Liebeswerbung im Dialog: Die Dialoglieder des Minnesangs und die lateinische Literaturtradition [1 ed.] 9783412525231, 9783412525217


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Liebeswerbung im Dialog: Die Dialoglieder des Minnesangs und die lateinische Literaturtradition [1 ed.]
 9783412525231, 9783412525217

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Kölner Germanistische Studien

Sebastian Riedel

Liebeswerbung im Dialog Die Dialoglieder des Minnesangs und die lateinische Literaturtradition

Kölner Germanistische Studien Herausgegeben von

Günter Blamberger, Rudolf Drux, Erich Kleinschmidt und Hans-Joachim Ziegeler Neue Folge Band 15

Sebastian Riedel

Liebeswerbung im Dialog Die Dialoglieder des Minnesangs und die lateinische Literaturtradition

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN

Zugl. Dissertation Universität zu Köln 2020 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Das Bildmotiv stammt aus der sog. Weingartner Liederhandschrift © Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, HB XIII 1, S. 115. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, K ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: le-tex publishing services, Leipzig Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52523-1

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2020 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen und für die Drucklegung stellenweise von mir überarbeitet worden. Als Erstgutachterin hat sie Frau Prof. Dr. Ursula Peters betreut und als Zweitgutachter Herr Prof. Dr. Peter Orth. Die Disputatio ist am 01.07.2020 abgelegt worden. Das Thema der Arbeit hat mich über einige Jahre hinweg neben diversen anderen Tätigkeiten begleitet. Dass ich das Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss bringen konnte, verdanke ich zuallererst Ursula Peters, die mir mit ihren wertvollen Ratschlägen sowie vor allem durch ihre motivierende Begeisterung für dieses Vorhaben unzählige Hilfen und Impulse gegeben hat. Ebenso danke ich Peter Orth – nicht nur für die Übernahme des Zweitgutachtens, sondern insbesondere für seine große Hilfsbereitschaft und zahlreiche Anregungen, welche die Arbeit enorm bereichert haben. Ein weiterer Dank gebührt Dr. Daniel Eder für seine Unterstützung beim Bewältigen einiger sprachlicher Hürden. Gerne denke ich zurück an die gemeinsame Zeit mit ihm und Julia Naji im IDSL I der Universität zu Köln. Für vielfältigen fachlichen und kollegialen Austausch danke ich darüber hinaus den zahlreichen weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zentrums für Mittelalterstudien sowie der Abteilung für ältere deutsche Sprache und Literatur, nicht zuletzt Georgis Eder und Heike Knopp-Sullivan für ihre stets große Hilfsbereitschaft. Die erste Zeit der Entstehung dieser Arbeit wurde zudem begleitet durch meine Mitarbeit im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt „Mittelalterliche Textualität als Retextualisierung. Das Pèlerinage-Corpus des Guillaume de Deguileville im europäischen Mittelalter“. Für die Aufnahme in dieses Projekt danke ich Herrn Prof. Dr. Andreas Kablitz und erneut Frau Prof. Dr. Ursula Peters. In schöner Erinnerung geblieben sind mir hierbei neben meiner Projektarbeit zur Erschließung der lateinischen Pèlerinage-Tradition auch die ertragreiche Zusammenarbeit mit Dr. Sabine Lange-Mauriège sowie der hilfreiche Austausch mit ihr. Ein ebenfalls besonderer Dank gilt den Herausgebern der „Kölner Germanistischen Studien“ für ihre Bereitschaft, die Dissertation in ihre Reihe aufzunehmen, und vor allem Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Ziegeler für seine wertschätzende Unterstützung bei der Veröffentlichung der Arbeit. Darüber hinaus möchte ich mich für die gute Zusammenarbeit mit dem Verlag – insbesondere bei Dorothee Wunsch, Laura Röthele und Kathrin Reichel – bedanken.

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Vorwort

Für ihre Hilfe beim Lektorat sei Elisabeth Mayer und Dr. Stephanie Bölts sehr herzlich gedankt, die mich zudem durch langjährige Freundschaft – ebenso wie David Heep und Jennifer Kreckel – begleiten. Mein größter Dank gilt meiner Familie und insbesondere meinen Eltern, Ulrich und Hannelore Riedel, die mir stets in allen Lebenslagen zur Seite stehen und mich immer rückhaltlos auf dem Weg zum Erreichen meiner Ziele bestärkt und gefördert haben. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Köln, im April 2022

Sebastian Riedel

Meinen Eltern

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ................................................................................................

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1. Einleitung ........................................................................................ 1.1 Minnesang und lateinische Literaturtradition ................................. 1.2 Mittelalterliche Dialogliteratur im Kontext von Lehre und Streit ......................................................................................... 1.3 Das Dialoglied im Minnesang ......................................................

13 13

2. Werbung und Liebesdiskussion in dialogisch angelegten lateinischsprachigen Texttypen ........................................................ 2.1 Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen................................................................ 2.1.1 amicitia-Tradition (Cicero) ................................................. 2.1.2 Mittelalterliche Anknüpfungen an die liebespoetische Ovid-Tradition .................................................................. Exkurs: curialitas ........................................................................ 2.1.3 Bibelexegetische Tradition: Canticum canticorum ................... 2.1.4 Die mittelalterliche Pastourellen-Tradition............................. 2.2 ars dictaminis ............................................................................. 2.2.1 Liebesbriefsteller ................................................................ 2.2.2 Tegernseer Liebesbriefe ....................................................... 2.2.2.1 Brief 11 .................................................................. 2.2.2.2 Brief 10 .................................................................. 2.2.2.3 Brief 9 .................................................................... 2.2.3 Boncompagno da Signa: Rota Veneris .................................... 2.3 ‚Gesprächsanleitungen‘................................................................. 2.3.1 Pseudo-Ars amatoria (Facetus de moribus et vita) .................... 2.3.2 Pamphilus, de amore ........................................................... 2.3.3 Werbungsgespräche in De amore .......................................... 2.4 Dialoggedichte............................................................................ 2.4.1 De iuvene et moniali ............................................................ 2.4.2 Nescio quid sit amor: Dialog zwischen amica und amicus (Carmina Florentina) ................................................ 2.4.3 Werbungsdialoge im Codex Buranus .................................... 2.4.4 MACIMA DA – Ad amicam (Carmina erotica Rivipullensia)..... 2.4.5 Invitatio amicae ..................................................................

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51 51 51 58 66 70 73 82 89 99 103 108 122 131 142 144 149 159 196 196 202 211 240 252

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Inhaltsverzeichnis

3. Werbungsdialoge des Minnesangs .................................................... 3.1 Dialogstrukturen in Des Minnesangs Frühling ................................. 3.1.1 Der Kürenberger, II: Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinne (MF 8,1) ............................................................ 3.1.2 Walther von Mezze (Namenlos, XIV): Der walt in grüener varwe stât (MF 6,14)................................................ 3.2 Strophisch organisierte Dialoglieder .............................................. 3.2.1 Walther von der Vogelweide................................................. 3.2.1.1 Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche (L 70,22) ............... 3.2.1.2 Ich hœre iu sô vil tugende jehen (L 43,9) ...................... 3.2.1.3 Frowe, lânt iuch niht verdriezen (L 85,34) .................... 3.2.2 Ulrich von Singenberg......................................................... 3.2.2.1 Swaz diu welt nach vreiden ie ûf hôhen muot gewarp (SMS 12, 1) .................................................. 3.2.2.2 Daz vrô mîn muot von herzen sî (SMS 12, 2)................ 3.2.2.3 Frowe, sælic frowe (SMS 12, 24) ................................. 3.2.3 Munegiur: Owê, edeliu frouwe hêre (KLD 37, III) .................... 3.2.4 Hawart: Ob ez an mînen êren mir geschaden niene mac (KLD 19, III)...................................................................... 3.2.5 Hug von Werbenwag: Wol mich hiute und iemer mêre (KLD 27, I) ........................................................................ 3.2.6 Ulrich von Liechtenstein...................................................... 3.2.6.1 Frouwe schœne, frouwe reine (KLD 58, XXX)............... 3.2.6.2 Wizzet, frouwe wol getân (KLD 58, XXXIII) ................ 3.3 Pastourellendialoge ..................................................................... 3.3.1 Gottfried von Neifen: Uns jungen mannen mag (KLD 15, XLI) ............................................................................. 3.3.2 Gottfried von Neifen: Ich wolde niht erwinden (KLD 15, XXVII)......................................................................... 3.4 Stichomythische Dialoge .............................................................. 3.4.1 Albrecht von Johansdorf: Ich vant si âne huote (MF 93,12) ....... 3.4.2 Ulrich von Singenberg......................................................... 3.4.2.1 Frowe, ich wære gerne vrô (SMS 12, 5) ........................ 3.4.2.2 Hât ieman leit, als ich ez hân (SMS 12, 36)................... 3.5 Narrativ eingebettete Dialoge........................................................ 3.5.1 Der von Trostberg: Willekomen sî uns der meie (SMS 19, 6) ...... 3.5.2 Ulrich von Winterstetten ..................................................... 3.5.2.1 Komen ist der winter kalt (KLD 59, XXXVI)................ 3.5.2.2 Ez ist niht lanc, daz ich mit einer minneclîchen frouwen (KLD 59, XI)...............................................

273 273 275 314 329 329 329 348 362 376 378 386 392 401 413 425 444 445 458 470 474 487 502 505 532 532 544 560 560 575 577 593

Inhaltsverzeichnis

4. poetica sollertia sine cultu: zu den poetischen Schnittstellen volkssprachlicher und lateinischer Literaturtradition .......................... 613 5. Literaturverzeichnis ......................................................................... A. Textausgaben und Nachschlagewerke ............................................ B. Internetseiten ............................................................................. C. Forschungsliteratur .....................................................................

621 621 632 633

Register ............................................................................................... Namen historischer Personen (ohne Minnesänger) ............................... Minnesänger und behandelte Lieder.................................................... Lateinische Texte ..............................................................................

671 671 674 684

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1.

Einleitung

1.1

Minnesang und lateinische Literaturtradition

Die im Minnesang begegnenden Werbungsgespräche zwischen Mann und Frau sind erst in jüngerer Zeit auf ein verstärktes Interesse der Forschung gestoßen.1 Zunächst widmeten sich Untersuchungen zu Dialogen in der mittelhochdeutschen Literatur vornehmlich epischen Texten2 , was vor allem durch die geringe Anzahl der vorliegenden Werbungsdialoge im Verhältnis zu anderen Texttypen3 des Minnesangs bedingt gewesen zu sein scheint, finden sich diese doch nur vereinzelt und vornehmlich in der sog. ‚Spätphase‘ der mittelhochdeutschen Liebeslyrik4 , die lange Zeit auf ein zurückhaltenderes Forschungsinteresse stieß als der Minnesang der sog. ‚klassischen‘ Phase. Einen erstmals umfassenderen Blick auf den Texttyp ermöglichte der 2011 erschienene und von Marina Münkler herausgegebene Band „Aspekte einer Sprache der Liebe“, dessen einzelne Beiträge vor allem eine metapoetische Ausrichtung des Texttyps betonen. Dabei richtet sich der Blick bei dem Versuch einer gattungstheoretischen und entstehungsgeschichtlichen Verortung der stets konflikthaft verlaufenden Werbungsgespräche vornehmlich auf die Literatur der Romania, welche für den mittelhochdeutschen Minnesang insgesamt eine wichtige Hintergrundfolie bildet. Gleichwohl wird hierbei auch eine gewisse Eigenständigkeit der mittelhochdeutschen Dichtung betont, welche sich bereits im Hinblick auf den sog. Wechsel abzeichnet, an den einige der Dialoglieder ebenfalls sehr deutlich anknüpfen.5 Hinweise auf die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung lateinischer

1 Vgl. u. a. das Vorwort von Münkler in dem von ihr herausgegebenen Band „Aspekte einer Sprache der Liebe“, S. 9–15. 2 Vgl. Hundsnurscher/Miedema, Formen und Funktionen von Redeszenen; Henkel, Dialoge. Vgl. außerdem die Hinweise bei Brüggen, Minnelehre und Gesellschaftskritik, S. 84, Anm. 47. 3 Zur Unterscheidung zwischen ‚Texttyp‘ und ‚Textsorte‘ vgl. Isenberg, Probleme der Texttypologie, S. 566f. 4 Zur Phasierung des Minnesangs vgl. unten Kap. 1.3. 5 So sucht etwa Kasten, Dialoglied, S. 92f., neben den Beziehungen zum mittelhochdeutschen Wechsel die Ursprünge des Texttyps im Okzitanischen, weist jedoch auf die Grenzen dieser Abhängigkeiten hin und hebt die Eigenleistung der deutschen Sänger hervor. In Bezug auf Walther von der Vogelweide kommt sie ebd. zu dem Ergebnis, dass dieser zwar die Gattung der provenzalischen Tenzone gekannt, sich bei der Komposition seiner Dialoglieder aber nicht an ihr orientiert habe. Den „Dialog als gattungsprägende Form der Lyrik“ habe er auch auf anderen Wegen kennengelernt haben können, „denn es ist davon auszugehen, daß er genügend klerikale Schulung besaß, um mit der Tradition des mittellateinischen Streitgedichts vertraut gewesen zu sein, von dem sich einige Reflexe in seiner Lyrik nachweisen lassen“ (ebd., S. 92). Auch das im Minnesang beliebte Thema der ‚Untreue des

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Einleitung

Literaturtraditionen bei der Untersuchung des Texttyps finden sich zwar immer wieder, doch wird diesen Spuren in den wenigsten Fällen genauer nachgegangen.6 Auch bezogen auf die Minnesanganalyse insgesamt bildet ein durch die Betrachtung lateinischsprachiger Textcorpora geschärfter Blick die Ausnahme.7 Zu nennen sind hier vor allem die umfassenden Arbeiten Hennig Brinkmanns8 , Reto Bezzolas9 , Peter Dronkes10 sowie Rüdiger Schnells11 neben kleineren Forschungsbeiträgen wie etwa Annette Gerok-Reiters Aufsatz zu den auch im Rahmen dieser Arbeit

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11

Mannes‘ müsse nicht aus der romanischen Lyrik stammen, weil es zum Motivbestand des Frauenliedes gehöre, eine Gattung, die in der deutschen Lyrik einen wichtigen Stellenwert habe, während sie in der Trobadorlyrik nur eine Randerscheinung darstelle (ebd., S. 91). Vgl. hierzu auch Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 181, welche enge Bezüge zur Trobadorlyrik im Hinblick auf Walther und Albrecht von Johansdorf hervorhebt. Besonders hervorzuheben ist hierbei erneut Ranawake, hübscher klaffe vil. Zu den Zusammenhängen volkssprachlicher und lateinischer Literatur und Kultur vgl. u. a. Brinkmann, Anfänge lateinischer Liebesdichtung (I und II); ders., Geschichte der lateinischen Liebesdichtung; ders., Entstehungsgeschichte; Moll, Über den Einfluss der lateinischen Vagantendichtung; Dronke, Medieval Latin I; ders., Medieval Latin II; Bezzola, Les origines; Schnell, Causa Amoris. Bezogen auf den Minnesang speziell vgl. Ranawake, hübscher klaffe vil. Betont wird hierbei eine lateinisch-klerikale Bildung, die im Hinblick auf zahlreiche Minnesänger angenommen wird. Ebenfalls zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die Arbeit Daniel Eders zum Natureingang im Minnesang, der auch vor dem Hintergrund lateinischer Text-Corpora argumentiert. Brinkmann, der sich u. a. mit der „Geschichte der lateinischen Liebesdichtung im Mittelalter“ auseinandersetzte, verfasste auch eine „Entstehungsgeschichte des Minnesangs“, in der er vornehmlich nach den Ursprüngen volkssprachlicher Dichtung forschte. Bezzola, der ebenfalls den Ursprüngen mittelalterlicher Literatur nachgeht, hebt eine eigenständige Originalität mittelalterlicher Literatur hervor, verweist jedoch auch auf die Kontinuitäten zur Antike. Vgl. Bezzola, Les origines I, S. XVIIf.: „Littérature courtoise et renaissance de l’antiquité coïncident de façon frappante depuis la première renaissance carolingienne […].“ Vor allem zu nennen ist Dronkes zweibändiges Werk „Medieval Latin and rise of European lovelyric“, welches zudem zahlreiche der behandelten lateinischen Texte mit einer Übersetzung ins Englische präsentiert. Dronke geht es – im Unterschied zu Brinkmann und Bezzola – weniger um die Ursprünge volkssprachlicher Dichtung als um den Nachweis einer ‚universellen Sprache der Liebe‘, welche nicht erst mit der Trobadordichtung ihren Anfang genommen habe. Dabei sucht er vor allem nach Parallelen im Hinblick auf Motive und sprachliche Bilder. Die oftmals scharfe Grenzziehung zwischen der Literatur der sog. ‚höfischen Liebe‘ und vermeintlich ‚volkstümlicher‘ Dichtung (Gegensatz ‚popular/courtly love lyric‘) versucht er zu lockern. Schnell verweist in seinen zahlreichen Arbeiten immer wieder auf die große Intellektualität der mittelalterlichen Autoren, welche – in einer heute oftmals nur sehr schwer zu durchschauenden Weise – auf unterschiedlichste Diskurstraditionen zurückgreifen und diese in ihren Texten produktiv verarbeiten. Hierbei stechen neben dem fast enzyklopädischen Werk „Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur“ u. a. dessen Arbeiten zu Andreas Capellanus’ De amore und zahlreiche Aufsätze hervor wie u. a. „Frauenlied, Manneslied und Wechsel im deutschen Minnesang. Überlegungen zu ‚gender‘ und Gattung“ (1999); „Recht und Dichtung: Funktionen und Fiktionen. Beobachtungen zur höfischen Literatur des Mittelalters“ (2011); „Liebesdiskurse im Mittelalter“ (2012).

Minnesang und lateinische Literaturtradition

behandelten Tegernseer Liebesbriefen12 oder Rainer Kößlings Beobachtungen zu der in Texten Walthers von der Vogelweide sehr augenscheinlichen Anknüpfung an gelehrt-lateinisches Bildungsgut13 sowie W. H. Molls Ausführungen zum Einfluss der lateinischen Vagantendichtung auf Walthers Lyrik14 . Ein Grund für die insgesamt doch eher große Zurückhaltung im Hinblick auf einen Einbezug lateinischer Literaturtraditionen in die Minnesang-Forschung liegt sicherlich darin, dass in der Diskussion um eine Bestimmung gegenseitiger Abhängigkeitsverhältnisse Übernahmen bestimmter Themen und Motive von der einen in die andere Sprache in der Regel nur schwer nachweisbar sind. Es wird daher einerseits ein sprachübergreifender Wissenshorizont zahlreicher der Literaturschaffenden angenommen, welche auf ein gemeinsames Wissen um volkssprachliche und lateinisch-sprachige Literaturpraktiken zurückgreifen15  – sehr deutlich erkennbar ist dies etwa in den lateinisch-deutschen Liedern des Codex Buranus –, die jeweiligen Textuntersuchungen machen diese Grundannahme jedoch andererseits nur in den wenigsten Fällen fruchtbar. Vielmehr werden dagegen vor allem vor dem Hintergrund der inhaltlichen Textgestaltung – zweifelsfrei vorhandene – Differenzen beider Diskurse insofern hervorgehoben, als die lateinisch-weltliche Literaturtradition durch eine Überbetonung des Formal-Rhetorischen gekennzeichnet sei, wohingegen die Bedeutung ideologisch-programmatischer Fragestellungen innerhalb der volkssprachlichen Literatur viel ernster genommen werden müsse, insbesondere bezogen auf programmatische Modelle der sog. ‚höfischen Liebe‘ der volkssprachlichen Liebesdichtung. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die grundlegende Frage nach dem Verhältnis beider Literaturtraditionen sowie danach, wo die Grenzen der so genannten ‚höfischen‘ Literatur zu ziehen sind. Eine Berücksichtigung der mittellateinischen Literatur des 11. bis 13. Jahrhunderts scheint gerade im Hinblick auf das Verständnis der Dialoglieder des Minnesangs überaus ergiebig, handelt es sich doch bei der dialogischen Textanlage um ein Gestaltungsmerkmal, welches für die lateinische Literatur- und Texttradition

12 Gerok-Reiter, Dû bist mîn. 13 Kößling, Walther von der Vogelweide und die lateinische Literatur, S. 33–38, betont hierbei besonders, dass Walther eine genaue Kenntnis lateinischer Literatur- und Texttraditionen gehabt habe und diese in seine Dichtung in einem produktiven Aneignungsprozess habe einfließen lassen. 14 Moll, Über den Einfluss der lateinischen Vagantendichtung auf die Lyrik Walthers von der Vogelweide und seiner Epigonen. Paris/Amsterdam 1925. 15 Vgl. Dronke, Medieval Latin I, S. 285; S. 46–56; Pereira, Frauenfiguren, S. 282f.; Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 187, verweist darauf, dass das Interesse des Klerus an dem literarischen Thema Minne und insbesondere an der Erörterung dieses Themas in Dialogform eine lange Tradition habe. Auch Schnell, Die ‚höfische Liebe‘ als Gegenstand von Psychohistorie, S. 416, erkennt wechselseitige Bezugnahmen: „‚Höfische‘ Literatur entsteht nicht nur als Abgrenzung von bzw. als Emanzipation aus der kirchlich-klerikalen ‚Vormundschaft‘, sondern eben auch aus der Transformation geistlichreligiöser Vorstellungsmuster heraus“.

15

16

Einleitung

des Mittelalters zentral ist und eine universelle Verbreitung gefunden hat (Kapitel 1.2), weshalb allein das Auftreten eines Streitgesprächs in der volkssprachlichen Literatur einen Bezug auf antike und mittelalterliche Latinitas nahelegt. Dabei lassen sich auffällige Parallelen im Hinblick auf registral-poetische Sprechtechniken beobachten, weshalb in der hier vorgelegten Arbeit neben einer Untersuchung der inhaltlich-thematischen Gestaltung vor allem auch die rhetorisch-sprachliche Anlage der behandelten Texte in den Blick genommen wird. Im Zentrum stehen dabei die poetischen Techniken der Werbung und Ablehnung in Dialogen zwischen Mann und Frau, welche durch ein meist mit intra- und intertextuellen Parallelen und Wiederholungen sowie unterschiedlichen Strategien der Assoziationserzeugung arbeitendes Sprechen gekennzeichnet sind, das sowohl für die lateinische als auch volkssprachliche Literatur spezifisch ist und aufgrund dessen enge Kontakte zwischen beiden Literaturen nahelegt. Im Werbungsdialog ist hierbei eine minnesangtypische – aber gleichwohl noch einmal deutlich gesteigerte – Variativität zu erkennen, welche mit einem hohen Grad an Komplexität im Zuge der Überlagerung unterschiedlichster Diskurstraditionen einhergeht. Der Texttyp erweist sich dabei – sowohl im Mittelhochdeutschen als auch im Lateinischen – als grundlegend offen für vielfältige diskursive Verknüpfungen, worin sich ein eher experimenteller Charakter der Lieder offenbart.16 Diesem Ansatz entsprechend werden im ersten Hauptteilkapitel dialogisch gestaltete Texte der lateinischen Literatur untersucht (2. Werbung und Liebesdiskussion in dialogisch angelegten lateinischsprachigen Texttypen). Neben Dialoggedichten finden auch Beispiele für dialogisch gestaltete Liebesdiskussion und -reflexion in weiteren Textsorten Berücksichtigung wie etwa die in unzähligen Sammlungen überlieferte Briefliteratur des 12. Jahrhunderts, die oftmals eine literarische Stilisierung erkennen lässt. Hiermit geht freilich eine gewisse gattungssystematische Asymmetrie der behandelten Texte einher, was nicht unproblematisch ist, da jeweils auch unterschiedliche Prinzipien der Textgestaltung begegnen, wie es etwa die hinsichtlich des Briefaufbaus stark reglementierende ars dictaminis ersichtlich macht, welche Texte generiert, die sich formal und auch inhaltlich von den – durch eine höhere Frequenz des Redewechsels gekennzeichneten – Werbungsgesprächen im Dialoggedicht bzw. -lied deutlich unterscheiden. Gleichwohl soll auf diesem Wege der Blick geschärft werden für die jeweiligen Gestaltungsprinzipien der Dialogführung, zumal sich immer wieder – vor allem im Hinblick auf die Verknüpfungstechniken einzelner Redebeiträge im dialogischen Austausch – Analogien zu den Werbungsgesprächen der volkssprachlichen Literatur finden lassen. Im Zentrum steht dabei dennoch nicht ein direkter Vergleich lateinischer und mittelhochdeutscher Texte: Die Untersuchung der ausgewählten Beispiele der lateinischen Literatur

16 Vgl. hierzu besonders Braun, Künstlichkeit.

Minnesang und lateinische Literaturtradition

soll vielmehr das analytische Fundament bilden, auf dessen Grundlage es dann jeweils neu zu erproben gilt, inwieweit die im Lateinischen zu beobachtenden Gestaltungsprinzipien der dialogisch-literarischen Interaktion – trotz aller inhaltlichen und konzeptionellen Divergenzen – auch für die Dialoglieder des Minnesangs Gültigkeit beanspruchen und somit zu deren Verständnis beitragen. Nicht immer können dabei die behandelten lateinischen Texte in ihrer Gänze betrachtet werden; vor allem geht es darum, die im Hinblick auf den Aspekt des Mann-Frau-Dialoges relevanten Aspekte herauszuarbeiten. Zum Teil gilt es auch, bestimmte Texte, die zumindest als Konnotationshintergrund für die mittelhochdeutsche Literatur von gewisser Relevanz zu sein scheinen, zunächst überhaupt stärker in das Blickfeld germanistischer Forschung zu rücken. Vor dem Hintergrund der Betrachtung des für diese Arbeit zusammengestellten lateinischen Textcorpus widmet sich der Hauptteil in seinem zweiten Großkapitel den Werbungsgesprächen des Minnesangs in Form von Einzelanalysen der Dialoglieder (3. Werbungsdialoge des Minnesangs).17 Das Kapitel betrachtet in einem ersten Schritt dialogische Strukturen in Des Minnesangs Frühling und darauffolgend – einerseits nach formalen Aspekten und andererseits nach Autorkorpora systematisiert – Lieder, in denen Dialoge strophenweise, stichomythisch oder in einen narrativen Rahmen eingebettet organisiert sind.18 Etwaige Unterschiede in der jeweiligen Umsetzung des Dialogs sind hierbei zu thematisieren. Aufgrund der vielfältigen Erscheinungsformen dialogischer Textkonstellationen in der lateinischen und volkssprachlichen Literatur geht es insgesamt – wie bereits festgestellt – nicht um den Nachweis direkter Abhängigkeiten; weder soll eine weitere Ursprungstheorie des Minnesangs entwickelt werden noch wird von einer wie auch immer gearteten Entwicklung vom lateinischen Liebesdialog zum mittelhochdeutschen Dialoglied (oder umgekehrt) ausgegangen.19 Es soll vielmehr

17 Zitiert werden die Lieder nach folgenden Ausgaben: Moser/Tervooren, Des Minnesangs Frühling (38. Aufl.) = MF; Kraus, Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts = KLD; Schiendorfer, Die Schweizer Minnesänger = SMS; Bein, Walther (15. Aufl.). Falls nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen vom Verfasser (Angabe S.R.). Dies gilt in der Regel auch für gelegentliche Unterstreichungen in Zitaten und Übersetzungen. 18 Diese Gliederung soll lediglich eine Orientierung ermöglichen. Überschneidungen finden sich durchgehend. So ist etwa auch für das Register des Werbungslieds auf narrative Elemente zu verweisen. Vgl. hierzu u. a. Eikelmann, wie sprach sie dô, S. 19–42. 19 Mit der Abhängigkeit des Minnesangs vom Lateinischen setzte sich vor allem die frühe Minnesangforschung auseinander (Brinkmann, Dronke), doch wurde diesen Ansätzen in der Folge nicht konsequent nachgegangen. Die kaum noch zu überblickende Fülle von Entstehungstheorien für den deutschen Minnesang bzw. die Lyrik der Trobadors und Trouvères – von der arabischen These bis hin zu Erich Köhlers Ministerialenthese – macht deutlich, dass eine monokausale Erklärung wohl keine Beantwortung der Ursprungsfrage geben kann. Dennoch veranschaulicht die geführte Diskussion die Vielzahl der Einflüsse, die bei der Entstehung des Minnesangs eine Rolle gespielt haben müssen. Gleichzeitig wird vor allem aber auch die Eigenleistung volkssprachlicher

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Einleitung

aufgezeigt werden, dass das im Mittelalter allseits gegenwärtige und bei weitem dominierende Wissen um lateinische Literaturpraktiken auch bei der Beschäftigung mit volkssprachlicher Literatur – und insbesondere mit den Werbungsgesprächen des Minnesangs – eine stärkere Berücksichtigung verdient und hierbei zahlreiche Rückschlüsse auf die literarisch inszenierte Interaktion zwischen Mann und Frau ermöglicht.20

1.2

Mittelalterliche Dialogliteratur im Kontext von Lehre und Streit

Schriftlich festgehaltene – und in der Regel fingierte21  – Dialoge entstehen in der lateinischen Literatur des Mittelalters zunächst vor allem mit dem Ziel der Belehrung.22 Der Dialog als eine im didaktischen Kontext begegnende Textform hat eine lange Tradition, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lässt, von wo aus sie durch die frühchristliche Literatur der Spätantike fortgeführt und weiterentwickelt wurde.23 Gerade im monastischen und später universitären schulischen Kontext stellte der fingierte Dialog dabei eine erfolgreiche Form der Wissensvermittlung dar, weshalb der mittelalterliche Dialog noch deutlicher als der antike durch lehrhafte Funktionen gekennzeichnet ist.24 Die Texte werden hierbei nicht immer explizit

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Literatur hervorgehoben. Vgl. u. a. Haug, Die höfische Liebe, S. 34, der in der volkssprachlichen Liebesdichtung des Mittelalters kulturgeschichtlich eine radikale „innovative Wende“ sieht. Ich danke Ursula Peters für zahllose Hinweise im Hinblick auf die konzeptionelle Anlage der Arbeit und hierbei vor allem bezogen auf die Detailliertheit der Textanalysen sowie terminologische Fragestellungen. In Bezug auf diesen Aspekt verweise ich zudem dankend auf die Dissertation von Daniel Eder, Der Natureingang im Minnesang, welche ob ihrer großen Profundität auch viele weitere Anregungen gegeben hat. Im Hinblick auf unzählige Hilfen beim Übersetzen und Verstehen der mittelhochdeutschen Minnelieder danke ich ebenfalls Ursula Peters und Daniel Eder. Bezogen auf die Erschließung der lateinischen Textbeispiele und deren Übersetzungen gilt mein besonderer Dank Peter Orth für zahlreiche Hinweise und Hilfen. Vgl. Vollmann, Autorrollen, S. 823: „Natürlich war dem Mittelalter ebenso wie der Antike die Literarizität des Typus ‚Dialog‘ bewußt, machten doch die Autoren selbst bisweilen auf die nur angenommene Redesituation aufmerksam […].“ Vgl. auch Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 269. U. a. verweist Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 4–11, auf die schulischen Kontexte, in denen lateinische Dialogliteratur meist begegnet. Vgl. u. a. Renaud, Art., Streitgespräch, Sp. 183. Kasten, Streitgedicht, S. 15, verweist auf die Einführung des Lehrgesprächs zwischen Magister und Discipulus durch Augustinus sowie die Fortführung dieser Tradition u. a. durch Alkuin in der Karolingerzeit, der auch den Einfluss dialektischer Traditionen erkennen lasse. Vgl. u. a. Walther, Streitgedicht, S. 19; Bebermeyer, Art., Streitgedicht, Sp. 231b; Kästner, Lehrgespräche, S. 222–224. Belehrung erfolgte jedoch nicht nur dialogisch; im 12. Jahrhundert lassen sich für das Lateinische vor allem drei Hauptarten belehrender Texte unterscheiden: ars praedicandi, ars dictandi und ars poetica erleben eine Blüte, die vor allem von den norditalienischen Schulen bzw.

Mittelalterliche Dialogliteratur im Kontext von Lehre und Streit

als belehrend ausgewiesen, die Präsentationsform des Dialogs allein legt jedoch bereits eine solche Funktion nahe.25 Während dieser didaktische Grundcharakter dialogischer Textgestaltung für das Mittelalter spezifisch ist, fallen die jeweiligen Ausprägungen eben dieser sehr unterschiedlich aus. Cardelle de Hartmann verweist auf den universellen Charakter des Dialogs im Mittelalter, da er einerseits „als mögliche Ausgestaltung der Personensprache […] konstitutives Merkmal einer Textsorte“ sein könne, andererseits jedoch die „Präsentationsform Dialog […] auch als optionales Merkmal in anderen Textsorten“26 auftrete. Sie unterscheidet gleichwohl im Hinblick auf den spätmittelalterlichen lateinischen Dialog die vier Grundtypen „Lehrdialoge, Streitgespräche, philosophische und selbstbetrachtende Dialoge“27 . Im Rahmen einer Untersuchung von Dialoggedichten der Werbung

entstehenden Universitäten ausgeht und sich von dort zunächst vor allem nach Frankreich, aber auch in deutschsprachige Gebiete ausdehnt. Hierbei fällt allerdings auf, dass auch diese Texte bisweilen durch dialogische Strukturen gekennzeichnet sind. Des Weiteren vgl. Hilsenbeck, Lehrdialog, S. 44–49, zur didaktischen Funktion des Lehrgesprächs im Sinne einer „Verständniserleichterung“ (ebd., S. 44) sowie zu einer „abwechslungsreichere[n] und damit zur Lektüre motivierende[n] Funktion des Lehrgespräches“ (ebd., S. 47), die ebd., S. 49, die folgenden Funktionen des Lehrdialogs in der volkssprachlichen und lateinischen Literatur des Mittelalters nennt: „Verständniserleichterung, Motivationsförderung und Einprägsamkeit“. Jackson, Streit, S. 300, spricht davon, „daß die Gattung des Streitgedichts die Neigung des Mittelalters widerspiegelt, Gedanken in der Form von Disputationen aneinanderzureihen und die Argumente in Dialogform darzulegen.“ 25 Vgl. u. a. Kästner, Lehrgespräche, S. 217, der feststellt, dass „die fiktive Erstellung einer G espr ä chs s itu at ion, aus der Absicht der Autoren, eine möglichst eindringliche Vermittlungsform“ darstelle. 26 Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 277, vgl. auch ebd., S. 29. Das Fehlen eines systematischen Gattungskonzepts im Mittelalter trägt zu diesen Abgrenzungsschwierigkeiten erheblich bei. Schnell, Einleitung, S. 5 u. S. 11f., Anm. 36, verweist ebenso auf die Ungenauigkeiten aller Definitionen von ‚Gespräch‘, ‚Konversation‘, ‚Dialog‘ u. ä. in der mediävistischen Kommunikationsforschung, denen ein gehöriges Maß an Konstruktion anhafte. Vgl. hierzu u. a. auch Linden, Kundschafter; Wachinger, Gespräche; Kalmbach, Dialog, S. XVIIIf.; Kästner, Lehrgespräche, S. 265; Köhler, Entstehung, S. 37f.; Stierle/Warning, Das Gespräch, sowie von Moos, Gespräch, S. 219f. u. S. 225. Auch Letzterer beschreibt ebd., S. 211, den ‚Dialog‘ als eine universelle Darbietungsform, die in allen Textgattungen aufgefunden werden könne, und verweist hierbei zugleich darauf, dass „der Dialog als festumrissene Gattung, wie er in der Antike als philosophisches Genus bestand, eher eine Randerscheinung“ sei. Von Moos bringt darüber hinaus den Begriff des ‚Dialogischen‘ in die Diskussion ein, bezugnehmend auf Bachtins Dialogizitätskonzept, das in neueren Arbeiten zum mittelalterlichen Dialog wiederholt aufgegriffen wird. Vgl. u. a. Meyer, Dialoge; Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 14f. – hierdurch wird eine Begrenzung des ohnehin schon sehr umfangreichen Textcorpus des mittelalterlichen ‚Dialogs‘ erneut erschwert. Vgl. hierzu auch Eikelmann, Dialogische Poetik, S. 87. Das ‚Dialogische‘ an sich ist – wie etwa Eikelmann erläutert – nicht an die Gesprächsform zwischen zwei (oder mehreren) Personen gebunden. Im Hinblick auf den Minnesang ist in diesem Kontext vor allem auf den Wechsel zu verweisen. Vgl. u. a. Walthers ‚Wechsel-Dialog‘ als Übergangsform (s. unten Kap. 3.2.1.1). 27 Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 264. Hinzu kommen die jeweiligen Untertypen (vgl. ebd., S. 270–277). Wichtig ist in diesem Zusammenhang darüber hinaus der von ihr als spezifi-

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sind vor allem die ersten beiden der genannten Erscheinungsformen – Lehrdialog und Streitgespräch – von Bedeutung, welche sich jeweils noch einmal in verschiedene Untergruppen unterteilen lassen.28 Jedoch fällt auch hierbei eine genauere Differenzierung und gegenseitige Abgrenzung schwer.29 Cardelle de Hartmann verweist auf eine durch die Kombination verschiedener Gestaltungsmerkmale bedingte „Vielzahl von Übergangs- und Mischformen“30 , weshalb etwa die Unterscheidung zwischen Lehr- und Streitgespräch nicht immer eindeutig ausfalle.31 Inhaltlich werden beide Typen im lateinischen Bereich vornehmlich durch theologische Fragestellungen dominiert; auch Streitgespräche begegnen in belehrendem Kontext.32 Auffällig ist gleichwohl, dass letztere im Hinblick auf ihre inhaltliche Ausarbeitung ein wenig offener gestaltet zu sein scheinen, kommt es doch bereits in

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sche Textgruppe herausgestellte Dialog der monastischen Literatur, der ebenfalls u. a. in Lehrdialog und Streitgespräch untergliedert wird. Es ist allerdings auffällig, dass ‚Liebe‘ als ein literarisches Thema in den Ausführungen Cardelle de Hartmanns fast völlig unerwähnt bleibt. In ihrem „Ausblick“ verweist sie jedoch auf die notwendige „Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen volkssprachlichen und lateinischen Literaturtraditionen“ (ebd., S. 282). Das prägende Merkmal der Lehrdialoge sei „die Lehrer-Schüler-Beziehung zwischen den Dialogpartnern, die der Wissensvermittlung und der Unterweisung“ diene (Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 270). Vgl. außerdem ebd., S. 36 u. S. 56: „Auf den didaktischen Inhalt der Dialoge wird immer wieder hingewiesen. Bereits Isidor versteht den Dialog als Textsorte der Gebrauchsliteratur, und zwar im Zusammenhang mit didaktischen Schriften.“ Sie grenzt, ebd., S. 271, von den Frage-Antwort-Dialogen die monastischen Dialoge als eigenständige Gruppe ab, welche sich besonders stark an den Dialogi Gregors des Großen orientierten. Vgl. Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 4–11. Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 270. Aufgrund solcher Abgrenzungsschwierigkeiten vermeidet sie, ebd., S. 25, den Terminus ‚Gattung‘ und bevorzugt den der ‚Textsorte‘. Hinzutreten als weitere Schwierigkeit die insgesamt nur sehr spärlich zu findenden metapoetischen Äußerungen über Dichtkunst im Mittelalter (vgl. Knapp, Grundlagen der europäischen Literatur, S. 274). Ansätze einer Ars poetica begegnen im Lateinischen mit Matthaeus’ von Vendôme Ars versificatoria und Galfreds von Vinsauf Poetria nova. Vgl. Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 93. Auf die Unterschiede zum Lehrdialog weist sie zwar hin (vgl. ebd., S. 104), aber gleichzeitig macht sie ebd., S. 94, deutlich, dass sich immer wieder Überschneidungen finden. So gibt es beispielsweise auch Streitgespräche zwischen Lehrer und Schüler, vgl. ebd., S. 145–149, S. 105f. Ebd., S. 104, geht sie zudem auf terminologische Ungenauigkeiten ein: „Sowohl disputatio als auch dialogus werden als Titel von Schriften benutzt, die einen Disput in Szene setzen, manchmal kommen sogar in der Überlieferung beide Bezeichnungen für denselben Text vor.“ Vgl. auch Kästner, Lehrgespräche, S. 51. In Bezug auf den monastischen Dialog vor 1200 erklärt Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 93: „die Streitgespräche kontrastieren verschiedene Meinungen zu relevanten Themen des religiösen Lebens.“ Vgl. auch Renaud, Art., Streitgespräch, Sp. 183, zur dialektischen Disputation „als eine Form des Lehrens und Forschens“. Siehe zudem Walther, Streitgedicht, S. 21: „Vorzüglich bildeten theologische Fragen der Zeit den Gegenstand dialektischer Untersuchungen; seit dem 11. Jahrhundert jedoch sehen wir den gesamten Unterricht aufs engste mit dieser Disziplin verknüpft, die allmählich die erste Stelle im Trivium einnimmt.“

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den mittellateinischen Texten oftmals zu keiner Lösung des ausgetragenen Disputs, wenngleich die eine der beiden Positionen als die zu bevorzugende dargestellt werde.33 Die literarhistorische Verortung zahlreicher Dialoge wird zudem dadurch erschwert, dass diese oftmals einen doppelten Anteil am theoretischen und literarischen Diskurs haben. Vor allem die Forschung zum Renaissance-Dialog hat hierbei insofern einen wesentlichen Unterschied der Dialogliteratur zu anderen Textsorten des theoretischen Diskurses herausgearbeitet, als ein Spezifikum des Dialogs überhaupt eine Unbestimmtheit der Dialoginhalte sei. Häsner spricht von einem „textinterne[n] Kommunikationssystem“ sowie einer „pragmatische[n] Binnenstruktur“ des Dialogs, wodurch er sich von anderen Gattungen des theoretischen Diskurses unterscheide34 ; der Dialog sei gekennzeichnet durch eine größere Flexibilität und Uneindeutigkeit der theoretischen und argumentativen Gestaltung.35 Zudem betont er die Literarizität dialogischer Textgestaltung und spricht von einer „Entlastung vom Kohärenzdruck des schriftlichen Diskurses“ bedingt durch die „Fiktion von Mündlichkeit“36 : […] die Flüchtigkeit des Mediums fordert bzw. erlaubt auch in seiner schriftlichen Inszenierung Redundanzen, Ellipsen und Digressionen, die in anderen Gattungen des theoretischen Diskurses als inadäquat oder gar als fehlerhaft verbucht werden müssten. Ferner können die mündlichen Repliken des Dialogpersonals affektive Komponenten, rhetorische Effekte und überhaupt persuasive Qualitäten aufweisen, die gegen die Diskursmaximen und Obligationen anderer Textgattungen des schriftlichen Theoriediskurses verstießen oder in ihnen deplaziert erschienen. Schließlich gestattet die Vielzahl der

33 Vgl. Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 105. Auffällig ist ebd. auch folgender Hinweis, mit dem sie verdeutlicht, dass trotz der Konfrontation gegensätzlicher Positionen im Streitgespräch nicht eine ernsthafte Annäherung angestrebt und eine Position von vornherein als zu bevorzugende dargestellt werde: „Die Streitgespräche inszenieren nicht die Suche nach einer gemeinsamen Lösung, weshalb die Figuren ihre Einstellung nicht ändern. Dem Leser wird suggeriert, dass nur eine Position richtig ist […].“ 34 Häsner, Dialog, S. 29. Vgl. außerdem Hempfer, Poetik, S. 69f., zur „Hybridität der Gattung“. 35 Häsner, Dialog, S. 34: „Doch auch aus der nur fiktiven Ereigniszeitlichkeit der Argumententfaltung oder Theoriebildung ergeben sich unterschiedliche Kohärenzbedingungen für den Diskurs des Dialogs und den des Traktats. Unaufgelöste Widersprüche, die im Traktat argumentationslogisches Scheitern indizieren würden, können im Dialog als Ausdruck einer Erkenntnis- oder Überzeugungsdynamik, die sich in der Zeit und unter sich verändernden Bedingungen vollzieht, akzeptabel sein. Generell erlauben die Zeitlichkeit und damit der Handlungs- und Geschehenscharakter der Theoriebildung im Dialog Sequenzierungen des Argumentationsaufbaus, die nicht, wie im Traktat, aus der immanenten Logik der Argumententfaltung resultieren müssen, sondern kontextinduziert sein dürfen […].“ 36 Ebd., S. 35.

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Sprecherinstanzen und argumentativen Positionen dem Dialogautor eine entsprechende Vielfalt von unterschiedlichen Redestilen […]37

Trotz seines Anteils am theoretischen Diskurs neigt somit gerade der Dialog zu einer literarischen Stilisierung. Im Hinblick auf die in unterschiedlichen Dialogtypen verwendeten Sprechregister lassen sich hierbei deutliche Unterschiede beobachten, stehen doch belehrende Sprechgestus (vermitteln) solchen der Konfrontation (kontrastieren) deutlich gegenüber.38 Während darüber hinaus im Lehrdialog die Sprechanteile oftmals ungleichmäßig verteilt sind39 , begegnet in den Streitgesprächen – in Anknüpfung an die scholastische Disputation – meist eine ausgewogenere Verteilung der Redeanteile sowie ein häufigerer Sprecherwechsel.40 Zudem verweist Cardelle de Hartmann – unabhängig von der sprachlich-formalen Gestaltung – auch auf eine deutliche Abgrenzung zwischen lateinischem Streitgespräch und Streitgedicht hin, die bereits im mittelalterlichen Bewusstsein erkennbar sei.41 Trotz einer engen Beeinflussung durch das Streitgespräch seien Streitgedichte

37 Ebd. 38 Vgl. Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, und hier insbesondere die Unterscheidung nach den verschiedenen Typen des mittelalterlichen Dialogs. 39 Vollmann, Autorrollen, S. 823f., spricht von „dem im frühen und hohen Mittelalter vorherrschenden Lehrdialog, in dem der Schüler kaum mehr als ein Stichwortgeber ist“. Vgl. auch Kasten, Streitgedicht, S. 15: „Charakteristisch ist, daß im Lehrgespräch das Problem auf dem Wege der interrogatio und responsio entwickelt und gelöst wird, sowie eine bestimmte Rollenverteilung vorliegt: Ein Wissender führt den noch nicht Wissenden auf seine Erkenntnisstufe.“ Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 59, spricht von einer „vornehmlich […] ordnende[n] Funktion“ der Dialogform. Vgl. hierzu auch Huber, Art., Lehrdichtung, Sp. 107–112. 40 Vgl. generell zur scholastischen Disputation Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode; Geyer, Die patristische und scholastische Philosophie; de Ghellinck, Littérature latine; Kasten, Streitgedicht, S. 14–20; Hunt, Aristotle. Ansätze dialektischer Strukturen begegnen bereits in frühmittelalterlichen Dialogen wie in Alcuins Dialectica. Vgl. hierzu u. a. Kuchenbuch, Teilen, Aufzählen, Summieren, S. 191f. 41 Die Frage, „ob mittelalterliche Rezipienten zwischen Streitgedichten und Prosadialogen als verschiedenen Textsorten unterschieden haben“ (S. 51f.), bejaht Cardelle de Hartmann, da sie aus der verwendeten Terminologie heraus erkennt, „dass mit dialogus der Prosadialog gemeint ist. Gedichte werden nur in Ausnahmefällen dialogus genannt, meistens nur dann, wenn sie inhaltlich Prosadialogen nahe stehen“ (ebd., S. 56). Die Forschung ist hier jedoch nicht einheitlich. Vgl. Kilian, Art., Streitgespräch, in: Enzyklopädie des Märchens 12, Sp. 1375: „In der allg. Lit.wissenschaft wird S. [= Streitgespräch] heute sowohl zur Bezeichnung einer lyrischen Gattung (synonym zu Streitgedicht) als auch zur Bezeichnung von – mitunter nur eine einzige dialogische Minimalsequenz umfassenden – Passagen des kompetitiven Dialogs in epischen und dramatischen Werken verwendet.“ Definition nach Walther, Streitgedicht, S. 3: „Ich nenne hier Streitgedichte im eigentlichen Sinne Gedichte, in denen zwei oder seltener mehrere Personen, personifizierte Gegenstände oder Abstraktionen zu irgend einem Zweck Streitreden führen, sei es um den eigenen Vorzug darzutun und die Eigenschaften des Gegners herabzusetzen oder um eine aufgeworfene Frage zu entscheiden.“

Mittelalterliche Dialogliteratur im Kontext von Lehre und Streit

thematisch breiter angelegt und durch komisch-parodistische Tendenzen gekennzeichnet42 , wobei die Dialogform an sich auch generell unterhaltende Funktionen übernehme.43 Bereits im klerikalen Milieu des Frühmittelalters begegneten zudem „Witzdialoge“, in denen „der verbale Witz einen wichtigen Aspekt“ darstelle.44 Dennoch sind auch diese Texte ebenso wie die mittellateinischen Streitgedichte meist in didaktischen Kontexten zu verorten und verfügen insofern über einen lehrhaften Charakter, als es hier um die Einübung sprachlich-formaler und argumentativer Techniken gehen kann45 , selbst wenn bisweilen ein solches lehrhaftes Interesse – zugunsten unterhaltender Funktionen – deutlich in den Hintergrund zu rücken scheint.46 Der Anteil des Dialogs am theoretischen und literarischen Diskurs spiegelt sich zudem in der Volkssprache wider, wobei hier eine noch deutlichere Verschiebung hin zu einer literarischen Stilisierung erkennbar ist. Eine Beeinflussung durch die mittellateinische Literatur wird vor allem im Zuge der scholastischen Disputation gesehen.47 Laut Kasten ist es „schwerlich als Zufall zu bezeichnen, dass mit dem Aufblühen des Disputationswesens im 12. und 13. Jahrhundert auch

42 Vgl. Freese, Art., Streitgedicht, Sp. 175: „Rhetorische Übungen in den Schulen sowie, ab dem 12.Jh., das blühende scholastische Disputationswesen können als weitere Einflussquellen für die rege Produktion von S[treitgedichten] im Mittelalter gelten“; Walther, Streitgedicht, S. 20: „Daß diese ganze Dialogliteratur, die mit dem wissenschaftlichen Unterricht im Mittelalter zusammenhängt, einen gewissen Einfluß auf die Streitgedichtliteratur geübt hat, zeigen schon die gleichen Bezeichnungen als Disputatio, Altercatio usw.“. 43 Vgl. Cardelle de Hartmanns, Lateinische Dialoge, S. 56; Jantzen, Geschichte des deutschen Streitgedichtes, S. 22. 44 Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 61. Ein populäres Beispiel hierfür ist vor allem der wohl im späten 12. Jahrhundert entstandene Dialogus Salomonis et Marcolfi. Vgl. hierzu Röcke, Art., Salomon und Markolf, Sp. 1078; Curschmann, Art., Dialogus, Sp. 81, der ebd., Sp. 84, „von einer bei aller Grobheit primär intellektuellen befreienden Unsinnskomik“ spricht. 45 Bezüge zur mündlichen Kommunikation sieht Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 285, jedoch nicht und verweist im Hinblick auf die sprachliche Gestaltung insgesamt auf die Ferne zur gesprochenen Sprache: „Man muss abschließend feststellen, dass die Dialogform vor allem eine Form der schriftlichen Kommunikation ist und als solche wahrgenommen und gehandhabt wurde.“ 46 Stotz, Beobachtungen zu lateinischen Streitgedichten, S. 2, thematisiert u. a. Texte, in denen Scherz und Spiel Eingang in eine ursprünglich ernsthafte Thematik finden, sowie Texte, mit denen man sich an Rhetorenschulen die Zeit vertrieben habe. Bayless, Alcuin, S. 161, spricht im Kontext der Hofkultur Karls des Großen von einer „playfulness of the Disputatio“. 47 Kästner, Lehrgespräche, S. 265, schließt aufgrund „der Gestaltung der Texte für Wissenschaft und Unterricht“, dass „die Technik der disputatio auf die Literatur übertragen wurde und sich hier als festes äußeres Schema der scholastischen Darstellungsweise manifestierte.“

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die ersten Streitgedichte in den volkssprachlichen Literaturen auftreten.“48 Insbesondere die Tradition des Streitgedichts stieß hier auf fruchtbaren Boden.49 Eine sehr deutliche Anknüpfung an die lateinische Disputatio-Tradition findet sich in der Literatur der Romania, welche mit Tenzone und Partimen über einen umfangreichen Fundus an Streitgedichten verfügt.50 Thematisch ist das Spektrum inhaltlicher Gestaltung hier noch deutlicher erweitert als in der mittellateinischen Literatur.51 Viele der Texte lassen sich dabei der Minnekasuistik zuordnen, welche die Liebe betreffende Fragestellungen mit einem Rückgriff auf juristisches Fachvo-

48 Kasten, Streitgedicht, S. 20. Vgl. auch Kiening, Art., Streitgespräch, Sp. 526b; Obermaier, Scherz oder Ernst, S. 314. Im Hinblick auf die volkssprachliche Literatur warnt Kästner, Mittelalterliche Lehrgespräche, S. 269, jedoch vor zu engen Bezugnahmen: „Das antithetische Darstellungsprinzip im Dialog ist im Mittelalter so allgemein in allen Gattungen verbreitet (Märe, Exempel, Predigt, Spruch, Traktat etc.), daß man wohl eher von einer elementaren dichterischen Gestaltungsmöglichkeit als von einer hypothetischen Abhängigkeit der in Wirklichkeit formal streng geregelten scholastischen Disputation ausgehen muß.“ Die Frage, ob volkssprachliche Autoren mit der lateinischen Rhetoriktheorie vertraut waren, wird auch insgesamt nicht einheitlich beantwortet. Während die einen für eine direkte Kenntnis der lateinischen Rhetoriktradition (Rhetorica ad Herennium, Matthaeus von Vendôme: Ars versificatoria, Galfred von Vinsauf: Poetria nova etc.) plädieren, argumentieren die anderen für eine indirekte Kenntnis dieser Bildungstradition durch die Vermittlung über die volkssprachliche Literatur. Vgl. hierzu u. a. Kästner, Lehrgespräche, S. 269; Köhler, Entstehung, S. 156. Eine Zusammenfassung dieser gegensätzlichen Standpunkte mit entsprechenden Hinweisen auf die Sekundärliteratur findet sich ebenfalls bei Kästner, Lehrgespräche, S. 96–98, sowie Köhler, Entstehung, S. 153–192, besonders S. 153–157. 49 Vgl. Bebermeyer, Art., Streitgedicht, Sp. 228b: „S[treitgedichte], vor Publikum vorgetragen oder ausschließlich schriftlich fixiert, dienen gepflegter geselliger Unterhaltung, ohne den Anspruch zu erheben, aufgeworfene Fragen und Probleme wirklich lösen zu wollen.“ Vgl. außerdem ebd., S. 229a. Der eigentliche Lehrdialog habe sich dagegen weniger stark in den Volkssprachen verbreitet. Vgl. hierzu Kästner, Lehrgespräche, S. 272, sowie Walther, Streitgedicht, S. 20f. 50 Während Streitfragen ganz genereller Natur in der provenzalischen Tenzone behandelt werden, tritt die Liebe als Gegenstand der Auseinandersetzung besonders im Partimen (auch joc partit bzw. nordfranzösisch: jeu-parti = ‚geteiltes Spiel‘) ins Zentrum. Vgl. Neumeister, Spiel, S. 15f., sowie Kasten, Streitgedicht, S. 28, im Hinblick auf Partimen/joc partit: „Eine der Regeln ist die Gleichwertigkeit der beiden Alternativen, die zur Wahl gestellt werden, sowie die Bereitschaft der beteiligten Sänger, die Gleichgewichtigkeit von These und Gegenthese zu wahren. Eine persönliche, ernsthafte Parteinahme ist damit ausgeschlossen, da sie das spielerische Abwägen unter dem Prinzip der Balance gefährden müsste.“ Vgl. hierzu auch Matter, Minne, S. 79f., der von einem auffälligen Spielcharakter dieser Texte spricht, „wenn auch Uneinigkeit darüber herrscht, ob die Streitgedichte tatsächlich vor Publikum improvisiert wurden oder – wofür mehr zu sprechen scheint – eine solche Improvisation lediglich inszeniert wurde“ (ebd., S. 79). Zur eher zurückhaltenden Rezeption der Minnekasuistik in Deutschland vgl. Peters, Cour d’amour, S. 117–133. 51 Vgl. Freese, Art., Streitgedicht, Sp. 175: „Kontroversen aus Religion (Ecclesia/Synagoge) und Politik (Kaiser/Papst) sowie pragmatische Erörterungen aus der Alltagswelt (Wein/Wasser) werden sowohl lehrhaft wie unterhaltsam gestaltet. Spätestens ab dem 12.Jh. wird die weltliche Liebe, neben dem Leib-Seele-Konflikt, zum wirkmächtigen Thema von volkssprachlichen S. [= Streitgedichten].“

Mittelalterliche Dialogliteratur im Kontext von Lehre und Streit

kabular diskutiert.52 Neumeister zeigt jedoch, wie sehr vor einer in diesen Texten angelegten normativen Verbindlichkeit zu warnen ist, da es im Partimen als einem dilemmatischen Streitgedicht in den meisten Fällen – wie es der Name bereits sagt – zu keiner Klärung der behandelten Streitfrage komme.53 Das sprachlichartistische Potential dieser Texte wird deutlich hervorgehoben, von einer Irrelevanz des Inhalts ist immer wieder die Rede.54 Werbungsdialoge stellen in diesem Kontext nun jedoch eine eigenständige und von der genannten Tradition des Streitgedichts deutlich zu unterscheidende Textsorte dar: Während in Tenzone und Partimen eine Streitfrage verhandelt wird, stehen sich im Werbungsdialog eine Frau und ein um diese werbender Mann gegenüber. Gleichwohl begegnen auch hier aus der Tradition des Streitgedichts bekannte Themen bzw. Streitfragen, wenn etwa nach dem Wesen der Minne oder dem ‚richtigen‘ Verhalten von Mann und Frau in Liebesangelegenheiten gefragt wird. Gleichzeitig rücken die Lieder hierdurch in die Nähe der Minnedidaktik, wobei jedoch belehrende Sprechgestus im Werbungsdialog entweder in die Werbungsstrategie des Mannes bzw. in die Abwehrstrategie der Umworbenen eingebunden sind.55

52 Neumeister, Spiel, S. 86, spricht von „Manifestationen derselben, Recht und Liebe verbindenden Geisteshaltung“. 53 Vgl. ebd., S. 77: „Das Partimen muß als ein virtuoser, in sich kreisender und keiner außenstehenden Zielsetzung dienender Vorgang gedeutet werden […]“. 54 Vgl. u. a. Freese, Art., Streitgedicht, Sp. 176. 55 Vgl. Hübner, Liebesdialoge, S. 36: „Was der Liebende die Dame lehrt, begründet explizit oder implizit seine Lohnforderung; was die Dame ihren Verehrer lehrt, dient direkt oder indirekt dazu, ihre Zurückweisung seiner Forderung zu rechtfertigen oder seine Dienstbereitschaft trotz des ausbleibenden Lohns aufrechtzuerhalten.“ Zur ‚Minnedidaktik‘, welche sich als explizit lehrhaftdidaktisch darstellt, vgl. u. a. Kästner, Minnegespräche, S. 171ff. In Bezug auf den lehrhaften Gestus einiger Minnelieder ist die Rede von „‚Kipp-Phänomene[n]‘ zwischen spruchhaftem und minnesängerischem Redegestus“ (Lähnemann/Linden, Was ist lehrhaftes Sprechen?, S. 5). Die Forschung verweist darauf, dass ein lehrhafter Redemodus allein nicht immer auch gleichzeitig auf eine Belehrung des Rezipienten zielt. Lähnemann und Linden, Was ist lehrhaftes Sprechen?, S. 1, bringen dies in dem von ihnen herausgegebenen Band „Dichtung und Didaxe“ auf den Punkt: „Die Literatur wird dabei nicht immer zum zielstrebigen und effektiven Vermittler allgemein anerkannter Ordnungsmuster, sondern denkt die Problematisierung von Lehre und lehrhafter Vermittlung häufig schon mit.“ Vgl. aber auch ebd., S. 3: „Prinzipiell ist für das gesamte Mittelalter von einer Grundverpflichtung von Literatur auf Lehrhaftigkeit auszugehen, begründen die Autoren den Wert und Nutzen ihrer Werke lieber über das prodesse als über das delectare […].“ Scholz, minne und mâze, S. 105, mahnt daher ebenfalls zur Vorsicht bei einer vorschnellen Unterstellung eines belehrenden Charakters auch im Hinblick auf die sog. „Lehrdichtung“ selbst und verweist auf „die Notwendigkeit, zuallererst die Position und Autorität des sprechenden Ichs zu bestimmen.“ In literarischem Kontext begegnende belehrende Sprechregister sind daher von vornherein hinsichtlich ihrer ‚tatsächlichen‘ Belehrungsabsicht zu prüfen. In Bezug auf die zeitgenössische Lehrdichtung schließt Kästner, Minnegespräche, S. 168, etwa, dass didaktische Texte „wie Hofzuchten, Anstands- und Minnelehren“ zwar in keiner Weise die höfische Realität repräsentierten, doch seien sie entstanden „in der eindeu-

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Hübner schließt gleichwohl im Hinblick auf das Dialoglied und den Minnesang insgesamt – die Ebene einer textimmanenten Minnedidaktik überschreitend – auf eine ars amatoria, die Anweisungen zum richtigen Lieben erteile, und sieht eine „unmittelbare Korrelation zwischen den Regeln des vorbildlichen Sprechens über die Liebe und den Regeln des vorbildlichen Liebens“, wodurch das Sagbare erheblich begrenzt werde, da für den Sänger nur das vor seinem Publikum zu äußern erlaubt sei, „was ein Liebender in der Öffentlichkeit äußern“ dürfe.56 Dabei geht es Hübner jedoch weniger um eine Präsentation von kommunikativ anzuwendenden Sprechformeln, als vielmehr um die dargestellte Haltung des Minnenden im Sinne einer „Exemplifikation vorbildlicher Männlichkeit“57 : Zum einen dürfe dieser die Dame nicht herabsetzen, indem sie sich im Dialoglied zu einer Liebeserfüllung bereit erkläre, zum anderen stelle „der im Dialog mit der argumentativ versierten Dame belächelnswürdige Liebende seine Kultiviertheit dadurch unter Beweis“, dass er auch Demütigungen durch die Dame erdulde.58 Das Gesamtcorpus der in der hier vorgelegten Untersuchung behandelten Dialoglieder zeigt jedoch, dass der Werbende trotz dieser Art einer scheinbaren Reglementierung immer wieder Wege findet – im Zuge seiner insgesamt eher uneigentlichen Sprechweise – den Wunsch einer Liebeserfüllung nicht nur zu äußern, sondern diese gleichzeitig auch zu

tigen Absicht, auf das Verhalten der höfischen Gesellschaft, die auch das Publikum der öffentlich vorgetragenen Minnelieder ist, normierend und bessernd einzuwirken.“ Nicht hinterfragt werden soll in diesem Zusammenhang die generell geführte Diskussion über die Absichten des Minnesangs bzw. der volkssprachlichen Liebesdichtung insgesamt, belehrend (möglicherweise bessernd) auf die Rezipienten einzuwirken – etwa im Sinne der Propagierung eines Triebaufschubs. Diese möglichen ‚Lehrinhalte‘ resultieren jedoch eher aus der Gesamtkonzeption der Lieder sowie ihrer Figurendarstellung – Unterwerfung des Mannes, lange Phase der Werbung – und stellen nicht das Ergebnis einer auf der literalen Textebene erfolgenden (direkt) an den Rezipienten gerichteten Belehrung dar. 56 Hübner, Liebesdialoge, S. 42f. Gleichwohl ist danach zu fragen, inwiefern der mittelalterliche Rezipient nicht über ein grundsätzliches Gespür für die ‚Gemachtheit‘ von Literatur verfügte, sodass dementsprechend die Frage, wer eine Anzüglichkeit jeweils ausspricht, keine Rolle spielen dürfte, da jegliche Äußerung letztlich auf den männlichen vortragenden Sänger bzw. ‚Autor‘ zurückgeführt würde. 57 Hübner, Liebesdialoge, S. 42. Vgl. ebd., S. 42f.: „Dialoglieder werden – wie der gesamte Minnesang – erst verständlich, wenn man begreift, dass die ars dicendi in dieser Liedkunst ein unmittelbarer Bestandteil der ars amatoria ist: Minnelieder sind keine bloße Thematisierung einer Liebeskunst, sondern die sprachliche Praktizierung einer Liebeskunst; der Minnesänger aktualisiert nicht eine begrifflich-theoretische Wissensordnung im Sinne des Diskurskonzepts, sondern exemplifiziert eher – vor Publikum und deshalb öffentlich – eine praktische Wissensordnung, einen Habitus also, der außer Wahrnehmungs-, Gefühls-, Reflexions- und nichtsprachlichen Handlungsmustern auch bestimmte kommunikative Verhaltensweisen umfasst.“ Bei Äußerungen, die dem Minnesänger vom Publikum als schamelop ausgelegt werden könnten, erfolge eine Distanzierung durch die ErErzählung (‚Tagelied‘) oder die anzüglichen Passagen würden der in den Frauenstrophen zu Wort kommenden Dame in den Mund gelegt (ebd., S. 41). 58 Ebd., S. 42.

Mittelalterliche Dialogliteratur im Kontext von Lehre und Streit

imaginieren, wodurch der gattungsbedingte Widerstand der Dame – mit deren Zuweisung zum Figurentyp der dame sans merci ebenfalls häufig gespielt wird – auch textintern Anknüpfungspunkte für eine Kritik an der Rede des Mannes findet. Die Vorbildlichkeit des Mannes im Sinne einer Exemplarität seiner Redehaltung ist daher zumindest punktuell zu hinterfragen.59 Eine stärkere Berücksichtigung verdient haben deshalb vielmehr die Techniken, wie es ihm gerade im Dialog gelingt, seine Rede immer wieder neu im Hinblick auf sein Werbungsinteresse argumentativ zu gestalten. Dass der Mann hierbei letzten Endes häufig den Kürzeren zieht, sei dahingestellt und der gattungsbedingten Figurenkonstellation des Minnesangs insgesamt geschuldet. Die Gespräche sind folglich sehr viel stärker im Sinne eines Rede-Wettstreits zu lesen, in welchem Mann und Frau wechselseitig und rhetorisch versiert versuchen, die jeweilige Sprechweise des anderen bzw. der anderen zu übertrumpfen, indem sie auf argumentative Leerstellen hinweisen sowie vor allem mit ihrer Rede das Gespräch stets neu im Hinblick auf unterschiedliche Motivbereiche und Argumentationsmuster des Sprechens über Liebe im Minnesang perspektivieren. Es ließe sich somit – ebenso wie im Hinblick auf die mittellateinische Dichtung aus klerikalem Milieu – danach fragen, ob die Texte auf formaler Ebene – unabhängig von der inhaltlichen Gestaltung – nicht auch eine belehrende Funktion zur Einübung von Argumentations- und Sprechweisen übernehmen könnten, zumal gerade im volkssprachlichen Bereich eine Minnedidaktik auf der literalen Inhaltsebene oftmals nicht zu greifen scheint.60 Kästner schließt (im Hinblick auf Minnesang und Lehrdichtung) in diesem Sinne auf die Vermittlung geeigneter Sprechweisen einer galanten Konversation und sucht in Texten mit didaktischem Sprechregister nach „Anweisungen über die Strategien der verbalen Annäherung an die Geliebte für den Mann und Direktiven für das angemessene reaktive Rede-

59 Auch Mertens, Lehre, S. 227, (unter Berufung auf Schnell) widerspricht sehr deutlich einer Exemplarität vorbildlicher Redehaltungen im Minnelied und lehnt eine hiervon ausgehende Vermittlung von „Liebestheorie oder -lehre“ ab: „Das Lied ist Ausdruck einer höfischen Geselligkeitskultur und befördert sie zugleich. Es will nicht Liebestheorie oder -lehre vermitteln, auch nicht Redehaltungen als vorbildliche vorführen – all dies hat lediglich eine Funktion im höfisch gebildeten Gespräch. Es gibt keine einzuübenden Normen, die Lehre von der Minne besteht vielmehr in der Evidenz ihrer Vielfalt.“ 60 Die definitorische Offenheit des Liebesbegriffes in mit lehrhaftem Gestus daherkommenden Texten betont beispielsweise auch Young, Frauenbuch, S. 17, in seinen Ausführungen zum Frauenbuch Ulrichs von Liechtenstein in Bezug auf die frühen Minnereden, der erklärt, dass „nicht anders als in der Lyrik“ Minne „ein konzeptionell diffuses Phänomen“ bleibe. Young schließt ebd., S. 29, auf ein „Potpourri der Diskurse, die der Autor als amüsante, mehr und mehr außer Kontrolle geratene Unterhaltung inszeniert hat“, und spricht ebd., S. 30, von einer „elastischen Semantik der höfischen Interaktionsformen“, weshalb die Didaktik kaum greifen könne.

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verhalten der umworbenen Frau“61 . In vielen Minneliedern vermutet er „Reflexe einer theorieorientierten Regulierung der vorbildlichen Liebesrede“62 . Dabei beruft sich Kästner auf die vielfältigen Hinweise auf das manipulatorische Potential männlicher Rede in den mittelhochdeutschen Minnelehren und im Minnesang (vor allem des 13. Jahrhundert).63 Er ist dabei auf der Suche nach „Aussagen, die selbst dann noch auf diese Übernahmemöglichkeit schöner Redeweisen und Komplimente hinweisen, wenn sie innerhalb des eigentlichen Argumentationsgefüges der Liedstrophe eigentlich einen anderen Aussagezweck verfolgen“64 , erklärt jedoch, „im Wechsel, Dialoglied oder im Tagelied […] eine der Praxis enthobene Konversation“ vor sich zu haben, bei der das ästhetische Moment dominiere.65 Die Existenz einer mittelalterlichen Konversationskultur – unabhängig von der Literatur – ist dabei auch insgesamt umstritten: Schnell versucht die sich in der Frühen Neuzeit mehr und mehr verbreitende Kommunikationsform der Konversation – als ein Phänomen des Alltags im Sinne eines nicht zielgerichteten, durch Redegewandtheit und Wortwitz gekennzeichneten Gesprächs66  – für das Hoch-

61 Kästner, Minnegespräche, S. 169. Er stützt sich hierbei auf Vorarbeiten von Kraus’ und Willms’. 62 Ebd. 63 Innerhalb der literarischen Kommunikation zwischen Mann und Frau zählt dies zu einem der grundlegenden literarischen Themen, welches auch sehr häufig innerhalb lateinischer Literatur begegnet (s. unten). 64 Kästner, Minnegespräche, S. 170f. Ebd., S. 182, schließt er auf die „Existenz einer regelgeleiteten galanten Konversation zumindest in der Vorstellung von Lehrdichtern und Minnesängern“ und stellt ebd., S. 171, die „Hypothese von den Reflexen einer galanten Konversationskunst im Minnesang“ auf. 65 Ebd., S. 170. Vgl. auch die Überlegungen Von Moos’, Gespräch, S. 209f.: „Schließlich kann Dialogliteratur auch das Zeichen einer fraglosen Überlegenheit der Schriftkultur sein, die konzeptionell alles Mündliche in sich aufgesogen hat, und dies ist die wohl insgesamt vorherrschende Situation des Mittelalters: Viele der gerade literarisch anspruchsvollsten Dialoge verwenden nicht die schlichte Alltagsprosa ungezwungener Konversation, nicht den sermo, den Augustinus zum prosaischen Wesen dieser Gattung erklärt hatte, sondern ein höchst zeremonielles Diskursritual. Sie kommen gelegentlich sogar in Versform oder als kompliziertes Gewebe gelehrter Zitate daher.“ Hinweise auf eine mittelalterliche Gesprächskunst sieht er, Gespräch, S. 212, lediglich in den nach dem parodistischen Vorbild Ovids verfassten artes amandi und Minnelehren, in denen unterschiedliche Strategien der Verführung und Verweigerung dargestellt würden. Ihre Bedeutung für eine Rekonstruktion von Alltagsgesprächen schätzt er jedoch ebenfalls als sehr gering ein. Vgl. hierzu auch Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 14. 66 Schnell, Einleitung, S. 7, definiert Konversation als „ein (kultiviertes) distanziert-höfliches oder auch informell-zwangloses, kurzweiliges (der Erholung dienendes), unverbindliches Gespräch zwischen zwei oder mehreren (sozial gleichgestellten oder aber nicht-gleichgestellten; gleich- oder gegengeschlechtlichen) Personen, in dem (auf sprachlich distinguierte/ sprachlich lässige, heiterfröhliche, geistreich-witzige und dennoch rücksichtsvolle Weise) in spontan-lockerem Sprecherwechsel ganz unterschiedliche belanglose (oder moralisch relevante) Themen in beliebiger Abfolge und oberflächlich angeschnitten (und ohne Rechthaberei sowie ohne Anspruch auf Wahrheitsfin-

Mittelalterliche Dialogliteratur im Kontext von Lehre und Streit

und Spätmittelalter nachzuweisen, das gemeinhin als „eine ‚konversationslose‘ Epoche“ gilt.67 Eine Erfüllung der von ihm zusammengestellten Bedingungen für eine nicht zielgerichtete Gesprächskultur hält er an den geistlichen und weltlichen Höfen des Spätmittelalters zwar für möglich68 , er schließt jedoch darauf, dass den mittelalterlichen Literaten die Leichtigkeit und Unernsthaftigkeit galanter Konversation wohl nicht besonders nahe gelegen habe.69 In der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts – in der die Liebesthematik überwiege, wenn es zu einer literarischen Kommunikation in Dialogform komme70  – werde zwar „gerade vom Mann erwartet, daß er sich beim Reden über Liebe redegewandt (bien parlant)“ zeige, ob aber unter diesem gen parlar eine gesellige, kurzweilige Unterhaltung verstanden werden müsse, wisse man nicht.71 Auch Schnell betont daher den alltagsfernen Charakter literarisch gestalteter Dialoge.72 Matter geht nun allerdings Spuren nach, welche auf eine gesellschaftliche Spielpraxis des Redens über Liebe hinweisen, wobei diese vor allem nach Frankreich

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dung, d. h. ziellos erörtert) werden.“ Die in Klammern gesetzten Teile der Definition versuchen, die historischen Ausprägungen von Konversation zu berücksichtigen. Schnell, Konversation, S. 125. Häufig wird das Mittelalter generell als eine monologische Epoche bezeichnet und der Renaissance als „dialogisches Zeitalter“ gegenübergestellt (vgl. Stierle, Gespräch und Diskurs, S. 306f.). Vgl. hierzu außerdem Wachinger, Convivium fabulosum, S. 259. Von Moos, Gespräch, S. 208, erinnert allerdings daran, dass kaum ein Zeitalter mehr Texte in Dialogform hervorgebracht habe als das Mittelalter. Vgl. auch Kalmbach, Dialog, S. VIIf. Vgl. Schnell, Konversation, S. 123–125. Von Moos, Gespräch, S. 209, fragt in diesem Zusammenhang nach dem Verhältnis von mündlichem Gespräch und geschriebenem Dialog innerhalb einer Epoche: „Unterstützen sie sich gegenseitig, so dass von der literarischen Beliebtheit der Dialogform auf eine parallele Gesprächsrealität zurückgeschlossen werden dürfte? Oder stehen sie vielmehr antagonistisch - kompensatorisch zueinander, so dass hinter dialogischen Texten ein unbefriedigtes Bedürfnis nach realen Gesprächen zu suchen wäre, bzw. zunehmende Konversationspflege und Konvivialität mit einer Austrocknung der Kunstform Dialog einhergingen?“ Das Verhältnis zwischen Gesprächskultur und schriftlich festgehaltenem Dialog ist dabei nur sehr schwer zu bestimmen. Von Moos erklärt, ebd., S. 210, dass trotz der Existenz von Transkriptionen „das parasprachlich Situative“ nicht mitüberliefert worden sei. Vgl. dazu auch Cardelle de Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 13. Vgl. Schnell, Einleitung, S. 10f. – trotzdem und mit Rücksicht auf den Inszenierungscharakter literarischer Texte versucht auch Schnell, ebd., S. 13, diese „auf mögliche Praktiken konversationaler Geselligkeit hin zu analysieren“. „Zahlreiche von der Forschung erwähnte Textstellen mit angeblicher Konversation“ erwiesen sich dabei jedoch als „unergiebig“ (ebd., S. 12). Vgl. dazu auch Guthmüller/Müller, Dialog und Gesprächskultur. Schnell, Konversation, S. 147f. Ebd., S. 148. Weiter erläutert Schnell ebd.: „Die Bedeutung des ‚schönen, gebildeten Redens‘ (gen parlar, biau parler, douz parler, dulcia verba) für das Gespräch zweier Liebenden wird betont.“ Vgl. Schnell, Einleitung, S. 10. Zu mittelalterlichen Dialogen als „dialogisierte Lehrgespräche“ vgl. Friedlein, Geleit auf dem Weg zur Wahrheit, S. 40f.; Cardelle De Hartmann, Lateinische Dialoge, S. 16f.

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führen, wo die Beantwortung kasuistischer Dilemmafragen im Rahmen des jeuparti sowie des Minnehofs einen Ort praktischer Umsetzungen im Spielkontext fand. Reflexe dieser Praxis in deutschsprachigen Regionen, vornehmlich am Mittelrhein, sieht er – auf Basis der von ihm bestätigten Untersuchungen Peters’73  – in einer Kenntnis kasuistischer Spieltraditionen, allerdings nicht in der praktischen Ausübung in Form von Gesellschaftsspielen.74 Gleichwohl meint er – bezogen auf von ihm untersuchte Minnereden – „im starken Interesse am literarischen Werbungsgespräch unter Vernachlässigung erzählerischer Einkleidung ein Interesse am außerliterarischen Werbungsgespräch“ erkennen zu können; die überlieferten literarischen Werbungsgespräche hätten hierfür das benötigte „Argumentationsmaterial“ bereitstellen können.75 Er erwägt daher, dass Werbungsdialoge, wie sie in Minnereden begegnen, „in einem spielerischen Rahmen tatsächlich hätten stattgefunden haben können“76 : „Inwiefern dann die überlieferten literarischen Werbungsgespräche solche im engeren Sinn außerliterarischen Gespräche vorformten beziehungsweise abbildeten“, sei unter diesen Voraussetzungen jedoch kaum zu entscheiden77 und auch insgesamt ließen sich diese Vermutungen nicht nachweisen.78 Bezogen auf die Dialoglieder des Minnesangs weist deren große Kunstfertigkeit sehr deutlich auf eine literaturimmanente Inszenierung spielerischer Wettkampfrede hin. Die rhetorische Raffinesse, mit der es den Dialogfiguren jeweils gelingt, das Reden über Minne neu zu aktualisieren, entfaltet sich hierbei in überlieferungsgeschichtlich überaus stabilen Liedeinheiten. Gerade vor diesem Hintergrund machen die Texte ihre Integration in etwaige Formen einer mittelalterlichen Gesprächsoder durch Interaktion geprägten praktischen Spielkultur – welche sich als solche überhaupt nur sehr schwer nachweisen lässt – eher unwahrscheinlich. Die Gestaltung der Texte als äußerst diffizil konzipierte Kunstwerke hat daher eine stärkere Berücksichtigung verdient und erfährt zurecht in der jüngeren Forschungsdiskussion eine erneut sehr deutliche Betonung, wobei es sich jedoch nicht um eine bloße Rückbesinnung auf eher strukturalistisch orientierte Forschungsansätze handelt, sondern vielmehr den Versuch, die sprachliche Diffizilität der Aussage- und Anspielungstechniken in Bezug zu inhaltlichen Bedeutungskomponenten der Lieder

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Vgl. Peters, Cour d’amour, S. 125–133. Vgl. Matter, Minne, S. 82–84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Ebd., S. 84. Der alltagsferne Charakter literarisch inszenierter Dialoge legt zudem erneut Parallelen zur an die Schrift gebundenen lateinischen Literatur und insbesondere zu der aus gelehrtem Milieu stammenden Dialogliteratur nahe.

Das Dialoglied im Minnesang

zu setzen. Wie sich das Dialoglied in diese Entwicklung der Forschung einordnen lässt, versuchen die folgenden Ausführungen herauszustellen.

1.3

Das Dialoglied im Minnesang

Kasten spricht in Bezug auf die deutsche Lyrik des Mittelalters insgesamt von einer zunächst „ausgesprochen monologischen Struktur“, da auch die übrigen ‚Gattungen‘ des ‚genre objectif ‘, das Tagelied und die Pastourelle, bis in den hohen Minnesang hinein kaum in Erscheinung träten.79 Während Des Minnesangs Frühling neben Albrechts von Johansdorf Ich vant sie âne huote fast nur kürzere dialogische Passagen zwischen Werber und Dame als Teil eines narrativen Ich-Berichts kennt und sich im Walther-Œuvre drei Beispiele des Texttyps finden80 , sind die übrigen Dialoglieder dem 13. Jahrhundert und somit der Spätphase des Minnesangs zuzuordnen (die Walther-Lieder können natürlich auch zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstanden sein).81 Hierbei lassen sich jedoch kaum einheitliche phasentypische Besonderheiten bzw. Entwicklungstendenzen erkennen. In den späteren Beispielen des Texttyps ist zwar einerseits eine Tendenz hin zu einer zunehmenden Nutzung der Natur-

79 Kasten, Dialoglied, S. 81. Der in der Forschung immer wieder verwendete Begriff des genre objectif fasst die erzählenden Texttypen zusammen, welcher auch in der hier vorgelegten Arbeit als zusammenfassender Terminus für Lieder gebraucht wird, in denen mehr als ein (deutlich markiertes) Text-Ich begegnet. Während das Tagelied eine erfüllte Liebe aus der Distanz eines Er-Erzählers präsentiert und hierbei Mann und Frau oftmals dialogisch miteinander kommunizieren lässt, kennzeichnet eine Vielzahl der okzitanischen und altfranzösischen Pastourellen etwa ein Werbungsdialog zwischen Mann und Frau als Teil eines Ich-Berichts. Dass auch im so genannten genre subjectif das Text-Ich durch eine Rollenhaftigkeit gekennzeichnet ist und auch ohne deutliche Markierung mehrere Rollen zu Worte kommen können (Minnender, Singender etc.), steht hier nicht zur Diskussion. Zur Verwendung der von Alfred Jeanroy (1889) eingeführten Begriffe in der germanistischen Forschung vgl. Eder, Natureingang, S. 201ff.; vgl. ferner Bleumer/Emmelius, Generische Transgressionen, S. 7, die auf eine ‚Vermischung‘ der beiden genres verweisen. Rieger, Norm und Störung, S. 106, macht darauf aufmerksam, dass die Begriffe ein Stück weit missverständlich sind: „Die sogenannten genres subjectifs sind bei näherem Hinsehen ebenso wenig subjektive wie die genres objectifs objektive Dichtung, handelt es sich doch auch bei den genres subjectifs um ‚une poésie presque totalement objective, c’est-à-dire dont le sujet, la subjectivité qui jadis s’investit dans le texte, s’est pour nous abolie‘, und bei den genres objectifs in der Regel um Lieder aus dem Mund eines je […]“ (Rieger zitiert hier Zumthor). 80 Walthers ‚Dialog-Wechsel‘-Lied Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche ist allerdings nicht eindeutig zuzuordnen (Kap. 3.2.1.1). 81 Die dialogischen Passagen des Kürenbergers werden hier (zunächst) ausgeklammert. Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 177, Anm. 7, nennt die in Frage kommenden Texte, welche auch in der hier vorgelegten Arbeit behandelt werden. Darüber hinaus verweist sie auf Lieder Oswalds von Wolkenstein und Eberhards von Cersne aus dem 14. und 15. Jahrhundert.

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topik sowie zu eher narrativ angelegten Sprechmodi zu erkennen82 , doch ist es nicht möglich, von einer kontinuierlichen Entwicklung zu sprechen, wie die – für den Minnesang insgesamt typischen – Schwierigkeiten der literarhistorischen Verortung einzelner Texte deutlich machen.83 Auch generelle Bedenken gegen eine Periodisierung des Minnesangs kommen in Bezug auf die Lyrik des 13. Jahrhunderts gesondert zum Tragen, handelt es sich doch um einen verhältnismäßig langen Zeitraum, den es zu überblicken gilt.84 Kritisiert wird in diesem Zusammenhang darüber hinaus die immer wieder behauptete deutliche Grenzziehung zwischen

82 Andere Beispiele des Texttyps ‚Dialoglied‘ – ohne hierbei von eindeutigen Entwicklungstendenzen in eine bestimmte Richtung sprechen zu können – kommen dagegen entweder ganz ohne narrative Einkleidung aus (vgl. Walther von der Vogelweide, Ulrich von Singenberg, Ulrich von Liechtenstein) oder verweisen lediglich recht knapp mit einer inquit-Formel auf die Figurenrede (vgl. Kürenberger, 5C). Gesondert stechen hierbei noch einmal die so genannten Gesprächslieder Hadlaubs hervor. 83 Beispielsweise veranschaulicht dies das unten, Kap. 3.1.2, besprochene Lied Walthers von Mezze, welches ebenfalls mit Naturtopoi operiert und dessen Zuordnung zu den namenlosen Liedern in Des Minnesangs Frühling (zurecht) äußerst umstritten ist. 84 Teilweise wird hierbei eine Unterteilung in zwei Phasen vorgenommen, deren erste man im Anschluss an die Dichtung Walthers von der Vogelweide beginnen und bis etwa in die Mitte des Jahrhunderts reichen lässt. So nimmt der von Volker Mertens und Anton Touber herausgegebene Band, GLMF III, folgende Einteilung vor: „Der deutsche Minnesang von 1230 bis 1250“, „Der deutsche Minnesang nach 1250“. Vgl. auch Schweikle, Minnesang2 , S. 91, der Neidhart eine eigene Phase – die „erste Spätphase“ von ca. 1210–1240 – zuspricht und die übrigen Autoren aus den Kraus’schen Liederdichtern und den Schweizer Minnesängern einer „2. Spätphase“ von 1210–1300 zuordnet: „Diese zeitlich und räumlich umfangreichste Phase läßt sich nicht wie die früheren nach klaren Entwicklungsstufen gliedern. Aus der Fülle der Autoren (über 90 Namen), denen meist nicht mehr als 1–5 Lieder zugeordnet sind, ragen nur einige durch die Zahl ihrer Lieder und durch spezifische Charakteristika heraus“ (ebd., S. 94). Aufgrund der Unübersichtlichkeit des Corpus ordnet Schweikle hier nach räumlichen Gesichtspunkten. Diskutiert wird zudem die direkte bzw. indirekte Abhängigkeit des Minnesangs im 13. Jahrhundert von der romanischen Lyriktradition. Touber, Minnesang IV, S. 231 (unter Bezug auf Bumke), sieht eine zunehmende Loslösung von französischen Vorbildern im 13. Jahrhundert, , verweist jedoch auch auf die generelle Schwierigkeit einer genaueren Rückführung bestimmter Motive in Liedern des 13. Jahrhunderts auf ihre Vorbilder, da mit der zunehmenden Verbreitung der deutschsprachigen Minnelyrik eben auch diese in der Spätphase des Minnesangs als Vorlage gedient haben kann (vgl. ebd., S. 232–234). Vgl. auch Unlandt, Minnesang V, S. 253: „Nach gängiger Meinung steht die Lyrik der nachwaltherschen Zeit in der in früheren Perioden von der Romania beeinflussten deutschen Tradition.“ Gleichwohl unterstellt er ebd., S. 254, „die Möglichkeit – und in einigen Fällen die Wahrscheinlichkeit – des romanischen Einflusses im deutschen Minnesang der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Es wird sich dabei vor allem um Einflüsse im Bereich der Textinhalte, gelegentlich aber auch um formal-technische Parallelen zwischen Minnesang und romanischer Dichtung handeln.“ Vgl. ebenso die Einteilung bei Eder, Natureingang, S. 35, der eine übersichtliche Strukturierung vornimmt, ohne hierbei durch eine zu feingliedrige Phasierung den Blick auf das Wesentliche zu verstellen: „Dreischritt aus relativer deutscher Eigenständigkeit (I), enger Anlehnung an die Romania (II) und freierer Interferenzlage sowie gesteigerter Eigenständigkeit (III)“.

Das Dialoglied im Minnesang

12. und 13. Jahrhundert und eine mit dem 13. Jahrhundert angeblich anbrechende Phase bloßer epigonaler Formkunst.85 Diese Beobachtungen werden durch das

85 Die Grundannahme eines deutlichen Neuansatzes im Anschluss an bzw. mit der Dichtung Walthers von der Vogelweide stellt vor allem Hugo Kuhns Arbeit mit dem programmatischen Titel „Minnesangs Wende“ heraus, welche er vornehmlich als eine „Stil- und Qualitätswende“ ansieht (Minnesangs Wende, S. 191); die Dichtung Walthers von der Vogelweide rechnet Kuhn nicht mehr zu der durch die von ihm behauptete Wende eingeleiteten Phase. Vgl. hierzu u. a. auch Schweikle, Minnesang2 , S. 89, der in Walther den Vertreter einer vierten Phase sieht, die er mit „Höhepunkt und Überwindung“ überschreibt, sowie die Periodisierung bei Unlandt, Minnesang V, S. 253, der einer dritten Phase die Lyrik der „‚fünf Großen‘“ subsumiert: Albrecht von Johansdorf, Heinrich von Morungen, Hartmann von Aue, Reinmar von Hagenau, Walther von der Vogelweide. Eine Diskussion der Ausführungen Kuhns findet sich bei Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 7f. – u. a. fasst er die Position Kuhns ebd. wie folgt zusammen: „Das Interesse der Dichter richtete sich auf die kunstvolle Gestaltung des feststehenden Inhalts.“ Hiervon distanziert sich Hübner sehr deutlich und geht dabei vor allem auf die Begriffe ‚Formalismus‘ und ‚Objektivierung‘ ein (er verweist ebd., S. 8 auch auf die umfangreichen, den Ansatz Kuhns weiterverfolgenden Forschungsarbeiten unter Nennung der entsprechenden Titel). Unter O bj ekt iv i er u ng versteht Kuhn „ein vom Erringen der Inhalte abgerücktes, ein ausgesprochen formales, d. h. auf Methoden, Kombinationen und formtechnischen Schmuck gerichtetes Interesse der Künstler“ des 13. Jahrhunderts (Minnesangs Wende, S. 144f.). Die Voraussetzung dieser Überlegungen stellt die Annahme einer den Minnesang der hochhöfischen Phase prägenden inhaltlichen „Auseinandersetzung um die richtige Vorstellung von Minne und Minnesang“ dar (Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 7). Kuhn, Minnesangs Wende, S. 145, spricht in Bezug auf diese Phase von einem „persönlich-ethischen Minnedienst der Meister“ im Sinne einer ‚subjektiven‘ Annäherung an die – definitorisch noch nicht vollständig erschlossene – ‚höfische Liebe‘ in einzelnen Liedern bzw. Liedcorpora. Diese Auseinandersetzung sei jedoch im 13. Jahrhundert beendet, was zu einer Veränderung der inhaltlichen Ausrichtung des Minnesangs führe – bedingt durch das Fehlen der Diskussion um ein angemessenes Verständnis von Minne und Minnesang (die Frage, was unter minne zu verstehen ist, sei nicht mehr zentral: nicht definiertes minne-Verständnis versus klar definiertes minne-Verständnis), während gleichzeitig formale Gestaltungstechniken die Ausrichtung der Lyrik dominierten. Kuhn, Minnesangs Wende, S. 145f., versucht diese Entwicklung mit dem Begriff des For ma l is mus zu erfassen und sieht, ebd., S. 194, in einer solchen Entwicklung einerseits einen Qualitätsverlust, wobei es dann jedoch ebd., S. 195, heißt: „Dem Qualitätsverlust an personalem Engagement steht gegenüber die immer erneute Strahlungs- und Verwandlungskraft der Minne gerade unter den neuen Bedingungen des Spätmittelalters.“ Diesem Ansatz Kuhns widerspricht Hübner sehr deutlich, der von einer „ziemlich feste[n] Gestalt“ des aus der Romania stammenden ‚Liebeskonzepts‘ bereits seit etwa 1170 spricht, welches „im Verlauf der Gattungsgeschichte zwar mit unterschiedlichen Akzentuierungen entfaltet“ worden sei, „aber für alle Dichter eine – in Kuhns Sinn – ‚objektive Vorgabe‘“ dargestellt habe (vgl. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 9, sowie darüber hinaus Eder, Natureingang, S. 26, Anm. 39). Ob das Liebeskonzept romanischer Prägung tatsächlich eine solch feste Gestalt hat, lässt sich diskutieren, entscheidend ist jedoch an Hübners Ansatz, dass im Minnesang stets die inhaltliche u nd formale Gestaltung von Bedeutung sei (Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 9: „Seine Exklusivität beruhte nie allein auf den höfischen Idealen, die er thematisierte, sondern zugleich immer auf der kunstvollen Weise, in der das geschah. Inhalt und Form gegeneinander auszuspielen, ist aus diesem Grund mit der historischen Eigenart des Minnesangs schwer vereinbar.“) Dabei betont er – unabhängig von der Frage, wie sehr ein Konzept ‚hoher Minne‘ ausgestaltet

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sein mag – die Bedeutung des inhaltlichen Gehalts der Texte gerade auch in solchen Liedern, die von der Forschung oftmals als Beispiele für formal-artistische Kunstfertigkeit angeführt werden, und sei es etwa in Form einer bekräftigenden Emphase in den Liedern Gottfrieds von Neifen (vgl. ebd., S. 73–83). Hübner verweist ebd., S. 81, auf den „massive[n] Gebrauch rhetorischer Mittel zur Erzeugung von Emphase (Nachdruck), die einem spezifischen Gegenstand gilt.“ Weder im Hinblick auf inhaltliche noch formale Gestaltungstechniken lässt sich folglich behaupten, dass im Verlauf der Minnesang-‚Geschichte‘ bestimmte Texttypen einander abgelöst hätten. Hübner kritisiert daher insbesondere die Grenzziehung zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert, die Kuhn „unverändert aus der alten Unterscheidung zwischen ‚Klassikern‘ und ‚Epigonen‘“ übernommen habe (Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 9). Dagegen betont Hübner, ebd., S. 10 u. 12, die Kontinuität zwischen beiden Jahrhunderten sowie ebd., S. 10, dass Formartistik generell im Minnesang – auch im frühen – von Bedeutung sei: „Die These vom überall gleichermaßen wirkenden ‚Formalismus‘ steht der Erkenntnis im Weg, dass einzelne Dichter unterschiedliche poetische Verfahrensweisen zu verschiedenartigen Zwecken einsetzen.“ Neben dem Aspekt einer nicht klar zu fassenden Entwicklungs-‚Geschichte‘ des hier behandelten Texttyps geben auch weitere Annahmen der von Kuhn propagierten sog. Wende Anlass, diese zu hinterfragen. So kritisiert bereits Hübner die von diesem herausgestellte Entwicklung hin zu einer zunehmenden Konkretisierung und Lehrhaftigkeit des Minnesangs im 13. Jahrhundert. Kuhn, Minnesangs Wende, S. 157, spricht von einer „Notwendigkeit, diesem Erbe [d. h. dem Erbe des ‚klassischen Minnesangs‘, Ergänz. S.R.] neue, realere Substruktionen zu geben“, vgl. außerdem ebd., S. 155f. Der Begriff der ‚Konkretisierung‘ wird explizit von Glier, Konkretisierung, S. 151, verwendet: „Unter dem Stichwort ‚Konkretisierung‘ beschäftigen mich hingegen schon seit längerem anders gelagerte Fragen: sie betreffen unter anderem die Gestaltung von Rollen, Situationen und Begriffen sowie die Tendenz zum genre objectif im Minnesang des 13. Jahrhunderts.“ (Hervorhebung durch Glier). Glier setzt jedoch einen anderen Schwerpunkt, indem sie „Probleme der Sprache und der Form weitgehend“ ausspart (ebd.). In Bezug auf Walther von der Vogelweide spricht sie beispielsweise ebd., S. 153, von ‚Konkretisierung‘ vor allem auf einer „begrifflich definitorischen Ebene“, in Bezug auf Neidhart ebd., S. 153, davon, dass dieser „traditionelle Rollen und Situationen des Minneliedes herausfordernd konkretisiert“. Zum Aspekt der Lehrhaftigkeit vgl. Kuhn, Minnesangs Wende, S. 192–196, sowie erneut Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 8. Gerade der Hinweis auf eine zunehmende Tendenz hin zur Konkretisierung ist in der nachfolgenden Forschung auf fruchtbaren Boden gestoßen, so etwa bei Glier (s. oben). In diesem Zusammenhang ist erneut auf Hübners Problematisierung einer klar definierten Phasierung des Minnesangs zu verweisen, wie er am Beispiel des Aspekts der Lehrhaftigkeit deutlich macht (ders., Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 10). Hübner setzt sich darüber hinaus auch mit weiteren Untersuchungen zur Lyrik des 13. Jahrhunderts kritisch auseinander – u. a. mit Worstbrocks Ansatz (ders., Lied VI des Wilden Alexander, vgl. bes. S. 129–136) zu einer Auflösung des Ichs in den Liedern des 13. Jahrhunderts sowie mit Müllers und Strohschneiders Thesen im Kontext des Minnesangs als „Ritual“ im 12. Jahrhundert (Strohschneider, Tanzen und Singen, bes. S. 214f., 227–231), wohingegen im 13. Jahrhundert vermehrt narrativ erzählte Lieder des genre objectif begegneten, „in denen die generalisierte Situation höfischer Werbung, wie sie der hohe Minnesang unterstellt, spezifiziert (nicht individualisiert) ist“ (Müller, Ritual, S. 201). Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 11, hält jedoch diese Ansätze ebenfalls für zu einseitig. Er betont dabei ebd., S. 11f., die Intellektualität der Texte insgesamt, welche durch die These „ritualähnliche[r] Wiederholungspraktiken“ (S. 12) nicht angemessen erfasst werde. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis bei Eder, Natureingang, S. 204, der deutlich macht, dass der Aspekt der Konkretisierung nicht ausreicht, um eine scharfe Grenzziehung zwischen 12.

Das Dialoglied im Minnesang

Corpus der Dialoglieder bestätigt: Es zeichnen sich hierbei zwar bestimmte Gruppierungen ab, die jedoch weniger durch bestimmte ‚phasentypische‘ Vorlieben als vielmehr durch die Texttypologie und eine jeweilige Autorenspezifik bedingt zu sein scheinen. Darüber hinaus begegnen Probleme bei einer genaueren Definition und Abgrenzung des Texttyps. Auf formaler Ebene lässt sich etwa unterscheiden zwischen einer stichomythischen Dialoggestaltung, einer Verteilung der Redeanteile auf ganze Strophen, einer unsymmetrischen Verteilung von Redepartien als Teil eines narrativ präsentierten Ich-Berichts. Ranawake verfolgt im deutschen Minnesang „die Entwicklung eines Typs Werbegespräch“86 und sieht eine Verwandtschaft mit einer „Untergattung der okzitanischen Tenzone“, dem Lehrgespräch (conselh), „ein Typ, der dem Anliegen, höfisches Verhalten zu demonstrieren und zu diskutieren, besonders entgegenkam.“87 Trotz der im Vergleich zu anderen Texttypen geringen Anzahl erhaltener Dialoglieder sowie der deutlichen Unterschiede in der jeweiligen Textkonzeption geht sie dennoch von einer mehr oder weniger klar umrissenen Rolle des Dialoglieds im mittelalterlichen Gattungsbewusstsein aus, indem sie die Gemeinsamkeiten zwischen den vorliegenden Texten betont88 , auch wenn eine genauere Bestimmung des Texttyps sowie vor allem die Abgrenzung gegenüber anderen Texttypen – vor allem gegenüber dem Wechsel – bisweilen schwerfällt.89

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und 13. Jahrhundert vorzunehmen: „Denn auch die Gattung der Minnekanzone kennt […] die poetische Technik der partiellen Konkretisierung der sonst für diesen Texttyp so charakteristischen Leerstellen“. Im Hinblick auf das Dialoglied ist in diesem Zusammenhang zu konstatieren, dass dieses aufgrund der Äußerung eines weiblichen Text-Ichs generell stärker konkretisiert als das einstimmige Werbungslied. Diese Art der Konkretisierung scheint jedoch ebenfalls dem Liedtypus und nicht literarhistorischen Entwicklungen geschuldet, zumal es bereits für den Minnesang des 12. Jahrhunderts Beispiele für die dialogische Kommunikation zwischen Mann und Frau gibt. Hieraus auf eine zunehmende Konkretisierung der im Werbungslied dargestellten Situation des Text-Ichs zu schließen, erlaubt sich jedoch kaum. Das Sprechen des Mannes dominiert fast durchgehend das Register des Werbungslieds und die Kommunikation zwischen Mann und Frau läuft eher aneinander vorbei, als dass es beispielsweise zu einer erhellenden Klärung der werbungsliedtypischen liebe-leit-Situation käme; Leerstellen begegnen hier ebenso wie im Werbungslied. Zum Aspekt der Belehrung vgl. unten Abschnitt 3 der Einleitung. Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 187. Ebd. Vgl. hierzu auch Rieger, Trobairitz, S. 437–454. Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 178: „Die erwähnte Gruppe der deutschen Werbegespräche weist zudem in der Tat durchwegs konstante Elemente in Bezug auf Situation, Personal, Sprechhandlung und Sprechform auf, Kategorien, die auch für andere Liedtypen des genre objectif  – Tagelied und Pastourelle – als gattungskonstituierend gelten. Sänger und Dame, herre und frouwe, begegnen sich im höfischen Kontext zu einem Gespräch unter vier Augen, in einer semi-privaten Sphäre also, die es dem Mann erlaubt, seine Werbung an die Frau zu bringen.“ Köhler, Wechsel, S. 61f., definiert den Wechsel wie folgt: „Ein Wechsel ist ein kohärenter lyrischer Text, dessen strukturelle Merkmale die strophische Aufteilung von Männer- und Frauenrollen (Perspektivierung) und das monologische Verhältnis der ihnen zugeordneten Äußerungen (Monologizität) sind. Seine Funktion ist die unmittelbare, geschlechtsspezifisch differenzierte Gegenüber-

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Dem Wechsel fehle „das den Dialog kennzeichnende Moment der unmittelbaren Konfrontation; die Redenden sprechen nicht zu- und miteinander, sondern – in der dritten Person – übereinander“, heißt es bei Kasten.90 Ein Streitpunkt ist hier vor allem die Frage, ob die direkte Anrede an den Partner ausschließlich im Dialoglied auftreten könne: „Daß aber diese Trennung von vorgestellter und tatsächlicher Präsenz bei einem lyrisch-poetischen Gebilde nicht immer eindeutig vorgenommen werden kann, versteht sich. Mit Übergängen von Dialog und Wechsel ist also zu rechnen“91 . Dementsprechend sieht Schnell anhand der mittelalterlichen Überlieferung die Problematik einer zu starren Festlegung der Gattungsgrenzen, da es ohnehin zwischen den (männlichen) Anfangsstrophen eines Wechsels und den ersten Strophen eines Mannesliedes keine signifikanten Unterschiede gebe.92 Auch Münkler verdeutlicht in dem von ihr herausgegebenen Sammelband das prinzipielle Problem einer Gattungsdefinition des Dialogliedes im Minnesang. Es bestehe darin, dass einerseits „Dialoglied“ als Gattungsbegriff für Minnelieder verwendet werde, „dialogisches Lied“ andererseits aber auch als strukturelle Beschreibung eines Liedes mit mehr als einer Stimme diene (Botenlied, Tagelied, Pastourelle, Wechsel).93 Im Hinblick auf die Werbungsgespräche des Minnesangs differenziert Münkler zunächst formal zwischen strophischen, stichomythischen und asymmetrischen Dialogen einerseits und unterschiedlichen inhaltlichen Modi andererseits, indem sie eine Klassifizierung nach Lehr-, Aushandlungs- und Streitgespräch vornimmt.94 Gleichwohl handelt es sich hierbei jeweils um Gespräche, in denen ein Mann um eine Frau wirbt und welche sowohl in narrativ präsentierter Form als auch ohne erzählerische Einkleidung begegnen können. Auf diesen Typus des stets – im Gegensatz zu Wechsel und Tagelied – konflikthaft verlaufenden Werbungsgesprächs beschränkt sich die hier vorgelegte Untersuchung.95

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stellung von Gefühlen und/oder Auffassungen der jeweiligen Rollensprecher.“ Vgl. dazu Schnell, Frauenlied, S. 130f., sowie Boll, Alsô redete; Kerth, Jô enwas; Angermann, Wechsel; Scholz, Zu Stil und Typologie; Eikelmann, Dialogische Poetik, S. 85–106. Kasten, Dialoglied, S. 81. Schnell, Frauenlied, S. 129. Vgl. erneut Walthers Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche (Kap. 3.2.1.1). Vgl. Schnell, Frauenlied, S. 141. Zur Frage der Gattung mittelalterlicher Liebeslyrik und zur Problematik des Begriffs vgl. u. a. ebd., S. 129–133; Schlieben-Lange, Das Gattungssystem der altokzitanischen Lyrik. Münkler, Vorwort, S. 13. Vgl. hierzu auch Boll, Alsô redete, S. 292, Anm. 25. Münkler, Vorwort, S. 12. Bei einer Ausweitung der Textauswahl – über den Minnesang hinaus – stoßen diese Klassifizierungen jedoch schnell an ihre Grenzen, da in anderen Textsorten die Arten des Dialogs sehr viel breiter gefächert sind (s. oben Kap. 1.2). Überschneidungen mit dem Wechsel werden nur beispielhaft in den Fällen berücksichtigt, in denen einzelne Liedstrophen sich mit einer direkten Du-Rede an ein Gegenüber wenden (Walther L 70,22, vgl. Kap. 3.2.1.1). Zudem schließt die Untersuchung Pastourellendialoge mit ein, da sich hier ebenfalls ein Mann direkt werbend an eine Frauenfigur wendet und die Pastourelle – gerade auch aufgrund der Konflikthaftigkeit der dargestellten Dialoge – einen wesentlichen Konnotations-

Das Dialoglied im Minnesang

Trotz zahlreicher Verweise auf unterschiedliche Texttypen des Minnesangs bildet das Werbungslied den übergeordneten Bezugsrahmen aller hier behandelten Lieder.96 Das für dieses spezifische Modell des um eine herausgehobene und nur schemenhaft zu erkennende Minnedame werbenden Mannes wird in den Dialogliedern jedoch bereits dadurch irritativ gebrochen, dass ein weibliches Text-Ich explizit zu Wort kommt, da somit die für den Werbungslied-Diskurs spezifische Distanz zwischen Mann und Frau grundlegend gestört wird und eine signifikante Abweichung von dem Frauentypus des Werbungslieds vorliegt. Inhaltlich fülle das Dialoglied – gemäß Münkler – eine Lücke zwischen dem Werbe- und Klagelied, die in den Klageliedern evoziert werde: „die Zurückweisung durch die Dame“97 . Entscheidend ist hierbei jedoch, dass sich an der Grundsituation – der unerhörten Werbungssituation eines männlichen Text-Ichs – auch in den Dialogliedern nichts zu ändern scheint. Die Äußerung eines weiblichen Text-Ichs als Reaktion auf die Werbungsrede des Mannes nimmt die Forschung jedoch zum Anlass, sich mit der Frage zu beschäftigen, warum sich die Frau des Dialogs so ablehnend verhält – im Gegensatz zu Wechsel, Tagelied und Frauenlied – und welche Rückschlüsse sich

hintergrund zahlreicher Werbungsgespräche bildet (s. Kap. 3.3). Im Wechsel wird zwar bisweilen ebenfalls ein Konflikt zwischen Mann und Frau dargestellt, doch resultiert dieser oftmals aus einem Missverständnis im Sinne eines Aneinander-Vorbeiredens. Vgl. hierzu insgesamt Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 179f., welche ebd. auch auf die Analogien zum sog. Botenlied verweist. Dennoch bleibt Letzteres in der hier vorliegenden Arbeit unberücksichtigt, die den Blick vornehmlich auf die direkte – literarisch inszenierte – Interaktion zwischen Werbendem und Umworbener richtet, für deren Darstellung das Dialoglied trotz gelegentlicher Überschneidungen mit dem Botenlied – wie auch mit dem Wechsel – einen sehr eigenständigen Texttyp bildet. Ebenso unberücksichtigt bleibt Walters von Mezze, KLD 62, Lied VII: Ich habe ein herze daz mir sol, das zwar – neben den vier monologischen Männerstrophen – auch eine dialogische Frauenstrophe enthält, wobei aber der Charakter des Lieds als eines Werbungsgesprächs nur schwach ausgeprägt ist. Solche ‚Grenzfälle‘ im Hinblick auf die Zuordnung zum Dialoglied finden dennoch beispielhaft Berücksichtigung mit Hugs von Werbenwag Wol mich hiute und iemer mêre (s. Kap. 3.2.5), Walthers Dialog-WechselKombination (s. Kap. 3.2.1.1) sowie den ausgewählten Stücken aus Des Minnesangs Frühling (s. Kap. 3.1). 96 Vgl. hierzu vor allem Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 179: „Auch aus Sichtung der Gattungskonstanten ergibt sich, daß unsere Dialoge, was Situation, Personal und Thematik angeht, zum einen eng auf das monologische Werbelied bezogen bleiben. Das wird besonders deutlich, wenn, wie in Winterstettens zweitem Lied, die ersten Strophen eine klassische Minnekanzone darzustellen scheinen, um dann in ein Werbegespräch zu münden. Andere Minnelieder lassen erst in der Schlussstrophe die Dame zu Wort kommen und suggerieren dadurch rückblickend für das ganze Lied eine Gesprächssituation: Es entsteht eine Mischform Werbemonolog-Dialog.“ 97 Münkler, Vorwort, S. 13. Kasten, Dialoglied, S. 93, warnt jedoch vor einer Pauschalisierung. „Konkretisationen des klassischen Werbelieds in Form von Dialogen“ seien „nur vereinzelt nachweisbar“. Die so genannten „Gespielinnendialoge“ zwischen zwei Frauen oder die Werbedialoge bei Neidhart gehörten „inhaltlich und sprachlich in ein anderes Register“. Eine „feste Gattungstradition“ hätten sie „im Minnesang indessen nicht begründet“.

