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German Pages 176 Year 1924
Litauische Märchen unü Geschichten Ons Deutsche überseht
Carl Eappeller
Mit Buchschmuck von
Eleonore Holtz
Berlin 1924
Walter öe Grugter & Eo.
Druck von Walter de Sruyter , dann siehst du ihn noch nicht; warte, ich will dich in die Höhe heben." Der Löwe nahm den Wolf in seine Krallen und hob ihn in die Höhe, daß ihm die Gedärme herauskamen. „Sieh, wie erschrocken du bist," sagte der Löwe, „die Gedärme kommen dir schon heraus." Er ging weiter und traf den Igel. Auch dieser machte dem Könige eine ehrfurchtsvolle Verneigung und forderte ihn zum Wettlauf heraus; nur sollte der König ihm einen Vorsprung von zehn Schritten geben, da er so klein wäre. Darauf ging der Löwe ein und bestimmte den Ort, den sie zum Ziele nehmen sollten. Der Igel nahm nun zehn Schritte vor dem Löwen seine Stellung. Als jener vorbeikam, sprang er ihm mit aller Gewalt in die Mähne, das gab aber einen solchen Ruck, daß er gleich
zehn Schritte aus der Mähne weiter flog. So kam er eher an das Ziel und rief mit lauter Stimme: „Ich bin schon hier!" Den Löwen aber verdroß das so, daß er aus Litauen hinausging und nicht wiederkam.
r. Der Fuchs und der Wolf.
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7. Der Luchs und der YVolf. A. Oer Fuchs traf einmal auf seinem Wege Frauen, die Brot backten, und rief ihnen zu: „Ihr Frauen, dort in der
Wuhnex) steckt ein Wolf; laust hin und schlagt ihn tot!"
Da liefen die Frauen alle mit ihrer Ofenkrücke nach jener Stelle, der Fuchs aber kroch in den Backofen und holte sich ein Brot heraus. Mit diesem ging er seines Weges und begegnete einem Schäfer, der seine Schafe vor sich
Hertrieb, zu dem sagte er: „Mann, willst du mir nicht ein Schaf geben? Ich gebe dir dafür dies Brot." Der
Schäfer war mit dem Tausch einverstanden; der Fuchs aber ging mit dem Schafe in den Wald und ließ sich einen Schlitten aus allerlei Holz machen; vor diesen spannte er sein Schaf und fuhr weiter. Da begegnete ihm der Wolf und bat: „Gevatter, nimm mich doch mit!" Der Fuchs sagte: „Das geht nicht, du zerbrichst mir meinen Schlitten." —„So laß mich wenigstens den Kopf hinauflegen", sagte der Wolf. — „Na meinetwegen! Den Kopf kannst du hinauflegen." Ms der Fuchs weiterfuhr, wollte der Wolf auch den Schwanz auf den Schlitten legen, und der Fuchs erlaubte ihm auch dies; als jener sich aber mit dem ganzen Leibe heraufzwängte, brach der Schlitten zusammen. „Nun sieh, Gevatter, was du ge macht hast," sagte der Fuchs, „du hast meinen Schlitten zerbrochen. Jetzt lauf in den Wald und sage, daß sie mir einen anderen aus allerlei Holz machen." Der Wolf
*) Ein in das Eis gehauenes Loch.
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7. Der Luchs und der Wolf.
ging, kam aber nach einer Weile zurück und sagte, sie wollten ihm keinen andern machen. „Na, dann Halle nur das Schaf, ich werde selbst gehen." Als der Fuchs fort war, nahm der Wolf das Lamm, zog ihm die Haut ab und fraß sein Eingeweide, in seine Haut aber stopfte er Gras und stellte es dann wieder auf alle vier Füße, als
wäre es lebendig. Dann lief der Wolf fort; der Fuchs aber kam mit einem neuen Schlitten, spannte das Lamm
davor und hieb mit der Peitsche auf es los, um es anzu
treiben. Da bemerke er, daß unter seinem Schwänze Gras hervorstak, spuckte vor Ärger aus und ging davon. Als er wieder einmal dem Wolf begegnete, fragte er ihn: „Gevatter, warum bist du so traurig?" Der Wolf antwortete: „Ach, warum soll ich nicht traurig sein; ich habe so viele Kinder und weiß nicht, wer sie taufen soll."
