer Situation. Wilhelms Nachfolger hielten an der Vorstellung fest, daß die Städte ihre Unabhängigkeit der Krone verdankten, und verliehen eine Charta nach der anderen. Die Rechte und die Freiheit, die London schon lange zuvor errungen hatte, wurden immer und immer wieder verliehen, und der König erhob gewaltige Summen für diesen imaginären Gefallen. Wenn er in Geldnot war, verlieh er der City besondere Rechte, die er später nur schwer wieder entziehen konnte. Und so geschah es, daß die ehrgeizigsten Könige London die weitgreifendsten Freiheiten verliehen. Im Laufe der Zeit fand die Krone immer neue Wege, am Reichtum der City teilzuhaben. Nicht nur gewöhnliche Privilegien, sondern auch eine Reihe von speziellen Vorrechten konnte vom König verliehen und wieder entzogen werden, um von den Einwohnern Geld zu erzwingen. In genau der gleichen Weise, wie er ein Stück Land, an das militärische oder andere Verpflichtungen geknüpft waren, verleihen konnte, war er in der Lage, Handels- oder Marktrechte zu vergeben. Diese waren jedoch wertvoll und wurden nicht ohne Gegenleistung erteilt. Weiterhin stand es ihm frei, ausländische Händler zu begünstigen, wofür er natürlich peinlich genau die Bezahlung einforderte, in bar oder als günstiges Darlehen. Die Stellung der Juden im Land war charakteristisch für diese sonderbare Lage der Dinge. Neben seinem Rang als oberstem Herrn über alle feudalen Ländereien und Vorrechte besaß der König ein bestimmtes Eigentum. Da waren die königlichen Domänen, und da waren die Wälder, doch die wertvollsten von allen waren – die Juden. Sie wurden nicht als Teil des gesellschaftlichen Systems gesehen, sondern als bewegliches Eigentum der Krone. Sie hatten nicht die Möglichkeit, Rechte einzufordern, und genau genommen konnte der König ganz nach seinem Belieben mit ihnen verfahren. Während die gewöhnlichen christlichen Bürger wegen Wucher vor ein kirchliches Gericht gebracht werden konnten, gingen die Juden, die nicht den Schranken der Kirche unterlagen, ungestört ihren Geschäften nach; sie wurden die Geldverleiher des Landes und zogen große Summen aus der Bevölkerung. Sie lebten in eigenen Vierteln in gut gebauten Steinhäusern, und es war die Regel, daß 31

Die Unabhängigkeit Londons

der König sie schützte. Für ihn war es von größter Wichtigkeit, stets und ständig große Summen Bargeld erhalten zu können. Die Position der Juden war keineswegs beneidens­wert. Zwar schützte sie der König gegen seine Untertanen, doch reichte dieser Schutz nicht immer aus. Die Juden waren häufig Opfer furchtbarer Verfolgungen. Doch der schlimmste Fall trat ein, wenn der König in Geldnöten war und ihnen Unrecht antat. Obwohl sie sein gesetzmäßiges Eigentum waren, wurden sie von ihm in unglaublicher Weise mißhandelt. So wurde ihnen etwa – bis sie sich fügten – für jeden Tag, an dem sie nicht zahlten, ein Zahn gezogen. Es war auch nicht unge­wöhnlich, ihnen ein Auge auszustechen. Besonders schlimm traf es die Juden im 12. und 13. Jahrhundert. In einem Jahr beschlagnahmte der König ein Viertel ihres Vermögens, in einem anderen ein Drittel alles dessen, was sie besaßen. Es ist schriftlich belegt, daß Henry III. in einem Jahr 66.000 Mark [Münzgewicht] einzog und, nachdem er diese riesigen Summen aus ihnen herausgepreßt hatte, alle Juden bei einem Grafen wie eine Viehherde als Pfand für ein großes Darlehen einsetzte. Obwohl die Juden angesichts fehlender Banken eine bedeutende Rolle im Wirtschaftsgeschehen des Staates spielten, waren sie sehr verhaßt. Schließlich veranlaßte der von seinen Untertanen gedrängte Edward I. im Jahre 1290, daß alle Juden, die nicht zum Christentum konvertierten, das Land verlassen mußten. Zu dieser ‚noblen Tat‘ – als welche sie seinerzeit bezeichnet wurde – war er bereit – nicht weil er kein Geld mehr benötigte, sondern weil er in den italienischen Geld­verleihern, die in das Land einwanderten, einen Ersatz für die Juden gefunden hatte. John Stow erzählt, wie der König 1283 nach Temple kam, dessen fest errichtete Gebäude von vielen zur Aufbewahrung ihrer Wertsachen benutzt wurden. Der König rief den Schatzmeister, so als wolle er die Kronjuwelen sehen, die hier aufbewahrt wurden, und man ließ ihn ein. Er öffnete die Truhen fremder Leute und stahl Geld im Wert von 1.000 Pfund – ein bemerkenswertes Indiz für die verzweifelte Geldnot des Königs. Diese Not stieg manchmal so weit, daß ein König sich gezwungen sah, seine Krone und die Kronjuwelen zu verpfänden. Damals waren diese Gegenstände viel häufiger in Gebrauch als heute, und wenn sich der Monarch zu ganz verschiedenen Anlässen in seiner vollen Pracht zeigen mußte, kann man sich vorstellen, wie besorgnis­erregend es war, wenn diese Utensilien in Flandern als Pfand lagen und eilig nach ihnen geschickt werden mußte. Dies alles zeigt, wie wichtig eine große Handelsstadt sein konnte, um an Geld zu gelangen. London war für den König von ebenso großem 32

Die Juden und die Krone

Nutzen wie die Juden. London saugte wie ein Schwamm Geld aus dem Land, und der König versuchte wiederum, diesen Schwamm auszupressen. Alle Versuche, Geld durch unrechtmäßige Maßnahmen aufzutreiben, waren für die Menschen despotische Übergriffe auf ihre Rechte. In der Tat war es das Zeichen einer Schwäche im Sozialgefüge. Vom Standpunkt des Monarchen aus gesehen, reichten die üblichen Mittel nicht aus, um Gelder für all die außergewöhnlichen Vorhaben zu beschaffen, und daher sah er sich gezwungen, auf mehr oder weniger ehrenhafte Mittel zurückzugreifen. Für diejenigen, die darunter litten, war alles gleichermaßen ungerecht. Die Krone trieb das benötigte Geld nicht durch ein gesetzlich geregeltes und geordnetes Steuersystem ein, sondern durch eine Reihe von Sondermaßnahmen, die ebenso schwer wogen wie die direkten Steuern und offensichtlich viel ungerechter waren. Außerdem hatte der König nahezu freie Hand, sowohl was die Höhe der Summen als auch den Zweck ihrer Verwendung betraf. Veränderungen waren absolut notwendig, wenn der Staat in der Lage sein wollte, neue und große Aufgaben anzugehen. Es war vorstellbar, daß dieser Konflikt durch eine intensive Zentralisierung zur Erweiterung der königlichen Macht und damit zur Kräftigung der aktiven Staatsgewalt hätte führen können. Ein sehr energischer Versuch in diese Richtung wurde während der Herrschaft Henry II. Ende des 12. Jahrhunderts unter­nommen. Aber ebenso vorstellbar war das Gegenteil, nämlich daß die über den Machtmißbrauch des Königs verärgerten Barone die Regierung selbst in die Hand nehmen würden. Dies geschah tatsächlich unter John, als ihn die Barone im Jahr 1215 zwangen, die Magna Charta zu unterzeichnen. Doch eine endgültige Lösung des Konflikts konnte durch keinen der beiden Fälle erzielt werden. Sie wurde nur Stück für Stück und durch eine ganz neue Regierungsform erreicht, nämlich durch die Entwicklung des englischen parlamentarischen Systems, das weder dem König noch dem Hochadel die Vorherrschaft gewährte, sondern die Probleme durch Verhandlungen zu lösen suchte, zu denen die Commons konsultiert wurden. Die Commons hatten bereits im 13. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt und damit die Grundlage für eine neue Verfassung gelegt. Innerhalb des Adels erbte der älteste Sohn das gesamte Vermögen. Grundstücke waren so vor Teilung und Verkleinerung geschützt, und die wohlhabende Oberschicht hatte eine dauerhaft gesicherte Existenz. Ihr luxuriöser und bereits früh entwickelter Lebensstil war für eine Stadt, deren Bestehen im Mittelalter größtenteils auf dem Handel von Luxusartikeln 33

Die Unabhängigkeit Londons

gründete, von großer Bedeutung, da Dinge des täglichen Gebrauchs von nahezu jedem Haushalt selbst produziert wurden. Die jüngeren Söhne, die wenig oder gar kein Eigentum erbten, formten ein aktives Bindeglied zwischen dem Adel und den niederen Klassen. Sie bewiesen große Stärke und wurden zu Grundbesitzern, Händlern, Juristen oder Geistlichen und waren das Rückgrat jener Klasse, die später im Parlament die Commons genannt wurde. Wie wir bereits gesehen haben, war das feudale System einer Pyramide gleich konstruiert. Der König war die Spitze, die Leibeigenen bildeten die Basis, und jeder Mensch zwischen diesen Polen hatte jemanden über und viele unter sich. Doch fehlte diesem Gebäude der Mörtel, und es gab nichts, das sein Bestehen hätte sichern können. Dieses Defizit mußte mittels einer Reihe von Institutionen ausgeglichen werden, die es im System nicht gab. Handel und Kirche verknüpften die verschiedenen Teile des Landes. Die Krone hatte ihr Bestes getan, die verstreute Bevölkerung mit Hilfe ihres Beamtensystems und durch das bürgerliche Gesetz zu vereinen, das im Gegensatz zu früheren Zeiten nun für das ganze Land galt. In England wurden besondere Bürgerversammlungen zur Teilnahme an Gerichtsverhandlungen einberufen; ursprünglich waren sie eine Art Zeugenversammlung, doch entwickelten sie sich mit der Zeit zu einer modernen Justiz. Die Bürger wurden auf vielerlei Wegen zusammengebracht, einige durch die Universitäten, andere durch die zahlreichen Mönchsorden oder durch eine Reihe von Organisationen, die sich in den Städten entwickelten. Es gehörte zum guten Ton, Mitglied irgendeiner Organisation zu sein. Händler-, Unternehmens- und Handwerksgilden bildeten sich heraus. Sie besaßen strikte und detaillierte Regeln bezüglich der Zulassung sowie des Verhaltens ihrer Mitglieder. Bei den zahlreichen Treffen und Versammlungen dieser Vereinigungen gewöhnten sich die Menschen daran, Dinge in Frage und zur Diskussion zu stellen, womit die Grundlage für die Aktivitäten eines Parlaments gelegt war. Die Londoner Gilden erlangten durch die Auseinandersetzungen mit den Großgrundbesitzern der City besondere Bedeutung. London war, seinen Privilegien und Gesetzmäßigkeiten zufolge, eine freie Gemeinde, doch wurde die Stadt in Wirklichkeit in recht autokratischer Weise von den Ratsherren regiert, deren Rang mit dem der Barone im Rest des Königreiches gleichzusetzen war. Jeder von ihnen besaß seinen eigenen Teil der Stadt, in dem die anderen Bürger als Mieter lebten. Sie verdienten ihr Geld nicht als Händler, sondern zogen ihren finanziellen Nutzen aus dem Besitz. 34

Der König, der Adel und die Commons

Viele der Ratsherren bekleideten einträgliche Ämter als Kammerherren, Steuereintreiber, privilegierte Weinlieferanten, Beamte, Münzherren etc. im Dienste der Krone. Auf diese Weise konnten sie das angenehme Leben eines Aristokraten führen und Macht mit Wohlstand verbinden. Wenn allerdings jemand zu reich geworden war, geriet er zuweilen in Schwierigkeiten. Dann fand der König schnell einen Vorwand, das Vermögen zu konfiszieren. Das Vorgehen der Ratsherren war recht willkürlich. Eines ihrer Hauptziele war es, alle schwerwiegende Verantwortung auf die Schultern der Bevölkerung abzuladen, um selbst frei zu sein, und hatte schließlich zur Folge, daß sich neben ihnen eine starke Mittelschicht herausbildete, die sich zu widersetzen versuchte. So entstanden zahlreiche Organisationen. Anfangs waren jedoch die Gilden die Verlierer. Sie wurden verfolgt und gezwungen, beachtliche Strafen zu zahlen. Doch konnten sie nicht lange unterdrückt werden, da dies kein Kampf zwischen einer reichen Oberschicht und einer armen Unterschicht war, sondern zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen der Oberschicht, die man als Landbesitzer und Händler beschreiben könnte. Was dann in London geschah, entsprach im Grunde der Entwicklung im gesamten Königreich: Eine unternehmerische Mittelschicht bildete sich heraus. Im verdichteten Leben der City läßt sich diese Entwicklung hautnah verfolgen. Es genügte indessen nicht, daß die Grundlage des parlamentarischen Systems gelegt war, es bedurfte vielmehr eines Anstoßes von außen, um eine neue Regierungsform entstehen zu lassen. Diesen Anlaß bot ein König, der zu viel Geld ausgab. Der hervorragende Historiker George Macaulay Trevelyan macht in einer Fußnote seiner History of England auf den eigenwilligen Umstand aufmerksam, daß jeder der mittelalterlichen Könige Englands, die sozusagen ‚politische Versager‘ gewesen waren, ein besonders feines, steinernes Vermächtnis hinterlassen hatten. Er erwähnt William Rufus, der Westminster Hall erbaute, Richard I., der ihr ihren heutigen Charakter verlieh, indem er die Säulen versetzen ließ, und schließlich Henry III., der Westminster Abbey errichtete. Dies ist jedoch nicht so seltsam, wie es klingt; denn schon damals war Bauen sehr kostspielig. Und wie wir gesehen haben, mußten die Könige zu zweifelhaften Methoden greifen, um das nötige Geld zu beschaffen, weswegen sie, wie Trevelyan es ausdrückt, ‚politische Versager‘ waren. Sie waren es, die Veränderungen in der Regierungsform ermöglichten, und dem „mißlichsten Blindgänger“, Henry III., ist die Neuerung zu verdanken, die wirklich Geschichte machte: das 35

Die Unabhängigkeit Londons

repräsentative Parlament. Er war unglaublich ausschweifend. Nicht zufrieden gestellt mit dem Bau der Westminster Abbey, gestattete er sich jede Art Luxus; er war umgeben von einem exklusiven Hof, wählte begünstigte französische Adlige, Verwandte seiner Gemahlin, und räumte ihnen Ämter in seinem Reich ein. Er beanspruchte für sich selbst Erbrechte in Frankreich und für seinen Sohn auf Sizilien (was vom Standpunkt Englands aus völlig nutzlos und überaus kostspielig war); er beschäftigte Dichter und Künstler – und leistete sich einen französischen Hofnarren. Kurzum, er besaß einen überaus extravaganten Geschmack, der zwar nach seiner Überzeugung den Glanz der Krone erhöhte, jedoch für das Königreich keinerlei praktischen Nutzen hatte. Folglich war er immer in Geldnöten und somit gezwungen, bei jeder Gelegenheit zu borgen. Als niemand mehr bereit war, ihm Geld zu leihen, berief er eine Versammlung der Barone ein, um sich von ihnen etwas übertragen zu lassen. Beim ersten Mal war er erfolgreich, doch beim zweiten Mal verlangten sie, Einfluß auf die Berufung der königlichen Beamten zu erhalten – worauf er in keinem Fall eingehen wollte. Die Barone wurden nach Hause geschickt, und der König brachte Mittel auf, indem er sein Silber an die reichen Londoner Bürger veräußerte. London war für die Könige, ebenso wie die Juden, von größtem Nutzen. Henry III. profitierte von beiden. Er war es, der die Juden am Ende als Pfand einsetzte und es sich nach und nach mit London verdarb. Viele der Ratsherren hatten königliche Ämter inne und waren, wie man sich vorstellen kann, ausgesprochen loyal. Doch war die Art und Weise, in der Henry London behandelte, selbst für sie zu viel. Wieder und wieder nahm er, wie man sagte ,die Stadt in seine Hand‘, ernannte, entgegen den von ihm erteilten Privilegien, den Bürgermeister und andere Abgeordnete selbst. Am allerschlimmsten war jedoch, daß er die Steuern der Stadt einzog! Auch erhöhte es seine Beliebtheit nicht, als er – offensichtlich, um Geld für den Bau der Westminster Abbey einzutreiben – seinem Abt das wertvollste Recht verlieh, nämlich einen wöchentlichen Markt und eine jährliche zweiwöchige Messe abzuhalten. Während dieser Zeit durfte anderswo kein Handel getrieben werden, und so kann man sich den Aufruhr der Londoner vorstellen. Sie waren bereit, sich bei der nächstbesten Gelegenheit gegen den König zu wenden. Diese Gelegenheit ergab sich bald. Während einer Hungersnot im Jahre 1256 nahm man an, daß der König große Mengen an Getreide beschlagnahmt und verkauft habe, die von seinem Bruder, Richard von Cornwall, aus Deutschland geschickt worden waren, um die Not zu lindern. Es hatte zur Folge, daß die Barone die Führung an sich 36

Der Geldmangel der Krone

rissen und entschieden, wie das Land künftig regiert werden sollte, damit derartige Mißstände in Zukunft vermieden würden. Dreimal im Jahr sollte eine Versammlung, ein Parlament, zusammenkommen, und es war bereits beschlossene Sache, daß die Commons darin einen Sitz erhalten würden. Schon bei den ersten Versammlungen war jedoch ersichtlich, daß die Barone nur ihre eigenen Interessen im Auge hatten. Sie einigten sich, den französischen König, ‚den Heiligen Ludwig‘ [Louis IX.], zu konsultieren, damit dieser über ihre Differenzen richten möge, und sie kamen überein, sich seiner Entscheidung zu fügen. Wie man leicht hätte vorhersehen können, war dieser Richter gänzlich auf der Seite seines weniger heiligen Kollegen, dem englischen König, und stand in jeder Hinsicht hinter ihm. Seiner Entscheidung entsprechend wurden alle Vereinbarungen und Übereinkünfte, die zwischen dem König und den Baronen geschlossen worden waren, wieder abgeschafft. Simon de Montfort, dieses Genie, der das Herz der Opposition gegen den König gewesen war, gab den Kampf nicht auf. Er war einer der mächtigsten Adligen – und Schwager des Königs. Er erkannte, daß die Zeit gekommen war, die Commons in die Regierung einzubeziehen. Von den übrigen Adligen wurde er darin zwar nicht besonders bestärkt, doch stieß er mit seinen Ansichten in London auf Zustimmung. Während seines Kampfes für die Rechte der Commons im Königreich bekam die City endlich einen Bürgermeister, Thomas Fitz-Thomas, der sich in London für die gleichen Ideale einsetzte. Er war ein Widersacher der Ratsherren und unterstützte die neue Geisteshaltung, indem er verschiedene neue Gilden anerkannte und ihnen Privilegien einräumte. Thomas Fitz-Thomas entsprach dem Volk in allen Fragen der bürgerlichen Politik. Simon de Montfort hielt sich, verstoßen von den Adligen, die seine Verbündeten hätten sein sollen, in Southwark auf. Die aristokratischen Kräfte in London verhinderten, daß ihm die Tore geöffnet wurden. Doch als sich die Kunde verbreitete, daß der König ihn festnehmen wolle, ergriff das Volk die Oberhand, öffnete die Tore der London Bridge und gewährte ihm Einlaß in die Stadt. Es müssen aufrührerische Tage in London gewesen sein. Der König befand sich in Frankreich und die Königin in der uneinnehmbaren Festung des Tower. Sie versuchte zu entkommen, um sich dem König anzuschließen, und fuhr auf der Themse in Richtung Windsor. „Viele Londoner versammelten sich auf der Brücke, unter der sie hindurch fahren mußte und beschimpften sie nicht nur mit Worten, sondern bewarfen sie mit Schmutz und Steinen, wodurch sie fürs erste gezwungen wurde umzukehren.“ (Stow) Die Glocken von St. Paul’s riefen die Menschen zu den Waffen. 37

Die Unabhängigkeit Londons

Simon de Montfort versammelte seine Armee, und London schloß sich ihm mit einer Truppe an, die auf 15.000 Mann geschätzt wurde. Er stieß bei Lewes auf den König, besiegte ihn und nahm ihn gefangen. Die Londoner als siegreicher Teil der Armee hatten allerdings das Pech, fliehen zu müssen und über vier Meilen verfolgt zu werden, wobei sie 3.000 Mann verloren. Der König wurde als Gefangener nach St. Paul’s gebracht, und das Schicksal des Königreiches lag nun in den Händen Londons und Simon de Montforts. Als Ergebnis entstand das erste Parlament, in dem die Commons offiziell durch zwei Männer aus jeder Stadt in England vertreten waren. In den darauffolgenden Jahren schien zunächst alles Erreichte wieder verloren zu sein. Simon de Montfort wurde im folgenden Jahr ermordet, der Bürgermeister Fitz-Thomas in Windsor gefangen genommen, und alle Rechte, die er den Gilden gewährt hatte, wurden für null und nichtig erklärt. Doch gerieten die neu geschaffenen Regierungsformen nicht in Vergessenheit. Die nachfolgenden Könige erkannten den Vorteil, die notwendigen Gelder zum Regieren eines Königreiches von einem repräsentativen Rat gewährt zu bekommen, statt darum kämpfen zu müssen. Und so wurden die Commons erneut im Parlament versammelt. Zu Beginn spielten sie vermutlich eine untergeordnete Rolle. Wahrscheinlich war es ihnen gestattet, ihre Meinung durch einen Vorsitzenden (so sie dazu aufgefordert wurden) zeitgleich wie die Barone kundzutun. Um es dem Vorsitzenden zu ermöglichen, für alle zu sprechen, hielten sie zuvor Versammlungen ab, um im jeweiligen Fall zu einer Übereinkunft zu kommen. Diese privaten Treffen waren wahrscheinlich der Ursprung der Debatten des House of Commons [des Unterhauses]. Anfangs wurde es nicht als Privileg erachtet, einen Sitz im Parlament haben zu dürfen. Es wurde als ärgerliche Pflicht empfunden, die mit hohen Ausgaben, anstrengenden Reisen und Aufenthalten in fremden Städten ver­bunden war. Wenn das Parlament zusammenkam, nahmen nur wenige Mitglieder teil. Als sich die Umstände allerdings so weit geändert hatten, daß Gelder ausschließlich durch das Parlament vergeben werden konnten, stieg das Interesse. Der Klerus nahm jedoch Abstand, wofür er später bitter bezahlen mußte. Eines schönen Tages war König Henry VIII. in der Lage, den Klerus beiseite zu schieben, hatte dieser doch selbst abgelehnt, sich an der Regierung des Königreiches zu beteiligen. Die Städte indessen waren immer stärker an ihrer Beteiligung interessiert, und ihre Vertreter reisten auf Kosten der Verwaltungen zum Parlament, das seinen Sitz an unterschiedlichen Orten hatte und sich unter Elisabeth schließlich in Westminster niederließ. 38

Eine neue Regierungsform

Diese alte Form des Regierens war in London von kurzer Dauer. Jeder einzelne Ratsherr wurde schon bald als Repräsentant für einen der 24 Distrikte oder Stadtbezirke gewählt. Ab 1346 verfügte die City über eine beratende Ver­sammlung, die aus von den Stadtbezirken gewählten Männern bestand. Dies waren je nach Größe des Bezirks acht, sechs oder vier Männer. Nach und nach wurden die Gilden und Unternehmen immer mächtiger, und ab 1375 wurden die Mitglieder der Versammlung nicht mehr von den Bezirken, sondern von den Handelsgilden gewählt. Sie entschieden, wer zu den sogenannten ‚Freemen‘ von London ernannt wurde. (Diejenigen, die keine Freemen waren, durften nicht einmal bei der Wahl der Ratsherren abstimmen.) Sie regierten die Stadt mit großer Härte, und noch immer waren die wohlhabenderen Klassen an der Macht. Nun jedoch kamen von ihren Gilden gewählte Handelsunternehmer und Hand­werker in die Versammlung. Dank seines Reichtums behielt London seine mächtige Stellung innerhalb des Königreiches. Trevelyan charakterisiert die Beziehung zwischen dem König und der Stadt mit den folgenden Worten: „Edward IV. stand in engem Verhältnis zu den großen Londoner Bürgern, nicht nur, weil er ihre Frauen mochte, sondern auch, weil er Geld von ihnen borgte.“ Die Beziehung zwischen der City und der Krone wurde bereits angedeutet, als der revolutionäre Bürgermeister Fitz-Thomas seinen Treueeid auf den König mit den folgenden einfachen Worten erneuerte: „Mein Herr, solange Du uns ein guter Herr und König bist, wollen wir Dir treu und ergeben sein.“ Diese Worte verursachten in Kreisen der konservativen Bürger große Entrüstung, doch hat keine Erklärung je einen Standpunkt von größerer Auf­richtigkeit und Klarheit bezüglich der bestehenden und der zukünftigen Beziehungen beschrieben. Wir sind deshalb so genau auf die Begleiterscheinungen in der Entwicklung der Britischen Verfassung eingegangen, da dieses Kapitel der Geschichte uns die Bedeutung der City of London vor Augen führt. Von Bedeutung für uns ist es auch deshalb, weil die besondere englische Form der Regierung zu dieser Zeit einen entscheidenden Einfluß auf Wachstum und Entwicklung Londons genommen hat. Die Tatsache, daß die Macht auf drei Parteien verteilt war – den König, die Ratsherren und die Commons –, war eine Garantie gegen die Übermacht einer der drei Seiten. Gleichzeitig war dieses Gefüge so dehnbar, daß es sich in gewissem Maße den Anforderungen der sich ändernden Zeit anpassen konnte.

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3 Das Zentrum des Welthandels

Das 16. Jahrhundert bedeutete einen Wendepunkt. Bis dahin war London eine Stadt am äußeren Rand des großen europäischen Handelsraumes, nun wurde es zum Mittelpunkt eines noch größeren Netzwerkes, das sich über ganze Kontinente ausbreiten sollte. Große Entdeckungen eröffneten dem Handel neue Möglichkeiten, und London verstand es wie keine andere Stadt, diese erfolgreich zu nutzen. Die Erklärung dafür liegt in der Wechselbeziehung zwischen der City auf der einen und dem Land und seiner Regierung auf der anderen Seite. Zu Zeiten, in denen die größten Rivalen der englischen Händler, die französischen und flämischen Seefahrer, religiöser Verfolgung ausgesetzt waren und durch ihre eigenen Regierungen behindert wurden, setzten sich in England die günstigen Beziehungen zwischen London und Westminster – der Handelsstadt und der Regierung – fort. Die beiden Städte wurden immer abhängiger voneinander, ohne jedoch miteinander zu verschmelzen. Die wohlhabenden Familien Englands scharten sich um Regierung und Hof, und vieles von dem, was in den einzelnen Teilen des Reiches verdient wurde, gab man in den Vierteln westlich der City aus. Diese Großverbraucher außerhalb der City steiger­ ten die Handelsmöglichkeiten und folglich den Wohlstand auf ein immenses Maß. Auch Westminster konnte nicht ohne London auskommen. Die Regierung besaß keine Armee, währen die City ihre ausgebildeten Truppen zur Sicherung des Landes zu den Waffen rufen konnte; die Londoner Handelsflotte war eine wichtige und notwendige Unterstützung für die von Henry VIII. gegründete Marine. Vielleicht waren es die Adligen, die den großen Wohlstand herbeiführten, doch war es mit Sicherheit die City, die ihn anhäufte und konsultiert werden mußte, wenn große Summen vonnöten waren. Eine Regierung, die geneigt war, ihre politischen Bestrebungen mit denen von London in Einklang zu bringen, konnte sich militärischer und finanzieller Hilfe sicher sein. In England konnte dies mit keinem anderen Mittel erreicht werden. So entschieden die Handelsinteressen Londons, auf lange Sicht gesehen, die Politik des Landes. Jeder andere Kurs konnte nur für kurze Zeit gehalten werden. Im 17. Jahrhundert wurde 40

Venedig und London

dies deutlich, als die Krone erfolglos versuchte, sich dem Einfluß des Parlaments und Londons zu entziehen; ohne Armee und ohne Geld konnte es keinen Absolutismus geben. Henry VII. und Elisabeth, die den Londoner Handel stärkten, verließen sich indes auf die City und konnten so ihre Macht sichern. Das Venedig des Mittelalters kann als eine Art Vorläufer für das spätere London angesehen werden. In frühen Zeiten, als die Hunnen zerstörerisch durch Italien zogen, flohen zahlreiche wohlhabende Händler aus den reichsten Städten Norditaliens auf die Inseln in der Lagune, um ihre Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen: denn die wandernden Stämme besaßen keine Schiffe. Sobald die größte Gefahr vorüber war, konnten die Händler in ihre Städte zurückkehren. Im Laufe der Zeit wurden sie jedoch so oft zur Flucht gezwungen, daß sie sich schließlich gegen Ende des sechsten Jahrhunderts, nachdem sie die ursprüngliche Bevölkerung von dort vertrieben hatten, vollständig auf diesen geschützten Inseln niederließen. So wuchs Venedig als eine vollkommen unabhängige Stadt empor und wurde schon bald zum Handelszentrum des Mittelmeerraums. Aus dem fernen Asien, sogar aus China, wurden, wie wir durch die Reisen Marco Polos wissen, Karawanen mit wertvollen Gütern in die reiche Stadt gesandt, deren zahlreiche Schiffe das gesamte Mittelmeer durchkreuzten. Einmal im Jahr stattete Venedig die sogenannte Flämische Flotte aus, welche, an der Küste entlang, durch die Straße von Gibraltar direkt nach England und den Niederlanden segelte. Sie beförderte eine gewaltige Menge an Luxusartikeln, wie sie nicht in nördlichen Gefilden produziert werden konnten: Edelsteine, Seide, Brokat und andere wertvolle Dinge, Kampfer und alle möglichen Gewürze, die nur im Orient zu bekommen waren, ein höchst profitables Geschäft. Die Venezianer konnten einen Gewinn von mehreren hundert Prozent erzielen, indem sie die Waren selbst auf den Markt brachten. Der übliche Transithandel führte diese durch so viele Hände, daß die Preise, bevor die Waren London überhaupt erreichten, gewaltig anstiegen. Auf diese Weise konnten die englischen Händler ihre Produkte bis direkt vor die Tür geliefert bekommen, ohne sich um Seereisen oder andere riskante Abenteuer sorgen zu müssen. Vom 16. Jahrhundert an zeichnete sich jedoch ein anderes Bild ab. Venedig stagnierte, und London wuchs in seiner Bedeutung als Handelsstadt. Solange Flüsse als Haupttransportwege des Handelsverkehrs dienten, waren die Städte auf dem Festland, besonders die Hansestädte, gegenüber anderen Städten im Vorteil. Als sich der Seehandel entwickelte, war London jedoch in günstiger Position. Die Ähnlichkeiten 41

Das Zentrum des Welthandels

zwischen London und Venedig sind verblüffend. Beide lagen abgeschieden vom Festland und waren somit vor den Handel schädigenden Kriegen und Zerstörungen geschützt. Doch der entscheidende Unterschied war, daß London der Mittelpunkt einer Handelsregion war – Venedig nicht. Genau genommen versorgte England London mit einer für den Welthandel unersetzlichen Ware – dem Tuch. Die Händler Venedigs und der Hansestädte handelten lediglich damit. Sie steuerten ferne Länder an, die mit dem großen Welthandelsnetz wenig oder gar nicht in Verbindung standen, und verdienten Geld, indem sie die Waren von einem Ort zum anderen transportierten. Doch produzierten sie selbst nicht, wodurch andere ihre Stellung, ohne im Handel benachteiligt zu sein, einnehmen konnten. London sicherte seine Vormachtstellung durch den Handel mit englischem Tuch, dessen Qualität sich zum Ende des 16. Jahrhunderts enorm verbessert hatte. Es war ein so bedeutender Artikel geworden, daß er nirgendwo mehr entbehrt werden konnte. Man nutzte Tuch sogar als Währung. Wenn Londoner Händler ausländische Waren importierten, tauschten sie diese gegen Tuch, und da London das Zentrum für den gesamten englischen Tuchhandel war, hatte es sich so einen einzigartigen Platz im gesamten Welthandel gesichert. Die Basis dieses Monopols war die Wolle. Die klimatischen Bedingungen Englands waren für die Schafzucht besonders günstig, und der Wollexport hatte seit jeher große Bedeutung. Nachdem sich die Zisterziensermönche im 12. Jahrhundert im Lande niedergelassen hatten, machte die Schafzucht enorme Fortschritte, und der Wollhandel mit dem Festland wurde zu einer wichtigen Einnahmequelle. Überall im Land wurden Schafe gehalten, und man exportierte die Rohwolle in großen Mengen auf das Festland [gemeint: den Kontinent], wo sie anschließend weiter­verarbeitet wurde. Bereits im 13. Jahrhundert hatte die Wollproduktion bemerkenswerte Ausmaße. In den Ländern des Kontinents, die immer wieder von Kriegen heimgesucht wurden, war es schwierig, große Herden zu züchten, wie es in England möglich war, da dessen Frieden durch die Insellage als mehr oder weniger gesichert galt. Anfangs wurden in England nur geringe Mengen an Wollgütern, zumeist aus einem gröberen Stoff produziert, den man nur als Verpackung oder als Windmühlensegel einsetzen konnte. Feines Tuch fertigte man außerhalb des Landes. Neun Zehntel der Wolle wurden nach Gent und Brügge verschifft, die England anschließend als fein gewebte und wunderbar gefärbte Stoffe zurückkaufte. Schon früh jedoch erkannte man in England die Vorzüge einer heimischen Wollindustrie. Die Könige 42

London, Herrin des Kleiderhandels

waren an allem, was mit Wolle zu tun hatte, stark interessiert. Da der Wollexport die Haupteinnahmequelle bildete, war sie das am ehesten zur Besteuerung geeignete Gut; und wenn die Könige Geld leihen mußten, waren die Zölle und Steuern für Wolle ihr größtes Kapital. Wenn Edward III. Geld für seine Kriege auf dem Kontinent brauchte, bat er nicht unbedingt das Parlament um Zustimmung, sondern agierte meist heimlich hinter dessen Rücken und verhandelte direkt mit den Wollhändlern. Seine gesamte Politik, die sich danach richtete, möglichst große Summen aus dem Wollhandel zu ziehen, und aus diesem Grunde oft genug recht kurzsichtig war, erwies sich letzten Endes als großer Segen für den Woll- und Tuchhandel. Unter anderem ermutigte er [Edward lebte im 14. Jh.] die flämischen Weber, nach England zu kommen. Doch sollte noch viel Zeit verstreichen, bis England mit dem Festland [Kontinent] konkurrieren konnte. Man exportierte nicht nur die Rohwolle, sondern oft genug auch vollkommen unbearbeitetes Material, das dann im Ausland gesponnen und gefärbt wurde. Die niederländischen Städte waren die besten Kunden. Dies konnte mit Sicherheit nicht folgenlos bleiben, als England in den Hundertjährigen Krieg eintrat. Anfangs herrschte lediglich die Lust an der Eroberung. Später jedoch lag die Bedeutung einer sicheren Verbindung mit Calais und den flämischen Städten nahe, die englische Wolle kauften. Diese sollten davor bewahrt werden, in die Hände der Franzosen zu fallen. Londons berühmter Bürgermeister Dick Whittington war unter denen, die die Kriege von Henry IV. und Henry V. finanziell unterstützten. Als sich englisches Tuch im 15. Jahrhundert zu einem gefährlichen Konkurrenzprodukt entwickelte, verboten die Niederlande dessen Import. Doch es war unmöglich, dieses Embargo aufrechtzuerhalten, da England in Handelsgefechten meist überlegen war. Ebenso unmöglich war es, flämisches Tuch ohne englische Wolle zu fabrizieren, und so reichte die Drohung Englands aus, jeglichen Handel einzustellen, um den Markt in Antwerpen wieder zu öffnen. Ende des 15. Jahrhunderts mußten auch Brabant und Flandern zustimmen und den Verkauf von englischen Texti­lerzeugnissen wieder zulassen. Gleichzeitig mit der Sicherung der ausländischen Märkte wurde die Textilindustrie im Heimatland aufgebaut. Nachdem diese die Oberhand über die niederländische Textilindustrie gewonnen hatte, gab es keinerlei weitere gefährliche Konkurrenz zu befürchten. Um 1500 war der Export englischen Tuches siebzehn- bis achtzehnmal so 43

Das Zentrum des Welthandels

groß wie 150 Jahre zuvor. Unter der Regentschaft Henrys VIII. stieg der Textilexport auf etwa 70 Prozent der Gesamtexportleistung des Landes, während der Export von Rohwolle nur acht Prozent betrug. Ende des 16. Jahrhunderts war er praktisch zum Erliegen gekommen. Währenddessen hatten sich in England beachtliche Vermögen angesammelt. Früher liehen sich die Könige im Ausland Geld, zuerst von den Italienern (Exil­ lombarden – die Londoner Lombard Street erinnert noch heute an die Geldwechsler) und später aus Antwerpen, doch von der Mitte des 16. Jahrhunderts an scheinen die englischen Händler selbst sehr viel Geld besessen zu haben. Angespartes Kapital, das nicht verliehen wurde, wie die Lombarden dies taten, investierte man statt dessen in Unternehmen, die den Handel mit englischen Waren weiter steigern sollten. Zuvor waren internationale Händler mit feineren ausländischen Erzeugnissen nach England gekommen, um diese Produkte dort gegen Rohwolle zu tauschen. Nun produzierte England selbst eine fertige Ware für den Export – nämlich sein Tuch – und importierte im Gegenzug Rohware aus fernen Ländern. 1532 sandte Venedig die Flämische Flotte zum letzten Mal nach London. Einiges ereignete sich nun gleichzeitig, Ereignisse, die sich allesamt als günstig für Englands Handel erwiesen. Die Engländer waren im Textilhandel führend und verschoben den Hauptumschlagplatz von Antwerpen nach London. Große Ent­deckungen schufen neue Zentren für den Überseehandel. Die Londoner Händler besaßen genug Kapital, um Expeditionen auszurüsten, und England verfügte über die mutigsten und fähigsten Seeleute, um diese Expeditionen durchzuführen. Sie wurden von der Regierung sowohl direkt als auch indirekt unterstützt. Ebenso erfuhren sie indirekte Förderung durch die Bestrebungen der Kirche. Jeder gutgesinnte Engländer betrachtete es als seine Pflicht, den an den Pabst ­gebundenen Spaniern so viel wie möglich abzujagen. Die Hansestädte und die italienischen Handelsstädte hatten weder die Flotten noch die entsprechenden Seeleute, um den Ozean zu überqueren. Die erbittertsten Gegner fanden sich allerdings in den flämischen und französischen Städten (La Rochelle), deren mutige Matrosen den englischen ebenbürtig waren. Bei jeder Gelegenheit trachteten die römischen Katholiken danach, ihnen größtmöglichen Schaden zuzufügen. In Frankreich wurden die Hugenotten verfolgt, während in England der ‚ehrenhafte Pirat‘ Francis Drake, um die damalige Formulierung zu benutzen, zum Nationalhelden aufstieg. 44

Kontinentale und englische Politik

London stand das Glück zur Seite. Früher hatte die City beträchtliche Mengen an Stoffen produziert, und die flämischen Weber, die sich unter der Regentschaft von Edward III. angesiedelt hatten, waren von größtem Nutzen für die Stadt gewesen. Vom Ende des 14. Jahrhunderts an wurden alle Tuchwaren nach London gebracht, da sie ausschließlich dort an Exporteure verkauft werden durften. Als im Laufe der Zeit die Bedeutung des Tuchhandels zunahm, konzentrierte sich dieser immer stärker in London. So hatten die vielen Firmen, die insbesondere unter der Regentschaft Elisabeths gegründet worden waren, um den Handel mit fernen Städten zu fördern, ihre Hauptsitze in London. Solche Firmen waren nichts Neues, aber zuvor existierten sie in anderer Form, nämlich als Händlerverbände in fremden Städten. Die englischen Händler unterhielten Niederlassungen in den Städten auf dem Kontinent, so wie die Hansestädte dies in London taten. Unter Elisabeth veränderte sich die Lage. Es wurden Firmen in den Heimatstädten der Händler gegründet und die enorme Ausdehnung des Handels von London aus organisiert. Unter Henry VII. erbrachte London etwa 50 Prozent des gesamten Zolleinkommens, in der Zeit Henrys VIII. stieg es auf 66 Prozent an und lag 1581/1582 bereits bei über 86 Prozent. Der Tuchhandel befand sich in der Hand der Londoner, und sie besaßen somit die Mittel, um den Welthandel zu dominieren. Vom 16. Jahrhundert an kann man klar zwischen englischer und kontinentaler Politik unterscheiden. Die Regierung der Tudors wurde als tyrannisch bezeichnet, und Henry VIII. wird allgemein für einen großen Despoten gehalten. Er war ein Tyrann, doch eher ein Haustyrann, da seine Macht eingeschränkt war. Seine Leibwache bestand aus weniger Männern als die ausgebildeten Kampfverbände eines einzelnen Londoner Stadtteils. Aber solange er gut mit den Londonern auskam, benö­ tigte er keine Soldaten. Da er fürchtete, der Papst und verschiedene Prinzen hätten vor, England anzugreifen, ließ er 1539 die Festungen und Häfen verteidigungsbereit machen und sorgte dafür, daß die City ihre Mannen auf Kriegstauglichkeit musterte. Man setzte die Londoner in Kenntnis, der König selbst würde sie inspizieren. Am 8. Mai 1539 wurde eine große Bürgerparade an der östlichen Stadtgrenze abgehalten. Stow zufolge trugen alle glänzende Rüstungen, Wamse aus weißer Seide oder Wolle und goldene Ketten. Sie waren in drei große Bataillone zu je 15.000 Mann [nach historischen Quellen handelte es sich um 15.000 Mann insgesamt] aufgeteilt und marschierten durch London, im St. James’s Park am König vorbei, nach Westminster. 45

Das Zentrum des Welthandels

Sie müssen einen schönen Tag verbracht haben. Elisabeth, die wußte wie man mit den Händlern auskam, bat in Zeiten der Not die City niemals vergeblich um Hilfe. Als Spanien 1588 England in Angst und Schrecken versetzte, bat die Königin London um 15 Schiffe und 5.000 Männer. Statt dessen wurden 30 Schiffe und 30.000 Matrosen gestellt, und die Polizei der City, die sogenannten trained bands, mit einer Stärke von ungefähr 10.000 Mann, hielt jeden Abend auf dem Exerzierplatz außerhalb der Stadt eine Parade ab. Hier wird verständlich, daß weder Henry VIII. noch Elisabeth das Bedürfnis verspürten, absolute Monarchen zu werden, wie dies überall auf dem Kontinent der Fall war. Die Engländer waren bereits eine Nation mit einer starken Konzentration und Anhäufung von Kapital in ihrer Hauptstadt. Das Land hatte seine Grenzen klar abgesteckt, und die Macht des Adels wurde im Verlauf der Rosenkriege festgelegt. Von den Familien des englischen Uradels gab es nur noch 29, die vom Gefolge Wilhelms des Eroberers abstammten. Die Krone konnte neuen Adel ernennen und machte von diesem Vorrecht ausgedehnten Gebrauch. Der Adel wurde unter den Londoner Händlern ausgewählt. Viel Kapital, das der City in den folgenden Jahrhunderten zufloß, wurde von den neuen Adligen in Form von Grundstückspachten eingenommen. Die Herzöge von Bedford und Westminster und viele andere, die große Ländereien außerhalb der Stadtmauern besaßen, konnten ihr Einkommen stetig steigern, nicht indem sie ihr Land verkauften, sondern indem sie es, einem alten Brauch folgend, mit dem Wachsen der Stadt verpachteten. Die Politik Henrys VIII. sowie die Elisabeths wurde im wesentlichen in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Handels geführt. Henrys Protestantismus erwies sich darüber hinaus als ausgesprochen gut für das Land. Das römische Joch war abgestreift, und das Ergebnis führte dazu, daß rein wirtschaftlich betrachtet viel Geld, welches das Land anderenfalls eingebüßt hätte, für nationale Zwecke verwendet werden konnte. Die Religionskriege brachen aus. Sie stellten sich als vorteilhaft heraus, da sie sich immer gegen die ärgsten Feinde, zuerst die Spanier, später die Franzosen, wendeten. Nachdem Antwerpen fürchterlich unter der spanischen Besatzung gelitten hatte und sowohl 1567 als auch 1585 geplündert worden war, bewegte der weise Sir Thomas Gresham die Königin dazu, den ruinierten und verfolgten Webern anzubieten, nach London zu kommen. Dort versprach man ihnen einen freundlichen Empfang. Zwar regte sich innerhalb der privilegierten Gilden Widerstand, doch ließ sich die Regierung bei diesen 46

London und die englische Politik

Bemühungen keine Vorschriften machen. Unter der Herrschaft Elisabeths kam es zu einer konstanten Immigration flämischer Weber, und mit der Zeit verbreitete sich das Weben feiner Tuche in England. Die Tudors, die das Temperament der Engländer richtig einschätzten, regierten von Volkes Gnaden mit strenger Hand. Die nachfolgende Dynastie, die Stuarts, war und blieb fremd in England. Sie wollten wie die Monarchen des Festlandes regieren, als Könige von Gottes Gnaden. Dies führte schnell zu Spannungen zwischen Westminster und London. James I. machte sich, durch seine Versuche Geld für Zwecke aufzutreiben, die für die City von keinerlei Interesse waren, schnell unbeliebt. Sein Sohn, Charles I., wirkte noch schlimmer; er meinte, man könne England gegen das Parlament und gegen London regieren. Diese Situation illustriert jene kleine Episode, in welcher der König verfassungswidrig versuchte, fünf Mitglieder des House of Commons zu verhaften. Es ist wohl bekannt, wie sie Westminster, wo sie sich in Gefahr wähnten, verließen, um Schutz in London zu suchen. Der König fuhr persönlich zur Gildehalle. Er hielt vor dem versammelten Stadtrat eine Rede und verlangte die Auslieferung der fünf Mitglieder. Er wurde mit all der förmlichen Höflichkeit, die einem König gebührt, empfangen, bekam jedoch keine Antwort, und die fünf wurden nicht ausgeliefert. So mußte der König unverrichteter Dinge nach Westminster zurückkehren, während sich die fünf Mitglieder des House of Commons sorglos in London bewegten. Solange der König mit unlauteren Mitteln versuchte, an Geld zu kommen, widerstand ihm die City mit aller Kraft. Als es zum offenen Krieg kam, hielt sich London nicht länger bedeckt und stellte sowohl Soldaten als auch beträchtliche Summen zur Verfügung, um den Kampf gegen den König fortsetzen zu können. In der Tat war die City das Zünglein an der Waage, und es wurde wieder einmal deutlich, daß jene Partei gewinnen würde, die London auf ihrer Seite hatte. Charles I. mußte sterben [er wurde im Jahre 1649 hingerichtet], weil er ebendies nie verstand. Es war London, das den Weg für die Herrschaft Cromwells ebnete. Dieser blieb an der Macht, weil seine Politik sich als günstig für Londons Handel erwies. Und wieder war es London, das Charles II. kürte, und ebenfalls mit Londons Hilfe bestieg William von Oranien den Thron. Der Unterschied zwischen englischer und kontinentaler Politik wird vielleicht in Hinsicht auf ihre Kriegsführung am deutlichsten. Nach dem Hundertjährigen Krieg [1337–1453] träumte England nicht länger von Eroberungen auf dem Kontinent. Es sollten keine Opfer für die Herrschaft über Gebiete erbracht werden, die für ein so 47

Das Zentrum des Welthandels

‚prächtig isoliertes‘ Land bedeutungslos waren. Erbfolgekriege wie in Frankreich waren unbekannt, und Religionskriege nur in sofern bedeutend, als sie entscheidend für den Handel waren. Damit soll nicht gesagt werden, daß der englische Blick enger wäre als der der Nationen des Festlandes. Im Gegenteil, Englands Welt ist viel ausgedehnter und durch seine Handelswege über die Kontinente hinaus mit der Welt verbunden. Man kann ruhigen Gewissens sagen, daß die Sonne über dem Empire niemals untergeht. Doch ist dies kein Imperium im ursprünglichen Sinn des Wortes, also auf der Erbfolge ihrer Monarchen basierend, sondern eines, das von unternehmungslustigen Geschäftsleuten und Piraten erobert worden ist. Gestärkt durch den Reichtum Londons, erschlossen die Engländer in privaten Expeditionen Märkte in fernen Ländern. In einigen Fällen beraubten sie dort die Menschen, in anderen drangen sie in noch nie zuvor vom europäischen Handel entdeckte Gebiete vor. Dies geschah weder einem vorgefertigten Plan folgend, noch waren diese permanenten Eroberungszüge Sache der Regierung. Aber geschäftstüchtige Privatmänner wußten, daß sie im Falle eines Erfolgs von der Regierung unterstützt werden würden. Oft war die Krone an diesen Handelsexpeditionen finanziell interessiert. In einer absoluten Monarchie versuchte man den Handel mit Hilfe von speziellen Regierungsmaßnahmen zu unterstützen. Zölle und Importverbote wurden verhängt und stützten so die einheimischen Industrien. Man baute Straßen und Kanäle und ließ kein den Handel förderndes Mittel aus. All dies wurde von oben gesteuert. Zur gleichen Zeit richteten sinnlose Kriege und die Verfolgung von Ketzern so viel Schaden an, daß nicht einmal ein Colbert die Dinge wieder richten konnte. Die englische Regierung war weniger absolut und das Gesetz weniger willkürlich. Die Zielrichtung wurde von einer Handelsvereinigung und nicht von einem politischen Organ bestimmt. London unterstützte dies und neigte nicht dazu, seiner Macht despotisch Ausdruck zu verleihen, strebte aber kontinuierlich nach konkreten und vor allem wirtschaftlichen Vorteilen. Die Regierung war nicht gezwungen sich nach einem politischen System zu richten, war aber wie die Börse anfällig für wirtschaftliche Schwankungen. Das wiederum beeinflußte Westminster. Selbst wenn es selten zu Einmischungen in kontinentale Streitigkeiten kam, beunruhigte eine Sache England immer. Sobald eine andere große Macht versuchte, einen wichtigen Seehafen zu erobern, der trotz Londons Vormachtstellung zu einem Rivalen werden könnte, war England sofort bereit, vorbeugende Maßnahmen 48

London und kontinentale Auseinandersetzungen

zu ergreifen. Kriege dieser Art wurden oft als Religionskriege geführt und haben mit des englischen Gottes Gnaden stets beträchtliche weltliche Profite eingebracht. In der Zeit der Tudors war Spanien der Gegner. England verbündete sich mit dem protestantischen Holland gegen das katholische Spanien, um die spanischen Schiffe und Märkte in Amerika einzunehmen. Als diese Gefahr gebannt war, wurde Holland mit seinen Städten an der Rheinmündung und seiner exzellenten Flotte zur größten Gefahr für London. Dabei machte es keinen Unterschied, ob die Holländer für den wahren Glauben kämpften, denn Cromwell, als guter Protestant, der er nun einmal war, erklärte den Holländern den Krieg. Charles II. führte ihn in dessen Fußstapfen fort, erfaßte jedoch das typisch englische Denken nicht ausreichend. Als der französische König vorschlug, Holland aufzuteilen, realisierte er nicht, wie unpassend dieses Vorhaben war. Das Parlament erhob Einspruch. Holland, gegen das England kurz zuvor noch gekämpft hatte, mußte nun unterstützt werden; eigenartig, aber durchaus vernünftig. Sollte Frankreich das Rheindelta in Besitz nehmen – und Frankreich war bereits eine Großmacht –, dann wäre dies kein sehr verheißungsvoller Ausblick für die englische Seehoheit. Ganz England war außerordentlich vor Frankreich auf der Hut. Als die Frage aufkam, in die Spanischen Erbfolgekriege (1702 –1713) einzutreten, stellte sich England sofort Frankreich entgegen. Die Wahrscheinlichkeit, daß die französischen Seehäfen mit ihren exzellenten Seeleuten in der Lage wären, die vielen Möglichkeiten der spanischen Kolonien zu nutzen, war in der Tat unheilvoll. Als auch diese Gefahr gebannt war, gab es in den flämischen Städten Anzeichen erneuten Wohlstands. Der österreichische Erzherzog Karl verbündete sich mit Spanien und stimmte der Erlaubnis zu, daß Ostende mit den spanischen Kolonien handeln dürfe. Gemeinsam mit Holland verpflichtete sich England, darauf zu achten, daß Antwerpen keine Verbindung zum Meer besitzt. Nun verbündete sich England mit Preußen und veranlaßte, daß Ostende durch den Vertrag von Wien 1731 der Weg zum Meer abgeschnitten wurde. Am Ende des Jahrhunderts wurde Frankreich, als es begann, seine Hand nach Belgien auszustrecken und Anstalten zur Annektierung machte, wieder zum Gegner. Napoleon hatte die Bedeutung der niederländischen Finanzstädte als Häfen für sein neues Imperium wohl erkannt. Als Deutschland 1914 in Belgien einmarschierte – und offensichtlich war, daß Antwerpen annektiert würde, falls Deutschland den Krieg gewinnen sollte, gab es kein Schwanken und Zögern mehr. Deutschland war nun der Feind! 49

Das Zentrum des Welthandels

In der Politik William von Oraniens gibt es einen Fall, daß der König Verbündeter von London wurde. Mit der Gründung der Bank of England schuf er neue Strukturen, um sich für seine kriegerischen Unternehmungen von der City Geld zu borgen. Er machte sich zwar auf diese Weise von der City abhängig, sicherte sich jedoch zugleich die Loyalität Londons, indem er sozusagen seine Person in eine Gesellschaft verwandelte. Jeder wußte dabei sehr genau, daß Williams Schulden niemals anerkannt werden würden, wenn die Jakobiner wieder an die Macht kommen sollten. Der stetige Austausch zwischen der Geschäftsstadt und der Regierung stellte sich als großer Gewinn für die Wirtschaft des Landes heraus, und es ist verständlich, daß England notwendigerweise der Ort werden mußte, an dem die Maximen des freien Handels Ausdruck fanden. Die Handelsstadt London wurde zur Antithese von Paris, der Stadt des Absolutismus. Bibliographie Die Wirtschaftsgeschichte Englands wird in den Werken von William Cunningham geschildert. The Growth of English Industry and Commerce during the Early and Middle Ages ist bedeutend. Finance and Trade under Edward III. gibt in einer Reihe von Abhandlungen, herausgegeben von George Unwin, die ganze Bandbreite einer interessanten Epoche aus einem Blickwinkel wieder, der sich von dem Cunninghams beträchtlich unterscheidet.

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4 Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

Um 1600 begann die Stadt London bedrohlich zu wachsen. Während des vergangenen Jahrhunderts war die Zahl der Einwohner deutlich angestiegen, und große Quartiere entstanden außerhalb der Stadtmauern. Vermehrter Handel zog viele Menschen in die Hauptstadt. 1598 beschrieb John Stow einen der Londoner Bezirke und zitierte einen „nicht allzu alten Bericht“ wie folgt: „In Billingsgate Ward gab es 51 von Fremden bewohnte Haushalte, von denen 30 in den Haupthäusern der Gemeinde von St. Botolph untergebracht waren, wo sie 20 Pfund pro Jahr für ein Haus bezahlten, was vor kurzem noch für vier Mark vermietet wurde; je näher sie am Wasser siedeln, desto mehr bezahlen sie für ihre Häuser, und innerhalb der letzten 30 Jahre gab es im ganzen Gebiet nicht mehr als drei Niederländer; zu dieser Zeit erhob die besagte Gemeinde zur Unterstützung der Armen 27 Pfund im Jahr; aber seitdem sie von allen Seiten so zahlreich kamen, kann man, da die Fremden nicht soviel aufbringen werden wie die anderen Einwohner, nicht mehr als elf Pfund verlangen.“ Diese Passage bietet ein anschauliches Bild erstens über die große Zuwanderung, zweitens den schnell ansteigenden Bodenpreis und drittens die unfreundliche Haltung der Londoner gegenüber Neuankömmlingen. London war innerhalb seiner Mauern – wie wir bereits gesehen haben – dicht gedrängt, und das immense Bevölkerungswachstum zog eine Vergrößerung der Quartiere außerhalb der Stadtmauern nach sich. 1583 lebten von 5.141 Ausländern 1.604 außerhalb der Stadt. Die Wollweber in London waren fast alle ausländischer Herkunft. Von 70 Meistern, die 1456 die Vereinbarung unterschrieben hatten, lebten 33 innerhalb der Mauern, der Rest außerhalb. Die andere Flut von Immigranten, jene, die im 16. Jahrhundert die Seidenweberei einführten, siedelten sich in den Dörfern Shoreditch und Spitalfields an. Eine Kolonie französischer Hutmacher, die Filzhüte bekannt machten, ließ sich zusammen mit den Flamen, die hopfengebrautes Bier einführten, in Southwark nieder. Aus den Niederlanden immigrierten Drucker nach Westminster, Clerkenwell und andere Stadtteile. Die meisten von ihnen zogen in diese Vorstädte, da sie sich dort sicherer fühlten als in der überfüllten und Fremden gegenüber unfreundlichen City. 51

Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts kam es immer wieder zur Verfolgung von Ausländern. Selbst nachdem die Demonstrationen gegen die Fremden aufgehört hatten, war es in der City für Ausländer nicht leicht, da die Einwohner streng in Gilden und Gesellschaften organisiert waren. Neben der Einwanderung der Handwerker in Quartiere außerhalb der Stadtmauern gab es eine beträchtliche Auswanderung in diese Viertel aus der City selbst. Dies war vor allem eine Auswirkung der wirtschaftlichen Veränderungen. Früher hatten die Produzenten (die Handwerker) ihre Ware direkt an die Verbraucher verkauft, aber nun tauchten Händler auf, die nichts produzierten, sondern lediglich Waren kauften und verkauften. Diese Entwicklung verursachte große Empörung. Es wurden Maßnahmen ergriffen, um ihr entgegenzuwirken, doch ohne Erfolg. Ein Zeitgenosse beschreibt die Umstände wie folgt: „Vor dem May Day lebten die armen Handwerker, die es gewohnt waren, Läden und Gesellen zu haben, davon, Nadeln, Spitzen, Gürtel, Handschuhe und dergleichen zu produzieren … und hatten durch den Verkauf ihre täglichen Einnahmen, bis vor 30 Jahren andere, die man Kurzwarenhändler nannte, diesen Markt des Kaufens und Verkaufens von Handwerkswaren zu okkupieren begannen, … wodurch viele auf Kosten der Armen reich wurden. Den armen Leuten wurde bewußt, daß ihnen die Lebensgrundlage entzogen wurde und sie weder ihre Läden noch Häuser in London halten konnten. Sie saßen nun in den Gassen oder in kleinen Kammern und stellten Waren her, die sie am Sonnabend den Kurzwaren­ händlern zum Verkauf brachten … Von ihrem geringen Gewinn konnten sie weder essen noch trinken, denn die Ladenregale waren mit Waren aus Übersee gefüllt.“ Es wurde Usus, daß wohlhabende Händler kleine Handwerksbetriebe ausbeuteten. Die Händler kauften das Rohmaterial, meistens aus Übersee, und übernahmen im Anschluß das fertige Produkt der Handwerker. Der Wettbewerb mit anderen Städten und Ländern erlaubte ihnen, die Handwerkerpreise immer weiter zu drücken. Diese Differenzierung des Handels führte auch zu einer Differenzierung der Londoner Quartiere. Die neuen Kaufleute wollten ihre Lager und Geschäfte in der besten Lage haben. Die Grundstückspreise im Zentrum stiegen, und die verarmten Handwerker, die allmählich den Verkauf an die Verbraucher einstellten, hatten weder Grund noch finanzielle Mittel, um weiterhin in der City von London zu wohnen. Sie mußten in die vor der Stadt gelegenen Quartiere weichen. Die City wandelte sich zu reinen Geschäfts- und Wohnvierteln, während die außerhalb der Stadt gelegenen Siedlungen 52

Eine soziale Revolution

zu gewerblichen Vierteln wurden. In den darauffolgenden Jahrhunderten verdeutlichte sich die Differenzierung in der Stadt: Die Wohnhäuser der Kaufleute wurden ebenfalls vor die Stadtmauer verlegt und die City gänzlich den Geschäften und Büros überlassen. Heute wiederum gibt es eine Tendenz der Verlegung der Geschäfte aus der City heraus. Für die Herstellung von Kleidung galten schon bald rein kapitalistische Methoden. Leute, die etwas Geld verdient hatten, kauften große Mengen Wolle und gaben sie an Handwerker weiter, die zu Hause arbeiteten: einige kämmten und spannen, einige webten, andere färbten, und wieder andere verpackten. Sie alle waren abhängig von einer einzigen Person, dem Finanzier, der auch das fertige Produkt verkaufte. Die verschiedenen Gilden erhoben natürlich starke Einwände gegen diese Unternehmen, die durch ihre neuen und äußerst effizienten Produktionsmethoden gefährliche Konkurrenten waren. Sie fochten für ihr per Charta zugesichertes Recht, ihr Handwerk in der Stadt zu monopolisieren, und betonten immer wieder, wie ruinös es für den Handel sei, wenn die Gilde die Kontrolle verliere. Wenn neue Firmen den Handel auf­nehmen wollten, mußten sie sich deshalb außerhalb Londons oder in anderen Städten niederlassen. Ermutigt durch den Erfolg des Bekleidungsgeschäfts entstand eine Reihe neuer Unternehmen, und es wuchsen Städte, wo es bisher nur Dörfer gab. Wenn der König den Firmen neue Konzessionen zusicherte, bemühten diese sich stets um größten Handlungsspielraum. Den Kunsttischlern wurde 1571 eine Charta ausgestellt, die ihren Handel auf einen Umkreis von zwei Meilen begrenzte. Die Schmiede erhielten im selben Jahr eine Charta über vier Meilen außerhalb der Stadt und ihrer Vororte. In den folgenden Chartas lag der Handelskreis immer zwischen vier und fünf Meilen, was deutlich das Wachstum Londons zeigt. Zur selben Zeit verloren viele der niederen Handwerker ihre Position und wurden zu reinen Arbeitern. Weil auch auf dem Lande große Veränderungen stattgefunden hatten, strömten, angezogen von zahlreichen neuen Arbeitsmöglichkeiten, Mengen von Menschen vom Land in die Stadt. Im Mittelalter waren die Bauern Leibeigene. Sie durften als Gegenleistung für ihre Arbeitskraft in einem Haus leben und sich an den Früchten des Landes erfreuen, welche jedoch nicht ihr Eigentum waren. Ihre Arbeit wurde weder bar bezahlt noch war ihnen erlaubt, irgendwo anders hinzuziehen, auch wenn sie glaubten, dort besser leben zu können. Als aber die große Pest Mitte des 14. Jahrhunderts die Bevölkerung Englands deutlich reduziert hatte – wahrscheinlich 53

Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

um 50 Prozent –, wurde Arbeitskraft wertvoll, und viele Herren waren gewillt zu zahlen – gut zu bezahlen –, um die Bearbeitung ihrer Ländereien aufrechterhalten zu können. Die Landarbeiter, die für Jahrhunderte am Fuße der Leiter gestanden hatten, wurden sich ihres Wertes bewußt. Die Folge waren Bauernaufstände, in deren Folge die Organisation der Arbeit im Laufe der Zeit vollständig umstrukturiert wurde. Die Leibeigenschaft wurde abgeschafft. Einige Landarbeiter entzogen sich einfach ihren alten Pflichten, viele jedoch kauften sich frei und wurden zu Pächtern. Anfang des 16. Jahrhunderts war nur noch ein Prozent der Bevölkerung an die Lehnsherrschaft gebunden. Gegen Ende des Jahrhunderts war diese so gut wie verschwunden, und die Bauern konnten sich nun als freie Menschen bewegen. Doch gleichzeitig waren auch die Herren unabhängiger geworden. Sie besaßen keine Leibeigenen mehr, für die sie lebenslänglich Sorge tragen mußten. Natürlich konnten sie die Pächter nicht einfach nach Belieben vertreiben – einige waren absolut nicht fortzubewegen und besaßen auf ihr Land Erbrecht. Größtenteils waren die Pachtverträge ‚für drei Leben‘ (wie man zu sagen pflegte) gültig und nur wenige auf Jahre festgesetzt. Es erwies sich als vorteilhaft, große Teile der Grundstücke in ihrer Gesamtheit zu verwalten, und so wurden viele Pachten zusammengeschlossen. Auch in diesem Fall spielte die Entwicklung des Wollhandels eine entscheidende Rolle. Für Wolle wurden hohe Preise gezahlt, und um Schafweiden zu unterhalten, bedurfte es eines geringeren Aufwands als zur Kultivierung von Ackerland. Früher war es Inhalt der Landwirtschaft gewesen, die Einwohner mit Produkten für das tägliche Leben zu versorgen; die neue Wirtschaft zeigte sich effizienter: Sie produzierte jene Artikel, die den größten Profit erbrachten. Demzufolge wanderten viele Arbeiter in hoffnungsloser Suche nach Beschäftigung umher. Sie gingen in die Städte, wo durch ein großes Angebot an Arbeitskräften die Löhne sanken. Mit der schwierigen Lage des Geldmarktes verschlechterten sich die Umstände zusehends. Durch den Zufluß von Gold sank der Wert des Geldes im Laufe des gesamten Jahrhunderts beachtlich. Niemand konnte den Grund benennen, aber jeder stellte mit Bestürzung fest, wie die Lebenskosten stiegen. Seit Jahrhunderten hatte es einen so enormen Preisanstieg nicht mehr gegeben. Man betrachtete dies als ein Desaster, und es mußte Abhilfe geleistet werden. Eine Erleichterung verschaffte der Versuch, Preise festzulegen, vornehmlich den Preis für die Arbeitskraft. Dies half allerdings nur bedingt und war hart für die Klasse der Lohnarbeiter. Zur Zeit Königin Elisabeths [1558–1603] wurden Arbeiter nicht besser bezahlt 54

Zunahme des Proletariats

als Ende des 15. Jahrhunderts, und zugleich hatte sich der Preis für Nahrungsmittel verdreifacht! In den Städten, besonders in London, herrschte größere Armut als je zuvor. Außerdem waren unter Henry VIII. sämtliche Klöster aufgelöst worden, und die Mönche, die ehemals den Armen geholfen hatten, wurden nun selbst zu solchen. Nun besaß London ein großes Proletariat, das, wo es nur konnte, Platz zum Leben suchte. Im Gegensatz zu früher gab es eine Vielzahl von Untermietern und viele Leute zogen in die Vororte, wo sie in elenden Katen wohnten. Die alten Gilden und Gesellschaften blickten auf diese Entwicklung mit großem Unbehagen. Mehr und mehr Arbeit entging ihnen und wurde von unqualifizierten Arbeitern oder Fremden geleistet, die außerhalb der Stadtmauern lebten. Zur selben Zeit wurde die City wie nie zuvor von Bettlern und Vagabunden heimgesucht. Dieser Zustand bewegte Königin Elisabeth, 1580 eine Proklamation herauszugeben. Darin heißt es: „Ihre königliche Majestät nimmt den Zustand der Stadt London (die vordem zu ihrer Heimstatt erklärt wurde), ihrer Vorstädte und Begrenzungen unter der täglichen Zunahme von Menschen, die in solcher Fülle in der Stadt wohnen, zur Kenntnis (die Umstände sind ihr bekannt); hieraus sind schon jetzt viele Unannehmlichkeiten entstanden, denen viele Notwendigkeiten folgen müssen, die Ihre Majestät, die größte Sorge unter dem allmächtigen Gott tragend, nicht vernachlässigen kann, und sie weiß, daß Ihre Untertanen in solch einer Stadt nicht nur durch gewöhnliche Justiz gut regiert sind, um Gott zu dienen und die Befehle ihrer Majestät auszuführen (durch die in letzter Zeit erwachsenen Gründe ist das Erlassen von weiteren neuen Gesetzen und der Einsatz von ausführenden Beamten unerläßlich geworden), sondern daß ohne die Versorgung mit Lebensmitteln und anderen Unentbehrlichkeiten zu vernünftigen Preisen keine Stadt lange überleben kann. – Schließlich scheint es, daß die Gesundheit Ihrer Untertanen unmöglich erhalten werden kann, obwohl dieselbe gegenwärtig durch Gottes Gnade in besserer Verfassung scheint als je zuvor in der Geschichte; doch wenn jetzt so viele Menschen, von denen ein großer Teil sehr arm ist und von Betteln oder Schlimmeren leben muß, zusammengepfercht in kleinen Räumen und in erstickender Art mit vielen Familien, Kindern und Dienern in einem Haus oder einer kleinen Mietwohnung hausen, bedarf es dringender Eingriffe, damit nicht Elend oder Krankheit unter jenen Menschen auftritt. Diese würden sich nicht nur ausweiten und die gesamte Stadt befallen, sondern auch großes Sterben nach sich ziehen. Die persönliche Präsenz Ihrer Majestät ist vielfach vonnöten, da sich in gegenwärtiger Rechtslage die Infektion 55

Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

bei einem so großen Zufluß von Menschen auch in andere Teile des Königreiches ausweiten und damit eine Gefahr für das gesamte Reich darstellen würde …“ Nach dieser drastischen Beschreibung der schlechten Wohnlage wird von der Königin erklärt, daß „Ihre Majestät mit guten und besonnenen Empfehlungen Ihres Rates, der Meinung des Bürgermeisters, der Ratsherren und anderer ehrenwerter weiser Männer, allen Personen jeglicher Herkunft befiehlt, in und um die City weder neue Mietshäuser noch Gebäude jeglicher Art innerhalb von drei Meilen zu einem der Tore Londons zu bauen oder neue Wohnungen und Unterkünfte zur Verfügung zu stellen, wo kein früheres Gebäude stand; untersagt ist weiterhin das Vermieten an und das Niederlassen oder Dulden von mehr als der einen dort lebenden Familie.“ Der Bürgermeister und der Rat wurden angehalten, diese Anweisungen durchzusetzen, und Menschen, die diese Regeln mißachten, mit Gefängnis oder Bußgeld zu bestrafen. Beschlagnahmtes falle der City zu. Auch „Zuwiderhandlungen bezüglich der Auf­nahme neuer Bewohner, allgemein als Insassen oder Untermieter bekannt, welche trotz aller guten alten Gesetze und Bräuche der Stadt, Gemeinden und Kreise in den vergangenen sieben Jahren erduldet wurden“, werden bestraft. „Diese Untermieter oder Insassen mögen sich selbst neue Plätze im weiten Königreich schaffen, wo viele Häuser unbewohnt stehen und zum Verfall vieler traditioneller Gemeinden und Dörfer beitragen.“ Werner Hegemann betont in seinem Bericht über die Entwicklung Londo 1 die Wichtigkeit dieser außergewöhnlichen Proklamation. Seiner Meinung nach ist sie das Ergebnis einer sehr vorausschauenden Stadtplanungspolitik, und dies zu einer Zeit, in der diese Fragen in anderen Ländern vollständig ignoriert wurden. Er bezeichnet sie als Beginn jener zukünftigen Ausbreitung der Stadt, die für London von so großem Vorteil sein sollte. Zu diesem Schluß kommt er durch seine Interpretation: Mit dem Verbot, innerhalb von drei Meilen vor den Toren der Stadt zu bauen, wird ein breiter landwirtschaftlicher Gürtel um die Stadt angelegt und zugleich neues Bauland außerhalb dieses Freiraumes entstehen. Liest man die Proklamation so, dann ist sie, mit Blick auf die Gartenstadt­ideen späterer Jahre, sicherlich ihrer Zeit voraus. Jedoch zeigt sich, daß diese Interpretation nicht aufrechterhalten werden kann. Die verschiedenen Teile der Proklamation – besonders im Vergleich zu anderen legislativen Maßnahmen jener Zeit – zeugen von ganz anderen Zielen. Diese Proklamation, vom Parlament im Jahre 1592 zu einem Gesetz gemacht, war nur eines von vielen Gliedern in einer Kette von Gesetzen, die ein Heilmittel gegen 56

Elisabeths Proklamation 1580

das durch den wirtschaftlichen Wandel entstandene Übel sein sollten. Es wurde angenommen, daß Eingriffe der Regierung die natürliche Entwicklung behindern könnten. Charakteristisch für diese elisabethanischen Erlasse ist, daß sie, zum Wohle der Allgemeinheit ausgegeben, durchaus sehr profitabel für die Oberschichten waren, ganz besonders für die wohlhabenden Kaufleute und die Meisterhandwerker Londons. Dies basierte wahrscheinlich darauf, daß die Regierung des Reiches wirtschaftlich von London abhängig war, und London hieß für Elisabeth die Regierung der City, namentlich die reichen Handwerker, die als Bürgermeister und Stadträte regierten. Aus der Proklamation ersehen wir, daß sie auf deren Rat erlassen wurde. Ihre Verantwortung gegenüber den Bürgern war ihnen zweifellos bewußt, warum sie die Proklamation mit Anmerkungen über die Wohltätigkeit der neuen Regeln ausstatteten. Aus ihrer Sicht wurde die Stadt durch den Zustrom vom Lande von einer Welle des Proletariats überflutet. Dieser furchtbare Zustand hätte sehr zum Schaden der alten Handwerks­tradition von skrupellosen Händlern ausgenutzt werden können. Darüber hinaus war es für die armen Teufel selbst sehr schwer, unter diesen entsetzlichen Bedingungen zu leben. Es mußte etwas getan werden. Der Mob sollte dahin zurückgeschickt werden, woher er kam, statt die Londoner Häuser ‚zu verpesten‘ – zurück in die Städte mit den leeren Häusern. Daß er hinausziehen und eine Konkurrenz zur Stadt in einem Abstand von drei Meilen werden würde, war natürlich niemals beabsichtigt. Wenn es das Ziel gewesen wäre, hätte man es so formuliert, statt nahe­ zulegen, in andere Städte zu gehen. In seiner Ausführung über die Entwicklung von Paris erwähnt Werner Hegemann eine Proklamation Henrys II., die 1548, und damit über 30 Jahre vor derjenigen Elisabeths, erlassen worden war. Diese betont – Hegemann zufolge – ebenfalls den Horror und die Unsittlichkeit der großen Städte sowie die Gefahr von Wachstum und Landflucht. Die Proklamation unterstützt eindeutig die Pariser Meister­handwerker, deren Lehrlinge noch vor Beendigung ihrer Lehrzeit in die stark wachsenden Vororte abwanderten, um dort ihre Werkstätten zu eröffnen und somit nicht der Kontrolle ihrer Meister ausgesetzt zu sein. Als Schlußfolgerung dieser sozialen und wirtschaftlichen Argumentation verbietet die Proklamation ausdrücklich den Bau jeglichen Gebäudes außerhalb der Stadtmauern von Paris. Solche Anstrengungen, Gesellen zu binden, sind auch aus den Verordnungen Londons hinreichend bekannt. Die Verhältnisse in den beiden Metropolen sind so ähnlich, daß das Verbot gegen den 57

Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

Neubau von Gebäuden, etwa zur gleichen Zeit herausgegeben, auf vergleichbare Gründe bezogen werden darf. Die englische Proklamation hat eine Eigenheit, nämlich ihr offensichtliches Interesse an häuslicher Hygiene. Sicherlich ist es nach der Beschreibung des Übels, das durch das Zusammenleben mehrerer Familien in einem Haus verursacht wird, nicht sehr logisch, den Bau von neuen Gebäuden zu verbieten! Das Mittel ist falsch, aber das Ziel – jeder Familie ihr eigenes Haus – ist richtig; und es ist erstaunlich, diese Auffassung schon im 16. Jahrhundert so klar formuliert zu sehen. Bis ins 19. Jahrhundert war die Wichtigkeit dieser Frage den Menschen auf dem Kontinent nicht aufgegangen. Als nach der Erfindung der Dampfmaschine die Industrialisierung Massen von Menschen in die Städte des Kontinents zog, fanden diese Obdach, so gut es ging. Auch war das Ergebnis – exakt wie im elisabethanischen London – eine schreckliche Fülle von Menschen, nur diesmal in viel schlimmerem Maße. Niemand sah, wie fatal dies war. Im Gegensatz zu London entstand das Wohnungssystem als Abhilfe für Immigranten, auf die niemand vorbereitet war, eher zufällig, verbreitete sich und wurde durch Gebäudeverordnungen als allgemeines Wohnen anerkannt. Die starke und gesunde Reaktion auf die Überfüllung muß tief in der englischen Bevölkerung verwurzelt gewesen sein, sonst wäre sie nicht in einer solcher Weise in der Proklamation formuliert worden. Elisabethanische Erlasse und Verordnungen haben ihre eigene Note. Sie sind nicht Befehle eines absolutistischen Monarchen, sondern vielmehr wohlbedachte Ratschläge und Ermahnungen eines umsichtigen und bedachten Verwalters; stets voller Vernunft und Menschenverstand und geschrieben, um gewöhnlichen Leuten verständlich zu machen, daß die Gesetze zu ihrem Vorteil verabschiedet wurden. Auch wenn die tatsächlichen Verordnungen vielfach Wünsche der Oberschichten zum Ausdruck bringen, sind die begleitenden Erklärungen im allgemeinen für die Bürger bestimmt. Die Anmerkungen über das Wohnen müssen demzufolge als wahrer Ausdruck aktueller Ideen jener Zeit verstanden werden. Durchschnitts­engländer sind eher konservativ in ihren Ansichten, und sie sind stets dagegen gewesen, anders als in den guten alten Tagen zu leben. So haben sie vom Mittelalter bis heute nie aufgehört, in Einfamilienhäusern zu leben. Genau das macht die Proklamation heute für uns so interessant, denn schon an der Wortwahl können wir sehen, daß bereits zur Zeit Königin Elisabeths die Engländer eindeutig das Einfamilienhaus bevorzugten. 58

Jeder Familie ein eigenes Haus

Natürlich war es eine hoffnungslose Aufgabe, dem Wachstum der City Einhalt zu gebieten. Wir müssen aufhören, darin irgendeinen sozialen Gewinn zu sehen. Was die Stadt rettet, ist in erster Linie die Aversion der Bürger gegen Überfüllung und ihr konservatives Festhalten an der mittelalterlichen Wohnform. Dies erwies sich als die bessere Basis für eine gesunde Entwicklung der Stadt als detaillierte Gebäudeverordnungen und andere Erlasse, die während der letzten Jahrhunderte die Wohnverhältnisse in den großen Städten des Kontinents bestimmt haben. Neben anderen Beispielen der Gesetz­ gebung jener Tage ist das Gesetz gegen Bau und Unterhaltung von Häusern von 1588 einer Bemerkung wert. Es trifft nicht auf sogenannte vereinnahmte Städte zu, und deshalb auch nicht auf London – aber es paßt zur Situation der Umgebung Londons. Es heißt darin: „Zur Vermeidung großer Unannehmlichkeiten, die der Erfahrung nach aufgrund des Errichtens von täglich mehr und mehr Gebäuden im ganzen Reich entstehen: bestimmt Ihre Majestät die Queen … (und das Parlament) …, daß nach der heutigen Parlamentssitzung keine Person im Königreich England mehr bauen oder den Bau oder die Errichtung irgendeiner Kate zum Wohnen oder zum Hausen bewirken soll. Auch soll kein Gebäude zum Wohnen oder zur Behausung umgebaut werden, es sei denn, diese Person verfügt über Land von mindestens vier Acres [Morgen] zu diesem Gebäude. Zudem muß sie gemäß dem Status und der Ordnung De tris mensurandis dafür Sorge tragen, daß es sich um eigenen Grund handelt, das Erbe bei der besagten Kate liegt und die Behausung kontinuierlich belegt ist.“ Dieser Erlaß ist offensichtlich ein Versuch, schlechtes Bauen und ungesunde Häuser zu vermeiden. Es ist reizvoll, ihn als Muster für Bauvorschriften zu deuten und ein wahres Gesetz für Engländer, die um den Erhalt ihrer Unabhängigkeit besorgt sind. In anderen Ländern nahmen Bauvorschriften die Fülle von Menschen in den Städten als unvermeidlich an und versuchten lediglich, das schlimmste Übel mit Hilfe von allerlei Gesetzen über technische Details zu bekämpfen. Doch das englische Gesetz von 1588 trifft den Kern: Es verbietet einfach diese Dichte und fordert bestimmte angrenzende Freiflächen zu jedem Haus. Das ist die richtige Maßnahme, denn wenn alle Gebäude von genügend freiem Raum umgeben wären, dann wären die technischen Details bezüglich der Hygiene weniger wichtig. Und gäbe es diesen Freiraum nicht, dann würden auch die härtesten und detailliertesten Vorgaben wenig nutzen. Aber eine nähere Betrachtung des Gesetzes von 1588 zeigt, daß es doch weniger vollkommen ist, als es zunächst scheint. Das geforderte Stück Land, welches „besiedelt und gedüngt“ 59

Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

werden muß, solange das Haus bewohnt ist, ist auf vier Acres festgelegt; eine absolut absurde Größe für ein kleines Haus. Wie schon erwähnt, waren ganze Städte für die Menschen entstanden, die in der wachsenden Wollindustrie arbeiteten und aufgrund der den Gilden zugestandenen Rechte außerhalb der alten Städte leben mußten. Diese mittellosen Arbeiter lebten in kleinen Katen und konnten sich weder leisten, vier Acres zu bewirtschaften, noch benötigten sie diese Fläche. Falls es machbar gewesen wäre, das Gesetz von 1588 durchzusetzen, wären Siedlungen außerhalb der alten Städte nicht möglich gewesen, und es hätte die Entwicklung neuer, nicht privilegierter Unternehmen gebremst. Es war nicht vorrangiges Ziel des Gesetzes, hygienischen Wohnraum für die Armen zu schaffen, sondern vielmehr die Unterkünfte der gesamten Bevölkerung zu beschränken, um unangenehme Konkurrenz zu vermeiden. Allein den Wohlhabenden, die keine Gefahr für die privilegierten Gewerke darstellten, war es gestattet, sich nach Belieben niederzulassen. Um das Gesetz zu besiegeln, wurde Folgendes ergänzt: „Es sei auch verfügt, daß ab dem nächsten Allerheiligen nicht mehr Bewohner als eine einzige Familie in einer bestehenden oder zu errichtenden Kate leben sollte …“ Die Auswirkungen der Proklamation von 1580 sind im einzelnen schwer nachzuvollziehen, aber es ist sicher, daß sie das Wachstum Londons nicht erfolgreich regulieren konnte. Zwar wurde der Bau neuer Gebäude in gewissem Maße begrenzt, aber aus einem Brief des Hofstabes an den Bürgermeister von London im April 1583 weiß man, daß der Erlaß nachlässig umgesetzt und eine Menge neuer Gebäude errichtet wurde. Es wird angesprochen, daß Maßnahmen gegen die Eigentümer ergriffen werden müßten. Die im selben Monat formulierte Antwort des Bürgermeisters kündigt Nachforschungen nach der Rechtmäßigkeit der Gebäude an; aber es erwies sich als schwierig, die Situation und Entwicklung der Dinge zu untersuchen. 1592 – also zwölf Jahre später – wurde die Frage erneut aufgeworfen. Diesmal stand sie im Parlament zur Diskussion, und ein Gesetz gegen den Neubau von Gebäuden wurde verabschiedet. Es basierte auf der Proklamation und begann wie folgt: „Durch die täglich zunehmende Zusammendrängung vieler Familien und Mieter, das Zerteilen großer Häuser in viele Wohneinheiten und den Neubau von Gebäuden in der City of London, Westminster und anderen nahe gelegenen Orten ist eine Vielzahl ansteckender Krankheiten aufgetaucht, und es ist ein Mangel an Lebensmitteln und Brennstoffen entstanden. Und viele Landstreicher und zweifelhafte Personen haben sich hier niedergelassen, während es an vielen abgelegenen Orten im Königreich an 60

Um 1592: Ein Gesetz gegen Neubau

Arbeitskraft und Einwohnern mangelt. Aufgrund dieser Unannehmlichkeiten sei kraft der Autorität dieses Parlaments angeordnet, daß keine Person oder Personen, von welchem Besitzstand oder Status auch immer, von nun an neue Gebäude, Häuser oder Behausungen in einer der genannten Städte (London und Westminster) oder im Abstand von drei Meilen zu einem der Tore errichten darf …“ Dieses Gesetz richtete sich, wie die meisten anderen auch, insbesondere gegen die unteren Schichten. Einer wohlhabenden Person wurde selbstverständlich stets gestattet, inner- oder außerhalb Londons ein Haus zu errichten, denn zu jener Zeit wurden strenge Verbote ausgesprochen, um gegen gute Bezahlung Ausnahmen zu gewähren. (Die Krone brauchte immer Geld, und es war Teil von Elisabeths Politik, von Unternehmen erwünschte Beschränkungen festzulegen, um später jenen Personen bestimmte königliche Privilegien zu garantieren, die diesen Unternehmen nicht angehörten. Stets gegen ansehnliche Summen.) Das Gesetz besagt weiterhin: „Und folgend sei angeordnet, daß keine Person oder Personen, von welchem Besitzstand oder Status auch immer, zukünftig in den benannten Städten und Orten irgendein bestehendes oder noch zu errichtendes Gebäude zu Mehrfamilienhäusern umwandeln oder zerteilen darf; oder aber jedes Haus, das man in dieser Weise zerteilt, wird mit fünf Pfund in Gütern oder drei Pfund in Land als Tribut an Ihre Majestät besteuert …“ Zur selben Zeit wurde das Verbot der Untermiete mit den folgenden Worten erneuert: „Und es sei durch die zuvor genannte Autorität angeordnet, in keiner Wohnung oder Behausung in den benannten Städten und Orten ab dem Zeitpunkt von 20 Tagen nach dieser Parlamentssitzung unter Androhung von Strafe Untermieter aufzunehmen …“ Dies bedeutet, daß es zur Zeit Elisabeths strafbar war, Untermiete zu gewähren! Das Gesetz enthält außerdem einige wichtige Regelungen zur Hygiene. Sie beziehen sich auf Freiräume für Erholung und Sport, aber davon mehr in einem anderen Kapitel. Das Gesetz galt sieben Jahre, wurde aber später erneuert. Unter Elisabeth und ihren Nachfolgern wurden 1602, 1603, 1604, 1607 und 1615 Proklamationen ähnlichen Inhalts veröffentlicht. Und James I., der sich beständig in finanziellen Schwierigkeiten befand, bediente sich stets dieser Proklamationen, um seinen Untertanen Geld abzupressen. Abermals und mit Nachdruck verkündete man, daß Neubauten ausschließlich auf alten Fundamenten gestattet waren. Wurde ein Gebäude an einem Ort errichtet, für dessen frühere Bebauung eine lebende Person Zeuge war, konnte kein Einspruch erhoben werden. Der König erhielt vom Besitzer nicht mehr als eine kleine 61

Versuche, das Wachstum Londons zu verstehen

Strafgebühr. Für einige Gebäude wurde der Abriß angeordnet, aber es ist mindestens ein Fall bekannt, bei dem dies verhindert werden konnte, weil die Kirchengemeinde erklärte, daß das Gebäude auf alten Fundamenten errichtet worden war. Die englischen Einschränkungen zum Bau neuer Häuser außerhalb Londons erinnern – wie wir schon gesehen haben – an vergleichbare französische Beschränkungen für Paris. Aber in einem Punkt stimmen sie nicht überein. Während der absolutistische französische König die Grenzen der Stadt festlegte, erlaubte die Gesetzgebung in England Neubauten nur, wo bereits etwas bestand. Das erste Konzept beruht auf einer abstrakten Idee der richtigen Form einer Stadt, das andere legalisierte einfach die Entwicklung. Dies zeigt ganz deutlich die gesetzlichen Auffassungen der beiden Länder. Englisches Recht stützt sich immer auf Präzedenzfälle und Erfahrungen, weshalb die Gesetze kein zusammenhängendes logisches System bilden, sondern aus dem Leben der Menschen entstanden sind. Sogar das Parlament des Commonwealth verabschiedete noch ein Gesetz darüber, die Zunahme von Gebäuden inner- und außerhalb der Vororte Londons in einem Radius von zehn Meilen(!) von der City zu verhindern. Man versuchte, unnötiges Bauen mit Geldstrafen in Höhe einer Jahresmiete abzuwenden, allerdings nur, sofern das Gebäude auf neuen Fundamenten oder mit weniger als vier Acres umgebenden Landes entstand. 1 Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung II, Berlin (Wasmuth), 1911–1913, Seite 280ff

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5 Die Entstehung von Erholungsgebieten

Der Ausdruck Sport ist in viele Sprachen übernommen worden. Aber seine Bedeutung hat sich im Verständnis der Menschen verändert. Auf dem Kontinent steht das Wort ‚Sport‘ vor allem für physische Kultur, und der Fremde stellt mit Erstaunen fest, daß in England der Grundgedanke ebenso geistiger wie körperlicher Natur ist. Trefflich wird der Unterschied durch die Zeitungen verdeutlicht: Deutsche Reklamen erläutern, wie man kräftig wird, die englischen hingegen, wie man sich fit hält. Der altmodische Mann auf dem Kontinent möchte eine extrem ausgebildete Brust, um andere Menschen zu beeindrucken, und massige Muskeln, um sich zu verteidigen. Er hat nicht verstanden, daß er an Aktivität verliert, was er an Stärke aufbaut, so daß ein schwerfälliger Goliath von einem agilen David besiegt werden kann. Am Anfang wird er nicht nachvollziehen können, daß das Wort Sport in England nicht nur in Verbindung mit Zeitvertreib und Spielen, die den Körper stählen, gebraucht werden darf, sondern auch mit Schach, Bridge und Poker. Später wird er die Weisheit dieser englischen Auffassung erkennen und darin viele Fakten der Geschichte begründet finden. Das wird zum Beispiel an der Veränderung der englischen Städte deutlich. Die kontinentale Modellstadt war eine stark befestigte Stadt, einem regelmäßigen Plan entsprechend konzipiert und beeindruckend anzuschauen, ebenso stark und imposant wie ein Krieger in Rüstung und gleichermaßen klobig. Die Befestigungsanlagen waren wie ein steifer Brustpanzer, der den ganzen Körper beeinträchtigte. Während die kontinentalen Städte darunter litten – und immer noch leiden –, ernsthaft überbevölkert zu sein, entwickelte sich die englische Hauptstadt ohne künstliche Einschränkungen (aber auch ohne jeglichen Plan) in alle Richtungen, nicht stark und imposant, aber stabil und gesund. Die Einwohner waren ‚good sports‘ [gute Spieler, Genießer], lebendig und fortwährend in aufregende Abenteuer und Unternehmungen verwickelt. Der Name Merchant Adventurers [Kaufmannsabenteurer], könnte als generelle Charakterisierung der Einwohner Londons verwendet werden. 63

Die Entstehung von Erholungsgebieten

Moorfields ‚Die großen Sumpf- oder Moorfelder‘ (Ralph Agas, um 1580)

Sport ist immer ein wichtiger Teil des Londoner Lebens; die Einwohner betrachten die Benutzung der Sporteinrichtungen als Grundrecht, das ihnen nicht entzogen werden kann. Die Geschichte zeigt uns immer und immer wieder, wie sie dieses Recht verteidigt haben. Das Ergebnis ist bemerkenswert. Besonders im 17. Jahrhundert, als in anderen Ländern viele öffentliche Flächen für die Bürger gesperrt wurden, um stattliche königliche Gärten anzulegen, war London nicht nur darin erfolgreich, seine alten Erholungsstätten zu erhalten; der König wurde darüber hinaus überzeugt, sie zu erweitern und königliche Gärten und Jagdfelder in Vergnügungsstätten und Sportplätze umzuwandeln. Bereits im zwölften Jahrhundert finden wir ein detailliertes Kapitel über ‚Sport und Zeitvertreib‘ in Fitz-Stephens Beschreibung von London. „Weil wir doch alle mal Kinder waren“, beginnt er mit dem Sport der Kinder. Jedes Jahr am Fastnachtsdienstag „vergnügen sich die Schuljungen den ganzen Vormittag mit Hahnenkämpfen: Nach dem Abendessen geht die Jugend auf die Wiesen, um Ball zu spielen. Die Gelehrten jeder Schule haben ihren Ball oder Schlagstock in den Händen; die alten und wohl­ habenden Männer der Stadt reiten herbei, um den jungen Leuten beim Sport zuzusehen und um sich daran zu erfreuen, wie sie ihre Beweglichkeit schulen. Jeden Freitag in der Fastenzeit galoppiert eine lebendige Gesellschaft junger Männer, vom besten Reiter angeführt, auf die Felder. Dann treten die Bürgersöhne mit Lanzen und Schilden hervor und üben sich in Kriegsszenen. Auch viele Höflinge und Edel­ männer nehmen an diesen Übungen teil; und während Siegeshoffnung in ihren 64

Spiele im 12. Jahrhundert

Köpfen entbrennt, zeigt sich ihre Fähigkeit für Kriegseinsätze.“ Fitz-Stephen erzählt uns auch, daß „sich die Jugend in den Sommerferien im Springen, Tanzen, Schießen, Kämpfen, Steinwerfen und Verteidigen übt“. Er berichtet über den Wintersport: „Wenn das große Sumpf- oder Moorland, welches auf der Nordseite an die Stadtmauer grenzt, gefroren ist, spielen viele junge Männer auf dem Eis; einige rutschen so weit und schnell wie möglich; andere bauen sich Sitze aus Eis, groß wie Mühlsteine; einer setzt sich und mehrere ziehen ihn Hand in Hand, bis einer ausrutscht und alle fallen; manche binden sich Knochen unter Füße und Fersen und gleiten, sich selbst mit einem Stock über das Eis schiebend, flink wie ein Vogel in der Luft oder wie der Pfeil einer Armbrust dahin.“ Ringkampf war ein beliebter Sport im Mittelalter, und selbst der König war sich nicht zu fein, die Wettkämpfe unter seine Schirmherrschaft zu nehmen. Am St. James‘und St. Bartholomäus-Tag fanden besondere Spiele auf den St. Giles Fields statt. Später wurden sie nach Clerkenwell verlegt. Oft waren der Bürgermeister und seine Sheriffs bei diesen Veranstaltungen zugegen. Aber nach und nach gerieten diese Spiele in einen schlechten Ruf, denn oft verursachten sie ernsthafte Störungen. Damals wie heute zeigte man bei solchen Veranstaltungen viel Lokalpatriotismus, und gelegentlich gab es heftigen Streit unter den Zuschauern. Die Parteien repräsentierten natürlich Westminster und London. Es wird berichtet, daß sich die Männer von Westminster bei einem Ringkampf heimtückisch bewaffneten und die unbewaffneten Londoner angriffen. Diese waren gezwungen, Schutz innerhalb der Stadtmauern zu suchen, und rächten sich im nachhinein, indem sie das Haus des Abtes niederrissen. Solch bedauerliche Vorfälle kamen auch bei anderen Ereignissen vor. Im Jahre 1253 „trainierte die Jugend, für den Lauf um den Quintaner … Einige Diener des Königs kamen zu dem Spiel, da das Feld in der Nähe von Westminster gelegen war, obwohl es sich um eine Aktivität der Bürger handelte, und beschimpften die Londoner wüst. Sie hätten aufgrund alter Privilegien und zur Ehre der Stadt als Barone betitelt werden müssen und konnten die Beleidigungen nicht ertragen, fielen über die Diener des Königs her und verprügelten sie derb.“ Die Diener beklagten sich beim König, worauf Henry III., der – wie wir gesehen haben – stets in Geldnöten steckte, die Gelegenheit nutzte und die Bürger zu einer Strafe von 1.000 Mark verurteilte. Kampfübungen waren in dieser Stadt, deren Ratsherren zu Kriegszeiten als Offiziere auftraten und deren Einwohner sich, wenn sie benötigt wurden, unter der 65