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hieraus auf die dargestellte Mann-Frau-Beziehung ziehen lassen. Boll bestätigt in ihrer Untersuchung die bereits von Kasten vorgebrachte These, dass die Frauenrede im frühen und ‚klassischen‘ Minnesang einer „Konturierung der Männerrolle“ diene. Gerade durch die ablehnende Haltung der präsentierten Frauenfiguren werde an der „Konstituierung einer Männerrolle gearbeitet […], deren Grundkonstanten Verstand und Vernunft“ bildeten.98 Das in den Männerliedern weitgehend abstrakt formulierte Liebesprogramm werde konkretisiert und gestützt.99 Schnell betrachtet – gerade im Vergleich mit dem Wechsel – gesellschaftliche Vorgaben als Ursache des weiblichen Widerstandes im Dialoglied: „Sie [die Frauen] haben in der Öffentlichkeit Zurückhaltung gegenüber den Avancen von Männern zu üben. Deshalb spielen sie dort eine Rolle, die ihren inneren Gefühlen wohl widerspricht.“100 Er erklärt seine Position durch die unterschiedlichen Raumverhältnisse in den einzelnen Liedtypen: Während sich die im Wechsel und Frauenlied begegnenden Frauenfiguren in einem privaten Raum befänden, sei die direkte Konfrontation zwischen Mann und Frau im Dialog als öffentlich vorzustellen.101 Die „(zunächst) […] abweisende Haltung“ der Frau entspreche „ja gerade der von ihr in der Öffentlichkeit erwarteten Norm von passivem und schamhaftem Verhalten.“102 Das „weibliche Verhalten (Reagieren, Passivität, Zurückhaltung) in den Frauenstrophen“ sei daher „‚gender‘bedingt“.103 Wenn nun aber – wie Schnell feststellt – die poetischen Freiheiten bei der Gestaltung des Verhaltens in der Liebe „‚gender‘bedingt“ und dadurch begrenzt sind, verdient die Art und Weise des „Sprechens über die Liebe“ eine stärkere Berücksichtigung. Die Frage nach dem ‚Warum‘ des Gegeneinanders ist demzufolge zu vernachlässigen, im Zentrum sollte vielmehr die Frage nach dem ‚Wie‘ – also nach der Darstellungsweise der Auseinandersetzung – stehen, zumal im Streitgespräch die Konflikthaftigkeit des dialogischen Austauschs – und im

98 Boll, Vrowe, nû verredent iuch niht, S. 76. 99 Vgl. Boll, Alsô redete, S. 512 (mit Bezug auf Kasten) u. S. 502: „Die mittels der Frauenrede evozierten, teils diffus scheinenden Weiblich-keitsmuster verweisen ihrerseits wiederum auf dahinterstehende Konzepte von Männlichkeit“. „Maßgebliche männliche Eigenschaften“ (‚ratio‘ und ‚potestas‘) würden „mittels der Frauenrede in ihrer Bedeutung positiv sanktioniert“ (ebd., S. 510). Vgl. außerdem dies., Vrowe, nû verredent iuch niht, S. 68. 100 Schnell, Frauenlied, S. 160. 101 Ebd. 102 Ebd., S. 175. 103 Ebd., S. 176: „‚Gender‘bedingt ist das weibliche Verhalten (Reagieren, Passivität, Zurückhaltung) in den Frauenstrophen; ‚gender‘bedingt ist auch die Urs a che des weiblichen Sprechens (Frau hat im privaten Raum zu sprechen), nicht hingegen das R esu lt at dieser Ursache (nämlich die durch den privaten Sprechraum ermöglichte Redeweise). Als frauenspezifisch mag somit das Liebesverhalten gelten, nicht jedoch das Sprechen über die Liebe. […] Ich denke, diese beiden Phänomene gilt es voneinander abzugrenzen: Das (unterschiedliche) Sprechen über die Liebe und das (unterschiedliche) Verhalten in der Liebe, zumindest soweit es uns literarisch vermittelt wird.“

Das Dialoglied im Minnesang

Falle des Werbungsgesprächs die Zurückweisung durch die Dame – von vornherein festgelegt ist. In jüngeren Arbeiten zum Dialoglied rückt denn auch vermehrt deren poetisch-technische Gestaltung ins Zentrum. Von besonderem Interesse ist daher bei einer Betrachtung des Dialoglieds, wie die dargestellte Frauenfigur in der direkten Konfrontation mit dem Mann ihre Ablehnung – inhaltlich und sprachlich – zum Ausdruck bringt und wie der Mann ebenso mit der direkten Rückmeldung auf sein im Werbungslied unbeantwortetes Sprechen reagiert.104 Hierfür zeichnen sich mehrere Möglichkeiten ab: (a) Die Frau versucht, der ihr innerhalb des Werbungslied-Diskurses zugewiesenen Rolle möglichst treu zu bleiben, indem sie sich möglichst distanziert und zurückhaltend äußert (ansatzweise komplementär). (b) Durch eine irritierte Haltung macht sie eine Verletzung der Diskursregeln deutlich und weist den Mann zurück (Irritation ausdrückende Sprechmodi und Aussageformen); die Art und Weise der Zurückweisung unterscheidet sich jedoch (höfisch-zurückhaltend vs. direkt). (c) Sie missversteht die Äußerungen des Mannes und/oder wechselt auf eine andere Sprechebene. Die Effekte die hierdurch erzielt werden entbehren oftmals nicht einer gewissen Komik.105 Hübner beobachtet in diesem Sinne sowohl ein „Spiel mit der argumentativ funktionalisierten Minnedidaxe als auch dasjenige mit der eigentlich genommenen Minnemetaphorik“106 . Inhaltlich fänden sich dabei die für die Frauenstrophen des Minnesangs typischen Themen, die hier dazu dienten, das Begehren des Werbers abzulehnen.107 Gerade durch solche Beobachtungen erweist sich das Sprechen im Dialoglied vor allem als eine Auseinandersetzung mit den Sprechweisen im Werbungslied insgesamt. Dieser metapoetische Blick – unter besonderer Berücksichtigung rhetorisch-formaler

104 Zudem stellt sich die Frage, ob der Genderdiskurs überhaupt eröffnet werden muss, um die Zurückweisung des Mannes durch die Dame zu erklären. Für den Texttyp ist – gerade auch vor dem Hintergrund der romanisch-lateinischen Streitgedichttradition – der Aspekt der Auseinandersetzung wesentlich, der auch die Dialoge geschlechtsgleicher Figuren kennzeichnet. 105 Bei Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 179, heißt es etwa hierzu: „Der Witz der Minnedialoge bestand gewiß zum Teil darin, daß die Zuhörer auf den Ausgang des Gesprächs warteten, der nicht von vornherein festgelegt war, und daß der Korb, den die Dame ihrem Galan meist verpaßte, jeweils Heiterkeit auslöste.“ In Bezug auf Albrechts von Johansdorf Ich vant si âne huote und Walthers Dialoglieder spricht Hübner, Liebesdialoge, S. 36f., von einem „Komikeffekt, wie ihn Dialoglieder des 13. Jahrhunderts dann mit einiger Regelmäßigkeit evozieren“. Eine „Konstruktion schnippischer Minne-Zicken“ schließe „an die durch Albrecht von Johansdorf und Walther konstituierten Modelle“ an (ebd., S. 38). 106 Hübner, Liebesdialoge, S. 39. 107 Vgl. ebd., S. 36ff.; vgl. auch die Auflistung bei Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 178: „Sorge um den eigenen guten Ruf, die frauliche êre, die Problematik des rechten Verhaltens in Liebesdingen, die Unzuverlässigkeit der Männer“. Diese verstärkt sprachreflexive Ausrichtung der Dialoglieder betont u. a. auch Kasten, Dialoglied, S. 82, in Bezug auf Walther von der Vogelweide, da er „weniger interessiert an der Vermittlung eines didaktischen Inhalts“ sei als an den „Formen des umwundenen oder indirekten Sprechens.“ Vgl. hierzu erneut Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 184.

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Aspekte – auf das Werbungsliedregister wird in jüngeren Arbeiten zum Dialoglied immer stärker betont: Ranawake spricht von einem „Spiel mit unterschiedlichen Stilebenen“108 . Becker zeigt anhand des in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen Ich vant sie âne huote Albrechts von Johansdorf, wie das männliche Text-Ich sukzessive verschiedene Redemodi und Argumentationsformen des Werbungsliedes anwendet und dabei mehrmals neu ansetzt.109 Von einem „Relevanzverlust von Semantik“ und einer „sinnliche[n] Präsenz des Wortes“110 ist bei ihr die Rede. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Münkler angesichts Ulrichs von Winterstetten Ez ist niht lanc daz ich mit einer minneclîchen frouwen111 , wenn sie im Hinblick auf die Sprechweise des Mannes schließt: „Das einzige Register, das er beherrscht, ist die Wiederholung des konventionellen Frauenpreises und der konventionellen Liebesbeteuerung, deren Konventionalität seine Äußerungen noch unglaubwürdiger machen.“112 Hier wird sehr deutlich, wie Effekte dadurch erzielt werden, dass auf unterschiedliche – inhaltlich und sprachlich markierte – Sprechregister zurückgegriffen wird. Die einzelnen Dialoglieder bzw. Lieder mit dialogischen Passagen bestätigen diese Anknüpfung an unterschiedliche Aussageformen, Redegestus bzw. Sprechebenen verschiedener Texttypen – vornehmlich des Werbungslieds – durchgehend, was bei der Deutung der Lieder zum einen oftmals zu Unklarheiten bei der Referenzialisierung der jeweils präsentierten Ich-Instanzen führt sowie bisweilen zu nicht eindeutig zu bestimmenden Sprecherzuweisungen einzelner Textaussagen. Gleichwohl sind derartige Schwierigkeiten auch generell für das Sprechen im Minnesang – vornehmlich im Werbungslied – spezifisch. Strohschneider geht in diesem Zusammenhang – ausgehend vom Werbungslied – von dem „Normalfall“ eines um die Liebe der Dame werbenden und gleichzeitig singenden Ichs aus: „‚Ich singe‘, ‚ich liebe‘, ‚ich werbe‘ und ‚ich diene‘ sind in diesem Liedmodell synonyme Sätze.“113 Er betrachtet nun jedoch solche Lieder, in denen dieses Verhältnis reflexiv werde114 , woraus sich eine Disjunktion von min-

108 Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 187. 109 Becker, Stichomythien, S. 266: „Hier wird also nicht primär ein inhaltlicher oder diskursiver Geschehensablauf vorgestellt, sondern die Strophen kreisen auf einer metakommunikativen Ebene um Formen und Möglichkeiten der Minnekommunikation.“ Kästner, Minnegespräche, S. 172, verdeutlicht, wie das Rollen-Ich selbst „in einer Art Metadiskurs manchmal darüber“ reflektiere, „wie, mit welchem Ziel und mit welchen möglichen Ergebnissen der Frauenpreis von ihm eingesetzt wird“, und er spricht u. a. ebd., S. 182, bezogen auf Albrechts von Johansdorf Ich vant si âne huote von einem „Metadiskurs über die Sprechsituation“. 110 Becker, Stichomythien, S. 271. 111 Vgl. unten Kap. 3.5.2.2. 112 Münkler, Aspekte, S. 103. 113 Strohschneider, nu sehent, S. 14. 114 Ebd., S. 14ff.

Das Dialoglied im Minnesang

nendem und singendem Ich ergebe.115 Hierfür sieht er in den von ihm untersuchten Texten mehrere Möglichkeiten. Einerseits könne die „Behauptung der Identität von Sänger- und Minnerrolle, der Metonymie von Affekt und Ausdruck – per negationem also – die Möglichkeit ihrer Disjunktion ins Wort kommen lassen“116 . In einer zweiten Lied-Gruppe erkennt er dagegen die Möglichkeit, dass der Sängerrolle der „Status einer ‚bloß‘ fiktiv übernommenen ‚Als ob‘-Rolle“ attestiert werde.117 Daraus sei zu schließen, dass der Sänger einen Sänger spiele, der mit der Rolle des Liebenden nicht identisch sei118 , woraus Strohschneider auf eine „Ausdifferenzierung von poetologischem und Liebesdiskurs“119 (bereits im ‚einstimmigen‘ Werbungslied) schließt. Gerade diese oftmals nicht eindeutig vorzunehmende Trennung der beiden Ebenen führt immer wieder zu Schwierigkeiten der Referenzialisierung der jeweiligen Rede.120 Dies deutet auf ein Modell, „das den pragmatischen Kontext der Lieder als einen vorstellt, in welchem Rollenübernahmen und deren Modi sowie der Fiktionalitätsstatus des Sangs je situationsgebunden, okkasionell ausgehandelt

115 Ebd., S. 16: „Die textinternen Hörer […] nehmen am textinternen Sänger-Ich eine Disjunktion wahr. Sie sehen es auseinandertreten in ein Ich, das sich in der Rolle des Minners befindet, und in ein zweites Ich, das die Rolle eines demgegenüber unverhältnismäßig heftig klagenden Sängers spielt.“ Strohschneider beobachtet ebd. jedoch, dass diese Disjunktion auf der textinternen Sprechebene nicht ohne Weiteres als solche hingenommen werde: „Textinternes Sänger-Ich und textinterne Hörer verweigern sich beide einem Fiktionalitätskontrakt, den anzustreben sie sich wechselseitig unterstellen. Sie insistieren auf der notwendigen Metonymie von Affekt und Ausdruck, ohne daß Verständigung gelänge. Das ist offenbar deswegen so, weil die Teilnehmer an der textinternen Welt sich nicht auf ein gemeinsames Minnekonzept verständigt haben […] und weil sie daher […] mit Fiktionalisierungsstrategien rechnen.“ Im Hinblick auf das Sänger- und MinnerIch stellt Strohschneider, ebd., S. 8, die „denkbaren Referenzialisierungsalternativen zwischen diesen beiden Ich-Instanzen“ einander gegenüber und thematisiert hierbei u. a. unter Berufung auf Warning eine fiktive „Als-ob-Referenz“ (ebd., S. 9). Münkler, Aspekte, S. 95, unterscheidet zwischen den „Ebenen von Sang und persönlicher Ansprache“. Vgl. hierzu auch Hahn, dâ keiser spil, S. 96ff. 116 Strohschneider, nu sehent, S. 23. Vgl. auch Linden, Lieben lernen, S. 230–232, zur „Situationsspaltung zwischen dem minnenden und dem singenden Ich“ (ebd., S. 231) in Bezug auf Minnereden. 117 Strohschneider, nu sehent, S. 23. 118 Ebd. 119 Ebd., S. 26. 120 Strohschneider schließt ebd., S. 30, denn auch, „daß Minnesang nicht so sehr Rollenlyrik ist, als vielmehr in bestimmten seiner Sektoren als Rollenlyrik sich selbst beschreibe. Dieserart lockert sich die Bindung des Textes an seinen pragmatischen Sprecher, der Regelzusammenhang selbstverständlich metonymischer Rede wird suspendiert: Wo zwei differente textuelle Ich-Rollen begegnen, wird deren Referenz diskutabel, beginnt der textexterne Sänger offenbar Rollen zu spielen – auch solche Rollen, die Rollen spielen.“ Vgl. ähnlich Münkler, Aspekte, S. 82: „Der pragmatische Status der Rede ist im Minnesang stets unklar. Niemand kann sicher sein, wer hier zu wem spricht, wer sich angesprochen fühlt und/oder fühlen darf.“

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werden mussten.“121 Gerade im Dialoglied scheint es nun zu einer deutlichen Steigerung dieser durch das monologische Lied vorgeprägten Techniken zu kommen, wodurch die in der hier vorgelegten Untersuchung behandelten Lieder – in Ergänzung zu dem Rückgriff auf stereotype Motive und Argumentationsmuster vor allem des Werbungslieds – zahlreiche Effekte erzielen, indem sie diese Sprechebenen gegeneinander ausspielen. Weiter erhöht wird die Komplexität des Texttyps dadurch, dass neben der auch für das Werbungslied typischen Ebenendifferenzierung zwischen Minne- und Sangesthematik ein verstärkter Einfluss des registre popularisant 122 zu konstatieren ist – also weitere Texttypen mithineinspielen, was sowohl durch die Textform des Dialogs bedingt ist als auch dadurch, dass ein weibliches Text-Ich zu Wort kommt, was u. a. Parallelen zu Pastourelle, Frauen- und Tagelied nahelegt, für welche die Rede einer Frauenfigur ebenfalls spezifisch ist. Vor allem die Pastourelle ist dabei von Bedeutung, handelt es sich doch bei den in dieser begegnenden Dialogen in der Regel ebenfalls um Werbungsgespräche. Es dominieren hier zwar direkte Sprechregister, aber es finden sich immer wieder auch für das Werbungslied charakteristische Aussageformen. Darüber hinaus tritt die oftmals nur scheinbar naive puella bisweilen rhetorisch überaus versiert auf.123 Die zu erbringende Verstehensleistung bei der Deutung der Dialoglieder ist daher im Hinblick auf das Ausfüllen inhaltlicher Leerstellen sowie das Erkennen von konnotativen Anspielungen und Verweisen äußerst voraussetzungsreich und bedarf einer detaillierten Kenntnis der Art und Weise des Sprechens im Minnesang insgesamt.124 Auf die Überschneidungen unterschiedlicher Sprechregister verweisen bereits die Arbeiten Becs, der von „interférences registrales“ spricht.125 Dabei scheinen manche Lieder bestimmte 121 Strohschneider, nu sehent, S. 30. 122 Zum hier und im Folgenden verwendeten Begriff des Registers vgl. Zumthor, Langue, S. 141–144; Bec, La lyrique française, S. 40–43, sowie Eder, Natureingang, S. 42ff. 123 Vgl. Hübner, Liebesdialoge, S. 37. Auch Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 180 u. 185, weist auf die Verwandtschaft des Dialogliedes mit der Pastourelle hin, da dort „die höfischen Klischees der Werbung und die derbe Sprache der Magd in ähnlicher Weise aufeinanderprallen und die Komik der Verführungsszene unterstreichen“ (S. 185) könnten (klaffen), macht aber auch ebd., S. 180, Unterschiede deutlich: „Die Form ist die des Berichts, das Milieu ist außerhöfisch – Begegnung mit einer Magd in freier Natur –, das Körperlich-Sexuelle dominiert: Werbung ist Verführung, Erhörung bedeutet unmittelbar Koitus, das Register – drastische Redewendungen, erotisches Sprechen – ist zumeist betont unhöfisch. Allerdings versucht der Sänger hie und da mit höfischen Minnefloskeln ans Ziel zu kommen“. Als Hintergrund für die deutschen Dialoglieder erwägt Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 187, zudem die sich vor allem seit dem 13. Jahrhundert vermehrt ausbreitenden deutschen Minnereden, „für die das Gespräch, sei es nun ein Werbungs-, Lehr- oder Streitgespräch, eine konventionelle Form der Einkleidung darstellt“. 124 Vgl. hierzu grundlegend die Arbeiten Pierre Becs, u. a. Quelques réflexions, S. 127. 125 Vgl. Bec, La lyrique française, S. 34f.: „A ces grands traits contrastifs il faut ajouter évidemment des claviers thématiques et motiviques différents, des procédés de style et de formulation, des indices

Das Dialoglied im Minnesang

Texttypen-Modelle konnotativ stärker abzurufen als andere, wobei vordergründig meist die Anknüpfung an eine bestimmte Liedtradition – vor allem das Werbungslied – dominiert. Zahlreiche Minnelieder erwecken beispielsweise den Eindruck, dass ein dominanter registre aristocratisant lediglich an einigen Stellen durch den registre popularisant ‚unterbrochen‘ zu werden scheint. In diesem Sinne spricht auch Bec von einer Sonderstellung des registre aristocratisant.126 Entscheidend ist dabei vor allem, dass Hinweise bzw. Bezüge auf andere Texttypen bzw. Sprechregister oftmals rein konnotativ durch bestimmte Wendungen, Anspielungen und Unklarheiten der Referenzialisierung bedingt sein können, was ebenfalls bereits in dem von Bec geprägten Register-Begriff angelegt ist.127 Schmaltz verweist in diesem Kontext auf „die poetische Dynamik und die Anspielungswerte der Schlüsselbegriffe […], auf die Suggestivkraft, die sie für ein ausgewähltes Publikum besitzen.“128 Sie geht am Beispiel Reinmars insbesondere auf die für das Werbungslied spezifische Antithetik ein, deren suggestives Potential so weit reiche, dass auch Unausgesprochenes durch kleine Andeutungen mitgedacht werden könne: „Die Existenz des gegensätzlichen ‚Feldes‘ ist implizit – auch dort, wo der positive Begriff nicht ausdrücklich gekoppelt erscheint“129 . Schmaltz verweist auf ein – durch die

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linguistiques ou anthroponymiques particuliers (emploi de morphènes comme le diminutif -et, -ette, fréquent dans certain genres, de motifs parafolkloriques ou de noms propres tels Robin et Marion, etc.), qui constituent autant de classèmes conférant des connotations démarcatrices […]“; ebd., S. 40: „La notion de registre, nous l’avon dit, ne doit pas être interprétée comme un code de la route. Plus qu’une spécification mathématique, elle définit une ‚mouvance‘, dans laquelle le texte s’intègre et s’identifie. Ce texte, d’ailleurs, ne dépendant presque jamais d’un seul registre, mais impliquant bien souvent la convergence de plusieurs, comme il peut se situer, aussi, à la lisière de plusieurs genres. Il n’y a donc pas de registre pur, pas plus qu’il n’y a de genre pur ou de texte pur.“ Vgl. hierzu vor allem auch Eder, Natureingang, S. 42–46. Vgl. Bec, La lyrique française, S. 36. Bec spricht ebd., S. 40, von épaves und erläutert bezogen auf die Überschneidungen des registre aristocratisant und registre popularisant: „Elles apparaîtront aussi au niveau de l’intense rayonnement exercé sur tous les genres par le grand chant courtois: à un point tel que les traits fondamentaux de leur registre s’y trouveront dilués ou ne s’y montreront plus que comme des survivances ou des épaves.“ Gerade im Dialoglied scheinen diese Spuren (épaves) sehr verbreitet und deutlich ausgeprägt zu sein, woraus sich erneut auf eine generelle Tendenz des Dialoglieds hin zu einer Steigerung von aus dem registre aristocratisant bekannten Aussage- und Denkformen schließen lässt. Vgl. hierzu auch Eder, Natureingang, S. 44: „Damit lenkt Bec – und das stellt m. E. auch den großen Verdienst seiner Überlegungen dar – den Blick in beispielhafter Weise auf das Wie von Sprache, nämlich: wie etwas sprachlich ausgedrückt ist und welche Konnotationen sich dadurch ergeben, eine Textdimension, deren Wichtigkeit bei der Lyrikanalyse nicht zu unterschätzen ist.“ Schmaltz, Beiträge, S. 53. Ebd., S. 62f. Vgl. auch ebd., S. 54: „Denn für das Thema der Antithese in Reinmars Dichtung ist vor allem die Tatsache interessant, dass die ausgeprägtesten semantischen Felder kompl e me nt är erscheinen, und zwar so, daß die Komplementärbegriffe immer ausdrücklich mitgedacht und mitgenannt werden, wenn der Gegenbegriff auftritt.“ Schmaltz stützt sich hier vornehmlich auf

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Übernahme verbreiteter Aussageformen in sprachlich veränderter Form bedingtes – großes Variationspotential und zeigt, dass bereits kleinste terminologische Varianten eine andere Bedeutung tragen könnten, wenn etwa statt trûric der Begriff unfrô gewählt werde, der suggestiv deutlicher auch die Vorstellung der Freude abrufe.130 In diesem Zusammenhang warnt sie allerdings vor einer Verabsolutierung formaler Kriterien, wenn durch die Betonung des Aspektes formaler Variativität immer wieder – vor allem in Anknüpfung an den „poésie formelle“-Gedanken Guiettes131  – versucht wird, die – auf den modernen Rezipienten häufig monoton wirkende – Wiederholung einzelner Redemodi und topischer Ausdrucksweisen auch für den modernen Rezipienten ‚interessant‘ bzw. die große Beliebtheit volkssprachlicher Dichtung im Mittelalter erklärbar zu machen: „Nous ne sommes pas assez sensibles au style et à la souplesse, à la subtile variété d’exécution, à la valeur formelle.“132 Folgt man der in Frankreich geprägten strukturalistischen Argumentation, würde sich gerade hierin der „Primat des Formalen“ begründen, da eine inhaltliche Sinnkonstitution nicht mehr entscheidend wäre, stellte der jeweilige Text doch das Ergebnis einer spielerischen Kombination topischer Gemeinplätze dar („tradition de style qui impose aux trouvères lieux communs et formules techniques“133 ). Einer Verabsolutierung der poésie-formelle-These wird jedoch in der germanistischen Forschung größtenteils widersprochen. Hübner etwa argumen-

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Becs Aufsatz „L’antithèse poétique chez Bernard de Ventadour“ (1971). Vgl. hierzu auch dies., Beiträge, S. 53. Zur Rolle der Antithese im Minnesang und in der provenzalisch-französischen Dichtung vgl. darüber hinaus Touber, Rhetorik und Form, S. 11, 36–43; Eikelmann, Denkformen im Minnesang, S. 1–59; ders., Sprechweisen und Denkstrukturen des Minneliedes, S. 30–36; Bebermeyer, Art., Streitgedicht, Sp. 233b. Schmaltz, Beiträge, S. 62. Vgl. auch ebd., S. 64: „Nicht nur schmückende Fülle des Ausdrucks soll erreicht werden. Einmal kann man natürlich die doppelseitige, erweiternde Nennung einer Erscheinung im rhetorischen Sinn auch als affektisches Überhöhen und Intensivieren der Rede verstehen. […] Man muss also zweitens den Präzisierungseffekt sehen, der aus der Opposition gegensätzlicher Begriffe entsteht […].“ Guiette, D’une poésie formelle, S. 16, verabsolutiert den formalen Anspruch der Texte und stuft ihre inhaltliche Gestaltung als bloßes sprachliches ‚Material‘ ein: „J’insiste: la poésie, dans les chansons courtoises, se situe entièrement dans la forme, dans l’objet réalisé, existant, dont l’usage est connu. Le style est tout et l’argument idéologique n’est qu’un ‚matériau‘. Cet argument est indispensable comme tel.“ Vgl. hierzu u. a. auch Eifler, Liebe um des Singens willen, S. 10, der von einem „Primat des Ästhetischen“ spricht. Vgl. außerdem Müller, Die Fiktion höfischer Liebe, S. 61. Guiette, D’une poésie formelle, S. 16. Der mittelalterliche Rezipient dagegen sei in dieser Form von Dichtung eingeübt, vgl. ebd., S. 17: „Il y a là un tour d’esprit qui n’est pas sans rapport avec une attitude intellectuelle propre au moyen âge: l’œuvre devient une sorte de problème de découverte et de déchiffrage auquel l’esprit du public était habitué. Cette sorte de jeu des formes se lisait alors, je crois, avec le plus grand intérêt et avec une délectation que nous pourrions qualifier d’esthétique.“ Dragonetti, zit. bei Bec, Nouvelle anthologie, S. 62.

Das Dialoglied im Minnesang

tiert, dass es sich bei der unterstellten thematischen Monotonie des Minnesangs um ein gemeinhin verbreitetes Vorurteil handle.134 Laut ihm wird durch die dem Minnesang oftmals unterstellte ‚Eintönigkeit‘ die Möglichkeit abgeschafft, „in der spezifischen Gestalt der Topoi und ihren Kombinationen zunächst textinterne Funktionen zu sehen, von denen aus man dann wieder Überlegungen zu textexternen Interessen anstellen könnte.“135 Dabei ist stets danach zu fragen, auf welche

134 Hübner, Minnesang als Kunst, S. 151. Vgl. auch ders., Frauenpreis, S. 19: „Die textinternen, argumentationstechnischen Funktionalisierungen des Frauenpreises in der Kanzone kommen indes gerade dort nicht in den Blick, wo die Kanzone als bloßes Kombinationsspiel verstanden wird, das topische Versatzstücke lediglich aneinanderreiht.“ Vgl. zudem Kaehne, Studien zur Dichtung Bernharts von Ventadorn, S. 307, der den Gedanken der „poésie formelle“ zwar nicht ablehnt, aber stärker im Hinblick auf eine Berücksichtigung der inhaltlichen Gestaltung differenziert. Eisbrenner, Minne, S. 92, äußert sich ebenfalls kritisch zu dem von französischen Strukturalisten hervorgehobenen „selbstgenügsamen Spiel ohne Realitätsbezug“: „Manche Aussagen oder Gestaltungsmomente müssen einen höheren ‚Wirklichkeitsgehalt‘ als andere besitzen; sie sind ‚bedeutungsvoll‘ und weisen in den außertextuellen Bereich. Sie sind nicht Variation, sondern Kern.“ 135 Hübner, Frauenpreis, S. 370, Anm. 22. Im Hinblick auf einen auch thematischen Gestaltungswillen gehen die einzelnen Forschungsansätze nun jedoch unterschiedlich weit. Während einerseits der Entwurf von Modellen für die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit erwogen wird (vgl. u. a. Müller, Die Fiktion höfischer Liebe, S. 47, Grubmüller, Was bedeutet Fiktionalität im Minnesang?, S. 278f.), sind andere vorsichtiger im Hinblick auf solche Annahmen. Reuvekamp-Felber sieht die Spezifik der Minnekanzone nicht auf einer thematisch-ideologischen Ebene, sondern in ihrer Sprechweise, verabsolutiert diesen Anspruch jedoch nicht, indem er den bereits angesprochenen „Innenraum“ (Schnell) als ein Merkmal gerade der volkssprachlichen Liebesdichtung hervorhebt, der zugleich eines der entscheidenden Trennungsmerkmale zur mittellateinischen Literatur darstelle. Vgl. Reuvekamp-Felber, Kollektive Repräsentation, S. 221: „Das Spezifische der Minnekanzone scheint mir erst einmal weniger auf dieser thematisch-ideologischen Ebene als vielmehr in ihrer Sprechweise zu liegen: In den sophistischen Argumentationsmustern und Denkbewegungen, den geringen Verschiebungen in den zirkulären Reflexionen, der brillanten rhetorischen und metrischen Ausarbeitung, kurz in alldem, was Robert Guiette in seiner Beschreibung einer poésie formelle herausgearbeitet hat. Dieses Sprechen hat jedoch einen festen Ausgangspunkt: Es ist der permanent wiederholte Einsatz beim Ich, der die Minnekanzone von anderen Formen der Liebeslyrik – seien sie antiker oder auch mittellateinischer Provenienz – radikal unterscheidet. […].“ Vgl. außerdem ebd., S. 223f., sowie ders., Fiktionalität als Gattungsvoraussetzung, S. 402, wo er sich mit einer „auf Normenvermittlung und Identitätsstiftung fixierten Mediävistik“ kritisch auseinandersetzt. Wolf, Überbieten und Umkreisen, S. 3, geht auf die teils (für den mit dem Minnesang nicht vertrauten Rezipienten) redundant wirkende inhaltliche Gestaltung der Troubadourund Minnelieder ein, schließt aber aufgrund des ‚unfesten‘ Charakters der sog. ‚Hohen Minne‘ darauf, dass es in den Texten selbst stets auch um ein Herantasten im Sinne eines „Umkreisens“ gehe. Er beschreibt ebd., S. 4, das „Tun der frühen deutschen Minnesänger als e i n großes Dichten an d e r Minnekanzone“. Vgl. hierzu auch Schnell, Die ‚höfische‘ Liebe als ‚höfischer‘ Diskurs über die Liebe, S. 231–301; Hübner, Frauenpreis, S. 20, sowie Kablitz, Die Minnedame, S. 87, der von „dem Prinzip einer paradigmatischen Variation“ spricht, die allerdings „in der steten Variation des Gleichen ihre Differenzierungen“ ausbilde. Vgl. zudem grundlegend Bec, La lyrique française, S. 21.

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Weise die häufig auch liedintern zu findenden Wiederholungen und Isotopien – oftmals an den Strophenübergängen – jeweils aktualisiert werden.136 Vor einer zu einseitigen Betonung der formalen Gestaltung der Texte und einer Nichtbeachtung der jeweiligen inhaltlich-thematischen Nuancierungen ist folglich zu warnen137 , da sich gerade aus Bezugnahmen zu anderen Textaussagen unterschiedliche Bedeutungspotentiale ableiten lassen.138 Wesentlich an Schmaltz’ Ansatz ist in diesem Sinne, dass die von ihr untersuchten Texte nicht eine rein sprachliche Virtuosität zur

Unter Berücksichtigung der Dialoglieder des Minnesangs wird deutlich, dass der Aspekt der (auch inhaltlich bestimmten) Minnediskussion eine für den Minnesang insgesamt prägende Rolle spielt (sowohl im 12. als auch im 13. Jahrhundert), für welche die fin’amors romanischer Prägung – zumindest ab der durch Friedrich von Hausen eingeleiteten Phase hochhöfischer Minnedichtung – zwar einen klaren Rahmen zu setzen scheint, die selbst jedoch wiederum in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen nicht eindeutig zu fassen ist, wie es beispielsweise auch der unten besprochene Texttyp der Pastourelle verdeutlicht, welcher die sog. ‚hohe Minne‘ zwar einerseits mit einer Art ‚Gegenmodell‘ konfrontiert, das jedoch andererseits immer wieder durch jene selbst gebrochen wird – zumal in den mittelhochdeutschen ‚pastourellenhaften‘ Texten. Die Überlegungen insgesamt lassen sich anknüpfen an die von Müller wesentlich mitgestaltete Fiktionalitätsdiskussion mittelhochdeutscher Dichtung. Ausgelöst von Haferlands (wieder zum Leben erweckter) These vom Minnesang als Bekenntnislyrik plädiert er für ein dreigliedriges Fiktionalitätskonzept – im Unterschied zu Haferlands zweigliedrigem –, welches neben der „Realität“ und dem „Fiktiven“ des literarischen Diskurses das Imaginäre als Entwurf „eine[r] Praxis vorbildlichen Handelns und Verhaltens, die Imagination einer höfischen Liebe“ (Müller, Die Fiktion höfischer Liebe, S. 60), in die Diskussion einbringt. Eine kritische Auseinandersetzung mit Müllers Ansatz findet sich bei Warning, Fiktion und Transgression, S. 37–42, der u. a. unter Rückgriff auf Foucault von einer „destruktiven Dynamik“ (ebd., S. 41) des Imaginären spricht. Reuvekamp-Felber betrachtet gerade die eine poésie formelle kennzeichnende formale Variativität als Fiktionalitätssignal. Vgl. ders., Fiktionalität, S. 392: „Mit dieser Verschiebung der Bedeutung des Inhalts zur Bedeutung der Form ist aber gleichzeitig der unwiderrufliche Übergang von pragmatischer zu fiktionaler Rede im Sinne einer poésie formelle markiert.“ Hübner, Minnesang als Kunst, S. 164, Anm. 42, dagegen argumentiert, dass ein formaler Aspekt allein nicht ausreiche, um auf einen fiktionalen Status eines Textes zu schließen. Trotzdem ist doch aber zu betonen, dass sich ein durch rhetorische Formkunst gekennzeichneter Text wesentlich von (alltags-)pragmatischer Rede unterscheidet. 136 Vgl. grundlegend Schmaltz, Beiträge, besonders S. 64f.; Eikelmann, Denkformen, sowie die Arbeiten von Bec und Zumthor; vgl. hierzu auch die sog. Concatenatio-Technik, z. B. beschrieben bei Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit, S. 262–268, wobei es hierbei vor allem um die Verknüpfung einzelner Lieder (weniger Strophen) geht. 137 Vgl. hierzu auch Neumeister, Spiel, S. 181, im Hinblick auf die provenzalische Trobador-Dichtung. 138 Weiterentwickelt hat diese Gedanken Eder, Natureingang, der u. a. ebd., S. 273ff., anhand des Begriffs der lascivia aufzeigt, wie weitreichend das „konnotative Potential“ (S. 296) bestimmter Motive sein kann, wodurch „ein zwischen semantischen Ambivalenzen und möglichen Wertungen changierendes Schillern“ (S. 294) entstehe. Vgl. hierzu auch den Hinweis von Brinkmann, Pastourelle, S. 17: „Eine im höfischen Lied typische Wendung wie ‚ne jamais ne vos faudrai‘ oder ‚vos servirai‘ ändert ihre Bedeutung mit dem Kontext, in dem sie sich befindet.“ Als grundlegenden Mangel des Konzeptes einer poésie formelle erkennt Peters, Minnesang als ‚poésie formelle‘, S. 73, „eine extreme Indifferenz gegenüber der thematischen Ebene des Textes“. Das entscheidende

Das Dialoglied im Minnesang

Schau tragen, sondern die von ihr beobachteten Variationen stets auch semantische Veränderungen einschließen können: „Im Kontrast entfaltet sich die Bedeutung der an sich unpräzisen Begriffe“139 . Gerade durch eine derartige variative Kombination des vorliegenden ‚Materials‘ bestehe die Möglichkeit, eigene Akzente zu setzen, Stellung zu beziehen, eine Position zu kennzeichnen.140 Auch Kellner kritisiert den Schematismus strukturalistischer Vorgehensweisen141 , plädiert gleichwohl dafür, dass die Artifizialität des Minnesangs wieder mehr Beachtung verdiene.142 Entscheidend ist jedoch, dass hierbei ebenfalls gerade auch inhaltliche Komponenten eine wesentliche Rolle spielen: Der für die implizite Poetik des Minnesangs zentrale Begriff der Wiederholung ist daher stärker, als es im Horizont des strukturalistischen Denkens möglich war, nicht nur über bloße Rekurrenzen zu denken, die sich aus einem System von Äquivalenzen und Oppositionen ergeben, sondern über Differenzen, über Oszillieren der Semantiken, Spiel der Terme, Verschiebungen und Brüche.143

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Kriterium für ein Überschreiten dieses Modells sei ein Verlassen „der thematischen Stereotypie, der normierten Ich-Aussagen und verbindlichen Rollenprogramme“ (ebd., S. 72). Schmaltz, Beiträge, S. 65. Ebd., S. 129. Vgl. auch folgende Beschreibung der poetischen Technik Reinmars bei Eikelmann, Denkformen, S. 211: „Die sprachliche Gestaltung vermeidet auch bei diesen Versen Ausdrucksmittel, durch welche die inhaltliche Ähnlichkeit oder formale Parallelität der Denkabläufe betont werden könnte. Einem solchen Sprechen, das auf die Transparenz von Strukturen und die Übersichtlichkeit syntaktischer Zusammenhänge zielte, steht bei Reinmar ein Darstellungsverfahren entgegen, das immer wieder um differenzierende Erweiterungen, Präzisierungen, Einschränkungen und Korrekturen bemüht ist. […]“. Bereits Bec, der ebenfalls an die Überlegungen Guiettes anknüpft (vgl. u. a. Bec, Quelques réflexions, S. 134: „Ce poète, en un mot, est-il un créateur de style à l’instar d’un Marcel Proust ou d’un Paul Valéry? Et bien non! Au niveau du style, comme au niveau des thèmes, il reste un artisan, un artifex qui utilise des données préétablies. Le style, en tant que matériau, ne se différencie pas de l’œuvre; il n’est pas surajouté au contenu: il est l’œuvre elle-même“), relativiert dessen Ansatz bzw. entwickelt ihn konkretisierend weiter, indem er betont, dass der Inhalt nicht vollkommen belanglos sei bzw. dass sich die inhaltliche Bedeutung des bekannten Materials auch verändern könne. Vgl. ders., L’antithèse, S. 213: „Il y a là la même élasticité sémantique que nous soulignions à propos du profit: polysémie latente, qui impose une formulation stylistique rigoureuse, alternativement caractérisée par l’emploi de la séquence antinomique (antithèse) et de la séquence synonymique (redondance)“, ebd., S. 229: „Cette polarité, on la remarque entre autres choses au grand nombre de termes à suffixe privatif des-, qui font balancer le message poétique d’un champ de signification à l’autre, en continuant d’impliquer l’existence du champ contradictoire.“ Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 56: „Die zugrunde liegenden Begriffe von Form und Struktur blieben tendenziell statisch und wurden zu wenig funktional gedacht.“ Vgl. außerdem ebd., S. 61f. Vgl. ebd., S. 59. Ebd., S. 62. Dies., ebd., S. 63, versteht hierbei den Wiederholungsbegriff „als einen poststrukturalistisch dynamischen“: „Denn Wiederholungen im Minnesang schließen tatsächlich immer Differenzen ein. Selbst ein identisches Reimwort geht an einer zweiten Position in derselben oder

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Einleitung

Der Aspekt der Wiederholung bezieht sich in diesem Zusammenhang nicht lediglich auf das einzelne Minnelied, sondern gerade auch auf die Bezugnahmen von Liedern aufeinander.144 Daraus schließt Kellner auf einen „Mangel an syntagmatischer Kohärenz“, dem „ein Maximum an paradigmatischer Kohärenz“ gegenüberstehe; durch das „Durchbrechen erwartbarer Kohärenzmuster und die damit verbundenen Überraschungseffekte“ richte sich die Aufmerksamkeit „auf die sprachlichen und poetischen Muster selbst“145 . Diese Beobachtungen sind im Kontext der Dialoglieder insofern von Bedeutung, als hier gerade im Zuge jüngerer Forschungsarbeiten die metapoetische Ausrichtung des Texttyps und in diesem Zusammenhang der Abruf gängiger Aussageformen – im Sinne einer Stereotypie der männlichen Sprechweise – betont wird. In der direkten Kommunikationssituation zwischen Mann und Frau führt das von Kellner herausgestellte „Oszillieren der Semantiken“, das „Spiel der Terme, Verschiebungen und Brüche“ (s. oben) zu scheinbar kommunikativen Störungen, wenn Mann und Frau auf verschiedenen Sprechebenen miteinander kommunizieren und auf die Möglichkeiten paradigmatischen Sprechens zurückgreifen – eine Tendenz, die durch die semantische Offenheit des vorliegenden sprachlichen Materials verstärkt wird. Gleichzeitig liegt in diesen Wesensmerkmalen eine Möglichkeit literarischer Gestaltung, welche sich einer Eindeutigkeit entzieht und hierdurch einen besonderen Reiz der Texte ausmacht.146 Ähnlich erkennt auch Braun im dialogischen Lied eine „Steigerungs- und Reflexionsfigur zu der Verfremdungsleistung […], wie sie der Minnesang insgesamt erbringt“147 , und schließt hieraus auf eine Erhöhung der Künstlichkeit und gleichzeitig vor allem auch deren Befragung.148 Der Minnesang als ein Sprechen über Liebe präsentiert sich daher in

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einer anderen Strophe neue semantische Beziehungen ein und ist funktional gesehen nicht mehr mit dem Bezugswort identisch.“ Ebd., S. 60: „Der Text des Einzelliedes erschließt sich vielfach erst in der engen strukturellen wie lexikalischen Bindung an die anderen Lieder, die ihn über gleichzeitige Momente der variatio freilich gerade als semiotische und semantische Differenzleistung zu erkennen gibt.“ Kellner schließt ebd., dass der Sänger in der Variation mit seinen Rivalen konkurriere. Ebd., S. 64. Ähnlich argumentiert bereits Neumeister, Spiel, S. 154, im Hinblick auf die altprovenzalische Streitgedicht-Literatur. Ders., Die dialogischen Gedichte in der altprovenzalischen Literatur, S. 143, erklärt, dass „die Konfrontation scheinbar entgegengesetzter Meinungen in diesen Gedichten […] nicht für eine argumentativ geschärfte Grundsatzdiskussion“ stehe, sondern „mit ihren komischen Effekten auf Mündlichkeit und Präsenz angelegt“ sei. Vgl. auch Schnell, Die ‚höfische Liebe‘ als Gegenstand von Psychohistorie, S. 423: „Vielleicht lag die Faszination der ‚höfischen Liebe‘ gerade in der vielgestaltigen Offenheit des Diskurses“, sowie zusammenfassend u. a. Eder, Natureingang, S. 93. Braun, Künstlichkeit, S. 33. Vgl. ebd., S. 34.

Das Dialoglied im Minnesang

den Dialogliedern vor allem als ein Sprechen über das Sprechen im Kontext einer Liebesthematik, welches jedoch alles andere als einheitlich ausfällt und sehr unterschiedliche Aspekte aufweist. Entscheidend ist dabei zudem, auf welche Art und Weise die Bezugnahmen auf unterschiedliche Text- und Literaturtraditionen erfolgen und welche Effekte dadurch jeweils in der dialogischen Auseinandersetzung erzielt werden. Dies gilt es in der hier vorgelegten Arbeit herauszuarbeiten. Der Frage, wie ein derartiges Sprechen im Kontext einer Liebesthematik bereits durch lateinische Literaturtraditionen vorgeprägt ist, gehen die folgenden Ausführungen nach. Thematisiert werden dabei zunächst die Einflüsse Ciceros und Ovids auf den mittelalterlichen Liebesdiskurs, wobei hervorgehoben werden soll, wie es hier zu einer wechselseitigen Durchdringung und Überlagerung im Hinblick auf konzeptionelle und vor allem auch sprachliche Aspekte kommt. Für ein angemessenes Verständnis der in den Kapiteln 2.2–2.4 behandelten Texte ist die Kenntnis dieser Traditionen ebenso entscheidend wie die sich an die Kapitel 2.1.1 und 2.1.2 anschließenden Ausführungen zum Hohelied und der Pastourelle.

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2.

Werbung und Liebesdiskussion in dialogisch angelegten lateinischsprachigen Texttypen

2.1

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

Kennzeichnend für die mittelalterliche Auseinandersetzung mit den Phänomenen Freundschaft und Liebe ist das Aufeinandertreffen antiker und christlicher Vorstellungen.1 Die Minnesangforschung bzw. die Forschung zur so genannten ‚höfischen Literatur‘ verweist immer wieder auf Bezüge zu klerikalen Modellen der Freundschaft und Liebe2 , wobei sich jedoch in den wenigsten Fällen direkte Bezugnahmen nachweisen lassen. Verbindungen ergeben sich vor allem daraus, dass die so genannte ‚höfische Liebe‘ – deren Ausprägungen weitaus vielfältiger sind als oftmals angenommen – einen Aufschub der Triebbefriedung in zahlreichen ihrer Erscheinungsformen propagiert. Dies hat jedoch bisweilen dazu geführt, physisch-erotische Aspekte vollkommen auszublenden. Das jeweils dargestellte bzw. durch den Minnenden angestrebte Verhältnis zwischen Mann und Frau wird dagegen gerade im Minnesang sehr deutlich ‚in der Schwebe gehalten‘, woraus sich Schwierigkeiten der genaueren Konkretisierung – ein Lavieren zwischen sublimierten Liebesvorstellungen und dem Wunsch nach körperlicher Nähe – ergeben. Anknüpfungen im Hinblick auf lateinische Literaturtraditionen finden sich hierbei vor allem an die ciceronianisch geprägte amicitia-Literatur einerseits sowie den Ovid-Diskurs andererseits, wobei eine genaue Abgrenzung nicht immer möglich ist und es im Lateinischen oftmals zu einer gegenseitigen – vor allem auch sprachlichen – Durchdringung kommt. Den hieraus gleichwohl erwachsenden Möglichkeiten literarischer Bedeutungskonstitution soll im Folgenden – zumindest kursorisch – anhand ausgewählter Beispiele nachgegangen werden. 2.1.1

amicitia-Tradition (Cicero)

Im späten 11. und gesamten 12. Jahrhundert spiegelt sich die umfangreiche Beschäftigung mit dem Thema Freundschaft in Traktaten, Gedichten und Briefen wider. Die aus klerikalen Kreisen erhaltene Korrespondenz bezeugt eine Vielzahl an Freundschaftsbeziehungen unterschiedlichen Charakters, wobei sich genauere

1 Den Ausgangspunkt der Thematik bilden die Schriften der Patristik, die Bibel selbst und die erhaltene bzw. zugängliche lateinische Literatur der Antike. Vgl. Pollmann, Liebe, S. 33. 2 Vgl. etwa hierzu die Arbeiten Jaegers.

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Rückschlüsse auf die Art der jeweiligen freundschaftlichen Verbindung – gerade im Zuge literarischer Stilisierung – häufig nicht ziehen lassen.3 Zwischen Freundschaft als literarischem Phänomen und als einer Erscheinung des alltäglichen Lebens kann somit nur schwer eine Grenze gezogen werden. Zitate aus der Bibel sowie Verweise auf antike Texte finden sich dabei zuhauf, wodurch der artifizielle Charakter der Texte deutlich erkennbar ist (s. Kapitel 2.2).4 Die Dichter des sog. Loirekreises (auch Dichterkreis von Angers) etwa pflegen den Freundschaftsgedanken in Form poetischer Episteln zum Ausdruck zu bringen, als ein „Humanismus der Kathedralschulen“5 begegnet er u. a. bei Hildebert von Lavardin, Marbod von Rennes und Balderich von Bourgueil.6 Die Rezeption von Ciceros Spätschrift Laelius de amicitia (44 v. Chr.) ist in diesem Umfeld von grundlegender Bedeutung, sodass Ziolkowski gar über einen direkten Zusammenhang zwischen dem ciceronianischen Humanismus und der sich im 12. Jahrhundert ausformenden sog. ‚höfischen Liebe‘ spekuliert.7 Zu unterscheiden ist allerdings hierbei zwischen inhaltlich-konzeptionellen und sprachlich-stilistischen Bezugnahmen, was in bestimmten Kontexten vor allem dann zu interpretatorischen Missverständnissen führen kann, wenn sich die Sprachen des monastisch-klerikalen und weltlich-säkularen Diskurses gegenseitig durchdringen. So erfolge bereits bei den Kirchenvätern eine Angleichung des ciceronianischen amicitia-Begriffs an christliche Vorstellungen8 ; wesentlich sei u. a. der Begriff der agape, der „eine eindeutig geistige, alles Körperlich-Profane ablehnende transzendierende Bewegung“9 meine. Dabei verdeutlichten im 12. Jahrhundert etwa die Lehren Bernhards von Clairvaux und Wilhelms von St-Thierry zwar, dass eine weltliche Liebe aus Sicht der Religion unter keinen Umständen

3 Vgl. Carmichael, Friendship, S. 70. 4 Vgl. McGuire, Friendship, S. 232, der den Kern dieser Texte in ihrem Anspielungspotential und der literarisch-technischen Expertise sieht: „the reader can wonder whether such able writers were more in love with their own facility of expression than concerned about the well-being of the person to whom they wrote.“ 5 Raby, Amor and amicitia, S. 602, spricht von „humanism of the Cathedral schools“. 6 Vgl. ebd. sowie Ziolkowski, Twelfth-century understandings, S. 71, der am Beispiel Marbods von Rennes Liber decem capitulorum auf die Vorbildfunktion Ciceros hinweist und dabei auch die Bedeutung Ovids „during this formative period“ infrage stellt (vgl. auch ebd., S. 63). Zu monastischen Freundschaftskonzeptionen im 12. Jahrhundert insgesamt vgl. vor allem die umfassenden Arbeiten von Haseldine, u. a. „Monastic friendship in theory and in action“ (hier vor allem zur Tradition des Freundschaftsbriefs), den Aufsatz „Friendship and rivalry“ sowie den von ihm herausgegebenen Sammelband „Friendship in medieval Europe“. 7 Vgl. Ziolkowski, Twelfth-century understandings, S. 60: „It is even possible that Ciceronian humanism and courtly love are related, since the construction of friendship theory and literature antedated a courtly conception of love.“ 8 Vgl. Dronke, Medieval Latin I, S. 195. 9 Pollmann, Liebe, S. 47, der ebd., S. 45f., auf die augustinische caritas-Lehre verweist, die mit dem Begriff gratuitas einen Schwerpunkt auf die „Selbstlosigkeit christlicher Liebe“ (S. 45) setze.

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

zu dulden sei, da sie der christlichen Ausrichtung auf Gott und dem Aufstieg zu diesem entgegenstehe10 , zwischen den verschiedenen Liebesbezeichnungen werde jedoch nicht deutlich unterschieden, sodass Begriffe wie amor, dilectio und caritas häufig eine synonyme Verwendung fänden – eine genauere Begriffsbestimmung sei daher im Einzelnen oftmals nicht möglich.11 amor beispielsweise könne – so Schnell – „unterschiedliche Liebesbeziehungen wie Gottesliebe, Freundschaft, eheliche Liebe, sinnliche Leidenschaft, ehrfürchtige Verehrung u. a.“12 meinen. Beispielhaft vorführen lässt sich dies anhand der Rezeption von Ciceros Laelius de amicitia durch den Freundschaftstraktat Aelreds von Rievaulx, dem insgesamt eine Sonderstellung zugesprochen wird13 , sowie der sich hieran anschließenden Verarbeitung des cor unum-Motivs. Mit seinem Dialog De amicitia spirituali bezieht sich der englische Zisterzienserabt direkt auf Cicero, was bereits die dialogische Präsentationsform nahelegt, wobei er jedoch dessen Modell der amicitia weiterentwickelt und ihm eine christliche Färbung verleiht.14 Während Aelred, der selbst innerhalb des Dialogs zu Worte kommt, sich darum bemüht, das ciceronianische Freundschaftskonzept15 christlich zu durchwirken und somit zu erhöhen, nimmt

10 Vgl. hierzu ebd., S. 48f. 11 Vgl. Dronke, Medieval Latin I, S. 196; Hyatte, The arts of friendship, S. 48: „Latin writers in the twelfth and thirteenth centuries use, among other terms, amor, caritas, dilectio, affectus, intellectus, and amicitia to name the same or different aspects of a personal relationship to God, love of humankind, friendship of fellow Christians, and spiritual friendship or love between two Christians or among a very few.“ Vgl. hierzu auch McEvoy, The theory of friendship, S. 29–36. 12 Schnell, Causa amoris, S. 19. 13 Die Rezeption der Schrift auch außerhalb Englands verdeutlicht etwa Hyatte, The arts of friendship, S. 67f., der auf die Beeinflussung Peters von Blois durch Aelred verweist. Der um etwa 1160 verfasste Traktat gilt als einer der bedeutendsten mittelalterlichen Texte über die Freundschaft. Vgl. hierzu u. a. auch Schuster, Aelred von Rievaulx, S. 15. 14 Vgl. Hyatte, The arts of friendship, S. 51: „[…] but the practice that he proposes as a model represents an avant-garde monasticism, quite apart from mainstream contemporary practices“; Carmichael, Friendship, S. 82. 15 Ein zentraler Bestandteil der ciceronianischen amicitia-Konzeption ist die Idee der ‚Tugend‘ (virtus), da in ihr der Ursprung einer jeden Freundschaft liege. Die ‚Tugend‘ erhalte und erzeuge die gegenseitige Verbundenheit und stelle somit die unabdingbare Voraussetzung einer vera amicitia dar. Aus der virtus erwachsen Freundschaft (amicitia) und Liebe (amor), die in einen engen Bezug zueinander gesetzt werden (vgl. hierzu u. a. Raby, Amor and amicitia, S. 604, sowie direkt Lael. 100: Virtus, virtus, inquam, […] et conciliat amicitias et conservat. […] ex quo exardescit sive amor sive amicitia (utrumque enim dictum est ab amando); amare autem nihil est aliud nisi eum ipsum diligere quem ames nulla indigentia, nulla utilitate quaesita, quae tamen ipsa efflorescit ex amicitia etiamsi tu eam minus secutus sis [Übers., Feger, S. 42]). Das Wesen der Freundschaft erweise sich in gegenseitiger und selbstloser Liebe. Laelius macht im Verlauf seiner Ausführungen deutlich, dass es sich bei dieser amicitia-Vorstellung nicht um eine auf Befriedigung der sinnlichen Lust ausgerichtete Liebe handele (vgl. auch Pollmann, Liebe, S. 29, zur Tradition der Stoa in diesem Zusammenhang). Die Sinnenlust erscheint als ein unter allen Umständen zu unterdrückendes Verlangen. Zu nichts

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Ivo, mit dem Aelred im ersten der drei Bücher das Gespräch führt, zunächst eine eher distanzierte Haltung gegenüber Ciceros Laelius ein, indem er die fehlende scripturarum auctoritas dieses Textes kritisiert. Alles, was bei Cicero zu lesen sei, will er von der Autorität der heiligen Schrift gestützt wissen, sofern es der Vernunft entspreche und einen Nutzen bringe. Die Freundschaft müsse folglich ganz auf Christus hin ausgerichtet werden. Cicero könne die Tugend (virtus) der wahren Freundschaft unmöglich gekannt haben, da er kein Wissen von der Existenz Christi gehabt habe.16 Aelred dagegen lehnt die Freundschaftsdefinition Ciceros nicht gänzlich ab: Ex ipsa tamen diffinitione, quamuis forte tibi minus uideatur esse perfecta, intellegere utcumque poteris quid sit amicitia.17 Da Ivo mit dieser Antwort unzufrieden ist, erläutert Aelred im Folgenden, was genau er unter einer Freundschaft christlicher Prägung versteht. Ein wesentliches Merkmal von amicitia sei zunächst die Liebe (amor)18 , wobei Aelred wie Laelius auf die sprachliche Verwandtschaft der Wörter amor und amicitia aufmerksam macht: Ab amore, ut mihi uidetur, amicus dicitur; ab amico amicitia. Est autem amor quidam animae rationalis affectus per quem ipsa aliquid cum desiderio quaerit et appetit ad fruendum19 . Der Begriff anima steht hierbei im Zentrum und verleiht der Liebe, die als „Antrieb der vernunftbegabten Seele“ definiert wird, ihren spirituellen Charakter. Um eine vera amicitia handele es sich daher nur bei der amicitia spiritalis, deren Ursprung das ‚Sehnen‘ des

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Erhabenem, zu nichts Großartigem und Göttlichem könne den Blick aufheben, wer alle seine Gedanken auf eine so niedrige und verachtenswerte Sache richte. Vgl. Lael. 32 (Übers., Feger, S. 17). Die durch Spiritualität gekennzeichnete Freundschaft bedürfe daher keiner physischen Präsenz und könne nur bestehen, wenn die in Wohlwollen verbundenen Menschen ihren Begierden Widerstand leisteten (Lael. 83: Itaque in eis perniciosus est error, qui existimant libidinum peccatorumque omnium patere in amicitia licentiam. Virtutum amicitia adiutrix a natura data est, non vitiorum comes; ut quoniam solitaria non posset virtus ad ea quae summa sunt pervenire, coniuncta et consociata cum altera perveniret [Übers., Feger, S. 35]). Laelius betont zudem die Notwendigkeit einer gleichen Gesinnung, die eine Übereinstimmung in Charakter und Wesensart verlange (vgl. Lael. 27: […] deinde cum similis sensus exstitit amoris, si aliquem nacti sumus cuius cum moribus et natura congruamus, quod in eo quasi lumen aliquod probitatis et virtutis perspicere videamur [Übers., Feger, S. 15]). Vor allem die gegenseitige Treue findet dabei eine besondere Betonung. Vgl. Lael. 65: Firmamentum autem stabilitatis constantiaeque est, eius quam in amicitia quaerimus, fides: nihil est enim stabile quod infidum est (Übers., Feger, S. 29). Vgl. Aelred, Spir amic. 1,8 (lateinischer Text und Übersetzung hier und im Folgenden nach der zweisprachigen Ausgabe von Haacke, Unterstreichungen durch S.R.): […] Constat enim Tullium uerae amicitiae ignorasse uirtutem; cum eius principium finemque, Christum uidelicet, penitus ignorauerit. Ebd., 1,17: »An sich kannst du aus der Definition erkennen, mag sie dir auch wenig vollkommen vorkommen, was Freundschaft ist.« Vgl. ebd., 3,2: Fons et origo amicitiae amor est, nam amor sine amicitia esse potest, amicitia sine amore numquam. Ebd., 1,19: »Ich halte dafür, amicus, der Freund, leitet sich her von amor, die Liebe. Von amicus der Freund wiederum amicitia die Freundschaft. Die Liebe aber ist ein gewisser Antrieb der vernunftbegabten Seele, der sie etwas sehnsüchtig begehren läßt, um es genießen zu können.«

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

menschlichen Herzens (humani pectoris sensu) sei: Amicitia enim spiritalis quam ueram dicimus, non utilitatis cuiusque mundialis intuitu, non qualibet extra nascente causa, sed ex propriae naturae dignitate, et humani pectoris sensu desideratur; ita ut fructus eius praemiumque non sit aliud quam ipsa.20 Als Ursprung der Freundschaft gibt Aelred wie Cicero zunächst zwar auch die Natur an21 , diese wird jedoch im Folgenden als von Gott gegeben und auf diesen bezogen angesehen.22 Die ciceronianische Freundschaftsdefinition wird schließlich auf diesen religiös fundierten Freundschaftsbegriff übertragen: Amicitia itaque spiritalis inter bonos, uitae, morum, studiorumque similitudine parturitur, quae est in rebus humanis atque diuinis cum beneuolentia et caritate consensio.23 Dementsprechend werden die von Cicero zur Veranschaulichung seines Freundschaftsideals angeführten historischen Beispiele durch solche aus der Bibel ersetzt. Darüber hinaus wird nun auch ähnlich wie bei Cicero das Bild des cor unum abgerufen.24 Da ‚wahre‘ Freunde »ein Herz und eine 20 Ebd., 1,45: »Geistige Freundschaft allein ist wahr und echt. Nicht irdischer Gewinn, nicht sonst ein Grund, der außen liegt, führt zu ihr hin; es ist die innere Würde ihres Wertes, das Sehnen des Menschenherzens, das ist ihr Grund; Frucht und Lohn trägt sie in sich, ist sie sich selbst.« Aelred unterscheidet im Folgenden eine fleischliche, eine weltliche und eine geistige Freundschaft (1,38). Die fleischliche Freundschaft erwachse aus dem Gefühlsleben und wird mit einer Hure (meretrix) verglichen. Sie sei den Trieben gegenüber machtlos und kenne weder Maß noch Anstand (1,41). Auf eine ähnliche Ablehnung stößt die weltliche Freundschaft, da sich diese allein auf ein materielles Glück ausrichte (1,42). Zwar gesteht Aelred ein, dass es auch eine auf Sinnlichkeit beruhende Freundschaft gebe, doch diese täusche die Menschen mit einer gewissen Ähnlichkeit zur wahren Freundschaft, erlaube es aber niemals deren eigentümliche »Süßigkeit« zu kosten. Wie Laelius betont auch Aelred die besondere Bedeutung des Tugendbegriffs, der im Zentrum des Freundschaftsgedankens steht. Vgl. ebd., 1,61: Manifestum proinde est amicitiam naturalem esse sicut uirtutem, sicut sapientiam, et caetera quae propter se, quasi bona naturalia, et appetenda sunt et seruanda […] (»Freundschaft ist also eine naturgegebene Tugend, ähnlich wie die Weisheit und andere natürliche Gaben, die um ihres Eigenwertes anzustreben und zu bewahren sind«). Der Ursprung der Tugenden ist Aelred zufolge jedoch Gott, von dem geschrieben stehe: »Herr der Tugendkräfte ist er, der König der Herrlichkeit« (ebd., 1,27: Dominus uirtutum ipse est Rex gloriae). 21 Aelred, Spir amic. 1,58: Ita natura mentibus humanis, ab ipso exordio amicitiae et caritatis impressit affectum, quem interior mox sensus amandi quodam gustu suauitatis adauxit. 22 Aelred, Spir amic. 2,20f.: 20. Quocirca in amicitia coniunguntur honestas et suavitas, ueritas et iucunditas, dulcedo et uoluntas, affectus et actus. Quae omnia a Christo inchoantur, per Christum promouentur, in Christo perficiuntur. Non igitur uidetur nimium grauis uel innaturalis ascensus, de Christo amorem inspirante quo amicum diligimus, ad Christum semetipsum amicum nobis praebentem, quem diligamus; ut suauitas suauitati, dulcedo dulcedini, affectus succedat affectui. 21. Itaque amicus in spiritu Christi adhaerens amico, efficitur cum eo cor unum et anima una; et sic per amoris gradus ad Christi conscendens amicitiam, unus cum eo spiritus efficitur in osculo uno. […] Vgl. hierzu auch Leclercq, Monks and love, S. 63f. 23 Aelred, Spir amic. 1,46: »Geistige Freundschaft kommt zustande unter guten Menschen, von gleicher Lebensart, von guten Sitten und geistigem Eifer; dann ist sie wahrhaft die mit Wohlwollen und Liebe gepaarte Übereinstimmung in menschlichen und göttlichen Dingen.« 24 Vgl. hierzu auch Dronke, Medieval Latin I, S. 195.

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Seele« würden, stelle auch der Austausch von ‚Herzensgeheimnissen‘ einen wesentlichen Bestandteil der Freundschaft dar. Es geht Aelred um Freunde, die er nicht weniger liebt als sich selbst, denen er alle seine Geheimnisse anvertrauen kann.25 Der Gedanke einer gegenseitigen Verschmelzung findet sich bereits in Ciceros Laelius in zahlreichen Erscheinungsformen.26 Das auch in der Apostelgeschichte auftauchende Motiv cor unum et anima una stellt dabei das Ideal einer monastischen Gemeinschaft dar.27 Mit wenigen Ausnahmen werde dadurch die Freundschaft bzw. Liebe zwischen Männern zum Ausdruck gebracht28 , welche im Zuge einer zunehmenden Verinnerlichung auch räumliche Grenzen überwinden könne.29 Dieser Gemeinschaftsaspekt ist charakteristisch für den monastischen amicitia-Gedanken und stellt einen wesentlichen Unterschied zu antiken Vorstellungen dar.30 Aelred jedoch – und dies ist eine entscheidende Beobachtung – insistiert nun darauf, dass er nicht mit jedem Mönch seiner Klostergemeinschaft eine spirituelle Freundschaft pflege: Quam multos ergo diligimus quibus minus cautum est, sic nostrum propalare

25 Vgl. Aelred, Spir amic. 1,21: Amicitia igitur ipsa uirtus est qua talis dilectionis ac dulcedinis foedere ipsi animi copulantur, et efficiuntur unum de pluribus; 2,11: Quid igitur iucundius, quam ita unire animum animo, et unum efficere e duobus, […]; 3,6: Nam cum amicus tui consors sit animi, cuius spiritui tuum coniungas et applices, et ita misceas ut unum fieri uelis ex duobus […]; 3,7: […] ille ita tuus, et tu illius sis, tam in corporalibus quam in spiritalibus, ut nulla sit animorum, affectionum, uoluntatum, sententiarumue diuisio; 3,48: Cum enim amicitia de duobus unum fecerit, sicut id quod unum est non potest diuidi, sic et amicitia a se non poterit separari. 26 Wahre Freundschaft bewirke eine unzerbrechliche Einheit, sodass als verus amicus nur derjenige bezeichnet werden könne, qui est tamquam alter idem (Lael. 80). Noch deutlicher wird diese Notwendigkeit einer gegenseitigen Verbundenheit betont, wenn es heißt, dass der Mensch wie das Tier nach einem anderen Wesen von der gleichen Art suche und strebe (Lael. 81: qui et se ipse diligit, et alterum anquirit cuius animum ita cum suo misceat ut efficiat paene unum ex duobus [Übers., Feger, S. 35]). Der unus animus bestimmt Laelius zufolge das Wesen der Freundschaft. Vgl. Lael. 92: Nam cum amicitiae vis sit in eo ut unus quasi animus fiat ex pluribus, qui id fieri poterit si ne in uno quidem quoque unus animus erit idemque semper, sed varius commutabilis multiplex? (Übers., Feger, S. 39), wozu auch ein offenes Herz gehöre (Lael. 97: in qua nisi, ut dicitur, apertum pectus videas tuumque ostendas, nihil fidum, nihil exploratum habeas, ne amare quidem aut amari, cum id quam vere fiat ignores [Übers., Feger, S. 41]). 27 Act. 4,32: multidudinis autem credentium erat cor et anima una nec quisquam eorum, quae possidebant, aliquid suum esse dicebat, sed erant illis omnia communia. Vgl. hierzu Hyatte, The arts of friendship, S. 64. 28 Vgl. Ziolkowski, Twelfth-century understandings, S. 78, der auf die Verwendung des Motivs bei Cassian, Paulinus von Nola, Wilhelm von St-Thierry und Aelred von Rievaulx hinweist. 29 Vgl. hierzu u. a. Schnell, Causa amoris, S. 139. 30 Vgl. Jaeger, Ennobling love, S. 31: „Christianity complemented or checked ancient conceptions of friendship with a communal ideal, called in Latin caritas, in which love was given from the love of Christ to all alike for the sake of establishing peace and claustral paradise. This is very different from the ancient tradition, which always presupposes intense personal attachments between exceptional men distinguished by virtue and conformity of soul. The latter is not a communal experience.“

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animum, et effundere uiscera, quorum uel aetas, uel sensus, siue discretio, ad talia sustinenda non sufficit.31 Eine Einschränkung des monastischen Gemeinschaftsgedankens deutet sich hier an. Jaeger stellt daher fest: „Aelred faces the problem that all writers on friendship faced: love and friendship have two faces, one social, practical, looking to community interest, utility, self-interest; the other ‚pure,‘ disinterested, rooted in the inexplicable attractions and affinities that draw and join one person to another.“32 McGuire sieht darüber hinaus im Freundschaftsmodell Aelreds deutliche Ansätze für ein Verlangen nach physischer Präsenz.33 Auf eine solche konzeptionelle Weiterentwicklung ist – gerade vor dem Hintergrund der postulierten engen Bezüge zwischen monastisch-klerikaler und weltlicher Literaturtradition im Bereich der Freundschafts- und Liebeskonzepte – umso dringlicher hinzuweisen, als im 12. Jahrhundert durch das Motiv cor unum et anima una zum ersten Mal auch das Verhältnis zwischen Mann und Frau beschrieben wird.34 Wenn nämlich bereits in monastischen Kreisen eine Entwicklung hin zu einer exklusiven und auf Nähe beruhenden Freundschaftsidee zu beobachten ist, stellt sich die Frage, inwiefern im 12. Jahrhundert Freundschafts- bzw. Liebesdarstellungen zwischen Mann und Frau ebenfalls auf einer im monastischen Sinne sublimierten Grundlage oder doch bereits verstärkt physischen Basis beruhen könnten, wenn die Frau Teil eines bisher vornehmlich männlichen Freundschaften vorbehaltenen Freundschafts- und Liebesdiskurses wird.35 Für die hier vorgelegte Untersuchung

31 Aelred, Spir amic. 3,84: »Wir lieben also viele, aber es wäre unbesonnen, wenn wir diesen allen unsere Seele bloßlegten und unser Herz ausschütteten, denn nicht jedes Alter, nicht jeder Verstand, nicht eines jeden Urteilsvermögen ist reif, dieses zu ertragen.« Vgl. hierzu Carmichael, Friendship, S. 94. 32 Jaeger, Ennobling love, S. 113. Vgl. hierzu auch den weiter bis auf antike Traditionen ausgreifenden Aufsatz von Cassidy, He who has friends can have no friend. 33 Vgl. McGuire, Friendship, S. 329–331, u. a. ebd., S. 331: „Aelred’s pursuit of friendship can almost never be reduced to an intellectual meeting of minds. He insisted on telling his readers about the actual friendships he had had, how he experienced them, even how his friends had exchanged glances with him.“ Vgl. auch Hyatte, The arts of friendship, S. 67. 34 Als frühestes Zeugnis für eine Verwendung des cor unum-Gedankens in Bezug auf eine Verbindung des männlichen und weiblichen Geschlechts nennt Ziolkowski, Twelfth-century understandings, S. 79f., Chrétiens Cligès. Vgl. Chrétiens, Cligès, Vv. 2817–2836, S. 168 : Ses iauz et son cuer i a mis / Et cil li ra le suen promis. / Promis? Mes doné quitemant. / Doné? Non a, par foi, je mant, / Car nus son cuer doner ne puet. / Autremant dire le m’estuet. / Ne dirai pas si con cil dїent, / Qui an un cors deus cuers alїent; / Qu’il n’est voirs n’estre ne le sanble, / Qu’an un cors et deus cuers ansanble; / Et s’il pooient assanbler, / Ne porroit il voir ressanbler. Mes se vos i plest a antandre, / Bien vos savrai la reison randre, / Comant dui cuer a un se tienent / Sanz ce qu’ansanble ne parvienent. / Seul de tant se tienent a un, / Que la volantez de chascun / De l’un an l’autre se trespasse, / Si vuelent une chose a masse, […] (vgl. die Übersetzung ebd., S. 169). 35 Jaeger, Ennobling love, S. 105, versucht anhand der Briefliteratur des späten 11. und frühen 12. Jahrhunderts zu zeigen, dass aufgrund dieser Entwicklung ein neues ‚Image‘ der ‚Frau‘ entstehe.

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ist dabei entscheidend, dass eine derartige Annäherung zwischen monastischen und (vermeintlich) weltlich-säkularen Konzepten gerade auch auf sprachlicher Ebene erfolgt. Patterson etwa beobachtet, wie die außergewöhnliche Sprache der Freundschaft in die mittelalterliche Literatur eindringe und lexikalisch von der ‚höfischen‘ Sprache nicht mehr zu unterscheiden sei36 , wobei Anklänge an den einen oder anderen Diskurs teilweise nur indirekt und andeutungsweise erfolgten.37 Dies bedeutet zugleich, dass der Verweischarakter einzelner Begrifflichkeiten oder Motive wie das des cor unum stets auch die ‚ursprünglich‘ hinter diesen stehenden Modelle präsent hält, welche – je nach Prägung des Rezipienten – nicht automatisch ausgeblendet werden können und dadurch – gerade in literarischem Umfeld – zahlreiche Deutungsperspektiven eröffnen. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch im Hinblick auf den inhaltlich-sprachlichen Einfluss der ovidisch geprägten poetischen Liebestradition machen. 2.1.2

Mittelalterliche Anknüpfungen an die liebespoetische Ovid-Tradition

Die im Übergang vom 11. zum 12. Jahrhundert eine Renaissance erlebende OvidRezeption wird bezeugt durch eine rapide ansteigende Zahl an Manuskripten, in denen Texte Ovids – insbesondere seine Schriften über die ‚Liebe‘ – überliefert

Bereits in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts beobachtet er eine ethische Aufwertung des weiblichen Geschlechts: „woman the vessel of virtue, soft wax to Goodness, sensitive, loving and learning more intensely than hard-necked man“. 36 Patterson, Ambiguity and interpretation, S. 314: „Sanctioned by impeccable authority, the extraordinary language of friendship makes its way into medieval literary culture and becomes (the last thing the authors could have wanted) lexically indistinguishable from the language of fine amor.“ Jaeger, Ennobling love, S. 82, plädiert aufgrund solcher Überlegungen für einen Ursprung der ‚höfischen‘ Liebe in dem hier beschriebenen monastischen Freundschaftsideal. 37 Trotz dieser Parallelen zwischen monastischem Freundschaftsideal und der Beziehung zwischen Mann und Frau (Ziolkowski etwa stellt die Faszination für den Freundschaftsgedanken des 12. Jahrhunderts in einen engen Zusammenhang zur ‚höfischen Liebe‘) sind die Unterschiede beider Konzeptionen auf inhaltlicher Ebene ebenfalls zu berücksichtigen. So findet sich die Vorschrift der sexuellen Enthaltsamkeit als eines der wesentlichen Merkmale des monastischen Freundschaftsideals zwar in der ‚höfischen‘ Liebesvorstellung wieder, aber sie erfährt hier eine deutliche Einschränkung. Der ‚höfisch‘ Liebende versucht einerseits nicht wie ein ausschließlich triebgesteuertes Wesen seine sexuelle Begierde schnellstmöglich zu erfüllen, sondern ist dazu in der Lage, lange um die von ihm begehrte Frau zu werben und dabei sein körperliches Verlangen im Zaun zu halten. Andererseits ist die ‚höfische‘ Liebe jedoch stets auch auf eine körperliche Liebeserfüllung ausgerichtet. Von daher erhalte die ‚höfische Liebe‘ ihren Antrieb, wie etwa Schnell feststellt. „Gerade diese Zweipoligkeit ‚höfischen‘ Liebesverlangens“ mache es „den Literarhistorikern so schwer, sich im Einzelfall ein Urteil über die ‚Qualität‘ einer poetisch gestalteten Liebesbeziehung zu bilden“ (Schnell, Causa amoris, 150). Vgl. hierzu insgesamt ebd., S. 137–150.

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werden.38 Sowohl weltliche als auch geistliche Literatur zitiert den antiken Dichter, der in monastischen Kontexten dabei zudem als Autorität in keuscher bzw. ‚moralischer‘ Liebe fungiert und zu einem festen Bestandteil des Schulcurriculums wird.39 Patterson spricht dabei von einer regelrechten Rivalität zwischen dem Vokabular und den Werten von Ovids amor einerseits und Ciceros amicitia andererseits.40 In Bezug auf die weltliche Liebesdichtung des 13. und 14. Jahrhunderts unterscheidet er drei Kategorien von Liebeshaltungen: eine ovidische, eine anti-ovidische und eine dritte, nicht definierbare Haltung, die sich des Vokabulars ovidischer amor-Haltung und ciceronianischer amicitia-Theorie bediene, ohne dass beide Liebeskonzeptionen streng zu trennen seien.41 Beispielhaft vorführen lässt sich dies etwa anhand der in der mittelalterlichen Literatur weit verbreiteten und sowohl in lateinischen als auch volkssprachlichen Texten begegnenden Frage nach dem Vorrang von miles oder clericus. In der Regel wird dem Geistlichen der Vorrang gegeben42 , der sowohl im Hinblick auf seine literarische Begabung als auch in Liebesangelegenheiten dem Soldaten überlegen sei; vor allem seine rhetorischen Fähigkeiten erfahren stets eine besondere Betonung.43 Zurückgegriffen wird hierbei meist auf topische Argumentationsmuster44 , wobei der Witz Haller zufolge dadurch entsteht, dass der Leser der Texte die gewöhnlichen Charakteristika von clericus und miles kenne, die nun jedoch in ihr Gegenteil verkehrt würden.45 In der im Codex Buranus zu findenden 38 39 40 41

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Vgl. Leclercq, Monks and love, S. 27. Vgl. ebd., S. 64f.; Jaeger, Ennobling love, S. 79. Vgl. Patterson, Ambiguity and interpretation, S. 314–317. Vgl. ebd., S. 315ff. u. S. 327: „Ambiguity is usually recognized as a characteristic possessed by the text, an uncertainty of meaning in fact present in discourse itself “, sowie Schnell, Causa amoris, S. 18. Eine Ausnahme bildet das Lied „Florence und Blancheflor“. Vgl. hierzu Jackson, Streit, S. 293f., der u. a. auch auf die Verfasserschaft der Mehrzahl dieser Texte durch Kleriker verweist. Vgl. Jackson, Streit, S. 294: „Die Angriffe gegen den Ritter richten sich weniger gegen dessen Liebesbegehren als gegen die Art, in der er seine Bitte vorträgt; ihm fehlen die Kenntnisse des Meisters der Liebeskunst, um sich mit dem clericus messen zu können […].“ Vgl. in diesem Zusammenhang auch CB 138, in dem die jungfräuliche Zierde (decus virginale) die schriftkundigen Gelehrten (litterati) dem tierischen Verstand (pectus bestiale) der Laien vorzieht: Litteratos conuocat decus uirginale, / laicorum execrat pectus bestiale [III,1f.]. U.a. wird auch bei Andreas Capellanus gerade die Fähigkeit des Klerikers im Umgang mit Worten im Zusammenhang des Liebesgewinns betont (s. Kap. 2.3.3). Inwiefern die oftmals satirisch angelegten Texte auch auf gesellschaftliche Veränderungen hinweisen, wird in der Forschung diskutiert. Vgl. Jackson, Streit, S. 299. Die erhaltenen Zeugnisse gelten Fleckenstein, Miles und clericus, S. 304, zufolge als symptomatisch dafür, dass sich im 12. Jahrhundert im Verhältnis von miles und clericus etwas Grundlegendes verändere. Diese Veränderung löse eine Differenzierung aus, die Teile beider Gruppen miteinander in einen engeren Kontakt bringe. Vgl. hierzu erneut auch Jackson, Streit, S. 298, sowie unten den Exkurs zur curialitas. Vgl. hierzu generell Hunt, Aristotle, S. 107. Vgl. Haller, Altercatio, S. 122–123. Dass Kleriker in Texten wie der Altercatio de Phillide et Flora als Liebhaber gelobt werden, wurde in der Forschung lange Zeit auf einen Erfolg zurückgeführt, der

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Altercatio De Phillide et Flora (CB 92) beispielsweise zeichnen nicht Enthaltsamkeit und Armut den Geistlichen aus, sondern Wohlstand und Fülle.46 Flora wirft den Rittern vor, ihre Glieder und ihre Brust seien schwächlich (Str. 26); der clericus dagegen besitze volle Kammern, »gefüllt mit Honig, Öl, Getreide und Wein« (Str. 23); er sei wohlhabend und großzügig, verfüge über Gold und Edelsteine. Gegen die Pfeile der Venus sei der Geistliche nicht »unempfindlich« und sehe dabei dennoch »nicht mager und verhärmt« aus (Str. 25). Phyllis, die sich für den Ritter ausspricht, bezeichnet die Kleriker dagegen als »füllig, fett und schwer«.47 In Hinsicht auf den miles lobt sie dessen Tüchtigkeit im Kampf: Er zerstöre mit seinen Waffen feindliche Burgen und fürchte sich nicht, einem Gegner allein gegenüberzutreten (Str. 31). Flora jedoch lässt sich nicht verunsichern und verteidigt ihre Wahl ein zweites Mal. Der Kleriker sei nicht nur reich und wohlgenährt, sondern verfüge auch über eine wissenschaftliche Bildung. Wenn sein Geist sich zu der ihm angemessenen Tätigkeit erhebe, analysiere er »die Himmelsbahnen und die Natur der Dinge« (Str. 39). Zudem heißt es, dass der Kleriker über den Ritter verfügen könne und daher auch mächtiger als dieser sei (Str. 38). Vor allem in Sachen Liebe gebe der clericus dem miles Anweisungen: Quid Dione ualeat et amoris deus, primo nouit clericus et instruxit meus; factus est per clericum miles Cythareus. est semper huiusmodi tuus sermo reus.

‚eigentlich‘ im ‚Betätigungsfeld‘ eines Ritters liege. Man vermutete, dass es sich um einen direkten Hinweis auf gesellschaftliche Phänomene handele. Besonders die Gruppe der curiales als der am Hof tätigen Geistlichen wurde hierbei in den Blick genommen (s. unten: Exkurs). Dabei ging man davon aus, dass es um ihre Verdienste in Sachen Liebe gehe, die innerhalb solcher Texte zur Diskussion stünden. Haller, ebd., S. 120f., weist jedoch auf die Defizite einer solchen Interpretation hin, da hierbei der literarische Status derartiger Texte nicht berücksichtigt werde. Auch die Vermutung, dass man die Qualität als Liebhaber im Sinne von Kultiviertheit und Eleganz deuten könne, lehnt er ab. Vgl. ebd., S. 121: „The terms in which the knightly and clerical life are praised are hardly flattering to the holders of these offices, or to the offices themselves.“ Vgl. hierzu sowie insgesamt zum satirisch-parodistischen Charakter des Textes ebd., S. 127, sowie Freese, Art., Streitgedicht, Sp. 175, und Jackson, Streit, S. 299f., welcher zudem u. a. auch auf das volkssprachliche Gedicht Hueline et Aiglantine verweist. 46 Zu den Liebesdialogen des Codex Buranus vgl. unten Kap. 2.4.3. Lateinischer Text des Liedes und deutsche Übersetzungen nach der Ausgabe von Vollmann. 47 Vgl. De Phillide et Flora, Str. 16, Vv. 3f.: nichil elegantie clerico concedo, / cuius implent latera moles et pinguedo.

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

Was Dione vermag und der Gott der Liebe –  als erster wußte und lehrte es mein Kleriker; durch den Kleriker ist der Ritter zum Venusritter geworden. Aus diesen und ähnlichen Gründen ist dein Plädoyer zu verwerfen. (Str. 41, Übers. Vollmann)

Nach einigem Hin und Her erreichen die beiden Mädchen die Wohnstatt des Knaben Amor, den sie um ein Urteil in ihrem Streit bitten. Ohne nähere Begründung verkünden nun die Richter des Liebesgottes ihre Entscheidung48 : Dem clericus wird der Vorrang gegeben (Str. 78).49 Neben der zu beobachtenden gegenseitigen inhaltlich-motivischen Durchdringung paganer und klerikaler Vorstellungsbereiche – wenn der Kleriker den Ritter als Liebhaber überbietet –, lassen sich in dieser Art der Altercatio-Literatur immer wieder auch sprachliche Überschneidungen des einerseits ovidisch und andererseits ciceronianisch geprägten Liebes- bzw. Freundschaftsvokabulars beobachten. Sehr deutlich macht das so genannte „Liebeskonzil von Remiremont“50 hierauf aufmerksam, welches die genannte Thematik ebenfalls in Form eines Streitgesprächs behandelt und von einer im April stattfindenden puellaris contio berichtet. Der parodistische Bezug auf Kirchenkonzile und die christliche Liturgie liegt hierbei auf der Hand51 ; der Autor des Textes lässt keinen Zweifel daran, was für ein ungewöhnliches Ereignis beschrieben wird52 :

48 In CB 82, in dem sich Thymian und Sauerampfer über den Vorrang von Ritter und Kleriker streiten, wird ebenfalls dem Kleriker der Vorzug gegeben. Auch hier wird u. a. darauf verwiesen, dass die Ritter nicht wüssten, richtig zu lieben; warum der Kleriker letztendlich den Vorzug erfährt, wird jedoch ebenfalls nicht näher begründet: ‚[…] Clerici in frigore / obseruant nos in semine, / pannorum in uelamine, / deinde et in pixide.‘ mox de omni clerico / amoris fit conclusio (Str. 7). Vgl. zu diesem Lied auch Schulz, Konzil, S. 57f., sowie Vollmann, S. 1048, der in den Namen eine „Weiterentwicklung der Mädchennamen Phyllis ‚Blattkind‘ […] und Flora ‚Blumenkind‘“ vermutet. Eine Verwandtschaft des Liedes mit CB 92 ist naheliegend. 49 Auffällig ist hierbei zudem die enge Anknüpfung an eine für die Minnekasuistik typische Rechtsterminologie: Eunt et iustitie uentilant uigorem, / uentilatum retrahunt curie rigorem: / secundum scientiam et secundum morem / ad amorem clericum dicunt aptiorem (Str. 78). 50 Zur Datierung vgl. Reuben, The council of Remiremont, S. 5: „The evidence presented here supports a dating within the years 1140–61/4 for the composition of the poem“. 51 Vgl. Reuben, The council of Remiremont, S. 3; Schulz, Konzil, S. 42–54. 52 Lateinischer Text und deutsche Übersetzung hier und im Folgenden nach der Ausgabe Kuschs, S. 354–367 (im Folgenden: Liebeskonzil).

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Tale non audivimus nec fuisse credimus; In terrarum spacio a mundi principio Tale nunquam factum est, sed neque futurum est. In eo concilio de solo negocio Amoris tractatum est, quod in nullo factum est. So etwas haben wir nicht gehört und glauben auch nicht, daß es geschehen ist; auf dem Erdenraume ist seit Beginn der Welt so etwas nie geschehen und wird auch nicht mehr geschehen. Auf diesem Konzil wurde nur über das Thema Liebe verhandelt, was auf keinem je geschehen ist. (Vv. 4–8, Übers. Kusch)

Zu der Versammlung, auf der das Thema Liebe verhandelt wird, ist niemand, qui vir dicitur (V. 10), zugelassen. Es geht um die Frage, ob Kleriker oder Ritter (hier gleichbedeutend mit laici) die besseren Liebhaber sind. Gleichsam wie das Evangelium wird die Ars amatoria Ovids aufgeschlagen, da die Nonnen dem Liebesgott Cupido und seiner Mutter Venus Gefolgschaft leisten.53 Vorgelesen wird das Evangelium von Eva von Deneuvre potens in officio / Artis amatorie (Vv. 29f.). Der Einfluss Ovids ist wesentlich für den Verlauf und die Gestaltung des Konzils54 , dem wie in der Ars amatoria und den Remedia amoris die Rolle eines Liebeslehrers zugewiesen wird (V. 27: doctor egregius). Zunächst tritt die als sehr gelehrt charakterisierte Frau Kardinalin55 in die Mitte der Versammelten, wobei ihre Beredsamkeit eine besondere Betonung erfährt: Hec talis in omnibus docta satis artibus / Habens et facundiam secundum scientiam.56 Ihr Ruhm seien Liebe (amor), lascivia und die Freude des April und Mai (Nos, quarum est gloria amor et lascivia / Atque delectatio Aprilis cum Maio, Vv. 49f.). Die Konnotationen, die durch die verwendeten Begrifflichkeiten abgerufen werden, machen sehr deutlich, dass eine rein geistliche

53 Schulz, Konzil, S. 50, spricht von dem „Konzept einer erotischen Religion“ und sieht einen besonderen Reiz darin, dass die unterhaltsame Thematik gerade dadurch gesteigert werde, dass man sehr ernst dabei erscheine. 54 Vgl. Ovid, Ars amatoria (Edition Holzberg, lateinischer Text und Übersetzung), Vv. III, 233f., S. 128f.: »Aber das Volk darf erst dann, wenn sie fertig sind, ihnen sich nähern; / So macht auch ihr nur, solang Männer nicht da sind, euch schön« (Sed neque ad illa licet populo, nisi facta, venire. / Nec nisi summotis forma paranda viris). 55 Schulz, Konzil, S. 44, verweist auf ihre nicht näher bestimmte Identität – ein Name wird nicht genannt – und beschreibt sie „als eine überirdisch erscheinende Person […], die absolute Autorität besitzt.“ Er glaubt ebd., S. 79f., in ihr die mythische Flora – „quasi als ‚Maienkönigin‘“ mit deutlichen Marienattributen – zu erkennen. 56 Liebeskonzil, Vv. 46f.: »Diese so aussehende , in allen Künsten sehr gelehrt, / auch im Besitz einer der Wissenschaft entsprechenden Beredsamkeit, […].«

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

Liebe wohl kaum den Gegenstand der Auseinandersetzung bildet.57 Die Kardinalin handelt im Auftrag Amors, dem sie treu ergeben sei und der sie hierher gesandt habe, um den Lebenswandel der puellae amantes zu untersuchen. Darauf, dass die Nonnen nicht durch eigene Erfahrungen wüssten, was ein Mann tun könne, wird besonders hingewiesen: Harum in noticia ars est amatoria; / Sed ignorant opere, quid vir sciat facere.58 Im Verlauf der Debatte entstehen jedoch deutliche Zweifel an dieser Behauptung. Elisabeth de Falcon59 bekennt ihre Freundschaft zu den Klerikern: Clericorum gratiam, laudem et memoriam / Nos semper amavimus et amare cupimus, / Quorum amicitia nil tardat solatia.60 Die Geistlichen werden als leutselig (affabilis), angenehm (gratus) und liebenswert (amabilis) charakterisiert. Ein Mann muss den Nonnen des Liebeskonzils zufolge offenbar über solche Eigenschaften verfügen, um als Liebhaber in Frage zu kommen. Obwohl von amicitia die Rede ist, deuten die folgenden Verse im Hinblick auf das imaginierte Verhältnis zwischen Klerikern und Nonnen auch auf einen erotisch-physischen Beziehungsaspekt hin: Clericorum copula, hec est nostra regula, Nos habet et habuit et placet et placuit; Quos scimus affabiles, gratos et amabiles. Inest curialitas clericis et probitas. Non noverunt fallere neque maledicere. Amandi periciam habent et industriam. Die Verbindung mit den Klerikern, das ist unsere Regel, fesselt uns und hat uns gefesselt und gefällt und hat uns gefallen; wir kennen sie als leutselig, angenehm und liebenswürdig. Die Kleriker besitzen höfisches Wesen und Redlichkeit. Sie wissen nicht zu täuschen noch zu schmähen. Im Lieben besitzen sie Erfahrung und Fleiß. (Vv. 70–75, Übers. Kusch)

57 Zum weiten Konnotationsfeld des Begriffes der lascivia und dessen Verwendung im mittelalterlichen Schrifttum vgl. ausführlich Eder, Natureingang, S. 276ff. 58 Liebeskonzil, Vv. 35f.: »Ihnen ist die Kunst der Liebe bekannt; / aber sie kennen nicht aus der Praxis, was ein Mann tun kann.« 59 Zur historischen Verortung der hier genannten Namen vgl. Reuben, The council of Remiremont, S. 56f. 60 Liebeskonzil, Vv. 67–69: »Der Kleriker Gunst, Lob und Minne / haben wir immer geliebt und wollen wir lieben, / deren Freundschaft mit Tröstungen nicht zögert.«

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Der Begriff regula knüpft dabei einerseits an die monasticae regulae an61 ; die sexuelle Konnotation clericorum copula wird andererseits verbunden mit den Idealen der curialitas, welche die Adjektive affabilis, gratus und amabilis62 kennzeichnen (V. 149).63 probitas und bonitas als Eigenschaften der Kleriker werden im Zusammenhang mit der eindeutig Sinnliches konnotierenden Formulierung flores colligere erwähnt: Sed flores colligere, rosas primas carpere His tantum concessimus, quos de clero novimus. Hec nostra professio erit et intentio, Clericis ad libitum persolvere debitum, Quotquot oblectamina viro debet femina. Idem proposuimus et voto firmavimus. Quicquid dicant alie nobis adversarie, Clericis nos dedimus nec eos mutabimus. Clericorum probitas et eorum bonitas Semper querit studium ad amoris gaudium. Ad eorum gaudia tota ridet patria.

61 Vgl. Bretzigheimer, Artes Amoris, S. 226. 62 Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 219, stellt fest, dass dies die gleichen gesellschaftlichen Tugenden seien, die schon seit dem frühen Mittelalter an Hofbeamten so sehr geschätzt würden. 63 Ähnliche Merkmale tauchen etwa auch bei Andreas Capellanus auf, wenn es um die Darstellung ‚höfischer‘ Eigenschaften geht. In De Amore wird einem Liebenden erklärt, auf welche Weise der Zustand erlangter Liebe bewahrt werden könne. Genannt werden die liebevolle Fürsorge für die Liebespartnerin, maßvolle Körperpflege, Demut und tadelloses Verhalten. Abschließend heißt es bezogen auf diese Eigenschaften: Praeterea generali sit sibi regula comprehensum, quod, quidquid curialitatis ordo deposcit, eiusque doctrina suadet, illud non est ab amantibus omittendum sed sollicitiori studio faciendum. – »Es soll für ihn die allgemeine Regel als Zusammenfassung gelten, daß von den Liebenden, was immer die Ordnung des höfischen Lebens (curialitatis ordo) fordert und dessen Lehre rät, nicht außer acht gelassen werden darf, sondern mit sorgfältigem Bestreben ausgeführt werden muß.« Vgl. Andreas Capellanus, De amore (Ausgabe 2006 mit der Übersetzung von Knapp), I,1,10 (S. 380f.). Auffällig im De amore ist jedoch, dass direkt im Anschluss ein Hinweis darauf folgt, dass die Liebe auch »durch den Genuß der ergötzlichen und süßen Wonnen des Fleisches bewahrt« (Übers. Knapp) werde.

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

Aber Blumen zu sammeln, die ersten Rosen zu pflücken, haben wir nur denen erlaubt, die, wie wir wissen, vom Klerus sind. Das wird unser Gelübde und unser Streben sein, den Klerikern beliebig zu geben, was man schuldig ist, alle die Freuden, die eine Frau einem Manne schuldet. Das haben wir uns vorgenommen und durch Gelübde bekräftigt. Was auch andere – unsere Gegnerinnen – sagen mögen, den Klerikern haben wir uns ergeben, und wir werden sie nicht eintauschen. Die Brauchbarkeit der Kleriker und ihre Güte verschafft immer Lust zur Liebesfreude. An ihrer Freude freut sich das ganze Vaterland mit. (Vv. 134–144, Übers. Kusch)

Die Ritterdamen dagegen verteidigen die Liebe zu ihren milites, deren milicia und lascivia ihnen gefalle (V. 113). Sie weisen darauf hin, dass es auch eine andere Art zu lieben gebe: sed est nobis alia amandi sententia.64 Die Argumente zugunsten der Ritter sind jedoch weniger umfangreich; Anerkennung findet vor allem die ritterliche Furchtlosigkeit im Kampf um die Damen (Vv. 115–120). Dagegen bekennen die Nonnen selbstbewusst, dass sie die Freuden, die eine Frau dem Mann schulde, lediglich dem Klerus zugestanden hätten. Die Ritterliebe bezeichnen sie als verabscheuenswürdig, elendig und unbeständig: Experto credendum est, cui bene certum est, / Certum est et cognitum, quid sit amor militum, / Quam sit detestabilis, quam miser et labilis.65 Die milites seien durch Leichtsinn (levitas) und Geschwätzigkeit (garrulitas) gekennzeichnet und könnten kein Geheimnis für sich behalten (Vv. 158f.). Bei den Rittern werde man daher weder Glück (felicitas) noch Treue (fidelitas) finden, weshalb den Klostermädchen die Liebe zu ihnen verboten wird (Vv. 95f.). Als eine „Profession“ des Klerikers findet vor allem auch seine künstlerische Betätigung Anerkennung: Ad eorum gaudia tota ridet patria. Laudant nos in omnibus rithmis atque versibus. Tales iussu Veneris diligo pre ceteris. Dulcis amicicia clericis est gloria. Quicquid dicant alie, apti sunt in opere.

64 Liebeskonzil, V. 111. 65 Ebd., Vv. 82–84: »Einem Erfahrenen muß man glauben, dem wohlbekannt ist, / feststeht und bekannt ist, was Ritterliebe heißt, / wie sie verabscheuenswert, kläglich und unbeständig ist.«

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An ihrer Freude freut sich das ganze Vaterland mit. Sie loben uns in allen Reimen und Versen. Solche Leute liebe ich auf Geheiß der Venus vor allen andern. Süße Freundschaft bringt Klerikern Ruhm. Was auch andre sagen mögen – sie sind tüchtig im Liebeswerk. (Vv. 144–148, Übers. Kusch)

Die Kleriker sind folglich nicht nur gute Liebhaber, sondern auch als Dichter lobenswert. Die mehrmals angedeutete körperliche Liebe zu Vertretern des Klerus ist dabei jedoch nicht als eine willkürliche sexuelle Liebesbereitschaft zu verstehen, nur einem einzigen Liebhaber solle man sich – ganz im Sinne des ‚höfischen‘ Liebesdiskurses – hingeben und ihm allein dienen.66 Die Berührung von Körper, Hüfte und Schenkel dürfe jedoch niemals den Rittern gewährt werden, da man aufgrund ihres schlechten Rufs (infamia) sein Ansehen (gloria) verliere (Vv. 185–192). Nonnen, die sich auf die Liebe zu Rittern einließen, drohe schließlich die Exkommunikation. Dieser Ausgang der Versammlung zeigt, dass die Zugehörigkeit zum Klerus ein ausschlaggebendes Kriterium für die Legitimation eines Liebesverhältnisses zu sein scheint. Dabei ist erneut auf das Spiel mit literarischen Konventionen und der gesellschaftlich-kulturell vorgeprägten Charakteristik von Kleriker und Ritter zu verweisen.67 Die bereits angesprochene wechselseitige Durchdringung des Freundschafts- und Liebesvokabulars sticht in diesem Zusammenhang sehr deutlich ins Auge (s. oben Vv. 146f.: Veneris […] amicicia): Terminologisch erfolgt keine strenge Trennung zwischen unterschiedlichen Sprachen der Liebe bzw. Freundschaft. Diese Ambiguität wird verstärkt durch die konnotativ durch einzelne Worte abgerufenen Liebeskonzeptionen. Während einerseits betont wird, dass keine der Frauen aufgrund eigener Erfahrungen wisse, was ein Mann tun könne, weisen andererseits zahlreiche Formulierungen aufgrund ihrer textuellen Prägung in anderen Kontexten auch auf eine – freilich literarisch-spielerisch unterstellte – erotisch-physische Liebe der Nonnen zu den Klerikern hin. Wie bereits im Hinblick auf den ciceronianischen Freundschaftsgedanken vorgeführt, lässt sich gerade anhand einer solchen wechselseitigen vokabularisch-konzeptionellen Durchdringung eine Annäherung zwischen lateinischen und volkssprachlichen Literaturtraditionen beobachten. Die Forschung sieht dabei bisweilen auch eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, worauf u. a. der Begriff der curialitas (‚Höfischkeit‘) verweise, welche im Liebeskonzil den Klerikern zugesprochen wird (V. 73). 66 Vgl. ebd., Vv. 179f.: Nulla vestrum pluribus se det amatoribus / Uni soli serviat, et ille sufficiat. 67 Vgl. Reuben, The council of Remiremont, S. 108: „Yet the Council contains no real discussion of the basic nature of love, but rather an extensive inquiry into the character and relative merits of lovers based on their respective professions (cleric and knight).“

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

Exkurs: curialitas

Als höfische Literatur gilt Lutz zufolge in der Regel die, welche „der curialitas verpflichtet“ sei.68 Die Bedeutung des Begriffs ist in der Forschung jedoch nicht eindeutig geklärt. Seine Definition fällt schwer, da er je nach Texttyp eine unterschiedliche Verwendung findet. Während das volkssprachliche Pendant cortoisie/ hövescheit aufgrund seiner „programmatischen Funktion innerhalb der Gattungen der höfischen Literatur“ positiv konnotiert sei, werde der lateinische Begriff „in äußerst heterogenen Verwendungskontexten und Gattungstraditionen“ gebraucht.69 Den Widersprüchlichkeiten in der lateinischen Hofterminologie geht Jaeger in seiner Untersuchung zur Entstehung der höfischen Kultur nach und postuliert dabei unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen und politischen Lebens eine im 12. Jahrhundert stattfindende Annäherung des klerikalen und laikalen Standes.70 Bereits Köhn betont in diesem Zusammenhang die Schwierigkeiten einer Definition von curialis bzw. curiales.71 Letztere Bezeichnung weise zunächst prinzipiell auf die „Zugehörigkeit zum Hofgefolge“72 hin. Im Zuge der von klerikaler Seite geäußerten Hofkritik verdeutlicht er dennoch „eine mehr oder weniger pejorative Bedeutung“ der Wörter „‚curia‘ und ‚curialis‘ (als Adjektiv und Substantiv) im 12. Jahrhundert“73 . Laut Jaeger wird mit dem Adjektiv curialis im 11. Jahrhundert zwar eine „höfische Kultiviertheit“ bezeichnet, die aber zunächst eher negativ konnotiert sei.74 Dennoch erkennt er eine zunehmende Ambiguität der Wortsemantik, welche um einen positiven Bedeutungswert ergänzt werde.75 Dabei trete zudem eine Überlegenheit des clericus gegenüber dem miles hervor, da gerade der Hofgeistliche über die „überlegenen Waffen intellektueller Gewandtheit und Demut“ verfüge.76 Bezogen auf die im klerikalen Bereich meist ebenfalls negativ konnotierte curialitas77 hebt bereits Köhn eine positive Bedeutungsverschiebung im Bereich

68 Lutz, Literatur der Höfe, S. 29. 69 Redzich, Höfische Liebeslehre, S. 22. Vgl. hierzu vor allem auch die begriffsgeschichtliche Untersuchung von Köhn, militia curialis. 70 Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 298f., vgl. außerdem Fleckenstein, Miles und clericus, S. 310f.; Krüger, Verhöflichter Krieger, S. 329–332. 71 Vgl. Köhn, militia curialis, S. 253. 72 Ebd., S. 238. 73 Ebd., S. 254. 74 Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 215. 75 Vgl. ebd., S. 248f. sowie S. 216. 76 Ebd., S. 72 77 Der Neologismus begegne zum ersten Mal im 11. Jahrhundert (nicht vor 1080 belegt, vgl. ebd., S. 212f., 220) als „Schmähwort konservativer Kleriker“, die mit diesem Ausdruck Hofsitten wie „Völlerei, Lüsternheit und luxuriöse Kleidung“ zu belegen beabsichtigten (ebd., S. 181, vgl. außerdem Schmidt, Curia und curialitas, S. 19f.). Die Entstehung des Hofes stelle „die Kompromissfähigkeit

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des Hoflebens selbst hervor: Der Neologismus bezeichne das „vollendete = höfische Verhalten eines gebildeten Menschen“, woraus er folgert, „daß der Hof nicht nur Inbegriff des Irdisch-Sündhaften sein konnte, sondern auch Ideal einer höheren Stufe im Prozeß der Zivilisation des mittelalterlichen Europa.“78 Noch deutlicher postuliert Jaeger ein sich hieraus entwickelndes Modell des ‚Hofmann-Bischofs‘, aus dem „ein christlich-humanistisches Ethos“ entstehe79 , wobei sich diese idealisierten Vorstellungen des ‚höfischen‘ Klerikers in von Jaeger untersuchten Bischofsviten finden, welche nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können, zumal das Amt des Hofkapellans stets den Stoff für heftige Auseinandersetzungen mit der Kirche biete. Jaeger verweist u. a. auf die Schriften Johannes’ von Salisbury und Peters von Blois, die „ein Korrektiv gegenüber der Idealisierung […] höfischen Lebens“ in der ‚weltlichen‘ Literatur böten.80 Mit Blick auf Hof und Kloster spricht Fleckenstein von „zwei Lebenskreise[n]“, die unter ganz verschiedenen Bedingungen stünden und vor allem kulturell entsprechend ihren unterschiedlichen Voraussetzungen gleichsam nebeneinander herliefen.81 Erneut bezogen auf den Hof selbst wird nun jedoch immer wieder herausgestellt, dass sich dort im 11. Jahrhundert eine Annäherung beider gesellschaftlicher Gruppen andeute, was auch die positive Bedeutungsentwicklung der curialitas belegen könnte.82 Ganz etwa stellt fest, dass sich trotz der Unterschiede zwischen Klerikern und Laien „ein Gruppenbewußtsein“ herausbilde, das „die rein juristische Klassifikation“ transzendiere.83 Sowohl

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kirchlicher Denker“ auf eine Probe, da sie an einer deutlichen „Trennung von spiritualia und saecularia“ interessiert seien, wie Schreiner, Hof, S. 90, erläutert: „Theologische Kritiker fällten ihre Urteile über den Hof und das dort gelebte Leben nicht im Blick auf die Bedürfnisse einer sich verselbständigenden Laienkultur; als Wertmaßstäbe benutzten sie das Kloster, die Schule, das Ideal der Nachfolge Christi, das Beispiel des von den Aposteln geführten Lebens (vita apostolica)“ (ebd.). Aus Sicht der von klerikaler Seite geäußerten Hofkritik ließen sich daher „höfisches Leben und Nachfolge Christi […] nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen“. Der curialitas als „dem höfischen Normen- und Verhaltenskodex“ widerspreche „das Ideal christlicher Armut“ (ebd., S. 94). Vgl. allerdings auch Schnell, Curialitas und dissimulatio, zur mittelalterlichen Hofkritik „als integraler Bestandteil der Diskussion um curialitas (‚Höfisch sein‘)“ (ebd., S. 134) – gerade auch in volkssprachlichen höfis che n Texten selbst und als „Bestandteil des höfischen Verhaltensideals“ (ebd., S. 122). Köhn, militia curialis, S. 254. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 146. Ebd., S. 90, 310. Vgl. hierzu vor allem auch Köhn, militia curialis, der ebd., S. 254, insbesondere auf die – im Unterschied zu dem Begriff der curialitas – sehr viel stärker pejorative Bedeutung der Ausdrücke curia und curialis eingeht (s. oben). Fleckenstein, Miles und clericus, S. 310. Auf die Differenzierung zwischen geistlichem und weltlichem Hof kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Erneut ist hierfür u. a. zu verweisen auf Köhn, militia curialis. Ganz, ‚hövesch‘/‚hövescheit‘, S. 42.

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

„die lateinisch schreibenden gebildeten clerici“ als auch „die militärisch ausgebildeten milites“ gehörten zur Hofhaltung und dort würden „klerikal und ritterlich durchaus nicht immer als absolute Gegensätze empfunden“; es sei im Gegenteil zu einer regelrechten Konvergenz gekommen.84 Knapp betont dagegen die weiterhin bestehende „soziale Trennungsmauer zwischen Klerikern und Laien“: Selbst im 13. und 14. Jahrhundert, als schon „einige Breschen“ hineingeschlagen worden seien, würden „pfaffen unde laien immer wieder einander gegenübergestellt“85 . Die im 12. Jahrhundert stattfindende Bedeutungsverschiebung des Begriffes curialitas scheint sich somit vornehmlich auf eine ethische Ebene zu beziehen. Jaeger spricht von einer „liberal-humanistische[n] Position“, die durch dieses Wort zum Ausdruck gebracht werde.86 Es benenne „Eigenschaften, die mit den christlichen Pflichten eines in der Welt lebenden Mannes völlig zu vereinbaren“ seien.87 Ohne jedoch im Hinblick auf die genannten Bedeutungsverschiebungen des Begriffes der curialitas ein abschließendes Urteil fällen zu können, legen die vorliegenden lateinischen und volkssprachlichen Texte nahe, dass im Bereich der Literatur der Begriff und die hiermit einhergehenden Implikationen frei verfügbar wurden und unterschiedliche literarische Gestaltungsmöglichkeiten eröffneten, wenn etwa wie oben im „Liebeskonzil von Remiremont“ die curialitas als eine Eigenschaft der

84 Ebd., S. 52. Neben der Ritterschaft werde hierbei die ‚höfische Liebe‘ zum „Kernbegriff einer neuen Adelsethik“, wie etwa Lienert, Liebesdiskurse, S. 23, herausstellt, welche auf den Grundgedanken einer Domestizierung der Triebe abhebt. Es gehe „um in Form von Ritterschaft limitierte Gewalt und um gebändigte Begierde“. 85 Knapp, Sprache und Publikum, S. 34. Dies habe sogar vielfach innerhalb der Klostermauern gegolten. 86 Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 181. 87 Ebd., S. 217. Szabó, Der mittelalterliche Hof, S. 384, weist ebenfalls nach, dass sich ‚die‘ curialitas von einer „Summe des schicklichen Verhaltens“ hin „zu einer Kategorie mit ethischen Dimensionen“ entwickle. Im klerikalen Schrifttum des 13. Jahrhunderts – so Redzich, Höfische Liebeslehre, S. 28 – werde das Wort sogar als „Synonym für Nächstenliebe oder Humanität“ greifbar. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 240, S. 297f., geht noch einen Schritt weiter: Anhand unterschiedlichster – sowohl theoretischer als auch literarischer – Textbeispiele versucht er nachzuweisen, dass es die Kleriker an den Schulen und bei Hof seien, die die ‚höfische‘ Lebensweise vermittelten (ebd., S. 297). Als eine „Domäne der curiales“ würden „die höfischen Verhaltensweisen […] durch Erziehung und eigenes Vorbild an die Laien, d. h. an das Rittertum“, weitergegeben (ebd., S. 298). Es erfolge eine Umwandlung ‚höfischer‘ in ‚ritterliche‘ Ideale (ebd., S. 240). Hier setzt Haug, Zusammenhang, S. 57–75, mit seiner Kritik an. Er stimmt Jaeger zunächst insofern zu, als der höfische Tugendkatalog nicht „eine Erfindung der ritterlichen Kultur des 12. Jahrhunderts“ sei (ebd., S. 58), sondern auf „das Konzept der curialitas“ zurückgehe, das sich seit dem 10. Jahrhundert an den Domschulen herausgebildet habe (ebd., S. 59). Die Schlussfolgerung, die Jaeger aus diesen Beobachtungen zieht, lehnt Haug jedoch ab und betont die Unterschiede zwischen dem curialitas-Konzept der klerikalen und höfischen Kultur. Die Position der Dichter an den Höfen dürfe nicht überschätzt werden, es handele sich bei ihnen nicht um „moralische Autoritäten“ (ebd., S. 64). Man habe „das klerikale Curialitas-Konzept mit seinem analogischen Weltbild nicht einfach übernommen“, da „jenes Weltbild im 12. Jahrhundert in eine Krise“ geraten sei (ebd., S. 68).