Der Fuchö sagte: „Komm nur, Gevatter, ich werde sie dir taufen." Darüber war der Wolf sehr erfreut. Der
Fuchs aber kletterte auf einen Baum und sagte: „Jetzt reiche sie mir nur zu, immer eins nach dem andern." Dies tat der Wolf und reichte sie ihm; da fragte jener: „Sind das nun alle?" — „Ja, das sind alle." —„Dann paplurkscht alle deine Kinder!" sagte der Fuchs und fraß sie alle auf. B. Ein Mann fuhr mit Fischen auf der Landstraße. Ein Fuchs, der ihn sah, sprang vor den Wagen, warf sich auf die Erde und stellte sich tot. Der Mann freute sich schon
über den guten Verdienst, den er haben würde, wenn er das Fell des Fuchses verkaufte, nahm ihn von der Erde
7. Der Fuchs und der Wolf.
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auf und legte ihn in den Wagen jn den Fischen. Dieser aber warf, als sie weiter fuhren, eine Menge Fische ans dem Wagen auf die Erde und sprang dann selbst hinaus. Der Mann merkte es j» spät und konnte sich nm -en Kopf kratzen.
Der Fuchs las nun die Fische auf, die er aus dem Wagen geworfen hatte, und ging damit an einen Teich, in welchem Löcher in das Eis gehauen waren. Hier fing er an, seine Beute zu verjehren. Da kam der Wolf und fragte: „Gevatter, was ißt du da?" — „Fische." — „Wo hast du die herbekommen?" — „Hier aus der Wuhne habe ich sie mir geholt." — „Wie hast du das nur ange fangen?" — „Ich habe meinen Schwanz in die Wuhne hineingesteckt und die Fische haben sich angehängt." — „Gib auch mir davon zu kosten." — „O nein, du kannst dir selbst welche fangen." — „Wie soll ich denn das machen?" — „Stecke nur -einen Schwanz in das Loch, dann werden sich die Fische schon anhängen." Der Wolf folgte ihm und steckte seinen Schwanz in die Wuhne. Cs stör aber ganz gehörig, und der Fuchs sagte: „Bleibe nur ruhig sitzen, Gevatter, es werden sich schon noch mehr Fische anhängen." Der Wolfblieb sitzen, bis sein Schwanz eingefroren war. Da rief ihm der Fuchs zu: „Jetzt zieh ihn heraus, es haben sich schon genug Fische angehängt." Der Wolf zog und zog und konnte ihn nicht herausziehen. Da kamen die Menschen mit Stöcken und Stangen her beigerannt und schlugen ihn tot. Der Fuchs aber lief auf einen Berg und rief ihm zu: „Schmecken die Fische gut, Gevatter?"
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s. Der BSr und bas Eichhörnchen.
C. Der Wolf und der Fuchs liefen jusammen an einem Fallstrick vorbei.
Ja dem Fallstrick war eine Gans ans,
gehängt. Beide hatten lange nicht gegessen und waren sehr ausgehungert; aber der Fuchs sah gar nicht nach der Gans. „Warum, Gevatter, kletterst du nicht hinauf? Dort ist eine Gans ausgehängt", sagte der Wolf.
„Ich
habe heute Fasttag und darf kein Fleisch essen," ant, «ortete der Fuchs. Der Wolf frißt Fleisch, wenn er es nur bekommen kann, ohne auf den Festtag r« achten; er
sprang in die Falle hinein, erreichte die Gans aber nicht, sondern erhängte sich dabei selbst. Jetzt sprang der Fuchs dreist an die Gans heran und ließ sie sich wohl schmecken. „Du hast doch aber heute Fasttag, Gevatter," sprach der sterbende Wolf. „Für den ist Fasttag, dessen Beine nicht bis an die Erde reichen," antwortete der Fuchs.
s. Der Bär und das Eichhörnchen. Früher gab es in Litauen sehr große Bäume, in denen
Bienennester angebracht waren. Damals waren in den Wälder» viele Bären, und diese stiegen auf die Bäume, wo sie Bienen sahen, da sie den Honig sehr liebten. So vertrieben sie oft die Bienen aus ihren Nestern. Um diese ju schützen, hängten die Litauer Klötze an die Äste auf,
an denen die Bären sich stoßen sollten. Einmal kam ein Bär an einen Baum, wo sich Bienen hielten, und sah dort ei« kleines Eichhörnchen spielen.