Die Entstehung von Erholungsgebieten

Standarte vereinigten, üblich. Die Könige versuchten, sie soweit wie möglich zu bestärken und taten, was in ihrer Macht stand, um sie zu motivieren, denn es war in ihrem Interesse, aus den Bürgern gute Soldaten zu machen. Das ging so weit, daß Edward III. seinen Sheriffs in London einen Brief mit folgendem Inhalte sandte: „Der König an die Sheriffs von London zum Gruße. Da die Menschen aus unserem Königreich, gut und minder konditioniert, die Kunst des Bogenschießens vor heutiger Zeit üblicherweise zu ihrer Ertüchtigung geübt haben, ist unser Land bekanntlich zu Ehre und Profit gelangt und wir, mit Gottes Beistand, zu unseren mannhaften Taten. Und nun, nachdem sie die besagte Kunst völlig beiseite gelegt haben, vergnügen sich dieselben Leute beim Schleudern von Steinen, Holz und Eisen; manche bei Handball, Fußball, Bandyball [dem Eishockey ähnliches Spiel], bei Cambuck [vermutlich auch Cammock; ebenfalls dem Eishockey ähnlich] und Hahnenkampf; andere geben sich betrügerischen Spielen hin, weniger sinnvoll und nützlich, wobei dem besagten Königreich droht, in kurzer Zeit an Bogenschützen zu ermangeln: Wir, die wir gewillt sind, geeignete Abhilfe zu schaffen, befehlen Euch, an Orten in der benannten Stadt, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen, an zweckmäßiger Stelle für öffentliche Bekanntmachung zu sorgen, daß jeder körperlich Tüchtige in seiner Freizeit an Feiertagen Pfeil und Bogen, Knüppel und Kugel zu seiner Erholung nutzen und die Kunst des Schießens üben solle. Verboten sei unter Androhung von Haft, daß sie sich zum Werfen von Steinen, Holz, Eisen, Handbällen, Fußbällen, Bandyball, Cambuck und Hahnenkampf oder ähnlichen törichten Spielen, die keinem nutzen, hinreißen lassen oder sich damit beschäftigen.“ Selbst der König schaffte es kaum, „die törichten Spiele“ mit diesen harten Bestimmungen zu ersticken. Stow schreibt (gegen Ende des 16. Jh.s): „Der Ball wird von Adligen und Ehrenmännern auf dem Tennisplatz und von den Untertanen auf offenen Feldern und Straßen verwendet“; Stow verschwendet aber kein weiteres Worte über diese Art von Sport, sondern schreibt über Turniere und Bootfahren. Die Bürger Londons, die – wie wir wissen – eine Vielzahl besonderer Privilegien genossen, hatten ebenfalls das Recht, Wild in Middlesex, Hertfordshire, den Chiltern und großen Teilen von Kent zu erlegen. Hier jagten sie mit Falken und Hunden. Wenn sie es nicht häufig taten, berichtet ein alter Historiker, dann kaum aus Mangel an Interesse, sondern schlicht weil ihnen die Zeit fehlte. 66

Königlicher Erlaß gegen törichte Spiele

Die am Sport Beteiligten konnte man in drei Gruppen unterteilen: Höflinge aus Westminster, Studenten der Inns of Court [der Londoner Rechtsschulen] und junge Männer aus der City. Jede dieser Gruppen hatte ihre eigene Spielfläche, die aktiv gepflegt und für die kommenden Jahrhunderte als Freiflächen bewahrt wurde. Mit dem minderwertigsten Platz mußte sich selbstverständlich die Jugend zufrieden geben. Bis zur Reformation war London fast vollständig von den großen Besitz­t ümern der Klöster umgeben, die um die ganze Stadt herum Land erworben hatten. Der einzige Freiraum, der den Einwohnern für ihren Sport offen stand, war „das große Sumpf- oder Moorfeld“, wo Fitz-Stephen sie beim Eislaufen beobachtete. Diese ‚Moorfields‘ waren ursprünglich überschwemmtes Gebiet, städtische Müllhalde – und entsprechend unattraktiv. Nach und nach wurde das Areal angehoben, und man unternahm Versuche zur Trockenlegung: „So wurde dieses Sumpf- oder Moorland in seinem ganzen Ausmaß zu festem Grund und Boden gemacht, welcher in seinem zuvor von Büschen, Sträuchern und Schilf überwachsenen Zustand ohne jeglichen Nutzen gewesen war.“ (Stow, 1598) 1415 hatte die Stadt durch das neu eröffnete Tor Moorgate leichten Zugang zu den Moorfields: „Dieses Tor errichtete er (Thomas Falconer, Bürgermeister) zum Wohlergehen der Bürger, die auf diesem Weg über festen Boden auf ihre Spielwiesen gelangen sollten, da jenes Gelände um diese Zeit eine Weide war.“ Trotz der großen Nachteile der Moorfields wurden sie oft für Übungen mit Pfeil und Bogen und für viele andere Sportarten genutzt. Die Einwohner beanspruchen das Nutzungsrecht, obwohl die Fläche keineswegs Eigentum der Stadt war. Immer wieder sehen wir, wie Pächter (die Moorfields wurden wie viele Ländereien nahe bei London auf lange Zeit verpachtet), die ihren Besitz umzäunten, um Unbefugte fernzuhalten, ihre Einfriedungen aufgeben mußten. Ab 1478 galt eine Verfügung „zum Entfernen von Beeten, Kräutern, Hecken und Abfall im Moor“, da diese ein ernsthaftes Hindernis für übende Bogenschützen waren. Die Länder wurden so erneuert und „für Bogenschützen zum Üben bereinigt“. Halls Chronologie (1542) berichtet, wie die Einwohner 1516 das Gesetz in die Hand nahmen. Hall schreibt: „Vor dieser Zeit hatten die Einwohner der Dörfer um London, wie Iseldon, Hoxton, Shoreditch und andere, die Gemeindefelder so mit Hecken und Gräben umschlossen, daß dort weder die jungen Männer des Ortes üben noch ältere Leute ihre Spazier­g änge machen konnten. Ihnen wurde entweder Pfeil und Bogen genommen oder zerbrochen, oder die ehrlichen 67

Die Entstehung von Erholungsgebieten

Leute wurden, weil „kein Londoner sich aus der Stadt heraus abseits der Straßen bewegen dürfe“, verhaftet oder angeklagt. Das verärgerte die Londoner so sehr, daß sich eines Morgens eine große Menge versammelte und ein Drechsler, „Schaufeln und Spaten! Schaufeln und Spaten!“ schreiend im Narrenkostüm durch die Stadt lief. Die Leute folgten ihm, und binnen kurzer Zeit waren sämtliche Hecken rings um die Stadt niedergerissen, die Gräben aufgefüllt und alles eben gemacht. Als der königliche Rat von dem Vorfall erfuhr, kam er zu den Ältesten und sandte nach Bürgermeister und Stadtrat, um über den Vorfall aufgeklärt zu werden. Diese erläuterten ihm die Verletzung und Störung, die den Einwohnern und ihrer Freiheit angetan worden waren, und die Haltung der Jüngeren, die diesen Mißstand beheben wollten. Nachdem der königliche Rat ihre Ausführungen gehört hatte, schloß er das Thema ab und wies den Bürgermeister an, dafür zu sorgen, daß keine weiteren solcher Taten folgten und die Jungen nach Hause gerufen würden. Diese hatten sich noch vor jener Anweisung zurückbegeben, so daß der Bürgermeister keine weiteren Strafen aussprechen mußte. Nach dieser turbulenten Zeit“, sagt Hall, „waren jene Felder nie mehr von Hecken umgeben. Heute sehen wir sie jedoch in schlimmerer Form denn je wieder. Gärten, in denen Ferienhäuser stehen, werden umzäunt; und in manchen Vororten stehen die Hecken mit Türmen, Ecken und Schornsteinen verziert, weniger zum Schutz als zur Schau und zum Vergnügen, wobei sie jegliche menschliche Vernunft verletzen und jene Einwohner verärgern, die ihr Wissen und ihren Wohlstand für den Bau von Kranken- und Armenhäusern verwendet und unserer Stadt damit ihren Dienst erwiesen haben.“ Es ist interessant festzustellen, wie die Regierung beständig das Recht der Einwohner auf die Nutzung von Sportstätten schützte. Wir haben bereits gesehen, wie mit der Frage der sozialen Hygiene im Parlamentsbeschluß von 1592 umgegangen wurde (‚Ein Gesetz gegen neue Gebäude‘). In diesem Beschluß heißt es auch: „Verschiedene öffentliche Freiflächen und Felder nahe der Stadt, die für das Training der Soldaten, zur Erholung und Gesundheit des Volkes der Städte London und Westminster und für das Bogenschießen genutzt wurden, sind in den vergangenen Jahren eingezäunt und in private Flächen verwandelt worden. Es sei hiermit von dieser Autorität verfügt, daß es unrechtmäßig sei, öffentliches Land im Umkreis von drei Meilen um eines der Tore der City of London zu besetzen. Ebenso unrechtmäßig ist es, innerhalb von drei Meilen Entfernung zu den Stadttoren Teile der benannten 68

Das Öffnen von Moorfields

Flächen durch Hecken, Gräben, Zäune oder dergleichen einzufrieden, so daß Soldaten am Training oder das Volk Ihrer Majestät an der Erholung und Gesunderhaltung gehindert oder lobenswerte Schießübungen erschwert würden. Es sei stets gegeben, daß durch den Erlaß kein Vorurteil oder Unfrieden irgendeinen guten Brauch oder Gewohnheit der genannten Städte und Orte angreife.“ Dieses Thema wurde auch während der Regierungszeiten der nachfolgenden Könige behandelt. James I. ernannte eine Kommission, um die Rechte der Bogen­ schützen zu verteidigen, und bezog sich auf eine Vielzahl von Verfügungen, Gesetzen und Proklamationen früherer Könige. Das Ziel dieser Kommission war es, ein zur Gewohnheit gewordenes Vorgehen zu beenden: nämlich das Eingrenzen von Grundstücken mit Gräben und Hecken. Gemeint sind damit Felder und Gehege, die schon seit ewigen Zeiten zum Schießen genutzt wurden. Während der Herrschaft von Charles I. ist eine ähnliche Proklamation erlassen worden. 1605 fand sich für das Problem der Moorfields als öffentlichem Raum eine Lösung. Zwei Schwestern, Mary und Cathrine Finnes, vermachten „die niederen Wege der Moorfields der Stadt zum Nutzen und Vergnügen ihrer Bürger“. 1625 legten der Bürgermeister und die Stadtverwaltung dem König nahe, eine Straße zu den Moorfields zu bauen, um auf die schönen neuen Pfade aufmerksam zu machen. Dieser Ort war nun endlich entwässert und ein großer öffentlicher Park. Aus alten Karten wissen wir, wie die Moorfields ursprünglich geplant waren. Sie bestanden aus drei gleichen „fields“. Das der Stadt am nächsten gelegene war jenes der Finnes-Schwestern. Durch Wege war es in vier kleinere Felder unterteilt. Das mittlere verfügte über diagonal verlaufende Wege; das obere war recht offen, lediglich von Bäumen umgeben. Die Anlage gab dem Ganzen den Charakter eines geschlossenen Gartens, und das vergleichsweise kleine Gebiet erschien, mit dieser Unterteilung, sowohl größer als auch abwechslungsreicher. Die neuen Wege wurden schon bald zu einer beliebten Promenade für Londons Beau-Monde. Sonntags spazierten zahlreiche Bürger in ihrer besten Kleidung unter den Bäumen. Pepys’ Tagebuch, 28. Juni 1661: „Gingen zu den Moorfields, spazierten dort umher und sahen die Ringkämpfe, die ich zuvor noch nicht oft gesehen hatte, zwischen Männern vom Norden und Westen des Landes.“ 12. Mai 1667: „Ging über die Felder bis nach Kingsland und zurück; ein Spaziergang, so kommt es mir vor, wie ich ihn die letzten 20 Jahre nicht gemacht habe; aber es erinnert mich an meine Jugend, als ich in Kingsland zur Schule ging …“ 69

Die Entstehung von Erholungsgebieten

Moorfields, 1676, aus der Karte von John Ogilby

Auch gab es dort genug Platz für Sport und Spiele. Auf dem oberen Feld konnte man bogenschießen, wie in alten Zeiten. Die Finsbury Fields lagen gleich nebenan und waren gleichermaßen für militärische Zwecke offen. So angelegt, waren die Moorfields ein exzellenter öffentlicher Raum, der auch heute noch als Modell gelten könnte. Nur ein Minimum an Pflege war notwendig, um ihn in Ordnung zu halten. Auf sehr beschränktem Raum wurde Erholung für alle Altersklassen geboten. Mit Ausnahme der unabhängigen Verwaltungsbezirke Italiens wird es von dieser Zeit an schwierig sein, ähnliche Beispiele für eine solche Planung des öffentlichen Raumes zu finden. Die Menschen waren so begeistert von den schattigen Wegen in Moorfields, daß sie bald als Vorbild für einen weiteren öffentlichen Park außerhalb Londons dienten: den sogenannten Lincoln’s Inn Fields westlich der City. Dieser Garten wurde aus den ehemaligen Sportflächen der Studenten auf die gleiche Weise entwickelt wie die 70

Das Vorbild Moorfields

Moorfields. London war keine Universitätsstadt. Erst als die Studenten im Mittelalter während der anhaltenden Kriege mit Frankreich davon absahen, ihrem Studium in Paris nachzugehen, gründete England seine eigenen Universitäten: Oxford und Cambridge. Dort lebten die Kommilitonen in kleinen Gemeinschaften in Colleges und Wohnheimen. Anfangs waren die Universitäten kirchliche Einrichtungen. Warum sie sich nicht in London ansiedelten, ist schwer zu sagen. Aber es entspricht sehr gut der allgemeinen Tendenz der Dezentralisierung, die wir schon im Mittelalter haben feststellen können, und London, die kommerzielle Handelsstadt, war weder der Hauptsitz der englischen Kirche noch ein Zentrum der Wissenschaft. Als sich aber eine reguläre Ausbildung im englischen Recht für weltliche Anwälte etablierte, hatte diese ihren Sitz in London, genauer, zwischen London und Westminster. Dort wohnten die Studenten in den Inns of Court, die gerade vor der Stadtmauer standen. Aus einem alten Schriftstück um 1376 geht hervor, daß das Feld westlich des Lincoln’s Inn für die Verwaltungsangestellten, Lehrlinge, Jurastudenten und Einwohner Londons ein beliebter Platz zum Spazieren und Sport treiben war. „Es wurde eine Beschwerde an den König gerichtet, ein gewisser Roger Leget habe in einem bestimmten Graben der Fiket’s Fields“ (angrenzend an Lincoln’s Inn Fields) „und in der Nähe des Hauses des Bischofs von Chichester Eisenfallen ‚Caltrappen‘ genannt, aufgestellt, obwohl er wußte, daß dort die genannten Angestellten, Lehrlinge und anderen Männer der Stadt vorbeikamen, daß man dort trainierte und daß diejenigen, die an diesen Graben kamen, verletzt würden. Diese Fallen wurden von den Angestellten, Lehrlingen und anderen Passanten gefunden, zum Königlichen Rat ins ‚Chapterhouse‘ der ‚Friars‘, Mönche der Stadt, gebracht und begutachtet. Darauf verhörte der Rat besagten Roger; dieser gestand seine Schuld und mußte sich König und Rat beugen: Roger kam ins Gefängnis nach Fleet, um dort auf Begnadigung des Königs zu warten.“ Das Schriftstück schließt damit, „daß jegliche Art der Störung der Männer beim Spazieren oder ihrer Ertüchtigung vom König und seinem Rat mit hohen Strafen oder langen Gefängnisaufenthalten belegt wird, und daß der König und sein Rat stets um die Freiheiten und Interessen der Juristen und Bürger zu deren Wohle und Erholung bemüht sind“. Es gab drei Felder, die ursprünglich zu den St. John- und St. Giles-Krankenhäusern gehörten. Sie waren an Herbergen, sogenannte Inns, am Strand verpachtet, die sie als Weideland nutzten. Insofern kam es zu keinem Konflikt zwischen den Interessen der 71

Die Entstehung von Erholungsgebieten

Auszug aus der Karte von Hollar, 1658, rechts Lincoln’s Inn Fields

Besitzer und denen der Studenten. Später, als die Stadt sich ausdehnte, gewannen diese Felder an Wert. Nachdem Henry VIII. das Eigentum der Krankenhäuser konfisziert hatte, gehörten sie der Krone, wurden jedoch immer billig verpachtet. Eines der Felder fiel 1613 in die Hände eines Mannes, der, sich seiner Investition wohl bewußt, den König um Bauerlaubnis bat. Die Gemeinde des Lincoln’s Inn protestierte sofort. Es wurde nicht nur die Lizenz abgelehnt; vielmehr übersandte der Privy Council am 31. August 1613 Direktiven an die Stadtverwaltungen. Es gab Beschwerden von den Studenten des Lincoln’s Inn, „jemand verfolge das Ziel, im Widerspruch zum Gesetze Seiner Majestät und zum großen Ärger jener Gemeinschaft auf einem Grundstück nahe der Lincoln’s Inn Fields, neue Häuser zu bauen“. Deshalb war es nötig, „das Bauen mit allen notwendigen und angemessenen Mitteln zu verhindern“. Anfang 1617 überbrachten die Gentlemen der Inns of Court, der Kanzleien und der vier an die Fields grenzenden Gemeinden eine Petition, daß die Felder „nach dem Vorbild der Moorfields mit Wegen angelegt werden könnten, um der Stadt damit zu größerem Genuß und Nutzen zu dienen“. Diesem Gesuch folgte „Seine 72

Lincoln’s Inn Fields

Die Gemeinde von St. Giles in the Fields, aus [John] Strypes, London, 1720

Majestät voller Gunst und Wohlwollen, lobte es sehr und erlaubte die Umgestaltung des Geländes zum Dienste und zur Verschönerung der Stadt“. Eine Spende wurde bewilligt, um die Kosten für „solch notwendige und lobenswerte Arbeit“ zu decken. 1618 betraute man eine Kommission mit der Aufgabe, das Feld zu vermessen und Pläne für die Wege zu erstellen. Inigo Jones, der Bauinspektor, gehörte dieser Kommission an und entwarf einen von Alleen durchschnittenen Platz. Ein gewisser William Newton erwarb anschließend die Pacht für die Felder. Er legte dem König (Charles I.) einen Antrag vor, in dem er betonte, daß die Krone unter derzeitigen Bedingungen nur eine jährliche Miete von 568 Pfund für dieses Gelände einnahm, und erbat die Lizenz, darauf 32 Häuser errichten zu dürfen. Der König konnte der Aussicht auf höhere Einnahmen nicht widerstehen und erteilte Newton, noch bevor die Society of Lincoln’s Inn Protest einlegen konnte, die Lizenz zum Bau. Um ein gutes Verhältnis mit den Herren des Lincoln’s Inn zu wahren, einigte er sich 1639 mit ihnen, die Promenaden als offenen Platz zu belassen. Im August 1641 waren alle Häuser auf der Südseite und fast alle auf der Westseite fertiggestellt. Aus Sorge 73

Die Entstehung von Erholungsgebieten

Lincoln’s Inn Fields, Tennisplätze, 1930

Gray’s Inn, Stich, um 1755, im Hintergrund Hampstead und Highgate

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Gebäude in Lincoln’s Inn Fields

vor weiteren Baugesellschaften übersandte die Society of Lincoln’s Inn ein neues Anliegen. Diesmal waren sie schlauer und adressierten es nicht an den König, sondern statt dessen an das House of Commons. Es ist charakteristisch für jene Zeit, daß sich das House of Commons auf die Seite der Society stellte und einen Baustop für „jegliches weiteres Gebäude auf den Lincoln’s Inn Fields verordnete (besonders für die von Mr. Newton), bis weitere Anordnungen von dieser Versammlung folgen“. Newton war äußerst resolut. Er reichte ein Gegengesuch ein und versuchte, sich zugleich mit der Society zu versöhnen. Damit scheint er jedoch nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein; jedenfalls wurde ein großer Stapel Holz, der zum Bau der Häuser auf den Fields lagerte, angezündet. Im darauf folgenden Jahr starb Newton. Die neuen Besitzer einigten sich und trafen bezüglich des endgültigen Bauvorhabens neue Übereinkünfte. Es wurde beschlossen, daß neue Gebäude auf der Nordseite die gleichen Proportionen wie jene bereits realisierten auf der Südseite erhalten sollten, damit die Anlage zu einem gleichmäßigen Platz werde. Während des Commonwealth war der Fall noch immer ausgesetzt. Auf Drängen der Society of Lincoln’s Inn stoppte Oliver Cromwell 1656 neue Übereinkünfte mit einer Proklamation. 1657 wurde im Hinblick auf den unvollendeten Zustand eine Vereinbarung zwischen Sir William Cowper, Robert Henley und James Cowper, und der Society of Lincoln’s Inn getroffen, die diese und andere Flächen zu Bauzwecken gepachtet hatten. Eine der Klauseln besagt, „daß die Society of Lincoln’s Inn, die die Vorzüge des Geländes wahren wollte, sich damit einverstanden erklärte“, daß die Parteien, denen man das Bauen anvertrauen würde, „unter der Verpflichtung, daß die geplanten Gebäude das Gelände schmücken, das Feld geebnet, Wege angelegt und weitere Bauten verhindert werden würden, mit ihrem Vorhaben fortfahren sollten“. Mit ihrem anhaltenden und energischen Protest setzten die Studenten die Erhaltung eines großen offenen Platzes durch, der 1894 dem Publikum zugänglich gemacht wurde. Dieser besteht als öffentlicher Park noch heute. Nördlich des Lincoln’s Inn liegt Gray’s Inn, ebenfalls einer der alten Inns of Court. Seit jeher nutzten die Bewohner die Gray’s Inn Fields zum Bogenschießen und für den Sport im Freien. Guarded with gunners, bill-men and a rout Of bow-men bold which at a cat do shoot. [ 1 ] (I. Cornucopiæ, Pasquil’s Night-Cap, 1632)

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Die Entstehung von Erholungsgebieten

Gray’s Inn, vom Garten aus, 1930

Um 1600, als Bacon Schatzmeister des Gray’s Inn war, wurde das angrenzende Land ebenso in eine Gartenanlage mit Wegen umgewandelt und diente wahr­scheinlich als Vorbild für die Moorfields Walks. Besonders an Sonntagen galten sie schon bald als beliebte Promenade. Pepys berichtet am 4. Mai 1662: „Nach der Kirche gingen meine Frau und ich zum Gray’s Inn, die Mode der Damen zu begutachten, da meine Frau ein wenig schneiderte.“ Manchmal spazierte er auch allein und „war sehr vom Anblick einer feinen Dame angetan, die ich schon oft auf den Gray’s Inn Walks gesehen hatte“. Nach und nach gerieten die Walks jedoch in Verruf und die „vornehmen Damen“ verschwanden. Noch interessanter ist der Ursprung eines 76

Gray’s Inn

Die Gray’s Inn Walks, 1930

kleinen Spielfeldes in der Nachbarschaft, dem ‚Red Lion Square‘, westlich vom Gray’s Inn. In Narcissus Luttrells Tagebuch, 10. Juni 1680, können wir folgenden Eintrag lesen: „Dr. Barebone, der große Baumeister, hat, seit er vor einiger Zeit die Red Lion Fields nahe des Gray’s Inn kaufte, einige Arbeiter beschäftigt, um darauf zu bauen. Die Gentlemen des Gray’s Inn nahmen dies als Kränkung zur Kenntnis und erschienen dort mit stattlichen 100 Personen. Die Arbeiter beschimpften die Gentlemen und schleuderten Ziegelsteine nach ihnen, die diese aber zurückwarfen. Ein erbittertes Gefecht folgte, doch schließlich trieben die Gentlemen die Arbeiter in die Flucht und brachten einen oder auch zwei zum Gray’s Inn. In diesem Aufruhr 77

Die Entstehung von Erholungsgebieten

wurden ein oder zwei von den Gentlemen und Angestellten des Hauses und mehrere der Arbeiter verletzt.“ Als Konsequenz ließ Dr. Barebone, statt, wie ursprünglich geplant, die ganze Fläche zu bebauen, einen von Häusern umgebenen Platz in der Mitte anlegen. Mehr Platz zur Ertüchtigung, als die Bürger und Studenten forderten, wollte jedoch der königliche Hof selbst. Die normannischen Ritter, die mit Wilhelm dem Eroberer nach England gekommen waren, waren ursprünglich ein Kriegergeschlecht, deren Training kriegsähnliche Übungen, Turniere und dergleichen waren. Später, als die Kämpfer ihre Beschäftigung verloren, wurde das Jagen in den großen Wäldern zu ihrem Zeitvertreib. Die Stadt war spärlich bevölkert, und weite Bereiche von Gehölz und Wäldern mit reichem Wildbestand überzogen. Gutsherren hatten nur wenige Pflichten und konnten zuweilen Tage und Wochen mit der Jagd verbringen. Dieser ‚feine‘ Sport war selbstverständlich auch eine beliebte Beschäftigung des Königshofes. Der energische Henry VIII. vertrieb sich, wie wir wissen, mit vielerlei Sportarten die Zeit; er war ein guter Ringkämpfer, ein eleganter Tennisspieler und eben auch ein großer Jäger. Es gibt eine Bestimmung aus dieser Zeit (1545), die besagt: „Seine königliche Majestät betreibt zu seinem Vergnügen die Jagd auf Hasen, Hirsche, Reiher und Fasane in den Gehegen des Palastes von Westminster. Unter Androhung von Gefängnis und weiterer Strafe sei es nach Wunsch und Willen Seiner Majestät verboten, zwischen Westminster und St. Giles-in-the-Fields, von dort bis nach Islington, zu ‚Our Lady of the Oak‘ nach Highgate, Hornsey Park und Hampstead Heath zu jagen.“ Der König verbot den Einwohnern nicht nur das Jagen in diesen Gebieten, sondern zäunte auch riesige Flächen ein, woraufhin die Einwohner von Orten ausgeschlossen wurden, an denen sie bis dahin vergnüglich spazieren konnten. Aber das bedeutete ebenso, daß das Land nahe London später gegen Bauspekulation geschützt war und schöne offene Räume als Vergnügungsflächen erhalten blieben, die damit schon sehr früh zu Parkanlagen wurden. Der bedeutendste der populären Parks war der Hyde Park. Es ist unmöglich, das Datum seiner Eröffnung festzustellen, doch muß es irgendwann zwischen 1630 und 1640 gewesen sein. Er war immer noch ein königlicher Park, aber es gibt Hinweise auf Wettrennen zu Pferd und zu Fuß. Es gab eine Rennbahn, die ‚der Ring‘ genannt wurde. Obwohl der Hyde Park zu jener Zeit noch weit außerhalb Londons lag, kamen die Leute besonders sonntags in Scharen. Oft war der König bei diesen 78

Hyde Park und das Commonwealth

Schafe im Hyde Park, 1931 (Foto Roloff Nielsen)

Rennen anwesend. Später, als die Puritaner an die Macht kamen, wurde verkündet, der Park werde geschlossen und niemandem sei es gestattet, ihn am Tage des Herrn und zur Fastenzeit zu betreten. 1649, nach dem Sturz des Königs, entschied man im Parlament, daß der Hyde Park, ebenso wie Whitehall, Hampton Court, New Park in Richmond, Westminster Palace, Windsor House und seine Parks, Greenwich Park und Castle dem Commonwealth dienen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht würden. Diese glanzvollen Zustände hielten nicht lange an. Drei Jahre später enthalten die Berichte des House of Commons diesen lakonischen Eintrag: „Beschlossen, Hyde Park wird für Bargeld verkauft.“ Das hinderte jedoch niemanden daran, ihn weiter als öffentlichen Park zu nutzen. John Evelyn notiert am 11. April 1653 in seinem Tagebuch: „Ich begab mich zum Hyde Park, um dort die Luft zu genießen, aber für jede Kutsche muß ein Schilling und für jedes Pferd sechs Pence an den schäbigen Kerl gezahlt werden, der ihn vom Staat gekauft hat.“ Obwohl sich die Puritaner gegen alle möglichen Arten des Vergnügens, besonders gegen die Festlichkeiten des May-Day, dem ersten Tag ‚des Monats von Maria‘, in welchen sie einen Rest unanständigen Pfaffentums sahen, aussprachen, war der Hyde Park am ersten Mai 1654 voller fröhlicher Menschen. Eine puritanische Zeitung aus der Zeit 79

Die Entstehung von Erholungsgebieten

schreibt über „Hunderte von Kutschen, und Charmeure in Festkleidung, die meisten Männer mit unmöglichen Frisuren, und geschminkte und gepuderte Damen“, und zur Beruhigung des wohlgesonnenen Lesers fügte man hinzu: „Aber weder Seine Hoheit, der Lord Protector [Herr Beschützer], noch irgendwelche anderen Ratsherren waren zugegen, denn sie beschäftigen sich mit den wichtigen Angelegenheiten des Commonwealth.“ Aus anderen Quellen weiß man jedoch, daß der Lord Protector an diesem Tage dort weilte, denn im ganzen war er ein ‚Good Sport‘, ein Mann gerade nach englischem Geschmack. Sir William Dugdale bezeichnete Oliver Cromwell in einer royalistischen Propaganda als jemanden, der in seiner Jugend Cricket und Fußball gefrönt habe und den Namen ‚royster‘ verdiene [polternder, prahlerischer Zecher]. Als Lord Protector ging er oft im Hyde Park flanieren und mischte sich unters Volk. Auf Anraten seines Arztes suchte er so viel Bewegung wie möglich, und sein beliebtestes Hobby war in seiner eigenen Kutsche Runden zu fahren. Der holländische Botschafter hat in folgendem Brief eine wilde Beschreibung von einer dieser Fahrten gegeben: „Seine Majestät kam nur in Begleitung seines Sekretärs Thurloe und mit einigen seiner Gentlemen und Diener in den Hyde Park, um die Luft zu genießen. Er veranlaßte, daß einige Fleischgerichte aufgetragen würden und dinierte. Später wünschte er, die Kutsche selbst zu steuern, nur von seinem Sekretär begleitet. Angespannt waren jene sechs (grauen) Pferde, die der Graf von Oldenburg seiner Majestät geschenkt hatte, und für eine gewisse Zeit fuhr er sehr ordentlich. Aber schließlich, als er die Pferde zu sehr mit seiner Peitsche reizte, wurden sie unruhig und rannten so schnell, daß er sie nicht mehr halten konnte. Seine Majestät wurde von der Kutsche geworfen, lag dann auf der Deichsel, später am Boden. Da sein Fuß aber in den Zügeln steckte, wurde er eine gute Weile mitgeschleift, während in seiner Tasche eine Pistole losging. Doch schließlich konnte er seinen Fuß befreien, entkam, und die Kutsche fuhr vorüber, ohne ihn zu verletzen. Er wurde sofort nach Hause gebracht und zur Ader gelassen; nach ausreichender Ruhe geht es ihm gegenwärtig wieder recht gut.“ Als England nach Cromwells Tod die Regierung wechselte und wieder zum König­ reich wurde, änderten sich viele Dinge, aber die Annehmlichkeiten für die Bürger hinsichtlich der Parks und der offenen Flächen wurden nicht eingeschränkt. Charles II. war selbst ein ‚Good Sport‘ und pflegte durchaus öffentlich das Training 80

Charles II. und St. James’s Park

The Mall im St. James’s Park, 1751 (Stich von H. Roberts)

bei Tennis, Pall Mall und besonders gern beim Laufen. [Zur Bedeutung von Pall Mall als Sport s.weiter unten.] Er lief so schnell, daß die Höflinge kaum mithalten konnten. „Geh mit mir“, sagte der fröhliche Monarch zu Prinz Georg von Dänemark, der sich über leichte Korpulenz beschwerte, „jage mit meinem Bruder, sei gerecht zu meiner Nichte, und Du wirst niemals fett sein“. Sein beliebtester Rückzugsort war St. James’s Park, ebenfalls eines der ehemaligen Jagdreviere aus der Zeit von Henry V. und ursprünglich eine sumpfige, von kleinen Teichen durchschnittene und mit Bäumen bewachsene Wiese. Direkt nach der Wiederherstellung der Monarchie hatte Charles II. begonnen, den Park zu verschönern. Der berühmte Le Nôtre soll königlicher Berater beim Anlegen des St. James’s Park gewesen sein, doch das ist fraglich. Ein Schweizer Gentleman schrieb gegen Ende des Jahrhunderts: „Mir wurde gesagt, König Charles II. wünsche sich, St. James’s Park viel schöner zu gestalten, und ließ für dieses Vorhaben jenen schlauen Mann aus Paris kommen, der die Tuilerien angelegt hatte. Aber dieser Mann war der Meinung, die natürliche Einfachheit dieses Parks, seine Ländlichkeit und der an manchen Stellen wilde Charakter habe etwas viel Bedeutsameres, als er einbringen könnte, und überredete den König, ihn so zu belassen. 81

Die Entstehung von Erholungsgebieten

St. James’s Park zur Zeit Charles II.

So blieb der Park, wie wir ihn just sehen – ein ländlicher und schöner Fleck, von dem man wohl niemals gelangweilt wird, einfach weil es dort weder Kunst noch Regelmäßigkeit gibt.“ – Doch der Park wurde verändert. Die Mall wurde als eine breite Allee mit vier Baumreihen, nicht als prächtige Annäherung an Buckingham Palace, sondern als Ort angelegt, an dem der König Pall Mall spielen konnte. „ ‚Pall Maille‘ ist ein Spiel, bei dem eine Kugel mit einem Holzschläger durch einen an beiden Enden einer Allee stehenden hohen Eisenbogen geschossen wird. Es gewinnt, wer dies mit den wenigsten Schlägen oder der zuvor festgelegten Anzahl erreicht. Diesem Spiel diente von da an die lange Allee nahe St. James’s, im Volksmund ‚Pell Mell‘ [  genannt.“ Die verschiedenen Gewässer und Quellen wurden zu einem langen Teich, dem 28 Fuß breiten und 100 Fuß langen ‚Canal‘ vereint. Der Zweck ist nicht eindeutig. Es gab anscheinend keine architektonische Beziehung zu der Allee und den sie umgebenden Gebäuden, wie man es von einem Kanal im königlichen Garten zur Zeit Louis XIV. erwartet hätte. Ein alter Holländer, Sextus Arnoldinus, der London 1660 besuchte, erzählt, daß der König regelmäßig darin schwamm. Möglicherweise 82

Samuel Pepys im St. James’s Park

diente dieser gleichmäßige Kanal dem König als Schwimmbad. Die Ideale von Charles II. glichen in vielerlei Hinsicht denen von Louis XIV., der ebenfalls ein guter Sportler war. Aber charakteristisch für das Verhalten des englischen Königs war seine ungezwungene Art, Übungen im Park zu machen, bei denen er, auch ohne Kleidung, von seinem Volk gesehen werden konnte. Im vergleichsweise demo­ kratischen Dänemark wurde zwar der königliche Garten zu Frederiksberg zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, doch erhielt man Areale, in die man das gemeine Volk schickte, wenn die königliche Familie im Park spazieren wollte. Im St. James’s Park galt es als guter Ton, sich auf die Wiesen neben den Wegen zu legen. Am 15. Juli 1666 „ging“ der versnobte Samuel Pepys in den Park. Dort „war es unglaublich heiß, und ich legte mich müde auf das Gras neben dem Canal nieder und schlief eine Weile“. Es gehörte zur öffentlichen Unterhaltung, dem König beim Füttern seiner Enten und beim Ausführen der Hunde zuzusehen. Er besaß so viele, daß er hin und wieder den Verlust eines seiner Haustiere in der London Gazette oder im Mercurius Politicus bekannt machen mußte. Durch Tom Browns journalistische Beschreibung von 1700 erhalten wir einen lebhaften Eindruck des Lebens im St. James’s Park: „Der grüne Weg bot uns unterschiedlichsten Gesprächsstoff über Menschen beider Geschlechter. Hier lief eine Schöne ohne Kopfbedeckung – da ein französischer Geck, beide Hände in den Hosentaschen, einen gefalteten Mantel tragend, unter dem er seine Seidenkniehose zeigte. Eine Gruppe von Senatoren, über Staatsaffären und die Preise von Getreide und Rind sprechend, wurde von lauten Milchverkäufern gestört, die immer wieder riefen: Eine Kanne Milch, Ladies! Eine Kanne frische Kuhmilch, Sir!“ Wie wir sehen, hatten die Londoner schon im 17. Jahrhundert eine große Zahl offener Plätze gewonnen, jeder mit einem eigenen Charakter. Es gab die Moorfields mit ihren ‚Walks‘ und offenen Feldern für Bogenschießen und Spiele. Es gab die Gärten des Gray’s Inn und des Lincoln’s Inn, es gab die Spring Gardens, die mit vielen grünen Gehegen angelegt waren, von denen man sagte, Schauplätze vieler ritterlicher Abenteuer gewesen zu sein. Es gab den St. James’s Park, in dem der König und der Hofstaat trainierten; und es gab den Hyde Park mit ‚dem Ring‘ und einer entzückenden ‚Wildnis‘ obendrein. Und doch marschierten die Einwohner willentlich auf die Felder der Bauern ringsum, schossen mit Pfeil und Bogen, spielten ihre Spielchen und bleichten ihre Wäsche, wie es ihnen beliebte! 83

Die Entstehung von Erholungsgebieten

 Bibliographie Fitz-Stephens Beschreibungen vom London des 12. Jahrhunderts werden in John Stows Survey of London zitiert, einem Buch, das viele nützliche Informationen enthält, die den Ursprung offener Flächen – beispielsweise auf den Moorfields – beschreiben. In Strypes Edition (1720) von Stow gibt es ein besonders umfangreiches Kapitel zu Sport und Freizeitbeschäftigungen, aus dem die Proklamation Edwards III. an die Londoner Sheriffs entnommen ist. In einem inzwischen seltenen Buch von Jakob Larwood: London Parks (Chatto and Windus, London, ohne Jahresangabe) gibt es zwischen zahlreichen Anekdoten sehr viele interessante Informationen zur Geschichte der Londoner Parks. J. J. Sexby hat eine Reihe interessanter Fakten in The Municipal Parks, Gardens and Open Spaces of London 1905 zusammengefaßt. Auf die Geschichte der Lincoln’s Inn Fields bezieht sich das vom London County Council herausgegebene The Survey of London III. Die Geschichte von Dr. Barebone und Red Lion Square ist in Narcissus Luttrells Tagebuch unter dem Eintrag des 10. Juni 1684 zu finden und The History of Squares of London von B. Beresford Chancellor aus dem Jahr 1907 entnommen. Detaillierte Informationen, Zitate und Verweise auf andere Bücher zu verschiedenen Orten Londons und ihrer Geschichte sind in London Past and Present von Henry B. Wheatley und Peter Cunningham, 1891, enthalten, das in alphabetischer Reihenfolge geordnet ist. Der Bericht zu Cromwells Fahrt im Ring entstammt dem Artikel zum Hyde Park. Evelyns und Pepys’ Tagebücher berichten am lebhaftesten über das tägliche Leben in den Parks im 17. Jahrhundert.

[ 1 ] B  ewacht von Kanonen, Lanzen und einer Bande von mutigen Bogenschützen ... Beschreibung von Gray’s Inn wahrscheinlich aus Edward Halls Chronologie (1542) und in I. Cornucopiæ, Pasquil’s Night-Cap, 1632 [ 

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aus Thomas Blount’s Glossographia, 1656

6 Stadtplanungen im Jahre 1666

Das Große Feuer im Jahre 1666 zerstörte fast die ganze Stadt. London war zu dieser Zeit bereits sehr dicht bevölkert – die Einwohnerzahl muß bei 400.000 gelegen haben, wären Westminster, Southwark und all die neuen Quartiere außerhalb der Mauern bei einer Zählung einbezogen worden. Paris war wahrscheinlich immer noch die bevölkerungsreichste Stadt der Welt, London aber holte zunehmend auf. Viele Fremde, welche die Stadt im 17. Jahrhundert besuchten, haben begeisterte Beschreibungen verfaßt. London muß eine wohlhabende und interessante Stadt gewesen sein. Die Viertel innerhalb der Mauern waren extrem dicht besiedelt und ziemlich mittelalterlich. Nur ein paar Ratsherren – und die Juden – besaßen in früheren Jahrhunderten stattliche Steinhäuser; die übrigen Einwohner lebten als Pächter in kleinen Katen. Wir bekommen einen Eindruck über die miserable Bauqualität, wenn wir uns die ersten Bauordnungen aus den Jahren 1189 und 1212 anschauen. Dort wurde angeordnet, die Häuser solider als zuvor zu bauen; mit Stroh gedeckte Dächer wurden verboten. Im Laufe der Jahrhunderte waren die Häuser auf ihren zu kleinen Grundstücken um mehrere auskragende Stockwerke in die Höhe gewachsen. Noch im 17. Jahrhundert war der größere Teil der Häuser in Holz ausgeführt; ihre spitzen Giebel wiesen zur Straße. Die Steinhäuser befanden sich im Eigentum von reichen Firmen und Gilden. Es hatte sich als nutzlos erwiesen, auskragende Teile der Fassade zu verbieten. Wie in allen mittelalterlichen Städten, als die Häuser auf schmalen Grundstücken errichtet wurden, begann der Straßenraum immer enger zu werden. London war innerhalb der Mauern mit spitzgiebeligen Fachwerkhäusern vollgestopft und mit unzähligen Kirchen voller Türme und Spitzen gesprenkelt – insgesamt 109! Darüber ruhte der riesige Körper der gotischen St. Paul’s Cathedral. Die Häuser reichten mit ihren steilen Fassaden bis unmittelbar an die Themse, und sogar die London Bridge war mit schmalen vier- bis fünfgeschossigen Häusern besetzt. In den engen Gassen fanden Basare statt, wo man eine Vielzahl von handgemachten Dingen und feinen Stoffen sowie teuren Handelswaren aus allen Teilen der Welt 85

Stadtplanungen im Jahre 1666

erwerben konnte. Man schaute direkt in die Stände, die sich zur Straße hin öffneten. Die Straßen waren voll von Fußgängern, Sänften und Kutschen, die sich kaum fortbewegen konnten. Pepys beschreibt, wie seine Kutsche in einer engen Straße zwei Stücke Fleisch von einem Stand in den Schmutz fegte. Versuche, die Überbelegung der Häuser zu verhindern, hatten nicht den geringsten Erfolg gezeigt. Arme Leute lebten unter den schlechtesten Bedingungen. Von einem schmalen Haus in Dowgate Ward wird berichtet, daß es elf Eheleute und fünfzehn Einzelpersonen beherbergte. Ein Haus in der Silver Street mit zehn Zimmern wurde von zehn Familien bewohnt, von denen etliche noch Untermieter hatten (W.G. Bell: The Great Fire of London im Jahre 1666, London 1920). Und dies alles in einer Stadt ohne öffentliche Kanalisation, wo der Schmutz einfach auf die Straße gekippt wurde! Außerhalb der Mauern gab es große, offene Viertel von ganz anderem Charakter. Die Straßen dort waren breiter, vielerorts mit regelmäßigen Ziegelhäusern bebaut, zwischen denen sich, für jedermann zugänglich, grüne Plätze, Gärten und Parks, befanden. Sie dienten später als Ideal: Offene Räume wie Luftkanäle, die aus der Mitte der Stadt hinaus in die offene Landschaft führten, wurden in London bereits im 17. Jahrhundert ohne festgelegte Planung ausgeführt. Sowohl die Moorfields als auch die Gray’s Inn Walks wurden, wie wir es von Hollars Kupferstichen kennen, in die wundervolle Landschaft geleitet, in eine offene, gewellte Landschaft mit kleinen Wasserläufen, die ab und zu gestaut wurden und ruhige Mühlteiche formten. Der St. James’s Park, ein richtiger Garten, setzte sich im Hyde Park, jenem Stück unkultivierten Landes, fort. Aber als beste Luftschneise diente die Themse, in jenen Tagen ein strahlender Fluß, der geradewegs nach London führte und voller Fische, Boote und Schwäne war, gesäumt von Gärten und herrschaftlichen Häusern. In Richtung Norden wurde die Stadt von den Hügeln von Hampstead und Highgate begrenzt, die in der dunstigen Londoner Luft wie ferne blaue Berge wirkten. Dabei waren sie immer noch so nah, daß man einfach hinauswandern und die große zu ihren Füßen liegende Stadt sehen konnte. Die City war die Residenz der alten Kaufmanns- und Handwerkerfamilien. Die Adligen hatten bereits die engen, stinkenden Straßen, auf denen ihre Kutschen kaum fahren konnten, verlassen und sich in der königlichen Stadt Westminster in den neuen und großzügigen Vierteln niedergelassen. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts lebten nur noch zwei oder drei adlige Familien innerhalb der Stadtmauern, und selbst die 86

London vor dem Großen Feuer

Die Landschaft von Islington, nördlich von London, 1665 (Stich [Wenceslaus] Hollar)

Die Landschaft von Islington, nördlich von London, 1665 (Stich [Wenceslaus] Hollar)

einfachen Bürger zog es aus der Stadt hinaus aufs Land. Mit der Verlegung aller Wohnungen in andere Quartiere hatte eine Entwicklung begonnen, die den Charakter der City nach und nach vollständig verändern sollte. Viele wohlhabende Familien, die immer noch ihre Häuser in der alten Stadt besaßen, unterhielten zugleich Land­ häuser, die sie in den Ferien nutzen. John Strype, der im Jahre 1720 eine umfangreichere Ausgabe von Stows Survey of London [siehe auch Bibliographie S. 26], herausgegeben hat, sagt, daß sich das Große Feuer so schnell ausbreiten konnte, weil es in der Nacht zum Sonntag ausbrach und viele Magnaten und Kaufleute in ihren Landhäusern weilten. Es blieben nur die Dienstboten, um auf die Stadtwohnungen aufzupassen. Das Feuer brach am späten Abend des 1. September aus. Es verbreitete sich schnell, und anfänglich wußten die Menschen nicht, was sie tun sollten. Sie versuchten ausschließlich, ihre Habseligkeiten zu retten, und überließen die Stadt den Flammen. Erst nachdem das Feuer mehrere Tage gewütet und ganze Stadtteile bis auf die Grundmauern zerstört hatte, wurden systematisch Schneisen in die Häusermasse geschlagen, um den Brand zu stoppen. Am 6. September 1666 erstarben die Flammen, um schon bald danach erneut zu lodern. Es ist schwierig zu sagen, wann das Feuer endgültig erlosch. In Quellen ist zu lesen, daß es noch Monate lang schwelte. Am 10. September 1666, als das Feuer noch lange nicht besiegt war, empfing der König Dr. Christopher Wren, der ihm einen Plan für den Wiederaufbau der Stadt vorlegte. Wren muß hart gearbeitet haben; man weiß von ihm selbst, daß es ihm wichtig war, als erster einen Vorschlag zu präsentieren. Am 13. September, also drei Tage 87

Stadtplanungen im Jahre 1666

Old St. Paul’s, 1616, aus John Visschers View of London

[Wenceslaus] Hollars London-Karte, 1616. Sie zeigt das durch das Große Feuer verwüstete Gebiet.

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Das Große Feuer 1666

darauf, legte sein Freund John Evelyn ebenfalls eine Planung vor, sagte aber später in einem Brief, daß „Dr. Wren die Nase vorn habe“. Am 20. September reichte Captain Valentine Knight einen Plan und schließlich am 21. September Professor Hooke einen weiteren Vorschlag ein. Wahrscheinlich gab es noch mehr, uns jedoch nicht bekannte Planungen. Merkwürdigerweise waren die vier Männer nicht vom Fach. Christopher Wren, gerade 34 Jahre alt, war bereits ein angesehener Wissenschaftler. Schon als Jugend­ licher fiel er wegen seines überragenden mathematischen Talents auf und wurde mit 25 Jahren zum Professor der Astronomie berufen. Er korrespondierte mit den prominentesten Wissenschaftlern seiner Zeit und war bereits Autor einer Reihe wichtiger Publikationen. 1662, nur vier Jahre vor dem Großen Feuer, hatte er mit dem Studium der Architektur begonnen. In jener Zeit gab es keine maßgeblichen Unterschiede zwischen Wissenschaft und Kunst; vielmehr waren einige neue Herausforderungen der Architektur mathematischer und wissenschaftlicher Natur. Den Architekten wurde klar, daß so manche statische Schwierigkeit mit Hilfe der exakten Wissenschaften gelöst werden konnte. Für die Künstler jener Zeit spielte die Perspektive, deren Grundsätze auf darstellender Geometrie basieren, eine große Rolle, und es gab eine ganze Reihe von Fragen, die Gelehrte besser als Handwerker lösen konnten. Generell zeigte Wren bei der Handhabung seiner Aufgaben größten Sachverstand. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse erwiesen sich für alle konstruktiven, ökonomischen und akustischen Fragen von Vorteil und seine durch mathematische Studien erworbenen ‚synthetischen‘ [in Zusammenhängen denkenden] Fähigkeiten, machten ihn zugleich zu einem gestandenen Planer. Sein Wissen über die Architektur hatte er allerdings größtenteils aus Büchern erworben. Während der großen Pest, die London in den Jahren vor dem Großen Feuer heimgesucht hatte, hielt er sich in Paris auf, wo er mit großer Energie soviel wie möglich über Architektur zu lernen suchte – gerade war der Louvre im Bau. Davon abgesehen hatte er keine Architektur außerhalb Englands kennen gelernt. Zu jener Zeit genoß kein englischer Architekt ein so überragendes Ansehen wie Inigo Jones (gestorben 1651). Wren bekleidete ein Amt als ‚Deputy Surveyor‘ des königlichen Bauamtes. Offiziell unterstand er Sir John Denham und war einer der fähigsten Beamten, obwohl er noch keine Gelegenheit hatte, eine größere Bauaufgabe zu realisieren. Im Jahr des Großen Feuers übertrug ihm der König die Aufgabe, einen 89

Stadtplanungen im Jahre 1666

Plan für die Restaurierung der baufälligen St. Paul’s Cathedral auszuarbeiten. Wren legte seine Pläne im Mai des Jahres 1666 vor. Für Wren war das Große Feuer die Chance seines Lebens, einige der Konzepte für die Neuformulierung der modernen Stadt umzusetzen, die er auf dem Kontinent kennengelernt hatte. Der Plan, den er ausarbeitete, während das Feuer noch tobte, ist ein recht abstraktes Produkt eines bedeutenden Intellekts. Es war eindeutig der Mathematiker in ihm, der, ausgehend von bestimmten fixen Postulaten, ein interessantes geometrisches Problem gelöst hatte. Für ihn war vollkommen klar, daß man erstens die Stadt durch die Tore und über die Brücke betritt; zweitens daß eine Stadt aus rechtwinkligen Häusern gebildet wird; drittens alle Straßenecken möglichst rechtwinklig ausgebildet sind; viertens die Eingänge in die Stadt einen übersichtlichen Zugang zu allen Teilen der Stadt bieten, und fünftens das Zentrum des Handels, die Börse, und das religiöse Zentrum, St. Paul’s, eine bevorzugte Lage in der Stadt erhalten. Das Problem war das Geflecht der Straßen. Er löste es durch die Anwendung üblicher Formideale der damaligen Zeit. Während der vergangenen Jahrhunderte hatte es viele Theorien über Stadt­planung und eine beträchtliche Menge Literatur über Idealplanungen gegeben. In befestigten Städten, die als regelmäßige Polygone gezeichnet und ausgeführt wurden, verlief das Straßennetz ausgehend von einer, mit einem Turm, baulich akzentuierten Mitte. Die Wirkung vieler Straßen, die an einem Platz zusammentreffen, war ein bevorzugtes Mittel der Stadtplanung. Es wurde unterschiedlich eingesetzt und basierte geradezu selbstverständlich auf einem Straßensystem mit einem Tor als Ausgangspunkt. Das wichtigste Beispiel war die Piazza del Popolo in Rom mit drei Straßen, die die Stadt durchschneiden. Unter der Herrschaft des französischen Königs Henri IV., zu Beginn des 17. Jahrhunderts, wurde für Paris ein fächer­förmiges Straßensystem vorgeschlagen, das, von einer Seinebrücke ausgehend, an eine halbkreisartige Bebauung aus uniformen Gebäuden anschloß. Dieser Plan wurde nie ausgeführt, aber Wren könnte davon eine Radierung gesehen haben; auf jeden Fall war es ein typischer Plan jener Zeit. Wren hat diese Idee für seinen Entwurf aufgegriffen: Von der London Bridge gehen vier Hauptstraßen aus. Eine Straße führt zur Börse, die wie in einem Spinnennetz aus geraden Straßen, wie der Turm einer Idealstadt, gelegen ist. Von Ludgate, dem westlichen Stadttor, verlaufen zwei wichtige Linien; und zwischen diesen liegt, exakt auf der Winkelhalbierenden, als dominanter Punkt die St. Paul’s Cathedral. Der ganze Plan 90

Christopher Wrens Plan

Die Höhenlinienkarte zeigt, wie Christopher Wrens Plan sich in den Stadtgrundriß von London einfügt. Die Ziffern bezeichnen die Höhe in Fuß.

wurde schließlich mit einem Netz aus möglichst rechtwinklig aufeinander­stoßenden Straßen aufgefüllt. In bestimmten Abständen waren potentielle Standorte für Kirchen freigelassen. Es ist unbekannt, ob Wren die Zeit hatte, seinen Plan mit einer Legende zu versehen. Nach seinem Tod hat sein Sohn seine Ideen zusammengefaßt (1750 in Parentalia durch seinen Enkel veröffentlicht). Es ist jedoch schwer festzustellen, ob diese Beschreibung auf Fakten beruht, welche Christopher Wren selbst notiert oder ihm persönlich übermittelt hatte, oder ob es einfach eine Erklärung dessen ist, was der Sohn in dem Plan sah. Wren war ein glühender Verehrer Berninis (siehe S. 177), und viele Jahre später machte er einen Vorschlag für den Vorplatz vor St. Paul’s, der sein Interesse für Berninis Piazza San Pietro in Rom zeigt. Aber zu jener Zeit, als Wren eilig den Entwurf für London zeichnete, hatte er den ‚imposanten Platz‘ noch nicht als Mittel der Stadt­planung entdeckt. Alle in seinem Plan enthaltenen Plätze sind bloß Aufweitungen von Straßenkreuzungen. Nicht ein einziger ruhiger und prächtiger Platz ist ausgewiesen. Insofern ist sein Plan eher mit der Gartenarchitektur der Zeit – wie sie Le Nôtre vertreten hat – als mit der Stadtplanungskunst des Barock verbunden. Der Plan von Evelyn ist grundlegend anders. John Evelyn war der typische, reiche, gut ausgebildete Adlige, der sich ausschließlich seinen Hobbys widmen konnte und seine Zeit nach ästhetischen und praktischen Themen einteilte. Auf seinen Reisen 91

Stadtplanungen im Jahre 1666

Rom, Piazza del Popolo, mit den drei die Stadt durchquerenden Straßen, aus dem Nolli-Plan, 1748

Paris, Place de France-Projekt (Stich Castillon, 1610)

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Kontinentale Ideale der Stadtplanung

nach Holland, Belgien, Frankreich und Italien hatte er Gelegenheit, weitaus mehr zeitgenössische Architektur als Wren zu studieren. In seinem Plan schlägt er eine Serie großer und regelmäßiger Plätze vor, die die Gravitationszentren in dem von ihm erarbeiteten symmetrischen System bilden. Er stellte eine Beschreibung seines Plans zusammen, die glücklicherweise erhalten geblieben ist (und sich im Manuskript in der Guildhall Library in London befindet). Aus diesen Erläuterungen spricht ein überlegender, sensibler Mensch, der seine Augen auf Reisen zu gebrauchen wußte und nun eine Reihe praktischer und ästhetischer Details formulierte, die er als für London angemessen hielt. Es ist charakteristisch für sein Denken, daß nicht die geringste Erklärung für die großen Linien innerhalb des Plans auftaucht. Statt dessen findet man eine Fülle an Hinweisen für die direkte Umsetzung, bis hin zur Pflasterung, dem Kanalisationssystem und der Dekoration von Stadttoren. In bezug auf die Ästhe­t ik des Straßennetzes sagt er: „Bei der Anlegung der Straßen sollte gebührend berücksichtigt werden, was günstige Breiten der Straßen für Handel und Durchgang, Frohsinn und Stil sind. Deshalb sollten die Straßen nicht gleichförmig durch die Stadt führen, nicht ohne Variation und ohne nützliche Unterbrechungen sein und in richtigen Abständen Verbreiterungen zu Plätzen aufweisen; die Plätze sollten alle einheitlich, wirksam und mit schönen Fronten gebaut werden. Aber man möge nicht alle dieser Plätze quadratisch, sondern auch einige in rechteckiger, runder oder ovaler Form anlegen, um ihre Schönheit und Ausstrahlung zu steigern. Ich würde keine der Hauptstraßen weniger als 100 Fuß breit und keine der Nebenstraßen schmaler als 30 Fuß ausführen …“ Evelyns Plan zeigt ein Schachbrettmuster, in das er vier Diagonalen geschnitten hat. Diese verbinden die Hauptzugänge der Stadt, wobei die wichtigsten Kreuzungen zu dem werden, was er „Piazzas“ nennt. Nach seinen Beschreibungen sollten dort die Märkte stattfinden, und „Parken“ möglich sein. Er schlägt ihre Ausschmückung mit Brunnen vor. Dieser Plan, in dem die Blöcke zu groß und die Kreuzungen schwierig waren, schien unbefriedigend, und Evelyn, der seine Idee nicht aufgeben wollte, versuchte ihn zweimal zu verbessern, indem er sensibler mit den Maßstäben umging und sich mehr auf den Plan des alten London bezog. Aber die diagonalen Straßen, die das Schachbrett gnadenlos durchschnitten, behielt er bei. Diese progressive Art, einen Stadtplan anzulegen, bezieht sich – wie auch bei Wren – auf zeitgenössische Pläne für Wälder und Parks und hat offensichtlich L’Enfants Plan für Washington (1791) beeinflußt. 93

Stadtplanungen im Jahre 1666

Oben: John Evelyns erster Plan zum Wiederaufbau Londons Unten: John Evelyns Folgeprojekt, das die frühere Situation mehr einbezieht, aus: Vetusta Monumenta

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Evelyns und Wrens Pläne

Oben: John Evelyns dritter Wiederaufbauplan Unten: Christopher Wrens Projekt; aus: Vetusta Monumenta

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Stadtplanungen im Jahre 1666

Robert Hooke war wie Wren Mathematiker. Sein Plan ist verlorengegangen, aber man weiß, daß er regelmäßig wie ein Gitterrost war. Es ist durchaus möglich, daß es sich bei einem Stich des Großen Feuers, den ein Holländer anfertigte und den er ‚ein neues Modell für die durch Feuer zerstörte Stadt London‘ nennt, um Hookes Plan handelt. Valentine Knights Plan verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm bislang zuteil geworden ist. Im Gegensatz zu den Vorschlägen von Wren und Evelyn bestand er nur aus einer auf einem großen Breitformat gedruckten Beschreibung und war auf den 20. September 1666 datiert. Sie gibt Anweisungen zum rationellen Parzellieren des vom Feuer zerstörten Gebiets. Wren und Evelyn hatten mit Straßen gearbeitet und die Blöcke geformt, so gut es eben ging, ohne auf deren weitere Aufteilung zu achten (es wäre wie im alten London immer möglich gewesen, zu tiefe geratene Blöcke durch alleys [schmale Gassen] aufzuteilen). Knight hingegen teilte die ganze Stadt in lange schmale Blöcke, die leicht und ohne unbrauchbare Restflächen untergliedert werden konnten. Zuerst legte er zwei 60 Fuß breite, von West nach Ost parallel zum Fluß verlaufende Hauptstraßen an. Dann zeichnete er sechs Querstraßen mit gleicher Breite im rechten Winkel zum Fluß. Jeder der großen Blöcke, die zwischen den Hauptstraßen entstanden, war von nur 30 Fuß breiten Nebenstraßen geteilt, zehn Blöcke parallel zum Fluß und einer im rechten Winkel dazu. Dies ergab Blöcke mit einer durchschnittlichen Größe von 500 auf 70 Fuß, gerade breit genug, um eine Doppelreihe von Häusern mit je einem schmalen Hof aufzunehmen. Auf solchen Streifen, die ein Maximum an Häusern und ein Minimum an Straßenfläche ergeben, wird, wenn dem nicht außergewöhnliche Bedingungen entgegenstehen, stets ein ökonomisches Parzellieren möglich sein. Eine Reihe von Grundstücken außerhalb der City war bereits in dieser Weise aufgeteilt und sollte in Gegenden, in denen kein Bereich für öffentliche Plätze ausgewiesen war, typisch für Londons zukünftige street houses werden. Knight gab vor, daß in den Erdgeschossen der Häuser die Bürgersteige als Arkaden zu führen seien und ein Kanal („ein Einschnitt von 30 Fuß“) die City umgeben sollte. Jener Kanal solle den Schiffen ermöglichen, direkt von der Themse aus zu jenen Speichergebäuden zu gelangen, für die an den Anlegestellen kein Platz war. Keiner dieser Pläne wurde verwirklicht. Sie erreichten noch nicht einmal das Parlament oder die Stadtverwaltung, um diskutiert zu werden. Wrens Plan ist von der Nachwelt sehr bewundert worden. Es wurde kaum über ihn gesprochen, ohne zu bedauern, daß er nicht ausgeführt worden sei. Man nahm 96

Robert Hookes Plan

Robert Hookes Plan (vermutlich), aus: [Marcus Willemsz] Doornick, A View of the Fire

ihn allgemein als ein weitsichtiges Beispiel von Stadtplanung auf, das London zu einer wunderbaren Stadt, schöner noch als Paris, hätte machen können, wenn nicht die engstirnigen und kurzsichtigen Politiker jener Zeit seine Ausführung verhindert hätten. Einer modernen, weniger von bloßer Ästhetik bestimmten Auffassung erscheint die Sachlage etwas anders. Wrens in wenigen Tagen erarbeiteter Plan ist ein schönes Beispiel für eine bestimmte Art von Stadtplanung, wie sie jedoch bald überwunden sein sollte. Es ist die Stadtplanung des Absolutismus, die, was die äußere Form anbelangt, solche imposanten Ergebnisse zeitigte, während ihre Pracht zugleich die vitalen Funktionen der Stadt unterdrückte. Das als schönste Stadt bewunderte Paris ist ein gutes Beispiel für eine große Stadt, deren natürliches Wachstum stets durch die Regierung kontrolliert wurde. Im Ergebnis sind die Häuser in die Höhe gewachsen, was die Möglichkeit eröffnete, prächtige Straßen und Plätze anzulegen. Die Kehrseite der glänzenden Medaille aber ist der Verlust von Erholungsflächen und beengte und zu dicht besiedelte Viertel, Brutstätten für die gefährlichste Sorte von Pöbel. Modernen Ideen entsprechend ist es unmöglich, einer Stadt eine endgültige und festgelegte Form zu geben. Ein Stadtplan ist nicht länger ein schönes Muster aus Straßen, das ein kluger Mensch in ein oder zwei Tagen entwerfen kann. Heutzutage basiert eine gesunde Stadtentwicklung auf gründlichen Untersuchungen der bestehenden Bedingungen. Niemand träumt davon, die detaillierte Gußform für eine ganze Stadt herzustellen. Um zu erreichen, daß alle Funktionen der Stadt 97

Stadtplanungen im Jahre 1666

sich bestmöglich entwickeln können, wird ein Programm für ihr Wachstum ebenso in Worten (ähnlich Knights Vorschlag) wie in Zeichnungen beschrieben – ein Programm, das notwendigerweise mit dem Wachstum Schritt halten und sich im Laufe der Zeit zusammen mit der Stadt verändern muß. Daß Wrens Ideen altmodisch wirken, ist aus moderner Sicht nicht überraschend. Es erschiene auch fehl am Platz, eine aktuelle Betrachtungsweise im Zusammenhang mit diesen alten Plänen aufzuführen, wenn nicht die weitere Geschichte des Wiederaufbaus Londons gezeigt hätte, daß es in England unter Charles II. in der Tat Männer gab, die überraschend modern in ihrer Auffassung von Stadtplanung waren. Der König mußte allerdings die Planungen sofort aufgeben, was wiederum nur eine der zahlreichen Niederlagen des Absolutismus in England ist und uns ein weiteres Mal das Bild bestätigt, das wir vom Verhältnis zwischen London und dem Monarchen haben. Aus unserer Sicht ist die Ablehnung von Wrens Plan kein Fehler, sondern eher ein neuer Triumph für das, was als die Idee Londons bezeichnet werden könnte, weil es, wie wir gesehen haben, in dem anscheinend zufälligen Wachstum der Stadt doch eine Art Plan gegeben hat. Durch die gesamte Geschichte Londons finden wir nämlich eine latente Kraft, einen Wunsch, die Stadt zu pflegen, da London, im Gegensatz zu anderen Hauptstädten, selbstverwaltet und unabhängig von der Krone war. Standards für ihr Wachstum konnten der Stadt nicht verordnet werden. Diese lokale Regierung war ihr Lebensnerv und wichtiger als irgendwelche Pläne. Es erscheint paradox, aber es gibt wohl mehr echte Stadtplanung im ungelenkten Wachstum Londons als zeitgleich in kontinentaleuropäischen Städten, die sich nach vorgegebenen Konzepten entwickelten. Bei näherer Betrachtung war Wrens Plan unmöglich auszuführen. Nicht eine Straße, nicht ein Gebäude war noch am alten Platz. Und selbst wenn sämtliche Häuser niedergebrannt gewesen wären, gab es etwas bei weitem Unbeweglicheres als Stein und Holz, nämlich die Grundstücke mit ihren Grenzen. Jeder Bürger konnte genau zeigen, wo sein Haus gestanden und wie weit sich sein Grundstück ausgedehnt hatte. Der Wert der Parzelle hing nicht nur von ihrer Größe, sondern auch von der Lage ab. Wenn Wrens Plan ausgeführt worden wäre, hätten alle individuellen Besitzungen in ein großes Stück Land überführt und anschließend unter hunderten von Eigentümern wieder aufgeteilt werden müssen. Heutzutage wäre das durch eine umfangreiche Enteignung durch die Regierung möglich, aber in der Zeit Charles II. 98

Wrens aufgegebene Pläne

undenkbar. Moderne Banken waren noch unbekannt. Die Stadt war durch Pest und das Feuer verarmt und hätte niemals die dazu notwendigen enormen Summen aufbringen können. Außerdem hatte man keine Erfahrung bei der Besteuerung von Häusern und Grundstücken, die erst in späteren Jahrhunderten erworben wurde. Die Ablehnung des Plans ist darum keine Überraschung. Jede nüchterne Begutachtung ergab, daß er einfach nicht ausführbar war. Der interessante Aspekt ist allerdings, wie schnell er aufgegeben wurde. Als Wren am 10. September vom König empfangen wurde, studierte dieser den Plan mit großem Interesse. Für Charles II., der für mehrere Jahre am französischen Hof gelebt hatte, muß es eine attraktive Idee gewesen sein, London als prächtige Hauptstadt aufzubauen. Am gleichen Tag schrieb William Morice, einer der Privatsekretäre des Königs, folgenden Brief aus Whitehall an den Bürgermeister von London: „My Lord – Seine Majestät ist informiert worden, daß just einige Personen dabei seien, in der City of London Häuser auf den alten Fundamenten zu errichten, und befiehlt, daß Eure Lordschaft allen Hausbau bis auf weiteres unterbinde. Seine Majestät hat bestimmte Modelle und Zeichnungen für den Wiederaufbau der Stadt vor sich. Mit mehr Anständigkeit und Bequemlichkeit als zuvor. Sollte ungeachtet dieser Anordnung weitergebaut werden, so soll Eure Lordschaft jene wissen lassen, daß, gleich was gebaut wird, es abgerissen und eingeebnet werden wird. So verbleibe ich Eurer Lordschafts demütigster Diener, Will Morice.“ Dieser Brief vermittelt den Eindruck von einem absoluten König, der an seinem Tisch sitzend, die Pläne für den Wiederaufbau seiner Hauptstadt studiert und väterlich überlegt, was zu tun sei, damit sie sein Reich schmücken werde. In einem Brief eines gewissen Dr. Oldenburg, Sekretär der Royal Society, heißt es: „ … Mr. Wren hat das letzte mal das Modell einer neuen Stadt gezeichnet und dem König präsentiert, der es daselbst vor seinen Ausschuß gebracht hat, und sehr viel Zustimmung dafür befand.“ Aber schon drei Tage später gab der König Wrens Plan vollständig auf, eine Tatsache, die sich klar aus einer Proklamation vom 13. September ergibt. Wir wissen nicht, was in der Zwischenzeit passierte, aber nach der Verlautbarung scheint es, als sei der König von Vertretern der Stadt beeinflußt worden. Womöglich hatte der Bürge­r­meister von London – beunruhigt von den Gerüchten über Wrens Plan – beim König vorgesprochen, um zu erklären, daß die Verwirklichung eines solchen Idealplans absolut 99

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unmöglich sei, und in der Proklamation klingt es so, als habe der König nicht vor, das heilige Eigentumsrecht anzugreifen. Am 13. September, als der Erlaß publik wurde, war Evelyn in seiner Wahrnehmung der Verhältnisse Londons nicht weiter gediehen, als dem König seinen Plan zu präsentieren. Er war kein Dummkopf, sondern ein Mann von Welt, aber sein Plan war ebenso utopisch angelegt wie der von Wren. Man achte auch auf den Ton der königlichen Proklamation. Es ist nicht mehr der absolutistische Herrscher, der hier befiehlt. Die Proklamation liest sich eher wie eine Verlautbarung aus Tudors‘ Zeiten, wie eine der geschickten Verständigungen Königin Elisabeths mit ihrem Volk und beginnt recht natürlich und selbstverständlich: „Da kein Mensch einen Verlust oder Schaden seines Besitzes oder Anwesens durch das kurz zurückliegende Feuer erlitten hat, der in irgendeiner Weise mit dem Verlust oder Schaden, den Wir Selbst erlitten haben, zu vergleichen wäre, so wird sich keiner dies mehr zu Herzen nehmen und sich mehr für den Wiederaufbau dieser berühmten Stadt einsetzen [als Wir]: Und da es Gott als Zeichen seines Unwillens über unsere Sünden gefiel, sein schweres Urteil über Uns zu fällen, trösten Wir Uns mit einiger Hoffnung, daß er Uns, neben der gerechten Strafe, als Zeichen seines Segens, Leben schenkt, um nicht nur die Fundamente gelegt zu haben, sondern auch die Gebäude einer weitaus schöneren als die gerade vernichtete Stadt neu errichtet zu sehen; …“ Aus der ganzen Proklamation spricht gesunder Menschenverstand. Sie besagt, daß es unmöglich sei, Regeln für den Wiederaufbau der Stadt festzulegen, aber daß Probleme, die durch das vorzeitige und individuelle Errichten von Gebäuden verursacht würden, vermieden werden müssen. Deshalb sei weitere Bautätigkeit bis auf weiteres verboten. Die Proklamation fährt fort: „Und niemand möge sich beschweren über diese Anordnung, daß sie für eine lange Zeit gehindert werden, Behausung für sich zu schaffen und sich um ihre Geschäfte zu kümmern, denn zweifellos wird binnen kurzer Zeit, mit der Hilfe und Weisung des Lord Mayor und des Court of Aldermen [des Bürgermeisters und des Stadtrates], (die seit einiger Zeit darauf drängen, diese Anordnung zu erlassen,) der Entwurf fertiggestellt – gar bevor irgend jemand sich Material für ein ernstzunehmendes Haus beschaffen könne. Wir erklären hiermit: So sich eine nennenswerte Anzahl Männer (weil es unmöglich ist, mit jedem einzelnen zu verhandeln) beim Court of Aldermen einfinden und angeben kann, wo sich die Grundstücke befinden, auf denen sie bauen wollen, sollen sie in kurzer Zeit Anordnung erhalten, wie 100

Die Proklamation des Königs

vorzugehen sei, so daß sie keinen Anlaß zur Beschwerde haben mögen. So werden wir fortfahren, den Generalplan auszuarbeiten, nach dem jeder einzelne Entwurf sich zu richten habe.“ In der Proklamation ist bereits ein späteres Gesetz enthalten, daß die Häuser in der Zukunft nur noch aus Ziegel oder Stein gebaut werden sollen. Die Breiten der Straßen betreffend, wird folgendes erklärt: „Fleet Street, Cheapside, Cornhill und alle weiten wichtigen und geschäftigen Straßen sollen so breit sein, daß, mit Gottes Segen, das Unheil verhindert werden möge, daß die eine Straßenseite leide, wenn die andere in Brand gerät, so wie dies gerade letztens in Cheapside der Fall gewesen ist. Die genaue Breite der Straßen soll nach Anordnung des Lord Mayor und der Aldermen, zusammen mit anderen Anordnungen, die noch nicht erlassen werden konnten, bestimmt werden. In der Zwischenzeit legen wir fest, daß, obwohl eine einheitliche Straßenbreite unmöglich wäre, keine Straße, insbesondere in Richtung Waterside, so schmal sein soll, daß die Durchfahrt unbequem sei. Auch gestatten wir nicht, daß irgendwelche lanes or allyes [schmale Gassen] geschaffen werden, es sei denn, sie seien nach reifer Überlegung absolut notwendig …“ Da das große Ausmaß des Feuers hauptsächlich auf der Anhäufung schmaler, hölzerner Häuser entlang der Themse beruhte – eine Tatsache, die es unmöglich machte, das Wasser des Flusses zum Löschen der Flammen zu benutzen –, ist in der Bestimmung festgelegt, daß entlang des Flusses ein breiter Kai anzulegen sei. Zu den Häusern entlang der Themse sagt die Proklamation: „… noch sollen sich in jenen Häusern, die am Fluß zu errichten sind, wo nach Unserem Wunsch anmutige Gebäude zum Schmuck der Stadt entstehen sollen, Brauer, Färber oder Zuckerbäcker ansiedeln, deren Gewerbe mit ihren ständigen Gerüchen 1 sehr zur Ungesundheit der angrenzenden Gebiete beitragen. Aber Wir ersuchen den Lord Mayor und den Londoner Stadtrat, wohl abwägend nach vorauszusehender Zuträglichkeit oder Unzuträglichkeit für die Gewerbe, die mit Qualm und Geruch einhergehen, einen Platz vorzuschlagen. Dort oder aber zumindest an einem Ort in den jeweiligen Stadtteilen, wo sie ihr Auskommen finden, sollen sie sich versammeln. Genauso möge den anderen ein Nutzen aus der Distanz zu diesem Viertel entstehen. Es ist Unsere Absicht, daß jenen, die diese notwendigen Berufe ausüben, wie eh und je der ungeteilte Respekt gezollt wird, daß sie ermuntert werden und wenigen Vorurteilen ausgesetzt sein mögen.“ 101

Stadtplanungen im Jahre 1666

Die Proklamation ist insgesamt erstaunlich modern. Ein wahres Stück StadtÂ� planung, ein Programm für die Entwicklung der Stadt. Auch die am Ende angesprochenen Hilfsmaßnahmen sind fortschrittlich. So sollen Beamte für die Vermessung der Grundstücke und zur Ermittlung des spezifischen Wertes der einzelnen Parzellen eingesetzt werden: „… mit dieser Anordnung, obwohl niemand ein Haus errichten darf, wo es ihm beliebt, soll keinesfalls verhindert werden, daß er den gerechten Anteil dessen bekomme, was ihm an Häusern und Land gehört. Es ist nichts weniger in Unserer Absicht, als das die Rechte und Interessen einer einzelnen Person dem Vorteil und der Bequemlichkeit der Allgemeinheit geopfert würden. Ohne solche Rückerstattung soll er das gleiche durch das Gesetz erhalten: Und damit alle diese Dinge durch die Kommissare geregelt werden können, versichern Wir, was angebracht erscheint, daß ein Parlamentsbeschluß folgen wird, der einem jeden zusichert, was er besitzen möge und sollte.“ Der arme Valentine Knight hatte nicht im geringsten verstanden, aus welcher Richtung der Wind wehte. In seinem Vorschlag hatte er einen sorgfältigen Plan zur Finanzierung des Wiederaufbaus dargelegt. Dieser beinhaltet, daß jeder Einwohner in Zukunft eine jährliche Pacht, bezogen auf die Größe seines Baugrundes, an den König zahlen solle. Die beachtliche Summe von 223.517 Pfund, die auf diese Weise eingenommen werden könnte, sollte für den Unterhalt der königlichen Armee und Marine benutzt werden (Knight war Captain im königlichen Dienst). Auch sollte jede Person, die Schaden durch das Feuer erlitten hatte, eine vom Parlament festzulegende Summe von diesem Geld erhalten. Der König wünschte sicherlich nichts mehr als eine große jährliche Zahlung, um seine Armee zu unterhalten, aber er hatte auch bemerkt, daß Knights Plan utopisch war, und er wußte, wie gefährlich es wäre, ihn zu veröffentlichen. Auf jeden Fall ließ er den erfinderischen Captain verhaften und nutzte die Gelegenheit, seinen Untertanen eine kleine Predigt zu halten: „Als ob“, schrieb die London Gazette zwischen dem 27. September und 1. Oktober 1666, „Seine Majestät, einen Vorteil aus einer so allgemeinen Tragödie seines Volkes ziehen würde, von welcher seine Majestät sehr genaue Kenntnis besitzt, ist Sie doch eher geneigt, ihm [seinem Volk] Erleichterung zu verschaffen.“ Die Vorschläge der anderen Verfasser hatten mehr Glück, obwohl auch sie die Dringlichkeit der Angelegenheit nicht erkannten und auch ihre Pläne verworfen 102

Differenzierung von Straßen

Haustypen und -größen, die nach dem Großen Feuer bei verschiedenen Straßenbreiten erlaubt waren, 1666

werden mußten. Evelyn erfüllte weiterhin das Amt des vertrauten, aber inoffiziellen Beraters des Königs in vielen Fragen. Als der König hastig eine Kommission zum Wiederaufbau Londons ernannte, war diese mit Sir Roger Pratt, Mr. Hugh May und Dr. [Christopher] Wren besetzt. Sie sollten eine Studie über die Stadt in Hinblick auf Regelungen zum Wiederaufbau anfertigen. Dieser Kommission traten noch drei weitere Männer bei, unter ihnen der schon erwähnte Professor Hooke. Aus Sir Roger Pratts Lebenserinnerungen, die erst kürzlich veröffentlicht wurden, läßt sich entÂ�nehmen, wie sie arbeiteten: schnell und mit beispielhafter Vorgehensweise. Der frühere Zustand der City wurde genau aufgenommen, um so eine Basis für Umrisse eines zukünftigen London zu erhalten. Man gab zu, daß die Straßen zu schmal gewesen waren. Aber die Kommission unterlag nicht der Versuchung, für alle Straßen eine gleichermaßen großzügige Breite zu verlangen. Breite Straßen waren nicht nur aus praktischen Gründen nach der Einführung von Kutschen wünschenswert, sie korrespondierten auch mit ästhetischen Idealen der Zeit. Viele Stadtpläne des 16. und 17. Jahrhunderts weisen einheitliche Straßenbreiten auf. Die Versuchung, genau dies zu machen, besteht, da es anscheinend wenig Geld kostet und alle Möglichkeiten offenhält. In Wirklichkeit ist es ebenso schlecht, zu viel Straßenraum zu haben wie zu wenig. Das gesamte Geld, welches für extravagante Straßen ausgegeben wird, muß durch intensive Bebauung aufgewogen werden, was wiederum höhere Gebäude und eine unnötige Ballung von Menschen nach sich zieht. Schon bei ihrem dritten Zusammentreffen entschied die Kommission, daß sie von einer ganzen Palette von Straßentypen würde ausgehen müssen, deren Breiten 103

Stadtplanungen im Jahre 1666

High Holborn: Staple Inn, 1930, typisches Haus vor dem Großen Feuer

Gough Square: Haus von Dr. Samuel Johnson, typisches Haus aus der Zeit nach dem Großen Feuer

zwischen 16 und 100 Fuß liegen. Den Herbst über arbeitete das Parlament mit Hochdruck, um das Baugesetz für die City fertigzustellen. Es wurde am 8. Februar 1667 verabschiedet. Wenn man bedenkt, daß es zu einer Zeit beschlossen wurde, als sich die Stadt noch in Panik befand, scheint es aus heutiger Sicht nahezu unbegreiflich, wie es, auch unter modernen Gesichtspunkten, so konsequent und genau formuliert werden konnte. Es läßt vielfältigste Straßenprofile mit den entsprechenden Haustypen zu, wie in dem Diagramm von Mr. W. R. Davidge dargestellt. In dunkleren Nebenstraßen ohne Durchgangsverkehr wurden nur verhältnismäßig niedrige Häuser genehmigt, während höhere Gebäude an breiteren Straßen zu errichten seien. Aus der Art und Weise, wie das Projekt verwirklicht werden sollte, läßt sich viel lernen. Wie in der Proklamation des Königs versprochen, sollten die vor dem Feuer bestehenden Rechte der Besitzer respektiert werden. Niemand wollte sie ändern, aber es war offensichtlich, daß einige Korrekturen notwendig sein würden, und daß die City in der Lage sein müsse, Land zu kaufen, dessen Lage die Verwirklichung eines besonderen Projekts behinderte. In solch einem Fall würde eine unabhängige Jury 104

Ablösung von Holz durch Stein

berufen, die den Wert des Grundstücks ermitteln würde, und die Stadt hätte den privaten Besitzer zu entschädigen. Gleichzeitig wurde deutlich, daß der Plan zum Vorteil vieler Landbesitzer war. Diese mußten in der Konsequenz die Wertsteigerung ihrer Grundstücke an die Gemeinschaft abführen. Hier haben wir ein Beispiel dafür, wie hoch entwickelt das englische Sozialsystem bereits zu jener Zeit war: Die Lösung delikater Probleme in Bezug auf Privateigentum wurde, ohne in absolutistische Methoden zurückzufallen, durch die Etablierung eines Schiedsgerichtes erreicht. Eine Vorschrift im Gesetz zum Wiederaufbau Londons verdient besondere Beachtung. Sie besagt: Wenn der Besitzer nicht spätestens drei Jahre nach dem Feuer sein Grundstück bebaue, falle es ins Eigentum der Stadt, die ihn entsprechend einer Bewertung auszahlen müsse. Die Stadt habe das Recht, selbiges Grundstück an Inte­ ressenten weiterzuverkaufen, die zu bauen beabsichtigten. Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß Grundbesitz niemals nur privates Eigentum sein könne. Per Gesetz gehört das Land der Gemeinde, und ein Privatmann kann sich dessen Nutzung sichern. Wenn ein Grundstück allerdings, ohne jeglichen Gebrauch, brachliegt, verliert man sein Recht und muß es anderen zur Verfügung stellen. Wer in der Lage ist, sein Land produktiv zu nutzen, gewinnt andererseits ein spezielles Schutzrecht, das ihm nur schwerlich entzogen werden kann. (Nach englischer Denkweise war es darum unmöglich, einen Plan wie den von Wren auszuführen, demzufolge alle Bürger, die durch das Feuer geschädigt waren, ihren privaten Besitz in einen großen Gemeinbesitz hätten einbringen müssen. Dies hatte Colonel Birch im Parlament während der Debatte über das Baugesetz angeregt.) Gleiches gilt für die Umstände des allgemeinen Rechts, Freiflächen für Sport und Spiele zu nutzen, selbst wenn sie in privatem Besitz waren. Auch dies wird als produktiver Gebrauch von Land er­achtet, und sobald es etabliertes Recht geworden ist, kann dies ebensowenig rückgängig gemacht werden wie das Recht, auf dem Land zu bauen. In den darauf folgenden Jahren wurde London, anstatt wie in früheren Zeiten aus vergänglichem Holz, in Ziegel und Stein wiederaufgebaut. Neue Straßen wurden angelegt, alte verbreitert, und an der Themse entstand eine breite Straße mit einem Kai. Auch wenn der Wiederaufbau nicht in den drei Jahren vollendet werden konnte, mit denen im Gesetz gerechnet wurde, erschien London dennoch als reiche, mächtige Stadt, die nach einer schrecklichen Katastrophe jederzeit in der Lage war, in neuer und besserer Form zu erblühen. 105

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Bibliographie Das Große Feuer von 1666 und der Wiederaufbau Londons ist vollständig beschrieben in Walter George Bell: The Great Fire of London 1666, London 1920. Die Pläne von Wren, Evelyn und Hooke und deren Geschichte werden diskutiert von Sydney Perks in dem Artikel London Town-Planning Schemes im Jahre 1666 im Journal of RIBA., 20. Dezember 1919, S. 69 ff. Die beste historische Berichterstattung über den Wiederaufbau von London erfolgte durch T. F. Reddaway in seinem The Rebuilding of London after the Great Fire, Cape 1940. Wrens Orginalplan befindet sich im All Soul’s College, Oxford. In Parentalia (1750) gibt es eine Beschreibung des Plans, aber wie bereits erwähnt ist unbekannt, ob diese authentisch ist oder nicht. Wrens Plan ist – etwas verändert – zu sehen in John Gwynn: London and Westminster Improved, 1760. Wrens Plan und drei von Evelyns Plänen wurden in Vestusta Monumenta, II. 1789 (Society of Antiquaries of London) veröffentlicht. John Evelyns Beschreibung zu seinem Plan ist in John Evelyn: London Revived, herausgegeben von E. S. de Beer, Oxford 1938 veröffentlicht. Der reproduzierte Plan, den man Hooke zuschreibt, ist in A View of the Fire von Doornick abgebildet. In bezug auf die Kommission für den Wiederaufbau von London siehe The Architecture of Sir Roger Pratt, Oxford 1928, S.12ff. Über Colonel Birchs Plan ist nachzulesen in Pepys’ Tagebuch, 24. Februar 1667.

1 I m Jahre 1661 hatte John Evelyn ein Traktat, Fumifugium, über die Geruchsbelästigung und, wie sie zu beseitigen sei, verfaßt. Seinen Tagebuchein­t rägen vom 13. September und 1. Oktober 1661 nach zu urteilen war der König sehr an der Sache interessiert. Bei Ostwind war selbst in Westminster der Gestank störend. Der König wollte, daß das Parlament auf Grundlage von Evelyns Vorschlag ein Gesetz erlasse – aber nichts geschah.