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Kleriker angeführt wird, um deren Vorrang gegenüber den milites argumentativ zu begründen.88 2.1.3

Bibelexegetische Tradition: Canticum canticorum

Ebenso wie die Texte Ciceros und Ovids sowohl konzeptionell als auch sprachlich den mittelalterlichen Liebesdiskurs grundlegend bestimmen, stellt die Sprache der Bibel und – im Hinblick auf das Sprechen über Liebe – vor allem das Hohelied einen zentralen Bezugspunkt dar. Die Ursprünge der Sammlung reichen weit in die Antike zurück, wenn auch die genaueren Umstände der Entstehung ungeklärt sind.89 Im Hinblick auf die ursprüngliche Deutung des Textes herrscht ebenfalls keine Einigkeit90 ; bereits die Frage, ob er als Dialog oder Monolog gestaltet oder gar durch dramatische Strukturen gekennzeichnet ist, wurde bisher nicht einheitlich beantwortet.91 Auch die inhaltlichen Lektüren münden in gegensätzliche Bedeutungskonstitutionen, zumal einer Auslegung des Textes dem Wortsinn nach fast durchgehend entgegengewirkt wird. Trotz der eindeutig erotisch konnotierten Metaphorik92 bzw. der sinnlich-weltliche Liebe im Wortsinn thematisierenden Inhalte93 dominierte hierbei stets die allegorische Auslegung des Textes bzw. seiner einzelnen Lieder, welche jedoch ebenfalls unterschiedliche Füllungen zulässt.94 So 88 Vgl. hierzu auch Schulz, Konzil, S. 45f. 89 Zur Entstehung des Textes vgl. Frank, Art., Hoheslied, Sp. 60, der die „Entstehung der Lieder“ vom „Entstehen der Sammlung“ unterscheidet und von einem einzigen Verfasser absieht. Zum Ursprung schreibt er ebd.: „Eine einhellige Meinung über Entstehung u. Sammlung der Lieder ist in der gegenwärtigen Forschung nicht festzustellen. Mehrheitlich wird die Sammlung in die nachexilische Zeit verlegt. Unbestritten ist auch der paläst. Ursprung sowohl der Lieder wie ihrer Sammlung. Die Annahme, daß das H. aus profanen Liebesliedern besteht, beherrscht heute weithin die H.Exegese.“ Zu den zahlreichen Einflüssen, die auf die Entstehung des Hohelieds in der vorliegenden Form eingewirkt haben, heißt es ebd., Sp. 61: „Wortwahl, Bildersprache, Metrum u. Liedform lassen an dichterische Arbeit, an höfische Dichtung denken. Einsicht in die hebr. Lyrik hat in den Liedern eigene Gattungen erkannt: Bewunderungslied, Vergleich u. Allegorie, Beschreibungslied, Selbstschilderung, Prahllied, Erlebnisschilderung u. Sehnsuchtslied.“ 90 Entscheidend ist hierbei die Unterscheidung zwischen ursprünglichem Verständnis und Gebrauch der Dichtung. Vgl. hierzu Gerhards, Hohelied, S. 479–482, der für eine bereits ursprünglich allegorische Deutung plädiert. 91 Eine Gliederung findet sich u. a. bei Gerhards, Hohelied, sowie Fischer, Das Hohelied Salomos. 92 Vgl. hierzu u. a. Hartmann, Odor spiritualium virtutum, S. 134–137. 93 Vgl. Staubli, Altorientalische Bildquellen, S. 27–42, zur wörtlichen Auffassung der erotischen Metaphorik des Hohelieds sowie Jung-Kaiser, Das Hohelied der Liebe, S. 11–26. 94 Vgl. Pollmann, Iam, dulcis amica, venito, S. 267: „Bekanntlich wurde in den Hoheliedinterpretationen, die einen beträchtlichen Anteil der Literatur der Patristik und des lateinischen Mittelalters bilden, dieses Bild bräutlicher Liebe auf die Liebe der Kirche zu Gott und Gottes zur Kirche, aber auch auf die Liebe der Einzelseele zu Gott – und umgekehrt – angewandt, hier und da wurde auch schon von der Anwendung des Bildes auf die Liebe zu Maria Gebrauch gemacht.“

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

ist das Hohelied als Buch des Alten Testaments zentraler Bestandteil der christlichjüdischen geistigen Tradition95 , verkompliziert wird die mittelalterliche Rezeption noch einmal dadurch, dass nicht allein das Hohelied der Vulgata rezipiert wurde, sondern ebenso weitere Fassungen im Zuge einer umfangreichen Kommentartradition bzw. Hoheliedliteratur, die ihrerseits wiederum eine Beeinflussungstradition begründeten.96 Für das 12. Jahrhundert ist insbesondere von zentraler Bedeutung, dass hier eine mariologisch orientierte Kommentartradition dominierte97 , was für den bisweilen eng an die Marienhymnik anknüpfenden Minnesang nicht unerheblich ist.98 Das Hohelied stellte dabei gerade aufgrund seiner Offenheit bzw. Uneindeutigkeit der Deutung für unterschiedlichste Literaturtraditionen einen besonders reizvollen Anknüpfungspunkt dar und kam literarischen Interessen entgegen. Trotz der umfassenden allegorischen Auslegungstraditionen sind dabei „dessen Einflüsse auf rein weltliche Liebeskonzeptionen und -konfigurationen in den europäischen Literaturen des Mittelalters nicht zu übersehen“99 . Inhaltlich-konzeptionell stellt das Hohelied eine Sehnsuchtsdichtung dar, die – je nach Deutung unterschiedlich akzentuierte – charakteristische Merkmale hierfür aufweist wie „Trennung der Liebenden“, „Ausdruck wechselseitigen Verlangens“ und „Zusammensein/Vereinigung der Liebenden“100 . Bereits aus dieser thematischen und auch strukturellen Text95 Die umfassende Auslegungstradition begann gemäß Frank, Art., Hoheslied, Sp. 62, bereits „um die Wende vom 1. zum 2. Jh. nC.“: „Verhandelt wurde die Verwendung der Lieder, ihr richtiges Verständnis“. Zur Auslegung von Jahwe als Geliebter und Israel als Geliebte vgl. ebd., Sp. 63. Zur christlichen Rezeption des Textes vgl. ebd., Sp. 66–87. 96 Vgl. hierzu Pollmann, Iam, dulcis amica, venito, S. 265ff., vor allem im Hinblick auf die unten besprochene Invitatio amicae. Dronke, The Song of Songs, S. 236, verweist zudem auf „Jerome’s Vulgate version […] the pre-Jerome version, the Vetus Latina […] A third version, in which Jerome revised the Vetus Latina, on the basis of the Greek Hexaplaric text“. 97 Vgl. u. a. Riedlinger, Makellosigkeit, S. 202ff., S. 202: „heilige Jungfrau als die Braut Christi“. 98 Zum Verhältnis von Hohelied und weltlicher Literatur vgl. u. a. Pollmann, Iam, dulcis amica, venito, S. 268: Die Hoheliedliteratur sei „ängstlich bemüht“, „jeden Verdacht der Parallelität mit profaner Liebe zu vermeiden. Diese scharfe Trennung beginnt sich erst im 12. Jahrhundert zu lockern“. Pollmann verweist hier u. a. auf Richard von St. Viktor und Landri von Waben. Vgl. hierzu genauer Ohly, Hohelied-Studien, S. 280ff. Im 12. Jahrhundert erfolgte zudem ein Übergang zur Volkssprache, vgl. ebd., S. 277ff. sowie S. 280, seine Ausführungen zu Landri von Waben: „Hiermit tritt die Hoheliedexegese zum ersten Mal in einen völlig neuen Lebensraum. Aus der theologischen Schule und der Welt der Klöster herausgelöst, sehen wir sie auf den höfischen Boden eines Grafensitzes verpflanzt, von dem wir wissen, daß unter Graf Balduin dort neben wissenschaftlichem Interesse auch eine lebhafte Aufgeschlossenheit für die weltliche Dichtung geblüht hat.“ 99 Schulz-Grobert, Lâ mich wesen dîn, S. 70. Er beobachtet hierbei etwa ebd., S. 72, eine „ebenso produktiv wie variantenreich“ gestaltete Arbeit mittelhochdeutscher Lyriker im Hinblick auf die Verwendung von Versatzstücken des Hohelieds zur Schönheitsbeschreibung. 100 Vgl. Schwienhorst-Schönberger, Das Hohelied, S. 480, mit weiteren Literaturhinweisen und einer Zusammenfassung der Forschungsdiskussion.

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Werbung und Liebesdiskussion in dialogisch angelegten lateinischsprachigen Texttypen

gestaltung ergeben sich zahlreiche Bezüge zu mittelalterlichen Liebesdichtungen. Vor dem Hintergrund der hier vorgelegten Arbeit spielt vor allem das Moment der Einladung in manchen Textpassagen eine Rolle, welches sich mit der Aufforderung zur Liebe – in einem an ein Gegenüber gerichteten Gestus – an die Dialogliteratur und insbesondere das Werbungsgespräch anknüpfen lässt.101 Froebe legt allerdings dar, dass die Liebenden des Hohelieds „immer wieder zueinander finden und sich ihre Liebe schenken“102 , und beschreibt diese als eine „Liebe zwischen Mann und Frau als einander ebenbürtiger Gegenpole“103 , welche er im Minnesang lediglich punktuell erkennt – vor allem bezogen auf das Tagelied, die nicht näher bestimmte ebene minne Waltherscher Prägung sowie die Zueignungsformel, wie sie etwa im berühmten Dû bist mîn, ich bin dîn begegnet (s. unten Kapitel 2.2.2). Im Werbungslied des Minnesangs wird mit der Möglichkeit der Liebeserfüllung lediglich imaginativ gespielt, der Werbende ist der dame sans merci zudem sehr deutlich untergeordnet. Trotz solcher konzeptioneller Unterschiede betrachtet Pollmann das Hohelied „als Brücke zu erotischer Dichtung“104 , was vor allem durch dessen Sprache bedingt ist, welche im Mittelalter in einer polyvalenten Weise sowohl Texte geistlich-spiritueller als auch paganer Provenienz grundlegend geprägt hat.105 Die Vielzahl von Einflussnahmen lässt sich hierbei häufig nicht mehr im Einzelnen nachvollziehen106 , da die Allgegenwärtigkeit der Sprache des Hohelieds so weit reicht, dass oftmals nicht eindeutig zu entscheiden ist, inwiefern es sich um bewusst intendierte Bezugnahmen auf den Ursprungstext handelt.107 Liver spricht in diesem Zusammenhang – bezogen auf klassisch-lateinische und spätantik-christliche Texttraditionen – von einer mittelalterlichen „Liebessprache“, „die aus einem gemeinsamen Fonds des Ausdrucks schöpfte, ob sie nun himmlische oder irdische Liebe beschrieb“108 . Entscheidend für die jeweilige Verwendung ist daher der unmittelbare Kontext, der wiederum durch die reichhaltigen Suggestionspotentiale zahlreicher der verwendeten Begrifflichkeiten, Aussageformen

101 Dass die Zuweisung einzelner Aussagen zu einem Sprecher nicht eindeutig ausfällt, ermöglicht darüber hinaus weitere Bezüge zum volkssprachlichen Werbungsdialog. 102 Froebe, Hohelied, S. 91. 103 Ebd., S. 94. 104 Pollmann, Iam, dulcis amica, venito, S. 279. 105 Literatur zur Rezeption des Hohelieds im Mittelalter: u. a. Schulz-Grobert, Lâ mich wesen dîn, S. 69–83; Froebe, Hohelied, S. 84–101; Astell, The Song of Songs in the Middle Ages; Matter, The voice of my beloved; Küsters, Der verschlossene Garten; Dronke, The Song of Songs; Ohly, Hohelied-Studien; Pollmann, Iam, dulcis amica, venito; Riedlinger, Makellosigkeit. 106 Dronke, The Song of Songs, S. 236: „If we wish to consider the influence of the Song of Songs in medieval lyric poetry, a crucial and difficult problem confronts us at the outset: the varied forms in which the love-language of the Canticle was cited and transmitted.“ 107 Vgl. Dronke, The Song of Songs, S. 236ff. 108 Liver, Pastourellen, S. 315.

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

und Motive bestimmt wird. Ein extremes Beispiel dafür, wie eine auf geistlichspirituellen Traditionen fußende Sprache in pagane Literatur eindringen kann, stellt die Pastourelle als ein spezifisch mittelalterlicher Texttyp dar. 2.1.4

Die mittelalterliche Pastourellen-Tradition

Das Texttypenmodell der Pastourelle ist zwar ebenfalls durch Anknüpfungen an antike Literaturtraditionen gekennzeichnet, aber insgesamt dennoch eine spezifisch mittelalterliche Prägung. Ähnlich wie im Hinblick auf die ovidische Liebestradition steht hier der erotisch-physische Aspekt der Liebe im Vordergrund. Gleichwohl ist diesem Texttyp hier ein eigenes Kapitel gewidmet, da die Art und Weise, wie Mann und Frau in der Pastourelle miteinander konfrontiert werden, an Gestaltungsmerkmale geknüpft ist, welche in zahlreichen anderen Texttypen sowohl der lateinischen als auch der volkssprachlichen Literatur auf große Resonanz stießen. Die ‚Gattungs‘-Frage insgesamt ist dennoch äußerst schwer zu beantworten und innerhalb der Forschung viel diskutiert, was u. a. bedingt ist durch eine teils problematische Ineinssetzung der provenzalischen, altfranzösischen, lateinischen und mittelhochdeutschen Dichtung, in der ‚die Pastourelle‘ – auf Basis der vorliegenden Textkorpora – jeweils unterschiedlich stark verbreitet ist und in unterschiedlichen Ausprägungen begegnet.109 Definitionsschwierigkeiten ergeben sich im Besonderen unter Einbezug der lateinischen und mittelhochdeutschen Literatur.110 So finden sich beispielsweise auch in den Liedern des Codex Buranus Beispiele für diesen

109 Anthologien: Bartsch, Romances (1870); Audiau (1923); Paden, The Medieval Pastourelle, Vol. 1/2 (1987) – Literatur: u. a. H. Brinkmann, Geschichte der lateinischen Liebesdichtung (1925); Delbouille, Les Origines de la pastourelle (1926); Frings, Minnesänger und Troubadours (1949); Köhler, Marcabrus „L’autrier jost’una sebissa …“ (1952); Köhler, Die Pastourellen des Trobadors Gavaudan (1964); Biella: Considerazioni sull’origine e sulla diffusione della ‚pastorella‘ (1965); Paden, The Medieval Pastourelle (1971); Zink, La Pastourelle (1972); Köhler, Pastorela (1979); Engler, Beitrag zur Pastourellenforschung (1964); Brinkmann, Pastourelle (1985); Brinkmann, Pastourellendichtung (1985); Warning, Pastourelle und Mädchenlied (1992); Bennewitz, Pastourelle (1993); Edwards, Archilochos (1996); Kasten, Die Pastourelle im Gattungssystem der höfischen Lyrik (1996); Tomasek, Flachsschwingen (1996); Worstbrock, Die Pastourelle Gottfrieds von Neifen (2007). 110 Vgl. u. a. den Hinweis bei Wapnewski, Traumliebe, S. 137: „man liest seit je von ‚pastourellenhaften‘, ‚-artigen‘ Zügen, und das Milieu sei dem der Pastourelle ‚verwandt‘, ‚benachbart‘ oder es ‚klingt an‘. Die mangelnde Klarheit in Sache und Begriff wird auch evident an der Variationsbreite der Beispiele: es gibt durchaus keine Übereinstimmung in der Auswahl der für ‚Pastourellen‘ erachteten Stücke.“ Edwards, Archilochos, S. 1, verweist ebenfalls auf eine große Uneinigkeit innerhalb der Forschung und unterscheidet hierbei zwischen gattungsgeschichtlichen Interessen sowie Fragen nach dem Ursprung des Texttyps: „Die Pastourellenforschung, kontroversensüchtig, oft von nationalistischen Tendenzen geprägt und geplagt, hat sich immer um zwei Pole gedreht: die Gattungsdefinition und die Frage nach dem Ursprung der Gattung.“

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Texttyp, doch in den wenigsten Fällen wird das in der Forschung beschriebene stereotype Pastourellen-Modell gänzlich durch die vorliegenden Lieder umgesetzt; in Bezug auf die Lieder des Codex Buranus ist daher bisweilen ebenfalls von (lediglich) ‚pastourellenartigen‘ Texten die Rede.111 Unter Einbezug des Minnesangs fallen bei einer komparatistischen Vorgehensweise die Differenzen zwischen den einzelnen Texten noch deutlicher aus (s. unten).112 Gleichwohl ist es unbestritten, dass mit dem Terminus ‚Pastourelle‘ Texte zusammengefasst werden können, die bestimmte inhaltliche und formale Eigenschaften teilen, aus denen sich ebenso Ähnlichkeiten der jeweiligen Deutung ableiten lassen, unabhängig von der Frage, ob einzelne Texte aufgrund des Fehlens eines oder mehrerer Merkmale noch als ‚Pastourelle‘ zu bezeichnen sind oder nicht.113 Da die Forschung immer wieder auf den volkssprachlichen Ursprung des Texttyps eingeht – ohne jedoch den Einfluss des Lateinischen zu leugnen – sollen nun vorweg einige allgemeine Informationen zur Pastourelle und ihrem Vorkommen in den Volkssprachen gegeben werden, da sich nur so die konnotativen Diskursfelder der im Folgenden behandelten Lieder – insbesondere des Codex Buranus – erfassen lassen. Das „prototypische Konstruktionsmuster der französischen Pastourelle“ beschreibt Hübner wie folgt: Ein Ritter berichtet in Form einer Ich-Erzählung von einem Ausritt oder einem Spaziergang, der ihn vom Hof aufs Land führt. Dort trifft er im Freien eine Schäferin (die pastorela, von der der Liedtyp seinen Namen hat), die er zu verführen versucht. Die weitere Handlung kann ganz unterschiedlich verlaufen: Manchmal hat der Ritter Erfolg, manchmal wimmelt die Schäferin ihn ab, manchmal vergewaltigt er sie, manchmal kommen ihr Bauern oder Schäfer zu Hilfe und verjagen ihn.114

Doch bereits diese Definition wirkt stark vereinfachend, da schon Marcabrus L’autrier jost’una sebissa, welches oftmals als Beginn der (volkssprachlichen) ‚Gattungsgeschichte‘ angesehen wird, nicht gänzlich dem stereotypen Muster zu entsprechen scheint.115 Zudem finden sich in Frankreich selbst auffallende Unterschiede zwi111 Vgl. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 100. 112 Vgl. ebd., S. 101: „Aus dem deutschen Minnesang ist kein einziger Text überliefert, der dem prototypischen Muster der französischen Pastourelle entspricht; insbesondere tritt nie eine Schäferin als erotisches Objekt auf “. 113 Vgl. zur Gattungsdiskussion vor allem Warning, Pastourelle und Mädchenlied, S. 710. 114 Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 99. Vgl. etwa auch die Definition bei Paden, The Medieval Pastourelle (1971), S. 119. 115 Vgl. Paden, The Medieval Pastourelle (1971), S. 84–86. Köhler, Marcabrus „L’autrier jost’una sebissa …“, S. 107, glaubt bereits in dem genannten Text eine Pastourellen-Parodie zu erkennen. Vgl. hierzu auch Wapnewski, Traumliebe, S. 147f.; Brinkmann, Pastourellendichtung, S. 402f.; Warning, Pastourelle und Mädchenlied, S. 715–717. Im Hinblick auf die ‚Gattungs‘-Geschichte

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

schen okzitanischen und altfranzösischen Pastourellen. Rein quantitativ erwies sich der Texttyp bei den Trouvères des Nordens als sehr viel erfolgreicher als bei

insgesamt wird über den antiken Einfluss durch Ovid, Vergils Bucolica und vor allem PseudoTheokrit, Idyll 27 spekuliert. Die Spezifik der volkssprachlichen Pastourellen des 12. und dann vor allem 13. Jahrhunderts erschwert jedoch diese Ableitungsversuche (vgl. Edwards, Archilochos, S. 1–17). Die ebenfalls in dieser Zeit entstandenen lateinischen ‚Pastourellen‘ (Carmina Burana, Walter von Châtillon) werden zudem immer wieder als Reaktionen auf die volkssprachlichen Textbeispiele verstanden, aber die Diskussion wird verkompliziert durch Ungenauigkeiten bei der Text-Datierung und zudem führen die zum Teil weit voneinander entfernten Entstehungsräume zu Erklärungsschwierigkeiten. Darüber hinaus gibt es auch lateinische Texte mit Ähnlichkeiten zur ‚Pastourelle‘, die vor den provenzalischen Pastourellen datiert werden (speziell zur Entstehung vgl. Edwards, Archilochos; u. a. wird auch über keltischen Einfluss spekuliert, vgl. ebenso Paden, The Medieval Pastourelle [1971], S. 94f.). Es zeichnen sich hierbei in der Forschung zwei Grundpositionen ab: Die einen sehen den Ursprung des Texttyps insgesamt in der volkssprachlichen Dichtung Frankreichs. Brinkmann, Pastourelle, S. 119, Anm. 1, schließt sich unter Berufung auf Zink und Frings aufgrund der Belege für das Pastourellenthema „aus allen möglichen Kulturkreisen“ dem volkstümlichen Ursprungsgedanken an. In diesem Kontext wird die Pastourelle dann häufig als eine Parodie auf die ‚höfische Liebe‘ und der sie kennzeichnenden Sublimierungsstrategien der (rein körperlichen) Liebe verstanden. Die lateinischen Pastourellen würden also somit eine Reaktion auf die zuerst dagewesenen volkssprachlichen Pastourellen darstellen. S. Brinkmann betrachtet die Funktion des Lateinischen als die einer Vermittlerrolle, wodurch „die in höfischen Kreisen beliebte Gattung international in der Gemeinde der lateinisch sprechenden Kleriker“ verbreitet worden sei. Andere setzen dagegen früher an und betrachten die Rolle des Lateinischen als wesentlich für die Entstehung des Texttyps, woraufhin die volkssprachliche Pastourelle wiederum die lateinische Literatur selbst beeinflusst habe. Vgl. Jeanroy, Les origines de la poésie lyrique, S. 133f.: „La conclusion de notre étude sur la pastourelle française a été qu’elle reposait sur un genre plus ancien, qui ne serait autre que le dialogue entre un amant présentant sa requête et la femme qui le repousse.“ H. Brinkmann, Anfänge II, S. 205, spricht von einer „literarische[n] Vorform […] in der mittellateinischen Dichtung schon um die Mitte des 11. Jahrhunderts“. Valous, La poèsie amoureuse I, S. 163f., hebt den gelehrten Charakter des Texttyps hervor und beobachtet gelegentlich auch höfische Elemente. Die Pastourelle betrachtet er insofern als besonders, als hier der enge Kontakt zwischen volkssprachlicher und lateinischer Kultur am deutlichsten hervortrete. Er geht allerdings ebd., S. 165, von einer Unabhängigkeit des lateinischen Genres aus, als deren Ausgangspunkt er die Invitatio amice, das Hohelied und Ovids Amores betrachtet. Der Standpunkt eines lateinischen Ursprungs ist insgesamt schwerer zu vertreten, da zum einen die vor den ersten volkssprachlichen Pastourellen der provenzalischen Literatur datierte lateinische weltliche Dichtung sehr dürftig ausfällt und zum anderen die wenigen vorhandenen Texte zwar zentrale Pastourellenmerkmale enthalten, aber die von der Forschung als entscheidend angesehenen Kriterien häufig nur ansatzweise erfüllen. So legt Edwards, der sich vornehmlich auf die Entstehung des Texttyps konzentriert, seiner Untersuchung „Von Archilochos zu Walther von der Vogelweide“ ein möglichst ‚breit gefächertes‘ Corpus zugrunde und geht von „minimale[n] gattungsbestimmende[n] Kriterien“ aus:

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den provenzalischen Trobadors.116 Pierre Bec beobachtet darüber hinaus auffällige Unterschiede auf der sprachlich-registralen Gestaltungsebene der Texte.117 Bec verweist in diesem Zusammenhang auf einen generell hybriden Charakter des Texttyps, welcher durch die – wohl stärker als in anderen Texttypen ausgeprägte – Interferenz des registre aristocratisant und registre popularisant bedingt sei: Le caractère hybride de la pastourelle, à la fois aristocratisante (par ses connotations courtoises, en particulier, et le fait que le ‚je‘ lyrique se réfère presque toujours à un chevalier) et archaïque-popularisante (par les archétypes qu’elle suppose, par les scènes de vie paysanne qu’elle contient, par certains de ses motifs et de ses schèmes d’expression) se retrouve avec une belle netteté dans la postérité du genre.118

„1. lyrische Form; 2. als Inhalt ein Treffen im Freien von zwei (Haupt)personen, das mit einem erotischen Vorhaben verknüpft ist. Anfangspunkt, Verlauf und Ausgang der Begegnung sind als Variable zu betrachten“ (ebd., S. 1, vgl. auch ebd.: „Aber eine engere Definition, etwa eine, die vom Rang der Sichbegegnenden ausginge, ließe sich ebenso des Zirkelschlusses bezichtigen, indem sie Gefahr liefe, von vornherein brauchbares Vergleichsmaterial auszuschließen.“). Er sieht ebd., S. 2, die Pastourellenforschung in einem Dilemma und fragt: „Ist es überhaupt gerechtfertigt, nach einer einzigen Quelle einer Gattung zu suchen? Ist die Pastourelle, wie die Alba, nicht eher als ein fast universelles Phänomen, ein immer wieder hervortretender Ausdruck des menschlichen Geistes in seiner ‚pastoral mode‘ aufzufassen? Wenn die polygenetische Prämisse akzeptiert wird, ist die komparative Methode umso leichter anzuwenden, man darf fast unbegrenzt vergleichen; andererseits bleibt bei der Feststellung von Einflüssen und Verwandtschaften Vorsicht geboten.“ 116 Worstbrock, Pastourelle, S. 14, zählt „gut 20 provenzalische und an die 130 französische erhaltene Pastourellen“. Vgl. auch die Ausgaben von Bartsch, Audiau sowie Paden (1987). Einen quantitativen Höhepunkt erreicht die Pastourelle in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Vgl. hierzu zudem Paden, The Medieval Pastourelle (1971), S. 80, 87f.; im 14. Jahrhundert sei die Pastourelle gemäß Paden, ebd., S. 90, „aus der Mode“ geraten. 117 Bec, La lyrique française, S. 122f.: „En général, la pastourelle occitane est plus guindée, plus figée, plus aristocratique, plus courtoise, plus élaborée dans son langage et dans ses structures formelles (strophes savamment agencées qui ventilent le dialogue d’une manière concertée). […] Dans la pastourelle française, au contraire, les pièces présentant des situations purement courtoises sont très rares […]. Sa facture semble nettement plus popularisante et ses connotations sont tout autres.“ Vgl. jedoch auch die Ausführungen bei Warning, Pastourelle und Mädchenlied, S. 710, zur „Homogenität“ der romanischen Pastourelle insgesamt. 118 Bec, La lyrique française, S. 131. Ebenso verdeutlicht auch Warning, Pastourelle und Mädchenlied, S. 714f., die Schwierigkeiten einer strikten Trennung zwischen der ‚höfischen‘ Kanzone und der Pastourelle als einer Art ‚Gegengesang‘: „Gewiß ist die Pastourelle eine durch und durch aristokratische Gattung, aber ebenso gewiß bleibt sie stets an der Peripherie des höfischen Wertsystems. Daher muß sich auch die generische Oppositionsrelation zur Kanzone grundsätzlich prekär gestalten. Ob dies Opposition als eine systemimmanente ausgehalten, ob also die Pastourelle als systemimmanente Oppositionsgattung zur Kanzone toleriert wird, das hängt davon ab, wie weit bzw. wie eng der Raum der corteisie jeweils definiert ist.“

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Kasten bezieht sich auf die Arbeiten Becs und spricht von einem „extremen Mischcharakter“119 der ‚Gattung‘120 , wobei solche Mischformen verschiedener Texttypen – sowohl inhaltlich als auch formal – innerhalb der mittelalterlichen Dichtung kein Einzelfall sind (sondern vielmehr die Regel?), wie die Forschung immer wieder deutlich gemacht hat.121 Im Hinblick auf den Einfluss der Pastourelle auf die mittelhochdeutsche Minnedichtung beschreibt S. Brinkmann, dass nicht eine Gattung übernommen werde, sondern aus ihr würden „passende, neuartige Motive gewählt und in einem bekannten Kontext verwendet.“122 Dieser experimentell wirkende Charakterzug mittelalterlicher Minnelyrik insgesamt scheint im Kontext der Pastourellendichtung besonders zum Tragen zu kommen, gerade aufgrund der sehr direkten Konfrontation der beiden nach Bec übergeordneten Register. In deren Gegenüberstellung wird denn auch die Hauptfunktion des Texttyps gesehen, wobei sich diese Kontrastivität einerseits innerhalb einer Pastourelle selbst wiederfinden kann – beispielsweise durch eine Gegensätzlichkeit der jeweiligen Redegestus von Mann und Frau – und andererseits die Pastourelle insgesamt vor dem Konnotationshintergrund des Werbungslied-Typus darauf hinweist.123 Im Hinblick

119 Kasten, Pastourelle, S. 31. 120 Kasten kritisiert nun jedoch ebd., dass Bec den Standesaspekt ausklammere: „Denn wenn sich die Pastourelle in signifikanter Weise von anderen Gattungen unterscheidet, dann durch diesen Gegensatz, der in ihr thematisch wird.“ Sie beruft sich hierbei auf die bereits von S. Brinkmann herangezogenen volkssprachlichen Poetiken des Trobadors Raimon Vidal de Besalú (Doctrina de compendre dictatz) sowie des Guilhem Molinier (Leys d’amors). 121 Vgl. Brinkmann, Pastourellendichtung, S. 406: „Die Vermischung kann so vollkommen sein, daß die Dominante nicht mehr zu erkennen ist.“ Vgl. außerdem auch die Ausführungen von Eder, Natureingang, S. 203, zu den ‚Überschneidungen‘ von genre objectif und genre subjectif : „Schließlich finden sich aber auch in manchen Liedern, die dem genre objectif zugeordnet werden, bisweilen durchaus signifikante Ich-reflexive Passagen.“ Diese „Ich-reflexiven Passagen“ stellen hierbei in der Regel eine Anknüpfung an das Register des Werbungslieds und somit des genre subjectif dar. Vgl. auch Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 49, Anm. 1. 122 Brinkmann, Pastourellendichtung, S. 409 (u. a. Bezug auf Ich vant si âne huote). 123 Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 99f., sieht die Funktion der Pastourelle in einem kontrastiven Bezug auf die höfische Liebe des Werbungsliedes. Kasten, Pastourelle, S. 37, betont ebenfalls die in der Pastourelle vorgenommenen vielfältigen Spiegelungen von „Formen aristokratischer (und dichterischer) Selbstauslegung durch die fin’amor“. Sie setzt sich zurecht ab von Brinkmanns Auffassung, dass das genre objectif eine „Ventilfunktion“ ausübe, indem dadurch eine Leerstelle des Hohen Sangs – die sexuell erfüllte Liebe – gefüllt werde (vgl. ebd., S. 34f.), zumal im Minnesang stets die Möglichkeit einer Liebeserfüllung eine zentrale Rolle spielt. Kasten, Pastourelle, S. 35, zufolge erfolge dadurch eine Reduzierung des „Kommunikationspotentials des genre objectif in übermäßiger Weise“: „Das größte Problem in der Argumentation mit ‚Leerstellen‘, die ausgefüllt werden müssen, liegt jedoch darin, daß dem literarischen System damit eine – wie auch immer geartete – ‚Ganzheit‘ und das heißt eine Norm unterstellt wird, die zur Richtlinie bei der Betrachtung der Gattungen und der Einzeltexte wird. Dadurch entsteht die Gefahr, daß die Vielfältigkeit der Relationen, welche zwischen einem Text und seinem Bezugsfeld bestehen,

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auf eine Untersuchung der Werbungsdialoge sind diese Beobachtungen insofern von Bedeutung, als auch hier unterschiedliche Texttypen – in jeweils spezifischer Weise – ineinanderzufließen scheinen oder zumindest durch das Konnotationspotential einzelner Aussageformen und Redegestus abgerufen werden.124 Angesichts des vorliegenden Textcorpus ließe sich nun terminologisch streiten, ob Lieder, die bestimmte Kriterien mit romanischen Beispielen des Texttyps teilen, ebenfalls als ‚Pastourelle‘ – oder lediglich ‚pastourellenhaft‘, ‚pastourellenartig‘ etc. – zu bezeichnen sind.125 Bereits Wapnewski stellt in diesem Zusammenhang – ähnlich wie S. Brinkmann (s. oben) – „die methodisch wichtige Frage, welches Maß an Variation eine Gattung noch verträgt, ohne ihren Gattungscharakter einbüßen zu müssen bzw. von welchem Punkt an die Modifikationen das Wesen der Sache soweit betreffen, dass sie ihrerseits ein neues Genre begründen.“126 Für den Ansatz der hier vorliegenden Arbeit spielen diese terminologischen Fragen jedoch nur am Rande eine Rolle, ohne diese abschließend klären zu wollen. Auch die Frage, ob die Pastourelle im deutschsprachigen Raum „nicht als selbständige Gattung erkannt“ wurde – wie oft behauptet (s. oben) –, lässt sich an dieser Stelle nicht abschließend beantworten, wobei jedoch die vorliegenden Texte eine Vertrautheit mit dem Texttyp überaus wahrscheinlich machen.127 Dass die ‚Pastourelle‘ bzw. ‚Pastourellenhaftes‘ als Konnotationshintergrund für zahlreiche der im Minnesang

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ebenso leicht übersehen werden wie neue Kommunikationsfunktionen, die aus solchen Relationen hervorgehen.“ Bei der Bestimmung der gattungskonstituierenden Merkmale nennt sie jedoch trotz ihres eher offenen Gattungsbegriffs die Figur der Hirtin als verbindlich, unter der sie einen „noyau générateur“ (ein Bec entlehnter Terminus) versteht (vgl. ebd., S. 33f.), in dem die ständische Komponente des Genres besonders deutlich werde. Aufgrund solcher Eingrenzungsschwierigkeiten bei der Zuordnung von Texten zu dem genannten Typus weist Kasten, Pastourelle, S. 29, ganz generell auf die „Unzulänglichkeit normativer Gattungsbegriffe“ hin und plädiert ebd., S. 29f., im Anschluss an S. Brinkmann für einen möglichst offenen Gattungsbegriff. Brinkmann, Pastourelle, S. 28, spricht von der „Pastourelle“ als Hilfsbegriff, „wenn es gilt, inhalts- und ausdrucksmäßig Verwandtes mehrerer Literaturen zusammenzustellen, sowie die möglichen Abhängigkeiten und Entwicklungen eines literarischen Typs zu verfolgen.“ Vgl. auch ebd., S. 25. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch folgender Hinweis bei S. Brinkmann, Pastourellendichtung, S. 403, wodurch erneut die nicht klar zu fassende Texttypenbestimmung deutlich wird: „Auf formaler Ebene wird bereits deutlich, was als Kennzeichen der Gattung gelten kann: die vielfältigen Möglichkeiten der Variation. Die Pastourelle ist scheinbar leicht zu definieren und überrascht doch dadurch, daß – bis auf die Tatsache, daß die Begegnung in der freien Natur stattfindet – kein Motiv als unverzichtbar erklärt werden kann.“ Wapnewski, Traumliebe, S. 144, wobei natürlich Variation an sich ein generelles Spezifikum mittelhochdeutscher Dichtung darstellt. Vgl. hierzu u. a. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 99; Glier, Konkretisierung, S. 162. Vgl. hierzu u. a. Brinkmann, Pastourelle, S. 27.

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begegnenden Texte – mehr oder weniger stark – eine Rolle spielt, steht daher außer Frage. Die Schwierigkeiten der mittelhochdeutschen Forschung zur Pastourelle sind nun vornehmlich dadurch bedingt, dass bei einer Gegenüberstellung mittelhochdeutscher und romanischer Texte die für die romanischen Pastourellen typischen Textmerkmale – wie beispielsweise das Auftreten der pastorela – Modifikationen der Texttypendefinition(en) bedingen, die zum Teil zu widersprüchlichen Ergebnissen führen. Die vor allem durch die germanistische Forschung herausgestellten Pastourellen-Merkmale seien hier kurz zusammengestellt, da sich auch nur so in der Folge herausarbeiten lässt, inwiefern die Dialoglieder des Minnesangs Anteil an der unter dem Begriff ‚Pastourelle‘ in der Forschung zusammengefassten Texttradition haben: (a) Personal: Als fast durchgängig erforderlich betrachtet wird eine Begegnung zwischen Mann und Frau im Freien.128 Doch bereits im Hinblick auf den Status dieses ‚Personals‘ herrscht Uneinigkeit. Während Kasten auf einem Standesunterschied beharrt129 , erklärt Hübner: „die Figuren können jedoch ständisch unbestimmt bleiben, und das oft nur als puella (Mädchen) bezeichnete Verführungsopfer muss keine Schäferin sein.“130 Hierbei stellen u. a. die oftmals begegnenden Apostrophen der jeweiligen Frauenfigur einen Streitpunkt dar, verdecken doch die teilweise auch im Werbungslied zur Anrede der Dame verwendeten Bezeichnungen bisweilen den Status der Angesprochenen, was bereits in der romanischen Dichtung, aber vor allem im mittelhochdeutschen Minnesang eine wichtige Rolle spielt.131 (b) Darbietungsform: Über die Zuordnung zum sog. genre objectif

128 Wobei auch diese Angabe für manche Interpreten schon zu konkret ist. Vgl. oben die Definition nach Edwards, der jedoch – wie bereits gesagt – seiner Untersuchung die Ursprungsfrage zugrunde legt. 129 Siehe oben Anm. 120. 130 Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 100. Vgl. ebenso Brinkmann, Pastourelle, S. 51, S. 60–65, die den Kontrast „zwischen fordernder Sexualität des Mannes und Weigerung oder Hingabe der Frau“ als elementarer und wichtiger betrachtet (ebd., S. 63). Klein, Minnesang, S. 276, spricht von „Lieder[n] mit Pastourellenkonstellation, d.i. der (scheiternden) Verführung eines sozial meist ‚niedriger‘ stehenden Mädchens durch einen Kleriker oder Ritter an amönem Ort“. Wapnewski, Traumliebe, S. 141, bezeichnet die Schäferin als „zwar gattungscharakteristisch, nicht aber gattungsbedingend“. Vgl. auch den Hinweis bei Hahn, Nemt, frowe, disen kranz, S. 221, Anm. 32, auf „die ‚utopische‘ Standesüberschreitung provenzalischer Pastourellen, etwa Gavaudans“. Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 112, spricht von dem „höfische[n] Bauernmädchen“: „das – der demonstrativen Intertextualität wegen offensichtliche – Ergebnis einer literarischen Kreuzung“ (in Bezug auf den Tannhäuser). 131 Vgl. hierzu etwa die Diskussion um das hêre frouwe in Walthers „Lindenlied“. Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 57, plädiert dafür, dass es sich um eine „erhöhende Anrede“ handelt. Auch in der romanischen Pastourelle begegnen solche Unklarheiten im Hinblick auf den Status der Figuren. Vgl. etwa Bartsch, Romances II, 9, Str. 1: L’autrier me chevalchoie / toute ma senturelle, / trovai en mei ma voie / cortoise pastourelle; / lou cors ait bel et avenant, / la color vermaillete. / ausi tost come

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besteht Einigkeit, die Ich-Perspektive des Ritters wird dagegen nicht durchgängig als spezifisch für den Texttyp angesehen.132 Die Frage, ob ein Dialog zum Wesenskern der Pastourelle gehört, ist ebenfalls umstritten.133 Gerade die deutschsprachigen ‚pastourellenhaften‘ Textbeispiele neigen zu einer Auslassung des Dialogs bzw. zu einer nicht eindeutig zu bestimmenden Sprecherzuweisung einzelner Liedaussagen. Hierbei wird in den meisten Fällen der Dialog durch den Mann im Sinne eines Werbungsgesprächs eröffnet, doch auch kann sich die Frau als Erste äußern.134 (c) Handlung: Spezifisch für die Pastourelle insgesamt ist – vor allem im Unterschied zum Werbungslied – der Aspekt einer relativ klar zu fassenden Handlungsabfolge.135 So berichtet der Mann oftmals davon, dass er ‚im Freien‘ unterwegs war, eine Frau, die einer Tätigkeit nachging, traf und mit dieser ein (Werbungs-)Gespräch führte, an das sich die (körperliche) Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung des Liebeswunsches anschloss, welche jedoch nicht mehr Teil des narrativen Erzählberichts sein muss. Der Ausgang der Handlung scheint nicht festgelegt zu sein, sowohl der Erfolg

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je la vi, / et je li prix a faire (Hervorhebung durch S.R.), sowie Brinkmann, Pastourellendichtung, S. 404: „Das Mädchen, das als cortoise, avenante et bele geschildert wird, ist oft nicht von den schönen Minnedamen zu unterscheiden: nur kann man die erotische Ausstrahlung hier mit allen Konsequenzen beschreiben.“ Vgl. hierzu Brinkmann, Pastourelle, S. 46f.; Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert, S. 101: „die Funktion des französischen Kerntypus hängt dagegen an der Darstellung der männlichen Perspektive“; Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 57; Klein, Minnesang, S. 276. Vgl. hierzu die statistischen Erhebungen bei Paden, The Medieval Pastourelle (1971), S. 142f. In den in diesem Zusammenhang betrachteten mittelhochdeutschen Texten ist dagegen ein Wegfall bzw. eine recht knapp ausfallende Gestaltung eines Dialogs zu beobachten. Vgl. dazu Brinkmann, Pastourelle, S. 124, der es schwerfällt, Gründe hierfür zu finden. Sie bezieht sich ebd., S. 38f., auch auf die Definition der Doctrina (s. oben, Anm. 120), in der der Dialog „nicht als unabdingbar angesehen“ werde (ebd., S. 38). Vgl. ebenso Wapnewski, Traumliebe, S. 138: „Stilistisch ist die Pastourelle eine Mischgattung: Ihr Kern ist ein Dialog. […] Andererseits jedoch ist der Dialog ‚accomagné d’un élément narratif ‘, wodurch die Pastourelle – wie z. B. die Alba oder die chanson de mal mariée – dem genre objectiv zugehört.“ Vgl. auch Rieger, Trobairitz, S. 78: „Der Akzent liegt eindeutig auf dem Dialog zwischen Mann und Frau, der – trotz aller Variationsmöglichkeiten – einer festen Rollenverteilung folgt.“ Köhler, Pastorela, S. 33, verweist darauf, dass „neben den inhaltlichen Motiven“ „das variable Verhältnis zwischen epischem Vorgang und Dialog“ grundlegend sei. Vgl. hierzu auch Rieger, Trobairitz, S. 78; Piguet, L’évolution de la pastourelle, S. 9: „La Pastourelle est une chanson dialoguée dans laquelle un galant d’une classe élevée tente, avec ou sans succès, de séduire une bergère.“ Die Forschung weist in diesem Zusammenhang auch auf die Verwandtschaft der Pastourelle mit der Komödie hin, vgl. Faral, La Pastourelle, S. 218; Valous, La poésie amoureuse I, S. 165. Vgl. Brinkmann, Pastourellendichtung, S. 410. Vgl. Warning, Pastourelle und Mädchenlied, S. 711, der von „narrativer Progression“ spricht.

Sprechen über Liebe: Traditionslinien, Diskursfelder und ihre Wechselwirkungen

als auch der Misserfolg des Mannes sind möglich.136 (d) Naturthematik: Der Ort der Pastourellenhandlung ist gesondert hervorzuheben, da im Vergleich zum Werbungslied eine deutliche Tendenz hin zu einer Häufung adverbialer Bestimmungen zu beobachten ist, welche der lokalen und temporalen Verortung des Dargestellten dienen, wozu vor allem auch typische Bestandteile eines locus amoenus zählen (Linde, Vogelgesang etc.).137 Hierbei ist jedoch sehr deutlich darauf hinzuweisen, dass die Naturthematik an sich noch keine eindeutigen Rückschlüsse auf Texttyp und Deutung erlaubt, was durch deren Mehrfachkodierung bedingt ist.138 Im Hinblick auf die Zuspitzung jahreszeitlicher Naturmotive hin zu einer „bewussten erotischen Aufladung“ hält Eder „Maßnahmen der besonderen Markierung“139 für erforderlich. Sie ergebe sich „somit gerade nicht als genereller Subtext einer bloßen Erwähnung von Naturdetails.“140 Zudem ist zu beobachten, dass in den mittelhochdeutschen ‚pastourellenhaften‘ Texten bisweilen das Geschehen „vom amoenen Ort ins bäuerliche Milieu“ verlegt wird, wie etwa Klein bezogen auf ein Neidhart-Lied herausstellt.141 (e) Sprache: Insgesamt werden in der Forschung die Rückgriffe auf das Register der Werbungslieds sehr deutlich gemacht und dies vor allem in der narrativ eingebetteten Werbungsrede des männlichen Text-Ichs.142 Zudem wird die Gegensätzlichkeit der Rede von Mann und Frau insofern betont, als

136 Ernüchternd ist etwa auch folgende Beobachtung Brinkmanns, Pastourellendichtung, S. 409: „[…] und zur Liebeserfüllung kommt es in keiner provenzalischen und auch nicht in einem guten Drittel der altfranzösischen Pastourellen.“ 137 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem die Ausführungen von Eder, Natureingang, S. 116–121, der ebd., S. 118 „auf die dominierend räumliche Organisation dieses Typs der Naturrepräsentation“ hinweist. 138 Vgl. hierzu vor allem ebd., S. 93: „Vielmehr dürfte es – wie bereits angedeutet – adäquater sein, von einer weitgehenden Offenheit des Motivkomplexes auszugehen, der von Anfang an für eine Vielzahl von denkbaren Verknüpfungsmöglichkeiten zur Verfügung steht und somit diese Konzeptualisierungen im jeweiligen Einzeltext dann von Fall zu Fall anders herstellen bzw. gewichten kann.“ 139 Ebd. 140 Ebd., S. 93f. Vgl. auch ebd., S. 93, Anm. 286: „Solche Markierungen ergeben sich z. B. durch Anleihen beim Raumtopos des locus amoenus“. 141 Klein, Minnesang, S. 528. 142 Trotz des ‚niederen‘ Themas der Pastourelle orientiere sich diese – so Kasten, Pastourelle, S. 33 – „am Sprachgestus des aristokratisierenden Registers“, welches sie ebd. unter Berufung auf Raimon Vidal als ein „parlar d’amor“ bezeichnet. Sie interpretiert dieses Sprechen als eine Möglichkeit, innerhalb des Modells der ‚Hohen Minne‘ Sexualität zu thematisieren: „Zwischen dem Bereich des ‚Niederen‘, dem das Thema der Pastourelle zugeordnet wird, und dem geforderten Sprachgestus besteht demnach ein Gegensatz, der in unterschiedlicher Weise ausgespielt werden kann.“ Sie schließt hieraus auf „Möglichkeiten des Sprechens über die Liebe, die eine Differenzierung gegenüber der herkömmlichen Opposition von ‚hoch‘ und ‚nieder‘ erlaubten. Schon dadurch wird die generelle Bestimmung der Pastourelle als ‚Gegensang‘ relativiert.“

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der Werbende in einem an das Werbungslied angelehnten Register spreche, wohingegen die puella häufig durch eine eher ‚einfache‘ Ausdrucksweise gekennzeichnet sei.143 Die Forschung schließt aus dieser Gegensätzlichkeit heraus, dass gerade die Pastourelle die Formelhaftigkeit von sprachlichen Aussageformen und Redegestus des Werbungsliedregisters deutlich mache.144 Zudem sind ein vermehrtes Auftreten des Diminutivs, die gehäufte Verwendung adverbialer Bestimmungen145 und – gerade in den deutschen Textbeispielen – der oftmalige Strophenschluss durch einen Refrain spezifisch.146 S. Brinkmann beobachtet darüber hinaus eine „affektive Färbung der Wörter“, die durch „Ausrufe, insistierende Fragen und Forderungen“ Unterschiede zum Minnelied hervortreten ließen147 ; die „vielen Diminutive“ schüfen darüber hinaus „eine vom hohen Stil unterschiedene Atmosphäre“148 . Dennoch begegnen diese Textmerkmale nicht einseitig in der Pastourelle, sondern punktuell auch im Werbungslied und anderen Texttypen, weshalb vor vorschnellen Rückschlüssen auf den jeweiligen Texttyp zu warnen ist; der Strophenkontext und die Einbindung in die jeweiligen Sprechakte sind stets zu berücksichtigen.

2.2

ars dictaminis

Während das Medium Brief im 12. Jahrhundert eine große Verbreitung findet und das Verfassen von Briefen zu einer regelrechten Wissenschaft wird, existieren stets auch Briefe, die neben dem bloßen kommunikativen Austausch andere Funktionen übernehmen und zum Teil überhaupt nicht zur Versendung vorgesehen sind.149

143 Vgl. u. a. Brinkmann, Pastourelle, S. 16, sowie dies., Pastourellendichtung, S. 404. 144 Vgl. Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 59: „In der traditionellen Pastourelle spricht meist der Ritter ‚höfisch‘ und meint nur Sexualität, während das Mädchen ‚einfach‘ redet. Hier wird durch die Verwendung höfischen Wortschatzes von beiden Partnern weniger die höfische Werbung decouvriert, als gehe es dort auch nur um das Eine, sondern vielmehr die Verfügbarkeit der Formeln demonstriert, ihr universeller Spielcharakter.“ Vgl. hierzu auch grundlegend u. a. die Beiträge von Münkler und Becker in dem von Münkler herausgegebenen Band „Aspekte einer Sprache der Liebe“. 145 Es ist gar von einem „Einbruch des Realismus in die höfische Lyrik“ die Rede (Brinkmann, Pastourelle, S. 131). 146 Zum Refrain in der mittelalterlichen Lyrik vgl. u. a. Touber, Minnesang IV, S. 243f., Streicher, Minnesangs Refrain. 147 Brinkmann, Pastourellendichtung, S. 405. 148 Brinkmann, Pastourelle, S. 16. 149 Ruhe, De amasio, S. 20, spricht im Hinblick auf die „Gattung“ des Liebesbriefs von einer „doppelte[n] Teilhabe am System der ‚literarischen‘ bzw. pragmatischen Texte“. „[…] modern-romantische Vorstellungen vom Liebesbrief als dem Medium einer mehr oder weniger in Heimlichkeit stattfindenden schriftlichen Vermittlung der persönlichsten Empfindungen und unverstellten Gefühle“ seien hierbei jedoch schwerlich anzunehmen, wie Schaller, Zur Textkritik, S. 114f., bezogen

ars dictaminis

Dies betrifft zum einen die im Rahmen einer ars dictaminis entstehenden Musterbriefe und zum anderen auch unabhängig von den artes verfasste poetische Briefe, die – selbst wenn sie verschickt wurden – nicht kommunikative Absichten in den Vordergrund stellen. Im Hinblick auf diese Briefgruppe dominieren die Themen Freundschaft und Liebe, weshalb ausgewählte Textbeispiele auch für die hier vorgelegte Untersuchung herangezogen werden, zumal sich oftmals ein dialogischer Austausch in Form von Briefpaaren oder längeren Briefwechseln findet – ganz abgesehen davon, dass der Brief bereits seit der Antike als Gespräch aus der Ferne gilt. Auch wenn die Tradition des christlichen Freundschaftsbriefes ihren Ursprung in der Spätantike hat, sieht Ruhe den Beginn der mittelalterlichen Gattungsgeschichte des lateinischen Liebesbriefes erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts; einen direkten Einfluss der Antike erklärt er lediglich in Bezug auf die Rezeption der Heroiden-Briefe Ovids, bei den mittelalterlichen Formen des Liebesbriefs handle es sich jedoch „um eine genuine Neuentwicklung“150 . Wesentliches Merkmal des Texttyps ist hierbei von Beginn an ein extremer Formalismus, auch unabhängig von der späteren Beeinflussung des Liebesbriefs durch die (mehr oder weniger) streng reglementierende ars dictaminis151 , die mit der zunehmenden Verbreitung des Briefwesens im 12. Jahrhundert einhergeht.152 Eine ars dictandi besteht hierbei

auf die sog. Tegernseer Liebesbriefe erläutert (s. unten). Dennoch wird nicht bezweifelt, dass es auch im Mittelalter Geheimbriefe aller Art gibt, aber – wie es in der Natur der Sache liegt – sind davon nur wenige Überreste überliefert. Vor allem Wachstäfelchen kommen als Schriftträger eines solchen kommunikativen Austauschs in Frage. Vgl. Von Moos, Briefkonventionen, S. 174f.; Köhn, Dimensionen und Funktionen, S. 333–348; Schaller, Probleme der Überlieferung, S. 25–27; Erdmann, Studien zur Briefliteratur, S. 2; Stella, Chi scrive le mie lettere?, S. 1071–1095. 150 Ruhe, De amasio, S. 20. 151 Die Briefstillehre tritt ab etwa 1100 in Erscheinung und nimmt im hoch- und spätmittelalterlichen Unterricht einen bedeutenden Platz ein. Vgl. die Definition bei Worstbrock, Repertorium, S. IX: „Unter dem Begriff Ars dictandi fallen jene mittelalterlichen Lehrschriften, die der zweck- und kunstgerechten Abfassung von Briefen gelten, Briefen zwischen Amtsträgern und Institutionen wie auch der persönlichen Korrespondenz. Die Ausrichtung auf den Brief als das genuine Instrument schriftlicher Kommunikation ist das die Ars dictandi definitorisch bestimmende Merkmal.“ Die ars dictaminis stellt die Disziplin dar, die in zahlreichen artes dictandi behandelt wird (vgl. Camargo, Ars dictaminis, S. 20). Ansätze zu einer Brieftheorie finden sich bereits in der Spätantike bei Gaius Julius Victor, der seiner Rhetorik auch einen Abschnitt De epistolis anfügt (vgl. Koch, Art., Briefkunst, Sp. 549). Im 12. Jahrhundert wird die ars dictaminis jedoch zu einer selbständig gelehrten Disziplin, die bis dahin innerhalb des Triviums als Bestandteil der Rhetorik gelehrt wurde. Ihre Blüte beginnt in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Oberitalien mit den Bologneser artes dictandi (vgl. Schmale, Adalbertus Samaritanus, S. V–VI sowie S. 1–4). Vgl. grundlegend zur ars dictaminis das „Handbuch der mittelalterlichen Briefstillehre“ von Hartmann/Grévin, Ars dictaminis. 152 Der Austausch von Briefen wird im 12. Jahrhundert vereinfacht, da Handel, Pilgerreisen und kirchliche Zusammenkünfte zu einer vermehrten Mobilität in Westeuropa führen. Zugleich entwickelt sich Pergament zu einem leichter zugänglichen Schreibmaterial (vgl. McGuire, Friendship, S. 233).

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in der Regel aus theoretischen Anweisungen, die in ihrem Verlauf durch zahlreiche Musterbriefe beziehungsweise Briefausschnitte illustriert werden, wobei vor

Die Überlieferung mittelalterlicher Briefe hängt dabei von Zufällen und dem Bedarf nach Musterbriefen zu bestimmten Zwecken ab. Die Berühmtheit des Autors spielt ebenso eine Rolle wie die Aktualität eines bestimmten brieflich diskutierten Streitfalls. Daher sind die überlieferten Textzeugen in den meisten Fällen ausgewählt und überarbeitet (vgl. Von Moos, Briefkonventionen, S. 177f.; Leclercq, Le genre épistolaire, S. 67). „Was aus inhaltlichen und sprachlich-stilistischen oder anderen Gründen“ nicht für eine Abschrift in Frage komme, werde nur selten der Überlieferung für wert geachtet, so Köhn, Dimensionen und Funktionen, S. 327. Originalbriefe gibt es Von Moos zufolge vor dem 15. Jahrhundert nur selten, „und dann im Sinne der historischen Quellenkunde fast nur als sog. zufallsbedingte ‚Überreste‘“ (Von Moos, Briefkonventionen, S. 178; vgl. hierzu auch Köhn, Dimensionen und Funktionen, S. 326f.; Erdmann, Studien zur Briefliteratur, S. 2). Zudem ergeben sich terminologisch Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Originalbrief und Abschrift beziehungsweise Verfasser und Abschreiber. Die Forschung betont diesbezüglich die engen Verbindungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Normalerweise schreibe weder der Absender allein, noch lese der Empfänger allein. Der eine diktiere einem Schreiber bzw. Sekretär, der andere höre einem Vorleser meist umgeben von Mithörern zu, da das einsame Lesen mit eigenen Augen lediglich eine Ausnahme darstelle (vgl. Köhn, Latein und Volkssprache, S. 343f., 351; Kartschoke, In die Latine bedwungin, S. 203). Von Moos, Briefkonventionen, S. 177, spricht von einem „Status-Vorrang der Mündlichkeit vor der Schriftlichkeit“: Was beim Hörer ankomme, sei „derart meist durch Dritte zubereitet und vorgekostet, oft auch gefiltert und hin- und hergedeutet, dass von einem persönlichen Direktkontakt zwischen zwei Korrespondenten meist keine Rede sein“ könne. Dies gelte eingeschränkt sogar vom Freundschaftsbrief (ebd.). Bei der Aushändigung des Briefes werde dieser dem Adressaten gegenüber meist „durch den Boten oder einen Vorleser so inszeniert, als sei der Absender selbst zu Gast“. Der Brief müsse dabei nicht unbedingt die vollständige Information enthalten, sondern teile häufig „nur symbolisch Allgemeinheiten oder die Beglaubigung des Überbringers“ mit, während der Bote das Hauptanliegen aus Gründen der Vertraulichkeit mündlich vorbringe (ebd., S. 176). Köhn, Dimensionen und Funktionen, S. 320f., erläutert, dass selbst in einem Kloster der Empfang eines Briefes ein Ereignis sei, an dem der Empfänger auch andere Personen teilnehmen lasse. Dabei könne ein Brief auch direkt an eine Gemeinschaft von Menschen adressiert sein, bei der es sich – bezogen auf den klösterlichen und geistlichen Briefverkehr – um einen „ziemlich eindeutig“ zu bestimmenden und begrenzten Kreis von Mitgliedern eines Konvents handle (ebd.). Vgl. hierzu außerdem Haseldine, Epistolography, S. 654; Tunberg, What is Boncompagno’s ‚Newest Rhetoric‘?, S. 307: „The dictatores, drawing on the ancient concept of the letter, consistently regard the letter as a type of conversation with an absent person, and therefore as subject to a set of rules similar to those devised for speeches. The letter was normally read aloud to the recipient, and therefore functioned as a kind of ‚intimate speech.‘“ Der Briefschreiber könne darüber hinaus für einen Lateinunkundigen auch als Übersetzer dienen. Der Absender diktiere in einem solchen Fall den Inhalt des Briefes oder erteile einen entsprechenden Auftrag (vgl. Köhn, Latein und Volkssprache, S. 346f., 352f.). Einen weiteren Zugang der Volkssprache zum Briefwesen schaffe auch der Vortrag eines Briefes, wenn dieser für einen lateinunkundigen Empfänger durch eine hierfür beauftragte Person bei der Aushändigung übersetzt werde (vgl. ebd., S. 352f., 355f.). Die extreme Formalisierung des Austauschs und der Rezeption eines Briefes spiegelt sich auch in dessen inhaltlich-formaler Gestaltung wider, welche durch die ars dictaminis genauen Regeln unterworfen ist.

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allem praktische Interessen im Vordergrund stehen.153 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang weniger der private Briefwechsel als vielmehr die offizielle Korrespondenz. Köhn erläutert zwar, dass „der alltäglichen Mitteilung oder dem billet doux im mittelalterlichen Briefwesen vielleicht eine gewisse Berechtigung zuerkannt“ werde, diese Formen der Mitteilung seien aber nicht „Gegenstand der theoretischen und praktischen Brieflehre“154 . Die auf die Praxis ausgerichteten Zwecke der Traktate sind an umfangreichen Sammlungen von austauschbaren Phrasen und Sätzen zu erkennen. Den übrigen drei Briefteilen – narratio, petitio und conclusio – wird zumeist weniger Aufmerksamkeit geschenkt.155 Gleichwohl ist der Aufbau eines Brieftextes durch die Strukturvorgaben der ars dictaminis zu einem erheblichen Teil determiniert156 ; die „Rhetorisierung des Briefstils“ selbst beim Abfassen alltäglicher Korrespondenz sei – so Köhn – auch am Eindringen des Verses „in diese klassische Gattung der Prosa“ zu beobachten157 ; häufig finde sich vor allem am Ende des Briefes eine Verseinlage, „ein spontaner Stil“ erscheine „selbst beim Austausch belangloser Mitteilungen undenkbar.“158

153 Vgl. Benson, Protohumanism, S. 32, bezogen auf die ars dictaminis: „an intensely practical art, and there was a growing demand for skilled practitioners“. 154 Köhn, Dimensionen und Funktionen, S. 345. Inhaltlich stimmen die einzelnen artes dictandi nicht gänzlich überein, wobei es sich häufig jedoch lediglich um terminologische Unterschiede handelt. Der salutatio folgt in der Regel das exordium, welches dazu dient, den Adressaten durch eine captatio benevolentiae für sich zu gewinnen. Eine topische Ausdrucksweise findet sich vor allem hier (vgl. Van Engen, Letters, S. 121), weshalb salutatio und exordium in der ars dictaminis am eingehendsten behandelt und schematisiert werden. Für die salutatio ist eine Berücksichtigung des jeweiligen Rangverhältnisses zwischen Briefschreiber und Empfänger wesentlich, da gerade die ersten beiden Abschnitte dazu beitragen, im Brief die das Mittelalter kennzeichnende repräsentative Öffentlichkeit zu erzeugen (vgl. Haseldine, Epistolography, S. 650f.; Hartmann/Grévin, Ars dictaminis, S. 62, 65–68, 372–377). Von Moos, Hildebert von Lavardin, S. 165f., nennt „die juristische Einstufung in die feudale Gesellschaftsordnung“ als Maßstab für die formale Briefgestaltung. Hierfür bietet die ars dictaminis mit ihren vielfältigen Formeln und praxisorientierten Aussagemustern ein breit gefächertes Instrumentarium. Die Skala der Personen, die als Adressaten berücksichtigt werden, umfasst bei Adalbertus auch den privaten Bereich. Vgl. Adalbertus, Praecepta, § 2, S. 35: Secularium personarum similiter nonnulle sunt dicrepantie. Nempe aliter patrem, aliter matrem, aliter fratrem, aliter sororem, aliter filium vel filiam, aliter propinquum, aliter extraneum salutamus; aliter nobilem, aliter sapientem, aliter principatum habentem, aliter nulla dignitate utentem. 155 Vgl. Camargo, Ars dictaminis, S. 22f.; Koch, Art., Briefkunst, Sp. 549. Die narratio bildet meist den umfassendsten Teil des Briefes, da hier der Anlass des Schreibens erläutert wird. 156 Eine Parallelität zu den einzelnen Teilen der antiken (Gerichts-)Rede wird in der Forschung gesehen. Aufgrund medialer Unterschiede geht diese Gleichsetzung jedoch nicht gänzlich auf. Vgl. Koch, Urkunde, S. 30f.; Von Moos, Hildebert von Lavardin, S. 78. 157 Köhn, Dimensionen und Funktionen, S. 345. 158 Ebd., S. 346, vgl. zudem Patt, The early ‚ars dictaminis‘, S. 150–151. Das Schreiben von Versen stellt einen wesentlichen Bestandteil des Schulunterrichts dar und ergänzt die auf den Prosastil ausgerichtete ars dictaminis. Dabei geht das Erlernen des Verfassens von Poesie häufig der Kom-

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Briefstillehren wie etwa die Praecepta dictaminum des Adalbertus Samaritanus oder das Breviarium de dictamine Alberichs von Montecassino159 setzen dabei sehr unterschiedliche Schwerpunkte und konzentrieren sich in ihrem theoretischen Teil besonders auf die salutatio. Die für den mittelalterlichen Brief typische Gliederungssystematik wird hauptsächlich durch eine exemplarische Umsetzung in den jeweiligen Musterbriefen vermittelt, wodurch die Ausrichtung der ars dictaminis auf die praxisbezogene Produktion von Briefen deutlich hervortritt.160 Die Frage, ob hierbei zu Demonstrationszwecken Originalbriefe verwendet werden oder der jeweiligen Situation angepasste neue Briefe entstehen, muss häufig ungeklärt bleiben – ‚echte‘ Briefe sind daher nicht immer von fingierten zu unterscheiden.161 Laut Camargo geht es den dictatores jedoch auch mehr um die stilistische und pädagogische Beschaffenheit der Briefe als um ihre Faktizität.162 Es ist folglich davon auszugehen, dass zahlreiche Texte durch schulische Übungen und anschließende Korrektur durch den Lehrer entstehen. Briefe können somit „als reine Schultexte fungieren […], um am Beispiel brieflicher Kommunikation allgemein zu kompetenter Abfassung schriftlicher Rede anzuleiten“163 . Zwischen dem Schreiben von Briefen als Schulübung, dem Verfassen von für die Expedierung bestimmten Briefen sowie dem Sammeln von Briefen für eine Briefsammlung ist daher nur schwer zu unterscheiden.164 Dass auch zahlreiche Mustersammlungen ohne dazugehörige theoretische Erörterungen entstehen, deutet Schmale dahingehend, dass solche Sammlungen wohl nicht nur praktische Bedürfnisse erfüllten, sondern auch der Freude dienen könnten, „mit dem Brief als einer literarischen Form zu spielen und in der Gestalt von fingierten Briefwechseln das Für und Wider einer Sache zu

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position von Briefen voraus. Vgl. van Engen, Letters, S. 101; Camargo, Ars dictaminis, S. 17: „The medieval dictatores, or teachers of the ars dictaminis frequently began their artes dictandi, in fact, by distinguishing among the various types of dictamen. They always specified at least dictamen prosaicum and metricum, more often adding rythmicum as a third type, and occasionally prosimetricum as a fourth.“ Beide Traktate finden sich im Codex clm 19411, welcher die unten ausführlicher behandelten sog. Tegernseer Liebesbriefe enthält (Kap. 2.2.2), weshalb diese artes dictandi auch in der hier vorgelegten Untersuchung berücksichtigt werden. Vgl. Leclercq, Le genre épistolaire, S. 69. Vgl. Rockinger, Briefsteller und Formelbücher, S. XXXVIII; Hartmann/Grévin, Ars dictaminis, S. 18. Camargo, Ars dictaminis, S. 43. Dies stellt bereits Jean Leclercq, Le genre épistolaire, S. 68, fest: „[…] l’important n’était pas l’attribution des textes, mais leur contenu; ce n’était pas leur authenticité, mais la valeur des idées et du style.“ Worstbrock, Repertorium, S. X. Vgl. außerdem ebd., S. IX. Zur Unterscheidung zwischen Briefregister, Briefbuch und Briefsammlung vgl. Köhn, Dimensionen und Funktionen, S. 328f.; Erdmann, Studien zur Briefliteratur, S. 6f.

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erörtern“165 , weshalb die kommunikative Funktion nicht immer im Vordergrund zu stehen scheint. Wenn ein Brief daher, so lässt sich das Wesentliche zusammenfassen, nicht ein ausschließlich zwei Personen verbindendes visuelles Medium darstellt, sondern zu seiner Zweckerfüllung gewissermaßen auf das rhetorische ‚Layout‘ angewiesen ist, stellt sich die Frage, ob diese formalen Vorschriften so essentiell für die Gestaltung von Briefen sind, dass sie Möglichkeiten eines ‚freieren‘ – nicht so sehr an formale Regeln gebundenen – literarischen Ausdrucks grundsätzlich entgegenwirken. Auffällig ist vor diesem Hintergrund, dass zahlreiche berühmte Briefautoren des Mittelalters der ars dictaminis kaum Beachtung schenken.166 Ein Hinwegsetzen über die Regeln der Briefstillehre ist folglich möglich. Doch auch innerhalb der von der ars dictaminis gesetzten Grenzen gibt es zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten.167 Alberich von Montecassino stellt in der Vorrede seines Traktats dessen Inhalt als ein Resümee des bereits im mündlichen Unterricht vermittelten und durch diverse Schreibübungen erprobten Prosastils dar.168 Durch Ausdrucksvariation (commutatio) sollen die Schüler dazu befähigt werden, eine erste einfache und rohe Ausführung eines Themas in eine kunstvollere Form zu wandeln.169 Die commuta-

165 Schmale, Adalbertus Samaritanus, S. 16. Vgl. hierzu außerdem Haseldine, Epistolography, S. 654f. 166 Vgl. Von Moos, Briefkonventionen, S. 191, der Ivo von Chartres, Hildebert von Lavardin, Anselm von Canterbury, Abaelard, Bernhard von Clairvaux, Petrus Venerabilis sowie Johannes von Salisbury nennt; Haseldine, Epistolography, S. 651, 654. 167 Die Musterbriefe des Adalbertus Samaritanus etwa sind fast ausschließlich in Reimprosa verfasst und durch wörtliche Parallelen untereinander gekennzeichnet. Vgl. Schmale, Adalbertus Samaritanus, S. 16. 168 Alberico, Breviarium, cap. I, S. 4: (6) […] nec nova vos et incognita hactenus in hac brevitate opperimini ediscituros, sed vel ea, que iam viva voce nobis referentibus edidicistis, vel ea, que per diversa estis scribendo opera dispertiti, vos – quantum sufficientia flagitare nostra iudicavit sententia – nos hic noveritis collecturos (»Erwartet nicht, dass ihr Neues und bisher Unbekanntes in dem vorliegenden Abriss lernen werdet, sondern nehmt zur Kenntnis, dass wir hier – soweit es nach unserem Urteil die Hinlänglichkeit zu erfordern meinte – entweder dies zusammenstellen werden, das ihr schon gelernt habt, als wir es euch mit lebendiger Stimme vortrugen, oder dies, mit dem ihr euch schon durch unterschiedliche Übungen im Schreiben auseinandergesetzt habt.«). 169 Alberico, Breviarium, cap. I, S. 4f.: (7) Si quos autem, huius discipline funditus ignaros, vobis eius peritos et scios reddere collibuerit, hec erunt, post perceptam scientiam primam vertendi, hec emolumenti erunt exordia capescendi, ut, in primis, quod dictandum assumit de industria et dedita opera sermone debeat simplici et inculto componere, et post dictiones singulas iuxta huius documentum breviarii variare atque, pingentis emulus, prius quasi carbone tetro utcumque insignire imaginem, post quasi per insignitas lineas congruentem colorum superducere varietatem […] (»Wenn es euch aber beliebt, irgendwelche, die gänzlich unwissend in dieser Lehre sind, zu Erfahrenen und Wissenden in dieser zu machen, werden dies, nach dem Empfang des ersten Wissens über das Verändern, die Anfänge des zu erstrebenden guten Erfolgs sein: dass einer das, was er als Schreibaufgabe empfängt, zuallererst mit Fleiß und Hingabe in schlichter und schmuckloser Sprache abfassen muss und

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tio bestehe dabei „in der grammatischen Transformation eines Wortes, Syntagmas, Satzes in eine sachlich gleichwertige, aber stilistisch gesteigerte Größe“, wobei der Stilist „neben der grammatischen Ausdruckswandlung auch der lexikalischen Variation“170 mächtig sein müsse. Die Forschung zu den nun entstehenden Briefsammlungen und artes dictandi arbeitet fast durchgehend die stereotype Gestaltung der Texte heraus, Offermanns spricht in Bezug auf die Gattung Brief von der „Stereotypie als Stilprinzip“171 . Ähnlich hebt auch Adalbertus in einem Abschnitt seines Traktates, der in einem unmittelbaren Kontext mit den unten behandelten Tegernseer Liebesbriefen überliefert ist, die Notwendigkeit der Imitation hervor, um einen gelungenen Brief zu verfassen172  – Variation und Imitation stellen ein wesentliches Element seiner ars dictaminis dar. Er schreibt darüber hinaus, dass er sein Werk für jene verfasst habe, die mit Hilfe der Samen weniger Dialektiker große Scheunen füllen könnten und in der Lage seien, Ausführliches zusammenzufassen bzw. Kurzes auszudehnen.173 Grammatik, Rhetorik und Dialektik bildeten das Fundament für eine solche Tätigkeit, würden aber für eine Beherrschung der Briefkunst nicht ausreichen.174 Eine Eigenständigkeit des ‚Diktators‘ deutet sich

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danach die einzelnen Aussagen entsprechend der Lehre dieses kleinen Handbuchs variieren (muss) und, als Nacheiferer eines Malers, zuerst gleichsam mit schwarzer Kohle ein Bild so gut wie nur immer möglich zeichnen (muss), danach gleichsam entlang der (auf diese Weise) gezeichneten Linien eine dazu passende Mannigfaltigkeit der Farben auftragen (muss).«). Worstbrock, Repertorium, S. 12, der ebd. darüber hinaus darauf verweist, dass Alberichs Lehre der commutatio von einer beträchtlichen Zahl der Magistri des 12. Jahrhunderts aufgegriffen worden sei. Vgl. Alberico, Breviarium, cap. II–VI, S. 5–29. zit. bei Von Moos, Epistolae, S. 23. Adalbertus, Praecepta, § 6, S. 58: Usum vero et stilum epistolas scribentium et maxime Tullii, Macrobii, Boethii, Sallustii et Terentii sumas, quorum lectione allectus exempla capias et similia condas, quos, quantum potuimus, in hoc opusculo imitati sumus. Imitamini ergo et vos, dilectissimi, pervigili cura (»Aber die Technik und den Stil von Briefschreibern und besonders des Tullius, des Macrobius, des Boethius, des Sallusts und des Terenz sollst du übernehmen, durch deren Lektüre angeregt du Beispiele entgegennehmen und Ähnliches versuchen sollst und die ich, soweit es mir möglich war, in diesem kleinen Werk nachgeahmt habe. Ihr also, die ich sehr schätze, ahmt diese ebenso mit stets wachsamer Sorgfalt nach.«). Im Kontext der Brieflehre ist der Cicero-Verweis (Tullius) auf dessen rhetorische Schrift De inventione und die ihm lange Zeit fälschlich zugewiesene Rhetorica ad Herennium zu beziehen. Vgl. Koch, Urkunde, S. 29f., S. 36. Vgl. Adalbertus, Praecepta, § 6, S. 58f.: Illis vero datur huius opusculi lectio, qui meditari et excogitare voluerunt et ex paucorum grammaticorum seminibus grandia complere horrea, qui scire potuerunt prolixa constringere et brevia extendere. Vgl. Adalbertus, Praecepta, III, S. 31f.: Primum itaque dictatorem oportet cognoscere grammaticam, rhetoricam, dialeticam, eloquentie studia huic operi necessaria. Grammatica enim, cum sit recte loquendi scientia, verba cum nominibus docet coniungere ceterasque dictiones congrua ratione disponere. Hec autem sunt fundamenta et huius artis initia et primordialia indicia. Rhetorica vero distincte, ornate, expolite componere, unicuique persone, necnon ordini et dignitati congrua accidentia distribuere, ordinem et modum discernere. Dialetica autem proponere et assumere monstrat

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hier an, die über ein bloßes Zusammensetzen der in den Briefstellern dargebotenen Formeln hinausgeht. Die bei Alberich und Adalbertus hervorgehobene Variativität als ein wesentliches Element mittelalterlicher ars dictaminis scheint somit zahlreiche Spielräume zu eröffnen.175 In diesem Sinne stellt auch McGuire fest: „One variation after another is suggested, and letter-writing meant the ability to put together a jigsaw puzzle, with phrases that are pre-cast, ready and waiting for the player.“176 Van Engen bezeichnet den ‚Brief ‘ darüber hinaus als „the essential form of literate self-expression among the learned“177 . Schaller beobachtet ebenfalls eine spielerische Freiheit bei der Gestaltung von Briefen. In Bezug auf die Briefsteller des 13. und 14. Jahrhunderts erklärt er, dass die ars dictaminis im Übergang zur Unterhaltungsliteratur begriffen sei; außer belehren wolle sie nun auch amüsieren.178 Bei einer Betrachtung der einzelnen artes dictandi fällt auf, dass über die thematische Gestaltung der von diesen geforderten Übungen kaum etwas gesagt wird. Die Beispiele für salutationes und exordia geben zwar die Personen an, zwischen denen ein Briefverkehr stattfinden kann, die Gestaltung des Inhalts scheint aber nicht so streng reglementiert zu sein, da die jeweiligen Ausführungen zu narratio und conclusio relativ kurz ausfallen. Die von van Engen beschriebenen Freiräume bei der Gestaltung eines Briefes scheinen besonders für diese Abschnitte zu postulieren zu sein. Gerade wenn es um fingierte Schreiben geht, die im Rahmen einer Übung entstehen, stellt sich daher die Frage, mit welchen Stoffen sich die narratio füllen lässt. Gleichwohl bleibt auch weiterhin ein extremer Schematismus in der Briefkonzeption insgesamt bestehen. 2.2.1

Liebesbriefsteller

Der extreme Formalismus in der Gestaltung des Briefs spiegelt sich bereits in den in der zweiten Hälft des 11. Jahrhunderts in den Zentren Angers/Orléans sowie dem südwestlichen deutschen Sprachraum (Regensburg) entstandenen poetischen

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et concludere. Que omnia, qualiter dictatori sint necessaria, in sequentibus monstrabo per singula. Absque harum igitur aliquantula saltim scientia nulla erit dictandi notitia. Vgl. Leclercq, Le genre épistolaire, S. 70. McGuire, Friendship, S. 184f. Van Engen, Letters, S. 104. Man lerne Grammatik, Rhetorik und Dialektik, um sich selbst auszudrücken. Schaller, Probleme der Überlieferung, S. 34. Die Aufnahme des Liebesbriefes in die ars dictaminis schreitet laut Ruhe, De amasio, S. 65, jedoch nur zögernd voran. Zum Beispiel tauchten in den anonymen Praecepta prosaici dictaminis secundum Tullium, einem weiteren Briefsteller des 12. Jahrhunderts, zwar auch Salutationsformeln für Briefe an die amica auf, sie würden aber nur am Rande erwähnt. Vgl. außerdem Lutz, Rhetorica divina, S. 42: „Um 1140 wird zwar die amica erstmals in den Salutationsformeln berücksichtigt, vollständige Liebesbriefmuster aber fehlen in den artes dictandi noch bis zur zweiten Hälfte des 12. Jh.s.“

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Briefen wider. Zu nennen sind hier die im so genannten Dichterkreis von Angers (Baudri von Bourgueil, Marbod von Rennes, Hilarius, Matthaeus von Vendôme) verfassten Briefgedichte sowie die sehr wahrscheinlich unabhängig von diesen entstandenen Regensburger Liebesbriefe (Carmina Ratisponensia), bei denen es sich ebenfalls um lateinische Liebesbriefgedichte und somit poetische Liebesbriefe handelt.179 Die Frage, ob diese Texte tatsächlich auch versendet wurden, wird unterschiedlich beantwortet. Im Hinblick auf den Dichterkreis von Angers spricht Ruhe von dem „Austausch von poetischen Episteln“ sowie der „Übersendung von Werken zur kritischen Überprüfung durch den Freund“180  – Informationen, welche den Texten selbst zu entnehmen sind, könnten jedoch auch fingiert sein. Unabhängig von der Frage, ob die Briefe tatsächlich versendet wurden und ob sie hierbei auch eine kommunikative Mitteilungsfunktion übernahmen, steht deren literarische Stilisierung außer Frage, was allein die poetische Form sowie die zahlreichen literarischen Anspielungen in der Briefgestaltung sehr deutlich machen.181 Zudem ist die Möglichkeit des brieflichen Austauschs im Sinne eines literarischen Spiels im intellektuellen Milieu denkbar, ohne dass jedoch die Briefinhalte Rückschlüsse auf ein tatsächliches Liebes- bzw. Freundschaftsverhältnis zwischen den Schreibenden erlaubten bzw. ohne dass die im Brief mitgeteilten Inhalte tatsächliche kommunikative Ziele verfolgten. So heißt es etwa in Baudris von Bourgueil Brief an Konstanze selbst, dass es sich lediglich um einen iocus in calamo, ein „Federspiel“182 , handle. Im Hinblick auf die Briefe Marbods von Rennes schließt Ruhe ebenfalls auf eine Fiktionalität183 , was vor allem auch für die Briefe gelte, welche in sexueller Hinsicht extrem freizügig gestaltet seien. In den – insgesamt nicht als dialogische Briefpaare gestalteten – Briefen Marbods identifiziert Ruhe formal darüber hinaus eine typische Struktur aus narratio, petitio und conclusio, wenngleich diese jedoch nicht in allen Briefen zu erkennen sei.184 Er betont dabei zudem die in der Gestaltung des Brief-Corpus erkennbare Variativität und beobachtet beispielsweise, wie Schönheitsbeschreibungen „nicht nur unterschiedlich in den Kontext eingefügt, sondern

179 Vgl. Ruhe, De amasio, S. 22ff. Zu weiteren lateinischen Liebesbriefen bzw. Liebesbriefmustern vgl. zudem Stella, Chi scrive le mie lettere?, S. 1071–1095. 180 Ruhe, De amasio, S. 23. 181 Dies ist etwa auch erkennbar an der Rezeption der Heroidenbriefe im Bereich des Angers-Kreises. Vgl. Ruhe, De amasio, S. 44ff. Siehe auch Kretschmer, The play of ambiguity, welcher anhand der Briefgedichte Balderichs von Bourgueil und Geralds von Wales die Ambiguitäten zwischen Wahrheit und Fiktion aufzeigt und die enge Anknüpfung an die Ovid-Tradition hervorhebt. 182 Ruhe, De amasio, S. 26. 183 Ebd., S. 28: „An wen die Liebesbriefe gerichtet sind, ist den Texten selbst nicht zu entnehmen, alle Präzisionen wie Namen, Orts- und Zeitangaben fehlen.“ Er weist ebd. auf die „sehr wahrscheinlich[e]“ Fiktivität der Texte hin. 184 Ebd., S. 32.

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auch verschieden formuliert“ werden.185 Der Liebesbrief ist folglich von Beginn an durch eine große Künstlichkeit (und Kunstfertigkeit) gekennzeichnet, was umso auffälliger ist, als die ars dictaminis erst im Entstehen begriffen ist. Gerade dort, wo Briefpaare vorliegen, entwickelt sich dabei durch das Spiel mit stereotypem Sprachmaterial eine besondere Dynamik, da so die jeweiligen Aussageformen durch ihre teils differierende Verwendung unterschiedlich beleuchtet werden.186 Von Moos verweist auf den unmittelbaren Zusammenhang der Liebesbriefe der ars dictaminis mit der Tradition des fiktiven Streitgedichts, zumal „altercationes […] am Ende von Mustersammlungen gewissermaßen als literarisches Abschlußvergnügen überliefert wurden, also ab ovo in den Bereich der Fiktionalität fielen.“187 Diese Beobachtungen lassen sich beispielsweise auch in den – unabhängig von einer ars dictandi überlieferten – Regensburger Liebesbriefen machen. Im Hinblick auf diese Sammlung herrscht – ähnlich wie auch in Bezug auf die Epistolae duorum amantium188  – keine Einigkeit darüber, ob es sich um einen Briefwech185 Ebd. Auch im Hinblick auf die petitiones schließt Ruhe ebd., S. 33: „Bei den petitiones ist die Funktion stets die gleiche; der gleiche Gedanke wird jedoch sehr unterschiedlich formuliert.“ Bezogen auf Hilarius spricht er ebd., S. 42, von „mehrfachen Wiederaufnahmen gleicher Gedanken und Formeln“, worin er „die Tendenz der Liebesbriefgattung zur engen Begrenzung der Inhalte“ erkennt. 186 Von Moos, Epistolae, S. 32, spricht von „Stilübungen im Briefschreiben mit verteilten Rollen sowie im Abfassen von Dialogen in der Tradition der spätantiken Progymnasmata“, die im mittelalterlichen Trivium stets weitergepflegt worden seien: „Zum Programm gehörte Variation vorgegebener materiae in Kurz- und Langform, in Vers und Prosa, direkter und indirekter Rede, in Erzählung und Dialog u. a. m.“ 187 Ebd. S. 32f.; vgl. auch ebd., S. 33. Auffällig ist zudem, dass solche Altercationes bisweilen in Briefe integriert bzw. Briefe als Altercationes gestaltet sind (Von Moos). Vgl. außerdem Ruhe, De amasio, S. 69: „In dieser Verbindung zur Literatur ist die ars nicht die Gebende, sondern ausschließlich rezeptiv. Vor allem die im scholastischen Milieu beliebte Gattung der altercatio mußte sich für die Form des Briefwechsels eignen, in dem der replikenreiche, mündliche Dialog in zwei schriftliche Stellungnahmen überführt wird.“ Auf die Nähe des mittelalterlichen Briefs zur gesprochenen Sprache – in einer im Vergleich zur Moderne jedoch stark zu unterscheidenden Weise – wurde oben bereits verwiesen. 188 Viel diskutiert werden in diesem Zusammenhang vor allem die so genannten Epistolae duorum amantium, welche bisweilen als Briefwechsel von Abaelard und Heloise gedeutet werden. Vgl. hierzu den Überblick bei Von Moos, Epistolae, mit weiteren Literaturhinweisen. Von Moos argumentiert gegen eine Verfasserschaft durch Abaelard und Heloise und kommt auch im Hinblick auf die Datierung der Texte auf keinen genauen Zeitpunkt. Vgl. Von Moos, Vom Nutzen der Philologie, S. 45: „So scheint mir die genauere Datierung dieser Briefe nach etwa 1180 und vor 1471 heute noch weitgehend offen […].“ Der Werbungsbrief steht hier nicht durchgehend im Vordergrund, inhaltlich handelt es sich vornehmlich um Liebesbriefe, die auf ein gegenseitiges Liebesverhältnis schließen lassen. Vgl. ders., Epistolae, S. 9 u. S. 19: „Auffällig ist, dass in dem ganzen Korpus der in den vornehmlich für Studenten verfassten Liebesbrief-Mustern der Ars dictaminis bei weitem am stärksten vertretene Typus völlig fehlt: der auf kurzfristige Situationen zugeschnittene männliche Werbe- oder Verführungsbrief (mit dem Eingangsmotiv des Schönheitslobs und der Schlussandro-

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sel handelt, der ein tatsächliches Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau zum Ausdruck bringt, oder ob die Briefe als Schulübungen – möglicherweise auch nur eines einzigen Verfassers – entstanden.189 Die literarische Stilisierung ist formal und inhaltlich erneut durch zahlreiche direkte und indirekte Verweise auf u. a. Ovid

hung des Selbstmords) oft gefolgt von den beiden Antwortmöglichkeiten der Frau: Verweigerung oder umständliche Gewährung“ (vgl. außerdem ebd., S. 19, Anm. 94). Von Moos argumentiert gegen einen tatsächlichen Austausch der Briefe und arbeitet deren Künstlichkeit heraus. Er betont ebd., S. 5, das „Faktum der extremen Abstraktheit“ und stellt fest, dass „jeglicher metasprachliche[r] Rahmen“ fehle. Ebenso mutmaßt er ebd., S. 9, aufgrund der bisweilen zu beobachtenden „Trivialität“, ob es sich hierbei nicht um „ein Indiz für den Florilegcharakter (zum mindesten der poetischen Partien) dieser Briefsammlung“ handle. Zu den Brüchen im Hinblick auf die Annahme einer narrativen Logik vgl. ebd., S. 14f., S. 21. Er macht darüber hinaus ebd., S. 22, Beobachtungen, „die eher einen einzigen Autor (allenfalls Überarbeiter) als zwei unterschiedliche Korrespondenten vermuten lassen.“ (vgl. auch ebd., S. 32). Von Moos, stellt ebd., S. 20, zudem in Frage, ob „überhaupt briefstellerische Absichten bestanden“. Er beobachtet dabei ebd., S. 23, ein hohes Maß an variativer Formkunst: „Das Erstaunlichste daran ist die Unermüdlichkeit, mit der hier Wiederholung, Redundanz und Tautologie in beiden Partien des Duetts geradezu kunstvoll gepflegt werden. Man hat gelegentlich den Eindruck eines Bravourstücks der manieristischen variatio über ein an sich eher monotones Thema.“ Vgl. auch ebd., S. 7, zur „Technik des ‚Enjambement‘“. Cescutti, Lieben auf Lateinisch, arbeitet ebenfalls die rhetorische „Ausgefeiltheit“ der Briefe heraus und spricht ebd., S. 82, von deren „Künstlichkeit“ und „Gemachtheit“. Vgl. zu der Sammlung grundlegend auch Mews, The lost love letters (siehe hier insbesondere Kap. 1.4: „Traditions of Dialogue“, S. 87–114, in dem er u. a. kurz auf die Regensburger sowie Tegernseer Liebesbriefe eingeht), der allerdings eine Verfasserschaft Abaelards und Heloises annimmt. Dem schließt sich auch Feros Ruys, Eloquencie vultum depingere, an, welche sowohl die Rolle der Redegewandtheit – eloquencia – im Hinblick auf dictamen und sermo beleuchtet als auch die Auseinandersetzung über das Verhältnis von Wort und Tat in den Epistolae duorum amantium thematisiert. Schnell – den autobiografischen Ansatz durchaus ernst nehmend – vertritt in seiner jüngsten Studie, Epistolae duorum amantium, die Position, dass Abaelard und Heloise als Verfasser der Briefe lediglich fingiert seien, und er legt überzeugend dar, dass gerade „das zum Mythos gewordene Liebespaar […] als Projektionsfläche für die parodistische Inszenierung eines fingierten, aber als echt präsentierten Briefwechsels“ diene (ebd., S. 485). Den besonderen Reiz der kompilatorisch angelegten Sammlung mache dabei „ein Spiel mit traditionellen Motiven und Metaphern der ars dictaminis und mit literarischen Gattungen der Liebeslyrik“ aus (ebd., S. 245), bei dem gerade der vir – also Abaelard – der Lächerlichkeit preisgegeben werde (vgl. u. a. S. 488f.). Bezüglich der Verfasserfrage deute sich ein spielerischer Austausch von nugae innerhalb eines mit der ars dictaminis vertrauten Kreises gebildeter Kleriker an (vgl. u. a. ebd., S. 360f., S. 391–398, S. 486, S. 491, S. 500f.). Diese Beobachtungen sind auch für die Analysen der hier präsentierten Liebesbriefmuster wegweisend. 189 Edition: Paravicini. Außerdem findet sich ein Großteil der Briefe mit einer Übersetzung ins Englische auch bei Dronke, Medieval Latin II, S. 422–447. Die Texte werden als Sammlung ‚tatsächlich‘ expedierter Briefe aufgefasst (vgl. Paravicini, S. 10, die im Hinblick auf die Briefschreiberinnen auf „Schülerinnen einer Klosterschule“ schließt), aber hierbei wird sehr deutlich auf eine literarische Stilisierung verwiesen.

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und die Sprache der Bibel zu erkennen.190 Die Forschung betont die ungeordnete Struktur der Sammlung, Ruhe spricht von der „zufällige[n] Reihung loser Notizen“191 . Eine Zusammengehörigkeit des Corpus wird dennoch angenommen192 , woraus sich ebenfalls das Argument für eine Entstehung unabhängig von einem tatsächlichen brieflichen Austausch ableiten ließe. Oftmals finden sich mehrere Briefe aus weiblicher bzw. männlicher Sicht hintereinander, direkte Bezugnahmen ergeben sich daher nur vereinzelt, sodass ein direkter dialogischer Austausch im Sinne eines Aussage-Reaktions-Musters innerhalb der Sammlung eher die Ausnahme bildet.193 Dennoch enthält das Corpus auch zahlreiche Werbungsbriefe, wobei die Briefe aus der Perspektive einer Frau in größerer Anzahl vorliegen.194 Hierbei ist sowohl in den männlichen als auch weiblichen Briefen kein einheitliches Register erkennbar.195 So wird beispielsweise der Mann, der ein »hinterlistiges Herz« habe, kritisiert. Ein übertriebenes Lob ist aus Sicht einer der ‚Absenderinnen‘

190 Vgl. auch den Hinweis bei Von Moos, Epistolae, S. 32, Anm. 165: „Deutlich als Schulübung erweist sich einer der Regensburger Liebesbriefe bereits im Titel: Optimi versus metrice dictandi.., obwohl immer wieder behauptet wird, dies seien wirklich getauschte Briefe.“ Dronke, Medieval Latin I, S. 222f., äußert sich demgegenüber skeptischer und spricht davon, dass Männer und Frauen, „whose loves are rendered more complicated by their obligations and their circumstances, express themselves as best they can.“ 191 Ruhe, De amasio, S. 35. 192 Vgl. ebd., S. 40: „Die Struktur der Briefe zeigt große Einheitlichkeit, die jedoch dadurch verdeckt wird, daß bei der unterschiedlichen Ausführlichkeit der Texte manche Briefteile ausgespart bleiben.“ 193 Vgl. die Briefe 36–37 (bzw. 27–30 bei Dronke). Dronke, Medieval Latin I, S. 228, spricht bezogen auf die Briefe von „a light ‚battle between the sexes‘“; Ruhe, De amasio, S. 36, erkennt hier einen „poetischen Wettstreit“, bei dem „sich die männlichen Teilnehmer geschlagen geben“ müssen. Den Briefen liegt eine poetologische Thematik zugrunde, der Mann unterwirft sich der Frau am Ende. Es findet sich – in einem wohl direkten Antwort-Reaktions-Muster – ein Wortwechsel über die Eloquenz des Mannes, der sich das weibliche Text-Ich allerdings nicht ebenbürtig sieht. Die Briefe 46–48 sind ebenfalls konflikthaft gestaltet: Die Frau beklagt sich, keine Antwort erhalten zu haben, der Mann rechtfertigt sich; in Brief 48 beschwert sich das weibliche Text-Ich darüber, dass es keine ‚klaren Antworten‘ (certa responsa) erhalte. Weiter heißt es ebd.: Id tantum doleo, quod iactas ore protervo / Ex nobis multa noscere te stolida. / Non cure nobis est, si quid inutile garris, / Si laudas etiam, spernimus ut nebulam. / Ergo virgineis fugiat procul ille choreis / Agnis infestus, qui solet esse lupus! Das Text-Ich spricht von seinem »frechen Mund« (ore protervo), aus dem der Angesprochene »schleudere« (iactas); er plaudere »nutzlos« (inutile garris). 194 Ruhe, De amasio, S. 35: „Den Briefen der werbenden Männer stehen auch Briefe der angebeteten oder anbetenden Damen gegenüber, hier sogar in weit größerer Anzahl (27 : 16)“. 195 Inhaltlich werden sowohl harmonische Liebesverhältnisse dargestellt als auch Streitigkeiten ausgetragen. Zu Beginn der Sammlung finden sich mehrere Werbungsbriefe hintereinander, die sich jedoch im dargestellten Register deutlich unterscheiden, was auch für die Frauenbriefe und die jeweils dargestellte Haltung dem Mann gegenüber gilt. Paravicini, S. 10, beobachtet im Hinblick auf die Frauenfiguren, dass „ihr Verhältnis zu den männlichen Partnern […] von schülerhafter Verehrung dem magister und pater gegenüber bis zu Ermahnungen und Invektiven“ reiche.

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nicht erwünscht, zwar freue sie sich über ein Kompliment, doch solle dieses nicht leichtfertig geäußert werden (non petulanter).196 Die Frau beklagt sich darüber, dass der Mann versuche, sie durch List (in astu), nicht durch Aufrichtigkeit (non re) dazu zu bewegen, sich ihm hinzugeben.197 Dabei spielen poetologische Themen wiederholt eine Rolle. Ruhe verweist in diesem Zusammenhang auf das variative Potential der Briefe, betont aber zugleich die Zusammengehörigkeit der Briefe „innerhalb einer geschlossenen Gruppe von Verfassern“, welche „in der sprachlichen Einkleidung durch die Verwendung gleicher Formulierungen und Verse bei verschiedenen Absendern“198 unterstrichen werde. Dronke spricht von einer „variety of tone“199 und beobachtet, wie ähnliche Wörter in den einzelnen Briefen unterschiedliche Verwendung finden.200 Hierin erkennt er einen besonderen Reiz der Texte. Ein unterhaltendes Moment scheint gerade aus einem solchen Rückgriff auf gleiches Vokabular in leicht veränderter Form und unter anderer Kontextualisierung zu entstehen. In Bezug auf den dialogischen Austausch der Briefe 36–39 (in der Zählung nach Dronke XXVII–XXX, die Briefe XXVIII und XXIX werden bei Paravicini zu dem Brief 37 zusammengefasst) macht er folgende Beobachtung: The last lines of XXVII, alluding to hot springs and to ignis salutaris (with the associations of ardour, inspiration, and a pure flame of virtù), are taken up by the scholar who, amid many compliments, writes humorously of the girl’s ‚ignitum vultum‘, and makes extravagant protests of unconditional surrender to her (as poet – and by implication as lover). The reply to this is lost, but in the scholar’s next letter, the theme of poetic (and sexual) rivalry is sustained, and linked with the original image of the unda calens by Marsyas […].201

Gerade durch das Bild des Feuers werden hierbei in den beiden Briefen gegensätzliche Konnotationen abgerufen, wie Dronke verdeutlicht. Der aus der Perspektive einer Frau geschriebene Brief 36 endet wie folgt, das Feuer wird hier in einen engen Bezug zur Tugend gesetzt202 :

196 Vgl. Brief 53. 197 Vgl. Brief 62: ‚Nunc autem non re sed in astu vis agitare / Ut tibi me dedam, licet agnoscas alienam. / Denique lauta bone non aufers signa puelle. / Ut tibi plus scribam vetat indignatio, que iam / Me monet ut queram meliores, teque relinquam.‘ 198 Ruhe, De amasio, S. 40. 199 Dronke, Medieval Latin I, S. 222. 200 Ebd., S. 226: „Similar words (honestum fedus) occur in another refusal (XXII), where they are contrasted with a clandestine fedus. […]“ 201 Ebd., S. 228. 202 Lateinischer Text hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Paravicini.

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Te decet, ut placide fidas venereris ubique. Unda calens patrie monet, ut sis fervidus igne, Igne salutari[,] quo virtus debet amari. Es gehört sich für dich, dass du diese treu Ergebenen        (bezogen auf die Töchter von Merkur und Philologia) auf sanfte Weise überall verehrst. Das warme Wasser203 der Heimat veranlasst dich dazu, durch das Feuer zu erglühen, durch das heilsame Feuer, durch das die Tugend geliebt werden muss.

Der Mann nimmt in seiner Antwort im Verlauf des Briefes ebenfalls Bezug auf das Feuer, welches nun jedoch – ganz anders als im Brief der Frau – auf das feurige Aussehen der Angesprochenen (ignitum vultum) und die Flammen ihres Herzens bezogen wird, die auch als »schändliche Flammen« (flammas et turpes) die Liebe des Mannes auslösen (Brief 37): Quin ipsam doctam scio te docuisse Minervam, Que dedit ignitum vultum tibi corque peritum Teque saginavit vel sic ignescere iussit, Ne lateat, quantas gestent tua pectora flammas, Flammas et turpes, quibus et me torrida torres. Ich weiß sogar, dass die gelehrte Minerva selbst dich gelehrt hat, die dir ein feuriges Aussehen gab und ein gescheites Herz und die dich nährte und auch so zu erglühen befahl, dass nicht verborgen sein kann, wie viele Flammen deine Brust in sich trägt, auch schändliche Flammen, mit denen du auch mich in deiner Glut entzündest.

Durch derartige Möglichkeiten des variativen Rückgriffs auf einzelne Begrifflichkeiten und Aussageformen können gerade im dialogischen Austausch zahlreiche Effekte erzielt werden, welche ein hohes Maß an Virtuosität im Umgang mit literarisch geprägter Sprache – hier bezogen auf die Feuermetaphorik – vorführen, wie hinsichtlich der Carmina Ratisponensia nur angedeutet. Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch in sehr viel systematischer angelegten Briefsammlungen machen, die in Anbindung an bzw. als Teil einer ars dictandi entstanden – und zwar vor allem dann, wenn es sich um Musterpaare zwischen Mann und Frau handelt, wie etwa in der in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstandenen Sammlung des Bernhard von Meung, der eng durch den Dichterkreis von Angers beeinflusst wurde. Ruhe beobachtet hier einerseits eine zunehmende Tendenz

203 Vgl. Paravicini: „Unda calens i. e. Aquisgranum?“ (Aquisgranum = Aachen).

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hin zu allgemeiner gehaltenen Musterbriefen – eine Entwicklung, welche sich in der weiteren Gattungsgeschichte bedingt durch die Entstehung der ars dictaminis verstärke, was sich durch die lehrhafte Ausrichtung der ars dictaminis erklären lässt.204 Auch Liebesbriefe sind hierbei nach den Vorgaben der ars dictaminis gestaltet (salutatio – exordium …)205 , wobei sich jedoch sehr deutliche Unterschiede beobachten lassen. Bereits in mittelalterlichen Kommentaren wird – vor dem Hintergrund der ars dictaminis-Tradition – von einer „Regel der Regellosigkeit“206 im Hinblick auf Liebesbriefmuster gesprochen. Aufgrund der Thematik poetischer Liebesbriefe stellt sich zudem die Frage, inwiefern derart praktische Zielsetzungen auch für Liebesbriefsteller und -muster zu gelten haben. Bezugnahmen auf die ars dictaminis lassen sich einerseits als formale Einübung in die Kunst des Briefeschreibens deuten – unabhängig von der inhaltlichen Gestaltung –, können jedoch auch durch parodistische Absichten bestimmt sein. Diese Fragen stellen sich bei jeder Briefsammlung neu, entscheidend ist auch der jeweilige Überlieferungszusammenhang. Ruhe argumentiert gerade aufgrund der engen Einbindung in theoretisch-didaktische Kontexte gegen eine oftmals zu voreilig unterstellte unterhaltende Funktion.207 Wenn zwar formal-didaktische Interessen im Sinne der ars dictaminis nicht von vornherein auszuschließen sind, treten aber gerade in den Liebesbriefmustern Merkmale einer ars amandi hinzu und dies vor allem unter Bezugnahme auf die im 12. Jahrhundert zunehmend erwachende Ovid-Rezeption208 , was wiederum einen sehr deutlichen Hinweis auf auch unterhaltende Textfunktionen darstellt.209

204 Vgl. Ruhe, De amasio, S. 61–63. Im Hinblick auf den einzigen in der Sammlung zu findenden Werbebrief beobachtet er ebd., S. 76: „Der Text ist nicht zum fertigen Brief ausgestaltet, sondern es wird lediglich Material für den Werbebrief zusammengetragen und den einzelnen, vorschriftsmäßig gereihten Briefteilen zugeordnet. Die Motive sind nur als Gedächtnisstütze knapp angedeutet.“ 205 Lutz, Rhetorica divina, S. 42, verweist darauf, dass dieses Aufbauschema auch auf Liebesbriefe der volkssprachlichen Literatur übertragen wurde. Zum Liebesbrief als Lehrgegenstand vgl. auch Bartoli, Da Maestro Guido a Guido Faba, S. 125–129. 206 Von Moos, Epistolae, S. 30. 207 Vgl. Ruhe, De amasio, S. 73f. 208 Lutz, Rhetorica divina, S. 42, spricht in Bezug auf die Rota Veneris des Boncompagno da Signa von einer „Kombination von ars dictandi und ars amatoria“. Ruhe, De amasio, S. 85, beobachtet hierbei eine „Offenheit der den Werbebriefen spezifischen Struktur“, welche „diese Integration“ gestattete: „Der Liebesbrief als Rezipient ist die übergeordnete Form, in die wie in einem Sammelbecken andere unter Verlust ihrer autonomen Funktion eingegliedert werden.“ 209 Von Moos, Epistolae, S. 33: „Man darf sich freilich fragen, ob die vielen in Mustersammlungen (eigentlich Briefstellern) überlieferten Liebesbriefe zwischen Personen verschiedenen Geschlechts wirklich einem praktischen Bedürfnis entsprachen und nicht viel eher die Vollendung in der Stilübung und im ‚l’art pour l’art‘ sowie die damit verbundene delectatio dokumentieren sollten, die ja gerade im Maskenspiel der Geschlechter bestehen konnte.“ Im Hinblick auf eine unterhal-

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Dies macht etwa der poetische Briefsteller des Matthaeus von Vendôme deutlich, der in zwei Briefe die in der Altercatio-Tradition beliebte Thematik des Vorzugs von miles oder clericus integriert (s. oben Kapitel 2.1.2).210 Im ersten des in elegischen Distichen gestalteten Briefpaares wirbt ein Liebender (amans) um eine Frau, wobei sich Worte des Lobes mit verzweifelten Appellen an die Gnade und das Mitgefühl der Angesprochenen abwechseln.211 Bezüglich Gestaltung und Aufbau sind beide Briefe ähnlich strukturiert und weisen auch im Detail zahlreiche Korrespondenzen auf. Im Verlauf seiner Ausführungen kommt das Text-Ich u. a. darauf zu sprechen, dass die Frau einen sie liebenden miles verachte, ihr Stolz wachse jedoch durch das Feuer des erhöhten Ritters. Es findet sich darauf folgend eine Aneinanderreihung von Verbantithesen in Form kurzer Sätze aus jeweils zwei Wörtern (1. Pers. Sg., 3. Pers. Sg.), in denen das Verhalten des Text-Ichs – welches folglich kein miles ist – und das des Ritters einander gegenübergestellt werden: Lugeo, letatur; precor, inperat; oscito, gustat […] (Vv. 93–102). Daran anschließend wird kritisiert, dass eine Frau (mulier) eine Haltung habe, die beiden gegenüber unverbindlich sei: […] bipertit amicos, / Fluctuat ac neuter inter utrumque placet […] (Vv. 105f.) – »sie teilt ihre Freunde in zwei Teile, / sie schwankt hin und her und keiner von beiden gefällt ihr.«212 U. a. findet sich im Verlauf des Briefs auch ein Wortspiel mit dem Wort amare und dessen aktivischer und passivischer Bedeutung, worin sich ein auch insgesamt für die Liebesbriefmuster spezifischer sprachreflexiver Charakter offenbart: Est amo vox miseri, cui si dederit paragoge / R liquidam, fit vox prosperitatis amor (Vv. 117f.). – »‚ich liebe‘ ist ein Wort des Unglücklichen, wenn eine Wortverlängerung diesem die Liquida R gegeben hat, wird es das Wort des Glücks ‚ich werde geliebt‘.«213 Der Brief endet mit dem sehnsüchtigen Verlangen des TextIchs, welches erneut an die Adressatin appelliert: Sum tuus et servus voveo tuus esse: precanti / Aspira, refove vota, medere malis. / Queso, fave, propera: dilatio, seva noverca / Polliciti, meritum dantis obire facit (Vv. 149–152). – »Ich gehöre dir und gelobe, dein Sklave zu sein: Sei dem Bittenden behilflich, erquicke sein Verlangen, heile seine Leiden. Bitte, sei gnädig, beeile dich: Ein Aufschub, die böse Stiefmutter des

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tende Funktion äußert sich Ruhe jedoch kritisch und betont den gelehrten Kontext, in dem die Liebesbriefsteller überliefert seien. Editionen bei Wattenbach und Munari, hier zitiert nach Letzterem. Insgesamt besteht dieser Briefdialog aus vier Briefen (Briefe 1–4 der zweiten distinctio). Im Anschluss an den Werbungsbrief des Mannes (ep. 1) findet sich der Antwortbrief der Frau (ep. 2), woraufhin sich der Mann im dritten Brief an eine Kupplerin wendet (ep. 3), welche ihm jedoch von der umworbenen Frau abrät (ep. 3). Vgl. hierzu Ruhe, De amasio, S. 83. Ruhe, ebd., beobachtet hierbei, wie im Verlauf des Briefs der „höfliche Ton zunehmend aggressiver“ werde. Vgl. auch Vv. 107f.: […] agone / Tali zelotipus amplificatur amor – »[…] durch einen solchen Wettkampf / vergrößert sich die eifersüchtige Liebe«. Diese Thematik erstreckt sich über 20 Verse.

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Versprochenen, bewirkt, dass die Belohnung des Gebenden dahingeht.« Auf diesen Werbungsbrief des Mannes folgt ein Schreiben der Frau, welches sich deutlich als Antwort auf den Brief des Mannes zu erkennen gibt.214 Ruhe beobachtet, dass das Mädchen „in genauer Aufnahme seiner Argumente“ antworte. Über seine Liebesschwüre mache sie sich mit „Wortspielen“ lustig.215 Der Status des Mannes wird hier als der eines clericus konkretisiert. Die Frau erteilt ihm zunächst eine deutliche Absage. Sie wolle nicht Ehebruch begehen, sondern heiraten (V. 7: Respuo mechari, volo nubere […]). Eine Anknüpfung an das Wortspiel mit amare findet sich ab Vers 15: Amens es nec amans, nec amor, sed amarus inescat / Te furor et sterili vomere litus aras (Vv. 15f.) – »Du bist wahnsinnig und nicht liebend, und nicht Liebe, sondern ein verbitterter Wahnsinn erfüllt dich und du pflügst das Gestade mit fruchtloser Pflugschar« (d. h. »du schreibst/bemühst dich vergebens«, u. a. Bezug auf Ovid, Pont. IV, 2,16). Wenn sie sich der Liebe unterwerfen wollte, würde sie nicht einem Scholaren, sondern einem Laien das Recht auf ihre Entjungferung geben (Si vellem Veneri succumbere, nulla scolari / Talia sed laico primicianda darem, Vv. 35f.). Es folgt ein Negativkatalog gegen die Kleriker (Vv. 37–88): Sie seien u. a. geschwätzig (V. 37), gefräßig (Vv. 57ff.), trunksüchtig (V. 65), faul, sie schnarchten (V. 68), in ihrem Bauch wüteten heftige Stürme aufgrund der vielen Speisen und des Weines (Vv. 69f.: Exercet varios conflictus ventre ciborum / Rixa, procellarum spiritus, unda meri). Es entstehe ein Unwetter (tempestas), sie wolle aber nicht mit jungfräulicher Einfachheit sprechen (V. 72). Der Kleriker sei unbeständig in der Liebe (V. 81: Clericus inconstans in amore volatilis instat), er sei ein verschwenderischer Schmarotzer der Mädchen (Vv. 86f.: Scurra puellarum prodigus esse potest. / Hoc nocet, hoc vicio suspecta professio cleri). Deshalb lehne sie es ab, seine Bitten zu erhören (Vv. 89f.). Sie thematisiert nun die Vorwürfe, die er ihr mache, und verteidigt sich gegen diese: Sed mihi cur reprobas fastum, si servo pudoris / Claustrula, si precium depreciare nego? (Vv. 91f.). Ab Vers 101 geht sie dann näher auf den Ritter (miles) ein: Er werfe ihr vor, dass sie durch die Liebe des miles (bzw. zu dem miles) bedrängt werde, aber sie sei unschuldig: Preterea quod amor, quod amor me militis urget / Obicis, accusas inmeritamque premis (Vv. 101f.). Es folgt nun eine umfangreiche Auflistung dessen, wie sich der Ritter ihr gegenüber verhalte und wie sie reagiere (Vv. 103–120): Quod facis, ecce, facit miles: me circinat alis / Assiduis, perdit verbula, perdit iter: / Sectatur, fugio; blanditur, abhorreo; luget, / Gratulor; alludit, horreo; sperno, petit; / Vult, nolo; rogitat, nego; supplicat, arceo; spontet, / Respuo […] Sehr deutlich ist die formale Anknüpfung an die entsprechende Passage des vorangegangenen Briefes (Verbantithesen). Daran anschließend erklärt sie in Vers 121: Quod petis, implorant plures

214 Wattenbach, Poetischer Briefsteller, S. 566, sieht sich erinnert „an die in ‚Des Minnesangs Frühling‘ […] gedruckten Briefe aus demselben Tegernsee, aus welchem auch diese Handschrift stammt.“ 215 Ruhe, De amasio, S. 84.

ars dictaminis

[…] – »Was du forderst, erbitten mehrere.« Wiederum ist die Position der Frau hier jedoch unbestimmt. Zunächst heißt es, sie wolle ganz der Liebe absagen: Inmatura tremo Venerisque novitia, mentem / Ne Venus inpugnet asperiore iugo (Vv. 123f.). Nun verkündet sie jedoch: Et tamen es specie prestans, es dignus amari, / Si placeat laica conditione frui (Vv. 127f.). Gleichwohl nennt sie darauffolgend wiederum Dinge, die sie stören, vor allem das Aussehen betreffend, wodurch ihre abschließende Antwort weiterhin unklar bleibt. Die wenigen hier zitierten Stellen zeigen bereits, wie sehr diese im schulischen Kontext verorteten Texte Möglichkeiten literarischer Entfaltung vorführen. Dieser spielerische – geradezu experimentelle – Umgang mit Sprache im Kontext einer Liebes- und Werbungsthematik, der zunächst nur kursorisch betrachtet wurde, soll nun auch bei der Analyse der sog. Tegernseer Liebesbriefe Berücksichtigung finden, welche enge Bezüge zur volkssprachlichen mittelhochdeutschen Dichtung aufweisen und daher ausführlicher besprochen werden. 2.2.2

Tegernseer Liebesbriefe

Der Tegernseer Codex mit der Signatur clm 19411 enthält 11 Liebesbriefe, die sich an drei verschiedenen Stellen innerhalb der Handschrift befinden und in die so genannte „Tegernseer Briefsammlung“ integriert sind. Während die Briefe 1 bis 8216 ein zusammenhängendes Corpus bilden, steht Brief 9 für sich allein; an einer dritten Stelle der Handschrift sind die Briefe 10 und 11 zu finden. Trotz dieses fehlenden Zusammenhangs werden die Texte in der Forschung aufgrund inhaltlicher und stilistischer Parallelen als Einheit aufgefasst.217 Über die Entstehungsumstände der elf Liebesbriefe lassen sich jedoch keine gesicherten Angaben machen. Lediglich der Terminus ante quem für die Entstehungszeit der gesamten Briefsammlung (1178/1186) gilt als sicher.218 Berühmtheit erlangten die Briefe vor allem durch den mit Dû bist mîn beginnenden mittelhochdeutschen Schluss des Briefes 10 der Sammlung, der in Des Minnesangs Frühling in Form einer sechszeiligen Strophe zu der Abteilung „Namenlose Lieder“ gehört.219 Auf den Brief, dessen Ende dieser

216 Die Zählung richtet sich nach Plechls Gesamtedition der Briefe aus dem Jahr 2001 (Plechl, S. 345–366). 217 Vgl. Kühnel, S. 21–23; Schaller, Zur Textkritik, S. 120. Größtenteils sind die Briefe in Reimprosa geschrieben. Im clm 19411 erfolgt eine Trennung der korrespondierenden Satzglieder durch Punkte. Zur formalen Gestaltung der Briefe vgl. Kühnel, S. 24–27; Brinkmann, Entstehungsgeschichte, S. 94. 218 Vgl. Plechl, S. XVI. 219 Vgl. Des Minnesangs Frühling, 38. Aufl. 1988, S. 21. Über die Texteinrichtung besteht jedoch alles andere als Einigkeit (s. unten).