Er kletterte hinauf; da riefdas Eichhörnchen: „Tschu, tschu, tschu!" Das gefiel dem Bären nicht: er brach eine» Ast von dem Baume und warf ihn nach dem Eichhörnchen,
9. Der Hund und die Ratzce.
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und dieses sprang höher auf den Baum hinauf. Der Bär aber kletterte auf die Bienen zu und stieß den dort angebundenen Klotz zur Seite. Dieser aber sprang zurück und traf den Bären am Kopf. Der Bär ärgerte sich und brummte, daß der Klotz ihm den Kopf zerschlagen hätte. Ms das Eichhörnchen den Bären böse sah, ließ es stch
von seinem Baume auf die Erde herab und fing wieder an zu rufen und mit seinen Pfoten zu klopfen. Da dachte
der Bär, es kämen Menschen und kletterte höher hinauf, indem er nach dem Klotze griff, zog diesen aber mit sich selbst zur Erde und schlug sich tot.
Das Eichhörnchen aber rief: „Wie süß ist doch der Honig! Ich Kleiner habe dich, den Großen, angeführt!"
9. Der Hund und die Raye. Ein armer Mann traf auf der Straße jemand, der einen Hund an der Leine führte. „Freund," fragte er, „wohin führst du diesen Hund?" — „Ich will ihn auf hängen." — „Und warum?" — „Solange er jung war, war er mir treu und nützlich; jetzt aber ist er wegen seines Alters nicht mehr tauglich, mir das Haus zu bewachen;
darum will ich ihn jetzt aufhängen." — „Ich bitte dich, laß ihn am Leben und schenke ihn mir." Jener ging darauf ein und schenkte dem Manne den Hund; dieser gab ihm den Namen „Bello" und führte ihn mit sich fort. MS er weiter ging, traf er einen andern Mann, der trug eine Katze. Er fragte ihn: „Wohin trägst du die Katze?" — „Ich will sie ertränken." — „Warum willst
du das tun?" — „Solange sie jung war, konnte ich sie gut brauchen, da sie alt ist, tut sie mir nur Schaden." —
„Könntest dn sie mir nicht schenken?" Er erhielt sie als Geschenk und nannte sie „Murner". Dann setzte er in Begleitung von Bello und Murner seinen Weg fort. Bald wurden alle drei müde und hungrig, da sie nichts zu essen hatten. Nun wußte der Mann nicht recht, was er tun sollte, und setzte sich auf einen großen Stein. Da sah er, daß der Hund um den Stein herumlief und immer schnüffelte. Dann fing er an, mit seinen Pfoten die Erde aufjvgraben und grub einen Ring aus. „Trage den Ring ju unserem Herrn", rief er der Katze ju. Die Katze tat das und gab dem Herrn den Ring in die Hand. Dieser steckte ihn an seinen Finger, und als er ihn dann wieder vom Finger abnahm, kamen drei Dukaten -um Vorschein. Run gab es Gelb in Überfluß, und alle Not war ju Ende. Darauf zogen sie in ein anderes Laad. Hier war der Herrscher gerade gestorben, und seine junge Tochter saß auf dem Throne. Als sie in die Stadt kamen, war eben ein Krieg ausgebrochen, und man hörte die Leute reden, daß die Prinzessin in Verlegenheit war und Gesandte ausgeschickt hatte, um das zur Kriegführung notwendige Geld zu borgen. Er ließ sich nun zu der Prinzessin führen und erbot sich, ihr das nötige Geld zu leihen und selbst an dem Kriege teilzunehmen. Jene ging darauf mit Freuden ein, und nach der glücklichen Beendigung des Krieges wurden beide Mann und Frau.
Jo. Der Wertflug der Vögel'). In der ältesten Zeit herrschte unter den Vögeln keine rechte Ordnung, weil sie noch keinen König hatten. Da *) Auch in den Mitteil, der l. l. Ges. II, 48.
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io. Der Wettflug der vöge:l.
versammelten sich alle eines Tages auf einer großen Wiese, der Adler, der Storch, die Drossel, das Rebhuhn, der Schwan, die Lerche und der kleine Knirps, der Däum ling unter den Vögeln. Jeder wäre gern König ge worden, aber niemand wagte es ausjusprechen. End lich machte der schlaue Storch den Vorschlag, um die Wette r» fliegen: wer am höchsten fliegen würde, der sollte König sein. Dem stimmten alle bei und konnten kaum die Zeit erwarten, da der Wettflug beginne» würde. Der Storch sollte klappern, um das Zeichen dazu zu geben; unterdessen bereiteten sich alle vor und klatschten mit ihren Mgeln wie junge Störche vor ihrem ersten Aus stiegen. Als das Zeichen ertönte, erhoben sich alle Vögel wie eine Wolke in die Luft, und das Geräusch von ihren Mgeln war wie das Wehen des Windes in einem Walde. Das Rebhuhn erhob sich unter dem Klappern seiner Mgel, sank aber sogleich wieder auf die Erde herab; die Henne war kaum ein Stückchen geflogen, als sie sich schon wieder laut gackernd schwerfällig niederließ, wobei sie sich beinahe die Füße ausdrehte. Auch die übrigen Vögel strengten sich an, so gut wie jeder konnte; nur die wenigsten hielten bis zu Ende aus; einer nach dem andern ließ sich bald auf die Erde nieder. Nur der Storch und der Adler ließen nicht nach und flogen bis zu den Wolken, daß sie kaum zu sehen waren. Endlich war auch der Storch müde und ließ die Flügel hängen, und der Adler, der allein übriggeblieben war, rief aus: „Ich bin König, wer kann höher fliegen als ich?" — „O ich!" zirpte der Däumling, indem er noch ein Stück über den Adler hinausflog. Er hatte sich unten, ehe sie aufflogen, ohne Gappeiler, Litauische Märchen.