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7 Verkehrsverbindungen in London

London wußte schon immer neue Transportmittel zu nutzen. Wenn man bedenkt, über welch riesiges Gebiet sich die Stadt ausdehnt, dann ist dies absolut notwendig. Die großen Distanzen weckten heftiges Interesse an der Verbesserung sämtlicher Transportmöglichkeiten und bewirkten, daß der Entwicklung des Verkehrs weniger Steine in den Weg gelegt wurden als in anderen Städten. Zum einen führte der verbesserte Personentransport zu einer noch schnelleren Ausbreitung der Stadt, und zum anderen erforderten die immer größer werdenden Entfernungen zusätzliche Beförderungsmöglichkeiten. Pepys’ berühmtes Tagebuch (1660 –1666) veranschaulicht lebhaft, wie ausgebreitet London schon im 17. Jahrhundert war und mit welcher Leichtigkeit die Bevölkerung die Entfernungen überwand. Pepys legte oft lange Wege nach Hampton Court im Westen und Greenwich im Osten zurück, ohne über Unannehmlichkeiten oder die verstrichene Zeit zu klagen, die er ununterbrochen mit Reiten, Fahren und Rudern zubrachte. Solche langen Reisen unternahm er nicht nur geschäftlich, sondern regelmäßig zum reinen Vergnügen. Nach einem betriebsamen Tag, den er mit seiner Büroarbeit um fünf Uhr morgens begann, machte es ihm nichts aus, sich abends mit seiner Frau und anderen Damen nach Vauxhall Gardens zu begeben. Die Geschichte, daß Shakespeares erste Arbeit am Theater die des Stalljungen war, gibt uns einen Einblick in das Leben des elisabethanischen London. Natürlich bezweifeln die Studenten von Shakespeares Werk den Wahrheitsgehalt dieser Legende, wobei sie aber nicht an der Existenz eines Jungen zweifeln, der sich während der Vorstellung um die Pferde der Zuschauer kümmerte. Die Strecken waren wirklich zu weit, um sie zu Fuß zurückzulegen, so daß man zum Theater ritt. Ein Theater­ besuch war zu jener Zeit selbstverständlich Männern vorbehalten. Für längere Reisen wurde ein sogenannter Long Wagon gebraucht, ein verlängertes Fahrzeug mit breiten, den holprigen Straßen angepaßten Rädern. Dieses Gefährt wurde von sechs, acht oder mehr Pferden gezogen und konnte bis zu 20 Passagiere transportieren. 107

Verkehrsverbindungen in London

Es gab eine regelmäßige Verbindung zwischen London und Canterbury, Norwich, Ipswich, Gloucester und weiteren Städten. Die meisten Reisenden bewegten sich allerdings hoch zu Roß. Der Long Wagon wurde zum Transport der Waren und für diejenigen eingesetzt, die weder reiten konnten noch wollten. Private Kutschen wurden Mitte des 16. Jahrhunderts eingeführt. Es war ein großes Ereignis, als Queen Mary 1553 zu ihrer Krönung in einem von sechs Pferden gezogen Triumphwagen vorfuhr, dem Lady Elisabeth (später Queen Elisabeth) und Lady Anne von Cleves in einem weiteren Wagen folgten. Im Jahre 1565 beschenkte ein Holländer Queen Elisabeth mit einer ‚Kutsche‘, einer deutlichen Verbesserung gegenüber dem Triumphwagen, wie man ihn noch zur Krönung von Queen Mary benutzt hatte. Das Staunen war groß, aber nichtsdestoweniger muß es alles andere als angenehm gewesen sein, in einer Kutsche ohne Federung zu fahren. Es wird erzählt, daß Queen Elisabeth im Jahre 1568 bei einer Unterhaltung mit dem französischen Botschafter ihre ‚brennenden Schmerzen‘ erwähnte, unter denen sie litt, seit sie einige Tage zuvor auf einer rasanten Tour in ihrer Kutsche ‚umher­gestoßen‘ worden war. Aber die Vorzüge der neuen Transportmittel müssen doch so beträchtlich gewesen sein, daß die Queen sie trotz aller Schmerzen weiter nutzte. Der Kutschbetrieb kam in Mode und wurde alsbald in den gehobenen Kreisen üblich. Bereits 1598 fand Stow mit der Formulierung für die schreckliche Anzahl von Kutschen ‚im Vergleich zu früher läuft jetzt die Welt auf Rädern‘ einen Ausdruck, der populär wurde, um die angespannte Rastlosigkeit der Zeit zu beschreiben. Ernste Gegnerschaft fanden die Kutschen unter der konservativeren Bevölkerung und vor allem unter den Fährmännern der Themse. Die Themse war die stille Landstraße, welche die vielen Stadtgebiete verband, sozusagen das gesamte besiedelte Gebiet Londons. Als Jurist legte man den Weg von Temple nach Westminster per Schiff zurück, anstatt über die holprigen und matschigen Straßen Strand und Charing Cross zu fahren oder zu reiten. Alle großen Prozessionen verliefen zu Wasser. Auf der jährlichen Parade der Lord Mayor’s Show wurde der Bürgermeister von London in seiner reich dekorierten Barke aus der City nach Westminster gerudert, wo ihn der König empfing. Man bekommt einen Eindruck davon, wie wichtig der Flußverkehr war, wenn man erfährt, daß die Zahl der Fährmänner und ihrer Familien 1613 in einer Stadt, deren Gesamt­ bevölkerung kaum 200.000 Menschen ausmachte, auf 40.000 anstieg. Sie führten gegen alle anderen Transportmittel, Wagen wie Kutsche, einen Propagandakrieg 108

Kutschen und Sänften

ohne Wirkung. Im Jahre 1601 hatten sie Erfolg und erreichten die Verabschiedung einer Gesetzesvorlage im House of Commons, „den übertriebenen und überflüssigen Kutschbetrieb einzudämmen“. Diese Vorlage wurde jedoch vom House of Lords blockiert. 13 Jahre später weigerte sich das House of Commons, eine ähnliche Maßnahme zu verabschieden. Auch in anderen königlichen Residenzen stieg die Anzahl der Kutschen, jedoch reichten weder in London noch in Paris die Privatkutschen für die adligen Familien aus. Bereits 1625 tauchten die ersten Mietdroschken auf. Diese erfuhren selbstverständlich wesentlich intensiveren Widerstand als die privaten Kutschen, aber die neue Entwicklung ließ sich nicht aufhalten. Die Fährmänner traten erneut auf den Plan und verdeutlichten, wie viel besser es wäre, wenn sich die Leute per Boot, beispielsweise, ins Theater bringen ließen. Ab 1634 wurde den Mietdroschken gestattet, auf den Straßen zu verkehren. Danach tauchte am Strand ein Haltepunkt mit vier Kutschen und Chauffeuren in Livree auf. Der breite Kutschentyp, mit Rädern, die auf jeder Seite weit überstanden, war in der Tat sehr ungünstig in den engen mittelalterlichen Gassen. So ist es kein Wunder, daß ein schmaleres Transportmittel willkommen war, das wie die Sänfte weniger Platz beanspruchte. Als der Herzog von Buckingham das erste Mal in einer Sänfte gesehen wurde, ertönten laute und entsetzte Proteste; man konnte doch seine Landsleute [die Träger der Sänfte] nicht wie Lasttiere nutzen. Doch im Jahre 1634 wurde einem gewissen Sanders Duncombe das Privileg eingeräumt, in London und Westminster Sänften zu verleihen, um, wie man sich ausdrückte, den unnötigen Gebrauch der Kutschen zu verhindern. Sie spielten damals die gleiche Rolle im Londoner Verkehr wie heutzutage das Baby Austin motor-car. [Der Austin 7, 1922–1939 in Großbritannien von der Austin Motor Company hergestellt, verdankte seinen Spitznamen „Baby Austin“, weil er einer der beliebtesten Kleinwagen war, die jemals für den britischen Markt produziert wurden.] Die Sänfte hatte nicht nur den Vorteil, weniger Platz als eine Kutsche einzunehmen, sie war überdies auf den unebenen Straßen auch viel bequemer. Sänften wurden sehr lange Zeit benutzt. Noch 1821 konnte man in London Sänften mieten, und bis heute kann man den Portechaise sicher noch in manch altem Haus, wenn auch nur als Pförtnerloge oder Telefonsitz stehen sehen. Lange waren Pferdekutschen großen Schwierigkeiten ausgesetzt. Es war natürlich eine Ermutigung, daß es als kostspielig und modisch angesehen wurde zu fahren, 109

Verkehrsverbindungen in London

sorgte aber zugleich für Neid. Fahren galt als ‚reines Statussymbol‘. Wie der große Held der Fährmänner, der Wasserpoet John Taylor, schrieb, waren die Straßen und Gassen keinesfalls darauf vorbereitet, befahren zu werden; und je mehr man sie benutzte, desto schlechter wurde ihr Zustand. Jeder konnte das sehen. Am besten wäre es, dieses Übel, den Verkehr, weitgehend einzuschränken. Daß die Straßen um des Verkehrs willen bestanden, war eine Idee, die bis dahin niemandem gekommen war! Das System von Gesetzen, das entstand, um die schon bestehenden Straßen vor dem Verfall zu schützen, wurde immer komplizierter. Kluge Köpfe erfanden Fahrzeuge, die die Straßen beim Fahren glattwalzen konnten, um sie auszubessern anstatt Schäden zu verursachen. Allen Ernstes wurde vorgeschlagen, nur diese Walzen einzusetzen. Auch wenn dieses Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt wurde, hatte es einen so großen Einfluß auf die Gesetzgebung, daß es mehrere Jahre lang zu einer Vielzahl von Verordnungen kam, welche die Konstruktion der Kutschen bis hin zu den Nägeln der Beschläge regelten. In London wurde ein Versuch unternommen, die Anzahl der Kutschen einzuschränken. Gemäß einer königlichen Proklamation von 1635 war das Fahren in hackney coaches [Mietdroschken] nur erlaubt, wenn die Entfernung zu Zielen außerhalb Londons mindestens drei Meilen betrug. Im Jahre 1637 lag die Zahl der zugelassenen Kutschen bei 50, aber bereits 1652 wurde eine neue Verordnung verabschiedet, nach der nur 200 Mietdroschken auf den Straßen fahren sollten. 1654 wurde die Zahl auf 300 erhöht, und als diese immer noch zunahm, versuchte man, sie auf andere Weise zu beschränken. 1660 überzeugten die Fährmänner Charles II., eine Proklamation zu erlassen, der zufolge in Zukunft Kutschen auf den Straßen nicht mehr gemietet werden könnten. An dem Tag, als die Proklamation in Kraft trat, notierte unser gewissenhafter Freund Samuel Pepys in seinem Tagebuch: „Noch gibt es immer eine (Mietdroschke), die mich heimbringt.“ Die Besitzer der Mietdroschken organisierten sich wie die Fährmänner, was nicht ohne Wirkung blieb; und sie wurden schließlich eine ernste Konkurrenz. 1694 gab es 700, im Jahre 1711 dann 800 genehmigte Kutschen. 1739 hatte London 725.903 Einwohner, und es gab 22.639 Pferde und 2.484 Personen, die ihre eigenen Fahrzeuge unterhielten. Daneben existierten 1.100 Mietfahrzeuge, 800 größere und 300 kleinere. Eine Kutsche mit Pferd zu führen, wurde bald zur Vorliebe der wohlhabenden Klassen. Der gesamte Adel, der die Jagd liebte und ein leidenschaftliches Interesse an Pferden hatte, entwickelte nun auch Lust am Fahren. Ein Beispiel dafür war Cromwell, der im Ring 110

Französische und englische Straßen

im Hyde Park fuhr. Fahren wurde zum Sport derer, für die Kosten kein Hindernis darstellte, und somit verbesserte man stets die Kutschen und erhöhte ihre Geschwindig­ keit. Indessen dauerte es sehr lange, bis angemessene Straßen angelegt wurden. Auf längeren Reisen fuhr man für gewöhnlich mit sechs Pferden, um nicht zu riskieren, im Schlamm steckenzubleiben; aber selbst dann war ein Vorankommen mühsam. Prinz George von Dänemark benötigte 1702 auf einer Reise in England sechs Stunden, um neun Meilen zurückzulegen, das sind eineinhalb Meilen pro Stunde! Eine Witwe, die 1728 in ihrem Testament schrieb, sie wünsche in Preston begraben zu werden, fügte bezeichnenderweise hinzu: „falls sie in einer Jahreszeit sterben werde, zu der man die Straßen befahren könne“. 1752 schrieb ein Mann in The Gentleman’s Magazine, daß die Straßen immer noch in einem Zustand seien, wie Gott sie nach der Flut zurückgelassen habe; und er fügt hinzu: „Nichts erzürnt mich mehr, als daß eine lumpige tyrannische Regierung wie die in Frankreich bezaubernde Straßen hat, die von der Hauptstadt zu jedem noch so ent­legenen Fleck führen“. Der Unterschied zwischen den französischen und den englischen Straßen war im 18. Jahrhundert über alle Maßen groß. Die absolutistische Regierung Frankreichs, dem Mutterland des Merkantilismus, stellte die größten Bemühungen an, ein Straßensystem zu schaffen, mit dem das ganze Land erschlossen werden konnte. Dies geschah ebenso aus militärischem wie aus kommerziellem Interesse. Truppen konnten leicht und schnell zu irgendeinem Teil des Königreiches befördert werden, und die Kuriere Seiner Majestät konnten ebenso schnell Nachrichten zustellen. Das Straßensystem des Absolutismus hatte jedoch keinen wirklichen Einfluß auf die Situation der Städte. Es sollte vor allem einen strategisch oder kommerziell wichtigen Punkt, wenn möglich in direkter Linie, mit einem anderen verbinden. Aber weder Stadtbewohner noch Bauern nutzten es. (In Dänemark war es den Bauern sogar streng verboten, auf den königlichen Straßen zu fahren. Nur im Dunkel der Nacht trauten sie sich mit ihren Karren auf die guten Hauptstraßen.) Arthur Young, der seine Reise (1787–1789) beschreibt, schildert, daß in Frankreich praktisch nur Adlige und Beamte Kutschen benutzen. Für sie war es leicht, von der Hauptstadt zu ihrem Schloß zu gelangen. In der Umgebung von Paris, außerhalb der klar definierten Stadtgrenzen, sah man jedoch wenig Verkehr. Nur auf der Straße nach Versailles strömte, laut [Hyppolite] Taine, morgens wie abends ein ununter­ brochener Zug von Kutschen in beide Richtungen. 111

Verkehrsverbindungen in London

In England war das ganz anders. Die Straßen waren schlecht, ohne einheitlichen Plan und von den lokalen Behörden sehr unterschiedlich verwaltet. In einer armen Gemeinde konnte man kaum die Spur einer Straße erkennen, während dies in einer reicheren Nachbargemeinde ganz anders aussehen konnte. Die Straßen, die einmal existierten, wurden aber ständig genutzt. London hatte keine klar definierte Grenze. Die Bevölkerung zog immer weiter nach draußen, und es gab einen fortwährenden Verkehrsstrom vom äußeren Ring der Vororte ins Zentrum. Den Bewohnern standen die unterschiedlichsten Fahrzeuge zur Verfügung: Mietkutschen und Sänften, Postkutschen, die regelmäßig auf längeren Strecken verkehrten, und Postpferde, die an bestimmten Haltestationen gemietet und ausgetauscht werden konnten. An den Straßen befanden sich Gasthäuser und Herbergen, manche darunter groß genug, um 200 oder 300 Gäste mit Gepäck und Pferden aufzunehmen. Für diejenigen, die gerne langsam und günstig zu reisen wünschten, gab es den zuvor schon erwähnten ‚Long Wagon‘, der auch Frachten transportierte. Andere, die in Eile waren, konnten mit den Flying Coaches [Fliegenden Kutschen] reisen, die schon 1669 eingesetzt wurden und London mit Oxford und Cambridge verbanden. Sie legten die Strecke an einem einzigen Tag zurück, was sehr schnell war. Anfangs wurde die Geschwindigkeit als übertrieben und anstößig angesehen, aber sehr bald setzten sich die Flying Coaches auch auf anderen Strecken durch. Der alte Stand der Dinge, nachdem jede einzelne Gemeinde jeweils für ihre eigenen Straßen verantwortlich war, ließ sich auf lange Sicht nicht beibehalten. Es mußte ein anderer Weg gefunden werden, um dem wachsenden Verkehrsaufkommen gerecht zu werden. Offenbar war es richtig, daß derjenige auch zu deren Unterhaltung beisteuern mußte, der die Straßen benutzte, statt der jeweiligen Gemeinden, die es in der Regel vorgezogen hätten, den Durchgangsverkehr gänzlich loszuwerden. 1663 machte man einen Anfang und verabschiedete ein Gesetz, welches besagte, daß Reisende eine kleine Maut zu zahlen hatten, wenn sie eine bestimmte Straße gebrauchten, die durch einen sehr dicht besiedelten Verwaltungsbezirk führte. Später wurden an vielen Straßen Schlagbäume angelegt. Obwohl es in der Tat ein Weg sein sollte, die Bürden der Landbevölkerung zu erleichtern, reagierte diese auf die neue Regelung äußerst empört. Populäre Hetzredner reizten die Bauern, indem sie ihnen erzählten, die Schlagbäume seien Teil eines von der Regierung ausgeheckten Plans, um sie ihrer Freiheit zu berauben und zu versklaven. Es kam zum offenen Widerstand, der von 112

Die ‚New Road‘

bewaffneten Truppen niedergeschlagen werden mußte. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das System angenommen. Ab da waren Schlagbäume weit verbreitet. Betrachtet man die Gesetzesarbeit des Parlaments zu jener Zeit, findet man hunderte die Straßen betreffende Verordnungen. Zwischen 1760 und 1809 wurden allein für Straßen mit Schlagbäumen 1514 Gesetze verabschiedet, viele in bezug auf die Hauptstraßen der nahen Nachbarschaft Londons. Man verbesserte das alte römische Straßennetz und ergänzte es durch eine Reihe neuer Straßen. Dies führte zu vielen neuen Straßen außerhalb Londons, was die Ausbreitung der Stadt förderte. Aber all diese Gesetzgebungen schienen nicht, wie im absolutistischen Frankreich oder auch in Dänemark, auf eine Siedlungsidee hinauszulaufen. Der Bau und die Instandhaltung von Straßen wurden, wenn vonnöten, hier und dort stückweise ausgeführt. Der Bau jener Straße, die sich als größte Notwendigkeit für London erwies, wurde 1756 genehmigt. Sie hatte den einfachen Namen New Road und verlief in einer langen gewundenen Linie im Norden der Stadt. Auf alten Karten sieht man, daß sie außerhalb, auf dem Land, weitab von aller Bebauung, geplant war. Sie durchzog Felder und verband etliche Dörfer. Es handelte sich in der Tat um eine Straße großen Maßstabs. Die Straße allein war 40 Fuß breit, und neue Häuser sollten jeweils weitere 50 Fuß von ihr entfernt liegen, was eine Gesamtbreite von 140 Fuß ergab. Diese New Road ist nun alt und wird überall von Gebäuden gesäumt. Die Weitsicht der Vorfahren, die an dieser Stelle der Stadt eine breite, offene Straße hinterließen, ist für die heutigen Londoner von großem Nutzen. Damit der Straßenbau vom Parlament genehmigt wurde, mußte ein Grund gefunden werden, um seine Notwendigkeit zu beweisen. In den Kommentaren zum Gesetz von 1756 zeigt sich das ganz deutlich. Darin stellte man klar, daß bei steigendem Verkehr auch die Fahrten durch die engen Straßen der Stadt stetig zunehmen würden. Weswegen ein Versuch unternommen werden müsse, das Verkehrsaufkommen durch einen Kreisverkehr zu verteilen, um die am dichtesten bewohnten Gebiete der Stadt zu entlasten. In der Gesetzesvorlage wird auf die besonderen Schwierigkeiten der Zeit aufmerksam gemacht: Die Straßen wurden nicht nur durch die vielen Fahrzeuge zerfurcht, sondern auch übermäßig von großen Viehherden beansprucht; sie waren für die tägliche Nahrungsversorgung vonnöten, störten aber mächtig. Die New Road sollte diese zahlreichen Ströme aufnehmen und sie geradewegs zu den Marktplätzen führen. Es ist kennzeichnend für die Zustände in 113

Verkehrsverbindungen in London

Die ‚New Road‘ (oberer Bildteil), Ausschnitt aus der Karte von John Rocque, Mitte des 18. Jahrhunderts

England, daß ein Vorhaben dieser Art nicht nur von einem durch das Volk gewählten Mann genehmigt wurde, sondern weitere Anstrengungen unternommen werden mußten, um die Notwendigkeit nachzuweisen. The Public Advertizer veröffentlicht am 20. Februar 1756 einen langen Artikel über die Vorzüge der New Road. Nachdem das Budget für die Instandhaltungskosten der Straßen auf eine vernünftige Art, nämlich durch die Schlagbaumgelder, beschafft werden konnte, wurde eine zweckmäßigere Bauweise als bisher bekannt zur Gewohnheit. Um 1800 erreichten einige britische Ingenieure ausgezeichnete Ergebnisse auf diesem speziellen Betätigungs­feld. Der Bekannteste unter ihnen war ein Schotte namens McAdam (1756–1836), der 1814 allein 30.000 Meilen reiste. Wie viele seiner Zeitgenossen maß er den Fragen, die mit dem Bau von Straßen verbunden waren, vorrangige Bedeutung für die Allgemeinheit bei. Zu seiner Zeit realisierte auch das Parlament, um was für eine wichtige Angelegenheit es sich handelte, und 1811 wurde eine Wahlkommission beauftragt, sich ihrer anzunehmen. McAdam schickte der Kommission einen langen, detaillierten Bericht. Der war so einleuchtend und treffend, daß seine Ideen allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Es wurde ihm zugesagt, die von ihm vorgeschlagenen 114

Straßen um 1800

Methoden zu prüfen. 1827 ernannte man McAdam zum Hauptaufseher und ließ eine große Zahl von Straßen ‚schottern‘. Die Londoner gewöhnten sich schnell daran, die Möglichkeiten zu nutzen, die das neue Straßensystem bot. Viele Meilen vom Stadtzentrum entfernt gab es Viertel mit endlosen Häuserreihen aus dem späten 18. Jahrhundert, typische Londoner Häuser, die nicht für die ansässige Bevölkerung gebaut worden waren, deren Arbeitsplätze sich in den kleinen Ortschaften außerhalb Londons befanden, sondern für gut situierte Bürger, die gern außerhalb der Stadt wohnen wollten und nichts dagegen hatten, jeden Tag ins Zentrum und wieder zurückzufahren. Als Königin Victoria 1837 den Thron bestieg, ähnelte der Verkehr Londons in gewissem Maße dem einer modernen Stadt, obgleich mechanisch betriebene Fahrzeuge noch selten waren und ihnen wenig Bedeutung zugemessen wurde. Es gab einige Postkutschen, welche die Verbindung zu den weit entlegenen Gegenden Englands hielten. Sie fuhren mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von ungefähr achteinhalb Meilen, die schnellsten konnten zehn Meilen in der Stunde zurücklegen. Zu anderen öffentlichen Verkehrs­m itteln, abgesehen von den Postkutschen, wurde eine Anzahl von sogenannten Etappen­ kutschen gezählt. Davon hatten 600 die Genehmigung, zwischen London und anderen, bis zu 19 Meilen entfernten Städten zu verkehren. Ausgehend von 123 Halte­ stellen in London, gab es festgelegte Routen, auf denen diese Kutschen täglich 68.000 Fahrgäste in die und aus der Stadt befördern konnten. Zu dieser Zeit lebten 123.000 Menschen in der Stadt. Ein zeitgenössischer Autor schreibt: „Der enorme Verkehr zwischen London und den Vorstädten, innerhalb eines Radius von 12 Meilen um St. Paul’s, ist interessant anzusehen.“ Das galt immer noch als Londons Richtmaß, bevor der Dampfverkehr und die motorbetriebenen Autos in Gebrauch kamen. Auch wenn sich viele die täglichen zwei Schilling nicht leisten konnten, welche die Fahrt in die Stadt kostete, wohnten sie dennoch weit außerhalb und gingen, sofern das Wetter gut war, zu Fuß ins Zentrum. Nur bei Regen, fuhren sie mit der Kutsche. Im Gegensatz zu den vorherrschenden Bedingungen in anderen Ländern konnte sich der Verkehr in und außerhalb Londons relativ frei von jeglichen Gemeindegrenzen entwickeln. Die eigentliche Stadt war territorial so begrenzt, daß der Gedanke, die Leute zu hindern, außerhalb zu siedeln, nicht zur Debatte stand. Die reichen Kaufleute waren schon vor langer Zeit in weniger dichte Viertel gezogen. Und da das Wachstum der Stadt nicht durch Eingemeindungen, sondern durch den Bau kleiner, unabhängiger 115

Verkehrsverbindungen in London

Gemeinden zu erklären ist, wurde nie in Erwägung gezogen, den Umzug von einem Stadtteil in einen anderen zu verhindern, wie dies in anderen Ländern aufgrund von Steuerregelungen vorkam. Wenn London einerseits im 18. Jahrhundert ohne ein klar definiertes Straßennetz hatte auskommen müssen, wie es in Frankreich und anderen absolutistischen Monarchien vorhanden war, genoß die Stadt andererseits im 19. Jahrhundert, als die Verkehrsprobleme Privatinitiativen überlassen wurden, beträchtliche Vorteile. Es stellte sich heraus, daß diese privaten Londoner Verkehrsunternehmen bei weitem leichter zu führen waren und Vorzüge des technischen Fortschritts wesentlich schneller ausnutzen konnten als öffentliche Unternehmen und Verwaltungen. Im 19. Jahrhundert erzielten vor allem die kollektiven Transportmöglichkeiten Fort­ schritte: die Eisenbahnen, Untergrundbahnen, die Busse und Straßenbahnen. Ein erster Versuch wurde mit einem Bus gemacht, den der Kutschenbauer [George] Shillibeer einführte. Shillibeer hatte in Paris an der Herstellung von Bussen gearbeitet. Alsbald wurde ihm bewußt, wie nützlich sie in seiner weit ausgebreiteten Heimatstadt sein könnten. 1829 zog er nach London und begann sein Unternehmen mit einem einzigen Bus, der für Geschäftsleute zwischen Paddington Green und der Bank of England verkehrte. Diesem ersten Bus für 18 Fahrgäste folgten bald weitere, und binnen kurzem wurden zahlreiche Buslinien eröffnet. Anfangs versuchte man, sie durch ausgelegte Bücher und Zeitungen attraktiv zu machen, schaffte diese teure Angelegenheit jedoch schnellstens wieder ab, sobald der Omnibus populär geworden war. Schon in den Fünfzigern [des 19. Jh.s] war eine große Zahl von Bussen in Gebrauch. 1856 wurde die London General Omnibus Company gegründet. Sie kaufte 600 der verkehrenden Busse auf und zahlte den Besitzern 250.000 Pfund dafür, sie weiterhin auf den etablierten Routen verkehren zu lassen. Sogleich bewirkte diese Kooperation die Einführung niedrigerer Preise und einen weitaus effizienteren Betrieb. Unterdessen war jedoch ein neues Verkehrsmittel, die Eisenbahn, in Erscheinung getreten und bewirkte prompt Vorteile für Londons Überlandverkehr. 1834 begann man mit dem Bau der ersten Strecke, die von London nach Greenwich führte, also vier Meilen östlich der City. Sie wurde 1836 eröffnet und war zu Beginn eine große Touristen­attraktion. An den Bahnhöfen spielten Orchester und Unterhaltungs­ programme wurden geboten. Im ersten Jahr reisten eine halbe Million Fahrgäste mit dieser ersten Eisenbahnlinie. 116

Eine Leidenschaft für die Eisenbahn

London: bebaute Fläche 1840

London: bebaute Fläche 1860

Auf dem Kontinent war die Entwicklung gänzlich anders. Als die Eisenbahn in Paris das erste Mal zum Einsatz kam, versuchte man, sie außerhalb der Stadtgrenzen zu halten. Niemand dachte damals an eine Verbindung zwischen den Vororten und dem Herzen der Stadt. Man sah die neuen Eisenbahnen lediglich als Verknüpfung der großen Städte, ähnlich den Hauptstraßen im Absolutismus. Das Militär lehnte es ab, die Eisenbahnen mitten in den Stadtkern fahren zu lassen, und niemandem lag etwas daran, es den Bürgern leicht zu machen, in andere Gebiete zu gelangen und so den Steuern entfliehen zu können. In England mußten die neuen Transportmittel anfänglich demselben erbitterten Widerstand die Stirn bieten. Sowohl in den Kanalbesitzern, die mit der Eisenbahn konkurrierten, als auch in den Grundbesitzern, deren Land durchschnitten wurde, hatte man entschiedene Gegner. Gegen Mitte des Jahrhunderts wandelte sich die Feindseligkeit jedoch in absolute Besessenheit. Höchst unglaubliche Projekte kamen in Gang. Das Parlament genehmigte 1849 den Bau von 1.071 Eisenbahntrassen. 1845 wurden allein in London 19 geplant! Der Bau der ersten Untergrundstrecke wurde 1854 genehmigt. Sie war 21 Meilen lang und verlief in ihrer gesamten Länge unter der New Road, die nun vollständig von Häusern gesäumt war. Sie wurde wie all die anderen englischen Bahnlinien von einer privaten Gesellschaft gebaut, der Metropolitan Railway Company. Auch die 117

Verkehrsverbindungen in London

London: bebaute Fläche 1880

London: bebaute Fläche 1900

Stadt steckte eine Menge Geld in dieses Vorhaben, denn sie versprach sich davon eine enorme Entlastung der Straßen. Die Untergrundbahn erwies sich als großer Erfolg, worauf in den nachfolgenden Jahren das Parlament von Projekten für Untergrundbahnen geplagt wurde – von so vielen, wie man sagt, daß die halbe Stadt hätte zerstört werden müssen, um sie alle auszuführen. Tatsächlich war es gerade zu dieser Zeit der Fall, daß die Hälfte einer großen Stadt des Verkehrs wegen abgerissen wurde – nämlich Paris. Die Stadt bestand 1862 aus 66.578 Häusern, und zum Bau der von Napoleon III. und Haussmann geplanten Boulevards riß man 27.000 Häuser nieder. Das verfolgte Ziel war jedoch nicht wie in London, die Vorstädte durch die Untergrundbahnen von der Stadtmitte aus erreichbar zu machen, sondern nur den Verkehrsfluß innerhalb der Stadtgrenzen zu erleichtern. Die Eisenbahnen wurden außerhalb der Stadt belassen und die Strecken, die von anderen Städten kamen, in einem Ring verbunden. Dieser hinderte die Ausbreitung der Stadt mehr, als diese zu fördern. Auch in London schien die Überlegung, die Eisenbahn in das Herz der Stadt schneiden zu lassen, um den Bahnhof zu erreichen, sehr fraglich. Eine königliche Kommission beschloß schon 1846, daß sämtliche Eisenbahnen innerhalb eines bestimmten Radius im Untergrund verlaufen sollten. Die erste Strecke der Untergrundbahn wurde bald darauf nach Osten und Westen weitergeführt, bis der Ring 118

Der Verkehr in London und Paris

London: bebaute Fläche 1914

London: bebaute Fläche 1929

1884 vollständig war. Es handelte sich jedoch anders als in Paris um einen Ring, der, wie vormals die Mauern und später die Boulevards, die Stadt umschloß. In London würde man ihn eher mit einer Ellipse vergleichen: ein Brennpunkt in der City und einer weit draußen im Westen, da die Strecke um den Hyde Park umgeleitet wurde. Sie durchdrang das Sonnensystem der City wie die Umlaufbahn eines Kometen. Sie verband die Bahnhöfe und breitete sich zugleich strahlenförmig in verschieden Richtungen aus. Schon lange zuvor hatten sich kleine Ausläufer entwickelt. Der erste wurde 1869 nach Earl’s Court und West Brompton gebaut. In sehr dicht besiedelten Gebieten verlief die Strecke durch Tunnel, aber sobald sie aufgelockerte Flächen erreichte, wurde sie zu sehr viel geringeren Kosten zwischen Wällen weitergeführt. Der Ring vergrößerte sich immer weiter gen Westen. 1874 reichte er bis nach Hammersmith und 1877 bis Richmond, beide ungefähr neun Meilen Luftlinie von der City entfernt, weit draußen auf dem Lande. Eine wichtige Entscheidung in der Baupolitik der Regierung, die die Aus­breitung der Wohngebiete stets begünstigte, waren Maßnahmen, günstige Bahnpreise für die arbeitenden Klassen sicherzustellen. Der Anfang wurde 1861 mit einem Gesetz gemacht, nach dem die North London Railway und die Metropolitan Railway sich verpflichteten, für Arbeiter zwei Züge pro Tag in jede Richtung einzusetzen, deren Tickets einen Penny pro Meile nicht überschreiten durften. 1864 wurde das 119

Verkehrsverbindungen in London

Cheap Trains Act verabschiedet, womit das Board of Trade alle Eisenbahnen dazu veranlassen konnte, günstige und ausreichend Züge für Arbeiter bereitzustellen. Anfangs fuhren diese morgens vor sieben Uhr, aber seit 1900 gibt es viele, die um acht Uhr fahren. Der Preis war und ist in der Regel immer noch ein Halfpenny pro Meile. Es traten auch andere Transportmittel in Erscheinung. Seit den Sechzigern waren vermehrt Straßenbahnen, natürlich von Pferden gezogen, zu sehen. Diese hatten allerdings bis 1870 keine Bedeutung. Sie entwickelten sich nie so frei wie die Eisenbahnen und stießen anfangs durchaus auf Widerstand. Die Stadtverwaltung selbst wollte keine Straßenbahnen bauen, erlaubte dies aber auch niemand anderem. Sie hatte Angst, privaten Kapitalisten Monopol auf Dinge zu gewähren, die für die Stadt lebensnotwendig geworden waren. (Etwas Ähnliches war bei den Eisenbahnen geschehen. Es gab sogar Versuche, Linien parallel laufen zu lassen, so daß diese miteinander konkurrieren könnten.) 1870 gewährte man den örtlichen Behörden mit einer Verordnung weitreichende Rechte; sie betrafen die Belastungen, die sie den Tramway Companies auferlegen könnten, die Erlaubnis begehrten, die Straßen zu nutzen. Dieses Gesetz hieß „An Act to Facilitate the Construction and to Regulate the Working of Tramways“ [„Ein Gesetz zur Erleichterung des Baus und Regulierung des Betriebs von Straßenbahnlinien“], auch wenn seitdem behauptet wird, es hätte eher „An Act to discourage the Construction of Tramways“ genannt werden sollen [„Ein Gesetz zur Behinderung des Baus von Straßenbahnlinien“]. Hatte eine Privatfirma vor, eine Linie zu bauen, mußte sie zuerst die Genehmigung für jedes Gebiet, das sie durchqueren wollte, von der jeweiligen lokalen Behörde einholen, wobei jede einzelne Einspruch erheben konnte. (Allerdings wurde eine Befreiung erteilt, sofern zwei Drittel der Strecke bereits genehmigt waren.) Im Fall einer Zusage war diese Genehmigung nur 21 Jahre gültig. Nach Ablauf dieses Zeitraums durfte die Stadt die gesamte Anlage sowie alle Anteile, ungeachtet der derzeitigen Firmeneinkünfte, zum geschätzten Wert kaufen. Folglich mußte die Firma in den 21 Jahren, die ihr zugestanden wurden, so viel wie möglich erwirtschaften und hatte nichts anderes im Sinn. Mit nahendem Ablauf dieser Frist weigerte sie sich, auch nur einen farthing [alte britische Münze im Wert eines Viertelpenny] für Reparaturen auszugeben und verwendete wackelige und baufällige Wagen mit abgeblätterter Farbe, die von erbärmlich alten Pferden gezogen wurden, da man jeden Moment darauf gefaßt sein mußte, alles als Schrott verkaufen zu müssen. Fremde, die London besuchten, 120

Straßenbahnlinien in London

konnten nicht begreifen, warum der Komfort der Straßenbahnen so weit hinter denen anderer Städte zurückstand. Für private Firmen wurde es nach und nach immer schwieriger, Straßenbahnen zu betreiben. Wenn eine Firma sich an eine lokale Behörde wandte, um die Genehmigung zum Bau einer Straßenbahnlinie einzuholen, lautete die Antwort, sie würde vielleicht erteilt, aber es müßte im Gegenzug etwas für diesen Gefallen angeboten werden. Die lokalen Behörden verpflichteten die Firmen, die Straßen instand zuhalten oder öffentliche Toiletten und sonstige nützliche Anlagen zu bauen. Als zu Beginn des neuen [20.] Jahrhunderts die elektrische Energie eingeführt wurde, nahmen die Schwierigkeiten weiter zu. Man benötigte noch mehr Kapital; Kapital, welches Zinsen einbringen und binnen 21 Jahren einen Tilgungs­ fond ermöglichen sollte. Seltsamerweise gab es keinen Mangel an Unternehmen, aber die diktierten Bedingungen waren nahezu unannehmbar. Eine Firma wollte 1904 eine Straßenbahnlinie über 18 Meilen Länge durch die westlichen Vorstädte Londons bauen. Um die Genehmigung zu erhalten, erklärte sie sich bereit, etwa 200.000 Pfund in Straßen und Brücken zu investieren. Dieser Betrag schien jedoch nicht auszureichen, und die Behörden verlangten weitere 600.000 Pfund für lokale Belange. Daraufhin gab das Unternehmen den Plan auf. Es ist leicht zu verstehen, daß die Straßenbahnen unter solchen Bedingungen den Entwicklungen hinterherhinken mußten. Es konnte keine Linie gebaut werden, wenn nicht absolut sicher war, daß das Vorgehen rentabel wäre. Während die Entwicklung der Untergrundbahn und der Omnibuslinien voranschritt und den Weg für die Erschließung neuer Viertel ebnete, tauchten Straßenbahnen erst viel später in den neuen Gebieten auf. Heute, im 20. Jahrhundert, werden die Untergrundbahnen elektrifiziert, die Busse zu Motorbussen, und die vielen Gesellschaften fusionieren, so daß das Arbeiten sicherer, billiger und weitaus effizienter ist. Die Transportmittel in London verbessern und entwickeln sich enorm. Aber das ist ein anderes Kapitel.

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Verkehrsverbindungen in London

Bibliographie In Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtbau-Ausstellung II, Berlin (Wasmuth), 1911–1913, S. 285-300, auf das schon weiter oben Bezug genommen wurde, gibt es einen kurzen, aber brillanten Beitrag zur Geschichte des Londoner Verkehrs mit zahlreichen wichtigen Verweisen auf andere Bücher zum Thema. Unter den Reisebüchern aus dem 18. Jahrhundert verdienen Erwähnung: Daniel Defoe: A Tour through the Whole Island of Great Britain aus dem Jahre 1724, und Arthur Young: A Six Weeks’ Tour through the Southern Counties von 1769, und A Six Months’ Tour through the North of England vom selben Autor, 1770. Im dritten Kapitel seiner History of London [Rasmussen meint vermutlich History of England von Thomas Babington Macaulay, 1848] schreibt Macaulay über den englischen Verkehr im 17. Jahrhundert. Über den Londoner Verkehr zu Zeiten Victorias ist nachzulesen in Laurence Gomme: London in the Reign of Victoria, 1898. Die Geschichte des englischen Verkehrs wird in E. A. Pratt: A History of Inland Transport, 1912, ausführlich beschrieben. The Story of the King’s Highway wurde von Sidney und Beatrice Webb 1913 verfaßt. Coach and Sedan, Pleasantly Disputing for Place and Precedence aus dem Jahre 1646, 1925 wieder aufgelegt, gibt ein amüsantes Bild jener Zeit.

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8 Der Englische Landschaftsgarten

Der Englische Park ist nicht die Schöpfung eines Mannes. Englische Schriftsteller, angefangen bei Horace Walpole bis zu heutigen Autoren von Büchern über Landschaftsarchitektur, weisen zwar immer auf den Architekten und Maler William Kent (1685–1748) als den Schöpfer des Englischen Landschaftsgartens hin, aber tatsächlich gab es Naturgärten in England schon lange vor Kents Zeit. Bereits im Mittelalter waren die Gentlemen auf dem Lande mit eingezäunten Gebieten unkultivierten Landes, wie größeren Jagdrevieren und kleineren Einfriedungen in Nachbarschaft mit geordneten Gärten vertraut. Sir Francis Bacon (1561–1626) schrieb Anfang des 17. Jahrhunderts einen Aufsatz über seine Ideen zu einem fürstlichen Garten von 30 Morgen Größe. Dieser Garten ist in drei Teile gegliedert: Der erste besteht aus einer von Alleen gesäumten großen Rasenfläche; der zweite ist ein richtiger Garten mit Blumen, Brunnen und Skulpturen, und der dritte ist ‚heath‘ und ‚desert‘ [Heideland und Wüste], also ein Stück wildes Land. Dieser Aufsatz zeigt, daß man schon im 16. Jahrhundert die ästhetische Wirkung des Kontrastes zwischen einem formellen Garten und einem Landschaftsgarten zu schätzen wußte. Der Naturgarten war zur Zeit der Stuarts noch immer populär, aber selbst­ verständlich war der französische Garten in Mode, und Charles II. ließ vor dem östlichen Block von Hampton Court einen echten großzügigen französischen Garten mit einem langen geraden Kanal und großen Alleen anlegen, die, alle von ein- und demselben Zentrum ausgehend, das berühmte patte d’oie-Muster [ 1 ] formen. Stiche aus jener Zeit, vor allem die des holländischen Graveurs [ Johannes] Kip, zeigen uns zahlreiche andere, von englischen Adligen bei ihren Landhäusern arrangierte französische Gärten. Neben dem formellen Garten lebte allerdings der Naturgarten weiter; der Lieblingspark des Königs war der St. James’s Park. Mit Ausnahme des Kanals und ‚der Mall‘ [der Flanierstraße] blieb dieser unberührt, denn Le Nôtre selbst riet: „Die natürliche Einfachheit dieses Gartens, sein ländlicher und an manchen 123

Der Englische Landschaftsgarten

Hampton Court: Kanal gegenüber der Ostfassade des Schlosses

Stellen wilder Charakter hat etwas Großartigeres, als ihm je hätte verliehen werden können …“ (siehe S.81). Der König hatte einen sicheren Instinkt dafür, daß der französische Garten eigentlich nicht nach England gehörte. Im Grunde genommen konnte er sich so teure Gärten, wie Louis XIV. sie unterhielt, gar nicht leisten. Als ein sehr vernünftiger Mann bevorzugte es Charles II., mit seinen Untertanen auf gutem Fuße zu stehen und ein freies und fröhliches Leben in und um den St. James’s Park in weniger zeremonieller Form zu genießen, anstatt in großem Stil zu leben und zu riskieren, „to set on his travels again“ [wieder auf Reisen gehen zu müssen], wie er scherzend zu sagen pflegte. England sah verständlicherweise schon bald vom französischen Garten ab, da dessen Bild sich kaum vom Absolutismus trennen ließ; die Engländer fühlten sich doch als jenes Volk, das die Macht des Despotismus gebrochen hatte. Merkwürdig erscheint allerdings, daß die Gartenkultur Hollands, der Heimat des Protestantismus und des bürgerlichen Lebens, keinen nachhaltigen Einfluß auf die englischen Gärten haben sollte. Eine Zeit lang gab es offensichtlich eine Annäherung. Sie läßt sich bis in die Zeit von Charles II. verfolgen, obwohl dieser eher die französische Kultur vorzog. Vielmehr ist diese Annährung an Holland auf den geschickten Diplomaten 124

Holländische Gartenarbeit in England

und Politiker Sir William Temple (1628–1699) zurückzuführen. Für mehrere Jahre war er Englands Botschafter in Brüssel und später in Den Haag, wo er sich eifrig für die Dreierallianz zwischen England, den Niederlanden und Schweden einsetzte. Er war ein persönlicher Freund von de Witt und dem jungen Prinzen von Oranje, und er war es auch, der 1677 die Hochzeit des Prinzen mit Prinzessin Mary arrangierte. Eine Hochzeit, die 1688 dazu führte, daß der holländische Erbfolger den englischen Thron bestieg. Temple erkannte aber 1681, daß er seine Politik nicht zu Ende führen konnte, und zog sich erst nach Sheen und später nach Moor Park in Surrey zurück, wo er seine Zeit mit der Gärtnerei und dem Schreiben verbrachte. Obwohl ein gebürtiger Londoner, ließ er sich, sobald sich dafür die Chance bot, weit entfernt von der Stadt nieder. Typisch englisch; Temple ist nur einer von unzähligen Menschen, die immer nach einem Leben auf dem Lande gestrebt haben, das man in England für schicker hielt als das Leben in der Stadt. Um eine gute soziale Stellung für sich und seine Kinder zu erlangen, muß der Engländer, der zu Reichtum gekommen ist, Land kaufen und in die Klasse der Grundbesitzer aufsteigen. In Frankreich bestärkten die absolutistischen Könige den Adel, seine Anwesen zu verlassen und bei Hofe zu leben. Ein Adliger, der nicht oft genug am Hofe von Louis XIV. erschien, fiel in Ungnade. Der König sagte dann kühl, er kenne ihn nicht. In England hingegen bestärkte Charles I., der am ehesten absolutistische unter den englischen Königen und um einiges ältere Zeitgenosse von Louis XIV., in einer königlichen Proklamation von 1632 den Adel auf seinen Gütern zu bleiben und sein Geld nicht für ein Leben in London zu verschwenden. Wie viele gut gemeinte königliche Erlasse zeigte er jedoch nur wenig Wirkung und hielt den Adel nicht davon ab, Paläste in den neuen Vorstädten von London zu bauen. Nichtsdestoweniger ist er charakteristisch für den Unterschied zwischen dem französischen und dem englischen Leben. Das englische Ideal war schon immer, ein Leben als wohlhabender Country Gentleman zu führen. Man zieht das Leben auf dem Lande dem Stadtleben vor. Es ist typisch, daß die Illustrierte für und über die Upper Ten Country Life heißt. Seit hunderten von Jahren hat es einen ununterbrochenen Strom von reichen Leuten gegeben, die es von den Büros und Geschäften der City hinaus ins Grüne zog, dem Paradies eines jeden Sportsmenschen. Dieses Ideal des englischen Landlebens zu verwirklichen ist insofern möglich, als sich die ländlichen Regionen mehr und mehr geöffnet haben, Ergebnis der schrittweise erfolgten Verlagerung des Schwerpunktes der englischen Wirtschaft von der Landwirtschaft hin 125

Der Englische Landschaftsgarten

zu Industrie und Handel in den Städten. Schon zu Zeiten Sir William Temples galt das städtische Leben als die dunkle Seite, ein Zentrum für Geschäftsleben und Industrie, dem man so schnell wie möglich zu entkommen suchte, um den Traum des Lebens auf dem Lande zu verwirklichen. Wer sich kein eigenes Gut leisten konnte, begnügte sich mit einem weniger großartigen, aber ebenso freien und uneingeschränkten, Leben in einem von der Natur umgebenen Country House. Macaulay schreibt über Temples Freizeit: „Temple hatte sich an einen Ort namens Moor Park in der Nachbarschaft von Farnham zurückgezogen. Das Land um seinen Wohnsitz kam fast einer Wildnis gleich. Während einiger Jahre war es sein Vergnügen, aus dem Brachland etwas hervor­ zubringen, das die holländischen Großbürger, in deren Nachbarschaft er einige seiner schönsten Jahre verbracht hatte, als Paradies angesehen hätten. Seine Einsiedelei adelte der König gelegentlich mit seiner Anwesenheit; er kannte und schätzte den Verfasser der ‚Triple Alliance‘ von Kindesbeinen an, und er war sehr glücklich, in der Wildnis von Surrey einen Ort zu finden, der ihm wie ein Teil von Holland erschien: ein gerader Kanal, eine Terrasse, Reihen getrimmter Bäume und rechteckige Beete mit Blumen und Küchenkräutern.“ Hier fand er Zeit, seine Essays über Politik und Verfassungsfragen zu schreiben. Mit seinem Text Upon the Garden of Epicurus [dt. Über den Garten des Epikur] (1685) stellte er sich mit den bedeutenden Engländern in eine Reihe, die sich mit der Garten­ kunst beschäftigt haben. In diesem Text äußerte er sich auch über die chinesische Gartenkunst, wie sie ihm von Zeitgenossen dargestellt wurde. Es ist besonders interessant, diesen Aufsatz sehr viele Jahre später zu lesen, da man inzwischen weiß, welchen Einfluß der chinesische Stil auf die englische Landschaftsgärtnerei ausgeübt hat. Als ein Mann von Welt würde Temple nicht bestreiten, daß die Gartenkunst möglicherweise und vor allem den Chinesen zu verdanken sei, war aber im Ganzen gegen deren mangelnde Ordnung. Temple, der Pflanzen liebte, war sich sehr wohl bewußt, welche Wirkung erreicht werden könnte, wenn man verschiedene Spezies kontrastreich arrangierte, würde aber kaum jemandem raten, in England mit solchen Gärten zu experimentieren: Sie seien „für gewöhnliche Hände ein Abenteuer, ein unerreichbares Ziel und, obwohl man im Falle des Erfolgs viel Ruhm ernte, verlöre man mehr Ehre, wenn dieser ausbleibt. Es steht zwanzig zu eins, daß sie scheitern, wohingegen es mit normalen Formen schwierig ist, überhaupt große und bemerkbare Fehler zu machen.“ 126

William III. in seinem Holländischen Garten

‚Der Holländische Garten‘, Kensington Gardens, 1931

Während der Herrschaft von William III. nahm die Popularität des holländischen Gartens rasch zu. In Kensington Gardens gibt es noch immer ein kleines umgrenztes Stück um einen rechteckigen Teich, bekannt als ‚der versunkene Garten‘. Angeblich soll es Williams eigener Garten sein, und dies, obwohl die Londoner sich an dessen Entstehung um 1906 erinnern. Holländische Gärtner kamen nach England, aber ihr Einfluß währte nicht lange. England kooperierte so lange mit Holland, wie es seiner Politik dienlich war, aber es gab nie eine wirklich fruchtbare Beziehung zwischen beiden Kulturen. Schnell wurde offensichtlich, daß die Londoner dem holländischen Einfluß ebenso feindselig gestimmt waren wie schon dem französischen. Die Haltung der Engländer zu Willem von Oranje ist charakteristisch. William war nie richtig beliebt. Dieses Genie, dessen Politik England zu einer Großmacht, die alle Mächte auf dem Kontinent übertraf, hatte werden lassen, wurde von den Engländern immer als Spielverderber angesehen. Er konnte nie ihre Herzen gewinnen. Charles II., der sein Land bereitwillig an Frankreich verriet, als er sich dabei bereichern konnte, war beliebt, weil er es verstand, mit fröhlicher Nachlässigkeit und einer gewissen charmanten Unverschämtheit seine Intrigen unkenntlich zu machen. William hingegen war Holländer; er sprach ihre Sprache nicht besonders gut, war furchtbar ernst, und sein Witz – denn er konnte witzig sein – war zynisch, unenglisch und immer gern auf 127

Der Englische Landschaftsgarten

Kosten anderer. Der robuste Charles II. war zumindest ein ‚Sportsman‘ gewesen [siehe S. 80 f ] und konnte immer im St. James’s Park beobachtet werden, wie er sich unters Volk mischte. William III. hingegen war vielleicht ein Held, ein Krieger, doch für die Londoner blieb er lediglich der empfindliche Prinz, der das neblige Klima nicht ausstehen konnte. Sein militärischer Fortschritt beeindruckte die Londoner nicht, da sie merkten, daß er die Stadt nicht leiden konnte und in Kensington oder Hampton Court residieren wollte. Die Tatsache, daß er vom englischen Volk gewählt worden war, hätte eigentlich die Beliebtheit Willem von Oranjes sicherstellen müssen. Aber so war es nicht. Ein König aus einer Erblinie, Monarch von Gottes Gnaden, hatte wesentlich mehr Prestige als eine gewöhnliche, vom Parlament gewählte Führer­persönlichkeit, die ebenso wieder abgesetzt werden konnte, ohne daß man die Rache Gottes fürchten mußte. Während der Regierungszeit von Willem von Oranje entwickelten die Engländer eine Abneigung gegen den holländischen Bürgerstaat. Auch englische Dichter und Philosophen wandten sich gegen ihn. Sie strebten wieder nach dem Klassischen, nach Italien. Im allgemeinen machte ein englischer Gentleman einmal im Leben die Grand Tour durch Frankreich nach Rom. Die Gärten der italienischen Renaissance wurden schon immer sehr bewundert. Sie begannen bereits zu verfallen und bildeten, wild wuchernd, schöne Umgebungen für die einfachen klassischen Villen. Nachdem sie der englische Connaisseur wahrgenommen hatte, betrachtete er den französischen Garten als zu steif und regelmäßig angelegt. Redewendungen über die Affektiertheit des französischen Gartenstils waren schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts etabliert, aber die Engländer verachteten auch die holländischen Gärten mehr denn je. Sie verachteten die kleinen Anlagen, in denen Blumen pingelig und sauber in gleichmäßigen Beeten, umzäunt von Eibe und Buchsbaum in zurechtgestutzten Hecken und in Figuren wie die Spielsachen in einem Kinderzimmer angeordnet waren, wie Hühner und Tauben, wie Bälle, Kegel und Spiralen. In solch einer Idylle hätte der zarte William Gelegenheit gehabt, ein Sonnenbad zu nehmen, ohne den Londoner Nebel und Wind fürchten zu müssen. Aber die Engländer wollten etwas anderes. Sie wollten einen ungekünstelten Landschaftsgarten und wurden niemals müde, sich über Gärtner lustig zu machen, die ihre Büsche beschnitten und trimmten. Diese Bewegung begann als eine literarische. Politisch ist sie (wie bereits erwähnt) von einer Reaktion gegen Einflüsse aus Frankreich und Holland bestimmt, zeigt 128

Französische Gärten, eine formale Landschaft

aber auch freigeistige, philosophische Aspekte. Der Trend wandelte sich vom Verschlossenen zum Freien und Offenen. Einer der Begründer dieser Bewegung war [Anthony Ashley Cooper, the Third Earl of ] Shaftesbury (1671–1713), der schon 1709 (in The Moralists) die Schönheit der Natur dem „formalen Spott der fürstlichen Gärten“ gegenüberstellte. Genau wie William Temple schrieb auch er über die englische Verfassung. Für ihn war sie Grundlage für die Freiheit jedes Einzelnen. In England galten Verfassung und Freiheit im allgemeinen als die beliebtesten Themen jener Zeit. Das englische Volk betrachtete sich – lange vor jedem anderen Volk – als Nation, aber jetzt sah es sich als auserkoren, als Träger einer politischen Idee. England hatte der Tyrannei widerstanden und gezeigt, daß es noch eine andere Staatskunst neben dem Despotismus gab. Es war stark genug gewesen, die Vormachtstellung in der Weltpolitik von Frankreich, dem Land des Absolutismus, zu übernehmen. Das zeigte sich auf vielerlei Art und Weise. Eines der wichtigsten Ergebnisse für die Londoner Kapitalisten war, daß England, das Land der Freiheit, dem despotischen Frankreich im Vertrag von Utrecht das Monopol des Sklavenhandels abrang. Nun konnten englische Kaufleute wenigstens für 30 Jahre Millionen aus dem Sklavenhandel mit Amerika schlagen. Für die geistige Welt war der politische Wandel nicht weniger vorteilhaft, vor allem für die englische Philosophie, zu der Shaftesburys Pantheismus und die Verehrung der Natur zählen. Mittels Zeitschriften wurde diese Bewegung durch einen aufgeklärten Journalismus in den höheren Kreisen verbreitet. Joseph Addison (1672–1719), einer derjenigen, die italienische Gärten in ihrem schönen Verfall bewundert hatten, hat einige Texte über Landschaftsgärtnerei in seinem Magazin Spectator veröffentlicht. Er äußert sich besonders kritisch gegenüber holländischen Gärten und befür­wortet energisch eine neue und freie Form der Landschaftsgärtnerei. Alexander Pope (1688–1744) schloß sich ihm 1713 mit einem Artikel im Guardian an und versuchte diese Ideale in einem Garten in Twickenham zu verwirklichen, in dem Bäume, Büsche und Stauden chaotisch, wie es gerade kam, durcheinander wuchsen. Experimente wie die von Pope konnten zu keiner rechten Gartenkunst führen. Daß sich aus der englischen Gärtnerei geradezu ein Stil etablieren konnte, liegt an Personen, die weit mehr künstlerische Ideen hatten und etwas von den bereits vorhandenen Mitteln verstanden, insbesondere der französischen Kunst. Die Engländer wollten weg von den umfriedeten Gärten der Holländer. Sie wollten eine grandiose offene Landschaft, die sich auf die uralte Sport- und Freilufttradition des Landes beruft, schaffen. 129

Der Englische Landschaftsgarten

Kensington Gardens, Blick auf den Hyde Park, 1931

Kensington Gardens, Blick auf Hyde Park, 1931

Dieses künstlerische Ziel ist allerdings latent schon in Le Nôtres Gärten enthalten. Das Genie von Le Nôtre kombinierte den italienischen Garten – terrassenförmig bis zu einer Höhe ansteigend, von der man einen schönen Blick genießen kann – mit dem ebenen holländischen Garten, in dem der Boden weitläufig mit Kanälen und Alleen angelegt war, die über die Grenzen des Gartens ins flache, unendliche Land hinaus gingen. Ebenso hatte er den neuen Gedanken in der Malerei verstanden, den man als den holländischen Standpunkt bezeichnen könnte: den niedrigen Horizont und den weiten Blick. Es war kein Garten im eigentlichen Sinne des Wortes (im Englischen wie auch in vielen anderen Sprachen, bedeutet das Wort Garten in Wirklichkeit Einfriedung oder Gehege), da er den Blick öffnete, soweit das Auge reichte. Der Garten von Versailles ist vom Palast aus gesehen eine Landschaft. Unter künstlerischen Gesichtspunkten ist es von geringer Bedeutung, daß er eine formale Landschaft ist, daß die Bäume getrimmt sind und die Linien alle gerade verlaufen. Formalität war ein gebräuchliches Attribut im Gartenbau, neu waren allerdings die großzügigen horizontalen Terrassen und die weiten Aussichten. Damit versuchte man, anstatt sich mit umfriedeten Gehegen zu befassen, die Gestalt eines offenen, bis zum Horizont wirkenden Raumes zu erwecken. Der ‚Garten‘ von Versailles ist ein kultivierter Park mit enormen Weiten, die man zu Pferde oder in der Kutsche erlebt. Die Kreuzung, an der viele Straßen einen Kreis bilden – die später auch in der Stadtplanung angewandt wurde – kam ursprünglich aus der Forstwirtschaft. In diesem Park hat sich der Künstler selbstverständlich darauf verlassen, daß der Kontrast zwischen 130

Der englische Garten, eine heroische Landschaft

den steifen, architektonischen Formen und dem organischen Wachstum der Pflanzen Wirkung zeigen würde. Hinter den getrimmten Hecken konnte man Buschwerk und vereinzelte Bäume erspähen. Die geometrischen Formen waren ebenfalls lebendig wurzelnde Pflanzen. Wo die Maßstäbe zurückhaltender als in Versailles waren, mußte der Garten zur umliegenden Landschaft geöffnet werden, um den angestrebten Effekt der Weite zu gewinnen. Der englische Gärtner [Charles] Bridgeman verstand dies: Als er 1730 Kensington Gardens anlegte, errichtete er einen verborgenen Zaun oder Aha [engl.: ha-ha bzw. haw-haw] zwischen diesem und dem Hyde Park – den man als unkultiviertes Land betrachten könnte –, so daß die Grenze von Kensington Gardens aus unsichtbar wirkte. Auf diese Weise weitete der Landschaftspark die Perspektive des architektonischen Gartens. William Kent (1685 –1748) ging einen deutlichen Schritt weiter und ließ den Landschaftsgarten bis zum Gebäude verlaufen. Aber der Landschaftsgarten war nicht, wie Pope es sich gedacht hatte, ein zufälliges Stück Land mit vereinzelten Bäumen, er war eine sensibel angelegte Landschaft. Kent war sowohl Maler als auch Architekt und ein großer Bewunderer von Claude Lorrain. In seinen Gärten versuchte er, mit lebendigen Materialien, mit Bäumen und Häusern zu kreieren, was Lorrain mit seinen Pinseln geschaffen hatte. Wenn aber der heroischen Landschaft alle Details genommen würden, bliebe nur das rein architektonische Skelett übrig; eine Bühne, mit Seitenflügeln, welche die Blicktiefe erzeugen, wie auf eine festen Ebene konstruiert. Auf der anderen Seite formte der architektonische französische Garten, wo es ihm erlaubt war, unbeschnitten zu wachsen, eine Landschaft im Stil Lorrains. So sehen wir heute den Garten von Versailles: Die Bäume sind ein zweites Mal gewachsen und so groß und voll, wie es sich jeder Maler des 18. Jahrhunderts nur wünschen konnte. Die Engländer dachten, sie könnten in der antiken Kultur die richtige Grundlage für eine gewisse edle Einfachheit finden, an der es, nach ihrer Meinung, der Kultur des französischen Hofes mangelte. Die englische Architektur erschien zu einer Zeit, in der die Architektur anderer Länder barock auftrat, palladianisch klassisch. Die entschiedensten Klassizisten waren die leidenschaftlichsten Kämpfer für den Naturgarten. Es mag seltsam scheinen, aber zu jener Zeit – wie auch später – sahen die Leute keinen Widerspruch in der Verbindung klassischer Gebäude mit Naturparks. Diese Kombination war durch die außerordentliche Landschaft und die zahlreichen römischen Veduten sehr bekannt; also durch eben jene Landschaften, die eine nunmehr ungepflegte Gartenarchitektur wild wuchernd zeigen. 131

Der Englische Landschaftsgarten

Prior Park, Bath, Blick vom Hauptgebäude an einem Sommerabend, 1927

Eine wahre klassische Gartenarchitektur war unmöglich, da niemand wußte, wie die Gärten des Altertums wirklich ausgesehen hatten. Die bukolische Poesie der antiken Literatur gab eine gewisse romantische Idee von Villen und Tempeln in arkadischen Landschaften wieder, in denen sich dunkle und düstere Wäldchen mit sonnigen und grünen Wiesen abwechselten. Dies war exakt die für England typische Art von Landschaft, seit die riesigen Gebiete früheren Ackerlandes im 16. Jahrhundert in Weiden umgewandelt worden waren. Die großzügigen Parks der Großgrundbesitzer formten die schönsten und deutlichsten Beispiele der Landschaftsgärtnerei. Haben englische Philosophen und Schriftsteller jener Zeit es nicht immer wieder betont? Das englische Ideal: Das private Leben des Individuums in der Natur mit seiner passiven Empfänglichkeit für deren Schönheit, ähnlich dem Motiv des Hirten auf den Wiesen, wurde positiv hervorgehoben als Kontrast zur Zentralisierung von Staat und Gesellschaft, die in den Ideen des Absolutismus enthalten ist. Der englische Garten wurde niemals ein gewöhnlicher Wald zum Reiten oder Fahren wie der französische Park, er hatte immer einen eher pastoralen Charakter. Er war für einsame und träumerische Spaziergänge geplant, und es ist möglich, dem im englischen Park nachzugehen. Er stand für das Bedürfnis nach Vertrautheit mit der Natur, was gegen Ende des Jahrhunderts die Lake School of Poetry hervorbrachte. Um diese Zeit waren einzeln stehende Bäume für die englischen Gärten charakteristisch, und die immergrünen Bäume und Büsche, die als Ursprung des 132

Isaac Ware über Gärten

architektonischen Gartens galten, verschwanden. Pope nannte sie wegen ihrer trostlosen Erscheinung ‚Nimmergrün‘, und er ermutigte die Menschen, wie viele andere Schriftsteller, die lebendige und gut von der Veränderlichkeit der Natur zeugende englische Flora vorzuziehen. Der freistehende Baum wurde kultiviert und durfte sich in Freiheit gemäß seiner prächtigen und harmonischen Form entwickeln. In der Praxis wird er jedoch künstlich geschaffen. Sich selbst überlassen würde sich jeder einzeln stehende Baum versamen und eine Baumgruppe bilden. Diese abgesonderten Bäume waren die Überbleibsel von gefällten Hainen, wie auch die vereinzelt auftretenden Schäfer den Rest einer ehemals bäuerlichen Bevölkerung bildeten, welche gezwungen war, ihre Behausung zu verlassen, um Arbeit in den Städten zu finden. Diese Haltung symbolisierte für den philosophischen Essayisten jener Zeit pure und freie Natur. Hatten die Schäfer nicht auch eine ästhetische Aufgabe? In der heroischen Landschaftsmalerei halfen sowohl die Hirten als auch die Bäume, dem Ganzen Ausdruck zu verleihen und die Bildperspektive verständlich zu machen! Der Landschaftsgarten ist von Natur aus ein veränderliches, andauernder Verwandlung ausgesetztes Kunstwerk. Und trotzdem geben uns einige englische Parks bis heute eine Idee vom großartigen Stil des 18. Jahrhunderts. Ein gutes Beispiel ist der Prior Park bei Bath. Von der Säulenhalle des großen palladianischen Haupt­ gebäudes aus eröffnet sich ein weiter Ausblick über die theatralische Szenerie des Tals. Die Bäume stehen als Umrahmung um die tassenförmige Senke. Aus einem Brief des Jahres 1756 wissen wir, daß sie gepflanzt wurden, um eben diese Wirkung zu erreichen. Ein freistehender Baum hebt sich von den anderen als Maßstab für die Entfernungen ab, und in der Talsohle blickt man in einen stillen Teich, wie in einen Spiegel. Die Ideen der klassischen Architekten bezüglich des Landschaftsgartens haben einen angemessenen Ausdruck in einem Buch von Isaac Ware, A Complete Body of Architecture (1756) gefunden, und zwar in dem Kapitel über Gärten. „Die ursprüngliche Idee eines Gartens“, schreibt er, „hatte viel mehr mit Wahrheits­prinzipien zu tun als mit den Formen, die folgten.“ Denn „die erste Annäherung bestand in der Wahl eines guten Landstücks, das Abwechslung von Hügel und Tal, Sonne und Schatten bot, und wenn der Eigentümer hier und da eine Hecke schnitt oder ein paar Bäume pflanzte, um seine Ausblicke zu unterbrechen, dachte er, daß alles getan sei, was die Natur bewirken könne, und daß die Kunst zu ihrer Verbesserung beitrage.“ Diese Gartenform, die wir in Illustrationen von Naturgärten des Mittelalters finden, 133

Der Englische Landschaftsgarten

Die Pagode von William Chambers, Kew Gardens, 1930

Der Tempel von William Chambers, Kew Gardens, 1930

bestand, Ware zufolge, nur aus eingefaßten Feldern, keinen Gärten; und er fährt fort: „Aber hier war die Natur, obwohl zu sehr sie selbst, unendlich besser als dort, wo jeder Schritt nach Kunst schmeckte und jeder Baum schier blutete. Jetzt verachten wir das; und haben zwischen den beiden Extremen von absolut wilder Natur und präziser Kunst eine sehr genaue Methode gefunden: Wir müssen nur die gleichen Prinzipien verfolgen und werden sie so zur Perfektion bringen. Was wir nun für Gärten vorschlagen, ist, die Schönheit der Natur zu versammeln; sie von jenen mißlichen Ansichten zu trennen, in welchen ihre Makel ans Licht treten, und sie dem Auge näher zu bringen; sie in der gefälligsten Ordnung zur Schau zu stellen und eine universelle Harmonie zu schaffen: daß alles frei sein kann und nichts wild; daß das Auge mit den gesammelten Schönheiten der Pflanzenwelt, zusammengetragen aus den entlegensten Regionen und ohne Formalität, die einst den Charakter eines Gartens bestimmen sollte, beschenkt werde: und daß die Blicke weit zum Horizont reichen. So erfreut sich das Auge nach eigenem Belieben am Charme des bestimmten Objekts oder der gewaltigen Ansammlung des Ganzen: Philosophische Gedanken werden vom Aufbau einer Blüte in Bann gezogen, während bei anderer Gelegenheit Hügel 134

William Chambers und Kew Gardens

und Rasen und Hang und Abgrund reine Lust erwecken; und man schaut mit großen Augen hinter die begrenzenden Mauern; all der Charme, der durch Holz und Wasser, verbrannte Heide und wogenden Wald erstehen kann. Unsere Gärten sind geordneter als die unserer Vorfahren; in der Tat weitläufiger und durch und durch angenehm: Alles Erfreuliche ist enthüllt, alles Abscheuliche ausgeschlossen, wir nehmen die Kunst zwar nicht wahr, genießen aber ihre Wirkung: Die versteckte Mauer verhindert, daß man weiß, wo der Garten endet; und obwohl als wirksamer Schutzschirm vor unliebsamen Objekten gedacht, scheint sie nur wegen ihrer natürlichen Schönheit angelegt zu sein.“ Die Vorliebe für romantische Arrangements nahm immer mehr zu und wurde von einem anderen Klassizisten, William Chambers (1726–1796), sehr nachhaltig vorangetrieben. Als junger Kaufmann besuchte er China. Als er später den Beruf des Architekten ausübte, wurde ihm die Kenntnis des fernen Ostens sehr wertvoll, denn Chinoiserien waren zu jener Zeit äußerst in Mode. Neben anderen Arbeiten veröffentlichte er 1772 ein Buch über chinesische Gärten: A Dissertation on Oriental Gardens. In diesem Buch stellt Chambers die romantischsten Gartenideen der Zeit dar und behauptet, sie seien chinesisch. Dabei weist er immer darauf hin, das Buch sei lediglich deskriptiv, und merkt an, wir sollten nicht alles nachahmen, was den Chinesen gefalle, sondern versuchen, uns damit vertraut zu machen und das Beste auszuwählen. Dieses Buch ist eher als fiktiver Reisebericht jener Zeit anzusehen. Um dem Autor die Möglichkeit zu geben, seine eigenen Sichtweisen auf unterhaltsame Art und Weise darzustellen, legt er ein orientalisches Gewand an. Chambers war nur in Kanton gewesen und hatte nie die schönen kaiserlichen Gärten von Hangzhou oder Peking gesehen, die anscheinend Gegenstände seiner Beschreibungen sind. Andererseits muß man gestehen, daß er die zentrale Idee der chinesischen Gartenarchitektur erfaßt hat, und ich bin sicher, daß seine Beschreibungen in der Tat einen fruchtbaren Einfluß auf England ausgeübt haben. Was die Gartenarchitektur betrifft, bildet Chambers’ Buch den Höhepunkt der Romantik. Seiner Meinung nach war das Ziel der Gestaltung, den Gang durch den Garten zu einem dramatischen Abenteuer werden zu lassen. Im früheren Naturgarten war alles um eine offene Fläche angeordnet gewesen, aber Chambers wollte eine Anzahl kleinerer Ausblicke inszenieren, die sich dem Besucher nach und nach eröffnen. Jeder sollte seinen eigenen Charakter haben und eine besondere Stimmung ausdrücken. 135

Der Englische Landschaftsgarten

Der See im Regent’s Park, 1931

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Regent’s Park

Regent’s Park, Blick nach Cumberland Terrace, 1931

Er behauptet, die Chinesen hätten drei Arten von Gärten: die erfreulichen, die schrecklichen und die überraschenden, und zeichnet ein sehr realistisches Bild der schrecklichen Gärten, in denen es Fledermäuse, Eulen und Geier gibt, in denen Wölfe, Tiger und Schakale in den Wäldern heulen, während man von den Pfaden des Gartens aus Galgen, Räder und andere Folterinstrumente sieht; in denen man Monumente mit ergreifenden Inschriften über tragische Ereignisse und viele grausame Handlungen passiert. Die überraschenden Gärten sind nicht weniger seltsam: durch dunkle Höhlen mit kolossalen Drachen- und Teufelsfiguren erreicht man einen Ort, an dem man plötzlich eine heftige Dusche künstlichen Regens abbekommt oder von Explosionen oder kleinen Erdbeben erschüttert wird. Als Gegensatz zu diesen aufregenden Gärten gibt es idyllische Szenen; auf einer Bank sitzend, kann man nach den erlittenen Schrecken um so mehr die Schönheit lieblicher Landschaften genießen. Im Ganzen erinnert einen Chambers’ dramatische Beschreibung fortwährend an die romantischen Werke der nachfolgenden Jahrzehnte, zum Beispiel an Schikaneders und Mozarts Zauberflöte und an die Märchen des 19. Jahrhunderts von [Johann Ludwig] Tieck. In anderer Hinsicht ist sein Buch sehr klug; zum Beispiel, wenn er sagt, daß die Chinesen „mit ihren krummen Wegen alle plötzlichen und unnatürlichen Windungen vorsichtig vermeiden, vor allem die gleichmäßigen Serpentinenkurven, auf die unsere englischen Gärtner so stolz sind; wenn man bedenkt, daß diese ewigen, eintönigen, welligen 137

Der Englische Landschaftsgarten

Linien von allen Dingen die unnatürlichsten, die affektiertesten und ermüdendsten sind …, wenn ein Fluß, das Meer, ein großflächiger See oder eine Terrasse sich über erhabenen Blicken zeigt, halten sie es für klug, ihnen in all ihren Windungen zu folgen … aber auf einer Ebene, die entweder offen oder auch als Wäldchen oder Dickicht angelegt ist, wo weder Hindernisse zwingen noch eine Sehenswürdigkeit einlädt, einem gewundenen Pfad zu folgen, finden sie es absurd und sagen, die Straße müsse entweder kunstvoll gestaltet oder durch die fortwährende Benutzung der Besucher ausgetreten sein; in beiden Fällen könne man nicht davon ausgehen, daß der Mensch freiwillig entlang einer krummen Linie gehe, wo er auch auf einer geraden ankommen könne.“ Chambers’ Buch bekam keine sehr günstigen Kritiken, und die extremsten Ideen wurden von zeitgenössischen Schriftstellern verhöhnt. Der gekünstelt romantische Gartenstil hatte dennoch enormen Erfolg – vielleicht auf dem Kontinent noch mehr als in England. Als ein Architekt der königlichen Familie wurde Chambers mit dem Bau einiger kleiner Pavillons in Kew Gardens betraut, jeder mit eigenem Charakter. Unter seinen 1763 veröffentlichten Entwürfen findet man so unterschiedliche Gebäude wie eine chinesische Pagode (die immer noch in Kew Gardens zu sehen ist), eine türkische Moschee, eine maurische Alhambra, einen Tempel der Einsamkeit, eine gotische Kirchenfront, eine Vielzahl kleiner Lauben in Form griechischer und römischer Tempel, ein Vogelhaus und vieles andere mehr. In England hatten Chambers’ romantische Ideen nur vorübergehend Einfluß, während der erhabenere und einfachere Stil andauerte, den Kent repräsentierte. Die Entwicklung, die als bewußte Reaktion gegen den französischen Geschmack begonnen hatte, mündete so in einer englischen Fortführung des feinen Stils, der von den französischen Malern und Gartenarchitekten erschaffen worden war. Man kann folgern, daß Kultur immer wiederkehren wird, selbst wenn sie mit Gewalt ausgetrieben würde. Von England breitete sie sich aufs neue über Europa aus. Die philosophischen und politischen Ideen, aus denen sich der Landschaftsgarten entwickelt hatte, übten einen zunehmend großen Einfluß auf die Intellektuellen in Frankreich aus. Was in England normal und selbstverständlich war, erhoben die Enzyklopädisten und andere Apostel der Aufklärung auf dem Kontinent zu Maximen und Theorien. Jenes ‚Zurück zur Natur‘, das englische Philosophen um 1700 verkündet hatten, kehrte Ende des Jahrhunderts mit Nachdruck vom Kontinent nach England zurück. Rousseau hatte die Begeisterung für das Landleben international in Mode gebracht, was nun auch die 138

Der Volkspark

Regent’s Park, Luftbild nach Norden (Foto Aerofilms Ltd.)

Hyde Park, Eingang von MarbleArch (Foto Aerofilms Ltd.)

Mittelklasse Englands erreichte. Suchten die Höflinge und reichen Händler Londons die modische Stadt Bath auf, um sich einer Brunnenkur zu unterziehen, entdeckten die weniger Wohlhabenden im näheren Umkreis von London viele entzückende Plätze mit Brunnen in schöner ländlicher und ursprünglicher Umgebung. Die Leute fuhren nach Greenwich, nach Islington, nach Hampstead und zu zahlreichen anderen Orten, an denen ‚Spas‘ mit ihren Lokalen und Parks aus dem Boden schossen. Die Menschen hatten ein tiefes Bedürfnis nach natürlichen Parks, und indem die Krone um 1800 den Regent’s Park anlegte, tat sie dem Genüge. Der Regent’s Park ist in Ursprung und Form ein typisch englischer Park. Die zahlreichen großen Gebiete, die seit den Tagen Henrys VIII. als königliche Jagdreviere genutzt worden waren, lagen noch immer unberührt vor der Stadt, unter ihnen das große Marylebone Estate nördlich von Westminster mit einer Fläche von 543 Morgen. Der Duke of Portland hatte es von der Krone gepachtet. Als die Pacht Ende des 18. Jahrhunderts abgelaufen war, hatte sich die Stadt so weit zum Park hin ausgedehnt, daß eine zukünftig gewinnbringendere Nutzung des Landes in Erwägung gezogen werden mußte. Schon 1793 hatte das Finanz­ ministerium ein Preisgeld für den besten Plan ausgeschrieben, die Marylebone Fields zu entwickeln. Auch wenn der Preis mit 1.000 Pfund beachtlich war, wurden nur drei Entwürfe eingereicht, alle von ein und demselben Verfasser. Nach diesem Mißerfolg zog es die Krone vor, das Projekt ihren eigenen Architekten zu überlassen. Ein Entwurf von John Nash wurde angenommen. Er schlug vor, das Zentrum des gewaltigen Areals als offenes Land zu belassen und ungefähr 200 bis 300 Morgen als Park anzulegen, mit 139

Der Englische Landschaftsgarten

Köln, Lindenthal-Park

weiten Rasenflächen, freistehenden Bäumen und von Hainen und Büschen umgeben. Um den gesamten Park sollte eine breite Promenade für Reiter und Kutschen verlaufen. Auf der äußeren Straßenseite sah Nash Grundstücke für moderne Häuser in langen prächtigen Reihen vor, terraces genannt. Dort sollten die Menschen das Stadtleben genießen und dennoch in dem Gefühl leben, sie wären auf dem Lande. Die restliche Fläche wurde für Quartiere genutzt, die um rechteckige Plätze angeordnet waren, auf denen Märkte abgehalten werden konnten. In seinem ersten Entwurf hatte Nash in der Mitte des Parks eine enorme kreisförmige Reihe von Gebäuden vor­gesehen, die von einer schönen Straße umgeben waren. Man legte die Straße an, aber statt der Häuser umringt sie nun einen botanischen Garten. Es ist lohnenswert anzumerken, daß die Krone das gesamte Gebiet ebenso für Bauprojekte hätte nutzen können. Gleichzeitig mit der Veröffentlichung von Nashs Plänen sollte der ganze Park nach einem anderen Vorschlag in Parzellen für viele kleine Häuser um Plätze und Gärten aufgeteilt werden. Selbstverständlich wäre dieser Vorschlag für die Krone gewinnbringender gewesen. Jedoch hatte der Regent George, Prince of Wales, zu entscheiden, und er hatte so englische und vornehme Moralvorstellungen, daß er es selbstverständlich bevorzugte, einen neuen Hyde Park anzulegen. Man nannte ihn, ihm zu Ehren, Regent’s Park, er ist aber zum Volkspark geworden. 140

Englische Gärten auf dem Kontinent

Regent’s Park, 1826

Die Tugenden des Englischen Landschaftsgartens werden am deutlichsten, wenn man beobachtet, wie der englische Gartenstil auf dem Kontinent angenommen worden ist. Bevor er sich in England zu seiner definitiven Form entwickelt hatte, gab es eine Vielzahl an Formeln und Entwürfen, die alle nach einem Ausdruck für den Stil des ‚freien Gartens‘ suchten. Eine Zeit lang dachten die Landschaftsarchitekten, sie könnten ihr Ziel erreichen, indem man alle geraden Linien des französischen Gartens durch gewundene ersetze. Theoretischere Künstler wie etwa William Hogarth (1697–1764) haben über die Überlegenheit der gewundenen Linie im Gegensatz zu jeder anderen philosophiert: Diese biete dem Besucher fortwährend Abwechslung und neue Eindrücke. Ein von welligem Land geprägter Gartenstil würde im Entwurf notwendigerweise eine Vielzahl von gekrümmten und unregelmäßigen Figuren aufweisen. Aber nach dem Triumph des Landschaftsgartens von Kent erkannten die Engländer, daß die gekrümmte Linie nicht das Maß aller Dinge sein mußte. Wir haben gesehen, wie Chambers versuchte, diese ins Lächerliche zu ziehen. Für die Menschen auf dem Kontinent sollte die geschwungene Linie allerdings zum Symbol der englischen Landschaftsarchitektur werden. Als sie das Unmögliche versuchten, nämlich Regeln für den natürlichen und unbeschränkten Garten aufzustellen, entstand stets ein Plan mehr oder weniger eleganter Kurven. Während in England der wellige Boden und die Pflanzen immer mehr zum Gegenstand des Interesses wurden, 141

Der Englische Landschaftsgarten

entwickelte sich das Thema auf dem Kontinent nur zu einer Frage der Figur. In dieser Karikatur sollte der Englische Landschaftsgarten die Welt erobern. In Dänemark gibt es kaum ein Provinzstädtchen, das keinen Park im sogenannten englischen Stil besitzt: einen Garten, durchschnitten von sehr breiten gewundene Straßen entlang ovaler Rasenflächen; da und dort Gebüsch und Bäume und vielleicht sogar ein paar verstreute Blumenbeete. Überall auf der Welt kann man solche Parks finden, überall die gleiche abgedroschene Landschaftsidee, unendlich weit von der Idee des Englischen Landschaftsgartens entfernt, wo nicht der Kies zählt, sondern der Rasen. Die Rasenfläche ist immer die Basis des großen schönen Raumes, den der englische Garten bildet; Straßen und Pfade sind zweitrangig und werden an den Rändern angeordnet, falls sie nicht künstlerisch unbedeutend wie schmale, gerade Linien das Grün durchziehen. Der englische Garten wird nicht entworfen, sondern ins Land gepflanzt, er wächst. Bibliographie Der Autor empfiehlt folgende deutsche Bücher: Marie Louise Gotheins: Geschichte der Gartenkunst, Jena 1914; und als Hauptwerk über Landschaftsgärten: Franz Hallbaums: Der Landschaftsgarten. Wichtig ist auch Hans Rose: Spätbarock. Studien zur Geschichte des Profanbaus in den Jahren 1660 –1760 [München 1922]. Sir William Temples Abhandlung Upon the Gardens of Epicurus kann in Miscellanea gefunden werden, veröffentlicht in einer Serie von Ausgaben um 1700, die erste im Jahre 1688 [Miscellanea, The Second Part, in Four Essays: I. Upon Ancient and Modern Learning, II. The Gardens of Epicurious, III. Upon Heroic Virtue, IV. Upon Poetry. by Sir William Temple]. Die oben erwähnten Artikel von Joseph Addison stehen in The Spectator, Nr. 414 und 477. Alexander Popes Essay wurde in The Guardian, September 1713, Nr. 178, veröffentlicht. Beachtung muß auch A Dissertation on Oriental Gardens, 1772, von William Chambers geschenkt werden; ebenso wie Plans, Elevations, Sections and Perspective Views of the Gardens and Buildings at Kew, 1763, vom selben Autor. Der Abschnitt von Isaac Ware kann in A Complete Body of Architecture, London, 1756, S. 637, gefunden werden. [ 1 ] P  atte d’oie, auch Gänsefuß genannt, ist ein Gestaltungselement des Französichen Barockgartens; von einem Punkt führen (einem Gänsefuß ähnlich) drei Wege strahlenförmig ab.

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9 Londons Plätze

Das 18. Jahrhundert brachte Viertel gehobenen Wohnens. Der gesamte Adel und viele wohlhabende Familien verließen die enge, verrauchte Stadt innerhalb der Stadt­mauern und zogen in die neuen, offenen Viertel, näher an die Parks, das Land sowie den Königshof. Da London die Stadt mit der damals höchsten Geltung war, lockte sie gleichzeitig immer mehr Menschen aus allen Teilen des Landes an. Während der Regierungszeit Charles II. war die Bevölkerung Londons siebzehnmal größer als diejenige von Bristol oder Norwich. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung des Landes ist sie seit dem Mittelalter bis heute [1937] stetig angewachsen. Dieser Zuwachs war besonders im 17. Jahrhundert spürbar. John Evelyn schreibt 1684 zum Beispiel, die Größe der Stadt habe sich seit seiner Geburt verdoppelt. Ihren Wohlstand verdankte die Stadt nicht nur dem Handel und der Industrie, sondern zunehmend ihrer sozialen Stellung: London war Englands gesellschaftliches Zentrum. Als sich die Magnaten in der Nähe von London Häuser zulegten, waren dies keine Stadthäuser in schmalen Gassen, sondern Landhäuser mit mehreren Gebäuden und weitläufigen Gärten. Die Ankunft jeder adligen Familie ließ die Bevölkerung nicht nur um die eigentliche Zahl der Familienmitglieder und ihrer Bediensteten mit Verwandten wachsen, sondern auch um Kaufleute, Künstler und andere, die sich von der Aristokratie aushalten ließen. Neben dem London als Stadt der Produzenten, als Zentrum des Welthandels und der Industrie entstand noch ein anderes London, nämlich das der Konsumenten, des Hofes, des Adels und der Kapitalisten im Ruhestand. Wo immer Platz zwischen den großen Anwesen zu finden war, siedelte sich die Middle Class an, so gut sie konnte. Sehr bald schon entdeckten die Besitzer die Chance, mit diesen Liegenschaften zu spekulieren, um sie in Quartiere gehobenen Wohnens umzuwandeln. Diese Entwicklung der Stadt machte es auf lange Sicht unmöglich, größere Flächen als private Gärten zu erhalten. Außerdem wollte ein Graf oder Herzog selbst bestimmen, welchen Nachbarn er bekommt, wenn er sein Grundstück vermarktet. So fanden sich der Grundbesitzer und der Bauspekulant und 143

Londons Plätze

entwickelten gemeinsam den London Square [den für London typischen Platz], mit seiner charakteristischen Einheitlichkeit – der Umgrenzung von einander gleichenden, vornehmen Häusern. Der erste wirkliche Platz war die Covent Garden Piazza. Covent Garden war ursprünglich ein Klostergarten, der zur Abtei von St. Peter gehörte, also in Kirchenbesitz. Henry VIII. konfiszierte alle klösterlichen Besitztümer und schenkte Covent Garden im Jahre 1552 John Russell, der den Tudors so ausgezeichnet gedient hatte und 1550 zum ersten Earl of Bedford geschlagen worden war. Dieser errichtete, neben anderen vornehmen Gebäuden für die Aristokratie, Bedford House. Fast ein Jahrhundert später, gegen 1630, hatten sich die umliegenden Viertel so immens entwickelt, daß sich Francis Russell, der vierte Earl of Bedford, entschloß, sieben Morgen seines Besitzes zu bebauen. Inigo Jones (1573–1651) wurde für den Entwurf eines Masterplans gewählt. Er schlug vor, die neu zu planenden Gebäude um einen rechteckigen Platz anzuordnen, der auf einer Seite von einer monumentalen Kirche beherrscht sein sollte. 20 Jahre zuvor hatte der französische König Henri IV. in Paris die Place Royale, die heutige Place des Vosges, bauen lassen. Auch dieser Platz war rechteckig und von einheitlich hohen, aber schmalen Gebäuden umgeben, die für die Höflinge gedacht waren. Die Fußwege verliefen unter Arkaden um den offenen, für Ritterturniere und Historienspiele genutzten Platz. Auf einem Stich zu Ehren der Hochzeit Louis XIII. sind diese Festivitäten eindrucksvoll dargestellt. Der Platz war unter Adligen bald populär und bewundert, so daß tout le monde darüber sprach. Der Earl of Bedford hatte vielleicht die Place Royal im Sinn, als er sich entschied, seinen eigenen aristokratischen Platz zu bauen. Aber während das französische Vorbild mit seinen niedrigen und schweren Arkaden sowie den vielen Spitzdächern seiner schmalen Gebäude noch ausgesprochen gotisch anmutete, wurde der Londoner Platz bereits im klassischen Stil gebaut. Sogar sein Name ‚Piazza‘ ist italienisch. Als John Evelyn 1644 Leghorn besuchte, schrieb er in sein Tagebuch: „Die Piazza ist sehr ansehnlich und weitläufig. Mit den vier Säulen des Portikus aus poliertem schwarzem Marmor betont der Platz das Gebäude der Kirche und integriert es gleichzeitig perfekt in die Piazza.“ Das heutige Erscheinungsbild gibt nur bedingt wieder, wie der Platz vor 300 Jahren aussah. Aber selbst das, was übrig blieb, ist beeindruckend. Die besondere Wirkung der von Inigo Jones gestalteten Kirche kommt möglicherweise vor allem dadurch 144

Ein englischer und ein französischer Platz

London: Covent Garden Piazza, 1751 (Stich Thomas Bowles) Der Originalplan von Inigo Jones ist dem Vitruvius Britannicus entnommen. Der Platz wurde nicht fertiggestellt, die Südseite wurde nie gebaut. Schließlich wollte der Earl wollte seinen Garten nicht aufgeben, so daß anstatt der Arkaden und der römischen Fassaden nur eine Gartenmauer realisiert wurde. Vgl. Grundriß S. 146

Paris: Place des Vosges, Ritterturnier zu Ehren der Hochzeit von Louis XIII., 1615

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Londons Plätze

Oben: Church Square, Leghorn; Mitte: Place des Vosges, Paris Unten: Covent Garden, London

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Covent Garden und Place des Vosges

London: Die Arkaden der Covent Garden Piazza, 1878 von Henry Clutton erbaut, 1928, abgerissen

Paris: Arkaden der Place des Vosges, 1930

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Londons Plätze

Nicolas Poussin, Der Raub der Sabinerinnen, Palais du Louvre [1637–1639]

zustande, daß diese sich in London, der Stadt mit so vielen großen Gebäuden befindet, von denen wenige wirklich großartig sind. Nach einem Feuer im Jahre 1795 wurde die Kirche leicht verändert, und man hob das Platzniveau um etwa einen Yard an: [zu den englischen Maßeinheiten siehe S.406ff] Der mächtige Portikus, der zu Beginn über eine Treppe erreicht wurde, steht nun mit seinen schweren Säulen direkt auf dem Bürgersteig. Aber das hat seine Erscheinung nur verstärkt. Die Engländer haben es nicht immer verstanden, die großartige Einfachheit dieses Gebäudes anzuerkennen. Um den berühmten Inigo Jones für einen derart geringfügig geschmückten Kirchenbau zu entschuldigen, erzählt man sich, der Earl of Bedford habe ihm erklärt, er wolle zwar eine Kapelle für die Gemeindemitglieder von Covent Garden bauen, jedoch, wie er hinzufügte, nicht zu teuer. Kurz gesagt: „Ich möchte es nicht viel besser haben als eine Scheune.“ – „Nun denn“, antwortete Jones, „Sie sollen die schönste Scheune Englands bekommen.“ Tatsächlich ist zu vermuten, daß Jones alle Freiheit besaß, seine eigenen künstlerischen Ideen zu verfolgen. Die Covent Garden Piazza ist genau der monumentale Platz, den ein klassisch ausgebildeter Künstler jener Zeit so hätte ausführen wollen. Ein antikes Forum, das von einem klassischen 148

Covent Garden ist ein Forum

Inigo Jones, St. Paul’s, Covent Garden, Portikus vom Platz aus

Megarontempel beherrscht wird, ähnlich dem, welchen Jones’ Zeitgenosse, der Maler Nicolas Poussin in seinem Bild Der Raub der Sabinerinnen dargestellt hat. Beide Künstler arbeiteten an dem gleichen Problem: einen niedrigen Zentralbau dominant wirken zu lassen. Während es offensichtlich ist, daß Poussin sich mühen mußte, um seinem Tempel eine breite und schwere Erscheinung zu geben, hat Inigo Jones dies erreicht, ohne die Proportionen zu übertreiben. Er folgte lediglich Vitruvs Hinweisen für „einen Tempel mit Säulen in toskanischer Ordnung“ und gab dem Gebäude einen gewaltigen Dachvorsprung. Dennoch kann man nicht sagen, dieses beeindruckende Gebäude beruhe eher auf dem Studium der Literatur als auf eigener Erfahrung. Der große Portikus mit seiner Entasis der Anten und Säulen ist allerdings nicht der Eingang, sondern bloß ein Schutzdach, das zum Platz und nicht zur Kirche gehört. In einem alten Stich mit einem Plan von Covent Garden ist eine Inschrift auf dem Portikus zu lesen, die besagt: „Hier werden die Mitglieder für Westminster gewählt.“ Dies scheint zu bestätigen, daß der Platz wirklich ein Forum war, eine Art Treffpunkt für die Bevölkerung. Der Eingang zur Kirche befindet sich auf der anderen Seite des Gebäudes in einem kleinen, von Häusern umgebenen Kirchhof. 149

Londons Plätze

St. Paul’s, Covent Garden, an einem sonnigen Februartag, 1930

Die Abbildung im Vitruvius Britannicus vermittelt den Eindruck, als hätten die umgebenden Gebäude nur die Tiefe der Arkaden. Dem war natürlich nicht so. Es sind stets individuelle Gebäude mit unterschiedlichen Tiefen und Breiten, die sich hinter der homogenen Pilasterfassade verstecken. Diese gehört, ähnlich dem Kirchenportal, eher zum Platz als zu den sie umgebenden Gebäuden. Es war offenbar das richtige Konzept: Die Arkaden wurden bestens angenommen. Sie waren stets voller Menschen, die sich auf dem Weg zu den Kaffeehäusern der Nachbarschaft oder zum in der nordöstlichen Ecke des Platzes gelegenen Theater befanden, oder einfach, das Tagesgeschehen diskutierend, auf und ab promenierten. Sie erlangten eine solche Popularität, daß das Wort Piazza schon bald zum Synonym für die Arkaden wurde, und nicht für den Platz. Auch war es beliebt, in den stattlichen Häusern zu wohnen. Selbst hundert Jahre später, als der Platz allmählich herunterkam, war Covent Garden immer noch von Londons vornehmster Gesellschaft bewohnt. Schon lange zuvor berichteten die Klatschspalten darüber; zum Beispiel steht im Morning Advertiser vom 1. März 1730: „Lady Wortley Montagu, die einige Zeit in ihrem Haus am Covent Garden 150

Covent Garden Piazza

Wohngebäude in Covent Garden, 1930, abgerissen

indisponiert war, ist nun gänzlich genesen, und genießt auf Anraten der Ärzte ihrer Gesundheit zuliebe allmorgendlich die frische Luft im Hyde Park.“ Indes scheint es befremdlich, daß die privilegierten Bewohner einige Zeit später den Platz mieden. Der Duke of Bedford (der Earl war inzwischen zum Duke geworden) hatte gewiß keinerlei Anstrengungen unternommen, sie zum Bleiben zu bewegen. Statt dessen hatte er 1671 von Charles II., der bekanntlich immer in Geldnöten steckte, das Recht erhalten, täglich einen Gemüsemarkt auf dem Platz abzuhalten, und dies veredelte den noblen Platz in keiner Weise: Frühmorgens kamen die Händler mit Karren und Körben vom Lande und Inigo Jones’ römische Piazza war voller Gebrüll und Geschrei. Sie quoll über von Kohlblättern und Radieschen, war am Morgen – im 17. und 18. Jahrhundert – schmutzig und nachts ein gefährlicher Ort. In diesem Teil der Stadt zwischen City und Westminster gab es bis zum 19. Jahrhundert kaum Polizei, Diebstähle und Überfälle standen auf der Tagesordnung. Auf der Mitte des Platzes befanden sich Stände und Buden, denen später, Anfang des 19. Jahr­hunderts, gedeckte Markthallen folgten. Es gibt sie noch immer. Die Gebäude auf der Nordseite sind verändert und um ein volles Geschoß aufgestockt. Die Ostseite ist 151

Londons Plätze

Frontalansicht St. Paul’s, Covent Garden, 1930

abgerissen worden, die verbliebenen Häuser sehen schäbig und herunter­gekommen aus. Der Obstmarkt dehnt sich in die umgebenden Viertel aus, so daß die Straßen von den Wagen blockiert werden, die gegen Mitternacht ankommen und bis weit nach Mittag bleiben. Ausländern erscheint es bemerkenswert, daß eine für das Gemeinwohl so wichtige Institution wie der Obst- und Gemüsemarkt sich nach wie vor in privater Hand befinden kann. Seltsam, daß Marktrechte, gemäß dem mittelalterlichen königlichen Hoheitsrecht, noch im 17. Jahrhundert einem Adligen 152

Covent Garden Piazza

Seitenblick auf die Fassade von St. Paul’s, Covent Garden, 1930

zugesprochen werden konnten. Aber weitaus unverständlicher ist, wie dieses Recht bis heute als Privatrecht akzeptiert werden kann. In diesem [dem 20.] Jahrhundert verkaufte der Duke of Bedford Covent Garden und die damit verbundenen Rechte an eine Gesellschaft, so daß sie sich weiterhin in privater Hand befinden. In England scheint es eine grundlegende Aversion gegen öffentliche Institutionen zu geben, wenn deren Aufgaben auf irgendeine Art und Weise auch privat erfüllt werden können. 153

Londons Plätze

Luftbild von Covent Garden mit morgendlichem Verkehr (Foto Aerofilms Ltd.)