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Text bildet, wird in der Anthologie zwar hingewiesen, einen inhaltlichen Zusammenhang hat man aber bisher nur ansatzweise herzustellen versucht.220 Ob es sich bei der Sammlung um Zeugnisse einer tatsächlich stattgefundenen Korrespondenz handelt, lässt sich nicht feststellen. Ihre Entstehung innerhalb klerikaler Kreise gilt jedoch als sicher. Von der Forschung werden die Briefe wiederholt als ein Produkt schulischen Unterrichts interpretiert, finden sich doch im clm 19411 zahlreiche Hinweise, die auf eine lehrhafte Funktion des Codex hindeuten, u. a. enthält er mit dem Breviarium de dictamine des Alberich von Montecassino221 und den unvollständigen Praecepta dictaminum des Adalbertus Samaritanus zwei brieftheoretische Schriften.222 Da die Tegernseer Briefsammlung insgesamt zum größten Teil das primäre Interesse der ars dictaminis am offiziellen Brief widerspiegelt, stellt sich die Frage, inwiefern die aller Voraussicht nach im 12. Jahrhundert entstandenen elf Liebesbriefe möglicherweise eine gewisse Unabhängigkeit von den durch die ars dictaminis vorgegebenen Mustern aufweisen. Die ersten acht Briefe finden sich im Anschluss an die Praecepta des Adalbertus Samaritanus.223 Plechl stellt hierbei fest, dass die innerhalb der Briefe verwendeten zwölf Namensiglen weder eine Gruppierung oder Identifizierung der Personen ermöglichen würden, noch bei dem völligen Fehlen der Ortsnamen Hinweise auf die Herkunft der Briefe böten.224 Eine Ordnung sei somit nur unter thematischen Gesichtspunkten möglich. Inhaltlich bilden Sehnsucht nach dem in der Ferne weilenden Geliebten, Trennungsschmerz sowie gegenseitige Treue- und Liebesbekenntnisse ein durchgängiges Thema dieser Texte. Aufgrund des direkten Zusammenhangs zur ars dictaminis werden die ersten acht Briefe für Textbeispiele einer Mustersammlung gehalten. Das fünfteilige Briefschema findet sich hier wieder225 :

220 Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Gerok-Reiter, Dû bist mîn, ich bin dîn. Vgl. außerdem Brinkmann, Entstehungsgeschichte, S. 92–103; Krywalski, Dilectus meus mihi. 221 Der Tegernseer Codex enthielt den Traktat Alberichs von Montecassino in seinem vollen Wortlaut. Durch den Fortfall einer Lage fehlt heute jedoch der Schluss dieser Schrift (vgl. Plechl, Die Tegernseer Handschrift, S. 446). 222 Zur Frage, ob Alberich zu den Vertretern der ars dictaminis zu zählen ist oder nicht, vgl. Koch, Art., Briefkunst, Sp. 546. 223 Zwischen den Briefen und der Ars dictandi finden sich allerdings ein Abschnitt mit lateinischen Versen sowie ein Teil eines Briefes der ‚eigentlichen‘ Tegernseer Briefsammlung (vgl. Plechl, S. XI). 224 Zudem könne eine gemeinsame Provenienz nicht angenommen werden. Lediglich die Briefe 9 bis 11 schienen in Tegernsee selbst entstanden zu sein, während die übrigen Briefe einer anderen Schultradition angehören würden (Plechl, S. XVI; vgl. außerdem ders., Clm 19411, S. 482). 225 Brief 3 wird hier beispielhaft vorgestellt, um die Umsetzung des von der ars dictaminis bereitgestellten Schemas zu illustrieren. Zusammenfassungen der einzelnen Briefe und mögliche Interpretationsansätze finden sich in der Edition von Plechl, S. 345–366.

ars dictaminis

           Accipe scriptorum, o fidelis, responsa tuorum.            Quid dignum digno valeam scribere, ignoro, presertim cum doctoris aures pudor sit inculto sermone interpellare et nefas sit silentio preterire. Tamen, prout potero, tibi respondebo. Durum mihi videtur ac difficile, quod conaris a me inpetrare, scilicet integritatem meę fidei, quam nulli unquam mortalium promisi. Attamen si sciero me casto amore a te adamandam et pignus pudicicie meę inviolandum, non recuso amorem. Si consistat absque dolore, non potest dici amor, unde constat maximus labor. Cave, nequis videat ista dicta, quia non sunt ex auctoritate scripta.226

Die Kontaktaufnahme erfolgt im dritten Tegernseer Liebesbrief mittels einer knappen Anrede des »Getreuen« (o fidelis), der durch die Absenderin zunächst formelhaft gebeten wird, die Antwort auf sein Schreiben entgegenzunehmen, wobei sich der Brief, auf den hier Bezug genommen wird, unter den vorhandenen elf Liebesbriefen nicht eindeutig identifizieren lässt. Der für eine salutatio charakteristische Rückschluss auf das Rangverhältnis zwischen Absender(in) und Adressat(in) kann in diesem Fall nicht gezogen werden. Das exordium (Quid […] respondebo) verdeutlicht, dass es sich bei dem ‚Geliebten‘ um einen Lehrer der Schreiberin handelt. Nach einer captatio benevolentiae – hier als Beteuerung, nicht angemessen antworten zu können – entschließt sich das Text-Ich trotzdem dazu, ein Antwortschreiben zu verfassen, da es nicht recht sei, schweigend zu verharren. In der narratio (Durum […] promisi) geht die Absenderin nun auf den Inhalt des von ihrem doctor gesendeten Schreibens ein. Dessen Begehren hält sie für lästig (durum) und gefährlich (difficile), da sie ihre Treue (fides) noch nie einem Sterblichen gelobt habe, woraus sich auf ein Abweisungsmotiv als Kernaussage des Schreibens schließen lässt. Im weiteren Verlauf der narratio (Attamen […] inviolandum) finden sich indirekt Anklänge an eine petitio227 , wenn die Absenderin dem Adressaten eine Bedingung stellt und ihre Absage dadurch ein wenig einschränkt: Nur eine keusche Liebe (castus amor) werde sie nicht zurückweisen, da eine solche allein jeglichen Leides entbehre. Die conclusio beendet den Brief mit der Bitte um Diskretion und Intimität228 , woraus sich auf eine Illegitimität des Verhältnisses zwischen der Schreiberin und dem Adressaten schließen lässt. Die These, dass es sich bei den Briefen um eine Mustersammlung handelt, wird durch das – mehr oder weniger stark ausgeprägte – Einhalten des von der ars dictaminis vorgeschriebenen Kompositionsschemas – wie hier beispielhaft vorgeführt – unterstützt, zumal die ersten acht Liebesbriefe an die Praecepta dictaminum

226 Plechl, S. 348, Z. 23–31. 227 Zur petitio als Teil einer ars dictandi vgl. Hartmann/Grévin, Ars dictaminis, S. 381f. 228 Solch eine Bitte um Heimlichkeit findet sich auch in Brief 2: Cave diligentius, ne tercius interveniat oculus. (Plechl, S. 347, Z. 20).

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anschließen.229 Die artes dictandi des Adalbertus Samaritanus und Alberich von Montecassino setzen einen Schwerpunkt auf das schrittweise Erlernen der Briefkunst230 , weshalb es denkbar wäre, dass es sich – zumindest bei den Briefen 1 bis 8 – ebenfalls um eine solche Übung handeln könnte, zumal sich zahlreiche formale und inhaltliche Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Briefen finden lassen, was auf eine variatio als Stilprinzip hindeutet. Dies erklärt allerdings nicht die inhaltliche Gestaltung der Briefe als Liebesbriefe. Das dominierende Thema der Briefe 1 bis 8, die illegitime Beziehung zwischen Mann und Frau, lässt keine Übereinstimmungen mit den besprochenen artes dictandi erkennen. Lediglich auf das Thema ‚Freundschaft‘ wird innerhalb der in der Handschrift enthaltenen Briefsteller anhand einiger Freundschaftsbriefe eingegangen. Beispiele für ein illegitimes Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau oder gar Nonne und Mönch finden sich hier jedoch nicht. Angenommen, dass es sich tatsächlich um Musterbriefe aus einem schulischen Kontext handelt, stellt sich somit die Frage, wie sich diese thematische Schwerpunktsetzung begründen lässt. Einerseits könnte es sich bei den acht Briefen um Originalbriefe handeln, um neben den zahlreichen offiziellen Briefen der ‚eigentlichen‘ Tegernseer Briefsammlung weitere Möglichkeiten der Textsorte ‚Brief ‘ vorzuführen. Die Ausführungen zum mittelalterlichen Briefwesen haben andererseits jedoch gezeigt, dass dies eher unwahrscheinlich ist (s. oben). Die in den acht Briefen wiederholt zu findenden Hinweise auf die Heimlichkeit und Illegitimität der beschriebenen Briefkontakte erschweren darüber hinaus die Beantwortung der Frage, wie die Briefe in den clm 19411 gelangt sein können, da Vorstellungen vom Brief als eines Mediums intimer Kommunikation nur schwer auf das Mittelalter zu übertragen sind. Aufgrund der Heimlichkeit der in den Tegernseer Briefen dargestellten Beziehungen und der in Brief 3 zu findenden Beteuerung, noch nie einem Sterblichen die integritas fidei gelobt zu haben, wird der Brief als der einer Schülerin an ihren Lehrer aufgefasst.231 Ein Hinweis auf die Entstehung in einem Frauenkloster findet sich in Brief 6: Salutat te dulcis margarita et conventus iuvencularum.232 Küsters verweist hierbei auf die winileodos der Karolingerzeit, durch die belegt sei, dass „in den ma. Frauenklöstern die Beschäftigung mit Liebesliteratur besonders kultiviert wurde“233 . Es gehe dabei jedoch nicht um auf realen Liebeserlebnissen beruhende Reflexionen, sondern

229 Formal handelt es sich folglich um ordnungsgemäß gestaltete Briefe. Plechl verdeutlicht in den Einleitungen zu den übrigen sieben Briefen ebenfalls die Nähe zu den Kompositionsregeln der ars dictaminis (vgl. Plechl, S. 345–356). 230 Alberich schreibt, dass seine Ausführungen das Ergebnis zahlreicher Schulübungen darstellen würden. Die Fähigkeiten zu Imitation und Variation sollen aktiv erlernt werden. 231 Vgl. Kühnel, S. 19. 232 »Es grüßt dich die süße Perle und der Konvent der Jungfräulein.« (Plechl, S. 353, Z. 3f.). 233 Küsters, Der verschlossene Garten, S. 277, Anm. 130.

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um literarische. Bei der Gestaltung von Briefen – so lässt sich daraus schlussfolgern – wird offenbar auf Themen zurückgegriffen, die für das Leben im Kloster von Bedeutsamkeit und erhöhtem Interesse sind. Wie weit eine solche Integration innerhalb von Briefen, die im Zusammenhang mit theoretischen Texten der ars dictaminis überliefert sind, gehen kann, verdeutlichen die Briefe 9 bis 11 der Tegernseer Liebesbriefe. Schaller spricht in Bezug auf diese von einer „unerhört eigenwillig ausgeprägte[n] Affektivität“234 . Eine direkte Anlehnung an die in der Handschrift enthaltenen Briefsteller sei hier nicht zu erkennen. Brinkmann vergleicht sie sogar mit dem Briefwechsel Abaelards und Heloisas.235 Dronke und Schaller argumentieren gegen Kühnels Interpretation der Briefe als Stilübungen im Rahmen einer Briefmustersammlung236 und bezeichnen zumindest einige der Texte als „kostbare Relikte eines spielerisch-erotischen Briefverkehrs in einer ‚geschlossenen Gesellschaf ‘ von Lehrern und Schülerinnen eines geistlichen Bildungszentrums“237 . Unter solchen Entstehungsbedingungen wäre eine Expedierung der Briefe zwar nicht auszuschließen, durch die Betonung des Spielerischen aber würden sie als Texte, die eine tatsächliche Liebesbeziehung illustrieren, nicht ‚ernst‘ zu nehmen sein. Die Frage, ob es sich um eine Schulübung oder einen spielerisch-erotischen Briefverkehr handelt, lässt sich nicht beantworten. Kaum Unterstützung findet jedoch die Behauptung, dass die Tegernseer Briefe das Produkt einer illegitimen Liebe seien. Naheliegender scheint es, dass hier die Inszenierung einer literarisch stilisierten Beziehung zwischen Mann und Frau erfolgt, sei es als Ergebnis einer Schulübung, sei es als Zeugnis eines der Unterhaltung dienenden spielerischen Briefverkehrs innerhalb einer „geschlossenen Gesellschaft“. 2.2.2.1 Brief 11

Kühnel betrachtet die Briefe 9 und 11 als ein zusammengehöriges Paar, was ihn in seiner Edition dazu veranlasst hat, beide Texte hintereinander abzudrucken und die Reihenfolge der Briefe im Vergleich zum clm 19411 zu verändern. In der Handschrift jedoch befindet sich Brief 9 getrennt von den restlichen Briefen inmitten der ‚eigentlichen‘ Tegernseer Briefsammlung. Die Briefe 10 und 11 sind dagegen zusammenhängend in den clm 19411 eingetragen worden.238 Die Forschung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass vor allem diese drei letzten Briefe der insgesamt elf Tegernseer Freundschafts- und Liebesbriefe aufgrund sprachlicher und

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Schaller, Zur Textkritik, S. 113. Vgl. Brinkmann, Entstehungsgeschichte, S. 94. Vgl. Kühnel, S. 23f. Schaller, Zur Textkritik, S. 104. Vgl. Plechl, S. XI: fol. 100va–100vb: Liebesbrief 9 / fol. 100vb–113rb: Briefe 140–193 [der ‚eigentlichen‘ Tegernseer Briefsammlung] / fol. 113va–114vb: Liebesbriefe 10 und 11.

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inhaltlicher Parallelen als Einheit aufzufassen sind.239 In Brief 11 wendet sich ein männlicher Absender an eine weibliche Adressatin. Da eine salutatio fehlt, muss die Geschlechtszuordnung aus dem Inhalt des Schreibens erschlossen werden. Der Mann schreibt zunächst, dass er sehr eifrig einen an ihn gerichteten Brief der nun angeschriebenen Frau gelesen habe. Gleich wie die Aue, nachdem die Winterzeit vergangen sei, habe sie ihn durch die Blumen ihrer Lieblichkeit (iocunditas) wieder erneuert. Ihr vielfältiges Lob von fides und amicitia sei ihm ein Grund zur Freude gewesen. Der Brief, auf den hier Bezug genommen wird, ist bisher nicht (eindeutig) identifiziert worden, wobei im Falle eines fiktiven Status der Texte ein passendes Pendant nicht unbedingt vorhanden sein muss. Um seine Begeisterung zu verdeutlichen, schreibt der Absender, dass er unfähig sei, dem so großen Lob der Adressatin angemessen zu antworten, selbst wenn alle seine Glieder in Zungen verwandelt würden und er wie ein Schwamm ihre Vortrefflichkeit (extollentia) aufsaugen könnte. Im Anschluss an diese beiden bildlichen Vergleiche endet die captatio benevolentiae jedoch abrupt und der Mann kritisiert die hier angesprochene Frau: si tamen secundum illud Oratii humano capiti cervicem equinam non adiunxisses vel si mulier formosa superne in atrum piscem non desiisset.240 Wie Horaz habe sie an das menschliche Haupt einen Pferdehals angefügt und laufe unten in einen grässlichen Fisch aus. Er vergleicht die Frau mit einer in Dichtungen des 12. Jahrhunderts häufig erwähnten Chimäre, die ihm süßes und bitteres Wasser aus einer Quelle zugleich gegossen habe, wodurch das Lob der Geliebten eine sehr deutliche, geradezu beleidigende Einschränkung erfährt. Ganszyniec zeigt anhand zahlreicher Belege, dass es sich in klerikalen Kreisen bei einer chimera nicht selten um eine Bezeichnung für Dirne handele: Omnis re vera meretrix est dicta chimera: / Parte leo prima, medio caper, anguis ad ima […].241 Belegt sei diese Vorstellung u. a. bei Petrus Pictor, Marbod von Rennes und Matthaeus von Vendôme.242 Auch die Carmina Ratisponensia (s. oben) machen Gebrauch von dieser Metapher:

239 Vgl. Kühnel, S. 21–23; Schaller, Zur Textkritik, S. 120. 240 »Aber du hast, nach dem Bilde des Horaz, an das Menschenhaupt einen Pferdehals gefügt und der schöne Frauenleib läuft unten in einen häßlichen Fisch aus.« (Plechl, S. 365, Z. 9–11; Übers. Freytag [hier und im Folgenden – meist auch bezogen auf die Paraphrase – der Edition Kühnels entnommen], S. 81; eine Übersetzung der Briefe 9–11 ins Englische findet sich bei Dronke, Women’s love letters, S. 230–245); Zitate und Anspielungen auf andere Texte kennzeichnet Plechl in seiner Edition durch Kursive. Zu den zahlreichen literarischen Verweisen des Briefes vgl. ebenfalls Dronke, Women’s love letters, S. 221–223. Zur Verarbeitung antiker Stoffe in einem weiteren Tegernseer Codex des 12. Jhs. vgl. Kretschmer, Puer hic, S. 43–45. 241 Zit. nach: Ganszyniec, Tegernseer Liebesbriefe, S. 24, der sich hier auf „cod. Paris. lat. 15133 = lat. 8427“ bezieht. 242 Vgl. ebd. sowie erneut Dronke, Women’s love letters, S. 222.

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Prima parte leo, medio capra, vipera cauda, Bestia terribilem facie designat amorem, Cuius in inlicitum ruit impetus ut leo factum, Perficiendo scelus veluti capra fit maculosus, Hinc sequitur serpens, cor sordida culpa remordens.243

Im Anschluss daran erfolgt in den Regensburger Briefen eine eindringliche Warnung vor den Tücken dieses Fabelwesens: Dum spaciaris agro, quo reptat tristis imago, Ne spectato feram, sed formidato Chimeram. Nam leo te mordet, maculat capra, vippera toxat.244

Die Chimäre lässt sich – neben dieser liebesthematischen konnotativen Aufladung – unter Bezug auf die Ars poetica des Horaz vor allem auch dichtungstheoretisch perspektivieren, dient sie doch hier als ein bildlicher Ausdruck für ‚schlechte‘ Dichtung: Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique collatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, spectatum admissi risum teneatis, amici?245

‚Gute‘ Dichtung beschreibt Horaz dagegen folgendermaßen: denique sit quodvis, simplex dumtaxat et unum – »Kurz und gut, erschaffe, was du willst; nur sei es einartig und aus einem Guß.«246 Die Liebesthematik des Briefs wird somit gerade durch das Bild der Chimäre auch sehr deutlich um eine dichtungsthematische 243 Paravicini, 2, Vv. 1–5, S. 17 (»Oben ein Löwe, in der Mitte eine Ziege, eine Schlange als Schwanz; die Bestie kennzeichnet durch ihre Gestalt eine schreckliche Liebe, deren Ungestüm wie der Löwe in eine unzulässige Tat stürmt; durch das Verüben eines Frevels wird die ehrlose (Liebe) gleichsam eine Ziege, dann folgt die Schlange; schändliche Schuld quält das Herz.«). 244 Ebd., 4, Vv. 1–3, S. 18 (»Wenn du auf dem Feld umherläufst, auf dem ein unheilvoller Schatten umherkriecht, betrachte nicht das wilde Tier, sondern fürchte die Chimäre. Der Löwe beißt dich nämlich, die Ziege entehrt dich, die Schlange vergiftet dich.«). 245 Hor., ars., Vv. 1–5: »Ein Menschenhaupt mit Pferdes Hals und Nacken: denkt euch, so schüfe es die Laune eines Malers; dann trüge er buntes Gefieder auf, liehe aus allen Arten die Glieder zusammen; zu unterst wär’s ein häßlich grauer Fisch, und war doch oben als ein schönes Weib begonnen. Denkt euch, ihr Freunde wärt zur Schau geladen: würdet ihr euch des Lachens erwehren?« (Übers. Schöne, S. 231). 246 Ebd., V. 23 (Übers. Schöne, S. 231).

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Ebene ergänzt, wobei hier noch unklar ist, inwiefern der Brief der Frau bezogen auf seine inhaltlich-sprachliche Gestaltung in den Augen des Mannes Anstoß erregen könnte. Was genau der Absender durch das Bild der Chimäre zum Ausdruck bringen will, versucht er jedoch im weiteren Verlauf seines Briefes zu erklären, indem er erneut durch die Metapher der Aue verdeutlicht, dass die Frau ihm zwar zunächst Hoffnung gegeben, diese dann aber wieder zerstört habe. Das Lob von fides und amicitia in dem Brief, auf den sich der Mann bezieht, sei nicht aufrichtig gewesen. Seines Herzens Aue habe angefangen, Blumen und Früchte der Treue und Freundschaft zu gewinnen, doch durch eine salzige Flut sei alles verdorrt worden: Siquidem ramos tuos verborum foliis decenter adornatos ad me protenderes, cor meum allexisti, sed ne fructum aliquem arboris tue ad gustandum decerperem, repulisti. Hęc est enim evangelica illa ficus sine fructu et poetica sollertia sine cultu: Quid etiam terram occupat?247

Das Bild des aus dem Evangelium bekannten Feigenbaums248 wird allegorisch auf die Frau übertragen: Sie habe ihre Zweige, die mit Worten geschmückten, zunächst nach ihm ausgestreckt und sein Herz angezogen, ihn jedoch dann wieder zurückgestoßen, sodass er die Frucht des Baumes nicht habe schmecken können. Dies sei eine poetica sollertia sine cultu. Gerok-Reiter erkennt hier – im Rahmen der wiederholten Verweise auf dichtungsthematische Aspekte – eine „Auseinandersetzung auf der Ebene richtigen oder falschen Sprechens über die Liebe“249 . Im Hinblick auf eine poetologische Sprechebene ist besonders auffällig, dass der Mann bei seiner Kritik an der Frau immer wieder die Bedeutung ihrer Worte betont: Die Zweige des Baumes seien »zierlich« mit den Blättern ihrer Worte geschmückt;

247 »Denn du hast deine Zweige, die zierlich mit den Blättern deiner Worte geschmückten, nach mir ausgestreckt und mein Herz angezogen; aber du hast mich wieder zurückgestoßen, daß ich keine Frucht deines Baumes zum Kosten pflücken kann. Fürwahr, das ist jener Feigenbaum im Evangelium ohne Frucht, und das ist poetische Sorgfalt ohne Ernst: Welchen Anspruch hat der noch auf den Boden?« (Plechl, S. 365, Z. 15–18; Übers. Freytag, S. 83). Die Kursivierung kennzeichnet die wörtliche Übernahme aus Luc. 13,7. 248 Vgl. Matth. 21,19: et videns fici arborem unam secus viam venit ad eam et nihil invenit in ea nisi folia tantum et ait illi: numquam ex te fructus nascatur in sempiternum, et arefacta est continuo ficulnea. – »Da sah er am Weg einen Feigenbaum und ging auf ihn zu, fand aber nur Blätter daran. Da sagte er zu ihm: In Ewigkeit soll keine Frucht mehr an dir wachsen. Und der Feigenbaum verdorrte auf der Stelle« (Heilige Schrift, S. 1102); Marc. 11,13: cumque vidisset a longe ficum habentem folia, venit, si quid forte inveniret in ea, et cum venisset ad eam, nihil invenit praeter folia, non enim erat tempus ficorum – »Da sah er von weitem einen Feigenbaum mit Blättern und ging hin, um nach Früchten zu suchen. Aber er fand an dem Baum nichts als Blätter; denn es war nicht die Zeit der Feigenernte.« (Heilige Schrift, S. 1131). 249 Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 90.

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durch ihre Worte habe sie dem Mann Hoffnung gegeben. Gleichwohl ist hierbei auf eine sehr enge Überschneidung der Ebenen der Liebes- und Dichtungsthematik hinzuweisen, welche sich nicht klar voneinander trennen lassen, wenn es etwa im nächsten Abschnitt des Briefes (Z. 19ff.) erneut heißt, dass erst die ‚Tat‘ (opus) für ihn eine Erfüllung der Liebe bedeute. Das Text-Ich scheint sich hier erneut auf einer eher liebesthematischen Ebene zu äußern. Da den Worten der Frau keine Taten gefolgt seien, habe diese sich selbst widersprochen; die poetica sollertia – eine eindeutig metapoetische Äußerung – scheint zumindest in den Augen des Mannes die Notwendigkeit einer handelnden Umsetzung nach sich zu ziehen: Si enim fides sine operibus mortua est et plenitudo dilectionis exhibitio est operis, valde te contrariam tibi ipsi ostendisti, dum bonis principiis dulcibus prosecutionum eloquiis non adeo congruum finem fecisti vel indixisti, sed velle meo nolle tu tuum contra legem amicicie posuisti.250

Gegen das Gesetz der Freundschaft habe sie seinem Wollen (velle) ihr Nichtwollen (nolle) entgegengesetzt. Ein weiteres Mal wird deutlich, dass der Brief, auf den hier Bezug genommen wird, aus zwei Teilen bestanden haben muss. In einem ersten hat die Frau durch ihre Worte scheinbar beim Mann eine Hoffnung darauf geweckt, seine Wünsche durch ‚Taten‘ zu erfüllen, wobei sich diese Hoffnung dann jedoch offenbar in einem zweiten Teil als falsch erwies. Wenn die Geliebte ihre Einstellung nun nicht ändere, schreibt der Absender abschließend, habe er mit seinen vorangegangenen Äußerungen Recht. Diese indirekte Forderung übernimmt die Funktion einer petitio, wodurch der Adressatin die Möglichkeit eröffnet wird, ihre Haltung zu überdenken. In größtenteils unverständlichen Abkürzungen endet das Schreiben.251 Da dem Text jedoch innerhalb des clm 19411 der stilistisch ähnlich

250 »Glauben ohne Werke ist tot, und erst die Leistung des Werkes ist Erfüllung der Liebe. Du aber hast dich sehr im Widerspruch mir dir selbst gezeigt, denn du hast guten Grundsätzen und den süßen Lobreden, die du vorausgeschickt, nicht den entsprechenden Schluß gemacht oder angedeutet, sondern gegen das Gesetz der Freundschaft meinem Wollen dein Nichtwollen gegenüber gestellt« (Plechl, S. 365, Z. 19–23; Übers. Freytag, S. 83; Unterstreichungen S.R.). 251 Ganszyniec, Zu den Tegernseer Liebesbriefen, S. 23, hat sich um eine Rekonstruktion des stark verkürzten Schlusses bemüht. Seine Auflösungen machen ein sexuelles Angebot des Mannes an die Adressatin explizit (Plechl, S. 366, zitiert die entsprechende Passage nach Ganszyniec). Vgl. hierzu auch Schnell, Epistolae, S. 219, Anm. 219; S. 233, Anm. 33; S. 298, Anm. 23 u. 24, der insbesondere hinsichtlich der Formulierung limen penetrare auf den Koitus hinweist, wodurch die „unzulänglichen verba“ (der Frau) präzisiert würden (ebd., S. 233, Anm. 33). Zudem verweist Schnell ebd., S. 299, auf die im Mittelalter verbreitete Auffassung, „wonach der Beweis von Liebe die Tat sei“, wobei nicht immer deutlich werde, was unter „‚Taten‘ in der Liebe“ zu verstehen sei. Der Tegernseer Liebesbrief scheint hier an die mittelalterliche Diskussion über das Verhältnis von Worten und ‚Taten‘ (in der Liebe) anzuknüpfen.

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gestaltete Brief 10 der Tegernseer Liebesbriefe vorausgeht, in dem sich ein weibliches Text-Ich an einen männlichen Adressaten wendet, ist danach zu fragen, ob auch inhaltliche Verknüpfungen zwischen beiden Briefen möglich sind. Handelt es sich womöglich um den Brief, auf den sich der Verfasser von Brief 11 bezieht?252 Die Beobachtung, dass sich inmitten der offiziellen Briefe der Tegernseer Briefsammlung diese scheinbar privaten Inhalten gewidmeten Briefe in unmittelbarem Überlieferungskontext befinden, deutet darauf hin, dass bereits bei der Erstellung der Handschrift ein Zusammenhang gesehen worden zu sein scheint. Thematische Aspekte sprechen ebenfalls für eine gemeinsame Behandlung der beiden Briefe. 2.2.2.2 Brief 10 Du bist min, ich bin din, des solt du gewis sin; du bist beslossen in minem herzen, verlorn ist daz sluzzellin, du muost och immer dar inne sin.253

Diese berühmten volkssprachlichen Zeilen bilden den Abschluss des Briefes 10. In der germanistischen Forschung stoßen sie auf ein breites Interesse und werden gelegentlich als „ältestes deutsches Liebesgedicht“254 bezeichnet.255 Lachmann nahm die deutschen Verse unter die Anonyma in Des Minnesangs Frühling auf, im Anhang der Anthologie findet sich eine vollständige Edition der Briefe 9 bis 11.256 Das Verhältnis der volkssprachlichen Zeilen „zu einer Frühphase der mittelhochdeutschen Liebeslyrik“257 ist jedoch umstritten. Dass es sich hierbei um ein selbständiges Gedicht handelt, wurde unter Missachtung des überlieferungs-geschichtlichen Kontextes lange Zeit nicht bezweifelt. Beim Versuch einer Beantwortung der Frage, ob die deutsche Passage ein unabhängig vom Brief existierendes Volkslied oder eine die lateinische Reimprosa beschließende Frauenstrophe darstellt, hat man

252 Für diese Reihung plädiert auch Dronke, Women’s love letters, S. 221–223. 253 Plechl, S. 363, Z. 30–32 (ohne Zeilenumbruch). 254 Meyer-Benfey, Das älteste deutsche Liebeslied, S. 389. Schaller, Zur Textkritik, S. 110f., konstatiert, dass „der französische Kultureinfluß bzw. das Vergnügen an modischer Literatur aus dem Westen […] als Hintergrund der Tegernseer Briefe mitgesehen werden“ müsse. 255 Vgl. zur formalen Gestaltung den Überblick bei Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 82f. Auf die Frage, ob es sich um eine lyrische Strophe oder einen Briefschluss in Reimprosa handelt, gehen zudem Kühnel, S. 31f., und Schaller, Zur Textkritik, S. 120, ein. 256 Vgl. 1 MF, S. 3; Anhang, S. 221–224. 257 Edwards, winileodos, S. 195.

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die Verknüpfung mit Brief 10 nur ansatzweise berücksichtigt.258 Dieser Versuch findet sich erst bei Brinkmann, der in den Versen eine Zusammenfassung zentraler Motive des Briefes erkennt.259 Da in dessen vorangegangenem Teil von einem Gelöbnis die Rede sei (vgl. hierzu auch direkt Plechl, S. 363, Z. 19f.: Sponsionis mee non inmemor), habe die Wahl für die Formel nahegelegen. Auch die übrigen deutschen Verse verwiesen auf den Inhalt des gesamten Briefes. Verschiedene Formulierungen nähmen bereits die Aussage des volkssprachlichen Endes vorweg260 : ad te flecto stilum sermonis, ad te inquam, quem teneo medullis cordis inclusum […] tu cordis mei intima fortiter penetrasti […]261 . Brinkmann hält den mittelhochdeutschen Schluss zudem für eine volkstümliche Verlöbnisformel, für die er in der lateinischen Literatur zahlreiche Parallelen aufzeigt.262 Auch Krywalski glaubt einen Ursprung in mündlichen Traditionen zu erkennen, über die sich – der Sache gemäß – nur sehr schwer Aussagen treffen ließen.263 Meier erwägt, dass sich die weit verbreiteten Verse der „Liebesversicherung“ (Du bist min, ich bin din) und das „Bild vom Herzensschlüssel“ hier erstmals verbunden zeigten.264 Ohly spricht daher von einer „hyperbolischen Übertreibung“265 : „Als theologische und als Liebesmetapher geläufig und für die Anschauung blass geworden“ bedürfe „die Metapher vom Wohnen im Herzen einer Auffrischung, um dichterisch neu zu wirken“266 . Während etwa die Bibel das statische Bild vom „Einwohnen Christi im Herzen“ kenne (Verweis auf Eph. 3,17: […] habitare Christum per fidem in cordibus vestris […]), erhalte die Metapher durch die Verknüpfung mit dem bisher nicht gekannten verlorenen Schlüssel eine neue Intensität, welche den deutschen Versen eine „Dynamik tathafter Entschiedenheit“ verleihe.267 Vor dem Hintergrund des

258 Zum Umgang mit dem Briefschluss im Verlauf der Forschungsgeschichte vgl. Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 78–86, sowie Kiening, Literaturwissenschaftliche Mediävistik, S. 620, der den topischen Charakter der Herzmetaphorik betont und – aufgrund der Anbindung an den lateinischen Brief – gar bezweifelt, dass es sich überhaupt um einen Text als „selbständige Entität sprachlicher Zeichen“ handle. 259 Vgl. Brinkmann, Entstehungsgeschichte, S. 98. 260 Vgl. ebd., S. 98f. 261 Plechl, S. 362, Z. 17–23. 262 Brinkmann, Entstehungsgeschichte, S. 98, verweist hierbei u. a. auf den Ruodlieb und die Arundelsammlung. Vgl. zudem Krywalski, Dilectus meus mihi, S. 126. 263 Vgl. Krywalski, ebd., S. 124. 264 Meier, Kleinigkeiten, S. 277. 265 Ohly, Cor amantis non angustum, S. 454. 266 Ebd., S. 455. 267 Ebd.; vgl. auch Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 83f., welche auf den Gebrauch der „insistierenden Modalverben solt und muost und die emphatische Semantik des immêr“ verweist und daher auf einen „beschwörend-persuasiven Gestus“ schließt.

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biblischen Bezugsrahmens ist vor allem auch auf das Hohelied zu verweisen, dessen Auslegungstradition im 12. Jahrhundert einen neuen Höhepunkt erreicht.268 Innerhalb der Tegernseer Liebesbriefe finden sich zahlreiche Anklänge vor allem an die Rede der Liebenden im zweiten Kapitel des Canticum canticorum: flores apparuerunt in terra, tempus putationis advenit, vox turturis audita est in terra nostra, ficus protulit grossos suos, vineae florent, dederunt odorem. surge, amica mea, speciosa mea, et veni (Cant. 2,12–13) – favus distillans labia tua, sponsa, mel et lac sub lingua tua (Cant. 4,11)269

Zu Beginn des Briefes 10 wird der Geliebte als flos florum angesprochen. Diese Formulierung ist in der volkssprachlichen religiösen Lyrik des 12. Jahrhunderts weit verbreitet.270 Zudem finden sich u. a. Begriffe wie Turteltaube, Feigenbaum und Honig in den Briefen 10 und 11 wieder. Ohly versucht die Verse mit der mystischen Werbung bernhardinischer Prägung in Verbindung zu bringen, er zitiert den Jesus-Jubilus des Prämonstratensers Hermann Joseph von Steinfeld. Formulierungen wie In cor meum te repone und Sit in te et tu in eo machen ihm zufolge Parallelen zu dem Brief der Tegernseer Handschrift offensichtlich.271 Auch der Minnesang und somit die volkssprachliche Literatur enthalten zahlreiche Beispiele für eine Verwendung der Herzmetapher und Zueignungsformel, wie etwa Texte von Morungen, Reinmar und Walther zeigen.272 Die Situationen, in denen diese Formeln gebraucht werden, um eine wechselseitige Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen, sind jedoch so verschieden, dass erst der Kontext den jeweiligen Sinn ihres Vorkommens bestimmt. Daher gehen die folgenden Ausführungen der Frage nach, welche spezifische Textfunktion der Zueignungsformel und dem Motiv der Herzenskammer innerhalb des Tegernseer Briefs 10 zukommt.

268 Vgl. oben Kap. 2.1.3. 269 »Auf der Flur erscheinen die Blumen; die Zeit zum Singen ist da. Die Stimme der Turteltaube ist zu hören in unserem Land. Am Feigenbaum reifen die ersten Früchte; die blühenden Reben duften. Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, so komm doch!« (Heilige Schrift, S. 731) – »Von deinen Lippen, Braut, tropft Honig; Milch und Honig ist unter deiner Zunge« (Heilige Schrift, S. 732). 270 Dronke, Medieval Latin I, S. 186–192, nennt zahlreiche Verwendungsmöglichkeiten dieses Ausdrucks als Metapher sowohl für den Mann als auch für die Frau. 271 Vgl. Ohly, Du bist mein, S. 376f. 272 Vgl. Heinrich von Morungen, MF 126,16–17: Sî gebiutet und ist in dem herzen mîn / vrowe und hêrer, danne ich selbe sî; Reinmar, MF 154,9–11: Wan sî mir wonet in mînem sinne, / und ich die lieben âne mâze minne, / nâher danne ime herzen mîn; Walther von der Vogelweide, L 55,31–34: dû endarft niht jehen, daz dû in ir herze enmügest! / ez wart nie sloz sô menecvalt, / daz eht dir widerstüende, diebe[] meisterinne. / tuon ûf! sist wider dich ze balt! (zit. n. Bein).

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Am auffälligsten ist zunächst die Verwendung der Volkssprache in einer ansonsten – bis auf das Ende von Brief 9 – lateinischen Handschrift.273 Eine erstmals umfassendere Deutung der Zeilen im Briefkontext sowie eine Betrachtung der Briefe 9 bis 11 in ihrem Zusammenhang liefert Gerok-Reiter274 und stellt die Frage: „Handelt es sich bei den deutschsprachigen Zeilen denn tatsächlich um eine uneingeschränkte Liebesversicherung – ob nun authentisch oder fingiert?“275 Wenn man Brief 10 im Zusammenhang mit Brief 11 liest, ist bei dessen Deutung das Problem der kommunikativen Verständigung zwischen Mann und Frau zu berücksichtigen: Brief 11 zeigt, dass der Absender aufgrund eines nicht vorliegenden Briefes der Frau auf eine Umsetzung ihrer Worte durch die ‚Tat‘ (opus) gehofft hat. Doch noch innerhalb desselben Briefes sei diese Hoffnung enttäuscht worden. Für die in Brief 11 angesprochene Adressatin sei ihre poetica sollertia daher eine poetische Sorgfalt ohne ‚Ernst‘ bzw. eine poetische Sorgfalt ohne (poetische) ‚Sorgfalt‘. Vor diesem Hintergrund sind die Worte des in Brief 10 sprechenden Text-Ichs, das ebenfalls weiblich ist, zu betrachten. Während in Brief 11 trotz der zu erkennenden Zuneigung der Briefpartner ein Konflikt angefacht wird, übt die Frau in Brief 10 selbst jedoch keine Kritik an ihrem Adressaten.

273 Deutsch-lateinische Sprachmischung findet sich bereits in lateinischen Dichtungen des Frühmittelalters. Vgl. hierzu Hellgardt, Lateinisch-deutsche Textensembles, S. 23, der auf die Cambridger Liedersammlung (s. unten Kap. 2.4.5) sowie den Liebesgruß des Ruodlieb verweist und ebd., S. 22, „mit der Einwirkung eines gelehrten und zugleich ästhetisch-spielerischen Jargons […], wie er unter deutschen Klerikern und gebildeten Mönchen innerhalb und außerhalb des Klosters im Gebrauch gewesen sein wird“, rechnet. Fischer, Deutsche Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 6, spricht bezogen auf die lateinisch-deutschen Mischgedichte der Cambridger Lieder von einer „Eingliederung der deutschen Literatur in das lateinische Mittelalter“. Küsters, Der verschlossene Garten, S. 51f., fragt nach der kommunikativen Rolle der Volkssprache in den Klöstern des 12. Jahrhunderts. Gebetet werde fast ausschließlich auf Latein als der „dominante[n] Kultsprache“, „die volkssprachlichen Partien in den sog. Breviarien“ seien „manchmal […] Übersetzungen lateinischer Texte“, übernähmen jedoch meist eine anweisende oder kommentierende Funktion (Rubriken). Im „Klaustralbereich“ gewinne die Volkssprache zunächst „im pastoralen Bereich mündlicher Kommunikation“ an Bedeutung. Kartschoke, In die Latine bedwungin, S. 200, zufolge ist den mittelalterlichen Autoren gleichwohl „das Neben- und Nacheinander mündlich-volkssprachlicher und schriftlich-lateinischer Kommunikation offenbar […] selbstverständlich […]“. Die Kirche stelle somit „den Bereich mittelalterlicher Mehrsprachigkeit schlechthin“ dar: „Das Nebeneinander des lateinischen Wortes in Offenbarung, Liturgie und Theologie und deren Vulgarisation in der Laienunterweisung ist die Grundbedingung geistlicher Kommunikation überhaupt.“ (ebd., S. 201). Vgl. hierzu außerdem Knapp, Sprache und Publikum, S. 36f.; Hellgardt, Lateinischdeutsche Textensembles, S. 27, sowie zum Lateinischen als Unterrichtssprache Henkel, Was soll der Mensch tun?, S. 36–37. Trotz der Verwendung der Volkssprache im Alltag eines Klosters wirft ihr Eindringen in den Bereich literarischer Schriftlichkeit dennoch weiterhin zahlreiche Fragen auf. 274 Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 84ff. 275 Ebd., S. 86.

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Bereits durch den Wechsel von Reimprosa und lateinischen Versen nimmt der Brief eine Sonderstellung innerhalb der elf Liebesbriefe ein. Der Aufbau orientiert sich an dem Schema eines Briefformulars, wenn der aus lateinischen Versen bestehenden salutatio (H. […] melius se) als exordium eine captatio benevolentiae (Dilectissimorum […] obviare) folgt.276 Es werden dabei zahlreiche literarische Traditionen abgerufen, neben Bezügen auf das Hohelied sticht vor allem der Verweis auf den ovidischen Pyramus und Thisbe-Mythos heraus, wodurch gleich in der Eröffnung des Briefes (unbeantwortet bleibende) Fragen im Hinblick auf die dargestellte Figurenbeziehung aufgeworfen werden.277 Mit Beginn der Reimprosa beteuert die Absenderin, der äußerst kunstvoll ausgearbeiteten Rede des Adressaten nicht angemessen antworten zu können. Selbst wenn das Talent Vergils, die Redekunst Ciceros oder eines anderen großen Redners über sie kämen, müsste sie sich dennoch als zu schwach dafür bekennen. Daher solle er sie nicht verspotten, wenn sie etwas minus lepide vorbringe. Der Mann könne ja schließlich fühlen, was sie in ihrem Gemüt trage. Diese topischen Bescheidenheitsbeteuerungen sind charakteristisch für eine captatio benevolentiae: […] litterarum tuarum dulcedini per presentia licet imparia scripta libuit responsione obviare.278 In der nun folgenden umfangreichen narratio (Quia itaque […] sector) widmet sich die Absenderin ausführlich der Beschreibung ihrer Zuneigung zu dem Adressaten. Sie beruft sich explizit auf Cicero und übernimmt dessen Freundschaftsdefinition: Amicicia vera attestante Tullio Cicerone est divinarum humanarumque omnium rerum cum karitate et benivolentia consensio, que etiam, ut per te didici, excellentior est omnibus rebus humanis cunctisque aliis virtutibus eminentior, dissociata congregans, congregata conservans, conservata magis magisque exaggerans.279

276 Vgl. Plechl, S. 360. 277 Im Schulunterricht des 12. und 13. Jahrhunderts erfreut sich diese Erzählung einer großen Beliebtheit (vgl. hierzu u. a. Moser, A cosmos of desire, S. 164f.). Es finden sich zahlreiche Belege für eine Moralisierung bzw. moraltheologische Angleichung des Stoffes. Das Paar steht daher nicht nur für eine leidenschaftliche Liebe zwischen Mann und Frau, sondern kann zudem die Treue zwischen ‚Freunden‘ und ihre gegenseitige Verbundenheit veranschaulichen. Vgl. Schmitt von Mühlenfels, Pyramus und Thisbe, S. 56; Glendinning, Pyramus und Thisbe in the medieval classroom, S. 73–78; Smolak, Consule Nasonem, welcher die mittelalterliche Pyramus- und Thisbe-Dichtung des Matthaeus von Vendôme behandelt und dabei ebd., S. 238, die Veränderung des Mythos zu einem „moralischen Exempel“ herausstellt. Zu den zahlreichen weiteren literarischen Verweisen des Briefes vgl. Dronke, Women’s love letters, S. 217–220. 278 »[…] und darum wollte ich durch gegenwärtiges Schreiben deinem süßen Briefe doch mit einer Antwort entgegnen, wenn sie ihm auch ungleich ist.« [Plechl, S. 361f., Z. 39f.; Übers. Freytag, S. 71]. 279 »Wahre Freundschaft ist nach dem Zeugnis des Tullius Cicero Einklang in allem Göttlichen und Menschlichen mit Herzlichkeit und zugeneigtem Sinn. Sie ist auch, wie ich von dir gelernt habe, das trefflichste aller Dinge auf Erden und besser als alle andern Tugenden; denn sie gesellt, was getrennt

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Mittelalterliche Freundschaftskonzeptionen sind als Hintergrund dieser Passage anzusehen.280 Innerhalb der monastischen Kultur des 12. Jahrhunderts bildet die Sprache der Freundschaft die Basis für eine mit Hilfe des Briefes stattfindende Kommunikation, um etwa Literatur und Ideen auszutauschen oder auch schwierige Themen zu diskutieren (vgl. Kapitel 2.1.1, 2.2.1). In dem vorliegenden Brief erwächst nun allerdings – gerade durch die Übertragung dieser amicitia-Vorstellung auf die Verbindung zwischen Mann und Frau – eine Ambiguität hinsichtlich der dargestellten Figurenbeziehung. So erfolgt ähnlich wie bei Aelred eine Erweiterung des Freundschaftsgedankens im Sinne einer auf Exklusivität und Nähe beruhenden Beziehung (vgl. Kapitel 2.1.1). Im Anschluss an die in ciceronianischer Tradition ausgeführten Freundschaftsbeteuerungen nämlich setzt die Absenderin neu an, ohne sich jedoch von ihren zuvor geäußerten Gedanken zu distanzieren. Dennoch wird deutlich, dass eine Ergänzung des auf der Basis des Laelius beruhenden Freundschaftskonzeptes stattfindet: Hac igitur obmissa neque tamen dimittenda ad te flecto stilum sermonis, ad te inquam, quem teneo medullis cordis inclusum

war, sie bewahrt, was sie gesellt, und was sie bewahrt, hebt sie höher und höher.« [Plechl, S. 362, Z. 4–6; Übers. Freytag, S. 71]; vgl. Lael. 20: Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio. 280 In den Praecepta des Adalbertus Samaritanus findet sich der Freundschaftsgedanke des 12. Jahrhunderts ebenfalls wieder, und zwar in vier Musterbriefen, denen das amicitia-Ideal Ciceros zugrunde liegt. Auch wenn diese nicht im clm 19411 enthalten sind, sollen sie hier berücksichtigt werden, da sich an ihnen das Eindringen des Freundschaftskultes in die ars dictaminis beobachten lässt. Im Brief eines Klerikers an seinen Freund wird im Anschluss an eine salutatio zunächst auf die geistige Verbindung der beiden eingegangen, die trotz der körperlichen Trennung weiterhin Bestand habe. Die coniunctio animorum wird als göttlich und einer Verbindung der Körper überlegen bezeichnet. Vgl. Adalbertus, Praecepta, Brief 18, S. 70f.: Cum enim duabus substantiis, anima videlicet et corpore, constet homo compositus, cumque hec celica illa sit terrena et cum terrena subiecta, divina sit potior, longa terrarum intercapedo non omnino sequestrat, quos corpore divisos nectit, iungit ac pene unit pectoris unitas, attestante etenim Lelio: Verus amicus alter tamquam idem. (»Weil nämlich ein Mensch aus zwei Wesensarten zusammengesetzt ist, nämlich der Seele und dem Körper, und weil diese himmlisch und jener irdisch ist und weil das Irdische (dem Himmlischen) unterworfen ist und das Göttliche mächtiger ist, scheidet eine große Entfernung auf der Erde diejenigen überhaupt nicht, die, obwohl körperlich voneinander getrennt, die Einheit des Herzens verknüpft und verbindet und fast ‚eins‘ macht, wie nämlich Laelius bezeugt: Ein wahrer Freund ist gleichsam unser anderes Ich.«) Neben diesem explizit gemachten Zitat aus Ciceros Laelius stößt man innerhalb der einzelnen Musterbriefe auf zahlreiche weitere Anspielungen auf den antiken Dialog. Dabei wird eine Freundschaft, die auf körperliche Nähe verzichten kann, gepriesen. Auch die rhetorischen Fähigkeiten Ciceros finden in diesem Zusammenhang Anerkennung, wie aus Formulierungen wie Tulliano lepore, Ciceroniana eloquentia und viro eloquentissimo hervorgeht (vgl. Adalbertus, Praecepta, Brief 17, S. 68; Brief 19, S. 72). In Bezug auf die monastische Briefkultur weist Van Engen, Letters, S. 117f., daher hin auf die Unmöglichkeit einer Unterscheidung zwischen rhetorischer Ausdrucksweise und literarisch gefärbter Mitteilung ‚echter‘ Gefühle.

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[…]281 . Im nun Folgenden verdeutlicht sie die Ausschließlichkeit, mit der sich der Einschluss im Herzen auf den Adressaten allein beziehe: nam a die, qua te primum vidi, cepi diligere te, tu cordis mei intima fortiter penetrasti tibique inibi, quod dictu mirabile est, sedem affamine iocundissime confabulationis tue preparasti et, ne aliquo deiciatur impulsu, epistolari sermone firmissime quasi / tripodam immo quatripodam collocasti. Denn von dem Tage, wo ich dich zuerst sah, fing ich an, dich zu lieben. Du bist kühn in die Tiefen meines Herzens eingedrungen, dort hast du dir, wunderbar zu sagen, durch den Reiz deines lieblichen Gesprächs einen Sitz bereitet, und daß er nicht bei einem Anstoß umgeworfen werde, hast du durch die Rede deiner Briefe dir einen Schemel, ja einen Thron fest gegründet. [Plechl, S. 362, Z. 19–23; Übers. Freytag, S. 73]

Der Gemeinschaftsgedanke des klerikalen Konzeptes der amicitia wird auf eine exklusive Beziehung zwischen zwei Personen begrenzt. Dabei scheint es jedoch, dass die hier gepriesene Einheit nicht vollkommen ist. Im Anschluss an die Beschreibung des Eindringens in die Herzenskammer und die Versicherung einer unzerbrechlichen Treue folgt eine deutliche Einschränkung dieses Versprechens. Die Absenderin lässt nämlich eine gewisse Unzufriedenheit erkennen und stellt eine Forderung an den Mann: Fateor namque, quia id appellarem verum esse, si in tui presentia possem continuatim esse. Verum quia id esse adimitur, omne esse, quodcunque est, falsum apud me creditur. Fac ergo, ut valeam apprehendere verum esse, quod non alias procedit nisi de tuo esse mecum esse.282

Der Gedanke, dass die Freundschaft räumliche Entfernungen überbrücke, findet sich hier nicht. Es stellt sich daher die Frage, was genau unter dem »wahren Sein« als einem »mit dir sein« zu verstehen ist. Die vorangegangenen Ausführungen der Frau haben gezeigt, dass sich der Mann bereits einen Sitz in ihrem Herzen bereitet hat. Wenn es hier nun heißt, dass eine presentia nicht vorhanden ist, deutet dies den Wunsch nach einer Steigerung der bereits beschriebenen Verbindung 281 »Doch um davon abzukommen, ohne davon zu lassen, an dich richte ich meine Zeilen, an dich, den ich in meiner Herzenskammer eingeschlossen trage […]« [Plechl, S. 362, Z. 17–19; Übers. Freytag, S. 73]. 282 »Ich würde es wohl für ein wahres Sein halten, wenn ich immer in deiner Nähe sein könnte; aber da mir solches Sein versagt ist, wird alles Sein, das mich umgibt, von mir für unwahr gehalten. Mache du also, daß ich das wahre Sein zu begreifen vermag, das nur aus deinem Sein hervorgeht, deinem Bei-mir-Sein.« [Plechl, S. 362, Z. 27–31; Übers. Freytag, S. 73].

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an. Das »wahre Sein« ist für die Frau ein Sein in der Nähe des Angesprochenen. Dieses sei ihr jedoch verwehrt. Alles Sein, das sie umgibt, wird daher für unwahr gehalten. Aus dieser Unzufriedenheit heraus ist der Imperativ Fac zu verstehen. Der Angesprochene soll sie das »wahre Sein« erfassen (apprehendere) lassen, welches nur aus einem »bei ihm sein« hervorgehe. Was genau mit presentia gemeint ist, bleibt dennoch unklar. In einer monastischen Kultur, in der Liebe und Freundschaft nicht an physische Präsenz gebunden sind, kann das Medium Brief dazu dienen, Entfernungen zu überbrücken. Die Aussage der Absenderin lässt jedoch erkennen, dass durch den bisherigen Briefwechsel eine presentia in ihrem Sinne nicht hergestellt worden ist. In den auf diese Textstelle folgenden Zeilen geht sie zunächst auf die Rolle der fides ein, welche die Königin aller Tugenden genannt werde. Dies bezeuge nicht nur die Heilige Schrift, sondern auch die unverwerfliche Lehre weltlicher Lehrer. Durch Worte (verbis) und Taten (rebus) will sie dem Adressaten den »Glauben«283 an die Treue ins Herz heften. Die fides sei der Garant für die Verbindung zwischen Mann und Frau, da sie in Hoffnung verbinde und in Liebe vereine: huius nexibus copulamur, huius affectibus congratulamur.284 Die folgenden Zeilen verdeutlichen, dass die hier gepriesene fides-Vorstellung ihren Ursprung in Gott hat: Omne bonum gignit quemcumque fide deus ignit.285 Erneut beteuert die Absenderin, dass der Adressat des Briefes allein in ihr Inneres eingedrungen sei: Tu solus es ex milibus electus, solus es in mentis mee penetrabilibus quoddam penetrale receptus, solus mihi ad omnia sufficis, si tamen ab amore meo, ut spero, non deficis.286 Der diese Beteuerungen abschließende Konditionalsatz (si […] deficis) lässt sich mit der Aufforderung an den Adressaten, die Schreiberin das »wahre Sein« begreifen zu lassen (Fac ergo, ut valeam apprehendere verum esse […]), in Verbindung bringen. Demzufolge ginge es der Frau also um eine Gegenseitigkeit der Empfindung. Wenn sich der Adressat nicht von ihrer Liebe abwende, dann sei er allein ihr vor allen anderen genug. Sie will also, dass der Mann ihr gegenüber seine Treue bewahrt, und beansprucht somit für sich dieselbe Exklusivität, die sie ihm verspricht. Dass

283 Freytag übersetzt fides mit »Glauben«. Da die Frau einige Zeilen später auf Gott eingeht, ist dies naheliegend. Eine Übersetzung mit »Treue« wäre jedoch ebenso denkbar, da die hier beteuerte Liebe zu dem Adressaten einen Anspruch auf Ausschließlichkeit erhebt. 284 »durch seine Fesseln [die Fesseln des Glaubens] sind wir zusammengesellt; daß wir ihn [den Glauben] fühlen, darum wünschen wir uns Glück.« [Plechl, S. 363, Z. 8; Übers. Freytag, S. 75; Ergänz. S.R.]. 285 »Alles Gute gewinnt, wer durch Gott in Treue brinnt.« [Plechl, S. 363, Z. 9; Übers. Freytag, S. 75]. 286 »Du allein bist mir aus Tausenden erlesen, du allein bist in das Heiligtum meines Geistes aufgenommen, du allein bist mir Genüge statt allem, wenn du dich nämlich von meiner Liebe, wie ich hoffe, nimmer abwendest.« [Plechl, S. 363, Z. 10–12; Übers. Freytag, S. 75; Hervorhebung „ex milibus electus“: Bezug auf Cant. 5,10].

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es dabei sowohl für den Adressaten als auch für die Absenderin nicht um eine sinnliche Lust geht, verdeutlichen die sich anschließenden Zeilen: Sicut fecisti, feci: omnia leta ob amorem tui abieci, in te solo pendeo, in te omnem spem meam fidutiamque positam habeo.287 Im Anschluss an den Hinweis auf jeglichen Lustverzicht (omnia leta) geht die Schreiberin auf eine nicht näher bekannte Warnung des Adressaten ein, der sie gebeten habe, sich vor den Rittern zu hüten, als ob es sich bei ihnen um irgendwelche Ungetüme handele. Die Haltung der Frau dagegen ist versöhnlicher, da die milites über die Eigenschaft der curialitas verfügten: Ipsi enim sunt, per quos, ut ita dicam, reguntur iura curialitatis; ipsi sunt fons et origo totius honestatis.288 Das Lob der hier eindeutig positiv konnotierten curialitas führt über den christlichen Gehalt, der dem amicitia-Konzept innewohnt, hinaus, wodurch die Kenntnis höfischer Kultur sowie des verbreiteten Motivs des Liebes-‚Wettstreits‘ zwischen miles und clericus angedeutet wird, wobei sich das Text-Ich nicht so klar ausspricht wie häufig die einzelnen Figuren in den Streitgedichten bzw. auf dem „Liebeskonzil von Remiremont“, welche in der Regel sehr deutlich Partei ergreifen (vgl. Kapitel 2.1.2).289 Die Überlegenheit eines Klerikers gegenüber einem Ritter erfährt hier zwar ebenfalls eine deutliche Hervorhebung, aber dennoch sind es die Ritter, welche über die – hier positiv konnotierte – curialitas verfügen. Gleichwohl geht mit dieser Anerkennung, welche den milites entgegengebracht wird, nicht eine Überlegenheit gegenüber dem clericus einher, trotz ‚Höfischkeit‘ ist der Ritter dem Kleriker unebenbürtig, woran die Absenderin keinen Zweifel zu lassen scheint. Sie bricht denn auch die lobende Erwähnung relativ abrupt ab: De istis ista sufficiat, dummodo amori nostro nihil officiant.290 Der miles stellt daher wie in den satirischen Debatten über ritterliche und klerikale Liebe keine ernst zu nehmende Alternative gegenüber dem clericus dar, auch wenn die Ritter in den Augen der Frau keine portenta, als die sie der Adressat von Brief 10 bezeichnet habe, zu sein scheinen.

287 »Wie du getan hast, habe ich auch getan, aller Lust habe ich aus Liebe zu dir entsagt, an dir allein hange ich, auf dich habe ich alle meine Hoffnung und mein Vertrauen gesetzt.« [Plechl, S. 363, Z. 12–14; Übers. Freytag, S. 75]. Bei den Worten omnem spem meam fidutiamque positam handelt es sich um eine wörtliche Parallele zum Brief 84 der Epistolae duorum amantium. Vgl. hierzu Schnell, Epistolae, S. 259, Anm. 22. Zu einem weiteren Bezug zwischen beiden Sammlungen vgl. unten, Anm. 307. 288 »Denn sie sind es doch, durch welche die Vorschriften höfischer Sitte geübt werden, sie sind Quelle und Ursprung aller Ehre.« [Plechl, S. 363, Z. 17f.; Übers. Freytag, S. 77]. 289 Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 89, spricht von einer „unverhohlen positiv[en]“ Einschätzung. Die Beobachtung, dass in Brief 10 nicht der clericus, sondern der miles über die curialitas verfügt, kann als Unterstützung von Jaegers These einer Annäherung von klerikaler und laikaler Kultur im 12. Jahrhundert angesehen werden, da der Ritter hier über eine Eigenschaft verfügt, die gemäß Jaeger lange Zeit ein Kennzeichen der curiales gewesen ist (s. oben Kap. 2.1.2). 290 »Dies soll über diese [die Ritter] genügen, wofern sie nur unserer Liebe nicht den Weg versperren.« (Plechl, S. 363, Z. 19; Übers.: S.R.).

ars dictaminis

Eine Liebesbeziehung zu einem Ritter zieht die Absenderin des Briefes 10 nicht in Erwägung, dem sexuellen Verlangen eines miles werde sie nicht nachgeben, wie sie schon zuvor deutlich machte; sie wisse sich davor zu hüten, damit sie nicht »sinke auf die Bahre«: Ego quidem scio, quid caveam, ne incidam in caveam.291 Anders als etwa auf dem Liebeskonzil geht hier mit den iura curialitatis folglich nicht das Lob eines amator einher. Direkt im Anschluss an die Erwähnung des ‚höfischen‘ miles bringt die Absenderin ihre Zuneigung zu dem Adressaten erneut zum Ausdruck: Stabilimentum mentis et fidei tibi scilicet soli et servo, et quia per hoc aurum et argentum id est iocunditatem animi super aurum et argentum amplectendam mihi coacervo292 . Dennoch stellt sich die Frage, was genau die Absenderin unter den »Gesetzen der Höfischkeit« versteht. Da sie durch die Ablehnung einer sexuellen Erhörung des Ritters deutlich macht, dass eine sinnliche Qualität kein Kennzeichen von curialitas darstellt, sind die bereits erwähnten Merkmale einer kultivierten Lebensweise in Erwägung zu ziehen (affabilis, gratus, amabilis). Hierbei könnte auch eine Kompetenz im Bereich literarischer Tätigkeit gemeint sein, zumal die Kenntnis volkssprachlicher Literatur in den Briefen angedeutet wird. Im Hinblick auf den gesamten Brief fällt jedoch auf, dass es sich bei der Beredsamkeit als Teil der in den hier besprochenen Streitschriften hervorgehobenen Bildung des clericus auch im Tegernseer Brief 10 um ein Merkmal des dem Ritter überlegenen Adressaten handelt. Wie auf dem „Liebeskonzil von Remiremont“ und in der Altercatio De Phillide et Flora (s. oben, Kapitel 2.1.2) wird somit explizit auf die Bedeutung der Sprache innerhalb der Beziehung zwischen Mann und Frau hingewiesen. Auch hier ist der clericus derjenige, der über Beredsamkeit verfügt. Immer wieder betont die Absenderin die Rolle der Sprache für ihre Freundschaft bzw. Liebe zu dem Adressaten des Briefes. Der Begriff sermo findet eine mehrmalige Verwendung und wird an den hier ausgeführten Freundschafts- bzw. Liebesbegriff gebunden: Quia itaque primus et medius et ultimus sermo noster de amicicia semper incessit […].293 Den Platz im Herzen habe sich der Adressat durch den Reiz seines überaus liebenswürdigen Gesprächs (confabulatio) und die Rede seiner Briefe (epistolari sermone) bereitet. Dass gerade dieses Hauptmotiv in einem Zusammenhang mit der Redefähigkeit des Adressaten steht, ist besonders auffällig – die dargestellten Gefühle der Verfasserin des Briefes 10 scheinen vor allem hierdurch bedingt. Dabei bezeichnet das Wort confabulatio – so Redzich – „in der Hofkritik Formen geselliger Unterhaltung, die

291 »Auch ich weiß, wie ich mich wahre, damit ich nicht sinke auf die Bahre.« (Plechl, S. 363, Z. 15; Übers. Freytag, S. 77). 292 »Beständigkeit des Geistes und der Treue bewahre ich dir allein, weil ich dadurch Gold und Silber der Seele, das ist Anmut, mir erwerbe, die ich höher zu schätzen habe als Gold und Silber.« (Plechl, S. 363, Z. 21–24; Übers. Freytag, S. 77). 293 »Immer war Anfang, Mitte und Ende unserer Unterredung die Freundschaft.« (Plechl, S. 362, Z. 1f.; Übers. Freytag, S. 71).

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dort jedoch Gegenstand der Kritik sind“294 . In Brief 10 dagegen finden die Begriffe confabulatio und curialitas eine Verwendung, die auf eine Zufriedenheit der Absenderin schließen lässt. Während etwa im De amore (des Andreas Capellanus) eine auf einer sprachlichen Grundlage beruhende Liebesbeziehung als ungenügend erachtet wird295 , ist die Haltung der im Tegernseer Liebesbrief sprechenden Frau allein durch die Rede des Mannes bedingt. Von einer iocundissima confabulatio wird gesprochen und die einen körperlichen Aspekt ausschließende ‚Höfischkeit‘ des miles erfährt ein auffälliges Lob. Es erfolgt zudem keine direkte Aufforderung zu einer ‚Tat‘ wie in dem unter Anmerkung 295 angeführten Zitat aus De Amore.

294 Redzich, Höfische Liebeslehre, S. 35, Anm. 59 mit Verweis auf Szabó, Der mittelalterliche Hof, S. 355. 295 Eine Bürgerin sagt hier zu einem um sie werbenden Bürger: (47) Quae autem in te sint probitatis indicia, vel quae te benefacta commendent, videre non possum, nec alicuius relatione percepi, propter quae tam grandia tua tam audacter petat improbitas. Si enim in amoris vellem exercitu militare, plures mecum viri assidua confabulatione loquuntur, qui multa strenuitate famae sunt et probitate decori, ex quibus mihi possem amorem eligere competentem. (48) Primo ergo, antequam petas, ea facere studeas, quae petitis iudicentur digna muneribus. – »(47) Welche aber die Anzeichen von innerem Wert bei dir sind oder welche gute Taten dich empfehlen, kann ich nicht sehen, noch habe ich aus der Erzählung von irgendjemandem vernommen, weswegen dein fehlender innerer Wert (improbitas) so Großes so kühn verlangt. Wenn ich nämlich im Heer der Liebe dienen wollte, so reden ohnehin viele Männer, die durch große Tatkraft berühmt und durch inneren Wert ausgezeichnet sind, fortwährend plaudernd auf mich ein, aus denen ich mir die passende Liebe auswählen könnte. (48) Zuerst also, bevor du forderst, bemühe dich, etwas zu tun, was als der geforderten Belohnungen würdig beurteilt werden könnte.« (Andreas Capellanus, De amore, Buch I, § 47f., S. 44f.; Übers. Knapp). Der Begriff confabulatio ist hier negativ konnotiert. Die Bürgerin verweist auf zahlreiche andere Männer, die das gleiche wie der von ihr Angesprochene täten. Daher fordert sie diesen zu einer Tat auf, die dem geforderten Lohn als würdig beurteilt werden könne. Auch die verba curialitatis blieben ohne eigene Taten leeres Gerede, wie ein anderer Dialog verdeutlicht. Der Begriff curialitas bringt Redzich, Höfische Liebeslehre, S. 27, zufolge in De Amore eine „Gesamtheit von Werten“ zum Ausdruck, werde dabei jedoch vorwiegend in den Dialogen benutzt, die die höfische Liebesrhetorik in Szene setzten. Ein Hochadeliger wendet sich mit folgenden Worten an eine hochadelige Frau: (414) […] Vos talia dicitis, qualia qui verbis tantum suos ditare studet amicos, rei autem ipsos intendit penitus effectu frustrare. Nam hilari vultu in suo quemlibet adventu suscipere et svavia sibi responsa praestare et ipsum necessitatis imminente periculo factis nullatenus adiuvare ac svadere, ut in curialitatis ipse per omnia versetur operibus, nil aliud est quam ille, qui blandi sermonis dulcedine confidentem fallit amicum atque se ipsum gloriari contendit. – »(414) […] Ihr redet wie jemand, der seine Freunde nur an Worten reich machen will, sie aber um die Wirkung der Sache völlig zu betrügen trachtet. Denn einen jeden bei seiner Ankunft mit heiterer Miene aufzunehmen, ihm süße Antworten zu geben und ihn überhaupt nicht in drohender unvermeidbarer Gefahr mit Taten zu unterstützen und ihm zu raten, daß er sich allenthalben in höfischem Tun üben soll, heißt nicht anders handeln als einer, der den vertrauensvollen Freund durch die Süße einschmeichelnder Rede täuscht und sich selbst zu rühmen trachtet.« (Andreas Capellanus, De amore, Buch I, § 414, S. 248f.; Übers. Knapp).

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Eine erotisch-physische Beziehung kommt für die Absenderin – zumindest vordergründig – nicht in Frage. Es geht ihr auch nicht darum, sich von dem Adressaten des Briefes umwerben zu lassen, damit sich dieser einer geforderten Belohnung für würdig erweisen kann. Die Frau hat den Adressaten offenbar durch seine Worte bereits in ihr Herz eindringen lassen, was die abschließenden volkssprachlichen Zeilen verdeutlichen, wobei der Verweis auf die volkssprachliche Literaturtradition in Kombination mit dem unmittelbar vorausgehenden curialitas-Lob wiederum den Vorstellungsbereich einer stärker physisch-erotisch orientierten Liebeskonzeption abruft, mag diese auch – zumindest in bestimmten ihrer Ausprägungsformen – durch erneut sublimierende Tendenzen im Kontext eines ‚Triebaufschubs‘ gekennzeichnet sein. Gerok-Reiter deutet vor diesem Hintergrund nun jedoch unter Einbezug des Briefes 11 den mittelhochdeutschen Schluss nicht als „innige[n] Liebesgruß“, sondern als ein „Skandalon“296 : Der Mann des elften Briefes kritisiere – im Zuge der Verwendung der Volkssprache – die Anknüpfung an den volkssprachlich-paganen Liebesdiskurs insgesamt297 ; den Bezug auf das Ende des Briefes, dem seine Kritik gilt, machen mehrere Aussagen deutlich: dum bonis principiis dulcibus prosecutionum eloquiis non adeo congruum finem fecisti vel indixisti, sed velle meo nolle tu tuum contra legem amicicie posuisti. Decet enim priorem literarum tuarum seriem asperum illum epilogum amicicie contrarium omnino abnuere […] (s. oben, Brief 11, Plechl, S. 365, Z. 20–24). Auch wenn sich ein direkter Zusammenhang zwischen den Briefen 10 und 11 nicht eindeutig bestätigen lässt, kann Brief 10 dennoch dazu herangezogen werden, um die vom Mann in Brief 11 beklagte Haltung der durch sein Schreiben angesprochenen Frau zu illustrieren, wobei eine mögliche Bezugnahme – wie auch bei Gerok-Reiter – im Hinblick auf zwei Aspekte zu differenzieren ist: inhaltlich auf der Ebene der „Handlungspraxis“ (a) und sprachlich-stilistisch auf der „Ebene des discours“298 (b): (a) Gerok-Reiter sieht zum einen eine Kritik an dem Erfüllungsaufschub als einem Ideal höfisch-volkssprachlicher Literatur aufgrund des curialitas-Lobes sowie der abschließenden Verse als eines Verweises auf die sog. ‚höfische Liebe‘.299 Warum jedoch vor diesem Hintergrund ausschließlich das Ende des Briefs 10 durch

296 Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 89. 297 Ebd., S. 93: „Verstößt bereits die volkssprachige Äußerung an und für sich gegen das von ihm [von dem Absender des Briefs 9, Ergänz. S.R.] als allein gültig erachtete Sprachreglement, so verschärft sich seine Kritik angesichts der Tatsache, dass die Briefschreiberin die deutschsprachigen Zeilen und den mit ihnen verbundenen Kulturanspruch als honorable Art und Weise des Sprechens über Liebe in den Kontext der lateinisch-klerikalen europäischen Liebesbriefkultur einführen möchte.“ 298 Ebd., S. 91. 299 Vgl. ebd., S. 90f.; sie schränkt ihre Ausführungen insofern ein wenig ein, als sie ebd., S. 91, erklärt, dass „zumindest in prägenden Teilen der bereits kursierenden französischen Minnelyrik“ die „höfische Liebe“ „auf die Unerreichbarkeit der Dame“ ziele.

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den Mann kritisiert würde, erschließt sich nicht widerspruchslos: So gehört der genannte Erfüllungsaufschub zwar in der Tat zu den Charakteristika eines bestimmten Bereichs des volkssprachlich-paganen Liebesdiskurses, gleichwohl ist aber etwa auch der klerikale amicitia-Gedanke – wenn auch auf andere Weise – durch sublimierte Liebesvorstellungen geprägt, welcher die erste Hälfte des Briefes 10 dominiert und daher ebenfalls einen Anknüpfungspunt für die Kritik des Mannes an den Ausführungen des Briefes 10 darstellen könnte300 , wünscht sich dieser doch eine ‚Tat‘ – die Vorstellung einer auch körperlich-physischen Liebeserfüllung wird durch die von ihm gewählten Formulierungen zumindest suggestiv evoziert.301 Das bekannte Du bist mîn … ließe sich darüber hinaus auch ganz gegenteilig vor dem Hintergrund eines volkstümlich-popularisierenden Aspekts als Verweis auf eine weltlich-pagane Liebesvorstellung – möglicherweise gar mit einem Anklang an den naiven Typ der Schäferin der Pastourellentradition – deuten. Die deutschen Strophen der Liebeslieder des Codex Buranus könnten hierfür etwa als möglicher Vergleichspunkt angeführt werden. Eine Kritik des Mannes in Brief 11 an einem gerade am Ende des Briefes 10 zum Ausdruck gebrachten Erfüllungsaufschub verlöre dadurch ebenfalls deutlich an Rückhalt. (b) Auf der discours-Ebene verweist Gerok-Reiter zurecht auf die Verwendung eines poetologisch geprägten Vokabulars im Brief des Mannes und in diesem Zusammenhang vor allem auf das Bild der Chimäre, welche u. a. als Bild für schlechte Dichtung fungiert (s. oben). Es ließe sich hierbei – neben einem Bezug auf die Verwendung der Volkssprache am Ende des Briefes 10 – auch eine Kritik an der Vielzahl der Rückgriffe auf unterschiedliche Liebesdiskurse im vorausgehenden Schreiben der Frau insgesamt erwägen. Gerok-Reiter geht allerdings erneut der Frage nach, inwiefern gerade das Briefende einen Anknüpfungspunkt für diese Kritik böte: Der magister erkenne „eine neue Stimme im Chor der europäischen Kulturtraditionen“ nicht an; er verweigere sich „einer kulturellen Polyphonie, die die deutsche Sprache und ihre frühen poetischen Bemühungen zu umfassen und in ein Traditionskontinuum zu stellen sucht, denn eben diese – die deutsche Sprache und ihre poetischen Bemühungen – sind in seinen Augen nichts anderes als ein hässlicher, ein schwarzer Fisch.“302 Abgesehen davon, dass den Brief der Frau durchgehend eine derartige kulturelle Polysemie der Stimmen kennzeichnet, ließe sich – unabhängig von

300 Vgl. ebd., S. 91: „Will die Dame also sagen: Dû bist mîn – der Magister sei in ihrem Herzen – unter den Bedingungen, die die Dame aus dem ritterlich-höfischen Minnediskurs, insbesondere dem Minnesang, zu lesen vermag, d. h. unter den Bedingungen eines staeten Werbens, dessen Erfüllung nicht im Liebes-, sondern im kunstvollen Sprachspiel zu liegen hat, über das sich das Geben und Nehmen artikuliert?“ 301 Vgl. folgende Formulierungen in Brief 11 wie fructum aliquem … ad gustandum decerperem, Z. 16f.; exhibitio est operis, Z. 20; amicabilibus factis adinplere, Z. 25. 302 Gerok-Reiter, Dû bist mîn, S. 94.

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möglichen liebeskonzeptionellen Implikationen des weiblichen Briefschlusses – ein ähnlicher Vorwurf allerdings auch den Ausführungen des Mannes gegenüber selbst machen: Die Ebenen eines mehr klerikal geprägten Freundschaftsgedankens sowie einer spirituell aufgeladenen Ausdrucksweise einerseits und eine weltliche Liebe implizierende Aussageformen andererseits überlagern sich in seinen Äußerungen sehr deutlich, weshalb er – wenn auch in weniger extremer Form – ebenfalls in die Vielsprachigkeit der Liebesdiskurse einzustimmen scheint: Wenn es etwa heißt, dass sich die Frau des Briefes 10 amicicie contrarium äußere, ist ein Bezug auf den amicitia-Gedanken der Cicero-Tradition möglich – ähnlich wie im ersten Teil des Briefes 10. Mit der Forderung einer ‚Tat‘ scheint er jedoch gleichzeitig ‚mehr als Freundschaft‘ zu wünschen, auch wenn er dies nicht explizit deutlich macht – die suggestive Aufladung der Formulierungen weist jedoch hierauf hin (s. oben). Unterschiedliche Diskurstraditionen überlagern sich somit auch in seinen Ausführungen sprachlich und inhaltlich-konzeptionell: Der Mann scheint daher womöglich weniger die Vielgestaltigkeit der weiblichen Briefäußerungen an sich als die fehlende Möglichkeit eines Rückschlusses aus diesen zu kritisieren – er versteht nicht, worauf die Schreiberin hinauswill und wie sie letztendlich dem Adressaten gegenüber eingestellt ist. Der kritische Bezug auf das Ende des dem elften Brief vorausgehenden Briefes wäre daher vielmehr im Sinne der fehlenden Möglichkeit zu einer eindeutigen ‚Schluss‘-Folgerung aus den Ausführungen der Frau insgesamt zu verstehen, welche – bezogen auf Brief 10 – vielgestaltiger als die des Mannes sind und hierdurch bedingt durch deutlichere Gegensätze auf die genannten Diskursüberschneidungen verweisen, wobei der „ritterlich-höfische Minnediskurs“ nur e ine n Baustein neben weiteren darstellt, dabei jedoch noch einmal deutlicher die Einstellung der Frau gegenüber dem Mann verunklart. Dessen Hinweis darauf, dass sie nicht die richtigen Schlüsse ziehe, ließe sich somit aus einer ‚Ernstlosigkeit‘ des Briefes ableiten, ohne jedwede Verbindlichkeit hinsichtlich einer handelnden Umsetzung gegenüber dem Mann. Die Kritik des Mannes scheint daher vielmehr die Literarizität des Briefes insgesamt in den Blick zu nehmen. Dass er dabei vor allem das Ende des Briefes der Frau kritisiert, scheint weniger durch die Verwendung der Volkssprache und den Verweis auf den Vorstellungsbereich ‚höfischer‘ Dichtung an sich bedingt, sondern vielmehr dadurch, dass gerade der Schluss durch den Verweis auf eine weitere Diskurstradition das Verwirrspiel erhöht, worin sich jedoch zugleich das rhetorische Geschick der Schreiberin erkennen lässt. GerokReiters Übersetzung des vielsagenden Vorwurfs in Brief 11 – dies sei eine poetica sollertia sine cultu – ist daher zwar folgerichtig: »poetische Kunstfertigkeit ohne (echte) Gepflegtheit«303 ; neben einem dichtungstheoretischen Aspekt sollte hierbei aber etwas stärker auch die liebesthematische Ebene bezogen auf das inszenierte

303 Ebd.

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Mann-Frau-Verhältnis im Blick behalten werden. Während Freytags Übersetzung als »poetische Sorgfalt ohne Ernst« mit dem gewählten Begriff ‚Ernst‘ zu frei ist und die Bedeutung des cultu verfehlt, ließe sich dennoch ein stärker aktivisches Moment im Sinne einer »tätlichen Pflege« zum Ausdruck bringen, zumal der Mann in seinen Ausführungen des Briefes 11 der Adressatin sehr deutlich ein auf Handlung bezogenes Defizit zum Vorwurf macht, wenn es unmittelbar zuvor heißt: cor meum allexisiti, sed ne fructum aliquem arboris tue ad gustandum decerperem, repulisti, Z. 16f. (Hervorhebung S.R.). Vor diesem Hintergrund ergibt ein Bezug auf Brief 10 deutlich mehr Sinn: Aus der fehlenden »Sorgfalt« und somit aus der literarischen Polysemie (dichtungstheoretisch) resultiert für den Mann eine Enttäuschung auf der liebesthematischen Ebene, wodurch sich beide Ebenen wechselseitig durchdringen und überlagern. Dass es vor allem hierum geht, verdeutlicht Brief 9 der Sammlung, der als direkte Antwort der Adressatin des Briefes 11 interpretiert werden kann. 2.2.2.3 Brief 9

Dass Brief 9 trotz seiner isolierten Position inmitten der ‚eigentlichen‘ Tegernseer Briefsammlung als ein direktes Antwortschreiben auf Brief 11 zu verstehen ist, liegt aufgrund inhaltlicher Korrespondenzen nahe. Die Reihenfolge innerhalb der Handschrift wurde jedoch vertauscht. Zudem ist eine Parallelität zu Brief 3 zu erkennen, da beide Briefe das Motiv der ‚Abweisung‘ in den Vordergrund stellen. Eröffnet wird der Text mit einer Verlobungsformel304 ; im Anschluss daran findet sich eine Anspielung auf Ovid:               Suo sua sibi se.               Dicit quidam sub nomine Ovidii de amore: Sperabam curis finem fecisse futuris. Quem tamen versum apud me volo alias esse versum, nam sperabam non esse opus nullis scriptis, sed rursus ad arma vocor et, quos non volui, cogor inire modos. Sermonem ceptum quis enim retinere valebit?305

Der hier zitierte Vers stammt aus dem so genannten Ovidius puellarum, einer im 12. Jahrhundert verfassten Comedia Latina.306 Im clm 19411 ist jedoch jeweils nur

304 Vgl. Plechl, S. 357. 305 »Ihm sie, dem Ihren die Seine. – Zwar sagt jemand unter dem Namen Ovid’s von der Liebe: Hoffend meint’ ich geborgen mich selbst vor künftigen Sorgen, aber dieser Verszeile möchte ich eine andere Wendung zuteilen: Hoffend meint’ ich mich geborgen vor künftiger Schreiberei. Da tönt der Ruf: zu den Waffen, und ich / Muß jetzt singen ein Lied, zu dem mich nimmer das Herz zieht, / Doch wer zwänge zurück die einmal begonnene Weise!« (Plechl, S. 358, Z. 8–13; Übers. Freytag, S. 89). 306 Vgl. Schaller, Probleme der Überlieferung, S. 33; ders., Zur Textkritik, S. 109f.

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der erste Buchstabe der einzelnen Worte zu finden: „Sperabam c f f f“.307 Der 377 Verse umfassende lateinische Text, auf den hier angespielt wird, ist ganz Ovid verpflichtet und rückt die Verführung eines Mädchens in den Mittelpunkt des Geschehens. Das Text-Ich gibt sich als schöner Jüngling zu erkennen und verkündet zunächst, dass es auf ein Ende seiner Sorgen gehofft habe: »Da ich zum Sieger über Amor, den höchsten Sieger wurde, / hoffte ich zukünftigen Sorgen ein Ende gemacht zu haben. / Aber wiederum werde ich zu den Waffen gerufen und sieh an, Cupido verlangt nach mir.«308 Der Jüngling jedoch versucht sich zu widersetzen und berichtet im narrativen Rückblick von seiner Begegnung mit einem Mädchen, das sein Verlangen geweckt hatte: Ein Bote versucht zunächst die Jungfrau zu einer Begegnung mit dem jungen Mann zu überreden, doch diese fürchtet sich vor einer sexuellen Vereinigung, wobei sie allerdings zugibt, den Jüngling sehen zu wollen, was sie dann aber sofort wieder zurücknimmt: »Ich weiß nicht, was ich gesagt habe. Wenn ich etwas gesagt habe, dann habe ich etwas gesagt, das wieder vergessen ist.«309 Der Bote ärgert sich über ein solches Verhalten: »Schön hättest du gesprochen, wenn du durch Taten deine Worte bestätigt hättest; / du hast in der Tat gesagt, daß du den jungen Mann sehen willst. / Sieh an, du leugnest das Gesagte; du würdest es loben, wenn es geschehen wäre.«310 Schließlich gelingt es dem Boten, die Jungfrau zu überlisten, und es kommt zur sexuellen Vereinigung zwischen ihr und dem Jüngling. Die anfängliche Empörung des Mädchens hierüber mündet relativ schnell in den Wunsch, die Freundin des jungen Mannes zu werden: »Was ich oft ersehnt habe, habe ich glücklich erfahren. / Ob er wolle oder nicht, der junge Mann wird mich zu seiner Freundin haben.«311 Als der Bote das Mädchen nach Hause bringen will, weil niemand von der Begegnung mit dem Jüngling erfahren soll, werden sie von den Eltern der jungen Frau ertappt. Diesen tischt der Bote eine Lüge über einen angeblichen Selbstmordversuch des Mädchens auf, von dem er sie abgehalten habe. Er warnt die Eltern vor dem Wahnsinn ihrer Tochter und rät ihnen, sie in ihrem Haus eingeschlossen zu halten. Das Mädchen dagegen gesteht ihr Verlangen nach der Liebe des Jünglings, woraufhin die Eltern ihr helfen wollen: »Sag uns, wer es ist, wir werden dafür sorgen, daß er immer bei dir ist.«312

307 Vgl. Schaller, Zur Textkritik, S. 109f. Der Vers wird in einer Variante auch in einem der Epistolae duorum amantium zitiert. Vgl. hierzu Schnell, Epistolae, S. 47. 308 Ovidius puellarum, Vv. 1–3: Summi victoris fierem cum victor Amoris, / Sperabam curis finem fecisse futuris. / Rursus ad arma vocor, me querit et ecce Cupido [lateinischer Text und deutsche Übersetzung hier und im Folgenden nach der Ausgabe von Lieberz]. 309 Ebd., V. 117: Nescio quid dixi, si dixi, mortua dixi. 310 Ebd., Vv. 118–120: Tu bene dixisses, si factis dicta probasses. / Dixisti vere puerum te velle videre; / Ecce negas dictum, laudares, si foret actum. 311 Ebd., Vv. 260f.: Sepe quod optavi, feliciter ipsa probavi. / Nolit sive velit, sibi me puer iste tenebit. 312 Ebd., V. 358: Dic nobis, quis sit, semper faciemus, ut adsit!

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Über die Lügen des Boten empört, läuft das Mädchen jedoch wie von Sinnen davon. Als ihre Verwandten versuchen sie einzufangen, ergreift der Bote die Flucht. Hier endet der Bericht des Jünglings und gleichzeitig auch der Text insgesamt. Im Anschluss an das Zitat des zweiten Verses dieser Comedia Latina findet sich ein Anklang an Ovids Amores. Ähnlich wie das in diesen sprechende Text-Ich beteuert, lieber ein Epos verfasst zu haben, doch dann durch den Pfeil Amors gezwungen worden sei, sich der Liebesdichtung zuzuwenden313 , beklagt die Absenderin von Brief 9, dass sie erneut zu den Waffen gerufen werde und gegen ihren Willen ein Lied singen müsse (inire modos).314 Der aus dem Ovidius puellarum zitierte Vers wird umgeformt: »Hoffend meint’ ich mich geborgen vor künftiger Schreiberei.« (Übers. Freytag, s. oben) Auch die rhetorische Frage Sermonem ceptum quis enim retinere valebit? macht deutlich, dass ihr nichts anderes übrigbleibt, als ein bereits begonnenes ‚Gespräch‘ fortzusetzen.315 Zudem bereitet die Absenderin den Adressaten darauf vor, dass sie im Begriff ist, seinen Eifer zu stillen. Er möge ihr dies jedoch nicht übelnehmen (Z. 13). Dass sich diese Äußerungen direkt am Anfang des Briefes finden, ist auffällig, da es nach den Vorschriften der ars dictaminis gerade zu Beginn eines Briefes darum geht, das Wohlwollen des Absenders zu erbitten. In der sich anschließenden captatio benevolentiae (Z. 14–15) kann man zwar das Bemühen erkennen, die Gunst des Mannes zu gewinnen, doch dieses erfährt durch die vorangegangenen Äußerungen eine deutliche Einschränkung. Die Frau bekennt, niemals zuvor einen so vertraulichen Brief an einen Mann geschrieben zu haben. Der Absender wird aus einer Vielzahl von Männern hervorgehoben: […] quam ante te nullus virorum umquam a me extorquere valuerit. Diesem Kompliment folgt jedoch ähnlich wie in Brief 11 eine deutliche Einschränkung: Vos quippe viri astuti vel, ut melius dicam, versuti nos simplices puellulas capere soletis in sermone, quia plerumque ex mentis simplicitate procedentes vobiscum in campum verborum nos percutitis iaculorum vestrorum, ut putatis, iusta ratione.316

313 Vgl. Ov., am. 1,1 (Edition Holzberg, lat. Text und Übersetzung), Vv. 1–4: »Waffen in wuchtigen Rhythmen besingen und blutige Kriege / Wollt’ ich, es sollte zum Stoff passen die metrische Form. / Gleich war dem ersten Vers der zweite. Da lachte, so sagt man, / Amor, und einen Fuß stahl aus dem Vers er mir weg.« (Arma gravi numero violentaque bella parabam / Edere, materia conveniente modis. / Par erat inferior versus; risisse Cupido / Dicitur atque unum surripuisse pedem); ebd., 2.18 (19), V. 18, S. 88f.: »Und der Poet mit Kothurn sieht sich von Amor besiegt.« (Deque cothurnato vate triumphat Amor). 314 Zu dem literarischen Verweis auf Boethius, Consolatio philosophiae, vgl. Dronke, Women’s love letters, S. 224. 315 Zur Komik dieser Textpassage vgl. ebd., S. 223f. 316 »Aber ihr listigen oder, besser gesagt, erfahrenen Männer pflegt uns einfältige Mädchen mit Worten [besser: durch das/im Gespräch, Ergänz. S.R.] zu fangen. Weil wir insgemein in Einfalt des Herzens

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Die Absenderin zählt sich selbst zu den einfachen und unerfahrenen puellulae. Wie die Frau in Brief 10 präsentiert sie sich dem Absender gegenüber als unebenbürtig, da sie seiner Beredsamkeit nicht gewachsen sei. Die listigen und erfahrenen Männer jedoch würden einfältige Mädchen mit ihren Worten zu fangen versuchen, während diese ex mentis simplicitate auf das »Schlachtfeld der Worte« vorschritten. Wenn sie sich in ihrer Einfalt des Herzens auf ein Gespräch einließen, träfen die Männer sie mit den Speeren ihrer, wie sie meinten, richtigen Schlüsse. Die zu Beginn des Briefes begonnene Kriegsmetaphorik (ad arma) wird fortgeführt. Doch trotz der behaupteten Einfalt (simplicitas) würden sich die Männer in den Frauen täuschen. Die Schlussfolgerung (ratio), die der Mann daraus ziehe, dass er die Frau mit dem Speer erschüttere, sei jedoch falsch. Das Abwehren eines ungeduldigen Liebhabers stellt ein häufig behandeltes Thema in der lateinischen Briefliteratur des 12. Jahrhunderts dar.317 Während der Mann in Brief 11 das Auseinanderklaffen von Wort und Tat kritisiert, benutzt die Frau die Sprache in einer von ihrem Handeln unabhängigen Weise. Plechl verweist in diesem Zusammenhang auf den in der mittellateinischen Poesie beliebten Topos der quinque lineae amoris318 , welcher unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten fand und dabei nicht einheitlich beurteilt wurde.319 Die sich dem Prinzip physischer Liebesfreude ergebende Vagantendichtung – zu der auch die eingangs zitierte Comedia Latina gehört – ist dem Topos gegenüber positiv eingestellt.320 Im Zentrum des Ovidius puellarum steht die sexuelle Verführung eines jungen Mädchens; der Jüngling gibt deutlich zu erkennen, worum es ihm geht: »Je näher sie kam, desto mehr gefiel sie mir. / Sogleich brannte ich; ihr wißt wohl, was ich wünschte. / Sanft trat ich heran und gab ihr zärtlich Küsse.«321 Eine andere Bewertung dagegen erfahren die gradus amoris in der höfischen Dichtung. Zwar werde ihnen hier auch ein positiver Wert beigemessen, wie Schnell erklärt, die letzte Stufe sei jedoch lediglich „als Belohnung ritterlichen Minnedienstes durch die Frau“ zu erreichen.322 Ähnlich wie die klerikale Hofkritik „das manipulatorische Potential der höfischen Konversation“323 hervorhebt, werden auch in Brief 9 die »listigen« und »erfahrenen« Männer kritisiert, die eine Frau durch ihre Worte zu fangen

317 318 319 320 321 322 323

mit euch auf das Schlachtfeld der Worte vorgehen, trefft ihr uns mit den Speeren eurer, wie ihr meint, richtigen Schlüsse.« (Plechl, S. 358, Z. 15–18; Übers. Freytag, S. 89). Vgl. Brinkmann, Entstehungsgeschichte, S. 100. Sehen, Sprechen, Berühren, Küssen, Vereinigung: vgl. Werner, Sprichwörter, Nr. 60, S. 10: Colloquium, visus, contactus, basia, risus; / Hec faciunt sepe te ludere cum muliere. Vgl. hierzu vor allem Schnell, Causa amoris, S. 26. Vgl. ebd., S. 27. Ovidius puellarum, Vv. 174–176: Cum prope plus fuerat, tanto plus ipsa placebat; / Protinus ardebam; bene scitis, quid cupiebam; / Molliter accessi, sibi dulciter oscula gessi (Übers. Lieberz). Vgl. Schnell, Causa amoris, S. 27. Redzich, Höfische Liebeslehre, S. 34.

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(capere) versuchen. Die Absenderin von Brief 9 dagegen hebt ihre Aufrichtigkeit hervor und stellt zur Erklärung ihrer abweisenden Haltung einen direkten Bezug zu Brief 11 her, indem sie auf die dort erwähnte Chimäre eingeht, mit der sie der Mann verglichen hat. Sie wirft ihm vor, dasselbe getan zu haben, dessen er sie in Brief 11 bezichtigt: Nimis enim irreverenti et infronito animo modum excedendo frena currentis sermonis inprovide laxasti, dum chimere et sirene verba, ut putabam, bona verba et solitaria de conscientia bona et fide non ficta procedentia, equiparasti.324

In Brief 11 macht der Absender der Frau zum Vorwurf, dass sie Worte ausgesprochen habe, die nicht ernst gemeint gewesen seien, sodass die Hoffnung des Mannes auf eine Umsetzung der Worte in die Tat enttäuscht worden sei. Eine ähnliche Anklage trifft in Brief 9 jedoch auch den Mann. Er habe ebenfalls das Maß überschritten und allzu unüberlegt gesprochen. Der Vergleich mit einer Chimäre verärgert die Absenderin deshalb, weil ihre Worte im Gegensatz zu denen des Mannes gut und aufrichtig gemeint sowie durch wahre Treue gekennzeichnet gewesen seien (fide non ficta). Sie hebt hervor, dass ihre Worte, auch wenn sie eine ‚Tat‘ ausschließen würden, nicht bedeutungslos seien.325 Erneut geht es hier um den Brief, auf den sich der Absender des elften Tegernseer Liebesbriefes bezieht. Der Grund für das Missverständnis liegt nach Ansicht der Frau darin, dass der Mann davon ausgehe, dass eine von ihm umworbene Frau stets genauso denke und empfinde wie er selbst. Dies verdeutlicht das in Brief 9 unvollständig zitierte deutsche Sprichwort: »was der Bock von sich selbst weiß, dessen zeihet er die Geiß.«326 Zum wiederholten Mal wird hervorgehoben, dass die kollektiv angesprochenen »ihr« fälschlicherweise davon ausgehen würden, dass sie nach jedem freundlichen Wort von Seiten der Frau zur ‚Tat‘ schreiten könnten (putatis, quod post mollia queque nostra dicta transire debeatis ad acta). Die Absenderin stellt jedoch fest, dass dieser Glaube falsch sei: Sic non est, nec erit. Der in wechselnden und syntaktisch eng verknüpften mittelhochdeutschen und lateinischen Sätzen bzw. Satzteilen verfasste Schluss des Briefes macht darauf aufmerksam, dass es

324 »Denn zu schamlos und dreist hast du das Maß überschritten und die Zügel der laufenden Rede unvorsichtig gelockert, weil du Worte, welche nach meiner Meinung gut und ehrlich waren und aus gutem Gewissen und wahrhaftiger Treue kamen, mit einer Chimäre und Sirene verglichen hast.« [Plechl, S. 358, Z. 22–25; Übers. Freytag, S. 91]. 325 Hinc est quod litteras tibi proxime a me destinatas monstruosis non existentibus quibusdam animalibus significatione tamen rerum non carentibus adequasti […]. – »So ist es gekommen, daß du den Brief, der neulich von mir an dich gerichtet war, mit ungetümen Tieren verglichen hast, die zwar nicht irdisch, aber doch sinnvoll sind.« (Plechl, S. 358, Z. 18–20; Übers. Freytag, S. 91). 326 Vgl. Kühnel, S. 91 (Zitat aus einer Anmerkung Freytags).

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neben dem Adressaten des Briefes noch weitere Männer gibt, mit denen die Frau Umgang pflegt. Während die volkssprachliche Partie in Brief 10 dem lateinischen Text angehängt ist und wesentliche Gedanken des zuvor Gesagten auf den Punkt bringt, enthalten die mittelhochdeutschen Äußerungen des Briefes 9 Informationen, die bisher noch unbekannt sind. Die Absenderin teilt dem Adressaten mit, dass sie ihm wohl schlecht gefallen würde, wenn sie allen gütlich zuspräche, die sich für sie interessierten. Weil der Mann aber ihre Worte vercheret hab, sei er ihr nun tadelnswert geworden. Ähnlich wie der Absender des Briefes 11 zeigt sie sich am Briefende versöhnlich. Der Adressat solle sich zukünftig anders verhalten und ihrer Lehre, die nicht näher konkretisiert wird, folgen. Auf die Zuneigung zu dem Mann wird deutlich hingewiesen: Wande warest du mir nieth liep, ego permitterem te currere in voraginem, ut ita dicam, ignorantie et cecitatis. Desne bist abe du nieth wert. quia in te sunt fructus honoris et honestatis.327

Trotz ihrer im Brief ausgeführten Beschwerden wendet sie sich nicht von dem Adressaten ab. Das den Brief dominierende Abweisungsmotiv erfährt somit eine deutliche Einschränkung. Zudem verfüge der Adressat über die fructus honoris et honestatis. Hier endet der Brief. Sie hätte ihm zwar noch mehr geschrieben, doch er wisse ja, vieles aus wenigem zu »sammeln« (colligere multa de paucis). In den Abgrund der Unwissenheit und Blindheit wolle sie ihn nicht stürzen lassen. Obwohl die Absenderin eine ‚Tat‘ als fünfte Stufe der lineae amoris ablehnt, erteilt sie dem Adressaten, der sich über ihr Verhalten beklagt hat, am Ende des Briefes folglich keine Absage. Im Gegenteil, sie bringt zum Ausdruck, dass er ihr besonders ‚am Herzen liege‘. Der Adressat wird als »lieb« bezeichnet und verfüge über die Früchte von Ehre und Ehrenhaftigkeit. Trotz dieser versöhnlichen Haltung bleibt jedoch unklar, was für eine Art von Beziehung die Frau zu dem Mann führen will. Unter Berücksichtigung des zu Beginn des Briefes zitierten Ovidius puellarum ist eine sexuelle Ebene nicht auszuschließen. Das in der Comedia Latina dargestellte Mädchen nimmt ebenfalls zunächst eine ablehnende Haltung gegenüber dem Jüngling ein. Sie gibt zwar zu, ihn sehen zu wollen, nimmt dies aber sofort wieder zurück. Wie in Brief 11 wirft hier nun der Bote dem Mädchen das Auseinanderklaffen von Wort und Tat vor. Schön hätte sie gesprochen, wenn sie durch Taten ihre Worte bestätigt hätte (V. 118). Nachdem es aber zu einer Verführung durch den schönen Jüngling gekommen ist, bereut das Mädchen diese sexuelle Begegnung nicht und

327 »Denn wärest du mir nicht lieb, so ließe ich dich in den Abgrund der Unwissenheit und Blindheit rennen. Du bist aber eines bessern wert, denn in dir sind sichtbar die Früchte der Ehre und Zucht.« (Plechl, S. 359, Z. 6– 8; Übers. Freytag, S. 93).

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will ihn zu ihrem Freund haben. Zudem gibt sie zu, das Geschehene bereits oft ersehnt zu haben (V. 260). In den Tegernseer Briefen hat keine ‚Tat‘ stattgefunden‚ aber gerade die zahlreichen Unklarheiten an den Schlüssen der Briefe 9 und 11 werfen unter Berücksichtigung der Comedia Latina die Frage auf, ob es nicht doch unter bestimmten Umständen zu einer solchen kommen könnte. Auffällig ist außerdem, dass die ‚Jungfrau‘ des Ovidius puellarum nach ihrer Verführung den Jüngling zum Freund haben will und dabei die Ausschließlichkeit ihres Anspruchs betont: »Wenn’s ihm gefällt, halte ich ihn, wenn nicht, werde ich ihn dennoch halten. / Ich habe das Recht, aufzustehen und meine Arme um seinen Hals zu legen.«328 Wie die Absenderin in Brief 9 hervorhebt, dass der Adressat allein ihr »lieb« sei und einen Vorzug vor allen anderen genieße, bringt auch das Mädchen des Ovidius puellarum einen solchen Alleinanspruch auf den Jüngling zum Ausdruck. Die in Brief 10 sprechende Frau macht ebenfalls auf die Einzigartigkeit des angesprochenen Mannes aufmerksam. Durch seine confabulatio und seinen epistolaris sermo sei er tief in ihr Herz eingedrungen. Diese mehrmals wiederholte Beteuerung findet ihren Höhepunkt in dem den Brief abschließenden volkssprachlichen Schluss. Die Aufforderung der Absenderin an den Adressaten, sie das »wahre Sein« begreifen zu lassen, und der Appell an seine Treue haben einen ähnlich fordernden Charakter, wie ihn das Mädchen des Ovidius puellarum an den Tag legt. Auf Hintergedanken, die mit den Worten des Mannes verbunden sind, und ein sexuelles Interesse an der Frau wird in diesem Brief jedoch nicht hingedeutet. Ein Erreichen der fünften Stufe der lineae amoris scheint hier ausgeschlossen zu sein. Die deutliche Ablehnung des Geschlechtsverkehrs mit einem Ritter und die auffällige Betonung der Sprache als Ursprung der Liebesbeziehung legen dies nahe. So wie die auf eine besondere Intimität hindeutenden Aussagen am Ende von Brief 9 im Anschluss an das Abweisungsmotiv zunächst überraschen, stellte sich aber auch bei der Betrachtung des zehnten Briefes die Frage, was genau die Frau mit ihrem Bedauern über eine fehlende presentia und der damit verbundenen Aufforderung an den Mann, sie das »wahre Sein« begreifen zu lassen, zum Ausdruck bringen möchte. Im Kontext der eindeutig Sexuelles implizierenden Briefe 9 und 11 ist nicht auszuschließen, dass hier ebenfalls eine physische Nähe gemeint sein kann, zumal der Brief selbst auch auf die ovidische Dichtungstradition Bezug nimmt – bereits in der salutatio mit einem Verweis auf Pyramus und Thisbe (s. oben). Genaue Rückschlüsse auf das, was die in dem jeweiligen Brief ‚sprechende‘ Absenderin mit solchen besonders intim wirkenden Äußerungen meint, lassen sich aber nicht ziehen. Zumindest Brief 9 deutet jedoch explizit an, dass der gesamte Brieftext und

328 Ovidius puellarum, Vv. 262f.: Si placet, hunc teneo, si non, tamen ipsa tenebo! / Phas est, ut surgam, sibi collo brachia iungam (Übers. Lieberz).

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somit auch die in diesem dargestellten Empfindungen als ein reines Produkt der Sprache verstanden werden wollen. Der dort zitierte Vers aus dem Ovidius puellarum wird umformuliert: Nicht vor künftigen Sorgen hofft sich die Absenderin geborgen, sondern vor künftiger Schreiberei. Dem Ruf zu den Waffen kann sie jedoch nicht Widerstand leisten, sodass sie das einmal begonnene Gespräch (sermonem ceptum) fortsetzen muss.329 Die Frau in Brief 9 schreibt also nicht, weil sie das Bedürfnis hat, sich dem Adressaten mitzuteilen oder ihre Sehnsucht nach ihm auszudrücken. Sie wird dazu gezwungen (cogor), eine bereits begonnene Unterhaltung fortzusetzen. Die nicht durch ein individuelles Empfinden bedingte Produktion des Textes wird somit deutlich hervorgehoben. Dass die Frau das Verfassen eines Briefes als eine Tätigkeit darstellt, die sie nur widerwillig ausübt, schränkt folglich den Anspruch ihrer Rede auf ‚Ernsthaftigkeit‘ deutlich ein. Ein persönliches gefühlsmäßiges Engagement kann daher ausgeschlossen werden. Wenn nun im Folgenden von Worten wahrhaftiger Treue (fide non ficta) gegenüber dem Adressaten die Rede ist, wirkt dies nicht überzeugend. Auch das Bekenntnis der Absenderin, dass sie trotz ihrer Kritik an der auf eine ‚Tat‘ bezogenen Haltung des Adressaten diesen vor allen anderen ausgewählt hat, verliert folglich an Aufrichtigkeit. Diese Beobachtung ist auch beim Betrachten der übrigen Briefe der Tegernseer Liebesbriefe zu berücksichtigen. Brief 10 verherrlicht die Liebe einer Frau zu einem einzigen Mann. Im Kontext von Brief 11 ist jedoch auch die hier dargestellte Haltung der Absenderin nur unter Vorbehalt als aufrichtig zu bezeichnen – und somit auch der Anklang an die ritterlich-höfische Vorstellung des Erfüllungsaufschubs und hiermit verbundene konzeptionell-ideologische Bestrebungen im Sinne eines Kulturtransfers (Gerok-Reiter). Es stellt sich die Frage, inwiefern sich auch dieser Brief und mit ihm die übrigen Briefe der Tegernseer Liebesbriefe als ein rein literarisches Spiel mit unterschiedlichen Diskurstraditionen präsentieren. In den Briefen 1, 2, 4, 6, 7 und 8, wobei lediglich in Brief 4 ein männlicher Absender ‚spricht‘,330 stellt die Bekundung der Treue wie in Brief 10 ein Hauptthema dar. Auch hier ist von presentia die Rede.331 Es finden sich zahlreiche Anspielungen darauf, dass die dargestellten Beziehungen zwischen Mann und Frau einen körperlichen Aspekt einbeziehen. Dabei erfolgen aber auch wie in den Briefen

329 In Zeile 11 (Plechl, S. 358) wird der Ausdruck scriptis verwendet. Sprechen und Schreiben werden miteinander gleichgesetzt. 330 Brief 5, in dem sich ein Sohn an seinen Vater wendet, gehört thematisch nicht in die Gruppe der Liebesbriefe, in die er zufällig geraten zu sein scheint (vgl. Plechl, S. 350). 331 In Brief 7 schreibt die Freundin B. an ihre Freundin G.: Ex quo enim dulcissima tua presentia contigit me carere, nolui hominem ulterius audire nec videre, […] – »Seitdem ich deiner sehr köstlichen Gegenwart entbehren mußte, wollte ich keinen Menschen mehr hören noch sehen, […]« (Plechl, S. 354, Z. 20–22; Übers. Kühnel, S. 61).

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9 bis 11 immer wieder Hinweise auf die Bedeutung von Wort und Gespräch.332 Ebenso ist das Bild vom Einschluss im Herzen hier vorgeprägt und wird mit der ‚Rede‘ in Verbindung gebracht: Dum enim iocundissimę allocutionis ac visionis tuę dulcedinem revolvo in animo […].333 Wie in Brief 10 spricht die Absenderin von »liebreichen« (iocundissime) Worten. Unter Berücksichtigung der ersten acht Briefe wird insbesondere die Haltung der jeweils in den Briefen 9 und 10 ‚schreibenden‘ Frau klarer. Der Wunsch nach einer gegenseitigen Erwiderung und Aufrichtigkeit der Liebe wird deutlich formuliert: Ergo, omnium diligendorum dulciscime, dignis digna repende, diligentem te ex corde dilige; nec ulla de me tibi sit reprobatio, quia in me non est prorsus simulata neque ficta dilectio.334 Dieser Appell an die Treue des Adressaten, der sogar eine implizite Drohung beinhaltet, findet sich auch in Brief 6: Quia pre omni sexu in animum te recepi seorsum, si numquam suasione alicuius abis retrorsum. Et hoc volo stabilire, si simili mihi occurris fide.335 Die Aufrichtigkeit der Frau wird somit von der Treue des Mannes abhängig gemacht. Eine Analogie zu Brief 10 ist offensichtlich: Fac ergo, ut valeam apprehendere verum esse, quod non alias procedit nisi de tuo esse mecum esse. Inwiefern es der jeweils sprechenden Frau auch um erotisch-physische Interessen geht, bleibt jedoch hier ebenfalls unklar. Die thematischen Überschneidungen der einzelnen Briefe sowie die zahlreichen

332 Vgl. Brief 1: quia nullus cognatorum meorum tam amicabiliter suscepit me colloquio et munere. – »denn keiner meiner Verwandten hat mich so liebevoll aufgenommen mit Worten und mit Werken.« (Plechl, S. 345, Z. 32f.; Übers. Kühnel, S. 51); Brief 7: Cur unicam tuam perire vis, quę anima et corpore te diligit, ut ipsa scis […] – »warum willst du deine Einzige verderben, die dich doch mit Leib und Seele liebt« (Plechl, S. 354, Z. 18f.; Übers. Kühnel, S. 61); Brief 8: Dum recordor, quę dedisti oscula et quam iocundis verbis refrigerasti pectuscula […] – »Wenn ich der Küsse gedenke, die du mir gegeben hast, und wenn ich gedenke, mit wie freundlichen Worten du meinen Busen erquickt hast, […]« (Plechl, S. 356, Z. 14f.; Übers. Kühnel, S. 67). 333 Brief 7: »Indem ich nämlich die Süßigkeit deiner Worte, die mich erfreuen, und deines Anblicks in meinem Herzen bewege, werde ich von großem Schmerze bedrängt.« (Plechl, S. 354, Z. 24f.; Übers. Kühnel, S. 63); vgl. Brief 7: quia sola es, quam elegi secundum cor meum – »Denn du allein bist es, die ich auserwählt habe meinem Herzen folgend.« (Plechl, S. 355, Z. 1f.; Übers. Kühnel, S. 65); Brief 2: […] sed numquam in maximo vel in minimo verborum tuorum percepi consolationem – »[…] aber niemals, weder im Größten noch im Geringsten, habe ich den Trost deiner Worte erhalten.« (Plechl, S. 347, Z. 17–19; Übers. Kühnel, S. 53); Brief 6: prebens verba consolatoria et pia – »[…] indem du mir trostreiche und fromme Worte gibst« (Plechl, S. 352, Z. 29f.; eigene Übersetzung); Brief 8: Dum constat orbis, numquam deleberis de medio mei cordis – »Solange die Erde steht, wirst du niemals aus meinem Herzen getilgt werden.« (Plechl, S. 356, Z. 23f.; Übers. Kühnel, S. 67). 334 Brief 1: »Nun denn, du Köstlichster aller Liebenswerten, erwidere Würdiges mit Würdigem, und wenn du liebst, so liebe aus deinem Herzen, und du wirst von mir nicht abgewiesen werden. Denn in mir ist weder erheuchelte noch verstellte Liebe.« (Plechl, S. 345, Z. 33–S. 346, Z. 2; Übers. Kühnel, S. 51). 335 Brief 6: »Denn vor allem Geschlecht habe ich dich in mein Herz aufgenommen, wenn du dich niemals, von einer anderen verlockt, davon abkehrst. Und dies will ich bekräftigen, wenn du mit der gleichen Treue mir entgegentrittst.« (Plechl, S. 352, Z. 33–35; Übers. Kühnel, S. 59).

ars dictaminis

Parallelen durch die Verwendung derselben Motive führen die Variativität dieser Texte vor Augen. Insbesondere die Briefe 9 bis 11 lassen dabei jedoch vieles unausgesprochen. Ihre Interpretation wird erschwert durch eine inhaltliche und sprachliche Weiterführung der in den Briefen 1 bis 8 zu findenden Motive. Die explizite Bezugnahme auf das ciceronianische Freundschaftsmodell, das Lob ritterlicher curialitas sowie der Topos des Auseinanderklaffens von Wort und Tat stellen eine Bereicherung der Themen Treue, Sehnsucht und Liebe, wie sie sich in den Briefen 1 bis 8 finden, dar. Hinzu treten die Verwendung von Volksprache sowie der Einbau lateinischer Verse. Durch die Kombination verschiedener Traditionsstränge eröffnet sich ein Interpretationsspielraum, der gerade den Briefen 9 bis 11 den Charakter eines literarischen Produktes verleiht. 2.2.3

Boncompagno da Signa: Rota Veneris

Der im Folgenden behandelte Liebesbriefsteller des italienischen Gelehrten und Universitätsprofessors Boncompagno da Signa markiert bereits den Übergang zur Betrachtung der durch Ovid geprägten ‚Liebeslehren‘ (Kapitel 2.3), zu denen seine Rota Veneris – wie aus dem Titel bereits hervorgeht – deutliche Ähnlichkeiten aufweist.336 In diesem Sinne stellen die Briefdialoge jeweils ein Muster bereit, welches zu einer erfolgreichen Werbung anleitet; Liebeslehre und Anweisungen zum rhetorisch geschickten Werben im Rahmen eines Briefdialogs gehen Hand in Hand.337 Der ‚Gesprächs‘-Verlauf weist – vor allem bezogen auf die Redebeiträge der Frau – eine Progression im Sinne einer zunehmenden Auflösung des Widerstands gegenüber den vorgetragenen Bitten des Mannes auf. Gleichwohl zeigt der Briefsteller – sehr viel deutlicher als die unter 2.3.1 behandelten Liebeslehren – neben dem intellektuellen Zugriff auf unterschiedlichste Texttraditionen, wie Mann und Frau im dialogischen Austausch – im Rahmen einer für den Streitdialog charakteristischen inhaltlich-sprachlichen Verschränkung – Möglichkeiten

336 Zu biographischen Informationen siehe Purkart, Boncompagno of Signa, S. 319f. – Boncompagno da Signa ist historisch fassbar und lebte von ca. 1170 bis in die späten 1240er Jahre, er lehrte in Bologna. Ausgaben: Core (2015); Garbini, Boncompagno (1996); Purkart, Rota Veneris (1975); Baethgen (1927). Vgl. außerdem Baethgen, Rota Veneris, S. 363–384; Sutter, Aus Leben und Schriften, S. 78–98; Übersetzungen: ins Englische in der Ausgabe Purkarts, ins Spanische von Cortijo Ocaña; ins Französische durch Wolff, La lettre d’amour. 337 Von Moos, Epistolae, S. 33, betont daher neben dem unterhaltenden Charakter des Werks eine Ausrichtung auf den Rhetorikunterricht, er spricht von „einem für Studenten und sicher nicht für amasiae geschriebenen Werk“. Vgl. ebd., S. 28: „Francesco Bruni hat diesen in Italien vor allem durch Boncompagno begründeten Zweig der Kunstlehre sehr treffend als ‚L’ars dictandi come Ars amandi‘ bezeichnet, denn das Interesse dieser neuen technigraphia gilt ebenso sehr und vielleicht sogar mehr dem Phänomen der sinnlichen Liebe als der Stilkunst des Liebesbriefs, jedenfalls sowohl der delectatio als auch der utilitas des Rhetorikunterrichts.“

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des uneigentlichen Sprechens für ihre jeweiligen argumentativen Absichten nutzen können, wodurch der spielerisch-experimentelle Charakter der Rota Veneris sehr deutlich zu Tage tritt.338 Die oben bereits herausgearbeitete Vielfalt der Einsetzbarkeit verschiedenster Aussageformen, Motive und Topoi wird dabei – mit zahlreichen Verweisen u. a. auf die Sprache der Bibel, Ovids oder auch des Andreas Capellanus – nicht nur vorgeführt, sondern auch explizit thematisiert.339 Der Text der Rota Veneris sei daher an dieser Stelle kurz vorgestellt. Das Text-Ich beschreibt im ersten Kapitel, dass es zu Beginn des Frühlings zwischen blühenden Bäumen am Fluss Ravone – dem wohl heutigen Torrente Ravone bei Bologna – gestanden, dem Gesang der Nachtigallen gelauscht und sich so von der Arbeit erholt habe: Dabei sei ihm eine Vielzahl geheimer Gedanken durch den Kopf gegangen, als ihm plötzlich eine virgo erschienen sei, die sich – gekleidet wie eine Königin – als Göttin Venus zu erkennen gegeben habe: Sie sei vermutlich vom Ende der Welt gekommen, um die ‚Höfischkeit‘ (curialitas) und Weisheit der Menschen zu begutachten (Venerat equidem a finibus terre, ut

338 Im Hinblick auf die Tradition der ars dictaminis spricht Purkart, Boncompagno of Signa, S. 320, von einem „intellectual game which Boncompagno played with the tradition. This tradition involves the cultural dualism of both pagan and Christian learning, and it includes rhetoric and the dualistic concept of love.“ Hinsichtlich der Briefsteller des 13. Jahrhunderts sieht die Forschung eine deutlich zunehmende Tendenz hin zu einer literarischen Stilisierung und dies insbesondere in den italienischen Briefstellern. Benson, Protohumanism, S. 34, spricht bezogen auf die ars dictaminis von einem fundamentalen Wandel um 1200 und macht dies ebd., S. 34f., bereits an der veränderten Titelgebung der Werke fest: „But in thirteenth-century Italy, titles with a cosmic or mystic resonance, as well as metaphoric or allegorical titles, became customary for dictaminal works.“ Vgl. zudem ebd., S. 36: „More crucially, these Italian dictatores developed still further the literary possibilities inherent in the challenge of inventing model letters, and (as I shall try to show in relation to Boncompagno) the invented letter became primarily an opportunity and a vehicle for the display of literary virtuosity.“ Einen Unterschied zu den französischen Briefstellern sieht er auch ebd., S. 38–40, in einer zunehmenden Distanzierung von Cicero im Gegensatz zu den französischen dictatores. Vgl. hierzu ausführlich Tunberg, What is Boncompagno’s ‚Newest Rhetoric‘?, S. 302ff., der ebd., S. 308ff., Boncompagnos Tendenz hin zu einer zunehmenden Vereinfachung und Praxisausrichtung der ars dictaminis erläutert (u. a. dreiteiliger statt fünfteiliger Briefaufbau). 339 Vgl. Purkart, Boncompagno of Signa, S. 322: „Since any sign, word or text can be interpreted either in bonam or in malam partem, depending on the context in which it occurs and depending on which or whose cause is to be promoted, Boncompagno, with his usual wit, made his point very clear that there is room, plenty of room in fact, for interpretation.“ Vgl. auch ebd., S. 329, bezogen auf einen Brief aus Boncompagnos Rhetorica antiqua. Purkart arbeitet hier heraus, wie Boncompagno einen bestimmten Stil imitiere, wodurch er unterhaltsame Effekte erziele: „In this text Boncompagno goes one step further: he does not use biblical quotations to win an argument, but he rewrites the Bible. The stylistic imitation of this new narrative is close enough to its original so that the distortion is unmistakable. Hence the intellectual game of discovery which is a prerequisite both for humor and parody. This technique constitutes a complete reversal of that used by Christian writers and by Boncompagno himself when he writes in a serious vein.“

ars dictaminis

singulorum curialitatem et sapientiam scrutaretur, S. 9, Z. 10f.)340 . Sogleich habe sie das Text-Ich gefragt, warum es keine Grußformeln (salutationes) und Freude spendenden dictamina (Briefsteller) verfasst habe, woraufhin dieses unverzüglich einen Stift in die Hand genommen und begonnen habe, die Rota Veneris – ein opusculum – niederzuschreiben.341 Im nun folgenden ‚eigentlichen‘ Briefsteller ist durchgehend – wie für eine ars dictandi spezifisch – ein Hang zu einer differenzierten Systematik erkennbar, wenn etwa Frauen geordnet nach verschiedenen Gruppen direkt zu Beginn um Venus herumplatziert werden.342 Im zweiten Kapitel erfolgt in diesem Zuge ein Wechsel vom narrativen Präteritum in einen belehrenden Modus. Zunächst wird eine Formelsammlung für salutationes vorgestellt, welche ebenfalls nach verschiedenen Kategorien aufgeteilt sind (u. a. allgemeine Salutationsformeln unabhängig von der Art der Umworbenen; solche für die amica, nachdem sie seine Wünsche erfüllt hat; Beispiele für rusticanae et ridiculosae salutationes). Die Ausführungen sind dabei mit zahlreichen Anweisungen aus dem Bereich der Minnedidaktik kombiniert, wenn es etwa heißt, dass man alle Frauen stets für ihre Schönheit preisen, hierfür Superlative einsetzen und eine gewisse Variation der Anrede berücksichtigen solle.343 Deutlich markiert wird zudem die Beispielhaftigkeit der einzelnen Vorschläge und immer wieder finden sich Verweise auf Variationsmöglichkeiten der Gestaltung344 , dabei könne man aus den vorgelegten Grußformeln nach Belieben die Formulierungen der jeweiligen Situation anpassen:

340 Zitiert wird hier und im Folgenden nach der Ausgabe Cores. Die Zeichensetzung wird gelegentlich an die Regelungen des deutschen Sprachgebrauchs angepasst. 341 Der Name erkläre sich dadurch, dass die Menschen – egal welchen Geschlechts oder welchen Wesens – gegenseitig durch das Band der Liebe verbunden seien und wie durch ein Rad im Kreis gedreht würden und sich jederzeit ängstigten, da die vollendete Liebe unablässig beständige Furcht bereite. Stupefactus ad hec assumpsi stilum propere et hoc opusculum incepi, quod Rotam Veneris volui nominare, quia cuiuscumque sexus vel conditionis homines, qui amoris vinculo ad invicem colligantur, tamquam rota orbiculariter volvuntur et omni tempore plurimum pertimescunt, quoniam perfectus amor continuum parit assidue timorem (S. 10, Z. 14–18). 342 Preterea placuit michi virgineum chorum a dextris Veneris collocare, uxoratas, moniales, viduas et defloratas ponere a sinistris; sub scabello vero pedum ipsius, universas ab istis inferius constituo, quia in eis turpissima est voluptas et iocundatio nulla. Ponam in genere breviter de omnibus exemplum, ne prolixitas auditorum pergravet aures (S. 10, Z. 18–21). 343 Vgl. Baethgen, Rota Veneris, S. 365. 344 „Nobili ac sapienti domine S. morum elegantia decorate, I. salutem cum promptitudine servitii“; vel aliter: „Nobilissime ac sapientissime domine G. de Castelnovo, I. se ipsum totum“; vel aliter: „Inclite ac magnifice domine D. comitisse, forma et morum elegantia decorate, I. de Porto salutem et promptum in omnibus servitium“, vel: „salutem cum fidelissimo servitio“, vel: „salutem et quicquid potest“, vel: „salutem et si aliquid valeret salute pretiosius inveniri“, vel: „salutem et quicquid fidelitatis et servitii potest.“ (S. 11, Z. 22–28).