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U. Der Ullckuk.
daß es jemand merkte, dem Adler auf den Fuß gesetzt und dort so lange gekauert, bis dieser ermüdet war und nicht mehr weiter konnte. So wurde der kleinste der Vögel durch einen Betrug
König. Aber er schämt sich seines Betruges und hält sich seit der Zeit in Gebüschen versteckt, und die Vögel verachten ihn und rufen ihm ju: „König Däumling!"
IJ. Der Ruckuck. Es lebte in Litauen ein reicher Edelmann, der hatte
eine Tochter und drei Söhne. Die Tochter liebte ihre Brüder sehr und war zärtlich um sie besorgt; sie bemühte sich, alle ihre Wünsche zu erfüllen und alles zu tun, was ihnen gefiel; sie webte und strickte ihnen die schönsten Gürtel und Schärpen und Decken, den Pferden unter
den Sattel zu legen. Die Brüder lobten sie aber auch und hatten Freude an ihrer Arbeit und erfüllten ihr jede» Wunsch. Der Brüder Glück war auch daS Glück der Schwester, so sehr freute sie sich daran. Aber nicht lange war ihnen dieses einträchtige Zu, sammenleben beschieden.
Die Kreuzritter kamen in das Land, mordeten jung und alt und vernichteten mit Feuer und Schwert alles, was sie in Litauen fanden. Dabei sagten sie, sie ver breiteten die Lehre Christi im Lande, und zwangen die Litauer, diese anzunehmen. Da versammelte Keistut, der
Herzog von Litauen, sein Kriegsheer; im ganzen Lande erscholl die Trompete und rief die Männer zum heiligen Kriege in das Feld der Ehre.
12. Egle, die Schlangenkönigiin.
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Sie drang auch in das Ohr jener drei Brüder, und sie sattelten ihre Pferde und ritten hinaus in den Krieg. Die Schwester weinte bitterlich, mußte sie aber ziehen lassen; das Glück und die Ehre des Landes war ihr teurer als die Brüder. Der Krieg war zu Ende. Die Litauer hatten die Kreuzritter geschlagen. Die übrig Gebliebenen zogen, ohne etwas ausgerichtet zu haben, dahin ab, woher sie gekommen waren. Unsere Krieger kehrten nach Hause zurück. Aber wo blieben unsere drei Brüder? Vergebens wartete die Schwester auf sie, alle drei fielen auf dem Schlachtfelbe. Die Rosse kamen ohne ihre Reiter in das Dörfchen zurückgelaufen. Der Schwester aber wurde das Leben ohne die Brüder im elterlichen Hause zu traurig; sie zog mit den Rossen der Gefallenen in den Wald, um dort ihr Leben zu be schließen. Lange stechte sie dahin; endlich erbarmte sich Gott ihrer und verwandelte sie in einen Kuckuck. Als solcher beklagt sie noch jetzt im Frühling — der Jahres zeit, wo ihre Brüder fielen — ihr ttauriges Schicksal. J2. Egle*), die Schlangenkönigin.
Vor sehr langer Zeit lebte einst ein Ehepaar, das hatte zwölf Söhne und drei Töchter, von denen die jüngste Egle hieß. *) Egle bedeutet „Tanne" — dieselbe Geschichte auch in den Mitteilungen der Litauischen Literarischen Gesellschaft II 143, Über, setzung 233.
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12. Egle, die Schlangenkönigin.