Als die Covent Garden Piazza beliebt wurde, fand der Londoner Platz als standesgemäße Wohngegend für die bessere Gesellschaft Anerkennung. In den folgenden hundert Jahren wurden viele andere Plätze angelegt; keiner war jedoch vergleichbar nobel. Nur vier Jahre später (1635) wurde Leicester Square als ungleichmäßiger Platz mit individuellen Gebäudetypen vor dem Leicester House angelegt. Auch dem Earl of Southampton gelang es, die offene Situation seines Anwesens zu erhalten, indem er auf seinem Grundstück 1665 einen Platz anlegen ließ, den heutigen Bloomsbury Square. Schon in einem der vorherigen Kapitel haben wir gesehen, wie die Bau­ spekulanten durch das Gesetz zur Bewahrung von Freiflächen gezwungen wurden, die Lincoln’s Inn Fields als freies Areal und den Red Lion Square als kleinen Platz innerhalb seines Viertels anzulegen (1684). Die Pest von 1665 und das Große Feuer von 1666 förderten die Bauaktivitäten im West End enorm. Noch vor dem Ende des Jahrhunderts wurden weitere Plätze angelegt, Soho Square (1681), Grosvenor Square (1695) und Berkeley Square (1698) entstanden. Der gleichmäßigste von allen war der St. James’s Square (1684), der schon immer als besonders eleganter Platz gegolten hat.1 Dieser Platz ist vollkommen quadratisch und durch eine Straße, die eine seiner Achsen bildet, mit Christopher Wrens Kirche, St. James’s, Piccadilly, verbunden. Für einige Zeit war er mit einem runden Teich geschmückt. Heute steht dort, umgeben von Bäumen, die Statue von William III. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde es populär, Häuser gleichen Typs in Reihen von einer Baugesellschaft planen zu lassen, jedoch ist bis zum Ende des Jahrhunderts 154

Plätze des 17. Jahrhunderts

Leicester Square, Stich von Sutton Nicholls, um 1754

kein größeres Ensemble in einem städtebaulichen Plan bekannt. Das zwischen der City und Westminster an der Themse gelegene Adelphi ist mit das größte und außergewöhnlichste Beispiel eines solchen Versuchs. Der griechische Name verbindet uns bis heute mit den talentierten Gebrüdern Adam, die diesen Komplex gebaut haben. Drei von ihnen waren Architekten, der vierte Bankier. 1768 pachteten sie gemeinsam für 99 Jahre ein Stück Land, Durham Yard genannt, vom Duke of St. Albans. Es befand sich südlich des Strand und war mit kleinen heruntergekommenen Häusern bebaut. Das Grundstück fiel zur Themse hin ab, deren Ufer hier so schmutzig waren und so übel rochen, daß sich die Anwohner fortwährend beschwerten. Dieses von den Adam-Brüdern sehr günstig erworbene, vernachlässigte Grundstück sollte nun mit einem enormen Bauvorhaben in eines der modernsten Quartiere Londons umgewandelt werden. Man wollte alle Möglichkeiten des Grundstücks nutzen, das Ufer begradigen und mit einem Kai als Anlegestelle befestigen. Das angrenzende Gefälle wurde mit Gewölbekellern bebaut, die ihre großen Lagertore zum Fluß öffneten. So schuf man eine hohe Terrasse aus Backstein, auf der die Wohngebäude errichtet wurden, weit über dem Dreck des Kais und mit einem wundervollen Blick über den Fluß. Diese Gebäude waren zu einem Block, ähnlich einer 155

Londons Plätze

St. James’s Square, Blick nach Osten, 1928

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Die Geschichte von Adelphi

Palastfront mit Mittelbau und zwei Seitenflügeln, mit Pilastern zusammengefaßt. Hier lebten die Bewohner wie auf einem Fels, völlig ungestört vom Treiben der darunterliegenden Lagerhäuser. Deren Keller erstreckte sich 265 Fuß tief unter die Gebäude und Straßen in die dunkle Unterwelt. Als später mit der Errichtung des Themse-Embankment die Uferkante weiter nach Süden verlegt wurde, verloren die Lagerhäuser ihren Zugang zum Kai, doch die seltsame unterirdische LagerhausStraße existiert bis heute. Die Belüftung erfolgt durch nur wenige runde Öffnungen, welche kaum eine Ahnung vom grauen Tageslicht geben. Möglicherweise wurden die Keller ursprünglich mit Hilfe von Fackeln erleuchtet. Später befand sich eine schummrige Gaslaterne im Winkel der unterirdischen Straßen. Die Gebrüder Adam hatten spekuliert, die Regierung werde die weitläufigen Gewölbe als Waffenarsenal nutzen wollen, doch dieser Plan scheiterte gänzlich. Der Kai war leider etwas zu niedrig, so daß bei Hochwasser die Gewölbe überflutet wurden, und es erwies sich als unmöglich, diese Keller, die uns in ihrer Pracht an alte römische Bauten erinnerten, zu vermieten. Für viele Jahre waren sie kaum genutzt und dienten als Unterkunft für die Ausgestoßenen der Stadt. Ebenso hatten die Architekten unerwartete Schwierigkeiten, die großartig gelegenen Wohnungen zu vermieten oder zu verkaufen, so daß das gesamte Unternehmen die Brüder zu ruinieren drohte. Doch sie wurden gerettet: Als Ausweg aus der Krise veranstaltete das Parlament eine Lotterie, als deren Gewinne die Wohnungen der Anlage ausgeschrieben waren. Es gab einen großen Andrang auf die Lose. Dieses Handeln ist sehr charakteristisch für England. Es zeigt uns ein enorm spekulatives Vorhaben mit erheblichen Gewinnchancen, aber auch gewaltigen Risiken und unterscheidet sich deutlich von Grundbesitzspekulationen auf dem Kontinent, wo es im allgemeinen stets um die Erhöhung des Grundstückswertes geht. Dabei handelt es sich um fiktive Wertschöpfung und den Versuch, von der unterschiedlichen Bewertung des Grundstücks zu profitieren, unabhängig von seiner Benutzung. Bei englischen Spekulationsvorhaben geht es um die Wert­steigerung eines Grundstücks, das, für sich genommen, keinen besonders hohen Eigenwert besitzt. Doch durch die Schaffung von realem Neuwert in Form von Immobilien läßt sich damit Gewinn erzielen. Ein ausschließlich produktives Geschäft. Im Falle des Adelphi ist die kommerzielle Idee nicht geringer oder weniger einfallsreich als die künstlerische. Der Entwurf war eine Phantasie über antike Motive: enorme 157

Londons Plätze

Gewölbe unter dem Adelphi, 1930, abgerissen

unterirdische Gewölbe, die Terrasse über dem Fluß und einfache klassizistische Häuser mit ihren Pilastern und deren in Terrakotta ausgeführten Pompejischen Ornamenten. 1757 hatte Robert Adam Spalato [Split] besucht und in sehr kurzer Zeit die Überreste des riesigen Diokletianspalastes studiert (seine Zeichnungen wurden 1764 ver­öffentlicht). Aber Adelphi war nicht nur ein Traum von antiker Architektur, sondern gleichermaßen eine kaufmännische Phantasie von Risiko und Gewinn. Der Finanzier war ein Künstler und der Künstler ein Finanzier. Diese Form der kreativen Spekulation ist etwas sehr Englisches, und es ist nicht weniger typisch, daß das Vorhaben durch eine Lotterie gerettet wird, sollte es sich als Pleite herausstellen – ein Reiz für den Spieltrieb, Geschäftsabenteuer und Aufregung in anderer Form. Dieser Geist ist charakteristisch für viele der großen Bauvorhaben im London des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Genauso macht er die Finanzierung der Fortbewegungsmittel möglich und fördert damit die enorme Dezentralisierung der Stadt. Es hat immer Menschen gegeben, die gewillt waren, mit ihrem Geld lieber große produktive 158

Kunst und Kommerz

Straße unter dem Adelphi, 1930, abgerissen

Unternehmungen zu unterstützen als es in Bodenspekulation zu begraben. Das hat London seine Aktivität gegeben und spiegelt sich in seinem wilden Wachstum wider. Robert Adam hatte seit 1762 eine sichere und befriedigende Anstellung als Einziger Architekt des Königs und des Board of Works [entspricht dem deutschen Bau­ministerium]. Dennoch gab er die Stellung 1768 auf, um sich ganz dem AdelphiProjekt zu widmen, wofür seine Brüder und er all ihren Besitz riskierten. Sie ertrugen den Schicksalsschlag, als die Dinge schief liefen, auch wenn sie ihre Kunstsammlung und alles andere veräußern mußten, was sie nicht zum Leben benötigten. Und trotzdem verdarb dies nicht ihre gesellschaftliche Stellung; sie blieben Teil der Upper Class. Es ist bemerkenswert, wie sich die Gliederung der Gesellschaft auch in der Konzeption des Adelphi zeigt: in den obersten Geschossen die feinen, dennoch schlichten Häuser der Oberschicht, errichtet auf zwei dunklen Kellergeschossen, die Küchen und Räume für die Bediensteten beherbergten; darunter wiederum die Gewölbe, in denen die ärmsten Gesellschaftsklassen Unterkunft suchten. 159

Londons Plätze

Adelphi, Blick

[George] Bernard Shaw und H. G. Wells lebten einige Zeit im Adelphi, und von dieser Schichtung menschlicher Behausungen, eine Gesellschaftsklasse über der anderen, könnte sich Wells zu seiner seltsamen Zukunftsvision inspiriert haben lassen, die er in seiner Novelle The Story of the Days to Come [dt. Von kommenden Tagen] beschreibt. Darin wird ein schreckliches Bild heraufbeschworen: wie die Stadt der Zukunft aussehen wird, wenn sich Kapitalismus und Mechanisierung so weiterentwickeln wie bisher. „Im 19. Jahrhundert waren die Armenviertel immerhin noch unter freien Himmel; … Im 22. Jahrhundert indessen hatten sowohl das Wachstum der Stadt, Stockwerk um Stockwerk, als auch die Zusammensetzung der Gebäude zu einem neuen städtischen Arrangement geführt. Die wohlhabenden Leute lebten in einer ganzen Reihe von exquisiten Hotels in den oberen Geschossen und Gemächern des Stadtgewebes. Das 160

H. G. Wells im Adelphi

Adelphi, die John Street, 1930

Proletariat hauste in den ungeheuerlichen Erdgeschossen, sozusagen den Kellern des Gebildes.“ Im folgenden beschreibt Wells, wie diese sich abrackernden armen Teufel immer in künstlichem Licht, ohne die geringste Chance leben müssen, die Natur genießen zu können. Die Apotheose der kontinentalen Metropole. Das englische Ideal hingegen ist die Gartenstadt. Im 19. Jahrhundert vermittelte das Adelphi nicht ganz den Eindruck dieses Wellsschen Babylon. Zur Zeit seiner Entstehung erschien es den Zeitgenossen sogar sehr imposant, und man sah in ihm die Idee der unglaublich modernen Großstadt repräsentiert. (Der Bau des riesigen Blocks von William Chambers, Somerset House, war noch nicht bekannt – er wurde erst 1776 begonnen.) Aus jener Zeit stammen noch viele andere Pläne zur Verbesserung und Erweiterung Londons. 161

Londons Plätze

Adelphi, Grundriß Erdgeschoß Oben: Schnitt, der die unterirdische Straße zeigt

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Ein Haus im Adelphi

Adelphi, Grundrisse der sechs Stockwerke

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Londons Plätze

Adelphi in seiner ursprünglichen Form, von der Themse aus gesehen

Das bekannteste Buch ist wohl John Gwynns London and Westminster improved. Es formuliert eine Reihe von Vorschlägen für breite Durchgangsstraßen durch bestehende Viertel und Entwürfe für neue Quartiere; Vorschläge, deren Um­ setzung der Autor nicht mehr miterleben sollte. Viele wurden jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts ausgeführt. Die neuen Stadtviertel sind in regelmäßiger Blockrandbebauung entworfen, durchwirkt von offenen Plätzen in Form von Oktogonen und Kreisen. Gwynn schreibt: „Es ist essentiell für die architektonische Wirkung, daß alle Gebäude desselben Ensembles die gleiche Erscheinung besitzen“ und nennt als gelungenes Beispiel die Resultate, die in Bath erzielt worden seien. In dieser wegen ihrer heißen Quellen viel besuchten Stadt hatten zwei Architekten namens John Wood, Vater und Sohn, ähnliche Anstrengungen unternommen wie die Gebrüder Adam mit dem Adelphi. Aber anstelle eines Quartiers bauten sie eine ganze Stadt. Die Upper Ten wurden 1702 auf die Stadt aufmerksam, als Queen Anne sich auf Anraten ihres Arztes nach Bath zur Kur begab. Das erste große Bauvorhaben war Queen’s Square. John Wood der Ältere erwarb 1727 das Grundstück in 99-jähriger Erbpacht, errichtete die Gebäude und verpachtete diese seinerseits für 98 Jahre weiter. Ausgehend von diesem rechteckigen Platz steigt die Gay Street (zwischen 1750 und 1760 erbaut) an und mündet im Circus. Der kreisrunde Platz besitzt drei Zugänge in gleichmäßigen Abständen, die auf die konkave Ansicht der 164

John Gwynns Plan 1760

John Gwynn, Teil des Entwurfs für ein neues Quartier in London, 1760

umschließenden Bebauung zulaufen. Der Boden wurde angeglichen, so daß der Circus als ebene Senke in dem welligen Gelände liegt. Die Einheitlichkeit der Architektur ist perfekt: Die Fassade wird von drei Reihen aufeinander stehender Säulen geziert, was an das Bild eines römischen Amphitheaters erinnert, von außen nach innen gestülpt, konkav statt konvex. Von einem der Zugänge steigt eine weitere Straße zum Royal Crescent (1767 begonnen), einer eindrucksvollen Gebäudeanlage, deren Grundriß eine halbe Ellipse beschreibt und sich zum Hang mit einem wundervollen Blick über die Altstadt in das Tal öffnet. Die Ansicht zeigt ionische, sich über zwei Geschosse erstreckende Säulen in Kolossal­ordnung, die im Erdgeschoß auf rustikalen Plinthen ruhen. Besucher wähnen, sie seien vom Kolosseum zum Marcellustheater geraten. Andere Straßen steigen mit sich wiederholenden halbkreisförmigen Gebäuden zum Hügel hin an. Zum Beispiel Camden Crescent und Norfolk Crescent, die sich an den Hang geschmiegt zur Stadt öffnen. Neben diesen prächtigen Anlagen finden sich noch einige weitere mit bescheidenen klassizistischen Bauten. Diese aristokratische Architektur, welche ihre Wirkung durch die Lage der Stadt und den lokalen ‚Bath-Stein‘ erzielt, könnte nicht nach London übertragen werden. In London wurden die modernen Ideen mit Plätzen auf ebenen Terrain ausgeführt, und statt der fein gearbeiteten Fassaden aus ‚Bath-Stein‘, mußten die Londoner Häuser mit weniger verziertem Zielgelwerk auskommen. Ende des 18. Jahrhunderts begann der Duke of Bedford, 112 Morgen Land nördlich der Oxford Street aufzuteilen, von denen 20 Morgen als Pachtgärten genutzt werden sollten. Die Idee war, die Gebäude um gleichmäßig über das gesamte Areal 165

Londons Plätze

Bath: Circus und Royal Crescent (Foto Aerofilms Ltd.)

Bath: Royal Crescent (Foto Aerofilms Ltd.)

verstreute Grünflächen zu gruppieren. So wurde eine Reihe von Plätzen angelegt – einige von ihnen quadratisch, andere rechteckig und wieder andere halbkreisförmig. Aber allen war die zentrale Grünfläche mit Rasen und Bäumen gemein. Bedford Square war einer der ersten Plätze, die gebaut wurden (1775–1780). Weder befinden sich die Originalpläne im Nachlaß der Bedford Estate, noch ist der Verfasser des Entwurfs bekannt. Man weiß nicht genau, ob die städtebauliche Konzeption von den Besitzern (also der Bedford Estate) stammt und für Bauwillige als Muster entwickelt wurde, oder (wie im Falle des Adelphi und in Bath) von einem Unternehmer, nachdem dieser das Areal in Erbpacht erworben hatte. Sicher ist jedoch, daß die Grundstücke als Baugrund verpachtet wurden; alle Häuser sehen fast identisch aus. Es gibt Unterschiede (besonders was die innere Aufteilung betrifft), und dennoch sind sie einander so ähnlich, daß die Bedford Estate entweder ein Modell für die Häuserfront entwickelt oder eines ausgewählt hatte, an das sich alle Pächter beim Bau vertraglich halten mußten. Innerhalb gewisser Richtlinien konnten die Häuser nach den Bedürfnissen unterschiedlichster Käufer gestaltet werden. Anhand der Geschichte eines dieser Häuser von etwa 1780 können wir uns die Entwicklung des Londoner Grundstücksmarktes im Laufe von 150 Jahren vergegenwärtigen. Dabei ist es immer von besonderem Interesse, die Steigerung der Grundstückswerte zu verfolgen, wenn die Pacht auslief. Die Vergangenheit der verschiedenen Häuser variiert allerdings enorm und macht es somit unmöglich, aus der Erfahrung 166

Bath als Modell für Stadtplanung

mit einem einzigen Haus allgemeingültige Schlüsse zu ziehen. Besonders einem Ausländer erscheint es ungewöhnlich, daß kaum genaue Informationen zu Grundstückspreisen in unterschiedlichen Zeiten herauszufinden sind. Im allgemeinen wurde jedes Grundstück zu einem festen jährlichen Betrag für 99 Jahre verpachtet. Für Bedford Square betrug die Pacht, soweit es in Erfahrung zu bringen war, drei Pfund Sterling. Nach Ablauf der ersten 99 Jahre gingen nicht nur das Grundstück, sondern auch die Gebäude, die auf ihm errichtet worden waren, in den Besitz der Bedford Estate zurück. Grundstück und Gebäude wurden wiederum für einen bestimmten Zeitraum zu einer neu festgesetzten jährlichen Summe verpachtet. Doch gibt uns das nicht den geringsten Anhaltspunkt darüber, was der neue Pächter für den Grund und was er für das Gebäude zu zahlen hatte. Erstaunlicherweise hatte die Verwaltung der Bedford Estate nicht den reinen Grundstückswert ermittelt, als die jährliche Pacht festgesetzt wurde, sondern den Boden und die Immobilie fortwährend als unteilbar Ganzes betrachtet. So war der Wert der Häuser am Bedford Square schon mit dem zweiten Pachtvertrag gänzlich unterschiedlich. Ein Gebäude war reichlich dekoriert und gut gepflegt, ein anderes schlecht gebaut und möglicherweise in einem verwahrlosten Zustand – was in den letzten Jahren vor Ablauf der Pacht häufig vorkam. Nach der ersten Periode von 99 Jahren wurden die neuen Verträge für kürzere Zeiträume abgeschlossen, im allgemeinen zwischen 20 und 50 Jahren. Mit der Festlegung der Dauer wurde folgendes in Erwägungen gezogen: Wenn der neue Pächter weitreichende und kostspielige Instandsetzungen oder Verbesserungen am Besitz vorzunehmen gedachte, pachtete er für einen verhältnismäßig langen Zeitraum, um selbst vor Ablauf des Vertrages von der Investition profitieren zu können. Andernfalls wurden kürzere Fristen vereinbart, meist jedoch mindestens 20 Jahre, damit der Preis bei nächster Gelegenheit angeglichen werden konnte. Nach 150 Jahren sind diese Häuser, die einander äußerlich gleichen wie ein Ei dem anderen, unterschiedlich viel wert, und die Wertsteigerung des Grundstücks ist nicht aus dem Mietpreis ableitbar, da dieser ebenso die Immobilien einschließt. Manche Häuser wurden für 20, andere für 50 Jahre verpachtet, einige sind billiger, andere teurer, und die Verträge laufen zu unterschiedlichen Zeitpunkten aus. Die Verwaltung der Bedford Estate sieht es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, zu verhindern, daß die Verträge zur selben Zeit auslaufen. Wenn dies der Fall wäre und während einer wirtschaftlichen Depression geschähe, müßten die künftigen Verträge mit niedrigen Pachten abgeschlossen werden 167

Londons Plätze

Luftbild von Bloomsbury (Foto Aerofilms Ltd.)

und behielten für mindestens zwanzig Jahre Gültigkeit. Mit dem Versuch, das Auslaufen der Verträge zu streuen, wird ebenso der Effekt von wirtschaftlich guten und schlechten Perioden gestreut. Offenbar hält die Bedford Estate ohne Spekulationen auf den Grundstückswert und ohne neue große Geschäfte an einer abgesicherten Strategie fest. Dieses Kalkül macht jegliche Pläne für radikale Veränderungen unmöglich und verhindert sprunghafte Preissteigerungen an einem Ort wie Bedford Square. Es erklärt auch, warum sich Bedford Square nach 150 Jahren nicht wesentlich verändert hat, obwohl er in unmittelbarer Nähe zu einigen der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt liegt. Die großen Hotels haben nun von der Southampton Row Besitz genommen; das British Museum hat den gesamten Block ausgefüllt, welcher dafür reserviert war; die London University schluckt mehr und mehr alte Häuser, und das Viertel, das vom Duke of Bedford für gute Wohnhäuser angelegt war, hat einen neuen Charakter erhalten. Aber es ist genug geblieben, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie die Menschen früher im alten Bloomsbury lebten. Die grünen Plätze lagen ruhig und weitab vom Verkehr der Hauptstraßen. Die Zugänge von großen Verkehrsadern wie Euston Road und Oxford Street waren durch Tore versperrt, 168

Bedford Square

Bedford Square, 1931. In den Steinplatten des Gehsteigs sind die runden Zugangsklappen zu den Kohlekellern deutlich zu erkennen. Sie erstrecken sich vom Vorbereich der Häuser bis unter die Straße.

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Londons Plätze

Bloomsbury: Cartwright Gardens, 1931

und Menschen ohne geschäftliche Verpflichtungen in Bloomsbury hatten keinen Zutritt zum Viertel. Der Gemüsehändler konnte nicht einmal seinen Laufburschen schicken, er mußte seine Waren selbst austragen, um Einlaß gewährt zu bekommen. Dies hielt bis 1893 an, als ein Gesetz vom Parlament verabschiedet wurde, wonach die Tore entfernt werden müßten. Viele der Häuser hatten Ställe und Wagenremisen auf der Rückseite, welche von einer Gasse, den ‚mews‘ 2 , erschlossen wurden. Es herrschen strenge Regeln für jeden Platz. Falls ein Pächter am Bedford Square ein Schild oder eine Werbetafel an seinem Zaun anbringt, dauert es nicht lange, bis er einen Brief von der Bedford Estate erhält, der ihn auffordert, es zu entfernen. Es kann noch so gut gestaltet sein – was englische Schilder meistens sind –, das würde nichts ändern. Im Vertrag ist ausdrücklich festgehalten, daß es dem Pächter verboten ist, sein Haus als 170

Plätze in Bloomsbury

Bloomsbury: Bedford Place, vom Bloomsbury Square aus gesehen, 1931

Laden oder Restaurant zu nutzen sowie Schilder anzubringen. Es ist befremdlich, wie die Pächter an ihre Verträge gebunden sind, während die Besitzer – in diesem Falle die Bedford Estate – keinerlei Verpflichtungen eingehen, den Platz auf einem ent­sprechenden Standard zu halten. Wann immer sie wollten, konnten sie die Häuser für Nutzungen verpachten, die der gediegenen Atmosphäre des Ortes in keiner Weise entsprachen. Selbstverständlich geht man allerdings davon aus, daß dies nie der Fall sein werde. Die Bedford Estate würde nie für einen möglichen kleinen Gewinn den Wert ihrer anderen Gebäude riskieren. Dahinter steckt etwas Ideelles und auch Abstraktes. Ausländern mag es seltsam erscheinen, daß der Duke of Bedford, der Duke of Westminster und andere Großgrundbesitzer so viele Immobilien besitzen und mit ihnen machen können, was sie wollen. Es sind jedoch nur dem Anschein 171

Londons Plätze

Bedford Sqare, 1927

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Der Geist des Londoner Platzes

Torrington Square, 1927

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Londons Plätze

The Temple: Pump Court, 1941 abgerissen

Torrington Square, 1927

nach einzelne Personen, die mit diesen Besitztümern nach persönlichem Belieben umgehen (im eigentlichen Sinne handelt es sich um eine ‚Stiftung‘, welche sie als Lehen treuhänderisch für die Krone verwalten). Die Estates selbst werden von unpersönlichen Büros geführt, und die Pächter wissen selten, ob ein Herzog oder der Staat den Besitz verpachtet. Der Londoner Platz unterscheidet sich ganz und gar von den großartigen barocken Plätzen auf dem Kontinent. Die Architektur des barocken Platzes fügt sich im allgemeinen zu einem großen Crescendo. Sie leitet die Aufmerksamkeit der Betrachter von einem Ort zum nächsten; die gesamte Gestaltung unterliegt einer klaren Ausrichtung und besitzt einen architektonischen Höhepunkt, ein Denkmal oder ein prächtiges Gebäude. Jeder Platz ist ein untergeordnetes Element einer bedeutenden Komposition. Im Gegensatz dazu ist der englische Platz, wie der Kreuzgang eines Klosters, ein in sich geschlossenes Ganzes. Er bildet feine geometrische Figuren im Plan der Stadt, ist einheitlich und nach allen Seiten gleich. Eine Reihe solcher Plätze kann in beliebigen Mustern miteinander verbunden sein. Dabei bringt die englische Lösung wieder einmal klar die englische Eigenart zum Ausdruck. Ein französischer oder deutscher barocker Platz wurde als Abbild des Absolutismus geschaffen und mußte folglich einen Höhepunkt haben. Er sollte den Blick zu einem öffentlichen Bau leiten, einem Schloß, einer Kirche oder einem anderen Prachtbau. 174

Die Stimmung von Bloomsbury

Der englische Platz hingegen war vielmehr ein Ort, an dem Menschen einer Klasse ihr Haus haben, was mehr dem klösterlichen Kreuzgang als Vorbild entspricht. Durch die Höfe des Temple spazierend, welcher ursprünglich aus kirchlichen Gebäuden bestand, weiter durch Staple Inn, Gray’s Inn, zu den wundervollen Plätzen um das Gelände des Foundling Hospital, über Queen’s Square zu den anderen Plätzen in Bloomsbury: Russell Square, Torrington Square, Bedford Square und all den anderen, spürt man förmlich: Sie alle gehören zur Stadt. Es scheint, als hätten sich in den Plätzen dieser häuslichen Viertel die Traditionen des Mittelalters in unsere Zeit begeben. Die schmalen Höfe der alten Stadt sind zu den großen freien Plätzen der neueren Viertel geworden. Diese Viertel sind der Beitrag Londons zur Stadtplanung des 18. Jahrhunderts. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden neue Viertel in gleicher Weise geplant, die sich, einheitlich in Blocks oder Reihen gefaßt, mit Plätzen und schönen Gärten abwechselten, und sich dennoch einen gewissen urbanen Charakter erhalten konnten. Diese Art der Planung wurde fortgesetzt, bis der viktorianische Romantizismus den georgianischen Klassizismus verdrängte und villenartige Gebäude in Mode kamen. Aber schon im 18. Jahrhundert war man in England in der Lage, standardisierte Haustypen zu entwickeln, die zu jeder Familie mit einem bestimmten Einkommen paßten. Uniforme Häuser waren genauso natürlich wie uniforme Kleidung. Die ausgesprochene Vorliebe für diese einfachen, einander ähnelnden Häuser korrespondiert mit der, Reserviertheit der englischenUmgangsformen, die schon damals sehr weit entwickelt waren. Bäume und Rasen wurden mit großer Leichtigkeit in die städtische Umgebung eingebunden. Die Menschen genossen es, etwas Grün vor ihren Fenstern zu sehen, jedermann mochte das Ländliche. Doch hier, wo die Umstände dichteres Bauen verlangten, wurde das Ideal der Villa aufgegeben, und man arrangierte die Pflanzungen in größeren Einheiten mit einem neutralen Rahmen aus Gebäuden. Die Bäume auf den Plätzen von Bloomsbury werden nie beschnitten. Sie wachsen frei und natürlich, als stünden sie in der Landschaft. Von den Fenstern aus schaut man immer in das grüne Laub, ein schöner Blick auf die wachsenden Bäume. Indem man sie alle in die Mitte des Platzes stellte, hat man jeglichen Schatten vermieden, der die Gebäude hätte verdunkeln können. Die Grünflächen und die Straßen sind strikt getrennt, so wie sich alles in diesem Stadtviertel klar und akzentuiert zeigt. 175

Londons Plätze

An einem sonnigen Sommertag kann man stundenlang unter frischen grünen Bäumen von einem Platz zum nächsten wandern und tausende kleiner Flecken beobachten, welche die Sonne auf dem Rasen tanzen läßt. Auch in der dunklen Jahreszeit sind die alten Plätze nicht weniger attraktiv. Am Nachmittag, wenn nach und nach die Lichter in den Fenstern erscheinen, zur Teezeit – dem so heiligen Ritual der Engländer – wenn London von Feuchtigkeit und Nebel in derselben gelblichen Farbe wie der Tee verschluckt wird, scheint es, der Londoner Platz sei auf dem Grund des Meeres, und über ihm triebe mit den verschwommenen Konturen der Zweige ein Teppich aus Seegras. Bibliographie Für die Londoner Plätze siehe Beresford Chancellor: The History of the Squares of London aus dem Jahr 1907, für das Adelphi und die Gebrüder Adam siehe J. Bolton: Architecture of Robert and James Adam, 1922. Zu Ehren der Grundsteinlegung für den Neubau der London University am 16. Juni 1933 wurde eine wundervolle kleine Broschüre von Miss E. Jeffries Davis über das Gelände in Bloomsbury herausgegeben, die bis dahin nicht publizierte Pläne des Viertels sowie eine Darstellung seiner historischen Entwicklung enthält. Exzellente und zuverlässige Informationen über Londoner Häuser und Plätze sind in den vom London County Council herausgegebenen Publikationen, der Survey of London, zu finden, die diese Haus für Haus beschreiben. 1 a us James Boswell, John Wilson Croker, The Life of Samuel Johnson, 1791. Ein alter Kinderreim lautet: She shall have all that’s fine and fair And the best of silk and satin shall wear; And ride in a coach to take the air, And have a house in St. James’s Square.

Alles, was fein und schön, soll sie besitzen Geschmückt in Samt und Seide; Ein Wagen mit Chauffeur, Ihr Haus am St. James’s Square.

2 Mit  Mew wurde ursprünglich ein Käfig für Falken bezeichnet, da königliche Stallungen häufig auf dem Gelände der Falkengatter errichtet wurden. Heute hat sich die Bedeutung dieses Wortes gewandelt. Mews bedeutet eher ‚Stallungen‘, die um offene Höfe oder rückwärtige Gassen angeordnet sind.

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10 Englischer Wohnbau

Londons Beitrag zur Architektur ist das Schlichte. Verglichen mit anderen Ländern hatte die prachtvolle englische Architektur in fast jeder Periode gewöhnlichen und konventionellen Charakter, während der englische Wohnbau immer seine eigenen Züge trug. Wenn andere Länder zunehmend zur Malerei, Bildhauerei, Musik oder brillanter Architektur beitrugen, kultivierten die Engländer alles im Zusammenhang mit dem Alltagsleben. Sie haben eine Kunst daraus gemacht, auf die richtige Art und Weise zu leben. Sport ist die Musik des Engländers; er hat seine Kleidung kultiviert und seine Möbel; er hat eine moderne, vielseitige Sprache geschaffen, ein Werkzeug gleichermaßen für den Rechtsanwalt, den Rhetoriker, den Journalisten oder den Schriftsteller. Auch in der Architektur kennt sich der Engländer am besten mit dem aus, was am engsten mit seinem Alltag verbunden ist, in diesem Falle: seinem Haus. Dies ist der Eindruck, den man von der Arbeit der modernen Architekten bekommt, sei es Norman Shaw gegen Ende des 19. Jahrhunderts oder Edwin Lutyens während des 20. [Jh.s]. Verglichen mit den von ihnen geschaffenen feinen Landhäusern sind ihre großartigen repräsentativen Gebäude langweilig. Ebenso verhält es sich mit den meisten englischen Architekten der Vergangenheit. Selbst Sir Christopher Wren verehren wir mehr für seine einfachen und würdevollen Häuser in Temple als für seine bemerkenswerten Universitätsbauten. Dennoch besteht kein Zweifel, daß Wren enormes Interesse an den großen Aufgaben hatte, die er bearbeitete. Wir wissen, daß er intensiv Palastbauten studierte, als er sich 1665 in Paris aufhielt. Er hatte das Glück, Bernini zu treffen, der sich auf Einladung des französischen Königs zur selben Zeit in Paris aufhielt, um einen Entwurf für den Louvre anzufertigen (ein Plan, der nie umgesetzt wurde). Wren durfte einen Blick darauf werfen, allerdings wollte Bernini ihm nicht erlauben, diesen Plan zu kopieren, obwohl Wren, wie er selbst beschreibt, „seine Haut dafür gegeben hätte“. Wren hatte sich, so weit es die Umstände zuließen, darauf vorbereitet, ein großer Palastbaumeister zu werden und konnte sich bereits das Vertrauen der englischen 177

Englischer Wohnbau

Könige erwerben. Trotzdem war es nicht er, sondern der Architekt des schwedischen Königs, der Berninis Ideal (am königlichen Palast in Stockholm) mit einem großen vierflügeligen Palazzo umsetzte. England – von einem Parlament regiert – hatte keinen Bedarf an königlichen Schlössern, den Symbolen des Absolutismus. Trotz mehrerer Versuche war es Wren niemals vergönnt, eine bedeutende königliche Residenz zu bauen. Es ist interessant, die großen Entwürfe für einen Palast zu studieren, wie sie aufkamen und verschwanden, und zu beobachten, wie sich der Schwerpunkt der englischen Architektur im 18. Jahrhundert vom öffentlichen Prachtbau zum Privathaus verlagerte. Wrens erster großer Plan für einen Palast war für Winchester. Charles II. – der ‚Sorglose Monarch‘ – der umgeben von seinen Lieblingshunden und bevorzugten Mätressen, augenscheinlich so unbekümmert in London lebte, schmiedete insgeheim Pläne zum Bau eines Schlosses. Dort sollte ein Erbmonarch in größerer Unabhängigkeit vom Parlament und dem wohlhabenden Londoner Bürgertum als in Westminster residieren können. Charles II., der in enger Verbindung mit Louis XIV. stand, wußte sehr genau, daß der französische König nach dem Aufstand der Fronde Paris verlassen hatte und Versailles 1668 mit der Absicht erweitern ließ, es zum Sitz des Hofes und der Regierung zu machen. Wie praktisch, gleiches in England zu tun! So erschien jenes Problem aus dem Mittelalter, nämlich das Gegenüber der bürgerlichen Handelsstadt London und der königlichen Stadt Winchester aufs Neue. Im Wettbewerb mit London war Winchester zurückgefallen; es war nichts als eine kleine Stadt, die hauptsächlich von ihrer Vergangenheit lebte: repräsentiert durch die Kathedrale und die alte Schule. Doch selbst wenn es nicht so reich wie London war, glaubte man immer noch, eine Stadt mit einer besonderen Bindung zur Krone zu sein. Vom Chor der Kathedrale, in dem die Särge der alten Könige aufgebahrt sind, strömte unmerklich der Geruch des königlichen Weihrauchs und durchdrang die ganze Stadt. Die Einwohner von Winchester waren gegenüber Charles I. – noch lange nachdem die Ladenbesitzerstadt London ihm den Rücken gekehrt und sich mit dem rebellischen Parlament verbündet hatte – loyal gewesen. Winchester hatte versucht, den ‚Ironsides‘ zu widerstehen, mußte sich aber aufgrund zahlenmäßiger Unterlegenheit zurückziehen. Daher war es völlig natürlich, daß Charles II., in Erinnerung an das Schicksal seines Vaters und seiner eigenen unglücklichen Jugend, die Residenz nach Winchester verlegen wollte. 1682 wurde ein Anfang gemacht, und 178

Pläne für königliche Paläste

Winchester Palace, aus: [John] Milner und [F.C.Husenbeth], The history and survey of the antiquities of Winchester, 1798

Oben: Entwurfsplan für Winchester Palace Unten: Plan des Kernbereichs des Schlosses von Versailles im gleichen Maßstab

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Englischer Wohnbau

Christopher Wren begann, die Pläne für den neuen Palast auszuarbeiten. Dieser ist auch als Miniatur-Versailles bezeichnet worden. Das gesamte Unternehmen erscheint ziemlich obskur, und nach allem, was wir von den Plänen wissen, ist es offensichtlich, daß schon dieser erste Schritt alles andere als klein war. Am deutlichsten tritt dies beim Größenvergleich mit dem Versailler Palastes zutage, der in früheren Phasen ebenfalls kleiner war. Historiker sind sich in Bezug auf den Rahmen der Pläne zu Winchester uneinig. Zumindest scheint klar, daß der König mit Vergnügen aus London, wo er hatte zusehen müssen, wie einige seiner treuesten Anhänger ihr Leben ließen, fortgezogen wäre und sich in Winchester niedergelassen hätte. Es lag nahe bei Southampton, dem damaligen Haupthafen zu Frankreich. Von dort erhielt der König Unterstützung und Ratschläge von Louis XIV., wie er England unabhängig vom Parlament regieren könne. Die Errichtung des Palastes wurde energisch vorangetrieben, und Wren vollbrachte Wunder – bis 1685 der Tod Charles II. dem ganzen ein Ende bereitete. Der Palast wurde niemals fertiggestellt; Teile des Baumaterials wurden für die Erweiterung von Hampton Court genutzt, während man bereits errichtete Gebäude in eine Kaserne umwandelte. Sie existiert noch immer als großer Block in dem kleinen Städtchen, ein einfacher Bau mit karger Backstein­oberfläche, mit unglaublichen architektonischen Details und grandiosen Steinsäulen versehen, die Wren für Charles’ Palast entworfen hatte. Nach dem Amtsantritt James II. gerieten die Winchester-Pläne in Vergessenheit. Der Widerstand des Königs gegenüber dem Parlament war so töricht und starrsinnig, daß er bald (1688) das Land verlassen mußte. Jeder Versuch, den Sitz der Regierung nach französischem Vorbild zu verlegen, war fortan unmöglich. Wren erarbeitete zudem Pläne für einen Palast des Nachfolgers von James II., William III., doch das Ergebnis war lediglich eine Erweiterung des – so großartig es auch immer sein mag – bereits existierenden Hampton Court. Es sagt viel über das England des 18. Jahrhunderts: Obwohl Wren immer in der Gunst der Monarchen stand, war sein einziges, jemals fertiggestelltes großes Gebäude ein Invaliden­ krankenhaus, während auf dem Kontinent ein königlicher Palast nach dem anderen aus dem Boden schoß. Das Greenwich Hospital war ursprünglich ein Palast, aber nach Queen Marys Tod entschloß sich ihr Gemahl, William III., es in großartigem Stil zum Marinekrankenhaus umbauen zu lassen – ein Ehrenmal für die geliebte Königin. Als Krankenhaus ist es ein absolut phantastisches Gebäude, der Traum 180

Der Palast von Winchester

eines jeden akademischen Architekten: gewaltige weiße Steinbauten, von Reihen gigantischer Säulen begrenzt. Es erinnert an Wrens Entwurf für Winchester, ist allerdings architektonisch reifer und klarer. Wrens ursprünglichen Pläne schlossen mehrere eigenwillige Gebäude ein mit kleinen Sockeln und nicht vollständig ausgebildeten Säulen an den Stirnseiten. Auf dem jüngeren Plan gibt es an den entsprechenden Stellen Kuppeln, die sich über den Gebäuden auftürmen und beidseits der Längsperspektive von Portiken eingefaßt werden. Dieser Blick richtet sich zu der flachen palladianischen Villa von Inigo Jones, genannt The Queen’s House. Der eigentümlichen Unbeholfenheit des Entwurfs für Winchester folgte beim Greenwich Hospital eine tadellose akademische Sicherheit. Der Anblick von der Themse ist fabelhaft. Die Säulenreihen, die Kuppeln und die Fülle aller möglichen klassischen Details wurden für den englischen Geschmack zur Ideal-Architektur öffentlicher Bauten. Immer wieder haben Architekten diese Herrlichkeit wiederholt, die den Betrachter allerdings bei jeder Nachbildung unbeeindruckter zurückläßt. Von diesem Ort muß man jedoch nicht weit laufen, um zu sehen, wie die Engländer mit den einfachsten Mitteln schöne Häuser zu schaffen vermochten. Vom Greenwich Hospital können wir einer Straße entlang des westlichen Park­ randes folgen, bis wir die Kuppe des Hügels in Blackheath erreichen. Hier, so nah beieinander, daß man sie mit einem Blick erfassen kann, befinden sich drei Häuser, welche drei der Hauptphasen der Geschichte der einfachen englischen Architektur des 18. Jahrhunderts verdeutlichen. Das erste – das älteste der drei – wird The Manor House genannt. Seine gegenwärtige Form stammt aus dem Jahre 1700. Unbestätigten Quellen zufolge wurde es von Sir Christopher Wren persönlich entworfen. Das ist nicht unwahrscheinlich. Er, der große Liebhaber der Architektur, mag dieses ordentliche kleine Privathaus – zeitgleich mit dem Greenwich Hospital, dessen Ausdruck er für italienische Renaissance hielt – in einem vollkommenen holländischen Stil entworfen haben. Aber ebensogut könnte es von einem holländischen Architekten stammen. Es läßt sich heute nicht aufklären. Eines ist aber sicher: Es trägt nicht den Stempel des englischen Hauses, und es könnte in irgendeinem Land stehen, in dem holländische Architekten jener Zeit gearbeitet haben. Das zweite Haus ist dagegen unverfälscht englisch. Es wird The Yews genannt und stammt vom Ende des 18. Jahrhunderts. Es erfüllt exakt dieselbe Funktion wie das erste: Die einfache Fünfteilung der Vorderfront der beiden Backsteinbauten 181

Englischer Wohnbau

The Manor House, Blackheath, 1930, 1941 schwer beschädigt

könnte auf denselben Plan zurückgehen; und doch sind sie so verschieden! Manor House hinterläßt mit seinen unterschiedlichen Farben, mit den breiten weißen Fenstern in der in zwei verschiedenen Backsteinsorten gearbeiteten Mauer und dem Schatten der weißen Holzgesimse, der zwischen die geschnitzten Laibungen fällt, einen fröhlichen Eindruck. Im Gegensatz dazu ist das andere in seiner puristischen kubischen Form schmucklos und scharf geschnitten. Seine Fenster sind lediglich in den Mauerverband eingeschnittene rechteckige Löcher, und das große Dach, das sich beim ersten Haus – dem holländischen – als schützender Schirm über der 182

Typische Häuser bei Blackheath

The Yews, Blackheath, 1930, abgerissen

Clifton House, Blackheath, 1930, abgerissen

Front zeigt, verschwindet beim zweiten – dem englischen – Haus vollständig. Nur eine horizontale Abdeckung bleibt, eine einzige dünne quadratische Form. Ein Haus, das die einfachste Lösung zu repräsentieren scheint. Aber selbst ohne Dekoration ist es ein Bau von erlesenem Geschmack; es trägt eine Handschrift, die dem Kenner sofort vermittelt, daß es sich um ein englisches Haus des ausgehenden 18. Jahrhunderts handelt und kein Kind der gegenwärtigen Moderne ist. Das dritte Haus, Clifton House, vom Anfang des 19. Jahrhunderts, hat – wie die beiden anderen – eine verhältnismäßig schlichte Vorderfront mit fünf Fenstern. Dennoch erscheint es einladender als The Yews. Es ist nicht so nackt. Das Mauerwerk ist von einem mit Ölanstrich versehenen Putz bedeckt, die Fenster sind von Putzblenden mit zierlichem Relief gerahmt, und der Eingangsbereich ist als kleiner Portikus mit dorischen Säulen ausgebildet. Wieder einmal steht die englische Architektur unter einem das Haus prägenden ausländischen Einfluß; der gilt nun nicht mehr als holländisch, sondern als griechisch. Es ist die Periode des Greek Revival. Wenn wir von Blackheath herunterkommen und die alten Straßen von London betreten, finden wir unseren Eindruck bestätigt und sehen die grobe Form der Londoner Wohnhausarchitektur, die wir in den drei Gebäuden aufgespürt haben, um viele interessante Details ergänzt. Die Giebelarchitektur der Vergangenheit, die charakteristisch für das London der Tudors gewesen war und dem flachen Einfamilienhaus so gut zu Gesicht stand, 183

Englischer Wohnbau

Kew Palace (‚The Dutch House‘), Kew Gardens, 1930

verschwand während der Regentschaft der Stuarts. Es war schlicht verboten worden, Häuser in Fachwerkkonstruktionen zu bauen, und der gotische Stil kam aus der Mode. Alles sollte massiv und in klassischem Stil gebaut werden – wie die Architektur von Inigo Jones – oder holländisch. Der holländische Ausdruck war für London ideal, Backstein war das lokale Baumaterial. Während palladianische Häuser entweder verputzt oder aus teurem Portland-Gestein errichtet werden mußten, konnte man die holländische Art zu bauen direkt umsetzen. Zu Beginn wurden die Häuser in einer barockem Art mit sämtlichen Details in Backstein errichtet. Der sogenannte Kew Palace auch The Dutch House (1631) genannt, ist ein gutes Beispiel für diesen Stil. All seine schön modellierten Formen, die Säulen mit den Kapitellen, Simsen und Giebeln, die fließenden Linien und kunstvoll ausgeführten Friese sind – vom Sockel bis zum Giebel – aus rotem Backstein hergestellt, gehauen und geschnitten. Die Oberfläche wirkt dadurch außergewöhnlich homogen. An Cromwell’s House in Highgate ist das Mauerwerk ebenfalls bemerkenswert gut ausgeführt. Aber der Portikus ist weiß und wie ein Fremdkörper in das plastische rote Backsteinrelief eingefügt. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde die strenge Homogenität von Farbe und Material aufgegeben. Im Gegensatz dazu wurden nun besondere Bauteile durch Farben 184

The Dutch House, Kew

Kew Palace (‚The Dutch House‘), Kew Gardens, 1930

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Englischer Wohnbau

Das sogenannte Cromwell’s House in Highgate, 1930

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Holländische Ziegelfassaden

Das sogenannte Cromwell’s House in Highgate, 1930

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Englischer Wohnbau

Lincoln’s Inn Fields, Nos. 66 & 67, 1754, aus: Strypes Ausgabe von Stow [John Strype, Survey of London zweibändige Ausgabe von John Stow, Survey of London

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Queen Anne’s Style

und Materialien betont. Rote Häuser hatten jetzt weiße Verzierungen, quadratische weiße Ecksteine und Konsolen; und um das Ganze vielseitiger zu gestalten, wurden die leicht konstruierten Holzfenster als kunstvoll gefertigte, großzügige Flügelfenster ausgebildet, ein Gegengewicht zu den in Mode gekommenen Schiebefenstern. Typisch für diese Periode ist ein Haus in Lincoln’s Inn Fields, Nos. 66 & 67. Es wurde, was wir mit Sicherheit wissen, von einem Holländer erbaut und entspricht stilistisch dem Manor House in Blackheath. Breite Reliefs waren noch immer beliebt, aber Architekten arbeiteten nicht mehr – wie sie es bei den alten Häusern taten – mit der gesamten Oberfläche als plastischer Masse, sondern konzentrierten sich statt dessen auf bestimmte dekorative Details. Beliebt war ein großes, geschwungenes Muschelmotiv, wie man es über dem Eingang des Manor House finden kann. Hier war es offenbar schwierig, der verschiedenen Motive Herr zu werden: der hübsch geformten Konsolen, der überstehenden Dachhaube und der großen Muschel. Bei anderen englischen Häusern wurde dieses Problem eleganter gelöst: Die Konsole umfaßt die Muschel halbkreisförmig. Ironischerweise gilt dieser Stil, der so offensichtlich von Holland übernommen wurde, heutzutage als der englischste überhaupt! Er wird Queen Anne’s Style genannt. Nach englischem Gesetz soll historische Architektur geschützt und erhalten werden. Es gibt königliche Kommissionen, die diese Architektur untersuchen und Bücher über sie verfassen. Einem Parlamentsbeschluß zufolge soll nichts, was nach dem Todesjahr von Queen Anne (1714) gebaut worden ist, das Recht haben, historisch genannt zu werden. Man könnte daraus schließen, daß alle Architektur nach dem bedauernswerten Tod Ihrer höchst verehrten Majestät modern war – und das ist ja nicht grundsätzlich falsch. Trotzdem muß man erwähnen, daß in einer romantischen Periode im 19. Jahrhundert viele Häuser gebaut worden sind, die man im Wortsinne kaum als modern bezeichnen könnte. So geschah es, daß während der Regentschaft Queen Victorias weit mehr Häuser im Stile von Queen Anne errichtet wurden als unter der Regentschaft von Queen Anne selbst. Ihre eigene Regierung setzte dem Queen-Anne- Style in London ein Ende. Mit den Bauvorschriften von 1708 war es verboten, aus Holz gefertigte Elemente näher als vier Zoll zur Außenkante der Wand anzubringen, und als die hölzernen Gesimse ebenfalls verboten wurden, waren die von der Nachwelt so hoch geschätzten Attribute dieses Stils in London damit schlicht für illegal erklärt worden. 189

Englischer Wohnbau

Häuser in Queen Anne’s Gate, Westminster, etwa 1700, 1931

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Stilwechsel

Häuser in Church Row, Hampstead, 1930

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Englischer Wohnbau

Aber die Veränderung des Stils war nicht allein den Bauvorschriften zuzuschreiben; sie entsprach gleichermaßen den künstlerischen Ideen jener Zeit. Den von Inigo Jones eingeführten italienischen Klassizismus hatte es seitdem Seite an Seite mit dem holländischen Stil gegeben. Er wurde insbesondere durch Herrschaften gefördert, die sich als Architekturliebhaber ausgaben. Die Kenntnis der italienischen Architektur kam von der ‚Grand Tour‘. Zu jener Zeit gehörte es zur Erziehung eines Gentleman, Kenntnisse über die Klassiker der Architekturtheorie zu besitzen und in der Lage zu sein, eine klassische Fassade zu entwerfen. Eine Mode, die dem Nachbarn weit angenehmer gewesen sein mußte als jene späterer Tage, als Klavierspielen als Zeichen für Bildung galt. Die Ergebnisse waren im allgemeinen dürftig, und es ist eine Tatsache, daß das Kopieren bekannter Motive durch diese Schöngeister die englische Architektur bis zu einem gewissen Grad beeinflußt hat. Bestimmte Details, wie Flügelfenster, Portiken und Konsolen, wurden auswendig gelernt und so, wie Kinder Buchstaben auf die leeren Seiten ihrer Schulhefte malen, in Linien auf die nackte Oberfläche der Fassade verteilt. Als die Engländer zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus verschiedenen Gründen (mit denen wir uns im Kapitel über die Landschaftsgärten beschäftigt haben) der holländischen Kultur überdrüssig waren, gewann die Vorliebe der Gentlemen für die ‚klassische‘ italienische Architektur entscheidend an Einfluß. In der Architektur war die ‚Rückkehr zur Natur‘ im Gegensatz zur Gartenkunst unmöglich. Aber man hielt die klassische Architektur für ähnlich feinsinnig; man sah sie als etwas, das eine gemeinsame humanistische Basis verkörperte, weit entfernt von der Affektiertheit späterer Phasen. Der Romantizismus im Gartenbau und der Klassizismus in der Architektur wurden als zusammengehörig gesehen und durch dieselben Künstler, besonders William Kent und [William] Chambers verkörpert (siehe S.135). Kent baute ein Stadthaus in der Arlington Street nahe Piccadilly (No. 17) und ein weiteres am Berkeley Square (No. 44). Eleganter noch als diese Backsteingebäude waren das Devonshire House (abgerissen) in Piccadilly und The Horse Guards (1742). Isaac Ware, ein Zeit­genosse Kents, erbaute das Chesterfield House und das Backsteinhaus am Bloomsbury Square (No.6) in ähnlichem Stil. Es verkörpert, was als ‚harter‘ Klassizismus im Unterschied zu der früheren, viel weicher geformten holländischen Bauweise gelten könnte. Vormals hatte man die Fassaden als einheitliches Relief verstanden, aus unter­schiedlichen Materialien in hellen und dunklen Farben und in verschiedenen 192

Der Klassizismus

Isaac Ware, Bloomsbury Square No. 6, 1930

William Kent, Berkeley Square No. 44, 1930

Härtegraden komponiert. Jetzt wurden sie lediglich als homogener Backsteinkörper gesehen, wobei die Holzelemente nicht zur Architektur selbst zählten. Losgelöst von jeglichen Holzdetails, standen allein die Wände für die Architektur, wie auf den Stichen in Architekturbüchern, auf denen die Fenster lediglich als Aussparungen in der soliden Masse in Erscheinung treten. Ebensowenig spielte aus architektonischer Sicht das Dach eine Rolle; es war nichts als eine technische Notwendigkeit, für die Gestaltung ebenso uninteressant wie die Kamine. Gern versteckte man beides hinter einer Attika. Die Mode des architektonischen Stils entsprach den Bauregeln: Holzbauteile waren als wesentliche Bestandteile der Fassade ausgeschlossen. Nach der Einführung der Fenster-Steuer erhöhte sich das Verhältnis der Wand- zu den Fensterflächen. Dies vertrug sich gut mit der neuen Sicht auf die Architektur, der zufolge der schwere Block aus Ziegel maßgebend war. Diese einfachen Gebäude waren im 18. Jahrhundert die Wohnungen der reichen Engländer. Die Engländer fuhren fort, Reichtümer anzuhäufen, gaben diese aber sicher nicht für die Präsentation ihrer Häuser aus. Die englische Architektur folgte einem vollkommen anderen Weg als die Architektur auf dem Kontinent. Einige Vergleiche werden diesen Unterschied verdeutlichen. Nach dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) baute Friedrich der Große das Neue Palais in Potsdam als späten Ableger von Sir Christopher Wrens Fassade von 193

Englischer Wohnbau

Isaac Ware, Chesterfield House, Mayfair, 1930, abgerissen

William Kent, The Horse Guards, 1930

Hampton Court, allerdings größer und abwechslungsreicher, mit schlanken Pilastern, die sich gegen das rote Mauerwerk abzeichnen, in beinahe tatarischer Pracht, und einer großen Kuppel, die die breite Fassade krönt. Es ist unbegreiflich, wie dieser König, das große Vorbild des aufgeklärten Absolutismus, der wachsame Herrscher und der „Erste Diener des Staates“, das Geld für dieses außergewöhnlich große Vorhaben aufbringen konnte. Mit viel Glück (dem Tod der russischen Zarin Elisabeth) war er einer Niederlage im Siebenjährigen Krieg entkommen. Dennoch war Preußen so verarmt, wie es ein Land nach so vielen Jahren des Leidens nur sein konnte. Es scheint, als wollte Friedrich der Große zeigen, daß er noch nicht so heruntergekommen war, und als suchte er seine Glaubwürdigkeit durch den Bau eines acht Millionen Mark teuren Palastes zu festigen, eine architektonische Orgie und für den einsamen, alten Flötenspieler ziemlich nutzlos. Die Engländer taten genau das Gegenteil. Während sich das arme Land Friedrichs des Großen gerade noch gegen seine Feinde hatte behaupten können, schnappten sie den Franzosen Kanada vor der Nase weg und sicherten sich überdies die Herrschaft in Indien. Auf diese Weise nutzte England die Chancen, welche die Kriege Williams III. und Marlboroughs eröffnet hatten, zu seinen Gunsten und baute seine Herrschaft weiter aus. So profitierten die Engländer vom Krieg, und sie profitierten enorm. Aber der englische König bekam nicht den Palast, an dem seit mehr als einem Jahrhundert 194

Puritanismus in der Architektur

geplant worden war, und der siegreiche englische Kaufmann hatte ein solches Überlegenheitsgefühl gewonnen, daß er ganz gut in einem einfachen Haus leben konnte. Er war so reich, daß er kein Bedürfnis verspürte, sich wie der preußische König mit Palästen, Pilastern, Kuppeln und schlechter Bildhauerei zur Schau zu stellen. Trotz allem, was sich seit dem Commonwealth ereignet hat, scheint der Puritanismus nachhaltigen Einfluß auf die englischen Lebensgewohnheiten gehabt zu haben. Selbst reiche Leute, die im 18. Jahrhundert in anderer Hinsicht luxuriös lebten, fanden es richtig und selbstverständlich, in unauffälligen Häusern zu wohnen. Das hielt man für besonders kultiviert. Man charakterisierte den Unterschied zwischen der zeitgenössischen englischen und der kontinentalen Architektur im 18. Jahrhundert unzureichend, wenn man sagte, die eine sei schlichter als die andere. Beide repräsentieren fundamental verschiedene Sichtweisen. Auf dem Kontinent entwarfen Architekten das Haus als massive Anhäufung schwerer Steine. Selbst wenn ein Gebäude vergleichsweise schlank war, versuchten sie beim Betrachter einen gewissen Eindruck von Schwere zu erzeugen. Der Sockel mußte besonders schwer und groß sein, aus groben quadratischen Steinen, ähnlich dem trägen Boden, auf dem die Gebäude standen. Weiter oben wurde das Haus weniger massig, als wolle es so tun, als umfasse der untere, rustikale Teil den schönen Körper eines Gebäudes, das mit seinen glatten Fassaden zwischen Pilastern, von einem keineswegs schweren Gesims gekrönt, in zarteste Pflanzenornamente mündet. Die Häuser mögen noch so einfach sein, der künstlerische Gedanke war immer der gleiche: die Beziehung der einzelnen Bauteile zueinander. Der englische Wohnbau hingegen basierte nicht im geringsten auf diesen Ideen. Ein Haus täuschte nicht vor, im unteren Bereich besonders schwer und im oberen besonders schlank zu sein, es war lediglich eine Hülle für die Räume. Während es die Architekten des Kontinents als ihre Aufgabe ansahen, die Fassade so phantasievoll wie möglich zu gestalten, bevorzugten die englischen, das Wesentliche durch die einfachste und prägnanteste Form auszudrücken. Das englische Haus jener Zeit entspricht den Prinzipien der bereits im England des 18. Jahrhunderts voranschreitenden Industrialisierung. Ein Gebäude ist kein individuelles Kunstwerk, sondern ein durch fortwährende Auswahl in wiederholter serieller Fertigung zur Perfektion gebrachtes, verfeinertes Industrieprodukt. Ein paar Schritte von den alten Queen-Anne-Häusern in Queen Anne’s Gate in Westminster entfernt befindet sich eine Reihe großer Gebäude von etwa 1780, ein gutes 195

Englischer Wohnbau

Thomas Leverton, Bedford Square No.1, um 1780, 1930

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Modische Häuser um 1780

Häuser in Queen Anne’s Gate, Ende des 18. Jahrhunderts, 1931

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Englischer Wohnbau

Grundrisse und Schnitt eines Londoner Bürgerhauses in Queen Anne’s Gate (Zeichnung Niels Rohweder)

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Modische Häuser um 1780

Straßenfassade eines Hauses in Queen Anne’s Gate (Zeichnung Niels Rohweder)

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Englischer Wohnbau

Treppenhaus in einem Privathaus in Queen Anne’s Gate

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Das Haus, ein raffiniertes Produkt

Treppenhaus in einem Privathaus in Queen Anne’s Gate

Beispiel für die Mode jener Zeit. Alles deutet darauf hin, daß sie nicht von einem Architekten entworfen, sondern von einer Wohnungsbaugesellschaft errichtet wurden, möglicherweise in Kooperation mit einem Zimmermann. Alle Gebäude unterscheiden sich nach Tiefe und Breite geringfügig voneinander, doch die Grundrisse sind überall gleich. Ein Typus wurde zu Baubeginn als Grundlage benutzt, somit war ein Architekt für die Planung überflüssig. Spuren architektonischer Arbeit lassen sich im Innern mancher Häuser finden, jedoch nur in Form eines feinen Kamins, einer schönen Decke oder anderer Details, die ebenso wie Möbel, Bilder und Teppiche auf die Bewohner zurückgehen. Die Vorzüge dieses Haustypus findet man nicht im Ausdruck seiner Fassadengestaltung, sondern vielmehr in der ausgezeichneten wirtschaftlichen Ausnutzung des schmalen Grundstücks. Im ersten Stock erhellen drei Fenster der Vorderfassade einen großen Raum, welcher die gesamte Breite des Gebäudes einnimmt. Dahinter liegt das große, von oben belichtete Treppenhaus. Dieses führt zum Salon, einem neun bis zehn Yards tiefen Raum, der sich zum St. James’s Park hin orientiert. Die Parkfassade wölbt sich mit einem Erkerfenster 201

Englischer Wohnbau

Grundrisse und Schnitt eines typischen Hauses in Bedford Square

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Standardisierte Häuser

Straßenfassade eines typischen Hauses in Bedford Square (Zeichnung Niels Rohweder)

nach außen. Man hat den Eindruck, als sei die Wand von innen heraus durch eine expandierende Kraft des schmalen Raumes ausgedehnt. Das Treppenhaus, das aus der Mitte des Hauses, einem ebenfalls wie eine Nische geformten Raum, emporsteigt, ist aus schönen Marmorstufen gefertigt und wirkt in seiner gesamten Struktur unglaublich zart und schlank. Es zeigt, daß die Kargheit der Architektur nicht nur aus ökonomischen Überlegungen, sondern ihrer inneren Schönheit wegen kultiviert wurde – so einfach es scheint, das Treppenhaus mit seinem feinen Steinmaterial und dem schönen schmiedeeisernen Handlauf ist prächtig genug. Die allesamt identischen Stufen bilden eine gewendelte Form, die sich anmutig – und als gäbe es das Gesetz der Schwerkraft nicht – in einer feinen Kurve durch den Raum erhebt. 203

Englischer Wohnbau

Links: Typisches Haus in der Doughty Street, Bloomsbury. Charles Dickens lebte 1837–1839 in einem solchen Haus. Rechts: Typisches Haus auf dem Parkway, Camden Town, im selben Maßstab (Zeichnung Niels Rohweder). Vgl. S.206

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Standardisierte Häuser

Haus in der Doughty Street, Straßenfassade (Zeichnung Niels Rohweder)

Die Tendenz der Häuser, die uns an moderne Experimente unserer Tage erinnert, diese Moderne von etwa 1800, galt bei ihren Zeitgenossen kaum als Stil. Obwohl über sie als ‚wirkliche‘ Architektur keine Bücher geschrieben wurden, war sie sehr verbreitet. Der Ausdruck der Häuser entspricht dem Geschmack jener Periode, und gerade weil sie als verfeinerte industrielle Produkte für den Verkauf ausgeführt wurden, durchdachte man insbesondere ihre Erscheinung. Um verkauft werden zu können, mußten sie den vorherrschenden Schönheitsidealen gerecht werden. Menschen wählten ihr Haus, wie sie heutzutage ein Auto aussuchen würden. Selbst wenn sie es nicht als architektonisches Kunstwerk betrachteten, waren sie gegenüber seinem Erscheinungsbild keineswegs gleichgültig, sondern verlangten nach genau den Linien, Farben und Materialien der aktuellen Mode. Auf diese Weise wetteiferten die Häuser mit den raffinierten Produkten des Schiffsbaus, des Kutschenbaus oder der Möbelbaukunst. In ihrer Einfachheit waren sie diesen Dingen sehr viel verwandter als der klassischen Steinarchitektur. 205

Englischer Wohnbau

Häuser im Parkway, Nähe des Regent’s Park, Camden Town, um 1820, 1930

Rückseiten der Häuser im Parkway, 1930

In der Mitte des Jahrhunderts hatten Architekten die asymmetrischen Eingangs­ situationen der Stadthäuser als nicht den Regeln klassischer Architektur entsprechend kritisiert. Dies hatte allerdings keinen wesentlichen Einfluß auf die eigentlichen Gebäude. Den Eingang in der gedrittelten Fensterfront des schmalen Hauses nach außen zu legen, um damit den Raum besser ausnutzen zu können, blieb weiterhin sehr verbreitet. Unbestritten entstanden wenige Gebäudetypen, die mit ihren charakteris­ tischen Eigenschaften in langen Straßenzügen unendlich wiederholt wurden, sich jedoch im Maßstab und der inneren Ausstattung voneinander unterschieden. Die den Parks – St. James’s und Hyde Park – zugewandten Häuser waren sehr schmale und tiefe Gebäude der bereits erwähnten Art. An den Plätzen von Bloomsbury, wo die Straßenseite die bessere ist, waren die Häuser weniger tief. Der größte, repräsentative Raum im ersten Stock orientierte sich zur Straße. Zum Hof hinaus befanden sich nebeneinander zwei tiefe Räume: ein schmales Treppenhaus und ein Wohnraum, der sich oftmals mit einem großen Erkerfenster in der Außenwand abzeichnete. Dieses Bloomsbury Haus finden wir mitsamt seiner Dreiteilung in einem größeren Maßstab am Bedford Square wieder. Hier ist jeder Raum so groß wie ein Ballsaal. In der Nähe befinden sich Häuser desselben Typs in kleinerem Maßstab, und in der 206

Bloomsbury-Häuser

Doughty Street, wo Charles Dickens (1837–1839) im Haus No. 48 lebte, noch kleinere Häuser. Kleinere Gebäude erhielten eine zweigeteilte Fassade, aber nach und nach trat dieses kompositorische Prinzip in den Hintergrund und ein großes Fenster für jeden Raum wurde für ausreichend befunden. Im Parkway in Camden Town findet man (um 1820) die einfachste Form: eine große Kiste voller Räume. Diese Häuser wirken, als wären sie aus einem Guß und gäben eine Vorahnung auf Betonbauten späterer Tage. Ein Londoner ist so an den Anblick gewöhnt, daß er in ihrer Form nichts Außergewöhnliches erkennt; aber ihre einfachen Linien sind keine Selbstverständlichkeit. Im Gegenteil, sie sind das Ergebnis ausgesprochen ästhetischer Überlegungen. Die Fassaden im Parkway, zum Beispiel, sind reine Ästhetik. Das zeigt sich ganz klar beim Vergleich mit der Hofseite. Sie stellt eine funktionale Architektur mit steilen Dächern und einem Kamin für jedes Haus dar. Hier zeigt sich das schmale Haus des alten gotischen London, das in den Wohnhäusern des 19. Jahrhunderts versteckt hinter der hohen Frontfassade überlebt hat. Diese hohe Frontfassade sollte dem Betrachter den Eindruck der sonnigen Gebäude des Südens mit ihren flachen Dächern vermitteln, Dächer, die mit den Materialien jener Tage unmöglich im englischen Klima hätten gebaut werden können. Die künstlerische Wirkung des Materials wurde ebenso kultiviert wie die einfache kubische Form. Im Innern der Häuser der Reichen war alles sehr einfach und gleichermaßen verfeinert. Die Böden waren aus Eichenparkett oder erlesenen Hölzern aus dem fernen Osten. Die Wände waren mit Ölfarbe, meist in einem Cremeton, gestrichen, die Decke war verputzt. Die nackten Oberflächen blieben sichtbar, ohne jegliche Gliederung durch Stuck. Die gesamte Dekoration wurde als eigenständiges Ornament hinzugefügt. Der edle Kaminsims mit den kleinen eingearbeiteten Marmorreliefs wurde wie eine Kamee vor die reine, leuchtende Oberfläche der Wand gestellt. Auf die gleiche Weise waren die Decken geschmückt: Weinreben umrankten kleine Illustrationen und Reliefs wie antike Juwelen in vergrößertem Maßstab. Ziemlich naiv, aber so ließ sich der Eindruck eines gewissen Reichtums vermitteln, ohne die einfache Form der Räume zu verschleiern. In seinem Buch A Complete Body of Architecture (1756) hatte Isaac Ware graue Backsteine anstelle von roten für die Fassaden empfohlen, da diese im Farbton wenig von den als Dekoration verwendeten Steinen abweichen. Das stimmte, solange die Gebäude neu waren. Aber in London werden Backsteinflächen immer schwarz, 207

Englischer Wohnbau

Georgianische Häuser, Mount Vernon, Hampstead, 1929

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Klassische Front – funktionale Rückseite

Rückseite der Häuser in Hampstead, 1930

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Englischer Wohnbau

Zweigeschossige Reihenhäuser in Southwark, Anfang des 19. Jahrhunderts, 1927

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Um 1800: Kleine Haustypen

Zweigeschossiges Haus, Keats Grove No. 19, Hampstead, um 1820, 1931

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Englischer Wohnbau

während Portland-Stein, dort wo der Regen ihn wäscht, weiß wird. Das homogene Erscheinungsbild, das Isaac Ware vorschwebte, würde daher im Laufe der Jahre verschwinden. Nach einer gewissen Zeit wäre es unmöglich, die Details auf den klassischen Gesimsen wahrzunehmen; das trübe Wetter macht es noch schwieriger, die Formen im Schatten zu unterscheiden. Gestalterisch schien es daher sinnvoll, solcherlei Formen aufzugeben und einen Effekt im Kontrast der Farben statt im Relief zu suchen, was sich ebenso mit der Vorliebe für schlanke und zarte Formen vereinbaren ließ. In der klassischen Architektur Italiens waren die Fenster dunkle Löcher in der hellen Fassade. In London, wo die Fassaden nicht hell bleiben konnten, sondern kohlrabenschwarz wurden, wählten Architekten eine eigenartige Methode, die Löcher heller und die ohnehin dunkle Textur der Wände noch schwärzer er­scheinen zu lassen. Die Leibungen wurden verputzt und mit Ölfarbe in einem Cremeton gestrichen, als ob die feinen Räume nach außen träten. Der ursprünglich graue oder gelbliche Backstein wurde vollkommen schwarz getüncht und, um die Wirkung zu verstärken, oftmals an den dunklen Anschlußstellen von einer perfekten weißen, nur ein Viertel Zoll breiten Linie (auch als ‚tuck point‘ bekannt) gerahmt. Das ist noch immer verbreitet, und gute Häuser in Mayfair werden von Zeit zu Zeit auf diese Weise restauriert. Ihre wirkliche Entstehungszeit ist unbekannt, wahrscheinlich liegt sie jedoch um 1800 zur Zeit von Beau Brummel, als die Menschen dezente Effekte an ihrer Kleidung schätzen lernten. Die hellen Öffnungen in der schwarzen Front waren von der gleichen Eleganz wie Brummels berühmtes, rustikal gebleichtes Leinen und der feine weiße Musselin, der sich vom schwarzen Tuch absetzte. Klassische architektonische Details wurden im eigentlichen wie im übertragenen Sinn sowohl außen als auch im Innern auf recht triviale Art verwendet. Bei vielen Gebäuden konzentriert sich das gesamte Dekor auf den Eingang. In seltsam groben Formsteinen ausgeführt und im Kontrast zur dunklen Wand hell gestrichen, kann man dies zum Beispiel an den Häusern am Bedford Square sehen. Zuweilen sieht man einen kleinen Portikus, der sorgfältig wie ein Möbelstück gearbeitet ist und wie ein einzelnes Haus vor der Fassade steht. Seltsamerweise ist es beim Londoner Haus wie auch beim amerikanischen Colonial Style üblich, den Bogen der Eingangstür nach Borrominis barockem Vorbild den Giebel durchdringen zu lassen. Doch niemand erregte sich über solche Kleinigkeiten. Dekoration wurde nicht als Teil der Gebäudeform betrachtet. Skrupellos verwendete man alle Arten von Ornament, wenn sie nur 212

Zurückhaltende Eleganz in der Architektur

Häuser in Keats Grove, Hampstead, 1931 (Zeichnung Niels Rohweder). Vgl. S. 211

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Englischer Wohnbau

Dekorative Tür, Bedford Square, Bloomsbury, 1930

schlank und schön wirkten. Als Dekor folgte der schweren Muschel des Barock der Sonnenschirm der Adam-Periode. Unverändert strebte der englische Puritanismus wider jeglichen Pomp und war deutlich an der Architektur der gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstandenen Kurbäder auszumachen. Dem Rat seiner Ärzte folgend, fuhr George III. 1789 nach Weymouth: Wer es sich leisten konnte, fuhr jedes Jahr nach Margate, Hastings, Brighton, Scarborough oder in ein anderes der modernen Seebäder. Entsprechend der ungezwungenen und freien Lebensweise der Orte, etablierte diese Gepflogenheit 214

Isolierte Dekoration

Überdachter Vorbau in der Hart Street, Bloomsbury, 1930, abgerissen

einen leichten einfachen Stil: die holiday architecture. Die Fassaden der Gebäude waren mit Balkonen überzogen, die mit Markisen oder eisernem Sonnenschutz versehen waren und von Kletterpflanzen, Wein und Blumen überwuchert wurden. Dieser Stil wiederum prägte die Londoner Architektur, die zugleich eine offensichtliche Neigung zu orientalischen Motiven zeigte. Die Balkone waren leichter und schlanker und von dünnen Säulen getragen. Mithilfe des Gußeisens war die bildhafte Architektur pompejischer Wandgemälde Wirklichkeit geworden. Aber die Balkonfassaden des späten georgianischen London könnten ebenso eine Vorstellung der Städte aus dem 215

Englischer Wohnbau

Häuser mit Balkonen, Berkeley Square, 1930, abgerissen

Fernen Osten, Penang und Singapur, ausdrücken. Bis vor kurzem gab es am Spaniards Inn ein kleines Haus mit einer außenliegenden Treppe, deren Geländer recht chinesisch anmutete. Sie wurde von einem Vordach geschützt, das gleichermaßen an chinesische Dächer und an einen Regenschirm erinnert. Manch reiche Häuser, die in der Park Lane überlebten, wirken wie aufgereihte Pagoden, ein Balkon über dem anderen, jeweils mit einem eigenen chinesischen Sonnenschutz. Stilelemente des Orients wurden nicht nur nachempfunden; das gesamte Erscheinungsbild der Häuser verströmte die Illusion einer wärmeren Region. Sie waren mit Balkonen geschmückt, und offensichtlich wagte es niemand, sie zu benutzen. (In der Regel hatten sie Gitterböden, so daß es der Anstand 216

Eine Vorstellung des Fernen Ostens

Häuser mit Balkonen, Berkeley Square, 1930, abgerissen

einer Dame in Krinoline verbieten mußte, sie zu betreten). Während man durch die großen Fenster hinaussah, sehnte man sich nach dem Gefühl der Freiheit, das man auf den Veranden der tropischen Häuser empfinden könnte. In den Salons suchte man das Gefühl der Nähe zu den Bäumen der Parks oder Plätze. Im Hausbau ging es weiterhin um das Klare und Glatte, das Einfache und das Kultivierte. Es zeigte, was mit modernen Mitteln geschaffen werden konnte. Als wirkungsvollen Kontrast zum kargen Gebäudeblock benutzte man lebendige Bäume und Pflanzen. Balkons voller Blumen und Kletterpflanzen sollten die Londoner Straßen wie die Hängenden Gärten von Babylon aussehen lassen. 217

Englischer Wohnbau

Spaniards Inn, Hampstead, 1929, abgerissen

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Balkone an allen Häusern

Privathäuser an der Park Lane mit Blick auf den Hyde Park, 1929

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Englischer Wohnbau

Haus in Downshire Hill, Hampstead, Anfang des 19. Jahrhunderts

Bei all dem begegnen uns Tendenzen, welche uns von der ‚Moderne‘ späterer Tage bekannt sind: Standardisierung der Häuser, Einfachheit der Formen, zylindrische Erkerfenster und Balkone, perfekte glatte Wände ohne jedes Gesims, einzig mit einem Relief, das durch die nötigen Aussparungen in den Volumen bedingt ist, flache Dächer, Fenster, die im Laufe der Zeit immer größer wurden, um so große Glasflächen wie möglich und immer schlankere Profile zu bekommen – alles Versuche, einen Eindruck von Freiheit und Offenheit auch im Innern der Häuser zu erreichen und die hellen, spärlich möblierten Räume mit den hübschen Gärten zu verbinden. 220

Alte und neue Moderne

Hans und Wassili Luckhardt, Haus am Rupenhorn, Berlin, 1929–1932

Zudem beobachten wir eine Neigung, neueste technische Errungenschaften und modernste Materialien und Farben mit dem Ziel zu verwenden, alles klar und präzise wirken zu lassen. Wo ein Moderner des 20. Jahrhunderts nutzlose, brückenähnliche Balkone an die Ecken setzen würde, hätte man in später georgianischer Zeit guß­ eiserne Balkone wie Käfige vor die Fenster gehängt. Gußeisen war le dernier cri jener Zeit, so wie es heute der Beton ist. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen der gegenwärtigen Moderne und der vor hundert Jahren. Heute wollen die Architekten sichtbar Neues und Unbekanntes schaffen. Damals wollten sie jedoch 221

Englischer Wohnbau

Balkon in Mayfair, Charles Street No. 14, 1933

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Erker und Balkone

Balkon eines Hauses in der Park Lane, 1931, vgl. S. 219

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Englischer Wohnbau

keinen Bruch mit dem Klassizismus demonstrieren. Im Gegenteil, sie arbeiteten auf der Grundlage ehrwürdiger Traditionen, paßten sich aber den Erfordernissen der Zeit an und machten zugleich von den Möglichkeiten neuer Erfindungen Gebrauch. Die Vereinfachungen ermöglichten die Ausführung rein technischer Konstruktionen, welche gut zu den Gebäuden der Epoche paßten. (Beispiele hierfür sind die einfachen und imposanten Backsteinlagerhäuser östlich des Tower an der sogenannten Nightingale Lane.) Selbst wo mehr Verzierung gefragt war, hatte niemand ein Problem damit, eine architektonische Formvorstellung mit rein Technischem zu verbinden. So wurde eine elegante Eisenbrücke zwischen zwei Triumphbögen gehängt, die nicht vollkommen römisch, aber dennoch von antiker Würde waren. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde der italienische Einfluß durch den griechischen abgelöst; das führte zum Greek Revival in der englischen Architektur. Die St. Pancras Church in Bloomsbury von W. und H. W. Inwood ist aus dem Turm der Winde in Athen und der Karyatidenhalle des Erechtheion zusammengesetzt – letzteres sogar in doppelter Ausführung. Bei anderen, weniger bedeutenden Gebäuden wurden antike Details noch freier verwendet. Zu der bereits erwähnten Kirche gehörte beispielsweise ein (inzwischen abgerissenes) Haus, bei dem ein kleiner Portikus zwischen zwei riesige gewölbte Erker gezwängt war. In diesem Haus findet man die ziemlich mechanische, präzise englische Wohnhausarchitektur höchst vollendet mit feinen klassizistischen Details kombiniert. Gleiches trifft auf eine ihm benachbarte Häuserreihe nahe des Woburn Walk zu, Häuser von ähnlichen Dimensionen wie die in Camden Town, jedoch ist das Erdgeschoß vollständig von einem Laden mit einem Erkerfenster besetzt, das einen großen, aber zierlichen Eisenbalkon trägt. Kein anderer englischer Architekt hat das sogenannte Greek Revival so forciert wie John Nash. Er war für die Umgestaltung des St. James’s Park in einen Englischen Landschaftsgarten verantwortlich und entwarf Festbühnen, als eines Tages der Prince of Wales, später George IV., der als Regent immensen Einfluß erlangte, auf ihn aufmerksam wurde. Es war ein Riesenglück für einen Architekten, diesen königlichen Förderer zu haben. Nash wurde zum königlichen Berater in architektonischen Belangen ernannt und erbaute, dank des unternehmerischen Geistes des Regenten, eine Vielzahl von Gebäuden. So drückte Nash den neuesten und modischsten Teilen der Stadt seinen Stempel auf. Die Häuser, die jeder Besucher bei einem London-Aufenthalt sehen wollte, waren die von Nash. Es schien, als habe sich London unter seiner Hand 224

Eine klassische Moderne

Hängebrücke in Hammersmith, Stich 1827

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Englischer Wohnbau

Nightingale Lane durch die Docks, östlich des Tower

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Lagerhallen des 19. Jahrhunderts

Nightingale Lane durch die Docks, östlich des Tower

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Englischer Wohnbau

Häuser mit Geschäften bei der St. Pancras Church, Woburn Walk, 1930

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Geschäft aus der Zeit des Greek Revival

Geschäft in einer Passage bei der St. Pancras Church, Woburn Walk, 1930

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Englischer Wohnbau

Freistehendes dreigeschossiges Doppelhaus, Mount Vernon, Hampstead, 1931

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Um 1800: Häuser in Hampstead

Keats Grove No. 23, Hampstead, 1929, heute verändert

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Englischer Wohnbau

John Nash, mit Ölfarbe gestrichene Häuser am Munster Square, 1930, 1946 abgerissen

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Zierlicher Ölfarben-Stuck

vollkommen verändert. Er wandte sich von dem alten etablierten Backsteinstil ab und führte verputzte Fassaden mit feinen klassischen Stuckdetails ein, die von einer Schicht heller Ölfarbe bedeckt waren. Halb ironisch, halb bewundernd sangen die hübschen neuen Häuser: Augustus of Rome was for building renowned, And of marble he left what of brick he had found; But is not our Nash, too, a very great master? He found us all brick, and he leaves us all plaster. [ 1 ] Der mit Ölfarbe gestrichene Stuck machte selbst sehr feine Details wahrnehmbar: weder verwitterte er wie der Portland-Stein, noch hatte er jene schroffe Textur. Die Architektur trat wie eine elegante Innenraumdekorationen in Erscheinung und paßte sehr gut zu den schönen Straßen einer Großstadt. Die Menschen flanierten nicht zwischen rauhen Wänden aus Natur- oder Backstein, sondern als wären sie in einer Galerie zwischen sorgsam gearbeiteten cremefarbenen Wänden. Damals gab es in London zwei Methoden, die Wände zu bearbeiten: entweder das nackte, seinem Charakter entsprechende Backsteinhaus ohne Gesimse – eine Kiste aus Backstein mit rechteckigen Löchern – oder das verputzte und danach gestrichene Haus, das mit allen möglichen Arten von Details geschmückt werden konnte. Aber selbst diese spätere Variante bewahrte in der Regel die lediglich durch Fugen, Gesimse und andere Details akzentuierte klare und einfache Form. Die Dekoration bildete kein organisches Ganzes mit dem Gebäudevolumen. Daher bewahrte das englische Haus den ihm eigenen Stil, selbst wenn an einer Ecke dürftige griechische und an einer anderen ausgelaugte gotische Details angeklebt sein konnten. Neben anderen historischen Stilen kam eine Art gotische Gestaltung in Mode. Manchmal ist es schwierig nachzuvollziehen, ob eine dünne gußeiserne Säule mit blättrigem Kapitell eher klassisch oder eher gotisch wirken sollte. In England hielt das Gotische allen Wechseln stand. Die großen Architekten des 17. Jahrhunderts hatten die Kirchen des Mittelalters restauriert. Im 18. Jahrhundert hatten romantische Tendenzen gotische Kapellen und rustikale gotische Häuser als Bestandteile empfindsam gestalteter Gärten entstehen lassen. Nun, im 19. Jahrhundert, konnte man die Begeisterung für eine naive Gotik problemlos mit der klassizistischen Gußeisenromantik, den europäisierten 233

Englischer Wohnbau

Decimus Burton, Palm House, Kew Gardens, 1930

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Glashäuser

Joseph Paxton, Crystal Palace im Hyde Park, 1851, nach dem Ende der Weltausstellung in Sydenham wiederaufgebaut, 1936 abgebrannt

Einflüssen Chinas – und mit jüngst kreierten geometrischen Ornamenten (Nash und vor allem John Soane) verknüpfen. Das Ganze entwickelte sich mehr und mehr zu Mustern und Garnituren, um welche die einfachen Gebäudeformen ergänzt wurden. Häuser von verhältnismäßig klassischem Charakter haben mitunter Bleifenster mit diamantförmigen Glasscheiben, eine der Folgen der gotischen Neigungen in der Wohn­hausarchitektur des 19. Jahrhunderts. Die moderne Tendenz, neue Materialien zu verwenden, äußert sich zumeist bei Balkonen, ausgebuchteten Bauteilen mit großen gebogenen Glasscheiben, und bei Gebäuden, die ganz aus Eisen und Glas errichtet sind. Es wurde als das Wunder jener Zeit angesehen, daß man in der Lage war, vollständig transparente Gebäude zu bauen, in denen man gleichzeitig die Vorzüge eines beheizten Raumes erleben und sich trotzdem in Kontakt mit der Natur fühlen konnte. Die großen aristokratischen Stadthäuser besaßen oftmals eine Art Glaszimmer, aus dem man in den winzigen Garten mit ein oder zwei darbenden Bäumen blickte (siehe die Beschreibung von Mr. Dombeys Haus in Dombey and Son) oder lange Glasgalerien, die zum Hinterhaus mit Blick auf die mews [siehe S.176] führten. Mit dem Bau eines großartigen Konservatoriums im Garten des Duke von Devonshire in Chatsworth erregte Sir Joseph Paxton (1801–1865) Aufsehen; es war 300 Fuß lang und 70 Fuß hoch. Der klassizistische Architekt Decimus Burton benutzte selbiges Motiv, dünne, gebogene Scheiben, in seinem wunderhübschen Palmenhaus in Kew Gardens (1844–1848). Die Begeisterung für diese vollständig aus Eisen und Glas errichteten Häuser war so groß, daß im Jahre 1851 für das Ausstellungsgebäude der Weltausstellung im Hyde Park 238 Entwürfe zugunsten von Paxtons Crystal Palace abgelehnt wurden. 235

Englischer Wohnbau

Straßenszene in Pimlico mit Blick auf die Rückseite der Häuser, 1930

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Klassizismus der Handwerker

Straßenszene in Pimlico mit Blick auf die Vorderseite der Gebäude, 1930

237

Englischer Wohnbau

Mitte des 19. Jahrhunderts bekam die Wohnhausarchitektur eine fast vulgäre Anmutung. Die Verlockung, billige Ornamente an die ölgestrichenen Fassaden zu kleben, überstieg die Fähigkeiten der Erbauer solcher Bruchbuden, so daß die Häuser schon bald mit wahllosen Allerweltsdetails überhäuft waren. Der Klassizismus der Gebäude entpuppte sich bald nur noch als lackierte Oberfläche statt als Ausdruck von Kultiviertheit. Das ist in vielen Londoner Vierteln aus der Zeit zwischen 1850 und 1870 nicht zu übersehen. Wie im Mittelalter sind die Straßen von offenen Ständen überfüllt, und, wo die Rückseiten der Häuser auffallen, machen sie einen ziemlich gotischen Eindruck – weniger im Detail als in der Ansammlung hoher, schmaler und rechtwinkliger Backsteinmassen. An den Villen jener Zeit, die oft als Doppelhäuser erbaut wurden, zog sich der klassische Anstrich gerade einmal ein oder zwei Fuß um die Hausecke herum. Hier hören plötzlich all die Gesimse, der Putz, die Ölfarbe und Dekoration auf, und die Rückseite zeigt ein einfaches und oft sehr ordentliches georgianisches Backsteinhaus. Eine Reaktion auf die klassizistischen Banalitäten der Bauunternehmer folgte, und der Geschmack veränderte sich ab Mitte des Jahrhunderts. Nun mußten die Fassaden gotisch sein, jede mit ihrem eigenen Nürnberger Giebel. Selbst wenn alle Gebäude die gleiche Größe und fast identische Wohnungen hatten, sollte eine Hausreihe nicht mehr unbedingt einheitlich aussehen. Mittels Erkern, Treppen, unregelmäßigen Fenstern und verschiedenster Steinmetzarbeiten wurde den Häuserfronten ein gotischer Ausdruck verliehen, den es so in England nie gegeben hatte. Am wichtigsten war indessen die Bewegung einer Gruppe von Architekten, die sich von William Morris hatten inspirieren lassen. Einer von ihnen, Norman Shaw, kreierte erfolgreich einen neuen Queen-Anne-Stil, der mitnichten eine einfache Kopie war und wirklich Stil hatte. William Morris hatte die Industrialisierung und die Mechanisierung zur Ursache allen Übels erklärt. Er war der Meinung, eine Renaissance in der Architektur müsse auf der Grundlage des Handwerks und des Verhältnisses des Arbeiters zu seinem Produkt beruhen. Für ihn war die Frage gleichermaßen sozialer wie künstlerischer Natur. Er wollte neue und kleine mittelalterliche Gemeinden gründen, in denen jeder einzelne mit großer Liebe für das Handwerk seine Arbeit verrichten könne. Seine Bemühungen, diese utopischen Ideale umzusetzen, schlugen sich vor allem in der englischen Architektur und der Kunstgewerbeindustrie nieder, welche (hinsichtlich der Verarbeitungsqualität) einen sehr hohen Standard erreichte. 238

Norman Shaw und Bedford Park

Der ausgemachte Feind, die Maschine, wurde ausgerechnet dazu benutzt, die Menschen in die unverdorbene, noch nicht durch den bösen Einfluß der Großstadt infizierte Natur zu befördern. Ein kleiner Vorort, Bedford Park (1877), wurde nach Plänen Norman Shaws in rechtem Stil und für Menschen der rechten Gesinnung in der Nähe eines Bahnhofs der neuen Metropolitan Railway errichtet. Der Ort hat seine eigene Kirche und in der Nähe des Bahnhofs die Nachbildung eines wayside inn [Gasthaus am Wegesrand] in einer Art Tudorstil mit spitzen Giebeln im Überfluß. Nach dem Geschmack der Zeit hätte dieser Vorort ausschließlich aus freistehenden individuellen Gebäuden bestehen müssen, aber aus ökonomischen Gründen wurden nur neun verschiedene Haus­t ypen realisiert, manche in langen Reihen, aber durch unterschiedliche Giebel akzentuiert. In technischer Hinsicht entsprach die Planung exakt denen anderer Londoner Viertel. Es handelte sich um einen einfühlsamen Entwurf, wie er zu sein hatte: lange parallele Straßen mit ziemlich schmalen und tiefen Grundstücken und vergleichsweise wenigen Kreuzungen. Dennoch war er weniger steif als der Plan eines gewöhnlichen Landvermessers. Die großen Bäume, die man auf dem Gelände vorfand, wurden zu einem festen Bestandteil der Stadtplanung, und man strebte größtmögliche Vielfalt an. Bedford Park ist wohl gelungen. Selbst ein moderner Mensch, der prinzipiell gegen das Wiederaufleben früherer Moden in der Architektur ist, muß den Eindruck von der Einheitlichkeit des Ortes, den feinen Charakter der Materialien und das einfache Erscheinungsbild der Gebäude bewundern. Es dürfte schwierig sein, in anderen Ländern eine moderne Gartenvorstadt mit einem ähnlichen Grad an Kultiviertheit zu finden. Als Antwort auf den ländlichen Charakter der Umgebung mit all den freistehenden Bäumen und Büschen sind die Materialien ziemlich rauh. In der Nähe des Bahnhofs gibt es noch immer ein distinguiertes altes Haus im sehr strengen und reinen Stil des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Für diejenigen, die georgianische Architektur schätzen gelernt haben, und verstehen, wie modern sie tatsächlich war, mag es befremdlich sein, daß man es in den sechziger Jahren [des 19. Jh.s] für notwendig hielt, sich einer primitiveren und gleichsam rustikaleren Phase zu bedienen, um etwas Gutes zu erschaffen. Das Resultat ist aber in jedem Fall lobenswert. Norman Shaws rote Backsteinhäuser sind in der Tat nicht besser als jene feinen, mit Ölfarbe gestrichenen Gebäude, gegen die er sich so heftig stellte, aber sie waren ebenso gut, wenn auch auf andere Weise. Es gibt keine Möglichkeit nachzuweisen, daß die ästhetische Wirkung 239

Englischer Wohnbau

des einen Baumaterials besser oder richtiger als die eines anderen ist. Die Art und Weise der Ausführung entscheidet. Norman Shaws Gartenvorstadt besitzt in ihrer Einheitlichkeit eine ebenso große stilistische Sicherheit wie die alte Regent Street und die besten Teile von Bloomsbury. Anstelle der gußeisernen Zäune der georgianischen Zeit sind die Grundstücke nun mit dünnen, unbehandelten Eichenbrettern gezäunt. Sie haben einen verwitterten Grauton angenommen und korrespondieren mit der Erscheinung des rauhen Steins der Häuser. Dabei wirken sie wie die Gebäude des 17. Jahrhunderts mit holländischem Einfluß (nicht aus der Zeit Queen Annes), da Gesimse und alle weiteren Wanddetails ganz in Backstein ausgeführt sind, sehr homogen. Darüber hinaus sind die Dächer einheitlich und nirgends von Mansardenfenstern oder Dachausbauten unterbrochen. Norman Shaw und seinen Mitstreitern war es gelungen, die Architektur wieder zu einer blühenden Kunst zu machen. Gleichzeitig erlebte der Garten eine Renaissance. Auch hier wurde das Material oder vielmehr dessen Wirkung mit neuen Augen gesehen. Im kleinen Garten war die Landschaftsgestaltung zu einem stereotypen Muster verkümmert. Die unterschiedlichen Pflanzenarten, die Wirkung ihrer Farben und Beschaffenheit und die von farbenprächtigen Blumenbeeten umgebenen, sorgsam gewalzten und gemähten Rasenflächen erfreuten sich neuer Beliebtheit. Beschnittene Büsche und Bäume waren zusammen mit angelegten Wegen und Gartenmauern wieder in Mode. Überall gab es einen ausdrucksstarken Kontrast zwischen toter Konstruktion und lebendiger Vegetation, wie wenn die regelmäßigen Fugen der gepflasterten Wege von grünen Pflanzen durchbrochen werden. Dieser Gartenstil schafft die geeignete Umgebung für die neue romantische Architektur, und dies ist einer der Hauptgründe dafür, daß die moderne Garten­ vorstadt, wie zum Beispiel Hampstead Garden Suburb (1907), eine solche Faszination ausübt [siehe Kapitel 14 über den Londoner Verkehr]. Ihre Gebäude sind von einer Vielzahl namhafter Architekten entworfen worden. Insbesondere die Gesamt­ planung von Sir Raymond Unwin ist als Einheit harmonisch. Auch diesen Stil haben schlechte Bauunternehmer ruiniert. Nach Plänen drittklassiger Architekten wurden Häuser mit einem Hauch von historischem Romantizismus tausendfach multipliziert. Die einfachen, schlichten und modernen Häuser des 18. Jahrhunderts sind durch schlecht ausgeführte Doppelhäuser des 20. Jahrhunderts, aus Fachwerk mit Giebeln und Erkern, kleinen gebogenen Vordächern und verdrehten Dächern, ersetzt worden. 240

Häuser am Bedford Square

‚The Inn‘, Bedford Park, Turnham Green, 1930

Reihenhäuser, Bedford Park, Turnham Green

Reihenhäuser, Bedford Park

Doppelhäuser, Bedford Park

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Englischer Wohnbau

Bibliographie Es gibt ein Buch über das Londoner Haus der Zeit, das jeder Student der Geschichte Londons kennen sollte: John Summerson, Georgian London, 1945. Während andere Autoren insbesondere über freistehende Häuser schreiben, gibt Summerson einen vollständigen Überblick über die Entwicklung des typischen Londoner Reihenhauses. Das London County Council hat vier schmale Bände über Gebäude publiziert, in denen berühmte Bürger der Stadt, Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Künstler gelebt haben. Nahezu alle wohnten in einfachen Londoner Häusern. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Residenz des Primierministers in der Downing Street No. 10.

[ 1 ] a us Quarterly Review, Juni 1826, sinngemäß: Augustus wurd’ für sein Bauen gerühmt Hinterließ aus Marmor, was in Stein er gefunden Ist unser Nash nicht auch ein bedeutender Mann? Fand ganz in Stein uns und kleidet uns ein.