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Ponas igitur quandoque „sapientissime“, quandoque „nobilissime et illustrissime“, si nobilis fuerit, quandoque „amatissime“ seu „splendidissime“ vel „lucidissime“ aut „iocundissime“. Ex hiis autem salutationibus poteris trahere omnes modos salutandi amicas pro amicis et amicos pro amasiis, si volvere sciveris et mutare mutanda. (S. 14, Z. 50–54) Du sollst sie also einmal als „Weiseste“ ansprechen, einmal als „Edelste und Vornehmste“, wenn sie edel ist, einmal als „Liebste“ oder „Glänzendste“ oder „Leuchtendste“ oder „Liebenswürdigste“. Diesen Begrüßungsformeln aber kannst du alle Arten entnehmen, durch die Freunde ihre Freundinnen und Geliebte ihre Freunde grüßen können, wenn du verstanden hast, sie zu wenden und das zu Verändernde zu verändern.345

Sehr deutlich wird hierbei darüber hinaus auf eine Mehrfachkodierung der sprachlichen Äußerungen verwiesen. U.a. müsse man berücksichtigen, dass – sollte der Brief Lüsternheiten (lasciviis) enthalten – auf eine angemessene ‚Tarnung‘ der Überschrift zu achten ist, falls der Brief in falsche Hände gerate.346 Im dritten Kapitel wird unterschieden zwischen verschiedenen Werbungssituationen und Arten der Liebenden347 (Sed distinguenda sunt amandi tempora et amantium genera, S. 15, Z. 71f. – »Aber zu unterscheiden sind Zeitpunkte des Liebens und Arten der Liebenden«), wobei im Hinblick auf den ‚Zeitpunkt des Liebens‘ als übergeordnete Kategorien ante factum – bezogen auf denjenigen, der zu lieben wünsche (ille, qui amare desiderat, aut amat, quam non habuit) – und post factum – bezogen auf denjenigen, der bereits geliebt hat (… aut quam habuit, S. 17, Z. 83–85) – genannt werden. Im Werbungskontext ist nun vor allem die erste Kategorie von Bedeutung. 345 Übersetzung hier und im gesamten Kapitel – wenn nicht anders verzeichnet – durch S.R. 346 Et est notandum, quod tam mulieres quam viri, cuiuscumque sint ordinis vel conditionis, debent epistole titulum in huiusmodi lasciviis taliter occultare, quod si littere ad aliquorum manus pervenerint, nequeant de facili cognosci (S. 15f., Z. 64–67). 347 Männer, die beginnen, eine Frau zu lieben, ohne mit ihr gesprochen zu haben; Männer, die Liebe zu bestimmten Damen fordern, mit denen sie bereits gesprochen haben und ein wenig intim wurden (post colloquium et parvam familiaritatem); Männer, die diejenige, deren Liebe sie erbeten, noch nie gesehen haben. Im Hinblick auf die amantes gebe es zwei Gruppen: laicus videlicet et clericus. Diese beiden Gruppen werden noch einmal in zahlreiche Untergruppen unterteilt (Item laicorum alius miles, alius pedes; item militum alius rex, alius dux […] Clericorum itaque alius prelatus, alius subditus […], S. 16f., Z. 75–79); alle Varietäten aufzuzählen, würde jedoch zu viel Zeit beanspruchen, daher präsentiere das Text-Ich allgemeine Beispiele ([…] ita communia ponam exempla et transcurram opus utiliter inchoatum, S. 17, Z. 82). Eine gröbere Gliederung, die auch bei den im Folgenden präsentierten Briefbeispielen aufrecht gehalten wird, ist jedoch die nach ante factum und post factum. Wer auch immer die Liebe irgendeiner Frau erstrebe, müsse bestrickende Komplimente und Schmeicheleien vorausschicken, indem er Versprechungen mache, die er niemals erfüllen könne. Es wird sich hierbei explizit auf Ovid bezogen: Quicumque amorem alicuius mulieris habere appetit, debet venativas adulationum blanditias premittere promittendo, que numquam facere posset, quia sicut dicit Ovidius: „Nichil enim promittere ledit.“ (S. 18, Z. 87–89).

ars dictaminis

Es wird in diesem Zusammenhang ein mehrteiliger Briefwechsel mit eingeschobenen Kommentaren des übergeordneten – die Briefe präsentierenden – Text-Ichs vorgestellt. Den kommunikativen Austausch eröffnet ein Brief des Mannes, in dem er sich preisend an eine Frau wendet und hierbei in großer Ausführlichkeit unterschiedliche Register des Frauenpreises zieht: Er beschreibt seine Überwältigung durch den Anblick der Angeschriebenen, ihre äußere und innere Schönheit mit zahlreichen literarischen Verweisen u. a. auf das Hohelied. Im Anschluss an den Brief erläutert das Text-Ich, dass – ähnlich wie in Bezug auf die salutationes – auch ganze Briefe durch Variation dem jeweiligen Verwendungszweck angepasst werden könnten: Et nota, quod hec epistola potest in unius dictionis permutatione taliter variari, quod cuilibet virgini, maritate, vidue, moniali et deflorate transmitti potest, scilicet ut, ubi dicitur in principio „puellarum“, dictatur „dominarum“; nam et monachas debes tam in salutationibus quam in cunctis epistole partibus „dominas“ appellare, quia, si diceres „monachas“ vel „moniales“, potius ad earum spectaret vituperium quam honorem; unde in Alemania fere ab omnibus „domine“ appellantur. (S. 20f., Z. 115–120) Und bedenke, dass dieser Brief durch die Veränderung einer einzigen Phrase (eines einzigen Ausdrucks) auf solche Art verändert werden kann, dass er zu einer beliebigen Jungfrau, einer verheirateten Frau, einer Witwe, einer Nonne und zu einer entjungferten Frau geschickt werden kann, versteht sich, dass dort, wo am Anfang von „Mädchen“ gesprochen wird, von „Herrinnen“ gesprochen werden muss; denn auch Nonnen musst du so in Begrüßungsformeln ansprechen wie in allen Teilen des Briefes Herrinnen, weil, wenn du sie „Nonnen“ oder „Schwestern“ nennen würdest, dies eher zu deren Lasten als zu deren Ehre angesehen würde; daher werden sie in Deutschland fast von allen „Herrin“ genannt.348

Neben einer Variation in der formalen Gestaltung wird hierbei auch die Polysemie der brieflichen Äußerungen selbst thematisiert. Im Hinblick auf den Antwortbrief der Frau, welche zunächst das, was sie wünsche, ablehne, heißt es dementsprechend vorab:

348 Vgl. hierzu Purkart, Rota Veneris, S. 99, Anm. 27: „Is Boncompagno referring to the term frouwe as it was used in German Minnesang? The remark might have farreaching consequences if we are to suspect that behind the domina may be either a courtly lady or a nun.“ Der Hinweis auf diese Eigenart von Nonnen in Deutschland sollte jedoch nicht überbewertet und möglicherweise eher als spielerisch-provokativer Hinweis auf die gerade im klerikalen Milieu begegnende literarische Figur der Nonne verstanden werden, welche enge Bezüge zu der Dame der volkssprachlichen Literatur aufweist, wie in Liebesbriefstellern immer wieder erkennbar.

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Preterea sciendum est, quod unaqueque mulier, cuiuscumque ordinis vel conditionis sit, negat in primis, quod facere peroptat; unde si aliquo modo mittenti rescribere velit, intelligas ipsam concedere velle, licet hoc deneget verbis.349 (S. 21, Z. 121–124) Außerdem muss man wissen, dass jede Frau, egal welchen Standes oder Ranges, zuerst verneint, was sie zu tun wünscht; wenn sie daher auf irgendeine Art dem Absender zurückzuschreiben beabsichtigt, sollst du beachten, dass sie selbst nachgeben will, auch wenn sie dies durch Worte verweigert.

Es folgt nun eine mögliche Antwort der Frau, in der sie ihre Ablehnung zum Ausdruck bringt – wie ja bereits angekündigt: In epistole tue serie stilum fatigasti pro nichilo, credens per quedam adulantia verba et pulcritudinis mee commendationem benivolentiam captare. Sed nichil est, quod credis, et semina mandas arene […] (S. 21, Z. 133–135) Im Verlauf deines Briefes hast du deinen Stift vergeblich ermüdet, im Glauben, durch irgendwelche schmeichelnden Worte und den Preis meiner Schönheit mein Wohlwollen zu erlangen. Aber es gibt nichts, was deinen Glauben rechtfertigt, und du legst Samen in den Sand (d. h.: du verschwendest deine Zeit).

Hieran schließt sich die Erklärung an, dass der Mann gerade anhand dieser ablehnenden Antwort erkennen könne, dass die Umworbene ihn ohne Zweifel (procul dubio) erhören werde: […] Hac siquidem epistola perpendere poterit amans, quod suum procul dubio desiderium adimplebit (S. 22, Z. 137f.). Dementsprechend ist der folgende Antwortbrief des Mannes durch einen optimistischen Tenor gekennzeichnet: Auch wenn es ihr nicht gefalle, dass er lebe, solle sie ihm ruhig befehlen zu sterben. Er werde dann nach dem Tod die Freuden des Paradieses genießen: […] et si non placuerit, ut vivam, precipiatis, ut morior. Sicque post mortem fruar gaudiis paradisi (S. 22, Z. 141f.). Es folgt eine erneut ablehnende Antwort der Frau, die hier nun vollständig wiedergegeben sei:

349 Im Folgenden werden fünf Gründe genannt, warum eine Frau ablehnen könnte: prima est ex quadam occulta natura, quia naturaliter omnibus inesse videtur primo negare quesita […] (S. 21, Z. 125f.).

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Brief der Frau (S. 23, Z. 144–148):

Antwort des Mannes (S. 25f., Z. 175–184; hier bereits der Vergleichbarkeit wegen vorweggenommen): Si regnum essem adeptus et regali De tua importunitate non possum non admirari, cum iam penitus denegaverim, diademate coronatus, non tantum foret ne michi litteras vel aliquid transmittere gaudium cordi meo innatum, quantum de vestrarum litterarum tenore percepi. Scio auderes; et nunc sic me sollicitas, ut me credas alterabilem esse. Sed non reperitur quidem, quod nodus non reperitur in sirpo, nodus in sirpo350 id est macula non reperitur in facundissimo eloquio vestro »Ich kann mich über deine »Wenn ich das Königtum erlangt hätte und Unverschämtheit nur wundern, zumal ich mit einem königlichen Diadem gekrönt dir bereits ganz entschieden versagt habe, worden wäre, wäre nicht so große Freude in es zu wagen, mir Briefe oder irgendetwas meinem Herzen entstanden, wie ich sie anderes zu schicken; und nun regst du durch den Sinn Eures Briefes empfangen mich insofern auf, als du glaubst, ich sei habe. Ich weiß jedenfalls, dass in einer Binse wankelmütig. Aber nicht kann man in kein Knoten gefunden werden kann, das einer Binse einen Knoten finden« heißt, dass in eurer überaus eloquenten Beredsamkeit kein Makel gefunden werden kann« et flos mirice permanet inviolabilis nec et flos mirice permanet inviolabilis, id est est feno similis, quod secatum facile vestre dilectionis sinceritas non potest arescit. aliquatenus violari. Ego autem sum fenum, quod secatum facile arescit, et nisi velitis me rore vestre gratie irrigare, minus etiam quam fenum aridum potero dici. »und die Tamariske bleibt unverletzlich »und die Tamariske bleibt unverwundbar, und nicht ist sie dem Heu ähnlich, das heißt: Die Aufrichtigkeit Eurer Liebe welches nach dem Schnitt leicht kann auch nicht ansatzweise verletzt vertrocknet.« werden. Ich aber bin das Heu, das abgeschnitten leicht vertrocknet; und wenn Ihr mich nicht mit dem Tau Eurer Annehmlichkeit benetzen wollt, werde ich auch noch weniger als ‚trockenes Heu‘ bezeichnet werden können.«

350 sirpo kommt von scirpus = Binsen. Vgl. Klotz, Bd. II, S. 1255: „nodum in scirpo quaerere, Schwierigkeiten finden, wo keine sind“: Übers.: »Nicht wird ein Knoten in einer Binse gefunden.« Vgl. bes. Thesaurus proverbiorum, Bd. 1, S. 484, Nr. 16, sowie den Aufsatz von Kühne, Nodus in scirpo, der die Entwicklung dieser proverbialen Wendung ausgehend von der altrömischen

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Vidisti forte virgulta in deserto et complacuerunt tibi pomeria Damasci.351 Sed non omne, quod placet, potest, ut credis, haberi.352

»Vielleicht hast du schon einmal die Sträucher in der Wüste gesehen und die Obstgärten von Damaskus haben dir gefallen. Aber nicht alles, was einem gefällt, kann man, wie du glaubst, besitzen.«

Vidi tandem virgulta et complacuerunt michi pomeria Damasci, et licet habere nequeam, quod placet, magnitudinem tamen et curialitatem vestram suppliciter exoro, ut michi fidelitatis mee intuitu hoc donarium conferatis, videlicet quod me instruere dignemini, quo tempore vobis mei cordis secreta valeam aperire. »Ich habe schlussendlich die Sträucher gesehen und die Obstgärten von Damaskus gefielen mir; und mag es auch sein, dass ich nicht haben kann, was (mir) gefällt, ich erbitte dennoch demütig Eure Großherzigkeit und Höfischkeit, dass Ihr mir in Betracht meiner Treue dieses eine Geschenk darbringt: nämlich, dass Ihr mich für würdig erachtet, mich zu unterweisen, zu welcher Zeit ich Euch die Geheimnisse meines Herzens eröffnen kann.«

Inhaltlich erklärt die Frau, dass sie sich über seine Unverschämtheit nur wundern könne, da sie gegenüber seinen Versuchen, ihr Briefe oder etwas anderes zu senden, bereits sehr deutlich Ablehnung zum Ausdruck gebracht habe. Ein Knoten könne nicht in einer Binse gefunden werden, wie es im Sprichwort heißt (Binsen gelten als Gewächse, die keinen Knoten aufweisen).353 Die Tamariske bleibe unverletzt und nicht sei sie dem Heu ähnlich, welches nach dem Schnitt leicht vertrockne354 ; er habe vielleicht schon einmal die Sträucher in der Wüste gesehen und die Obstgärten von Damaskus hätten ihm womöglich gefallen. Aber nicht alles, was gefalle, könne, wie er glaube, besessen werden. Im Hinblick auf die verwendete Metaphorik der Frau erklärt das Text-Ich nun aber, dass sprichwörtliche Redensarten, schwer zu

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Tradition bei Ennius verfolgt und hierbei zahlreiche Bedeutungsverschiebungen und Varianten aufweist. Purkart, Rota Veneris, S. 100, Anm. 34, verweist hier auf entsprechende Bibelstellen. Vgl. zu dieser Textstelle auch Hallik, Sententia und Proverbium, S. 222, welche für beide Sätze eine Übersetzung liefert. Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch folgendes mittellateinische Sprichwort: „Non nodus scirpo nec est fides in meretrice Die Binse hat keinen Knoten, und bei der Hure ist keine Treue“. Zit. n. Thesaurus proverbiorum, Bd. 6, S. 311, Nr. 51. „Zur geistlichen Metaphorik des Bewässerns und des Regens“ vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Schaller.

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entschlüsselnde (occulte) Schlussfolgerungen sowie ‚Ähnlichkeiten‘ und ‚Vergleiche‘ (similia et similitudines) sehr großen Nutzen für den Liebenden haben: Huiusmodi siquidem proverbia, occulte ratiocinationes et similitudines355 faciunt plurimum ad usum amandi. Ponantur igitur in talibus iocunde transumptiones et proverbia, de quibus possit multiplex intellectus haberi, quia non modicum faciunt amantium animos gratulari. (S. 23, Z. 149–152) »Proverbiale Ausdrücke dieser Art, dunkle Schlussfolgerungen, [Analogien (similia)] und Vergleiche (similitudines)«356 nutzen dem Liebenden jedenfalls sehr viel. Also sollen in solchen (Briefen) ansprechende Formen der Übertragung und proverbiale Ausdrücke eingesetzt werden, durch die eine vielfältige Interpretation erzielt werden kann, weil sie nicht in geringem Maße bewirken, dass die Gemüter der Liebenden sich erfreuen.357

Es folgt eine Auflistung von einigen Beispielen für Metaphern mit dem erneuten Hinweis darauf, dass sie auf unzähligen Wegen formuliert werden könnten: Infinitis autem modis fiunt huiusmodi transumptiones nec possent de facili numerari (S. 24, Z. 159f.). Gleichwohl sei hierbei keine Willkür erlaubt, da stets eine Verbindung zwischen dem Wort (vox) und seiner gewünschten Wirkung (effectus) erzielt werden müsse; der Vergleich einer Frau mit einer Eiche zum Beispiel sei wohl keine ansprechende ‚Übertragung‘ ([…] ut semper fiat quedam similitudo vocis vel effectus in transumptione. Nam si mulierem transumeres in quercum, non esset iocunda transumptio, S. 24, Z. 164–166). Es folgt die Antwort des Mannes, in der er die Metaphorik der Frau aufgreift und diese in einem anderen Sinne als von der Frau beabsichtigt auffasst, welche ihre Beständigkeit zum Ausdruck zu bringen beabsichtigt, wie sie zu Beginn ihres Briefes sehr deutlich macht (s. oben). Während die Frau durch das erste Bild des nodus in sirpo darauf hinweist, dass

355 similia et similitudines in der Ausgabe Baethgens sowie nach der Überlieferung in M P R S St V (vgl. Core, S. 23). 356 Übersetzung nach Hallik, Sententia und Proverbium, S. 222, welcher der Vers nach der Ausgabe Baethgens zugrunde liegt. 357 Auch hier Übersetzung orientiert an Hallik, ebd., S. 222f., welche ebd. die Unterscheidung zwischen „Analogien (similia) und Vergleiche[n] (similitudines)“ thematisiert und ebd., S. 223, schließt: „Im Kontext von Liebesbriefen ist also die sonst verpönte Undeutlichkeit des proverbium erwünscht und erfreulich.“ Vgl. auch ebd., S. 222, Anm. 206, Halliks Ausführungen zur transumptio in der Rota Veneris: „An dieser Stelle hat transumptio offensichtlich die Bedeutung ‚Metapher‘.“ Unter Einbezug der Rhetorica novissima schließt sie jedoch ebd., S. 222f., Anm. 206: „Somit ist transumptio ein sehr weitgefaßter Begriff, der die verschiedensten Formen der Übertragung unter sich vereint. […] Simile, ratiocinatio und similitudo definiert Boncompagno in der ‚Rota Veneris‘ nicht näher.“ Vgl. hierzu auch Tunberg, What Is Boncompagno’s ‚Newest Rhetoric‘?, S. 317–319. Zur transumptio als ein „parodistisches Verfahren“ bei Boncompagnus vgl. Schnell, Epistolae, S. 472.

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sie beständig – im Sinne einer Unnachgiebigkeit bezogen auf die Werbung des Mannes – sei, da sich gerade keine fehlerhafte Stelle, kein Knoten finde, bezieht der Mann das Bild auf ihre Beredsamkeit (eloquium), die makellos sei. Während die Frau das Bild der Tamariske verwendet, um zu verdeutlichen, dass sich diese als widerstandsfähig erweise und nicht so leicht wie abgeschnittenes Gras vertrockne, bezieht er es nicht auf die Standhaftigkeit der Frau im Sinne ihrer ablehnenden Haltung, sondern er spricht von der Beharrlichkeit ihrer Liebenswürdigkeit (dilectionis sinceritas). Während die Frau erklärte, dass sie nicht dem Heu gleich sei, erläutert der Mann, dass er wie das Heu sei, welches, nachdem man es abgeschnitten habe, leicht vertrockne. Er münzt die Auflösung des Bildes in eine Forderung um: Wenn sie ihn nicht mit dem Tau – ein erneut sexuell aufgeladenes Bild – ihrer Anmut benetze, werde er »noch weniger als trockenes Heu« genannt werden können. Es ist hierbei auffällig, wie systematisch der Mann die einzelnen Aussagen der Frau in der durch sie vorgegebenen Reihenfolge aufgreift. Zum Schluss bejaht er, dass er die Sträucher der Wüste gesehen habe und dass ihm die Obstgärten von Damaskus gefielen; und sei es auch, dass er nicht haben könne, was ihm gefalle, so bitte er dennoch demütig um ihren Großmut und ihre curialitas, womit ein Schlagwort höfischer Kultur in den Briefdialog einfließt (s. oben Kapitel 2.1.2). Abschließend bittet er um die Angabe einer Gelegenheit, um ihr die Geheimnisse seines Herzens zu eröffnen. Die gewählten Bilder erweisen sich hierbei erneut als vielfältig einsetzbar und dem jeweiligen Anlass anpassungsfähig. Besonders auffällig ist der differenziert erklärende Gestus des Mannes (id est […]), der die Aussagen der Schreiberin wörtlich aufgreift und hierbei die Werbungsthematik jeweils hervorkehrt, wobei er auf unterschiedliche Topoi der Werbung zurückgreift: Frauenpreis (macula non reperitur in facundissimo eloquio vestro), Appell an das Mitgefühl der Umworbenen unter Betonung des eigenen Leids (Ego autem sum fenum, quod secatum facile arescit […]), Bitte um eine intime Unterredung (ut michi fidelitatis mee intuitu hoc donarium conferatis […]) – hierbei spielt der Mann verstärkt auch auf ‚weltliche‘ Literaturtraditionen an (curialitatem, […] mei cordis secreta valeam aperire). In ihrer Antwort zeigt sich die Frau nun – der Konzeption einer Liebeslehre entsprechend – tatsächlich entgegenkommend: Nolens tamen preces tuas ex toto contempnere, ne in desperationis laqueum traharis (S. 27, Z. 188f.). Sie gibt ihm daraufhin Anweisungen für das Zustandekommen einer Begegnung und erfüllt schließlich den am Ende des vorangegangenen Briefes formulierten Wunsch: sicque michi tui cordis archana poteris aperire (S. 27, Z. 193). Das Text-Ich schreibt daher zufrieden: Quid plura? Pono, quod amans iam perfecit, quod optabat, unde potest et debet ex postfacto aliquas iocundissimas ei litteras destinare […] (S. 27, Z. 194f.). Es folgen drei weitere Briefe post factum, in welchen zunächst der Mann eine Traumallegorie darlegt, welche die Frau nun ihrerseits in einem Antwortbrief auflöst und hierbei sehr deutlich die sexuellen Aspekte der Bildlichkeit zur Sprache bringt. Weitere Fallbeispiele folgen, die jedoch zum Teil den Kontext der Werbung

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hinter sich lassen.358 Im neunten Kapitel wird an die Rahmenhandlung angeknüpft: Venus lobt die erfolgten Belehrungen und ergänzt sie um Ratschläge, wie man Gelegenheiten für die Liebe (amoris specula) finde. Nach ihrem Abgang äußert sich erneut das Text-Ich: Es habe dies, was es geschrieben habe, überdacht und befürchtet, dass es zu »lasziv« (lascivum) geraten sei. Daher habe es beschlossen, das Werk zu zerstören, worauf es dann jedoch seinen Freunden zuliebe verzichtet habe: Condescendi tandem amicorum precibus et Rotam Veneris omnibus concessi, quam feceram causa urbanitatis. Unam tamen volo universos et singulos scire, quod plus michi semper placuerunt verba quam facta, quoniam gloriosius est in talibus vivere in spe quam in re, secundum sententiam serenissime Capuane.359 (S. 42, Z. 360–363) Den Bitten meiner Freunde gab ich schließlich doch nach und überließ allen die Rota Veneris, die ich der Feinheit (im Witze) wegen (causa urbanitatis) verfasst hatte. Dennoch will ich, dass alle und jeder einzelne das eine wissen, dass mir Worte immer mehr gefielen als Taten, weil es in solchen Dingen ruhmvoller ist, in der Hoffnung als in deren Umsetzung zu leben, gemäß einem Ausspruch der sehr heiteren »campanischen Sibylle«360 .

Es folgen abschließend einige theoretische Erörterungen zu den Zeichen der Liebe (nutus, inditium, suspirium) in erneut sehr deutlicher Anknüpfung an eine Minnedidaktik, weniger an einen Briefsteller. Das Text-Ich schließt mit der Nennung des Boncompagnus, wobei ein weiteres Mal auf die mehrfache Bedeutung mögli-

358 Es begegnen u. a. die Beispiele einer Frau, die verheiratet ist und ihren früheren Liebhaber nicht mehr haben möchte (Brief Frau, Antwort Mann); der Brief einer Frau, welche schwanger wurde, ohne mit dem Adressaten des Briefs verheiratet zu sein (Brief Frau, ablehnende Antwort Mann); der Brief einer Frau, deren Mann oder Freund sich in weit entfernter Region befindet und nicht zurückkehrt – ohne Antwort des Mannes. Das fünfte Kapitel widmet sich der Frage, wie man Frauen überreden könne, nicht Nonne zu werden. Auch hier wird in dem dort zu findenden zweiten Briefdialog vorgeführt, wie sich eine Nonne zunächst ablehnend verhält (erster Brief), doch nach einem zweiten Brief des Mannes diesen schließlich erhört. Es folgen erneut weitere Fallbeispiele zum Teil in Anknüpfung an schwankhafte Texttraditionen (bis einschließlich Kapitel 8), u. a. schreibt eine ältere Frau an einen früheren Freund, der sich jedoch nun einer jüngeren Frau zugewendet hat, oder es findet sich der Brief einer Frau, die ihren Freund während der Abwesenheit ihres Ehemanns zu sich rufen möchte. 359 Vgl. hierzu Purkart, Rota Veneris, S. 106, Anm. 97: „Unlike Andreas Capellanus, Boncompagno makes it easy for the reader to accept the irony of this statement.“ 360 Baethgen (Edition), S. 24, Anm. 1. Weder Baethgen noch Purkart gelingt es jedoch, ein entsprechendes Sprichwort zu finden.

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cher Aussageformen eingegangen wird – hier explizit bezogen auf den vierfachen Schriftsinn, den das Text-Ich anhand des Hohelieds veranschaulicht.361

2.3

‚Gesprächsanleitungen‘

Das folgende Kapitel widmet sich vornehmlich Dialogen zwischen Mann und Frau, die in einen explizit belehrenden Rahmen gesetzt werden. Dieses Vorgehen ergibt sich aus der wiederholten Beobachtung didaktischer Sprechgestus in dialogischen Texten mit einer Werbungsthematik – sowohl in den in Kapitel 3 untersuchten mittelhochdeutschen Dialogliedern als auch in den in Kapitel 2.4 analysierten lateinischen Dialoggedichten sowie den Liebesbriefstellern des Kapitels 2.2.362 Eine inhaltliche Gemeinsamkeit der Texte besteht hierbei vor allem in dem engen Bezug auf Ovid.363 Der unter 2.3.1 behandelte kurze Dialog gehört denn auch zu der sog. Pseudo-Ars amatoria, deren Pendant die Pseudo-Remedia amoris bilden – beide als Bestandteil des Facetus de moribus et vita (s. unten) –, weshalb dieses Textensemble aus jeweils einer Lehre zum Erwerb der Liebe und zu den Heilmitteln gegen diese einen wesentlichen Konnotationshintergrund für die Werbungsgespräche des De amore (Kapitel 2.3.3) bildet, wenn auch auf sehr deutliche Unterschiede hinzuweisen sein wird. Ein Werbungsdialog begegnet ebenfalls in der sog. Comedia Latina Pamphilus, de amore, der zwar nicht explizit in eine Liebeslehre eingebettet, aber dennoch eng an den Dialog der Pseudo-Ars amatoria angelegt ist, zumal der Zusatz de amore bereits auf eine lehrhafte Textausrichtung verweist. Das größte Augenmerk des folgenden Kapitels liegt auf den Werbungsgesprächen im De amore, 361 Licet autem plura, que lasciviam ostendere videntur, in hoc opere posuerim, non tamen est credibile me fuisse aut velle fore lascivum, quia Salomon, qui meruit assistrici Dei, id est eius sapientie, copulari, multa posuit in Canticis Canticorum, que secundum litteram magis possent ad carnis voluptatem quam ad moralitatem spiritus trahi. Verumptamen sapientes dubia in meliorem partem interpretantur, dicentes sponsam vel amicam Ecclesiam fuisse, sponsum Iesum Christum. Credere igitur debetis, quod Boncompagnus non dixit hec alicuius lascivie causa, sed sociorum precibus amicabiliter condescendit (S. 49, Z. 421–427). 362 Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 187, verweist auf das „Interesse des Klerus an dem literarischen Thema Minne und insbesondere an der Erörterung dieses Themas in Dialogform“, welches eine lange Tradition habe. 363 Bereits Karnein, Andreas, Boncompagno und andere, S. 34ff., versucht eine Textreihe zu konstituieren aus Andreas Capellanus’ De amore, dem pseudo-ovidianischen Facetus de moribus et vita, der Comedia Latina des 12. Jahrhunderts sowie der Rota Veneris des Boncomagno da Signa. Trotz der sehr unterschiedlichen Textformate sieht er eine Parallelität in dem intellektuellen Zugriff auf das Thema Frauenliebe und erkennt ebd., S. 39, eine Gemeinsamkeit in der „satirisch-ironische[n] Perspektive“ hierauf. Dieser Blick des Intellektuellen sei jeweils „misogyn, zynisch, kommensurabel nur durch rhetorische Brillanz“ und Karnein schließt hieraus auf eine „negative ars amandi“ im Unterschied zu den volkssprachlichen Poeten (ebd., S. 35).

‚Gesprächsanleitungen‘

welche zwar Parallelen zu Pseudo-Ars amatoria und Pamphilus erkennen lassen, sich aber konzeptionell und im Hinblick auf die angewandten Techniken der Werbung und Ablehnung deutlich abheben, weshalb vor allem die Unterschiede zu den unter 2.3.1 und 2.3.2 behandelten Texten herausgestellt werden sollen: So weisen die eng an eine Liebeslehre angelegten Werbungsdialoge der Pseudo-Ars amatoria und des Pamphilus eine klare Progression hin zu einer Annäherung zwischen Mann und Frau auf – ähnlich wie der Dialogverlauf in dem vorgestellten Briefwechsel der Rota Veneris und der Intention einer Liebeslehre gemäß – und verlaufen hierbei nach einem scheinbar klaren Muster. Sehr deutlich wird dies an dem an den quinque lineae amoris ausgerichteten Handlungsverlauf vom Erblicken der puella bis zum Koitus in der Pseudo-Ars amatoria und dem Pamphilus. Das Werbungsgespräch als zweite ‚Stufe‘ fällt hierbei – vor allem in der Pseudo-Ars amatoria – relativ knapp aus, führt aber dennoch vor, wie der Widerstand der puella schrittweise nachlässt und der Mann die Frau erobert bzw. die Umworbene einen nur vorgetäuschten Widerstand schrittweise auflöst. Gerade diese Progression der Gesprächsentwicklung und letztendlich ein dadurch bedingtes Ungleichgewicht in Bezug auf die Figurenbeziehung – der Mann verführt die Frau – läuft jedoch dem Grundcharakter des Streitgesprächs im Sinne eines ‚Wettkampfs‘, in dem sich zwei gleichrangige Kontrahenten gegenüberstehen, entgegen.364 Die Werbungsgespräche im De amore sind demgegenüber vollkommen anders konzipiert: Mann und Frau äußern sich hier in großen Teilen auf einer ‚Ebene‘, ohne dass ein klarer Gesprächsfortschritt erkennbar ist; ein rhetorisch geschicktes Argumentieren und ein hierbei zu beobachtendes wechselseitiges Übertrumpfen stehen viel stärker im Vordergrund. Gleichwohl wird auch im Pamphilus und in der Pseudo-Ars amatoria das Sprechen als Teil der Werbung explizit thematisiert, wobei vor allem dessen manipulatorisches Potential betont wird. Die Komik dieser Dialoge insgesamt ist allerdings eher durch das Auseinanderklaffen von Schein und Sein bzw. Wort und Tat/Haltung bedingt, eine argumentativ raffinierte Sprechweise durch ein wechselseitiges Aufgreifen der jeweils vorgängigen Aussage im wechselseitigen kommunikativen Austausch bildet nicht den Schwerpunkt. Dennoch ist in den genannten Texten eine gewisse Variation im Rückgriff auf unterschiedliche Sprechregister zu beobachten. Darüber hinaus sind die in ihnen enthaltenen Werbungsgespräche für die Analyse der Pastourelle bzw. pastourellenhaften Dialoge von wesentlicher Bedeutung (vgl. hierzu vor allem Kapitel 2.4 sowie 3.3).

364 Zu den Unterschieden zwischen den Pseudo-Ovidii und den elegischen Komödien einerseits und dem De amore andererseits vgl. auch Knapp, De amore (Nachwort), S. 608ff.

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Werbung und Liebesdiskussion in dialogisch angelegten lateinischsprachigen Texttypen

2.3.1

Pseudo-Ars amatoria (Facetus de moribus et vita)

Die Überlieferung des Facetus de moribus et vita erfolgte nicht einheitlich, da zwei Teile der 510 Verse umfassenden Dichtung separat als Pseudo-Ars amatoria (Vv. 131–320) sowie Pseudo-Remedia amoris (Vv. 321–384) in Handschriften des 14. bis 16. Jahrhunderts überliefert wurden, was bereits im Mittelalter dazu führte, dass man Ovid als deren Autor vermutete.365 Es ist dennoch davon auszugehen, dass beide artes – trotz bisweilen separater Überlieferung – als Einheit aufgefasst 365 Vgl. Schnell, Facetus, S. 244f., S. 245, Anm. 7. Siehe u. a. auch Lehmann, Pseudo-Antike Literatur, S. 11; Dronke, Pseudo-Ovid, S. 126–131; Offermanns, Die Wirkung Ovids, S. 88, Anm. 1. Hexter, Shades of Ovid, S. 297, nimmt eine Datierung des Textes zwischen 1130 und 1140 an. Thiel, Nachdichtungen, S. 115, dagegen äußert sich – bezogen auf die separat überlieferten Partien der Pseudo-Ars amatoria und Pseudo-Remedia amoris – vorsichtiger: „Ebenso wenig wie über Autor und Titel ist über die Entstehungszeit bekannt. Nach der Art der Stücke möchte man sie, mit Paul Lehmann, ‚schwerlich nach dem 13. Jahrhundert vermuten‘ und sie in der ‚Aetas Ovidiana‘ des hohen Mittealters suchen, aber ein Beweis dafür läßt sich nicht erbringen“. Thiel ist allerdings nicht der gesamte Facetus bekannt, worauf Schnell, Facetus, S. 244–246, und Dronke, PseudoOvid, S. 126–131, hinweisen. Thiel, Nachdichtungen, S. 115–180, edierte die genannten Partien losgelöst vom restlichen 510 Verse langen Facetus (ebenso wie Wattenbach, Pseudoovidische Gedichte, S. 270–280), er stützte sich hierbei auf 23 Handschriften, was die breite Überlieferung dieser Textpartien belegt (vgl. Thiel, Nachdichtungen, S. 126). Eine Edition des Gesamt-Textes lieferte Morel-Fatio jedoch bereits im Jahr 1886 (Romania XV); dessen Text bildet auch die Grundlage für die Übersetzung ins Englische von Alison Goddard Elliott aus dem Jahr 1977. Dem letzten Distichon des Facetus folgend betrachtet Dronke, Pseudo-Ovid, S. 130, einen Aurigena als Verfasser der Dichtung. Er verweist zudem auf eine Anspielung auf den Facetus in den Carmina Burana sowie im Heimlichen Boten (unter Hinzuziehung von Gliers Artes amandi sowie einer Untersuchung Ehrismanns), weshalb er auf die frühe Datierung des Facetus insgesamt in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts schließt. Glier, Artes amandi, S. 19, weist bei ihrer Betrachtung des im 12. Jahrhundert entstandenen „Heimlichen Boten“ hin auf eine „lateinische literarische Tradition von Liebeslehren und -briefen“, die dem volkssprachlichen Text vorausgehe. Infrage kämen hier besonders die so genannten Pseudo-Ovidiana, die auch Dronke, Pseudo-Ovid, S. 130, Anm. 10, als ein „testimony of amatory theorizing from the first, not second, half of the twelfth century“ einschätzt. Schnell, Facetus, S. 246, konkretisiert diese Bezugsetzung dahingehend, dass sich die deutschen Minnereden wohl eher auf die beiden Mittelstücke des Facetus bezögen: „Wegen der vom übrigen Traktat unabhängigen Rezeption dieses Teiles braucht man aber nicht den ganzen ‚Facetus‘ als mögliche Vorlage anzusetzen, sondern wahrscheinlicher ist, daß die Verfasser der deutschen Minnereden auf ein solches Einzelstück zurückgriffen.“ Vgl. außerdem Langosch, Facetus, S. 132–142, der zu zeigen versucht, dass „Pseudo-Ars“ und „Pseudo-Remedia“ eine nachträgliche Ergänzung zum Facetus darstellen, da durch die beiden Ovid-Bearbeitungen die Einheit des Facetus gestört werde: „Damit ist genügend gesichert, daß der ‚Facetus‘ ohne die Pseudo-Ovidiana konzipiert wurde und sie erst später eingeschoben wurden“ (ebd., S. 138). Dies wiederum würde eine Bestimmung der Entstehungszeit der beiden Pseudo-artes erneut erschweren. Das Fehlen einer kritischen Edition des Facetus bemängelt bereits Dronke, dieses Manko wurde bisher allerdings noch nicht behoben. Weitere Forschungsliteratur u. a.: Baldwin, The language of sex, S. 276, Anm. 69; Hexter, Shades of Ovid, S. 297f.; Kretschmer, The love elegy, S. 271–289.

‚Gesprächsanleitungen‘

wurden, was wiederum Rückschlüsse auf die Interpretation der Texte zulässt. Der Facetus insgesamt erhebt den didaktischen Anspruch einer höfischen Anstandsund Lebenslehre, heißt es doch in den ersten beiden Versen: Moribus et vita quisque vult esse facetus / Me legat et discat, quod mea musa notat.366 Es finden sich dementsprechend zunächst allgemeine Verhaltensregeln (z. B. Esto verecundus falsum quandoque loquaris, V. 9), woraufhin spezifischere Anweisungen folgen für den Jungen, der sich für ein Leben als Kleriker freiwillig entscheide (puer in clero […] locatus, Vv. 33ff.), sowie für denjenigen, der ein Leben als Laie führe (Vv. 61ff.). Ab Vers 131 geht es in diesem Zusammenhang um den Erwerb der Liebe. Dargelegt wird, wie es einem Jüngling (iuvenis) gelingen kann, ein von ihm begehrtes Mädchen (puella) zu verführen. Ziel sei das sapienter amare: Si quem forte iuvat subdi sapienter amori, / Sic amet incipiens, ut mea musa docet (Vv. 131f.). Zunächst werden die Frauen genannt, auf die man sich keinesfalls einlassen solle (monialis, femina nupta, meretrix), im Anschluss erfolgt eine Nennung der für das Liebesspiel Geeigneten (virgo, vidua). In Bezug auf diese heißt es dann erneut: Has iuvenile decus sapienter discat amare, / Arte quidem nostra noscat amoris iter (Vv. 149f.). Dazu bedürfe es zunächst einer Vermittlerin (nunccia), die einen Kontakt zwischen beiden herstelle und dem Mädchen auf vorsichtige Weise das Interesse des Jünglings an ihr vermittle und zu einer heimlichen Begegnung zu überreden versuche (Vv. 39–44), u. a. solle sie der puella einen Frauenpreis überbringen (Vv. 45–52). Der Text folgt hierbei einem wohl durchdachten Schema, jeder Schritt auf dem Weg bis zur eigentlichen Verführung scheint – in Anknüpfung an die lineae amoris (visus – colloquium – tactus – basium – coitus) – vorherbestimmt. So heißt es im Anschluss an den Frauenpreis, dass das Mädchen womöglich zuerst mit »rauen Worten« antworten, doch schnell erweichen werde: Forsitan inprimis dabit aspera verba puella, / Sed cito, que prius est aspera, mollis erit (Vv. 183f.), wobei die Anknüpfungen an Ovids Ars amatoria durch wortwörtliche Bezugnahmen hier überdeutlich sind. Uneigentliches Sprechen und ein Verbergen der eigenen Haltung werden dabei ausführlich thematisiert: Eine Frau wünsche genau dies, gegen das sie sich wehre, und wolle häufig gefragt werden (Femina, quod prohibet, cupit et vult sepe rogari, V. 197), Dreistigkeit führe zum Sieg (Improbitas vincit, pectora frangit amor, V. 198).367 Schnell zeigt auf, dass für die ovidische bzw. pseudo-ovidische Liebeskonzeption diese „Diskrepanz zwischen äußerem Verhalten und inneren

366 Zitiert wird hier und im Folgenden nach der Edition von Elliott, Facetus, S. 32ff.; verändert bzw. ergänzt wurde bisweilen lediglich die Zeichensetzung sowie die Schreibweise von „j“ vor einem Vokal zu „i“. Vgl. zum Begriff facetus ebd., S. 27: „facetus in medieval usage meant not only ‚witty‘, ‚facetious‘ – its predominant significance in classical Latin – but more particularly ‚courteous‘, ‚elegant‘, ‚refined‘ – in a word, ‚courtly.‘“. 367 Schnell, Ovids Ars amatoria, S. 141, erklärt: Wer pudor über amor stelle, werde getadelt, wobei es sich jedoch um „eine unhöfische, aber ovidische Vorstellung“ handle. Er trägt hierzu zahlreiche

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Werbung und Liebesdiskussion in dialogisch angelegten lateinischsprachigen Texttypen

Wünschen“ spezifisch sei – und dies gerade im Unterschied zur sog. ‚höfischen Liebe‘.368 Durch viele Bitten und häufige Wiederholung – also durch langes Werben – werde die Zögerliche schließlich freiwillig eine Unterhaltung führen wollen (Sic multis precibus et longo temporis usu / Colloquium fieri languida sponte volet, Vv. 201f.). Nach einem beispielhaften, durch den Jüngling selbst vorzubringenden Frauenpreis (Vv. 79–112) – einem blandus sermo – folgt ein kleiner Dialog zwischen Mann und Frau, so wie er möglicherweise ablaufen könnte (Forsitan […] loquatur), es handelt sich folglich um einen Dialog mit lehrhaftem Anspruch, auf dessen Beispielhaftigkeit und Möglichkeitsstatus hingewiesen wird. »Vielleicht« werde das geschwätzige Mädchen folgende »stolze Worte« vorbringen:

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Forsitan illa sagax sic verba superba loquetur, Ut, quod mente cupit, per sua verba tegat: „Stulta petis, iuvenis, frustra laudas mea membra; Si sum pulcra satis, cur tibi cura fuit? Vade, recede cito, ganeam me forte putasti Et nunquam facias tu michi verba magis.“ Tunc dicat iuvenis : „Cur me, dulcissima rerum, Morte perire facis ? Hoc tibi crimen erit. Munera magna peto, tamen hec sunt digna favore; Si me forsan amas, nil tibi quippe nocet.“ Inquiet illa quidem : „Fateor, non horreo quemquam, Teque libenter amo, nil michi plura petas.“ Tunc caput inclinet grates multas referendo Et semper famulus spondeat esse suus.

Vielleicht wird das clevere (Mädchen) sodann folgende stolze Worte sprechen, um das, was es sich innerlich wünscht, durch seine Worte zu verbergen: „Junger Mann, Törichtes forderst du, vergeblich preist du meine Glieder; Mag ja sein, dass ich hinreichend schön bin, warum kümmert dich das? Verschwinde, geh’ schnell weg, womöglich hast du mich mit einer Hure verwechselt und niemals sollst du mir gegenüber noch einmal solche Worte vorbringen.“

Beispiele der volkssprachlichen und lateinischen Literatur zusammen. Vgl. außerdem in Kapitel 2.4.4 den dort besprochenen Dialog aus der Ripollsammlung. 368 Schnell, Ovids Ars amatoria, S. 151. Vgl. auch ebd., S. 155: „Bei einer nur vorgetäuschten Zurückhaltung der Dame, die aber doch gewaltsames Vordrängen ihres Liebhabers wünscht, müßte ja das ganze Gedankengebäude von dienest unde lôn zusammenbrechen.“

‚Gesprächsanleitungen‘

Dann könnte der Jüngling sagen: „Warum, du Allerschönste auf der Welt, willst du mich töten? Dies wird für dich ein Verbrechen sein. Ich erbitte große Gaben, dennoch sind diese der Gunst würdig; falls du mich möglicherweise liebst, schadet es dir gewiss in keiner Hinsicht.“ Jene wird sicherlich sagen: „Ich gebe zu, ich fürchte niemanden, und ich liebe dich bereitwillig, du sollst mich (nun aber) um nichts Weiteres mehr bitten.“ Dann soll er das Haupt senken, um ihr reichlich Dank zu erweisen, und er soll versprechen, für immer ihr Diener zu sein.369 (Vv. 243–256)

Es wird sehr deutlich betont, dass das clevere (sagax) Mädchen dies, was es wolle, durch seine Worte (sua verba) verhülle und somit uneigentlich spreche. Die sehr deutliche Zurückweisung in den Versen 245 bis 248 wird aufgrund dieses Hinweises vor der Rede der puella (V. 244) von Beginn an relativiert: Er fordere Törichtes (stulta), er solle weggehen und verschwinden, wie das Mädchen gleich zweimal betont; niemals (numquam) möge er noch einmal solche Worte (bezogen auf seine preisende Werbungsrede) vorbringen, zumal er die puella mit einer Hure zu verwechseln scheine. Die als Reaktion hierauf präsentierte Rede des Jünglings ist nun durch einen vorwurfsvollen Gestus gekennzeichnet, wobei er die Angesprochene weiterhin preisend apostrophiert (dulcissima rerum). Er beklagt sich darüber, dass sie ihn töten wolle, dies aber sicherlich noch bereuen werde. Die Anführung des eigenen Liebestods ist auch im volkssprachlichen Werbungsdialog ein verbreiteter Topos metaphorischen Sprechens. Er sei sich darüber hinaus bewusst, dass er große Gaben fordere, dennoch seien diese der Gunst – also ihrer Gunst – würdig. Falls sie ihn vielleicht (forsitan) liebe, schade es ihr gewiss in keiner Hinsicht. Bereits diese Rede des iuvenis genügt, um die puella zu erweichen: Sie fürchte niemanden und liebe ihn bereitwillig (libenter); er solle nun aber nichts mehr erbitten bzw. fordern, wie sie in ihrer Replik darlegt. Eine argumentative Verschränkung zwischen den Redebeiträgen in den Versen 249–252 und 253–254 ist nicht erkennbar, das Mädchen bringt keinen Widerspruch zum Ausdruck (iuvenis: Si me forsan amas …, V. 252 – puella: Teque libenter amo, V. 254) und schränkt seine Zusage lediglich bezogen auf etwaige weitere Bitten des iuvenis ein. Dieser solle die Antwort der puella akzeptieren, sich verneigen und versprechen, immer ihr Diener sein zu wollen, dann aber dennoch einen Kuss als Zeichen ihrer Liebe erbitten, den er ebenfalls offenbar widerstandslos – trotz der Forderung, weiteres Bitten zu unterlassen (V. 254) – zu erhalten scheint (Munere suscepto, quia tutus in ejus amore, / Letus discedat, gratificando sibi, Vv. 263f.). Als Nächstes möge er – wie es

369 Übersetzung hier und im Folgenden von S.R.; eine Übersetzung ins Englische findet sich bei Elliott, Facetus.

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nun in einem erneut belehrenden Duktus heißt – ein geheimes Treffen arrangieren, bei dem es dann zu einer schrittweisen körperlichen Annäherung kommen werde, wie ausführlich beschrieben wird. Hierbei findet sich wiederum der Hinweis darauf, dass eine ablehnende Haltung der puella nur vorgetäuscht sei. Gerade dadurch bringe das Mädchen seine Zustimmung zu ihrer Verführung zum Ausdruck:

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Tunc non simpliciter iungantur grata labella, Sed teneant longas basia pressa moras. Mobilis interea stringat manus una mamillas Et femur et venter sentiat inde vicem. Sic postquam ludens fuerit calefactus uterque, Vestibus eiectis crura levare decet. Vim faciat iuvenis, quamvis nimis illa repugnet, Nam si desistat, mente puella dolet. Expectat potius luctando femina vinci, quam velit, ut meretrix, crimina sponte pati.

Dann sollen die süßen Lippen nicht einfach so verbunden werden, sondern die heftigen Küsse sollen längere Zeit andauern. Eine geschickte Hand möge inzwischen die Brüste streicheln und Schenkel und Unterleib mögen sich daraufhin wechselseitig berühren. Nachdem auf diese Weise jeder von beiden spielerisch erregt worden ist, ziemt es sich, nach dem Ablegen der Kleidung ihre Beine anzuheben. Der Jüngling soll Gewalt anwenden, auch wenn jene sich allzu sehr wehrt, denn wenn er aufhört, leidet das Mädchen im Inneren. Vielmehr erwartet die Frau durch den Kampf besiegt zu werden, als dass sie wie eine Hure freiwillig Verbrechen erleiden möchte. (Vv. 289–298)

Hier zeigt sich ein grundlegender Unterschied zu den Streitgesprächen im De amore (siehe Kapitel 2.3.3) und gleichzeitig eine Parallelität zur Pastourelle: Die sprachliche sowie inhaltlich-argumentative Verschränkung der – innerhalb des Facetus freilich nur sehr begrenzt wiedergegebenen – Aussagen fällt weniger deutlich aus, der Verlauf des Dialogs bzw. der dargestellten Mann-Frau-Beziehung ist durch die Stufen der Liebe (quinque lineae amoris) vorgeprägt – daraus erwächst eine Komik, welche vor allem durch das Wissen um ein Auseinanderklaffen von Schein und Sein bedingt ist, worauf zudem das Text-Ich selbst explizit hinweist.370 Dennoch

370 Der gleichwohl spielerische Charakter der gesamten Textkonzeption tritt noch einmal dadurch sehr deutlich zutage, dass der Pseudo-Ars amatoria in der Mehrzahl der Handschriften die Pseudo-

‚Gesprächsanleitungen‘

bietet auch diese Art des Verlaufs eines Werbungsgesprächs nach dem Muster einer klar gestuften Abfolge ein gewisses Maß an Variation, wie der Werbungsdialog aus dem Pamphilus ein wenig deutlicher vor Augen führt. 2.3.2

Pamphilus, de amore

Die mittellateinische elegische Komödie Pamphilus, de amore ist die sicherlich bekannteste und am weitesten verbreitete Comedia Latina aus dem frühen 12. Jahrhundert.371 Der Werbungsdialog des 780 Verse umfassenden Textes beschränkt sich nur auf einen kleinen Teil des Gesamtwerks und ist ebenfalls durch ein stufenweises Nachgeben der Umworbenen gekennzeichnet, fällt aber etwas länger aus als in der Pseudo-Ars amatoria. Bereits der Zusatz de amore weist darauf hin, dass liebesdidaktische Fragestellungen auch in diesem Text eine Rolle spielen. Die durchgehend als Dialog gestaltete elegische Komödie372 handelt von der Werbung des Pamphilus Remedia amoris – die »Heilmittel gegen die Liebe« – folgen, was einen deutlichen Verweis auf die ovidischen Liebeslehren darstellt. Qui fuerit cupiens ab amica solvere colla, / Plenius e nostro carmine doctus erit. / Nosse decet primum, quantum sit femina turpis / Et quantum noceat fetidus eius amor (Vv. 321–324). Geordnet nach der äußeren Erscheinung werden die negativen Eigenschaften der unterschiedlichen Frauentypen – dick (pinguis), dünn (macra), groß (longa), klein (brevis), weiß (candida), dunkel (nigra), rot (rubra), blass (facie pallenti) – genannt (Vv. 325–356). Lediglich die Frau von mittlerer Gestalt (medie forme mulier) komme infrage. Es folgen Anweisungen, wie man sich von der Liebe zu einer solchen Frau befreit, sowie eine Reihe weiterer Warnungen vor den Täuschungen und Gefahren der Frauenliebe. Unter anderem geht es um die Schminke und Kleidung der Frauen, wodurch sie versuchten, ihre Hässlichkeit zu kaschieren. Nach dem Erwachen am Morgen erkenne der Jüngling das ‚wahre Gesicht‘ seiner Eroberung. Der misogyne Charakter des Textes wird hier sehr deutlich. Vgl. u. a. Vv. 375–378: Vadat ad hanc iuvenis ieiunus mane repente, / Dum iacet in sompnis nuda soluta caput, / Gaudia tunc sumat, donec fastidia sentit, / Quod vult, plus faciat, quam sibi velle fuit (Der hungrige Jüngling möge am Morgen unerwarteterweise zu ihr gehen, wenn sie nackt im Schlaf liegt, das Haar gelöst, dann möge er sich Freuden nehmen, bis er derer überdrüssig ist, was er will, möge er mehr tun, als er im Sinn hatte). Im Anschluss an das Liebesspiel beginnt die Phase der Regeneration: Entstandene ‚Schäden‘ müssen – durch notfalls auch medizinische Hilfe – behoben werden. Der Jüngling solle sich nun besser seiner Arbeit zuwenden sowie seinen Hunger und Durst stillen, aber nur mit Maß. Weder er noch seine ‚Eroberung‘ der vergangenen Nacht würden ein weiteres ‚Stell-dich-ein‘ erbitten. 371 Vgl. Knapp, De amore (Nachwort), S. 609; im Folgenden zitiert nach der kritischen Textausgabe von Becker, Pamphilus (1972). Garbaty, Pamphilus, S. 108, spricht von „one of the most influential and important of all the many pseudo-Ovidian productions concerning the ‚arts of love.‘“. Er verweist hierbei ebd., S. 108f., auf die zahlreichen Bezugnahmen in anderen literarischen Werken wie dem Roman de la Rose oder bei Chaucer. 372 Eine kleine Ausnahme bildet die inquit-Formel in Vers 71: Tunc Venus hec inquit: […]. Zur Episierung der mittellateinischen comoediae elegicae des 12. und 13. Jahrhunderts sowie zu deren Rezeption vgl. Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen, S. 323, der sie ebd. darüber hinaus als das „mittellateinische Analogon zum mittelhochdeutschen Schwank und altfranzösischen Fabliau“ bezeichnet. Zu den Beziehungen der ‚Komödien‘ mit der „Vaganten- und übrigen mittellateinischen

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um seine Nachbarin Galathea, welche ihn jedoch zunächst abweist. Nach einigem Hin und Her und der Vermittlung durch eine alte Kupplerin, welche auf geschickte Weise ein geheimes Treffen zwischen Pamphilus und Galathea einfädelt, wird letztere von diesem – trotz ihres Widerstands – entjungfert, woraufhin Galathea sowohl Pamphilus als auch der Kupplerin vorwirft, sie hintergangen zu haben. Der Text endet zwar mit der Aussicht auf eine Hochzeit beider, wobei hierdurch nur „schwach die frauenverachtende Haltung des Textes“ kaschiert werde, wie etwa Knapp schließt.373 Nachdem Pamphilus in einem ersten Monolog sein Liebesleid – mit sehr deutlichen Bezügen auf die Ovidtradition (u. a. Liebeswunde, verborgenes Liebesfeuer) – beklagt hat, wendet er sich an Venus, welche ihn in einer 72 Verse umfassenden Liebeslehre instruiert, wie Liebe zu erwerben sei. Die daraufhin folgende ‚Handlung‘ der elegischen Komödie, die ausschließlich aus teils recht langen Redepassagen besteht, spiegelt die einzelnen Schritte des durch Venus dargelegten Vorgehens wider; die Rede gibt somit den ‚roten Faden‘ für die weitere Handlung vor, weshalb auch die Entwicklung der Figurenbeziehung zwischen Pamphilus und Galathea von vornherein determiniert ist. Die Parallelen zur Liebeslehre der Pseudo-Ars amatoria werden hierbei sehr deutlich, wenn etwa das Auseinanderklaffen von Schein und Sein im Hinblick auf die Worte der puella und ihres ‚eigentlichen‘ Willens mehrfach betont wird: Die von ihm durch Bitten Umworbene werde sich zunächst ‚hart‘ zeigen, aber ihre ‚Härte‘ habe ein leichtes Gewicht (Quamque precando petes, prius aspera forte negabit, / Sed leve pondus habet illius asperitas, Vv. 75f.). Noch deutlicher heißt es im weiteren Verlauf der Rede: Sed quod habere cupit, hoc magis ipsa negat (V. 112)374 . Wenn sie sich zunächst seinen Worten gegenüber nicht wohlwollend äußere, solle er durch Kunstfertigkeit (ars – auch: Raffinesse) dennoch seinen Dienst fortführen, damit sie ihn begünstige (Ergo tuis primum si non favet ipsa loquelis, / Arte vel officio fac tamen, ut faveat, Vv. 81f.).375 Die Kunst der Rede als eine facundia dulcis stelle hierbei die notwendige Voraussetzung für einen Erfolg in Liebesangelegenheiten dar (Excitat et nutrit facundia dulcis amorem / Et mulcens animos mitigat ipsa feros, Vv. 107f.). Durch Raffinesse (sollercia) lasse sich ein Leben, das den Liebenden nicht Dichtung“ erläutert er ebd., S. 325: „Sie gründen vielmehr neben der Korrespondenz der Gattungen von Comedia und volkssprachigem Schwank in einer verwandten geistigen, vornehmlich intellektuellen Grundhaltung bestimmten Phänomenen gegenüber, in einer leicht distanzierten, überlegenen Einstellung und liberalen Haltung zur Tradition, auch wenn man an sie gebunden bleibt.“ 373 Knapp, De amore (Nachwort), S. 609. 374 Vgl. auch Vv. 129–131: Dum dubias dubio mentes in pectore versat, / An faciat vel non, nescia, velle tuum, / Tunc illam multo temptamine sepe fatiga. 375 Weiter heißt es ebd., Vv. 83–87, unter besonderer Betonung der Notwendigkeit einer ars: Ars animos frangit et firmas diruit urbes, / Arte cadunt turres, arte levatur onus; / Et piscis liquidis deprenditur arte sub undis / Et pedibus siccis per mare currit homo. / Rebus et in multis ars adiuvat officiumque.

‚Gesprächsanleitungen‘

als Werber empfehle, aufwerten, mit heiterer Miene solle er seine Tränen verdecken (Exiguo pulcram ducit sollercia vitam / Iocundoque suas ore tegit lacrimas, Vv. 117f.). Auf das manipulatorische Potential der durch den Mann vorgebrachten Worte wird durchgehend verwiesen. Die Häufigkeit, mit der über gesprochene Sprache reflektiert wird, und die zentrale Rolle, die Sprache für den ‚Liebeserwerb‘ spielt, sind überaus auffällig: Quod non es, simulare potes dictis habituque / Maxima sors parvo contigit ingenio (Vv. 119f.). Am Ende ihrer Rede empfiehlt Venus, die bereits erwähnte Kupplerin zu engagieren (Vv. 135ff.), und schließt mit dem Hinweis, dass Liebe auf unzähligen Wegen erworben werden könne (Inceptumque vijs mille patebit opus, V. 142). Pamphilus bringt daraufhin – nun wohl allein – ein weiteres Mal und trotz der von Venus gebotenen Hilfe sein Liebesleid zum Ausdruck, gleichwohl hofft er auf eine Begegnung und die Möglichkeit zu einer Unterhaltung mit Galathea. Als ihm diese tatsächlich über den Weg läuft, verschlägt es ihm zunächst die Sprache, aber dennoch überwindet er sich: Nec bene vox sequitur, sed tamen inde loquar (V. 162). Es beginnt nun ein Dialog zwischen beiden, Pamphilus wendet sich direkt an Galathea: Seine Cousine aus einer anderen Stadt sende ihr durch ihn Grüße: Alterius ville mea neptis mille salutes / Per me mandavit officiumque tibi (Vv. 163f.). Seine Eltern beabsichtigten, ihn mit einem wohl ausgestatteten Mädchen ([…] cum summa dote puellam, V. 169) zu verheiraten, das auch viele andere Vorzüge habe. Dennoch habe ihm Galathea als Einzige gefallen, für sie würde er alles auf der Welt hintansetzen: Omnia postposui: tu sola michi placuisti; / Respuerem pro te, quicquid in orbe manet (Vv. 171f.). Galathea nimmt diesen Annäherungsversuch zunächst nicht ernst, sie sprächen wohl nur im Scherz, wie es die Jugend zu tun pflege: Ludendo loquimur, loquitur sic sepe iuventus, Verbula mixta iocis iurgia nulla movent (»Wir sprechen im Scherz, so spricht oft die Jugend, / Wörtchen im Scherz führen zu keinen Streitereien«, Vv. 173f.). Pamphilus geht hierauf jedoch nicht weiter ein und wechselt recht abrupt die Sprechebene, indem er dazu auffordert, dass sie sich gegenseitig ihre Herzensgeheimnisse offenbaren mögen:

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Pamphilus: Sed modo dicamus cordis secreta vicissim Dictaque preter nos nesciat alter homo! Demus et inde fidem fieri sic! Postea dicam. Primitus incepi, primitus inde loquar. Nos modo concordes debemus vera fateri.

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Gracior in mundo te michi nulla manet. Ut te dilexi, iam ter pertransijt annus. Nostra nec ausus eram vota referre tibi. Tempore non longo loquitur sapiencia surdo Nosque diu frustra non decet inde loqui. Te constanter amo, modo plus tibi dicere nolo, Donec tu dicas, quid placet inde tibi.

Aber lass uns nun die Geheimnisse unserer Herzen gegenseitig offenbaren und nicht möge irgendein anderer Mensch, außer uns, das Gesagte kennen! Lass uns auch darauf Treue schwören! Danach will ich sprechen. Ich habe als Erster begonnen, als Erster will ich daher sprechen. Aber wir müssen darin übereinstimmen, nur Wahres zu bekennen. Nichts auf der Welt ist mir lieber als du. Schon drei Jahre sind vergangen, seit ich begann, dich zu lieben. Nicht hatte ich bisher gewagt, dir meine Wünsche darzulegen. Aber die Weisheit spricht nicht für lange Zeit zu einem Tauben und daher gehört es sich nicht, dass wir vergeblich für lange Zeit sprechen. Ich liebe dich beständig, nun will ich dir nichts mehr sagen, bis du sagst, was du davon hältst.376

Pamphilus setzt mit seiner Rede deutlich neu an: sed modo …, und unterstellt durch die wiederholte Verwendung der ersten Person Plural eine Gemeinschaftlichkeit zwischen ihm und Galathea (lass uns, wir müssen). Er lege großen Wert auf Geheimhaltung und eröffnet seine beständige Liebe zu ihr, fordert jedoch auch ein Geständnis ihrerseits. Galathea lässt sich auf diese Bitte nicht ein und spricht nicht ebenso wie Pamphilus in einem ihre Gefühle offenbarenden Modus:

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Galathea: Sic multi multas multo temptamine fallunt, Sic multas fallit ingeniosus amor. Infatuare tuo sermone vel arte putasti, Quam falli vestro non decet ingenio. Quere tuis alias incestis moribus aptas, Quas tua falsa fides et dolus infatuet!

376 Übersetzung hier und im Folgenden von S.R.; Übersetzungen ins Englische finden sich bei Garbaty, Pamphilus; Elliott, Pamphilus (in: Seven medieval Latin comedies), sowie Thomson/Perraud, Pamphilus (in: Ten Latin schooltexts); eine Übersetzung ins Italienische liefert Pittaluga, Pamphilus (in: Commedie latine del XII e XII secolo).

‚Gesprächsanleitungen‘

So täuschen viele viele (Mädchen) durch vielfache Versuche, so täuscht listige Liebe viele (Mädchen). Du hast geglaubt, diejenige durch deine Rede oder (vielmehr) Raffinesse austricksen zu                                                                                                                     können, für die es sich nicht gehört, durch Eure Cleverness getäuscht zu werden. Suche andere, für dein frevelhaftes Verhalten Geeignete, die deine falsche Treue und List betören können!

Galathea erklärt äußerst direkt und inhaltlich nicht auf Pamphilus’ Rede eingehend, dass ihr ein derartiges Sprechen junger Männer wohlbekannt sei; die listenreiche Liebe täusche auf diese Weise viele (multas). Sie selbst falle jedoch nicht auf die Raffinesse (ingenio) der Männer herein. Er habe wohl geglaubt, sie durch seine Rede und Kunstfertigkeit (tuo sermone vel arte) zu betören, wobei sie jedoch nicht von sich selbst in der ersten Person spricht; er solle sich andere suchen, die auf seine List hereinfielen. Wie in der ersten Äußerung der puella in der Pseudo-Ars amatoria findet sich auch hier somit ein durchgehend ablehnender Gestus. Pamphilus lässt sich auf den Vorwurf ein, beklagt jedoch, dass er für die Sünden anderer bestraft werde, obwohl dies nicht seine Schuld sei:

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Pamphilus: Sepius impediunt iustos peccata malorum; Hic nocet alterius, non mea culpa michi. Sed tamen auscultet me gracia vestra benigne, Et liceat domine dicere pauca mee! Inde Deum celi testor quoque numina terre, Non loquor ista tibi fraude vel ingenio. Hoc manet in mundo te non michi gracior ulla, Carius et nullam mens animusque videt. Sed loquor incassum: tua mens puerilis et etas, Quid nocet aut prodest, noscere nescit adhuc, Iunior antiqua quamvis sit acucior etas; Nam cum multa senes, plura vident iuvenes. Et quamvis iuvenis, fac, ut cognoscere possis, Quis sim, que mea res quisve meus sit amor! Cunctarum rerum prudencia discitur usu: Usus et ars docuit, quod sapit omnis homo. Ire, venire, loqui necnon dare verba vicissim,

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Esse simul tantum deprecor, ut liceat: Non nisi colloquio cognoscimus intima cordis. Ipsa referre potes, quid placet inde tibi.

Allzu häufig behindern die Sünden der Schlechten die Gerechten; nicht meine Schuld, sondern die eines anderen schadet mir nun. Aber dennoch möge mir Eure Wohlgefälligkeit nachsichtig Gehör schenken und es möge gestattet sein, meiner Herrin ein paar Dinge darzulegen! Ich schwöre beim Gott des Himmels und auch bei den Gottheiten der Erde, nicht sage ich dir dies mit Tücke oder Raffinesse. Das steht fest: Auf der Welt ist mir keine lieber als du, und auch mein Herz und Verstand sehen keine lieber. Aber ich spreche vergeblich: Dein Verstand und Alter sind noch jung und unerfahren, was schadet oder nützt, können sie bisher nicht erkennen, obwohl ein jüngeres Lebensalter eigentlich scharfsinniger als ein älteres ist. Denn wenn die Alten vieles sehen, sehen die Jungen mehr. Und magst du auch jung sein, versuche doch herauszufinden, wer ich bin, wie meine Verhältnisse sind und um was für eine Liebe es sich handelt! Klugheit wird erlernt durch Praxis: Praxis und Theorie haben das vermittelt, was jeder Mensch weiß. Ich flehe nur darum, dass es erlaubt sein möge, zu gehen, zu kommen, zu sprechen, Worte zu wechseln und zusammen zu sein: Nicht ohne eine Unterredung erkennen wir das Innere des Herzens. Du kannst ja nun selbst darlegen, was du davon hältst.

Galathea möge ihm nachsichtig zuhören und es möge ihm erlaubt sein, seiner Herrin (mee domine) ein paar Dinge darzulegen bzw. zu erklären. Er beschwört Gott und die Mächte der Erde, um zu bezeugen, dass er zu ihr weder in betrügerischer noch listenreicher Weise spreche, und bringt nun in Anknüpfung an seine vorangegangene Rede erneut im Register des Frauenpreises die Einzigartigkeit der Angesprochenen zum Ausdruck, wobei er teilweise einzelne Aussagen seiner ersten Rede variiert aufgreift: Gratior in mundo te michi nulla manet, (V. 180), Hoc manet in mundo te non michi gratior ulla (V. 199). Daran anschließend setzt er inhaltlich neu an und erläutert in einem erklärenden Gestus, dass Galathea aufgrund ihres jugendlichen Geistes nicht unterscheiden könne zwischen Böse und Gut. Er fordert sie daher auf, selbst herauszufinden, wer er sei und um was für eine Art von Liebe es sich handle, und verknüpft dies mit einer sentenzartig wirkenden verallgemeinernden Lebensweisheit: Usus et ars docuit, quod sapit omnis homo (V. 208). Seine Rede endet erneut in einem appellativen Modus: Er flehe darum, dass sie ihm erlaube, zu ihm zu kommen, um mit ihr zu sprechen und viel mit

‚Gesprächsanleitungen‘

ihr zusammen zu sein. Nicht ohne ein Gespräch könnten sie herausfinden, was sie im Inneren fühlten. Am Ende steht somit erneut der Wunsch einer gemeinsamen Unterhaltung. Wie zum Abschluss seiner vorausgegangenen Rede findet sich auch hier die Aufforderung an Galathea zu sagen, was sie davon halte, und zwar in wortwörtlicher Übereinstimmung: quid placet inde tibi (Vv. 186/212). Darüber hinaus artikuliert er ein zweites Mal den Wunsch, der bereits seine zuvor auf eine harsche Abweisung gestoßene Rede eröffnete: colloquio cognoscimus intima cordis (V. 211) – dicamus corda secreta vicissim (V. 175). Betont wird sein Verlangen nach einem Austausch von Herzensgeheimnissen, seine Argumentation ist hier auf das colloquium (dicamus) als zweite Stufe der lineae amoris konzentriert. Pamphilus Ausführungen in den Versen 193 bis 212 begründeten eben diesen bereits in den Versen 175 bis 186 vorgetragenen Wunsch, weshalb beide Reden argumentativ im Hinblick auf die Bitte um ein colloquium verbunden sind, wie auch durch die teils wörtlichen Parallelen hervorgehoben wird. Galathea macht nun ihrerseits deutlich, dass sie weder ihm noch irgendeinem anderen verbiete zu gehen (ire) und zu kommen (venire). Sie nimmt in einem verallgemeinernden Gestus wiederholt Bezug auf ein Verhalten, das sich gehört bzw. nicht gehört: convenit, licet, convenit, non decet … – die Sprechweise ist diesmal jedoch nicht durchgehend auf Ablehnung gerichtet:

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Galathea: Ire, venire, loqui tibi nec cuiquam prohibebo. Quisquis ubique vias iure viator habet. Convenit est et honor, ut det responsa petenti Et, quoscumque videt, queque puella vocet. Hoc concedo satis vel tu vel quilibet alter, Ut venias salvo semper honore meo. Auscultare licet et reddere verba puellis. Convenit ista tamen, ut moderanter agant. Verbula si dederis ludendo, verbula reddam; Sed si forte nocent, hec tibi non paciar. Nos simul esse petis, solos simul esse recuso. Non decet in solo nos habitare loco, Nam loca sola nocent, infamia nascitur inde. Tucius ergo loquar plebe vidente tibi.

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Zu gehen, zu kommen und zu sprechen werde ich weder dir noch irgendeinem                                                                                                               anderen verbieten. Jeder Wanderer hat überall das Recht, die Wege zu nutzen. Es gehört sich und ist ehrenhaft, dass jedes Mädchen dem Bittenden Antworten gibt und (mit Namen) anruft, wen auch immer sie sieht. Das garantiere ich hinlänglich, dass entweder du oder irgendein anderer (zu mir) kommen darf, (aber) immer unter Wahrung meiner Ehre. Auch ist es Mädchen erlaubt, zuzuhören und zu antworten. Es gehört sich dennoch, dass dies mit Maß geschieht. Wenn du Wörtchen zum Spaß gegeben hast, will ich mit Wörtchen antworten; aber wenn sie etwa schaden, will ich dir dies nicht zugestehen. Du bittest darum, dass wir uns gemeinsam treffen, ich lehne es ab, mit dir allein zu sein. Nicht gehört es sich, dass wir uns (gemeinsam) an einem einsamen Ort befinden, denn einsame Orte schaden, von dort entstehen Gerüchte. Daher will ich gefahrloser (nur dann) mit dir sprechen, wenn die Leute uns sehen.

Hierbei zeigt Galathea gegenüber Pamphilus bereits ein gewisses Entgegenkommen (ja, aber), formuliert jedoch klare Bedingungen: Er dürfe zu ihr kommen, aber nur unter Wahrung ihrer Ehre (salvo semper honore meo). Es sei einem Mädchen erlaubt zuzuhören und zu antworten, aber mit Maß (moderanter). Nicht gehöre es sich, mit ihm allein zu sein; eine Unterhaltung sei daher nur unter den Blicken der Leute gefahrlos möglich (plebe vidente). Pamphilus bedankt sich daraufhin überschwänglich und spricht zunächst nicht in einem appellativen Gestus – es scheint, als sei er nun zufrieden (nempe sufficit alloquium). Sie habe ihm große Gaben gewährt, zum Dank für so Großes wisse er sich nicht auszudrücken; mit Worten (verbis) sei er nicht in der Lage, angemessen zu danken (equari verbis non valet). Es deutet sich durch den expliziten Hinweis, dass Worte nicht genügten, bereits an, dass nun, nachdem die zweite Stufe des colloquium gewährt wurde, die nächste Hürde zu nehmen sein wird:

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Pamphilus: Non michi parva modo, sed munera magna dedisti, Nempe michi tantum sufficit alloquium. Hijs meritis dignas nequeo tibi reddere grates, Equari verbis non valet hoc meritum. Sed fortassis adhuc veniet tempusque diesque, Quo se monstrabit, si quis amicus erit. Ne tibi displiceat, non audeo dicere quicquam, Quamvis te peterem pauca libenter adhuc, Nos alternatim complexus, basia, tactus Ut dare possimus, cum locus affuerit.

Nicht nur kleine, sondern große Gaben hast du mir gegeben, wirklich, das Gespräch (mit dir) reicht mir voll und ganz. Ich kann dir für dieses Entgegenkommen nicht angemessen danken, dieses Entgegenkommen kann nicht mit Worten aufgewogen werden. Aber vielleicht wird irgendwann die Zeit und der Tag kommen, an dem sich zeigen wird, ob irgendeiner ein (wahrer) Freund sein wird. Nicht möge es dir missfallen, ich wage nicht, noch irgendetwas zu sagen, obwohl ich dich gerne noch um eine Kleinigkeit bitten würde, dass wir uns gegenseitig umarmen, Küsse und Berührungen schenken mögen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt.

Argumentativ knüpft Pamphilus nicht an die von Galathea genannten Bedingungen an, sondern erbittet ab Vers 233 – da sie ‚grundsätzlich‘ mit einem Gespräch einverstanden ist – unverblümt die nächste ‚Stufe der Liebe‘: Er wolle sie nicht verärgern, nicht wage er, noch irgendetwas zu sagen, dennoch wolle er sie noch um eine Kleinigkeit mehr bitten: dass sie sich doch gegenseitig Umarmungen, Küsse und Berührungen schenken mögen, wenn sich ein geeigneter Ort bzw. eine Gelegenheit ergebe. Galathea erklärt sich nun auch dazu bereit:

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Galathea: Quamvis illicitum complexus nutrit amorem Et fallunt dominam basia sepe suam, Hoc solum paciar, sed tu nil amplius addas, Nam cuiquam sine te talia non paterer. Sed modo de templo veniunt utrique parentes Et michi, ne causer, convenit ire domum. Tempora sat venient, pariter quibus ambo loquamur, Et memor interea quisque sit alterius.

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Obwohl eine Umarmung eine verbotene Liebe nährt und Küsse oft ihre Herrin täuschen, will ich dies allein zulassen, aber du darfst nichts mehr hinzufügen, denn nur dir würde ich solches zugestehen. Aber ausgerechnet jetzt kommen beide Eltern aus dem Tempel und es gehört sich für mich, nach Hause zu gehen, um nicht eine Ausrede finden zu                                                                                                                                           müssen. Es wird noch genügend Gelegenheiten geben, bei denen wir beide gemeinsam sprechen                                                                                                                                         können, und in der Zwischenzeit möge jeder von uns beiden des anderen gedenken.

Duldete sie zuvor lediglich gemeinsame Treffen unter den Blicken der Öffentlichkeit, gibt sie sich nun mit Umarmungen und Küssen einverstanden, obwohl eine verbotene Liebe hierdurch ‚genährt‘ und eine Dame oft getäuscht würde. Ihm allein würde sie dies gewähren, aber keineswegs mehr. Abgesehen von der Verwendung des Konjunktivs (patiar, paterer) ist die Einschränkung diesmal nicht auf das von ihr Gewährte an sich bezogen (Convenit ista tamen, ut moderanter agant, V. 220), es soll lediglich kein weiterer Wunsch mehr hinzukommen (Hoc solum paciar, sed tu nil amplius addas, V. 239). Wem außer ihm könne sie solches zugestehen! Bezogen auf Galatheas Äußerungen insgesamt ist insofern ein Muster zu erkennen, als der Ausdruck heftigen Widerstands in ihrer ersten Äußerung stückweise bricht: Während sie zunächst eine uneingeschränkte Ablehnung zum Ausdruck bringt (Vv. 187–192), nimmt sie in ihrer zweiten Rede fast durchgehend Bezug auf Dinge, die sich gehören bzw. nicht gehören, und betont (Vv. 213–226), dass sie sich an diese Regeln halte und innerhalb des Rahmens dieser ‚Ordnung‘ Pamphilus entgegenkommen wolle. In der nächsten Replik Galatheas entscheidet sie sich nun ganz direkt für einen ‚Regelverstoß‘, wenn es heißt: Quamvis illicitum …, patiar (Vv. 237–239). Ihre Argumentation ist hier somit überaus inkonsequent, worin sich das von Venus hervorgehobene Auseinanderklaffen von Schein und Sein andeutet. Pamphilus dagegen argumentiert durchgehend mit Blick auf ein Erreichen der einzelnen ‚Stufen der Liebe‘. Dem Dialog liegt somit eine klare Progression zugrunde, die auch deutliche Rückschlüsse auf die dargestellte Figurenbeziehung im Sinne einer zunehmenden Annäherung zwischen Pamphilus und Galathea zulässt. Die Unterhaltung bricht jedoch nach Vers 244 ab, da Galatheas Eltern bald aus dem Tempel kämen und es sich daher für sie gehöre, nach Hause zu gehen, um sich keine Ausrede ausdenken zu müssen. Es würden sich noch hinreichende Gelegenheiten finden, bei denen sie sich beide unterhalten könnten, und in der Zwischenzeit sollten sie aneinander denken, woraufhin Pamphilus – nun wohl wieder allein, da er von Galathea in der dritten Person spricht – überglücklich bekennt: Lecior in toto me non est nec fuit orbe (V. 245). Er macht dabei allerdings zugleich deutlich,

‚Gesprächsanleitungen‘

noch nicht am Ziel seiner Wünsche zu sein, weshalb er sich – wie von Venus empfohlen – an eine Kupplerin (anus) wendet, welche im weiteren Verlauf des Textes im Wechsel mit Pamphilus und Galathea spricht und zwischen beiden vermittelt. Letztere bringt in diesen Gesprächen erneut zahlreiche Bedenken und Sorgen vor, welche sie durch das trickreiche Agieren der Alten jedoch auch diesmal stückweise aufgibt, bis schließlich besagte körperlich-physische Liebeserfüllung – auch diesmal trotz des Widerstands der Umworbenen – zustande kommt. Gerade die Progression der dargestellten Figurenbeziehung in Richtung einer Liebeserfüllung zeichnet die ovidischen Dialoge der Komödie ebenso wie die Pseudo-Ars amatoria aus. Die Dialoge im De amore sind hiervon konzeptionell deutlich zu unterscheiden, eine stufenweise Entwicklung der dargestellten Mann-Frau-Beziehung ist nicht erkennbar. Die Äußerungen sind dabei auch sprachlich sehr viel enger verzahnt. 2.3.3

Werbungsgespräche in De amore

Immer wieder wird auf die engen Zusammenhänge des Facetus sowie der Comedia Latina mit dem drei Bücher umfassenden Werk De amore verwiesen377 , welches einem nicht eindeutig zu identifizierenden Andreas Capellanus zugeordnet wird378 . Gleichwohl lassen sich bei einer vergleichenden Betrachtung sehr deutliche Unterschiede sowohl im Hinblick auf das jeweilige Sprechen im Dialog als auch bezogen auf die zugrunde gelegte Liebeskonzeption erkennen. Im ersten Buch des Werks begegnen acht Dialoge zwischen Mann und Frau, die als Beispiele für Werbungsgespräche zwischen Personen unterschiedlicher ständischer Herkunft präsentiert werden. Beobachten lassen sich hierbei u. a. Techniken isotopischer Verknüpfung, der partiellen Anknüpfung zwischen einzelnen Dialogaussagen (z. B. ja, aber), der inhaltlich-sprachlichen Variation wiederholt verwendeter Aussageformen (dialogübergreifend und dialogintern) sowie die Unklarheit des Dialogausgangs. Während die Bücher 1 und 2 insgesamt den Erwerb und Erhalt der Liebe thematisieren, beinhaltet das dritte Buch in Form einer Revocatio eine Verwerfung der Liebe und

377 Vgl. u. a. Kretschmer, The love elegy, S. 278: „With numerous dialogues illustrating the amorous procedures, the elegiac comedies were literary repertories for approaching and seducing a woman. […] In both Facetus and De amore, the narrative goes directly from ars (Facetus 131–320/De amore 1–2) to remedia (Facetus 321–84/De amore 3), and both poems warn against seeking love among nuns or prostitutes (Facetus 133–40/De amore 1.8 and 1.12).“ Dronke, Pseudo-Ovid, S. 130, vermutet eine direkte Beeinflussung des De amore durch den Facetus. 378 Einschlägige Arbeiten zu Andreas Capellanus: Karnein, De amore; Schnell, Andreas Capellanus; Redzich, Höfische Liebeslehre, S. 17–40. Zu Überlieferung, Titel, Autorschaft und Entstehung des Textes vgl. u. a. Knapp, De amore (Nachwort), S. 593–603; Walsh, Andreas Capellanus, S. 1–3. Während lange Zeit eine Entstehung des Textes am Hof der Marie de Champagne in Troyes für wahrscheinlich gehalten wurde, überwiegen mittlerweile die Meinungen für den Ursprung des Traktats am französischen Königshof in Paris.

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stellt hierdurch sehr deutlich die Inhalte der ersten beiden Bücher infrage.379 Diese Ausgangslage fordert die Forschung zu immer wieder neuen Deutungsversuchen des Gesamtwerks und einzelner seiner Teile heraus, zumal bereits die literarhistorische Verortung aufgrund einer Vielzahl von Bezügen nicht eindeutig – und vor allem nicht einseitig – ausfällt. So verweisen die Thematik des Werks und dessen Strukturierung sehr eng auf ovidische Dichtungstraditionen – vor allem auf Ovids Ars amatoria und Remedia amoris. Zusammenhänge mit der volkssprachlichen Literatur und insbesondere mit Texten, welche Anteil an der Tradition ‚höfischer Liebe‘ haben, sind ebenfalls augenscheinlich380 , wobei jedoch die Möglichkeit einer direkten Auseinandersetzung mit bzw. Reaktion auf volkssprachliche Dichtung skeptisch betrachtet wird.381 Darüber hinaus lässt sich das Werk auch in kirchlichkanonistische Kontexte einordnen – Schnell spricht gar von einem juristischen „Ehetraktat“.382 Zahlreiche Verweise auf die lateinische amicitia-Tradition sowie 379 Vgl. das Inhaltsverzeichnis bei Knapp, De amore, S. VII–IX, als Strukturskizze des Gesamtwerks: Buch I: »Einführung in den Liebestraktat« (u. a. »Was die Liebe ist«), »Auf welche Weise die Liebe erworben wird und auf wieviel Arten« (acht Dialoge), »Von der Liebe der Geistlichen«, »Von der Liebe der Nonnen« u. a.; Buch II: »Auf welche Weise Liebe festgehalten wird«; Buch III: »Von der Verwerfung der Liebe«. 380 Vgl. u. a. die Geschichte vom Gewinn eines Sperbers am Ende des zweiten Buches. 381 Knapp, De amore, S. 129, Anm. 159, verweist beispielsweise zu Beginn des fünften Dialogs auf die „Liebeslyrikmotive der Fernliebe, des Herzenstausches und der inneren Schau der Geliebten“. Ein direkter Zusammenhang des Textes mit der volkssprachlichen französischen Literatur wird dennoch bezweifelt. Vgl. Neumeister, Spiel, S. 67, S. 108, Anm. 224; Jackson, Streit, S. 296; Karnein, De Amore, S. 155. Auch in Bezug auf eine Beeinflussung der deutschen Literatur durch den Traktat des Kaplans äußert sich die Forschung skeptisch. Vgl. erneut Karnein, ebd., wobei er jedoch zurecht die Frage stellt: „Warum könnte angesichts des dominanten Einflusses französischsprachiger Lyrik und Romane nicht auch ein lateinisch geschriebener Liebestraktat aus Frankreich rezipiert worden sein, und dies problemlos im Rahmen der zeitgenössischen Rezeptionsbedingungen, wobei erleichternd hinzukommt, daß der Weg aus dem Lateinischen ins Deutsche möglicherweise einfacher ist als aus dem Französischen?“ 382 Vgl. die umfassende Studie von Schnell, Andreas Capellanus, u. a. S. 86. In seiner Untersuchung zur Rezeption des römischen und kanonischen Rechts in De amore verdeutlicht Schnell, wie sich der Autor die bereitgestellten Diskurse aneigne und seinen eigenen Interessen anpasse. Er versucht hierbei nachzuweisen, dass zentrale Elemente des kirchlich-kanonistischen Ehediskurses auf die von Andreas präsentierte amor-Vorstellung übertragen würden, wodurch Andreas indirekt auf Parallelen zwischen höfisch-literarischem und kirchlich-kanonistischem Diskurs verweise. Skeptisch gegenüber Schnells These äußert sich Liebertz-Grün, Satire und Utopie, S. 219, und stellt ebd., S. 220, deutlich heraus: „Andreas vermittelt keine Doktrin, er gibt Denkanstöße und ermutigt seine Leserinnen und Leser, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.“ Auch wenn der Grad der Verbindlichkeit des von Schnell behaupteten Charakters des Werks als eines juristischen „Ehetraktats“ zu hinterfragen ist, sind seine Beobachtungen für ein angemessenen Verständnis des Textes dennoch von großer Bedeutsamkeit, machen sie doch dessen zahlreiche Verknüpfungen mit literarischen und außerliterarischen Diskursen deutlich. Den von Liebertz-Grün herausgestellten „spielerisch-subversiven Charakter“ (Satire und Utopie, S. 220) beobachtet zudem auch Schnell.

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die Misogynie-Literatur als Hintergrundfolie des dritten Buches finden sich ebenso wie Bezüge zur volkssprachlichen und lateinischen Minnekasuistik. Die Forschung plädiert daher immer wieder gegen eine einseitige Vereinnahmung des Werks für eine bestimmte Literaturtradition und betont den reflexiven Charakter des Textes.383 Gerade die Vielfalt der Anknüpfungsmöglichkeiten und Bezüge legt ein intellektuelles Interesse an unterschiedlichen Literatur- bzw. Diskurstraditionen nahe und scheint einer dogmatischen Verbindlichkeit des Textes – wie lange Zeit angenommen – entgegenzustehen384 , wodurch zugleich eine Gesamtinterpretation der Schrift erschwert wird. Vor allem die Ausführungen zu Erwerb und Erhalt der Liebe sowie die Revocatio des dritten Buches, wenn gegen die Liebe argumentiert und ein umfassender Katalog misogyner Frauenverachtung entfaltet wird – was freilich ebenfalls einen literarischen Topos darstellt –, sind nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Unterschiedliche Versuche werden unternommen, auch diese Gegensätzlichkeit durch Hinweise auf die Verwerfung der Liebe im Prolog des Gesamtwerks abzuschwächen.385 Während der Revocatio-Gedanke des dritten Buches im Text selbst auf eine christliche Lesart bezogen wird, betont das sich als Andreas präsentierende Text-Ich in Buch 3 den unterhaltenden Charakter der ersten beiden Bücher, wodurch eine gewisse Distanzierung von den dort präsentierten Inhalten erfolgt.386 Doch gerade der Umfang sowie die didaktischen Sprechmodi,

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Entscheidend für eine Deutung des Textes scheint, dass innerhalb des Traktats verschiedene Diskurse miteinander kombiniert werden. Vgl. Karnein, De Amore, S. 17, der allerdings den höfisch-literarischen Konnotationshintergrund stark betont, wenn er davon spricht, dass der Text „offensichtlich nicht ‚höfische Liebe‘ konstituierend angelegt ist, sondern sie reflektierend einem anderen zeitgenössischen Publikum vorführt“. Der Autor des Werks reagiere „als Intellektueller, Gebildeter auf diese Literatur, als einer, der mit Verblüffung feststellt, daß neben dem Sinnsystem lateinisch-universitärer Bildung und Literatur, das bislang allein gültig war, ein profanes Sinnsystem von Rittertum und Minne sich sprachlich verselbständigt hat, das nicht mehr mit simplen Verurteilungen zu erledigen war […]“ (ebd., S. 16). Vgl. auch ebd., S. 17f., sowie Schnell, Andreas Capellanus, S. 171: „Des Andreas De amore stellt so etwas wie eine Summe, eine Enzyklopädie über die Liebe dar: theologische, psychologische, medizinische, soziale, moralische und juristische Argumente und Aspekte über die Liebe werden hier zusammengetragen.“ Schnell glaubt allerdings durchaus auch ein Liebe ‚konstituierendes‘ Element in dem Text zu erkennen. Vgl. Jaeger, Ennobling love, S. 114, zum dritten Buch: „This kind of dissonance repeats well into the fabric of the ‚lessons‘ of book 1 and 2, and makes it impossible to speak of ‚Andreas’s‘ conception of love, or to derive a consistent doctrine of ‚courtly love‘ from this work.“ Vgl. die Aussage des Andreas-Ichs im Prolog, I,3–4, sowie ausführlich hierzu Schnell, Andreas Capellanus, S. 155–158, sowie Jackson, Streit, S. 297. Der lateinische Text und die deutsche Übersetzung werden hier und im Folgenden jeweils nach der zweisprachigen Ausgabe von Knapp, De amore/Von der Liebe, zitiert (kleinere Abweichungen im lateinischen Text sind kursiv gesetzt, Unterstreichungen durch S.R.). Vgl. De amore, III,1,2 [im Folgenden jeweils nur Angabe von Buch, Kapitel und Paragraphen bzw. Seitenangabe bei Knapp]: Taliter igitur praesentem lege libellum, non quasi per ipsum quaerens amantium tibi assumere vitam,

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mit denen in Buch 1 und 2 eine ‚Ars amatoria‘ dargeboten wird, deuten – trotz derartiger Relativierungen – auf eine Gesamtkonzeption des Textes hin, welche durch ein intendiertes Nebeneinander verschiedener, sich widersprechender Positionen gekennzeichnet ist, was einen deutlichen Bezug auf die sog. Minnekasuistik nahelegt, die bereits innerhalb der Bücher 1 und 2 und den dort verhandelten Minnekasus wie etwa der Frage, ob die obere oder untere Körperhälfte der Frau zu bevorzugen sei, eine wichtige Rolle spielt. Die dialogische Diskussion dilemmatischer Fragestellungen endet auch in den provenzalischen und altfranzösischen Streitgedichten häufig ergebnislos, eine die inhaltliche Gegensätzlichkeit auflösende Sinnfindung ist hier oftmals nicht möglich.387 Die lange Zeit gültige Deutung des De amore als eines ‚ernst zu nehmenden‘ „Traktats“ über das rechte Lieben gilt jedenfalls als problematisch. Schwierigkeiten der Einordnung entstehen dabei immer wieder dadurch, dass einzelne Textaussagen für eine Interpretation des gesamten Werks vereinnahmt werden; eine Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes, in dem eine Äußerung fällt, ist jedoch wesentlich.388 Dies gilt insbesondere für die acht Beispieldialoge des ersten Buches, welche als Gesprächsanleitungen zwar den Anspruch einer Lehrhaftigkeit erheben, dann aber – trotz des Bemühens um eine inhaltliche Kohärenz vorgebende Strukturierung durch das die Dialoge präsentierende Text-Ich – zahlreiche Widersprüche in der argumentativen Gestaltung der einzelnen Redebeiträge aufweisen. Vorgeführt werden Werbungsgespräche zwischen Männern und Frauen unterschiedlichen sozialen Status, die systematisch mit kurzen Einleitungen zur Erklärung versehen sind, woraufhin der eigentliche Dialog jeweils mit einer Äußerung des Mannes beginnt. Die didaktische Einbettung der Gespräche im Rahmen einer Gesprächsanleitung legt zunächst die Annahme eines Leitfadens für die Werbung

sed ut eius doctrina refectus et mulierum edoctus ad amandum animos provocare a tali provocatione abstinendo praemium consequaris aeternum et maiori ex hoc apud Deum merearis munere gloriari. 387 Häufig münden die Lieder auch in den Entschluss, gemeinsam einen Minnehof aufzusuchen, um dort die Streitfrage von einem Richter bzw. – wie in den meisten Fällen – von einer Richterin entscheiden zu lassen; der Urteilsspruch wird dann allerdings oftmals nicht mitgeteilt. Vgl. Hunt, Aristotle, S. 128: „dialectical structure of logic and authority applied to love […]“; Schnell, Andreas Capellanus, S. 167: „Frauenfeindliche Gedichte zu schreiben, gehörte zum literarischen Handwerk fast eines jeden ‚Gebildeten‘. Weil man aber die Frauen literarisch auch zu preisen lernte, entstand ein dialektisches Spiel von Frauenverherrlichung und -schmähung. […] Das 3. Buch ist als literarisches Spiel gedacht und für ein männliches Publikum geschrieben.“ In der volkssprachlichen Dichtung erfolge dann allerdings sehr häufig eine Relativierung solcher Frauenverschmähung, was sich durch ein weibliches Publikum dieser Texte erklären lasse. Vgl. außerdem ebd., S. 170: „Man sieht, die reprobatio amoris läßt sich an vielerlei Traditionen anschließen und unter vielerlei Aspekten betrachten […]. Nichts wäre De amore unangemessener, als nur eine Funktion oder Intention gelten zu lassen, alle anderen Assoziationen auszuschließen.“ 388 Vgl. hierzu u. a. Schnell, Andreas Capellanus, S. 25–33, S. 170.

‚Gesprächsanleitungen‘

um eine Frau nahe, wodurch ein theoretisch-reflexiver Anspruch erhoben zu werden scheint. Die Dialoge und die ihnen zugrunde gelegte Systematik nach unterschiedlichen Gesprächskonstellationen und klar gegliederten Kapiteln erwecken den Eindruck einer Art Sammlung von Argumenten und Argumentationsstrategien sowie deren Verwendungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Situationen – ganz im Sinne einer Art ‚Nachschlagewerks‘ oder argumentativen ‚Fundgrube‘. Eine didaktische Ausrichtung des Textes macht dieser selbst sehr deutlich, indem etwa wiederholt darauf hingewiesen wird, dass sich Mann und Frau auf diese Weise unterhalten „können“, wodurch die jeweilige Beispielhaftigkeit betont wird (vgl. u. a.: Post illa igitur extrinseca verba tali potes ratione procedere, I,6,25). Hervorzuheben ist hierbei, dass es sich nicht um eine bloße Aneinanderreihung von Argumentationsmustern oder Aussageformen nach klaren Strukturmerkmalen handelt, wie sie etwa aus manchen Briefstellern bekannt sind (Auflistung von Einleitungsformeln, Beispielsammlungen für eine captatio benevolentiae, Schlussformeln etc.). Ganz im Gegenteil: Mann und Frau beziehen sich sehr deutlich auf die Rede des anderen, stimmen partiell zu, schränken ein Entgegenkommen ein oder verweisen darauf, dass eine Entscheidung nicht möglich sei, und bringen ein neues Thema ein. Auch wenn sich dabei immer wieder recht abrupt wirkende Neueinsätze finden, dominiert insgesamt das Bemühen um die Gestaltung eines zusammenhängenden Dialogverlaufs. Dadurch, dass an manchen Stellen das die Dialoge präsentierende Text-Ich explizit auf die Austauschbarkeit der Argumente hinweist, kommen dennoch Zweifel an der Sinnhaftigkeit der bestehenden Systematik nach ständisch bestimmten Kategorien auf, zumal die Gespräche oftmals in ihrer Ausführung keine dem jeweiligen Stand entsprechenden Unterschiede aufweisen, sodass nicht immer klar erkenntlich ist, worin sich die Gesprächsführung im Hinblick auf die Angehörigen verschiedener Gesellschaftsstände unterscheidet.389 Es scheint daher weniger eine „Gegenüberstellung von verschiedenen, ständisch definierten Stilebenen“390 vorzuliegen als eine argumentative Variation unterschiedlicher Motive und

389 Vgl. hierzu Liebertz-Grün, Satire und Utopie, S. 222: „[…] andererseits zählen im Sprachspiel weder Rang noch Geschlecht, sondern nur die Treffsicherheit der Argumente und die Eleganz der Gedankenführung. Im Wechselspiel von Rede und Gegenrede sind die Argumente und die Argumentationstechniken letztendlich austauschbar. In den dialektischen Scheingefechten stellen die ‚personae‘ Mann und Frau gleichermaßen Esprit, Schlagfertigkeit, Redekunst, Witz und Ironie unter Beweis und erweisen sich so als intellektuell gleichrangige Partner.“ Vgl. u. a. I,6,123: Post multam ergo probationem, si dignus inveniatur, eligi in amore potest a nobiliori muliere plebeius, et eisdem omnibus possunt ad invicem inter se uti faminibus, quae supra in plebeii et nobilis mulieris sunt dicta colloquio. Potest etiam hoc alio uti sermone plebeius: […]. In den einleitenden Worten zum achten Dialog, I,6,402, heißt es: Ad multa igitur superius enarrata poterit hic praesens articulus adaptari, sicut diligens facile poterit lector advertere. Sed et hanc suis dictis poterit annectere formam: […]. 390 Ranawake, hübscher klaffe vil, S. 187.

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Aussageformen: Die Systematik nach gesellschaftlichen Gruppen übernimmt hier vielmehr eine dienende Funktion, um einzelne Argumente jeweils argumentativ neu zu positionieren und variativ der jeweiligen Situation im Gesprächsverlauf anzupassen. Auf dieser rhetorischen Dimension liegt ein sehr deutlicher Schwerpunkt des Textes. Durchgehend betont und explizit thematisiert wird innerhalb der drei Bücher des De amore die Bedeutsamkeit von Rhetorik in der Werbung, deren Erfolg von den rhetorischen Fähigkeiten des Mannes abhänge391 , weshalb die Belehrung gerade auf die Vermittlung geeigneter Redeweisen innerhalb der Werbung um eine Frau ziele, die »Gewandtheit der Rede« – und zwar der Rede des Mannes – bilde eine wesentliche Voraussetzung für den Gewinn von »Liebe«.392 Ihre Sonderstellung im Vergleich zu den übrigen vier Arten des Liebeserwerbs ist vor allem auch daran zu erkennen, dass die Bedeutung rhetorischer Fähigkeiten als Auslöser von Liebe noch einmal eigens erwähnt wird.393 Beredsamkeit als eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Werbung erfährt dann allerdings innerhalb der Dialoge selbst unterschiedliche Bewertungen, wobei jedoch stets die Perspektive des jeweils Sprechenden zu berücksichtigen ist, da die Aussagen in eine Werbungsbzw. Abwehrstrategie eingebunden sind. Einerseits wird betont, als wie bedeutsam sich Redegewandtheit für die Umstimmung einer unwilligen Frau erweise394 , die Frau dagegen kritisiert immer wieder den manipulatorischen Charakter der Rede ihres um Liebe bittenden Gesprächspartners. Der Mann verteidigt seine auf Redegewandtheit beruhende Vorgehensweise, spricht u. a. von cauto et implicato sermone (I,6,355) sowie von summo sapientiae verbi et ornatu linguae (I,6,507); er kritisiert dagegen, dass die Frau ihren Worten keine Taten folgen lasse.395 Häufig wird hierbei die Doppeldeutigkeit und Unverbindlichkeit rhetorischer Rede

391 Zunächst – innerhalb des einleitenden Abschnittes vor den Dialogen – verkündet die als Andreas bezeichnete Ich-Figuration, De amore I,6,1–2: Nunc igitur sequenti restat loco videre quibus modis amor sit acquirendus. Et quorundam fertur narrare doctrina quinque modos esse quibus amor acquiritur, scilicet formae venustate, morum probitate, copiosa sermonis facundia, divitiarum abundantia et facili rei petitae concessione. (2) Sed nostra quidem credit opinio, tantum tribus prioribus modis amorem acquiri […]. Vgl. hierzu auch Hunt, Aristotle, S. 126. 392 Vgl. hierzu auch die zahlreichen Formulierungen unter Gebrauch des Iussivs, u. a. I,6,21–25. 393 Vgl. De amore I,6,16: Sermonis facundia multotiens ad amandum non amantium corda compellit. Ornatum etenim amantis eloquium amoris consvevit concitare aculeos et de loquentis facit probitate praesumi. Quod qualiter fiat, quam brevi potero, curabo tibi sermone narrare. 394 Vgl. I,6,518: Homo ait: […] In hoc tamen vobis consentire non possum, quod maiorem aliquis tantummodo tacendo quam sua vota sapienter et curialiter exprimendo mereatur honorem […]. 395 I,6,414: Homo ait: Vos talia dicitis, qualia qui verbis tantum suos ditare studet amicos, rei autem ipsos intendit penitus effectu frustrare. Im weiteren Verlauf ist ebd. von blandi sermonis dulcedine die Rede, wodurch ein Freund getäuscht werde.

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beklagt.396 Die Notwendigkeit höflicher Ausdrucksweise und die Bedeutsamkeit von Rede als Voraussetzung für einen angemessenen Umgang miteinander stehen jedoch außer Frage – auch auf Seiten der Frau, welche ebenfalls über großes rhetorisches Geschick verfügt.397 Die Äußerungen des übergeordneten, sich als Andreas präsentierenden Text-Ichs sind allerdings nicht inhaltlich einheitlich gestaltet: Während die Wichtigkeit von Redegewandtheit für die Eroberung einer Frau im Prolog des ersten Buches betont wird, erfolgt eine deutliche Kritik an dem manipulatorischen Potential von Rhetorik innerhalb des Misogynie-Katalogs des dritten Buches, welches – zumindest vordergründig – als zu bevorzugendes Gegenmodell zu den ersten beiden Büchern dargestellt wird.398 Bereits im Prolog wird Walter vor der »Zungenfertigkeit« der Frauen gewarnt (De amore, 15), weshalb sich überlegen ließe, ob die Rhetorik des Mannes – aus Sicht des Andreas-Ichs – etwas Positives darstellte, während eine rhetorisch versierte Frau zu verurteilen sei. Da im dritten Buch die Inhalte der ersten beiden Bücher jedoch insgesamt infrage gestellt werden, sind ebenso die in diesen zu findenden Ausführungen zum Gewinn der Liebe durch rhetorisches Geschick anzuzweifeln. Es lassen sich somit sowohl eine Bewertung als auch ein gleichzeitiges Vorführen unterschiedlichster Arten eines stark rhetorisierten Sprechens erkennen, welches offenbar nicht funktional auf die Umsetzung eines durch den Rezipienten zu verwirklichenden und durch den Inhalt des Textes bestimmten Ziels gerichtet ist. Die Vermittlung und die damit einhergehende Vorführung einer rhetorischen Vorbildlichkeit der Werbung des Mannes um eine Frau scheinen folglich ebenfalls nicht das Kernanliegen des Werkes darzustellen. Der didaktische Gestus zur Darstellung der Inhalte der ersten beiden Bücher, welcher eine gewisse ‚Ernsthaftigkeit‘ des Gegenstands der Belehrung vorgibt, ist vor diesem Hintergrund vielmehr Teil des literarischen Spiels mit Anknüpfungen an unterschiedlichste Diskurstraditionen, zumal die ‚Ernsthaftigkeit‘ des didaktischen Rahmens ob des vermittelten Gegenstandes selbst desavouiert wird. Im Zentrum zu stehen scheint daher weniger die Frage, wie eine Frau durch Werbung zu gewinnen ist, sondern vielmehr die Ebene der Rhetorik selbst und ein Interesse daran, wie einzelne Argumente und überhaupt Gesprächsaussagen

396 Vgl. I,6,319: Homo ait: Quae proponitis verba, quamvis humanas videantur aures mulcere, tamen veritatis perquisita indagine sophistica palliatione teguntur […]; I,6,107: Mulier ait: Tanta tuos niteris errores tueri facundia, quod non esset mihi facile tuis supervacuis respondere sermonibus […]. 397 Vgl. I,6,525: Mulier ait: […] Ubi autem ipsa plenum habet petentem non amandi propositum, pulchre debet atque prudenter et curialiter ipsum suo sermone reiicere et eius animum nullius dicti asperitate turbare vel aliqua promissione suspendere. Vgl. auch I,6,78 sowie I,8,4, wo vor der rhetorischen Gewandtheit von Nonnen gewarnt wird. 398 Die Redegewandtheit wird hier als äußerst negativ und als eine große Gefahr selbst für den gebildeten Mann dargestellt (vgl. u. a. III,1,86–88).