An einem Frühlingsabend gingen alle drei Töchter, sich in einem Teiche jn baden. Nachdem sie eine Zeitlang im Wasser herumgeplätschert hatten, stiegen sie heraus an das Ufer, um sich aujvjiehen. Die jüngste sieht: im Ärmel ihres Hemdes liegt lang ausgestreckt eine Schlange. Die älteste ergriff einen Pfahl und sprang auf die Schlange los, um sie zu vertreiben. Da wandte sich die Schlange an die jüngste und redete zu ihr mit menschlicher Stimme: „Gib mir, liebe Egle, dein Wort, daß du mich heiraten wirst, dann werde ich von selbst herauskriechen." Egle fing an zu weine»; wie könnte ste eine Schlange heiraten. „Gib mir mein Hemde", sagte sie uafreuvdlich, „und gehe deiner Wege, von wo du gekommen bist." Aber die Schlange wiederholte: „Gib mir dein Wort, daß du mich heiraten wirst, dann werde ich von selbst gehen." Was sollte sie machen? Sie mußte ihr Wort geben und versprechen, die Schlange ju heiraten. Nach drei Tagen sahen die Eltern ganze Haufen Schlangen auf ihren Hof kriechen. Alle erschraken und wußten nicht, was ste anfangen sollten. Die Schlangen kribbelten und wibbelten auf dem Hofe umher, und ihre Freiwerber *) krochen in das Haus hinein, um sich mit den Alten und mit Egele zu besprechen. Anfangs sträubten sich die Eltern und wollten nicht einwilligen; aber was konnten ste tun? Ob ste wollten oder nicht, sie mußte» einwilligen, die Tochter aus dem Hause zu geben. Nachdem die Schlangen die Braut empfangen hatten. x) Nach litauischer Sitte (die hier auch auf die Märchenwelt übertrage» ist) wird «ine jede Ehe durch einen Freiwerber vermittelt.
12. Lgle, die Schlangenkoniziin.
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verließe» sie sofort den Hof. Die Hausgenossen weinten um Egle und beklagten ihr Los.
So jog Egle mit ihrem ganzen Gefolge an das Meeresufer. Dort traf sie einen schönen Jüngling, der sie erwartete. Dieser sagte, er wäre dieselbe Schlange, die in den Ärmel von Egles Hemde gekrochen war. So fort kamen alle Schlangen von -er nahen Insel herüber
an das Ufer, wo ein herrlich ausgeschmückter Palast stand. Hier wurde die Hochzeit ausgerichtet; drei Wochen lang
tranken und tanzten sie. Im Palast gab es von allem die Hülle und Fülle:
keine Arbeit, nur Lust und Freude. Auch Egle beruhigte sich und gewöhnte sich an das lustige Leben; zuletzt dachte sie gar nicht mehr an ihre Eltern und ihr Vaterhaus. Es vergingen neun Jahre. Egle hatte nun drei Söhne und ein Töchterchen, die jüngste unter den Geschwistern. Da sagte eines Tages der älteste Sohn: „Mütterchen, wo sind nur deine Eltern? Laß mich ziehen und sie besuchen." Nun erst dachte Egle an ihre Eltern und Geschwister, ob
sie noch gesund und am Leben oder vielleicht schon lange gestorben wären. So bat sie ihren Mann um die Er
laubnis, ihre Heimat zu besuchen.
Der Schlangenkönig war nicht einverstanden. „Gut," sagte er, „du kannst auf Besuch gehen; aber erst spinne diesen Wickel Seide auf", und zeigte ihr ein Spinnrad. Egle machte sich sofort daran und spann Tag und Nacht; aber der Wickel wurde nicht kleiner. Da ging sie zu einer klugen, alte» Fra«, die in der Nähe wohnte, und klagte dieser ihre Die Alte sagte: „Nimm den Wickel und wirf ihn in das Feuer, wenn du de» Ofen heizest; sonst wirst du nie
Not.
12. (Egle, dl« Schlangenkönigin.
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mit dem Spinne» fertig werden."
Egle folgte ihr und
warf den Wickel in den Ofen, als fle iHv jvm Brotbacke«
geheijt hatte.