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11 Die traurige, aber wahre Geschichte der Regent Street

Carlton House

Die Regent Street bildet einen Querschnitt durch die Stadt. Sie führt von Süden nach Norden, vom St. James’s Park durch die Clubgegend von Pall Mall, kreuzt das Geschäftsviertel bei Piccadilly und der Oxford Street und führt hinauf zum nördlichen Wohngebiet um den Regent’s Park. Ihre Geschichte führt uns durch die Entwicklung Londons von George III. zu George V. Im doppelten Sinn begann die Regent Street am Carlton House. Zu Beginn des Jahrhunderts lebte hier der Prince of Wales (ab 1811 George IV.). Sein Wohnsitz war ein alter, 1709 für Lord Carlton errichteter Backsteinbau. Im Besitz der königlichen Familie, hatte seine nach Norden gerichtete Hauptfassade eine Steinverkleidung erhalten. Das Gebäude befand sich dort, wo heute die Säule des Duke of York steht; der Garten war nach Süden orientiert. Jetzt führt dort eine großzügige Treppenflucht, breit wie ein Boulevard, zum St. James’s Park. Vor dem Haus ließ George eine niedrige Mauer von seinem Lieblingsarchitekten John Nash (1752–1835) bauen. Diese Mauer wurde von einer Reihe von Säulen überragt, die paarweise einen langen Architrav trugen. Bereits zu jener Zeit, als der theatralische Stil in der Architektur üblicher war, wirkten die kleinen Säulen vor dem Hintergrund der großen recht komisch. Es gab den kleinen Witz, natürlich auf Italienisch, da die Säulen kein Englisch verstehen würden. 243

Die Regent Street

Auf die Frage: „Care colonne, che state qua?“ (‚Liebe Säulen, was macht ihr hier?‘), antworteten sie: „Non sappiamo, in verità.“ (‚Das wissen wir wirklich nicht!‘). Der Prinz indessen war mit Carlton House unzufrieden. Obwohl es idyllisch am Park lag, ähnelte es zu sehr einem Stadthaus. Er wollte ein echtes Landhaus außerhalb und in der Nähe des neuen, nach Nashs Entwurf angelegten Regent’s Park. Es war eine schöne Gegend; offen, großzügig und entfernt von der geschäftigen Stadt. Sie hatte jedoch den Nachteil, daß sie ungünstig zu erreichen war – vor allem von Carlton House. Die Strecke verlief durch Viertel, die sich ohne jeglichen Plan entwickelt hatten und keiner königlichen Prozession würdig gewesen wären. Vereinzelt gab es hübsche Häuser mit alten Gärten und schöne Plätze. Zwischen diesen lag ein Labyrinth enger Gassen, in denen dicht gedrängt ärmere Leute lebten. Schon 1760 hatte John Gwynn (siehe S. 164f) in seinem Projekt für die Neu­­gestaltung von London und Westminster auf die Notwendigkeit einer Hauptverkehrs­ader hin­gewiesen, die vom St. James’s Park zu den freien Gebieten im Norden führen sollte, als Verlängerung des Haymarket vom östlichen Ende der Mall bis hin zu einer neuen und großzügigen Ost-West gerichteten Avenue, die seiner Vorstellung nach die nördliche Grenze der Stadt in Form eines Boulevards markieren sollte. Dieser Plan wurde ebenso wie viele Ideen John Gwynns nie realisiert. Doch seine Mühen waren nicht vergebens. Die vorausschauenden Pläne hatten anscheinend großen Einfluß auf viele der Veränderungen, die seither zur Regulierung der Stadt unternommen worden sind. Sie hatten die gleiche Bedeutung für London wie die Pläne der großen Commission Temporaire [des Arts], 1793, für das Paris von Napoleon I. und Napoleon III. Ebenso bei Londons erstem Platz, dem Covent Garden Square: Der erste Platz, der nach architektonischen Überlegungen entstehen sollte, wurde unter direktem Einfluß Frankreichs gebaut. Da der französische Kaiser die Rue de Rivoli bauen ließ, mußte der englische Regent ebenfalls eine Prachtstraße haben. Er wünschte die Straße jedoch als Verkehrsader, die vom Carlton House zu geplanten Landhaus verlief, das von dem großen Park mit seinen herrlichen Ausblicken umgeben sein sollte. Es war eine sehr große Aufgabe, die eine schwierige und erhebliche Zerstörung von Straßenzügen mit sich brachte und nur mit finanzieller Unterstützung des Parlaments umgesetzt werden konnte. Um das zu erreichen, mußten soziale Belange in den Vordergrund gestellt werden. Im Jahre 1813 wurde dem Bau der neuen Straße als einem Mittel zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen für die betroffenen Stadtviertel stattgegeben. 244

Eine englische Prachtstraße

In der Nähe des Regent’s Park lag das große Gebiet des Portland Place, das in den Plan integriert werden sollte. In dieser noch ländlichen Umgebung hatte Lord Foley sein Landhaus, Foley House, mit einem großen, von Feldern und Wiesen umgebenen Garten erbaut. Um sich die schöne und weite Aussicht über das sanft hügelige Land nördlich des Foley-Anwesens zu sichern, brachte er den Besitzer des Landes, den Duke of Portland, dazu, einen Vertrag zu unterzeichnen, es unbebaut zu lassen. Als die Stadt sich allerdings immer weiter ausdehnte und der Grund gut hätte bebaut werden können, bereute der Herzog sein Versprechen. Wieviel Geld würde man verdienen können, wenn man dieses weite Land, das dort ungenutzt lag, lediglich zum Vergnügen Lord Foleys, parzellierte! Die Gebrüder Adam, die bekanntermaßen sowohl als Unternehmer als auch als Architekten sehr geschickt waren, fanden einen Ausweg aus der mißlichen Lage: Sie zeichneten einen Plan, nach dem der gesamte Boden des Herzogs mit Ausnahme eines Streifens in derselben Breite wie Foley House, der von dessen Front bis zum Regent’s Park verlief, bebaut werden konnte. So entstand die herrliche Durchfahrt, Portland Place, 100 Fuß breit und beidseitig von Gebäuden der Gebrüder Adam flankiert – allerdings mehr zur Zufriedenheit des Duke of Portland und der Gebrüder Adam als Lord Foleys! Dieser sah sich nun trotz des Vertrages gezwungen, mit einer dreiseitigen Umbauung zu leben! Es war genau diese eindrucksvolle Straße, die Nash geradewegs bis zum St. James’s Park führen wollte. Er traf jedoch auf viele Hindernisse. Eine Zeit lang hatte er ein Angebot, das Foley House abzureißen, mußte diese Idee jedoch verwerfen und statt dessen dem Haus ausweichen. Das Stück zwischen Oxford Street und Piccadilly war sogar noch schwieriger anzugehen. Um allzu hohe Kosten zu vermeiden, konnte die Straße für eine bestimmte Strecke nur in einem Bogen geführt werden. So entstand mit der Regent Street, im Gegensatz zur Rue de Rivoli, keine Prachtstraße mit gleichförmiger Bebauung zu beiden Seiten, die in einer schnurgeraden Linie, als sei sie mit dem Lineal gezogen, durch die Stadt verlief. Sie war vielmehr aus Teilen unterschiedlichen Aussehens und Charakters zusammengesetzt, je nachdem, welches Viertel sie durchlief. Es vergingen viele Jahre, bis sie fertiggestellt war. Nash entwarf nicht nur den Straßenverlauf, sondern auch einen Großteil der Häuser und spekulierte in hohem Maße mit den Gebäuden. Über einen langen Zeitraum häuften sich Schwierigkeiten. Als der Bau der Regent Street schließlich abgeschlossen war, hatte sich jedoch die Investition längst gelohnt. 245

Die Regent Street

In ihrer Erscheinung unterschied sich die Regent Street in hohem Maße von den großen neuen Pariser Durchgangsstraßen. Aber der Unterschied in der Bedeutung der Straßen für die Stadtquartiere, die sie durchquerten, war noch erheblicher. Die Idee der Pariser Straßen war hauptsächlich die Verschönerung der Stadt. Seit der Regierungszeit Louis XIV. war es das Hauptziel der französischen Stadtplanungspolitik, die Hauptstadt zu einer großartigen und imposanten Stadt zu machen. Das Empire verfolgte damit, wie auch in anderer Hinsicht, sein royalistisches Programm. Napoleon I. wollte aus Paris nicht nur die schönste Stadt machen, die es gab, sondern die schönste, die es je geben würde. Das Modell für die neuen Pariser Straßen waren die Boulevards, welche ursprünglich, wie der Name verrät, um die Grenzen der alten Stadt angelegt worden waren: ein Bollwerk, welches Paris umgab und die Grenze zum offenen Land markierte. Genau wie John Gwynn es für London geplant hatte, sollte die Stadt nicht über die Boulevards hinaus wachsen. Die Regent Street hatte eine ganz andere Aufgabe, da sie wie ein Strahl vom eigentlichen Zentrum der Stadt bis auf das offene Land hinaus führte. In Wahrheit hatte schon die Commission Temporaire des Arts von 1793 vorgeschlagen, den Bau neuer Straßen, die in bis dahin unerschlossene Gebiete führen sollten, vorzunehmen. Vor allem handelte es sich dabei um kirchliche Besitztümer, die während der Revolution vom Staat beschlagnahmt worden waren. Dies sollte allerdings keinem leichteren Zugang zur freien Landschaft dienen; man wollte vielmehr die früheren Gärten schnellstmöglich zu neuen und profitablen Wohngegenden umgestalten. Napoleon – der, bevor er der große General wurde, mit dem Gedanken gespielt hatte, im großen Stil mit Baugrund zu spekulieren – verfolgte dasselbe Ziel. Wenn sie nicht ringförmig verliefen, führten die unter Napoleon III. und von Haussmann neu geplanten Straßen ebenfalls in neue Quartiere. Quartiere, die mit derselben Dichte erbaut wurden wie die alten. Die Regent Street aber bildete eine Hauptverkehrsader, die den Zugang zu ländlichen Gebieten ermöglichte, die als offene Fläche zur Erholung des Volkes bewahrt werden sollten. Der Durchbruch für die neuen Straßen in Paris zog hauptsächlich eine Neuorganisation der Gebäude und des Verkehrs in ein und demselben Gebiet nach sich, nachdem eine Vielzahl enger Gassen durch breite Straßen und niedrige Häuser durch hohe ersetzt wurden. Die englischen Straßen jedoch förderten neue und verbesserte Stadtteile. So wurden die Häuser der Regent Street verhältnismäßig niedrig gehalten, um die bauliche Dichte zu verringern. 246

Pläne der Regent Street

Die Regent Street, Gesamtplan (Luftbild Aerofilms Ltd.)

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Die Regent Street

Die Regent Street, zwei Projekte von John Nash. Der gerade Verlauf im Plan auf der linken Seite mußte zugunsten der geschwungenen Straßenführung im Plan rechts weichen.

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Eine Stadtzelle um 1800

Das Vorhaben, die Ländereien von Marylebone – das Gebiet rund um den Regent’s Park – in Parzellen aufzuteilen, war in jeder Hinsicht erstaunlich weitsichtig. Wie schon erwähnt, war es durchaus beachtlich, daß die Krone einen Großteil des Gebiets als Park für die Stadtbewohner bewahrte, obwohl der Verkauf des gesamten Areals zu Bauzwecken einen sehr hohen Profit hätte erzielen können. Am erstaunlichsten ist vielleicht, daß das Ganze als komplette ‚Stadtzelle‘ geplant worden war. Die Planung sah nicht nur den Park und die größeren Häuser, die Terraces, für die Wohlhabenden vor, die von der schönen Lage profitierten, sondern auch ein Gebiet mit kleineren Häusern. Dadurch wurde zumindest teilweise Ersatz für die Armenviertel geschaffen, die dem Bau der Regent Street weichen mußten. Die Terraces waren ebenfalls von Nash entworfen worden. Sie lagen östlich des Parks und umgaben große Plätze, die als Marktplätze dienen sollten. Das Projekt für den sogenannten Regent’s Canal war gleichermaßen Bestandteil der Planung. Es erwies sich als sehr bedeutungsvoll, sowohl aus ästhetischer Sicht, da er durch den Park, ähnlich dem Kanal durch den St. James’s Park, gelegt wurde, als auch im Hinblick auf funktionale Argumente, da er diesen Stadtteil mit den Docks und dem East End verband. Auf diese Weise wurde ein idealer Vorort in kleinem Maßstab geschaffen, der für sich selbst sorgen konnte, günstige Bedingungen für eine eigene Industrie aufwies, Häuser sowohl für die Upper als auch die Lower Classes besaß und mit einer eigenen Warenversorgung versehen war. Er hatte einen großen und schönen Park, der nicht nur ein Schmuck der königlichen Residenzstadt war, sondern auch ein Ort, an dem die Bürger ihre Erholung im Spiel finden konnten. Die Ideen, welche von der Entwicklung der Maryleboneschen Ländereien verkörpert werden, sind bis heute aktuell. Sie sind der Ursprung der Gartenstadt. Viele Stadtplaner haben solche Ideen, mit Einheiten oder ‚Stadtzellen‘ zu operieren, zu Papier gebracht, aber nur wenige Städte sind tatsächlich in einer gleichsam vorausschauenden Weise gebaut worden. Die Aufgabe der Regent Street war es, Zugang zu diesem neuen und verbesserten Stadtviertel zu schaffen und es mit den Hauptgeschäftsstraßen Londons zu verbinden. Der erste Abschnitt der Regent Street, der am Carlton House begann, war wahrhaft prächtig und einer königlichen Residenz würdig. Nachdem sie den breiten Waterloo Place passiert hatte, wurde sie etwas schmaler. Von diesem Punkt stieg sie steil und von Gebäuden ähnlichen Typs mit einer Säulenfront flankiert bis zum County Fire Office an. Dieses Gebäude war mit der von Robert Abraham entworfenen säulengeschmückten Fassade eine seltsame 249

Die Regent Street

Waterloo Place, vorn, und die Lower Regent Street Richtung County Fire Office, das die Straße abschließt (Stich Tho. H. Stepherd, um 1825)

Der Quadrant, rechts das County Fire Office (Stich Tho. H. Stepherd, um 1825)

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John Nash’s Regent Street

Regent Street, Geschäftshäuser auf der Ostseite (Stich Tho. H. Stepherd, um 1825)

Regent Street, Geschäftshäuser auf der Ostseite (später ‚Liberty Department Store‘) (Stich Tho. H. Stepherd, circa 1825)

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Die Regent Street

Regent Street, der Quadrant wird gebaut, Aquarell eines unbekannten Künstlers

Reminiszenz an das alte, lang zuvor abgerissene Somerset House von Inigo Jones. Es bildete den Abschluß der sogenannten Lower Regent Street. Nach dem County Fire Office wechselte die Regent Street ihren Charakter. Mit aller Wahrscheinlichkeit vom Crescent in Bath inspiriert, führte Nash sie in einem großen Viertelkreis um die Grundstücke herum, deren Erwerb zu teuer gewesen wäre. Dieser ‚Quadrant‘ war der eleganteste Teil des Gesamtplans, und er blieb es auch. Nash beabsichtigte, die gesamte Straße, von Carlton House bis Portland Place, mit arkadenüberdeckten Gehsteigen (‚Piazzas‘ wie man in Erinnerung an Covent Garden auf Englisch noch immer sagte), getreu der Rue de Rivoli und der anderen Straßen, die in der letzten Zeit unter Napoleon entstanden waren, zu bauen. Sie wurden jedoch nur am Quadrant ausgeführt, dessen vor die Fassade gestellte Säulenreihe noch in alten Bildern zu sehen ist. Diese war zweigeschossig: im Erdgeschoß der Gebäude befanden sich Läden, darüber ein niedriges Zwischengeschoß – wohl zum Vorteil für die Passanten im englischen Klima, aber doch sehr zum Nachteil für die Händler, deren Schaufenster im Dämmerlicht kaum erkennbar waren. Als die Straße bald darauf haupt­ sächlich zu einer Einkaufsstraße wurde, mußten die Arkaden abgerissen werden. 252

Der Verlauf

1848 wurden Nashs gußeiserne Säulen entfernt und die Straßenfronten nach Sir James Pennethornes Entwurf erneuert. Der untere, mit den Schaufenstern besetzte Teil der Fassaden wurde vom oberen, nüchternen Teil durch einen langen Balkon getrennt, der in einer horizontalen Kurve weiterlief und, wie einst der Architrav der Kolonnaden, den kühnen Schwung der Straße markierte. Vom Quadranten führte die Regent Street in einer fast schnurgeraden Linie zur Oxford Street. Kurz davor gab es eine leichte Biegung, an der, mit einigem Gespür für den ästhetischen Effekt, die Hanover Chapel plaziert wurde. Sie war mit ihrem Säulenvorbau und zwei Türmen das einzige öffentliche Gebäude unter all den Geschäftshäusern. Von dort aus war es möglich, in einer geraden Linie bis zum Portland Place zu bauen, wo allerdings der Verlauf erneut parallel verschoben werden mußte. Diese Schwierigkeit konnte jedoch nicht mit einem zweiten Quadranten überwunden werden, da die neue Straße zu dicht an der alten lag. Nash löste auch dieses Problem mit Leichtigkeit. Er entwarf einen Vorbau für die All Souls Church in Form eines Rundtempels, der, wie das Knie einer Gliederpuppe, die Regent Street mit dem Portland Place verband. Der Portland Place, von den Gebrüdern Adam errichtet, bedurfte keiner Veränderung. Nur der Zugang zum Regent’s Park wurde einzig und allein nach Nashs Entwurf erbaut. Heute zeigt der Park Crescent, in Form eines Hufeisens angelegt und mit seinen Säulen und in Ölfarbe gestrichenen Fassaden als einziges Beispiel im Gesamtplan [der Regent Street], Nashs Idee von Großstadtarchitektur. Anfangs sorgte die Regent Street für große Bewunderung. In England wurde sie, gewiß etwas anmaßend, die weltweit schönste Straße genannt. Später fiel ihre Architektur in Ungnade. Bei der nächsten Gelegenheit ergriff man die Chance, alles in voller Länge zu erneuern und die alten, ehrwürdigen Stuckfassaden durch prunkvolle Geschäftshäuser aus Portland-Stein zu ersetzen. Und schließlich ist die alte Regent Street für immer verschwunden. Ihre völlige Zerstörung wurde im Juni 1927 zelebriert, als King George und Queen Mary die mit Blumen fröhlich geschmückte Straße in festlicher Manier hinunterfuhren. Heute allerdings hört man wieder bewunderndes Lob für Nashs Kunst und seine beispielhafte groß­ städtische Architektur, wie sie die ursprüngliche Regent Street präsentiert hatte. Das geht allerdings etwas zu weit. Dem Projekt hatte im Ganzen immer etwas von der Pracht gefehlt, die Unternehmungen dieser Art in Paris auszeichnen. Soweit man sagen kann, ist es ganz selbstverständlich, daß die Architektur der Straße nicht in 253

Die Regent Street

Piccadilly Circus und Lower Regent Street mit der Duke of York Säule auf dem ehemaligen Gelände des Carlton House (Lithographie T. Shotter Boys, 1842)

Die Regent Street nach Süden. Bei dem dunklen Gebäude mit dem Säulenportikus und den zwei Türmen handelt es sich um die Hanover Chapel (Lithographie T. Shotter Boys, 1842)

derselben Einheitlichkeit des Stils ausgeführt werden konnte wie die Rue de Rivoli. Aber so ist vielleicht ein Ganzes in anderer Hinsicht entstanden. In Wahrheit war die Regent Street eine Folge geschickter Lösungen schwieriger Probleme, und es gab nie eine gestalterische Verbindung der verschiedenen Abschnitte. Das Ganze war nach einem einfachen Muster gestrickt: Wenn sie eine andere Hauptverkehrsstraße kreuzte, wurde die Straße zu einem kreisförmigen Platz, wie Piccadilly oder Oxford Circus, aufgeweitet. Sobald die Richtung geändert oder parallel verschoben werden mußte, schloß sie mit einem großen Gebäude ab. Die Linie wurde in einem Kreissegment aufgenommen, das die vorhandenen Teile angemessen miteinander verband. Während die barocken Stadtteile offene Plätze bewußt verknüpften und dadurch ein rhythmisches Auf und Ab schufen, stückelte Nash alles schematisch aneinander, so wie ein Klempner seine Rohre mit Verbindungsstücken, die nur für diesen Zweck da sind, zusammensetzt. Das paßte jedoch recht gut zu dem eher formalen Stil der Architektur, der zwischen einem nüchternen Greek Revival und einer bizarr zusammengeschusterten Moderne [Rasmussen verwendet „Modernismus“] schwankte. Dennoch besaß die Regent Street, hauptsächlich durch ihre Weite und die verhältnismäßig niedrigen Gebäude – eigentlich selbstverständlich für eine Einkaufsstraße, wo die unteren Geschosse am teuersten sind – eine seltene und besondere Würde. Im großen und ganzen bestand sie, wie andere Straßen in London auch, vorwiegend aus Reihen von kleinen dreiachsigen Gebäuden. Nash versuchte, jede einzelne Gruppe als Einheit zu fassen und vereinte sie im Quadranten 254

Der ursprüngliche Charakter

zu einem eindrucksvollen Ganzen. Seine Haltung vermittelt den richtigen Blick: Die Straße einer Großstadt gleicht einem Flußbett und ihr Verkehr dem fließenden Wasser. Unglücklicherweise war der Quadrant der einzige Abschnitt, der in einem größeren Maßstab gestaltet worden war. Daneben hatte jeder Block ein besonders betontes Zentrum und zu beiden Seiten hervortretende Gebäudeteile (siehe die Terraces am Regent’s Park), als ob es sich um Paläste hinter einem offenen Platz oder einem Park handelte. In einer Straße, in der sie nur die Seitenfluchten und nicht den Endpunkt bildeten, hinterließen sie einfach keine Wirkung. Tho. H. Shepherd, der die Gebäude für die Nachwelt in einer Reihe von hübschen Stahlstichen bewahrt hat, war gezwungen, sie von einer Stelle aus zu zeichnen, von der sie unter keinen Umständen zu sehen waren. Ein genaues Bild der Straßenwirkung vermitteln die in den vierziger Jahren [des 19. Jh.s entstandenen] Lithographien von Shotter Boys. Sie geben einen Eindruck von der stattlichen Breite, und es wird klar, wie unwichtig die Häuser selbst mit dem belanglosen Effekt der Vor- und Rücksprünge waren. All die königliche Pracht, mit der ‚Regent Street‘ und ‚Regent’s Park‘ (wie auch ihr Name impliziert) nach den früheren Plänen hätten ausgestattet werden sollen, wurde niemals vollständig entfaltet. Bereits 1827 wurde Carlton House abgerissen und die großzügige Treppenflucht hinunter zum St. James’s Park erbaut. Anstatt der königlichen Gärten wurden die langen gelben Clubhäuser von Nash errichtet, ebenfalls mit Ölfarbe gestrichenen Stuckfassaden. Auch das Landhaus, welches der König im Regent’s Park vorgesehen hatte, blieb unausgeführt. Nash erarbeitete im Abstand mehrerer Jahre eine ganze Reihe von Plänen für den Park. Sie zeigen, wie alle großzügigen Ideen Schritt für Schritt geläufigen Lösungen wichen. Zwischen Piccadilly und Oxford Street wurde die Regent Street selbst zu einer gänzlich kommerziellen Straße und war nun, eben nach Piccadilly und Oxford Street, eine der ansehnlichsten Einkaufsstraßen Londons. Im Laufe des Jahrhunderts änderte sich der Charakter der Häuser. Nach und nach wurden die früheren Wohngeschosse über den Läden zu Geschäftsräumen und Büros. Die mit Ölfarbe gestrichenen Vorderseiten des Quadranten machten in den Neunzigern [des 19. Jh.s] immer noch einen modernen Eindruck. Der Verkehr, bestehend aus Kutschen und Bussen, war enorm, und die Straße, die nachts mit Gaslampen beleuchtet wurde, deren Licht sich in den glänzenden Oberflächen des Asphalts und der Schaufenster spiegelte, schien damals das Prachtvollste zu sein, was eine Großstadt zu bieten hatte. 255

Die Regent Street

Doch schon zu jener Zeit ließ diese Eleganz von Nashs Straßenplanung nach. Im 19. Jahrhundert ließ London, wie auch Paris, breite neue Straßen anlegen (obwohl die wichtigste Neuerung im Verkehrswesen beim ober- und unterirdischen Schienenverkehr zu finden war). Unter ihnen war auch die Shaftesbury Avenue, die 1886, von Nordwesten kommend, in einer Diagonalen zum Piccadilly Circus angelegt wurde. Der Circus hatte ursprünglich einheitliche Gebäude an allen vier Ecken und bildete jene konkave Form, welche mit dem Abriß eines der Häuser brutal zerstört wurde. Das Ergebnis war eine dieser formlosen Mißgeburten, die entstehen, wenn zufällig viele Straßen aufeinandertreffen. Auf der Ostseite erinnern ein Dreieck und auf der Westseite trostlose Überbleibsel an die ursprüngliche Bebauung. Das County Fire Office, einst die bestimmende Figur, stand vor der scharfen Kurve zu Beginn des Quadranten wie der Teil eines Bühnenbildes auf der Suche nach Gesellschaft. Um dieses Durcheinander zu ordnen, genau genommen, um es zu überhöhen, wurde in der Mitte eine achteckige Anlage mit einem auf einem Bein stehenden Eros errichtet. Diese Arbeit von Alfred Gilbert (1890) ist noch immer die beliebteste und am meisten bewunderte Skulptur in London. Der nächste ernsthafte Eingriff in die Harmonie des Ensembles war der Umbau des Piccadilly Hotel. Bis dahin war dessen Straßenfront ein Bestandteil der Fassade der gleichförmigen Häuser gewesen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befanden es die Besitzer jedoch für zu klein und altmodisch und wünschten ein neues und moderneres Haus. In einer Straße, in der alle Gebäude strikten Regeln unterlagen, war das keine einfache Aufgabe. Es begann damit, daß Nash als Zensor für die Gesamtplanung praktisch der Architekt der meisten Häuser war. Nachdem sie (auf Grund und Boden, der für 80 Jahre von der Krone gepachtet worden war) errichtet waren, konnten keine Änderungen ohne Einwilligung der eigentlichen Besitzer vorgenommen werden. Es gab Klauseln in den Verträgen, welche vorschrieben, daß die Fassaden in gutem Zustand zu erhalten seien, um einen ansprechenden Eindruck zu garantieren. Alle vier Jahre mußten sie neu gestrichen und in der Zwischenzeit mindestens einmal im Jahr vollständig gereinigt werden. Die Krone hatte einen speziellen Berater, der als Nashs Nachfolger und Zensor für alle die Regent Street betreffenden Angelegenheiten handelte. Als die Frage bezüglich des Piccadilly Hotel aufkam, gab es keinen Zweifel, welcher Kurs eingeschlagen werden sollte. Man hatte nicht vor, Nashs Fassaden für immer und ewig zu bewahren. Schließlich gab die 256

Der Quadrant

Regent Street: Der Quadrant im Mondlicht, Gemälde vom Ende des 19. Jahrhunderts, London Museum

Regent Street: Der Quadrant, um 1900

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Die Regent Street

Der Quadrant 1907, rechts das Piccadilly Hotel von Norman Shaw

Krone ihre Zustimmung zum Bau eines neuen und größeren, von einem der ersten Architekten des Landes entworfenen Gebäudes. Die Wahl fiel mit Norman Shaw auf einen Mann, der kein Auge für die guten Seiten des Quadranten hatte. Er entwarf eine Fassade gegen sämtliche Traditionen der Regent Street, und da das Wort ‚Stuckfassade‘ zu jener Zeit fast schon als Schimpfwort galt, hatte er kaum Schwierigkeiten, seine Ideen durchzusetzen. An seinem Hotel sollte es keinen Stuck geben. Es wurde in sehr grob behauenem Stein errichtet. Statt der horizontalen Linien, die zuvor die Kurve der Straße akzentuiert hatten, gab es nun nichts anderes als enorme Säulen, die mit einer bis in den zweiten Stock reichenden Rustika verunstaltet wurden. Es bestand ganz aus Portland-Stein, der mit der Zeit schwarz wurde, da er geschützt unter den schweren Gesimsen und hinter den mächtigen Pfeilern lag. Das Gebäude war in allen Details zu groß und zu schwer, erdrückend für die Umgebung. Nach der Fertigstellung wurde das neue Piccadilly Hotel zum Standard für die gesamte Straße. Es war nicht nur unmöglich, Gebäude gleicher Höhe auf den anderen Grundstücken zu verbieten, sondern, um gewissermaßen ein einheitliches Bild der Regent Street zu bewahren, sogar notwendig, die neue Trauflinie fortzusetzen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wuchsen die Gebäude in die Höhe 258

Rustikal statt urban

John Murray, Entwurf für einen neuen Quadrant, 1910

und wurden den letzten Vorschriften gemäß in Portland-Stein ausgeführt. Sie versuchten sich gegenseitig durch eine verwirrende Fülle an Details zu übertreffen, die die Sinne ebenso abstumpfen wie eine lärmende Fülle von Geräuschen. Die größten Schwierigkeiten bereitete der Quadrant, da bis dahin niemand gewagt hatte, ihn von den alten Vorschriften zu befreien. Im Jahre 1920 schlug John Murray, der fünfte Berater der Krone nach Nash, ein Projekt für die Neuordnung des Piccadilly Circus und des Quadranten vor. Norman Shaws bombastische Säulen sollten wie eine Tapete vor all die vorhandenen Fassaden des Quadrant gekleistert und über den neuen Platz fortgeführt werden. Während des letzten Jahrhunderts war der kleine Reim, Care colonne, che state qua? – Non sappiamo, in verità in London ganz in Vergessenheit geraten. Shaw warb mit dem Vorschlag, den Platz als Denkmal für den soeben verstorbenen Edward VII. anzulegen, für die Durchführung seines Plans. Der Platz sollte nicht länger ein Circus sein, sondern King Edward’s Square mit einem gewaltigen Denkmal für den geliebten König werden. Dabei verschob sich nach den Planungen die Achse so, daß nun die Lower Regent Street seitlich auf den neuen Platz stieß. Die Mieter des Quadranten kämpften allerdings mit aller Macht gegen die protzigen Straßenfronten. Sie wollten ihre großen Schaufenster 259

Die Regent Street

Die Lower Regent Street, der Quadrant, die Upper Regent Street (Foto Aerofilms Ltd.)

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Die neue Regent Street

Das Neue County Fire Office, gesehen von der Lower Regent Street, 1927, am linken Bildrand Anschnitt von John Nashs Piccadilly Circus, 1930, abgerissen

nicht zu in Rustika eingebetteten Renaissancetoren verkommen sehen und waren noch weniger über die riesigen Säulen erfreut, die die Nutzbarkeit der Gebäude beein­ trächtigten, den Innenraum verdunkelten und zugleich mehr Geld kosteten. 1912 starb Norman Shaw. Was sollte nun geschehen? Es wurde beschlossen, daß nicht weniger als drei sehr bekannte Architekten – Sir Reginald Blomfield, Sir Aston Webb und Ernest Newton – die Bürde der Verantwortung für einen Entwurf neuer Fassaden auf sich nehmen sollten. Nach ihrem Plan wurden die Fassaden des Quadranten umgebaut, erheblich einfacher als die des Piccadilly Hotel, aber mit jenen horizontal 261

Die Regent Street

durchlaufenden Linien. Die prominentesten Fronten am Piccadilly Circus wurden indessen in einer Art französischem Renaissance-Stil mit Stuck und Ornamenten aufwendig geschmückt. Die Dächer hatten seltsame, zuvor nie gesehene Formen und entbehren noch immer jeglichen Ziels oder Anspruchs! Die ausgefeilte ‚städtische‘ Architektur des 19. Jahrhunderts ist dem rustikalisierten Stil des 20. Jahrhunderts gewichen. Dieser ist nun auf der gesamten Regent Street von Waterloo Place bis Portland Place anzutreffen. John Nashs Straße läßt sich am besten als erfolgloser Versuch beschreiben, eine moderne Einkaufsstraße zu gestalten. Sein Fehler, jeden Block durch eine eigene Achse zu definieren und diese nicht zu einer fortlaufenden Reihe zu verbinden, ist heute vergrößert, gar verschlimmert worden. Die Schönheit der eleganten, mit Ölfarbe gestrichenen Straßenfronten mit ihren glänzenden Fenstern wurde beim Umbau nicht mehr geschätzt. All das Einfache und Elegante ist verschwunden; die Regent Street ist nur noch eine gewöhnliche Straße in diesem überaus schwülstigen internationalen Stil, den die Chinesen für den wahren Ausdruck europäischer Kultur halten. Bibliographie Zur Eröffnung der neuen Regent Street im Jahre 1927 veröffentlichte die Architectural Review eine umfangreiche Sonderausgabe mit Illustrationen und Artikeln über diese Straße, S.202-239. Siehe auch einen Artikel in Städtebau, 1927, S. 147-162, von Steen Eiler Rasmussen, Regent Street, in dem es einige Illustrationen gibt, die hier nicht abgebildet sind. Die Grundrisse und Ansichten von John Nash entstammen dem Kapitel XIII aus John Summerson: Georgian London.

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12 Das Londoner Haus

Sein Leben ist durch ungeschriebene Gesetze bestimmt. Wer vom europäischen Festland [„the Continent“] kommt, wird mit Erstaunen feststellen, wie fest gefügt die Umgangsformen des täglichen Lebens sind. Der Engländer scheint selbstsicher, weil er genau weiß, wie er sich in jeder Situation zu verhalten hat. Es scheint paradox, daß dieses Volk, das sich so stark der Konvention hingibt, Verfechter der individuellen Freiheit ist und sich früher so entschieden gegen die französische Kultur wehrte. Darin liegt jedoch kein Widerspruch, denn für den Engländer sind die vielen ungeschriebenen Gesetze des sozialen Umgangs keine Einschränkung, sondern Erleichterung. Nur indem er sich wie alle anderen verhält, kann er ungestört leben; er kann dem entkommen, was er am meisten fürchtet: der Offenbarung seiner Emotionen. Die Regelung des gesellschaftlichen Miteinanders kennzeichnet alle äußeren Dinge: Kleidung, Gebäude, Straßen etc. Der Engländer ist gern gut gekleidet, was für ihn bedeutet, daß er immer eine eigens auf den Anlaß zugeschnittene Kleidung trägt. Ob etwas neu oder alt aussieht, bedeutet ihm wenig. Viele wohlhabende Engländer scheinen sogar eine ausgeprägte Scheu vor allem Funkelnagelneuen zu haben. Was sie anstreben, ist das Echte und das Dauerhafte. Ein Engländer mit ländlichem Geschmack würde eher einen abgewetzten Ledersattel bevorzugen, den er sein ganzes Leben benutzt hat, als einen gestern erworbenen, vollkommen neu erscheinenden. Es ist typisch, daß es für jede der vielen englischen Sportarten eine spezielle Kleidung gibt und nur diese als akzeptabel gilt. (Als Däne ist man erstaunt, keine ähnliche Spezialisierung bei der Arbeitsbekleidung zu finden. Die Maurer in London arbeiten in abgetragenen Anzügen und alten Lackschuhen. Sie sind im allgemeinen nicht annährend so praktisch gekleidet wie die Sportler.) Der englische Lebensstil ist zwar sehr konventionell, in vieler Hinsicht jedoch weniger zeremoniell als beispielsweise der dänische oder der deutsche. Die meisten etablierten Formen sind rein praktischer Natur. Sie dienen dazu, das Leben des einzelnen im Umgang mit anderen einfacher zu gestalten. 263

Das Londoner Haus

In der Architektur des Wohnhauses finden wir genau dieselbe extreme Aus­ prägung wieder, welche für die Bekleidung charakteristisch ist. Als erstes gibt es die Differenzierung in Viertel, die ihren Ursprung im frühen London hat, als die Stadt aus einer Ansammlung kleiner Orte entstand. Ähnliches kommt in allen Groß­ städten vor, doch gibt es kaum eine Stadt, deren lokale Eigenheiten so ausgeprägt sind. Manchmal bedeutet nur das Überqueren einer Straße, die ein Viertel von einem anderen trennt, in eine ganz andere Welt einzutauchen. Die Straße ist die Grenze zwischen zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei Lebensstandards. Jemand, der London gut kennt, kann eine Person einordnen, sobald er erfährt, in welchem Stadtteil sie lebt; eine Tatsache, auf die viele Autoren anspielen. Der erste Akt von Bernard Shaws Pygmalion ist beim Londoner Publikum immer wieder dann ein Schlager, wenn Professor Higgins phonetisch klarstellt, in welchem Viertel die Personen leben: Lisson Grove, Hoxton, Earl’s Court und so weiter. Die Tatsache, daß die Einwohner entsprechend ihrer Klasse und ihrem Einkommen auf Viertel verteilt sind, hat auch die Standardisierung der Wohnhäuser ermöglicht: Wenn Leute, die in derselben Straße wohnen, auch dieselben Ansprüche haben, dann können alle Gebäude absolut einheitlich sein. Die Einheitlichkeit der Gebäude ist eine Selbstverständlichkeit und niemandem aufgezwungen. Innerhalb eines Viertels wiederum liegt eine deutliche Prägung der Gebäude vor. Hier unterscheidet sich London ungemein von Städten des Kontinents. Die Engländer wollen Wohnen und Gewerbe nicht im selben Gebäude, ja nicht einmal in derselben Straße haben. Ursprünglich war es in London üblich, Laden, Werkstatt und Wohnräume, wie dies auch für andere Städte typisch ist, unter einem Dach zu vereinen. Doch führte der Wandel im Handel schon Ende des 16. Jahrhunderts zu einer partiellen Trennung. Diese Entwicklung setzte sich in den darauffolgenden Jahrhunderten fort, und schon bald wurde es als ‚ganz normal‘ angesehen, in einem Haus mit einem Laden im Erdgeschoß zu leben. Die vielen Bauunternehmungen [im Wohnbau] des 18. Jahrhunderts umfaßten ausschließlich reine Wohngebäude, was London mit seiner zahlreichen und wohlhabenden Oberschicht außerordentlich entsprach. Es gab ganze Viertel, die von pensionierten Gentlemen bewohnt wurden, von englischen Kaufleuten, die ein Vermögen in den Kolonien gemacht hatten und, ähnlich den Hanseaten, die auch wieder nach Lübeck kamen, nach London zurückkehrten. Das soziale Ideal war, mit ausreichend gespartem Geld ein angenehmes 264

Ein Haus der gehobenen Schicht

Leben in London – bevorzugt während der wenigen Monate der ‚Season‘ [der Saison der gesellschaftlichen Veranstaltungen, Frühling bis Frühsommer] – führen zu können, ohne so etwas Gewöhnlichem wie beispielsweise Geld zu verdienen nachgehen zu müssen. In London gibt es tausende von Familienoberhäuptern ohne richtigen Beruf. Einem Fremden erscheinen diese reichen Müßiggänger, die nicht zu Hypochondern werden, einigermaßen merkwürdig. Aber der Müßiggang ist dermaßen gründlich durchorganisiert, daß ein Mann, um allen Regeln der Konvention zu entsprechen, von morgens bis abends nach einem festgelegten Programm beschäftigt ist. In diesen Häusern ist die Lebenskunst hoch entwickelt. Gesunder Sport wechselt mit intellektuellen Beschäftigungen und formloser Geselligkeit in einer so charmanten Mischung, daß die Menschen weder Gelegenheit haben, sich zu langweilen noch Speck anzusetzen. In der englischen Kultur ist der Müßiggang der Ursprung alles Guten. Das Haus an sich ist eine kleine Gemeinschaft und nicht weniger markant als die Stadt, in der es sich befindet. Jedes Mitglied dieser Gemeinschaft definiert seinen eigenen Ort, und wenn es sich dort aufhält, kann es nach Lust und Laune leben, ohne daß es etwas mit den Angelegenheiten der anderen zu schaffen haben muß. Die Ausdifferenzierung des Stadthauses in verschiedene Bereiche hat sich in den letzten Jahrhunderten besonders weit entwickelt. Wenn ein moderner Engländer die typischen Londoner Häuser des 18. Jahrhunderts betrachtet, wundert er sich, wie man in ihnen leben konnte. Damals war ein Haus, viel mehr als heute, für repräsentative Zwecke gedacht. Es war die Zeit der förmlichen Feste, wie sie in Sheridans Komödien beschrieben sind. Als besonders wichtig galten die Empfangsräume; sie befanden sich im Erdgeschoß und im ersten Obergeschoß. Der straßenseitige Salon war durch eine weite Mahagonitür mit dem auf der Gartenseite liegenden Salon verbunden. Im Vergleich zu diesen stattlichen Räumlichkeiten waren die eher privaten Räume ziemlich knapp – wie die vielen Bediensteten untergebracht wurden, ist immer noch ein großes Wunder. Ein Badezimmer gab es im Haus eines Gentleman zu jener Zeit nicht. Sich oft zu waschen galt als gefährlich. Während des Rokokos entsprach das Leben in England im großen und ganzen dem in anderen zivilisierten Ländern. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte das englische Haus jedoch eine eigene Note, und bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt stiegen die Ansprüche an den Wohnkomfort zusehends. Alte, elegante Wohnsitze erhielten zum Hof kleine Flügel mit Toilettenräumen, und selbst die bescheidensten unter den neuen Häusern stattete 265

Das Londoner Haus

man regulär mit Bädern aus. Ein angenehmes Leben im Alltag wurde von den Leuten mehr geschätzt als die Zurschaustellung ihres Wohlstandes. Die Domizile der Reichen bestehen nun nicht mehr aus einer Abfolge von Salons, sondern aus einer Reihe separater Räume. Jeder dieser Räume erfährt seine individuelle Nutzung, geradeso wie der Eigentümer nicht länger die Rolle eines Grand-Seigneur in seinen vielen extravaganten Anzügen spielt, aber dennoch eine umfangreiche Garderobe mit schlichten Anzügen für jeglichen denkbaren Anlaß besitzt. In einem hoch angesehenen Haus gibt es nunmehr eine bestimmte Anzahl von Schlafräumen und etliche Gästezimmer. Die Kinder haben ihren eigenen Salon, ihr Spielzimmer. Es gibt einen Frühstücksraum und ein Speisezimmer, eine Bibliothek und einen Billardraum, einen Salon für die Dame des Hauses, in dem Rauchen nicht gestattet ist und in den sich die Damen zurückziehen, wenn die Herren bei Wein und Walnüssen sitzen; es gibt das Wohnzimmer des Hausherrn und so weiter. Betrachten wir die Einheiten, aus denen das Haus besteht, so können wir feststellen, daß sie bestimmten Kategorien unterliegen. Die kleine Gemeinschaft besteht aus drei verschiedenen Welten, oder anders gesagt, aus drei verschiedenen Klassen: der Herr und die Dame, die Kinder und die Bediensteten. Jede Klasse besitzt ihre eigenen Räumlichkeiten sowie ihre individuellen Beschäftigungen. Die Kinder bewohnen in der Regel ein eigenes Geschoß, und so lange sie noch klein sind, haben sie eine Gouvernante und vielleicht ein oder zwei Hausmädchen, die sie bedienen. Sie führen ihr Leben bemerkenswert unabhängig von ihren Eltern. Die Jungen werden in den meisten Fällen auf ein Internat, später vielleicht zur Universität geschickt. Zuhause sind die Räume der Kinder eine private Domäne, von der sich die Eltern oft fernhalten. Auf ähnliche Art und Weise haben die Bediensteten ihren Bereich. In einem guten Haus existiert für sie sogar ein besonderes Speisezimmer. Mitunter gibt es zwei Klassen von Bediensteten: die gehobenen Diener (Butler und Hausverwalter) und deren Untergeordnete. (Niemand würde davon träumen, daß sie die Mahlzeiten gemeinsam einnehmen. Wenn Butler und Verwalter in ihrem Speisezimmer sitzen, werden sie von den anderen Angestellten bedient – so wie sie die Dame und den Herrn des Hauses bedienen.) Darüber hinaus könnte es noch eine Garage und Zimmer für den Chauffeur und seine Familie geben (entsprechend den früheren Kutschhäusern und Stallungen); nicht zu vergessen ein Gärtnerhaus bei großen Landhäusern. Das ist eine knappe Beschreibung eines sehr einladenden Londoner Hauses, weder utopisch noch außergewöhnlich. Man trifft es in erstaunlich vielen Fällen an. 266

Ein großes viktorianisches Haus

J. T. Wimperis, Grundrisse eines Hauses am Grosvenor Square, 1886 A Salons, B Speisezimmer, C Bibliothek, D Boudoirs, E Schlafräume, F Kinderspielzimmer, G Kinder­schlaf­zimmer, H Badezimmer, K Toiletten, L Küche, M Vorratskammer, N Eingang/Vordach, O Wohn­­zimmer, P Stube desHaus­mädchens, Q Stube des Chefkochs, R Spülküche, S Stube des Kochs, T Speisekammer, U Abstellkammern, V Aufen­thaltsraum der Bediensteten, W Stube des Kammer­ dieners, X Stuben des Butlers und des untergebenen Butlers, Y Geschirrkammer, Z Weinkeller, AA Stuben der Dienerschaft, BB Stube des Verwalters, CC Ruheraum, DD Ankleidezimmer, EE Schul­zimmer, FF Stube der Gouvernante, GG Sattel­kammer, HH Remise, II Ställe, KK Werkstatt, LL Lord Aberdeens Salon, MM Vorzimmer, NN Empfangs­halle, OO Stube des Kutschers, PP Küche des Kutschers, RR, SS Großer Saal, YY Heizraum, ZZ Beleuchtungskammer

267

Das Londoner Haus

Bei einer Sitzung des Royal Institute of British Architects hielt Professor [Robert] Kerr im Jahre 1894 einen Vortrag über städtische Wohnbauten. Aus Gründen der Anschaulichkeit erwähnte er die Anforderungen, die allgemein an ein – wie er sagte – gutes Haus in einem Londoner Viertel von hohem Ansehen gestellt würden. Und diese Anforderungen waren nicht zu unterschätzen. Es sollte fünfgeschossig sein, und Kerr beschrieb, was jedes Stockwerk enthalten sollte. Eine seiner Illustrationen zeigte das [hier abgebildete] Haus am Grosvenor Square. Es wurde 1886 erbaut und besitzt neben seinen fünf Stockwerken ein Kellergeschoß, das die gesamte Grund­stücks­ fläche beansprucht. Das Haus hat fast zwanzig Schlafzimmer. Die neuen Ansprüche der viktorianischen Zeit spiegeln sich nicht nur in der großen Anzahl, sondern auch in der Abtrennung der einzelnen Räume. Die Engländer empfinden es als äußerst unangenehm, wenn ein Raum mehr als eine Tür hat. Mit Grund: Jeder Raum steht für eine bestimmte Nutzung. Die Engländer brauchen keine Zimmerflucht. Selbstverständlich hatte nur ein kleiner Teil der Londoner Häuser so viele Räume, wie für ein ideales Heim als nötig betrachtet wurden. Die großen Häuser wurden jedoch zum Vorbild für die kleineren. Für beide gelten dieselben Idealvorstellungen: viele separate Räume unterschiedlicher Bestimmung ihrem Nutzen entsprechend in Gruppen zu vereinen. In Deutschland und Dänemark wünschen sich die Menschen so viele Wohnzimmer wie nur möglich, in England hingegen sind die Schlafzimmer von höchster Priorität. In einem jüngsten Bericht im Evening Standard beschrieb ein Journalist die befremdliche Lebensweise in den Randbezirken von Kopenhagen. Er hob besonders die Ordnung und die Sauberkeit der Häuser hervor, erwähnte aber auch den ihm merkwürdig erscheinenden Umstand, daß eine Vierzimmer­wohnung in Kopenhagen nur ein Schlafzimmer hat, und daß es zwischen dem Raucher­zimmer, dem Salon und dem Speisezimmer Türen gibt. Es ist besonders einfach, die Räume im englischen Stadthaus voneinander abzugrenzen, da die Gebäude generell so schmal wie nur irgend möglich sind und die Räume dadurch auf verschiedenen Ebenen liegen. Das allgemein weitverbreitete kleine Haus, von dem Abertausende gebaut worden sind, ist nur 16 Fuß breit. Wahrscheinlich war das die gängige Grundstücksgröße seit dem Mittelalter. Jedenfalls gibt es im Soane Museum ein Buch, etwa um 1600 erschienen, mit Originalzeichnungen von John Thorpe, in dem wir den Grundriß eines Hauses finden, „welches so breit wie drei gewöhnliche Häuser ist“; seine Front ist 51 Fuß breit: Demnach muß die Breite eines gewöhnlichen Hauses 17 Fuß betragen haben. Es ist 268

Der ‚Vorbereich‘

Stufen zum ‚Vorbereich‘ [Keller], Bedford Square

Geländer um einen ‚Vorbereich‘, Bedford Square

jedoch sehr schwierig, Informationen darüber zu erhalten, wie das typische Haus damals gebaut wurde. Englische Architektur­historiker haben eher über die opulenten Bauten geschrieben und wenig Aufschluß über ganz gewöhnliche Häuser gegeben. Die Gestalt des schmalen Stadthauses birgt diverse Schwierigkeiten. Es ist beispielsweise nicht ohne weiteres möglich, sowohl die Küche als auch den Haupteingang von derselben Front zu erschließen, wenn beide Zugänge voneinander getrennt werden müssen. Um dieses Problem zu lösen, gab es vor dem Haus Treppen, die zum Eingang der Küche (welche sich in den schmalen Gebäuden im Keller befinden muß) hinunterführten, und zugleich weitere Stufen, die zum Haupteingang hinaufführten. Diese beiden Treppen wurden anfangs vermutlich in einer Art Vorgarten angeordnet, wie man ihn noch immer in den Vorstädten entdeckt. Später wurde dieser Teil bewußt gestaltet und erhielt einen wesentlich urbaneren Charakter. Will man die typische Londoner Atmosphäre in einem Bild wiedergeben, könnte man kaum ein besseres Motiv finden als die Nahaufnahme des Eingangsbereichs, den man vor hunderten und 269

Das Londoner Haus

aberhunderten von Häusern findet. Wir sehen die Stufen, die zum Erdgeschoß führen, jene leichten Stufen, die von jeder Familie mit Stolz so sauber und weiß wie möglich gehalten werden. Jeden Samstag werden sie mit Bimsstein und Kalk gescheuert, bis sie vollkommen ausgehöhlt sind. Um den Bereich vor dem Keller­eingang, wo sich auch die Treppe zur Küche hinunter befindet, ist in der Regel ein spitzes Metallgeländer angebracht. Dahinter wird die von Kohlestaub und Farbe ziemlich geschwärzte alte Ziegelwand sichtbar. Und trotzdem sieht alles gepflegt und elegant aus, da der tuck point [siehe S.270] bei der letzten Reparatur erneuert worden ist. Es gibt Schiebefenster, die vier Zoll von der Fassade zurückgesetzt und von einer schmalen, verputzten und mit Ölfarbe gestrichenen Fensterlaibung gerahmt sind. Unter dem Gehweg befinden sich Gewölbe für Kohle und Abfall. Durch kleine runde Öffnungen kann die Kohle in die Gewölbe geschüttet werden, so daß der Kohlestaub nicht ins Haus getragen wird (siehe S.169). Der Keller wird für alles Mögliche genutzt. Dort befinden sich die Küche, Räume für die Bediensteten, der Weinkeller und Abstellräume. Bei großen Häusern ist oft der gesamte Innenhof unterkellert. Der kleinste Haustyp dagegen hat gar keinen Keller und nur zwei Stockwerke. Kleinere Häuser aus der Zeit um 1820, wie die schon beschriebenen in Camden Town (siehe S. 206), hatten manchmal sogar vier Stockwerke, das Kellergeschoß eingeschlossen, wobei es auf jeder Etage nur zwei Zimmer gab. Als zu viktorianischen Zeiten eine Toilette vonnöten wurde und man einen bequemeren Zugang zur Küche wünschte, entstand ein neuer Haustyp: Ein sehr schmales Seiten­gebäude wurde hinzugefügt, das einen Teil des Innenhofs beanspruchte, so daß jede der zwei Etagen nunmehr über drei und „einen halben“ Raum verfügte. Von den Eisenbahnlinien aus, welche die Vororte zerschneiden, sehen wir unendliche Reihen dieser dunklen kleinen Häuser, alle mit ihren kleinen Küchenanbauten. Es ist der kompakteste, für ein Reihenhaus vorstellbare Typ. Das Licht in den Räumen zum Hof ist spärlich, obwohl das ganze Haus verhältnismäßig niedrig ist. Auch in Bezug auf die Fassade unterscheidet sich dieser Gebäudetyp vom Ende des 19. Jahrhunderts von dem zu Beginn des Jahrhunderts. Um die schmalen Grundstücke auszunutzen, hat jedes dieser kleinen Häuser einen Erker. Das Ziegel­ mauerwerk ist mit ornamentalen Beton­details, Säulen, Stürzen und anderem Plunder verziert. Dieses typische, für die einfachen Leute gebaute Haus besitzt im Erdgeschoß zwei Wohnräume sowie eine Küche und im Obergeschoß drei Schlafräume und ein Bad; der Standard eines durchschnittlichen Londoner Hauses. 270

Ein gewöhnliches Haus

Der häufigste Typ des Londoner Hauses

Der häufigste Typ des Londoner Hauses, Grundriß

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Das Londoner Haus

Obwohl dies der gängigste Haustyp ist, wäre es falsch zu schlußfolgern, alle Klassen wären gut untergebracht. Der Nachteil dieses verhältnismäßig hohen Niveaus des durchschnittlichen Hauses ist, daß private Initiativen im Wohnbau zu wenig Interesse für arme Leute zeigen. Die Bauspekulanten in London sind ständig damit beschäftigt, neue Gebiete mit den oben beschriebenen Einfamilienhäusern zu bebauen, die sich einfach verkaufen lassen. Nur in Ausnahmefällen werden – nach der Mode auf dem Kontinent – Versuche gestartet, höchstmöglichen Gewinn aus Grund und Boden herauszuschlagen und die Menschen in Wohnungen zusammen­ zupferchen. Praktisch bedeutet das: Es werden keine Häuser für diejenigen gebaut, die sich kein ganzes Haus leisten können. Diese Leute bewohnen dann alte, renovierungs­ bedürftige Häuser, die sich nicht entsprechend ihrem ursprünglichen Zweck nutzen lassen. Ganze Viertel einheitlicher Häuser könnten im Verlauf von etwa 50 Jahren so entwertet werden, daß die gesamte soziale Klasse, für die sie ursprünglich gebaut worden waren, die Häuser verläßt. Die Leute ziehen dann in Gebiete, wo sie neue – und wahrscheinlich moderne Häuser – desselben altbekannten Typs erwarten. In den alten Vierteln bröckelt allmählich die Sozialstruktur. Einfamilienhäuser, die nicht länger als solche vermietet werden können, werden in kleine Wohnungen aufgeteilt: ‚flatlets‘ und ‚maisonettes‘. Diese sind bei weitem nicht so zweckmäßig, als wären die Gebäude von Anfang an für mehrere Wohnungen konzipiert worden. Auf einer noch niedrigeren Stufe wird das Haus als Spekulationsobjekt an Untermieter vermietet, um in jedem der kleinen Räume eine ganze Familie unterzubringen. Für den Eigentümer ist dies keineswegs unprofitabel. Je mehr Menschen im Haus leben, desto mehr Miete kann er aus ihnen herauspressen. Die Ärmsten, welche die kleinsten Räume und den Keller bewohnen, zahlen im Verhältnis stets den größten Anteil. Sie könnten niemals eine noch kleinere Unterkunft als die gegenwärtige finden und müssen deshalb horrende Preise zahlen. Wenn ein ursprünglich gutes Wohnquartier in London zu einem Slum verkommt, dann ist es fast so elend wie die Armenviertel der Städte auf dem Kontinent. Es wirkt sogar noch schäbiger, weil es so schmutzig ist. Die starke Nutzung des Kellers ist hier besonders von Nachteil, weil viele Familien ihren einzigen Raum in jenen Küchen und Büros haben, die ursprünglich als Teil eines mehrstöckigen Hauses geplant worden sind. Andererseits sollte man auch nicht übersehen, daß ein Londoner Keller gewiß nicht weniger Licht erhält als die Räume im Parterre eines Berliner Hinterhofes. 272

Typische Wohnverhältnisse

Typische Londoner Häuser (Foto Aerofilms Ltd.)

Während der letzten Jahrzehnte wurden die alten Bezirke größtenteils verlassen, die Menschen sind immer weiter vom Stadtzentrum weggezogen. Das hat viele Gründe. Mit den heutigen Ansprüchen an die Bequemlichkeit ist es schwierig geworden, in einem altmodischen Londoner Haus mit der Küche im Keller zu wohnen. In den Tageszeitungen können wir unter den Leserbriefen immer wieder Anfragen ängstlicher Hausfrauen entdecken, wie sie ihre Bediensteten zum Bleiben bewegen könnten. Als Begründung geben sie an, sie lebten in einem altmodischen Londoner Haus – und erhalten ausnahmslos zur Antwort, sie mögen doch versuchen, die Zimmer der 273

Das Londoner Haus

Bediensteten gemütlicher zu gestalten, Küche und Angestelltenzimmer im Keller aufgeben und diese statt dessen in den oberen Etagen in einem in heiteren Farben gestrichenen Raum unterbringen. Heute wollen die Menschen nicht mehr in Reihenhäusern leben, sondern bevorzugen ein cottage [eigentlich Kate, Haus auf dem Land], das von einem eigenen Garten umgeben sein muß. Ein Tudor-Haus mit alten Eichenbalken, das aussieht, als habe man es von den Ururgroßeltern geerbt, verkauft sich besonders gut. Anfangs versuchten die Architekten, einen romantischen Typ des Reihenhauses zu entwerfen. Der Architekt Sir Aston Webb, dessen Vortrag bereits erwähnt wurde, beteiligte sich mit seinem sachkundigen Wissen an der Diskussion. Seiner Meinung nach sei die großartigste Sache bei einem öffentlichen Gebäude die, daß es die Menschen ohne Schwierigkeiten betreten und den Weg zu den wichtigen Einrichtungen finden könnten. Es sollte nicht vieler Erklärungen bedürfen, damit sie über breite und unkompliziert geführte Flure einfach ans Ziel kommen. Wenn man dagegen ein privates Haus betrete, sollte es eine gewisse Unbestimmtheit geben, ein kleines Geheimnis darüber, wo sich das Speisezimmer, der Salon und die anderen Räume befinden. Im ganzen verraten diese Äußerungen eine für den Architekten interessante Aufgabe: dem Inneren des Hauses irgendein Geheimnis zu geben oder einen gewissen Widerspruch. Webb und seine Zeitgenossen erreichten mit ganz wenigen Mitteln ein gewaltiges Durcheinander im ursprünglich so einfachen Londoner Haus, indem sie die Räume auf vielen verschiedenen Ebenen anordneten und, anstatt eines durchgehenden Treppen­hauses, eine Vielzahl an Treppen in verschiedenen Teilen des Hauses vorsahen. Doch war dieses individuelle Haus nur ein Übergang. Als man den Stempel der industriellen Fertigung vermeiden wollte, mußte das Ergebnis zwangsläufig ein frei stehendes Gebäude mit auffallender Silhouette sein. Dieser Typ triumphierte – und wurde um das Jahr 1900 weltweit als das typisch englische Haus angesehen. Je größer es war, um so eigenwilliger konnte es gestaltet sein, denn bei kleineren Häusern hatte man ja nicht so viel Spielraum. Unregelmäßigkeiten ließen sich nur durch Erker, Fachwerkgiebel im Tudorstil und andere billige Verzierungen erreichen. Die primären Elemente blieben jedoch dieselben: im Erdgeschoß die Küche und ein oder zwei kleine Wohnzimmer, im ersten Stockwerk zwei oder drei Schlafräume und ein Bad. Hunderte dieser Wohnhäuser wurden mit verwechselbarer Ähnlichkeit als Doppelhäuser gebaut. Sie stehen eines dicht neben dem anderen, sollen aber keinesfalls den 274

Kleine romantische Häuser

Charakteristische Anzeige aus einer englischen Tageszeitung

Anschein urbaner städtischer Häuser erwecken. Jedes einzelne gibt vor, ein kleines Landhaus im elisabethanischen oder Queen-Anne-Stil zu sein. Allgemein sind die Häuser in London weniger solide als in vielen Städten auf dem Kontinent gebaut. So fordern die Engländer aufgrund ihres Cottage-Ideals, nicht die gleiche Wandstärke wie beispielsweise die Dänen. Für den Engländer ist es in erster Linie wichtig, ein Haus sein eigen zu nennen, und zweitens sollte es eines mit so vielen Räumen und so viel Platz wie möglich sein. Für einen Dänen bedeutet es hingegen mehr, ein stattlich wirkendes Haus zu besitzen, ein „Haus aus Stein“, wie es die Werbung propagiert. Es muß eine gute Hypothek darstellen. In London wird eine neun Zoll dicke Wand als angemessen betrachtet, in Kopenhagen dagegen ist eine derartige Konstruktion für Wohngebäude nicht zugelassen. Das, verglichen mit dem dänischen, vergleichsweise milde englische Klima ist wohl nicht der Hauptgrund für diesen Unterschied. Wesentlich ist, daß sich der Londoner weniger für die Temperatur der Räume, sondern mehr für deren Belüftung interessiert. Den Bauvorschriften entsprechend muß jedes Zimmer einen Abzug haben; ein Kamin wird für die Beheizung als ausreichend angesehen – und es gibt immer einen Kamin in den Räumen, da die Häuser meistens mit offenem Kohlefeuer beheizt werden. Die Zentralheizung ist zwar nicht unbekannt, jedoch gibt es in London keine Heizkörper. Viele Häuser sind mit Schiebefenstern ausgestattet, was Fremden merkwürdig vorkommt. Wenn er Architekt ist, wird er sich stets fragen, wie man sie konstruieren kann, daß sie wirklich passen. Die Antwort lautet schlicht, daß sie nicht passen. Schiebefenster passen niemals – deshalb nutzt man sie. Die Verwendung von Schiebe­f­enstern und offenen Kaminen (eine wunderbar mittelalterliche Art zu heizen) kann man als Folge des sprichwörtlich englischen Konservativismus sehen. Vom Standpunkt 275

Das Londoner Haus

des Engländers aus betrachtet, muß man zugeben, daß seine Marotte eine gewisse Methode besitzt [Rasmussen spielt hier auf Shakespeare Hamlet an; im zweiten Aufzug des zweiten Akts sagt Polonius: „Though this be madness, yet there is method in‘t.“] Da er es als unabdingbar betrachtet, die Wohnräume konstant zu belüften, ist es geradezu logisch, offene Kamine zu nutzen, die eben nur bei ständigem Luftwechsel funktionieren. Das bedeutet aber zugleich, daß die Fenster nicht dicht schließen dürfen, eine Eigenschaft, die als ein Vorzug von Schiebefenstern angesehen werden muß. Kastenfenster werden selten verwendet – nicht weil sie zu teuer wären, sondern weil man lieber zugige als stickige Luft akzeptiert. Wenn ein Engländer Amerika oder Länder auf dem Kontinent bereist, wo die Räume besser beheizt und weniger belüftet sind, leidet er schrecklich. Er wird sich nach seinen leicht konstruierten Häusern sehnen, in denen feuchte Winterluft durchs Haus pfeift, vom Geklapper der Türen und Fenster begleitet. Bibliographie Die besten Informationen über englische Häuser findet man in den zahlreichen Architekturzeitschriften, insbesondere in den Anzeigen von Bauunternehmern und anderen Bauspekulanten über preiswertes Bauen. Der erwähnte Vortrag von Robert Kerr ist im RIBA Journal 1894, Seite 201ff, abgedruckt.

276

13 Londoner Parks

Der Londoner Park ist der ideale Ort für ein Leben im Freien. Einst erfüllte der Park nur einen Zweck: seine Aufgabe war es, schön auszusehen. Aber in den letzten hundert Jahren haben die Engländer die Welt gelehrt, daß die städtischen Parkanlagen intensiver genutzt werden müssen. Sie sollten nicht nur für Kenner einfach schön sein, sondern jedem, besonders der Sport treibenden Jugend und den Kindern, zur Freude gereichen. Die Parkanlagen könnten ebenso wie die Trinkwasserversorgung, die öffentliche Kanalisation und so weiter als hygienisch wichtiger Versorgungsdienst betrachtet werden. In vielen Ländern des Kontinents ist die wichtigste Bestimmung der Parks immer noch, eine freie Fläche und einen Ort mit besserer Luft als in den stickigen Straßen der Wohnquartiere zur Verfügung zu stellen. Doch dem Engländer ist das nicht genug. Die öffentlichen Gärten müssen den Einwohnern die Möglichkeit der Bewegung im Freien bieten. Die Entwicklung der modernen Londoner Parks ist darum eng mit der Entwicklung des Sports verbunden; ihre Form ist von den Anforderungen der öffentlichen Sportarten bestimmt. In der Literatur finden sich bis zu den Tagen von Fitz-Stephen zurückreichende Hinweise auf die sportlichen Aktivitäten der Londoner. Im Vergleich zu heute spielte der Sport damals aber eine ganz andere Rolle. Seinerzeit war er (insbesondere das Bogenschießen) eine wichtige Vorbereitung für die Soldaten, und so wurden bestimmte Sportarten von der Regierung – das heißt von der Krone – empfohlen. Dank seines Reichtums und der daraus resultierenden Fülle an Zeit war der Adel immer sportlichen Vergnügungen nachgegangen. Schließlich gab es eine große Anzahl an Spielen und Zeitvertreib für junge Leute, die aber nicht besonders ernstgenommen wurden. Es ist bezeichnend, daß ein so gesunder und lebendiger Mann wie Samuel Pepys zu der Zeit, als er (in den Sechzigern des 17. Jahrhunderts, im Alter von 27 bis 36) seine berühmten Tagebücher schrieb, überhaupt keinen Sport trieb. In seinen freien Stunden ging er allenfalls spazieren oder verbrachte seine Zeit mit Musik, Tanzen und Theaterbesuchen. Es machte ihm nichts aus, weite Reisen auf dem Rücken eines Pferdes zu unternehmen, 277

Londoner Parks

wobei das Pferd für ihn lediglich ein Transportmittel war. Einer der Einträge in sein Tagebuch (12. Mai 1667) reicht aus, um zu zeigen, daß er auf die sportlichen Aktivitäten seiner Kindheit als auf etwas zurückblickte, das für immer vergangen war: „Ging über die Felder nach Kingsland … erinnert mich an meine Zeit als Schüler, in Kingsland auf dem Internat, als ich auf diesen Feldern mit Pfeil und Bogen zu schießen pflegte. Es ist wirklich ein sehr schöner Ort; und kaum einer meiner Freunde käme auf den Gedanken, daß ich hierher zurückkehren und über diese Felder gehen sollte, in dem Stand und Ansehen, das ich genieße.“ Pepys konnte sich nicht vorstellen, daß er in „Stand und Ansehen“ und mit seinen 34 Jahren sonntags etwas anderes unternehmen könnte, als in seinen besten Kleidern spazieren zu gehen. Von allen modernen englischen Sportarten hat Cricket die längste Tradition. Man weiß, daß es bereits 1550 an der Guildford School gespielt wurde. Das erste organisierte Spiel, von dem es Aufzeichnungen gibt, fand im Jahre 1700 auf den Wiesen von Clapham Common [Park im Süden Londons] statt. Das jährliche Cricketmatch bei Lord’s, das sportliche Großereignis eines jeden Jahres, wurde zum ersten Mal 1862 veranstaltet. Universitäten und Schulen, deren Gebäude an Flüssen liegen, können auf eine lange Tradition von Bootstouren verweisen, organisierte Rennen gab es allerdings nicht. Das erste Bootsrennen zwischen Eton und Westminster fand 1829 statt. Der Cambridge University Boat Club wurde 1827, der Oxford University Boat Club 1839 gegründet, dem Jahr, in dem auch die erste Henley-Regatta stattfand. Über Fußball ist bekannt, daß man ihn seit dem Mittelalter spielt, allerdings war das ursprüngliche Spiel ein ganz anderes als das heutige. Herablassend schreibt Joseph Strutt 1801 über dieses Spiel: „Früher war es bei den einfachen Leuten sehr in Mode, in den letzten Jahren scheint es jedoch in schlechten Ruf gekommen zu sein und wird nur noch wenig praktiziert.“ Vor den Fünfzigern [des 19. Jh.s] gab es keine festen Regeln für Fußball. Ein Regelwerk gibt es erst seit 1863. Tennis wurde auf von Mauern umgebenen und überdachten Höfen gespielt, in London bereits im 16. Jahrhundert in den Hallen der Handelsfirmen. Henry VIII. war sehr an dem Spiel interessiert und unterhielt einen Tennisplatz sowohl in Westminster als auch in Hampton Court, hier auch einen Platz im Freien. Das nicht vor 1870 eingeführte Rasentennis der Gegenwart ist jedoch ein anderes Spiel. Die ersten Regeln datieren aus dem Jahre 1873; das jährliche Turnier in Wimbledon fand zum ersten Mal 1877 statt. Golf war in Schottland bereits im 15. Jahrhundert populär. Es wird erzählt, daß Mary Stuart Golf gespielt habe. Von James I. wird 278

Der moderne John Bull

Sonntags in Hampstead Heath, Modellboote auf den Highgate Ponds, 1930

Sonntags in Hampstead Heath, Blick vom Parliament Hill über die Felder mit hunderten von Cricketspielern, 1930

berichtet, er habe das Spiel zu Beginn des 17. Jahrhunderts in England eingeführt. Er soll es in Blackheath südlich von Greenwich gespielt haben. Noch 1880 war Golf in London nahezu unbekannt und kam nicht vor den Neunzigern in Mode. So lassen sich die Ursprünge fast aller englischen Sportarten weit in die Geschichte zurückverfolgen – wenn es darum geht, alte Traditionen auszugraben, sind die Engländer begeistert. Aber es ändert nichts daran, daß der englische Sport, wie er heute die Welt erobert, seine gegenwärtige Form erst in der zweiten Hälfte der Herrschaft von Queen Victoria erhalten hat. Um die englische Lebensweise zu verstehen, muß man sich vergegen­ wärtigen, daß vieles von dem, was heute als typisch englisch gilt, nicht immer so gewesen ist. Der moderne, schlanke Typ des Engländers, ein Sportsmann, unterscheidet sich immens von dem untersetzten John Bull, der noch immer ein – wenngleich atavistisches – Symbol der englischen Nation darstellt. Dieser unverwüstliche Kaufmannstyp aus dem 18. Jahrhundert ist dem holländischen – oder dänischen – Großhändler der Gegenwart viel ähnlicher als dem Engländer. Die Idealisierung des Englishman hat einen Wandel erfahren. Heute wird er als die Personifizierung von unbestechlicher Ehrenhaftigkeit angesehen; „das Wort eines Engländers“ ist heute sprichwörtlich, aber noch bis ins 19. Jahrhundert hinein war Korruption von der englischen Politik nicht zu trennen. Toleranz und Sachlichkeit in religiösen Dingen 279

Londoner Parks

Hampstead Heath (Luftbild Aerofilms Ltd.)

Hampstead Heath (Luftbild Aerofilms Ltd.)

sind heute englische Tugenden; aber noch im 16. und 17. Jahrhundert sind religiöse Auseinandersetzungen in England mit großem Fanatismus ausgetragen worden. Der Engländer von heute, den wir als einen in allen Situationen ausgeglichenen und kontrollierten Menschen schätzen, ein nahezu übermenschliches Wesen, das nur mit exquisiter Höflichkeit sein Interesse für das schöne Geschlecht zeigt, ist ein direkter Nachkomme des vollblütigen und leidenschaftlichen, uns bestens aus der englischen Geschichte bekannten Individuums. Auf diese Weise könnten wir all die Wesenszüge, die man allgemein dem hundertprozentigen Engländer zuschreibt, überprüfen und feststellen, daß sie nicht immer nationale Charakteristika waren. Nicht Eigenheiten eines besonderen Menschengeschlechts, sondern Ausdruck besonderer erzieherischer Werte, die sich erst im Laufe des letzten [des 19.] Jahrhunderts herauskristallisiert haben. Für die Prägung des Gentleman-Ideals im modernen England haben Schulen und Universitäten eine wichtige Rolle gespielt. Noch im 18. Jahrhundert hat man in England, wie in anderen Ländern auch, Kindern und ihrer Erziehung wenig Ver­ ständnis entgegengebracht. Das Leben der armen Kinder war entsetzlich. Die kleinen Geschöpfe wurden schlimmer als Sklaven behandelt. Selbst der sensible und humane [Daniel] Defoe notierte 1724 mit Stolz, daß in einer Region, durch die er reiste, „es selten ein Ding gibt, das fünf Jahre alt ist und seinen Lebensunterhalt nicht in einer der Wollmanufakturen verdient“. Erst 1802 wurde ein Gesetz, das die 280

Kinder im 18. Jahrhundert

Kinder­arbeit reglementierte, verabschiedet: Es legte fest, daß es „jungen Kindern nicht erlaubt ist, mehr als 12 Stunden am Tag zu arbeiten“! Selbst Kinder wohlhabender Familien lebten unter schlechten Bedingungen. Die Leute hatten Angst, ihre Kinder zu waschen und zu baden. Sie könnten sich erkälten! Die übrige Pflege war ebenso schlecht; bis 1820 blieb die Kindersterblichkeit so hoch wie im Mittelalter. 50 Prozent aller Kinder starben, bevor sie fünf Jahre alt waren. Queen Anne gebar eine Reihe von Kindern, von denen alle bis auf eines als Kleinkinder starben, das letzte im Alter von elf Jahren. Zu Hause wurden die Kinder im allgemeinen unausgebildeten Dienern überlassen. An den Schulen war es nicht viel besser. Das Fehlen von Pädagogik und Verständnis zeigt sich deutlich in der Kinderliteratur. Die war entweder frömmlerisch wie Die spirituelle Milch für Babys und junge Kinder, wo es heißt: „Dein Kind ist nie zu klein, um in die Hölle zu kommen“, oder sie gehörte zur Schule des Rationalismus und bemühte sich darum, „das rationale Kind“ zu lehren, in jeder Situation logisch zu denken und wie ein Erwachsener zu handeln. In dieser Zeit wurden Kinderspiele und Sport zumeist als barbarische Überreste eines primitiven Zeitalters erachtet, die es radikal auszumerzen galt. Erst weit im Verlauf des 19. Jahrhundert kam die große Wende, indem sich die moderne englische Schule aus einer Anstalt der Vorschrift zu einer Anstalt der Erziehung entwickelt. Die Ideen über Erziehung und deren Ziel schlugen nun eine ganz andere Richtung ein. Thomas Arnold (1795–1842), von 1827 bis 1841 Direktor der Rugby School, hat deutlich die Konturen gezeichnet, die für die englischen Schulen ebenso wie für die Universitäten zu Leitprinzipien werden sollten. Dr. Arnold war geistlicher Direktor und gräzistischer Philologe in einer Person. Er beeinflußte die Jugend weniger durch seine wöchentlichen Predigten (von denen fünf Bände verlegt wurden) und seine Aufsätze über Thukydides als durch seine praktische Pädagogik. Er wollte den Charakter der Jungen nach einem Ideal formen, das christliche und griechische Wesenszüge miteinander verband, und tat dies zuallererst durch sein eigenes Beispiel. Als bedeutungsvoller für die Nachwelt stellte sich heraus, daß er zeigte, wie die Jungen dazu gebracht werden könnten, einander intuitiv zu erziehen, indem man die unentwickelten sozialen Formen anregt, die zwangsläufig beim Zusammentreffen vieler Menschen entstehen. Kindliche Spiele, die sich auf alte Traditionen gründen, wurden nicht länger unterdrückt. Im Gegenteil, sie wurden von der Schule gefördert, weil „das Spiel“, auch wenn es keinen Selbstzweck hat, 281

Londoner Parks

Hampstead Heath vom Whitestone Pond aus Richtung Osten gesehen, 1930

doch das Leben der Erwachsenen spiegelt. Vielleicht läßt sich der Kern der ethischen Lehre, die einem englischen Schüler zuteil wird, in den oft zitierten Worten „learn to play the game“ zusammenfassen. Jeder Junge muß, ohne Aussicht auf eine besondere Würdigung der eigenen Leistung, sein bestes geben, damit sein Team gewinnt. Man fand heraus, daß Spiele – ohne Anweisung der Lehrer – Selbstkontrolle und andere Werte vermitteln konnten. Die Jungen verstanden ohne jede Erklärung, was notwendig war, um das Spiel nicht zu ruinieren. Kurzum, Sport war dazu da, der Jugend den Körper eines Griechen (jener Griechen, die Arnold so sehr bewunderte) und die Seele eines christlichen Ritters (der mittelalterlichen Ritter aus den Novellen von Sir Walter Scott) zu geben. Diese Erziehung ging von Rugby auf alle anderen Schulen über, sogar über die Universitäten hinaus, und ihre besonderen Ideale beeinflußten nach und nach alle Schichten Englands. Von frühester Kindheit an werden Engländer unterrichtet, daß fair play die Basis aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Für Kinder sind Spiele etwas, das sie lehrt, mit der Selbstkontrolle Erwachsener zu handeln. Für den gestandenen Mann ist Sport eine Erholung des Geistes: Er läßt ihn wieder zum Kind werden. Wenn der moderne Engländer stets beachtliche 282

Spiele als pädagogische Maßnahme

Hampstead Heath vom Whitestone Pond aus Richtung Osten gesehen, 1930

Kontrolle über sich selbst haben muß, dann muß er notwendigerweise auch dann und wann seinen natürlichen Instinkten freien Lauf lassen. Der weniger moderate Mann wird dazu neigen, zu trinken oder sich dem Glücksspiel hinzugeben, der kultivierte jedoch wird durch irgendeine Form von Sport einen Ausweg finden. Die strengen Ideale der Puritaner konnten sich nie allgemein durchsetzen; der Moralismus von Victoria und Albert hingegen wurde, obwohl fast ebenso engstirnig, tatsächlich zu einem nationalen Modell. Eine Erklärung dafür läßt sich, im Vergleich zum 17. Jahrhundert, in der wesentlich praktischeren Behandlung des Problems im 19. Jahrhundert finden. Der Puritanismus verurteilte den Sport, während er in der viktorianischen Ära als nützlich galt. Der Held der englischen Studenten ist nicht etwa, wie in Frankreich, ein Gelehrter oder ein Beau, sondern ein gesunder Sportler, der asketisch wie ein Puritaner lebt. Er tut dies jedoch nicht um der Moral willen. Wenn er sein Ziel erreichen und die Ehre der Universität hochhalten will, muß er – zusammen mit seinem Team – ein Tor schießen oder durchs Ziel rudern. Man sagt, daß es in Oxford und Cambridge, wo tausende wohlhabender junger Menschen leben, keine Prostitution gibt. Das kann nur dadurch erklärt werden, daß körperliches Training zum Ideal der Studenten geworden ist. 283

Londoner Parks

Hampstead Heath vom Whitestone Pond aus Richtung Westen gesehen, 1930

Der Wandel in den Ansichten über Jugend und Erziehung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt sich deutlich in den Büchern von [Charles] Dickens. Mr. Dombey, der herzlose und wohlhabende Geschäftsmann der City, der aus seinem Sohn einen Gentleman machen will, schickt diesen auf Mr. Blimbers Schule, wo der kleine sechsjährige Paul von früh bis spät Griechisch und Latein lernen muß. Aber sogar in dieser altmodischen Schule gab es eine Vorahnung der Zukunft. Man findet sie im Zimmer von Mr. Feeder, dem jungen Assistenzlehrer, wo der sensible kleine Paul seine freien Stunden verbringen durfte. Mr. Feeder bewahrte in seinem Schrank eine Angelrute, eine Flöte, ein Paar Boxhandschuhe und andere befremdliche Dinge auf, mit denen er nicht umzugehen verstand. Eines Tages aber, wenn er die Zeit dazu hat, würde er sich vornehmen zu lernen, wie man sie benutzt. Es sind die alten englischen Sporttraditionen, die in Vergessenheit geraten sind und von der nächsten Generation wieder zutage gefördert werden sollten. Nach vielen Schwierigkeiten, deren Beschreibung hunderte von Seiten in Anspruch nimmt, besänftigt sich der strenge und selbstgerechte Dombey und sein Wesen verändert sich. Er ist fähig, seinem Enkelkind mit Genuß beim Spielen zuzusehen. Dieser kleine Junge, der auch Paul heißt, sollte auf eine andere Weise zu einem Gentleman erzogen werden: Auf den 284

Sport statt eines idyllischen Lebens

Hampstead Heath vom Whitestone Pond aus Richtung Westen gesehen, 1927

letzten Seiten des Buches sehen wir, wie der weißhaarige Großvater und der kleine Bursche am Strand gemeinsam im Sand spielen. Mr. Dombey ist der Engländer des 19. Jahrhunderts, der es lernt, dem Kindlichen und Primitiven in der menschlichen Natur den ihm gebührenden Platz einzuräumen. Die „Zurück zur Natur“-Bewegung des 18. Jahrhunderts hat eher zu einer sentimentalen Liebe zur Natur als zu praktischer Erziehung und Hygiene geführt. Diese Bewegung verkörpert überdeutlich die affektierte alte Mrs. Skewton, ein gemalter Leichnam, die ununterbrochen davon redet, wie viel besser die Welt wäre, wenn die Menschen nur mehr Herz hätten und natürlicher wären: „Ich versichere Ihnen, Mr. Dombey, die Natur sah für mich ein arkadisches Dasein vor. Ich wurde in die Gesellschaft geworfen. Kühe sind meine Leidenschaft. Wonach ich mich immer gesehnt habe, ist, zurückgezogen auf einen Schweizer Bauernhof, gänzlich von Kühen umgeben zu leben – und von Porzellan.“ Der Englische Landschaftsgarten wurde von Leuten erfunden, die Kühe und ein ländliches Leben lieben – besonders, wenn es in Porzellan nachgebildet ist. Aber die Nachwelt des 19. Jahrhunderts stellte fest, daß sie sich nicht damit zufrieden geben muß, auf die arkadische Landschaft zu schauen, sondern die Gärten benutzen kann, benutzen zum Spielen und Sport treiben. Man fand in wahrer Erholung genau die 285

Londoner Parks

Entspannung, welche die vielen würdevollen und geschäftigen Mr. Dombeys der City benötigten. Sport entführt die Menschen, ebenso wie die Schönen Künste, aus ihrem Alltag in eine ideale Welt, die frei von Streben und Sorgen ist. Den meisten Engländern scheint Sport zugänglicher als Kunst. Sport, ursprünglich nicht sonderlich geschätzt, wurde jetzt zur Mode, denn er verbreitete sich von den Schulen und Universitäten, die vielmehr gut gebildete Gentlemen als professionelle Spezialisten hervorbringen. Gentlemen, die korrektes Benehmen und Weitblick erworben haben, der sie befähigt, tausende von Büros des Empire zu besetzen. Im 19. Jahrhundert war die akademische Welt den geistigen und körperlichen Ausprägungen des Sports gleichermaßen zugetan wie zuvor dem Kult des Rationalen und des Schönen. Die cleversten Köpfe und feinsten Geister unterhielten sich und ihre Zeitgenossen, indem sie „sinnfreie Bücher“ schrieben – zum Beispiel Edward Lear mit seinem Book of Nonsense von 1840 und Charles Lutwidge Dodgson [1832–1898, der unter dem Namen Lewis Carrol publizierte], der neben seinen mathematischen Abhandlungen Alice in Wonderland, 1865, und Through the Looking Glass schrieb! Der moralische Kinderreim vom Anfang des 18. Jahrhunderts über die geschäftige Biene: How doth the little busy bee Improve each shining hour, And gather honey all the day From every opening flower. [ 1 ] wird von Dodgson Mitte des 19. Jahrhunderts ins Humoristische übersetzt: How does the little crocodile Improve his shining tail, And pour the Waters of the Nile On every golden scale? How cheerfully he seems to grin And neatly spread his claws, And welcome little fishes in With gently smiling jaws! [  286

Ferien von der alten Pedanterie

Lincoln’s Inn Fields, Putting Greens, 1930

In einem solchen charmantem Unsinn findet ein stoischer englischer Beamter Entspannung für Geist und Seele, bevor er in die Hölle der Schützengräben hinausgeht (Osborne in Journey’s End) [Drama, 1928, des englischen Bühnenautors R. C. Sherriff (1896–1975)]. Viele Ausländer werden mit dem ungebildeten Trotte [Figur aus dem genannten Stück] sagen, daß sie „keinen Sinn darin sehen“, ein englischer Gelehrter wird jedoch mit Osborne antworten, genau das sei der Sinn. Er versteht, wie wertvoll es ist, einen Schlüssel zum Wunderland der grenzenlosen Phantasie zu haben, wo ein gesunder kleiner Mensch wie Alice ausgelassen mit der ganzen alten englischen Pedanterie und Sentimentalität spielen kann. Der Einfluß dieser Haltung hat in den letzten Generationen allmählich zugenommen. Ende des 19. Jahrhunderts ist Alice sozusagen erwachsen geworden. Sie hat sich zu [George Bernard] Shaws Candida entwickelt, die mit einem englischen Pfarrer umzugehen versteht, zu Lady Cicely in [Shaws] Captain Brassbound’s Conversion, die sowohl über Sir Howard als auch alle anderen Männer zu herrschen vermag – und wird schließlich als Jung frau St. Joan heilig gesprochen. In diesem Geiste hat sich London verändert und ein emanzipiertes Leben im Freien entwickelt, zu dem sämtliche Gesellschaftsschichten Zugang haben. Niemand ist sich heute zu fein, Ball zu spielen oder einen Fußball zu kicken, niemand ist so fad, um sich nicht in einem der zahlreichen Parks zu amüsieren. Die Zahl öffentlicher Erholungsflächen im innerstädtischen Bereich Londons ist im letzten [19.] Jahrhundert 287

Londoner Parks

Rotunda House und Gärten bei Ranelagh, Stich von R. Parr, 1751

gestiegen, während sie in anderen großen Städten (besonders Paris) beträchtlich zurückgegangen ist. Zur selben Zeit, als Parks, Sportflächen und Spielplätze entstanden, verschwand der einst sehr populäre Vergnügungsgarten. Westlich von London, nahe dem südlichen Themseufer, lag der beliebte und bereits 1661 erwähnte Vauxhall Garden (die Autoren aus alter Zeit nannten ihn Fox Hall oder New Spring Garden). Der gleiche Pepys, der sich zu alt fühlte, dem Sport seiner Kindheit nachzugehen, war dennoch jung genug, ein Boot hinaus nach Vauxhall zu nehmen, um sich und seine Frauen zu amüsieren (29. Mai 1666). Er gab für den Spaß zwanzig Schillinge aus, sah dort Jongleure und schrieb: „Unter anderen Dingen gab es einen Burschen, der alle Arten von Vögeln und Hunden, sowie Schweine mit seiner Stimme imitierte – was gar köstlich anzusehen war.“ Es war ein recht kleiner Garten mit Lauben, Restaurants und langen Spazierwegen. An den Abenden fanden oft Feste mit Illuminationen und Feuerwerk statt. Auf der anderen Seite des Flusses lag Ranelagh Garden als ernstzunehmende Konkurrenz. Bei Ranelagh gab es die gewaltige „Rotunde“, eine große Konzerthalle, in der sich die Leute während ihres Abendessens an Musik erfreuen konnten. Sie war während des Winters beheizt und stets hell beleuchtet. Hier wurden häufige und von der Gesellschaft gut besuchte Kostümbälle veranstaltet. Die Vergnügungen in diesen Gärten verliefen bis tief in die Nacht, und oft war es drei Uhr morgens, bevor sie ein Ende fanden. 288

Vauxhall und Ranelagh Gardens

Vauxhall Gardens, Stich von J. S. Müller nach Wale, 1751

Diese Art des Vergnügens entsprach der Zeit Georges III. und Georges IV. Die Londoner betrieben noch verschiedene andere Gärten und Lokale mit einfacherem Standard als die erwähnten. Zu Beginn der Regierungszeit von Queen Victoria waren sie noch immer sehr populär (Ranelagh Garden wurde 1802 aufgegeben, während Vauxhall Garden erst 1859 geschlossen wurde). Als jedoch die allgemeinen Moralvorstellungen strenger wurden, waren die Gärten Anlaß vieler Skandale. Weiter westlich von Vauxhall Garden in Battersea Fields nahe der Themse befand sich zum Beispiel ein sehr beliebtes Restaurant, das (im London City Mission Magazine, September 1870) von einem Missionar, Mr. Thomas Kirk wie folgt beschrieben wurde: „Was diesen Teil von Battersea Fields so berüchtigt machte, waren die Spiel-, Sport- und Vergnügungs­flächen beim Red House und den Ballon Public Houses, sowie die während der Sommermonate abgehaltenen sonntäglichen Jahrmärkte. Diese wurden Zuflucht von hunderten und tausenden, über Königshaus und Adel hinunter zu den Ärmsten der Armen bis zum gemeinsten Bettler. Und falls es jemals einen Ort außerhalb der Hölle gab, der Sodom und Gomorrha an Gottlosigkeit und Abscheu übertraf, so war es dieser. Hier schienen die schlechtesten Männer und die Abscheulichsten der menschlichen Rasse zu versuchen, sich gegenseitig in schlechten Taten zu überbieten. Ich ging am Tage des Herrn nachmittags und abends zu diesem traurigen Fleck, als dort zwischen 60 und 120 Pferde- und Eselrennen, Wettläufe, 289

Londoner Parks

fliegende Boote, fliegende Pferde, Karussells, Theater, Komiker, schamlose Tänzer, Zauberer, Wahrsager, Spieler jeglicher Art, Trinkbuden, Verkaufsstände, Hausierer und Verkäufer von Waren aller Art wetteiferten. Es würde einer anschaulicheren Feder als der meinen bedürfen, dieses Durcheinander von Schreien, Geräuschen und das unsägliche Treiben eines solchen Höllenlärms auf Erden zu beschreiben.“ Als man es für notwendig erachtete, gegen dieses sündenvolle Amüsement vorzugehen, wurde, um der Öffentlichkeit eine Möglichkeit für gesunde Erholung und Geselligkeit zu bieten, der exzellente Battersea Park angelegt. Die Pläne gehen bis ins Jahr 1843 zurück. In jenen Tagen gab es keine für den Großraum London zuständige Behörde, weshalb sich das Parlament des Falles annehmen mußte. 1846 wurde ein Gesetz verabschiedet, um den Commissioner of Her Majesty’s Woods [den Beauftragten der Wälder Ihrer Königlichen Hoheit] zu ermächtigen, in Battersea Fields einen königlichen – allerdings nicht für die Royal Family, sondern für das Volk bestimmten – Park anzulegen. Für dieses Vorhaben, für den Kauf von Land, um dasselbe zu beplanen, zu bepflanzen und um eine Uferbefestigung entlang der Themse zu bauen, wurden 200.000 Pfund bereitgestellt. Man erwarb ein Areal von 320 Morgen, von denen 198 dem Park zur Verfügung gestellt und die verbleibenden als Bauland verpachtet wurden. Dieser Park öffnete im Jahre 1858 seine Pforten für das Publikum. Das Areal wird höchst effizient genutzt. Es ist in unterschiedliche Abschnitte geteilt, jeder von ganz eigenem Charakter. In seiner Mitte, vom ansteigenden Gelände und vom Gebüsch geschützt, befindet sich ein subtropischer Garten, in dem während der Sommerzeit Palmen und andere tropische Pflanzen wachsen. Insgesamt stoßen die verschiedenen Pflanzenarten auf reges Interesse. In einem anderen Teil des Parks wachsen englische Pflanzen, wie man sie im allgemeinen nicht in öffentlichen Gärten findet, um Stadtmenschen die Möglichkeit zu bieten, sie kennenzulernen. Außerdem gibt es einen ‚Alten Englischen‘ Garten, einen Musikpavillon und eine breite Allee mit einem gotischen Brunnen – wahrhaftig viktorianisch. Von größter Bedeutung sind jedoch die beachtlichen Areale, die dem Spiel und Sport gewidmet sind. Ein See bedeckt fünfzehn Morgen. Er hat, wie es sich für einen See in einem englischen Park gehört, eine pittoreske Form, wird teilweise von Baumgruppen verdeckt, dient aber vor allem zum Rudern. Es gibt ganz schöne Einer [Rennboote], die man während der Sommerzeit mieten kann. Im Winter läuft man, sofern es das Wetter zuläßt, Schlittschuh. In einem anderen Teil befinden sich die für einen 290

Battersea Park

Battersea Park (Foto Aerofilms Ltd.)