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im Dialogverlauf variierend aufgegriffen und für die eigene Position nutzbar gemacht werden können. Vor allem die Art und Weise der Anknüpfung an die jeweils vorausgehende Aussage scheint dabei entscheidend, zumal es im Hinblick auf die inhaltliche Argumentation immer wieder zu Widersprüchen kommt – ein ‚roter Faden‘, der den inhaltlichen Gesprächsverlauf lenkt, ist oftmals nicht zu erkennen, wie u. a. Schnell anhand des siebten und achten Dialogs aufweist.399 Liebertz-Grün richtet das Augenmerk ebenfalls auf die Techniken der Argumentationsführung. Dass innerhalb der Dialoge zahlreiche inhaltliche Widersprüche begegnen, deutet sie in dem Sinne, dass weder „Sachprobleme noch die Künste der Verführung“ im Mittelpunkt stünden.400 Sie erkennt daher eine Anknüpfung an die „Spielregeln des dilemmatischen Streitgedichts, das aufgrund seiner formalen Struktur eine rein sachbezogene Diskussion unmöglich macht“401 , und betont den Vorrang formaler Strukturen bei der Dialoggestaltung. Sie schließt auf ein Interesse der Dialoge an „spielerisch-sophistischer Argumentation“402 und spricht von einem Vorführen „von Argumenten und Argumentationstechniken“403  – unabhängig von der Beispielhaftigkeit vorbildlicher Werbung um eine Frau. Der folgende Durchgang durch die Dialoge ist vor diesem Hintergrund auf einzelne Argumentationsmuster gerichtet, welche immer wieder neu aufgegriffen und – inhaltlich und sprachlich – variiert in die Argumentation eingebaut werden. Im Hinblick auf die poetischen Techniken der Verknüpfung und Gestaltung der jeweiligen Redebeiträge begegnen unterschiedliche Möglichkeiten, wobei bei weitem ein differenziert erklärender Sprechgestus dominiert. Es lassen sich dennoch unterschiedliche Strategien erkennen, welche zunächst kurz vorgestellt seien: (a) Die Mehrzahl der Redebeiträge kennzeichnet der genannte differenzierterklärende Sprechmodus, der Aussagen des vorangegangenen Sprechbeitrags sprachlich variativ aufgreift, diese dann jedoch durch häufig inhaltlich-thematische Erweiterungen oder definitorisch-terminologische ‚Spitzfindigkeiten‘ differenziert bzw. relativiert. Im zweiten Dialog heißt es beispielsweise:

399 Vgl. Schnell, Andreas Capellanus, S. 25–33, S. 137–154. Die Dialoge scheinen daher nicht den Anspruch zu erheben, einen tatsächlich in ähnlicher Form stattfinden könnenden Dialogverlauf abzubilden. Es sei denn, man nimmt an, es handele sich um eine galante Unterhaltung im Sinne des heutigen ‚Flirtens‘. Dass dies jedoch eher unwahrscheinlich ist, wurde bereits in den einführenden Äußerungen gezeigt. 400 Liebertz-Grün, Satire und Utopie, S. 220. Sie argumentiert ebd. zudem vor dem Hintergrund der unterschiedlichen ‚Rollen‘ der jeweiligen Figuren auch innerhalb einzelner Dialoge. 401 Ebd., S. 221. In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass nach dem Austausch von Pro- und Contra-Argumenten in der Regel keine Entscheidung folgt (außer im Anschluss an Dialog 7 mit dem Liebesurteil der Gräfin von Champagne, wobei jedoch auch hier unklar bleibt, ob die Werbung des Mannes Erfolg hat). 402 Ebd., S. 220. 403 Ebd., S. 221.

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(103) […] Nam quod dixi, amantem non debere distinguere, ita recipias, quia […]. (103) […] Denn meine Aussage, daß eine Liebende nicht „unterscheiden“ solle, sollst du so auffassen, daß […]. (Knapp, S. 72f.)

(b) Häufig geht diesen Begründungen eine kürzere Passage direkten Protests voraus, welcher einer Ablehnung des zuvor Gesagten Ausdruck verleiht und (noch) nicht differenzierend erklärt. Wichtig ist jedoch hierbei, dass sich daran in den meisten Fällen der differenziert erklärende Sprechmodus der Möglichkeit (a) anschließt: (439) Mulier ait: Quid est hoc, quod creditis, me nullius amoris unquam iacula persensisse? Numquid me tam vilem reputatis et probitatis moribus destitutam, ut meus non mereatur animus amoris solatia capere? [= ‚Protest‘, Erg. S.R.] Ad haec verba vestra videntur obvia legi et omni rationi contraria. Sufficit enim cuilibet, si dignus decernatur amari […]. [= Differenzierung, Erg. S.R.] (439) Die Frau sagt: „Was soll das, daß Ihr glaubt, daß ich nie die Pfeile einer Liebe empfunden habe? Haltet Ihr mich etwa für so verächtlich und bar sittlichen Wertes, daß mein Herz nicht verdient, die Ergötzungen der Liebe zu empfangen? Zudem scheinen Eure Worte dem Gesetz zuwiderzulaufen und jeder Vernunft entgegenzustehen. Es reicht nämlich für jeden aus, wenn er der Liebe würdig erkannt wird […].“ (Knapp, S. 262f.)

(c) Eine dritte Möglichkeit der Gestaltung eines Redebeitrags, die keinen direkten Widerspruch formuliert, ist eine zustimmende Fortführung des zuvor Gesagten, welche jedoch auf einem Missverständnis zu beruhen scheint (‚aneinander vorbei‘). Ein Beispiel hierfür findet sich etwa im fünften Dialog, in dem der Mann – wie auch häufig in der volkssprachlichen Dichtung – im Rahmen einer Liebesklage seinen eigenen Tod thematisiert. Im vorliegenden Fall spricht er seinen Träumen einen herzlichen Dank aus, die ihm ein Liebesglück zwar nur vortäuschten, dadurch aber am Leben erhielten und vor dem Zorn des Todes beschützten (§ 202), woraufhin seine Rede in den Appell an die Frau mündet, ihn von allen seinen Nöten zu befreien (§ 203). Diese fasst nun jedoch seine Äußerungen wörtlich auf: (205) […] Malo etenim ad vitae tibi conservanda gubernacula laborare quam mortis praestare causam vel homicidii incurrere crimen. (205) […] Ich will mir nämlich lieber Mühe geben, dir die Lebensführung zu bewahren als dir eine Todesursache zu liefern oder der Anklage wegen Mordes zu verfallen. (Knapp, S. 132f.)

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Der Mann gibt sich mit dieser Antwort aber nicht zufrieden und beharrt auf seinem Standpunkt, die metaphorische Sprechweise fortführend (§ 206–208).404 (d) Als weitere Möglichkeit begegnet darüber hinaus ein häufig abrupt wirkender inhaltlicher Neueinsatz; das zuvor Gesagte wird nicht genauer kommentiert oder hinterfragt, stattdessen folgt ein neues Thema, welches nicht in einem direkten inhaltlichen Zusammenhang zu dem zuvor Gesagten steht405 : (355) Homo ait: […] (358) […] Utraque igitur a vobis supposita ratio optima iacet responsione sopita et in nullo meis dictis valet obviare propositis. (359) Mulier ait: Etsi per omnia inveniamini dignus amari, nimis tamen ampla et aspera terrarum intercapedo nos disiungit, ut amoris vicissim praestandi solatia locum valeat et tempus idoneum opportunitas invenire. […] (355) Der Mann sagt: „[…] (358) […] So liegen beide von Euch beigebrachten hervorragenden Argumente auf dem Boden, von der Entgegnung eingeschläfert, und können in keinem Punkt den von mir vorgebrachten Worten Paroli bieten.“ (359) Die Frau sagt: „Wenn Ihr auch in allem würdig befunden würdet geliebt zu werden, trennt uns dennoch eine allzu weite und mißliche Entfernung der Länder, daß sich ein passender Ort und Zeitpunkt für die Gelegenheit, einander die Freuden der Liebe zu spenden, finden könnten. […]“ (Knapp, S. 210–213)

Die genannten Möglichkeiten decken zwar nicht das gesamte Spektrum der argumentativen Gestaltung ab und sind nicht immer klar voneinander zu unterscheiden, dienen jedoch als eine erste Orientierung. Zunächst soll deren Zusammenspiel anhand des e rste n D i a l o g s betrachtet werden, welcher als Gespräch zwischen

404 Ähnlich heißt es auch am Ende des vierten Dialogs: (191) Homo ait: […] (192) […] si me igitur tui amoris spe frustratum dimiseris, me protinus mortem subire compellis, cui tua postea nullatenus poterit prodesse medela, et ita poteris homicida vocari. (193) Mulier ait: Homicidium aliquod perpetrare non affecto; mihi tamen consilium nulla potest ratione negari […] – »(191) Der Mann sagt: ‚[…] (192) […] Wenn du mich also ohne Hoffnung auf deine Liebe fortschickst, zwingst du mich unverzüglich zu sterben, wogegen später dein Heilmittel keineswegs nützen wird können, und so wirst du Mörderin genannt werden können.‘ (193) Die Frau sagt: ‚Ich suche nicht irgendeinen Mord zu begehen; dennoch kann mir Beratung aus keinem Grund verweigert werden […].‘« (Knapp, S. 126f.). 405 Knapp, S. 211, Anm. 258, vermerkt: „Einer der seltenen Fälle, wo der Sieg eines Gesprächspartners im Redestreit dadurch eindeutig markiert wird, daß der andere Gesprächspartner nicht mehr repliziert, sondern abrupt das Thema wechselt.“ Vgl. auch ähnlich I,6,365–366, Knapp, S. 214–217: Nach einer Auseinandersetzung über Vor- und Nachteile einer Fernliebe und deren Geheimhaltung im siebten Dialog beendet die Frau auch hier abrupt die Diskussion und führt einen neuen Einwand an, indem sie auf ihren tadellosen Ehemann verweist. Vgl. außerdem ebd., S. 252f., eine entsprechende Passage aus dem sechsten Dialog.

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Bürger und Bürgerin (plebeius ad plebeiam) gestaltet ist und durch die folgendermaßen aufgebaute Aussage des Mannes eröffnet wird: Preis äußerer und innerer Qualitäten (Schönheit, Verstand) – Hinweis auf ein Defizit ohne Bezug auf den Mann selbst (ein Leben ohne Liebe) – indirektes Angebot des Mannes, das Defizit zu beheben (Liebe der Frau als Auszeichnung für den hier sprechenden Mann): Frauenpreis: (26) Quando te divina formavit essentia, nulla sibi alia facienda restabant: Tuo decori nihil deesse cognosco, prudentiae nihil, immo nil prorsus in te deficit quidquam, nisi quod tuo, ut mihi videtur, neminem ditasti amore. Überleitung (zur Lohnforderung): (27) Miror tamen plurimum, si mulierem tam formosam et tanta prudentia decoratam amor extra sua castra diu militare permittit. Bezug auf einen unbestimmten ‚Dritten‘: O, si inceperis militare amori, beatus erit ille super omnibus, quem tuo coronabis amore. Ich-Bezug, indirekte Lohnforderung: Nam si ego tanto meis meritis essem dignus honore, nullus in orbe vivens recte mihi esset coaequandus amator. (26) „Als dich das göttliche Wesen geformt hat, blieb ihm nichts mehr zu tun übrig. Ich sehe, daß deinem Liebreiz nichts fehlt, nichts deinem Verstand, ja bei dir herrscht geradezu gar kein Mangel, außer daß du niemanden, wie mir scheint, mit deiner Liebe beschenkt hast. (27) Dennoch wundere ich mich am meisten, wenn die Liebe eine so schöne und mit solchem Verstande gezierte Frau außerhalb ihres Lagers so lange Kriegsdienst leisten läßt. Oh, wenn du der Liebe zu dienen anfängst, wird derjenige vor allen selig sein, welchen du mit deiner Liebe krönen wirst. Denn wenn ich einer so großen Auszeichnung wert wäre aufgrund meiner Verdienste, wäre mir kein auf dem Erdkreis lebender Liebhaber mit Recht gleich zu achten.“ (Knapp, S. 34f.; kursivierte Ergänz./Hervorhebungen durch S.R.)

Die Frau greift in ihrer ablehnenden Antwort auf Formulierungen – vor allem in terminologischer Hinsicht – des Mannes zurück und formuliert hierbei direkte Einwände. Sie weist systematisch sowohl das Lob der Schönheit (Frau: mihi non sit pulchritudinis forma decora – Mann: Tu decori nihil deesse cognosco) als auch das der Klugheit (Frau: et quum sim ornatu sapientiae destituta, me tanquam prudentem tua verba commendant – Mann zuvor: formosam et tanta prudentia decoratam) zurück. Sie begründet ihre Haltung durch ihre Herkunft aus dem Volk (ex plebe),

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ein Aspekt, der von dem Mann bisher nicht thematisiert wurde. Diese ersten beiden Redepartien spiegeln eine in den acht Dialogen immer wieder begegnende Struktur wider: Die Dame repliziert, indem sie in ihrem ersten Redeteil inhaltlich und sprachlich auf wesentliche Aspekte der männlichen Rede eingeht. Der erste Teil der Antwort bringt in diesem Fall eine direkte Zurückweisung zum Ausdruck, die im zweiten Teil durch eine thematische Erweiterung, wie hier die Thematisierung der zuvor noch nicht angesprochenen gesellschaftlichen Herkunft, begründet wird. Der Mann geht nun in seiner Rede ebenfalls nacheinander auf alle drei Einwände (Klugheit, Schönheit, Herkunft) ein und wendet diese zu seinen Gunsten: Gemäß einem Sprichwort sei es eine Gewohnheit kluger Menschen (consuetudo sapientum), niemals selbst ihre Schönheit (formam) und ihren inneren Wert (probitatem) zu bekennen. Ebenso überlasse die Angesprochene, welche ebenfalls als klug (sapiens) bezeichnet wird, es anderen, sie zu loben: (30) Cuius proverbii tu quoque tanquam sapiens volens evitare sententiam te aliis tantum laudandam relinquis […]. (30) Auch du, die du als Kluge dem Urteil dieses Sprichworts entgehen willst, überläßt es nur anderen, dich loben zu müssen. (Knapp, S. 34f.)

Das von der Frau angeführte Argument fehlender Schönheit wendet der Mann ebenfalls zu seinen Gunsten, da dem Liebenden die Liebe auch eine hässliche Frau als sehr schön vor Augen stelle (Knapp, S. 37); eine Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Schönheit wird vorgenommen. Er widerspricht an dieser Stelle nicht direkt, sondern erläutert durch eine differenziertere Betrachtung der Ausgangslage, wenn er zwischen innerer und äußerer Schönheit unterscheidet.406 Den Einwand einer Herkunft aus dem Volk erklärt der Mann ebenfalls für nichtig, indem er den Unterschied zwischen Tugend- und Geburtsadel herausstellt. Die einfache Herkunft der Bürgerin lässt sich nicht leugnen, aber aus der thematischen Erweiterung der Gegenüberstellung von Tugend- und Geburtsadel – und somit aufgrund einer erneut differenzierenden Betrachtung – leitet sich ein Argument zugunsten des Mannes ab: (32) Dixisti etiam, te ex vili generi ortam. Sed in hoc longe maioribus te dignam fore laudibus ostendisti et maiori nobilitate gaudere, quum nobilitatem tibi non generis vel sanguinis propinavit origo, sed sola probitas et compositio morum digniori te nobilitatis specie ditaverunt.

406 Dass der Mann hier nicht von einer ‚objektiven‘ Schönheit der Frau spricht, ist durchaus auffällig (und unterhaltend).

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(32) Du hast auch gesagt, daß du aus einer niedrigen Familie stammst. Aber damit hast du gezeigt, daß du bei weitem größerer Lobsprüche wert bist und dich eines höheren Adels erfreust, da dir nicht der Ursprung der Familie oder des Blutes Adel geschenkt hat, sondern allein innerer Wert und sittliche Ausstattung (compositio morum) dich mit einer würdigeren Art von Adel beschenkt haben. (Knapp, S. 36f.)

Es erfolgt somit ein Rückgriff auf das bereits in der Einleitung zu den acht Dialogen vorgebrachte Argument der probitas als entscheidendes Kriterium für die Wahl eines Partners/einer Partnerin. Die Bedeutsamkeit des inneren Wertes (probitas) wird bereits vor dem ersten Dialog in einer Art allgemeineren Einführung wiederholt betont: Eine Frau solle sich einen Mann suchen, der durch morum probitas lobenswert sei; durch morum probitas werde Liebe erworben; wer probus sei, können seinen Partner/seine Partnerin nicht betrüben; morum probitas allein beschenke den Menschen mit wahrem Adel (vera nobilitate); der innere Wert allein (sola probitas) verdiene die Krone der Liebe (amoris corona).407 Der im ersten Dialog sprechende Mann greift hierbei explizit auf die Formulierungen der Einleitung zurück. Die Frau stimmt der Äußerung des Mannes nun zwar zu, indem sie ihre durch den Mann vorgebrachte Erhöhung wörtlich nimmt (‚Missverständnis‘), leitet hieraus jedoch gleichzeitig ein Gegenargument ab, da der Mann weiterhin »bürgerlich« bleibe und sie ihn somit überrage; dabei greift sie terminologisch erneut die Äußerung des Mannes auf (nobilitatis – nobilitate): (34) […] Si tanta sum nobilitate praeclara, ut tuis niteris sermonibus indicare, et quum sis plebeius, aliquam de plebe tuo studeas amori coniungere, et ego nobilis amorem mihi ex nobilitate requiram. Nobilitas enim et popularitas in diversis sexibus „non bene conveniunt nec in una sede morantur“. (34) […] Wenn ich von so großem berühmtem Adel bin, wie du dich mit deinen Worten bemühst aufzuzeigen, und da du bürgerlich bist, solltest du danach trachten, eine von deinem bürgerlichen Stande deiner Liebe zu verbinden, und ich als Adelige sollte mir

407 Vgl. I,6,8: Sapiens igitur mulier talem sibi comparare perquirat amandum, qui morum sit probitate laudandus […]; I,6,11: Morum probitas acquirit amorem in morum probitate fulgentem […]; I,6,11: […] Qui enim probus invenitur et prudens, nunquam facile posset in amoris semita deviare vel suum coamantem afficere turbatione; I,6,13: […] morum atque probitas sola est, quae vera facit hominem nobilitate beari et rutilanti forma pollere; I,6,14: Nam quum omnes homines uno sumus ab initio stipite derivati unamque secundum naturam originem traximus omnes, non forma, non corporis cultus, non etiam opulentia rerum, sed sola fuit morum probitas, quae primitus nobilitate distinxit homines ac generis induxit differentiam; I,6,15: […] Sola ergo probitas amoris est digna corona.

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eine Liebe von Adel suchen. Denn Adel und Volk bei Mann und Frau passen nicht gut zusammen und verweilen nicht auf einem Sitz.408 (Knapp, S. 36f.)

Der Mann wirft daraufhin jedoch – nachträglich und sich scheinbar ein wenig korrigierend – ein, dass schließlich auch die »Sitten« des Mannes diesen mit dem Vorzug des Adels glänzen lassen könnten (Knapp, S. 38f.). Er erweitert nun seine Argumentation insofern, als auch bei Menschen, die durch beide Formen des Adels (Tugend- und Geburtsadel) auffielen, derjenige zu bevorzugen sei, der durch den »Adel der Sitten« heraussteche (‚Differenzierung‘). Seine Äußerung mündet in einen Appell an die Frau: (39) Si ergo cognoscas, me morum nobilitate gaudere, tuam me versus probitatem inclina et dona mihi spem saltem tui tam diu desiderati amoris, ut vivere possim; non enim est spes ulla salutis, si de tuo me desperes amore. (39) Wenn du daher erkennen solltest, daß ich mich des Adels der Sitten erfreue, so neige deinen inneren Wert zu mir und gib mir wenigstens Hoffnung auf deine so lange ersehnte Liebe, damit ich leben kann; es gibt nämlich keine Hoffnung zu überleben, wenn du mich an deiner Liebe verzweifeln läßt. (Knapp, S. 38–41)

Erneut verfällt die Frau nun jedoch – diesmal in einer äußerst komprimierten Form – in ein bereits mehrmals an den Tag gelegtes Aussagemuster, indem sie – unter terminologischem Rückgriff auf die vorangegangene Äußerung (versus probitatem inclina – sis probitate laudandus) – eine partielle Zustimmung zum Ausdruck bringt, diese dann jedoch direkt einschränkt, indem sie nun ein völlig neues Themenfeld eröffnet (‚ja, aber‘) und das Alter des Mannes als Hinderungsgrund anführt: (40) […] Quamvis multa sis probitate laudandus, ego tamen iuvencula veterum horresco solatia. (40) […] Wenn du auch wegen des hohen inneren Werts zu loben sein solltest, schrecke ich als junges Mädchen doch vor den Liebkosungen409 alter Männer zurück. (Knapp, S. 40f.)

Der Mann reagiert nun erneut, indem er das von der Frau eröffnete Themenfeld aufgreift und dagegen argumentiert: Das Alter sei gewiss keine Sache, die man

408 Knapp, S. 37, Anm. 47, verweist im Hinblick auf dieses Zitat u. a. auf Ovid, Met. II,846. 409 Zu den Auffassungen des lateinischen Wortes solatia vgl. Knapp, S. 41, Anm. 51.

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tadeln müsse, da alle in gleicher Weise dazu bestimmt seien, einmal alt zu werden, und man nichts dafür könne. Das höhere Alter als Gegenargument der Frau wird somit in ein Proargument umgeformt, indem der Mann darüber hinaus erklärt, dass man in einer längeren Lebenszeit auch viel mehr Löbliches vollbringen könne. Auffällig ist hierbei ein erneuter Bezug auf die Klugheit der Angesprochenen, welche diesmal jedoch argumentativ anders eingebaut wird, da deren Erwähnung hier nicht dem Lob dient, sondern als Bedingung für ein Verständnis des von dem Mann angeführten Arguments genannt wird: […] (42) Ergo quod in meis tantum processi diebus, mihi nullatenus est adscribendum, et ideo in damnum mihi nequaquam cedere debet; immo amplius dico, quod, si sapientia te ulla detentat, aetatis prolixitas magnum mihi est argumentum pro tuo lucrando amore, quia in tam tempore longo laudabilia multa peregi […]. […] (42) Daher ist es mir durchaus nicht zuzuschreiben, daß ich in meinen Tagen so fortgeschritten bin, und soll mir deshalb keineswegs zum Schaden gereichen; vielmehr sage ich darüber hinaus, daß – sofern du noch mit irgendeiner Klugheit behaftet bist – gerade die Reife des Lebensalters ein gewichtiges Argument für den Erwerb deiner Liebe ist, weil ich in so langer Zeit viel Löbliches vollbracht […] habe […]. (Knapp, S. 40f.)

Die Äußerung mündet erneut in eine äußerst direkte Lohnforderung: […] ideoque magnis sum meritis dignus et retributione maxima honorandus. […] Und daher bin ich großen Lohnes würdig und muß mit dem höchsten Entgelt geehrt werden. (Knapp, S. 40f.)

Das Argument der Frau wird somit ins genaue Gegenteil gekehrt (Et econtra …): Gerade aufgrund seines hohen Alters sei er »eines so großen Geschenkes würdig«, »weil in einem kurzen Zeitraum nur sehr wenig Gutes getan werden kann« (Knapp, S. 40–43). Das Alter eines Menschen erkenne man schließlich nicht am grauen Haar, sondern am Herzen (ex corde). Diese Argumentation wird weiter ausgebaut, indem die Dauer des Dienstes thematisiert und die Jugendlichkeit des Werbers als Hinderungsgrund angeführt wird: (43) […] Eum autem, qui plus servit et obsequia plura facit, praemiis esse maioribus dignum quam qui pauciora laudabilia fecit, ex eo satis est manifestum, quod tam in coelestis curia regis quam etiam principum terrenorum omnes cernimus, iuris istius peritia censeri, ut qui plus servit, maiora praemia ferat.

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(43) […] Daß der aber, der mehr dient und mehr Dienste leistet, größerer Belohnungen wert ist als der, der weniger Löbliches vollbracht hat, ist aus folgendem hinlänglich klar: Wir sehen, wie ebenso am Hof des himmlischen Königs wie auch der irdischen Fürsten alle in Kenntnis dieses Rechts beurteilt werden, daß der, der mehr dient, größere Belohnungen davontragen soll. (Knapp, S. 42f.)

Die Argumentation wird hier durch einen Einschub des Andreas-Ichs unterbrochen: (46) Sed et, si sit aliquis forte nimia iuventute detentus, tali fortassis contra eum mulier utetur obiectu: […] (46) Aber auch, wenn einer vielleicht von allzu großer Jugend behindert ist, wird vielleicht eine Frau folgenden Einwand gegen ihn benutzen: […] (Knapp, S. 42f.)

Eine derartige Unterbrechung eines der Gespräche ist selten innerhalb der Dialoge, sie erklärt jedoch die sich im weiteren Verlauf des Dialogs ergebenden argumentativen Widersprüche (unter der Vorannahme eines zusammenhängenden Gesprächsverlaufs). Die Frau führt nämlich im weiteren Dialogverlauf ein genau gegenteiliges Argument als in Abschnitt 40 an, in dem es hieß, dass sie vor den »Liebkosungen« alter Männer zurückschrecke: (46) […] Non in te quidem illa perficitur aetas, qua digne possis amorem alicuius postulare prudentis; unde tua multum videtur arguenda temeritas, quod ea petis, quibus penitus reperiris indignus. Multa enim debet probitate gaudere multisque ipsum beneficiis iuvari oportet, qui dominae probioris petit amorem. (46) […] Nicht ist ja bei dir jenes Alter vollendet, aufgrund dessen du würdig die Liebe irgendeiner einsichtigen Frau fordern könntest; daran erkennt man deine überaus tadelnswerte Unbedachtsamkeit, daß du etwas forderst, dessen du völlig unwert befunden wirst. Eines hohen inneren Werts nämlich muß sich erfreuen und bedarf der Hilfe vieler guter Taten, wer die Liebe einer wertvolleren Dame erstrebt. (Knapp, S. 42–45)

Sie erklärt daraufhin, dass sie beim Angesprochenen noch keine »Anzeichen von innerem Wert« (probitatis indicia) erkannt habe, und fordert eine Tat ein, die der Belohnung für wert erachtet werden könne. Erneut bezieht sich der Mann auf die Klugheit der Frau: (49) […] Nisi te crederem ista ludendo narrasse, vel ut mihi verecundiae ruborem induceres, dicerem, tuam plurimum errare prudentiam. Profiteor etenim, quod magnis sunt

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digna praeterita facta muneribus, verumtamen univeris constat hominibus, quod nullum in mundo bonum vel curialitas exercetur, nisi ex amoris fonte derivetur. (49) […] Wenn ich nicht glaubte, daß du das im Scherz erzählt hast oder damit du mir die Schamröte ins Gesicht treibst, würde ich sagen, daß deine Klugheit in höchstem Maße irrt. Ich erkläre allerdings offen, daß die vorhergegangenen Taten großer Belohnungen würdig sind. Aber es ist doch jedermanns Überzeugung, daß auf der Welt niemand Gutes (bonum) oder Höfisches (curialitas) tut, außer es werde aus der Quelle der Liebe abgeleitet. Daher wird Ursprung und Grund alles Guten die Liebe sein. (Knapp, S. 44f.)

Seine Lohnforderung wird nun daraus abgeleitet, dass Liebe eine Voraussetzung für gute Taten sei (Argument zuvor: gute Taten als Voraussetzung für Liebeserfüllung): (50) […] Petitum itaque largiri debes amorem, ut benefaciendi causa mihi a te videatur indulta et per te valeam bonis moribus informari et stabili semper in firmitate durare. (50) […] Du mußt daher die geforderte Liebe spenden, damit der Grund, Gutes zu tun, mir von dir gewährt scheint und ich durch dich in guten Sitten ausgebildet werden und immer in unerschütterlicher Standhaftigkeit verharren kann. (Knapp, S. 44–47)

Der bürgerliche Mann stellt sich hierauf aufbauend im weiteren Verlauf als vollkommen unbescholten in Sachen Liebe dar und bittet – unter erneuter Betonung der Klugheit der Frau – um Belehrung durch diese: (52) […] Novus ergo miles amoris ac in amore rudis te mihi peto magistram et tua doctrina plenius erudiri. (53) Magno enim tibi adscribetur honori, si me rudem et indoctum tua feceris prudentia doctum. Rudes enim et indoctos tali decet amori servire. cuius industria incauta valeat obumbrari iuventus. (52) […] Als neuer Ritter der Liebe (miles amoris) erbitte ich dich also für mich als Lehrerin und um vollkommene Erziehung durch deine Lehre. (Knapp, S. 46f.) (53) Zu großer Ehre wird es dir nämlich angerechnet werden, wenn du mich Unerfahrenen und Ungelehrten durch deine Klugheit zum Gelehrten machst. Geziemend nämlich dienen Unerfahrene und Ungelehrte einer solchen Liebe, durch deren Bemühungen die sorglose Jugend beschützt werden kann. (Knapp, S. 46f.)

Die Frau dagegen argumentiert, dass Verdienste eine Voraussetzung für das Gewähren einer Liebesgunst seien – ein Argument, das der ältere Mann zuvor bereits ebenfalls zu seinen Gunsten anführte und welches nun eine vollkommen andere

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Funktion übernimmt, da es hier – aus der Perspektive der Frau – dazu dient, einen jungen Mann in die Schranken zu weisen: (54) […] Nam amoris praecepto docemur, ut qui plura bona facit, maiori debeat honore gaudere ac meritis pluribus adiuvari. Nam si tuos veros iudicemus esse sermones, suis actoribus benefacta nocebunt, et econtra aliis prodesse videbitur a beneficiis abstinuisse nullaque bona fecisse. (54) […] Denn durch die Vorschrift der Liebe werden wir belehrt, daß, wer mehr gute Taten vollbringt, sich größerer Ehre erfreuen und durch viele Belohnungen ermutigt werden soll. Denn wenn wir deine Rede als wahr anerkennen sollten, werden die guten Taten denen, die sie vollbringen, schaden, und umgekehrt wird es anderen anscheinend nützen, sich guter Taten enthalten zu haben und nichts Gutes getan zu haben. (Knapp, S. 46f.)

Auffällig ist auch hier, dass ein bereits bekanntes Argument, welches zuvor vom Mann angeführt wurde, um die Frau zu überzeugen, genau gegenteilig verwendet wird. Weiter oben argumentierte dieser, dass ein älterer Mann mehr gute Taten habe vollbringen können, woran die Frau anknüpft. Während es jedoch dem Mann oben darum ging, die Angesprochene von der Liebe zu einem älteren Mann zu überzeugen, argumentiert die Frau nun gegen einen jüngeren Mann, der ohne umfangreiche Verdienste erhört zu werden beansprucht. Zuvor hieß es in der Rede des Mannes: (43) Et econtra, si vixissem tempore brevi, non essem tanto munere dignus, quia tempore modico bona fieri paucissima possunt. Eum autem, qui plus servit et obsequia plura facit, praemiis esse maioribus dignum quam qui pauciora laudabilia fecit, ex eo satis est manifestum […]. (43) Und im Gegenteil, wenn ich nur kurze Zeit gelebt hätte, wäre ich nicht eines so großen Geschenkes würdig, weil in einem kurzen Zeitraum nur sehr wenig Gutes getan werden kann. Daß der aber, der mehr dient und mehr Dienste leistet, größerer Belohnungen wert ist als der, der weniger Löbliches vollbracht hat, ist aus folgendem hinlänglich klar […]. (Knapp, S. 40–43)

Die Ausführungen offenbaren hierbei eine große Variativität des sprachlichen Ausdrucks. Auch wenn ähnliche Formulierungen aufgegriffen werden, ist ein Bemühen um terminologische und syntaktische Abwechslung zu erkennen:

‚Gesprächsanleitungen‘

(54) (43) docemur, ut qui Eum autem, qui plura plus bona facit, servit et obsequia plura facit, maiori debeat honore gaudere ac praemiis esse maioribus dignum meritis pluribus adiuvari   (vgl. die Unterstreichungen in den beiden zuvor angeführten Zitaten)

Der Mann jedoch versucht ein weiteres Mal ihre Argumentation zu widerlegen, indem er – in erneuter thematischer Erweiterung und Differenzierung – erklärt, dass derjenige, welcher jung sei und noch nicht die Gelegenheit gehabt habe, gute Taten zu vollbringen, demjenigen vorzuziehen sei, der schon älter sei und gute Taten vollbracht habe, da durch das Gewähren der Liebe für die Welt neue gute Taten vollbracht würden, wenn der jüngere Mann durch die von der Frau gespendete Liebe zu guten Taten bewegt werde (Knapp, S. 48f.). Der Mann erweitert nun jedoch seine Argumentation durch eine erneute Differenzierung, indem er sich auf die fünf Stufen der Liebe bezieht. Diese thematische Erweiterung wirkt inhaltlich nicht motiviert, verkompliziert vielmehr die Argumentation und liefert der Frau erneut Anknüpfungsmöglichkeiten für ein Gegenargument (Differenzierung). Zunächst erklärt er: (59) Quod autem dixi, eius, qui nulla bona fecit, amorem potius eligendum, quam qui bona plurima peregit, hoc non in quarto gradu sed in tribus praecedentibus gradibus interpreteris amoris. […] (59) Meine Aussage aber, die Liebe dessen, der keine guten Taten vollbracht hat, sei eher zu erwählen als die Liebe dessen, der sehr viel Gutes ins Werk gesetzt hat, sollst du nicht auf die vierte Stufe der Liebe, sondern auf die drei vorangehenden deuten. […] (Knapp, S. 48–51)

Die Verkomplizierung läuft der eigenen Argumentation des Mannes scheinbar zuwider, da er die Möglichkeit des Vorzugs eines älteren Mannes unter einer bestimmten Bedingung eröffnet, was seinen Interessen als jüngerem Werber widerspricht: (61) Quod asserui ergo: Si duo sint, quorum unus plurima, alter vero nulla bona fecit, illius, qui nulla bona fecit, potius est eligendus amor, non intelligere debes in quarto gradu, id est in totius personae concessione, sed in primo, id est in spei largitione. (62) Nam si statim mulier velit quarti gradus amantem eligere sine deliberationis dilatione, potius eum, qui plurima bona fecit, quam qui nulla, sibi expedit amantem eligere; et hoc

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ideo, quia de illius est bonitate secura, de istius vero nequaquam, et pro certis saepius non incaute relinquuntur incerta. (61) Was ich also behauptet habe – wenn es zwei gibt, von denen einer sehr viele gute Taten vollbracht hat, der andere aber keine, so ist eher die Liebe desjenigen zu wählen, welcher keine guten Taten vollbracht hat – das darfst du nicht verstehen in Bezug auf die vierte Stufe, d. h. die Hingabe der ganzen Person, sondern auf die erste, das heißt auf die Gewährung der Hoffnung. (Knapp, S. 50f.) (62) Denn wenn eine Frau sofort einen Liebenden auf der vierten Stufe wählen will ohne Zögern zur Überlegung, ist es für sie besser, eher den Liebenden, der mehr gute Taten, als den, der keine vollbracht hat, zu wählen; und das deshalb, weil sie der Qualität des ersten, des anderen aber keineswegs sicher ist und weil man öfter gerade mit Vorsicht zugunsten des Sicheren das Unsichere aufgibt. (Knapp, S. 50f.)

Dennoch lässt sich daraus ableiten, dass die Frau einen jüngeren Mann durchaus erhören könne, wenn er Lohn auf der Ebene der ersten drei Stufen einfordere. Begründet wird diese Aussage dadurch, dass sich eine Frau bis zur dritten Stufe ohne Schande zurückziehen könne; von der vierten Stufe sei jedoch ein solcher Rückzug nicht ohne weiteres möglich. Daran anschließend greift der Mann das zuvor von der Frau angeführte Argument auf, dass sie lieber einen gelehrten Geliebten erwähle als einen zu belehrenden.410 Diese Meinung sei jedoch aus Sicht des Mannes zu verwerfen, da ein durch die Mühe der Frau belehrter Mann zu größerer Freude führe: (65) […] dulcior enim cuilibet fructus sapere debet ex propria plantatione perceptus, quam qui ex alieno arbore assumitur, et carius habetur, quod pluribus est laboribus acquisitum, quam quod sollicitudine modica possidetur; nam: „Absque labore gravi non possunt magna parari“. (65) […] Süßer nämlich muß jedem die Frucht schmecken, die aus eigener Pflanzung geerntet wurde, als die von fremdem Baum genommen wird, und lieber hat man, was mit mehr Mühen erworben wurde, als was man nach wenig Beschwernissen besitzt; denn: ‚Ohne schwere Mühe kann man nichts Großes erreichen.‘ (Knapp, S. 52f.)

410 (55) Sed dicis in hoc mea te velle disciplina doceri; hunc autem penitus recuso laborem, quia magis doctus videtur eligendus amor, quam qui meo labore est docendus. […] – »(55) Aber du sagst, du wollest in diesem Punkt von meiner Lehre unterrichtet werden; diese Mühe aber weise ich entschieden zurück, weil die Wahl eines Gelehrten zum Liebhaber wohl der Wahl eines Mannes vorzuziehen ist, der erst durch meine Mühe belehrt werden muß. […]« (I,6,55; Knapp, S. 46f.).

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Die Frau bezieht das Argument der Wertsteigerung durch eigene Anstrengung nun jedoch auf den Mann selbst. Während dieser zum Ausdruck brachte, dass sie durch ihre eigene Mühe (tuo labore – bezogen auf Frau, vgl. Knapp, S. 52) Großes erreichen könne, erklärt sie nun ihrerseits, dass der Mann unablässig große Mühen auf sich nehmen müsse, um Großes zu erreichen. Ähnlich formte sie bereits weiter oben das Argument des Tugendadels zu ihren Gunsten um (wenn sie aufgrund ihrer Tugend so angesehen sei, müsse sie einen Gleichwertigen – und folglich nicht den Angesprochenen – erhören). Die Erklärung des Mannes wird somit nicht infrage gestellt, jedoch in eine Richtung gelenkt, die seiner argumentativen Strategie entgegenläuft. Auffällig ist auch hier die wortwörtliche Bezugnahme auf die unmittelbar vorausgehende Äußerung des Mannes, welche diesmal in einen Konditionalsatz eingefügt ist: (66) Mulier ait: Si absque gravi labore magna parari non possunt, quum id, quod postulas, sit de maioribus unum, multis te oportet laboribus fatigari, ut ad quaesita munera valeas pervenire. (66) Die Frau sagt: „Wenn man ohne schwere Mühe nicht Großes erreichen kann, mußt du, weil deine Forderung eine von den größeren ist, unablässig viele Mühen aufwenden, um zu den geforderten Gunstbeweisen gelangen zu können.“ (Knapp, S. 52f.)

Der Mann fasst dies abschließend als eine Zusage auf, eine Antwort der Frau findet sich nicht mehr hierauf. Von einem derartigen Entgegenkommen der Frau war jedoch gar keine Rede, sie formulierte lediglich eine Aufforderung an den Mann – in auffälliger Weise in Abhängigkeit von einem Konditionalsatz, nicht ausdrücklich in Form einer Forderung ihrerseits (s. oben: Wenn …, musst du …). Der Mann unterstellt der Frau somit, dass sie ihn erhören werde, auch wenn sie (zunächst) Widerstand leiste. Es wäre nämlich sehr unwahrscheinlich (verisimile), dass eine Frau jemandem ihre Liebe plötzlich (repente) schenken würde, was im Umkehrschluss bedeutet, dass der Mann von einer Liebeserfüllung zu einem gewissen Zeitpunkt ausgeht. Eine Antwort der Frau bleibt aus, sodass der Dialog mit dieser Zuversicht des Mannes endet (Knapp, S. 52–55). Der Durchgang durch den ersten Dialog zeigt, wie der Gesprächsverlauf fast durchgehend dadurch aufrechterhalten wird, dass durch inhaltlich und sprachlich variierende Techniken der Anknüpfung an eine vorausgehende Äußerung die dort jeweils angeführten Argumente im Sinne des jeweils Sprechenden umgeformt werden (anderer Bezug, thematische Ergänzung). Dabei wird im Dialogverlauf wiederholt auf bereits verwendete Argumente in veränderter Form zurückgegriffen. Diese Beobachtung lässt sich auch in den folgenden sieben Dialogen machen, welche immer wieder auf Argumente des ersten Dialogs zurückgreifen. Dabei erfolgt jeweils eine Anpassung an den inhaltlichen

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Kontext, wenn sich zum Beispiel die Figurenkonstellation ändert und somit das gesellschaftliche Rangverhältnis zwischen Mann und Frau. Dem soll nun punktuell im Hinblick auf wiederkehrende Aussagemuster und ihre jeweilige Einordnung in die Argumentation nachgegangen werden. Im z we ite n D i a l o g – »dem Gespräch zwischen einem Bürger und einer Adeligen« – wird erneut das Standesargument aufgegriffen. Der Mann argumentiert hier ebenfalls, dass eine »Ungleichheit des Blutes« (sanguinis inaequalitatem) im »Heer der Liebe« (amoris exercitu) keine Rolle spiele (I,6,71); die Liebe pflege die Männer nicht mit einem »Trennungsstrich« (discretionis stilo) zu unterscheiden (I,6,71). Diesmal will der Mann die Frau jedoch davon überzeugen, ihn als ihr gesellschaftlich Unterstellten zu erhören; im ersten Dialog zwischen Bürger und Bürgerin ging es noch um eine Erhöhung der Angesprochenen. Es hieß hier, dass nicht der Ursprung des Blutes (sanguinis origo) entscheidend sei, sondern die compositio morum, bezog sich doch der Mann auf die Aussage der Frau, dass sie aus dem einfachen Volk (ex plebe) stamme. Die Dame des zweiten Dialogs hält nun jedoch an der naturgegebenen Ordnung fest (ordines in hominibus ab antiquo statutos, I,6,79; inter homines ordinum reperta distinctio, I,6,80; sui ordinis finibus, I,6,80), um zu erklären, warum sie den niedriger gestellten Bürger nicht erhören könne (I,6,78–81). Sie greift dabei Formulierungen des ersten Dialogs auf, um den gesellschaftlich ihr untergeordneten Bürger in die Schranken zu weisen. Es offenbart sich somit sehr deutlich eine Flexibilität der einzelnen Argumente, die je nach Kontext unterschiedlich angepasst und für die jeweiligen argumentativen Zwecke funktionalisiert werden. Gerade hierin könnte ein Grund für die Zuordnung der Dialoge zu unterschiedlichen ständischen Personengruppen liegen. Die Frau veranschaulicht ihre Argumentation daran anknüpfend durch eine Vogelmetaphorik, die in den weiteren Dialogverläufen ebenfalls wiederholt aufgegriffen wird. Sie fragt im Anschluss an die Feststellung, dass Standesgrenzen nicht überschritten werden sollten, ob ein Kleinfalke (lacertiva avis) ein Rebhuhn (perdix) oder einen Fasan (fasianus) jemals durch seine Kraft besiegen könne (vgl. Übersetzung Knapp). Diese Beute solle durch Habichte (astures) oder Gerfalken (falcones) gemacht werden, welche wiederum nicht durch den Kleinmut der Gabelweihen (milvi) – eine ebenfalls als schwächer zu gelten scheinende Vogelart – beunruhigt werden sollten, die sich nicht auf eine für sie zu große Beute stürzen sollten. Die Frau im zweiten Dialog argumentiert insgesamt gegen den vom Mann verteidigten Tugendadel und plädiert für eine Einhaltung der Ständeordnung; sie will sich nicht auf den ihr durch Geburt untergeordneten Bürger einlassen. Es soll betont werden, dass jeder Vogel die ihm durch seine naturgegebene Kraft zugeordnete Vogelart fangen möge. Der Mann wäre hier in Analogie zum schwächeren Vogel zu setzen, dem es nicht anstehe, sich auf eine für ihn zu große Beute zu stürzen:

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2. Dialog: (82) Numquid enim lacertiva avis perdicem vel fasianum sua potuit unquam superare virtute? Falcones igitur vel astures hanc decet capere praedam non autem a milvorum pusillanimitate vexari. Tua igitur est multum fatuitas cohibenda, quod alti generis indignus tibi quaeris amantem. (82) Konnte denn etwa ein Kleinfalke ein Rebhuhn oder einen Fasan jemals durch seine Kraft besiegen? Gerfalken also oder Habichte sollen diese Beute fangen, nicht aber durch den Kleinmut von Gabelweihen beunruhigt werden. Deine Torheit muß man also dringend davon abhalten, dir, einem Unwürdigen, eine Geliebte von hoher Abkunft zu suchen. (Knapp, S. 60–63)

Der Mann des zweiten Dialogs knüpft in seiner Antwort an die Vogelmetaphorik an, um hieraus eine Aufwertung seiner selbst abzuleiten. Terminologisch greift er eng auf die von der Frau angeführten Vogelarten zurück: Genannt werden Gabelweihe (milvus) und Kleinfalke (lacertiva), die Begriffe falcones und astures werden in den von ihm angeführten Ausdrücken »Sperber- und Falkenstange« (asturnia et falconia) aufgegriffen. Er selbst wolle mit dem ehrenwerten Wort ‚Falke‘ (falconis vocabulo) bezeichnet werden, den die Frau ebenfalls nannte. Der Mann möchte betonen, dass er durch seinen sittlichen Wert durchaus als Adeliger – als Falke – zu gelten habe, auch wenn er durch seine Geburt diese Bezeichnung nicht zu verdienen scheint – deutlich wird hier der Vorrang des Tugend- vor dem Geburtsadel abgerufen: 2. Dialog: (101) Si ergo milvus et lacertiva avis arditus reperitur et audax et a suis degenerare parentibus, asturnina et falconina est dignus pertica honorari et militari laeva deferri. Si me igitur noveris a meis degenerare parentibus, non contumeliosa milvi appellatione vocandus reperior, sed honorabili falconis vocabulo nuncupandus exsisto. (101) Wenn also eine Gabelweihe bzw. ein Kleinfalke feurig, kühn und abweichend von den Eltern befunden wird, ist er würdig mit der Sperber- und Falkenstange ausgezeichnet und auf der Linken eines Ritters getragen zu werden. Wenn du also weißt, daß ich von meinen Eltern abweiche, darf man mich nicht beim schimpflichen Namen Gabelweihe rufen, sondern muß mich mit dem ehrenhaften Wort Falke bezeichnen. (Knapp, S. 72f.)

Die Frau knüpft erneut an die Vogelmetaphorik an und behaart auf ihrem Standpunkt der Einhaltung von Standesgrenzen:

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(110) Praeterea, licet falco a lacertiva ave quandoque fulgetur, nihilominus falco inter falcones et lacertiva avis inter lacertivas computabitur aves; ille tamen vilis falco, ista vero optima lacertiva vocabitur avis. (111) Sic et tua te probitas non in nobilium facit ordine stare […]. (110) Außerdem wird, mag der Gerfalke mitunter auch von einem Kleinfalken in die Flucht geschlagen werden, der Gerfalke nichtsdestoweniger unter die Gerfalken und der Kleinfalke unter die Kleinfalken gerechnet; jener wird jedoch ein wertloser Gerfalke, dieser aber ein hervorragender Kleinfalke genannt werden. (111) So räumt auch dein innerer Wert dir keine Stelle im Stand der Adeligen ein […]. (Knapp, S. 76–79)

Im v i e r te n D i a l o g (»Ein Adeliger zu einer Bürgerin«) wird die Vogelmetaphorik ein weiteres Mal aufgegriffen. Der hier sprechende Mann möchte bekräftigen, dass der innere Wert einer Bürgerin mehr gelobt werden müsse als der einer Adeligen; strategisch geht es ihm hier um die Überredung einer ihm gesellschaftlich untergeordneten Frau. Als ruhmvoller gelte es ihm zufolge, wenn der Fasan (fasianus) von einem Sperber (accipiter – kleinerer/schwächerer Vogel) als von einem Hühnerhabicht (asturis – größerer/stärkerer Vogel) gefangen werde. Die Leistung des Sperbers wäre in diesem Fall höher anzusetzen – so lässt sich schließen –, da er eine für seine im Verhältnis zum Hühnerhabicht geringere Stärke größere Tat vollbringen würde. Bei einer im Hinblick auf die Abstammung untergeordneten – also nicht adeligen – Frau wäre folglich ebenso der innere Wert lobenswerter, wobei dieser Bezug nicht so explizit in den Ausführungen des Mannes hergestellt wird. Die einfache Bürgerin lässt sich hier in Analogie zum Sperber setzen, welcher einen Fasan fange. Da sie aus einer vermeintlich schwächeren Position heraus Größeres zu vollbringen scheint, sei doch ihr innerer Wert lobenswerter als bei einer durch Geburt höher gestellten Adeligen: 4. Dialog: (173) […] Sed in plebeia probitas ex solius animi innata virtute optima mentis dispositione procedit, et sic quasi naturale censetur. (174) Tua igitur non possunt exempla procedere, unde merito dicendum credo, magis in plebeia quam in nobili probitatem esse laudandam. Carior enim reputatur fasianus ab accipitre quam ab asture captus, magisque meretur praemium, qui plus, quam debet, exsolvit, quam qui, quod praestare tenebatur, exhibuit. (173) […] Aber bei einer Bürgerin geht der innere Wert aus den angeborenen Vorzügen (virtus) nur des Herzens (animus), aus der optimalen Anlage des Geistes, hervor und wird so gleichsam als natürlich betrachtet. (174) So können deine Beispiele keinen Erfolg haben, weshalb meiner Meinung nach mit Recht gesagt werden muß, daß der innere Wert mehr bei einer Bürgerin als bei einer Adeligen gelobt werden muß. Als ruhmvoller gilt es

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nämlich, wenn ein Fasan von einem Sperber als von einem Hühnerhabicht411 gefangen wird, und derjenige verdient eher eine Belohnung, welcher mehr, als er soll, erfüllt, als derjenige, welcher, was er zu leisten schuldig war, zu Wege brachte. (Knapp, S. 114f.)

Im s e chste n D i a l o g zwischen Hochadeligem und Bürgerin (»Es spricht ein Hochadeliger zu einer Bürgerin«) – es handelt sich also um eine ähnliche Konstellation wie im vierten Dialog – fallen mit Lerche (alauda) und Wachtel (qualia) Vogelnamen, die bisher keine Verwendung fanden, erneut begegnet allerdings der accipiter: 6. Dialog: (290) Quum in vos tota mei animi dirigatur voluntas, sine omni vos possum reprehensione eligere, nec ex hoc parva sed valde magna petere iudicabor. Nam quum honorabili amoris curia digna permaneatis [honore] et ad vestrum voluntas me cogit amorem, inter magnanimes vestra me debet prudentia reputare. (291) A meo igitur non est abstinendum vobis amore, nisi bonis me videritis moribus destitutum et a bonis actibus alienum. Praeterea pulchrius accipiter suo volatu ingeniosam capit alaudam quam pigram qualiam et linea recta volantem. (290) Wenn der ganze Wille meines Herzens zu Euch gelenkt wird, kann ich ohne Tadel Euch wählen, und das Urteil wird aufgrund dessen lauten, ich würde nichts Geringes, sondern sehr Großes begehren. Denn wenn Ihr würdig des ehrenvollen Hofes der Liebe seid und der Wille mich zu Eurer Liebe drängt, soll mich Eure Klugheit unter die Hochherzigen zählen. (291) So dürft Ihr nicht auf meine Liebe verzichten, außer Ihr sähet, ich sei von den guten Sitten verlassen und den guten Taten abgeneigt. Außerdem ist’s schöner, wenn der Falke die im Flug geschickte Lerche als die träge und gerade dahinfliegende Wachtel schlägt. (Knapp, S. 174f.)

Zuvor – im vierten Dialog (s. oben) – ging es um einen Fasan (fasianus), der von Sperber (accipiter) oder Hühnerhabicht (astur) gefangen werde. Es scheint ein Bemühen erkennbar, gezielt andere Vogelnamen zu nennen, wobei jedoch auch inhaltlich die angeführte Metaphorik vollkommen anders bezogen wird. So heißt es im sechsten Dialog, dass es ruhmvoller sei, wenn der accipiter einen im Flug geschickten Vogel (alauda – Lerche) fange als einen träge dahinfliegenden Vogel (pigra – Wachtel), da so die erbrachte Leistung – wie sich schließen lässt – größer wäre. Auch hier geht es dem Mann um eine Betonung der „Bedeutungslosigkeit von Standesgrenzen in den Augen der Liebe“ (Knapp, S. 173). Der Hochadelige

411 Vgl. Knapp, S. 115, Anm. 138: „Die Vogelbezeichnungen accipiter und astur werden unterschiedlich, bisweilen sogar synonym verwendet. Hier bezeichnet jenes offenbar den kleineren, dieses den größeren Vogel.“

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argumentiert diesmal jedoch nicht im Kontext einer größeren Wertschätzung des inneren Werts einer Bürgerin als einer Adeligen (vgl. Dialog 4). Die angeführte Vogelmetaphorik ist hier schwerer und weniger eindeutig zu konkretisieren: Im vierten Dialog ging es dem Mann darum, die angesprochene Bürgerin durch den Vogelbezug aufzuwerten, indem er argumentierte, dass eine Leistung, welche die Kräfte desjenigen, der sie erbringt, übersteigt, höher zu bewerten sei als die Leistung desjenigen, den diese Leistung nicht überfordere. Als lobenswert dargestellt wurde hier ausdrücklich der schwächere Vogel, sprich der Sperber (accipiter), im Gegensatz zum Hühnerhabicht (astur), der ja ohnehin stark zu sein und von einer solchen Tat nicht herausgefordert zu werden scheint. Bezogen auf den inneren Wert sei die Bürgerin lobenswerter als die Adelige, wobei der Vergleich ein wenig hinkte, ließe sich doch fragen, inwiefern eine angeborene Eigenschaft mit einer konkreten Handlung bzw. Leistung zu vergleichen ist, heißt es doch, dass der schwächere Vogel, welcher eine für ihn eigentlich zu schwere Leistung erbringe, eher zu loben sei. Die Bürgerin ließe sich in diesem Fall mit dem schwächeren Vogel gleichsetzen, da ihr sittlicher Wert eher zu loben sei als bei einer Adeligen. Im sechsten Dialog geht es erneut um den accipiter (diesmal von Knapp als ‚Falke‘ übersetzt, im vierten Dialog am ehesten auf die Frau zu beziehen), der eher zu loben sei, wenn er einen stärkeren als einen schwächeren Vogel fange. Auf wen sich in diesem Fall der Falke (accipiter) metaphorisch beziehen lässt, ist nicht eindeutig. Unmittelbar vor dem Vogelbezug erklärt der Mann, dass die Frau nicht auf seine Liebe verzichten dürfe, es sei denn, dass er von den guten Sitten verlassen und den guten Taten abgeneigt sei. Denkbar wäre daher, dass sich die Frau (als Falke) für einen durch Sitten und gute Taten hervorstechenden Mann entscheiden möge, wie es eben schöner sei, wenn der Falke einen durch Geschick herausragenden Vogel (alauda – Lerche) schlage. Auffällig ist hierbei allerdings, dass im vierten Dialog der accipiter als eher schwächlicher Vogel angeführt wurde (s. oben).412 Die Frau ließ sich als gesellschaftlich rangniedrigere Bürgerin in Analogie zu diesem schwächeren Vogel (accipiter) setzen, welcher eine ihm eigentlich nicht zustehende Beute mache. Die Beute bzw. das Schlagen eines in Bezug auf die eigenen Kräfte stärkeren Vogels stehen im vierten Dialog in Analogie zum sittlichen Wert, welcher bei einer Bürgerin lobenswerter als bei einer Adeligen sei (s. oben). Im sechsten Dialog soll ebenfalls herausgestellt werden, dass eine anspruchsvollere Leistung eher zu loben ist, jedoch ausgehend von dem accipiter. Möglich wäre hier daher auch ein Bezug auf den Mann, für den es »schöner« (pulcherius) sei, wenn er eine schwierigere Beute mache. Die angesprochene Bürgerin wäre in diesem Fall folglich 412 Dass Knapp hier accipiter unterschiedlich mit Sperber und Falke übersetzt, wirkt verwirrend, auch wenn eine eindeutige Übersetzung nicht möglich ist. Gerade an dieser Stelle sollte auf Einheitlichkeit der Übersetzung geachtet werden, um so den Rückgriff auf ähnliche Formulierungsmuster und terminologische Parallelen herauszustellen.

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auf die »im Flug geschickte Lerche« (suo volatu ingeniosam […] alaudam) zu beziehen, welche von dem Mann erobert würde. Die »im Flug geschickte Lerche« als indirektes Lob der Bürgerin würde eine Anknüpfung an die Betonung der Klugheit der Angesprochenen in Abschnitt 290 und die hier zu erkennende Unterwürfigkeit des Mannes ihr gegenüber darstellen.413 Die Thematik der Unterscheidung von Geburts- und Tugendadel wird im Verlauf des z we ite n D i a l o g s weiterverfolgt. Dabei begegnet erneut die Anschlusstechnik der partiellen Zustimmung mit anschließender Einschränkung unter wortwörtlicher Bezugnahme. Vor allem der Aspekt des Unterscheidens der Liebenden nach Stand und Verwundung durch die Liebe wird hierbei diskutiert und unterschiedlich bezogen. Der Mann erklärt, dass im Hinblick auf die Verwundung durch Liebe nicht der jeweilige Stand entscheidend sei, sondern allein die ‚Tatsache‘ des Verwundet-Seins: (72) […] ergo nec amantes ipsi aliter discernere debent hominum genera, quam amor suo discernit iudicio. Sicut igitur uniuscuiusque generis homines amor cogit accendi, ita et amantes non genera discernere debent sed hoc solum, an sit sauciatus amore, qui petit amari. (72) […] daher sollen die Liebenden selbst auch nicht anders die Stände der Menschen unterscheiden, als die Liebe sie nach ihrem Urteil unterscheidet. Wie daher die Liebe die Menschen eines jeden Standes zwingt, Feuer zu fangen, so sollen auch die Liebenden die Stände nicht unterscheiden, sondern nur, ob von der Liebe verwundet wurde, wer um Liebe bittet. (Knapp, S. 56f.)

Demgegenüber bringt die Frau zwar einerseits Zustimmung zum Ausdruck, schränkt diese jedoch sogleich ein, indem sie sich auf die Aussage, dass Liebe ungleiches Gewicht in ihrer Hand halte, bezieht – es handelt sich hierbei um einen Lehrsatz aus dem vierten Kapitel des ersten Buches: »Welcher Art die Wirkung der Liebe ist«, welches – sozusagen den Dialogen übergeordnet – durch das Andreas-Ich an Walter gerichtet ist. Die Frau differenziert bzw. verkompliziert durch diesen Verweis erneut die Diskussion, indem sie mit (indirektem) Bezug auf Kapitel 4 argumentiert, dass nicht jeder, der einen anderen Menschen liebe, auch mit einer Erfüllung dieser Liebe rechnen könne: (83) Nec enim, quod asseruisti ante, tuam potest tueri sententiam. Dixisti etenim, amorem non distinguere genera sed cunctos cogere ad amandum, qui apti reperiuntur ad amoris

413 Vgl. auch die wiederholte Verwendung einer Seefahrtsmetaphorik auf den Seiten S. 210f. und S. 308f. in der Ausgabe von Knapp sowie ebd., I,6,507.

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arma ferenda, et quod amantes non debent aliter distinguere, sed hoc requirere solum, an sit sauciatus amore, qui petit amari. (84) Sed sine omni contradictione profiteor, quod amor indifferenter cogit amare, sed aliud, quod sequitur, scilicet, amantem non debere distinguere nisi, an amet, qui petit amari, non suscipio, quia penitus est falsitati subnixum. Nam si hoc esset, illa sibi verba locum vindicare non possent, quibus fertur amor sua manu pensum inaequale gestare. (83) Denn was du zuvor behauptet hast, kann deine Meinung nicht verteidigen. Du hast nämlich gesagt, die Liebe würde keinen Unterschied nach der Herkunft machen, sondern alle zum Lieben zwingen, die tauglich befunden werden, die Waffen der Liebe zu tragen, und die Liebenden sollten keinen anderen Unterschied machen, sondern nur prüfen, ob von der Liebe verwundet wurde, wer bittet, geliebt zu werden. (84) Ich bekenne aber ohne jegliche Widerrede, daß die Liebe ohne Unterschied zwingt zu lieben, doch das andere, folgende, nämlich daß die Liebende nur unterscheiden solle, ob derjenige liebt, welcher geliebt werden will, nehme ich nicht an, weil es sich vollkommen auf einen Irrtum stützt. Denn wenn das so wäre, könnten nicht jene Worte für sich einen Stellenwert beanspruchen, laut deren die Liebe in ihrer Hand ungleiches Gewicht hält. (Knapp, S. 62f.)

Erneut ist hierbei eine große Variativität des Ausdrucks zu erkennen: Mann (§72): ergo nec amantes ipsi aliter discernere debent hominum genera, quam amor suo discernit iudicio. Sicut igitur uniuscuiusque generis homines amor cogit accendi, ita et amantes non genera discernere debent sed hoc solum, an sit sauciatus amore, qui petit amari. Frau (§83): Dixisti etenim, amorem non distinguere genera sed cunctos cogere ad amandum, qui apti reperiuntur ad amoris arma ferenda, et quod amantes non debent aliter distinguere, sed hoc requirere solum, an sit sauciatus amore, qui petit amari.   (vgl. die Unterstreichungen in den beiden zuvor angeführten Zitaten)

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Inhaltlich bezieht sich der Mann im weiteren Verlauf auf das bereits im ersten Dialog angeführte Argument eines Vorrangs des Tugend- vor dem Geburtsadel, diesmal jedoch, um seinen eigenen Wert zu steigern und nicht den der Frau wie im ersten Dialog: (91) […] Si homines igitur sola morum probitas nobilitatis meruit virtutibus decorare ac generositatis assumere nomen, errorem praedictum penitus deponere curate, et sola morum probitas compellat vos amare. (91) […] Wenn also nur der sittliche Wert verdient hat, Menschen mit den Vorzügen des Adels zu schmücken und den Titel des edlen Geblüts anzunehmen, so seid darauf bedacht, den vorerwähnten Irrtum vollkommen abzulegen, und nur der sittliche Wert möge Euch antreiben zu lieben. (Knapp, S. 66f.)

Im ersten Dialog sprach er von einer probitas et compositio morum (s. oben, Knapp, S. 36f.). Auch für den Mann des zweiten Dialogs ergibt sich Adel aus dem sittlichen Wert (morum probitas), nicht aus der Geburt (sanguinis origo). Es geht hier jedoch um seine eigene Aufwertung und nicht um die einer bürgerlichen Frau wie im ersten Dialog: (96) […] Praeterea illud, quod dixisti, quia quisque intra sui generis saepta debeat permanere et maioris ordinis amorem nullatenus postulare, diffiteri non possum. (97) Sed si me morum probitatis cultura perlustrat, intra nobilitatis me credo moenia constitutum et vera generis coruscare virtute, et sic me morum probitas intra nobilitatis ordinem facit esse repositum; et ideo nulla potest reputari praesumptio, si ex nobilitate mihi quaedam amorem eligere; magis enim ex moribus quam ex sanguine deprehenditur cuiusque nobilitas. (96) […] Außerdem kann ich deine Aussage, jeder solle innerhalb der Umzäunung seiner Herkunft bleiben und keineswegs die Liebe eines höheren Standes fordern, nicht in Abrede stellen. (97) Aber wenn mich das Streben nach sittlichem Wert erleuchtet, glaube ich, daß ich mich innerhalb der Mauern des Adels befinde und vom wahren Vorzug des Geblüts erstrahle und der sittliche Wert mich so in den Stand des Adels versetzt hat; und so kann es nicht als Anmaßung angesehen werden, wenn ich mir eine Liebe aus dem Adel zu erwählen suche; man erkennt nämlich mehr an den Sitten als an dem Blut den Adel eines jeden. (Knapp, S. 68–71)

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Im weiteren Verlauf kehrt er wiederum auf die Bezugsnorm des Unterscheidens zurück, jedoch in erneuter Abwandlung. Die Unterscheidung zwischen adeliger und nicht-adeliger Abstammung wird nun nicht wie in Paragraph 72 desselben Dialogs (Knapp, S. 56f.) dem Verwundet-Sein durch die Liebe gegenübergestellt, sondern der Art des Lebenswandels und dem inneren Wert: (103) […] Nam quod dixi, amantem non debere distinguere, ita recipias, quia non debet, cuius postulatur amor, distinguere, utrum de nobili an de ignobili sit genere ortus, qui petit amari, debet tantum distinguere, utrum bonis moribus et an sit multa probitate decoratus. (103) […] Denn meine Aussage, daß eine Liebende nicht „unterscheiden“ solle, sollst du so auffassen, daß diejenige, deren Liebe gefordert wird, nicht unterscheiden soll, ob derjenige, welcher geliebt werden will, von adeliger oder nicht-adeliger Abkunft ist, sondern nur unterscheiden soll, ob er sich durch guten Lebenswandel und großen inneren Wert auszeichnet. (Knapp, S. 72f.)

Die jeweiligen Aussagen des Mannes ergänzen sich hier zwar, da er in beiden Fällen gegen den Geblütsadel als Entscheidungsinstanz argumentiert, aber dennoch sind seine Argumente terminologisch-definitorisch nicht eindeutig aufeinander abgestimmt, obwohl er diesen Anspruch zu erheben scheint, wenn er scheinbar definitorisch sein Verständnis von distinguere (»Denn meine Aussage, dass eine Liebende nicht ‚unterscheiden‘ solle, sollst du so auffassen, […]«) zu klären versucht. Die Frau stellt seine Argumentation jedoch infrage, indem sie erklärt, dass der Adel aufgrund einer morum probitas amoris abzulehnen sei, was aber nicht bedeute, dass es nicht in jedem Stand Menschen gebe, die durch eine morum probitas hervorstächen: (107) […] Si enim, prout asseris, sola morum probitas amoris invenitur digna muneribus et nobilem facit hominem reputari, superfluo antiquitus nobilitatis fuit ordo repertus et tam aperta distinctione discretus, quum manifestum erat, omnem hominem moribus et probitate fulgentem nobilem fore vocandum. (107) […] Wenn nämlich, wie du behauptest, nur der moralische Wert der Gunstbeweise der Liebe würdig befunden wird und einen Mann für adelig gelten läßt, so wurde der Adelsstand in der Frühzeit überflüssigerweise erfunden und mit so offenkundiger Unterscheidung abgesondert, als es offensichtlich war, daß jeder Mann, der durch Sitten und inneren Wert glänzte, ein Adeliger genannt werden muß. (Knapp, S. 74–77)

‚Gesprächsanleitungen‘

Die Äußerungen des Mannes werden somit nicht gänzlich für falsch erklärt, jedoch bezogen auf den entscheidenden Punkt, aus dem er ein Argument für die Erhörung seiner Bitten ableitet, geht sie nicht mit ihm konform. Im ersten Dialog lehnte die Bürgerin ebenfalls den Gedanken einer morum probitas nicht ab und erkannte diese in Bezug auf sich selbst im Sinne einer ständischen Erhöhung an, benutzte dieses Argument dann jedoch – im Kontext des ersten Dialogs –, um dem bürgerlichen Mann eine Absage zu erteilen, da sie sich ja nun einen ihr ebenbürtigen Adeligen suchen müsse (s. oben). Im dritten Dialog wird diese Diskussion – in ähnlicher Konstellation wie im zweiten Dialog (»Es spricht ein Bürger zu einer Hochadeligen«) – erneut aufgegriffen und der Mann betont auch hier den Vorrang des inneren Wertes. Terminologisch ist nun jedoch nicht von einer morum probitas, sondern einer morum improbitas, welche seiner Erhöhung bzw. Erhörung nicht entgegenstehe, die Rede: (134) […] Quum ergo natura ipsa noluit mihi certos ordinis terminos stabiliri nec sublimiorum ordinum mihi voluit claudere fores, si morum non obstet improbitas, unde vos mihi praesumitis certos praefingere fines et ordinum me iugo subiicere? (134) […] Wenn also die Natur selbst nicht wollte, daß bestimmte Standesgrenzen für mich feststehen, und für mich die Türen zu höheren Ständen nicht schließen wollte, wenn nicht ein Mangel an innerem Wert entgegensteht, weshalb nehmt Ihr euch vor, für mich bestimmte Grenzen künstlich zu bilden und mich dem Joch der Stände zu unterwerfen? (Knapp, S. 88f.)

Die Frau beharrt auch hier auf der Position, dass trotz des inneren Werts eines Bürgers dieser nicht den gesellschaftlichen Stand wechseln könne, wobei sie diesmal jedoch eine Einschränkung hinzufügt: (138) Mulier ait: Quamvis probitas possit nobilitare plebeium, ei tamen ordinem mutare non potest, ut plebeius procer efficiatur sive vavassor, nisi per principis ei forsan potentiam tribuatur, qui potest quibuslibet bonis moribus nobilitatem adiungere. […] (138) Die Frau sagt: „Mag auch der innere Wert einen Bürger adeln können, so kann er ihm dennoch nicht den Stand tauschen, so daß ein Bürger zum Herren oder Vasallen wird, außer wenn ihm dies vielleicht durch die Macht eines Fürsten, der irgendwelchen moralischen Vorzügen (bonis moribus) den Adel hinzufügen kann, zugeteilt wird. […]“ (Knapp, S. 92f.)

Zudem erweitert sie ihre Argumentation, indem sie sein Aussehen kritisiert: Seine Waden seien viel zu fett und rund ausgebuchtet (grossas rotundeque), obwohl er

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sich doch selbst zu den Rittern zähle (I,6,140). Der Mann nimmt dieses Argument auf und führt einen König aus Ungarn an, der ebenfalls sehr füllige Beine habe.414 Im v i e r te n D i a l o g (»Ein Adeliger zu einer Bürgerin«) wird die Frage des Vorzugs von Tugend- oder Geburtsadel durch den werbenden Mann – ganz im Sinne minnekasuistischer Streitgedichttradition – als Frage formuliert: (169) […] Cuius scilicet sit mulieris magis laudanda probitas, utrum nobilis sanguine an illius, quae cognoscitur generis nobilitate destitui? (169) […] Der innere Wert welcher Frau ist mehr zu loben? Der einer Adeligen von Geblüt oder einer Frau, von der man weiß, daß der Adel der Abkunft sie im Stich läßt? (Knapp, S. 110f.)

Im weiteren Verlauf begegnet denn auch das Vokabular juristischer KasuistikTradition.415 Die Antwort des Werbenden selbst auf die genannte Frage fällt eindeutig aus: (177) […] potius esse quaerendum amorem probitatis multae plebeiae quam nobilis nimia probitate decorae. (177) […] Man soll eher eine Bürgerin von großem innerem Wert als eine mit großem innerem Wert geschmückte Adelige um ihre Liebe bitten. (Knapp, S. 116f.)

Dies weist die Frau jedoch zurück, indem sie ihren adligen Gesprächspartner dazu auffordert, sich eine Frau seines Standes zu suchen. Entgegen der Argumentation des Mannes, der von dem inneren Wert einer Bürgerlichen spricht, erläutert sie, dass er wohl nicht aufgrund von Verdiensten den Adelstitel erlangt habe, da er offenbar von keiner Frau seines eigenen Standes geliebt zu werden verdiene (vgl. Knapp, S. 118f.): (179) […] et qui in proprio minus bene invenitur ordine militare, non creditur in alieno suam recte gestare militiam.

414 Vgl. I,6,143 (Knapp, S. 94f.). 415 Vgl. I,6,170: Minus apte mihi tale videtur dari definiendum iudicium, quum me ipsam praesens tangat articulus, et in propria causa cuilibet sit iudicare prohibitum; quia tamen mihi non licet delegationem recusare amoris, quid super isto sentiam articulo, mea curabo definitione monstrare (Knapp, S. 110f.).

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(179) […] und wer im eigenen Stand für weniger gut befunden wird Kriegsdienst zu leisten, dem traut man nicht zu, in einem fremden richtig seinen Kriegsdienst zu tun. (Knapp, S. 118f.)

Daher solle er im eigenen Stand die Liebe suchen. Sie selbst dreht dem Mann nun das Wort im Munde herum, indem sie in ihrer Replik erklärt: (183) […] quia, ut superior a me lata et a te approbata videtur sententia continere, magis in plebeio quam in nobili genere sedet laudanda probitas. Ex quibus verbis concludendo intulisti, quod potius sit studiosae unumquemque amorem sibi copulare plebeiae quam nobilis et multa probitate decorae. Quare igitur non magis plebeius morum compositione perfectus quam multa nobilitate decorus mihi est eligendus amator? (183) […] Denn, wie die weiter oben von mir vorgetragene und von dir gut geheißene Meinung zu beinhalten scheint, ist eher beim bürgerlichen als beim adeligen Stand der innere Wert lobenswert. In deiner Schlußfolgerung aus diesen Worten hast du erwidert, daß ein jeder sich eher der Liebe einer tugendbeflissenen Bürgerlichen verbinden solle als einer Adeligen, selbst wenn sie mit großem innerem Wert ausgestattet ist. Warum soll ich also nicht eher einen Bürgerlichen, der durch moralische Qualität vollkommen ist, als Liebhaber wählen als einen, der durch bedeutenden Adel glänzt? (Knapp, S. 120f.)

Die bürgerliche Frau im ersten Dialog reagierte ähnlich, indem sie dem Bürger gegenüber erklärte, dass sie sich einen Adeligen suchen müsse, wenn sie – aufgrund ihres sittlichen Wertes (probitas morum) – von so großem berühmtem Adel sei (s. oben). Während die Bürgerin des ersten Dialogs aus ihrer Erhöhung zum Adel (der Sitten) ein ablehnendes Argument gegenüber einem Bü rge r entwickelte, da sie – wenn sie zum Adel gehöre – einen gleichgesinnten Adeligen erhören wolle und nicht einen Bürger wie den des ersten Dialogs, leitet die Bürgerin des vierten Dialogs nun erneut ein ablehnendes Argument aus ihrer von dem – diesmal a d e l ige n   –  Mann angeführten probitas morum ab: Wenn eine Bürgerin von hohem inneren Wert eine Adelige von hohem inneren Wert übertreffe, müsse sie folglich auch eher einen Bürger von hohem inneren Wert erhören. Erneut zeigt sich, wie sich durch die variative Verwendung ähnlich gestalteter Argumente vollkommen andere argumentative Zielsetzungen umsetzen lassen. Der Mann des vierten Dialogs wiederum verstrickt sich nun regelrecht in eine differenzierende Erläuterung seines zuvor angeführten Arguments, indem er in einer Art argumentativen Rückzugs versucht, seine Verwendungsweise des Adverbs magis (»eher«) zu spezifizieren: (185) Tali ergo intentione verbum protuli „magis“, ut, si plebeia probior quam nobilis inveniatur, potius sit quam nobilis eligenda; si aequis in probitate passibus ambulare

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noscuntur, aequaliter earum amor est eligendus secundum Angliae reginae Alinoriae opinionem. Ego tamen in aequalitate praefata minorem dico ordinem praeferendum esse maiori et potius eligendum. (186) Sin autem aliter adverbium „magis“ intelligatur, quam tibi sim conatus exponere, summa sequeretur absurditas et grandis inde oriretur iniquitas. Jam enim videretur sanguinis generositas hominibus intolerabile damnum adducere nullaque commoda ferre, si probior nobilis minus probae postponatur plebeiae. (185) In solcher Absicht also habe ich das Wort ‚eher‘ (magis) geäußert, daß, wenn die Bürgerliche von größerem inneren Wert befunden wird als die Adelige, sie eher als die Adelige zu wählen ist; wenn es bekannt ist, daß sie an innerem Wert miteinander Schritt halten, ist in gleicher Weise ihre Liebe zu erwählen gemäß der Auffassung der englischen Königin Eleonore. Ich sage dennoch, daß bei vorher erwähnter Gleichheit der geringere dem höheren Stand vorzuziehen ist und eher zu erwählen. (186) Wenn aber andererseits das Adverb ‚eher‘ anders verstanden wird, als ich dir darzulegen versucht habe, würde größte Ungereimtheit die Folge sein und daraus bedeutende Ungerechtigkeit entstehen. Schon würde nämlich anscheinend der Geblütsadel den Menschen unerträglichen Schaden zufügen und keinen Vorteil bringen, wenn die innerlich wertvollere Adelige der weniger wertvollen Bürgerlichen hintangesetzt werden sollte. (Knapp, S. 122f.)

In Paragraph 187 legt er weiter dar, dass im Hinblick auf ihn selbst nicht generell ein Bürger »eher« zu erwählen sei, sondern nur dann, wenn dessen innerer Wert größer als bei ihm sei, wobei er allerdings auf den Fall einer Gleichheit der probitas von Bürger und Adeligem gerade nicht eingeht – es ließe sich doch die Frage stellen, wie sich die Frau in diesem Fall zu entscheiden habe (vgl. oben § 177). Zudem fällt sein Zugeständnis an den bürgerlichen Stand bezogen auf sein eigenes Geschlecht sehr viel zurückhaltender aus, da er lediglich zugesteht, dass »diese Erlaubnis gegeben worden zu sein scheint«: (187) Si talem ergo plebeium inveneris, in quo magis quam in me cognoveris probitatem vigere, et tuum fueris sibi amorem largita, tuum non insistam improbare propositum, quum haec in superioribus tibi videatur concessa licentia. (187) Wenn du also einen solchen Bürgerlichen findest, bei dem du erkennst, daß der innere Wert stärker ist als bei mir und du ihm deine Liebe schenkst, werde ich nicht darauf bestehen, deinen Vorsatz zu mißbilligen, da dir im vorhergehenden diese Erlaubnis gegeben worden zu sein scheint. (Knapp, S. 122f.)

‚Gesprächsanleitungen‘

Die Bürgerin weist ihn in ihrer Replik denn auch sogleich auf die Widersprüchlichkeit seiner Argumentation hin und äußert ihre Kritik.416 Der a chte D i a l o g zwischen Hochadeligem und Hochadeliger stellt das umfangreichste Werbungsgespräch dar. Die Dame bekennt in ihrer ersten Replik auf einen äußerst langen Redebeitrag des Mannes ihre »Bereitschaft zu höfischer Geselligkeit« (Knapp, S. 245), schränkt ihre zustimmende Antwort – wie insgesamt für die Rede der Frau typisch – dann jedoch ein: Amorem autem exhibere est graviter offendere Deum, et multis mortis parare pericula (I,6,411). Auch im weiteren Verlauf des Dialogs erklärt sie wiederholt, sich der Liebe enthalten zu wollen. Die inhaltlichen Widersprüche sind dabei jedoch besonders stark ausgeprägt, wenn die Frau beispielsweise gleich dreimal anführt, dass sie in einer ‚Beziehung‘ zu einem anderen Mann stehe:

416 Ein weiteres Beispiel für ein ähnliches formallogisches Argument, welches sich aus einem terminologischen Aspekt ableitet – wie hier bezogen auf das Wort magis – findet sich im achten Dialog. Im Gesprächsverlauf wirft der Mann ein, dass die Frau einen Werbenden nicht zu lange warten lassen sollte: Debet ergo mulier, cuius amor exigitur, moderate tempora prorogare petenti, si ipsum disponat amare (I,6,524). Die Frau sagt, dass man Qualen geduldig aushalten müsse. Sobald aber eine Frau die volle Absicht habe, den Bittenden nicht zu lieben, solle sie ihn »wohlgefällig, klug und höfisch« (I,6,525, Übers. Knapp, S. 319) zurückweisen. Ihr eigener Entschluss, ihn nicht zu lieben, stehe fest, weshalb sie ihn nicht durch trügerischen Aufschub enttäuschen wolle. Aber damit es ihm nicht zu schwer aufs Gemüt falle, nennt sie ihm auch den Grund des Nichtliebens. Sie sei an die Liebe eines anderen gebunden (526). Auffällig ist nun erneut, wie der Mann reagiert, der diese Aussage schlicht als unwahr bzw. nicht überprüfbar bezeichnet. Er wolle dies daher ignorieren: (527) […] Sed quod dicitis, vos alterius amore ligari, credo, vos indubitanter petere fugam et loquendi vobis mihi penitus obstruere viam, quia mandatum tradit amoris, ne aliquis alterius idonee copulatam amori scienter subvertat. […] (528) […] quia illud amoris praeceptum, de quo praesenti disputatione narramus, de idonee loquitur copulatis, [et hoc ostendit adverbium idonee, quod ibi expressius exaratur]. – »(527) […] Aber weil Ihr sagt, daß Ihr durch die Liebe eines anderen gebunden seid, glaube ich zweifelsfrei, Ihr tretet die Flucht an und verlegt mir vollständig den Weg, mit Euch zu sprechen, weil ein Gebot der Liebe überliefert, daß keiner die der Liebe eines anderen Mannes angemessen (idonee) Verbundene wissentlich abspenstig machen darf. […] (528) […] Denn jene Vorschrift der Liebe, über die wir in der gegenwärtigen Diskussion reden, spricht von angemessen Verbundenen, [und dies zeigt das Adverbium ‚angemessen‘, das dort überdeutlich hingeschrieben wird.]« (Knapp, S. 318–321) In den zwölf Hauptvorschriften der Liebe im fünften Dialog findet sich in der Tat folgende Regel: III. Alterius idonee copulatam amori scienter subvertere non coneris. – »Die der Liebe eines anderen Mannes angemessen (idonee) Verbundene versuche nicht wissentlich abspenstig zu machen.« (I,6,268, Knapp, S. 162f.). Die Frau hat dem kein Argument entgegenzusetzen, erklärt die Äußerungen des Mannes jedoch für penitus inurbanum und leitet zu einem neuen Thema über (Gott). Im sechsten Dialog (»Es spricht ein Hochadeliger zu einer Bürgerin«) spielen erneut Fragen der Standeszugehörigkeit eine Rolle. Auch hier wehrt sich die Bürgerin gegen ein Überschreiten der Standesgrenzen. Die Argumente werden durch neue Themenkomplexe angereichert. So führt die Bürgerin die Untreue adliger Männer sowie die Sorge um ihre Verachtung durch das leere Gerede der Leute (assueta vaniloquia vulgi) als Gegenargumente an, wogegen sich der Mann verteidigt und eine freie Liebeswahl einfordert.

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(434) […] Sed, etsi absoluta mihi esset amandi licentia, quiddam tamen adhuc restat, quod vobis meum cogit denegari amorem, quia alterius fuistis anticipati obsequiis et in amoris petitione praeventi, et ideo merito vobis in amoris consecutione praefertur. (504) […] Etsi forte vos propria merita constituant tali dignum amore, aliud tamen viam vobis praecludit amandi. Est namque alius, tam probitate quam genere vobis coaequalis nec in obsequiorum voluntate dissimilis, qui servitiis solummodo petit amorem, lingua tamen illud indicare recusat, qui etiam meritissime vobis in amore praefertur. (526) […] Sed, ut istud aegre vester non perferat animus, non amandi vobis edissero causam, quia scilicet amori sum alterius colligata et indissolubilibus illigata catenis. (434) […] Aber wenn ich auch die völlige Freiheit zu lieben hätte, bleibt dennoch noch etwas, was dazu zwingt, Euch meine Liebe zu verweigern: Euch ist im Dienst und im Liebeswerben ein anderer zuvorgekommen und wird so mit Recht Euch in der Reihenfolge der Liebe vorgezogen. (Knapp, S. 258–261) (504) […] Wenn Euch vielleicht auch eigene Verdienste bestimmen, einer solchen Liebe würdig zu sein, verschließt Euch dennoch etwas anderes den Weg zur Liebe. Es gibt nämlich einen anderen, nach innerem Wert so wie nach Abstammung Euch ebenbürtig und in der Dienstbeflissenheit nicht unähnlich, der nur durch Dienstleistungen nach der Liebe strebt, mit der Zunge sich jedoch weigert, es anzuzeigen, der Euch sogar mit vollem Recht in der Liebe vorgezogen wird. (Knapp, S. 304f.) (526) […] Aber damit es Euch nicht schwer aufs Gemüt fällt, setze ich Euch den Grund des Nichtliebens gründlich auseinander: Ich bin nämlich an die Liebe eines anderen gebunden und mit unlösbaren Ketten gefesselt. (Knapp, S. 318f.)

Auffällig sind die wortwörtlichen Parallelen im Hinblick auf das verwendete Vokabular (merito vobis in amoris consecutione praefertur – meritissime vobis in amore praefertur), wobei jedoch sprachlich-grammatisch zahlreiche Variationen zu erkennen sind (z. B. merito – meritissime). In Paragraph 526 sind die Veränderungen am deutlichsten, da hier auch auf ein anderes Vokabular zurückgegriffen und eine metaphorische Ausdrucksweise gewählt wird: »mit unlösbaren Ketten gefesselt« (indissolubilibus illigata catenis). Neben solchen ähnlich gestalteten Argumenten begegnen auch inhaltliche Widersprüche, wenn die Frau beispielsweise zunächst erklärt, unerfahren in Sachen Liebe zu sein, und sich dann als Witwe ausgibt:

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(413) […] amoris enim penitus inexperta fortassis eius indicare naturam non possem, nisi in quantum aliena potui relatione doceri. (439) […] Quid est hoc, quod creditis, me nullius amoris unquam iacula persensisse? (445) […] Licet amor sit res utilis valde ac iuvenibus appetenda et eis, quos gloria mundana delectat, mihi, quasi iam aetate confectae, res videtur inutilis et per omnia respuenda; immo, etsi alia cuncta mihi amare svadeant, viduitas tamen et optimi amissi mariti tristitia omnia mihi vitae solatia contradicunt. (452) […] Quamvis appetibile satis cunctis videatur amare, virginali tamen videtur plurimum obviare pudori. […] (413) […] Denn ich, die ich völlig unerfahren in der Liebe bin, könnte vielleicht ihre Natur nur aufzeigen, insoweit ich durch Erzählung anderer unterrichtet werden konnte. (Knapp, S. 246f.) (439) […] Was soll das, daß Ihr glaubt, daß ich nie die Pfeile einer Liebe empfunden habe? (Knapp, S. 262f.) (445) […] Mag die Liebe auch eine sehr nützliche Sache sein und für junge Leute erstrebenswert und für diejenige, welche weltlicher Ruhm erfreut, mir, die ich schon in ziemlich reifem Alter bin, scheint die Sache ohne Nutzen und in jeder Hinsicht abzulehnen. Im Gegenteil verbietet mir, auch wenn mir alles andere zur Liebe raten sollte, dennoch die Witwenschaft und die Trauer über den besten Gatten, den ich verloren habe, alle Lebensfreuden. (Knapp, S. 266f.) (452) […] Obwohl es für alle sehr erstrebenswert scheint zu lieben, scheint es doch der jungfräulichen Scham am meisten zuwiderzulaufen. […] (Knapp, S. 270f.)

Knapp vermutet ob dieser inhaltlichen Ungereimtheiten: „Nimmt man den noch viel krasseren Widerspruch § 444 [sic! – gemeint ist hier wohl § 445] hinzu, fragt es sich, ob der Text vom Autor unzureichend überarbeitet wurde.“417 Doch das übergeordnete, die Dialoge präsentierende Text-Ich selbst macht unter Berufung auf die Beispielhaftigkeit der Rede deutlich, dass es offenbar nicht eine – sich über den gesamten Gesprächsverlauf erstreckende – inhaltliche Kohärenz anstrebt, wenn es einwirft: (444) […] [Quae huius desunt responsioni articuli, in nobilioris et nobilis colloquio egregie inserta reperies]. (444) […] [Im Gespräch des Hochadeligen mit der Adeligen wirst du hervorragende Einfügungen finden, die der Antwort dieses Artikels fehlen.] (Knapp, S. 264f.)

417 Knapp, S. 263, Anm. 337. Vgl. ausführlich zu dem achten Dialog und seinen Widersprüchen Schnell, Andreas Capellanus.

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Auch der in der hier vorgelegten Arbeit präsentierte Durchgang der Dialoge hat vor allem deutlich zu machen versucht, dass einzelne Argumente auf jeweils spezifische Weise an bestimmten Stellen der Werbungsgespräche eingebracht werden und in der direkten Anbindung an den vorausgehenden bzw. nachfolgenden Gesprächsbeitrag ihre Wirkung entfalten – die Gesamtstruktur der einzelnen Dialoge scheint dieser Ausrichtung des Argumentationsgefüges untergeordnet. Die dominierenden Techniken der argumentativen Gestaltung – Differenzierung, Rückgriff auf ein anderes Themenfeld, Missverständnis – zeigen, wie vielfältig hierbei stereotypes Sprachmaterial verwendet werden kann. Gerade im dialogischen Austausch und in der divergierenden Verwendungsweise einzelner Topoi sowie Aussageformen durch die jeweiligen Diskutanten entsteht eine besondere Dynamik, welche auf ein inhaltlich und sprachlich geprägtes argumentatives Geschick ausgelegt ist.

2.4

Dialoggedichte

Nach der Untersuchung von Briefdialogen und didaktisch eingebetteten Werbungsgesprächen widmet sich das folgende Kapitel Dialoggedichten, womit im Hinblick auf die Textsorte eine zunehmende Annäherung an die im zweiten Hauptteilkapitel behandelten Dialoglieder der mittelhochdeutschen Literatur erfolgt. Der Blick richtet sich auch hier zum einen auf die inhaltlich-sprachliche Verknüpfung der Figurenreden in den ausgewählten Textbeispielen sowie zum anderen auf die konnotativ abgerufenen bzw. explizit zum Ausdruck gebrachten Bezüge auf die jeweils den dargestellten Mann-Frau-Beziehungen zugrunde gelegten Liebeskonzeptionen. 2.4.1

De iuvene et moniali

Den im Folgenden vorgestellten stichomythischen Dialog De iuvene et moniali kennzeichnet ein schneller Wechsel der Redebeiträge, wobei Mann und Frau abwechselnd in jeweils einem Distichon sprechen. Die enge Verzahnung der einzelnen Disticha mittels zahlreicher Rekurrenzen und isotopischer Bezugnahmen sticht dabei besonders hervor. Da diese poetische Technik auch für den volkssprachlichen Werbungsdialog von zentraler Bedeutung ist, sei sie zunächst anhand des ausgewählten lateinischen Textbeispiels vorgestellt. Inhaltlich knüpft der Dialog in parodistischer Manier an die sexuell aufgeladenen Werbungsdialoge der Pastourelle an, wobei jedoch nicht ein Mann eine Frau, sondern eine Nonne einen Kleriker zu verführen versucht.418 Der Text ist in zahlreichen Handschriften überliefert, 418 Nonnen finden sich häufig als Protagonistinnen in Verführungsdialogen sowie weiteren makkaronischen Texten des späteren Mittelalters. Vgl. u. a. drei altfranzösische Nonnenpastourellen Quant se vient en mai ke rose est panie (Bartsch, Romances I, 33); L’autrier un lundi matin (Bartsch,

Dialoggedichte

bei dem ältesten Textzeugen handelt es sich um „ein Fragment italienischer Herkunft […] aus dem 11. Jahrhundert“419 . Da die Schlussverse zudem (in doppelter Fassung) in einer Pariser Glossenhandschrift des 14. Jahrhunderts zu finden sind, schließt Baethgen, dass es „also offenbar wohlbekannte, sozusagen klassische Schulbeispiele waren.“420

Romances I, 34); Antrai en la ruwelette (Oxforder Douce-Hds., zit. bei Edwards, Archilochos, S. 21f.). Nonnenbriefe im Kontext einer Liebes- und Werbungsthematik begegnen u. a. auch in der Rota Veneris des Boncompagno (s. Kap. 2.2.3). 419 Baethgen, Rota Veneris, S. 376f.; das Fragment sei „eingebunden in die Pergamenths. Nr. 15 der Studienbibliothek Klagenfurt“ (ebd., S. 377, Anm. 37, mit Bezug auf das Handschriftenverzeichnis Österreichischer Bibliotheken). Vgl. hierzu auch Hauréau, Notices et extraits, S. 249. Eine kritische Edition steht bisher aus. Der Text ist hier nach der jüngsten Ausgabe von Walther/Klein, Carmina misogynica (2015), S. 339f., abgedruckt (ohne Übersetzung), welcher die Halberstadter Handschrift (Cod. 71, 15. Jh.) zugrunde liegt. Zur Überlieferung insgesamt vgl. Walther, Streitgedicht, S. 140, Anm. 1, sowie Brinkmann, Anfänge II, S. 218. Edwards, Archilochos, S. 5, und Hagen, Carmina, S. 206, geben den Text nach der Handschrift Bern Ms 434 (15. Jh.) wieder. Feifalik, Studien, S. 168, ediert eine Prager Handschrift aus dem 15. Jh. (vgl. hierzu ebd., S. 153). Sprecherzuweisungen finden sich in eben diesem Codex. Vgl. ebd., S. 168: Monialis ad Clericum – clericus respondet – Monialis dicit – clericus – monialis […] Monialis concludit [vor Strophe 9]. Vgl. außerdem die Anmerkungen hierzu bei Hauréau, Notices et extraits. Wattenbach ediert das Dialoggedicht ebenfalls nach der Halberstadter Handschrift im „Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit“ [1878], S. 319, mit einem kurzen textkritischen Handapparat, der die Parallelüberlieferung ansatzweise berücksichtigt. Die Überschrift de juvene et moniali findet sich im Codex Vat. Reg. Lat. 344 aus dem 13. Jahrhundert, in dem das Lied allerdings nach Strophe 8 endet. Vgl. hierzu Wattenbach, Anzeiger, S. 319, Anm. 26, sowie Baethgen, Rota Veneris, S. 376, Anm. 35 (weitere Handschriften Bibliothèque nationale Ms lat. 16219; Florenz, Biblioteca Medicea Laurenziana Ms 3761). Eine Übersetzung des Dialogs ins Englische nach dem Berner Codex findet sich bei Schmidt, Amor in claustro, S. 190, Anm. 16. 420 Baethgen, Rota Veneris, S. 377.

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zit. n. Walther/Klein (Halberstadter Codex): Te mihi meque tibi421 decor, etas et genus equant:    Cur non ergo sumus sic in amore pares? Hac non veste places, aliis nigra vestis ametur:    Que nigra sunt, fugio; candida semper amo. Si vestem fugias, niveam tamen aspice carnem    Et sub veste nigra candida crura pete! Nupsisti Christo, quem non offendere fas est:    Hoc velum sponsam te probat esse Dei. Deponam velum, deponam cetera queque,    Ibit et ad lectum nuda puella tuum.422 Ut velo careas, tamen altera non potes esse,    Et mea culpa minus non foret inde minus. Culpa quidem, sed culpa levis foret ista, fatemur    Hoc fore peccatum, sed veniale tamen. Uxorem violare viri grave crimen habetur,    Est gravius sponsam me violare Dei. Vicisti nostrum sancta ratione furorem:    Gaudeo, quod verbis sum superata tuis.

1. Schönheit, Alter und Stand machen dich mir und mich dir gleich: Warum sind wir so also nicht auch in der Liebe gleich? 2. Nicht gefällst du mit dieser Kleidung, von anderen möge schwarze Kleidung geliebt                                                                                                                                      werden: Was schwarz ist, meide ich; Weißes liebe ich stets. 3. Wenn du die Kleidung meidest, erblicke doch wenigstens mein weißes Fleisch: Und unter dem schwarzen Gewand erstrebe die weißen Schenkel! 4. Du bist mit Christus vermählt, den zu beleidigen nicht Recht ist: Dieser Schleier liefert den Nachweis, dass du eine Verlobte Gottes bist.

421 Als Überlieferungsvariante für den Beginn des ersten Verses findet sich auch die Formulierung: Me tibi teque mihi. Vgl. hierzu Walther, Streitgedicht, S. 140, Anm. 1, sowie Wattenbachs, Anzeiger, S. 319, Edition des Gedichts auf Grundlage der Halberstadter Handschrift. 422 P (Prager Codex nach Feifalik): intraboque thorum nuda puella tuum. Hier wird das Liebesangebot noch direkter vorgetragen, da die Nonne von sich in der ersten Person spricht.

Dialoggedichte

5. Ich werde den Schleier ablegen, ich werde (auch) alles Übrige ablegen, und ein nacktes Mädchen wird zu deinem Bett gehen. 6. Wenn du des Schleiers entbehrst, kannst du dennoch nicht eine andere sein: Und meine Schuld wäre daher um nichts weniger geringer. 7. Eine Schuld zwar, aber (nur) eine kleine Schuld wäre diese, ich bekenne (wörtl.: wir                                                                                                                                           bekennen), dass dies eine Sünde seine werde, aber dennoch eine verzeihliche. 8. Die Gemahlin eines Mannes zu entehren, wird für ein schweres Vergehen gehalten, schwerwiegender ist es, wenn (wörtl.: dass) ich eine Gemahlin Gottes entehre. 9. Du hast durch deine heilige Vernunft meinen Wahnsinn besiegt: Ich freue mich, dass ich durch deine Worte überwunden worden bin. in der Halberstadter Handschrift findet sich noch ein zusätzlicher Hexameter 423 : Ergo velim nolim maneam claustralis ut olim. im Anschluss: Expliciunt metra alternativa cujusdam monialis inpacienter amantis ad amatorem suum satis lasciva. Strophe 9 bei Feifalik (Prager Hs., 15. Jh.)424 : Vicisti nostrum sancta ratione fervorem425 ,    gaudeo, quod verbis sum superata tuis. Strophe 9 im Berner Codex, 15. Jh.: Cum non sit rectum vicini frangere lectum,    Plus reor esse reum zelotypare Deum. [Obwohl es nicht rechtens ist, das Bett des Nachbarn zu entehren, glaube ich, dass es eine noch größere Schuld ist, Gott eifersüchtig zu machen.] Der Vaticanus endet mit dem achten Distichon.

Ein weibliches Text-Ich – der Überschrift und den Sprecherangaben nach eine Nonne – wendet sich werbend an ein männliches Gegenüber – ein iuvenis bzw. clericus426 genannter scheinbar junger Kleriker – und unternimmt mehrere Anläufe, 423 Vgl. Wattenbach, Anzeiger, S. 319. 424 Feifalik, Studien, S. 168. 425 Ein prosodisches Problem besteht hier allerdings darin, dass die eigentlich mit einer Positionslänge zu versehende Silbe fer- in fervorem nicht in den Hexameter passt. 426 Dass es sich um einen Kleriker und eine Nonne handelt, geht auch aus der Einleitung im Berner Codex hervor. Vgl. Hagen, Carmina, S. 206, Anm.: „Cod. Bern. 434 […] Praescripta sunt haec:

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um diesen zu verführen. Die Eingangsformel lässt auf einen in der mittellateinischen Literatur verbreiteten Topos schließen, welcher argumentativ eine Gegenseitigkeit zwischen der Nonne selbst und dem von ihr Angesprochenen unterstellt.427 Das weibliche Text-Ich leitet im Pentameter aus der genannten Gleichheit von Schönheit, Alter und Stand die Frage ab, warum sie sich nicht auch in der Liebe einander anpassten. Der Kleriker bringt daraufhin im zweiten Distichon ganz offen seine Ablehnung mit dem Verweis auf ihre schwarze Kleidung zum Ausdruck; er dagegen liebe stets das Weiße und Reine. In ihrer Replik (Str. 3) nimmt die Nonne die Farbadjektive ‚schwarz‘ und ‚weiß‘ auf und gesteht ein, dass sie zwar schwarze Kleidung trage, er aber dennoch ihr reines – weißes (candida) – Fleisch, d. h. ihren Körper, erblicken solle, wobei der Ausdruck caro (Fleisch) eine geradezu physisch-sinnliche Körperlichkeit zum Ausdruck bringt. Die Farbe wird hier folglich nicht auf die Kleidung, sondern die weiße Haut bezogen. Während der ‚Eingeladene‘ zuvor im übertragenen Sinne von weißer Reinheit gesprochen hat, greift die ‚Einladende‘ seine Äußerung in einem wörtlichen Verständnis auf.428 Der clericus verweist nun jedoch auf ihren geistlichen Stand: Sie sei mit Christus vermählt, dessen Beleidigung eine Sünde darstelle. Gerade ihr Schleier zeige, dass sie eine Verlobte Gottes sei (V. 4,2). Das Wort velum bildet die Brücke zur nächsten Strophe: Sie werde den Schleier ablegen und alles andere auch; ein nacktes Mädchen werde zu seinem Bett gehen (Str. 5). Doch auch wenn sie sich ihrer Kleidung entledigt habe – wie der Mann erwidert –, könne sie dennoch nicht eine andere sein (Str. 6). Erneut bildet velum die Verbindung zum vorangegangenen Distichon, wobei zudem das Verb deponere semantisch durch careas aufgegriffen wird. Der iuvenis verweist schließlich darauf, dass auch seine eigene Schuld um nichts weniger geringer sei, woraufhin die Nonne im siebten Distichon ebenfalls den Schuldgedanken thematisiert und zugesteht, dass es sich tatsächlich um eine Sünde handle, doch – den Einwurf des Mannes einschränkend – lediglich um eine kleine und verzeihliche. Sie knüpft hierbei an eine Formulierung des clericus im vierten Distichon an: Hoc velum sponsam te probat esse Dei (V. 4,2) – Hoc fore peccatum, sed veniale tamen (V. 7,2). Erneut lässt sich beobachten, dass gerade das weibliche Text-Ich die vorausgehende

Quedam monacha nigris vestibus induta diligens quemdam clericum volens quod ageret rem cum ea: at ille nolens se consentire peccato se realiter hiis versibus excusavit.“ Die Bezeichnung iuvenis geht aus der Überschrift im Vaticanus (MS 344) hervor. 427 Vgl. Ohly, Du bist mein, S. 381, der zahlreiche weitere Belege für die Formel anführt, u. a. mit Verweis auf Ovid, Heroides 6,134, sowie Walther, Zur Geschichte eines mittelalterlichen Topos, S. 153f., welcher darüber hinaus im Hinblick auf den Tegernseer Liebesbrief 10 eine Kenntnis dieses Dialoggedichts vermutet. 428 In der Berner Handschrift nach Hagen sind die Verse 2,2 und 3,2 dabei zudem parallel angelegt: Quae nigra sunt, fugio, candida semper amo (V. 2,2) – Quae nigra sunt, fugias, candida crura petas (V. 3,2).

Dialoggedichte

Formulierung des Mannes imitativ aufgreift. Der iuvenis lässt im achten Distichon mit crimen das zuvor genannte peccatum anklingen: Die Ehefrau eines anderen zu entehren (violare), sei ein großes Vergehen, doch noch schwerwiegender sei es, die Angesprochene – als eine Verlobte Gottes – zu entehren (violare). Die Prager Handschrift sowie der Halberstadter Codex machen nun allerdings am Textende eine Niederlage der Nonne deutlich: Er habe ihren Wahnsinn durch die »heilige Vernunft« besiegt (vicisti nostrum sancta ratione furorem429 ); sie freue sich, dass sie durch seine Worte überwunden worden sei (gaudeo, quod verbis sum superata tuis). Dieses Ende ist im Hinblick auf die Deutung des Dialogs aufschlussreich, da durch den Hinweis darauf, dass sie besiegt bzw. überwunden (superata) worden sei, zum einen der Streitcharakter des Liedes zu Tage tritt und zum anderen durch den ergänzenden Hinweis verbis explizit betont wird, dass es sich um einen »mit Worten« ausgetragenen Konflikt gehandelt hat.430 Gerade die enge Verknüpfung der Disticha macht deshalb deutlich, dass es in diesem Dialoggedicht vor allem um ein geschicktes Aufgreifen der jeweils vorausgehenden Aussage zu gehen scheint, um durch die Aufnahme eines Begriffes oder einer Aussageform ein eigenes Argument zu entwickeln. Auch am Ende des Berner Codex scheint die sponsa Dei durch den von ihr umworbenen Mann umgestimmt worden zu sein und einzulenken: Auch wenn es nicht richtig sei, das Bett des Nachbarn zu entehren, handle es sich um eine größere Schuld, Gott eifersüchtig zu machen (zelotypare Deum). Die ‚Niederlage‘ fällt hier dennoch etwas zurückhaltender aus. Da sich keine direkte Anrede der zweiten Person findet, bestünde zudem die Möglichkeit, dass ein drittes Text-Ich in einem den Dialogverlauf kommentierenden und diesen bilanzierenden Gestus sprechen könnte.431 Eine weitere Überlieferungsvariante findet sich im Codex Vat. Reg. Lat. 344, in dem der Dialog nach dem achten Distichon endet, wodurch in diesem Fall der Mann das letzte Wort behält; der Schluss wirkt hier daher weniger „versöhnend“, wie bereits Wattenbach feststellt.432 Die sehr deutlich ausfallende handschriftliche Überlieferungsvarianz des Textendes eröffnet somit auch unterschiedliche Möglichkeiten im Hinblick auf moralisch perspektivierbare

429 In der Prager Handschrift hat der iuvenis nicht den Wahnsinn (furorem), sondern die Hitze bzw. Leidenschaft (fervorem) der Nonne besiegt. 430 Vgl. Walther, Streitgedicht, S. 140, der das Gedicht gerade aufgrund dieser Strophe im Kontext der Disputationes-Literatur sieht. Vgl. ebenso die Anmerkung bei Feifalik, Studien, S. 168, zu Vers 17: „V. iterum, darüber nostrum“, wodurch möglicherweise angedeutet wird, dass derartige Auseinandersetzungen schon mehrmals stattgefunden haben könnten, wobei es sich jedoch eher um eine Verschreibung zu handeln scheint (Hinweis P. Orth). 431 Für den Hinweis auf diese Deutung des Schlusses sowie im Hinblick auf Beobachtungen zu den alternativen Enden des Dialogs in den einzelnen Handschriften insgesamt danke ich P. Orth, der zudem sehr wertvolle Hilfen zur Übersetzung des Gedichts gab. 432 Wattenbach, Anzeiger, Sp. 319.

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Deutungsalternativen (vor allem Vaticanus vs. Prager und Halberstadter Handschrift), wobei jedoch – wie der kurze Durchgang durch den Text gezeigt hat – eher das Spiel mit unterschiedlichen Sprechweisen im Kontext einer Werbungs- und Liebesthematik im Zentrum zu stehen scheint, zumal ein ‚moralischer Zeigefinger‘ am Gedichtende ob des deutlich durch erotische Konnotationen geprägten Dialogverlaufs an sich nur wenig überzeugend wirkt. 2.4.2

Nescio quid sit amor: Dialog zwischen amica und amicus (Carmina Florentina)

Das lateinische Dialoglied umfasst 21 Distichen und gehört zu den Carmina Florentina – eine Sammlung von 9 Gedichten aus einem Florentiner Codex, welcher als einziger die Lieder als ein zusammenhängendes Corpus überliefert.433 Wollin datiert die erst in jüngerer Zeit auf größere Aufmerksamkeit stoßende Gedichtsammlung in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts und nimmt an, dass die StatiusHandschrift, in welche die Lieder „auf zwei am Ende freigebliebenen Blättern“ eingetragen worden seien, aus Frankreich stammt „und dort aufgezeichnet wurde, noch bevor der Codex einen italienischen Besitzer fand“434 . Er legt darüber hinaus dar, dass eine Verbindung des Corpus mit Abaelard – wenn auch nicht bezogen auf 433 Zitiert wird der Text nach der Ausgabe von Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 305–310, der eine Neuausgabe der Carmina Florentina vorbereitet (vgl. ebd., Anm. 10). Vgl. außerdem die Edition Delbouilles, S. 181–183, auf Basis der Handschrift Firenze, Biblioteca Medicea Laurenziana, Ed. 197, 12./13. Jh., fol. 131a unten, wobei die Handschrift und daher auch der Abdruck des Textes bei Delbouille einige Lücken aufweisen. Vgl. hierzu folgenden Hinweis bei Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 305, Anm. 65: „Im Florentiner Codex sind die Buchstaben am rechten Seitenrand von fol. 131r stark abgerieben, so dass der Text kaum noch lesbar ist. Die Lücken in der Edition von Delbouille lassen sich jedoch durch Wilhelm Meyers Abschrift (Göttingen, SUB, Cod. W. Meyer VIII 7) und die Handschrift Gotha, Forschungsbibliothek, Memb. II 120 (fol. 52r–v = p. 103–104) schließen.“ Die Ergänzungen Wollins in der Textwiedergabe der hier vorgelegten Arbeit sind durch Kursivierungen gekennzeichnet. Vgl. hierzu außerdem Brinkmann, Geschichte, S. 79. Walther, Streitgedicht, S. 141, verweist darauf, dass sich in zwei Handschriften der Dialog im Anschluss an den Pamphilus findet – ohne diese Codices jedoch zu benennen (Delbouille lagen diese Handschriften ebenfalls nicht vor, vgl. Hinweis desselben auf Walther in „Trois Poésies Latines Inédites“, S. 183). Zu den Figurenangaben im Florentiner Codex vgl. Delbouille, S. 183: „Le texte de ce dialogue occupe le bas du folio 132 r0 , où il est écrit sur deux colonnes (v. 1–23 et v. 24–42). Dans la première, les noms des interlocuteurs sont inscrits à gauche du texte; dans la seconde, à droite.“ Die zweite Spalte bereitet hierbei Schwierigkeiten im Hinblick auf die Lektüre. Zu Problemen der Textkritik und der Sprecherzuordnung in den letzten Strophen des Gedichtes – eine weitere Figur, ein Knabe, scheint hinzuzutreten – vgl. Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 305–310; Brinkmann, Geschichte, S. 79–82; Delbouille, S. 183–186. Zur Sammlung der insgesamt neun Carmina Florentina vgl. Wollin, Liebeslied, S. 138–141. Ich danke P. Orth für zahlreiche Hinweise zur Textgestalt und Übersetzung des hier behandelten Liedes. 434 Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 279. Vgl. außerdem ders., Liebeslied, S. 138.

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jedes der neun Lieder – außer Frage stehe, und schließt auf eine Liedersammlung, „welche Abaelard selbst zumindest bekannt war und welche nachweislich auch von seinen Schülern gesungen und imitiert wurde“435 . Walther sieht enge Verbindungen zum Pamphilus436 und in der Tat ist dieser Dialog durch situative Momente gekennzeichnet, die eine Nähe zur elegischen Komödie nahelegen. Im Unterschied zu dem oben vorgestellten Werbungsgespräch zwischen Pamphilus und Galathea sind die einzelnen Dialogaussagen jedoch deutlicher miteinander verzahnt; das männliche Text-Ich gewinnt hier gerade aus den Einwänden der amica heraus Argumente im Hinblick auf sein Werbungsinteresse. Der für die Ovidtradition charakteristische Gegensatz zwischen Schein und Sein lässt sich erneut erkennen, spricht doch das weibliche Text-Ich zunächst in einem äußerst naiv anmutenden Modus, offenbart dann aber im Liedverlauf zunehmend eine gewisse Raffinesse bezüglich des Arrangements eines geheimen Treffens mit dem amicus.437 Im Hinblick auf die Werbungsthematik fällt auf, dass der Geliebte nicht in einem direkt werbenden Gestus spricht, sondern jeweils lediglich – zumindest in den Distichen 1 bis 14 – auf die Aussagen der amica reagiert.438 Brinkmann beobachtet hierbei, wie „in schulmäßiger Weise […] bestimmte Motive und Vorstellungen ohne jedes dichterische Bemühen in Worte“ gekleidet seien.439 Gerade der Verlauf der zweiten Partie zeige, „dass ihr Verfasser die Vorgänge sich in keiner Weise anschaulich vorgestellt hat; die Worte, nicht die Dinge interessierten ihn“440 . Dabei gehe es vor allem darum, „Pastourellenmotive möglichst vollständig zusammenzustellen, ohne besondere Rücksicht auf innere Verbindung“441 . Dennoch spiegelt sich gerade hierin der für den Werbungsdialog spezifische Charakter eines oftmals nur mit Andeutungen arbeitenden und auf unterschiedliche Diskurstraditionen verweisenden Sprechens wider. Vor allem durch die konnotativ aufgrund der verwendeten Motive und Aussageformen abgerufenen Suggestionsräume ist dabei von Beginn an klar, welche Art der Figurenbeziehung zwischen amica und amicus zu bestehen scheint bzw. in welche Richtung sie sich entwickelt:

435 Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 279. 436 Vgl. Walther, Streitgedicht, S. 141. 437 Vgl. Brinkmann, Geschichte, S. 82: „Unter den Motiven, die der erste Teil vereinigt, ist kaum etwas, was sich nicht auch bei Ovid finden ließe.“ 438 Vgl. hierzu Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 305. 439 Brinkmann, Geschichte, S. 81f. 440 Ebd., S. 81. 441 Ebd., S. 82. Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 305f., äußert sich im Hinblick auf die Anknüpfung an die Pastourellentradition skeptisch, er spricht ebd., S. 306, von einer „verfehlten Zuordnung“ und hebt die engen Bezüge auf die Komödie hervor.

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Amica.442 Necio, quid sit amor. Noli me sollicitare!    Sum rudis et simplex: nescio, quid sit amor. Amicus. Quid sit amor, nescis. Ego, quid sit amare, docebo.    Tu, rudis et simplex, simplicitate places. Amica. Est pater asper homo. Timeo patris asperitatem:    Mors michi pena foret. Est pater asper homo. Amicus. Si pater asper homo, reddent mea uerba benignum.    Si patris ense rues, et pater ense meo. Amica. Virginitas placuit. Volo parcere uirginitati:    Res inmunda Venus. Virginitas placuit. Amicus. Virginitas tua sit, nec ego rogo uirginitatem.    Si maculem, quod amem, res inhonesta foret. Amica. Fama ream faceret, si non rea criminis essem.    Et, licet inmerito, Fama ream faceret. Amicus. Feminea tamen arte solent secreta latere.    Non est, quod timeas, si mihi prouideas443 . Amica. Quis locus aptus erit, quo conueniamus amantes?    Est pater usque domi. Quis locus aptus erit? Amicus. Quis locus? Ecce locum nobis Natura parauit;    Nam tutas latebras proxima silua parat.