Ms die Seide jerknisterte, sah fle etwas
wie eine Haspel sich über dem Feuer drehe» und auch die Seide austvickeln. Ms das Gespinst auf diese Weise zu Ende war, bat
fle wieder ihren Mann, ihr die Reise wenigstens auf einige Tage ju gestatten. Dieser zog ein Paar eiserne Schuhe unter der Baak hervor und sagte: „Wenn du diese Schuhe aufgebraucht hast, kannst du gehen." Sie zog die Schuhe an und lief damit über Stock und Stein und trat und stieß damit auf Ziegel und Eisen; aber die
Schuhe waren so fest und hart, daß es ihnen nichts schadete. Da ging fle wieder zu der Mten, und diese gab ihr den Rat, die Schuhe zum Schmied zu bringen, damit er sie in glühendes Feuer stecke. Sie tat so, und der Schmied ließ die Schuhe tüchtig verbrennen, so baß Egle
fle in drei Tagen austrug. Nun bat fle zum dritten Mal ihren Mann, ihr die Reise zu gestatten. „Gut," sagte er, „du kannst gehen; aber ehe du gehst, backe erst HSschenbrotx) zum Gastschmause; denn was hast du sonst den Kindern deiner Brüder und Verwandten mttzvbrtngen?" Er ließ aber alle Eimer, Töpfe und Schüsseln verstecken, um ihr das Backen zu erschweren. Egle dachte lange nach, wie fle ohne Eimer Wasser holen und ohne Geschirr antelgen sollte und ging wieder zu der alten Fra«, um stch Rat zu holen. Die Alte sagte: „Nimm Saverteig, der vom Brot, *) Scherthaster Ausdruck für Kuchen (auch im ostpreußische» Deutsch). Der Gast hat seinem Wirte eine kleine Gab« mitzubringen.
(2. Egle, die Schlangenkönigiin.
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anteigen übriggeblieben ist und streiche damit dein Sieb
aus.
In diesem Siebe kannst du nachher Wasser holen
und den Kuchen anteigen."
Egle folgte ihr, strich das
Sieb mit Sauerteig aus und konnte nun darin Wasser holen und Kuchen backen. Sie verabschiedete sich jetzt von ihrem Gatten und machte sich mit den Kindern auf die Reise. Der Mann begleitete sie bis an das Meeresufer und sagte ihr, als sie sich trennten, sie sollte nicht länger als neun Tage aus
bleiben und nach dem Besuche sogleich mit den Kindern nach Hause jurückkehren. „Dann gehe," sagte er, „ohne Begleitung allein mit den Kindern a» das Ufer und rufe
mich mit diesen Worten: „Uferweide, Uferweide! *) Milch soll schäumen, wenn du lebest! Blut soll schäumen, weun du tot bist!
Und wenn du im Meere Milch schäumen siehst, so wisse, daß ich noch lebe, wenn aber Blut, bin ich gestorben. Aber ihr, Kinder, sagt zu niemand, wie man mich rufen muß." Mit diesen Worten nahm er Abschied und wünschte allen eine glückliche Heimkehr. Im Vaterhause war man hocherfreut über ihre Rück kehr; alle Verwandten und Nachbarn versammelten sich, sie zu sehen; alle fragten sie aus, wie sie dort bei den Schlangen lebte, sie mußte nur immer erzählen und er zählen. Jeder bewirtete sie und sprach freundliche Worte zu ihr, so daß sie nicht merkte, wie die neun Tage vorbei gingen. *) Dies tst der Name des SchlangenkönigS.
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(2. (Egle, die Schlangexkönigln.
Währenddessen dachten ihre Eltern und Geschwister darüber nach, wie sie es machen könnten, daß jene nicht
Und fle kamen überein, daß man zuerst herausbringen müsse, wie Egles Mann heiße
jurückzukehren brauchte.
und wie sie ihn zu rufen hätte, wenn ste an den Strand gekommen wäre. „Wenn wir das wissen," sagten die Brüder, werden wir an das Meer gehen, ihn rufen und ihn dann umbringen."
Nachdem sie sich so verabredet
hatten, riefen ste zuerst Egles ältesten Sohn in den Wald, umringten ihn und fragten ihn aus; aber dieser stellte sich, als ob er nichts wisse. Sie schlugen ihn mit Ruten, brachten aber nichts aus ihm heraus. Ms sie ihn nach
Hause entließen, schärften sie ihm ein, seiner Mutter nichts zu sagen. Am nächsten Tage riefen sie den zweiten und dann den jüngsten Sohn heraus, konnten aber auch aus diesen nichts herausbekommen. Dann lockten sie Egles jüngste Tochter heran; diese behauptete anfangs ebenfalls nichts zu wissen; als sie aber mit Ruten bedroht wurde, schwatzte sie alles aus. Sofort nahmm alle zwölf Brüder ihre Sensen, zogen an den Strand und riefen: „Uferweide, Uferweide!" usw. Als jener angeschwommen kam, fielen fle alle zwölf über ihn her und hieben ihn nieder; zu Hause aber sagten fle
Egle nichts. Die verabredeten neun Tage waren vorüber.