Englischen Landschaftsgarten typischen weiten Rasenflächen. Diese sind immer voller Menschen. Es gibt Fußball- und Cricketfelder, Bowling- und Putting-Greens [sehr kurz gemähte Grünflächen zum Einlochen des Golfballes], Platz für Quoits [meist Holzgestelle als Ziel für Wurfringe] und Hockeyanlagen, drei Sporthallen, eine für Erwachsene und zwei für Kinder, sowie eine Laufbahn mit kompletter Ausstattung für die körperliche Ertüchtigung. Battersea Park ist kein imposantes Stadion, wie sie seit dem [Ersten Welt-] Krieg in vielen deutschen Städten erbaut worden sind, sondern ein Park für Freizeitsportler. In den Neunzigern [des 19. Jh.s] war es Mode, in Battersea Park Fahrrad zu fahren. Am Ende der Viktorianischen Ära widmeten sich die Menschen mit erstaunlichem Eifer dem Sport. Die alten Werte waren auf den Kopf gestellt: Die Vergnügungen, die Pepys mit seinen Damen genossen hatte, hielt man jetzt für vulgär, und zugleich wurde der Sport, den er als kindisch angesehen oder für unter seiner Würde gehalten hatte, zum letzten Schrei. Cricket wurde von Gentlemen mit Bärten und Zylindern, Rasentennis von Ladies in knöchellangen Faltenröcken mit weißen, von vielen Haarnadeln gehaltenen Hüten gespielt. Die Konventionen jener Zeit sorgten für viele Schwierigkeiten, die überwunden werden mußten: 291

Londoner Parks

Tooting, Tretboote für Kinder, 1932 (Foto F. Teisen)

Wenn beispielsweise die Kleidung zu weit geschnitten war, „ist es um zu treffen ratsam, einen Schritt zur Seite zu machen, wie bei einem Volley; sind sie noch weiter und der Wind bläst sie nach oben, können wir uns bestens vorstellen, wie sie vielleicht beim Ausholen den Schläger erwischen“, so eine Sportenzyklopädie von 1897. Für den Fall, daß die Kleidung nicht lang genug war, würden ja die Fußknöchel unanständig entblößt! Und doch konnte nichts den sportlichen Enthusiasmus jener Tage bändigen. Battersea ist nur einer der vielen großen Parks, die in den ständig wachsenden Quartieren Londons angelegt wurden. Sie alle basierten auf der Idee, die Ausübung jeglicher Art von Sport zu ermöglichen. Es genügte allerdings nicht, in den neuen 292

Kleine Spielplätze

Highbury Fields, 1933

Vierteln weite offene Flächen anzulegen, vielmehr erschien es notwendig, in den alten und häufig dicht bevölkerten Stadtteilen Spiel- und Sportflächen zur Verfügung zu stellen, so klein sie auch sein mochten. Auch dieses Problem ging man nüchtern an. Die doch stets als sehr konservativ geltenden Engländer haben bereits seit 1855 eine Reihe von Gesetzen für die Umnutzung alter Kirchhöfe zu Spiel- und Sportflächen. 1884 wurde eine Vorlage verabschiedet, die (unter allen Umständen) verbietet, ehemals als Friedhöfe genutzte Flächen zu bebauen, es sei denn, die Kirche selbst sollte vergrößert werden. Die Metropolitan Gardens Association hat sich bei der Umnutzung früherer Kirchhöfe zu Spielplätzen höchst aktiv gezeigt, und heute gibt es in den alten 293

Londoner Parks

Highbury Fields, 1933

und dichten Teilen der Stadt, wo sie am dringendsten gebraucht werden, an die hundert von ihnen. Die alten Grabsteine wurden entlang der Mauern aufgestellt, so daß sich die Leute unter Bäumen sitzend ausruhen können, während die Kinder spielen. Um den beschäftigten Menschen aus den Büros der Nachbarschaft die Möglichkeit zu geben, sich während ihrer Mittagspause im Freien bewegen zu können, gibt es ein oder zwei alte Kirchhöfe in der Stadt, auf denen Tennisplätze angelegt worden sind. Man hat jedoch nicht nur die freien Flächen früherer Kirchhöfe als kleine Erholungsflächen genutzt. Beim Studieren der Liste offener Flächen, die das London County Borough Council [etwa vergleichbar mit der Kreisverwaltung] verwaltet, findet man viele kleine Plätze über die Quartiere verteilt. Da diese Quartiere extrem dicht bewohnt sind, war es schwierig, größere Parks anzulegen. Einige dieser Spielplätze sind oft sehr klein, nur ein oder zwei Morgen, trotzdem aber von enormer Bedeutung. Wo der Raum so begrenzt ist, bildet ein Spielplatz die effizienteste Nutzung der Fläche. Wenn das London County Council Slums bereinigt, wird ein Teil des Areals immer zu Spiel- und Sportflächen umgestaltet. Es ist außerdem charakteristisch für die englische Einstellung gegenüber diesen Fragen, daß in Erinnerung an König Edward VII. ein King Edward Memorial Park von achteinhalb Morgen in Shadwell, 294

Wege im Grünen

das zu den ärmsten und am dichtesten bevölkerten Teilen des East End gehört, angelegt worden ist. Für diesen kleinen Park mußte ein Grundstück mit Häusern im Wert von 140.000 Pfund angekauft werden. Die Stadt als Eigentümerin verkaufte es für die Hälfte und stiftete damit 70.000 Pfund für das Vorhaben. Dieser Park ist terrassiert, und es gibt dort ein Denkmal für König Edward. Die Lebenden jedoch wurden nicht zu Gunsten der Toten vergessen, denn an jedem Ende des länglichen Parks wurden Spielplätze für die Kinder geschaffen. Im Zentrum befinden sich zwei Rasenspielfelder, ein Bowlingplatz, zwei Harttennisplätze mit einem Pavillon und ein Gondelteich. Es wurde viel getan, um den ärmeren Klassen den Zutritt zu den Tennisplätzen zu ermöglichen; kein anderes Spiel zeigte während der zurückliegenden dreißig Jahre einen solchen Zuwachs an Popularität. Die intensive Nutzung der Parkanlagen als Erholungsgebiete durch die Bevölkerung geschah selbstverständlich ebenso zu deren Schaden. Es gibt öffentliche Gärten in London, die sehr schön und wundervoll gepflegt sind. Der schönste von allen ist Kew Gardens, ein botanischer Garten, in dem Sport und Spiele nicht gestattet sind. Aber selbst in Kew Gardens darf man auf dem Rasen laufen. Am Eingang bittet ein Schild den Besucher, „keine Wildblumen zu pflücken, da diese ebenso wie die Kulturpflanzen ein Quell der Freude sind“. In den meisten Fällen sehen die Parks jedoch verbrauchter aus, als es einem städti­ schen Gärtner in anderen Ländern recht wäre. Im Hyde Park, ein enormes Stück offener Landschaft im Zentrum einer ständig wachsenden Stadt, wird das Gras von hunderten von Schafen kurz gehalten – insbesondere von den verkehrsreichen Straßen aus, die den Park umgeben, ergibt sich ein für Ausländer außergewöhnliches Bild. An manchen Stellen haben die Füße tausender Fußgänger große nackte Flecken auf dem Rasen hinterlassen. Der Engländer hat festgestellt, daß es zwei Möglichkeiten gibt: einen Park für Pflanzen oder einen für Menschen. Er hat die letztere gewählt. Der traditionelle Englische Landschaftsgarten und die weiten, durch umstehende Büsche und Bäume geschützten Rasenflächen sind für diesen Zweck gut geeignet. Es ist die Großartigkeit der Gestaltung, das Verhältnis zwischen offen und geschlossen, das für seine Schönheit steht. Die Landschaft ist das Wichtigste, die Einzelheiten sind von geringerer Bedeutung, und selbst die härteste Beanspruchung kann Regent’s Park oder Hampstead Heath nicht ihre Schönheit nehmen. 295

Londoner Parks

Spielplatz im St. James’s Park

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Kinderspielplätze

Spielplatz im St. James’s Park

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Londoner Parks

Erwachsene sind nur zugelassen, wenn sie Kinder begleiten. Highbury Fields, 1932 (Foto F. Teisen)

Kähne in Richmond, 1933

Die Geschichte der englischen Landschaftsparks ist ein schönes Beispiel für die Wechselbeziehung von Kunst und Leben. Die Reaktion auf die französische Art des gesellschaftlichen Lebens und der Kultur führte um 1700 zur Verehrung der Natur. Die heroische Landschaftsmalerei traf die Neigungen jener Zeit, indem sie die Menschen lehrte, die Schönheit der großen Landschaft und des freien Lebens in der Natur zu sehen. So wurden die Parkanlagen verändert, um dem Auge des Betrachters schöne Landschaften zu bieten. Die Wirklichkeit war jedoch stärker als die Illusion. Die Menschen lernten, die tatsächliche Welt intensiver als durch die Mittel der visuellen Interpretation der Maler wahrzunehmen. Wenn man einem Londoner erzählt, was für ein schöner Park Hampstead Heath ist, wird er einen erstaunt ansehen und fragen: „Hältst Du Hampstead Heath für einen Park?“ In der Tat hat er niemals realisiert, was Hampstead Heath eigentlich ist. Für ihn ist es ein Stück unkultivierten Landes, das dort – aus unerklärlichen Gründen – trotz der Entwicklung der Stadt noch immer unberührt liegt. Er lebt in dem glücklichen Irrglauben, es sei ein Niemandsland, in dem jeder tun und lassen kann, was er will. Und doch ist es ein öffentlicher Park mit Inspekteuren und Gärtnern, wo Bäume und Büsche gepflanzt werden, um den Charakter eines Ortes hervorzuheben und den ihm abträglichen Effekt neuer Häuser zu verstecken. In Hampstead Heath trifft man 298

Ist Hampstead Heath ein Park?

Ein warmer Sommertag an den Hampstead Ponds, 1930

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Londoner Parks

Ein heißer Tag an den Highgate Ponds, 1930

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Wunderschönes Hampstead Heath

Hampstead Ponds, 1930

Hampstead Ponds, 1930

Schönheit – zu jeder Jahreszeit. Das sanft hügelige Land ist so reich an Variationen, daß man nahezu alle künstlerischen Effekte der europäischen Malerei findet: In der dunstigen Atmosphäre des Zwielichts sieht der Wasserspiegel der Hampstead Ponds hinter den Weiden wie ein Corot aus, die Schafherden auf dem kahlen Gras unter vereinzelten Bäumen sind ein Millet, und Hügel und wuchtige Bäume vor einer Gewitter­ wolke ein Constable. Die Tausende, die Hampstead Heath genießen, betrachten den Park allerdings nicht so. Ihr Blick ist nicht durch Kunst bestimmt, sie empfinden eine viel einfachere Bindung zur Natur. Sie sind nicht in einer Ausstellung, sondern gehen, den Straßen entkommen, mit Entzücken durchs Gras. Sie sehen nicht nur, sie fühlen die Form des Landes, wenn sie erschöpft den Hügel hinaufstapfen, und sie werden durch einen herrlichen Ausblick belohnt. Bei dem stets wechselnden Klima ist es immer spannend‚ wie weit der Blick reicht. All der Sport, der in Hampstead Heath getrieben wird, kann als Versuch gesehen werden, die Natur intensiv wahrzunehmen. Wie Prospero in The Tempest wollen die Engländer alle Geister der Natur kennen, sie verstehen und meistern. Auf der Kuppe von Parliament Hill sieht man ältere Gentlemen pfiffig konstruierte Drachen steigen lassen. Die gespannte Schnur wird, 301

Londoner Parks

Hampstead Heath

hunderte von Fuß hoch in der Luft, zu einer Art Fühler und macht für sie den Raum wahrnehmbar. Von dieser Erhebung fällt die Landschaft zu beiden Seiten in Täler mit einer Reihe von Teichen ab. Auf der flachen Ebene Richtung Süden spielen Jungen Fußball, während andere die Hügel hinauf- und hinunterlaufend ihre Bälle vor sich her schießen. In dem kelchförmigen Tal Richtung Highgate steht ein Musikpavillon, von dem aus der ganze Raum mit Melodien erfüllt werden kann, die einen Eindruck von der besonderen Akustik der Natur vermitteln. An den Seen liegt eine Badeanstalt. Nicht daß das Wasser wirklich verlockend wäre! Aber trotzdem gibt es das ganze Jahr über Menschen, die anmutig von den Planken hinabtauchen. Die Engländer lieben die unverstellte Wahrnehmung der Elemente, sie lieben es, den Wind und die Feuchtigkeit auf ihren Gesichtern zu spüren. Darum schwimmen sie in den Seen, tauchen hinunter in die schlammigen Tiefen – werden in der Kühle des Wassers zu Fischen. Der durchschnittliche Besucher nimmt nicht wahr, daß es ein bestimmtes übergeordnetes Prinzip in der anscheinend wie durch Zufall entstandenen Bepflanzung des Parks gibt. Er weiß nur, wie wundervoll es ist, an den Dornenhecken entlang über die Hügel mit ihren freistehenden Eichen zu den gerundeten Anhöhen und durch die 302

Intensive Wahrnehmung der Natur

Hampstead Heath

Erlenhaine zu dem kultivierten Golders Hill Park zu schlendern, vorbei an all diesen charakteristischen Arten von Bepflanzung, nirgends eine willkürliche Mischung. Die ursprüngliche Natur von Hampstead Heath wird ruiniert. Die Flora ist vereinfacht und popularisiert, eine Fauna ist fast nicht mehr vorhanden. Es gibt Hügel, auf denen das Gras gänzlich abgenutzt ist, so daß sie meist einer Landschaft unfruchtbarer sandiger Hänge gleichen. An einer anderen Stelle ist ein Ascheplatz für Buden und Karussells angelegt. Obwohl die ursprüngliche Natur auf diese Weise verbraucht worden ist, bietet Hampstead Heath großen Teilen von Londons Bevölkerung noch immer die Chance, eine direkte Beziehung zu ihr zu bewahren, nicht die seltene und schöne, sondern die elementare Beziehung zu Luft und Wasser, zu Erde und Pflanzen. Jeder, der hier spaziert, hat das eine oder andere Ziel, etwas zu tun, entweder einen Ball zu schießen, im See zu schwimmen oder einen Drachen fliegen zu lassen, und bewahrt damit seine eigene Natur rein und unberührt. Er ist nicht von Gefühlen aus zweiter Hand bewegt, er liebt diesen Ort nicht, weil er Erinnerungen birgt, die als kultiviert gelten. In Hampstead finden wir mitten in der riesigen Stadt ein Beispiel für die richtige Erhaltung von Natur – die menschliche Natur. 303

Londoner Parks

Hampstead Heath, 1927

[ 1 ] V  ers von Isaac Watts aus Against Idleness and Mischief (gegen Müßiggang und Ungedeih), 1715 Wie nutzt das kleine Bienelein Die Sonnenstunden aus: Es sammelt seinen Honig ein Und trägt ihn in sein Haus!

[ 2 ] Ü  bersetzung: Klara Sternbeck, Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Berlin 1931 Wie süß das kleine Krokodil Dort spielt im Sonnenglanz! Es liegt am weißen Strand des Nil Und wackelt mit dem Schwanz. Es grinst und sperrt den Rachen auf, Und niedlich spreizt´s die Klauen, Und winkt die Fischlein allzuhauf, Ihm freundlichst zu vertrauen.

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14 Der Londoner Verkehr

Sie werden oft als Nation von Ladenbesitzern bezeichnet. Das ist natürlich für die Engländer so falsch, wie eine verallgemeinernde Charakterisierung üblicherweise ist. Es schwingt etwas Geringschätziges in dem Wort Ladenbesitzer mit und erinnert an einen bösen kleinen Händler, der um jeden Penny feilscht. Die Beschreibung trifft auf keinen Fall auf die Engländer zu, die man vielmehr selbstbewußte Geschäftsleute nennen könnte. Man bezeichnet sie als konservativ, was mit Sicherheit eher zutrifft. Bewunderer von Dickens werden sich an die Beschreibung von Tellsons Bank im Tale of Two Cities erinnern, einem sehr altmodischen Ort, dessen Besitzer dennoch stolz auf ihn waren. Dunkel und häßlich, staubig und winzig war er, und doch beließen sie ihn in diesem Zustand, damit man erkennen konnte, daß er zu einer alten Firma gehört, die sich nicht um neumodische Launen kümmert. Solche Betriebe findet man noch immer, wie Berry’s the wine merchants in der St. James’s Street; während der letzten 200 Jahre hat er keinerlei Neuerung erfahren. Man kann auf denselben Stühlen wie Queen Annes Höflinge sitzen und sich die alten Register zeigen lassen, in denen das Gewicht der Kunden wie Beau Brummel, seines dicken Freundes George IV. und einer Menge anderer Berühmtheiten früherer Zeiten verzeichnet ist. In einem der modernen Bestseller von [ John Boynton] Priestly, Angel Pavement [dt. Engelgasse. Das Jahr, als Mr. Golspie kam], gibt es die Beschreibung eines alten Betriebes wie dem in Dickens’ Buch mit dem dunklen und ungemütlichen Büro. Trotz einer Reihe neuer Gebäude – vor allem um die Bank of England herum – erinnert die Stadt mit ihren schmalen mittelalterlichen Gassen noch immer an einen merkwürdigen Dschungel, in dem sich antiquierte Büros und Geschäftsräume dicht drängen. Die Lagerhäuser am Flußufer gleichen einer Wand steiler Klippen mit kleinen engen Schluchten, die, nur für Fußgänger benutzbar, zwischen ihnen hindurch direkt in die City führen. Ein Fremder würde in solch einem Labyrinth bald die Orientierung verlieren, wohin­gegen der Londoner mit seinem dunklen Büroanzug und lautlosem, stets eiligen Gang hier ganz zu Hause ist. Dann wird man unversehens mit einem Bild konfrontiert, das einem 305

Der Londoner Verkehr

Plakate an einem Bauzaun in London

Straßenreklame an einem Bauzaun, darüber eine mächtige Stahlkonstruktion

beweist, daß die Engländer nicht immer so konservativ sind, wie ihnen gern nachgesagt wird. In der Nähe von St. Paul’s wird ein neues Gebäude errichtet, und ein Bauzaun zieht sich die Straße entlang, kein trostloser Zaun aus rohen und ungestrichenen Brettern, sondern eine lange Reihe riesiger Werbeplakate. Mit ihren lebendigen Farben hellen sie die triste Straße schon aus der Ferne auf. Das ist pittoresk, aber ansehnlich und erweist sich als außerordentlich wirksam für die dort werbenden Firmen. In London sind Baustellen von ordentlichen Bauzäunen und enorm großen Plakaten umgeben. Sie sind weder nachlässig noch gedankenlos angeordnet. Es gibt Standardwände mit massiven Rahmen, die den Plakaten entsprechend gestrichen und konstruiert sind. Einer der bekanntesten Architekten des Landes, Sir Reginald Blomfield, hat sie entworfen. Hinter ihnen erhebt sich das gewaltige Stahlskelett eines Gebäudes. Leider muß man dennoch zugeben, daß die Engländer mit der Fertigstellung ihrer Gebäude nicht immer gleichermaßen erfolgreich sind – oft mangelt es gänzlich an dem, was Bauzäune und Werbeplakate versprechen. Wenn es ein wirklich gutes Gebäude sein soll – ich spreche von Geschäftshäusern –, muß es, nach Meinung des englischen Kaufmanns, von Säulen, Gesimsen und unzähligen traditionellen Details 306

Bauzäune voller Plakate

nur so strotzen. In einem bestimmten Baustadium hat man manchmal Glück, die eine Hälfte als elegante, moderne Stahlkonstruktion fertig gestellt zu sehen, während die andere Hälfte mit Elementen standardisierter Monumentalität verkleidet ist. Es ist wahr, daß es Bestrebungen gegeben hat, moderne Häuser – zum Beispiel Lord Beaverbrooks Pressebüros in der Fleet Street – zu schaffen, die ganz aus von Chrom gerahmtem Glas bestehen, allerdings kaum angemessener als die altmodische architektonische Kulisse aussehen. Der theatralische Stil ist nur von der Hollywood-Moderne verdrängt worden. Ein ausländischer Architekt mag ganz schön enttäuscht sein, daß er kaum Architekturbeispiele finden kann, die der Zeit wirklich angemessen sind. Statt dessen entdeckt er überall denselben oberflächlichen und konventionellen Fassadentypus, mit Details, für die man schon vor hunderten von Jahren jegliches Interesse verloren hat und die heute nur noch mechanisch wiederholt werden, um dem Geschmack von irgendeinem Handelsmagnaten zu entsprechen. Später wird er indes herausfinden, daß buchstäblich unter all dieser faden Architektur eine andere und moderne Welt existiert – die London Underground Railway. Am Piccadilly Circus gibt es eine hervorragende Illustration dessen, was die Underground für die moderne Zivilisation geleistet hat. Nach der ärgerlichen Erfah­ rung all des schlechten Geschmacks, den prominente Architekten beim Umbau des Quadranten an den Tag gelegt haben, muß man nur die Treppen hinunter entschwinden, und man befindet sich schon in einer anderen, weitaus edleren Umgebung. Dort unten liegt der Untergrundbahnhof. Er ist als ein großes Oval mit ringsum zur Straße führenden Ein- und Ausgängen geplant. Die Rolltreppen in der Mitte bringen die Leute zu den Gleisen, die tief unter der Erde liegen – so tief, daß sie ganz unabhängig von den darüber liegenden Bebauungen verlaufen können. Dieser unterirdische Bahnhof ist ein Durchgang mit prächtigen Schaufenstern und immer voller Menschen. Am Morgen ist er eine Turbine, die nach allen Seiten Menschen ausspuckt, und abends saugt er sie durch den Kreis und die Rolltreppen hinunter zum drängenden Strom der Züge ein. Die Architekten, die ihn planten, haben das Richtige in der rechten Weise getan. Alles ist aus glattem Material, das einfach zu reinigen ist und immer gepflegt und ordentlich aussieht. Das ist in der Tat einer der wichtigsten Punkte bei einem Bau dieser Art. Nichts auf der Welt ist so schmutzig und bedrückend wie die ‚echten‘ Londoner Bahnhöfe. Alles scheint mit Ruß überzogen, und die alt­modischen Gebäude mit ihren vielfältig gerillten Backsteinwänden, 307

Der Londoner Verkehr

Piccadilly Circus, linke Bildseite das Bossenwerk der Regent Street

den ornamentalen Kinkerlitzchen und den Stahlrahmen der Dächer scheinen bewußt dafür gemacht, Staub anzuziehen. Es wäre absolut unmöglich, sie zu säubern. Niemand könnte sich je von diesen Bahnhöfen angezogen fühlen, eine schmutzige Begleit­ erscheinung der Fahrt, ein notwendiges Übel. Dagegen ist es ein Vergnügen, hinunter in die Bahnhöfe der Underground zu gehen, so hell, sauber und ordentlich wie diese sind. Alles ist in derselben nüchternen Weise ausgeführt. Die Tunnels haben weder Verzierungen noch dekorierte Friese. Die Wände sind glasiert gefliest und einfach wie ein Bad zu reinigen. Der Menschenstrom durchfließt die glatten röhrenförmigen Gänge und Rolltreppen. Die Züge selbst rasen mit ihren langen roten, zylindrischen Körpern wie eine Schlange, die mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Erde schießt, durch die ‚tubes‘, bis sie an einem der größeren, ebenfalls röhrenförmigen Bahnhöfe halten. Hier, dort und überall sind Poster und Hinweisschilder die einzige Dekoration. Und Hinweisschilder gibt es viele. Es ist niemals nötig, nach dem Weg zu fragen, ein Fremder orientiert sich in der Underground so leicht wie ein Londoner. Das Problem der Beschilderung hat man äußerst energisch in die Hand genommen. 1916 beriet sich das Unternehmen mit einem Experten für Typographie, Edward Johnston, und beauftragte ihn, ein Alphabet zum Gebrauch für alle Hinweise in der 308

Piccadilly Circus

Piccadilly Circus Station

Underground zu entwerfen. Es sollte so einfach und aus einiger Entfernung lesbar sein, daß es keinerlei Zweifel über die Bedeutung geben konnte. Johnston entwarf ein wirklich erstklassiges Alphabet. Die Blockschrift ist so ausgeprägt wie beispielsweise die kürzlich in Deutschland entworfene Futura. Johnstons Alphabet ist darüber hinaus so nüchtern, daß es, obwohl weniger elegant, zeitlos bleiben wird. Es repräsentiert die absolute Quintessenz der römischen Schrift. Man kann sie Jahr für Jahr betrachten, ohne ihrer müde zu werden. Sie wird für die Namen und die Beschilderung aller Stationen benutzt. Man verwendet diese ausgeprägte und delikate Schrift fast ausschließlich auf allen Postern des Unternehmens und sogar für die Drucksachen. Das Ergebnis ist eine raffinierte und sichere Form der Werbung. Sobald man das Umfeld der Underground betritt, wird man durch die prägnante Typographie an ihre Gegenwart erinnert. Firmen, deren Filialen sich an vielen verschiedenen Orten finden, sollten in dergleichen Weise werben. Die überall zu spürende Einheitlichkeit ist beträchtlich. Sie intensiviert den Eindruck von der Größe und der Bedeutung des Unternehmens, ohne jemals aufdringlich oder irritierend zu sein. (Nur warum sind die Fahrkarten und die Visitenkarten des Unternehmens nicht mit derselben feinen Typographie gestaltet?) Ich kann mir vorstellen, daß ein so großes Unternehmen mit 309

Der Londoner Verkehr

Adams, Holden & Pearson, Piccadilly Circus Station

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Stationen der Underground

Picacdilly Circus Station

Bahnsteig der Londoner Underground

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Der Londoner Verkehr

Underground-Rolltreppen

Underground-Station

einer so sicheren Basis wie die Underground durchaus großzügig handeln und Mittel für ästhetische Ziele aufwenden könnte, während unter anderen Bedingungen auf strikteste Wirtschaftlichkeit geachtet würde. Aber auch die Underground hat sich nicht bezahlt gemacht, bevor sie ihr weitsichtiges und großzügiges Management bekam. Die Underground ist – oder vielmehr war – tatsächlich nicht im geringsten ein Transportunternehmen, sondern eine Holding mit rein finanziellen Interessen. Sie kaufte die Mehrzahl der Aktien aller Firmen der Underground Railway auf und erwarb gleichzeitig Anteile der ‚General Omnibus Company‘, einer Reihe von Straßenbahnunternehmen, einem Kraftwerk und einer Reparaturwerkstatt. All diese einzelnen Unternehmen bestanden weiterhin, jeweils mit eigenem Verwaltungsrat, eigenen Konferenzen und separater Buchhaltung. Die London Underground Railways begnügte sich nicht damit, die bestehenden Transportbedürfnisse zu befriedigen; sie nahm die Entwicklung vorweg, indem sie eine Linie durch einen Virgin District [ein neues städtisches Entwicklungsgebiet] baute. Damit bot sie den Siedlungen Gelegenheit, sich um die Bahnhöfe zu ent­ wickeln und verdiente am Transport der Bewohner nach London. Eines der ersten Beispiele war zu Beginn dieses [des 20.] Jahrhunderts die Linie nach Golders Green 312

Saubere und schmutzige Stationen

im Norden Londons. Dort wurde die wohlbekannte Siedlung Hampstead Garden Suburb gebaut, die, dank Sir Raymond Unwin und der exzellenten, ihm zur Seite stehenden Architekten, immer noch eine der schönsten modernen Gartenstädte der Welt ist. Durch diesen Erfolg angespornt, wurde eine Erweiterung der Linie, viele Meilen hinaus ins offene Land nach Edgware, das sowohl sehr weit entfernt als auch dünn besiedelt war, geplant. Die Abbildungen auf Seite 316 zeigen den Zustand im Jahre 1923, als die Linie in Betrieb ging, und die Stadt, wie sie bis 1930 gewachsen war. Die Lizenzen waren dem Unternehmen nur unter der Bedingung erteilt worden, daß es, gemäß dem Cheap Trains Act, eine bestimmte Zahl von Tickets für Arbeiter zu Tageszeiten ausstellte, an denen diese zur Arbeit und wieder nach Hause fahren. Das County Council und die Underground arbeiten nun zusammen. Die neuen Bahnstrecken werden in dünn besiedelte Gebiete gelegt, und in manchen Fällen kauft das County Land auf und baut Wohnungen für Arbeiter. Die Transportunternehmen sind weder an der Grundstücks- noch an der Gebäude­ spekulationen interessiert. Es wäre offensichtlich vorteilhaft für das Unternehmen, im voraus dort, wo der Verlauf einer Strecke geplant ist, Land zu kaufen und von der darauffolgenden Wertsteigerung des Bodens zu profitieren. Zunächst einmal: Eine Bahnstrecke macht sich nicht bezahlt, aber um die Bahnhöfe herum wachsen die Orte schnell, und da ist der Erfolg garantiert. Um die Entwicklung so weit wie möglich voranzutreiben und die Anfangsschwierigkeiten zu überstehen, werben die Unternehmen großflächig und sehr methodisch. Auf jedem Bahnhof ist auf den Tafeln Platz für die firmeneigenen Poster, die so gut wie jede Woche gewechselt werden. Es gibt davon viele in verschiedenen Kategorien, manche rein dekorativ. Durch eine indirekte Werbemethode gewinnt die Öffentlichkeit den Eindruck, daß ein so angesehenes Unternehmen wie die Underground seine Werbetafeln stets in bester Ordnung hält. Die besten Künstler werden engagiert, um eine abwechslungsreiche Dekoration zu bieten. Manche Poster sind darauf angelegt, den Blick der Betrachter schon von weitem zu fangen, während andere eingehende Betrachtung erfordern. Die Poster der Underground sind so beliebt, daß sie bei Sammlern äußerst gefragt sind. In einer speziellen Abteilung der Hauptverwaltung kann man sie für je zwei Shilling [alte britische Münze im Wert von fünf Pence] erwerben, bis zum Jahresende die Restexemplare vernichtet werden und sich der Wert steigert. Niemand kauft Plakate, 313

Der Londoner Verkehr

die nur Schrift haben, obwohl es die Besten von allen sind. Das Plakat etwa, das für eine günstige Hin- und Rückfahrkarte – nach Eastcote oder Ruislip – wirbt, ist eines der schönsten und hellt jede Umgebung auf. Wenn man die Poster einmal wahr­ genommen hat, kommt man nicht umhin, jedes Mal beim Passieren eines Bahnhofes nach ihnen Ausschau zu halten. Es ist wie eine Ausstellung, die ständig wechselt. Fragt man die Leitung des Unternehmens, ob die Plakate von Nutzen seien, wird die Antwort lauten: auf jeden Fall. Sollte ein skeptischer Däne wissen wollen, ob dies statistisch bewiesen werden könne, wird die Antwort ‚Nein‘ lauten. Das Unternehmen bringt ein Plakat an und wirbt damit beispielsweise für ein Fußballspiel; wenn viele mit dem Zug dorthin fahren, wäre es möglich, die Fahrgäste zu zählen; aber es wäre unmöglich zu ermitteln, in welchem Maße sie durch das Plakat beeinflußt worden sind. Da so viele verschiedene Umstände in Erwägung gezogen werden müssen, wäre es nie möglich, den Effekt der Plakate mit Sicherheit festzustellen. Aber das Unternehmen arbeitet nicht völlig im Dunklen. Es gilt als Selbstverständlichkeit, daß das Plakat wirkt, und die Underground macht davon systematisch Gebrauch. Ich kann dafür einige Beispiele geben. Man hat mittels Statistiken sehr genaue Informationen über die Fahrten, die Strecken, die Zahl der Passagiere, wohin und wie sie fahren. Während die Zahl der Fahrten zu bestimmten Tageszeiten immens ansteigt und es beinah unmöglich wird, alle Passagiere zu transportieren, sind die Züge zu anderen Zeiten fast leer. Mit einer Kampagne versucht man fortwährend, die Leute dazu zu bewegen, möglichst zwischen 10 und 16 Uhr zu fahren. Zudem sind die Fahr­karten vergünstigt. Man konnte nachweisen, daß so wenig Menschen von einigen der Bahnhöfe fuhren, daß diese sich nicht rentierten. Bis heute wird mit Plakaten, Drucksachen, künstlerischen Zeichnungen und Fotografien verstärkt dafür geworben, das Interesse an diesen Bahnhöfen zu wecken, bis der erwünschte Effekt eintritt. Eine der besten Arbeiten der statistischen Abteilung der Underground, die ich gesehen habe, ist ein Bericht über die Sport- und Freizeitvergnügungen der Londoner von 1860 bis zum heutigen Tag. Er ist nie veröffentlicht worden, lediglich das Manuskript existiert und steht gegenwärtig dem Management und der Werbeabteilung zur Verfügung. Daraus lassen sich genaue Informationen über Tendenzen im Leben der Bevölkerung gewinnen. Der Bericht zeigt, daß der Durchschnittsbürger regelmäßiger und häufiger als früher in der Stadt umherfährt. Im Jahre 1860 betrug die durchschnittliche Anzahl der Fahrten pro Kopf und Jahr 15; 1929 war sie auf 456 gestiegen, wobei man nicht 314

Johnstons ‚Sans Serif ‘

Johnstons ‚Sans Serif‘, Schriftgestaltung für die Underground, 1916, auf einem Plakat

Johnstons ‚Sans Serif‘, Schriftgestaltung für die Underground, 1916, auf einem Plakat, das die Tunnel einer einzigen Station zeigt: Camden Town Junction

vergessen darf, daß im Gegensatz zu heute vor der Fusionierung der Strecken eine Fahrt mit Umsteigemöglichkeit von einer Linie zu einer anderen mehrfach gezählt wurde. Nun werden Nachforschungen darüber betrieben, welche Veränderungen im Leben der Menschen eine so unglaubliche Zunahme der Fahrten veranlaßt haben könnten. Es zeigt sich, daß die Ausdehnung der Stadt, die Zunahme der Sportveranstaltungen und die größere Vielfalt des Freizeitangebots zur Steigerung der Mobilität der Bevölkerung geführt haben. Die freien Wochenenden, die man in den 1870ern eingeführt hat, ließen die Zahl der Fahrten enorm anwachsen. Die Bahnen tun ihr Bestes, die neuen Tendenzen zu fördern und regen den Wunsch, das Wochenende auf dem Land zu verbringen, durch das Angebot von Sondertickets und systematischer Werbung an. Das Unternehmen untersucht in gründlicher statistischer Arbeit die 315

Der Londoner Verkehr

Edgware Station, 1923 (Foto Aerofilms Ltd.)

Edgware Station, 1930 (Foto Aerofilms Ltd.)

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Eisenbahnen in die neuen Gebiete

Hendon Central Station, 1923 (Foto Aerofilms Ltd.)

Hendon Central Station, 1930 (Foto Aerofilms Ltd.)

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Der Londoner Verkehr

Waggon der Londoner Underground

Adams, Holden & Pearson, Bahnhof der Londoner Underground

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Die Stationen gestalten die New Towns

Plakate für die Underground

Entwicklung und propagiert die besonderen Vorzüge von Underground, Omnibus und Straßenbahnen, um deren Benutzung zu fördern. Diese Tendenzen werden durch Werbung weiter angeregt, um die Entwicklung zu beschleunigen. Die Plakate in der Underground werben für alles, Sportveranstaltungen, Ausstellungen und Feste, ohne dabei von den unmittelbar Profitierenden bezahlt zu werden, nur um die Leute zu Fahrten zu animieren. Es gibt zum Beispiel keine Werbung für die Oper in Covent Garden – ich nehme an, die meisten ihrer Besucher kommen nicht mit der Underground dorthin. Die Underground Company, die bei ihrem Start im Jahre 1902 einfach eine Eisenbahngesellschaft war, die neue U-Bahnen bauen und die Metropolitan District Railway elektrifizieren sollte, wurde 1914 zu einer Holding Company. Seither legte man eine Reihe von Unternehmen unter ihrer Führung zusammen, die Underground und die Omnibuslinien, Reisebusse und Straßenbahnen, sowie deren Werkstätten. 1921 wurde eine königliche Kommission berufen, um die Regierung in Fragen des Passagier­verkehrs, der Planung von Städten, des Wohnungsbaus und der Entwässerung des Bodens im Umkreis von 25 Meilen um London zu beraten. 319

Der Londoner Verkehr

Adams, Holden & Pearson, Hauptsitz der London Transport [Gesellschaft], Westminster, Grundriß

Adams, Holden & Pearson, Hauptsitz der London Transport [Gesellschaft], Westminster, Grundriß

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Transport und Reklame

Adams, Holden & Pearson, Bürogebäude der London Transport [Gesellschaft]

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Der Londoner Verkehr

Enfield West Station, 1933

Das Depot in Cockfosters

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London Passenger Transport Board

Man ernannte ein Gremium, das London Traffic Advisory Committee, das im Juli 1927 dem Verkehrsminister einen Kooperationsplan für alle Fragen des Passagiertransports in London, innerhalb der sogenannten London Traffic Area, vorlegte. 1933 wurde das Gesetz, der London Passenger Transport Act, verabschiedet. In Übereinstimmung mit diesem Gesetz ist eine Gesellschaft – ähnlich der früheren Underground, jedoch mit einem viel größeren Aufgabenbereich – gegründet worden. Diese untersteht einem Vorstand und ist eine unabhängige, fast private Institution. Das 179 Seiten umfassende Gesetz macht sehr deutliche Vorgaben zur Zusammenstellung sowie zu den Tätigkeiten des Vorstands, welcher aus einem Vorsitzenden und sechs Mitgliedern besteht. Unter anderen sind sowohl das London County Council als auch ein besonderes Beratungsgremium bei seinen Wahlen vertreten. Die Mitglieder dürfen keinerlei finanzielle Interessen an irgendeiner der vom Transport Board kontrollierten Firmen haben und müssen ihr Mandat nach sieben Jahren niederlegen. Praktisch gesehen hat das London Passenger Transport Board die Verwaltung aller Transportgesellschaften innerhalb eines großen Gebietes um London übernommen. Die Aktien und Wertpapiere der Unternehmen werden nach bestimmten gesetzlichen Festlegungen in Aktien und Wertpapiere des Transport Board umgetauscht. Seit dem 1. Juli 1933 hat das Transport Board 89 Firmen mit einem Gesamtkapital von 120.000.000 britischen Pfund übernommen. Es beschäftigt 71.000 Menschen und hat 5.350 Omnibusse und 3.000 U-Bahnen unter seiner Verwaltung. Das Hauptziel dieser riesigen Institution, die ihre Existenz einer Initiative von Lord Ashfield zu verdanken hat, ist die Schaffung bestmöglicher Voraussetzungen für den Londoner Verkehr. Der effektivste Schritt, dies zu erreichen, muß es sein, alle Unternehmen unter einer einzigen Verwaltung zu vereinen. Nun wird wie bisher jede einzelne Abteilung ihren eigenen Vorstand [Board of Directors] haben und insofern mit anderen konkurrieren, als daß jede versucht, die meisten Passagiere zu befördern. Das wird indessen Ehrensache sein, keine Frage des privaten Gewinns. Im Gegensatz zu Städten, wo Staat, Gemeinden und Privatfirmen um das Monopol ringen, wetteifern die Londoner Transportunternehmen nur um die Verbesserung der Verkehrsmittel. Das London Passenger Transport Board ist das letzte Glied einer Entwicklungslinie, die kontinuierlich angestrebt hat, durch ein zeitgemäßes Verkehrswesen günstigere Bedingungen für die Ausdehnung Londons zu schaffen. 323

Der Londoner Verkehr

L.P.T.B. [London Passager Transport Board]-Anzeigen aus Tageszeitungen [um 1930]

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15 Die Gartenstadt

Gartenstädte sind ein Beispiel für die geplante Dezentralisierung von Städten. Die Idee der idealen Stadt wurde durch Ebenezer Howard (1850–1928) in einem kleinen 1898 veröffentlichten Buch mit dem Titel To-morrow verbreitet. Von Beruf Stenograph im Parlament, war Howard brennend an sozialen Fragen interessiert. Er entwickelte seinen Vorschlag, Städte als kleine und vollständige Einheiten mit allen Funktionen einer Stadt auszubilden, in erster Linie, um sich vom Chaos der Großstadt zu befreien und die Wohnverhältnisse der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern. Während in anderen Ländern umfangreiche wissenschaftliche Abhandlungen über die Wohn­ verhältnisse geschrieben wurden, ist Ebenezer Howards Buch, das sozusagen zur Bibel der englischen Stadtplanung wurde, lediglich eine populäre und äußerst praktische Broschüre. Einen Dänen könnte die Art und Weise der Publikation in ihrem Sprachfluß und dem leicht sektiererischen Unterton stören, aber sie erläutert sehr vernünftig und klar die Probleme und veranschaulicht, wie sich Howard deren wirtschaftliche Lösung vorstellt. Das Buch beginnt mit einer Folge von Kommentaren der Bürger und der Presse. Trotz gegensätzlichster Meinungen teilen alle die Tendenz, daß eine der brennendsten Fragen der Zeit laute, wie man das Wachstum der Großstädte unter Kontrolle bekommen und die Lebensbedingungen verbessern könne. Howard nahm die Herausforderung an, den Schlüssel zur Lösung dieses immensen Problems zu finden. Wenn der Zustrom in die Stadt so groß ist, muß sie bestimmte Anziehungspunkte haben, die auf dem Land fehlen. Als Engländer wiederum fühlte sich Howard verpflichtet, die immensen Vorzüge des Landlebens zu wahren. Das Ideal wäre etwas irgendwo zwischen beiden Lebensformen, die man früher in der Stadt und auf dem Lande pflegte. Niemand wäre mehr gezwungen, sich den Alternativen – Stadt oder Land – zu stellen, sondern würde eine dritte Möglichkeit wählen können, welche die Vorzüge des bewegten und aktiven Lebens in den Städten mit der Gesundheit und Schönheit des Landlebens vereint. Dieser Magnet würde die Menschen aus den überfüllten 325

Die Gartenstadt

Schaubild aus Ebenezer Howards Buch Garden Cities of Tomorrow

Städten in den Schoß der Mutter Erde ziehen. (Eine Denkweise, die kaum überrascht. War es nicht genau das, was die Engländer einst wollten, als sie Bloomsbury bauten – Einfamilienhäuser, gruppiert um Plätze, die aufs offene Land hinausgehen? Und war es nicht auch die Idee der Viertel am Regent’s Park, oder Norman Shaws Bedford Park Villen?) Howard veranschaulicht dies in einem Diagramm mit drei Magneten: die Stadt, das Land und die Gartenstadt. In der Stadt gibt es hohe Löhne und Arbeitsplätze – aber auch hohe Steuern und hohe Preise. Die Stadt ist mit ihren Vergnügungsmöglichkeiten attraktiv, die meisten ihrer Bewohner haben allerdings lange 326

Die drei Magnete

Wege zur Arbeit. Die Stadt hat hell erleuchtete Straßen, tagsüber gibt es jedoch kaum Sonne und die Luft ist schlecht. In der Stadt stehen eindrucksvolle Gebäude – aber zugleich gibt es die verkommensten Quartiere. Auf dem Land kann man die Schönheiten der Natur genießen, aber das Leben ist weniger gesellig. Zudem ist nicht so viel Geld im Umlauf. Es gibt auf dem Land weite Ausblicke, Parks, Wälder und frische Luft – allerdings sind die schönsten Teile (in England) normalerweise für die Öffentlichkeit unzugänglich. Auf dem Lande sind die Steuern niedriger, aber auch die Löhne. Die Häuser bekommen mehr Luft und Licht – aber Vergnügungs­ möglichkeiten sind rar und weit weg. Die sanitären Standards sind mißlich, Wasserversorgung und Kanalisation sind in schlechtem Zustand. Howard drückt es so aus: „Aber weder der Stadt- noch der Land-Magnet repräsentiert die Möglichkeiten und Absichten der Natur. Die menschliche Gesellschaft und die Schönheit der Natur sind geschaffen, um gemeinsam genossen zu werden. Diese zwei Magnete müssen vereint werden. Wie Mann und Frau sich in ihren Talenten und Begabungen ergänzen, so sollten es auch Stadt und Land tun. Die Stadt ist das Symbol der Gesellschaft – von gegenseitiger Hilfe und freundlichem Miteinander, von Vaterschaft, Mutterschaft, Bruderschaft, Schwesternschaft, von Beziehungen zwischen Mensch und Mensch – von um­fassenden, sich stetig entwickelnden Sympathien – von Wissenschaft, Kunst, Kultur, Religion. Und das Land! Das Land ist das Symbol von Gottes Liebe und Fürsorge für den Menschen. Alles, was wir sind und alles, was wir haben, kommt vom Lande; dorthin kehren unsere Körper zurück. Wir werden von ihm genährt, bekleidet, gewärmt und geschützt. Auf seinem Busen ruhen wir uns aus. Seine Schönheit ist Inspiration für die Kunst, die Musik, die Poesie. Seine Kräfte treiben alle Räder der Industrie an. Es ist die Quelle aller Gesundheit, allen Wohlstandes, allen Wissens. Aber seine Fülle an Freude und Weisheit hat sich dem Menschen nicht zu erkennen gegeben. Und sie wird es auch niemals können, solange diese unselige, unnatürliche Trennung von Gesellschaft und Natur andauert. Stadt und Land müssen miteinander verheiratet werden, und aus dieser freudigen Vereinigung wird eine neue Hoffnung entstehen, ein neues Leben, eine neue Zivilisation. Es ist die Absicht dieser Arbeit darzustellen, wie mit der Entwicklung eines Stadt-Land-Magneten der erste Schritt in diese Richtung unternommen werden kann; und ich hoffe, ich kann den Leser davon überzeugen, daß dies, hier und jetzt, mit den seriösesten Prinzipien, sowohl aus ethischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht praktikabel ist.“ 327

Die Gartenstadt

Nach dieser Einführung zeigt Howard, wie seine Wünsche in die Tat umgesetzt werden können. Man stelle sich einen Besitz von 6.000 Morgen vor, der sich in gewisser Entfernung zu einer großen Stadt befindet und für 240.000 Pfund erworben werden kann. Howard meint, man könne Hypotheken mit einem durchschnittlichen Zinssatz von nicht mehr als vier Prozent aufnehmen. Der Besitz wird von einem kleinen Vorstand von vier verwaltenden Besitzern übernommen, die gegenüber den Investoren und später gegenüber den Bewohnern der Gartenstadt verantwortlich sind. Alle Einnahmen, die sich durch Investitionen in das Land ergeben, werden an den Vorstand gezahlt. Nachdem dieser die Profite ausbezahlt und die nötigen Beträge abgeschrieben hat, soll der etwaige Überschuß für die Erhaltung und Ausführung von öffentlichen Belangen, Straßen, Schulen, Parks und so weiter verwendet werden. So profitieren die Bewohner aus der Wertsteigerung des Besitzes. Die Gebäude sollen nach ihrer Fertigstellung nur ein Sechstel der gesamten Fläche einnehmen, der Rest bleibt landwirtschaftlichen Zwecken vorbehalten. Die Gartenstadt selbst hat alle Vorzüge eines hoch entwickelten Stadtlebens: Im Zentrum sieht Howard öffentliche Gebäude um einen kleinen Garten vor, Rathaus, Museum, Konzerthalle, Bücherei, Theater und Krankenhaus. Um dieses parkähnliche Zentrum liegt wie eine große ringförmige, glasgedeckte Arkade die Haupteinkaufsstraße, die alle größeren Läden beherbergt. Um diese wiederum befinden sich Ringe von Häusern, die entlang einer kreisförmigen, 420 Fuß breiten ‚Grand Avenue‘ angeordnet sind. Weiter außen lagern sich Fabriken, Molkereien, Marktplätze und so weiter an. In der Gartenstadt darf es keinen Rauch geben, alle Maschinen werden mit Strom angetrieben. Der [damals nur organische] Abfall wird in den umliegenden Bauernhöfen entsorgt. Diese verkaufen ihre Produkte wiederum zum günstigsten Preis an die Stadt, da nur ein minimaler Transport vonnöten ist. Die Landwirtschaft wäre von keinem vorbestimmten System abhängig. Um die gesamte Fläche wettbewerbsfähig aufzuteilen, wird sie in viele Grundstücke von unterschiedlicher Größe dividiert und jeweils dem Höchstbietenden verpachtet. Im Sinne des freien Marktes sollte es mit der Zeit möglich sein, die beste Methode der Landverteilung festzustellen. Die Einnahmen der Stadt bestünden aus Pacht und Grundsteuern. Die Erträge sollten ausreichen, die Zinsen der Schuldscheine zu begleichen und einen Tilgungsfond auszustatten. Die Gemeinschaft würde von der Zinslast befreit, und der Vorstand könnte öffentliche Vorhaben innerhalb des Gebietes ausführen und instand halten. 328

Finanzielle Basis

Sobald die Stadt alle Kredite zurückbezahlt hat, würde der ursprüngliche Vorstand nicht weiter gebraucht und die Gartenstadt würde zukünftig unabhängig und selbst verwaltet sein. Auf dem Lande beläuft sich die Pacht für einen Morgen auf ca. vier Pfund, während sie in manchen Teilen Londons bis auf 30.000 Pfund ansteigen kann. Howards Plan zufolge würde die Wertsteigerung durch den Bau der Stadt, im Gegensatz zu einem allein profitierenden Besitzer, der Gemeinschaft zugute kommen. Man kann es auch so darstellen: Die Bewohner entgehen maßlosen Steuern in Form hoher Grundsteuern. Das Land wird niemals privatisiert, sondern bleibt Eigentum der Stadt. Auf diesem Wege werden den Bewohnern bessere Wohnverhältnisse als sonst in einer Stadt üblich gesichert. Howard stellte eine komplette Finanzierung auf. Er schätzt den gesamten Besitz, wie schon erwähnt, auf ca. 240.000 Pfund. Die vormaligen Pächter haben 8.000 Pfund bezahlt und bilden zusammen eine Bevölkerung von ca. 1.000 Menschen. Das ergibt acht Pfund pro Kopf. In der Gartenstadt würden 32.000 Einwohner leben (30.000 in der Stadt und 2.000 auf den umliegenden Bauernhöfen). Sie sollen jährlich für ihren Grundbesitz nur vier Prozent des Kaufbetrages zahlen, was sechs Shilling pro Kopf entspricht. Sämtliche Zahlungen darüber hinaus entsprechen den Grundsteuern (lokale Besteuerung) und können für öffentliche Belange verwendet werden. Howard geht von einem Betrag von ungefähr zwei Pfund pro Kopf aus – insgesamt 64.000 Pfund. Von dieser Summe fallen etwa 9.600 Pfund auf die Zinsen der Schuldscheine, 4.400 Pfund werden in einen Tilgungsfond investiert, und ca. 50.000 Pfund bleiben. Die Verwaltung hätte also eine große Summe zur Verfügung (das Projekt ist von 1898), und dies, obwohl jeder Bewohner nur ein Viertel dessen zu zahlen hat, was die vor­maligen Bewohner allein für das Land ausgeben mußten. Die durchschnittliche Summe für Pacht und Steuer beträgt laut Howards Aufstellung im Vergleicht vier Pfund und zehn Shilling. Der Vorteil für die Bauern ist offensichtlich: Ihnen steht ein neuer Markt offen, sie bekommen den Abfall der Stadt als Dünger, die Nachbarschaft der Stadt bietet ihnen die Vorzüge des Stadtlebens, und das Geld, das sie bezahlen, ist zugleich Pacht und Steuer. Zuvor wurden ca. 6.500 Pfund für 5.000 Morgen Agrarfläche gezahlt. Nun ist das Land wesentlich wertvoller und kann 50 Prozent – genau gesagt: 9.750 Pfund – mehr einbringen. Selbst die 1.000 Morgen der Stadt stellt sich Howard in typisch englischer Manier als kleine 20 Fuß breite und 130 Fuß tiefe Parzellen vor. Hierfür sollte mit sechs Shilling pro laufenden Fuß Vorderfassade bezahlt werden. 329

Die Gartenstadt

Jede dieser Parzellen sollte durchschnittlich einer Familie von fünfeinhalb Personen genügen und summa summarum ein Jahreseinkommen von 33.000 Pfund abwerfen. Weiter gibt es Fabriken, Werkstätten und Lagerhallen, welche insgesamt 21.250 Pfund einbringen. So würden die Bauernhöfe, Wohn- und Fabrikgelände wie geschätzt etwa 64.000 Pfund Pacht pro Jahr erwirtschaften. Die Stadt müßte keine Unsummen für die Grundstücke der öffentlichen Gebäude aufbringen, weil der Bodenwert immer von den Bewohnern gedeckt würde. Ebenso wenig müßten öffentliche Gelder für die Flächen zur Verbreiterung oder den Neubau von Straßen verwendet werden. Die Bewohner, die man Pächter oder Mieter nennen könnte, wären nicht in der Lage, mit dem Land zu spekulieren, da die Nutzungsrechte unverkäuflich sind. Wenn sie den Grund und Boden selbst nutzen, genießen sie alle Rechte eines Besitzers. Ihnen kann nicht gekündigt werden, solange sie nicht versäumen, für ihre Zahlungen aufzukommen. Howard betont deutlich, wie wichtig die Übereinstimmung des Plans der Stadt mit deren zweckmäßigen Funktionen sei. Das Projekt müsse als ganzes geplant und dürfe nicht, wie es bisher der Fall war, dem Zufall überlassen werden. Das Ausmaß ist festgelegt, damit die Bebauung sich nicht bis in die für die Bauernhöfe vorgesehene Zone ausdehnt. Auf diese Weise wird ein Rahmen, sozusagen eine endgültige Form, abgesteckt, in welcher sich die Stadt entwickelt. Howard philosophiert hier über das Wachstum der Stadt und sagt, sie solle ebenso wie Blumen, Vögel und Tiere Einheit, Harmonie und Konzentration zeigen. Der Effekt des Wachstums sollte niemals in der Entwicklung zu einer immer wirksameren ungestörten Einheit liegen, niemals zur Auflösung der Gemeinschaft führen. Er sollte kontinuierlich zu einer effizienten Entwicklung beitragen, die die Harmonie nicht stört, sondern steigert. Die Gesamtheit der Stadt möge gleich von Anfang an eine Keimzelle sein, die in einer späteren Phase in einem noch größeren Ganzen aufgehen kann. Ganz offensichtlich stellt Howard in seinem Diagramm aus diesem Grund die Stadt kreisförmig dar. Sie ist in Abschnitten entworfen, einem geöffneten Fächer vergleichbar, und erst dann vollendet, wenn der Kreis geschlossen ist. In der Realität hingegen ist das keine so einfache Angelegenheit. Eine Stadt und ein Organismus der Natur lassen sich nie so allgemein miteinander vergleichen. Die Elemente einer Stadt sind beträchtlich und verändern sich im Laufe der Jahre nur wenig. Im letzten Teil des Buches betrachtet Howard sämtliche Bereiche der Stadt mit ihren Ämtern und deren Aufgaben. 330

Eine georgianische Gemeinschaft

Ebenezer Howard, Plan einer Gartenstadt

Howards Idee der Gartenstadt ist ein interessanter Versuch, durchweg georgianisch [bezogen auf Henry George und der nach ihm benannten Philosophie des Georgism] innerhalb eines kapitalistischen Staates und finanziell abgesichert, eine kleine Gemeinschaft zu entwickeln. Er zeigt, daß dies, ohne die bereits bestehenden Besitzverhältnisse zu revolutionieren, lediglich durch die Gründung eines auf gemeinsamen Interessen basierenden Unternehmens bewältigt werden kann. Durch den Erwerb von erschlossenem Land und der üblichen Art der Vermarktung werden die Gewinne der gesamten Gemeinschaft und nicht nur einem einzigen Mitglied zugute kommen. Das Wort ‚Gartenstadt‘ ist in der Terminologie der Stadtplanung inzwischen ein eigener Begriff. Es bezeichnet nicht mehr nur Teile einer Stadt mit Gartenanlagen, sondern einen ganz bestimmten Typus von Stadt. Auf einem Kongreß, der 1920 in der ersten Gartenstadt Letchworth stattfand, einigte sich die English Garden City and Town Planning Association auf diese Definition: Eine Gartenstadt ist eine für ein gesundes Leben und eine gesunde Produktion entworfene Stadt von einer Größe, die ein gesellschaftliches Leben in ihrem gesamten Umfang ermöglicht; aber auch nicht größer, und umgeben von einem Landschaftsgürtel; alle Grundstücke befinden sich in öffentlichem Besitz oder werden für die Gemeinschaft treuhänderisch verwaltet. 331

Die Gartenstadt

Ebenezer Howard, Schema von Satellitenstädten

Lange vor dem Erscheinen von Howards Buch, war man sich der immensen Nachteile bewußt, die mit einer großen Stadt verbunden waren. Es war wohl bekannt, daß insbesondere die hygienischen Bedingungen sehr schlecht waren und der Großteil der Bevölkerung in erbärmlichen und viel zu beengten Häusern wohnte. Die Entfernung zwischen den Wohn- und Arbeitsstätten war zu groß, und es gab kaum die Möglichkeit, ein gesundes Leben mit frischer Luft zu führen. Diese Tatsachen betrachtete man jedoch als notwendiges Übel, als Ergebnis der industriellen Prägung der Zeit, welche nur philanthropisch oder durch zwingende politische Maßnahmen zu ver­bessern seien. Und plötzlich erschien ein Mann auf der Bildfläche, der zeigte, wie Städte ohne all diese Nachteile und mit einem eigenständigen Finanzsystem gebaut werden konnten. Das beeindruckte die konservativ Gesinnten. Als die Idee der Gartenstadt erblühte, kann man sich die Freude auf seiten der englischen Sozialisten lebhaft vorstellen, aber zugleich wurden auch die Liberalen zufriedengestellt, da ein klarer Vorschlag zur Landreform vorlag. Howard gelang es, die Unterstützung von Leuten 332

Die erste Gartenstadt

mit unterschiedlichsten Ansichten zu gewinnen. Sein Buch wurde in mehreren Auflagen veröffentlicht. 1902 gründete man eine Firma namens Garden City Pioneer Co. Ltd., welche die ersten Schritte zur Realisierung seiner Pläne in Angriff nehmen sollte. Ein großer Teil der Presse befürwortete dies; 20.000 Pfund standen zur Investition in die Schuldverschreibung bereit. Im Jahre 1903 wurde ein Vertrag zum Kauf von 3.800 Morgen Land (später auf 4.500 erweitert) in der Nähe des Dorfes Letchworth, 34,5 Meilen von London entfernt, unterzeichnet. Die erste Gartenstadt-Firma wurde gegründet und bot Verkaufsanteile im Gesamtwert von 300.000 Pfund an. Trotz der Unterstützung der Presse wurde aber nur ein Drittel verkauft. Die Grundstückskosten beliefen sich auf 160.000 Pfund (bei durchschnittlich 42 Pfund pro Morgen; Howard hatte mit 40 gerechnet). Als nächste Aufgaben standen ein Entwurf für die Stadt und die Bereitstellung der Wasserversorgung- und Abwasserentsorgung an. Die Architekten Barry Parker und Raymond Unwin entwarfen den Plan. Zunächst entstand ein neuer Bahnsteig, aber schon bald darauf bekam Letchworth seinen eigenen Bahnhof. Die Art und Weise der Publicity war jedoch nicht immer hilfreich. Das Experiment der Gartenstadt wurde als eine Art Sensation betrachtet, und demzufolge galten die Menschen, die nach Letchworth zogen, als exzentrische Kreaturen. Dieser Eindruck verfestigte sich, als man dort alle möglichen Arten von Reformen testete. Von größerer Bedeutung für Letchworth war allerdings, daß bereits 1905 verschiedene industrielle Unternehmen – zum Beispiel die Heatley Engineering Company und die Garden City Press Ltd. – ihren Betrieb aufnahmen. Letchworth war genau der richtige Ort für Unternehmen wie diese private Druckerei (die ihren Namen von der Gartenstadt ableitete), übrigens eine der führenden Druckereien Englands, denn für ein Unternehmen dieser Art, das Erzeugnisse von höchster Qualität lieferte, ist es wichtig, Arbeitnehmer mit höheren Lebensstandard zu beschäftigen. (Wir haben sowohl in Letchworth als auch in der anderen Gartenstadt Welwyn gesehen, daß Werkstätten und Fabriken für die Produktion gehobener Waren vor allem in einer Gartenstadt florieren). Nun kam die Frage nach Arbeiterhäusern auf, deren Bau durch eine private Initiative der Baugesellschaften geregelt wurde, aber bis zu einem gewissen Grad der Kontrolle des Vorstandes der Gartenstadt unterlag. Vor der Gründung von Letchworth interessierten sich englische Architekten sehr wenig für kleine Häuser. Arbeiterhäuser wurden stets von Bauunternehmen entworfen. Raymond Unwin war einer der ersten, der die öffentliche Aufmerksamkeit 333

Die Gartenstadt

auf die unglückliche Tatsache lenkte, daß man begabten Architekten diese Aufgabe nicht anvertraute. Und er bemühte sich sehr, sein Können mit einem guten kleinen Haustyp, der den Bewohnern ein Maximum an Sonne, Luft und funktionaler Ordnung sicherte, unter Beweis zu stellen. Die neue Idee wurde in Letchworth erprobt, und viele kamen, um sich ein Bild von dem Ergebnis zu machen. 1908 wählte Letchworth seinen ersten, aus 15 Mitgliedern bestehenden Gemeinde­ rat. 1917 wurde Letchworth als Stadtbezirk anerkannt und bekam seinen eigenen Urban District Council [Stadtbezirksrat]. Man berichtete von Letchworth als einem besonders gesunden Ort, weshalb viele Leute dorthin zogen. Sämtliche Statistiken scheinen diese Ansicht zu bestätigen, sie klären aber nicht, ob der Grund für die allgemein gute Gesundheit der Menschen an ihrem relativen Wohlstand oder an den besonderen Vorzügen des Ortes selbst lag. Ein früher Versuch, eine nicht subventionierte Schule zu gründen, blieb wegen des geringen Zuspruchs erfolglos. Im Jahre 1905 entstand indessen ein privates Internat, welches in vielerlei Hinsicht mit frischen Grundsätzen geleitet wurde, eine Schule für Jungen und Mädchen, in der die Kinder erst einen Montessori-Kindergarten und anschließend bis zu ihrem 19. Lebensjahr die Schule besuchen. Die Volkszählung zeigt ein stetiges Wachstum der Stadtbevölkerung. Je größer die Stadt wird, desto einfacher wird es für sie, sich selbst zu versorgen. Anfangs, als es nur vereinzelt Geschäfte und Lokale gab, wurde das meiste Geld anderswo ausgegeben. Inzwischen kann man davon ausgehen, daß das Gros des in Letchworth verdienten Geldes auch dort bleibt. Der Erfolg der Gartenstadt hing damit zusammen, daß sie sich als wichtiger industrieller Standort etablierte. C. B. Purdom, der ein exzellentes Buch über Satellitenstädte geschrieben hat [The Building of Satellite Towns, J. M. Dent & Sons Ltd., 1925] stellte einige Nachforschungen über die Vorzüge, die Gartenstädte der Industrie bieten können, bei den Managern der Industriefirmen von Letchworth an. Zunächst fragte er, warum sie sich in Letchworth angesiedelt hätten. Manche kamen von weither und wollten näher an London leben, andere nahmen die niedrigere Pacht zum Anlaß. Als wichtigstes Argument galt ihnen jedoch die gegenüber London einfache potentielle Erweiterungsmöglichkeit ihrer Anlagen. Viele antworteten, die Gartenstadt biete den Arbeitern gesunde Lebensbedingungen. Auf die Frage, ob sie mit Letchworth als einem industriellen Standort zufrieden seien, war die allgemeine Antwort ohne Vorbehalte positiv. Um die besonderen Vorzüge von 334

Die zweite Gartenstadt

Letchworth zu benennen, wurden vor allem folgende Punkte betont: gute Häuser, keine Über­völkerung, keine Trinkerei und eine saubere Stadt. Eine Firma erklärt, es sei zuweilen nicht so leicht, bestimmte Fachkräfte in Letchworth zu finden. In London sei die Auswahl einfach größer. Ein Arbeiter mit einem guten Gehalt verläßt London, wo ihm mehr Vergnügungen geboten werden, normalerweise ungern, aber wenn qualifizierte Leute nach Letchworth kommen, bleiben sie im allgemeinen auch. In Letchworth verliere man entschieden weniger Arbeitskräfte durch Krankheit als in vergleichbaren Londoner Werkstätten. Die Antwort auf die Frage, welche Verbesserungen wünschenswert wären, ist stets dieselbe – besserer und billigerer Nahverkehr nach London. Letchworths Finanzen geben keinen klaren Aufschluß über die Verhältnisse der Gartenstadt. Wie bereits erwähnt, wurde von Anfang an zu wenig Geld investiert. Um die notwendigen Arbeiten fortführen zu können, mußten die Darlehen erhöht werden. Howards Idee, daß die Bewohner eine Summe zahlen, welche sowohl Pacht als auch Grundsteuern umfaßt, wurde als unzweckmäßig angesehen. Das Land ist, wie in England üblich, für 99 Jahre verpachtet, und die Grundsteuern wurden von den Lokalbehörden den allgemeinen Bedingungen entsprechend festgelegt. Für einige Jahre wurden keine Dividenden ausbezahlt, weil sämtliche Einkünfte umgehend für neue Investitionen verwendet wurden. Wirtschaftlich betrachtet war dies irreführend, denn Verbesserungen müssen über das Vermögen finanzierbar sein, ohne die Zinsen des investierten Geldes zu verbrauchen. Die Investoren konnten zwar eine größere Sicherheit genießen, machten aber keinen Profit. Das dauerhafte Fortbestehen einer solchen Situation ist unschwer nachzuvollziehen, da es stets nahelag, die Einkünfte sofort zu investieren. Erst 1913 bemerkte der Vorstand, daß dies ein Fehler war und begann, den Investoren eine Dividende auszuschütten – nach langen Entbehrungen erhielten sie ein Prozent. In den darauffolgenden Kriegsjahren wurden die Zahlungen noch einmal ausgesetzt, aber 1918 zahlte die First Garden City zweieinhalb und im Jahre 1920 vier Prozent. 1924 war die Dividende schließlich auf das in den Statuten festgelegte Maximum von fünf Prozent gestiegen, ein Prozent höher als Howard vorgeschlagen hatte. Im Jahre 1920 wurde die zweite Gartenstadt, Welwyn, geplant. (Louis de Soissons war der Architekt.) Die Erfahrungen, die man in Letchworth gesammelt hatte, machten die Dinge in jeglicher Hinsicht einfacher. Welwyn liegt in der Nähe von London in 335

Die Gartenstadt

Bild einer Straße bei Welwyn, mit alten Bäumen und Rasen beiderseits des Weges, 1933

einem sehr charmanten, hügeligen Gebiet. Es gab ein paar Häuser mit Gärten und, wie so oft in England, viele wundervolle Bäume zwischen den Heckenreihen. Die Vorzüge des Standortes wurden bestens genutzt. Als erstes wies man die Flächen aus: Man erstellte einen allgemeinen Plan, der die Anordnungen der verschiedenen Quartiere verdeutlichte. Dieser Plan unterschied sich von Howards Diagramm, da er den örtlichen Gegebenheiten, vor allem Eisenbahn und Topographie, angepaßt werden mußte. Der bereits bestehende Bahnhof war von größter Bedeutung für das Wachstum der Stadt und bildete sozusagen ihr Herzstück. Für das Gebiet östlich der Eisenbahn sah man eine industrielle Nutzung vor, so daß der Rauch bei den vor­herrschenden Westwinden den Wohngebieten im Westen und Süden der Stadt 336

Welwyn Garden City

Arbeiterhäuser an einer Straße in Welwyn, 1931

keinen Nachteil bescherte. Entlang der die hügelige Oberfläche durchschneidenden Eisenbahnlinie ist das Stadtzentrum mit einer geraden Allee geplant, an welcher die prächtigen Gebäude liegen: Rathaus, Theater, Banken, Geschäfte und so weiter. Um dieses herum sollen fein geplante Wohnquartiere entstehen, die auf Initiative von Bauunternehmen den jeweiligen Standortbedingungen entsprechen. Auf dem Plan erscheinen sie, mit ihren Kurven, Knicken und den vielen kleinen Sackgassen, als reine Zufallsprodukte. Vor Ort ist selbstverständlich alles eine Folge der Topographie und der vorhandenen Vegetation, die ausgesprochen elegant in das Ganze integriert worden ist. Diese junge Stadt tritt mit ihren sagenhaft alten Eichen und behaglichen Häusern wesentlich idyllischer in Erscheinung als jede andere Stadt, die entlang einer Eisenbahn liegt. Besondere Aufmerksamkeit hat man dem attraktiven Erscheinungsbild der Wohnviertel gewidmet. Die meisten Straßen sind schmal, jedoch von Rasen­streifen und Wegen statt [gepflasterten] Bürgersteigen gesäumt und wirken eher ländlich. Vorgärten ohne Einzäunung, nach amerikanischem Vorbild, erfreuen sich inzwischen großer Beliebtheit und das, obwohl die Menschen in England in der Regel noch eifriger ihre Grundstücke einzäunen als in Dänemark: Man hält transparente Drahtzäune für unzureichend und bevorzugt Holzzäune, die alle neugierigen Blicke fernhalten. 337

Die Gartenstadt

Die Fabrik Shredded Wheat Ltd., Welwyn Garden City, 1931

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Welwyn, die idyllische Stadt

Cottages aus Beton, Welwyn Garden City, 1931

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Die Gartenstadt

Louis de Soissons, Plan der verschiedenen Stadtteile von Welwyn Garden City

Als die Architekten von Welwyn zum ersten Mal vorschlugen, die Vorgärten wie offene Rasenflächen mit hier und da ausgewähltem Buschwerk und Blumen zu gestalten, stieß dies auf starken Widerspruch. Schließlich konnten sie es doch in einer Straße umsetzen, in der sich wohlhabende Leute Villen gebaut hatten. Bereits kurz nach der Fertigstellung fiel die öffentliche Meinung äußerst positiv aus, und bei der Planung von neuen Straßen baten die Leute um diese Form der Gestaltung. Der Vorgarten wird von einem Gärtner gepflegt, die Bepflanzung folgt bestimmten Regeln. Jedoch ist das ganze so einfach und selbstverständlich gehalten, daß man die Besonderheit erst bei genauem Hinsehen wahrnimmt. 340

Der Charme von Welwyn

Louis de Soissons, Plan von Welwyn

Es ist sehr charakteristisch für Welwyn, daß die Schulen niedrige und schlichte Gebäude sind; alle Klassenzimmer liegen im Erdgeschoß, und wenn es das Wetter erlaubt, können die Kinder sofort ins Freie. Dänische Behörden würden die hüttenartigen Schulgebäude vielleicht für zu einfach halten. Aber die Behörden in Welwyn erachten es als wesentlich, die Schulen nach den gleichen Prinzipien wie die gesamte Stadt auszuführen, damit sie ebenso von offenen Bereichen umgeben sind und im Einklang mit der Landschaft stehen. Viele Einwohner von Welwyn arbeiten in London. Der Familienvater muß jeden Tag pendeln, bevorzugt es jedoch, zum Wohle seiner Familie außerhalb zu wohnen. 341

Die Gartenstadt

Allerdings sinkt die Prozentzahl dieses Teils der Bevölkerung von Jahr zu Jahr. Einige Industrieunternehmen haben Welwyn, ähnlich wie Letchworth, als Standort gewählt und sind vollkommen zufrieden. Das Erscheinungsbild der Fabriken in Letchworth ist ebenso angenehm wie dasjenige der Häuser. Vor allem die allgegenwärtige Sauber­ keit überrascht. Es steht außer Zweifel; daß die Herstellung von Produkten unter solchen Bedingungen eine gute Werbung für eine Firma wie Shredded Wheat ist, deren große weiße Silos von der Eisenbahn aus zu sehen sind. Neben den Fabriken liegen Fußballplätze, auf denen sich die Arbeiter Bewegung verschaffen können. Unmittelbar im Süden angrenzend gibt es ein Netz von kleinen ‚closes‘ [Straßen] mit den hübschen zweistöckigen, aus Beton errichteten Cottages der Arbeiter. Howards Wunsch, die Vergnügungen der Stadt mit denen vom Lande zu verbinden, scheint in Welwyn, das beispielsweise ein eigenes Theater hat, Wirklichkeit geworden zu sein. Hier werden die Vorstellungen zwar von Laienschauspielern gegeben, aber dennoch ist das Haus, wie so viele private Theater in England, hoch angesehen. Während des ganzen Jahres gibt es viele Veranstaltungen, die Besucher anziehen und zeigen, wie lebendig die Stadt ist und welche Mentalität ihre Bewohner auszeichnet. Während Letchworth als gewöhnliche Provinzstadt nur eine bestimmte Anzahl von Geschäften hat, ist in Welwyn der Handel stark konzentriert. In der Nähe des Bahnhofs befindet sich eine große Einrichtung, deren Grundkonzept in vielerlei Hinsicht an das der dänischen Versorgungsgesellschaften erinnert. Viele und unterschiedlichste Waren stehen dort zum Verkauf, wobei die Erfahrung gezeigt hat, daß zu wenig lokaler Wettbewerb keinen Schaden anrichtet. In Welwyn lebt ein relativ geringer Teil der Bevölkerung vom Handel, was vergleichsweise niedrige Preise ermöglicht. Die zwei Gartenstädte beweisen, daß, wie es Ebenezer Howard vorsah, eine Stadt an Orten entstehen kann, wo die Lebens- und Arbeitsbedingungen wesentlich gesünder sind als in den großen Städten, und daß das tägliche Leben nicht teurer sein muß. Trotzdem liegt das Ziel, das Howard erreichen wollte, noch in weiter Ferne. Die zwei idyllischen Orte existieren zwar als Beispiele für zukünftige Städte – ihre Bedeutung ist jedoch erstaunlich klein. Nach 30 Jahren tatkräftiger Arbeit, mit viel Werbung und Aktivität und mit finanzieller Unterstützung durch Förderer, war es möglich, zwei Städte mit insgesamt 25.000 Einwohnern zu etablieren. Das ist keine große Zahl, wenn man bedenkt, daß allein viermal so viele Menschen pro Jahr im Großraum London Wohnraum suchen – Menschen, die nicht in Gartenstädten leben, 342

Schwierigkeiten der Gartenstadt

Dellcott Close in Welwyn Garden City mit Rasenflächen vor den Häusern

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Die Gartenstadt

sondern in beliebigen Quartieren, die weder in ihrer Beziehung zu den Arbeitszentren noch mit Bezug zum erholsamen Land geplant worden sind. Der potentielle Erfolg der Gartenstädte ist leicht auszumachen; denn wenn die Gartenstadt einmal die ersten Hürden genommen und eine bestimmte Größe erreicht hat, bietet sie genau die Vorzüge, die Howard sich vorgestellt hat, auch in finanzieller Hinsicht. Das Schwierige ist der Start. Man geht kein geringes Risiko ein, wenn man eine Gartenstadt gründet, und mit Sicherheit sind anfangs keine Gewinne zu erwarten. Falls später so begrenzte Dividenden ausgezahlt werden, wie Howard es vorschlägt, ist die geringe Nach­frage nicht verwunderlich. Es war schwierig, das Kapital für Letchworth zu beschaffen, und für Welwyn wurde es auch dadurch nicht einfacher, daß sich der Vorstand auf eine Verzinsung von sieben Prozent einigte (was bislang immer noch nicht gelingt). Howards Vorstellung, es müsse möglich sein, als Hilfe für mittellose Menschen Kapital zu erhalten, um eine kleine georgianische Gemeinschaft zu gründen, ist utopisch. Es dürfte eine soziale Frage sein. Bibliographie Von all den Büchern, die über die Gartenstädte geschrieben wurden, sollte vor allem Sir Ebenezer Howard: Garden Cities of To-morrow Erwähnung finden. Die beste Ausgabe ist die von 1946, herausgegeben von F. J. Osborn. Auch sehr wichtig ist C. B. Purdom: The Building of Satellite Towns, 1925, das ausführlich die Idee der Satellitenstadt und deren Entwicklung in der ganzen Welt beschreibt und darüber hinaus einen vollständigen Abriß der Geschichte der Gartenstädte Letchworth und Welwyn liefert. Die regelmäßig erscheinende Zeitschrift: Garden Cities and Town Planning, 1910 –1932, ist mit ihren vielzähligen Buchbesprechungen und thematischen Informationen über die Entwicklung der Gartenstädte neben den beiden zuvor erwähnten Büchern die Hauptinformationsquelle für die Beschäftigung mit der Englischen Gartenstadt. Für Informationen über Welwyn siehe Louis de Soissons und Arthur William Kenyon: Site Planning in Practice at Welwyn Garden City, London 1927, das verschiedene gute Illustrationen und Skizzen über Parzellierung und Bauen in Verbindung mit Straßen enthält. Robert Whitten und Thomas Adums: Neighbourhoods of Small Homes, Harvard University Press, 1931, enthält eine Reihe von nützlichen Studien zur Planung von Cottages. Informationen über die beiden Gartenstädte kann man auch von der Garden Cities and Town Planning Association, 13 Suffolk Street, Pall Mall, S. W. 1. erhalten. Hinsichtlich der Regionalplanung von London siehe die zwei Berichte des Greater London Regional Planning Committee.

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16 Ein höchst unglückliches Ende

Der genaue Titel dieses Buches lautet Die Lehre von London. Das Buch verfolgt eine Absicht. Die Beschreibung einer Zehnmillionenstadt wäre ja völliger Unsinn, wenn man das Thema nicht aus einem speziellen Blickwinkel betrachtet und entsprechend die endlose Zahl der Fakten, die in der Literatur beleuchtet worden sind, auf wenige ausgewählte Dinge reduziert. Mein Ziel war, meinen Landsleuten [den Dänen] zu zeigen, daß wir eine ganze Menge von jener Form der Kultur lernen können, für die London maßgeblich steht. Ich wollte darauf aufmerksam machen, daß es zwei Arten gibt, große Städte zu organisieren, die englische und die kontinentale. Meiner Erfahrung nach kommt, wer die englische Erfahrung kennenlernt, nicht umhin, sie zu bewundern. Aber es wäre gefährlich, einen einzelnen Aspekt zu kopieren. Wir müssen verstehen, daß die Lebensumstände in englischen Städten, die heute auf dem Kontinent bewundert werden, Teil einer speziell englischen Welt sind und damit ganz und gar verschieden von der kontinentalen. Diese Umstände bilden eine unsichtbare Einheit, die wir kennen und verstehen müssen, bevor wir versuchen können, Bedingungen zu entwickeln, die gleichermaßen zu einem natürlichen und organischen Teil unseres Lebens werden. Nun, da ich das Buch geschrieben und die Entwicklung verfolgt habe, bin ich zu dem Schluß gekommen, daß es von größerer Bedeutung ist, den Engländern ihre eigene Kultur zu erklären. Eine Kultur, die wir bewundern und so gut wie möglich imitieren. Die Ignoranz der Engländer gegenüber dem Tun und Lassen in anderen Ländern Europas war ihnen eine wichtige Stütze. So war es ihnen möglich, eine Form der Kultur herauszubilden, die sich frei entwickeln konnte. In der heutigen Zeit [zu Beginn des 20. Jh.s] jedoch ist dieses Fundament der Ignoranz zu etwas Ungesundem geworden, seit in England eine bedauerliche Manie aufgetaucht ist, fremde Nationen zu imitieren. Die internationalen Grenzen verschließen sich den vor 1914 selbstverständlichen Handelsbeziehungen und dem Warenverkehr immer mehr. Mit der Ausbildung nationalistischer Instinkte in ganz Europa wird die Imitation der Torheiten anderer Länder immer mehr zur Regel; und heute scheinen nur noch die Torheiten 345

Ein höchst unglückliches Ende

international zu sein. Es ist nicht nur für England, sondern für die Welt im allgemeinen eine Tragödie, daß sich dieses Land von seinen eigenen Traditionen verabschiedet hat. Der Tag, an dem England den freien Handel aufgab, war so fatal wie der Ausbruch des Krieges 1914. Ich war zu dieser Zeit in London, und es ergriff mich, daß offensichtlich die Engländer selbst ihre Bedeutung in der Welt nicht realisierten; es gab keine Anzeichen dafür, daß die Stadt durch eine Krise unkalkulierbaren Ausmaßes gehen würde. Von da an verstand ich, wie wenig sich die Einwohner Londons über den Stellenwert ihrer Stadt in Europa bewußt waren. Für uns Kontinentalbürger steht London in direkter Nachfolge zu den sich selbst verwaltenden Bürgerschaften des Mittelalters – der holländischen Bürgerstadt. London ist die Hauptstadt aller Hauptstädte, die dem Absolutismus widerstanden und die Rechte der Bürger innerhalb des Staates bewahrt hat. Vom Kontinent betrachtet ist der Beitrag Englands zur europäischen Kultur eine Welt von Ideen, die nur in einer Gesellschaft aufkommen und gedeihen konnten, die sich dem Absolutismus widersetzt hatte. London spielte in dieser Entwicklung eine beachtliche Rolle, und heute ist es mehr denn je von größter Bedeutung, daß diese Ideale in mindestens einem europäischen Land fortbestehen. Lassen Sie mich diese Ideale zusammenfassen. Die Regierung wird von einer Wahlversammlung gewählt, in der auch Minderheiten vertreten sind, sie hat auch das Recht, über die Finanzen des Reiches zu verfügen; in den Städten gibt es eine hochentwickelte Form der kommunalen Verwaltung; im öffentlichen Leben herrschen Presse- und Religionsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Versammlungsfreiheit und Menschenrechte (die Idee der Menschenrechte, die üblicherweise mit der berühmten französischen Deklaration von 1789 in Verbindung gebracht wird, geht auf die Schriften Miltons im 17. Jahrhundert zurück und wurde vom englischen Volk 1776 in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika formuliert); in der Wissenschaft ist die Folge eine empirische und rationale Forschung (die Titel der Arbeiten von Thomas Paine, jenem Quäker und Freiheitskämpfer, klingen wie ein ganzes Programm: Common Sense, 1776, The Rights of Man, 1791 und Age of Reason, 1794 [Gesunder Menschenverstand, Die Rechte des Menschen und Zeitalter der Vernunft sind noch im Veröffentlichungsjahr in deutscher Übersetzung erschienen]); in der Kunst ist eine Fülle an Literatur über soziale und humane Probleme bezeichnend, es gibt einen attraktiven Wohnungsbau und eine beispielhafte Haltung gegenüber Gebrauchsgegenständen, wo Funktion, Form und 346

Nur die Dummheiten sind international

Die Themse, von Richmond Hill aus gesehen

Material gegenüber der Gestaltung im Vordergrund stehen; in Glaubensfragen heißt das Ideal Toleranz; im wirtschaftlichen Leben freier Handel und offener Wettbewerb; im Alltag schätzt man die konventionelle Form, Konvention als selbst auferlegte Anerkennung von Regeln, welche Zurückhaltung gegenüber dem Überfluß verlangen; in der Erziehung wird der sportlich idealisierte Wettbewerb favorisiert: fair play als notwendige Qualifizierung. So wie wir London weltweit als Quelle englischer Ideale betrachten, ist die Art und Weise, wie die Menschen dort leben oder zu leben versuchen, Ausdruck dieser Gedankenwelt … „My house is my castle“. Das Einfamilienhaus, das Landleben und all das, was wir bewundern und gern nachahmen würden, sind untrennbar mit der englischen Denk- und Lebensweise verbunden. Man weiß wirklich nicht, ob man heute darüber lachen oder weinen soll, daß eine „moderne“ Architektur nach London importiert wird, die dem Zeitgeist viel weniger als die georgianischen Häuser von etwa 1800 entspricht. Es gibt gegenwärtig eine beachtliche Reihe englischer Bücher zu den neuesten Moden in der ausländischen Architektur, aber ich habe noch keine einzige englische Publikation entdeckt, die sich ausführlich mit dem annehmlichen standardisierten Typus des Georgian Town House beschäftigt, dessen Anblick für Ausländer zu den beeindruckendsten in London gehört. Kaum jemand in London nimmt die erstklassige Architektur der Stadt wahr oder zählt Bedford Square zu einem der herrlichsten Plätze der Welt. 347

Ein höchst unglückliches Ende

Moderner deutscher Park im englischen Stil

Eine Sackgasse in der Gartenstadt Hampstead mit Blick auf Hampstead Heath

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Die Stadt der Zukunft

Aufgrund ihrer Erfahrungen mit englischen Städten haben englische Stadtplaner ihre Ideale der zukünftigen Stadt entwickelt, Ideale, die Menschen überall zu verwirklichen suchen. Die Städte der Zukunft werden sich völlig von den großen Städten der Antike unterscheiden, die als Heiligtümer den Göttern geweiht waren. Die Antike war beherrscht von mächtigen Tempeln und Palästen der Regierenden, der Hauptpriester und irdischen Vertreter der Götter. Prozessionsstraßen führten prachtvoll vom Palast zum Tempel. Die Einwohner bildeten einen völlig unter­geordneten Teil des Ganzen. Bei festlichen Anlässen waren sie gänzlich aus dem Zentrum der Stadt und von jeglicher aktiver Teilnahme an den Zeremonien ausgeschlossen. Diesem Muster gleichen viele der antiken Städte, die heute ausgegraben werden, selbst das Kaiserliche Peking entspricht dem kulturellen Typus der regelmäßig geplanten Stadt. Der Absolutismus hat dieses vollständig der monumentalen Idee des Ganzen untergeordnete Stadtbild wiederbelebt. Versailles gleicht einem Tempel mit Louis le Grand [dem ‚Sonnenkönig‘ Louis XIV.] als Personifizierung der Gottheit. Wir hoffen, die Stadt der Zukunft wird realistischer sein. Statt des Altars eines unsichtbaren Gottes oder des Denkmals der Staatsidee wird sie einfach der Ort sein, an dem Menschen ihr ganzes Leben verbringen und ihre Fähigkeiten unter bestmöglichen Bedingungen entwickeln können. Die Häuser sind im Vergleich zu den Gebäuden vieler alter Herrschaftsstädte bescheiden, aber sie haben einen Garten, in dem die Kinder so früh wie möglich ihre Zeit im Freien verbringen und Sonne und Luft genießen können. Sie krabbeln im Gras, stehen auf und versuchen, die Blumen, Vögel und Insekten anzufassen, machen ihnen gegenüber unverständliche Bemerkungen und testen ihre Kräfte auf vielerlei ungefährliche Weise. Nicht weit vom eigenen Garten entfernt befindet sich der Spielplatz, wo sie später Freundschaften schließen, interessante Spiele und neue Worte lernen, Sandburgen bauen und mit Schiffchen und Autos spielen werden. Dort können sie schaukeln, wippen und vieles mehr, bis sie irgendwann das Bedürfnis nach anderen Beschäftigungen als den eigenen Spielchen verspüren. Dann warten die Sportplätze mit Spannenderem und Aufregenderem, und sie entwickeln ihre Fertigkeiten durch sportliche Betätigung. Die niedrigen Schulgebäude sind von Gärten und Spielplätzen umgeben, der Unterricht und das Sammeln von Erfahrungen ist drinnen wie draußen möglich. Von der Schule führt der Weg zu den Arbeitsstätten der Erwachsenen, die entsprechend den Produktions­anforderungen angenehm zu erreichen sind und die Wohnviertel 349

Ein höchst unglückliches Ende

trotzdem in keiner Weise belästigen. In den Forschungsstätten wird, wie in den Schulen, unter bestmöglichen Bedingungen gearbeitet. So steht die Stadt den Erwachsenen mit vielfältigsten Möglichkeiten offen. In seiner Freizeit fährt der Engländer aufs Land, besucht andere Stadtzentren, ein Cricket- oder Fußballspiel. Das einzelne Haus an sich ist nichts Besonderes, die Gesamtanlage bietet dafür um so mehr: ein Netz baumgesäumter Hauptstraßen, die verschiedene Stadtzentren miteinander verbinden und zügige Kommunikation ermöglichen, und als Kontrast dazu von friedlichen Eigenheimen gesäumte ruhige Ecken, Parks, Sportplätze und Dorfanger. Verlassen die jungen Leute ihr Elternhaus, bevorzugen sie es, große Colleges zu besuchen. Dort können sie mit Gleichaltrigen gemeinsamen Interessen nachgehen. Später, sobald sie heiraten, werden sie wieder ein Auge auf das Haus im Grünen werfen, wo Kleinkinder spielen und das Familienleben blühen kann. Wenn alle möglichen Sportarten ausprobiert sind und das Bedürfnis nach hitziger Betätigung abgenommen hat, erwacht ihr Interesse an der Gartenarbeit. Irgendwann wird die Lebensfreude auf andere Formen des Lebendigen übertragen. Die Mutter sitzt mit den Kindern im Garten in der Sonne, inmitten von Pflanzen und Blumen, die der Vater gesät hat. Die Gartenarbeit gibt dem Engländer Betätigung und Ent­spannung nach einem harten Tag, die Freude, etwas zu erschaffen. So sollte die Stadt der Zukunft Raum für eine gesunde Lebensentwicklung in jedem Alter bieten – bis die Alten ein letztes Mal in den Garten gehen, um Sonne und Licht, Vogelgezwitscher und den Duft der Blumen aufzusaugen wie das kleinste Menschenkind. So stellt man sich die zukünftige Stadt bei einem Gang durch Hampstead Garden Suburb vor. Zu Beginn dieses Jahrhunderts [des 20. Jh.s.] gab es, fern der Stadt, nur Felder, und nur wenige ahnten, daß sich die Stadt jemals so weit ausdehnen würde. In jener Zeit wohnte dort draußen die Witwe eines Pfarrers, die früher zusammen mit ihrem Mann im East End gelebt hatte. Ihr Traum war, ein neues und gesundes Viertel mit besseren Wohnmöglichkeiten für die ärmeren Gemeindemitglieder zu schaffen. So kam es, daß die Entwicklung von Toynbee Hall bis Hampstead ihren Lauf nahm. Henrietta Barnett fühlte sich nicht nur den Armen verbunden, sie beurteilte auch soziologische Probleme korrekt. Die spätere Erfahrung sollte ihr damit Recht geben, daß es nicht ausreicht, die Menschen in bessere Häuser außerhalb umzusiedeln, sondern daß es gleichermaßen notwendig ist, dafür Sorge zu tragen, daß sie Teil der Gemeinschaft werden. Statt in ausgedehnte Quartiere ausschließlich 350

Englische Ideale

Grundstücksmauer in der Gartenstadt Hampstead. Das Terrain fällt ab, das Gebiet grenzt an die Erweiterung des Heath. Die rückwärtige Mauer ist eine bezaubernde, von Gartenhäusern und Toren statt von alten Türmchen und Bastionen aufgelockert Begrenzung – und bildet dennoch eine klare Trennungslinie zwischen Stadt und offenem Land.

für Arme oder Reiche, sollte die ganze Stadt in lauter kleine, gleichmäßig verteilte Einheiten gegliedert sein. In solchen town cells braucht sich das einzelne Individuum nicht völlig verloren zu fühlen, wie in einem riesigen, unzusammenhängenden Viertel. Wo Reiche und Arme zusammen eine kleine Gemeinde bilden, würde sich eine harmonische, um ein bürgerliches Zentrum organisierte Stadt ergeben. 351

Ein höchst unglückliches Ende

Oben: Solche Häuser mit Zweiraum-Wohnungen sind in Kopenhagen weit verbreitet und werden nicht als Slums angesehen. Unten: In London werden diese Häuser als Slums geräumt.

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Kontinentale und englische Elendsviertel

Oben: Old Bermondsey, mit kleinen Häusern und Gärten (Foto A. T. Westlake) Unten: New Bermondsey, der gleiche Ort wie oben, mit neuen Appartmentblocks bebaut, Leere anstelle von Gärten (Foto A. T. Westlake)

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Ein höchst unglückliches Ende

In Raymond Unwin fand Henrietta Barnett jemanden, der ihren Ideen eine praktische Gestalt verleihen und eine ideale Stadt mit Freizeitanlagen, einem Ortsmittelpunkt und schöneren neuen Straßen entwerfen konnte. Wer durch Hampstead Garden Suburb geschlendert ist und gesehen hat, wie die Häuser ein stimmiges Ganzes bilden, wer dann weiter durch Golders Hill hoch zum Whitestone Pond gegangen ist und den im Abendnebel kaum auszumachenden Sonnenuntergang über den weiten Feldern bestaunt hat, versucht sich das alles mit diesen Siedlungen vorzustellen. Offensichtlich ist die harmonische Stadt keine Utopie. Wir haben ihre Realität erlebt. Wer mit Londons Geschichte vertraut ist, wird feststellen, daß die Ideale von Ebenezer Howard, Henrietta Barnett und Raymond Unwin eine stetige Fort­führung der historischen Entwicklung sind. Gesunde Ideale, die auch vom einfachen Mann geteilt werden. Dies ist die Lektion Londons. Ein Blick auf die Anzeigen der Bauspekulanten in englischen Tageszeitungen genügt, um zu sehen, daß Engländer in Cottages wohnen wollen. Doch offensichtlich stehen dem Hindernisse im Weg. Viele Menschen glauben, es sei heutzutage, wie in anderen großen Städten, ein Fortschritt, hohe Häuser zu bauen. Offensichtlich wurde London von Panik erfaßt und hat die englischen Traditionen aufgegeben. Zweierlei hat die Menschen empört: zum einen die massive Zunahme des Verkehrs und zum anderen die Armenviertel. Auf jeden Fall muß etwas geschehen, aber man wählt das falsche Mittel und beginnt Wohnungen für Leute zu bauen, die sonst in Cottages leben würden. Es ist wahr, der Verkehr und die Armenviertel sind die Schattenseiten Londons. Betrachten wir zunächst den Verkehr. Möglicherweise werden täglich einige Stunden mit dem Weg zur Arbeit und zurück verbracht. Diese Stunden sind nicht die angenehmsten. Während der Stoßzeiten sind die Busse und U-Bahnen extrem überfüllt. Die Menschen stehen, halten sich über weite Strecken an Haltegriffen fest und sind mit anderen Passagieren in einer äußerst beengten Atmosphäre zusammengepfercht. Auf den ersten Blick mag der Grund für dieses Ärgernis in den weit verstreuten Wohn­ gebieten liegen. Das Wohnen in vielgeschossigen Gebäuden würde folglich die Anzahl und Dauer dieser Fahrten verringern. Aber so einfach ist der Sachverhalt nicht. Das Problem ist nicht die Entfernung zwischen den Häusern, sondern die Konzentration der von diesen weit entfernt liegenden Arbeitszentren. Lebte ein Großteil der Londoner Bevölkerung in Wohnungen statt in Einfamilienhäusern, dann wären die Strapazen des Verkehrs nicht weniger gravierend. Dabei ist nicht einmal sicher, ob die Fahrten 354

Landhaus oder Wohnung?