442 Figurenangaben nach dem Florentiner Codex; Ergänzungen zu den Sprecherangaben in eckigen Klammern nach Vers 28 durch S.R. 443 Delbouille schreibt hier praevideas, welches nachklassisch im Sinne von ‚Sorge tragen um‘ ebenfalls möglich ist.

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Amica. Est anus in thalamis nutrix michi sedula custos:    Non patet egressus. Est anus in thalamis. Amicus. Corrumpatur anus, quasi corrumpitur iudex!444    Preparat illa diem, preparat illa locum! Amica. Munera mitte michi, quibus inuitetur ad amum!    Per puerum tacite munera mitte michi! Amicus. I cito, surge, puer, et munera defer ad illam!    Et refer, ut cumulet munera pollicitis! Amic. [Amica] Non sibi sufficiunt tua munera: plura requirit.    Quamuis multa forent, non sibi sufficiunt. Am. [Amicus] Dum bibit ydropicus, magis et cupit et sitit undam:    Sic magis exardet semper auara lues. Amc. [Amica] Ni precium duplices, duplex iactura uidetur.    Tum precium perdes, ni precium duplices. [Amicus] Set timeo iam, si merces dupplicabitur illi,    Ne dupplicare uelit, quod dupplicare potest. [Amica] Perfida iurat anus nichil amplius esse timendum.    Per Stiga, per diuos perfida iurat anus. [Amicus] Defer et ista, puer! Dii dona secunda secundent:    Solus in orbe deus munera terna petit. [Amica] Iam fauet illa tibi! Faciamus, quod nequid unus!    Iam placet, ut uenias! Iam fauet illa tibi!

444 Der Vers passt nicht vollständig ins Metrum.

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Ich weiß nicht, was Liebe ist. Beunruhige mich nicht! Ich bin ungebildet und einfach (naiv): Ich weiß nicht, was Liebe ist. Was Liebe ist, weißt du nicht. Ich werde (dich) lehren, was es heißt zu lieben. Du, ungebildet und einfach, gefällst gerade durch Einfachheit. Mein Vater ist ein grausamer Mensch. Ich fürchte die Grausamkeit des Vaters: Der Tod wäre für mich die Strafe. Mein Vater ist ein grausamer Mensch. Wenn dein Vater ein grausamer Mensch ist, werden meine Worte ihn gütig                                                                                                                                stimmen. Wenn du durch das Schwert deines Vaters niedersinken wirst, wird auch dein Vater                                                                            durch mein Schwert (niedersinken). Die Jungfräulichkeit hat mir gefallen. Ich will die Jungfräulichkeit bewahren: Liebe ist etwas Unreines. Die Jungfräulichkeit hat mir gefallen. Deine Jungfräulichkeit soll bewahrt werden, und nicht verlange ich (deine)                                                                                                                Jungfräulichkeit. Wenn ich beschmutze, was ich liebe, wäre es eine unehrenhafte Tat. Das Gerede würde mich zu einer Schuldigen machen, selbst wenn ich nicht des                                                                                       Verbrechens schuldig wäre. Und, wenn auch zu Unrecht, das Gerede würde mich zu einer Schuldigen machen. Doch durch weibliche Raffinesse pflegen Geheimnisse verborgen zu bleiben. Es gibt keinen Grund (dafür), dass du dich fürchten musst, wenn du dich um mich                                                                                                                               sorgst. Welcher Ort wird geeignet sein, an dem wir Liebende uns treffen können? Der Vater ist stets zu Hause. Welcher Ort wird geeignet sein? Welcher Ort? Schau, die Natur hat uns einen Ort bereitet; denn der nahe liegende Wald bereitet (uns) schützende Schlupfwinkel. Die alte Amme ist in den Schlafgemächern für mich eine emsige Wächterin: Nicht ist der Ausgang offen. Die Alte ist in den Schlafgemächern. Die Alte soll bestochen werden, wie der Richter bestochen wird! Jene kümmert sich um den Tag, jene kümmert sich um den Ort! Schicke mir Geschenke, mit denen sie geangelt werden soll! Durch einen Diener schicke mir heimlich Geschenke.

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Geh schnell, steh auf, Knabe, und bringe Geschenke zu jener! Und erstatte Bericht, wie sie die Geschenke mit Versprechungen vergrößert. Nicht genügen ihr deine Geschenke: Sie verlangt noch mehr (Geschenke). Obwohl es viele waren, genügen sie ihr nicht. Wenn der Wassersüchtige trinkt, wünscht er sich sowohl mehr und dürstet mehr                                                                                                                          nach Wasser: So verlangt die Habgier stets nach immer mehr. Wenn du den Lohn nicht verdoppelst, scheint es ein doppelter Verlust. Dann wirst du den Lohn verlieren, wenn du den Lohn nicht verdoppelst. Aber ich befürchte schon, wenn der Lohn für jene verdoppelt werden wird, dass sie verdoppeln will, was sie verdoppeln kann. Die treulose Alte schwört, dass (dann) nichts mehr zu fürchten sei. Beim Styx, bei den Göttern schwört die treulose Alte. Bringe auch diese (Geschenke) weg (zu ihr), Knabe! Die Götter mögen die zweiten                                                                                           Geschenke begünstigen: Als einziger auf der Welt fordert ein Gott dreifache Geschenke. Nun begünstigt dich jene! Lass uns machen, was ein einziger allein nicht kann! Nun gefällt es, dass du kommst! Nun begünstigt dich jene!

Das Lied beginnt mit der geradezu topischen Aussage, nicht zu wissen, was Liebe sei, weshalb hier – auch ohne eine Figurenangabe – auf ein weibliches Text-Ich zu schließen ist, was der weitere Liedverlauf bestätigt. Die amica wolle darüber hinaus nicht beunruhigt werden, wie sie im zweiten Teil des ersten Verses erklärt; Liebe scheint aus ihrer Sicht etwas zu sein, vor dem es sich zu bewahren gilt. Sie selbst bezeichnet sich jedoch als ungebildet (rudis) und ‚einfach‘ (simplex). Dass sie nicht wisse, was Liebe sei, wiederholt sie am Ende des zweiten Verses in direkter Aufnahme des Strophenbeginns. Diese Übereinstimmung des ersten und letzten Halbverses des Distichons (versus echoici) begegnet in allen Frauenstrophen.445 In den jeweiligen Antworten des amicus stimmen Anfang und Ende jeder Strophe nicht wortwörtlich überein, aber dennoch wird auch hier ein meist terminologischer Bogen gezogen, indem ein zentrales Wort des ersten Strophenhalbverses am Ende erneut aufgegriffen wird. Das männliche Gegenüber thematisiert in seiner Antwort (Vv. 3f.) beide von der amica genannten Aspekte, sowohl die Unwissenheitserklärung bezogen auf das Wesen des amor als auch die – gleichsam als

445 Vgl. zu dieser literarischen Technik Ovid, Amores, I,9,1–2; III,2,27–28 (Hinweis bei Brinkmann, Geschichte, S. 79, außerdem verweist er ebd. auf Heroides 5, Vv. 117–118, sowie auf mittelalterliche Belege u. a. in der Anthologia Latina, bei Balderich von Bourgueil und Marbod. Er schließt ebd.: „Es besteht also eine fortlaufende Tradition, in die sich unser Dialog einfügen ließe; trotzdem ist auch die Möglichkeit zu erwägen, ob er nicht unmittelbar auf Ovid zurückgeht“).

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Begründung hierfür dienende – Aussage, dass sie ungebildet und ‚einfach‘ sei, weshalb die ersten beiden Strophen eine thematische Einheit bilden. Dabei wiederholt der amicus Teile ihrer Äußerung wörtlich: Was Liebe ist, wisse sie nicht; er werde sie lehren, was Liebe ist. Sie sei simplex et rudis, sie gefalle jedoch gerade durch ihre ‚Einfachheit‘ (simplicitate). Vor dem Hintergrund der literarischen Tradition des Werbungsgesprächs lässt sich zwar aufgrund dieses Kompliments sowie der Absichtserklärung, sie belehren zu wollen, das Werbungsinteresse des amicus ableiten, aber dennoch ist ein solches lediglich indirekt zu erschließen. In Strophe 3 formuliert die amica – auf die vorausgehende Rede inhaltlich nicht eingehend – einen weiteren Einwand446 , wobei sie jedoch gleichzeitig die sprachliche Struktur der ersten beiden Strophen variiert aufgreift: Ihr Vater sei ein grausamer Mensch, sie fürchte sich vor der Grausamkeit des Vaters (V. 5). Der Tod wäre für sie die Strafe, ihr Vater sei ein grausamer Mensch (V. 6). Eine Weiterführung des in den ersten Strophen ansatzweise eröffneten Diskurses über das Wesen der Liebe findet sich somit nicht, vor dem konnotativen Hintergrund anderer Texte wäre möglicherweise zu erwarten gewesen, dass nun der amicus versuchen würde darzulegen, wie der amor beschaffen sei – in einer freilich durch seine Werbungsabsicht bestimmten Weise. Mit der Erwähnung des Vaters wird dagegen das häufig in der Pastourelle bzw. pastourellesken Erzählungen begegnende Motiv der Angst vor den Eltern aufgrund deren Missbilligung eines illegitimen (sexuellen) Verhältnisses mit dem sie umwerbenden Mann abgerufen. Die scheinbare Naivität des weiblichen TextIchs ist hier bereits – gerade bei einem Bezug auf die Pastourelle und die ovidische Liebeskonzeption, für welche das Auseinanderklaffen von Schein und Sein charakteristisch ist – zu hinterfragen, weist die Aussage der amica doch darauf hin, dass sie die ‚eigentlichen‘ Absichten des amicus durchaus erkennt, welcher – wenn er dies auch nicht direkt einfordert – eine Liebesbegegnung mit ihr erstrebt. Dieser beruhigt die amica jedoch erneut in Bezug auf den von ihr vorgebrachten Einwand: Wenn ihr Vater ein grausamer Mensch sei, würde er ihn gütig stimmen. Wenn sie dagegen durch das Schwert ihres Vaters sterben werde, werde dieser wiederum durch das Schwert des amicus sterben. Wie im zweiten Distichon erfolgt eine – scheinbar systematische – Bezugnahme auf beide thematischen Aspekte der weiblichen Rede; Anfang und Ende der Disticha sind zudem durch das Wort pater verknüpft. Im Verlauf des Dialogs nennt die amica weitere Gründe, die einer Liebesbegegnung mit dem amicus entgegenstehen, wobei dieser jedoch stets eine passende Antwort parat hat, welche die angeführten ‚Ausreden‘ der ‚Geliebten‘ als haltlos zu

446 Vgl. Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 307, der seinen Eindruck schildert, dass die amica ihrem amicus immer wieder neue Probleme stelle, die er bestehen müsse, um ihre Liebe zu gewinnen.

Dialoggedichte

erweisen versucht – das Wechselspiel von Einwänden der amica und Beschwichtigungen durch den amicus setzt sich somit fort: Sie wolle ihre Jungfräulichkeit bewahren, Liebe sei etwas Unreines (Vv. 9f.). Auffälligerweise konkretisiert die amica hier selbst die Unterhaltung im Hinblick auf eine explizit sexuelle Thematik, wogegen der amicus jedoch Widerspruch zum Ausdruck bringt: Keinesfalls erstrebe er ihre Jungfräulichkeit; wenn er beschmutzen würde, was er liebe, wäre dies eine unehrenhafte Tat (Vv. 11f.). Als Nächstes führt sie den ebenfalls topischen Einwand an, dass das Gerede (fama) sie zu einer Schuldigen machen würde, selbst wenn sie unschuldig wäre (Vv. 13f.). Geheimnisse pflegten doch aber – wie der amicus dagegenhält – durch weibliche Raffinesse verborgen zu bleiben, zumal wenn sie um ihn Sorge trage (si mihi prouideas, Vv. 15f.). An welchem Ort jedoch könnten sich Liebende schon treffen, da der Vater stets zu Hause sei (Vv. 17f.)? – Der Wald biete passende Verstecke (Vv. 19f.). Der Widerstand der amica bricht stückweise, da sie sich in Strophe 9 prinzipiell zu einem geheimen Treffen mit dem amicus bereit erklärt, wobei sie allerdings weitere – auf eine solche Zusammenkunft bezogene – Einwände anführt: Ihre alte Amme bewache sie stets und lasse sie nicht aus den Augen (Vv. 20f.). – Diese könne man jedoch wie einen Richter bestechen und dann werde sie ein Treffen beider arrangieren (Vv. 23f.). Die amica wird nun im weiteren Verlauf zunehmend selbst initiativ im Hinblick auf das Zustandekommen einer solchen geheimen Begegnung mit dem amicus: Er solle ihr selbst durch einen Knaben Geschenke zukommen lassen (Vv. 25f.), um hiermit die Alte bestechen zu können. Sogleich schickt er einen puer los, und zwar zur amica (ad illam, Vv. 27f.); der Knabe solle berichten, wie sie – womit erneut die amica gemeint zu sein scheint – die Geschenke durch (weitere) Versprechungen (an die Amme) vergrößere.447 Sogleich im nächsten Distichon heißt es dann allerdings, dass ihr – also der Alten – die Geschenke nicht genügten (Vv. 29f.); das Gespräch wurde offenbar unterbrochen, Wollin spricht von einer „Durchbrechung der Dialogform“ und einer „Durchbrechung von Zeit und Raum“448 , wodurch sich inhaltliche Sprünge der ‚Handlung‘ erklären ließen.449 Der Dialogverlauf ist insgesamt in der zweiten

447 Dass der Knabe hier direkt zur Alten geschickt werde, schließt Brinkmann, Geschichte, S. 80, aufgrund der Formulierung munera mitte mihi (V. 26) aus. Delbouille setzt in Vers 28 pollicita statt pollicitis: »Und erstatte Bericht, wie sie die versprochenen Geschenke aufhäuft« (Et refer, ut cumulet munera pollicita). Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 308, spricht bezogen auf den puer von einem Diener. 448 Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 308. 449 Ohne Sprecherangabe ließe sich hier zudem überlegen, ob nicht möglicherweise auch der puer zu Wort kommen könnte, der als ‚Bote‘ von dem Misserfolg des Bestechungsversuchs berichten würde. Im Hinblick auf die Verse 29f. vermerkt Brinkmann, Geschichte, S. 80, Anm. 1, dass „in der jüngsten Hs. […] tatsächlich von v. 29 ab puer als Redender angegeben“ werde, er verwirft diese Sprecheranweisung jedoch ebd., S. 80f., aufgrund des weiteren Liedverlaufs. Es ist unklar, auf welche Handschrift sich Brinkmann hier bezieht, der Florentiner Codex kann nicht gemeint

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Texthälfte – vor allem bedingt durch die Figur des puer – schwieriger konkretisierbar und auch die Überlieferung weist zum Teil Verderbnisse auf (s. oben). Zudem finden sich hier lediglich verkürzte Sprecherangaben, welche ab Vers 35 vollständig fehlen. Brinkmann geht im Hinblick auf den Dialog insgesamt von einer direkten Begegnung von amicus und amica aus, die jedoch in der zweiten Gedichthälfte mehrmals unterbrochen werde aufgrund des Übermittelns der Geschenke durch den puer und des wiederholten Versuchs, die Amme zu bestechen, woraufhin die amica jeweils ein weiteres Mal mit dem amicus zusammentreffe.450 Delbouille schließt dagegen, dass beide Figuren räumlich nicht an einem Ort seien unter Verweis auf die Formulierungen mitte mihi (V. 25) und ut venias (V. 42), „qui montrent clairement que les deux personnages ne sont pas ensemble.“451 Er vermutet dennoch eine räumliche Nähe, indem er erklärt, dass die amica wohl zu Hause – im Inneren des Hauses – sei und der amicus von draußen zu ihr spreche.452 Erwägen ließe sich hier allerdings auch, ob nicht womöglich ein brieflicher Austausch zwischen beiden Figuren stattfinden könnte, wodurch ebenfalls die Formulierungen mitte mihi (V. 25) und ut uenias (V. 42) verständlich wären. Diese Unklarheiten zeigen erneut, dass weniger der kohärente Nachvollzug einer Handlungsabfolge im Vordergrund zu stehen scheint, als vielmehr ein möglichst geschicktes Ineinandergreifen der einzelnen Redebeiträge. Mit dem Rückgriff auf die an sprichwörtliche Redensarten erinnernde Äußerung der Verse 31f. erklärt der amicus im weiteren Gesprächsverlauf – in einer eher bildlichen Ausdrucksweise aufgrund der Nennung des Wassersüchtigen sowie der auara lues –, dass die Habgier stets wachse, wenn man sie zu stillen versuche.453 Zum ersten Mal innerhalb des Dialogs hat er scheinbar keine Lösung parat, weshalb die amica ihn auffordert, den Lohn zu verdoppeln (Vv. 33f.); von der zu Beginn beteuerten simplicitas scheint sie weit entfernt. Das dreimal wiederholte precium ist dabei einerseits auf den Lohn der anus zu beziehen (Vv. 33, 34b) und andererseits auf den von amicus und amica durch die Bestechung der Alten erstrebten ‚Lohn‘ im Sinne der Ermöglichung eines heimlichen Treffens beider. Der Angesprochene bringt nun aber weitere Bedenken zum Ausdruck: Wenn er den Lohn auch verdopple, befürchte er dennoch, dass die Amme ihre Lohnforderung ein weiteres Mal verdoppeln werde (Vv. 35f.). Im Folgenden ist aufgrund einer Verderbnis des Textes – zumindest im Florentiner Codex – nicht eindeutig festzustellen, was die Alte schwöre (Vv. 37f.): Wollins Ergänzung esse timendum auf Basis der Delbouille nicht zugänglichen Handschriften impliziert

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sein. Der Hinweis verstärkt jedenfalls die genannten Schwierigkeiten einer genaueren inhaltlichen Konkretisation der ab Vers 25 dargestellten Kommunikationssituation. Vgl. Brinkmann, Geschichte, S. 81. Delbouille, S. 184. Zu denken ist hierbei etwa auch an den Mythos von Pyramus und Thisbe. Zum wohlbekannten Bild des Wassersüchtigen vgl. Wollin, Liebeslied, S. 145.

Dialoggedichte

eine etwaige Entspannung der dargestellten Situation: Die treulose Alte schwöre, dass nichts mehr zu fürchten sei. Die Aussage ist in dem Sinne zu deuten, dass aus einem Gespräch mit der Amme hervorgegangen sein muss, dass sie sich nach der Verdopplung des Lohns nicht mehr einer Begegnung der beiden in den Weg stellen werde. In Vers 39 wird demzufolge der Knabe erneut mit der Auslieferung von Geschenken beauftragt, woraufhin der Geliebte – auf Grundlage der Ergänzung Wollins – die Götter anruft, welche dem nunmehr zweiten Bestechungsversuch zum Erfolg verhelfen mögen (dona secunda secundent). Als einziger auf der Welt würde ein Gott dreifache Gaben fordern. Damit behält der amicus Recht, denn diesmal ist das Vorgehen von Erfolg gekrönt: Die Geliebte verkündet am Ende des Dialogs (Vv. 41f.), dass die Alte dem amicus gegenüber Zustimmung zum Ausdruck bringe, und wendet sich in einem auffordernden Gestus an diesen: Sie sollen machen (faciamus), wozu ein einziger allein nicht imstande sei454 ; nun gefalle es ihr, dass er komme, wodurch am Ende die amica selbst diejenige ist, die äußerst direkt zu einer Liebesbegegnung auffordert. Während sie sich im ersten Distichon noch als vollkommen unwissend über das Wesen der Liebe präsentiert, wird hier deutlich, dass sie sehr wohl um das Werbungsinteresse des Mannes zu wissen scheint. Es kommen dabei im Dialogverlauf unterschiedliche Strategien der Werbung und Abwehr unter Rückgriff auf das für die Pastourelle typische Motiv- und Formenarsenal zum Einsatz. Der Ausgang des Textes und die sich im letzten Distichon widerspiegelnde Euphorie der amica deuten auf das für die ovidische Liebeskonzeption spezifische Auseinanderklaffen von Schein und Sein hin; die Abwehr wirkt daher im Nachhinein lediglich vorgetäuscht. Von einer simplex puellula kann also nicht die Rede sein. Ein schrittweises Nachgeben gegenüber den Werbungsbemühungen des Mannes kennzeichnet auch die Frauenfiguren in den pastourellesken Dialogen des Codex Buranus. Das Moment eines mehrmaligen Sprecherwechsels im Rahmen des Werbungsgesprächs ist hier weniger stark ausgeprägt, wohingegen das kontrastive Spiel mit unterschiedlichen Diskurstraditionen noch einmal sehr deutlich gesteigert wird. 2.4.3

Werbungsdialoge im Codex Buranus

Ein Gesamtkommentar zu dem Textcorpus des Codex Buranus steht bis dato aus. Die jüngeren Editionen enthalten in ihrem Anhang jeweils zwar einen Kurzkommentar mit u. a. Verweisen auf zentrale Vergleichsstellen, ausführlichere Kommen-

454 Wollin, Lateinische Liebesdichtung, S. 309f., Anm. 75, verweist hier auf den Abdruck des Textes bei Meyer und Delbouille, welche beide in der von ihnen verwendeten Handschrift anus statt unus lesen: Faciamus, quod nequid anus. – »Lass uns machen, was die Alte nicht kann.« Einen derartigen „boshaften Seitenhieb“ der sich im „Genuss ihrer Freude“ befindlichen amica hält Wollin ebd. jedoch für unwahrscheinlich.

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tierungen finden sich aber lediglich in Einzeluntersuchungen zu ausgewählten Liedern des Corpus, wobei in jüngerer Zeit u. a. die Arbeiten von Cardelle de Hartmann und Bretzigheimer herausstechen. Letztere zeigt etwa anhand von CB 105 „das witzig Spielerische“ als Charakteristikum des behandelten Liedes auf, konstitutiv für das Verfahren des Autors dieses Texts seien einerseits Intertextualität, andererseits Komik.455 Gerade für eine Untersuchung der einen dialogischen Austausch enthaltenden Liebeslieder aus dem Codex Buranus sind derartige Beobachtungen wegweisend, in denen sich immer wieder Rückgriffe auf zahlreiche Texttypen- und Diskurstraditionen beobachten lassen, welche die Figuren auf jeweils spezifische Art und Weise in ihre Argumentation einbinden.456 Diese oftmals kombinatorischen Bezugnahmen erfolgen dabei teilweise nur andeutungsweise sowie aufgrund des Wechsels auf unterschiedliche Sprechebenen. Durch die punktuelle Verwendung der Volkssprache und die hiermit verbundenen Implikationen wird zudem ein weiterer Konnotationsrahmen eröffnet.457 Dabei ist ein Großteil der einen Mann-Frau-Dialog enthaltenden Lieder ebenfalls der Gruppe der pastourellenartigen Texte zuzuordnen (vgl. Kapitel 2.1.4), obgleich auch hier die Grenzen des Texttyps ausgelotet zu werden scheinen, wenn etwa in manchen Liedern die Handlung präsentisch oder aus Sicht des weiblichen Text-Ichs erzählt wird.458 Das oben beschriebene stereotype Pastourellenmuster wird jedenfalls in den wenigsten Fällen gänzlich eingehalten. Die jeweils dargestellte Szenerie ist zwar eng an den

455 Bretzigheimer, Artes Amoris, S. 232. Vgl. ebd.: „Er imitiert nicht etwa eine bestimmte literarische Vorlage, sondern bezieht sich in unterschiedlicher Weise auf unterschiedliche Textstellen: in Form von auctoritates, kleinräumigeren wörtlichen Anleihen, Anspielungen, Textverwandlungen. Reich ist das Gedicht ebenfalls an Inkongruenzen, einem nach der opinio communis für Komik wesentlichen Element.“ 456 Vgl. die Einteilung des gesamten Liedcorpus’ der Handschrift in der Edition Vollmanns. 457 Die in der Zeit um 1230 entstandene Anthologie vereint in sich Lieder, die früheren Ursprungs sein können, der sich in den wenigsten Fällen genau datieren lässt, aber zum Teil weit ins 12. Jahrhundert und darüber hinaus zurückgeht. Vgl. hierzu u. a.: Dronke, A critical note; Vollmann, S. 899f.; Beatie, Macaronic poetry in the Carmina Burana, S. 23. Für Datierungsfragen hilfreich erweisen sich die in Mehrfachüberlieferung erhaltenen Passagen. CB 146 zum Beispiel ist schon um 1200 in St. Gallen bezeugt (vgl. Vollmann, S. 904). Die Forschung betont im Hinblick auf die Sammlung deren rezeptive Haltung gegenüber volkssprachlichen Texttraditionen. 458 Die meisten der in den Carmina Burana enthaltenen ‚pastourellenartigen‘ Lieder sind als Anonyma und in keinem anderen Codex überliefert (außer Nr. 90). Eine Ausnahme bilden die mittelhochdeutschen Abschlussstrophen zahlreicher Lieder, die meist an die Textgruppe pastourellenartiger Lieder anknüpfen (vgl. hierzu auch Edwards, Archilochos, S. 6ff.). Pastourellen laut S. Brinkmann, Pastourelle, S. 120, Anm. 8: CB 70, (77), 79, 84, 90, 141, 157, 158, 184, 185. Unter der Voraussetzung, dass viele Texte jedoch als lediglich „pastourellenartig“ (s. oben) zu bezeichnen sind, lässt sich in Bezug auf die hier genannten Lieder diskutieren, inwiefern sie an der Tradition des Texttyps Anteil haben. Zudem ist die Gruppe der pastourellenartigen Texte bzw. Texte mit Pastourellenmerkmalen deutlich größer als die hier von S. Brinkmann zusammengestellten Lieder.

Dialoggedichte

locus-amoenus-Topos angepasst, im Hinblick auf den geschilderten Handlungsverlauf findet sich aber kein einheitliches Muster, wobei sich allerdings meist ein männliches Text-Ich einer – zunächst oftmals nicht näher bestimmten – Frauenfigur nähert. Wenn ein dialogischer Austausch begegnet, fällt dieser häufig sehr knapp aus. Teilweise findet sich in den Liebesliedern nur eine einzige Äußerung entweder des Mannes oder der Frau, mehrheitlich enthalten die Texte zwei bis drei Redebeiträge. Im Vergleich zu den Dialogliedern des Minnesangs ist es überaus auffällig, wie schnell es in einigen Fällen zu einer Überredung der angesprochenen Frau kommt. Es dominieren hierbei in der Rede des weiblichen Text-Ichs vornehmlich zwei Sprechregister: eines der direkten Zurückweisung und eines zum Ausdruck der Erhörung und des Wohlwollens in ebenfalls direkter Formulierung, wobei beide Sprechgestus meist in kurzer Abfolge miteinander konfrontiert werden. Im Hinblick auf den ‚Handlungs‘-Verlauf ist trotz einer gewissen inhaltlichen Varietät des jeweiligen pastourellenhaften Geschehens ansatzweise ein Schematismus zu erkennen: Begegnung von Mann und Frau meist in der Natur, Verzögerung der Liebeserfüllung bzw. Verzögerung der Nicht-Erfüllung: Wiedergabe eines kurzen dialogischen Austauschs (meist konflikthaft) oder Bericht über eine kurze Auseinandersetzung ohne Gespräch, Liebeserfüllung/keine Liebeserfüllung/offener Ausgang. Entscheidend ist hierbei, dass – auch wenn nicht alle diese Elemente innerhalb eines Liedes jeweils im Detail ausgeführt werden – diese dennoch präsent sind und sozusagen mitgedacht werden.459 Betrachtet man die wenigen Lieder, in denen sich eine mehrteilige Rede eines weiblichen Text-Ichs findet, stößt man häufig auf abrupt wirkende Registerwechsel zwischen den jeweiligen Äußerungen. Der dabei oftmals argumentativ nicht begründete Übergang von einer ablehnenden Position der puella zur Bereitschaft für eine Liebeserfüllung ließe sich – zumindest in manchen Liedern – als Anbindung an die Liebesstufen ovidischer Prägung deuten, wobei diese Stufigkeit erneut auch sprachlich erkennbar ist. Zunächst seien in einem kurzen Überblick unterschiedliche Möglichkeiten der Gesprächsgestaltung in den Liebesliedern des Codex Buranus vorgestellt. In CB 157 wird zunächst in den ersten beiden Strophen – ohne Ich-Bezug auf ein männliches Text-Ich – im Präsens erzählt, wie eine uirgo, propere facie uernali460 mit dem Hirtenstab auf das Feld zieht, um Schafe zu hüten. Wohl um die Mittagszeit – sol effundens radium / dat calorem nimium – flieht das Mädchen vor der sengenden Sonne unter den Schatten eines Baumes. Hier beginnt die Werbungsrede des Mannes – immer noch narrativ in einen präsentischen Rahmen eingebettet –,

459 Vgl. hierzu u. a. Pereira, Frauenfiguren, S. 290, in Bezug auf CB 157. 460 Texte und Übersetzungen hier und im Folgenden zit. n. der Ausgabe Vollmanns (Verseinrückungen werden nicht übernommen).

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welche mit der pastourellentypischen Erhöhung der Angesprochenen sowie einer Unterwerfungsgeste beginnt: salue regie digna! / audi, queso, seruulum, / esto michi benigna! (Str. 4). Doch die uirgo antwortet unschuldig-naiv: „Cur salutas uirginem, / que non nouit hominem, / ex quo fuit nata?“ Als ihr dann aber zufällig ein Wolf ein Schaf entreißt, schreit sie aus vollem Halse: „siquis ouem redderet, / me gaudeat uxore!“ Der Mann zieht sein Schwert aus der Scheide, tötet den Wolf und bringt das Schaf zurück, womit das Lied endet. Wenn auch die Metaphorik des Schwert-Ziehens (denudato gladio) überaus deutlich einen sexuellen Suggestionsraum eröffnet, wird eine Liebeserfüllung nicht direkt thematisiert. In CB 158 geht es ebenfalls um eine Schäferin, welche in diesem Fall bei strahlendem Sonnenschein unter einem Baum Flöte spielte. Die Handlung wird hier narrativ rückblickend aus der Perspektive des Mannes erzählt: Als er die virgo zufällig trifft, flieht sie vor ihm, doch er läuft ihr hinterher und versucht sie zu beruhigen: „sile! / nichil timeas hostile!“ Die virgo scheint bereits zu wissen, was von ihr verlangt wird, und setzt sich mit einem Spinnrocken zur Wehr: „Munus uestrum“, inquit, „nolo, / quia pleni estis dolo“ – / et se sic defendit colo. Sie ist jedoch dem Mann unterlegen, der sie gewaltsam erobert, woraufhin er zufrieden berichtet: Satis illi fuit graue, / michi gratum et suaue. Die Reaktion des Mädchens klingt dann allerdings versöhnlich: Anstatt ihrem Vergewaltiger Vorwürfe zu machen, verkündet sie tamen ave und bittet ihn um Diskretion. Teilweise findet sich auch nur der Gestus direkter Zurückweisung ohne die Schilderung einer Liebeserfüllung.461 In CB 79 etwa beschreibt das Text-Ich ebenfalls narrativ zurückblickend über vier Strophen einen geradezu idealtypischen locus amoenus, an dem es den Schutz vor der drückenden Mittagshitze genoss und wo es eine pastorella erblickte, die Brombeeren sammelte. Der Mann verliebte sich sogleich in sie und versuchte, sie zu sich zu locken: 5

In amorem uise cedo – fecit Venus hoc, ut credo –: „ades,“ inquam, „non sum predo! nichil tollo, nichil ledo, me meaque tibi dedo, pulchrior quam Flora!“

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Que respondit uerbo breui: „ludos uiri non assveui, sunt parentes michi Sueui. mater longioris eui irascetur pro re leui. parce nunc in hora!

Der Hinweis auf die Familie als Hinderungsgrund beendet hier das Lied. Die Antwort der Frau scheint erneut ein Wissen um die Absichten bzw. die rhetorisch gestaltete Rede des Mannes vorauszusetzen, die Spiele des Mannes (ludos uiri)

461 CB 79, Str. 6: Que respondit uerbo breui: „[…] parce nunc in hora!; CB 93: abschließende Äußerung der socia (Str. 8): „In tritura uirginum debetur seniori / pro mercede palea, frumentum iuniori. / inde, senex, aream relinque successori!“

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seien ihr bekannt. Ebenso findet sich das andere Extrem der von der Frauenfigur vorgetragenen Bitte um direkte Liebeserfüllung ohne eine abwehrende Haltung gegenüber dem Mann. In dem einstrophigen CB 90 etwa wird berichtet, dass ein Bauernmädchen (rustica puella) in der Morgenfrühe mit ihrer Herde auszog und auf dem Rasen einen Scholaren sitzen sah. Diesen sprach sie mit folgender – das Lied abschließender – herausfordernder Frage an: quid tu facis, domine? Ueni mecum ludere! 462 Gerade vor dem Hintergrund der zunächst sehr deutlichen Ablehnung vieler uirgines mag diese Frage überraschen.463 Die jeweiligen Frauenfiguren in den pastourellesken Liedern der Sammlung sind daher im Hinblick auf ihre jeweils vorgeführte Haltung gegenüber dem Mann nicht klar zu fassen. In CB 121 unterhalten sich zwei männliche Figuren: Der eine berichtet, dass diejenige, die er jetzt liebe, sich nicht anfassen lasse. Der zweite Mann erzählt dagegen von einer zurückliegenden Begegnung mit dieser, als er sich mit ihr in ihrer Kammer vergnügte und sie eine andere Reaktion zeigte: Non erit, ut arbitror, opus hic tanta ui,  / nam cum secum luderem nuper in conclaui, dixit: […] (»Nach meiner Meinung wird solche Gewaltanwendung hier nicht nötig sein, / denn als ich mich neulich mit ihr in der Kammer vergnügte, / sagte sie: […]«, Übers. Vollmann). Die dargestellte Frauenfigur habe ihn dazu aufgefordert, sanft mit ihr umzugehen, woraufhin der erfolgreiche Liebhaber abschließend erklärt, dass sie mit einem »Sporn aus Fleisch, nicht mit einem aus Eisen« (Übers. Vollmann) angestachelt werden müsse (non ferreo, sed carneo / calcanda est calcaneo). Neben solchen Liedern mit einem lediglich kurzen dialogischen Austausch begegnen im Codex Buranus auch Texte gleicher Thematik, die einen längeren Dialog zwischen Mann und Frau enthalten. Ein rhetorisches Geschick in der wechselseitigen Reaktion auf die Gesprächsbeiträge des jeweils anderen sowie ein Ineinandergreifen der einzelnen Figurenreden lassen sich hier deutlicher erkennen. Das Lied CB 77 führt vor, wie eine geistlichen Literaturtraditionen entnommene Sprache mit der weltlichen – auf Sexualität fußenden – Pastourellenthematik kombiniert wird. Es finden sich umfangreiche und äußerst augenscheinliche Anklänge – zum Teil in Form wortwörtlicher Übernahmen – vor allem an die Sprache der Bibel und Marienhymnik sowie an ‚weltliche‘ Dichtungs- bzw. Texttraditio-

462 Vgl. hierzu auch Edwards, Die Stimme der Frau, S. 268, im Hinblick auf Frauenaussagen in den Carmina Burana: „sie spielen oft die Rolle der Schlusspointe“. Zum Begriff des ludere bzw. lusus vgl. auch das rückblickend aus der Perspektive des Mädchens erzählte ICH was ein chint so wolgetan (CB 185), in dem sich allerdings lediglich direkt wiedergegebene Redebeiträge des Mannes finden: Do er zuo der linden chom, / dixit: „sedeamus,“ / – div minne twanch sere den man – / „ludum faciamus!“ (Str. 7). 463 Vgl. auch CB 142: si sprah: „lieber, war wend ir? duerfent ir gelęite?“ (Str. 4, V. 3).

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nen – allen voran Ovid –, welche eine enge Kombination eingehen.464 Direkt zu Beginn des Liedes begegnet ein expliziter Bezug auf 1 Cor 13,1 (»Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht […]«, Einheitsübersetzung) sowie die palma als „Symbol für den Sieg des Märtyrers“465 einerseits und als Verweis auf die ovidische Liebesdichtung466 andererseits. Inhaltlich berichtet ein männliches Text-Ich von der erfolgreichen Verführung seiner von ihm lange Zeit ersehnten domina. Das Lied setzt ein mit einer euphorischen, nicht näher bestimmten Verkündigung eines großen Erfolgs, der sich nicht auf angemessene Weise in Worte fassen lasse. Von einer Frauenfigur ist zu Beginn des Liedes zunächst allerdings keine Rede, erst am Ende der ersten Strophe wird durch den Bezug auf »missgünstige, neidische Nebenbuhler« (inuidentibus emulis prophanis) sehr deutlich, dass eine weltliche Liebesthematik in dem Lied eine Rolle zu spielen scheint, wobei formal die Vagantenstrophe von Beginn an hierauf hindeutet.467 1

SI Linguis angelicis loquar et humanis, non ualeret exprimi palma nec inanis, per quam recte preferor cunctis christianis tamen inuidentibus emulis prophanis.

Übersetzung hier und im Folgenden nach Vollmann: 1. Selbst wenn ich mit Engels- und mit Menschenzungen redete, es ließe sich damit mein Triumph nicht angemessen ausdrücken – bei Gott, kein nichtssagender Triumph –, durch den ich zu Recht mich über alles Christenvolk erhebe, ungeachtet der Mißgunst ruchloser Nebenbuhler.

Wenn sich im weiteren Liedverlauf herausstellt, dass sich der Triumph auf die sexuelle Eroberung einer uirgo bezieht, lässt sich bezogen auf 1 Cor eine deutliche Verschiebung des ursprünglichen Verwendungszusammenhangs feststellen, und dies umso mehr, wenn man bedenkt, dass es dort weiter heißt: »Die Liebe

464 Vgl. u. a. Bernt, Nachwort, S. 504f., Vollmann, S. 1041f., sowie jüngst Schnell, Epistolae, S. 64f., Anm. 17. 465 Vollmann, S. 1041. 466 Vgl. Ovid, Amores, II,5,11–12: ferreus est nimiumque suo favet ille dolori, / cui petitur victa palma cruenta rea; III,2,81–82: Sunt dominae rata vota meae, mea vota supersunt. / ille tenet palmam; palma petenda mea est. Vgl. hierzu auch Robertson, Two poems, S. 58, der zudem eine poetologische Lesart – mit Verweis auf Ovid, Ars amatoria, II,3 (Laetus amans donat viridi mea carmina palma) – eröffnet, gerade unter der erneuten Aufnahme des Begriffs durch das brauium am Ende des Carmen Buranum (V. 31,3). 467 Vgl. Walsh, Amor clericalis, S. 201.

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ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf.« (1 Cor 13,4, Einheitsübersetzung). Robertson schließt daher, dass diese Entdeckung „more than a little ridiculous and hence humorous“ sei.468 Wenn auch Cardelle de Hartmann hierbei eine „Analogie zwischen den Worten des Paulus und dem Gegenstand des Gedichtes“ erwägt469 , ist der verfremdete Verwendungskontext des Bibelzitats – gerade vor dem Hintergrund des weiteren Liedverlaufs – nicht zu verwerfen. Zudem ruft bereits die sich in unmittelbarer Nähe befindliche Erwähnung von Nebenbuhlern (emulis) am Ende der Strophe suggestiv eine weltliche Liebesthematik ab. Dennoch gehen die einzelnen Deutungsversuche bezogen auf Strophe 1 und ähnliche Beobachtungen im Hinblick auf das gesamte Lied weit auseinander470 : Eine Extremposition vertritt Dronke, der eine Verschmelzung der beiden übergeordneten Diskurse im Sinne eines idealtypischen Liebesethos zu erkennen glaubt.471 Diesem Ansatz wurde in der Folge deutlich – aber dennoch in unterschiedlichem Maße – widersprochen. Einen durch die Diskursüberschneidung bedingten Witz des Textes arbeiten vor allem Bernt und Robertson heraus.472 Uneinigkeit herrscht jedoch auch hierbei bezogen auf

468 Robertson, Two poems, S. 49. Vgl. ebd.: „Medieval readers (or listeners), being accustomed to the Scriptural palm, were undoubtedly anxious to discover the nature of this new palm, and to learn about the tribulations the speaker has suffered in order to win it.“ Vgl. hierzu auch Walsh, Amor clericalis, S. 196. 469 Vgl. Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 31, in Bezug auf Robertsons Deutung: „Man kann im Gegenteil eine Analogie zwischen den Worten des Paulus und dem Gegenstand des Gedichtes sehen, denn in beiden scheint die Liebe als zentral und unverzichtbar.“ 470 Zu den teils sehr divergierenden Deutungen des Lieds vgl. ebd., S. 29, sowie Vollmann, S. 1040. Deutungen finden sich zudem bei Dronke, Medieval Latin I, S. 318–331; Robertson, Two poems, S. 45–59 (S. 58: „grammatical exercise for students“); Walsh, Amor clericalis, S. 198ff. (ebd. S. 198f.: „stylistic exercise“). 471 Vgl. Dronke, Medieval Latin I, S. 318: „It is grounded in a unity of experience which can affirm divine love and every nuance of human love without setting up dichotomies […] The poet makes constant liturgical allusions – yet these are not in any way parodistic or blasphemous: they are there not to establish an incongruity but to overcome one.“ An diesen Ansatz knüpft auch Tuzzo, A clerical scholar’s joy, S. 18–21, an, welche zwar die Persuasionsstrategie des Werbenden anspricht, hierbei jedoch einen Gutteil des Witzes in der Kommunikation zwischen Mann und Frau außer Acht lässt und eher den Aspekt einer überwältigenden Allmacht der Liebe im Zuge der großen Fülle literarischer Anspielungen betont (ähnlich auch in Bezug auf das unten besprochene CB 70, vgl. dies., ebd., S. 17f.). Vgl. außerdem dies., La poesia dei clerici vagantes, S. 91–110, zu CB 77 (sowie bezogen auf CB 70 ebd., S. 57–72). 472 Bereits Robertson, Two poems, S. 46, bezeichnet mit Bezug auf James I. Wimsatt diese Deutung als „improbable and romantic“ und arbeitet in seiner Analyse der figurativen Sprache des Lieds den Witz des Textes heraus. Vgl. ebenso Walsh, Amor clericalis, S. 196: „It would be perverse to refuse to recognise this humorous equation of courtly amor with Christian caritas, especially as the religious dimension is further underlined by the label of profani pinned on those jealous individuals not admitted to the sacred rites of love.“ Gleichwohl bleibt er ebd., S. 202, in seinem

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die Frage, wie weit der Witz reiche und ob er parodistisch – vor allem bezogen auf die geistlichen Diskurse – aufzufassen sei. Vollmann etwa schwächt eine ironischparodistische Lesart ab, indem er von einem „echte[n] Liebeslied“ spricht, „das jedoch das Gemeinte (die Liebe) hinter der Maske des Witzes (der Bibel-, Liturgieund Minnesangzitate) verbirgt“473 . Cardelle de Hartmann sieht in dem „Spiel mit literarischen Konventionen“474 einen wesentlichen Kern des Textes und betont, dass „Zitate aus Bibel und Liturgie“ im Kontext eines Liebesgedichts nicht prinzipiell als inkongruent empfunden worden sein müssen.475 Sie arbeitet nun jedoch in ihrem Durchgang durch das Lied – ähnlich wie bereits Robertson – erkennbare „Ironie-Signale wie plötzlicher Stil- oder Registerwechsel und widersprüchliche Angaben“476 heraus, wobei sich solche Brüche nicht nur am Inhalt festmachen lassen, sondern gerade auch sprachlich markiert sind. So werden ebenso in Strophe 2 bereits im ersten Vers geistliche u nd weltliche Konnotationen abgerufen. Die inhaltliche Thematik spitzt sich hier weiter zu auf ein Pastourellengeschehen, da sich der genannte Erfolg auf die Eroberung einer domina beziehe (V. 2). Das allmähliche Herauskristallisieren der Liebesthematik bzw. deren zunächst nur andeutungsweise Erschließbarkeit ist überaus typisch für die Einleitung von Werbungsgesprächen, stellt aber in diesem Fall eine stärkere Abweichung von dem Pastourellen-Stereotyp der oben genannten Lieder dar. Mit ihrer Eröffnung Pange, lingua bezieht sich die Strophe einerseits auf die Hymnentradition des Venantius Fortunatus477 : 2

Pange, lingua, igitur causas et causatum, nomen tamen domine serua palliatum, ut non sit in populo illud diuulgatum, quod secretum gentibus extat et çelatum.

2. Und so preise, Zunge, die Ursachen und die Wirkung, den Namen der Herrin freilich halte verschleiert, auf daß nicht unter den Leuten bekannt werde, was den Heiden verborgen und verhüllt ist.

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Gesamturteil etwas vorsichtiger: „It is more appropriate to categorise the poem as playful rather than ironical.“ Vollmann, S. 1040. Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 37. Ebd., S. 30. Ebd. Pange lingua gloriosi prælium certaminis / et super crucis trophæo die triumphum nobilem / qualiter redemptor orbis immolatus vicerit (zit. n. Mone, Hymnen, S. 131, Vv. 4–6). Ausführlich zu teils wörtlichen Zitaten und zahlreichen Anspielungen auf die Sprache der Bibel und Hymnik vgl. vor allem Robertson, Two poems, S. 45–59, sowie Vollmann, S. 1041f.

Dialoggedichte

Cardelle de Hartmann erkennt jedoch andererseits einen plötzlichen Registerwechsel aufgrund der Formulierung causas et causatum: „Während das erste Hemistichion auf den lyrischen Preis in religiösen Hymnen verweist, lässt das zweite die nüchterne, präzise, aber auch schwerfällige Sprache der Logik einbrechen.“478 Eine solche Mischung christlicher und heidnisch-antiker Bezüge wird im weiteren Verlauf des Liedes anhand der direkten Anrede einer uirgo noch sehr viel deutlicher, wenn diese als uirgo gloriosa und mundi rosa einerseits sowie andererseits als Blanziflor et Helena, Venus generosa apostrophiert wird.479 Auch hier ist sich die Forschung uneinig hinsichtlich der Deutung dieser Kombination von aus verschiedenen Literaturtraditionen stammenden Bezügen: „Die Frage, die sich dem Interpreten stellt, ist, ob die Geliebte durch die Analogie erhöht werden soll oder ob es eher darum geht, die Differenz zu markieren und die Zitate deshalb als parodistisch interpretiert werden sollen.“480 Im Hinblick auf die genannte Textstelle beobachtet Cardelle de Hartmann erneut eine abrupte Diskursüberschneidung: „Beide Diskurse werden nicht verbunden, vielmehr markiert die Konzentrierung der profanen Anspielungen im letzten Vers, nachdem der Marienvergleich die drei ersten einnahm, einen klaren Bruch.“481 Dass die jeweiligen Diskurse oftmals recht unvermittelt miteinander kombiniert werden, scheint jedoch der von Dronke behaupteten im Lied überwundenen Inkongruenz („incongruity but to overcome one“) zu widersprechen. Entscheidend scheint eher, dass hierdurch im Liedverlauf immer wieder aufs Neue – verstärkt durch den dialogischen Austausch zwischen

478 Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 31. 479 Vgl. auch folgenden Hinweis Vollmanns, S. 1041: „Erst kurz vor der Nennung des heiligen Namens (‚Du bist Maria!‘) bricht er ab und setzt dafür […] eine Triade berühmter Frauengestalten ein […]“. Vgl. zudem Walsh, Amor clericalis, S. 197, der ebd. in diesem Zusammenhang auf die Rota Veneris Boncompagnos verweist, wo Ratschläge gegeben werden, wie eine Frau zu beschreiben sei (s. oben). 480 Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 28. Eine Zusammenfassung der Forschungspositionen findet sich ebd., S. 29. Vgl. auch Robertson, Two poems, S. 52: „[…] no one would seriously have sought to combine the Blessed Virgin, Blanchefleur, Helen and Venus in the same person. To deny that the effect of this line is humorous seems to me to be insensitive.“ Während Robertson wie auch Cardelle de Hartmann hier somit eine ironische Brechung sehen, stellt Dronke, Medieval Latin I, S. 326, einen Bezug auf die keusche Helena her: „Helena signifies the true, innocent Helen of Egypt, whose story was known through Servius“ (vgl. hierzu erneut Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 33). 481 Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 34. Vor dem Hintergrund volkssprachlicher Dichtungstradition wirkt die Vielzahl der Apostrophen darüber hinaus ein wenig übertrieben. Einen inhaltlichen Bruch beobachtet Cardelle de Hartmann, ebd., S. 36, auch am Ende des Liedes, wenn die Frau dem Mann ein Liebesangebot unterbreitet: „In diesen Versen gibt es eine Verkehrung von Konventionen (die Frau bietet dem Mann wertvolle Geschenke an), die ein Ironie-Signal ist. Auf Ironie im Text weist auch ein starker Bruch hin: Auf die wiederholte Identifizierung der Dame mit der Jungfrau folgt ihr bereitwilliges Angebot an den Mann, sich zu nehmen, was er begehrt.“

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Mann und Frau – unterhaltende Effekte erzielt werden, die sich gerade aus einer Verkehrung bzw. verfremdeten Bezugnahme bekannter Aussagemuster ergeben, sodass punktuell eindeutig ironisch nuancierte Effekte erzielt werden. Inwieweit diese jedoch im Hinblick auf die Gesamtdeutung des Liedes letzten Endes ein wenig zurückzunehmen sind, muss ein Stück weit offen bleiben.482 Im Rahmen der hier vorgestellten Untersuchung interessiert vor allem, wie sich derartige Brüche – sprachlich und inhaltlich – aus dem dialogischen Austausch heraus ergeben, wenn sich beide Figuren auf unterschiedlichen Sprechebenen äußern.483 In der dritten Strophe beginnt in CB 77 die Schilderung der Verführung im narrativen Erzählmodus, welcher nun wiederum deutlicher an das pagane Register der Pastourelle angelegt ist: 3

In uirgultu florido stabam et ameno, uertens hec in pectore: „Quid facturus ero? dubito, quod semina in harena sero. Mundi florem diligens, ecce, iam despero!

4

Si despero, merito nullus admiretur, nam per quandam uetulam rosa prohibetur, ut non amet aliquem atque non ametur. Quam Pluto subripere, flagito, dignetur!“

5

Cumque meo animo uerterem predicta, optans anum raperet fulminis sagitta, ecce, retrospiciens laeta post relicta, audias, quid uiderim, dum moraret icta:

482 Betrachtet man jedoch den weiteren Kontext, ist die unterhaltende Wirkung sehr deutlich zu betonen. Vgl. Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 39f.; zum Zusammenhang mit dem benachbarten CB 76 vgl. Walsh, Amor clericalis, S. 201f. 483 Vgl. hierzu Robertson, Two poems, S. 47: „We should add that gross errors in probable argument provide a fertile source of humor, especially when they emanate from the mouths of vain and pretentious persons.“

Dialoggedichte

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Vidi florem floridum, uidi florvm florem, uidi rosam Madii cunctis pulchriorem, uidi stellam splendidam cunctis clariorem, per quam ego degeram semper in amorem.

7

Cum uidissem itaque, quod semper optaui, tunc ineffabiliter mecum exultaui, surgensque uelociter ad hanc properaui hisque retro poplite flexo salutaui: […]

Übersetzung hier und im Folgenden nach Vollmann: 3. Ich befand mich unter einem blühenden und lieblichen Strauchwerk und überlegte folgendes in meinem Busen: „Was soll ich nur tun? Ich befürchte, Samen auf Sand zu säen. Ach, schon bin ich der Verzweiflung nahe wegen meiner Liebe zur Blume aller Welt. 4. Wenn ich verzweifle, braucht sich wirklich niemand zu wundern, denn durch eine Vettel wird die Rose daran gehindert, irgend jemand zu lieben und wiedergeliebt zu werden. Pluto – dies mein Gebet – soll sie holen!“ 5. Als ich nun solches in meinem Herzen erwog und wünschte, der Blitzstrahl möge die Alte treffen, siehe, da blickte ich zurück auf das heitere Gefilde, das ich eben verlassen hatte, und nun höre, was ich zu Gesicht bekam, während der Blitz mit seinen Schlägen auf sich                                                                                                                                        warten ließ: 6. Ich sah die blühende Blume, ich sah die Blume aller Blumen, ich sah das Mairöslein, das schöner ist als alle anderen Rosen, ich sah den leuchtenden Stern, der alle anderen überstrahlt, sie, um derentwillen ich alle meine Tage in Liebessehnsucht zugebracht hatte. 7. Als mir nun das vor Augen trat, wonach ich allzeit verlangt hatte, da war ich in meinem Herzen unaussprechlich entzückt, stand eilends auf, eilte zu ihr und grüßte sie, das Knie gebeugt, mit folgenden Worten: […]

Der Mann befand sich in einem Strauchwerk und dachte darüber nach, wie er wohl die von ihm geliebte »Rose« gewinnen könne, was sich aufgrund ihrer Vettel (Str. 4) als äußerst schwer erwiesen habe. Plötzlich habe er jedoch »das Mairöslein, das

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schöner ist als alle anderen Rosen«, vorbeikommen sehen und sei zu ihr geeilt – da es offensichtlich allein und unbewacht gewesen sei. Christliche Bezüge – vor allem auf Maria – finden sich ab Strophe 6 in großer Zahl: rosam Madii, stellam splendidam484 , gemma preciosa, decus uirginum, uirgo gloriosa, lumen luminum, mundi rosa.485 Der Mai als Liebesmonat ruft hierbei jedoch ebenso eine weltliche Liebesthematik ab. Dass sich der Mann vor ihr niederkniet, erinnert wiederum an ein liturgisches Ritual (poplite flexo).486 Die Interpreten nehmen dabei bisweilen an, dass sich die im Folgenden geschilderte Begegnung und Unterhaltung mit dem Mädchen ausschließlich in der Fantasie des Mannes abspielt, was aber keine zwingende Deutung darstellt.487 Mit folgenden Worten habe er sie angesprochen, wobei sich ein deutlicher Bezug auf die Verkündigungsszene herstellen lässt488 : 8

„Aue formosissima, gemma preciosa, aue decus uirginum, uirgo gloriosa, aue lumen luminum, aue mundi rosa, Blanziflvor et Helena, Venus generosa!“

8. „Gegrüßt seist du, Allerschönste, du kostbarer Edelstein, gegrüßt seist du, der Jungfrauen Zier, glorreiche Jungfrau, gegrüßt seist du, Licht aller Lichter, gegrüßt du Rose der Welt, Blanscheflur und Helena, edle Venus!“

In seiner Antwort greift das weibliche Text-Ich terminologisch auf die Äußerung des Mannes zurück, stellt jedoch explizit einen Gottesbezug her – spricht also auf den ersten Blick gerade nicht metaphorisch –, wohingegen der Mann die Bezüge auf geistliche Texttraditionen verwendet, um sie für den Frauenpreis zu funktio-

484 Vgl. Apoc. 22,16: ego sum radix et genus David stelle splendida et matutina bezogen auf Jesus. 485 Vgl. bei Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens, u. a. die Hinweise im Index zu Edelstein (Gemme), Licht und Rose; Walsh, Love lyrics, S. 70. 486 Walsh, Love lyrics, S. 70, verweist hier auf eine Parallele in Richter, 7,6; Vollmann, S. 1041, nennt in Bezug auf Strophe 7 zudem Lukas 1,47 (exultavit spiritus meus). 487 Vgl. u. a. Walsh, Amor clericalis, S. 197; zu dem textkritischen Problem der Strophe 5,3–4 vgl. Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 32f. – In Bezug auf die Lesart Vollmanns stellt sie ebd., S. 32, fest: „Hier auch scheint die Szene als Traum: Wenn der Blitz auf sich warten ließ, muss die Aufpasserin noch da gewesen sein.“ Cardelle de Hartmann, ebd., liest icta als „auf die Alte bezogenes Partizip“: Sie werde vom Blitz getroffen und dadurch vorübergehend außer Gefecht gesetzt, sodass der Mann die Möglichkeit einer Unterredung mit der virgo erhält. Vgl. ebd.: „Auf Plausibilität wird offenbar kein Wert gelegt, ganz im Gegenteil wird hier ein Zeichen der Fiktionalität gesetzt.“ 488 Vgl. Edwards, Archilochos, S. 15.

Dialoggedichte

nalisieren. Das »Mairöslein« präsentiert sich zunächst als äußerst religiös489 und wirkt hierbei überaus souverän; es verweist auf Gott, um dem Leid ihres Verführers Abhilfe zu verschaffen: 9

Tunc respondens inquiens stella matutina: „ille qui terrestria regit et diuina, dans in herba uiolas et rosas in spina, tibi salus, gloria sit et medicina!“

9. Da antwortete der Morgenstern und sprach: „Er, der über Erde und Himmel herrscht, der zwischen den Gräsern die Veilchen wachsen läßt und die Rosen mitten unter Dornen, / er sei dir Rettung, Ruhm und Heil!“

Wird in der Rede des Mannes die Frau als uirgo gloriosa und mundi rosa apostrophiert, spricht die Frau von Gott, der Rosen gebe (dans rosas) und welcher dem Angesprochenen Rettung, Ruhm und Heil sein solle (tibi […] gloria sit […]). Trotz des geistlich-spirituellen Sprechgestus ist die Metaphorik somit auch hier sexuell konnotiert.490 Das männliche Text-Ich gibt sich mit dieser Antwort der Frau jedoch nicht zufrieden und wünscht eine andere Art der Heilung: 10

Cui dixi: „dulcissima, cor michi fatetur, quod meus fert animus, ut per te saluetur. nam quondam didici, sicut perhibetur, quod ille, qui percutit, melius medetur.“

10. Ich sagte zu ihr: „Liebste, mein Herz verrät mir, daß es dringend wünscht, durch dich geheilt zu werden. Lernte ich doch einst, wie es in den Büchern steht, daß der der beste Arzt sei, der die Wunde verursacht hat.“

489 Dronke, Medieval Latin I, S. 325, sieht hierin eine naive, unerfahrene Reaktion, was aber nicht zwingend ist: „but for the moment she is a mere slip of a girl, a little embarrassed by such an extravagant greeting, such wild compliments, replying to them as best she can.“ Walsh, Amor clericalis, S. 197, spricht von „conventional feature of courtly exchanges“. 490 Vgl. auch Walsh, ebd.: „Here as later such piety is mildly undercut by the humorous play of dans … rosas in spina, which underlines the prickly progress of the suitor’s courtship.“ Vgl. außerdem Zeyen, daz tet der liebe dorn, S. 42f., zum „Rosendorn“ als „Phallusmetapher“.

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Der Topos der Liebeswunde ist in der höfischen Literatur allgegenwärtig und verweist auf Ovid, dessen Texte im gesamten Lied präsent sind.491 Auch der Hinweis darauf, etwas gelernt zu haben, wie es (wohl in Büchern) dargelegt werde, legt einen solchen Bezug auf Ovid als Verfasser der Liebeslehren und die mit ihm verbundene Liebeskonzeption nahe.492 Das weibliche Text-Ich weist nun jedoch – wie ebenfalls fast schon topisch – jegliche Schuld zurück und bestreitet gegenüber dem männlichen Text-Ich, diesem irgendeine Wunde zugefügt zu haben: 11

„Mea sic ledentia iam fuisse tela dicis. nego, sed tamen, posita querela, uulnus atque uulneris causas nunc reuela, uis te sanem postmodum gracili medela!“

11. „Du behauptest, es seien meine Geschosse gewesen, die dir einst diese Wunden zufügten. Das bestreite ich, doch lassen wir den Streit, und decke jetzt die Wunde und die Ursache der Verwundung auf, wenn du willst, daß ich dich hernach mit linder Arznei gesund mache.“

Die dargestellte Frauenfigur lässt sich auf die metaphorische Sprechweise ein, spricht sie doch ebenfalls von seinen »Geschossen« (mea […] tela); Mann und Frau äußern sich hier somit scheinbar auf der gleichen Sprechebene, ein wörtliches Auffassen der Metapher der Minnewunde – wie häufig im Minnesang der Fall – lässt sich zwar nicht ausschließen, liegt aber nicht auf der Hand. Die Frau stellt nun eine Liebeserfüllung in Aussicht – ebenfalls metaphorisch zum Ausdruck gebracht (uis te sanem postmodum gracili medela) –, knüpft diese jedoch rhetorisch geschickt an die Bedingung, dass der Mann die Ursachen seiner Verwundung aufdecke (uulneris causas nunc reuela), und greift hierfür auf eine konditionale ‚wenn-dann‘-Struktur zurück. Es folgt somit eine deutliche Aufforderung zu einer näheren Erläuterung, wie es ebenfalls gerade auch für ein Werbungsgespräch typisch ist, in dem die Frau häufig eine Nachfrage stellt mit der Bitte um Belehrung bzw. Ursachennennung für das geschilderte Leid. Im Folgenden beschreibt das männliche Text-Ich dann über zwölf Strophen hinweg seine andauernde Liebesqual: Vulnera cur detegam, que sunt manifesta? estas quinta periit […].493 Auch hier begegnen zahlreiche Bilder, die sich

491 Vgl. etwa auch in Strophe 3 die Formulierung in harena sero, was einen Verweis auf die Heroides darstellt. Vgl. hierzu Vollmann, S. 1041; Walsh, Amor clericalis, S. 197. 492 Vgl. Walsh, Amor clericalis, S. 197, wobei der Texteingriff „a quodam didici“ (vgl. ebd., S. 190, mit Bezug auf Schumann) hier nicht notwendig scheint. 493 Im Hinblick auf die lange Rede des Mannes verweist Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 34f., erneut auf die religiösen Konnotationen, „aber ohne formale oder inhaltliche Bruchstellen oder Inkongruenzen, die Ironie mutmaßen ließen“ (ebd., S. 35).

Dialoggedichte

jeweils doppelt beziehen lassen494 , sowie zahlreiche Bezüge auf sowohl weltliche als auch geistliche Texttraditionen.495 Um Hilfe angerufen wird Christus: Christe, non me desinas taliter perire, / sed dignare misero digne subuenire! (Str. 20); Anspielungen auf das Hohelied finden sich mehrfach, wenn etwa die Schönheit der Frau beschrieben wird. Mögen diese Beschreibungen hier auch extrem körperbezogen ausfallen und stark sexuell konnotiert sein, der Mann verweilt im Hinblick auf die Liebesthematik auf der metaphorischen Sprechebene: 22

Rosa, uidens igitur, quam sim uulneratus, quot et quantos tulerim per te cruciatus? si placet itaque, fac ut sim sanatus, per te sim incolomis et uiuificatus!

494 In Bezug auf die Heilung (medela, Str. 25), die ihm zu verschaffen das Mädchen beabsichtigt, – welche sich zuallererst sicherlich auf Ovid beziehen lässt, auch wenn hier der Begriff medela nicht begegnet – verweist Robertson, Two poems, S. 53, auf eine Stelle im Buch Ecclesiasticus (Jesus Sirach), wo es heißt, dass Gott Heilung spende: a Deo est omnis medella […] (Sir. 38,2). Zu den Bildern Spiegel und Fenster (cunctis speculum eras et fenestra, Str. 12), welche auch im Minnesang Verwendung finden (s. u.a. Ulrich von Liechtenstein, Kap. 3.2.6.2), vgl. Robertson, Two poems, S. 54f. – Die Bilder lassen sich zum einen auf Maria beziehen, verweisen jedoch auch zugleich auf weltliche Dichtung und Liebe. Vgl. hierzu u. a. Walsh, Amor clericalis, S. 198, der das Buch der Weisheit 7,26 zitiert, wo es bezogen auf die Sapientia heißt: speculum sine macula Dei maiestatis. Er spricht ebd. die Möglichkeit einer Gleichsetzung von Sapientia und Maria an. Zur »Libanonzeder« (cedrus Libani, Str. 23) vgl. Robertson, Two poems, S. 56, der zwei Bibelstellen nennt, in denen das Bild der Zeder gegensätzlich – positiv und negativ – eingesetzt wird, wodurch sich an dieser Stelle des Lieds auch ein Effekt aus Analogie und Kontrast erzielen lässt. Das Verb catenare (Forma tua fulgida tunc me catenavit, Str. 17) konnotiert hier – wie Robertson ebd. deutlich macht – vor dem Hintergrund der Erwähnung der Venus in Strophe 14 die Überführung des Ehebetrugs der Liebesgöttin mit Mars, da beide durch das Kettennetz des Hephaistos enttarnt wurden (Ovid, Met., IV,176). Robertson sieht zudem einen Anklang an das Buch Judith, 9,13, und zwar an deren Gebet an Gott, bevor sie in das Lager des Holofernes aufbricht, um diesen zu enthaupten: capiatur laqueo oculorum suorum in me et percuties eum ex labiis caritatis meae. In beiden Episoden – der biblischen sowie der mythologischen – kommt jeweils der Mann nicht gut davon. Auch das Bild des leidenschaftlich Liebenden in CB 77, der die genannten Episoden suggestiv abruft, wird hierdurch möglicherweise irritativ gebrochen. Cardelle de Hartmanns Position, dass die Ironie in der langen Rede des Mannes zurückgenommen werde, ist aufgrund dieser doppelten Bezugsmöglichkeiten ebenfalls zu hinterfragen. 495 Vgl. Walsh, Amor clericalis, S. 198: „An awareness that these are rhetorical commonplaces is vital for our judgement of the tone of the poem; the entire utterance of the spokesman […] is a tour de force of calculated rhetoric which the reader is expected to recognise as such.“

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22. Rose, siehst du nun, wie schwer ich verwundet bin, wie viele und wie tiefe Qualen ich durch dich erdulden mußte? Wenn es aber dein Wille ist, dann mach mich gesund, mach, daß ich durch dich geheilt und zu neuem Leben erweckt werde!

Im Anschluss hieran zeigt sich die Umworbene verständnisvoll für dessen Leiden, weist jedoch darauf hin, dass ihr eigenes Leid weitaus größer gewesen sei; sie äußert sich hierbei ebenfalls metaphorisch. Anders als in ihrer ersten Äußerung in Strophe 11 weist sie nun ein Verschulden ihrerseits nicht zurück und hebt stattdessen ihr eigenes Leid hervor. Sie verzichte jedoch darauf, dies näher auszuführen, und sei bereit – unter Beibehaltung der Metaphorik der Liebeswunde –, ihm eine Heilung (sanationem et medelam) zukommen zu lassen, die süßer als Honig sei, wobei diese Zusage diesmal nicht mehr an eine Bedingung geknüpft ist: 24

Inquid rosa fulgida: „multa subportasti, nec ignota penitus michi reuelasti, sed que per te tulerim, numquam sompniasti. plura sunt, que sustuli, quam que recitasti.

25

Sed ommitto penitus recitationem, uolens talem sumere satisfactionem, que prestabit gaudium et sanationem et medelam conferet melle dulciorem. […]

24. Da sprach die leuchtende Rose: „Vieles hast du auf dich genommen, und was du offenbart hast, war mir nicht gänzlich unbekannt, aber dir fiel nicht im Traume ein, was ich durch dich erduldet habe. Meine Bürde war größer als die, von der du erzählt hast. 25. Aber ich verzichte völlig darauf, dies auszuführen, will vielmehr, daß dir eine Sühne zuteil werde, die Freude und Genesung bewirkt und Heilung vermittelt, die süßer ist als Honig. […]

Ein deutlicher Bruch findet sich nun in Strophe 26.496 Erstmals apostrophiert das weibliche Text-Ich sein Gegenüber mit der pastourellesken Anrede iuuenis, welche den Mann stärker – als bisher durch den Text nahegelegt – in die Nähe des an einem

496 Selbst Dronke, Medieval Latin I, S. 329, spricht hier von „unexpected turn“ und schließt: „She, keeping the conversation on a level of witty ambiguities, indicates that she has yielded“.

Dialoggedichte

sexuellen Abenteuer interessierten Pastourellen-Ritters rückt.497 Die Aufforderung mit dicas wirkt ebenfalls direkter als das konditional fordernde Satzgefüge in Strophe 11. Mit der Formulierung preciosos lapides wird erneut eine Formulierung aus der Rede des Mannes aufgegriffen. Es werden dabei drei Wünsche des Mannes erwogen, wobei die Frau hier jedoch nicht mehr metaphorisch spricht, sondern zunächst danach fragt, ob er (tatsächliche) Edelsteine oder Geld von ihr fordere.498 Als Drittes erkundigt sie sich schließlich, ob er womöglich auch geliebt werden wolle, wozu sie sich ebenfalls bereit erklärt: 26

[…] Dicas ergo, iuuenis, quod in mente geris, an argentum postulas, per quod tu diteris, preciosos lapides, an quod tu ameris? nam si esse poterit, dabo quicquid queris.“

26. Drum sag, junger Freund, was du auf dem Herzen hast, ob du Geld forderst, um reich zu werden, edles Gestein – oder: geliebt zu werden? Will ich dir doch, wenn irgend möglich, alles geben, was dein Herz begehrt.“

In der Rede des Mannes (Str. 27) bleibt eine Liebeserfüllung dagegen weiterhin unausgesprochen. Er vollzieht den Registerwechsel der Frau nicht mit und spricht weiterhin auf einer metaphorischen Sprechebene: Er wolle weder Stein noch Silber, sondern etwas, das bessere »Nahrung« gebe als alles andere: immo prebens omnibus maius nutrimentum. Der Mann macht somit sein Begehren innerhalb des Dialogs nicht explizit: 27

„Non est id, quod postulo, lapis nec argentum, immo prebens omnibus maius nutrimentum, dans inpossibilibus facilem euentum et quod mestis gaudium donat luculentum.“

497 Vgl. CB 184, Str. 2, Vv. 1–3: Venit quidam iuvenis / pulcher et amabilis, / der zetrant ir den bris (»kam ein junger Mann gegangen, / hübsch und so recht zum Verlieben, / der nahm ihr die Ehre«, Übers. Vollmann); vgl. auch die Frage der Venus in dem benachbarten CB 76 an einen iuuenis: „Quis es“, inquid, „iuuenis, qui tam bene faris? […]“ (Str. 10, V. 1). Der Jüngling beklagt sein Liebesleid, woraufhin Venus Geld einfordert, um Heilung zu geben: „[…] si tu das danarios monete electe, / dabitur consilium salutis perfecte“ (Str. 12, Vv. 3f.). Der Jüngling schläft daraufhin mit ihr fere decem horis (Str. 17, V. 3). 498 Walsh, Amor clericalis, S. 198, spricht von „gentle sport of the lover’s request“ und sieht ebd. enge Bezüge auf Ovid: „Then however with Ovidian lubricity she bids him investigate all she has“. Er verweist insbesondere auf Amores 1,5.

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27. „Mein Verlangen geht nicht nach Steinen noch nach Silber, vielmehr nach etwas, was besser nährt als dies alles, was dem Unmöglichen glücklich-leichten Ausgang gewährt und dem Betrübten helle Freude schenkt.“

Die Frau stellt in ihrer darauffolgenden Rede (Str. 28) eine Liebeserfüllung nun noch deutlicher als zuvor in Aussicht und bekennt nicht nur ihre eigene Absicht, etwas zu tun, sondern fordert ihr Gegenüber auf, direkt zu handeln: 28

„Quicquid uelis, talia nequeo prescire, tuis tamen precibus opto consentire. ergo, quicquid habeo, sedulus inquire, sumens, si quod appetis, potes inuenire!“

28. „Was auch immer dein Begehr, Dinge dieser Art kann ich nicht im voraus wissen, doch ist es mein Wunsch, deine Bitten zu erfüllen. Drum forsche fleißig nach dem, was mir zu eigen, und nimm es, wenn du finden kannst, wonach dich verlangt!“

Nach dieser äußerst direkten Aufforderung durch seine Herrin schreitet der Mann zur ‚Tat‘ und beschreibt diese in der Rückschau: 29

Quid plus? collo uirginis brachia iactaui, mille dedi basia, mille reportaui, atque sepe sepius dicens affirmaui: „certe, certe istud est id, quod anhelaui!“

29. Wozu viele Worte? Ich schlang meine Arme um den Hals des Mädchens, / gab ihr tausend Küsse, tausend bekam ich zurück, und immer wieder bestätigte ich ihr nachdrücklich: „Kein Zweifel, kein Zweifel, das ist genau das, wonach mich dürstete.“

Vor dem Hintergrund volkssprachlicher Dichtungstradition sticht die Direktheit des weiblichen Text-Ichs sehr deutlich hervor. Zwar wird hier auch mit Einschränkungen gearbeitet (si esse poterit; si quod appetis, potes inuenire), aber die Absicht der Frau, etwas zu tun (dabo), und die Aufforderung an den Mann, direkt zu handeln (sedulus inquire, sumens) – was dieser in der Folge auch tut (Quid plus? collo uirginis brachia iactaui) –, werden sprachlich sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Das Lied endet mit einer Art von Lehre, die allen Liebenden Mut machen soll, nicht

Dialoggedichte

ihren Glauben an eine Erfüllung der von ihnen ersehnten Liebe zu verlieren: illi nempe aliqua dies ostendetur, qua penarum gloriam post adipiscetur.499 Wie in CB 77 greift auch der in CB 70500 um Thisbe werbende Pyramus auf Argumente topischer Natur zurück.501 Die sehr deutlichen Registerwechsel – vor allem in der Rede der Frau – sind dabei erneut durch ein ‚Gefälle‘ bis hin zu einer gänzlichen Hingabe an den Mann am Liedende gekennzeichnet. Gleichwohl macht dieser Werbungsdialog ebenfalls deutlich, dass mit einem längeren ‚Schlagabtausch‘ zwischen Mann und Frau ein Aufschub der Liebeserfüllung und eine argumentative Verschränkung der Dialogaussagen einhergeht. Zu Beginn wird erneut eine locus amoenus-Szenerie beschrieben:

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CB 70 ESTATIS Florigero tempore sub umbrosa residens arbore, Auibus canentibus in nemore, sibillante serotino frigore, mee Tysben adoptato fruebar eloquio, colloquens de Veneris blandissimo commercio.

499 Cardelle de Hartmann, Parodie, S. 37, erkennt hierin eine „letzte ironische Pointe“, denn er sei „nicht wegen, sondern trotz seines Liebeswerbens erfolgreich geworden.“ 500 Vgl. u. a. Edwards, Die Stimme der Frau, S. 268, sowie Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 161, S. 152–167, der das Gedicht ebenfalls übersetzt. Vgl. auch ebd., S. 153, dessen Hinweis auf die überaus kunstfertige Sequenzform des Textes: „Unser Beispiel führt vor Augen, wie reich die Sequenzenform sich neben und im Austausch mit der liturgischen Sequenz entfaltet hat“, sowie ebd., S. 158f.: „Wenn wir vermuten dürfen, daß der textlichen Abwechslung eine musikalische entsprochen hat – unser Gedicht ist im Codex Buranus nicht neumiert –, so dürfte das Ganze beinahe einen potpourriartigen Charakter gehabt haben mit seinen verschiedengestaltigen Einzelund Doppelstrophen im Part des Mannes wie der Frau sowie den duettartigen Strophengruppen.“ Vgl. hierzu ebenfalls Schaller, Gattungs- und Formtypen, S. 82–84 u. S. 90f., der in diesem Zusammenhang das Lied ebd., S. 82, als „regelrechtes Singspiel, sozusagen eine kleine französische Operette des 12. Jahrhunderts“ bezeichnet und mit einer szenischen Aufführungspraxis rechnet. 501 Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 161, verweist darauf, dass die Motivik des Liedes „in verschiedenen Typen lateinischer wie volkssprachiger Liebespoesie vorgebildet“ sei.

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Eius uultus, forma, cultus pre puellis ut sol stellis sic prelucet. o, inducet hanc nostra ratio, ut dignetur suo nos beare consortio.

3

Nil ergo restat sacius, quam cecam mentis flammam denudare diffusius. audaces Fortuna iuuat penitus. his ergo sit introitus:

4a

„Ignem cecum sub pectore longo depasco tempore, qui uires miro robore toto diffundit corpore,

4b

quem tu sola percipere, si uis, potes extinguere, hoc meum semiuiuere f elici ligans federe.“

4c

„Amoris spes est dubia, aut uerax aut contraria. amanti necessaria uirtutis est constantia.

5a

Sed ceteris uirtutibus est patientia amoris famulantia.

Dialoggedichte

5b

Sed et ignis, qui discurrit per precordia, face stinguit alia.

5c

Noster amor non furtiua, non fragilia amplexatur gaudia.“

6a

„Ignis, quo crucior, immo, quo glorior, ignis est inuisibilis;

6b

Si non extinguitur, a quo succenditur, manet inextinguibilis.

7a

Est ergo tuo munere me mori uel me uiuere.“

7b

„Quid refert pro re pendula uite pati pericula?

8a

Est pater, est mater, est frater, qui quater die me pro te corripiunt,

8b

Et uetulas per cellulas, et iuuenes per speculas deputantes nos custodiunt.

9

Argumque centioculum plus tremo quam patibulum.

10

Est ergo dignum, uirum benignum uitare signum, unde malignum murmur cursitat per populum.“

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11a

„Times in uanum! tam est archanum, quod nec Vulcanum curo cum sophisticis cathenis.

11b

Stilbontis more Letheo rore Argum sopore premam oculis clausis centenis.

12a

„In trutina mentis dubia fluctuant contraria, lasciuus amor et pudicicia.

12b

Sed eligo, quod uideo: collum iugo prebeo, ad iugum tamen suaue transeo.“

13

„Non bene dixeris iugum secretum Veneris, quo nil liberius, nil dulcius, nil melius.

14a

O quam dulcia sunt hec gaudia! Veneris furta sunt pia.

14b

Ergo propera ad hec munera! carent laude dona sera.“

15

„Dulcissime, totam tibi subdo me.“

Dialoggedichte

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4a

4b

4c

5a

5b

Übersetzung nach Vollmann: Als ich in der blumenreichen Sommerszeit unter einem schattigen Baume saß, während die Vöglein im Walde sangen und der kühlende Abendwind säuselte, da ging mein Wunsch in Erfüllung, an meine Thisbe das Wort zu richten und mit ihr über die himmlisch-süße Liebesvereinigung zu sprechen. Ihr Antlitz, ihre Gestalt, ihre gepflegte Erscheinung überstrahlen die anderer Mädchen geradeso wie die Sonne die Sterne. Ach, könnte doch unser Vortrag sie dazu bringen, uns gütigst mit ihrer Liebesgemeinschaft zu beglücken. So weiß ich denn nichts Besseres zu tun, als die verborgene innere Flamme in aller Ausführlichkeit bloßzulegen. Dem Kühnen hilft das Glück allemal: Mit folgendem also sei der Anfang gemacht: „Heimliches Feuer nähre ich schon lange Zeit in meiner Brust, das seine Wirkung mit erstaunlicher Kraft im ganzen Körper entfaltet. Nur du allein kannst es wahrnehmen, du allein kannst es löschen, wenn du willst, indem du dieses mein dahinsiechendes Leben in glücklichem Bund mit dem deinen verknüpfst.“ „Wenn einem Hoffnung auf ein Liebesverhältnis gemacht wird, ist das eine unsichere Sache; es kann ehrbar gemeint sein oder auch nicht. Unabdingbar für einen Liebenden / ist die Festigkeit im Guten. Aber mehr als alle übrigen Tugenden ist die Geduld eine Dienerin der Liebe. Denn auch das Feuer, das das Innere durchzieht, erlischt durch ein neues Feuer.

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5c Meine Liebe hat nicht Raum für lichtscheue, unbeständige Freuden.“ a 6 „Das Feuer, das mich martert, nein, dessen ich mich rühme, ist ein unsichtbares Feuer; 6b wird es nicht von derselben Person gelöscht, von der es entzündet wurde, ist es unauslöschlich. 7a So liegt es denn in deiner Hand, ob ich sterbe oder ob ich lebe.“ b 7 „Was nützt es mir, mich wegen einer unsicheren Sache in Lebensgefahr zu begeben? 8a Da ist der Vater, da ist die Mutter, da ist der Bruder, die viermal am Tage mich deinetwegen ausschelten 8b und uns bewachen lassen, indem sie in alle Zimmer alte Weiber schicken und junge Burschen auf alle Wachtürme. 9 Den hundertäugigen Argus fürchte ich mehr als den Galgen. 10 Daher ist es recht und billig, daß ein Mann, der es aufrichtig meint, jeden Hinweis meidet, durch den böswilliges Getuschel unter den Leuten in Gang kommen könnte.“ 11a „Das sind leere Befürchtungen! Das Ganze ist so geheim, daß ich nicht einmal Vulcanus mit seinem feingliedrigen Stahlnetz fürchte. 11b Wie Merkur werde ich mit Hilfe von Lethewasser Argus einschläfern, wodurch sich seine hundert Augen schließen.“ 12a „An der schwankenden Waage meines Innern gehen zwei verschiedene Schalen auf und ab: Wollust und keusche Zurückhaltung. 12b Doch ich ziehe das vor, was ich sehe: Ich beuge meinen Nacken unter das Joch. Freilich nehme ich ein süßes Joch auf mich!“

Dialoggedichte

13 „Es ist kein glücklicher Ausgang, wenn du das Mysterium der Liebe ein Joch nennst! Es bedeutet größte Freiheit, unendliche Süße, höchsten Wert. 14a O wie süß sind diese Freuden! Verstohlene Liebe ist frommer Betrug. 14b Drum zögre nicht, solche Gaben zu verschenken! Verspätete Geschenke finden keine Anerkennung.“ 15 „Mein Geliebter, ganz gebe ich dir mich hin.“

Das Text-Ich berichtet narrativ in die »blumenreiche Sommerszeit« zurückblickend502 von seiner Liebesbegegnung mit Thisbe, als sich sein Wunsch erfüllte, mit ihr über eine »himmlisch-süße Liebesvereinigung« (Übers. Vollmann – de Veneris / blandissimo commercio) zu sprechen (Str. 1). Dabei fällt bereits in der ersten Strophe eine Häufung von Vokabeln auf, welche auf ein Gespräch Bezug nehmen: Auibus canentibus,  sibillante serotino frigore, fruebar eloquio, colloquens de Veneris blandissimo commercio.503 Auch das von Vollmann mit »himmlisch-süß« übersetzte blandissimo lässt mit den ebenfalls mitschwingenden Bedeutungen ‚überredend‘, ‚schmeichelnd‘, ‚verführerisch‘ den Aspekt einer durch Worte erreichten Liebesüberredung anklingen; Pyramus berichtet nicht etwa, dass er sich mit Thisbe vereinigte, sondern dass er mit ihr über diese Vereinigung »sprach« (colloquens, V. I,7). In Strophe 2 wechselt das Tempus ins Präsens: Hoffend bringt Pyramus sein Verlangen nach einer »Liebesgemeinschaft« (consortio, V. II,6) mit Thisbe zum Ausdruck und preist diese mit Anklängen an die Marienhymnik (pre puellis ut sol stellis / sic prelucet). Der Vortrag (nostra ratio) offenbart sich hier ganz offen als Mittel zum Zweck, die Liebesvereinigung zu erreichen: o, inducet / hanc nostra ratio, / ut dignetur suo / nos beare consortio (Str. 2). Mit den Begriffen commercio und consortio wird dieses Ziel jeweils am Ende der ersten beiden Strophen benannt,

502 Zur Stelle sibillante serotino frigore vgl. u. a. Hilka/Schumann, S. 38: »während ein kühles Lüftchen, ein Nachzügler des Winters, säuselte«. 503 Gerade der Begriff des sibilare konnotiert hierbei auch ein heimliches »Zischeln«, wie es aus der antiken Komödie bekannt ist, was eine Vorausdeutung auf den sich im weiteren Verlauf der Strophe anschließenden ‚Flirt‘ darstellen könnte. Georges, Bd. 2, Sp. 2647, vermerkt hierzu u. a. »(auf der Straße einem Mädchen) zuzischeln«, verweist aber auch auf das Zwitschern der Nachtigall (Lemma sibilo).

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wobei das gewählte Vokabular hier eher juristisch-formal wirkt.504 In Strophe 3 erklärt Pyramus dagegen – unter Rückgriff auf die eine leidenschaftlich-emotionale Affiziertheit zum Ausdruck bringende Feuermetaphorik – seine Absicht, die verborgene innere Flamme ausführlich bloßzulegen: Nil ergo restat sacius, quam cecam mentis flammam denudare diffusius. Das Wort denudare – welches sowohl im wörtlichen als auch übertragenen Sinn Verwendung findet – eröffnet dabei ebenso wie die Erwähnung des Liebesfeuers einen Suggestionsraum, der eine körperliche Liebe ganz im ovidischen Sinne imaginiert. Der letzte Vers der Strophe wirkt demgegenüber eher didaktisch belehrend im Zuge einer verallgemeinernden Formulierung: Mit Folgendem »solle« der Anfang gemacht werden: his ergo sit introitus. Pyramus beginnt daraufhin seine Werbungsrede mit einer Beschreibung des schon lange in seiner Brust lodernden Feuers (4a ); nur Thisbe sei in der Lage, es zu löschen (4b ). Der Wunsch nach einem Bund mit der Angesprochenen wird am Ende von Versikel 4b  – erneut eher juristisch-formal umschreibend – zum Ausdruck gebracht: felici ligans federe. Thisbe knüpft in ihrer Erwiderung (4c ) zunächst nicht direkt an das metaphorische Sprechen vom Liebesfeuer an, sondern löst die Metaphorik mit dem ersten Wort ihrer Rede auf, indem sie explizit von Liebe (amoris) spricht.505 Sie äußert sich insgesamt skeptisch und unterscheidet zwischen wahrer und falscher Liebe (verax aut contraria); der Liebende müsse über eine Festigkeit der Tugend und vor allem Geduld verfügen (5a ), mit constantia und patientia nennt sie klare Bedingungen (amanti necessaria). In Versikel 5b knüpft Thisbe nun aber doch an die metaphorische Sprechweise des Mannes an: Das Feuer, welches das Innere durchziehe, könne durch ein neues Feuer erlöschen. Sie selbst erhebt den Anspruch auf eine stabile und beständige Liebe, ihre Liebe habe nicht Raum für lichtscheue, unbeständige Freuden (5c ). Sie äußert sich dabei in den ersten drei Versikeln ihrer Rede in einem eher explikativen Modus und spricht dabei verallgemeinernd weder von sich selbst noch von Pyramus: Amoris spes est … – necessaria uirtutis est constantia – est patientia … – ignis, qui …, stinguit (erklärende Differenzierung durch Relativsatz). Pyramus hingegen sprach sie in der zweiten Person an und versuchte hierdurch indirekt die Unterhaltung von Beginn an im Hinblick auf eine

504 Vgl. Lemma commercium in Mlat. Wb. II, Sp. 957: »Güteraustausch, (Tausch-)Handel, Geschäft«, aber auch ebd.: »Wandel, Veränderung«; Sp. 958: »Umgang, Verkehr, Verbindung, Gemeinschaft« mit dem Hinweis „de coniugio, concubitu, fornicatione“; in diesem Sinne auch ebd. Verweis auf CB 62,5,1: „post blanda veneris -a lassatur cerebri substantia“; vgl. außerdem ebd., Sp. 1610, consortium: „publ. et iur. i. q. sodalicium, corpus personarum, collegium – Genossenschaft, (Personen-)Verband, Körperschaft“. Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 166f., bezeichnet das „erotische Vokabular“ als „gedämpft und abstrakt“ mit Verweis auf die Begriffe blandissimum commercium, consortium, felix fedus, ignem percipere, extinguere und se subdere. 505 Zur wechselseitigen Aufnahme des Feuer-Bildes in der Rede von Mann und Frau vgl. auch Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 160.

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‚Zweisamkeit‘ zwischen der Angesprochenen und ihm selbst zu perspektivieren (4b : quem tu sola percipere, / si uis, potes extinguere), wohingegen Thisbe erst in Versikel 5c auf ihre eigene Liebe zu sprechen kommt, ohne hierbei jedoch einen Bezug auf Pyramus herzustellen. Dieser wiederum setzt in seiner Antwort (6a –7a ) das metaphorische Sprechen über das ihn marternde Feuer fort, der Begriff ‚Liebe‘ fällt in seiner Rede erneut kein einziges Mal: Das Feuer sei unsichtbar und könne nur von der Person gelöscht werden, die es entzündet habe. Es ist hierbei auffällig, wie er sein zuvor angeführtes Argument in sprachlich variierter Form erneut aufgreift. Vollmann verweist auf eine Stereotypie der Argumentation des Mannes, der das „Argument“ seiner ersten Rede „ebenso primitiv“ wiederhole.506 Inhaltlich erfolgt jedoch – trotz einer gewissen Redundanz – durchaus eine Bezugnahme auf Thisbes Rede: Sie forderte im Falle der „Hoffnung auf ein Liebesverhältnis“ Beständigkeit und Geduld, da man nicht von vornherein wisse, ob die Liebe wahrhaftig (uerax) und somit von Dauer sei. Das Feuer erlösche schnell durch ein neues Feuer, womit wohl eine neue Liebe gemeint ist. Pyramus insistiert nun aber darauf, dass nur sie allein das unsichtbare Feuer, das ihn quäle, löschen könne. Das Argument ist zwar identisch mit seiner ersten Rede, aber dennoch scheint er zumindest ansatzweise eine Abstrahierung vorzunehmen, indem er nun in einem verallgemeinernden Gestus spricht und sich in Versikel 6b ebenfalls nicht mit einer Du-Rede an Thisbe wendet. Auch das ergo, welches sich an das Argument, dass nur sie das Feuer löschen könne, anschließt, weist auf einen eher erklärend-argumentativen Modus seiner Äußerung hin: 4a ignem cecum 4b quem tu sola percipere, / si uis, potes extinguere 4b hoc meum semiuiuere

6a ignis est inuisibilis 6b si non extinguitur, / a quo succenditur […]   7a Est ergo tuo munere / me mori uel me uiuere.

Der indirekt geäußerten Sorge um eine etwaige Untreue des Mannes stellt Pyramus somit die Einzigartigkeit Thisbes gegenüber. Am Ende seiner Äußerung geht er dann allerdings erneut zu einer Du-Rede über, wobei das in Versikel 4b genannte semiuiuere insofern ebenfalls noch einmal gesteigert wird, als nun die Entscheidung über Leben und Tod sehr viel deutlicher als zuvor in die Verantwortung Thisbes gestellt wird: Est ergo tuo munere … In Versikel 4b hieß es etwas zurückhaltender, dass Thisbe könne, wenn sie wolle (si uis, potes). Diese Beobachtungen sind insofern 506 Vollmann, S. 1027, wobei das Argument eher darin besteht, dass nur e ine das Feuer löschen könne: „Sein ‚Argument‘ (‚Ich brenne vor Verlangen‘) ist bewusst primitiv und wird ebenso primitiv wiederholt, nachdem das Mädchen von ‚Aufrichtigkeit‘, ‚Beständigkeit‘ und ‚Geduld‘ gesprochen hat. Das Mädchen weiß genau, dass ‚Feuer‘ kein Beweis für Treue ist (Versikel 5c ) – und trotzdem rückt sie Versikel 7b ,1 bereits von ihrer Grundforderung (feste Bindung) ab.“

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von Bedeutung, als die nun folgende und mit den ersten Anzeichen einer Annäherung einhergehende Rede Thisbes (7b –10) einerseits in der Tat – aufgrund einer gewissen inhaltlichen Redundanz der vorgebrachten Werbungsrede – zunächst ein Stück weit unmotiviert wirkt und die ‚Widerstandsfähigkeit‘ Thisbes einzuschränken scheint.507 Andererseits deutete die insistierende rhetorische Zuspitzung des Pyramus in den Versikeln 6a –7a darauf hin, dass die Thematik des zu löschenden Liebesfeuers bereits argumentativ ausgereizt schien, zumal Thisbe schon in den Versikeln 4c –5c hierauf reagierte. Ihre erneute Antwort diesbezüglich (7b –10) ließe sich daher – trotz eines gewissen Entgegenkommens – auch als durchaus geschickter ‚Schachzug‘ im Hinblick auf die zuvor vorgebrachte Bitte des Pyramus auffassen, da sie ihm durch einen Wechsel des Sprechregisters – bei gleichzeitiger Anknüpfung an die vorausgehende Rede – weiterhin (noch) keine Zusage gibt und im Unterschied zu Pyramus das Gespräch auf eine andere Sprechebene lenkt: Auf ihre angebliche Verantwortung für dessen Leben eingehend nimmt sie die seine Rede bestimmende Metaphorik wörtlich, indem sie von einer Lebensgefahr für sich selbst spricht: Quid refert pro re pendula / uite pati pericula? (Vv. 7b ,1f.: »Was nützt es mir, mich wegen einer unsicheren Sache in Lebensgefahr zu begeben?« Übers. Vollmann). Die Verantwortung für das Leben des Pyramus weist sie somit von sich (bzw. gibt – nur scheinbar naiv – vor, die Metaphorik nicht verstanden zu haben?) und setzt daraufhin argumentativ neu an, indem sie weitere Hindernisse anführt: Ihr Vater und ihre Mutter würden sie seinetwegen viermal am Tag schelten, sie stehe unter ständiger Beobachtung, den hundertäugigen Argus fürchte sie mehr als den Galgen. Thisbe äußert sich hier auf einer vollkommen anderen Sprechebene als in den Versikeln 4c bis 5c : Auffällig sind dabei vor allem die Binnenreime, wodurch der Sprechmodus ein wenig stärker an den registre popularisant angelehnt wirkt.508 Ließ die Absage in den Versikeln 4c bis 5c kaum eine Hintertür offen für eine Zusage, ist es nun auffällig, dass in Versikel 10 eine Einschränkung ihrer zuvor deutlicher formulierten Absage erkennbar ist, da hier ein uir gelobt wird, der diskret vorgehe. Trotz des genannten rhetorischen Geschicks scheint sich gerade in diesen Beobachtungen ein Einfluss der ars amandi widerzuspiegeln, welche – wie bereits oben anhand der ‚Gesprächsanleitungen‘ verdeutlicht – durch ein sukzessives Entgegenkommen der puella bestimmt ist, was auch den ovidischen Gegensatz zwischen ‚Schein‘ und ‚Sein‘ konnotiert. Thisbes Widerstand ist nun dabei zudem weniger durch eine von ihr ausgehende Ablehnung bestimmt als dadurch, dass er aus ‚widrigen‘ Umständen resultiert: Ärger mit Eltern und Bruder; Beaufsichtigung; böswilliges Gerede der Leute. Dennoch besteht ein indirekter Bezug auf ihre erste

507 Vgl. ebd. 508 Im Hinblick auf die Figurenrede dominieren insgesamt symmetrische Satzstrukturen, wie sie für den registre popularisant spezifisch sind.

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Äußerung, indem sie erneut eine Unsicherheit im Hinblick auf das von Pyramus Erwünschte zum Ausdruck bringt: 7b : pro re pendula; 4c : spes […] dubia; 5c : fragilia […] gaudia. Zudem möchte sie ihr Ansehen durch ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang nicht aufs Spiel setzen. Sie fordert daher Diskretion, die aufzubringen ein aufrichtiger Mann bereit sein müsse. Daraufhin (11a –11b ) erklärt Pyramus – ebenfalls unter Rückgriff auf Figuren der griechisch-römischen Mythologie –, dass Thisbes Sorge unbegründet sei: Er versichert sie einer solchen Geheimhaltung, dass er sich nicht einmal um Vulcanus mit seinem feingliedrigen Stahlnetz sorge; mit Hilfe von Lethewasser würde er Argus einschläfern. Er geht somit durchaus auf die Sorgen Thisbes ein und erklärt – vor allem mit letzterem Versprechen –, diese aus dem Weg zu räumen, wobei sich aber argumentativ kein Neuansatz findet; die Aussage des Pyramus beschränkt sich auf die Zurückweisung der durch Thisbe vorgetragenen Bedenken. Diese wird in ihrer nun folgenden Antwort ein weiteres Mal nachgiebiger und spricht von ihrem Inneren und ihren Gefühlen in der ersten Person (eligo, uideo, prebeo, transeo).509 Erneut lässt sie dabei – wie durchgehend in ihren Antworten – eine Unsicherheit erkennen, welcher jedoch wiederum ein anderer Bezugspunkt zugrunde liegt: In trutina mentis dubia / fluctuant contraria […]: Sie schwanke zwischen lasciuus amor und pudicicia (12a –12b ).510 Eine hemmende Hürde erwächst nun aus ihrem Inneren, wohingegen in Versikel 4c der zweifelhafte Charakter der Liebe hervorgehoben wurde (Amoris spes est dubia, aut uerax aut contraria), welcher in das Bekenntnis mündete, nicht die »lichtscheue[n], unbeständige[n] Freuden« zu umarmen. In Versikel 7b war die Sorge durch die zuvor dargelegte Verzweiflung des Mannes bedingt, der es in Thisbes Hand legte, ob er sterbe oder lebe (Quid refert pro re pendula […]), sowie durch eine Gefahr für ihren Leumund. Äußerst abrupt entscheidet sich Thisbe nun jedoch dafür, das süße Joch auf sich zu nehmen.511 Pyramus allerdings ist mit dieser Zusage noch nicht zufrieden: Obwohl sie sich bereit erklärt, ihn zu erhören, fordert er, dass sie es mit voller Überzeugung und Hingabe tun solle (13–14b ). Er lehnt den Begriff des ‚Jochs‘ als Bezeichnung für das Geheimnis der Liebe ab, da nichts angenehmer sei als diese. Seine Aussage mündet in ein euphorisches Lob der Liebesfreuden, wobei er mit den Veneris furta „genau das“ preist, „was Thisbe Versikel 5c abgelehnt

509 Vollmann, S. 1027, stellt daher erneut fest, dass wiederum „eine Kleinigkeit (Schweigeversprechen des Mannes)“ genüge, „um das Mädchen zum Nachgeben zu bringen, weil eben (nach Meinung des Dichters) der lasciuus amor in ihrem Herzen sitzt. Der Mann braucht auf keine der vom Mädchen gestellten Bedingungen einzugehen und kommt doch ans Ziel seiner Wünsche.“ 510 Zu 12a vgl. Walsh, Love lyrics, S. 37, der die Worte als „too indelicate“ erachtet und sie nicht der Dame in den Mund legen möchte: „I prefer to regard these stanzas as the boy’s silent cogitation, after which he resumes the conversation at 13a.“ 511 Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 166, verweist hierbei erneut auf ein Bibelzitat: Mt. 11,30: iugum enim meum suave est.

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hatte […]“, wie Vollmann feststellt512 (vgl. 5c : Noster amor non furtiua …). Auch dazu erklärt sich diese ohne Widerstand bereit und gibt sich Pyramus abschließend gänzlich – ohne Einschränkung oder Bedingung – hin: Dulcissime, / totam tibi subdo me (Versikel 15). Vollmann schließt aus diesem Gesprächsverlauf des Liedes, dass sich das „Vorgehen des Sprechers […] aus seiner Überzeugung, dass das Mädchen nur darauf wartet, verführt zu werden“, erkläre „und dass Unverfrorenheit (Versikel 3,4 f.) ihn fast von selbst ans Ziel bringen wird“513 . Dementsprechend erklärte Pyramus bereits selbst in Versikel 3, dass »dem Kühnen […] das Glück allemal« helfe (audaces/Fortuna iuuat penitus). Für die hier vorgelegte Untersuchung von Bedeutung ist jedoch vor allem, dass – trotz des deutlichen Gefälles in Richtung einer Liebeserfüllung – zum einen ein wechselseitiges Ineinandergreifen der Redebeiträge, aber zum anderen auch argumentative Hakenschläge innerhalb des Dialogverlaufs – besonders auf Seite der weiblichen Figur – zu beobachten sind, wobei sowohl auf inhaltlich-thematische als auch sprachlich-registrale Gestaltungsmittel der Gesprächsentwicklung zurückgegriffen wird. Dass dabei der Widerstand des weiblichen Text-Ichs dennoch nur scheinbar und daher recht leicht zu durchbrechen ist, kristallisiert sich als ein typisches Merkmal lateinischer Dialogdichtung heraus, ist aber dennoch nicht die Regel, wie das folgende Lied aus der Ripollsammlung verdeutlicht. 2.4.4

MACIMA DA – Ad amicam (Carmina erotica Rivipullensia)

Bei dem im Folgenden besprochenen Text handelt es sich um das neunte Lied der Ripollsammlung, ein Corpus von 19 Liebesgedichten, das sich in einer einzigen Handschrift befindet, dem Ms. Ripoll 74 de l’Arxiu de la Corona d’Aragó, Barcelona.514 Latzke weiß von dem Kloster Santa Maria Ripoll als einer „Pfle-

512 Vollmann, S. 1027. 513 Ebd., S. 1026f.; vgl. hierzu ähnlich auch Schaller, Gattungs- und Formtypen, S. 83f., der – unter Annahme einer szenischen Aufführung des Dialogs – „das Burleske an dem ganzen Vorgang“ (S. 84) herausstellt. 514 Editionen: D’Olwer, L’escola poètica de Ripoll, S. 47f.; Raby, History of Secular Latin Poetry II, S. 236ff. (nicht vollständig); Latzke (hier auch ein Faksimile). Vgl. hierzu auch Könsgen, Bemerkungen, sowie Latzke, Zu Könsgens Bemerkungen. Zur literarhistorischen Verortung der Sammlung vgl. Valous, La poésie amoureuse II, S. 178. Latzke, S. 138, beschreibt den Codex wie folgt: „Die Pergament-Handschrift, ein Liber glossarum et etymologiarum aus dem 10. Jahrhundert, umfaßt 156 Folia. Auf einigen leeren Seiten desselben: 97v , 98r und 102r hat ein unbekannter Schreiber des 12. Jahrhunderts 19 Liebesgedichte und eine zum Thema gehörige Marbodparaphrase aufgeschrieben […].“ Sie liefert auch genauere Angaben zur Editions- und Forschungsgeschichte der Ripollsammlung. Vgl. zudem Raby, History of Secular Latin Poetry II, S. 236ff.; D’Olwer, L’escola poètica de Ripoll, S. 3–26; Jeanroy, Les origines de la poésie lyrique, S. 516. Valous, La poésie amoureuse II, S. 178f., geht näher auf einen von D’Olwer als „l’Anònim enamorat“

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gestätte der rhetorischen und metrischen Artes“515 zu berichten. Die Sammlung betrachtet Latzke als das Produkt praktischer Schülerübung, „die aber, und das macht sie interessant, an dem aktuellen Thema, besser: dem Modethema der Zeit, der Ars amatoria, unter Beachtung aller bekannten Normen der Rhetorik und der Ars poetica durchgeführt werden mußte.“516 Dabei beobachtet sie u. a. eine Nähe der Gedichte zu dem sog. Loirekreises517 , für den die starke Beeinflussung durch Ovid kennzeichnend ist.518 Eine gewisse Verbundenheit der Sammlung mit dem französischen Literaturbetrieb des 12. Jahrhunderts lässt sich ebenfalls mit einiger Sicherheit vermuten.519 Die Überschrift des Textes bildet ein Anagramm:

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bezeichneten unbekannten Schreiber ein, „qui vivait au cours du dernier tiers du XIIe siècle […] ses vers, sans doute pour ne point scandaliser ses confrères, ont été tracés à colonnes pleines, séparés seulement les uns des autres par un point; il intervertit souvent aussi l’ordre des lettres des termes les moins monastiques ou estropie l’écriture des tîtres.“ Valous mutmaßt ebd., S. 179, dass der Verfasser der Texte eine Zeit in Lothringen gelebt haben müsse, da in einem anderen der Gedichte von einer gewissen Judith die Rede ist, in der er die Äbtissin Judith II. (1141–1178) der Abtei Remiremont vermutet (Nr. 2 [21]). Ein weiteres Gedicht (Nr. 11 [30]) ist gewidmet „AD COMITISSAM FRANCIAE“. Valous, La poésie amoureuse II, S. 179, glaubt darin Elisabeth von Vermandois zu erkennen, „morte en 1182, femme du comte Philippe d’Alsace (1168–1191), fils de Thierry d’Alsace et de Sibille d’Anjou. Elle s’était mariée en 1156 déjà célèbre par sa beauté et son amour de la poésie; la mort tragique de son amant Gautier de Fontaines (1175) augmenta encore son lustre. Cette fin émouvante fut chantée par les troubadours Guillem de Saint-Didier, Raymond de Miraval, Sordel et Guiraut de Calanso. Le comte Philippe d’Alsace fut le protecteur de Chrétien de Troyes, et André le Chapelain rapporte deux ‚jugements d’amour‘ de la comtesse Elisabeth. Ainsi cette princesse reçut une triple couronne poétique: latine, provençale et française“. Schulz, Konzil, S. 61–76, zeigt enge Bezüge einiger der Lieder zum „Liebeskonzil von Remiremont“ auf (s. oben Kap. 2.1.2). Latzke, S. 139. Aus den Bibliothekskatalogen heraus schließt sie ebd. auf eine Präsenz früh- und hochmittelalterlicher metrischer und rhetorisch-poetologischer Werke. Ebd., S. 140. Vgl. außerdem ebd., S. 141, zur Rezeption Ovids und dem Prinzip der Imitatio: „[…] In der Ripollsammlung wird diese Imitatio in der von Ovid demonstrierten Form: als Entlehnung aus seinem Werk oder als Selbstwiederholung und Variation bereits geprägter Formeln vorexerziert.“ Vgl. ebd., S. 138–152. Für die in Frankreich entstandene lateinische Dichtung spielen die im so genannten Loirekreis – auch ‚Dichterkreis von Angers‘ genannt – entstandenen Texte eine zentrale Rolle, zu dem Marbod von Rennes, Hildebert von Lavardin, Gottfried von Reims, Hilarius von Angers und Balderich von Bourgueil gehören. Verbindungen der innerhalb dieses ‚Zirkels‘ entstandenen Texte zu dem – sprachlich-stilistisch allerdings deutlich zu unterscheidenden – „Liebeskonzil von Remiremont“ (s. oben Kap. 2.1.2) und der hier behandelten Ripollsammlung liegen nahe. Dronke, Medieval Latin I, S. 384, sieht zudem in Bezug auf ein weiteres Lied der Sammlung Ähnlichkeiten mit einem Stück des in dem Pariser Codex BnF, MS lat. 3719 enthaltenen Martialliederbuchs. Außerdem werden Parallelen mit CB 117 beobachtet (vgl. Latzke, Verwahrungsgedicht, S. 164). Valous, La poésie amoureuse II, S. 180: „son œuvre prouve tout au moins la grande influence que l’école française exerçait au-delà des Pyrénées“.

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MACIMADA – Ad amicam. Die Strophen werden im Liedverlauf jeweils explizit SUCIMA – amicus und ACIMA – amica zugeordnet.520 Latzke spricht von einem „Streitgespräch über das Wesen der Liebe“521 und betont, dass die Diskussion um Probleme der Liebe wichtiger geworden sei „als die diskutierte Materie“ selbst.522 Sie erkennt hierbei eine Nähe zu Andreas Capellanus De amore523 und zeigt vor allem enge Bezüge auf Ovids Heroiden-Briefe sowie seine Amores auf.524 Stapleton betrachtet den Dialog als tenso und geht vor allem auf dessen dialektische Struktur ein. Dabei erkennt er in dem variativen Rückgriff auf unterschiedliche Aussageformen den Wesenskern des Textes, da in den einzelnen Strophen erneut sehr unterschiedliche Sprechregister abgerufen werden und die Frau jeweils variativ auf die Strophenstruktur des Mannes zurückgreift.525 Gerade die amica scheint dadurch dem amicus sehr deutlich überlegen, wenn sie ihre Ablehnung bzw. Kritik an ihm argumentativ stets neu begründet.526 520 Die Rollenangaben amicus und amica „sind durch einfache Initialen geschmückt“ (Latzke, S. 167). Eine Interpretation liefern u. a. dies., ebd., S. 158–161, sowie Dronke, Medieval Latin I, S. 253ff.; eine französische Übersetzung findet sich bei Wolff, Ripoll, S. 48–51, eine sehr freie Übersetzung ins Deutsche bietet Naumann, Frech und fromm, S. 133f.; Stapleton, Harmful eloquence, S. 81–84, übersetzt die Strophen 5–8 ins Englische. Der hier vorgelegte Abdruck richtet sich nach der Edition Latzkes (wie auch teilweise Wolffs), wurde jedoch im Hinblick auf die Interpunktion leicht verändert. 521 Latzke, S. 160. 522 Ebd.: „Letzten Endes beruht diese Art Streitgespräche [sic] auf dem dialektischen Prinzip, Probleme der Liebe in der Diskussion zu lösen. Liebe ist Gesprächsstoff geworden, und die Diskussion ist wichtiger als die diskutierte Materie.“ 523 Vgl. ebd., S. 161. 524 Vgl. ebd., S. 158–161. 525 Vgl. Stapleton, Harmful eloquence, S. 78f., S. 79: „Its intricacies are in traductio, in which a word is repeated in different forms. The amica gently but firmly subverts the terminology of the amicus by echoing and changing his diction so that its superficiality is immediately apparent. The overall poetic and linguistic effect resembles Romanesque architectural ‚interlace.‘ A word doubles, contradicts, or connects with another in a different place“. Latzke, S. 199, spricht von einem „Streitgespräch zweier Liebender in der Art des jeu parti; Thema ins Dialektische verschoben und im Sinne der Courtoisie behandelt“. 526 In der Ripollsammlung begegnen neben diesem Dialoggedicht – das einzige des Corpus – sehr unterschiedliche Liedtypen wie u. a. Traumgedicht, Liebesbrief, Fürstinnenpreis oder Lieder mit stärker pastourellesker Thematik. Hinsichtlich der Gesamtstruktur der Sammlung ließe sich eine grobe Orientierung an den quinque lineae amoris postulieren. Der Dialog könnte hierbei das loqui veranschaulichen. Dem Dialoggedicht voraus gehen in diesem Sinne zwei Gedichte De somnio (R7, R8), in denen die Begegnung mit der amica ersehnt wird, welche sich aber lediglich im Traum erfüllt. Das an R9 anschließende Lied berichtet im narrativen Rückblick von einer Begegnung mit der amica, die eine mens pudica besessen habe, was sich inhaltlich auf R9 und die hier zumindest punktuell erklärte Hinwendung zum pudor beziehen ließe: Quem dum sequor, apricam / sum adeptus amicam, / prius satis cupitam, / mentem gerens pudicam. Darüber hinaus finden sich einige weitere Bezugselemente zwischen beiden Liedern (u. a. papilla, crura, candere/candida). Im unmit-

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Abdruck nach Latzke mit Änderungen im Hinblick auf Interpungierung, Änderungen in den Versen 15f. (beide Male dicere nach Hs., Interpungierung verändert) und V. 9 nach Könsgen analog zur Hs.: dictator 527

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Ad amicam: Conqueror et doleo de te, mea dulcis amica. Quod prohibet facies: nimis exigis esse pudica. Fac placeas Veneri, Veneris vel desine formam. Me doctore potes Veneris cito discere normam. amica: Hoc placet et cupio, meus ut sis semper amicus. Displicet et doleo, nisi sis quandoque pudicus. Luxuriam fugias, precor, amplectaris amorem. Convenit et pulcro iuveni servare pudorem. amicus: Non te testatur libri dictator amoris: Non valet ullus amans semper memor esse pudoris. – Sed fortassis amans non es? Licet esse fateris. – Lingua sonat, tamen interius producere queris.

telbaren Liedkontext zu R9 ergibt sich somit eine ansatzweise logisch-narrativ organisierte Struktur aus Sehnsucht nach der Geliebten, Begegnung mit dieser und Liebesbekenntnis im Anschluss an eine Zusammenkunft mit der amica. Vgl. hierzu vor allem die Übersicht bei Latzke, S. 198–200, welche ebd., S. 198, typische Strukturmerkmale „eines erotischen Liederbuches“ ausmacht. 527 Die Unterstreichungen sollen nur einige der terminologischen und motivischen Bezüge zwischen den Strophen hervorheben.

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amica: Dulcis amice mei, cordis non intima ledas: Diligo plus nimio te, quamvis non mihi credas. Non sic fictus amor meus est, si528 dicere velles. Scire loqui possint, poterant quod dicere pelles.529 amicus: Non nego me sub veste tua tractasse papillam, Namque modo simili tractasset quislibet illam. Crura tui, non sponte tua, sic candida nossem, Te nisi per nimias vires devincere possem. amica: Simplicis ingenii nimis es, non insipientis: Virgineae nescis que sit meditacio mentis. Cum prohibet tactum, vult, ne meretrix videatur. Condolet interius, nisi, quod negat, illud agatur.

528 est, si: Hier wäre ein Schreibfehler denkbar. Ein etsi würde an dieser Stelle besser passen: „Nicht ist meine Liebe erfunden, auch wenn du das sagen wolltest.“ 529 Interpunktion und Lesart des Verses orientieren sich hier an Wolff, welche allerdings quid (statt quod) schreibt. dicere in V. 4,3 wird in einigen Abdrucken des Textes wiederholt – entgegen der Hs. – zu discere verändert. So bei D’Olwers, L’escola poètica de Ripoll [„di[s]cere“], und Latzke, welche zudem anders interpungiert: Non sic fictus amor meus est: si discere velles, / Scire, loqui possint; poterant quod dicere, pelles. Vgl. hierzu ebd., S. 159, Anm. 97: „Diese Verse müssen schon dem Schreiber unklar gewesen sein, er verheddert sich in einer Verwechslung von discere und dicere.“ Im Hinblick auf das Verständnis der Stelle schreibt sie ebd., S. 159: „Sofort wird diese schwer verständliche Stelle klar, wenn man ihr Vorbild kennt, den Topos nutu signisque loqui, hinter dem sich das schöne alte Motiv von den ‚Augen des Herzens‘ oder den ‚Augen als Spiegel des Herzens‘ verbirgt“. Latzke verweist hier u. a. auf Her. XV,7f. sowie XVII,89f.; gegen ihre Lesart spricht jedoch, dass bei ihr Vers 4,3 keine geschlossene Einheit bildet, sondern als Konditionalsatz in Abhängigkeit von Vers 4,4 aufzufassen ist. Dies scheint aber – vor dem Hintergrund der Versstrukturen in diesem Lied insgesamt – eher unwahrscheinlich.