Egle
nahm von ihrer Familie Abschied, ging an den Strand und rief ihren Mann: „Uferweide, Uferweide!" usw. Das Meer wallte auf, und Egle sah den blutigen Schaum auf den Wellen. Und fle hörte die Stimme ihres Mannes: „Deine zwölf Brüder haben mich mit Sensen erschlagen.
(3. von der Schwanenjungfrau, die des Köniigs Gattin wurde. 27
Wie sie mich rufen sollten, hat ihnen unsere geliebte Tochter gesagt." Egle weinte bitterlich, und zu ihren Kindern gewandt, sprach sie die Worte: „rochier, als Espe friste dein Leben; Tag und Nacht sollst du jirttrtt und beben! Möge der Regen dich überschwemmen. Und die Winde das Haar dir kämme»! Werdet, ihr Söhne, t" starken Bäume», Trotzend den Wettern und Waldesräumen. Ich, di« Mutter, die euch gebar, Werbe jur Tanne, Nadeln mein Haar."
Und wie sie redete, so geschah es; sie selbst wurde zur Tanne mit immergrünen Nadeln, die Tochter zur Espe, die beim geringsten Windstoß erzittert, die drei Brüder zur Eiche, Esche und Birke, den stärksten Bäumen in unseren Wäldern.
15. Von der Schwanenjungfrau, die des Könige Gattin wurde. Ein altes Ehepaar ging täglich in den Wald, um Bäume auszuroden und neues Land urbar zu machen. So gewöhnte sich an sie eine Schwanenjungfrau: sie kam zu ihnen ins Haus geflogen, legte ihre Mgel ab, ver wandelte sich in ein Mädchen, heizte den Ofen, kochte, wusch auf und flog dann wieder fort. Die Leute brauchten sich im Hause um nichts zu kümmern; es war immer schon alles getan. Schade nur, daß sich dieses Mädchen immer in einen Schwan verwandeln mußte. Da kroch der Mte eines Tages unter ein Faß und sah mit Erstaunen, wie sie einen Mgel ablegte und nach Wasser ging. Er verbrannte nun den Flügel; da wurde ihr so traurig
28 13. Don der Schwanenjungfrau, die des Königs Gattin wurde.
zumute; sie sehnte sich nach ihren Eltern und ihrem Liebsten. Nun jagte einmal der König in dieser Gegend, und ihm gefiel das Mädchen sehr. Er sagte zu dem Alten: „Gib sie mir, und ich gebe dir eine Million Geld." Was sollte der Mann machen? Er gab sie ihm, und der König fuhr mit ihr nach Hause und heiratete sie. Nach einiger Zeit bekam sie einen Sohn. Sie mietete eine Wärterin und ging eines Tages im Garten spazieren. Da flogen Schwäne vorüber. An der Spitze flog ihr Vater und sang: „Ich schaue, schaue Und seh die Tochter Ihr kleines Söhnchen wiegend. Ein seidenes Tuch ums Hälschen, De« golbnen Ring am Finger, Ein goldnes Büchlein lesend. Mein Töchterchen, du meine Freude, Fang auf den Flügel, de» ich werfe. Und laß den Sohn zurück im Elend!"
Es wurde ihr schwer ums Herz; die Tränen flössen, aber sie antwortete dem Vater: „Wirf nicht den Flügel, lieber Vater; Ich laß mein Söhnchen nicht im Elend!"
Sie ging ins Haus zurück. Der König fragte: „Warum hast du verweinte Augen?" Sie antwortete: „Der Kleine weinte, da weinte ich auch." Den folgenden Tag flog ihre Mutter herbei, dann ihr Bruder und zuletzt ihr Liebster; der sang: „Ich schaue, schaue Und seh mein Mädchen; Geliebteste, du meines Herzens Freude,
Fang auf den Flügel, den ich werfe Und laß den Sohn zurück im Elend."
Da konnte sie nicht widerstehen und antwortete: „Wirf, Liebster, nur herab dem Flügel; Ich laß den Sohn zurück im Elend."
Er warf ihr den Flügel ju, und sie flog fort. Bald darauf starb ihr Geliebter, ob ihn nun jemand erschossen haben mag, oder ob seine Zeit gekommen war. Nun hatte sie wieder niemand, mit dem sie leben konnte; denn ihr Gatte hatte währenddessen eine Saume1) gehei ratet. Sie flog nun zum König, legte ihre Flügel ab und säugte ihren Sohn und flog dann davon, indem sie sang: „CS schlafen di« Herren, es schlafen die Damen, Es schlafen die Wächter, es schlafen die Wachen. Mein Söhnchen aber in seinem Beuchen Vergießt zur Nachtzeit bitter« Tränen."