Cottages in der Siedlung Roehampton

Typische Gebäude in einer der Siedlungen des London County Council

wirklich kürzer wären. Es stimmt, in London wird unangemessen viel Zeit mit dem Nahverkehr verschwendet, aber das liegt weniger an den langen Distanzen zu den Vororten, wo der Verkehr schnell fließt, als an der Schwierigkeit, die dichteren Stadtteile zu durchqueren. In großen Städten kommt es durch unnötigen Verkehr immer wieder zu Beeinträchtigungen, gleich ob in konzentrierten oder aufgelockerten Städten. Worin liegt der Nutzen, wenn man, wie beispielsweise in Kopenhagen, in einem Haus mit fünf Etagen in der einen Ecke der Stadt lebt, in einer anderen arbeitet und seinen Schrebergarten in einer dritten hat? So nämlich sieht das Leben in den Städten auf dem Kontinent aus. In London kann man wenigstens sein Heim und seinen Garten am selben Ort besitzen. Wenn sich Geschäftsviertel, Fabriken und Wohngebiete konzentrieren, wird im Ergebnis die gesamte Stadt vom Verkehr überlastet sein. Die vernünftigste Lösung des Verkehrsproblems wäre, sämtliche Hauptzentren der Stadt in viele kleine Subzentren zu gliedern – die Idee der Gartenstadt. Gartenstädte werden jedoch keine große Bedeutung erlangen, wenn sie nur, wie dies bisher der Fall ist, privatwirtschaftlich organisiert sind. Sie müssen Teil einer größeren Planung sein. Zukünftige Städte sollten durch ein gut entwickeltes Verkehrsnetz miteinander 355

Ein höchst unglückliches Ende

verbunden sein, wie es Howards Idee von Anfang an war. In einem in seinem Buch enthaltenen Diagramm stellt er Gartenstädte wie Satelliten im Sonnensystem um die Haupt-Stadt dar. Jeder Satellit ist von offenem Land umgeben, untereinander sind sie jedoch mit einer Reihe von Verkehrsadern verbunden. Könnten die Fabriken und Werkstätten aufs offene Land verlegt und Wohnhäuser um sie herum gebaut werden, bestünde die Chance, den täglichen Verkehr von und zur Arbeit zu verringern. Zunächst könnte man dazu neigen, dieser Möglichkeit mit Skepsis gegenüberzutreten. Anscheinend wäre das Risiko nicht gerade gering, wenn man die Produktionszentren weit entfernt vom Herzen der Stadt errichtete. Der Transportaufwand sowohl für die Rohstoffe als auch für die Endprodukte stiege mit Sicherheit, und die damit entstehenden Kosten belasteten die Bilanz unmittelbarer als die Fahrten der Angestellten zum Arbeitsplatz. Vorteile wie etwa geringere Pachten und bessere Expansionsmöglichkeiten vermögen diese Nachteile allerdings leicht auszugleichen. Definitiv zieht eine Menge Industriebetriebe aus London in die weitere Umgebung. Zugleich werden für etwa 100.000 Menschen pro Jahr neue Häuser benötigt. In der Konsequenz müßten solche Umstrukturierungen in Abstimmung mit der Regionalplanung gut organisiert werden, anstatt sie dem Zufall zu überlassen. Eine deutliche Streuung der Stadtzentren Londons findet statt. In abgelegenen Vororten gibt es Einkaufszentren, Theater, Vergnügungsstätten mit künstlichen Eisbahnen und großen Kinos, so daß man weder zum Einkaufen noch zur Freizeitbeschäftigung in die City fahren muß. Es klingt paradox, aber die einzige Chance, die Verkehrsprobleme zu lösen, ist das Ausweiten der Stadt: Aber es sollte geplant werden. Um die Nachteile des modernen Verkehrs zu vermeiden, sollte man die Haupt­ verbindungsstraßen durch eine sorgfältig geplante Dezentralisierung vor einer Band-Entwicklung schützen. Eine der größten Schwierigkeiten, in England wie in andern Ländern, entsteht hier. Auch wenn die Straßen sehr gut gebaut und in ausgezeichnetem Zustand sind, verkommen sie mit zunehmender Bebauung. Jedes Gebäude am Straßenrand vermindert ihren Wert als Fortbewegungsstrecke. Wenn schließlich ein Haus neben dem anderen steht und unzählige Nebenstraßen anschließen, wird die Straße zu einer ernsthaften Bedrohung, und die Geschwindigkeit muß notwendigerweise reduziert werden. Wer sein Haus noch wegen der günstigen Lage an der Hauptstraße errichtet hat, wird es mit Sicherheit bereuen. Heutzutage ist der Standort eines Hauses an der Straße weniger friedlich als an der Eisenbahn. 356

Das Verkehrsproblem

So wie die Hauptstraßen vom örtlichen Verkehr und von flankierender Bebauung zu befreien wären, um sie leistungsfähiger zu machen, so müßten die derzeitigen Wohnstraßen vom Fernverkehr entlastet werden, um sie bewohnbar zu machen. Es ist sehr wichtig zu wissen, wie man eine ruhige Straße ohne Gefahren für ihre Bewohner anlegen kann. Sackgassen, die so genannten closes, eignen sich dafür am besten. In Hampstead und Welwyn kann man gute Beispiele mit ausschließlich lokalem Verkehr finden. Die Häuser können nah an der stark befahrenen Straße liegen, und trotzdem ist es ruhig und friedlich. Kinder können vom Nebeneingang aus geradewegs zu den Spielplätzen und Feldern laufen, ohne irgendeinem Fahrzeug zu begegnen. Wir sehen, daß die Probleme des Verkehrs nur durch die sorgfältig geplante Dezentralisierung der Stadt gelöst werden können. In noch größerem Maße trifft dies auf den Umgang mit den Mißständen in den Slums zu. Viele neigen dazu, die Slums lediglich als Nährboden für die unerwünschten Aspekte einer Gemeinschaft anzusehen. Aber das führt zu einer falschen Interpretation des Problems. Das Wachstum der Elendsviertel in einer Großstadt ist kein Ergebnis von schlechter Moral. Slums sind ganze Quartiere, die den Stempel der Armut tragen. Es darf nie vergessen werden, die Armut ist die Wurzel und das wahrhaft Böse der Slums. Wenn wir diesen elementaren Grundsatz aus dem Blick verlieren, könnte das zu falschen Schlüssen führen. Armut, sagt man, sei keine Schande, und diese Wahrheit muß man jenen Gemeinschaften eingestehen, die nicht in der Lage sind, für alle Arbeitswilligen auch Arbeit zu beschaffen. Armut ist aber ohne Zweifel und gerade in einer großen Stadt ein unbezwingbares Hindernis, ein gutes Heim zu gründen. Viele Bücher enthalten romantische Geschichten über die angeblich hellen und sauberen Unterkünfte armer Leute. Träfe das zu, dann gäbe es tatsächlich viele vorbildliche Wohnungen in den Armenvierteln; in der Tat unternehmen Frauen in armen Behausungen heroische Anstrengungen, diese sauber zu halten. Doch der Aufwand kann nicht von den Unannehmlichkeiten des Platzmangels ablenken, an dem die meisten Wohnungen in Großstädten leiden. Es ist Mode geworden, sich für kleine Häuser zu begeistern; ein Ergebnis der Technik-Romantik, der Bewunderung für den Schlafwagen der Eisenbahn und die Flugzeugkabine. Für die wohlhabenderen Klassen, welche seit Jahren unter der Anstrengung zu großer und pompöser Häuser gelitten haben, mag das ganz gesund sein, kann aber zu einer vollkommen falschen Vorstellungen über die Anforderungen 357

Ein höchst unglückliches Ende

an den gewöhnlichen Wohnungsbau führen. Es reicht nicht, die notwendigen Gegenstände aufzuzählen, ein Bett, ein Tisch, ein Schrank und so weiter, um herauszufinden, mit wie wenig man auskommen und wie dicht man die paar Möbel stellen kann. Berechnen läßt sich alles bis ins Kleinste. Das Ergebnis wird immer falsch sein, weil das Ziel nicht das richtige ist. Ein Zuhause ist nicht nur ein Möbellager, es ist ein Ort, an dem Menschen leben müssen. Möbel und andere Gegenstände sind lediglich die Einrichtung, notwendige Requisiten, aber nicht das Ziel und nicht die Hauptsache. Das Essentielle, das Leben zu Hause, ist wesentlich vielschichtiger als der kurze Aufenthalt in einer Kabine oder einem Schlafwagen. Man kann die Notwendigkeiten eines Heims nicht aus einem engen Kabinenraum ableiten. Der Vergleich ist schon insofern irreführend, als viel größere Summen für den Komfort und die teure und erfinderische Ausstattung einer solchen Kabine verwendet werden können, als dies in einem bescheidenen Heim möglich ist. Der durchschnittliche Bürger der Upper Middle Class fühlt sich gewissermaßen erleichtert, wenn er sein großes und beeindruckendes Haus aufgeben und sich mit einem kleineren arrangieren muß. Zwangsläufig sieht er einen immensen Vorteil im bescheidenen Raum. In bezug auf die Armen, die gezwungenermaßen in winzigen Wohnungen leben, sagt er: „Diese Leute haben es wirklich sehr viel praktischer; sie tragen keine dieser Verantwortungen, welche einem das Leben zur Last machen.“ Die einzige Antwort auf diese gedankenlose, aber weit verbreitete Feststellung ist, daß ein ausreichend großes Zuhause eine absolute Notwendigkeit für Gesundheit und Menschenwürde darstellt. Es ist teuer und obendrein unbefriedigend, wenn man versucht, den Wunsch nach Raum durch eine raffinierte Ausstattung zu kompensieren. Es ist sinnlos, so kunstvoll entwickeltes Mobiliar dafür zu erfinden, daß mehr Personen in einem Raum schlafen können, als sie es normalerweise tun würden, wenn es an sich für viele Leute eine Gefahr ist, sich permanent im selben Raum aufzuhalten. Die Aufgabe besteht außerdem nicht darin, möglichst viele Körper an einem trockenen und ruhigen Ort aufbewahren zu können, sondern lebendigen Geschöpfen die Möglichkeit zu bieten, ihr Bedürfnis nach körperlicher Ertüchtigung, Speis und Trank, einem gesunden Sexualleben und genug Schlaf zu erfüllen. Wenn Menschen ihren Tag weitgehend im Freien verbringen, mit genügend Platz und Bewegungsfreiheit außerhalb ihres Heims, macht es ihnen nicht so viel aus, nachts in einem überfüllten Zimmer schlafen zu müssen. In einer Großstadt allerdings haben dieselben Leute, die zusammengepfercht leben müssen, 358

Die Übel des Wohnungswesens

auch den wenigsten öffentlichen Raum zur Verfügung. Sie sind gezwungen, den Großteil ihres Lebens in ärmlichen Wohnungen zu verbringen. Es ist eine bewiesene und allgemein bekannte Tatsache, daß im Falle einer Epidemie oder Feuersbrunst beengte Verhältnisse eine große Gefahr bedeuten, nicht nur für die Bewohner, sondern für die ganze Stadt. Das Risiko wird jedoch auch unter normalen Umständen, wenn die Bewohner unter unzulänglichen Bedingungen leben, deutlich. Am schlimmsten ist es für die Kinder. Sie sind gezwungen, ihr Leben in einem einzigen Zimmer mit den Erwachsenen zu verbringen, mit Menschen, die andere Gewohnheiten und andere Tagesrhythmen haben. Tagsüber können sie nicht spielen, weder Hausaufgaben machen noch sich in den freien Stunden selbst beschäftigen; nachts können sie nicht in Frieden schlafen und werden schon in zu jungen Jahren Zeugen von Sexualität, was einen extremen und verwirrenden Einfluß auf ihre Entwicklung hat. Auch die Erwachsenen finden es unerträglich, Kindern die Intimitäten des Privatlebens aufzudrängen. Die schlechte Gesundheit, die Nervosität oder die Gereiztheit einer einzigen Person sind allen anderen unzumutbar und erschweren deren Lebensbedingungen. Jeglicher Ausdruck von Lebendigkeit wird in dem Maße gehemmt, wie das Fehlen der Privatsphäre Körper und Seele beeinträchtigt. Die Auswirkungen moralischer Defizite eines Einzelnen vergrößern sich bei einer solchen Überbevölkerung ungemein. Keiner dieser Nachteile läßt sich allerdings durch irgendeinen Mechanismus oder irgendeine besondere Vorkehrung im einzelnen Raum abwenden, sondern nur indem man diesen Leuten mehr Zimmer zur Verfügung stellt. Nun haben die Nachteile der Übervölkerung in Wohnblöcken mit vielen Zimmern unter einem Dach und zu vielen Bewohnern katastrophal zugenommen. Die Verfassung nervöser und verstörter Menschen, die stets von anderen nervösen und verstörten Menschen umgeben sind, wird schlimmer und schlimmer. Die Schlaflosen hören aus jeder Ecke Geräusche; wer an ansteckenden Krankheiten leidet, wird zu einer größeren Gefahr für andere. Alle Spieleinrichtungen werden den Kindern verwehrt und sind dem Einfluß der Überreizten, Kranken oder moralisch und mental Hilfsbedürftigen schutzlos ausgeliefert. Der Fluch der Armut und der Wunsch nach mehr Platz wächst, wenn die Beschwerden der Mitleidenden von allen Seiten widerhallen. Ihr Engländer, die ihr auf den Kontinent kommt und große Wohnviertel und meilenweit hohe Gebäude seht, in denen die Menschen in ihren Wohnungen gestapelt leben, solltet erkennen, daß dieses unglückliche System nicht das Ergebnis eines 359

Ein höchst unglückliches Ende

Bedürfnisses nach guten Häusern und verbesserten Verkehrsbedingungen ist, sondern dem Vermieter höhere Einnahmen beschert. Die Tausende, die in so beengten Verhältnissen leben, daß sie zur Gefahr für die Gesellschaft werden, eröffnen den rechtschaffenen Middle Classes die Möglichkeit einer guten und sicheren Investition. Ihr Engländer solltet wissen, der Franzose Le Corbusier [LC war Schweizer] ist ein Moderner in baukünstlerischer Hinsicht, aber ein Konservativer in bezug auf die Stadtplanung. Wenn er die Neubebauung von Paris mit Serien von Wolkenkratzern plant, behält er die Tradition aus der Zeit der Bourbonen und der Bonapartes bei. Angeblich um die Gesundheit zu verbessern, ist Paris zunehmend beeindruckender und monumentaler gestaltet worden. Dabei wurde jedoch immer weniger Rücksicht darauf genommen, wie Familien unter gesunden Bedingungen leben können. In England entwickeln sich Slums vor allem in von ihren Middle-Class-Besitzern aufgegebenen Häusern. Auf dem Kontinent erschaffen wir Slums. Ihr Engländer müßt ebenfalls wissen, daß es in allen Städten, in euren wie in anderen, eine starke Tendenz zur Entvölkerung dicht bewohnter Gegenden gibt. Und diese Tendenz ist gut und gesund. Aber wenn man kleine arme Häuser durch große Wohnblöcke ersetzt, dann verwendet man gewaltige Summen für Viertel, die eigentlich entvölkert werden sollten. So verhindert der Bau von großen Blocks die gesunde Entwicklung. Wir auf dem Kontinent verstehen etwas davon, weil wir die Erfahrung auf eigene Kosten gemacht haben. Das Bauen von Wohnungen in Elendsvierteln wird die Entwicklung nicht aufhalten. London wird weiterhin eine Stadt der Einfamilienhäuser bleiben. Es ist tragisch zu sehen, welche enormen Geldsummen auf diesem Wege für den falschen Zweck ausgegeben werden. Anstatt daran zu arbeiten, Fabriken, Geschäfte und Privathäuser zusammen zu verlegen, werden Wohnhäuser in einem für England sehr untypischen Standard gebaut, Haustypen, die man überall sonst für unzulänglich hält. Die prächtige Stadt der Antike, Peking, ist durch die Einführung von Häusern des europäischen Typs, welche die ganze Harmonie ihres Plans zerstören, ruiniert worden. Und nun ist London, die Hauptstadt der englischen Kultur, mit einer kontinentalen Experimentiererei infiziert, die im Widerspruch zum Charakter der Stadt steht! So werden die ganzen dümmlichen Fehler anderer Länder importiert, und nach wenigen Jahren werden alle Städte gleich häßlich sein und gleichermaßen aller Individualität ermangeln. Das ist das bittere ende. 360

Ein Essay über Londons New Towns Ein neuer und glücklicher Schluß, aber kein Ende (1978)

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Londons New Towns

Als eine geeignete Illustration für diesen Aufsatz habe ich den 34-geschossigen ‚Centre Point‘ an der Ecke Oxford Street und Tottenham Court Road gewählt. Ein ziemlich überflüssiges Gebäude, es stand noch Jahre nach seiner Fertigstellung komplett leer. Der Bau war offensichtlich von Aldous Huxleys Brave New World inspiriert: „Ein gedrungenes graues Gebäude von nur 34 Stockwerken“. Man war wohl davon ausgegangen, dass Londons Stadtmitte eine Art Manhattan mit weit höheren Wolkenkratzern sein würde. Glücklicherweise ist dieser Traum nicht wahr geworden. Er wird es auch nicht, wie die folgenden Seiten zeigen. [Hier sollte sich Rasmussen irren.]

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London, immer die gestreute Stadt

London mit seinem Grüngürtel und Neuen Städten

Vor 40 Jahren habe ich prophezeit, daß die törichten Fehler anderer Länder überall übernommen und alle Städte damit gleichermaßen häßlich und gesichtslos werden würden. Auf London bezogen hat sich meine Prophezeiung erfüllt. Die Stadt wurde durch eine Reihe bedeutungsloser Hochhäuser entstellt; die Straßen sind mit unzähligen Fahrzeugen verstopft, während der öffentliche Personenverkehr zugleich verkommen ist; Geschoßwohnungsbauten sind im entvölkerten East End an die Stelle der typischen Londoner Stadthäuser getreten und so weiter, und so weiter. Aber das ist nicht das bittere Ende, sondern vielmehr der Beginn einer neuen Ära. Die Idee, Satellitenstädte anstatt wild wachsender Vororte zu bauen, eine Idee, die vor 40 Jahren reine Utopie war, ist inzwischen Realität. Acht New Towns außerhalb eines Grüngürtels um London wurden gerade fertiggestellt. Sie beherbergen eine Million Stadtbewohner. Eine neunte, Milton Keynes, mit Platz für eine Viertel Million Einwohner, befindet sich im Bau. So ist London noch immer eine einzigartige Stadt. 363

Londons New Towns

Milton Keynes ist zwar eine Reaktion auf eine Reihe der üblichen Prinzipien, wie das zentralisierte Straßennetz, die Organisation in kleinen Nachbarschaften und die umgebende Grenze, kurz: auf all die heiligen Kühe der New-Towns-Bewegung, ist aber trotzdem ein wahres Kind dieser Bewegung. Nur ist es – wie jedes gesunde Kind – gegenüber seinen Eltern kritisch eingestellt. Folglich stimmt Milton Keynes, obgleich es eine Reaktion auf die nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte New-TownsTheorie ist, immer noch mit der Definition des Ausdrucks ‚Garden City‘ überein, wie er im Jahre 1920 vom Vorstand der Garden Cities and Town-Planning Association übernommen wurde. Diese Definition lautete (wie auf S. 331 erwähnt): „Eine Gartenstadt ist eine für ein gesundes Leben und eine gesunde Produktion entworfene Stadt von einer Größe, die ein gesellschaftliches Leben in ihrem gesamten Umfang ermöglicht; aber auch nicht größer, und umgeben von einem Landschaftsgürtel; alle Grundstücke befinden sich in öffentlichem Besitz oder werden für die Gemeinschaft treuhänderisch verwaltet.“ Milton Keynes ist meiner Meinung nach ein typisch englisches Phänomen und ein Glied in der langen Kette stadtplanerischer Experimente, die mit der Garden-CityBewegung zu Beginn dieses Jahrhunderts [ des 20. Jh.s ] begannen. Milton Keynes ist ein wichtiger Beitrag zur Diskussion und gibt Antworten auf eine Reihe von regelmäßig erörterten Fragen. Aber es ist auch eine Fortsetzung und Weiterentwicklung des besonderen Londoner Modells aus dem 17. und 18. Jahrhundert, das so ganz anders war als alle kontinentalen Stadtmodelle jener Zeit. Milton Keynes ist von enormer Bedeutung, nicht nur für die Region London, sondern für die gesamte zivilisierte Welt. Ich habe das Gefühl, daß ich diesem umfassenden Thema nicht gerecht werden kann, indem ich lediglich eine Beschreibung und Bewertung der existierenden Pläne und ihres derzeitigen Ausführungsstandes gebe. Vielmehr glaube ich den ganzen Verlauf des Londoner Planungsprozesses durch das gegenwärtige Jahrhundert rekapitulieren und Milton Keynes in diesen größeren Zusammenhang stellen zu müssen. Ich bin von einem sehr persönlichen Gefühl für diese Entwicklung erfüllt, die ich ein halbes Jahrhundert hindurch so nah, gewissermaßen von innen, verfolgen und mit einigen ihrer führenden Experten diskutieren konnte. Als Fremder war ich in der Lage, die Entwicklung von außen beobachten und zugleich mit der zeitgenössischen Stadtplanung anderer Länder vergleichen zu können. Also lassen Sie mich die Geschichte in meiner eigenen subjektiven Weise erzählen. 364

London, immer die gestreute Stadt

Milton Keynes’ Originalplan, beratende Planer: Llewelyn-Davies, Weeks, Forestier-Walker und Bor Im Unterschied zu den Planungen anderer New Towns hat man hier nicht versucht, ein komplettes Muster des zukünftigen städtischen Lebens zu diktieren. Man räumte der Entwicklung große Freiheiten ein. Und man vermied Verkehrsstauungen an einzelnen Punkten, indem man das ganze – für eine Viertel Million Einwohner ausgelegte – Gebiet mit einem irgendwie unregelmäßigen Raster von Haupt­­straßen überzog. Die ein Quadratkilometer großen Einheiten wurden nicht als in sich geschlossene Nachbarschaften geplant, sondern als kleine Teile eines großen Patchworks, in dem die Menschen künftig nach ihrem Gusto leben können. Von jedem Grundstück ist es nur ein kurzer Weg zur nächsten Hauptstraße, und es gibt zugleich eine ebenso gute Verbindung zu einem Netz von Nebenstraßen, die die Hauptstraßen kreuzen und so einen leichten Zugang zu benachbarten Wohn­vierteln gewährleisten. Lokale Einkaufs- und andere Dienstleistungszentren liegen an den Kreuzungen und versorgen so zu­gleich zwei Quadrateinheiten. Für ein großes Stadtzentrum sind zwei Einheiten freigehalten, die nach Osten mit einem langen Parklandschaftsstreifen verbunden sind. Dort, beid­seits des Flusses Ouzel, schlängelt sich der Grand Union Canal frei durch das geplante Raster. Die bestehen­den alten Ortschaften wie Stony Stratford und Blechly und eine Reihe von Dörfern mit historischen Kirchen wurden in den Plan integriert.

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Londons New Towns

Die erste Phase moderner Stadtplanung

Es ist etwa 50 Jahre her, daß ich London zum ersten Mal sah. Die erste Phase moderner Stadtplanung, die ich die Periode der Pilotprojekte nennen würde, Letchworth, Welwyn und Hampstead Garden Suburb, neigte sich dem Ende zu. Ich reiste auf diese ungewöhnliche Insel, um herauszufinden, was diese britische Hauptstadt ausmachte. Ich war gut vorbereitet, hatte sorgfältig eine Reihe anderer Hauptstädte – Rom, Paris, Berlin, Stockholm – studiert und kannte selbstverständlich meine Heimatstadt Kopenhagen in- und auswendig; alles kontinentale Metropolen, in denen die Mehrheit in Mietwohnungen lebte und dies als Naturgesetz empfand. Ich wußte, welch frustriertes Leben die Familien, sowohl die Armen als auch die Mittelschicht, unter diesen Bedingungen führten. Bald würde ich London, die damals größte Stadt Europas und wahrscheinlich der ganzen Welt, kennenlernen, wo der Großteil der Einwohner in eigenen Häusern lebte. Ich konnte es kaum erwarten, ein ganz anderes urbanes Leben mit eigenen Augen zu sehen. Statistiken zeigten, daß im Berliner Stadtgebiet durchschnittlich 75 Personen in einem Gebäude lebten, während es in London nur acht und in anderen englischen Städten weniger als fünf waren. Ich habe mich nicht zurückgehalten, die verschiedenen Teile dieser Metropole, mein ‚Gelobtes Land‘, meine Einfamilienhaus-Stadt, zu erforschen. London machte keinesfalls gute Werbung für seine besondere Art des Zusammenlebens. Sobald ich die innerstädtischen und vornehmen Gebiete verließ, konnte ich in alle Richtungen durch endlose, grauenhafte Fluchten von rund fünf Meter breiten viktorianischen Häusern gehen. Zu meiner Überraschung wurden sie in Anlehnung an Städte wie Bath, wo eine Häuserreihe über der anderen liebliche, sich in den Hang schmiegende Terrassen formen, im Londoner Sprachgebrauch terraced houses genannt. Ich seufzte: Was für ein zynischer Euphemismus für konturlose Gebiete öder, uniformer Häuserreihen! Meine englischen Architektenfreunde hatten eine viel bessere Bezeichnung für dieses Phänomen: urban sprawl, städtisches Geschwür [ der heutzutage allgemein bekannte Begriff der Zersiedlung ]. Jedes Jahr dehnt sich diese Wucherung weiter und weiter aus und überläßt die älteren Vorstädte ihrem Schicksal als Slums, während die alten Bewohner in neue Gebiete, näher der offenen Landschaft, ziehen. Durch diese Entwicklung nahmen die Entfernungen zwischen den Wohnorten und den Arbeitsplätzen enorm zu. 366

Die erste Phase moderner Stadtplanung

Viele Menschen mußten zudem weit entfernt von Geschäften oder Einkaufsmöglichkeiten, Schulen und anderen Annehmlichkeiten der Stadt leben. Im allgemeinen wird dies als Nachteil geringer baulicher Dichte betrachtet. Die meisten Leute, die ich traf, waren sich des besonderen Charakters ihrer Hauptstadt nicht bewußt und wußten diesen mit Sicherheit nicht zu schätzen. Die Engländer betrachten es als Grundrecht jeder Familie, in einem eigenen Haus zu leben; zugleich aber leiden sie unter einer Art Minderwertigkeitskomplex: Ihrer Meinung nach ist London keine wirkliche Stadt, wie zum Beispiel Paris. Sie denken, es mangele an den urbanen Qualitäten einer kontinentalen Metropole. Direkt zu Beginn meines Aufenthaltes hatte ich jedoch das Glück, Raymond Unwin zu treffen. Seine Ansichten waren weniger banal. Er kannte die Städte und Stadtplanung anderer Länder sehr gut, teilte aber mein Interesse an der englischen Art, in Einfamilienhäusern zu leben. Und er hatte den Kampf gegen die Zersiedelung in einer wahrhaft englischen Weise aufgenommen. In einem Vortrag von 1912 mit dem Titel Nothing Gained by Overcrowding [ Kein Gewinn durch Überbevölkerung ] spricht er von der allgemeinen Hypothese, Überbevölkerung sei aus ökonomischen Gründen notwendig. Er kalkulierte sorgfältig Kosten und Nutzen verschiedener städtebaulicher Dichten und kam zu dem Ergebnis, daß sich eine höhere Dichte letztendlich nicht auszahle. Die einfache Frage lautet: Welche Dichte bietet einer Durchschnittsfamilie die höchste Lebensqualität? Unwin zufolge sollten zwölf Häuser pro Morgen das richtige Verhältnis bilden und das Optimum guter Bedingungen gewährleisten. Er behauptete, die weiten Wege, die viele Leute täglich zu ihrem Arbeitsplatz zurücklegen, wären keine Frage einer geringen baulichen Dichte, sondern die Folge schlechter Organisation. […] Organisation wurde zum Kernbegriff seiner gesamten Arbeit und war für ihn die Essenz aus Ebenezer Howards Ideen der Garden-City. Raymond Unwin und sein Schwager Barry Parker planten 1903 die erste Gartenstadt, Letchworth (siehe S.331ff), als gut organisiertes Beispiel einer New Town. Im Jahre 1905 entstand unter ihrer Federführung auch Hampstead Garden Suburb als Alternative und Kontrast zu den bestehenden Vorstädten. Während diese nur gestaltlose Massen einförmiger Straßen mit einförmigen Häusern waren, nahm die Gartenstadt Hampstead die Form einer vollständigen Stadt am Hang an. Sie war von Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden gekrönt und mit einer Vielfalt an Häusern für verschiedene 367

Londons New Towns

Gesellschaftsschichten, großen und kleinen, zu harmonischen Gruppen arrangiert, die einander ergänzen und gemeinsam ein zusammenhängendes Ganzes formen. Als stets relevantes Beispiel ihrer scharfsinnigen Arbeit halte ich die Art, wie sie Wege und Straßen in ihren Projekten angelegt haben, für eine Untersuchung wert. In den gewöhnlichen Vorstädten waren nicht nur alle Häuser identisch, auch die Anlage der Straßen entsprach mit gleichen Breiten, gleichen Gehwegen und gleichen Bordsteinen ein und demselben Standard. Gleich ob es sich um wichtige Straßen mit viel Verkehr oder völlig unbedeutenden Durchfahrten ohne jegliches Verkehrsaufkommen handelte, sie mußten denselben, in Paragraphen festgelegten Regeln folgen. Unwin protestierte gegen solch sinnlose Uniformität und ersuchte – und erlangte! – einen Gesetzentwurf, nach dem sich der Hampstead Garden Suburb Trust von den allgemeinen Bestimmungen lösen könne, welche ein Maß von 40 Fuß [ 12,20 m ] als minimale Straßenbreite festlegten. In Hampstead konnten Straßen, die eine Länge von 500 Fuß [ 152,50 m ] nicht überschritten, in einer Breite von nur 20 Fuß [ 6,10 m ] angelegt werden. Die Anzahl von Häusern pro Morgen Land [ 2 .500 m 2 ] war durchschnittlich auf acht für das gesamte Grundstück beschränkt und somit sehr klein. Als Ausgleich für diese geringe Dichte kam man den Grundstückseigentümern bei den Straßenbauarbeiten und den daraus entstehenden Kosten entgegen. Auf diesem Wege wurden Voraussetzungen für wesentlich bessere Wohnverhältnisse geschaffen. Ich erwähne dies als wichtiges Beispiel erfolgreicher Planung, das, so weit ich sehen kann, nie in der gleichen rationalen Weise wiederholt worden ist. Im Gegenteil, in den New Towns, die nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden, ist es meines Wissens zur Regel geworden, daß, unabhängig von der Entscheidung des Planungsbüros bezüglich der Relevanz in der Gesamtplanung, die Straßenarbeiter und sogar die Müllmänner die Straßenbreiten festlegten. Parker und Unwin schöpften die ihnen gebotenen Möglichkeiten voll aus. Sie experimentierten mit verschiedenen Typen, um angenehme Häusergruppen mit sehr geringen Straßenkosten zu entwerfen. Die Sackgasse, die bisher aus jeder ordnungsgemäßen Planung als unerwünscht verbannt worden war, bestätigte sich in ihren Händen als ein besonders attraktiver Kunstgriff, der den angrenzenden Häusern Privatsphäre und Frieden bescherte. Andere Häusergruppen wurden um kleine viereckige Innenhöfe, Grünflächen oder Tennisplätze komponiert, die ruhige Rückzugsbereiche abseits des allgemeinen Verkehrsflusses bilden. Wichtigen Straßen 368

Die erste Phase moderner Stadtplanung

Heath Close, eine kurze, 20 Fuß [6 m] breite Sackgasse, die von der Hampstead Heath Extension zu dem vierflügeligen Waterloo Court, einem Frauenwohnheim, führt. Im Plan auf S. 373 mit einem A markiert

wurde andererseits eine größere Breite als üblich zugestanden. Sie konnten von Grasstreifen gesäumt sein, und somit, wenn nötig, später erweitert werden. Das Resultat war eine Hierarchie von Straßen, vom Highway zur Gasse. […] Im Mittelalter besaßen alle Städte umliegendes Land, ohne das sie einfach nicht bestehen konnten. Es war für eine Stadt lebensnotwendig, ihren eigenen, Nahrung produzierenden Agrarraum zu besitzen. Es muß dem Leben eine andere Sicht gegeben haben, als die Einwohner eines Landes nicht entweder zur Land- oder zur Stadtbevölkerung gehörten. Alle arbeiteten mit ihren Händen und ihrem Kopf. Howard, mehr Theoretiker, war der Meinung, eine Gartenstadt sollte auf eine Größe von 30.000 Einwohnern beschränkt bleiben. Unwin, der eher Praktiker war und aus Erfahrungen lernte, sagte (in Town Planning in Practise, 1909): „Es scheint erstrebenswert, die Größe einer Stadt in irgendeiner Weise zu beschränken, aber inwieweit das möglich sein wird, müssen wir noch lernen.“ Und er registrierte widerwillig „jenen unregelmäßigen Rand aus halb entwickelter Vorstadt und halb zerstörter Landschaft, der solch einen scheußlichen und bedrückenden Gürtel um 369

Londons New Towns

die modernen wachsenden Städte legt“. Und er fährt fort: „Wir mögen wohl bezweifeln, ob wir die Bevölkerung einer modernen Stadt auf eine Einwohnerzahl festzulegen in der Lage sind, wenn die Stadt so wächst und gedeiht, daß die Zahl der Einwohner außerordentlich zunimmt.“ [ 1 ] […] Als praktisches Heilmittel empfahl Unwin, Gürtel aus Wald oder Parklandschaften anzulegen. Selbst die Mauern befestigter Städte, „könnten eine moderne Entsprechung finden. Wo das Gelände ansteigt oder das Terrain an einen Park oder einen Streifen offener Landschaft grenzt, könnte die Stadtmauer, in ihrer Einförmigkeit statt von alten Türmen und Bastionen von Gartenhäusern und Gartentoren unterbrochen, eine reizende Trennlinie sein.“ Unwin entwarf zwischen der Gartenstadt Hampstead und der angrenzenden Heath Extension genau diese Art Mauer (siehe S.351). Diese ‚reizende Trennlinie‘, sie ähnelt einer mittelalterlichen Stadtmauer und wird jetzt allgemein bloß als romantische Laune betrachtet. Sie ist zwar pittoresk, paßt aber als realistisches und praktisches Element zum Ort. Die Mauer schafft eine klare Trennung zwischen der geplanten Stadt und dem offenen Charakter der Landschaft. […] Möglicherweise wäre hier der richtige Platz für eine Diskussion über den Begriff urban. Ein Begriff, der in den englischen Schriften zur Stadtplanung während der letzten Jahrzehnte viel gebraucht worden ist – und mißbraucht. Wie ich bereits erwähnt habe, leiden die Engländer unter einem schrecklichen Minderwertigkeitskomplex, aus dem Glauben heraus, ihre guten Städte seien nicht urban genug. Urban – wie kann man dieses magische Wort nur definieren? Paris und Wien, die großen Städte des Kontinents, sind sicherlich urban, jeder würde dem zustimmen. Aber warum? Es kann nicht bloß eine Frage von Größe und Masse sein, denn das problematische London ist wesentlich größer und hat viel mehr Einwohner. Spielen der Maßstab der Gebäude oder die Kontinuität der Fassaden entlang der Straßen eine Rolle? Ist eine Stadt weniger urban, wenn es mehr Grün gibt? Selbstverständlich kann ein Wald nicht urban sein. Ein Garten hingegen kann es schon. Die Champs Elysées in Paris mit ihren Baumreihen sind definitiv urban. Meines Erachtens sind viele der alten Londoner Bezirke tatsächlich urban, sogar mit ihrer Fülle von Bäumen. Es gibt kaum eine Straße, in der man nicht das reiche Laubwerk der Londoner Platanen genießen kann. 370

Die erste Phase moderner Stadtplanung

Die Mauer bildet eine klare Trennung zwischen der Gartenstadt Hampstead und der Heath Extension. Im Plan auf S. 373 von B aus gesehen

Die Wohlhabenden, die sich hier einst ihre Londoner Wohnsitze errichteten, wollten etwas von dem Charme ihrer Landsitze in die Stadt holen. Mit ländlichem Material schafften sie urbane Gärten auf den Plätzen der Metropole. Vor dem Zweiten Weltkrieg beschwerten sich viele über die undemokratischen Eisenzäune um die, die Gärten schmückenden, Plätze. Während des Krieges wurden sie entfernt und für die Waffenfabrikation eingeschmolzen. Die Gärten waren so für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Bäume überlebten zwar, aber die Gärten waren ruiniert. Sie konnten der Invasion nicht standhalten. 371

Londons New Towns

Ist die soziale Beziehung zwischen den Menschen ein entscheidender Faktor? Landleben versus Stadtleben? Im Herzen Roms kann man Orte mit dem Leben und dem gutnachbarlichen Klima eines kleinen Dorfes finden. Und doch ist Rom immer noch urban. Es ist nichts beliebig, alles hat seine endgültige, unveränderliche Form gefunden. Die Straßen und Plätze sind mit Stein gepflastert. Über die Jahrhunderte hat das Pflaster seine ‚Politur‘ von Milliarden von Füßen erhalten, und die massiven Gebäude mit ihren Mauern aus Stein und Putz wurden mit der Berührung tausender Römer ziemlich glatt. Falls also irgendeine Stadt der Erde urban ist, dann sicherlich Rom. Ich denke, diese Beispiele erzählen uns etwas über den urbanen Charakter einer Stadt. Für mich ist von einem urbanen Bezirk dann die Rede, wenn er so geplant und realisiert worden ist, daß er der intensiven Benutzung durch eine dichte Bevölkerung standhält. Wenn wir jetzt nach Hampstead zurückkehren, dann sehen wir, daß auf der einen Seite der Mauer alle Fußwege von Anfang an sorgfältig entworfen und ebenso sorgfältig angelegt worden sind, alle gut gepflastert und mit Bordsteinen oder anderen robusten Materialien eingefaßt. Das ist offensichtlich die urbane Seite. Auf der anderen Seite der Mauer ist das Gras der Heath-Erweiterung ungepflegt, Fußwege sind durch Generationen niedergetrampelt worden. Dies ist die ländliche Seite. Beide Typen, der urbane und der ländliche Weg, haben, wenn sie in der richtigen Art und Weise und am richtigen Ort benutzt werden, ihre eigene Schönheit und Attraktivität, lassen sich aber nicht besonders gut kombinieren. Darum die Mauer. Ich habe den Eindruck, daß viele moderne Stadtplaner ein wenig herablassend, als sei es völlig aus der Mode gekommen, auf die Gartenstadt Hampstead blicken; als handle es sich um eine edwardianische Studie über das Pittoreske. Diese Sichtweise ist meiner Meinung nach nicht gerechtfertigt. Sicherlich ist Hampstead pittoresk, aber es hat uns vielmehr zu bieten. Als ich nach meinen ersten drei Monaten in London eine Reise auf den Kontinent unternahm, öffneten sich meine Augen für diese Qualitäten. Ich fuhr nach Österreich und Deutschland, später nach Frankreich, um alte Orte zu sehen und alte berufliche Freunde wiederzusehen. Die deutsche Sprache verstand ich besser als die englische (unglücklicherweise muß ich immer noch mit dem französischen Maler Fernand Léger sagen: Ich spreche englisch, aber ich verstehe es nicht). Und ich war zudem mit der deutschen Philosophie der Kunst vertraut. 372

Die erste Phase moderner Stadtplanung

Ein Plan der Gartenstadt Hampstead, 1911. Die zum Vergleich mit den Planungen von Milton Keynes eingeblendete Strichpunktlinie umschließt einen Quadratkilometer. In der unteren linken Ecke die Eisenbahn beim Bahnhof Golders Green

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Londons New Towns

Ein behutsam gepflasterter Gehweg im grünen, aber urbanen Hampstead Garden Suburb

Ein Gehweg in der ländlichen, ungepflegten Heath Extension, außerhalb der Mauer der Gartenstadt Hampstead

Die Deutschen haben im 19. Jahrhundert intensiv die menschliche Wahrnehmung untersucht. Helmholtz und andere Wissenschaftler hatten herausgefunden, welche Mechanismen in der Welt des Klanges und der Musik Harmonie erzeugen. Ähnlich stellte Ostwald eine einfache Ordnung in unserer Farbwahrnehmung her, welche zu Harmonie und Disharmonie führt. Kunsthistoriker haben brillante Interpretationen historischer Meisterwerke verfaßt. Ehrgeizige Schöngeister waren damit allerdings nicht zufrieden. Sie wollten den schönen Künsten objektive Regeln geben und so Rezepte für die Verschönerung unserer Umgebung vorlegen. Der Österreicher Camillo Sitte analysierte in seinem Buch Der Städtebau [ nach seinen künstlerischen Grundsätzen ] von 1889 Analysen über die Schönheit einer Reihe von historischen Städten und leitete aus diesen nützliche Anleitungen für die Verbesserung des Erscheinungsbildes moderner Städte ab. Sein wichtigstes Thema war, den berühmten Wiener Ring zu transformieren und ihm ein neues und besseres Erscheinungsbild zu verschaffen; aber er vernachlässigte die Wiener Vorstädte, so trostlos [2] und eintönig wie sie waren. Ich besuchte Köln. Der dortige, tatkräftige Oberbürgermeister Konrad Adenauer bemühte sich, der Stadt einen ‚Ring‘ von offenen Räumen zu geben, ein wenig nach Sittes Manier, jeder von neuen Häuserblöcken klar definiert. Das Rheinland mit Köln war gewiß eine der wenigen Gegenden auf dem europäischen Kontinent, wo 374

Die erste Phase moderner Stadtplanung

die Tradition des Einfamilienhauses – wie in England – überlebt hatte. Die neuen Kölner Vorstädte werden jetzt jedoch mit Miethäusern beplant. Von Köln aus war es nur ein kurzer Weg nach Bonn, wo Professor A. E. Brinckmann sein Institut für Kunstgeschichte leitete. In seinem ersten (und besten) Buch Platz und Monument aus dem Jahre 1912 formulierte er das folgende Diktum als Fazit: „Städte bauen heißt mit dem Hausmaterial Raum gestalten.“ Ich hatte Brinckmann mit großem Enthusiasmus gelesen. Er öffnete einem jungen Mann auf bewundernswerte Weise die Augen. Nun hatte ich die Möglichkeit, seine eloquenten Vorträge über Ästhetik in der Stadtplanung zu verfolgen. Von Bonn aus reiste ich nach Paris, um Le Corbusier in seinem Studio zu treffen, einem ehemaligen Kloster, mit anregenden Skizzen an den weißen Wänden. Er hatte im Jahr zuvor aus Anlaß der Pariser Weltausstellung 1925 gezeigt, wie Paris, nach seinen Ideen, nicht als eine Komposition von Räumen, sondern aus enormen Blöcken, riesigen, in einer Parklandschaft stehenden Hochhäusern, neu erbaut werden sollte. Le Corbusier erzählte mir bei dieser Gelegenheit, daß sein letzter realisierter Entwurf nicht aus Hochhäusern bestand, sondern eine Siedlung von Einfamilienhäusern war, in der Nähe von Bordeaux, Pessac. Ich müsse es mir ansehen. In derselben Nacht nahm ich einen Schlafwagen nach Bordeaux und konnte das Projekt am darauf folgenden Tag besuchen. Es war mit nichts zu vergleichen, das ich zuvor gesehen hatte: weder Räume noch Massen, sondern ein kubistischer Traum in delikaten Farben. Die etwa 50 Betonhäuser verwandelten sich, wie durch Zauberei, in eine Komposition aus rechtwinkligen, farbigen Flächen, reine Oberflächen, anscheinend ohne Substanz und Gewicht. Noch lebte hier niemand. Kein Mensch hatte bis jetzt die exquisiten Farbschattierungen befleckt. Da stand sie in der Morgensonne, eine erfrischend neue Welt von unbekannter Schönheit, aber befremdlich irreal. Eine Woche zuvor war Pessac offiziell von [ A natole ] de Monzie, dem Minister für öffentlichen Unterricht, eröffnet worden. Zu diesem Anlaß waren recht große Bäume in die Straßen gestellt worden – ich sage gestellt, nicht gepflanzt, da sie ohne ihre Wurzeln nach Pessac kamen. Schon jetzt sahen sie vor den Häusern und im Kontrast zu den fröhlichen Farben traurig aus. Es dauerte länger als ein Jahr, bis irgendeines der Häuser bewohnt – und komplett verändert – war. In Dessau, in Deutschland, hatte Walter Gropius eine weitere Siedlung mit modernem Ausdruck entworfen. Die Gebäude für die so genannte Bauhaus-Schule 375

Londons New Towns

waren Traumgebilde in Glas, Stahl und Beton. Die Studenten hatten in dem großen Werkstattgebäude hinter der enormen gläsernen ‚Vorhangfassade‘ einen heißen Sommer – eine architektonische tour de force. Ihre Professoren konnten sich in einer Reihe von Villen in einer Tannenallee, den sogenannten Meisterhäusern, entspannen. (Die Schule hatte keine Professoren, sondern Meister, ein dem Handwerk ent­liehener Titel – entsprechend den maestros. Aber hier, auf Künstler übertragen, wirkt es manierierter als das wertfreie Wort Professor.) Diese Häuser waren ebenso kubistisch, aber steril und grau und ohne die schönen Farben von Le Corbusiers Pessac. Sie waren insofern revolutionär, als sich alles an ihren Fassaden von der traditionellen Architektur unterschied. Sie waren in der Tat modern, aber nicht funktional. Hannes Meyer, der nach Walter Gropius Leiter der Schule wurde, zeigte mir, daß das Haus, in dem er dort leben mußte, nach seinem Erscheinungsbild höchst modern, in seiner Funktion jedoch nichts anderes als ein altmodisches Berliner Direktorenhaus war. Es hatte alles, was zu einem gutbürgerlichen Heim gehörte: Räume für die Bediensteten in einem Keller unterhalb des Gartenniveaus, Arbeitszimmer, Wohnzimmer und Eßzimmer im Erdgeschoß und eine Reihe von Schlafräumen im Obergeschoß, einer von ihnen mit einem nutzlosen schmalen, um eine windige Ecke gelegten Balkon, ein wie eine Schiffsbrücke gestalteter, aber unkomfortabler Aussichtspunkt. Ich erinnerte mich mit Hochachtung an das schlichte Haus, in dem Raymond Unwin in Hampstead lebte: Wyldes Farm, das älteste in der Umgebung und wahrscheinlich bis ins Mittelalter zurückzudatieren. Aber wie angenehm und unkonventionell der große Raum mit seiner offenen Dachkonstruktion doch war, wo Unwin Besucher empfing und auch an seinen Vorträgen, Projekten und Büchern arbeitete. Wie demokratisch und praktisch sich dieses Haus gab, verglichen mit denen der Brave New World auf dem Kontinent! Ich weiß sehr wohl, daß es in Europa, über die von mir erwähnten hinaus, andere und sozialere Experimente gab. Zum Beispiel im Ruhrgebiet. Aber der Kontrast zwischen den großenteils ästhetischen Ansätzen, die ich in Österreich, Deutschland und Frankreich gesehen hatte, und den ernsthaften Entwürfen für ein besseres Leben in England war verblüffend. Walter Gropius lehrte seine Studenten in Dessau, sich niemals auf bestehende Beispiele früherer Kulturen zu berufen. Es sei unerläßlich, alle Eindrücke von 376

Die erste Phase moderner Stadtplanung

außen, die ihre Vorstellungskraft beeinflussen und ihre freie Kreativität zerstören könnten, zu vermeiden. Englische Planer derselben Periode dagegen stellten wichtige gesellschaftliche Untersuchungen an. Raymond Unwin schrieb in seinem Buch Town-Planning in Practice (1909): „Bevor irgendein Plan für eine neue Stadt oder das Schema einer Stadtentwicklung mit Umsicht begonnen werden kann, muß eine Untersuchung aller bestehenden Bedingungen vorgenommen werden, und diese Untersuchung kann nicht weitreichend oder umfassend genug sein. Professor [ Patrick ] Geddes hat einige sehr hilfreiche und anregende Texte zu diesem Thema publiziert: Und obwohl es nicht immer praktikabel sein mag, die Untersuchung in diesem Umfang anzulegen, den er vorgeschlagen hat, kann kein Zweifel an ihrem Gewicht entstehen, wenn sich das neue Planungsgebiet gesund aus dem Leben der Vergangenheit zu den gegen­wärtigen Bedürfnissen der Stadt entwickeln soll. Der größere Teil der Arbeit muß zwangsläufig von Soziologen, Historikern und örtlichen Altertumsforschern gemacht werden.“ Die englischen Planer studierten sehr sorgfältig alle Fakten über die Bezirke, für die sie planten, nicht nur die Landschaft und deren Ökologie, sondern auch die gesamte kulturelle Entwicklung der Vergangenheit. Die Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit in klaren Untersuchungen und als Basis für zukünftige Planungen zugänglich gemacht. Sir Raymond Unwin war selbstverständlich nicht der einzige Stadtplaner dieser Periode, aber meiner Meinung nach der beste Vertreter jener besonderen englischen Konzeption der Stadtplanung: die weniger eine inspirierte künstlerische Erfindung als eine sorgfältige, gewissenhafte Arbeit sein sollte – wie die des guten Gärtners, der nach dem besten Weg strebt, seine Pflanzen wachsen und gedeihen zu lassen. Und dennoch steht für mich das erste Quartal dieses Jahrhunderts als Beginn einer neuen Londoner Stadtplanung. Es war tatsächlich neu und voller optimistischer Versprechen. Bis dahin waren die Londoner Vorstädte lediglich zur Ausnutzung der Flächen zugunsten von Landbesitzern und Baufirmen gestaltet worden. Aber in dieser Phase wurden neue und idealistische Ziele gesetzt. Als brauchbare Werkzeuge für die neuen Planungen wurden soziologische Analysen angefertigt, und man baute Pilotstädte.

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Londons New Towns

Die erste Regionalplanung

Das Interesse an der neuen Denkweise war weit verbreitet. Auch die Politik erkannte deren Bedeutung. 1927 setzte Neville Chamberlain als Gesundheitsminister ein Greater London Regional Committee ein, um eine Regionalplanung für Londons Wachstum zu initiieren, womit die zweite Phase der Londoner Stadtplanung begann. Unwin wurde technischer Berater des Komitees. Er eröffnete ein bescheidenes Büro in Queen Anne’s Gate und arbeitete dort mit einer kompetenten kleinen Belegschaft. Als erstes Ergebnis entstand 1932 ein Bericht über Ribbon Development [ Band­ entwicklung, siehe S.380 ]. Zu jener Zeit, nach der Planung der Gartenstadt Hampstead, trat ein brisantes Problem auf. Wahre Gläubige der Gartenstadt und deren Jünger hatten befunden, Hampstead sei, wenn nicht reine Ketzerei, so doch eine Abweichung von der reinen Wahrheit, weil es in Wirklichkeit nichts anderes als eine suburbane Schlafstadt sei und folglich die Doktrin der Gemeinde aus Selbstversorgern verwische. Es sei nicht groß genug, um sich selbst zu versorgen, habe keine Arbeitsstätten innerhalb seiner Grenzen, und die wenigen Geschäfte konzentrierten sich am Rand, in der Finchley Road, wo sie eine Art monumentalen Eingang zur Vorstadt bildeten. Hier angeordnet, statt im Zentrum, könnten die Geschäfte und Banken nicht nur die paar tausend Menschen in Hampstead, sondern auch andere Wohnbezirke entlang der Straße versorgen. Der Quadratkilometer, den die Gartenstadt einnimmt, wirkt mit seinem lokalen Wegenetz innerhalb des größeren Netzwerks wichtiger Verkehrsadern wie ein Vorläufer der Einheiten von Milton Keynes. Jedoch war seit ihrer Planung viel geschehen. Die Finchley Road war nicht die gleiche, denn inzwischen spielte das private Automobil im Personenverkehr eine wichtige Rolle. Dank der florierenden Untergrundbahn war die Gartenstadt Hampstead zum Leben erweckt worden. Die Haltestelle in Golders Green war der Kern der neuen Vorstadt und anfangs wesentlich entscheidender als die Hauptverkehrsstraßen (siehe S. 312 und Karte S.373). Die großen Verkehrswege, die durch die Vorstädte nach London führen, besaßen stets eine doppelte Funktion. Sie dienten als lokale Einkaufsstraßen für die Fuß­g änger und als Kanäle für den Durchgangsverkehr zwischen den zentralen Stadteilen von London und anderen Bezirken. Die Vororte konzentrierten sich 378

Die erste Regionalplanung

Charles Wades Temple Fortune House, ein Block mit einer Bank und Geschäften bildet eine Seite des Zugangs zur Gartenstadt Hampstead von der Finchley Road. Im Plan auf S. 373 mit einem C markiert

bevorzugt um die Straßen und besonders an wichtigen Kreuzungen. Der Verkehr floß demzufolge unmittelbar durch die Wohngebiete, was bis dahin als wirklicher Vorzug betrachtet worden war. Unwin sah deutlich die große Veränderung. Mit seiner größeren Geschwindigkeit, mit Lärm und Luftverschmutzung würde der Straßenverkehr von nun an den Wohnungen schaden. Das zunehmende Verkehrsaufkommen würde für alle Fußgänger, Kinder und Hunde, die ihn queren wollten, zunehmend gefährlich sein. In der Konsequenz würde eine neue Art der Planung notwendig werden. Neue Straßen ohne Kreuzungen – wie die Eisenbahnlinien – müßten geschaffen und sämtliche neuen Bauvorhaben entlang der bestehenden Hauptverkehrsstraßen gestoppt werden. Die Trennung des Verkehrs, die Unwin in Hampstead in kleinem Maßstab begonnen hatte, sollte auf die regionale Basis übertragen werden. 379

Londons New Towns

Es war höchste Zeit zu retten, was zu retten war. Die Effektivität der alten Straßen wurde Tag für Tag durch neue Gebäude und kleine Stichstraßen eingeschränkt. Unwin nahm den Kampf gegen diese Bandentwicklung auf. Als Ergebnis wurde im ersten Report des Regional Committee ein Gesetz verabschiedet: The Restriction of Ribbon Development Act; die Trennung des Verkehrs von der Stadtentwicklung ist ein weiterer Vorläufer von Milton Keynes. 1930 berief das Gesundheitsministerium eine Expertenkomission – das Marley Committee –, um sich mit dem Problem der Gartenstädte zu befassen, über Erfahrungen zu berichten und die Möglichkeiten der Anlage neuer Gartenstädte zu untersuchen. Selbstverständlich wurde Unwin Mitglied dieses Komitees und drückte dem Marley Report of 1935 seinen Stempel auf. Die Politik erkannte zwar die Probleme der Stadtplanung, aber es erwies sich als extrem schwierig, Gelder aufzutreiben, um mit der Arbeit beginnen zu können. Zwar wurde Raymond Unwin als Meister der Stadtplanung geehrt und 1932 zum Ritter geschlagen, jedoch begrenzte das London County Council im selben Jahr seine finanzielle Unterstützung auf 500 Pfund. Alle Gemeinden folgten diesem Beispiel und reduzierten dementsprechend ihre Beteiligungen. Am Ende standen lediglich 1.700 Pfund für ein Jahr und die Aufgabe, die Hauptstadt und ihre Region auf die Zukunft vorzubereiten, zur Verfügung. Das verrät uns einiges über das wirkliche Interesse an der Stadtplanung zu jener Zeit. Ohne für sich selbst ein Honorar zu beanspruchen, hielt Sir Raymond Unwin an seinen Studien fest und veröffentlichte 1933 den wichtigen Second Report. Dieser erklärt in zwölf aufschlußreichen Kapiteln die Probleme der Region und bietet ein vollständiges Programm für zukünftige Planungen. Zwei Maßnahmen von nachhaltiger Bedeutung werden vorgeschlagen: Die eine besteht darin, einen Grüngürtel um die äußeren Vorstädte Londons zu schaffen, um so die ungeplante urbane Wucherung zu stoppen und auch zukünftig den Übergang der äußeren Vororte in die offene Landschaft sicherzustellen. Mit dem zweiten Vorschlag sollte alles zukünftige Wachstum außerhalb des Grüngürtels intensiviert werden, teils als Erweiterung bestehender Kleinstädte, teils als ein System von ‚New Towns‘. Ich habe weder die Begriffe ‚Garden City‘ noch ‚Satellite Town‘ in Unwins Report gefunden. Sir Raymond bezieht sich auf eine sporadische Entwicklung in der Region und sagt, die Planer sollten diese nicht beklagen, sondern nutzen und Modelle kleiner, sich selbst versorgender Einheiten organisieren. Wie diese Stadteinheiten entworfen 380

Planungen während des Zweiten Weltkriegs

werden sollten, ließ er mehr oder weniger offen. Ohne weitere Detaillierung weist er darauf hin, wie sie Cluster oder Bänder von Städten formen könnten. Seine Anregungen stimmen mit der englischen Tradition überein; die Stadt ist keine a priori festgelegte Form, sondern etwas, das wächst. Unwin ist dabei aber eines wichtig: daß sie nicht unbeschränkt wachsen, sondern stets von Grün umgeben sein sollte. Es war also eine Phase beratender Aktivitäten, von Gutachten und Programmen, von Stadt­ planungsliteratur, Vorträgen und Kursen. Aus ökonomischen Gründen schien es gleichwohl unmöglich, die Dichte überbevölkerter Bezirke zu reduzieren, Slums zu bereinigen und neue ideale Städte in der offenen Landschaft zu bauen. Nach dem Tod von Sir Raymond im Juni 1940 in Connecticut in den Vereinigten Staaten könnte das Resultat all seiner Anstrengungen wie folgt zusammengefaßt werden: Es ist nicht länger rechtmäßig, einen Zugang zu einer Verkehrsachse ohne Zustimmung der Highway Authority [ etwa Straßenbauamt ] zu schaffen. Gemäß dem Green Belt Act von 1938 gab es zwar Anfänge eines Grüngürtels um London, aber außer solchen beschränkenden Maßnahmen wurde nur wenig für die Planung der Region getan. Weitere positive Initiativen wurden nicht unternommen.

Planungen während des Zweiten Weltkrieges

Ich frage mich manchmal, ob es ohne den Krieg irgendwelche Fortschritte in der Planung Londons gegeben hätte; auf jeden Fall hatte der Zweite Weltkrieg für die Hauptstadt eine ganz neue Einstellung in Sachen Planung und Fortschritt zur Folge. Die Kriegszeit wurde zur dritten Phase, der Phase der großen, umfassenden Pläne für die gesamte Londoner Region. Die Zerstörung der Elendsviertel, die es bis dahin nur in kleinem Maßstab und nur in wenigen Fällen gegeben hatte, wurde nun massenweise von Hitlers Bomben übernommen. Ganze Stadtteile wurden über Nacht vernichtet, immense Werte wurden zerstört. Alle traditionellen Vorstellungen von Haus- und Grundbesitz wurden hinfällig. Eine neue Denkweise und ein neues planerisches Vorgehen waren nun nicht nur eine Möglichkeit, sondern plötzlich zu einer Notwendigkeit geworden. Die wirtschaftliche Krise vor dem Krieg hatte den obligatorischen Landerwerb für die Planung der Londoner Region unmöglich gemacht. Wir haben gesehen, 381

Londons New Towns

Eine Illustration aus dem L. C. C.-Plan [London County Council-Plan], 1943, der den Londoner Bezirk Elsham in Nachbarschaften gliedert, zeigt. Auf der linken Seite als Ausschnitt aus der konkreten Planung, rechts in Form eines Diagramms

wie schwer es war, nur die moderaten Honorare für Sir Raymond Unwins Pionierarbeit einzuräumen. Aber nun, während der verheerendsten aller Krisen, als England Milliarden von Pfund in einen unproduktiven und vernichtenden Krieg stecken mußte, war plötzlich Geld da; eine ungeheure Menge Geld für die Planung jenes London, das als Hoffnung für die Zukunft aus den Ruinen des Holocaust wachsen sollte. Man ließ Patrick Abercrombie freie Hand bei der bestmöglichen Planung für ein neues und besseres London. In Zusammenarbeit mit dem Chefarchitekten des L. C. C. [ London County Council ], J. H. Forshaw, mit Hilfe einer Gruppe von Experten und einer Anzahl von ausgezeichneten Kommissionsgutachten formulierte er in unglaublich kurzer Zeit jene großen Visionen: 1943 The London Country Plan und 1944 The Greater London Plan. Die wunderschön illustrierten Projekte wurden als Waffen im Krieg betrachtet. Sie sollten die Moral der Menschen mit dem Versprechen stärken, daß es nach dem Krieg für jeden ein besseres England geben werde. Während des Ersten Weltkrieges hatte [ der seinerzeitige britische Premierminister ] Lloyd George vom zukünftigen England als einem Land gesprochen, in dem Helden leben werden. (Die Helden waren selbstverständlich die einfachen Soldaten, die den Krieg unter schrecklichen Leiden in den Schützengräben gewonnen hatten.) All diese schönen Versprechen waren nie eingelöst worden. 382

Planungen während des Zweiten Weltkriegs

Abercrombies Pläne waren konkreter. Sie zeichneten das Bild eines auferstandenen London, das die Ideen realisierte, die in der englischen Planungstheorie der vorangegangenen Jahre entwickelt worden waren: weniger Dichte, New Towns außerhalb des Grüngürtels und die Auflösung der unorganisierten städtischen Wucherung in kleinere Einheiten, wie Bezirke und Nachbarschaften. Das Wort neighbourhood oder Nachbarschaftseinheit war 1929 von dem Amerikaner Clarence A. Perry in der großen Regionalstudie zu New York eingeführt worden. Seine Idee beruhte sozusagen auf den Verkehrsbedingungen dieser Stadt. Perry wies darauf hin, daß der enorme Verkehr auf den Hauptstraßen absolute Grenzen setzt, die die Stadt in eine Anzahl von großen Blöcken teilen. Da es insbesondere für Kinder gefährlich ist, von einem solchen Block zum nächsten zu gehen, sollte jede dieser Bereiche als Stadtplanungseinheit um eine Schule herum angelegt werden. So müßten zumindest die Vorschulkinder auf ihren täglichen Wegen die gefährlichen Verkehrsadern nicht mehr überqueren. Da es sowohl ein Vorteil als auch eine Erleichterung für andere wäre, die Zufälligkeiten des schweren Verkehrs zu vermeiden, empfahl Perry für jeden Block einen vollständigen ‚neighbourhood plan‘ mit einem speziellen System für interne Straßen, die von allen Häusern sowohl zu den Spielplätzen und anderen Freizeit­angeboten als auch zu lokalen Geschäften und einem Gemeindezentrum führen. Während des Krieges erhielt der Begriff ‚neighbourhood‘ eine neue Bedeutung. Für Clarence Perry war ‚neighbourhood‘ nichts als ein praktischer Begriff, eine Methode zur Trennung des Verkehrs und zur Verkürzung der Distanzen zwischen Wohn­häusern und öffentlichen Einrichtungen. Während des Krieges wurde Nachbarschaft in London zu einem Instrument der Zusammenführung verschiedener sozialer Klassen. Auf den Schlachtfeldern und in den Luftschutzbunkern ihrer Städte trafen sich Menschen verschiedener Schichten, die nie zuvor miteinander gesprochen hatten, auf der gleichen Ebene. Sie lernten sich kennen, lernten einander zu helfen und – am allerwichtigsten – sich als gleichwertig zu respektieren. Für viele war dies eine glückliche neue Erfahrung. Abercrombies Ziel war, diesen neuen Gedanken der Kooperation im aus den Ruinen auferstehenden London zu bewahren und weiterzuentwickeln. Statt eines anonymen Wesens in einer zusammengewürfelten Masse sollte das Individuum ein aktives Mitglied einer Gruppe von überschaubarer Größe sein und in einer gut entwickelten Gemeinschaft leben, die alle Aspekte des urbanen Lebens repräsentiert. Dafür sollte das Stadtgebiet in Nachbarschaften aufgeteilt werden, 383

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die als ausgewogene Wohnbezirke von überschaubarer Größe funktionieren, jeder Bezirk mit eigenem Gemeindezentrum, eigenen Läden und öffentlichen Gebäuden – eine vollständige Stadt en miniature. In Diagrammen wurde veranschaulicht, wie bestehende Stadtteile in eine Vielzahl solcher kleinen Nachbarschaften gegliedert werden konnten. Dem London Country Plan von 1943 folgte 1944 der Greater London Plan. Diese eindrucksvolle Arbeit präsentierte die fortschrittlichsten Ideen der Stadtplanung jener Zeit. Abercrombie hatte mit hervorragenden Planern wie Professor William – später Lord – Holford, Thomas Sharp, Professor Gordon Stephenson und R. T. Kennedy zusammengearbeitet. Wie schon erwähnt, schlug der Plan eine Anzahl von New Towns vor, die wie ein Ring um London herum angelegt waren, ergänzt um eine detaillierte Beschreibung von deren geplanter Form. Zur Veranschaulichung waren alle Entwurfszeichnungen und Perspektiven für eine neue Stadt bei Ongar beigefügt. Sie stammen von Gordon Stephenson, der einige Jahre im Büro von Clarence Stein in New York gearbeitet und in den Vereinigten Staaten gelernt hatte, daß das private Automobil die Städte revolutionieren würde. Sein Ongar-Projekt zeigte folglich eine Einkaufszone für Fußgänger – die erste ihrer Art in Europa. Die Neuen Städte in der Planung des Großraums London sollten viel größer sein als in den ursprünglichen Gartenstadtplänen von 1898 mit ihren 30.000 Einwohnern. Das hielt man für notwendig, wenn sie nach der Definition von 1920 ein „reichhaltiges gesellschaftliches Leben“ möglich machen sollten. Jede Neue Stadt sollte – definitionsgemäß – eine eigenständige, ausgeglichene Gesellschaft bilden. Ihr Hauptzentrum sollte der Bevölkerung alle größeren Geschäfte und Institutionen bieten, wie sie für ein städtisches Leben unerläßlich sind. Um dieses Zentrum sollten klar definierte Nachbarschaften angeordnet sein, jede als ausgewogene Minigesellschaft um ein Subzentrum mit eigenen lokalen Geschäften, Schule und Kindergarten. Die vorgeschlagenen Neuen Städte unterschieden sich von Ebenezer Howards Gartenstädten nicht nur in ihrer Größe, sondern auch in grundlegender Hinsicht. Howard, Zeitgenosse einer liberalen Wirtschaft, hatte ausführlich erläutert, daß die Gartenstadt nicht nur die beste Lebensweise für ihre Bewohner eröffnen, sondern auch eine gute Investition sein würde. Sie [ d ie Gartenstadt ] könne wie ein profitables 384

Planungen während des Zweiten Weltkriegs

Patrick Abercrombies Plan für den Großraum London, 1944. Das Wachstum Londons ist gestoppt, umliegende Städte erweitert. Der Plan schlägt acht New Towns vor.

Privatunternehmen beginnen und geführt und später von der Stadt übernommen werden. Er war sich sicher, daß die Gartenstadt als Experiment so erfolgreich sein würde, daß, wie vormals die Vorstädte, weitere Gartenstädte aus dem Boden sprießen würden. Die Fehler der ersten Pläne könnte man bei den nächsten vermeiden. Die beiden Gartenstädte Letchworth und Welwyn hatten bewiesen, daß seine Ideen vernünftig waren . Die Gartenstädte machten sich zwar bezahlt, doch leider erst nach einigen Jahren, und der Gewinn war nicht groß genug, um auf Spekulation setzende Anlagen anzuziehen. Bis heute hat niemand versucht, eine weitere Stadt nach Howards Modell ins Leben zu rufen. Die zwei Gartenstädte hatten insofern 385

Londons New Towns

Die Landschaft vor Syon House. Das Foto zeigt bis an das Haus reichendes, nur durch einen unsichtbaren ‚Ha-Ha‘ [Graben] vom Garten getrenntes Weideland. Vgl. S. 130

ihr Versprechen gehalten, als ihre Bewohner glücklich waren. Aber beide waren zu langsam gewachsen. In einer Zeit, als sich alle anderen Londoner Vorstädte um 100.000 Einwohner vergrößerten, erreichten die beiden Gartenstädte nie das geplante Optimum von 30.000. Offensichtlich kann Londons Wachstum nur mit Hilfe der Regierung in neue Städte münden – ein Gedanke, der vor dem Krieg unmöglich gewesen wäre. Jetzt aber, als eine strenge Führung gebraucht wurde, um den Krieg zu gewinnen, akzeptierte man auch, daß eine ähnlich strenge stadtplanerische Strategie unter der Führung von Whitehall vielleicht der beste Weg sei, den darauffolgenden Frieden zu gewinnen. Niemand schien zu bemerken, wie aus den liberalen Howard‘schen Gartenstädten staatlich geplante und gelenkte „neue Städte“ wurden, die auf nun staatlichen Baugründen entstanden, deren ursprüngliche Besitzer zum Verkauf gezwungen worden waren. Eine weitere große Veränderung hatte stattgefunden. Howards selbst versorgende Gartenstadt sollte beides besitzen, Industrie und Landwirtschaft. Der grüne Gürtel, der den städtischen Gürtel umringt, sollte weder dekorativer Zusatz sein noch Freizeitraum für die Stadtbewohner, vielmehr nützliches Ackerland, gedacht 386

Planungen während des Zweiten Weltkriegs

als Nahrungsversorgung, für die Stadt. Howard sagte: „Der Bauer der Gartenstadt hat einen Markt vor der eigenen Tür“. Er erläuterte, wie dies den Transport und die damit verbundenen Kosten minimieren würde. Aber er wollte mehr. Die Gartenstadt sollte nicht nur eine ausgeglichene Bevölkerung haben, sondern sich auch durch eine ausgeglichene Gemeinschaft und ein ausgeglichenes Leben auszeichnen: „Die Abfälle der Stadt könnten sofort, und dies ohne große Kosten für den Eisenbahntransport oder andere teure Unternehmen, zur Steigerung der Fruchtbarkeit der Felder auf die Ackerböden zurückgebracht werden.“ Die landwirtschaftlich genutzten Flächen sollten integraler Bestandteil der Stadt werden. Ebenezer Howard war ein Zeitgenosse von Prinz Kropotkin, der eine Erziehung befürwortete, welche Kopfarbeit mit manueller Arbeit verband. Eine Erziehung, in die alle menschlichen Aktivitäten einbezogen werden sollten. Die Gartenstadtbewohner sollten nicht nur den Ausblick auf das Ackerland genießen, sondern sich auch für dessen Bearbeitung interessieren und sie verstehen. Allerdings waren Howards Pläne und Vorstellungen zu seiner Zeit utopisch. Wir müssen bis ins Mittelalter zurückblicken, wenn wir in England eine wirklich eigenständige Stadt finden wollen. Zu jener Zeit bezogen die Dörfer – towns genannt – ihre ganze Nahrung vom Ackerland, das der Stadt gehörte. Fast alles, was im täglichen Leben benutzt wurde, war das Ergebnis einheimischer Arbeit. Aber schon zu Zeiten der Tudors begann eine Spezialisierung, die diese alte Lebensweise vernichten sollte. Mit der wichtigen und – für England – sehr günstigen Entwicklung des Textilhandels begann die Verwertung der offenen Felder als eingehegtes Weideland, in deren Folge viele Feldarbeiter zugunsten einiger weniger Schäfer vertrieben wurden. So fuhr man mit der Einhegung in den folgenden Jahrhunderten fort und trieb Tausende von Landarbeitern in die Städte. Als nächster Schritt der Rationalisierung durch Spezialisierung folgte die Industrielle Revolution: Städtische Fabriken lösten die alte Heimproduktion ab, die Bevölkerung in den Städten nahm stetig zu, das Land wurde entvölkert. Aus der Perspektive der Stadt ist das Land freie Natur. Seine Schönheit indessen ist allerdings kein Werk der Natur, sondern des Menschen. Der Scott Report über die Nutzung ländlicher Gebiete, 1942 (ein Jahr vor dem London County Plan) veröffentlicht, besagte: „Diese (Einhegungs-) Bewegung war in erster Linie wirtschaft­licher Natur. [ …  ] Sie wurde allerdings von einem strengen ästhetischen Impuls begleitet. Viele, die im 18. und 19. Jahrhundert ländliche Gebiete einhegten, waren stark von 387

Londons New Towns

dem Verlangen geprägt, schöne Landschaften zu schaffen. Die parkähnliche Wirkung eines Großteils der Landschaft heutzutage ist kaum zufällig; in den meisten Aktivitäten der Landscape Improvers [ Landschaftsverbesserer ] des 18. und 19. Jahrhunderts zeigte sich ein Verlangen, Schönheit und Rentabilität in der Landschaft zu vereinen.“ Engländer lieben diese Art von Landschaft, die – anders als in anderen Ländern – nicht in viele kleine Parzellen mit Schweinen, Hühnern und Stallungen aufgeteilt ist, sondern prachtvoll und weit erscheint, wenn man sie durch die Fenster oder von der Terrasse des Gutshauses betrachtet – Weideland, hier und da ein paar alte Bäume, soweit das Auge reicht. Zu dieser Landschaft gehören Schafe. Rinder wurden toleriert, besonders wenn sie dekorativ und von guter Zucht waren. Allerdings durfte kein Haus oder Hof das Bild stören, ausgenommen vielleicht eine alte, halb hinter dem Laub einer malerischen Baumgruppe versteckte Wassermühle. Eine klassische Ruine oder anderer nutzloser architektonischer Zierat von früheren Besitzern würden die Pastorale komplettieren. Für den Großgrundbesitzer repräsentiert die geliebte Landschaft nicht nur eine hübsche Umgebung mit historischem Hintergrund für sein stattliches Haus, sie ist vor allem die fruchtbare Erde, die für ein gutes Einkommen sorgt, und zugleich ein weites Freizeitgelände bietet: der ideale Schauplatz für Gentleman-Sportarten wie Reiten und Jagen. Der Stadtmensch spürt eine Sehnsucht nach der offenen Landschaft wie nach dem verlorenen Paradies – ein für the lucky rich reservierter Luxus. Aber es ist unmöglich, es einfach so zu erhalten, unangetastet und für die Öffentlichkeit zugänglich. Bliebe das Land ohne weidende Rinder oder Schafe, es würde unvermeidlich in einen wilden Zustand zurückfallen; bewirtschaftet wäre es wohl kaum als Freizeitgebiet für Stadtmenschen vergnüglich, könnte aber schnell ruiniert werden, wenn sich Horden von Vorstädtern darüber hermachen, mit ihren Flaschen und anderem Müll, mit dem fehlenden Gefühl für Tiere und Pflanzen. Wahrscheinlich würden Urlauber eine Landschaft genießen, in der sie buchstäblich überhaupt nichts zu tun haben. Der Stadtpark als Imitation der Landschaft, für alle möglichen Sportarten angelegt und als Ferienlager mit verschiedenen Vergnügungsangeboten wäre mit Sicherheit um vieles attraktiver als der einfachste Zugang zur schönsten offenen Landschaft. All dies beweist, daß der Greater London Plan aus gutem Grund Ebenezer Howards Idee einer engeren Verbindung zwischen Stadt und Land aufgegeben hatte. 388

Realisierung der Großen Pläne

Aus der Beschreibung der geplanten New Town Ongar erfahren wir etwas über das Straßensystem, das Nachbarschaftssystem, das Stadtzentrum, das Parksystem und die Industrie, lesen aber kein einziges Wort über die Landwirtschaft. Denn die Landwirtschaft ist nicht länger Teil jeder einzelnen Stadt, sondern das, was allgemein freies Land genannt wird und für die Gesamtplanung gilt. Der Plan geht noch weiter, er besagt, der Schutz des produktivsten Landes für Tierhaltung und Ackerbau sei unerläßlich; und die Freizeitbenutzung von Land möge so wenig wie möglich die Landwirtschaft stören. In einer hochspezialisierten Welt haben sich auch Sport, Spiele und eine Menge anderer Freizeit­aktivitäten spezialisiert. Fußball und Cricket auf der Dorfwiese haben Sportereignisse mit Tausenden von begeisterten Zuschauern hervorgebracht. Das sich andere Aktivitäten entsprechend entwickelt haben, erklärt, warum eine Stadt, die ein ausgeprägtes gesellschaftliches Leben bieten will, im Jahre 1944 erheblich größer werden mußte als Ebenezer Howards Gartenstadt von 1898. Wie groß genau, war schwer zu sagen, aber Abercrombie stimmte mit Ebenezer Howard und anderen Planern überein, daß eine Neue Stadt sich nicht uneingeschränkt ausdehnen sollte. Die Absicht von Abercrombies großartiger Arbeit war nicht, einen exakten Plan für den Neuaufbau und die weitere Entwicklung Londons zu liefern, sondern Ziele für sein zukünftiges Wachstum zu formulieren. Das Resultat dieser dritten kurzen Phase war ein komplettes Lehrbuch, das sämtliche gängigen Ideen der englischen Stadtplanungstheorie jener Zeit präsentierte.

Realisierung der Großen Pläne

Die vierte, viel längere Phase war die Zeit der Realisierung jener großen Pläne, die während des Krieges entwickelt worden waren. Die Regierung mußte sich auf all die nötigen Kosten für das Bauen Neuer Städte einlassen, wenn diese je gebaut werden sollten. Und das Unerwartete geschah. 1946 wurde ein Act of New Towns verabschiedet, Kapitalgesellschaften entstanden, Gelder wurden bewilligt, Pläne wurden gezeichnet und tatsächlich acht Neue Städte in der Londoner Region gebaut, alle nach dem offiziellen Programm. 389

Londons New Towns

Sie beruhten auf einer Reihe einfacher Annahmen – oder wäre Vorurteile das präzisere Wort? Eine dieser Annahmen war, im voraus eine Entscheidung über genau die richtige Größe der Stadt zu treffen. Es war – wie so oft betont – wichtig für die Stadt: groß genug zu sein, um ein vielfältiges gesellschaftliches Leben zu ermöglichen, aber ebenso wichtig, ihrem Wachstum Grenzen zu setzen. Ein enger Kontakt zwischen Stadt und Land war, wie wir gesehen haben, keine wesentliche Frage mehr. Aber wie stand es um die tradierte Vorstellung, daß es besser für die Menschen sei, in kleineren Städten zu leben? Diese Vorstellung entsprach anscheinend nicht ihrem Gefühl, denn die Migration war eine einseitige Bewegung vom Land und den kleinen Städten in die großen Städte und in die Metropole. Sollten die Menschen unter der Vormundschaft von Planern leben? Ich habe mich oft gefragt, ob die Behörden je Zweifel gehegt haben, wenn sie eine endgültige, definitive Größe einer Neuen Stadt festlegten. Die Diskussion um dieses Problem ist alles andere als eine Pedanterie. Die Stadtgrenzen sind ja von entscheidender Bedeutung für die Dimensionen aller Elemente der Stadt. Besonders das Stadtzentrum war problematisch. Wenn es von anderen Stadt­bezirken umgeben wäre, wäre jegliche räumliche Erweiterung so gut wie ausgeschlossen. Der Standort und die Größe jeder Neuen Stadt wurden im Ministerium in Whitehall entschieden. Das Problem der tatsächlichen Größe schien niemanden wirklich beschäftigt zu haben; zumindest nicht, bis die Städte ihre festgelegten Grenzen erreichten, sich gut entwickelten und alle diese Beständigkeit wünschten. Die acht Städte wurden nach ein und denselben Grundsätzen geplant. Aber zu den bestehenden Vorurteilen kam ein neues und fatales hinzu. Obwohl die gesamte Planung der Londoner Region dem rationalsten Weg, Aktivitäten und Wohnen zu disponieren, folgen sollte, durfte die Stadt nicht rational aussehen. Man war fest davon überzeugt, daß es einen sehr nachteiligen psychologischen Effekt auf die Bewohner haben würde, wenn man den Neuen Städten ansähe, daß ihrer Planung rationale Überlegungen zugrunde lagen. Jegliche Monotonie oder einfache Geometrie mußte absolut vermieden werden. Die gerade Linie und der rechte Winkel, die in allen Kulturen als Planungsgrundlagen dienten, wurden verboten. Es ist – soweit ich weiß – das erste Mal in der Geschichte, daß sich Stadtplanung in großem Maßstab dem Wunsch nach einem malerischen und irrationalen 390

Realisierung der Großen Pläne

Erscheinungsbild unterworfen hat. Die neuen Städte wurden stolz Neue Städte genannt, mußten aber aussehen, als ob sie, genau wie ein neues Ye olde Inn [ ‚Unsere alte Dorfkneipe‘ ], ganz langsam und beiläufig über Hunderte von Jahren gewachsen seien. Vor der Französischen Revolution konnte Königin Marie Antoinette ein privates kleines romantisches Dorf inmitten des Parks von Versailles und, eine Generation später John Nash, ländlich aussehende Häuser und ein ganzes Dorf (Blaise Hamlet, Somerset) für die Upper Classes errichten lassen. Jetzt aber, nach dem Zweiten Weltkrieg, sollten solche Spielereien kein Privileg des Adels mehr sein. In den Neuen Städten sollten gewöhnliche Leute mit eintönigen Jobs die Möglichkeit haben, in ‚einer interessanten Umgebung‘ zu leben. Das war eine totale Veränderung der Konzeption von Stadtplanung. In Büchern zum Thema ist dies gut dargestellt. Das erste Kapitel in Raymond Unwins Buch Town Planning in Practice von 1909 [dt. Grundlagen des Städtebaues. Eine Anleitung zum Entwerfen städtebaulicher Anlagen] trug den Titel Städtische Kunst als Ausdruck städtischen Lebens. Die neue Bibel der Stadtplanung, Frederick Gibberds Town-Design aus dem Jahre 1953, beginnt mit einem ‚Die Stadt und ihre Rohstoffe‘ überschriebenen Kapitel, in dem es heißt: „Als physischer Ausdruck ist die Stadt etwas, das man sieht. Und da die Sinne ein Kanal zur Seele sind, sollte das, was man sieht, das Schönste sein, was ein Mensch machen kann.“ Ich muß zugeben, die philosophische Tiefe dieses Satzes nicht ganz zu verstehen. Aber ein Aspekt ist sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: Wir sollen die Stadt so schön wie nur irgend möglich machen. „Die Stadt muß ordentlich funktionieren und ökonomisch sein, aber sie sollte auch dem Betrachter Vergnügen bereiten.“ In dem gleichen Jahr (1953) als Frederick Gibberds Buch veröffentlicht wurde, publizierte die Architectural Review einen Artikel von Andrew Hammer. In wenigen Zeilen skizziert er die neuen Ideen jener Periode: Für einen cleveren Fotografen ist die Architektur (oder ‚Stadtlandschaft‘, um das beliebte Wort zu benutzen) ein schönes Objekt. Andrew Hammer wurde zu seinen Artikel von einem eindrucksvollen Foto inspiriert, das Häuser mit weißen Giebeln vor einem dunklen Himmel zeigt. Er zitiert Ledoux für das Paradoxon: „Wenn Du Architekt sein willst, dann mußt Du als Maler beginnen“, und fährt fort: „Weit entfernt von Gebäuden, die mit einem Mindest­ maß an Rücksicht für den Blick des Malers entworfen sind, wird dessen Existenz von den meisten Architekten kaum wahrgenommen.“ Hammer behauptet, daß ihre Zeichnungen Symbole seien, eher mit der Mathematik verwandt als mit der Malerei. 391

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Wenn ein Architekt Ledoux’ Ratschläge ernst nähme, gäbe er sich nicht mit den Ansichten seiner Gebäude zufrieden, sondern würde sich vorstellen müssen, wie diese in der Perspektive erscheinen, „so wie man tatsächlich fast alle Gebäude sieht“. Die Basis für Frederick Gibberds Ästhetik scheint die Wahrnehmungsphilosophie zu sein, die so einfach wie falsch ist. Es ist wahr, daß, wenn wir ein Objekt betrachten, die perspektivische Ansicht einer Fassade im Auge als zweidimensionales Bild erzeugt wird. Aber es ist nicht wahr, daß wir dieses zweidimensionale Bild sehen. Wir nehmen das eigentliche Objekt wahr. Das Bild im Auge wird beispielsweise zwei Seiten eines Hauses zeigen, eine helle und eine dunkle, wir erkennen jedoch nicht eine helle und eine dunkle Figur, sondern einen vierseitigen Block. Und obwohl wir nicht in der Lage sind, die beiden anderen Seiten zu betrachten, werden wir unter Eid aussagen, mit unseren eigenen Augen ein Haus mit einer gewissen Masse und Beschaffenheit zuzüglich aller anderen Details erkannt zu haben. Man kann nicht ohne ein besonderes Training dreidimensionale Objekte als zweidimensionale Muster betrachten, die wie ein Gemälde auf der Leinwand erscheinen. Frederick Gibberd hatte sich jedoch diese Fähigkeit während jahrelanger Reisen und Studien in vielen Ländern angeeignet. Sein Buch zeigt, wie er Motive aus der ganzen Welt genoß, interessante Schnappschüsse mit ungewöhnlichem Blickwinkel. In der Tat hat es große europäische Künstler gegeben, die bedeutende Gebäudegruppen aus großartigen Perspektiven heraus erschaffen konnten. Diese wahrhaft visuelle Kunst zielte nicht auf kleine interessante Bilder, sondern auf atemberaubende, bühnenähnliche Blicke, und jedes Detail steigerte den Gesamteindruck. Die Piazza del Campidoglio in Rom gilt als eines der schönsten Beispiele. Natürlich kennt Frederick Gibberd dieses großartige Monument. Mir kommt es aber so vor, als habe er die Piazza wie ein Kind gesehen, das einen Elefanten im Zoo betrachtet und sich dabei an den Spatzen zu dessen Füßen erfreut, ohne den Riesenkoloß darüber zu bemerken. Wahrscheinlich können wir alle von einer kindlich naiven und unvoreingenommenen Wahrnehmung der Außenwelt lernen, aber dieses Wissen nur schwer bei der Planung eines neuen Zoologischen Gartens anwenden. Und so kann der unvermittelte Blick auf liebliche Details in historischen Städten meines Erachtens die Planung neuer Städte kaum inspirieren. Das Ziel eines Planers sollte nicht sein, malerische Motive für Fotografen zu entwerfen, sondern eine gute Umwelt für Menschen – insbesondere für Kinder –, in der sie leben und gedeihen können. 392

Realisierung der Großen Pläne

Nach einem zutiefst unmenschlichen Krieg, dem eine ungeheuer große Anzahl schöner Häuser zum Opfer gefallen war, vertrat Frederick Gibberd den vorherrschenden Geschmack in der englischen Stadtplanung. Es war eine ganz selbst­ verständliche Reaktion. Die meisten Menschen wollten Städte mit einer lebendigen Atmosphäre, wie in den guten alten Zeiten. Im Ergebnis wurden die New Towns, die alle sehr rational nach einem festgelegten Muster und mit einer vorbestimmten Größe geplant worden waren, jetzt mit einer künstlichen Formlosigkeit von Details raffiniert verkleidet. Man studierte banale Stadtansichten alter Städte und verbreitete Theorien zur Verschönerung von Stadtbildern, die sich etwa durch auffallende Kontraste beleben ließen. Für Harlow New Town entwarf Frederick Gibberd einen zehngeschossigen Wohnblock, der wie ein pummeliger Städter aussah und erklärte, der Bau sei „auf einer Anhöhe plaziert“ und „bilde so einen Kontrast zur Silhouette der umliegenden, verhältnismäßig niedrigen Bebauung“. Zusammen sollten sie ein einheitliches Ganzes ergeben. Niemand hatte gefragt, ob die Leute in den Wohnungen eines so großen Blocks wohnen wollten. Sie taten es, jedoch nicht sich selbst zuliebe, sondern um den Schöngeistern gefällig zu sein, die an einer solchen Komposition Gefallen zu finden gelernt hatten. Ich erinnere mich daran, wie man mir 1952 das erste Viertel in Harlow zeigte. Ich war enttäuscht. Ich habe eigentlich keine einzige Erinnerung an die Häuser. Aber ich erinnere mich an die sehr breiten Straßen, die um noch ungeschützte Grün­streifen vor den Fassaden verbreitert waren. Die Straßenkreuzungen waren nichts als Wüsten. Einer der Planer sagte mir entschuldigend, das liege an den überzogenen Ansprüchen der Straßenbauingenieure. Ingenieure sind es gewohnt, bei Konstruktionen und allem anderen, womit sie zu tun haben, beträchtliche Sicherheit zu fordern. Ich verwies daraufhin an Sir Raymond Unwins Taktik bezüglich der Breite der Straßen in Hampstead. Unwin konnte sogar die Zustimmung des Parlaments zu einem außer­gewöhnlichen Gesetz erwirken, um jenen gut angelegten Straßen die rechte Dimension zu geben und damit Platz wie Geld zu sparen. Man antwortete mir, daß zu wenig Zeit war, um sich mit solchen Details zu befassen, die allein die Straßenbauingenieure zu entscheiden hatten. Ich muß zugeben, daß ich schockiert war zu hören, daß bei der Planung von acht neuen Städten für die Diskussion so grundlegender Probleme nicht genügend Zeit war. 393

Londons New Towns

Insgesamt hatte ich in einigen Neuen Städten den Eindruck, daß die Planer, die versucht hatten, die Formensprache des Stils der alten Städte zu vermeiden, in einem noch viel sperrigeren kleinlichen Stil endeten. Der gab vor, selbstverständlich zu sein, war es aber weder für die Ingenieure mit all ihrer rationalen Technik noch für die Bauleute, die billige Cottages bauen mußten. Die New Towns hatten ihre Kritiker. Gordon Cullen mochte die großzügige Anlage und die Wohnbebauung mit geringer Dichte nicht. Er führte den Begriff ‚Prärieplanung‘ ein. J. M. Richards votierte in der Architectural Review (Juli 1953) für die Stadt als sozialen Platz für Menschen, die eng zusammen leben möchten. Er sprach sich für Dichte aus und einen Sinn für Abgeschlossenheit, für das fröhliche Straßenleben, die Eckkneipe, den Marktplatztratsch und die gute Erreichbarkeit des Landes. Qualitäten, die die wuchernden Vorstädte verhinderten. Es war, als ob die Planer der Neuen Städte nicht wirklich wüßten, wie sie mit dem ernsthaften Problem, neue Gemeinschaften aus den alten zu entwickeln, umgehen sollten, und wie Städte zu formen sind, die über Jahrhunderte bestehen würden. Die ganze Thematik schien so neu. Man unternahm Reisen, um Städte in anderen Ländern zu studieren, in denen es wenigstens einige Traditionen zur Schaffung neuer Städte gab. In der Renaissance wurde eine Reihe von Idealstädten gegründet, ganze Ortschaften, vom zentralen Platz bis zu den geometrischen Befestigungsmauern. Während London sich zur selben Zeit ohne Leitprinzipien einfach in alle Richtungen ausdehnte, war hier bereits eine sorgfältig ausgearbeitete Theorie für solche Städte entwickelt. Danach setzte sich der Urban Sprawl fort, bis Ebenezer Howard seine revolutionären Ideen vorlegte, die zum Green Belt Law und den New Towns führten.

Neue Städte der Vergangenheit

Auf Seite 25 habe ich die Entwicklung so beschrieben: ‚Um jedes der kleinen Dörfer formierten sich Gebäude zu einem Viertel. Jene Entwicklung, die wir zu Beginn sahen, setzte sich fort, so daß London zu einer immer größer werdenden Ansammlung von Städten, zu einer ungeheuren Kolonie von Siedlungen wurde …‘ Es ist wahr, die City of London breitete sich nicht von selbst aus. Jedes der umliegenden Dörfer vergrößerte sich und wurde schließlich zu einem eigenständigen 394

Neue Städte der Vergangenheit

Stadtbezirk mit einer eigenen Verwaltung. Irgendwann wuchsen sie zusammen und bildeten ein riesiges Stadtgebiet. Es ist, wie ich damals sagte, möglich, fast alle der heutigen Bezirksnamen bis zum Domesday Book von 1086 zurückzuverfolgen, in dem man sie in ihrer damaliger Form als Namen von Ortschaften an Straßenkreuzungen findet. Das ist wahr, aber nicht die ganze Wahrheit. Früher wuchs London auch durch einige buchstäblich neue Ortschaften, die auf dem freien Land als Dörfer ohne Landwirtschaft gegründet und gebaut worden waren. Die Idee, London durch ‚Neue Städte‘ außerhalb des Stadtgebietes zu entwickeln, ist nicht neu, sondern eine traditionelle Methode aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die allerdings im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geriet. Ich halte es für eine besonders englische Maßnahme, zu welcher ich auf dem Kontinent nur wenige Parallelen finden konnte. Die meisten mir bekannten Hauptstädte dehnten sich aus, indem sie ihre Befestigungslinien weiter nach außen schoben, um auf diese Weise der bestehenden Stadt neue Flächen hinzuzufügen. Die Hauptstädte auf dem Festland waren im allgemeinen nicht nur Handelszentren, sondern auch königliche oder fürstliche Residenzen. Als die Macht der Herrscher zur Zeit des Absolutismus zunahm und sich die Höfe zu wahrer Pracht entwickelten, wurden Erweiterungen der Hauptstädte notwendig. In London hatte die Vertreibung des Königtums bereits im 11. Jahrhundert stattgefunden. Die englische Hauptstadt befand sich folglich nicht in der Situation wie die Städte auf dem Festland. Die City of London war immer ein bedeutendes Handelszentrum gewesen, kein Königssitz. [ …] Ob man die Art und Weise, wie der Hof ins ländliche ‚Thornea‘ oder Thorney Island – später Westminster genannt – umzog, für die Gründung der ersten ‚Neuen Stadt‘ außerhalb der City halten mag, bleibt Ansichtssache. Auf jeden Fall baute der König dort nicht nur einen neuen prunkvollen Palast, der einen kleineren, der einst von King Canute genutzt worden war, ersetzte; er stellte auch das Münster der Mönche von St. Peter wieder her und machte es wieder zu einem herrlichen Ort. Westminster wurde so zu einer bald um Händler, Kunsthandwerker und Arbeiter erweiterten ‚Kolonie‘ aus Geistlichkeit und Höflingen. Wenn auch keine ‚New Town‘ im modernen Sinne des Wortes, wurde Westminster so schnell eine neue ‚Stadt‘ von weitreichender Bedeutung. [  ] 395

Londons New Towns

Der vierte Earl of Bedford nahm 1620 ein Wohnbauprojekt außerhalb von London in Angriff. Auf dem Gelände von Covent Garden, das einst sein Urgroßvater von Henry VIII. erhalten hatte, besaß er entlang des Strand zwischen anderen aristokratischen Häusern eine stattliche Residenz. Das große Grundstück hinter diesem Gebäude bot sich hervorragend an, bebaut zu werden. Es war ein exzellentes Viertel, in dem viele wohlhabende Leute gern gewohnt hätten. So bat der Earl den König um Erlaubnis, dort ein großes Bauprojekt realisieren zu dürfen. Der König, Charles I., war ein höchst zivilisierter, an Malerei und Architektur interessierter Monarch, der spekulative Bauvorhaben ablehnte und nur Projekte von hoher urbaner und architektonischer Qualität bewilligte. Wir haben kein Zeugnis darüber, welche Bedingungen man dem Earl of Bedford stellte, aber wir wissen, daß dieser das Interesse des Königs für die Bildende Kunst kaum teilte, für dieses Projekt aber den königlichen Architekten Inigo Jones engagieren mußte (siehe S.144ff). Es wurde als große urbane Komposition entworfen; eine richtige ‚kleine Stadt‘ mit ihrem eigenen klassischen ‚Forum‘, von Arkaden­gängen umgeben und gekrönt von einer Kirche in Form eines römischen Tempels. Innerhalb gab es schöne Residenzen für die Upper Classes, dahinter kleinere Häuser für Leute mit bescheidenerem Auskommen, die den vermögenden Bewohnern dienten. Es entstand eine intakte kleine Gemeinschaft mit Markt, Kirche und Friedhof, mit Menschen aller Gesellschaftsschichten. Es handelte sich nicht nur um eine Gruppe von Häusern, sondern um eine gut organisierte und gut geplante städtische Einheit, eine halbe Meile außerhalb der City. Zur selben Zeit wünschte Lord Southampton, auf seinem wertvollen Anwesen, Bloomsbury, unweit von Covent Garden zu bauen. Er bat 1636 den König um Erlaubnis, erhielt aber bis zur abgeschlossenen Restaurierung keine Genehmigung. […] Bloomsbury entwickelte sich anders. Es das weniger ambitionierte Projekt, wahrte aber jahrelang sein Prestige. Es war ebenfalls um einen Platz angelegt, doch anstatt einheitlicher, mit Arkaden versehener klassischer Gebäude gab es eine Reihe von individueller gebauten, allerdings in der Höhe einheitlichen, Londoner Häusern. Anstelle der tempelartigen Fassade einer Kirche war das Anwesen des Grundbesitzers der zentrale Blickpunkt der Komposition. Die Mitte des Platzes war nicht wie die Covent Garden Piazza gepflastert, sondern mit Gras und Wegen versehen, was die allgemeine Erscheinung sehr englisch und ziemlich ländlich machte. So konnte Lord Southampton sein geliebtes Landleben und die Atmosphäre der modischen Hauptstadt genießen. […] 396

Neue Städte der Vergangenheit

Von Beginn an versorgte ein kleiner Markt westlich des Platzes die Bewohner der ‚kleinen Stadt‘. Die Gemeinde hatte sogar ihre eigene Kirche außerhalb des zentralen Bereichs. Es gab schmale Straßen mit winzigen Häusern, die, hinter größeren versteckt, nicht direkt von der Residenz seiner Lordschaft zu sehen waren. [ …  ] Ein weiteres Beispiel für eine neue kleine Stadt befindet sich nördlich des St. James’s Parks. Für dieses Land erhielt Henry Jermyn die Rechte, eine Stadt für die Höflinge zu bauen. In Zusammenarbeit mit mehreren Gesellschaftern entwickelte er das gesamte Gebiet um einen zentralen Platz. Er trat nur als Planer und Grundstücksspekulant auf, während Gebäudespekulanten die einzelnen Parzellen mit langen Pachtverträgen übernahmen und darauf Häuser für adelige Pächter bauten. Ähnlich Bloomsbury wurde dieses Vorhaben zu einer kompletten ‚kleinen Stadt‘ mit einem noblen zentralen Platz, einem kleinen Markt im östlichen Teil und einer von Christopher Wren entworfenen Kirche mit Zugang von Piccadilly im Norden. Henry Jermyn, Duke of St. Albans, hatte sein eigenes stattliches Herrenhaus in einer Reihe ansehnlicher Häuser auf einer Seite des Platzes. Die ebenso attraktiven Grundstücke entlang der Südseite der Pall Mall waren nur durch eine Gartenmauer vom Park getrennt. [ …  ] Zeitgleich mit der Nachbarschaft von St. James wurde auch die Stadt Versailles erbaut. Es ist äußerst aufschlußreich, die beiden Projekte miteinander zu vergleichen. Beide wurden als Wohngebiete neben einem königlichen Palast geplant. Doch während la ville de Versailles im Auftrag des Königs entwickelt und gebaut wurde, war das St. James-Projekt ein rein privates Vorhaben. Die Ergebnisse waren so verschieden wie die Vorgehensweise. Versailles’ Stadtplan beruhte auf den fortschrittlichsten, den Absolutismus zum Ausdruck bringenden Planungstheorien jener Zeit. Das Hauptmerkmal waren drei eindrucksvolle, die gesamte Stadt durchkreuzende Prachtstraßen, die aus dem Nichts kamen und geradewegs auf das Reiterstandbild des Königs vor seinem Palast zuführten und so die Bündelung der gesamten Macht in dieser symbolisierten. Es gab auch Märkte, zwei prächtige Kirchen und eine Reihe von Plätzen, kurz, alles, was zu einer Stadt gehört. Doch dieser Idealplan, den einige der besten Architekten jener Zeit gezeichnet hatten, ist ein reiner Reißbrettentwurf, ersonnen in der dünnen Luft der Ideen. Der einfache Mann auf der Straße wird kaum bemerken, daß die Statue des Königs im Schnittpunkt der Alleen steht. Das kann man nur auf einer Karte erkennen. Für ihre überdimensionierte Umgebung ist die sehr hohe Statue viel zu klein. 397

Londons New Towns

Geht man durch Versailles, dann fällt einem auf, daß das trianguläre Muster der Alleen den Rasterplan ziemlich unglücklich durchschneidet und damit einige verformte Eckgrundstücke mit ungeschickt spitzwinkligen Häusern entstanden sind. Die einzige Stelle, von der aus sich die Stadt betrachten läßt, befindet sich vor der Statue. Die allerdings steht auf dem wohl verlorensten Vorplatz der ganzen Welt, einer Art verzerrter Piazza del Popolo. Verglichen mit diesem monströsen Plan war die englische ‚Kleinstadt‘ von St. James’s extrem einfach. Sie beruhte nicht auf irgendeiner reizenden Idee, sondern auf dem ganz egoistischen Ansinnen eines pfiffigen Höflings. Sein Ziel war, reichen Leuten ein paar gut geschnittene Grundstücke anzubieten, die aufgrund ihrer gefälligen und für Wohnhäuser reizvollen Lage in freundlicher Umgebung einfach zu verkaufen waren. Interessanterweise besitzt der St. James’s Park annähernd die gleiche Größe wie die Heath Extension, die beim Bau der Gartenstadt Hampstead angelegt worden war. In beiden Fällen hielt es der praktisch veranlagte Planer für einträglich, den Bebauungsplan so zu konzentrieren, daß sich ein Teil des Planungsgebiets als ein Stück freies Land anlegen ließ, das sich mit ‚seinem ländlichen und teilweise wildem Charakter‘ für Freizeit, Sport und Spiele eignete. Und in beiden Fällen waren der städtische und der ländliche Teil der Anlage durch eine Mauer voneinander getrennt. Die City of Westminister wurde durch Henry Jermyns ‚kleine Stadt‘ zu einem hufeisen­förmigen Gebiet erweitert, das einen offenen Park umgibt, der seinerseits den grandiosen – und sehr englischen – Plan des Prinzregenten für den Prince Regent’s Park mit seiner ‚palastartigen‘ Umbauung inspiriert haben könnte.