Wenn sie den Knaben aber einschläferte, schlief er, bis seine Mutter wieder zurückkehrte. Da wunderte sich der König, wie das käme, daß der Knabe soviel schlafe. Ein mal aber sah er, was sie tat, und hörte, wie sie davonflog und sang. Eines Tages kam ein alter Mann zu ihm, dm fragte er, wie er sie wohl fangen könnte. Der Alte sagte: „Sieh, durch welches Fenster sie hinausfliegt, und streiche es mit Pech aus; dann werden ihre Füße und Flügel ankleben. Fasse sie dann mit der linken Hand und halte sie fest; dann wird sie wieder so werden, wie sie früher war." Der König tat so, und sie gewann wieder ihre ftühere Gestalt. Dann tötete er die Laume, und jene beiden lebten wieder in alter Weise zusammen.
l). Sigute.
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14. Gigure.
Ein Bruder und seine Schwester Sigute, ein gutes
und schönes Mädchen, lebten zusammen bei ihrer Etieft mutter, wußte» aber nicht, daß sie eine Hexe war. Die
Stiefmutter hatte auch eine rechte Tochter; aber diese war weder gut noch schön, sie saß den ganzen Tag geputzt und aufgeblasen im Winkel und tat nichts. Solange der Bruder zu Hause war, war auch Sigvtens Leben nicht allzu schwer, obgleich die Stiefmutter sie nicht leiden konnte. Aber der Bruder mußte in den Krieg ziehen, und Sigute blieb allein bei der Stiefmutter. Diese begann nun ihre Stieftochter zu quälen; sie mußte die
schwersten Arbeiten verrichten und im Sommer das Vieh hüten. Wenn sie sich müde gearbeitet hatte, aß und schlief
sie im Stalle beim Vieh; denn sie durste der Hexe nicht
unter die Augen kommen. In diesem Hause war eine schwarze Hündin und eine schwarze Kuh. Diese konnten sprechen, wie alle Tiere in alten Zeiten. Mit diesen beiden gab sich Sigute den ganzen Tag ab und vergaß bei ihren Gesprächen mit ihnen ost ihre Arbeiten. Dafür bekam sie dann von ihrer Stiefmutter Schläge, der es immer schien, daß jene faul und über mütig war. Eines Tages, als Sigute das Vieh ans, trieb, befahl ihr die Stiefmutter, ihr Hemd auszujtehev, gab ihr einen Wickel Hede') und sagte: „Auf, Sigute, ,Dies ist deines und jenes gib mir," antwortete der Knecht. Er hatte in der Hand ein Beil. Da schrie die Mutter laut auf. Er aber nahm ihr das Kind weg, legte es auf die Schwelle und schlug ihm den Kopf ab; da quoll etwas hervor wie ein Sttauchbesen. So hatte die Laume nichts ausrichten
können; der Knecht aber vergaß seine Drohung nicht.
15. Vie taumen.
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Eines Abends ging er an den Teich und fand dort die selbe Lanme, wie sie gerade die Eingeweide eines Kindes ausspülte, das sie einer anderen Mutter gestohlen hatte. Da sagte der Knecht: „Finde ich dich hier, Madamchen, was machst du da?" packte sie am Genick und warf sie in das Wasser. „So, nun sind wir auseinander," sagte er. Aber die Laume ertrank nicht, sie stieg aus dem Wasser
und ging ihres Weges. B.
Eine Frau arbeitete auf dem Felde.
Als die Sonne
unterging, mußte sie nach Hause eilen, denn in alten Zeiten hörten die Feldarbeiten mit Sonnenuntergang auf. Die Frau ließ nun, als sie zurückkehrte, ihr kleines Mäd chen, das sie mitgenommen hatte, aus Vergeßlichkeit auf dem Felde zurück. Zu Hause angekommen, wollte sie das Kind an die Brust legen, da erst besann sie sich, daß sie eS draußen gelassen hatte. Sie fürchtete sich auf das
Feld zu gehen; aber sie war außer sich und das Herz war
ihr so schwer. singen: Eia Eta Eia Eia
Da steckte sie den Kopf hinaus und hörte popeia, popeia, popeia, popeia,
vergessenes Kind, vergessenes Kind, im Seidengewaad, mit köstlichem Baad.
Am andern Morgen ging sie hin und fand ihr Kind in Seide gekleidet und mit herrlichen Bändern geschmückt. Als ihre Nachbarin das sah, fragte sie: „Woher hast du nur die schönen Sachen bekommen?" Jene erwiderte:
„Ich hatte mein Kind auf dem Felde vergessen, da haben