Das englische Konzept

Ich habe mich so intensiv mit den beiden ‚Kleinstädten‘, Lord Southamptons Bloomsbury und Henry Jermyns St. James, beschäftigt, weil sie zu Vorbildern für ein Städtewachstum wurden, das Milton Keynes so sehr ähnelt und das ich nirgendwo sonst gefunden habe. Als kontinentale Städte – die von alters her von starken Befestigungs­ringen umgeben waren – ihre Begrenzungen durchbrachen und über ihre historischen Grenzen hinauswuchsen, geschah dies auf eine ganz andere Weise. Die wohlhabenden Städter machten hübsche neue Gegenden ausfindig, wo sie schöne, 398

Das englische Konzept

Bloomsbury Square, Vogelperspektive auf einen Stich aus dem 18. Jahrhundert, im Hintergrund das Haus des Earl of Southampton, wie John Evelyn es sah

Das erste Bloomsbury, ein edler Platz oder eine vornehme Piazza in einer kleinen Stadt, linker Bildrand die Kirche (A) und der Marktplatz (B), nördlich des Platzes Bedford House, der Wohnsitz des Earl of Southampton, mit Blick über die Felder und die Anhöhen von Hampstead und Highgate im Hintergrund

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Londons New Towns

von Gärten umgebene Landhäuser bauen konnten. Die weniger Wohlhabenden erwarben Häuser entlang der bestehenden Straßen oder am Rand von Dörfern, weil es wirtschaftlicher war, das Straßennetz so gut wie möglich auszunutzen. Neue Wege und Straßen wurden erst dann gebaut, wenn die Grundstücke entlang der bestehenden Straßen vollständig besetzt waren und kein weiterer Platz zur Verfügung stand. Als mit der Industrialisierung ganze Armeen von Arbeitern in die Städte strömten, stellte sich die Frage, wie man ihnen so billig wie irgend möglich ein Dach über dem Kopf verschaffen könne, und da entlang des Straßennetzes kein Platz vorhanden war, wurden Hinterhäuser, Mittelhäuser und Extrastockwerke in die bestehende Wohnbebauung eingefügt und besondere ‚Arbeiter‘-Vorstädte mit schematisch dicht gedrängte ‚minimalen Wohneinheiten‘ auf lokal verfügbarem Land errichtet. Derart überfüllte Gegenden für Menschen aus der Arbeiterklasse gab es auch in London, wo die Industrialisierung früher als in anderen europäischen Metropolen begonnen hatte. Schon in der Zeit der Tudors entstanden nördlich und östlich der City of London Vororte für die arbeitende Bevölkerung: Smithfield, Clerkenwell, Spitalfields. Sie unterschieden sich jedoch deutlich von jenen Mietshäusern mit fünf und sechs Geschossen, die später auf dem Festland entstanden. In London waren es schlicht kleine Häuser in Reihen, entlang der Straßen gebaut, wie in den englischen Dörfern. Wie dem auch sei, bis zur Entwicklung von Londons West End tauchte jenes besondere Muster nicht auf, das man von Bloomsbury und St. James kennt. Anstatt zunächst entlang der bestehenden Hauptstraßen zu bauen, plante man hier komplette städtische Einheiten zwischen den Straßen. Das Problem war nicht – wie im East End – so viel wie möglich preiswerte Parzellen in einem Gebiet zusammenzufassen, sondern möglichst angenehme Bedingungen zu schaffen, damit wohlhabende Städter, die bereit sind, einen hohen Preis für ein schönes Haus zwischen der City of London und der City of Westminster zu zahlen, sie attraktiv finden. In Richtung Osten spielte die Quantität der Grundstücke eine Rolle, in Richtung Westen die Qualität. Seit dem 17. Jahrhundert entstand eine enorme Nachfrage nach besonders guten und attraktiven Stadthäusern. Dieser Bedarf kam teils seitens der reichen Londoner, die nicht länger in einer dichten, übervölkerten mittelalterlichen Stadt wohnen mochten, und teils vom Landadel, von Mitgliedern des Oberhauses und anderen Wohlhabenden, die eine Residenz in der Nähe von Westminster mit dem Gericht und dem Parlament besitzen wollten, in der Nähe von London, der Hauptstadt des Königreiches. 400

Das englische Konzept

Die beiden Gruppen unterschieden sich kaum voneinander. Das Ziel eines großen Kaufmannes war, so reich zu werden, daß er Land erwerben und in die einflußreiche Gruppe der Aristokraten aufsteigen konnte. Der Bedarf an reichen Herrenhäusern in der Nähe Londons hatte durch das Große Feuer des Jahres 1666 erheblich zugenommen. Für Menschen, die in großen Häusern gelebt hatten, war es verführerisch, in einen der neuen Stadtteile zu ziehen mit ihren freien Parzellen, reichlich Platz und attraktiverer Umgebung, die es in der überfüllten City nie hätte geben können. Tatsächlich entstand recht schnell eine Reihe von großartigen Plänen für den Wiederaufbau der City (siehe S.87ff). Aber sie versprachen den Opfern des Feuers keine besseren Bedingungen. Selbstverständlich konnte man nicht zusätzlich Platz schaffen, sondern nur Vorschläge zur Neuordnung des vorhandenen Gebiets machen. Es ist besonders aufschlußreich, Christopher Wrens und John Evelyns utopische Projekte mit den kleinen – realisierten – Plänen für Bloomsbury und St. James zu vergleichen. Christopher Wren wollte die gesamte City in ein großartiges, von prachtvollen Monumenten wie St. Paul’s und der Royal Exchange beherrschtes Ganzes verwandeln, während die gewöhnlichen Häuser eine strukturlose, von Straßen durchschnittene Masse bleiben sollte. Die Planung der ‚kleinen Städte‘ Bloomsbury und St. James begannen im Gegensatz dazu mit all den Elementen, aus denen eine Stadt besteht, wie zum Beispiel einem öffentlichen Platz, einer Reihe von Grundstücken mit gewöhnlichen Häusern, einer Kirche und einem Marktplatz. Man achtete sorgfältig darauf, daß jedes Element genau die Größe bekam, die seiner Funktion entsprach. Diese Einzelteile wurden zu einer ordentlichen kleinen, man könnte sagen provinziellen, Stadteinheit zusammengefügt. Die zwei unterschiedlichen Vorstellungen der idealen Stadt werden besonders an zwei großen Stadtplänen deutlich, die an meiner Wand hängen und die ich täglich betrachte. Der eine ist Nollis Pianta di Roma aus dem Jahre 1748, der andere Horwood’s Plan of London von etwa 1790. Der Plan von Rom ist ein eindrucksvoller gravierter Stadtplan, dem Papst gewidmet und von Kirchen dominiert. Die Grundrisse der Kirchen sind sorgfältig mit Mittelschiff, Seitenschiffen und Kapellen, manchmal auch mit den Klöstern aufgenommen. Das Innere der Kirchen ist oft größer dargestellt als die umgebenden Straßen­ räume und Plätze. Die großen Straßen sind als lange gerade Linien von einer großen 401

Londons New Towns

Ausschnitt aus Horwoods Plan von London (um 1790). Er zeigt die rechtwinklige ‚Kleinstadt‘ zwischen Piccadilly und der Mall von Henry Jermyn, Duke of St. Albans, St. James’s in Piccadilly, im östlichen Teil ein Markt nahe Hay Market, St. James’s Square in der Mitte des Plans und St. James’s Palace in der südlichen Ecke.

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Das englische Konzept

Wallfahrtskirche zur nächsten gezogen. Die größte Kirche ist St. Peter mit dem Vatikan und Berninis immensem, von Kolonnaden gefaßten Platz. In Rom gibt es tatsächlich jene großartigen Blicke, von denen Christopher Wren träumte, und die gewöhnlichen Häuser bilden eben diese undefinierbare, von Straßen durchpflügte Masse. Der Stadtplan enthüllt das barocke Rom als eine aufregende Komposition von Räumen. Horwoods Plan von London ist anders. Er ist ‚den Verwaltern und Direktoren des Phoenix Fire Office demütig gewidmet‘ – und die waren offensichtlich nicht an Kirchen interessiert. Die vielen Kirchen der City sind nur als Quadrate mit dunkler Kreuzschraffur zu sehen. Auf der anderen Seite ist jedes Haus der ganzen riesigen Stadt sorgfältig, sogar mit Hausnummer, ausgewiesen. Man kann die Grundstücksaufteilung von Bloomsbury und St. James sehr gut sehen und erkennt, wie sorgfältig die Haus­ typen, die großen um die Plätze und die kleineren entlang der Nebenstraßen, dargestellt sind. In St. James gibt es auch Pferdehöfe und Stallungen, denn die Entfernung zur City war so groß, daß die Oberschicht Pferd und Wagen besitzen mußte. In Lord Southamptons kleinem Bloomsbury hatte man es nicht so weit. Dort kann nur der noble Lord selbst seine eigene Equipage besessen haben. Die Struktur der Hauptstraßen mit dazwischen liegenden kompletten kleinen Stadtteilen gab es bereits im 17. Jahrhundert, wenn auch weniger deutlich. Der immense Bedarf an Wohnungen, der nach dem Großen Feuer im Jahr 1666 entstand, zog eine beachtliche Bautätigkeit, welche die Gebiete zwischen den Straßen komplett zu füllen drohte, nach sich. [...] Im 18. Jahrhundert wurde das gebräuchliche Muster übersichtlicher. Die Gegend westlich der City of London wurde mittels eines weiten Straßennetzes gegliedert: in Ost-West-Richtung verlaufend Marylebone Road, Oxford Road und Piccadilly, und von Norden nach Süden durch ein weniger klares System von Achsen, die nicht den Rang der großen Hauptstraßen besaßen. Zusammengesetzt bildeten sie ein Raster von einem Kilometer Maschenweite. Zwischen den Straßen ergaben sich die jeweiligen Quartiere. Auf John Rocques Great Map of London von 1746 kann man deutlich Grosvenor Estate als kleine, unabhängige, um den großen Grosvenor Square errichtete Stadt erkennen, mit imposanten Straßen voller herrschaftlicher Häuser und kleineren Häusern an weniger eindrucksvollen Straßen am äußersten Rand. Innerhalb der Blöcke gibt es für die großen Gebäude zahlreichliche Stallungen. Auf der selben 403

Londons New Towns

St. James’s Park um 1790. Es ist offensichtlich, daß der Kanal (ursprünglich von Bäumen umsäumt, wie es der Plan auf S. 82 zeigt) direkt auf die Banqueting Hall zuläuft.

Stadtkarte ist im südlichsten Teil von Mayfair eine Gruppe unregelmäßiger Bauten zu erkennen, offensichtlich Überbleibsel eines alten Dorfes (beim Shepherd’s Market), ein starker Kontrast zum geplanten Grosvenor Estate. Nördlich der Oxford Street (damals Tiburn Road) entstanden, ebenfalls um die regelmäßigen Plätze, ansehnliche Stadtparzellen, die mit den, sich durch das rechtwinklige Raster der kleinen geplanten Viertel schlängelnden, alten Dorfstraßen in Konflikt gerieten. Die Städte bestanden nicht nur aus streng nach Plan gebauten Plätzen, Straßen und Häusern, sondern wurden zu kleinen unabhängigen ‚states‘ innerhalb des Staates. Man nannte sie natürlich nicht ‚states‘, sondern, etymologisch identisch, ‚estates‘ [ Wohnsiedlungen ]. Die großen Grundbesitzer im Westen von London waren darauf erpicht, diese Estates unter eine unpersönliche Verwaltung zu stellen, Einrichtungen, die endlos weitervererbt werden konnten (siehe S.167). Die Grundstücke wurden nie verkauft, sondern langfristig, ursprünglich für 99 Jahre, an diejenigen verpachtet, die darauf Häuser bauten beziehungsweise kauften. Wenn die ersten Pachten ausliefen, fiel das Gelände mit seinen Gebäuden und allem weiteren an die Estate zurück, die wiederum den Pachtvertrag, nun für einen kürzeren Zeitraum, jedoch gegen höhere Mieten, erneuern konnte. Weitere Gebäude durften nicht ohne Zustimmung der Estate errichtet werden. Außerdem durfte sich weder der Zustand der Gebäude noch der gesamten Anlage verschlechtern. Die Estate war besser verwaltet als jemals irgendeine städtische Einrichtung. So wie sich früher Adelsfamilien ein 404

Das englische Konzept

Hampstead Heath Extension [Erweiterung der Heide von Hampstead]

dauerhaftes Denkmal mit dem Bau großartiger Herrenhäuser setzten, Zeichen ihres guten Geschmacks und ihrer entwickelten Kultur, entstanden jetzt neue Londoner Stadtteile, deren distinguierte Einwohner dem Ort zu entsprechenden Ansehen verhalfen und dessen Plätze und Straßen nachfolgende Generationen an die Namen der Familien erinnern sollten. Einige der großen Estates vergrößerten sich durch Eheschließungen. So wurde Lord Southamptons ‚kleine Stadt‘ Bloomsbury im Laufe der Zeit zum ‚großen Bloomsbury‘ des Duke of Bedford. Die vielen Plätze, Straßen und Ecken tragen dort die Namen von Mitgliedern der bekannten Familie Russell. Während die ersten ‚kleinen Städte‘ noch sozial gemischte Gemeinschaften waren, entwickelte sich beispielsweise Bloomsbury zu einem geschlossenen Bezirk der Upper Class. Es gab weder einen Markt noch Geschäfte, auch keine Arbeitsplätze – dafür aber jede Menge Stallungen, wo die Reichen ihre Pferde, Wagen und Kutscher unterbringen konnten. Die unmittelbar südlich gelegenen Gebiete von Bloomsbury jedoch, das alte Dorf St. Giles in the Fields, wurden immer proletarischer. Auf dem ehemaligen Dorfplatz entstand das, ausschließlich mit kleinen Häuschen zugebaute, Viertel Seven Dials, ein zunehmend überbevölkertes Slumgebiet, wo in jedem Haus viele Familien lebten. Eine neue Entwicklung hatte begonnen; es entstanden ausschließlich für die Aristokratie reservierte Gebiete und Bezirke für das Proletariat. […]

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Londons New Towns

Die alten englischen Maßeinheiten im Städtebau

Gemäß ihres Ursprungs und ihres Zwecks entwickelten sich die ‚neuen Städte‘ des West End, wie ich sie genannt habe, sehr regelmäßig und harmonisch. Selbst die Landaufteilung trug aufgrund der verwendeten Maßeinheiten – miles, forlongs und rods [Meilen, Achtelmeilen, Ruten (1 rod entspricht 5,5 yards)] – dazu bei, Maßeinheiten, die in unseren Augen absurd erscheinen. Wenn wir wissen, daß eine Meile 5,280 feet [Fuß] lang und ein acre [Morgen] ein Quadrat mit 208,7 Fuß langen Seiten ist, und daß 640 Morgen eine Quadratmeile ergeben, dann erscheint es schier unmöglich, mit diesem Maßsystem zu arbeiten. Wir leben in einer Welt, in der mikroskopische Objekte um ein Vieltausendfaches vergrößert und enorme Distanzen im All gemessen werden können. Dafür ist ein Dezimalsystem erforderlich. Trotzdem waren die alten englischen Maße nicht so unbrauchbar, wie man heute annimmt, da sie einfach anders genutzt wurden. Sie dienten dazu, die richtigen Dimensionen für Land und Gebäude zu kennzeichnen. ‚Acre‘ ist ein uraltes Wort, es bezeichnet ein nutzbares Feld oder ein Stück Weideland. Es definierte als Maßeinheit zuerst jenes Stück Land, das von einem Ochsengespann an einem Tag gepflügt werden konnte, und sollte kein Quadrat, sondern ein sehr langes Rechteck sein. Die Länge betrug natürlich eine furlong [Achtelmeile], das heißt zum Beispiel: eine furrow lenght [Furche] (660 feet) und mit der Breite einer chain [Kette] (66 feet). Wenn der Landvermesser einen Acker abmessen wollte, dann benutzte er eine 66 Fuß lange Kette. Man kann wörtlich sagen, daß wir uns hier bei den Wurzeln des Planens befinden. Im neunten Jahrhundert waren die bebaubaren Flächen in große Quadrate von 660 x 660 Fuß aufgeteilt. (Tatsächlich waren sie 600 x 600 Fuß groß, aber der foot war früher 10 Prozent größer. Doch das ist eine andere Geschichte.) Jedes dieser Quadrate war in zehn lange Streifen geteilt, 66 x 660 feet, was ein acre ergibt. Wenn eine kürzere Strecke gemessen werden sollte, wurde nicht die Kette, sondern ein pole, perch oder [Pfahl, Stange, Rute] benutzt. Eine Rute entsprach 16,5 Fuß. Also ergaben vier Ruten eine Kette. Zu jener Zeit 406

Die alten englischen Maßeinheiten im Städtebau

hatte ein normales Landarbeiterhaus in der Londoner Gegend eine Front mit einer Breite von einer Rute. Wenn nun ein Grundbesitzer eine Reihe von Häusern für seine Landarbeiter zu bauen wünschte, konnte der Landvermesser mit seiner Rute hinausgehen und sofort abschätzen, für wie viele Häuser der Platz ausreichte. Auf Horwoods Plan ist der Maßstab nicht in Fuß, sondern in Ketten angegeben. Mithilfe eines Zirkels kann man herausfinden, daß eine Kette überall in East London mit der Länge von vier Hausfronten übereinstimmt. Die Größe der einzelnen Häuser mag ein wenig nach der einen oder anderen Seite abweichen, aber kaum zwei Prozent der Häuser sind wesentlich größer. Die Stadtkarte zeigt, daß ein Haus mit der Breite von einer Rute die kleinste Einheit bildet, aus der das Ganze aufgebaut ist. Als der große Platz der Lincoln’s Inn Fields im Jahre 1639 gebaut wurde, gab man ihm – nach großem Streit – die beträchtliche Dimension von 12 x 9 chains (was nicht ganz akkurat ist, weil die beiden Längsseiten nicht parallel verlaufen). Einige der ersten Parzellen, beispielsweise die Nummern 3, 4, 5 und 6, wurden zwei Ruten beziehungsweise 33 Fuß breit. Das entspricht der doppelten Breite eines normalen kleinen Hauses auf dem Land, wie man es damals in ganz England fand. Die weiteren Häuser bekamen entsprechend proportionierte Breiten. Auf diese Weise wurde für die Plätze im Londoner Westend, im Gegensatz zu den Bezirken östlich der City, ein Standard gesetzt. Covent Garden war von Anfang an eine gepflasterte Piazza mit umlaufenden Arkaden. Er war mit 6 x 5 chains wesentlich kleiner; nur ein Viertel der mit Gras bewachsenen, mit Gehwegen und Vorgärten versehenen Lincoln’s Inn Fields. Gemäß Horwoods Plan haben die genannten Plätze folgende Dimensionen: Bloomsbury Square 20 x 28 rods, St. James Square 26 x 27 rods, Berkeley Square mit der ungewöhnlichen Größe von zwei Karrees, insgesamt 40 x 20 rods, Cavendish Square 25 x 25 rods, Portman Square 33 x 25 rods und Grosvenor Square, als größter von allen, 40 x 32 rods oder besser gesagt 8 Morgen, was mit 8 Streifen von je 40 x 4 rods gleich­ zusetzen ist. Weiterhin über Belgrave Square, der zu Horwoods Zeit noch nicht existierte, das Maß von 10 x 10 chains, also genau 10 Morgen Land, erwähnenswert. Anhand dieser Proportionen können wir feststellen, daß die Planer mit Maßen arbeiteten, die ihnen sehr vertraut waren. Chains und rods waren jene Werkzeuge, mit deren Hilfe sie die Parzellen absteckten. Und da sie alle mit den selben Einheiten arbeiteten, konnten sie aus den bereits bestehenden Vierteln Erfahrungen schöpfen 407

Londons New Towns

und beobachten, wie die Dimensionen tatsächlich wirkten. So lernten sie, ihre Mittel zu beherrschen. Das Ergebnis war eine Reihe von harmonischen, ganz und gar unspektakulären Stadtbezirken. Die Baumeister, welche die Häuser seinerzeit alle selbst errichteten, arbeiteten dagegen nicht mit chains und rods, sondern mit ‚rules‘ [heute ‚rulers‘ – Lineal], welche in feet und inches [Zoll] unterteilt waren. Sie konnten aber auch einen fathom [Faden] (die Länge zwischen den ausgestreckten Armen) benutzen. Wir haben es folglich mit Maßeinheiten zu tun, die von den menschlichen Maßen abgeleitet sind. In der Regel waren die Häuser als Pfettenhäuser konstruiert, ihre 16,5 Fuß breite Fassade entsprach einem Dachsparren von 16 Fuß und 21 Ziegeln von 9 Zoll; mit anderen Worten: bewährten, herkömmlichen Maßeinheiten. Für alle weiteren Einheiten eines Hauses, wie Tiefe, Geschoßhöhe, Türen und Fenster, gab es Standardgrößen, die mit der Größe des Hauses variierten. Diese Maßeinheiten, also einfache Standardgrößen in Zoll und Fuß, waren überdies auf Möbel und Haushaltsgegenstände übertragbar. Demnach gab es Arbeits-‚Traditionen‘ für ein ganzes System aus harmonischen Dimensionen, von der Teilung des Landes in miles, furlongs und rods bis hin zum Bau von Gebäuden in feet und inches. Die Person, die damit arbeitete, konnte nicht viel falsch machen; der versierte Planer konnte mit den Maßen spielen wie ein Musiker auf einem gut gestimmten Instrument. Doch das 19. Jahrhundert betrachtete die ruhigen, harmonischen Straßen und Plätze als monoton und trostlos[ 2 ]. All die alten und bewährten Maßeinheiten wurden verworfen. Das romantische ‚kreative Genie‘ beanspruchte vollständige Freiheit, gewöhnliche Menschen wurden ins Chaos gestürzt.

[   ] R  aymond Unwin, Town Planning in Practice: An Introduction to the Art of Designing Cities and Suburbs, 1909 [ 2 ] Rasmussen verwendet auch im Originaltext den deutschen Begriff ‚trostlos‘.

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Personenregister

Abercrombie, Sir (Leslie) Patrick 382 ff, 389 * 6. Juni 1879 in Ashton-upon-Mersey † 23. März 1957 in Aston Tirrold, Berkshire englischer Stadtplaner, Architekt, Theoretiker, legte gemeinsam mit J. H. Forshaw 1943 im Auftrag der Churchill-Regierung ein Wieder­ aufbaukonzept Londons vor (County of London Plan) Adam, Robert 155, 157ff, 164, 176, 214, 245, 253 * 3. Juli 1728 bei Kirkcaldy, Schottland † 3. März 1792 in London und Adam, James 155, 157ff, 164, 176, 214, 245, 253 * 21. Juli 1730 in Edinburgh † 20. Oktober 1794 in London englische Architekten und führende Vertreter des englischen Klassizismus, Begründer des Adam Style Adams, Holden, Pearson 310, 318, 320 f Architektenpartnerschaft von Harry Percy Adams 1865–1930, Charles Henry Holden 1875 –1960, Lionel Godfrey Pearson 1879–1953 Addison, Joseph 129, 142 * 1. Mai 1672 in Milston, Wiltshire † 17. Juni 1719 in London englischer Dichter, Politiker und Journalist, Sekretär von Lord Wharton, Mitglied des Parlaments Adenauer, Konrad Hermann Joseph 374 * 5. Januar 1876 in Köln † 19. April 1967 in Rhöndorf, Bad Honnef deutscher Politiker (Zentrum und CDU), erster Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland 1949–1963 Alfred der Große von England 21 (auch St. Alfred)

* 848

in Wantage, Oxfordshire Oktober 899 ab 881 König der West-Sachsen (Wessex) und 886 – 899 der Angelsachsen, vereinigte die angel­sächsischen Königreiche unter der Hegemonie von Wessex Anne (Queen Anne von England) siehe Stuart, Anne Arnold, Dr. Thomas 281f * 13. Juni 1795 in West Cowes, Insel Wight † 12. Juni 1842 in Oxford englischer Theologe und Pädagoge, übte bedeutenden Einfluß auf das höhere Schulwesen in England aus Ashfield, Lord 323 (eigentlich Albert Henry Stanley) * 8. August 1874 in New Normanton, Derby † 4. November 1948 in London Geschäftsführer und Vorsitz der Underground Electric Railway Company of London (UERL), später des London Passenger Transport Board (LPTB), trug maßgeblich zur Entwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs im Großraum Londons bei, Präsident der Handelskammer unter der Regierung von Lloyd George 1916–1919 Bacon, Sir Francis 76, 123 * 22. Januar 1561 in London † 9. April 1626 ebenda englischer Philosoph und Staatsmann, gilt als Wegbereiter des Empirismus Barnett, Lady Henrietta 50, 354, 378 * 4. Mai 1851 † 10. Juni 1936 in Hampstead zog gemeinsam mit ihrem Ehemann Samuel † 26.

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Personenregister

Augustus Barnett 1844 –1913, ins Londoner Eastend, in dem furchtbare Wohnverhältnisse herrschten, Gründung der Toynbee Hall (Ausgangspunkt internationaler SettlementBewegung) 1884, führte das gemeinsame Werk (u.a. Hampstead Garden Suburb) über 20 Jahre weiter, verfolgte die Grundidee, dass sich Ursachen von Armut und sozialer Ungerecht­igkeit nur gemeinsam mit den Betroffenen bekämpfen lassen Beaverbrook, 1.Baron William Maxwell Aitken 307 * 5. Mai 1879 in Maple, Ontario † 9. Juni 1965 in Mickleham, Surrey wohlhabender Industrieller und Verleger (u.a. Daily Express, Evening Standard ), Unterstützer der Konservativen, vor allem Neville Chamberlains, ab 1939 Minister für Luftrüstung und für die gesamte Kriegsproduktion im Kabinett Churchills Bede 20 (Beda Venerabilis „der Ehrwürdige“ auch Baeda) * 672 oder 673 im Gebiet des Klosters der seligen Apostel St. Peter und Paul in Wearmouth-Jarrow, Northumberland † 735 wahrscheinlich ebenda erster bekannter Historiker der englischen Geschichte Bedford, Duke of siehe Russell Beer, Esmond Samuel de 106 * 15. September 1895 in Dunedin, Neuseeland † 3. Oktober 1990 in Stoke Hammond, Buckinghamshire Geschichtswissenschaftler, Herausgeber des Diary of John Evelyn, 1955 und der Correspondence of John Locke u.a. Bernini, Gian Lorenzo 91, 177f, 403 * 7. Dezember 1598 in Neapel † 28. November 1680 in Rom bedeutender italienischer Bildhauer, Architekt, führender Vertreter des Barock

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Blois, Stephan von 28 in Blois, Frankreich † 25. Oktober 1154 König von England 1135 –1154 Blomfield, Sir Reginald 261, 306 (Reginald Theodore Blomfield) * 20. Dezember 1856 in Aldington, Kent † 27. Dezember 1942 englischer Architekt, Gartengestalter und Autor Blount, Thomas 82, 84 * 1618 in Bordesley, Tardebigg, Worcestershire † 26. Dezember 1679 in Orleton, Herefordshire englischer Antiquar und Lexikograph Borromini, Francesco 212 (eigentlich Francesco Castelli) * 25. September 1599 in Bissone, Schweiz † 12. August 1667 in Rom in Italien tätiger Architekt schweizer (tessiner) Abstammung, Zeitgenosse und schärfster Konkurrent von Cortona und Bernini Boys, Thomas Shotter 254 f * 2. Januar 1803 in London † 1874 englischer Maler und Lithograph Bridgeman, Charles 131 * 1690 † 19. Juli 1738 in London englischer Landschaftsarchitekt, königlicher Gärtner 1728–1738, entwarf The Round Pond in Kensington Gardens und The Serpentine im Hyde Park Brinckmann, Albert Erich 375 * 4. September 1881 auf Norderney † 10. August 1958 in Köln deutscher Kunsthistoriker und -theoretiker, ein Begründer der Städtebaugeschichte und wichtiger deutscher Barockforscher Brown, Tom 83 * um 1663 in Shifnal oder Newport in Shropshire † 18. Juni 1704 in London englischer Übersetzer und Satiriker * 1097

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Brummel, Beau 212, 305 (eigentlich George Bryan Brummel) * 1778 in London † 1840 in Caen Ausbildung in Eton und Oxford, stieg auf Grund seiner Kleidung und Bildung in die Kreise der Aristokraten auf, Freundschaft mit George IV. Buckingham, Villiers George 109 (I. Herzog von) * 28. August 1592 in Brooksby, Leicestershire † 23. August 1628 in Portsmouth englischer Diplomat und leitender Minister unter James I. und Charles I. Burton, Decimus 234 f * 30. September 1800 in London † 14. Dezember 1881 ebenda englischer Architekt, erbaute das Palmenhaus 1844–1848 und Temperate House 1860 –1899, der Royal Botanic Gardens Kew, London Chamberlain, Arthur Neville 378 * 18. März 1869 in Birmingham † 9. November 1940 in Reading englischer Politiker, Premierminister 1937–1940 Chambers, Sir William 134ff, 138, 141f, 161, 192 * um 1726 in Stockholm † 8. März 1796 in London englischer Architekt, ab 1742 im Dienst der Schwedischen Ostindien-Kompanie u.a. in China, Studien der Gartenbaukunst, Zeichenlehrer des englischen Kronprinzen und späteren Königs George III. Charles I. 47, 69, 73, 125, 178, 396 * 19. November 1600 in Dunfermline † 30. Januar 1649 in London König von England, Schottland und Irland 1625–1649. Unter seiner Regentschaft begann der Englische Bürgerkrieg, mit dessen Ausgang Charles hingerichtet und die Monarchie beendet wurde. Charles II. 47, 49, 80 f, 83, 98 f, 110, 123 f, 127 f, 143, 151, 178, 180

* 29.

Mai 1630 in London Februar 1685 ebenda König von England, Schottland und Irland (ab 1649 nur in Jersey proklamiert) 1660 –1685 Canute of Denmark 27, 395 (auch Canute the Great oder Knut der Große) * 985 oder 995 † 12. November 1035 in Shaftesbury König von Dänemark, England, Norwegen und Teilen von Schweden Carroll, Lewis 286f, 304 (siehe Dodgson, Charles Lutwidge) Cavendish, William George Spencer 235 (VI. Duke of Devonshire) * 21. Mai 1790 in Paris † 18. Januar 1858 in Hardwick Hall, Derbyshire Lord Chamberlain unter William IV., eng mit Zar Nikolaus I. von Russland, Antonio Canova, Charles Dickens und seinem leitenden Gärtner Sir Joseph Paxton befreundet Cavendish-Bentinck, William Henry 139 (III. Duke of Portland) * 14. April 1738 in Nottinghamshire † 30. Oktober 1809 in Bulstrode, Buckinghamshire Kanzler der University of Oxford, zweimal englischer Primierminister 1783, 1807–1809 Cavendish, William Henry 245 (IV. Duke of Portland) * 24. Juni 1768 † 7. März 1854 William Henry Cavendish war ältester Sohn des 3. Duke of Portland Constable, John 301 * 11. Juni 1776 in East Bergholt, Suffolk, England † 31. März 1837 in London-Hampstead englischer Landschaftsmaler Cornwall und Poitou, Richard Graf von 36 * 5. Januar 1209 in Winchester † 2. April 1272 Berkhamsted König des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1257–1272 † 6.

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Corot, Jean-Baptiste Camille 301 * 26. Juli 1796 in Paris † 22. Februar 1875 ebenda französischer Maler Cowper, Sir William 75 (I. Earl Cowper) * 1665 in Hertford; † 10. Oktober 1723 Lordkanzler von England 1705 –1708 Cromwell, Oliver 47, 49, 75, 80, 84, 110 * 25. April 1599 in Huntingdon † 3. September 1658 in Westminster Organisator und entscheidender Feldherr des Parlamentsheeres im Bürgerkrieg gegen Charles I., regierte als Lordprotektor England, Schottland und Irland während der kurzen republikanischen Periode der britischen Geschichte Cullen, (Thomas) Gordon 394 * 9. August 1914 in Calverley † 11. August 1994 in Wraysbury englischer Architekt, Zeichner, Illustrator, Maler und Ausstellungsgestalter David, König (von Israel) 63 etwa 1000 v. Chr eine vor allem durch die Bibel überlieferte historische Gestalt, zweiter König von Israel und Judäa Davidge, William Robert 104 * 17. Februar 1879 in Teddington, London † 1961 englischer Architekt und einer der führenden Personen der britischen Stadtplanung, ab 1926 Mitglied des Stadtplanungsinstituts in London, später auch dessen Präsident Defoe, * vermutlich Anfang 1660 in London † 26. April 1731 ebenda englischer Schriftsteller, wurde durch seinen Roman Robinson Crusoe weltberühmt, versuchte sein Leben lang die politische und religiöse Freiheit in England zu stärken

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Denham, Sir John 89 in Dublin † 10. März 1669 in London irischer Schriftsteller Dickens, Charles John Huffam 204, 207, 284, 305 * 7. Februar 1812 in Landport bei Portsmouth † 9. Juni 1870 auf Gad’s Hill Place in Rochester einer der meistgelesenen englischen Schriftsteller, aus armen Verhältnissen, zuvor Parlaments­ stenograph und Journalist beim Morning Chronicle, Herausgeber der großen liberalen Tageszeitung Daily News und der Zeitschrift Household Words Dodgson, Charles Lutwidge 286f, 304 (auch Lewis Carroll) * 27. Januar 1832 in Daresbury † 14. Januar 1898 in Guildford englischer Schriftsteller, Mathematiker und Fotograf, Autor von Alice im Wunderland, Alice hinter den Spiegeln und Die Jagd nach dem Schnark, fesselte mit Wortspiel, Logik und Phantasie naive und gebildete Leser gleichermaßen Drake, Sir Francis 44 * um 1540 in Tavistock, Devon † 28. Januar 1596 bei Portobelo, Panama englischer Freibeuter, Entdecker und Admiral, der erste britische Weltumsegler Dugdale, Sir William 80 * 12. September 1605 in Shustoke, Warwickshire † 10. Februar 1686 ebenda englischer Antiquar, Rechnungsprüfer des Earl von Arundel sowie des Earlmarshal von England Ebenezer, Sir Howard 325ff, 342ff, 367, 369, 384ff, 394 * 29. Januar 1850 in London † 1. Mai 1928 Welwyn Garden City, Hertfordshire englischer Stadtplaner, Erfinder der Gartenstadt Edward der Bekenner 24 * um 1004 in Islip, Oxfordshire † 5. Januar 1066 in London König von England 1042 –1066 * 1615

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Edward I. 24, 32 (auch Edward Longshanks, Eduard Langbein) * 17. Juni 1239 in London † 7. Juli 1307 in Burgh by Sands, Cumberland König von England 1272 –1307, beteiligte sich 1270 an einem Kreuzzug nach Palästina Edward III. 24, 43, 45, 50, 66, 84 * 13. November 1312 in Windsor † 21. Juni 1377 in Richmond König von England 1327–1377, einer der bedeutendsten englischen Könige des Mittel­alters, unter seiner Regentschaft fanden tiefgreifende Veränderungen in der Regierung statt Edward IV. 28, 39 * 28. April 1442 in Rouen, Normandy † 9. April 1483 in Westminster König von England 1461–1470 und 1470 –1483 Edward V * 9. November 1841 in London † 6. Mai 1910 ebenda König von Großbritannien und Irland, 1901–1910 Elisabeth I. 25, 38, 41, 45ff, 54f, 57f, 61, 100, 108, 275 * 7. September 1533 in Greenwich † 24. März 1603 in Richmond Königin von England 1559–1603, eine der bedeutendsten Herrscherinnen der europäischen Weltgeschichte, die Zeit ihrer Regentschaft wird auch als das Elisabethanische Zeitalter bezeichnet Elisabeth I. (von Russland) 194 (auch Elisabeth Petrowna) * 18. Dezember 1709 in Moskau † 25. Dezember 1761 in Sankt Petersburg Zarin von Russland 1741–1762 Evelyn, John 79, 84, 89, 91, 93ff, 100, 103, 106, 143f, 399, 401 * 31. Oktober 1620 in Wotton, Surrey † 27. Februar 1706 ebenda englischer Autor, Gärtner, publizierte auf den Gebieten Theologie, Politik, Gartenbau, Architektur und Kochen; seine Tagebücher geben einen

genauen Einblick in Kunst, Kultur und Politik der Zeit (vgl. Tagebücher Samuel Pepys), nach dem Großen Feuer 1666, überwachte er den Wiederaufbau Londons und zusammen mit Christopher Wren die Rekonstruktion der Kathedrale St. Paul’s Falconer, Sir Thomas 67 * unbekannt † unbekannt Lord Mayor (Bürgermeister) von London 1414 –1415 Fitz-Stephen, William 64f, 67, 84, 277 * 1124 (aus wenigen Quellen überliefert) † Juni 1190 Geistlicher und Sekretär von Thomas Becket, Biograph von Thomas Becket, schrieb sehr genaue Beschreibungen zum Stadtbild Londons im Mittelalter Fitzthomas, Thomas 37 ff * ca. 1248 † nach 1265 1261–1264 Lord Mayor (Bürgermeister) von London, 1265 in Windsor Castle gefangen­ge­ nommen, seitdem verschwunden Foley, Thomas 245 (II. Baron Foley) * 1703 † 8. Januar 1766 englischer Politiker Forshaw, John Henry 382 * 1895 † 1973 englischer Architekt und Stadtplaner, legte gemeinsam mit Leslie Patrick Abercrombie 1943 im Auftrag der Churchill-Regierung ein Wiederaufbaukonzept Londons vor (County of London Plan) Freeman, Edward Augustus 28 * 2. August 1823 in Harborne, Staffordshire † 16. März 1892 in Alicante, Spanien englischer Historiker und Professor für moderne Geschichte in Oxford

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Friedrich II. (von Preußen) 193f (‚Friedrich der Große‘) * 24. Januar 1712 in Berlin † 17. August 1786 in Potsdam König in, ab 1740 und von Preußen 1772 –1786 George III. 140, 214, 243, 289 * 4. Juni 1738 in London † 9. Januar 1820 in Windsor König von Großbritannien und Irland 1760 –1801 und 1801–1820 König desVereinigten Königreichs von Groß­britannien und Irland George IV. 224, 243, 289, 305 * 12. August 1762 in London † 24. Juni 1830 in Windsor König desVereinigten Königreichs von Groß­britannien und Irland 1820 –1830 Georg V. 243 * 3. Juni 1865 in London † 20. Januar 1936 in Sandringham König des Vereinigten Königreichs Groß­britannien 1910–1936 Georg, Prinz (von Dänemark) 81, 111 * 2. April 1653 in Kopenhagen † 28. Oktober 1708 in London Ehemann der britischen Königin Anne Stuart George, David Lloyd 382 (I. Earl Lloyd George of Dwyfor OM) * 17. Januar 1863 in Manchester † 26. März 1945 in Llanystumdwy, Wales englischer Politiker und Premierminister 1916– 1922, 1926–1931 Vorsitzender der Liberalen Partei George, Henry 331 * 2. September 1839 in Philadelphia † 29. Oktober 1897 in New York City US-amerikanischer Politik- und Wirtschaftswissenschaftler, Befürworter einer Einheitssteuer auf Grund und Boden (Progress and Poverty 1879). In der nach ihm benannten Philosophie (Georgism) sollte jeder das besitzen, was er gestaltet hat. Die in der Natur gefundenen Güter (besonders Grund und Boden) sollten allen zu gleichen Teilen gehören.

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Gibberd, Sir Frederick 392f Januar 1908 in Coventry † 9. Januar 1984 in Harlow, Essex englischer Architekt, Stadtplaner und Landschaftsarchitekt, schuf u.a. die Anteros-Figur auf dem Shaftesbury-Gedenkbrunnen, Piccadilly Circus Gilbert, Sir Alfred R. A. 256 * 12. August 1854 in London † 4. November 1934 ebenda bedeutender englischer Bildhauer und Künstler Goliath aus Gath 63 riesiger Krieger der Philister aus dem Alten Testament Gomme, Sir George Laurence 20, 24ff, 122 * 18. Dezember 1853 in London † 23. Februar 1916 ebenda englischer Autor, Beamter, führender Volks­ kundler Grammaticus, Saxo 21 * um 1140 † um 1220 dänischer Geistlicher und Geschichtsschreiber, ver­faßte die Geschichte Dänemarks auf Latein Gregor I. 20 (‚Gregor der Große‘) * um 540 in Rom † 12. März 604 ebenda Papst 590 – 604, gilt als einer der bedeutendsten Päpste überhaupt Gresham, Sir Thomas 46 * 1519 in London † 21. November 1579, ebenda Mitbesitzer des größten englischen Handelshauses seiner Epoche, Finanzagent der englischen Regierung sowie königlicher Berater Gropius, Walter 375f * 18. Mai 1883 in Berlin † 5. Juli 1969 in Boston, USA deutscher Architekt, Gründer und erster Direktor des Bauhauses 1919–1928, wichtiger Vertreter der Klassischen Moderne * 7.

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Gwynn, John 106, 161, 164f, 246 * 1713 in Shrewsbury in Shropshire † 28. Februar 1786 in Shrewsbury englischer Architekt und Ingenieur, 1768 ΩMit­begründer der Royal Academy Hall, Edward 67, 84 * 1498 in London † April 1547 ebenda englischer Historiker dessen Chroniken wichtige Quellen für Shakespeares Theaterstücke darstellten, Mitglied in verschiedenen Stadtparlamenten Haussmann, Georges-Eugène Baron 118, 246 * 27. März 1809 in Paris † 12. Januar 1891 ebenda französischer Stadtplaner und Präfekt des fran­ zösischen Départments Seine (Großraum Paris), prägte maß­geblich das bis heute erhaltene Stadtbild von Paris Hegemann, Werner Manfred 8f, 12, 26, 56f, 62, 122 * 15. Juni 1881 in Mannheim † 12. April 1936 in New York, USA deutscher Architekturkritiker, Autor und Verleger, Herausgeber der Wasmuths Monatshefte für Baukunst und der Reihe Der Städtebau. Sein bedeutenstes Werk Das steinerne Berlin erschien 1930. Emigrierte 1933 in die USA, während der Herrschaft der Nationalsozialisten waren seine Schriften verboten Henry II. 33, 57 * 5. März 1133 in Le Mans † 6. Juli 1189 in Chinon König von England 1154 –1189 Henry III. 25, 32, 35f, 65 * 1. Oktober 1207 in Winchester † 16. November 1272 in London König von England 1216–1272 Henry IV. 43 * 3. April 1367 in Lincolnshire † 20. März 1413 in London König von England 1399–1413

Henri IV. le Grand (von Frankreich) 90 Dezember 1553 in Pau, Navarra, heute zu Frankreich gehörend † 14. Mai 1610 in Paris König von Frankreich und Navarra 1589–1610 Henry V. 43, 81 * August 1387 in Monmouth, Wales † 31. August 1422 bei Bois de Vincennes König von England 1413–1422 Henry VII. 41, 45 * 28. Januar 1457 in Pembroke, Wales † 21. April 1509 in Richmond upon Thames König von England 1485 –1509, Begründer der Tudor-Dynastie und als einer der erfolg­ reichsten Könige Englands bekannt Henry VIII. 25, 38, 40, 44 ff, 55, 72, 78, 139, 144, 278, 396 * 28. Juni 1491 in Greenwich, London † 28. Januar 1547 in London König von England 1509–1547 und ab 1541 König von Irland Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand von 374 * 31. August 1821 in Potsdam † 8. September 1894 in Berlin deutscher Physiologe und Physiker, Universal­ gelehrter und einer der vielseitigsten Natur­ wissenschaftler seiner Zeit Hogarth, William 141 * 10. November 1697 in London † 26. Oktober 1764 ebenda englischer Maler und Graphiker, Vorläufer der modernen sozialkritischen Karikaturisten, prangerte in seinen Gemälden und KupferstichSerien die Sitten und Gebräuche seiner Zeit an Holden, Sir Charles Henry 310, 318, 320 f * 12. Mai 1875 in Great Lever, Bolton † 1. Mai 1960 in Harmer Green englischer Architekt und vor allem für die von ihm gebauten Underground-Bahnhöfe bekannt, siehe auch Adams, Holden, Pearson * 13.

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Hollar, Wenceslaus 72, 86 ff (auch Wenzel Hollar) * 1607 in Prag † 1677 in London Radierer, Kupferstecher und Zeichner böhmischer Herkunft, der bedeutendste Illustrator und Topograph des 17. Jahrhunderts in England Hooke, Robert 89, 96f, 103, 106 * 18. Juli 1635 auf der Isle of Wight † 3. März 1703 in London englischer Physiker, Mathematiker und Erfinder, Entdecker der Zellen in Pflanzen, 1658 Gedanken zur Verbesserung von Pendeluhren, ab 1662 Mitglied in der Royal Society und ab 1665 Professor für Geometrie in Oxford, nach dem Großen Feuer 1666 Ernennung zum Architekten von London, Hookesches Gesetz 1678, Bau eines optischen Telegraphen 1684 Inwood, Henry William 224 * 1794 in London † 1843 ebenda englischer Architekt, Archäologe und Autor, Sohn von William Inwood Inwood, William 224 * ca. 1771 in Caen Wood † 1843 in London englischer Architekt, arbeitete gemeinsam mit seinem Sohn Henry William James I. 180 * 19. Juni 1566 in Edinburgh † 27. März 1625 in Hertfordshire ab 1567 als James VI. König von Schottland, König von England und Irland 1603–1625, stand meist im Gegensatz zum Parlament James II. 47, 61, 69, 180, 278 * 14. Oktober 1633 in London † 5. September 1701 in Saint-Germain-en-Laye König von England und Irland 1685 –1688 sowie als James VII. König von Schottland, 1688 von William III. gestürzt, als Duke of York Namensgeber der Stadt New York

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Jermyn, Henry 397ff, 402 (I. Earl von St. Albans) * 1604 oder 1605 † 1684 als Günstling von Königin Henrietta Maria wurde er 1628 deren Kammerdiener und 1639 Rittmeister, später sogar Gouverneur von Jersey Johnson, Samuel 104, 176 * 18. September 1709 in Lichfield † 13. Dezember 1784 in London englischer Gelehrter, Schriftsteller, Dichter, Kritiker und Lexikograph, wegen seiner Gelehrsamkeit meist Dr. Johnson genannt, nach Shakespeare der meistzitierte englische Autor Johnston, Edward 308, 315f * 11. Februar 1872 in San José, Uruguay † 26. November 1944 in Ditchling, England Lehrer der Kalligraphie, hatte großen Einfluß auf die Entwicklung der Kalligraphie und Typographie des 20. Jahrhunderts Jones, Inigo 73, 89, 144f, 148f, 151, 181, 184, 192, 252, 396 * 15. Juli 1573 in London † 21. Juni 1652 ebenda gilt als erster bedeutender englische Archi­tekt des Klassizismus, kurze Zeit im Dienst Christians IV. von Dänemark, arbeitete in unterschiedlichen Funktionen für den englischen Königshof 1605 –1642 Karl VI. 49 * 1. Oktober 1685 in Wien † 20. Oktober 1740 ebenda Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Erz­ herzog von Österreich Kent, William 123, 131, 138, 141, 192ff * 1685 in Bridlington, Yorkshire † 12. April 1748 in London englischer Landschaftsgärtner, Architekt und Maler, hatte großen Einfluß auf die Landschaftsgärtnerei, folgte als Architekt der Neo-Palladianischen Strömung

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Kerr, Robert 268, 276 * 17. Januar 1823 in Aberdeen, Schottland † 21. Oktober 1904 in London schottischer Architekt und Autor, einer der Gründer der Architectural Association und 1847 ihr erster Präsident, Ratsmitglied des Royal Insitute of British Architects (RIBA), seine wichtigsten Bauten waren Landhäuser, zahlreiche Publikationen, initiierte u.a. eine Debatte Zum Problem der Bereitstellung von Wohnungen für die Armen in den Städten, 1866 Kip, Johannes 123 * 1653 † 1722 niederländischer Graveur, in England 1690, fertigte Stiche von Landhäusern in dem Buch Britannia Illustrata, die kunsthistorisch von großer Bedeutung sind Kirk, Thomas 289 * 18. Januar 1828 in Coventry † 8. März 1898 in Plimmerton, Neuseeland englischer Botaniker, Philosoph und Missionar, Sekretär des Aucklandinstituts, mehrmaliger Präsident der Philosophischen Gesellschaft Wellingtons Knight, Captain Valentine 89, 96, 98, 102 (genaue Lebensdaten unbekannt) Man nimmt an, daß er derjenige war, der nach dem Großen Feuer 1666 Pläne zum Wiederaufbau der Stadt entwarf, die König Charles II. so erzürnten, daß er ihn ins Gefängnis werfen ließ. Kropotkin, Fürst Pjotr 387 * 9. Dezember 1842 in Moskau † 8. Februar 1921 in Dimitrow russischer Anarchist, Geograph und Schriftsteller, versuchte als gelernter Naturwissenschaftler eine systematische und wissenschaftlichen Kriterien standhaltende Theorie des Anarchismus zu entwerfen, gilt als einer der Mitbegründer des sogenannten Anarchokommunismus L’Enfants, Pierre-Charles 93 * 2. August 1754 in Paris † 4. Juni 1833 in Prince George’s County, USA

französischer Künstler, Wissenschaftler und der Stadtplaner von Washington D. C. Le Corbusier 9, 360, 375f (eigentlich Charles Edouard Jeanneret) * 6. Oktober 1887 in La Chaux-de-Fonds, Schweiz † 27. August 1965 nahe Roquebrune-Cap-Martin, Monaco französischer Architekturtheoretiker, Stadtplaner, Maler und Bildhauer schweizer Herkunft, einer der bedeutendsten und einflußreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts, Le Nôtre, André 81, 91, 123, 130 (auch Le Nostre) * 12. März 1613 in Paris † 15. September 1700 ebenda französischer Gartengestalter und Landschafts­ architekt, konzipierte den Garten der Schloßanlage Versailles 1650 –1653 Lear, Edward 286 * 12. Mai 1812 in London † 29. Januar 1888 in Sanremo englischer Poet, Maler und Humorist, neben Lewis Carroll einer der großen Meister viktorianischer Nonsense-Literatur Ledoux, Claude-Nicolas 391f * 27. März 1736 in Dormans, Frankreich † 10. November 1806 in Paris französischer Architekt, durch die Aufklärung, den Rationalismus und das Freimaurertum mit seinen Idealen der Gemeinschaft geprägt, gehörte zu den bedeutendsten Architekten der französischen Revolutionsarchitektur Leverton, Thomas Donaldson 196 * 19. Oktober 1795 † 1. August1885 englischer Architekt, Mitbegründer und Präsident des Royal Institute of British Architects Lorrain, Claude 131 * 1600 in Chamagne, Lothringen † 23. November 1682 in Rom französischer Maler des Barock

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Louis IX. 37 (genannt der Heilige) * 25. April 1214 in Poissy † 25. August 1270 in Karthago König von Frankreich 1226–1270, zählt zu den bedeutenden europäischen Monarchen des Mittelalters Louis XIII. 144f * 27. September 1601 in Fontainebleau † 14. Mai 1643 in Saint-Germain-en-Laye König von Frankreich und Navarra 1610 –1643 Louis XIV. 82f, 124f, 178, 180, 246, 349 (auch der Große oder Sonnenkönig, le Roi-Soleil) * 5. September 1638 in Saint-Germain-en-Laye † 1. September 1715 in Versailles König von Frankreich und Navarra 1643–1715, mit 72 Jahren Regentschaft der am längsten regierende Monarch, gilt als klassischer Vertreter des Absolutismus. Unter seiner Regentschaft gewann Frankreich durch den Ausbau der Verwaltung, die Förderung der Wirtschaft aber auch durch die Bekämpfung der inneren Opposition und durch expansive und kriegerische Außenpolitik die Vormacht in Europa. Seine prunkvolle Repräsentation wurde zum Symbol der ganz auf die Person des Herrschers zugeschnittenen Hofkultur. Er förderte Künste und Wissenschaften, was zu einer hohen Blüte der französischen Kultur führte. Luttrell, Narcissus 77, 84 * 1657 † 1732 in Chelsea englischer Historiker, Chronist und Bibliograph, kurz Parlamentsmitglied, schrieb 1678–1714 die Chronik des Parlaments, leidenschaftlicher und besessener Sammler von Schriftstücken verschiedenster Art Lutyens, Sir Edwin 177 * 29. März 1869 in London † 1. Januar 1944 ebenda englischer Architekt, entwarf zahlreiche englische Landhäuser

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Macaulay, Thomas Babington 122, 126 (I. Baron Macaulay of Rothley) * 25. Oktober 1800 in Rothley-Temple, Leicestershire † 28. Dezember 1859 in Kensington englischer Historiker, Dichter und Politiker Mary I. 108 (auch Mary Tudor, Maria die Katholische) * 18. Februar 1516 in Greenwich † 17. November 1558 in London Königin von England und Irland 1553–1558 Mary II. (von England) 125, 180 * 30. April 1662 in London † 28. Dezember 1694 in Kensington Königin von England, Schottland und Irland 1689–1694, gemeinsam mit ihrem Gemahl William III. Mary 253 (Maria von Teck) * 26. Mai 1867 in London † 24. März 1953 ebenda als Gemahlin von Georg V. Königin von Groß­ britannien und Irland (später Nordirland) Marie Antoinette 391 (Maria Antonia Josepha Johanna) * 2. November 1755 in Wien † 16. Oktober 1793 in Paris Königin von Frankreich und Navarra, mit ihrem Gatten Louis XVI. auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution hingerichtet Marlborough, John Churchill 194 * 26. Mai 1650 in Ashe, Devonshire † 16. Juni 1722 in Cranbourn Lodge berühmter englischer Feldherr im Spanischen Erbfolgekrieg May, Sir Hugh 103 * 2. Oktober 1621 in Middle Lavant, Sussex † 21. Februar1684 in Windsor englischer Architekt der Restaurationszeit, führte den verhaltenen holländischen Palladianismus in die englische Architektur ein. Sein einziges

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erhaltenes Werk Eltham Lodge wirkte stilbildend auf den englischen Haustypus und entscheidend auf Christopher Wren. Er machte mit Roger Pratt den Haustypus populär, der später fälschlicherweise nach Wren benannt wurde (Wren-Stil). McAdam, John Loudon 144 f * 21. September 1756 in Ayr, Schottland † 26. November 1836 in Moffat, Schottland erfand 1815 einen einfachen Straßenbelag zur Befestigung der Straßendecke (heute noch immer als „Makadam“ bezeichnet) Meyer, Hannes 376 * 18. November 1889 in Basel † 19. Juli 1954 in Crossifisso di Lugano schweizer Architekt und Urbanist, als Nach­folger von Walter Gropius Leiter des Bauhauses in Dessau 1928–1930 Millet, Jean-François 301 * 4. Oktober 1814 in Gruchy, Frankreich † 20. Januar 1875 in Barbizon französischer Maler und wichtigster Figurenmaler der Schule von Barbizon (Malerkolonie, die um 1830 von Théodore Rousseau gegründet, bis ca. 1870 bestand und maßgeblich die Landschafts­ malerei in ganz Europa beeinflusste) Milton, John 346 * 9. Dezember 1608 in London † 8. November 1674 ebenda englischer Politiker und Dichter, Hauptwerk: das epische Gedicht Paradise Lost, Verfechter repu­ blikanischer Ideen, im englischen Bürgerkrieg auf parlamentarischer Seite, unter Oliver Cromwell Staatssekretär im außenpolitischen Amt Montfort, Simon de 37 f (6. Earl of Leicester) * 1208 † 4. August 1265 englischer Adeliger französischer Abstammung, Anführer der ersten Revolution auf englischem Boden, regierte als „Protector“ in England 1263–1265

Montagu, Lady Mary Wortley 150 Mai 1689 in London † 21. August 1762 ebenda bedeutende englische Schriftstellerin, von Alexander Pope protagiert, setzte sich auch für die Verbreitung der Pockenimpfung ein Morice, Sir William 99 * 6. November 1602 † 12. Dezember 1676 Ritter, Theologe, Parlamentsmitglied 1660 –1668, Staatssekretär und Schatzmeister, Privatsekretär Charles II. Morris, William 238 * 24. März 1834 in Walthamstow † 3. Oktober 1896 in London englischer Maler, Architekt, Schriftsteller, Kunst­ gewerbler und Ingenieur, einer der Gründer der Arts and Crafts-Bewegung und früher Begründer der sozialistischen Bewegung in Großbritannien Mozart, Wolfgang Amadeus 137 * 27. Januar 1756 in Salzburg † 5. Dezember 1791 in Wien einer der großen Komponisten der Wiener Klassik Müller (oder Miller), Johann Sebastian 289 * 1715 in Nürnberg † 1790 in London Grafiker deutscher Herkunft, malte u.a. wissenschaftliche Darstellungen von Pflanzen für die botanische Fachliteratur Napoléon Bonaparte I. 49, 244, 246, 360 * 15. August 1769 in Ajaccio, Korsika † 5. Mai 1821 auf St. Helena, Süd-Atlantik General in der französischen Revolutionsarmee, durch Selbsternennung 1802 –1804 erster Konsul der Französischen Republik, ebenfalls durch Selbsternennung 1804 –1815 (mit kurzer Unter­ brechung) Kaiser der Franzosen Napoleon III. 118, 225, 244, 246, 360 (Charles-Louis-Napoléon Bonaparte) * 20. April 1808 in Paris † 9. Januar 1873 in Chislehurst bei London * 26.

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französischer Staatspräsident während der Zweiten Republik 1848–1852, als Napoleon III. Kaiser der Franzosen 1852 –1870 Nash, John 139, 224, 232 f, 235, 242 ff, 248f, 251ff, 259, 261, 391 * 18. Januar 1752 in Lambeth, London † 13. Mai 1835 in Cowes englischer Architekt in Gunst Georgs IV., baute im Stil des Klassizismus, Gotik Revival und Regency, zu seinen bekanntesten Werken zählen die Regent Street und der Regent’s Park, London 1811–1828 und der im Mogulstil gebaute Royal Pavilion in Brighton 1815 –1822 Newton, Ernest 261 * 12. September 1856 † 25. January 1922 englischer Architekt, 1914 Präsident der RIBA, baute u.a. einige Kirchen wie St. George’s in Bickley und Church of the Good Shepherd Nolli, Giambattista 92, 401 (Giovanni Battista Nolli) * 9. April 1701 oder 1692 in Como † 1. Juli 1756 in Rom italienischer Architekt, widmete sich der Dokumentation der architektonischen und urbanen Grundlage der Stadtentwicklung Roms, seine wichtigste Arbeit ist La Pianta Grande di Roma (Der große Plan von Rom oder Nolli-Plan), einer der bedeutensten Stadtpläne aus dieser Zeit Ogilby, John 70 * November 1600 in Edinburgh † 4. September 1676 in London schottischer Übersetzer, Unternehmer, Tänzer, Dichter, Verleger und Kartograph, erstellte auf mehreren Übersichtstafeln einen Überblick über die Straßen von Wales und London (100 Tafeln mit 7519 Meilen waren darin veröffentlicht), ließ seine Werke von Künstlern wie Wenzel Hollar illustrieren Ostwald, Wilhelm 374 * 2. September 1853 in Riga † 4. April 1932 in Leipzig

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Chemiker und Philosoph deutsch-baltischer Abstammung, umfangreiche wissenschaftliche Arbeit als Chemiker, Nobelpreis für Chemie 1909, schuf eine nach ihm benannte Farbenlehre, die in ihrer wissenschaftlich-mathematischen Systematik als Grundstein der modernen Farbenlehre gesehen werden kann Paine, Thomas 346 * 29. Januar 1736 in Thetford, England † 8. Juni 1809 in New York gilt als einer der „Gründungsväter“ der USA im Zeitalter der Aufklärung, hatte als Pamphletist einen bedeutsamen Einfluß auf die amerikanische Revolution, auch seine Schriften über die Französische Revolution erlangten Bedeutung Parker, Richard Barry 333, 367 f * 18. November 1867 in Chesterfield † 21. Februar 1947 in Letchworth, Hertfordshire englischer Architekt und Stadtplaner, Vertreter der Arts and Crafts-Bewegung 1870–1920, erbaute 1903 gemeinsam mit Raymond Unwin die „Letchworth Garden City“, die erste Gartenstadt der Welt Parr, Remigius 288 * um 1723 in Rochester † 1760 englischer Drucker, Herausgeber und Kupferstecher Paxton, Sir Joseph 235 * 3. August 1803 in Milton Bryant, England † 8. Juni 1865 in Sydenham, England zuerst als Gärtner beim „Duke of Devonshire“ angestellt und dessen Freund und Berater, 1826 Leiter des Gartens in Chatsworth, baute dort aus Stahl und Glas sowohl das Konservatorium als auch ein Gewächshaus für die seltene Victoria Regia (Seerose), Bau des „Crystal Palace“, zur Weltausstellung 1851 im Hyde Park, Mitglied im Parlament von Coventry 1854 –1865 Pearson, Godfrey 310, 318, 320 f siehe Adams, Holden, Pearson

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Pennethorne, Sir James 253 * 4. Juni 1801 in Worcester † 1. September 1871 in Surrey englischer Architekt des 19. Jahrhunderts, man verbindet seinen Namen mit zahlreichen Gebäuden und Parks im Zentrum Londons Pepys, Samuel 69, 76, 83f, 86, 106 f, 110, 277 ff, 291, * 23. Februar 1633 in London † 26 Mai 1703 in Clapham bei London Staatssekretär im britischen Marineamt, Präsident der Royal Society und Abgeordneter des Unterhauses, wurde aber vor allem als Tagebuchautor und Chronist der Restaurationsepoche unter Charles II. bekannt, 1660 –1689 Perry, Clarence Arthur 383 * 1872 Truxton, New York † 6. September 1944 in New Rochelle, New York amerikanischer Architekt und Stadtplaner, Erfinder des Neighborhood Unit Concept von Forest Hills Gardens in New York City Polo, Marco 41 * 15. September 1254 Insel Korula, heutiges Kroatien † 8. Januar 1324 in Venedig venezianischer Händler, wurde durch die Berichte über seine Chinareise bekannt Pope, Alexander 129, 131, 133, 142 * 22. Mai 1688 in London † 30. Mai 1744 in Twickenham, heute London englischer Dichter, Schriftsteller und Übersetzer, zählt neben Shakespeare, Wordsworth, Keats und Milton zu den Klassikern der englischen Literatur Portland, Duke of 139, 245 siehe Cavendish Poussin, Nicolas 148 f * 15. Juni 1594 in Les Andelys, Normandie † 19. November 1665 in Rom französischer Maler des Barock-Klassizismus, stellte seine mythologischen, allegorischen und religiösen Themen vor Architekturkulissen

oder in idealisierten, später als heroisch bezeichneten Landschaften dar, entwickelte seine szenischen Kompositionen anhand von Wachsmodellen, die er in einen Guckkasten stellte Pratt, Sir Roger 103, 106 * 1620 in Norfolk † 20. Februar 1684 in Ryston englischer Architekt, wurde von Charles II. nach dem Großen Feuer 1666 als „Comissioner“ zum Wiederaufbau Londons eingesetzt, siehe auch Hugh May Priestley, John Boynton 305 (auch J. B. Priestley) * 13. September 1894 in Bradford † 14. August 1984 in Stratford-upon-Avon englischer Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker Purdom, Charles Benjamin 334, 344 (meist C. B. Purdom) * 15. Oktober 1883 in Bradford † 8. Juli 1965 in London englischer Autor, Ökonom, Theaterkritiker, nach seiner Arbeit in der ersten Gartenstadt Letchworth 1922 –1928 Finanzdirektor in Welwyn, veröffentlichte fünf Jahre nach dem Baubeginn der Gartenstadt Welwyn das Buch The Building of Satellite Towns, Herausgeber und Chefredakteur des Kulturmagazins Everyman 1929–1932 Richard I. 35 (genannt Löwenherz, frz. Coeur de Lion) * 8. September 1157 in Oxford † 6. April 1199 in Châlus, Frankreich König von England 1189–1199 Richard III. 28 * 2. Oktober 1452 bei Peterborough † 22. August 1485 in Bosworth, Leicestershire König von England 1483–1485 Rocque, John 114, 403 (eigentlich Jean Rocque) * vor 1709 † 27. Januar 1762

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hugenottischer Landvermesser, Kartograph und Kupferstecher, in seiner Jugend Gartengestalter, kam über die Entwicklung von Gartenplänen zur Kupferstecherei Rousseau, Jean-Jacques 138 * 28. Juni 1712 in Genf † 2. Juli 1778 in Ermenonville bei Paris französischsprachiger Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung, Naturforscher und Pädagoge, einer der wichtigsten geistigen Wegbereiter der Französischen Revolution Rufus, William 24, 35 siehe William II. Russell, John 144, 405 (I. Earl Bedford) * 1485 in Dorse † 1555 englischer Staatsmann unter Henry VII. und Henry VIII., Lordsiegelbewahrer 1542 –1555, erzielte für die Auflösung der Klöster große Gewinne für die Krone Russell, Francis 144, 396 (IV. Earl Bedford) * 1593 † 9. Mai 1641 in Woburn, Bedfordshire englischer Politiker und der wichtigste Gegenspieler von Charles I. im House of Lords, ließ um 1631 Covent Garden Piazza und die Kirche St. Paul’s erbauen Russell, Francis 165 (V. Duke of Bedford) * 23. Juli 1765 † 2. März 1802 in Woburn, Bedfordshire englischer Politiker, verantwortlich für die Entwicklung des zentralen Bloomsbury Savoyen, Peter von 25 (auch Peter II , I. Earl of Richmond) * 1203 in Susa † 16. oder 17. Mai 1268 Auf ihn geht die Benennung des Savoy Palace in London zurück.

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Schikaneder, Emanuel 137 (eigentlich Johann Joseph Schickeneder) * 9. September 1751 in Straubing † 21. September 1812 in Wien deutscher Schauspieler, Sänger, Regisseur, Dichter und Theater­direktor Scott, Sir Walter 282 (I. Baronet) * 15. August 1771 in Edinburgh † 21. September 1832 in Abbotsford, schottischer Schriftsteller Shaftesbury 129 (Anthony Ashley Cooper, III. Earl of Shaftesbury) * 26. Februar 1671 in London † 4. Februar 1713 in Neapel englischer Politiker, Philosoph und Schriftsteller, Philanthrop der frühen Aufklärung, entwarf System der ‚natürlichen Theologie‘, um die Wege Gottes dem Menschen gegenüber zu rechtfertigen Shakespeare, William 84, 107, 276 * 1564 in Stratford-upon-Avon † 23. April 1616 ebenda einer der größten englischen Dichter, Komödianten und Dramatiker, sein überliefertes Gesamtwerk umfaßt 38 Dramen, außerdem Versdichtungen, darunter einen Zyklus von 154 Sonetten Shaw, George Bernard 160, 264, 287 * 26. Juli 1856 in Dublin † 2. November 1950 in Ayot Saint Lawrence, England irischer Dramatiker, Literaturnobelpreis 1925. Seine 1913 erschienene Komödie Pygmalion lieferte die Grundlage für das Musical My Fair Lady. Shaw, Richard Norman 177, 238 ff, 258 f, 261, 326 * 7. Mai 1831 in Edinburgh † 17. November 1912 in London englischer Architekt, prägte den „Shavian“ Stil (Queen Anne Style) – und somit das Bild des „typisch englischen“ Hauses, plante eine große Zahl von Geschäfts- und Landhäusern

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Shepherd, Thomas Hosmer 255 * 1792 † 1864 englischer Aquarellmaler, für seine detailgetreue Darstellung von Gebäuden und Straßenszenen bekannt, entwickelte Zeichnungen als Vorlagen für Stahlstiche und Bücherillustrationen Sheridan, Richard Brinsley Butler 265 * 30. Oktober 1751 in Dublin † 7. Juli 1816 in London irischstämmiger Dramatiker und Dichter, lang­jähriger Besitzer des Theatre Royal Drury Lane und 32 Jahre Mitglied des britischen House of Commons Sherriff, R. C. 287 (Robert Cedric Sherriff) * 6. Juni 1896 in Hampton Wick † 13. November 1975 in Esher englischer Schriftsteller und Drehbuchautor Shillibeer, George 116 * 11. August 1797 in St Marylebone, London † 21. August 1866 in Brighton, East Sussex englischer Kutschen- und Karosseriebauer, sein erster Londoner Omnibus nahm am 4. Juli 1829 den Dienst auf Sitte, Camillo 374 * 17. April 1843 in Wien † 16. November 1903 ebenda österreichischer Architekt, Stadtplaner, Maler und Theoretiker, beschäftigte sich Zeit seines Lebens mit Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Politik, erlangte mit der Veröffentlichung seines Buches Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen 1889 Ansehen Soane, Sir John 235, 268 * 10. September 1753 in Whirchurch, Oxfordshire † 20. Januar 1837 London englischer Architekt und leidenschaftlicher Sammler, war der letzte großer Baumeister des Neoklassizismus, wichtigstes Werk ist die Bank of England

Soissons, Louis de 335, 340ff, 344 Juli 1890 in Montreal † 23. September 1962 in London englischer Architekt und u.a. für die Welwyn Garden City Southampton, Thomas Wriothesley 154, 396, 398ff, 403, 405 (IV. Earl of) * 10. März 1607 in Little Shelford † 16. Mai 1667 in Bloomsbury, Middlesex englischer Staatsmann, Lord High Treasurer (Oberhaupt der Staatskasse) und Berater Charles I., Southampton Row und Southampton Street sind nach ihm benannt Stein, Clarence Samuel 384 * 19. Juni 1882 in Rochester, New York † 7. Februar 1975 US-amerikanischer Architekt und Stadtplaner, brachte Ebenezer Howards Idee der Gartenstadt von England in die Vereinigten Staaten, plante mit Henry Wright Radburn (USA) als erste Garten­­­ stadt des Automobilzeitalters 1933, schrieb Toward New Towns for America, 1951 Stow, John 26, 32, 37, 45, 51, 66f, 84, 87, 108, 188 * um 1525 in London † 6. April 1605 ebenda englischer Historiker, Chronist und Antiquar. Sein berühmtestes Werk A Survey of London von 1598 und 1603 mit seinen umfangreichen Informationen über die Geschichte Londons, Einzelheiten über Leben, Ge­bräuche, Bevölkerung, Regierung und Topographie bildet eine wichtige Grundlage vieler Recherchen Rasmussens. Strutt, Joseph 278 * 27.Oktober 1749 in Chelmsford, Essex † 16. Oktober 1802 in London englischer Historiker, Graveur, Illustrator, Autor, verfaßte 1774 –1776 Manners, Customs, Arms, Habits etc. of the People of England und 1777–1778 Chronicle of England * 31.

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Strype, John 73, 84, 87, 188 * 1. November 1643 in Houndsditch, London † 11. Dezember 1737 in Leyton englischer Historiker und Biograph, publizierte eine aktualisierte Auflage von Stows A Survey of London, A Westminster, 1720 Stuart, Anne 189, 164, 281 (Queen Anne) * 6. Februar 1665 in London † 1. August 1714 ebenda Königin von England und Schottland 1702 –1707 und von Irland 1702–1714, wurde am 1. Mai 1707 zur ersten Herrscherin über Großbritannien Stuart, Mary 278 * 8. Dezember 1542 in Linlithgow † 8. Februar 1587 in Northamptonshire es of London and als Mary I., Königin der Schotten 1542 –1567 Stuarts 47, 123, 184 Herrscherdynastie, stellte die Könige Schottlands seit 1371, regierte England mit Unterbrechungen 1603–1714, siehe auch James I., Charles I., Charles II., James II., Marie II., Anne Stuart Sturlason, Snorre 21 (Snorri Sturluson) * 1179 in Hvammur í Dölum, Island † 23. September 1241 in Reykholt altisländischer Skalde (Dichter) und Historiker, bedeutender isländischer Politiker Tudors 45, 47, 49, 100, 144, 183, 387, 400 walisisches Geschlecht auf dem englischen Königs­thron 1485–1603, siehe auch Elisabeth I., Henry VII., Henry VIII., Mary I. Taine, Hippolyte Adolphe 111 * 21. April 1828 in Vouziers, Frankreich † 5. März 1893 in Paris französischer Kritiker, Philosoph und Historiker Taylor, John 110 * 24. August 1580 in Gloucester † Dezember 1653 in London englischer Dichter und Journalist

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Temple, Sir William 125f, 129, 142 April 1628 in London † 27. Januar 1699 in Moor Park, Surrey Staatsmann und Essayist, Mitglied des irischen Parlaments 1661–1663 John Thorpe 268 * um 1563 † 1655 in London englischer Architekt, Sekretär der Royal Works, 1584 –1601, Landvermesser der Regierung, hinterließ für die Geschichtsforschung wichtige Gebäudeskizzen Thukydides 281 * vor 454 v. Chr. † zwischen 399 v. Chr. und 396 v. Chr. altgriechischer Historiker, Autor des Buches Der Peloponnesische Krieg über den Krieg zwischen Sparta und Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. Tieck, Johann Ludwig 137 * 31. Mai 1773 in Berlin † 28. April 1853 ebenda deutscher Schriftsteller, Dichter, Herausgeber und Übersetzer der Romantik, publizierte auch unter den Pseudonymen Peter Lebrecht und Gottlieb Färber Trevelyan, George Macaulay 24, 35, 39 * 16. Februar 1876 in Stratford-upon-Avon † 21. Juli 1962 in Cambridge englischer Historiker, Kanzler der Universität Durham, Mitglied der Royal Society Unwin, Sir Raymond 12, 50, 240, 313, 333, 354, 367 ff, 376ff, 391, 393, 408 * 2. November 1863 in Oxford † 2. Juni 1940 in Lyme, Connecticut englischer Architekt und Stadtplaner, leitender englischer Stadtplaner seiner Zeit, setzte gemeinsam mit seinem Partner Barry Parker (1867–1941) das Gartenstadtideal, das Ebenezer Howard entwickelt hatte mit den Gartenstädten „Letchworth Garden City“, 1903 und „Hampstead Garden Suburb“, 1907 in die Realität um * 25.

Personenregister

Victoria 115, 122, 189, 279, 283, 289 (Alexandrina Victoria) * 24. Mai 1819 in London † 22. Januar 1901 in Isle of Wight Königin des Vereinigten Königreichs von Groß­ britannien und Irland 1837–1901, unter ihrer Regentschaft erlebten die oberen Gesellschafts­ klassen eine beispiellose Blütezeit Vitruv 145, 149 (auch: Vitruvius oder Marcus Vitruvius Pollio) * wahrscheinlich um 70-60 v. Chr. † wahrscheinlich um 10 v. Chr. römischer Ingenieur, Militärtechniker und Architekturtheoretiker. Sein Werk Zehn Bücher über Architektur ist das einzige bis heute erhaltene Werk der antiken Architekturtheorie und nach seinen Angaben auch das erste lateinische Zeugnis, das ein umfassendes Bild der Baukunst gibt. Walpole, Horaze 123 (IV. Earl von Orford) * 24. September 1717 in London † 2. März 1797 ebenda englischer Schriftsteller, Politiker und Künstler, gilt sowohl als Begründer der „Gothic Novel“ als auch des Englischen Landschaftsgartens Ware, Isaac 133f, 142, 207, 212 * 1704 † 1766 englischer Architekt, einer der führenden Vertreter des Palladianischen Stils, übersetzte die Schriften Palladios ins Englische Webb, Martha Beatrice 122 * 2. Januar 1858 in Gloucestershire † 30. April 1943 in Liphook, Hampshire englische Sozialistin und Sozialreformerin Webb, Sir Aston 261, 274 * 22. Mai 1849 in London † 21. August 1930 ebenda englischer Architekt, 1884 Präsident der Architectural Association und Präsident des Royal Institute of British Architects 1902 –1904, verwirklichte

eine große Zahl bedeutender Gebäude, u.a. den Umbau des Buckingham Palace Webb, Sidney James 122 (I. Baron Passfield) * 13. Juli 1859 in London † 13. Oktober 1947 in Lipohok, Hampshire englischer Sozialwissenschaftler, Rechtsanwalt und Politiker Wells, Herbert George 160f (meist H. G. Wells) * 21. September 1866 in Bromley, Kent † 13. August 1946 in London englischer Schriftsteller, Historiker und Soziologe, Pionier der Science-Fiction-Literatur, u.a. Krieg der Welten und Die Zeitmaschine, auch zahlreiche realistische Romane, die im englischen Sprachraum nach wie vor populär sind Westminster, Herzog von 171 (Duke of Westminster) erblicher britischer Adelstitel der Familie Grosvenor, leitet sich vom Namen des Londoner Stadtteils ab Whittington, Richard 43 (auch Richard Whytyngdone, Dick Whittington) * 1354 in Gloucestershire † März 1423 in London englischer Kaufmann, Lord Mayor (Bürgermeister) von London und Mitglied des Parlaments William I. 24, 27ff, 46, 78 (William the Conqueror, Wilhelm der Eroberer) * 1027/28 in Falaise, Normandie † 9. September 1087 bei Rouen, Frankreich, ab König von England 1066–1087 William II. 24, 35 (William Rufus) * 1056 in der Normandie † 2. August 1100 bei Lyndhorst, Hampshire König von England, 1087–1100 William III. 47, 50, 127f, 154, 180, 194 * 4. November 1650 in Den Haag † 8. März 1702 in Kensington

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Personenregister

Statthalter der Niederlande 1672 –1702, sowie gemeinsam mit seiner gemahlin Mary II. König von England, Schottland, Irland 1689–1702 Johan de Witt 125 (auch Jan de Wit) * 24. September 1625 in Dordrecht † 20. August 1672 in Den Haag Ratspensionär von Holland und einflußreichster niederländischer Politiker in der ersten statthalterlosen Zeitperiode 1650 –1672 Wood, John 164 (John Wood der Ältere) * 1704 in Yorkshire † 23. Mai 1754 in Bath englischer Baumeister und Architekturschrift­ steller, Vertreter des palladianischen Klassizismus Wood, John 164 (John Wood der Jüngere) * 5. Februar 1728 in Bath † 18. Juni 1782 ebenda englischer Baumeister, baute vor allem Kirchen und Landsitze und vollendete die Projekte seines Vaters in Bath, die Bauform des Crescents (halbmondförmige, zurückschwingende Häuserreihe) wurde dort erstmalig angewendet Wren, Sir Christopher 87, 89ff, 93, 96, 99, 103, 105, 177f, 180f, 397, 401, 403 * 20. Oktober 1632 in East-Knoyle in Wiltshire † 25. Februar 1722 in Hampton Court englischer Mathematiker, Astronom und Naturwissenschaftler, Mitbegründer und Präsident der Royal Society 1680–1682, einer der wichtigsten Architekten seiner Zeit in England, siehe auch Hugh May und Roger Pratt Young, Arthur 111, 122 * 11. September 1741 in Suffolk † 20. April 1820 in London englischer Agrarwissenschaftler, Reformer und Publizist, beobachtete auf seinen Reisen die französischen Zustände und veröffentlichte sein Reisetagebuch

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Ortsregister

A Adelphi 155, 157ff, 166, 176 St. Albans 16 All Souls Church 253 All Soul’s College Oxford 106 Antwerpen 43f, 46, 49 Århus 25 Arlington Street 192 Artois-Picardie 16 B Ballon Public House 289 Bank of England 50, 116, 305 Bath 132f, 139, 164ff, 252, 366 Battersea Fields und Battersea Park 289ff Beachy Head 16 Bedford House 144, 399 Bedford Park 239, 241, 326, Bedford Square 166ff, 175, 196, 206, 212, 214, 269, 347 Berkeley Square 154, 192f, 216f, 407 Berkhampstead 28 Berlin 26, 62, 122, 221, 304, 366 Bermondsey 353 Billingsgate Ward 51 Blackheath 181ff, 189, 279 Bloomsbury 168, 170f, 175f, 204, 206f, 214f, 224, 240, 326, 396ff, 403, 405 Bloomsbury Square 154, 171, 192f, 399, 407 Bonn 375 St. Botolph 51

Brabant 43 Brighton 214 British Museum 168 Brügge 42 Brüssel 125 C Calais 43 Cambridge 71, 112, 278, 283 Camden Town 204, 206f, 224, 315 Camden Crescent 165 Canterbury 21, 108 Carlton House 243f, 249, 252, 254f Champs Elysées 370 Charing Cross 108 Chatsworth 235 Cheapside 101 Chesterfield House 192, 194 Chiltern 66 Church Row 191 Clapham Common 278 City of London 23, 25, 27, 29, 39, 60, 68, 99, 394f, 400, 403 Clerkenwell 51, 65, 400 St. Clement Danes 25 Clifton House 183 Cockfosters 322 Cornhill 101 Covent Garden 144, 146, 148ff, 252, 319, 396, 407 Covent Garden Square auch Covent Garden Piazza 144f, 147f, 151, 153f, 244, 396, 407

Crescent Park 253 Cromwell’s House 184, 186f Crystal Palace 235, 253 D Dellcott Close 343 Den Haag 125 Dessau 375f Devonshire House 192 Diokletianspalast 158 Doughty Street 204f, 207 Dover 16, 18 Dowgate Ward 86 Downshire Hill 220 Downing Street 242 Dutch House 184f E Earl’s Court 119, 264 Eastcote 314 East End 249f, 350, 363, 400 Edgware 313, 316 Ermine Street 19 Eton 278 Euston Road 168 F Farnham 126 Fiket’s Fields 71 Finchley Road 378 Finsbury Fields 70 Flandern 32, 43 Fleet Street 101, 307 Foley House 245 Fortune House 379 Foundling Hospital 175 Frederiksberg 83

427

Ortsregister

G Gent 42 Guildford Scholl 278 Gloucester 108 Golders Green 312, 373, 378 Golders Hill 303, 354 Gough Square 104 Grand Avenue 328 Gray’s Inn 74ff, 83, 86, 175 Greenwich 79, 107, 116, 139, 279 Greenwich Hospital 180f Grosvenor Estate 403f Square 154, 267f, 403f, 407 Guildhall Library 93 H Hammersmith 119, 225 Hampton Court 79, 107, 123f, 128, 180, 194, 278 Hampstead 86, 139, 191, 208f, 211, 218, 231, 301, 303, 374 Hampstead Heath 78, 295, 298, 301, 303 Hampstead Garden Suburb 240, 313, 350, 354, 366ff, 374 Hangzhou 135 Hanover Chapel 253f Harlow 303 Hart Street 215 Hastings 214 Haymarket 244 Heath Close 369 Hendon 317 Hertfordshire 66 Highgate 74, 86, 184, 279, 300, 302, 399 High Holborn 104 The Horse Guards 192, 194 Hoxton 67, 264 Hyde Park 78ff, 83f, 86, 111, 119, 130f, 139f, 151, 206, 219,

428

235, 295 I The Inn 241 Ipswich 108 Iseldon 67 Isle of Wight 18 Islington 78, 87, 139 J St. James’s 398, 400ff St. James’s Park 45, 81ff, 86, 123f, 128, 201, 206, 224, 243ff, 249, 255, 296f, 404 St. James’s Square 154, 156, 176, 407 St. James’s Street 305 K Kanton 135 Keats Grove 211, 213, 231 Kensington Gardens 127, 130f Kent 66 Kew Gardens 124, 134f, 138, 142, 184f, 234f, 295 Kew Palace 184f King Edward’s Square 259, 294 Kingsland 69, 278 Köln 22f, 374f Konservatorium Chatsworth 235 Kopenhagen 268, 275, 352, 355, 366 L La Rochelle 44 Leicester House 154 Leicester Square 154f Letchworth 331, 333ff, 342, 344, 366f, 385 Lincoln’s Inn Field 70ff, 84, 154, 188f, 287, 407 Lindenthal-Park 140 Lisson Grove 264 Lombard Street 44

London Bridge 19, 21, 37, 85, 90 London University 168, 176 Lord’s Cricket Ground 278 Louvre 89, 148, 177 Ludgate 90 M Manor House 181f, 189 Margate 214 Marylebone Estate/Fields 139, 249 Marylebone Road 403 Mayfair 194, 212, 222, 404 Middlesex 25, 29, 66 Moorfields 64, 67, 69ff, 76, 83f, 86 Moorgate 67 Moor Park 125f Mount Vernon 208, 230 Munster Square 232 N Neues Palais Potsdam 193 New York 383f Nightingale Lane 224, 226f Norfolk Crescent 165 Norwich 108, 143 O Ongar 384, 389 Oper in Covent Garden 319 Ostende 49 Oxford 71, 106, 112, 283 Oxford Circus 254 Oxford Street 165, 168, 243, 245, 253, 255, 362, 404 Oxford University 278 P Paddington Green 116 Pall Mall 81f, 243, 344, 397 Palm House 234f St. Pancras Church 224, 228f Parliament Hill 279, 301

Ortsregister

Paris 13f, 22f, 27, 50, 57, 62, 71, 81, 85, 89f, 92, 97, 109, 111, 116ff, 144ff, 177f, 244, 246, 253, 256, 288, 360, 366f, 370, 375 Park Lane 216, 219, 223 Parkway 204, 206f St. Paul’s 37f, 85, 88ff, 115, 149f, 152f, 306, 401 Peking 135, 349, 360 Penang 216 Pessac 375f Piazza del Campidoglio 392 Piazza del Popolo 90, 398 Piazza San Pietro 91f Piccadilly 154, 192, 243, 245, 255f, 397, 402f Piccadilly Circus 154, 254, 256, 259, 261f, 307f, 309f Piccadilly Hotel 256, 258, 261 Picardie 17 Place des Vosges 144ff Place Royale 144 Portland Place 245, 252f, 262 Portman Square 407 Potsdam 193 Preston 111 Preußen 94 Prior Park 132f Q Queen Anne’s Gate 190, 195, 197ff, 378 Queen’s House 181 Queen’s Sqare 164, 175 R Ranelagh Garden 288f Red House 289 Red Lion Square 77, 84, 154 Red Lion Fields 77 Regent’s Canal 249 Regent’s Park 136ff, 206, 243ff,

249, 253, 255, 295, 326, 398 Regent Street 240, 243ff, 308 Richmond 79, 119, 298 Richmond Hill 347 Rom 90f, 372, 392, 401, 403 Rotunda House 288 Royal Crescent 165f, 252 Rue de Rivoli 244f, 252, 254 Ruislip 314 Haus am Rupenhorn 221 S Savoy Palace 25 Scarborough 214 Schloß Versailles 179 Shaftesbury Avenue 256 Sheen 125 Shepherd’s Market 404 Shoreditch 51, 67 Silver Street 86 Singapur 216 Smithfield 400 Soane Museum 268 Somerset 391 Somerset House 161, 252 Soho Sqare 154 Southampton 27, 180 Southampton Row 168 Southwark 21, 24f, 28, 37, 51, 85, 210 Spaniards Inn 216, 218 Spitalfields 51, 400 Split 158 Stane Street 18 Staple Inn 104, 175 Stockholm 178, 366 Strand 25, 71, 108f, 155, 396 Surrey 125f T Temple 32, 108, 174f, 177 Themse 14, 16, 18ff, 24, 37, 85f,

96, 101, 105, 108, 155, 157, 164, 181, 288ff, 347 Thorn Island oder Thorney Island 24, 395 Tiburn Road 404 Torrington Square 173ff Toynbee Hall 350 Twickenham 129 V Vauxhall Gardens 107, 288ff, Venedig 41ff, 44 Versailles 111, 130f, 178ff, 349, 391, 397f Verulamium 16, 18 Place des Vosges 144ff W Washington 93 Waterloo Place 249f, 262 Waterside 101 Watling Street 18f Welwyn 333, 335ff, 343ff, 357, 366, 385 Wessex 27 West Brompton 119 Westminster 18, 24f, 28, 35f, 38, 40, 45ff, 51, 60f, 65ff, 71, 78f, 85f, 106, 108ff, 139, 149, 151, 155, 164, 178, 190, 195, 244, 278, 320, 395, 400 Weymouth 214 Whitehall 79, 99, 386, 390 Whitestone Pond 282ff, 354 Wien 6, 13, 27, 49, 370, 374 Winchester 27, 29, 178ff Winchester Palace 178ff Woburn Walk 224, 228f Wyldes Farm 376 Y The Yews 181, 183

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Karten

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431

Karten

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(Zeichnung Olaf Mumm)

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1 Battersea Park Wimbledon 2 Kensington Gardens 3 Vauxhall Gardens Hampton 4Court Spring Gardens 5 West Brompton Hampton Court Park 6 Hammersmith Station 7 Ranelagh Gardens 8 Windsor House 9 Grosvenor Estate 10 Shadwell 11 Earl’s Court 12 Hammersmith Bridge 13 Greenwich Hospital 14 Queen’s House 15 The Manor House 1 Battersea Park, 2 Kensington Gardens, 3 Vauxhall Gardens, 4 Spring Gardens 16 The 5 West Brompton , 6Yews Hammersmith Station 7, 7 Ranelagh Gardens, 8 Windsor House 0

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9 Grosvenor Estate, 10 Shadwell, 11 Earl’s Court, 16 The Yews, 15 The Manor House 10 km 14 Queen’s House, 13 Greenwich Hospital, 12 Hammersmith Bridge (Zeichnung Olaf Mumm)

435

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