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amicus: Tunc solet hoc fieri, cum principium fit amoris, Inprovisus amor cum primis fervet in horis. Alterius mores alter cum denique noscit, Si placeant, facit hec, alter quod postea poscit. amica: Culpa tui, non culpa mei, perturbat amores, Namque tui varios nequeo cognoscere mores. Evolat hac illac multa tua parte iuventus, Unde meus merito monstratur amor tibi lentus.

1. Ich klage und leide wegen dir, meine süße Freundin. Dies verbietet deine Gestalt: zu sehr forderst du, keusch zu sein. Sieh zu, dass du der Venus gefällst, oder lege die Schönheit der Venus ab. Mit mir als Lehrer kannst du schnell die Regeln der Venus erlernen. 2. Das gefällt mir und ich wünsche mir, dass du immer mein Freund sein mögest. Es missfällt mir und ich leide, wenn du nicht über kurz oder lang keusch bist. Entsage der Wollust, ich bitte darum, umarme die Liebe. Es gehört sich auch für den schönen Jüngling, die Keuschheit zu bewahren. 3. Nicht nimmt dich der Verfasser des Buches der Liebe zur Zeugin: Nicht vermag irgendein Liebender, stets der Keuschheit eingedenk zu sein. Aber vielleicht bist du nicht eine Liebende? Magst du auch behaupten, es zu sein. Deine Zunge ertönt, dennoch versuchst du es innerlich hervorzuführen. 4. Mein lieber Freund, nicht darfst du das Innerste meines Herzens verletzen: Ich schätze dich über alle Maßen, obwohl du mir nicht glaubst. Nicht ist meine Liebe (so) erfunden, wenn du das sagen wolltest. Was die äußere Hülle sagen könnte, wenn sie sprechen könnte!530

530 Vgl. hierzu Dronke, The interpretation of the Ripoll Love-Songs, S. 24, der übersetzt: »What could outer semblances say, if they knew how to speak?« Weiter erklärt er ebd.: „The Latin here, as several times in the dialogue, is awkward, but what she is affirming, in essence, is that love is an inner quality: The pelles are masks that reveal nothing of the state of feeling.“ Wolff, Ripoll, S. 51, übersetzt ein wenig freier: »Que ne diraient pas mes entrailles, si elles savaient parler!«

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5. Ich leugne nicht, dass ich die Brust unter deinem Gewand berührt habe, denn jeder andere auch hätte sie auf eine ähnliche Art berührt. Deine so weißen Schenkel könnte ich nicht ohne dein Einverständnis kennen lernen, es sei denn, dass ich dich durch überaus große Kräfte besiegen könnte. 6. Du bist von einer allzu naiven, aber nicht unklugen Veranlagung: Nicht weißt du, wie ein jungfräuliches Gemüt denkt. Wenn es sich gegen eine Berührung sträubt, will es, dass es nicht wie eine Hure erscheint. Im Inneren leidet es, wenn nicht das, was es verweigert, ausgeführt wird. 7. Dann pflegt dies für gewöhnlich zu geschehen, wenn Liebe ihren Anfang nimmt, wenn unvorhergesehene Liebe in den ersten Stunden glüht. Wenn der eine schließlich den Charakter der anderen kennt, wenn sie einander gefallen, tut sie, was der andere als Nächstes fordert. 8. Deine Schuld, nicht meine Schuld, verwirrt die Liebesangelegenheiten, denn ich kann nicht deinen wechselhaften Charakter erkennen. Hierhin und dorthin entfleucht deine Jugend allenthalben, weswegen meine Liebe sich dir zurecht verhalten zeigt.

Die e rste St rophe beginnt mit der Rede eines männlichen Text-Ichs, welches ein Leid beklagt, das durch die als dulcis amica mea Angesprochene bedingt ist (I,1: de te).531 Im zweiten Vers wird der amicus etwas spezifischer: Als Grund seiner Klage nennt er die Keuschheit der amica: Dies – nämlich allzu keusch zu sein – verbiete ihre Schönheit. Daraufhin fordert er in einem direkten Gestus zu einer Handlungsänderung auf und eröffnet hierfür zwei antithetisch gegenübergestellte Optionen: Fac placeas Veneri, Veneris vel desine formam – entweder möge sich die amica den Gesetzen der Venus unterwerfen oder, wenn sie dies nicht wolle, solle sie die Gestalt (die Schönheit) der Liebesgöttin ablegen. Das nun folgende Angebot, sich als Lehrer ‚in Sachen Liebe‘ zur Verfügung zu stellen, knüpft an den magister amoris ovidischer Prägung an; das männliche Text-Ich präsentiert sich als der angesprochenen amica überlegen und fähig, sie schnell (cito) das Regelwerk der Liebe (Veneris norma) zu lehren. In der hierauf folgenden z we ite n St rophe des Gedichts greift die amica auf Formulierungen sowie sprachliche Strukturen der ersten Strophe zurück: Str. 1 Conqueror et doleo de te, mea dulcis amica.

531 Das Adjektiv dulcis ist einerseits erotisch konnotiert, ruft aber ebenso die – nicht ausschließlich erotisch bestimmte – Invitatio-Tradition wie auch Marienhymnik ab.

Dialoggedichte

Quod prohibet facies: nimis exigis esse pudica. Fac placeas Veneri, Veneris vel desine formam. Me doctore potes Veneris cito discere normam. Str. 2 Hoc placet et cupio, meus ut sis semper amicus. Displicet et doleo, nisi sis quandoque pudicus. Luxuriam fugias, precor, amplectaris amorem. Convenit et pulcro iuveni servare pudorem.

Das Hendiadyoin der ersten Strophe (conqueror et doleo) findet eine antithetische Entsprechung in der Formulierung placet et cupio, die Anrede mea dulcis amica wird mit dem Prädikatsnomen des ut-Satzes meus amicus aufgegriffen. Die amica bringt gegenüber dem amicus zunächst Zustimmung zum Ausdruck und verwendet ebenfalls – unter Rückgriff auf Vers 3 der ersten Strophe – das Verb placere: Dies gefalle ihr. Zudem hoffe sie, dass der Angesprochene ihr stets in Freundschaft verbunden sein werde (ut sis semper amicus). Während in Strophe 1 die amica als dulcis amica mea angesprochen wird, heißt es in Strophe 2 ein wenig zurückhaltender, dass sie sich wünsche, dass der Angesprochene immer ihr »Freund« bleiben möge, wodurch zumindest indirekt angedeutet wird, dass nicht von vornherein hiervon auszugehen ist. Dieses zurückhaltend-einschränkende Moment bestätigt sich im weiteren Verlauf der Strophe: Antithetisch stellt die amica im zweiten Vers dem placet des ersten Verses den ein Bedauern zum Ausdruck bringenden Gegenbegriff displicet gegenüber532 , womit zudem eine Anbindung an die Formulierung conqueror et doleo in Vers 1,1 erfolgt: Während das Text-Ich der ersten Strophe beklagte, dass sich die Angesprochene zu »schamhaft« (pudica) verhalte, leidet diese, wenn der Angesprochene nicht über kurz oder lang (quandoque) keusch (pudicus) sei. Im dritten Vers finden sich zudem Entsprechungen im Hinblick auf die imperativischen Aufforderungen der ersten Strophe: Er solle der Wollust (luxuria) entsagen und sich der Liebe (amor) zuwenden, beide scheinen folglich aus ihrer Sicht nicht miteinander vereinbar. Zudem gehöre es sich (convenit) für einen jungen Mann – wodurch ein lehrhaft verallgemeinernder Sprechmodus anklingt –, die Schamhaftigkeit (pudor) zu bewahren (II,4), welche dadurch in die Nähe des amor gerückt wird. Der amicus rekurriert in seiner Antwort (St rophe 3) im Gestus des Widerspruchs – non te testatur – auf den libri dictator amoris, hinter dem sich Ovid verbirgt (III,1). Die Sprechebene ist hier ebenfalls erklärend-verallgemeinernd:

532 Zu den zahlreichen Wortkorrespondenzen vgl. Stapleton, Harmful eloquence, S. 79–85.

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Non valet ullus […]. Argumentativ wird – unter Bezugnahme auf die zweite Strophe – ein neues Argument entwickelt: Ein Liebender könne nicht stets der Keuschheit eingedenk sein. Folglich werden amor und pudor – anders als in der Rede der amica suggeriert – als nicht generell (non … semper) miteinander vereinbar präsentiert. In Strophe 2 dagegen wurden von der Geliebten luxuria – der Gegenbegriff zum pudor – und amor antithetisch einander gegenübergestellt und sowohl zum amor (amplectaris amorem) als auch zum pudor (convenit […] servare pudorem) geraten – dadurch ließ sich ein engerer wechselseitiger Bezug von amor und pudor ableiten. Wenn nun der Mann der dritten Strophe die Vereinbarkeit von amor und pudor infrage stellt, scheint er dabei indirekt wiederum die luxuria zu stärken, ohne diese jedoch explizit zu erwähnen.533 Möglicherweise – wie der amicus in Vers 3 erwägt – sei die amica jedoch gar keine Liebende (amans), möge es auch sein, dass sie es behaupte. Der letzte Vers der Strophe ist im Hinblick auf die inhaltliche Bezugnahme nun allerdings nicht eindeutig, wenn es heißt: »Deine Zunge ertönt, dennoch versuchst du es innerlich hervorzuführen.« Unklar ist hierbei in der deutschen Übersetzung der Bezug des »es«, da sich die Frage stellt, was die amica nach Ansicht des Geliebten innerlich versuche hervorzuführen. Naheliegend ist eine Anspielung auf den topischen Gegensatz zwischen Schein und Sein – ein Auseinanderklaffen von Worten und ‚tatsächlichen‘, verborgenen Gefühlen –, wodurch in der Ovid-Tradition der Frau eine nur vorgetäuschte Ablehnung unterstellt wird. Gerade die zweite Strophe, in welcher die amica ihre Absage an die luxuria erklärt und eine Hinwendung zum pudor einfordert, legt eine solche Deutung nahe, etwa: Deine Zunge ertönt zwar (sie spricht von Keuschheit und bringt Ablehnung zum Ausdruck), aber dennoch versuchst du es – eine Aufgabe der Keuschheit – innerlich hervorzuführen. Der dritte Vers der Strophe wäre dann wohl als Parenthese zu verstehen, da der amicus hier – im Gegensatz zu Vers 4 – die Liebe der amica insgesamt hinterfragt, sind doch Schamhaftigkeit und Liebe aus seiner Sicht nicht – wie in Strophe 2 dargestellt – miteinander vereinbar. Im vierten Vers der dritten Strophe würde er dann jedoch diese Infragestellung ihrer Liebe (zu dem amicus) insofern relativieren, als er eine nur vorgetäuschte Ablehnung annähme.534 533 Latzke, S. 159, sieht hier enge Bezüge auf „das Schwanken Helenas zwischen ihrer aufkeimenden Liebe zu Paris und der pflichtgemäßen Keuschheit als Gattin des Menelaus“. 534 Alternativ ließe sich auch folgende Deutung erwägen: Deine Zunge ertönt zwar und behauptet, dass du eine Liebende bist, aber dennoch versuchst du es – dass du ein Liebende bist – nur innerlich hervorzuführen/hervorzubringen (ohne handelnde Umsetzung). Und zwar in dem Sinne, dass die amica tatsächlich nur im Inneren ihre Liebe ‚ausleben‘ wollte, ohne eine Umsetzung durch eine ‚Tat‘ – der Gegensatz zwischen Wort und Tat ist ebenfalls topisch vorgeprägt. Vor dem Hintergrund der Topik der nur scheinbaren Ablehnung der luxuria im ovidischen Liebesdiskurs – sowie im Kontext ihrer Erwähnung in Strophe 2 – scheint es jedoch hier ein wenig naheliegender zu sein, dass der amicus der amica unterstellt, dass sie durchaus in ihrem Inneren eine Aufgabe des pudor – und somit eine Hinwendung zur Wollust – vorzöge.

Dialoggedichte

Diese andeutungsweise vorgebrachte Unterstellung greift die amica in der v i e rte n St rophe nun aber nicht auf: Sie verteidigt sich dagegen – unter Rückbezug auf Vers III,3 (sowie die Anrede dulcis amice mei in Strophe 1) – gegen den Vorwurf der Unaufrichtigkeit ihrer Liebe. Den Hinweis in Vers III,4 auf ein Auseinanderklaffen von Worten und innerem Empfinden bezieht sie nicht auf eine etwaige Infragestellung ihres Bekenntnisses zur Keuschheit, sondern ausschließlich auf den Vorwurf, nicht zu lieben. Trotz der Zweifel ihres Dialogpartners liebe (diligo) sie ihn jedoch »mehr als zu viel«, auch wenn er ihr nicht glaube (IV,2). Sie spricht hier in einem generelleren Modus von Liebe; pudor und luxuria finden keine Erwähnung und der etwas differenziertere Blick auf den amor bzw. die Hinterfragung der Liebe aufgrund einer fehlenden Aufgabe des pudor werden überhaupt nicht aufgegriffen. Dem stellt sie eine Aufrichtigkeitsbeteuerung entgegen (etwa: Was du sagst, ist falsch): Ihre Liebe sei keinesfalls nur vorgetäuscht oder unaufrichtig (fictus), der amicus würde jedoch nicht das hören wollen, was die »Haut« (pelles), wenn sie zu sprechen in der Lage wäre, mitteilen würde (IV,3f.). Möglicherweise könnte hiermit eine Brief-»Haut« gemeint sein, was auf einen schriftlichen Austausch – in Anknüpfung an einen Briefdialog – schließen ließe.535 Die Aussage scheint jedenfalls erneut das Bekenntnis ihrer Liebe zum amicus zu bestärken. Während die amica in Strophe 2 auf eine ja, aber-Struktur zurückgreift (Zustimmung zu einer keuschen Liebe, aber keine Wollust), liegt der Schwerpunkt der vierten Strophe somit – in einem etwas weniger differenzierten Modus – auf einer Bekräftigung ihrer Liebe, ohne eine genauere Angabe ihres Wesens. In St rophe 5 findet sich nun in der Rede des amicus ein allerdings noch deutlicherer Neuansatz im Hinblick auf das gewählte Sprechregister536 : Der Mann gibt ein sexuelles Interesse an der amica offen zu erkennen und bekennt (non nego), die Brust (papillam) der Angesprochenen unter ihrem Gewand berührt zu haben.537 Nicht hätte er jedoch gegen ihren Willen ihre weißen Schenkel kennenlernen können. Dazu bedürfte es schon eines von ihm ausgeübten Zwanges, womit auf eine gewaltsame Eroberung angespielt wird, wie sie in der Pastourelle oder etwa auch in den Liebeslehren ovidischer Prägung begegnet. Doch auch diese scheinbare Rücksichtnahme auf den Willen der amica nimmt diese in St rophe 6 zum Anlass

535 Diesen Hinweis verdanke ich P. Orth (Köln) neben zahlreichen weiteren Hilfestellungen und Anregungen zur Übersetzung und Konzeption des Liedes. Die Auffassung von pelles als Brief verstärkt zudem den Eindruck eines an Schriftlichkeit gebundenen Charakters der dialogischen Interaktion. Wolff übersetzt pelles hier freier mit »entrailles«, in Bezug auf den Sinn des Verses ließe sich überlegen, dass die amica zum Ausdruck zu bringen versucht, dass ihr Inneres ihre Liebe zu ihm bekräftigen würde. 536 Stapleton, Harmful eloquence, S. 81, erklärt: „the amicus lifts his mask“. 537 Vgl. Latzke, Zu Könsgens Bemerkungen, S. 96: „sub veste ist konkret der Topos für die secreta corporis feminei“. Könsgen, Bemerkungen, S. 89, verweist hier auf die quinque lineae amoris.

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für eine Kritik des amicus: Sie klärt ihn über die Beweggründe eines jungfräulichen Gemüts auf, ohne jedoch von sich selbst – anders als in den Strophen 2 und 4 – in der ersten Person zu sprechen. Dabei greift sie – aus der Perspektive einer ‚Wissenden‘ – auf einen allgemein erklärenden Gestus zurück, der eine gewisse Überlegenheit der amica gegenüber dem amicus erkennen lässt: Er sei von einfach-naivem (simplex), aber nicht unklugem (insipiens) Charakter. Nicht verstehe er die Beweggründe und Gedanken eines jungfräulichen Gemüts. Mit der Nennung der Jungfräulichkeit der amica richtet sich der Blick explizit auf einen körperlich-physischen Aspekt, wobei sie erneut keine ‚grundsätzliche‘ Ablehnung gegenüber dem amicus zum Ausdruck bringt – bereits in Strophe 4 erklärte sie die Aufrichtigkeit ihrer Liebe: Der Widerstand gegen eine Berührung sei lediglich vorgetäuscht und erfolge nur, um nicht als meretrix zu erscheinen. Die Zurückhaltung der Umworbenen wird also durch die Sorge um den eigenen Ruf erklärt.538 Dabei unterscheidet die amica zwischen einem äußeren, für alle sichtbaren Verhalten und einer inneren, nur für die amica wahrnehmbaren Empfindung.539 Ein stückweit knüpft sie hier an die Strophen 3 und 4 an, in denen es bereits – vor allem in der männlichen Strophe 3 – um einen durch den amicus unterstellten Gegensatz zwischen innerer Empfindung und äußerem Schein ging: Diesen Gegensatz bestätigt sie hier in dem Sinne, dass sie innerlich tatsächlich das wolle, was sie äußerlich ablehne, wobei sie – unter Bezug auf Strophe 5 – hier ebenfalls von einer physischen Liebe zu dem amicus zu sprechen scheint, wogegen sie sich in Strophe 2 noch zur Wehr setzte (luxuriam fugias). Die Frau formt hierfür die Sprache des Mannes der Liebeslehren in ihrem Sinne um540 : Das in Strophe 3 als Vorwurf formulierte Motiv eines Auseinanderklaffens von Worten und innerlicher Befindlichkeit bzw. innerlichem Streben – vor allem in Vers III,4 – benutzt sie ihrerseits in der Replik auf Strophe 5, wobei sie dem amicus – in einer ihre bisherige Haltung geradezu verkehrenden Erläuterung – zum Vorwurf macht, dass er sie nicht gewaltsam erobert und ihr innerlich gehegtes Verlangen erfüllt habe.541

538 Vgl. Dronke, Medieval Latin I, S. 254: „[…] is he so stupid, she asks, that he cannot see her fear of being too quickly won and then despised? She is sad if he ventures no further because of her rebuff.“ 539 Vgl. hierzu erneut ebd. 540 Vgl. Stapleton, Harmful eloquence, S. 83: „Here the pia virgo uses the hackneyed language of male seduction to explain, and therefore preserve, her chastity. She uses Ovid to defend virginity […]. Therefore, Acima/ Amica is not anti-Ovidian. She simply reads him differently and uses his logic in her own way.“ In der Pseudo-Ars amatoria heißt es ganz ähnlich: Vim faciat iuvenis, quamvis nimis illa repugnet, / nam si desistat, mente puella dolet. / Expectat pocius luctando femina vinci, / quam velit, ut meretrix, crimina sponte pati. 541 Überlegen ließe sich hier zudem, ob der abschließende Vers der Strophe nicht auch als Frage gestellt werden könnte: »Im Inneren leidet es, wenn nicht das, was es verweigert, ausgeführt wird?« Hierdurch würde die ‚grundsätzliche‘ Bereitschaft zu einer Liebeserfüllung eingeschränkt; mit

Dialoggedichte

Der Angesprochene relativiert jedoch nun in St rophe 7 in einem (nur scheinbar) überlegen-analytischen Modus die Richtigkeit der Aussagen der amica, indem er eine zeitliche Dimension eröffnet: Das, was die amica dargestellt habe (hoc), beschreibe den Beginn einer neuen, unvorhergesehenen (inprovisus) Liebesbeziehung. Wenn der eine den Charakter der anderen kenne, werde sie ohnehin das tun, was dieser verlange. Er scheint sich hier nun gegen den Vorwurf zu verteidigen, sich nicht direkt genommen zu haben, was er verlange, d. h. eine Liebeserfüllung nicht ‚gewaltsam‘ bzw. gegen den (nur scheinbar ablehnenden) Willen der amica (non sponte tua) erzwungen zu haben. Vor dem Hintergrund der ovidischen Liebeslehre – die durch ein stückweises Nachlassen des weiblichen Widerstands gekennzeichnet ist (quinque lineae amoris) – klingt hier eine gewisse Zuversicht darauf an, dass die Umworbene ohnehin das tun werde, was der Mann wünsche. Diese Erwartung bestätigt aber die amica in der abschließenden St rophe 8 gerade nicht: Sie setzt argumentativ neu an und spricht in einem ebenfalls analytischen – doch gleichwohl dem amicus überlegenen – Modus, wobei sie erneut auf dessen Wesen eingeht (tui […] mores, vgl. VI,1: simplicis ingenii […]): Die Unruhe in Sachen Liebe sei gerade nicht ihre Schuld, sondern die des amicus. Dessen Charakter nämlich sei zu unbeständig (varios), weshalb sie sich ihm gegenüber zögernd verhalte – ein weiterer topischer Vorwurf gegenüber dem Werbenden wird abgerufen. Stapleton verweist auf das rhetorisch versierte Wortspiel mores – amores sowie die überaus kunstvollen Bezüge zwischen den einzelnen Strophen.542 Der Ausgang des Dialogs bleibt dabei ein stückweit unklar, wenn die amica abschließend erklärt: »… weswegen meine Liebe sich dir zurecht verhalten zeigt.« Die Formulierung mit lentus amor spielt hierbei ansatzweise mit der prinzipiellen Möglichkeit einer Liebeserfüllung.543 Gauly zeigt in diesem Zusammenhang verschiedene Bedeutungsnuancen auf: lentus amor bezeichne etwa – unter Bezugnahme auf Texte Tibulls, Horaz’ und Ovids – zum einen „den (geringen) Grad der Leidenschaft“ und zum anderen eine „nicht ohne weiteres nach außen sichtbar[e]“ Liebe.544 Unter Berücksichtigung der zweiten Bedeutungsoption fände sich hier somit eine erneute Anspielung auf das Motiv der im Inneren verborgenen Liebe, welche ein deutlicheres – gleichwohl der Haltung der amica gegenüber dem Werbenden würde noch stärker gespielt. Die Lesart des Verses als Aussagesatz macht jedoch den Gegensatz zwischen der Unverblümtheit, mit der die amica eine Liebesbereitschaft signalisiert, und ihren stets von Neuem formulierten Einwänden noch deutlicher. 542 Stapleton, Harmful eloquence, S. 84: „She repeats and transforms his amoris (25) and mores (27), rhyming them together (29–30) to highlight the general incompatibility of the two concepts.“ Zudem erkennt er ebd. die klangliche Wiederaufnahme des crura tui in Strophe 5 durch die Formulierung culpa tui, non culpa mei. 543 Zur Bedeutung von lentus amor vgl. auch Gauly, Lentus amor, S. 92ff.: Er argumentiert ebd. – unter Verweis auf Tibull – für die Bedeutung »schwachglimmende Liebe«. 544 Ebd., S. 97.

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indirektes – Entgegenkommen der amica markieren würde. Das Modell der keuschen Freundschaft, welches die amica ihrem Verführer in den ersten Strophen gegenüberstellt, erwies sich darüber hinaus im Dialogverlauf als wenig belastbar, erklärte sich die amica doch prinzipiell zu einer physischen Erhörung des Werbenden bereit. Gleichwohl fällt die abschließende Aussage äußerst zurückhaltend aus und weist eher auf eine Distanzierung bezogen auf die dargestellte Figurenkonstellation zwischen amicus und amica hin, schien doch die Bereitschaft letzterer zu einer Liebeserfüllung in Strophe 6 sehr viel größer, deren Eintreten am Gedichtende lediglich konnotativ als eine mögliche Deutungsoption abgerufen wird. Der Ausgang des Dialogs ist daher durch eine Offenheit gekennzeichnet, wie sie gerade auch für die Werbungsgespräche im De amore des Andreas Capellanus und in der volkssprachlichen Dichtung – nicht jedoch in der Pastourelle – typisch ist. Die engen Verlinkungen der Strophen untereinander – vor allem am Strophenübergang, aber auch darüber hinaus (Crura tui, non sponte tua, V,3 – Culpa tui, non culpa mei, VIII,1) verdeutlichen hierbei eine Kunstfertigkeit im wechselseitigen Bezug der Diskutanten untereinander, welche ebenfalls ein die genannten Texte verbindendes Element darstellt. 2.4.5

Invitatio amicae

Klopsch spricht bei seiner Analyse der sog. Invitatio amicae von den „miteinander verwandten Genera der Aufforderung zur Liebe (Invitatio) und der Pastourelle“545 . Gelegentlich wird der ins 10. Jahrhundert datierte Text, der immer wieder als „älteste[s] Liebesgedicht“546 des Mittelalters bezeichnet wird, als eine Vorstufe pastourellesker Liedtraditionen angesehen, hinsichtlich derer schon signifikante Charakteristika – wenn auch insgesamt eher zurückhaltend – in dem Einladungsgedicht vorgeprägt sind.547 Dabei ergibt sich das dialogische Moment des Textes erst sukzessive im Verlauf des Liedes. Die Deutung der Invitatio – in Kombination mit einer divergenten handschriftlichen Überlieferung – ist darüber hinaus nicht nur aufgrund der Zuordnungsschwierigkeiten der Strophen zu Mann oder Frau auf vielfältige Weisen projizierbar, sondern vor allem auch durch die gleichzeitig innerhalb des Liedes abgerufenen Konnotationsfelder, welche divergierende Liebeskonzeptionen implizieren. Die Analyse des Textes bildet ob dieser sehr deutlichen Überschneidungen im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte eines Sprechens über Liebe den Abschluss des Kapitels und gleichzeitig die Überleitung zum zweiten 545 Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 161. Vgl. zum literarischen Texttyp der Invitatio auch Gray, The art of love poetry, S. 59–62, der dessen Entwicklung bis hin zu Christopher Marlowe und Charles Baudelaire verfolgt. 546 Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 281. 547 Vgl. Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 161.

Dialoggedichte

Hauptteil der Untersuchung, sind doch gerade im frühen Minnesang ähnliche Beobachtungen zu machen. Das Einladungsgedicht ist in drei Handschriften überliefert, von denen zwei – P und V, welche den Text in Prosa notieren – im 10. Jahrhundert datiert werden.548 Bei der dritten handelt es sich um den Codex UL Gg.5.35 der Cambridge University Library, der die viel beachteten Carmina Cantabrigiensia549 enthält (C). Diese Sammlung umfasst 50 Stücke unterschiedlicher Provenienz und ist wohl um die Mitte des 11. Jahrhunderts im Rheinland entstanden.550 Die hier behandelte Invitatio (Nr. 27) ist in den Handschriften P und V jeweils neumiert überliefert551 ; in den Cambridger Liedern wurden durch Rasur die letzten vier Strophen getilgt552 , sie sind jedoch durch die – ohnehin früher datierten – Parallelhandschriften aus

548 Die Frage, bei welcher Fassung es sich um die authentischste handelt, ist umstritten. Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 285, entscheidet sich für V („im 10. Jh. jedenfalls in Salzburg […] spätestens vom Anfang des 11. Jhs.“, ebd., S. 281). Ein Argument dafür sei die Verstärkung der Reimbindung in der Schlussstrophe (ebd., S. 281, findet sich auch eine knappe Beschreibung aller drei Handschriften). Während Brinkmann, Anfänge II, S. 207, sich für eine Entstehung des Textes in Italien ausspricht – er betrachtet mit dieser Invitatio Einladungsgedichte für das Italien des 10. und 11. Jahrhunderts als nachgewiesen: „Mit den Vaganten sind sie nicht in Beziehung zu bringen, sie sind charakteristische Produkte der paganischen, weltlichen Kultur Italiens in dieser Zeit“ –, sehen Strecker und Vuolo französischen Ursprung. Vgl. außerdem Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 251; Edwards, winileodos, S. 193. 549 Editionen: Ziolkowski, Cambridge Songs (Nr. 27); Strecker (MGH SS 40, 1926); Breul (1915), mit photographischer Reproduktion. Überlieferung: cod. Gg 5.35 der UB Cambridge; vgl. Langosch, Art., Carmina Cantabrigiensia, Sp. 1187: „Da der Schreiber die kontinentale Minuskel des 11. Jh.s verwandte, aber gewisse Buchstaben […] mit ags. Zeichen vertauschte, ist zu vermuten, daß die Hs. im 11. Jh. in England nach einer kontinentalen Vorlage geschrieben wurde, und zwar im St. Augustinkloster zu Canterbury, da sich die Hs. dort vom 12.–16. Jh. befand. Nach ihrem heutigen Aufbewahrungsort Cambridge, wohin sie gegen Ende des 17. Jh.s gelangte, sind auch die Lieder benannt, ohne daß sie mit diesem Ort weiter zu tun hätten.“ 550 Vgl. hierzu vor allem die jüngste Edition von Ziolkowski, Cambridge Songs, S. xviii. Zur komplizierten Reihung der Lieder vgl. auch Dronke, The Song of Songs, S. 245, sowie Langosch, Art., Carmina Cantabrigiensia, Sp. 1187–1189, der glaubt, anhand der Liedfolge eine Zusammensetzung aus verschiedenen Sammlungen zu erkennen, die jeweils in Deutschland und Frankreich entstanden seien. Er kommt zu dem Ergebnis: „Im ganzen spricht demnach nicht wenig dafür, dass die ‚C.C.‘ in Deutschland zusammengestellt wurden, vielleicht in der Rheingegend und um die Mitte des 11. Jh.s.“ (ebd., Sp. 1189). Langosch vermutet darüber hinaus ebd., Sp. 1190, dass die Texte für den musikalischen Vortrag gedacht gewesen seien, da einige Partien besonders zur Vertonung reizten und das Thema Musik auffallend häufig in den Texten thematisiert werde. Zur Funktion dieser Sammlung vgl. ebenfalls Ziolkowski, Cambridge Songs, S. xx–xxiv, sowie Brinkmann, Anfänge II, S. 216. 551 Vgl. Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 254. 552 Der Zensur fielen außerdem die Stücke 28 (Clericus et nunna), 39 und 49 zum Opfer (vgl. Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 253).

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Wien und Paris größtenteils zu rekonstruieren. Der Ausgangspunkt der hier durchgeführten Untersuchung ist zunächst der Text in der Form, wie ihn der Codex Vindobonensis 116 (Salzburger Fassung V) überliefert: Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Codex Vindobonensis 116, folio 157v (10. Jh., neumiert), zit. nach Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 334f. (Abweichungen kursiv) V1

Iam, dulcis amica, uenito, quam sicut cor meum diligo! Intra in cubiculum meum ornamentis cunctis onustum!

V2

Ibi sunt sedilia strata et domus uelis ornata floresque in domo sparguntur herbeque fraglantes miscentur.

V3

Est ibi mensa apposita uniuersis cibis onusta; ibi clarum uinum habundat et quicquid te, cara, delectat.

V4

Ibi sonant dulces symphoniȩ, inflantur et altius tibiȩ, ibi puer doctus et puella pangunt tibi carmina bella.

V5

Hic cum plectro cytharam tangit. illa melos cum lyra pangit portantque ministri pateras pigmentatis poculis plenas.

V6

Non me iuuat tantum conuiuium quantum predulce colloquium, nec rerum tantarum ubertas ut dilecta familiaritas.

Dialoggedichte

V7

Iam nunc ueni, soror electa et pre cunctis mihi dilecta, lux meae clara pupille parsque maior animae meae!

V8

Ego fui sola in silua et dilexi loca secreta; frequenter effugi tumultum et uitaui populum multum.

V9

Karissima, noli tardare, studeamus nos nunc amare! Sine te non potero uiuere: iam decet amorem perficere.

V10

Quid iuuat differre, electa, que sunt tamen post facienda? Fac cita quod eris factura: in me non est aliqua mora!

V1. Süße Freundin, nun komm endlich, die ich so wie mein Herz liebe! Tritt ein in meine Kammer, erfüllt von allerlei Kostbarkeiten! V2. Dort sind Sitzgelegenheiten hingebreitet und das Haus ist geschmückt mit Tüchern und Blumen sind im Haus gestreut und duftende Kräuter sind daruntergemischt. V3. Dort ist ein Tisch aufgestellt mit unzähligen Speisen beladen; dort gibt es reinen Wein im Überfluss und alles, was dich, Teure, erfreut.

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V4. Dort erklingen süße Melodien, hell werden Flöten geblasen, ein gelehrter Junge und ein Mädchen dort singen schöne Lieder für dich. V5. Dieser schlägt mit dem Plektron die Zither. Jene singt Lieder zur Lyra und Diener tragen Tabletts voll von Bechern mit Würzwein. V6. Nicht erfreut mich ein Gelage so wie sehr süßes Gespräch, und nicht die Fülle so großer Dinge wie geliebte Vertraulichkeit. V7. Komm nun schon, geliebte Schwester und von mir vor allen Geliebte, helles Licht meines Augapfels und größerer Teil meiner Seele! V8. Ich war allein im Wald und ich liebte die geheimen Orte; oftmals entfloh ich dem Trubel und mied die große Menge. V9. Liebste, zögere nicht: Lass uns eifrig danach streben, uns nun zu lieben! Ohne dich werde ich nicht leben können: Jetzt ziemt es sich, die Liebe zu vollziehen. V10. Was nützt es aufzuschieben, Auserwählte, was später dennoch getan werden muss? Mach schnell, was du sowieso tun wirst: Ich selbst zögere überhaupt nicht!553

553 Vgl. u. a. auch die Übersetzungen von Klopsch, Lateinische Lyrik, S. 241/243, bzw. ders., Die mittellateinische Lyrik, S. 161/163/165, und Langosch, Hymnen, S. 105/107, an denen sich die vorliegende Übersetzung teilweise orientiert.

Dialoggedichte

Paris, BnF, MS lat. 1118, folio 247v (Ende 10. Jh., neumiert)554 , zit. nach Ziolkowski555 1–5 s. oben (zahlreiche sprachliche Änderungen) P6 (V8)

P7

Ego fui sola in silua et dilexi loca secreta; frequenter effugi tumultum et uitaui populum multum. Iam nix glaciesque liquescit, folium et herba uirescit, philomela iam cantat in alto, ardet amor cordis in antro.

Überlieferungsübersicht orientiert an V556 : V P C

V1 V1 V1

V2 V2 V2

V3 V3 V3

V4 V4 V5

V5 V5 V4

V6 V8 V8

V7 P7 C8a (defekt)

V8

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In der Forschung herrscht zwar weitgehende Einigkeit darüber, dass es sich bei diesem Text um einen Dialog handelt557 , die Frage der Rollenzuordnung ist aber vor allem in Bezug auf die Strophen 6 und 8 äußerst umstritten.558 Zu Beginn (Strophe 1) fordert ein eindeutig als männlich zu bestimmendes Text-Ich ein weibliches Gegenüber auf, es aufzusuchen. Der Mann beschreibt zahlreiche Verlockungen, welche die angesprochene dulcis amica bei ihm erwarten würden, und verbindet hiermit eine überaus deutliche Liebeserklärung (V. 1,2: quam sicut cor meum diligo). In seine Kammer (cubiculum) solle die süße Freundin kommen, sie sei von zahlreichen Kostbarkeiten erfüllt. Die zweite Strophe thematisiert die reiche Ausstattung

554 Vgl. Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 281: „im Nachhang eines Sequentiars, das 985–996 im Kloster S. Martial zu Limoges angelegt wurde.“ 555 Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 333–335 (Appendix 1). 556 Vgl. auch die Übersicht bei Bradley, Iam dulcis amica uenito, S. 105, der die verschiedenen Editionen in den graphischen Vergleich einbezieht. Hier findet sich zudem eine Diskussion textkritischer Probleme. Bradley schlägt dann jedoch eine Strophenreihung vor, die von der Überlieferungslage stark abweicht. Vgl. hierzu Dronke, The Song of Songs, S. 244: „But the gravest difficulty has had a different cause. It is that scholars have been content to print and interpret a composite text of this song; whereas I would suggest that the song, as we have it, survives in two deliberately distinct versions, and that these versions should not be conflated.“ 557 Lediglich Vuolo, Iam, dulcis amica, uenito, S. 20f., versteht das ganze Lied als das eines einzigen Text-Ichs. 558 Vgl. die Übersicht bei Bradley, Iam dulcis amica uenito, S. 105.

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des Hauses: Es ist mit Tüchern geschmückt, Blumen und duftende Kräuter sind überall verstreut; unzählige Speisen und Wein im Überfluss erwarten die Angesprochene (Strophe 3). Diener tragen Tabletts voll von Bechern mit Würzwein; dazu erklingt Musik, ein gelehrter Junge (puer doctus) und ein Mädchen559 singen Lieder (Strophen 4–5). In Strophe 6 endet die Beschreibung der das Mädchen erwartenden Gelüste jedoch abrupt: Ein süßes Gespräch (dulce colloquium) und geliebte Vertraulichkeit (dilecta familiaritas) würden das hier sprechende Text-Ich weit mehr als das in den ersten Strophen gepriesene ausgiebige Gelage erfreuen. Aufgrund dieser Herabsetzung der zuvor beschriebenen Kostbarkeiten wird die Strophe von den meisten Interpreten als ablehnende Antwort der angesprochenen amica verstanden560 , da andernfalls – wenn man die Worte dem Text-Ich der Strophen 1–5 in den Mund legen würde – die umfangreichen Anpreisungen der vorangegangenen Strophen nur schwer nachvollziehbar seien561 , wobei sich dieser Deutung auch widersprechen lässt (s. unten). Das männliche Text-Ich dagegen setzte jedoch in Strophe 7 – unter der Annahme einer Unterbrechung der Werbungsrede – seine Überredungsversuche fort: Anders als in den Strophen 2–5 beschreibt es jedoch hier nicht mehr das überschwängliche Gelage, sondern schmeichelt der amica nun mit Komplimenten: Nach einer erneuten Aufforderung zu kommen, welche fast schon ein wenig ungeduldig klingt (iam nunc veni)562 , wird der besondere Status der Angesprochenen hervorgehoben: pre cunctis mihi dilecta und danach: lux meae clara pupillae […]. Doch auch dieser Werbungsversuch überzeugt die Angesprochene nicht, wenn man die achte Strophe als direkte Antwort auf das Ansinnen des Mannes liest – der Bezug des sola auf ein weibliches Text-Ich ist naheliegend563  –, wobei das Verständnis der Strophe allerdings dadurch erschwert wird, dass sie im Gegensatz zu den übrigen im Perfekt verfasst ist.564 Das Text-Ich bekennt, dass es alleine im Wald gewesen sei und die Einsamkeit geheimer Orte dem Trubel der Menge vorziehe.565 Dass es sich um eine Absage bezogen auf die in Strophe 7

559 Im Pariser Codex singen ein Knabe und ein gelehrtes Mädchen (ibi puer et docta puella / cantant […]), welches u. a. auch bei Properz des Öfteren begegnet. 560 Eine Ausnahme bildet Dronke (s. unten). 561 Vgl. Brinkmann, Anfänge II, S. 206. 562 Vgl. Strecker, S. 73. 563 Anders dagegen Vuolo, Iam, dulcis amica, uenito, S. 20f., der dafür argumentiert, dass alle Strophen von dem männlichen Text-Ich geäußert werden, es also keine Frauenstrophe(n) gibt (sola wäre in diesem – grammatikalisch möglichen – Fall auf silva zu beziehen). Eine Übersicht der Mann-FrauZuordnungen findet sich ebenfalls bei Bradley, Iam dulcis amica uenito, S. 107. 564 Vgl. hierzu Dronke, Medieval Latin I, S. 272f., Anm. 2; Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 285. 565 Brinkmann, Anfänge II, S. 205f., schließt aufgrund der Bezeichnung soror electa (Str. 7), dass sich die weibliche Figur als Nonne in den Wald zurückgezogen habe, um dort Gott zu finden. Er verweist dabei auf die soror carissima bei Bonifatius (vgl. auch Edwards, Archilochos, S. 5). Bei dem männlichen ‚Protagonisten‘ handele es sich vielleicht um einen Bischof. Von den Steinen,

Dialoggedichte

vorgetragene Bitte handle, erschließt H. Brinkmann darüber hinaus indirekt aus der Formulierung noli tardare in Strophe 9.566 Es findet sich in dieser die bereits dritte imperativische Aufforderung: venito (V. 1,1), veni (V. 7,1), noli tardare (V. 9,1). Ab dem zweiten Vers äußert sich das Text-Ich jedoch in einem deutlich anderen Sprechregister, da es den ein Miteinander unterstellenden Hortativ verwendet und das sehr direkte Liebesangebot, sich nun zu lieben, formuliert: Studeamus nos nunc amare (V. 9,2). Zum ersten Mal spricht das Text-Ich darüber hinaus von sich selbst in der ersten Person und verleiht seinen Bitten eine geradezu existentielle Bedeutsamkeit, wenn es bekennt, nicht ohne die Angesprochene leben zu können: Sine te non potero vivere, V. 9,3. Im vierten Vers der Strophe greift der Einladende dagegen auf einen eher fordernd-verallgemeinernden Gestus zurück: Es gehöre sich nicht, die Liebe aufzuschieben (Iam decet amorem perficere, V. 9,4). Die soror electa legte allerdings bereits in Strophe 8 Wert auf ihr Alleinsein: dilexi loca secreta, vitavi populum multum. Die von dem Einladenden erstrebte Zweisamkeit scheint sie abzulehnen. In der letzten Strophe erklärt dieser aber erneut, dass es keinen Sinn mache aufzuschieben, was ohnehin geschehen werde; eine handelnde Umsetzung des Geforderten wird unterstellt: Fac cita, quod eris factura – »Mach, was du (sowieso) tun wirst.« Das männliche Text-Ich interpretiert die Abwehrversuche der amica offenbar als vorübergehend und vorläufig, woraus sich die Zuversicht auf einen künftigen Erfolg erschließen lässt.567 Bei dem Versuch einer Einordnung dieser Invitatio führt der Weg vor allem zu Texten geistlicher Provenienz. Bereits H. Brinkmann hebt den theologischen Hintergrund des Gedichtes hervor und interpretiert es als ein Gebet an Maria, „das freilich erotische Farbe trägt“568 . Er weist hin auf Parallelen zur mittelalterlichen Marienhymnik, wie u. a. das folgende Gedicht sehr deutlich macht569 :

566 567 568 569

Invitatio amicae, S. 284, sieht dagegen in der Bezeichnung soror electa lediglich „eine Steigerung von amica“ und „eine Vorstufe von Karissima“. Vgl. Brinkmann, Anfänge II, S. 206. Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 284f., dagegen argumentiert, dass es sich bei dem letzten Vers (In me non est aliqua mora) um Frauenrede, also eine Einwilligung der amica, handele. Brinkmann, Anfänge II, S. 205. Ebd., Anm. 5.

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71. In Praesentatione BMV570 1

Veni, veni, o filia, Intra nostra cubicula, Surge, surge ac propera, Jam tua floret vinea.

6

Precamur ergo, domina, Nostra spes, salus unica, In nos intende supplices Et juva pusillanimes.

2

Te exspectant deliciae, Sponsus vocat meridie, Adorant Sion filiae, Laudant adolescentulae.

7

Nostram vide miseriam, Nobis confer clementiam Et in coeli clarissimo Nos colloca palatio.

3

Salve, splendor justitiae, O gemma pudicitiae, Tu nos ab hoste protege, Mater misericordiae.

8

Hanc, o rex regum Domine, Suscipientes suscipe, In templo tuae gloriae Bonis adimplens gratiae.

4

Salve, virtutum cellula, Mundi spes atque domina, Regina coeli inclyta, Aeternae vitae janua.

9

Sit trinitati gloria, Sit decus et victoria, Qui nos salvet pro meritis Mariae semper virginis.

5

Te nos devotis mentibus Devotisque affectibus Venientem suscipimus, Laudantes benedicimus.

Die ersten beiden Verse Veni, veni, o filia, / intra nostra cubicula stimmen bis in die Wortwahl mit der Invitatio überein. Auch hier erwarten die Angesprochene deliciae (Str. 2), doch anders als in der Invitatio (und in den Versus Eporedienses, s. unten) werden diese nicht konkretisiert.571 In den Strophen 3–4 findet sich stattdessen eine euphorische Laudatio der Gottesmutter (mater misericordiae). Die Thematik ist nicht sexuell konnotiert, von einer gemma pudicitiae ist die Rede. Das Text-Ich bringt die Demut und Ehrerbietung zum Ausdruck, welche der mater misericordiae

570 Analecta hymnica IV: Hymni inediti, S. 49. 571 Zudem sei das Musikschema der Invitatio typisch für liturgische Hymnen, vgl. Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 254.

Dialoggedichte

entgegengebracht würden (Str. 5). In Strophe 6 beginnt eine ausführliche Bitte um das eigene Seelenheil, der Text wird zu einem Gebet um Erlösung: Et in coeli clarissimo / Nos colloca palatio. Zum Abschluss des Hymnus wendet sich das TextIch in den letzten beiden Strophen an Gott (o rex regum Domine) und preist die göttliche Trinität (Sit trinitati gloria). Pollmann verweist auf die engen Bezüge der Invitatio amicae zum Canticum canticorum und die auf diesem aufbauende Hoheliedliteratur als wesentlichen Hintergrund für das Verständnis dieses Textes.572 Zahlreiche sprachliche Übereinstimmungen machen eine enge Bezugnahme hierauf deutlich.573 Bereits die Aufforderung an die Geliebte zu kommen (Iam, dulcis amica, uenito) sowie deren Anreden als soror, electa und dilecta finden auffällige Parallelen in dem alttestamentarischen Text als einer Sehnsuchtsdichtung (vgl. 2,4 u. 2,10–11).574 Desgleichen genannt wird dort ein cubiculum; die Absicht, den Geliebten des Hohelieds dorthin zu führen, begegnet ebenso575 ; wie in der Invitatio werden zahlreiche Verlockungen beschrieben: Wein, Silber, Gold und Purpur, Musik. Doch anders als im Einladungsgedicht wird im Wechsel von Mann und Frau eine gegenseitige Liebe zum Ausdruck gebracht. Eine Liebeserfüllung scheint allerdings auch hier nicht direkt thematisiert zu werden, da wiederholt erst von einer zukünftigen Vereinigung die Rede ist (7,13)576 und immer wieder auf Hindernisse einer solchen hingewiesen wird (3,1; 8,1).577 Trotzdem kommt kein Zweifel an dem Gefühl gegenseitiger Ver-

572 Vgl. Pollmann, Iam, dulcis amica, venito; Dronke, The Song of Songs, S. 248; Strecker, S. 73; Bradley, Iam dulcis amica uenito, S. 110; Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 286, legt eine solche Grundlage gerade der Fassung P zugrunde. Vgl. außerdem Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 164. 573 Vgl. u. a.: et dilectus meus loquitur mihi: „surge, propera, amica mea, formosa mea, et veni (2,10); ficus protulit grossos suos, vineae florent, dederunt odorem; surge, amica mea, speciosa mea, et veni (2,13); veni de Libano, sponsa, veni de Libano, veni, coronaberis de capite Amana, de vertice Sanir et Hermon, de cubilibus leonum, de montibus pardorum (4,8); surge, aquilo, et veni, auster, perfla hortum meum et fluant aromata illius (4,16); veniat dilectus meus in hortum suum et comedat fructum pomorum suorum; veni in hortum meum, soror mea, sponsa, messui murram meam cum aromatibus meis, comedi favum cum melle meo, bibi vinum meum cum lacte meo; comedite, amici, bibite et inebriamini, carissimi (5,1); veni, dilecte mi, egrediamur in agrum, commoremur in villis (7,11). 574 Vgl. Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 164, sowie Liver, Pastourellen, S. 314f., welche von einer „starke[n] Präsenz der Hohelied-Diktion“ (ebd., S. 314) spricht. 575 Cant. 3,4: paululum cum pertransissem eos, inveni, quem diligit anima mea, tenui eum nec dimittam, donec introducam illum in domum matris meae et in cubiculum genetricis meae. 576 Cant. 7,13: mandragorae dederunt odorem, in portis nostris omnia poma nova et vetera, dilecte mi, servavi tibi. 577 Cant. 3,1: in lectulo meo per noctes quaesivi, quem diligit anima mea, quaesivi illum et non inveni; Cant. 8,1: quis mihi det te fratrem meum sugentem ubera matris meae, ut inveniam te foris et deosculer et iam me nemo despiciat.

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bundenheit beider hier sprechenden Figuren auf. Das Hohelied allein scheint daher vor diesem Hintergrund – zumindest inhaltlich-konzeptionell – nicht ausreichend, um die Invitatio hinsichtlich ihres Bedeutungshorizonts vollständig einzuordnen. Das von der soror electa genannte dulce colloquium, das sie den Verlockungen des Einladenden gegenüber anführt, – sofern es sich um die Äußerung eines zweiten Text-Ichs handelt – findet ebenfalls kein direktes Pendant in dem Bibeltext. Legt man die Marienhymnik und das Canticum canticorum der Invitatio zugrunde, überrascht die Antwort der dulcis amica, da zum einen nicht wie im Hohelied eine Erwiderung der Liebe des Mannes zum Ausdruck gebracht wird und zum anderen die Einladung – vor dem Hintergrund der wortwörtlich anklingenden Marienhymnik – überhaupt auf eine Antwort stößt. Wenn die amica die Vorzüge eines colloquium preist und diese den zur Überredung angeführten materiellen Verführungen vorzieht, werden die zuvor genannten und denjenigen des Hohelieds sehr ähnlichen Verlockungen – aus Sicht der amica – herabgesetzt. Betrachtet man den Text von der Marienhymnik her, ist die angesprochene amica – zumindest zu Beginn des Gedichts – mit Maria zu konnotieren. Dass die Antwort des weiblichen Text-Ichs dann jedoch ablehnend ausfällt, ließe sich dieser Argumentation folgend geradezu als ein persiflierendes Spiel mit der Hymnen- und Hoheliedtradition interpretieren. Pollmann zieht dagegen für seine Interpretation die patristische Hoheliedtradition heran und schließt daraus, dass es sich bei diesem Text um „die Werbung des Bräutigams vor der letzten und endgültigen Hingabe der Braut“ handele.578 Parallelen zu der Beschreibung des Brautgemachs (cubiculum) beobachtet er bei Origenes und Ambrosius. Der Prunk des cubiculum sei gedacht als „Anreiz für die Jungfrau, sich durch das Gelübde der Jungfräulichkeit gewissermaßen dem himmlischen Bräutigam in die Ehe zu geben.“579 Die Unterscheidung zwischen convivium und colloquium in Strophe 6 führt er ebenfalls auf die frühchristlichen Kirchenväter zurück. Gemeint sei „das Gespräch der Seele mit Gott“580 . Doch Pollmann beobachtet an dieser Stelle einen „Bruch“, da das colloquium über das convivium gestellt werde, das aus mystischer Sicht die eigentliche Erfüllung bedeute.581 Es handele sich hier daher um einen Anklang an die pagane Literaturtradition, die „aus der Verzögerung, ja der Verhinderung der Erfüllung der Liebe ihre besten Effekte“582 erziele. Der Dichter spiele folglich „mit zwei Ebenen des Verständnis-

578 Pollmann, Iam, dulcis amica, venito, S. 267. 579 Ebd., S. 271. 580 Ebd., S. 272, s. auch ebd., S. 273: „[…] Wenn wir die obige Strophe aus dieser Tradition heraus betrachten, so ist sie ganz verständlich als Bitte der Braut, noch den Umgang mit Gott im Gebet pflegen zu dürfen, um sich erst zu jenem ‚cumulus‘ der ‚dilectio‘ emporzuläutern, zu dem nach Ambrosius die ‚affabilitas sermonum‘ führt.“ 581 Ebd., S. 273. 582 Ebd.

Dialoggedichte

ses“, ohne dabei jedoch die „Grundstruktur des Hoheliedes“583 zu verlassen. In der nächsten Strophe setze sich der paganen Texttraditionen verpflichtete Charakterzug weiter fort, was anhand der Ungeduld des männlichen Text-Ichs sowie der von ihm verwendeten Vergleiche (lux meae clara pupillae) zu erkennen sei.584 Die nun folgende Antwort interpretiert Pollmann dann jedoch erneut theologisch als ein Zögern der Seele, „zu Gott hinzueilen, weil sie noch nicht den zur Hingabe an Gott erforderlichen Gnadenstand erreicht hat.“585 Die letzten beiden Strophen blieben aus der Sicht weltlicher Liebe allein ebenfalls unverständlich; zur Erklärung der Ungeduld des Mannes, die sich in den Ausdrücken decet und sunt facienda manifestiert, beruft Pollmann sich wiederum auf die Hoheliedtradition der Kirchenväter: „Die Seele muss sich später doch Gott anheimgeben […], es müsste ihr eine edle Pflicht sein […], sich Gott hinzugeben, wenn er sie ruft […], eine Werbung auf dem Sektor profaner Liebe aber würde sich ihres Sinnes begeben, wenn schon vorher feststünde, dass die Hingabe früher oder später doch zu erfolgen hat.“586 Eine Deutung des Liedes vor dem Hintergrund des Hohelieds allein ignoriert dennoch das weite Konnotationspotential zahlreicher der verwendeten Aussageformen und des unmittelbaren Überlieferungskontextes etwa in den Cambridger Liedern.587 Dronke stellt in seiner Interpretation die Anspielungen auf säkulare Literaturtraditionen zusammen und findet Anklänge an die Oden des Horaz, an Ovid, Statius und Vergil.588 Auch die Nennung des puer doctus bzw. der docta puella in Strophe 4 ist in Ergänzung hierzu zu erwähnen.589 Dabei beobachtet Dronke eine Ansammlung solchen auf ‚weltliche‘ Literatur Bezug nehmenden Sprechens gerade in der zweiten Gedichthälfte der Salzburger Fassung V. Hier weist er außerdem auf einen parodistischen Umgang mit Bibelzitaten hin, wenn es etwa heißt Karissima,

583 Ebd. 584 Vgl. ebd., S. 274, sowie Dronke, Medieval Latin I, S. 271: „Here the echoes are Ovidian (‚sine te non potero vivere‘) and Vergilian (‚in me non est aliqua mora‘) more than Biblical (‚noli tardare‘, ‚electa‘)–whereas the last stanza of the sacred version in the Paris manuscript, ‚Iam nix glaciesque liquescit …‘ is almost literally from the Song of Songs.“ 585 Pollmann, Iam, dulcis amica, venito, S. 276. 586 Ebd., S. 278. 587 Vgl. auch Ross, Liebesgedichte, S. 51: „Bei genauerem Zusehen reduziert sich der Einfluss des Hohen Liedes auf Formeln und Wendungen, die in einem geistlichen Kreis in der Luft lagen.“ 588 Vgl. Dronke, The Song of Songs, S. 250f.; vgl. auch Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 164. 589 Vgl. Liver, Pastourellen, S. 315f., zu dieser und zahlreichen weiteren Bezügen auf klassischlateinische und spätantik-christliche Tradition.

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noli tardare (Str. 9) statt Veni, Domine, et noli tardare wie in Psalm 39.590 Dronke stößt sich allerdings an der sechsten Strophe, da sich diese bei dem Versuch einer auf Kohärenz beruhenden Interpretation des Textes – entgegen der Ansicht der Mehrzahl der Interpreten – nicht als eine Frauenstrophe interpretieren lasse, gerade weil sie als eine Äußerung der Frau die Kohärenz des Textes stören würde.591 Er betont vor allem den Gegensatz des Sprechregisters zwischen den Strophen 6 und 8, zumal sich hier auch ein Tempuswechsel findet. Unter der Annahme, dass es sich bei Strophe 6 daher tatsächlich um eine Männerstrophe handelte, würde sich das männliche Text-Ich von seinen zuvor ausführlich beschriebenen ‚weltlichen‘ Verführungsangeboten zwar zu distanzieren versuchen, aber dennoch ließe sich dieser Auffassung insofern ein Sinn abgewinnen, als der Mann ein süßes Gespräch (dulce colloquium) an einem abgeschiedenen Ort (dilecta familiaritas) vorzöge, was konnotativ seinen Wunsch einer Liebeserfüllung verstärken könnte, wie es ja auch der weitere Liedverlauf deutlich macht.592 Das Verlangen nach einer dilecta familiaritas würde aus dem Kontrast zu dem zuvor ausführlich über fünf Strophen hinweg geschilderten üppigen convivium eine besondere Betonung erfahren. Dennoch ist an der Möglichkeit, dass auch die amica diese Strophe sprechen könnte – trotz des Registerwechsels in Strophe 8 – unbedingt festzuhalten: Sie könnte hier – mag sie auch Ablehnung im Hinblick auf die vorgetragene Einladung der Strophen 1 bis 5 zum Ausdruck bringen (non me iuvat) – das Interesse an einer anderen Art der Liebesbegegnung mit dem Werbenden signalisieren (dulce colloquium, dilecta familiaritas). Gerade die etwas jüngere Überlieferung des Textes als Teil der Carmina

590 Diese Tendenz betrachtet Dronke, The Song of Songs, S. 249, als spezifisch für die Salzburger Fassung: „For in neither version does the medieval lyric have quite that quality of tumultuous feeling conjoined with innocence which pervades the Canticle: the details of the love-invitation are altogether more lighthearted and worldly.“ Vgl. hierzu außerdem Klopsch, Die mittellateinische Lyrik, S. 164. 591 Vgl. Dronke, Medieval Latin I, S. 272f., Anm. 2: „Not only is its language quite unlike the girl’s in her stanza ‚Ego fui sola in silva‘ […], but it would make nonsense of the meaning if the girl were to ask for love quite unashamedly and then, on being invited once more, demur out of shyness. If she had spoken thus in her first words, the lover would hardly have continued trying to persuade her!“; ders., The Song of Songs, S. 247: „[…] if she were speaking, and asking for love so openly, there could be no reason for the lover to renew his pleas to her, as he now does in the Vienna version (and even less reason for him later to beg her not to delay)“. 592 Aufgrund der zahlreichen Übereinstimmungen mit dem Canticum canticorum erwägt Ziolkowski zudem, ob es womöglich falsch sei, dem Text eine inhaltliche Kohärenz zu unterstellen, wodurch Dronkes Verständnis der sechsten Strophe erneut an Zuspruch verlieren würde. Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 255f. : „[…] the many resonances of the Song of Songs and its exegesis with the Inuitatio amicae should make us receptive to the possibility that the putative original may not have been neatly logical–that it may have possessed the hauntingly disjointed quality of the Song of Songs, the tendency for the speakers to change without warning and for the speakers to respond to each other almost in free association“.

Dialoggedichte

Cantabrigiensia deutet hierauf hin. In einem weiteren Lied der Sammlung findet sich etwa eine sehr direkte Einladung an den Geliebten aus Sicht eines weiblichen Text-Ichs, welche – vor allem durch die Schlüsselmetaphorik – überaus deutlich einen erotischen Suggestionsraum eröffnet593 : 1

Veni, dilectissime, et a et o, gratam me invisere, et a et o et a et o!

2

In languore pereo, et a et o– Venerem desidero, et a et o et a et o!

3

Si cum clave veneris, et a et o, mox intrare poteris, et a et o et a et o!

Auch in Lied 174 des Codex Buranus – welches entstehungsgeschichtlich allerdings noch später zu verorten ist – richtet erneut ein männliches Text-Ich seine Einladung an eine Frau und fordert sie dazu auf, nicht zu zögern; es folgt ein Preis der Schönheit – ebenfalls unter Bezug auf das Auge. In der Volkssprache drängt dann allerdings die angesprochene Frauenfigur ihrerseits den Mann dazu, sie zu küssen:   1         2         3

CB 174 VENI, Ueni, uenias, ne me mori facias! hyria hyrie, nazaza trilliriuos!   Pulchra tibi facies, oculorum acies, capillorum series – o quam clara species!

  4         5

  Chume, chume, geselle min, ih enbite harte din! ih enbite harte din, chum, chum geselle min!   Suozer roservarwer munt, chum vnd mache mich gesunt! chum vnd mache mich gesunt, suozer roservarwer munt!

Rosa rubicundior, lilio candidior, omnibus formosior, semper in te glorior!

Einen pastourellenhaften Konnotationsrahmen legt darüber hinaus auch der zweite in den Cambridger Liedern zu findende Werbungsdialog nahe.594 Von den Stei-

593 Vgl. zur Deutung des Liedes Moser, A cosmos of desire, S. 93. 594 Der Dialog ist das 28. Stück (Zählung nach der neusten Ausgabe von Jan M. Ziolkowski) der Sammlung und wurde fast vollständig getilgt. Vgl. hierzu Müller, Art., Kleriker und Nonne, S. 228,

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der von „einem Akt der Zensur“ spricht und darauf verweist, dass ein zusätzlicher Schaden durch den Einsatz einer Tinktur entstand. Im Hinblick auf das häufig als „Kleriker und Nonne“ genannte Lied stellt er ebd. fest: „Klar lesbar sind nur wenige Versschlüsse und alle Rekonstruktionsversuche sind sehr spekulativ (so vor allem der jüngste vollständige von P. Dronke, wenngleich er eine erneute Autopsie vornahm).“ Ziolkowski verzichtet daher auf eine Wiedergabe einer ergänzten Fassung. Dronkes Rekonstruktion gibt er nur im Anhang wieder: „The diplomatic edition, reproduced from Dronke, is too fragmentary to justify attempting a translation: not even a single line of the poem is entirely legible“ (Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 260). Das lateinisch-deutsche Gedicht findet sich direkt im Anschluss an die ebenfalls stark getilgte Invitatio amicae (Blatt 438v –439r ; zu den formalen und thematischen Zusammenhängen zur Invitatio amicae vgl. Moser, A cosmos of desire, S. 91). Der Titel „Kleriker und Nonne“ stellt bereits eine erste Deutung dar: Dass in dem Lied eine Kleriker-Figur spricht, ist nicht eindeutig; Müller, Art., Kleriker und Nonne, S. 228, erwägt, dass es sich ebenso um einen Adeligen handeln könnte, und verweist auf die alternativen Titel „Liebesantrag“ und „S[uavissima] nunna“. Der letztgenannte Titel basiert hierbei auf dem rekonstruierten ersten Vers. In Vers 3 findet sich wohl eine Anrede des Mannes: iu[n], möglicherweise iunger man nach Dronke. Die jeweilige Bezeichnung als ‚Kleriker‘ und ‚Nonne‘ findet durch den Text selbst lediglich in Bezug auf die Nonne Zuspruch (vgl. Brinkmann, Anfänge II, S. 217). In dem hier vorliegenden Dialog besteht eine Strophe jeweils aus zwei binnengereimten Langzeilen; dem lateinischen Anvers folgt ein deutscher Abvers (vgl. Rädle, Art., Kleriker und Nonne, Sp. 1214). Der Text ist in der Rekonstruktion Dronkes durch zahlreiche Neuansätze und Registerwechsel innerhalb des Dialogverlaufs gekennzeichnet: Zunächst bittet der Liebende in der ersten Strophe um das Vertrauen der Nonne und verweist auf das Erwachen der Natur. Die Nonne scheint jedoch nicht zu wissen, worum es geht, und bittet um Belehrung (V. 3). Das männliche Text-Ich setzt in Strophe 3 seine stereotype Frühlingsbeschreibung fort: Der Wald ergrünt und die Vögel singen. Die suavissima nunna wird zur carissima mea, zu seiner Liebsten. Doch sie lässt sich von ihrem Werber nicht beeindrucken und nimmt die Frühlingstopik der ersten Verse in ihren Worten auf und entwickelt sie weiter. Iam cantet philomela – »Die Nachtigall soll ruhig singen!« Sie bleibe jedoch ihrer Überzeugung treu und wolle sich ganz dem Dienst Christi hingeben. In Strophe 5 nun setzt der Mann seine Frühlingsbeschreibung nicht fort, sondern preist seine Treue ihr gegenüber. Doch auch davon lässt sich die nunna nicht erweichen: Die Minne der Engel könne er nämlich nicht überbieten (Str. 6). Sein kleiner Vogel sei nichts dagegen! Daraufhin bietet ihr der Liebende weltlichen Reichtum an (werelt[ero], Str. 7). Doch werelt[ero] vergehe also wolcan in themo humele, verkündet die Eingeladene. Allein das Reich Christi habe ewigen Bestand (Str. 8). Die Bedeutung der letzten drei Strophen ist in der Forschung umstritten. Vor allem Strophe 9 scheint dazu beizutragen, dass sich die Haltung des weiblichen Text-Ichs in den letzten beiden Strophen verändert. Die starke Rasur deutet jedoch möglicherweise darauf hin, dass sich die Nonne am Ende des Textes überzeugen lässt und ihrer Gottverbundenheit den Rücken kehrt. Die letzten vier Strophen wurden auch zu großen Teilen getilgt (weitere Literatur zu dem Lied: u. a. Brinkmann, Anfänge II, S. 216–221; ders., Geschichte, S. 78; Dronke, Medieval Latin I, S. 277ff.; Ross, Liebesgedichte; Schneider, Latein und Althochdeutsch, S. 297–314; Müller, Art., Kleriker und Nonne, S. 228–229, vgl. außerdem die Literaturhinweise ebd., S. 229). Sucht man nach weiteren Parallelen innerhalb säkularer Literatur, die wortwörtlich an das Einladungsgedicht anschließen, stößt man u. a. auch auf ein Gedicht des 12. Jahrhunderts, in dem sich ebenfalls die – äußerst geläufige – Anrede dulcis amica findet: Dulcis amica mea, speciosior es Galatea (V. 1), zit. nach Werner, Beiträge, S. 23. Die umfangreiche Laudatio erlaubt hier neben sehr deutlichen Bezügen auf das Hohelied auch Rückschlüsse auf Aspekte einer körperlichen Liebe, wodurch weltliche

Dialoggedichte

nen interpretiert den Text der Invitatio vor diesen Hintergründen sogar rein säkular und erkennt in den beiden Frauenstrophen 6 und 8 den „Hinweis, dass ihr [d. h.: der amica, Ergänz. S.R.] ein vertraulich-süßes Beisammensein weit lieber sei als all die Pracht“, weshalb die Geliebte den Mann selbst zu einem intimen Treffen einladen würde.595 Dass die amica in Strophe 6 beteuert, ein Gespräch vorzuziehen, ließe sich – in Weiterführung dieser Überlegungen – möglicherweise gar als indirekte Anspielung auf die lineae amoris deuten und die Einhaltung einer bestimmten Progression der Werbung; das ovidische Auseinanderklaffen von Schein und Sein im Sinne einer nur vorgetäuschten Zurückweisung des Werbenden könnte anklingen596 , worauf der Gegensatz zwischen der Ablehnung der männlichen Werbung der Strophen 1 bis 5 und der dennoch erkennbare Wunsch einer familiaritas zumindest andeutungsweise Bezug nehmen. Trotz des Tempuswechsels lässt sich dabei auch ein Zusammenhang zur achten Strophe herstellen, in der erneut eine Vorliebe für geheime Orte zum Ausdruck gebracht wird, was sich wiederholt als versteckter Hinweis auf den Wunsch einer Zweisamkeit deuten ließe, gerade durch die Nennung der loca secreta, die in der Pastourelle einen Ort für das Liebesspiel darstellen.597 Vor diesem Hintergrund wären die Strophen 9 und 10 in V gleichsam als ungeduldig wirkende Aussage des Mannes zu deuten, der die amica auffordern würde, ein aus seiner Sicht unnötiges colloquium zu unterlassen (Fac cita, quod eris factura …). Trotz dieser überaus verlockenden Deutungsoption ist hierbei dennoch insgesamt Vorsicht geboten: Das weibliche Text-Ich deutet lediglich an, derartige

Literaturtraditionen anklingen (Et – si concedis – teneris lascivior hedis, V. 24, Gaudia neque vafer nostri subducat adulter, V. 29). Eine Liebeserfüllung kommt dennoch nicht zustande, wie das Ende des Textes verdeutlicht: Das Text-Ich verabschiedet sich und bittet die dulcis amica darum, seiner Worte zu gedenken (Vv. 31f.). Auffällig ist Vers 27, da hier deutlich wird, dass es sich um einen Liebesbrief zu handeln scheint: Hec, tibi succincte que scripsi, mente relinque. Die Formulierung in Vers 29: Hec tu ne vento tradas ist somit konkret auf den materiellen Brief zu beziehen. Der Text scheint daher konzeptionell anders angelegt als die Invitatio. 595 Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 282. Vgl. außerdem ebd., S. 283: „Der Irrtum der bisherigen Auslegungen war: man sah, daß das Mädchen Einwände macht, und nahm ohne weiteres an, es sträube sich gegen die L i eb e swerbung – wozu dann vieles im Text nicht stimmen wollte. Die Pointe ist aber, daß grade das Mädchen zur Liebe herausfordert. Die naive Hirtin, die nicht verführt werden, sondern genommen sein will, erscheint in späterer Minnedichtung noch unter mancherlei Formen […].“ 596 Ross, Liebesgedichte, S. 49f., geht noch weiter und vermutet gar eine direkte Anknüpfung an die Komödie und eine Umsetzung in einer Art szenischen Spiels, wodurch ebenfalls der erotischphysische Aspekt der Einladung bekräftigt würde. 597 Vgl. ebd., S. 53: „Sicher ist sie nicht in den Wald gegangen, um, wie Brinkmann versichert, mit Gott allein zu sein. Daß sie die Menge flieht, deutet eher auf aristokratisches Selbstbewußtsein. Oder soll die Strophe nur motivieren, daß er sie allein draußen im Wald trifft, und die Ablehnung des festlichen Gastmahls nur den Weg freimachen für ein Schäferstündchen im Freien?“

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Schlussfolgerungen sind rein konnotativ zu erschließen. Es wird vielmehr mit unterschiedlichen Texttraditionen gespielt und weniger deutlich konkretisiert als in vergleichbaren Textbeispielen, die beispielsweise sehr viel enger an die Pastourelle angelegt sind wie etwa die Versus Eporedienses598 oder das zitierte Carmen Bu-

598 Die Versus Eporedienses erinnern stark an die Invitatio amicae (zuerst hrsg. von und hier zit. nach Dümmler, Gedichte aus Ivrea, S. 245–253; Literatur: Brinkmann, Anfänge II; Raby, History of secular Latin poetry I, S. 383ff.; Paden, The Medieval Pastourelle [1971], S. 73/84; Ross, Liebesgedichte, S. 55f.). In Hinsicht auf die Datierung dieses 150 Distichen umfassenden, aus einer Handschrift aus dem norditalienischen Ivrea stammenden Gedichts herrscht Uneinigkeit. Brinkmann, Anfänge II, S. 204, setzt – unter Berufung auf Untersuchungen Dümmlers (Gedichte aus Ivrea, S. 260f.; Anselm der Peripatetiker, S. 87f.) – als Entstehungszeitpunkt für den vornehmlich liturgische Texte enthaltenden Codex 1080 an. Als Verfasser (und auch Schreiber) des Gedichts wird ein Domherr Wido von Ivrea vermutet. Vgl. Dümmler, Anselm der Peripatetiker, S. 87f.; Brinkmann, Anfänge II, S. 204; Paden, The Medieval Pastourelle (1971), S. 73/85; Raby, History of secular Latin poetry I, S. 383. Pollmann, Iam, dulcis amica, venito, S. 271f., schließt den Text jedoch aus seiner Interpretation aus, da er ihn zu sehr in der Tradition der Pastourelle verhaftet sieht: „Die Versus Eporedienses scheinen mir aber trotz einiger äußerlicher Berührungen und des gemeinsamen Themas der Einladung zur Liebesvollendung auf einer ganz anderen Ebene zu liegen, einer anderen Literaturgattung anzugehören. In der Invitatio Amicae fehlt das ländliche Idyll, fehlt die Anführung von Geschenken, die die Versus in die Gattung der Pastourelle einreihen lassen und sie in die Tradition bukolischer Dichtung stellen, außerdem geht es in der Invitatio Amicae nicht um ein galantes Abenteuer am Po-Ufer sondern um bräutliche Liebe, zum mindesten um das Bild bräutlicher Liebe (cubiculum!).“ Der Text besteht aus zwei Sinnabschnitten: zum einen die ‚Einladung‘ eines Mädchens mit einem kurzen dialogischen Austausch (Vv. 1–40), zum anderen findet sich eine ausführliche Beschreibung des wunderbaren Lebens, das das Mädchen bei ihrem Werber genießen könne (Vv. 41–240). Im Vergleich zur Invitatio amicae ist die Ähnlichkeit mit der Pastourelle sehr viel offensichtlicher: Das Text-Ich geht in der Frühlingszeit am Ufer des Po spazieren und begegnet dort einer puella, die er sogleich anspricht und nach ihrer Herkunft fragt (Vv. 11–20). Anders als für eine Pastourelle typisch handelt es sich um ein Mädchen adliger (trojanischer) Abstammung, wie es zumindest selbst erklärt (decorat me regia proles, / Nobilis est mater, nobilis ipse pater, Vv. 25f.). Im Anschluss an die Rede der puella folgt eine sehr deutlich auch sexuell konnotierte Einladung und Werbungsrede (Si foret hoc gratum, floris decerpere pratum, / Tu posses mecum … Vv. 37f.). Die katalogartige Auflistung des zweiten Abschnitts „is a fantastical heaping together of all the gifts that one could promise who had all the wealth of the world at his command“ (Raby, History of Secular Latin Poetry I, S. 384). Luxus jeglicher Art und in großer Fülle werden dem Mädchen angepriesen: Gold und Silber, köstliche Speisen, Wein im Überfluss, prunkvolle Häuser usw.; Musik und auch das Studium der Grammatik sind ebenfalls ein Teil der Versprechungen des ‚Verführers‘. Am Ende der katalogartigen Beschreibung findet sich eine Schönheitsbeschreibung (Vv. 259ff.) des Mädchens, die in die Rede des Text-Ichs integriert ist. In den Versen 295ff. erfolgt eine explizite Ovid-Reminiszenz: Corinna sei nur so berühmt (nota), weil Ovid sie lebendig mache (Viuere Naso facit), wenn er sie „unter die Leute bringt“ (quando per ora iacit): Perpetuis horis tua vivit face liquoris / Nec valet illa mori carmine fama fori. / Perspicue signa, quare sit nota Corinna: / Vivere Naso facit, quando per ora iacit. / Vt semper dures, mihi te subponere cures, / Quod si parueris, carmine perpes eris (Vv. 295–300). Indirekt setzt das Text-Ich die Angesprochene daher sehr deutlich unter Druck, denn nur wenn sie sich seiner annimmt,

Dialoggedichte

ranum 174. Zunächst wird eine Pastourellenthematik überhaupt nicht eingelöst und auch im weiteren Verlauf ist die Aussage der amica, dass sie allein im Wald gewesen sei, der einzige Hinweis auf eine Naturszenerie.599 Derartige Andeutungen legen es dennoch nahe, auch Literaturtraditionen, die nicht direkt auf das – die Invitatio konnotativ vordergründig überstrahlende – Hohelied Bezug nehmen, als konnotativen Hintergrund in die Untersuchung einzubeziehen, zumal das Gedicht nicht auf eine interpretatorische Eindeutigkeit hin konzipiert scheint.600 Dabei sind die genannten Anspielungen gerade auch sprachlich markiert, wenn es etwa in Strophe 9 heißt: Studeamus nos nunc amare, / Sine te non potero vivere. Dronke hat hier bereits auf den engen Ovid-Bezug verwiesen, der inhaltlich und sprachlich durch eine fast wörtliche Parallele zu erkennen sei.601 Zudem ist auch der gewählte Sprechmodus – das Liebesbekenntnis in der ersten Person (wie auch bereits in Vers 1,2: Quam sicut cor meum diligo) – ungewöhnlich für die Sprache des Canticum canticorum602 , in dem diese Form des Liebesgeständnisses in der ersten Person Singular Präsens nicht begegnet, weshalb womöglich bereits allein anhand des Sprechregisters auf eine andere Literaturtradition verwiesen werden könnte. Im Hohelied ist immer wieder von dem Geliebten (dilectus) bzw. von der Geliebten (dilecta) die Rede, es findet sich u. a. die Umschreibung quem diligit anima mea (3,2), das Bekenntnis amore langueo in 5,8 ist nicht direkt an den Geliebten gerichtet, in 6,2 und 6,3 findet sich ein der amica ausgesprochenes Schönheitslob in der

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wird er ihr im Lied (carmine) ein Denkmal setzen. Dieses Motiv, das sich von Ovid bis Walther von der Vogelweide einer großen Beliebtheit erfreut (vgl. u. a. Walther von der Vogelweide, L 73,16: […] sterbet si mich, sô ist si tôt), lässt poetologische Rückschlüsse auf die umfangreiche Rede des männlichen Text-Ichs zu, da dieses seine Möglichkeiten im Umgang mit Rhetorik explizit reflektiert. Vgl. auch Liver, Pastourellen, S. 317, die schließt, dass „die Kluft zwischen dem Typus dieses Gedichts und dem der romanischen Pastourelle viel zu groß“ sei, „als dass die Invitatio als ein Vorläufer der Pastourelle gelten dürfte.“ Nicht einmal die Werbesituation sei in dem Sinne gegeben, „dass der Mann ein widerstrebendes Mädchen zu verführen versuchte“ (ebd.). Brinkmann, Geschichte, S. 78, sieht in der Invitatio eine „Grundlage der mittellateinischen Pastourelle“: „An ihrem Eingang steht als Einflussquelle das Hohe Lied, dessen starke Einwirkung vor allem in der Invitatio zu spüren ist (vgl. aber auch Ovid , Amores I, 4, v. 1–14).“ Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 261, dagegen äußert sich in der aktuellsten Edition der Cambridge Songs vorsichtiger: „it does not offer enough details to justify labeling it a spiritual pastourelle or to consider it indicative of an openness to the secular world on the part of monastic poets“. Vgl. Dronke, The Song of Songs, S. 250, mit Bezug auf Ovid, Amores, III,11,39. Es ist hier von dilcetus meus oder cor meum die Rede, die erste Person wird etwa rückblickend verwendet: in lectulo meo per noctes quaesivi, quem diligit anima mea, quaesivi illum et non inveni (Cant. 3,1). Der Hortativ der 1. Pers. Sg. Konj. Präs. begegnet ebenfalls sehr häufig, jedoch nicht im direkten Zusammenhang mit einem Liebesbekenntnis: Cant. 6,12: ut intueamur; 7,11: veni, dilecte mi, egrediamur in agrum, commoremur in villis; 7,12: mane surgamus ad vineas, videamus […].

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zweiten Person, in 8,1 und 8,2 handelt es sich lediglich um Absichtserklärungen in der ersten Person: Invitatio: Quam sicut cor meum diligo (1,2) Sine te non potero vivere (9,3)

Cant.: […] quaeram, quem diligit anima mea, quaesivi illum et non inveni (3,2), adiuro vos, filiae Hierusalem, si inveneritis dilectum meum, ut nuntietis ei, quia amore langueo (5,8), ego dilecto meo et dilectus meus mihi, qui pascitur inter lilia (6,2), pulchra es, amica mea, suavis et decora sicut Hierusalem, terribilis ut castrorum acies ordinata (6,3), quam pulchra es et quam decora, carissima, in deliciis (7,6), mane surgamus ad vineas, videamus, si floruit vinea, si flores fructus parturiunt, si floruerunt mala punica, ibi dabo tibi ubera mea (7,12), quis mihi det te fratrem meum sugentem ubera matris meae, ut inveniam te foris et deosculer et iam me nemo despiciat (8,1). adprehendam te et ducam in domum matris meae, ibi me docebis et dabo tibi poculum ex vino condito et mustum malorum granatorum meorum (8,2).

In Kombination mit einer divergenten Textüberlieferung – durch unterschiedliche Schwerpunkte der einzelnen Fassungen – kommt es im Hinblick auf die genannten Deutungsansätze der Invitatio erneut zu Verschiebungen. Vor allem Dronke eröffnet in diesem Zusammenhang einen Gegensatz zwischen den Versionen V und P; letztere bezeichnet er als „Song of Songs version“ und V im Gegensatz dazu als „seducer’s version“603 . Die weltliche Thematik sei in der Limousiner Fassung P stark abgeschwächt. Gleichwohl stößt die Stellung der mit Ego fui sola in silva eingeleiteten Strophe (V8) hier vielfach auf Unverständnis, fällt der Bezug auf die vorangegangenen Strophen doch äußerst gering aus.604 Sie muss hier nicht unbedingt als Einwand der dulcis amica zu verstehen sein, da die

603 Dronke, The Song of Songs, S. 245. Er sieht, ebd., S. 246, im Hinblick auf die Fassung P engere Bezüge auf das Hohelied als in V und interpretiert die letzte Strophe in P als eine Äußerung des weiblichen Text-Ichs. Bradley, Iam dulcis amica uenito, S. 106, dagegen sieht die einzige Möglichkeit einer logischen Integration dieser Strophe in den Text von P, wenn es sich hierbei um das von der in Strophe 4 genannten docta puella vorgetragene Lied handele; er hält diese Option jedoch nicht für sehr wahrscheinlich. 604 Vgl. Bradley, Iam dulcis amica uenito, S. 106.

Dialoggedichte

mit Non me iuvat eingeleitete Strophe V5 in P fehlt und die Ablehnung gegenüber dem convivium somit schwächer ausfällt. Dennoch wird mit der Erklärung, allein im Wald gewesen zu sein und das Volk (populum) gemieden zu haben, auch hier ein Gegensatz zum zuvor geschilderten »Gastmahl« eröffnet. Handelt es sich bei der darauffolgenden Strophe ebenfalls um die des weiblichen Text-Ichs, ließe sich diese Aussage dagegen deutlicher als eine Einwilligung deuten: Iam nix glaciesque liquescit, / folium et herba virescit, / philomela iam cantat in alto, / ardet amor cordis in antro, zumal durch die Nennung der philomela oder die Formulierung folia et herba virescit die Vorstellung eines locus amoenus evoziert wird.605 Liver zeigt allerdings auch bezogen auf diese Strophe die engen Bezüge auf das Hohelied auf (Cant. 2,11–12: iam enim hiemps transiit, imber abiit et recessit, / flores apparuerunt in terra, tempus putationis advenit, vox turturis audita est in terra nostra). Sie sieht keinen Widerspruch zur vorangegangenen mit Ego fui sola eingeleiteten Strophe und erkennt – vor deren Hintergrund – eine Harmonie zum Ausdruck bringende Zusage an den Geliebten. Nur so erhalte das fui der vorangegangenen Strophe (in P) eine Rechtfertigung: „[…] Jetzt aber (iam) ist es Frühling, alles singt und blüht, darum brennt auch mir die Liebe im Herzen.“606 Nimmt man dagegen an, dass es sich hierbei um eine Männerstrophe handelt, ließe sie sich als Fortsetzung der Werbung des Mannes interpretieren, was dann in diesem Fall jedoch bedeuten würde, dass es sich bei der vorangehenden Strophe um eine Absage handelte, wodurch der Gegensatz zu V wiederum zurückzunehmen wäre.607 Ziolkowski schließt hinsichtlich der insgesamt erkennbaren Vermischung säkularer und geistlicher Stoffe in der Invitatio: „Perhaps we should acknowledge the simultaneity of the two aspects in the poem, the secular and the religious, rather than try to rank their relative importance.“608 Gerade die Kombination verschiedener Diskurstraditionen ließe sich als ein in der Konzeption des Textes angelegtes Spiel mit der Rezeptionserwartung deuten, welches durch unterschiedliche Wendungen im Liedverlauf auf gezielt gesetzte – möglicherweise auch überraschend-

605 Von den Steinen, Invitatio amicae, S. 287, macht zudem darauf aufmerksam, dass in P – „von gleichzeitiger Hand nachgetragen“ – die Invitatio zusammen mit einer „Parodie des Nachtigallenliedes der Cambridger Sammlung“ überliefert sei. Das zweite in den Cambridger Liedern enthaltene – stark rasierte – Gesprächslied wiederum deutet ebenfalls zumindest auf die Verbindung einer Naturthematik mit dem Gedanken physischer Liebe hin. 606 Liver, Pastourellen, S. 315. 607 Die Strophe könnte jedoch auch – als dritte Möglichkeit – ganz allgemein die Einigkeit zwischen Mann und Frau zum Ausdruck und somit die Erfüllung des von Seiten des Mannes vorgebrachten Angebots veranschaulichen. In C gibt es nur eine zusammenhängende Rede des weiblichen TextIchs (V8 und V6 folgen direkt aufeinander; vgl. die Strophenübersicht bei Bradley, Iam dulcis amica uenito, S. 105). Die Version knüpft insofern enger an V an, als hier das Lied ebenfalls mit einer Aufforderung des Mannes endet und ein Sprecherwechsel im Liedverlauf vorliegt. 608 Ziolkowski, Cambridge Songs, S. 253.

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komische – Texteffekte hin angelegt ist. Diese Beobachtungen empfehlen bei der Deutung des Textes zudem eine eher poetologische Lesart, worauf bereits der Anfang des Liedes hindeuten könnte, der ähnlich wie der erste Vers des „Nachtigallenliedes“ der Anthologia latina gestaltet ist: Dulcis amica, veni.609 Im Rahmen eines solchen metapoetischen Blicks auf Werbung und das Sprechen im Kontext einer Liebesthematik ließe sich beispielsweise erwägen, ob die amica mit der Ablehnung einer ubertas in Strophe V6 nicht auch einen Bezug auf die Werbungsrede des Mannes herstellen könnte, insbesondere die rhetorisch ausladende Anpreisung großer Fülle. Sie dagegen würde ein »süßes« Gespräch in Zweisamkeit bevorzugen, worunter sie eine andere Form der Unterhaltung – und wohl auch Liebesbegegnung – zu verstehen scheint610 bzw. wodurch überhaupt der Wunsch nach einem Gespräch zum Ausdruck gebracht werden könnte, welches wiederum die Liebesbegegnung verzögerte und die Ungeduld des Mannes der folgenden Strophen bedingte. Die liebesthematische würde sich dabei eng mit einer eher metapoetischen Ebene überlagern. Die Erwähnung des puer doctus bzw. der puella docta, die in Strophe 4 schöne Lieder für die amica singen, deutet Gray in diesem Sinne gar als eine Mise en abyme, wodurch sich „an endless artistic deferral of the proposed erotic union“ andeute.611 Das dialogische Moment des Textes insgesamt – unabhängig von den genannten Unklarheiten bezogen auf die Sprecherzuweisung – macht hierbei sehr deutlich, wie bestimmte Rezeptionserwartungen vor dem Hintergrund der genannten Konnotationsfelder irritativ gebrochen zu werden scheinen. Die einzelnen – vor allem auch aufgrund dieser Beobachtungen stark divergierenden – Deutungsansätze zeigen indes, dass eine gewisse semantische Offenheit der verwendeten Aussageformen sowie die Anknüpfung an unterschiedliche Text- und Literaturtraditionen eine Erhöhung der Komplexität dialogischer Textgestaltung bedingen. Vor diesem Hintergrund sollen nun auch die volkssprachlichen Werbungsdialoge des Minnesangs analysiert werden.

609 Anthologia Latina, Nr. 762; außerdem ediert von Klopsch, Carmen de philomela, S. 187–194. Das Lied beginnt wie folgt: Dulcis amica, veni noctis solatia praestans, / Inter aves etenim nulla tui similis […] (Vv. 1–2); weiter heißt es ebd., Vv. 45f.: Scribere me voces avium filomela coegit, / Quae cantu cunctas exuperat volucres. Vgl. auch Ross, Liebesgedichte, S. 51. 610 Bei Petrarca findet sich die Verbindung dulce colloquium auch zur Bezeichnung eines Briefgesprächs (Famil. 1,1,47, vgl. Sauer, Dulce colloquium). 611 Gray, The art of love poetry, S. 60.

3.

Werbungsdialoge des Minnesangs

3.1

Dialogstrukturen in Des Minnesangs Frühling

Ähnlich wie im Hinblick auf einige der in Kapitel 2 behandelten Texte steht auch die Minnesangforschung immer wieder vor der Frage, wie mit den zahlreichen Unbestimmtheiten innerhalb eines Minnelieds umzugehen ist, die sich vor allem dann ergeben, wenn man versucht, einzelne Liedstrophen in ihrem Zusammenhang so zu deuten, dass eine narrative Kohärenz entsteht. Die Antworten, die hierauf gefunden werden, sind vielfältig. Zur Erklärung herangezogen wird die Überlieferungssituation, welche den tatsächlichen ‚Sitz im Leben‘ der Texte nur ansatzweise tradiere, ebenso wie die Performanz vor einem Publikum, wodurch etwaige Leerstellen gefüllt werden könnten (durch Gestik, Mimik etc.).1 Als mögliche Ursache für Divergenzen ließe sich etwa – aus pragmatistischer Perspektive heraus – ein noch nicht vollendetes Einüben in Formen und Praktiken des Minnesangs ebenso diskutieren wie die Frage, ob nicht die Stropheneinheit der Liedstruktur überzuordnen und das Bemühen um eine narrativ kohärente Liedeinheit für den mittelalterlichen Rezipienten möglicherweise belanglos gewesen sei.2 Die zu erbringende Verstehensleistung bei der Deutung der überwiegenden Mehrzahl der Minnelieder ist jedenfalls im Hinblick auf das Ausfüllen inhaltlicher Leerstellen äußerst voraussetzungsreich und bedarf einer detaillierten Kenntnis der ‚Regeln‘ des Sprechens im Minnesang insgesamt. Besonders deutlich werden diese literarischen ‚Alteritätserfahrungen‘ etwa bei der Konfrontation mit dem sog. Wechsel, welcher Mann und Frau im Monolog präsentiert, wobei die Übergänge zum Dialog oftmals fließend sind.3 Waltenberger fordert dazu auf, die „nur mittelbar rekonstruierbare kommunikative Pragmatik der Texte in gleichem Maß wie ihre textuell-semantische Komplexität“ ernst zu nehmen.4 Das Dialoglied nimmt in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein, erweckt es doch durch sein Aussage-Reaktionsschema formal den Eindruck einer narrativen Kohärenz. Bei

1 Vgl. hierzu u. a. den Überblick bei Schilling, Sedimentierte Performanz, S. 245f., sowie Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 11. 2 Vgl. zur Diskussion insgesamt Waltenberger, Kaiser Heinrichs artificium, S. 146–161. 3 Waltenberger, ebd., S. 156, schreibt im Hinblick auf diese Textsorte: „Man sollte aber überlegen, ob nicht eine methodische Prävalenz des Differenziellen eben jene intensitären Momente der (noch) nicht verrechneten Divergenz und des Ungleichen zum Verschwinden bringt – Momente, die in der Struktur des ‚Wechsels‘ in besonderer Weise wahrnehmbar werden und deren historische Signifikanz für die dispersen Ansätze zu literarischer Institutionalisierung begründen.“ 4 Ebd., S. 151.

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Werbungsdialoge des Minnesangs

genauerem Hinsehen stößt man jedoch auch hier auf eine Vielzahl von Divergenzen und kommunikativen Brüchen im Austausch der dargestellten Figuren, die eine Eindeutigkeit der Aussage behindern. Gerade die Texte unter der Rubrik „Namenlose Lieder“ in Des Minnesangs Frühling, welche dialogische Elemente enthalten, erschweren darüber hinaus eine eindeutige Texttypenzuordnung, was vor allem durch die zum Teil schwierige Unterscheidbarkeit zwischen Frauen- und Mannesrede in dialogischen Kommunikationssituationen bedingt ist, woraus sich vielfältige Bezugs- und Deutungsmöglichkeiten einzelner Aussagen ergeben. Umstritten ist in der Forschung, inwiefern diese Texte tatsächlich als ‚früh‘ zu gelten haben, unterstellt doch die Anordnung in MF eine chronologische Abfolge, die sich lediglich aus stilgeschichtlichen Gesichtspunkten ableitet.5 Diskutiert wird dabei, inwiefern diese Texte in einer Entwicklungslinie mit den Liedern der so genannten ‚Hochphase‘ des Minnesangs, für welche die Rezeption der Trobador- und Trouvèrelyrik in hohem Maße charakteristisch ist, stehen, wobei auch hier vor einer zu engen Kategorisierung einzelner Entwicklungsphasen des Minnesangs zu warnen ist. Zu den als ‚früh‘ geltenden Texten zählen neben den „Namenlosen Liedern“ u. a. auch die Lied-Corpora Dietmars von Eist und des Kürenbergers.6 Formal gelten als Spezifikum dieser Texte die „prinzipielle Einstrophigkeit“, die Langzeilenstrophe, der Paarreim und eine noch unvollkommene Reimstruktur7 (trifft auf Dietmar nur begrenzt zu8 ). Inhaltlich finden sich hier durchgängig Elemente, welche auch für den sog. ‚Hohen Sang‘ spezifisch sind. Dabei liegt eine vergleichsweise hohe

5 Vgl. hierzu vor allem Eder, Natureingang, S. 187–189, Anm. 32; Schweikle, Frühe Minnelyrik, S. 53. Vgl. ebenso Boll, Alsô redete, S. 147: „Da in diesem Teil Strophen versammelt werden, welche ein Bild vom Anfang des mhd. Minnesangs vermitteln sollen, ist die Frontstellung einiger Strophen irreführend und nicht zu rechtfertigen, da einige der Strophen, insbesondere die mittelhochdeutschen aus den ‚Carmina Burana‘, erheblich jüngeren Ursprungs sind.“ „Aufgrund der fragwürdigen Datierung dieser Strophen“ sowie „angesichts der historisch fundierten Anordnung nach Autoren-Corpora in MF“ erwägt Boll ebd. die komplette Streichung der Rubrik „Namenlose Lieder“ aus Des Minnesangs Frühling. Vgl. außerdem auch Schweikle, Minnesang2 , S. 86f., sowie ders., Mittelhochdeutsche Minnelyrik, S. 53: „Sowohl die vagantischen Strophen aus den Carmina burana (MF 3, 7 und 3, 12) als auch die namenlos aufgeführten Lieder, die aber in A unter Walther von Mezze (MF 4, 1 u. 6, 14) und Niune (MF 6, 5 und 3, 18 [in C auch unter Waltram von Gresten]) überliefert sind, können jederzeit auch als Nachklänge älterer Formtypen aufgefaßt werden.“ 6 Letztere werden auch – trotz Schwierigkeiten der literarhistorischen Verortung – dem so genannten Donauländischen Minnesang zugeordnet. Dennoch ist die zeitliche Einordnung – vor allem des Kürenbergers – problematisch. So schreibt Schweikle, Minnelyrik, S. 56, in Bezug auf diesen: „seine Lieder sind altertümlich. Es ist aber auch denkmöglich, daß er ein abseitiger Spätling war, der sich nicht den herrschenden Minnesangkonventionen seiner Zeit anschloß, sondern sich gegen den Strom des Zeitgeschmacks an volkstümlichen unterliterarischen Traditionen orientierte.“ 7 Schweikle, Minnesang2 , S. 84. 8 Schweikle bezeichnet ihn ebd. – ebenso wie den Burggrafen von Rietenburg – als „Dichter des Übergangs“.

Dialogstrukturen in Des Minnesangs Frühling

Anzahl an Frauenstrophen vor, in denen oftmals eine weibliche Stimme begegnet, welche sich als einem männlichen Text-Ich gegenüber zugewandt und für eine Liebeserfüllung bereit präsentiert, was auch für später entstandene Texte des Minnesangs nicht ungewöhnlich ist.9 Jedoch gerade in der in vielen Fällen noch nicht erkennbaren dame sans merci wird ein Argument für die Eigenständigkeit dieser angeblich frühen Lieder gesehen.10 Aufgrund von Differenzen zur romanischen Literaturtradition – vor allem auch in formaler Hinsicht – diskutiert die Forschung daher eine größere Nähe der Texte zu einheimischen volkssprachlichen sowie lateinischen Literaturtraditionen11 , wobei aber vor allem aufgrund fehlender Quellen keine gesicherten Ergebnisse möglich scheinen.12 Im Folgenden sollen die Spezifika der dialogischen Kommunikation in der Rubrik ‚Frühe Lieder‘ anhand zweier Beispiele vorgestellt werden.13 3.1.1

Der Kürenberger, II: Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinne (MF 8,1)

Im fünfzehnstrophigen Corpus des womöglich zwischen ca. 1150 und 1170 in Österreich dichtenden Kürenbergers – dessen Person sich jedoch nicht identifizieren lässt14  – begegnet ein kurzer dialogischer Wortwechsel in Strophe C5.15 Diese wird von der Forschung wiederholt als Parodie auf die unmittelbar vorausgehende

9 Vor allem im Frauenlied, Tagelied und Wechsel, wobei der Wechsel jedoch in jüngeren Textcorpora des Minnesangs weniger häufig begegnet. 10 Vgl. Schweikle, Minnesang2 , S. 169–171, 183. 11 Vgl. hierzu vor allem Schnell, Minnesang I, S. 25ff. Besonders für den aus der Pastourellentradition bekannten Frauentyp, der in der Germania weitaus weniger verbreitet ist als in Frankreich (dort vor allem in der Trouvère-Dichtung), bieten die lateinischen Texte des Codex Buranus eine Fülle von Beispielen. Auffälligerweise fanden auch mehrere Strophen der sog. frühen Lyrik Eingang in die umfangreiche Sammlung überwiegend lateinischer weltlicher und geistlicher Dichtung (Namenlos VI, VII, IX,1, IX,2) sowie eine Strophe Dietmars (MF 32,1), welche aus einem seiner dialogisch angelegten Lieder stammt, und zwar jeweils als Abschluss lateinischer Lieder. Eine Auflistung der Stücke mit mittelhochdeutscher Strophe liefern Vollmann, S. 903, sowie Müller, Mehrsprachigkeit und Sprachmischung, S. 88–91: Demnach finden sich 62 Lieder, die volkssprachliche Partien enthalten (Refrain, Strophe, syntaktisch integrierte Partien). Vgl. auch Sayce, The medieval German lyric, S. 235, Anm. 1. Die Pastourelle scheint einen zentralen Konnotationshintergrund für die narrativ präsentierten Dialoge der ‚frühen‘ Texte darzustellen. Eine eindeutige Bestimmung des in den Liedern begegnenden weiblichen Text-Ichs fällt jedoch schwer. 12 Vgl. Schnell, Minnesang I, S. 26. 13 Nicht näher berücksichtigt werden Dietmars von Eist Lieder MF 39,30: Urloup hât des sumers brehen sowie MF 32,1: Waz ist vür daz trûren guot, welche keine Werbungssituationen präsentieren. 14 Vgl. Schnell, Minnesang I, S. 56, sowie Volk, Die Königin, S. 225–256. 15 Das Budapester Fragment enthält ebenfalls diese Strophe sowie die weiter unten besprochene Strophe 5C, wobei sich der Text in Teilen unterscheidet (s. unten).

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‚Zinnen-Strophe‘ interpretiert, da ein weibliches Text-Ich hinsichtlich einer bereits als vergangen geschilderten nächtlichen Begegnung mit einem Mann andeutet, dass es ihn durchaus erhört hätte, wenn er nicht so zurückhaltend gewesen wäre.16 Der Bezug der Strophe auf die vorangehende Strophe C4 steht außer Frage (sehr deutlich aufgrund des identischen Strophenbeginns). Umstritten ist jedoch, wie sich diese gegenseitige Bezugnahme deuten lässt, was umso schwerer fällt, wenn ebenso die Strophe C12 in die Überlegungen miteinbezogen wird, welche im Zusammenhang mit C4 als zusammengehöriges Lied dem sog. Wechsel zugeordnet wird, der darüber hinaus als Spezifikum gerade der frühen Lyrik gilt.17 So konstatiert denn auch Schilling, dass „die Frage nach der Anordnung und Zusammengehörigkeit der Kürenberg-Strophen gewissermaßen zum Forschungsrepertoire der Altgermanistik“ gehöre.18 Für eine zusammenhängende Rezeption der Strophen C4 und C12 finden sich zahlreiche – sowohl inhaltliche als auch formale – Gründe, wie sie vor allem Schmid herausgearbeitet hat, auf den ersten Blick bereits durch die Wortresponsion diu lant rûmen sowie rûmen diu lant sehr augenscheinlich (s. unten).19 Auch Boll – als eine Vertreterin der jüngeren Forschung – hält es für „durchaus plausibel“, dass aufgrund der Trennung von Frauen- und Mannesstrophen in zwei

16 Die umfangreiche Forschung zum Corpus des Kürenbergers beschäftigt sich vor allem mit dem Aufbau des Corpus insgesamt, seinem Verhältnis zur provenzalisch-französischen Dichtung, dem parodistischen Charakter einiger Strophen sowie mit der Frage, inwiefern es sich um Rollenlyrik handelt. Die folgende Auflistung nennt lediglich einige der für diese Untersuchung zentralen Texte: Mergell, Frauenrede (1940); Agler-Beck, Der von Kürenberg (1978); Blank, Deutsche Minnesang-Parodien (1979); Schweikle, Die frouwe der Minnesänger (1980); Schmid, Die Lieder der Kürenberg-Sammlung (1980); Heinen, Konvention (1981); Ehlert, Ablehnung (1981); Sayce, The medieval German lyric (1982); Krohn, Begehren (1983); Drumbl, Fremde Texte (1984); Kasten, Frauendienst (1986), S. 212–218; Vizkelety, Die Budapester Liederhandschrift (1988); Kasten/Kuhn, Lyrik des frühen und hohen Mittelalters (1991), S. 588–590; Hensel, Vom frühen Minnesang zur Lyrik der Hohen Minne (1997); Eikelmann, Dialogische Poetik (1999), S. 98f.; Tomasek, Komik (1999); Cramer, Frauenstrophe (2000), S. 19–32; Brem, Gattungsinterferenzen (2003); Schilling, Performanz (2004); Boll, Alsô redete (2007); Haymes, In Kürenberges wîse (2014); Kössinger, Stimmen und Stimmungen (2017), S. 101–109. Zur Verfasserfrage bzw. Verortung des so genannten ‚Kürenbergers‘ vgl. den Überblick bei Hensel, Vom frühen Minnesang, S. 33–35; Krohn, Begehren, S. 120: „Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass sämtliche Strophen von ein und demselben Autor verfasst wurden – und dass dieser Autor ein Mann war.“ 17 Vgl. Ehlert, Ablehnung, S. 288f. Zum regen Forschungsinteresse an der Strophenreihung des Kürenberger-Corpus vgl. Boll, Alsô redete, S. 155f.; ebenfalls wie selbstverständlich schreibt beispielsweise Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 12, über die beiden Strophen als zusammengehöriger Wechsel: „Eine fortlaufende Erzählung wird aufgebaut, der zweite Monolog beginnt dort, wo der erste endete.“ 18 Schilling, Performanz, S. 246f. 19 Schmid, Lieder, S. 21–54. Vgl. hierzu außerdem Köhler, Der Wechsel, S. 29f.; Scholz, Zu Stil und Typologie, S. 72–75.

Dialogstrukturen in Des Minnesangs Frühling

Blöcke innerhalb des Kürenberger-Corpus20  – wobei die Strophen 1–9 nicht durchgängig aus Frauenstrophen bestehen (!)21  – „zusammengehörige Strophen wie 4C und 12C auseinandergerissen wurden“22 . Dennoch bereitet diese Annahme große Schwierigkeiten, da sich die Frage stellt, wie vor dem Hintergrund einer zusammenhängenden Rezeption der Strophen C4 und C12 die übrigen Strophen des Corpus einander zuzuordnen sind und wie eine getrennte Notation zu erklären ist. Von einer zweistrophigen Liedkomposition auszugehen, ist jedenfalls aufgrund der handschriftlichen Überlieferung zunächst nicht möglich, wobei es jedoch zu teils sehr unterschiedlichen Einschätzungen kommt. Für die hier vorliegende Untersuchung sind diese Überlegungen insofern relevant, als sich die Frage stellt, inwiefern die Strophe C5 mit den übrigen Strophen des Corpus korrespondiert, wirkt sich dies doch auf die Deutung des in der Strophe begegnenden kurzen dialogischen Austauschs aus. Im Hinblick auf die Zusammenstellung der Strophen C4 und C12 kritisiert Schilling, dass deren Zusammengehörigkeit zwar konstatiert werde, man einer Erklärung für die getrennte Überlieferung aber häufig schuldig bleibe.23 Durchgehend angenommen wird eine bewusste Zweiteilung des Corpus in Frauen- und Männerstrophen. Schilling referiert den Lösungsansatz Josephs, der von einer parallelen Bezugnahme der jeweiligen Strophen (C3/C11 – C4/C12 – C6/C13 – C7/ C14 – C10/15) ausgeht24 , wobei dieses Modell jedoch schnell an seine Grenzen stößt (die Strophen C5, C8, C9 werden für unecht erklärt!), worauf Schilling richtigerweise hinweist.25 Er selbst geht nun davon aus, dass „die Einteilung und

20 Komplex 1: Strophen C1–C9: vorwiegend Frauenstrophen; Komplex 2: Strophen C10–C15: Mannesstrophen. 21 Die Strophe C5 stellt eine Dialogstrophe dar, erzählt aus der Perspektive eines männlichen Text-Ichs. Die Sprecher-Zuordnung der Strophe C7 sowie des sog. Falkenlieds ist äußerst umstritten. Vgl. hierzu u. a. Schnell, Minnesang I, S. 57. 22 Boll, Alsô redete, S. 162. Vgl. hierzu auch Köhler, Wechsel, S. 31f.: „Man vermutet, dass dies die Folge einer mechanischen Trennung von Frauen- und Männerstrophen ist, wie sie für eine Autorenliedersammlung in den Hss. einzigartig ist. Die Bezüge zwischen 4 und 12C sind aber so stark und auffallend, dass hier kein Zufall vorliegen kann und die Betrachtung als ein Lied gerechtfertigt erscheint.“ Insgesamt fällt die Analyse Köhlers selbst jedoch sehr oberflächlich aus. 23 Schilling, Performanz, S. 248, vgl. auch ebd., S. 249: „In einigen Fällen wird man das Schweigen der Forschung wohl als stilles Eingeständnis ansehen dürfen, keine Erklärung für das Problem zu haben. In anderen Fällen, und zwar überall dort, wo man die überlieferte Reihenfolge der KürenbergStrophen umgestellt hat, ist das übliche Denkmodell zur Anwendung gekommen, nach dem alles, was man nicht versteht, fehlerhaft und damit korrekturbedürftig sei.“ 24 Joseph, Die Frühzeit des deutschen Minnesangs I, S. 4–33. 25 Vgl. Schilling, Performanz, S. 250: „Erstens fehlt jegliche Begründung für die grundlegende Voraussetzung, dass der Kürenberger ausschließlich zweistrophige Wechsel gedichtet habe. Zweitens ist das Kriterium der Echtheit nicht nur auf seine immanente Stichhaltigkeit, sondern vor allem auf seine historische Angemessenheit hin zu überprüfen. […]“

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Reihenfolge der Strophen […] auf eine nach Frauen- und Männerstimme getrennte Aufzeichnung“ zurückgehe, „die von der Praxis des Liedvortrags bestimmt“ gewesen sei.26 Doch letztendlich wirkt auch der von ihm dargestellte Lösungsansatz äußerst konstruiert. Seine These einer „nach Rollen getrennten Verschriftung“27 geht ebenfalls von einer wechselseitigen Bezugnahme der Frauen- und Männerstrophen aus, wobei diese Annahme vor allem auf den engen Bezügen zwischen C4 und C12 fußt.28 Letztendlich lässt sich jedoch auch hier eine wechselseitige Zuordnung der Strophen nicht widerspruchslos erklären, wenn man wie Schilling und andere annimmt, dass die Strophen C3–C10 einer weiblichen Stimme in den Mund zu legen sind, die Strophen C11–C15 dagegen einer männlichen, da so acht weibliche Strophen fünf männlichen gegenüberstehen. Schilling weicht dieser Problematik aus, indem er die Strophen C4 und C5 sowie C8 und C9 jeweils zusammenzieht (‚Zinnenwechsel‘, ‚Falkenlied‘). Übrig bleibt jedoch weiterhin die Strophe C10, welche eine Einzelstrophe gebildet haben könnte (C3/C11 – C4+C5/ C12 – C6/C13 – C7+C8/C14 – C9/C15).29 Die Schwierigkeiten einer Zuordnung der Strophen zueinander zeigen sich auch, wenn man Drumbls Überlegungen miteinbezieht, der im Unterschied zu Schilling und Joseph von einem chiastischen Zuordnungsprinzip ausgeht und hierbei ebenfalls auf zahlreiche Bezugsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Strophen stößt. So ordnet er die Strophen Schilling genau entgegengesetzt einander zu: C3/C14 – C4/C13 – C5/C12 – C6/C11 – C7/ C10 – C8/C9 – C15.30 Drumbl hält jedoch trotz der Analogien zwischen den Stro-

26 Ebd., S. 251. 27 Ebd., S. 252. 28 Bezüge finden sich zudem zwischen C3/C11 im Hinblick auf die liebe-leit-Thematik. Vgl. ebd., S. 253. 29 Vgl. ebd., S. 257. Zudem erwägt Schilling ebd. einen Textverlust aufgrund des freien Raums, den die Handschrift C im Anschluss an die letzte Männerstrophe gelassen habe. Ferner zieht er in Betracht, „dass eines der überlieferten Männerquartette wiederholt werden sollte.“ Und schließlich gebe „es noch die Möglichkeit, dass die Strophe [C10] von der Frauen- und Männerstimme gemeinsam gesungen wurde“ (ebd., S. 258). Schillings Bewertung seiner eigenen These ist vor dem Hintergrund der zahlreichen offenen Fragen nicht nachvollziehbar. Vgl. ebd., S. 260f.: „Die These, daß das Kürenberg-Korpus auf zwei nach Frauen- und Männerrolle getrennte Aufzeichnungen zurückgeht, ist geeignet, diese Spezifika der erhaltenen Überlieferung im Codex Manesse zu erklären. Die zur Verifikation der These unternommene Parallelführung der Frauen- und Männerstrophen geht reibungslos auf; die offenen Fragen zu C10 wie auch zu C1 und C2 berühren die These nicht, so daß die Annahme einer rollenbezogenen, wie beim zeitgenössischen Drama vorgenommenen Verschriftung im historischen Vorfeld der Heidelberger Liederhandschrift als bestätigt gelten kann.“ 30 Drumbl, Fremde Texte, S. 109: „Schon auf Grund der nachgewiesenen Abfolge der beiden Strophentypen ist chiastische Strukturierung des Vortragszyklusses um das Zentrum der Doppelstrophe [bezogen auf ‚Falkenlied‘] überaus wahrscheinlich. Dazu kommen noch die inhaltlichen Entsprechungen zwischen (5) [C7] und (8) [C10], sowie die zwischen (4) [C6] und (9) [C11] und schließlich die zwei Parodien in den entsprechenden Positionen.“ (Ergänzungen in eckigen Klammern durch

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phen im Sinne eines chiastischen Prinzips eine Umstellung dieser für einen zu weitgehenden Eingriff in die vorliegende Textstruktur und argumentiert gegen eine Veränderung der Strophenreihung31 , in der er ein literarisches Kompositionsprinzip zu erkennen glaubt.32 Dies ist eine wichtige Beobachtung, zumal die Diskussionen um die Strophenreihung zeigen, dass bestimmte Strophen stets den Deutungen der Interpreten im Wege stehen und als „störend“ empfunden werden.33 In dem Corpus scheint folglich eine Variabilität angelegt zu sein, die Bestrebungen, einen inhaltlich nachzuvollziehenden kohärenten Verlauf herzustellen, entgegenwirkt.34 Vor diesem Hintergrund soll es zunächst genügen, auf den engen Zusammenhang der Strophen C4, C5 und C12 hinzuweisen, den es noch weiter unten näher zu erläutern gilt – ohne hierbei von einer ‚festen‘ Liedeinheit auszugehen.35 Der Diskussion um die Deutung von auf manchen Interpreten irritierend wirkenden Strophen – bedingt durch die scheinbare Infragestellung des angenommenen Deutungsansatzes – wird bisweilen ausgewichen, indem diese als parodistische

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S.R.) Drumbl kommt ebd., S. 111, zu dem Ergebnis: „Im Corpus des zweiten Tons, das wir nun endgültig als sinnvoll geordneten Vortragszyklus ansehen können, […].“ Vgl. Drumbl, ebd., S. 108, der sich der Parodie-These anschließt: „Demselben Prinzip der chiastischen Anordnung folgend, entspricht der Parodie im ersten Teil des Vortragszyklus [5C] eine Parodie im zweiten [12C]: parodiert wird wiederum die Rolle, die im Zyklus selbst aufgebaut wird, der werbende Mann – nun als umworbener vorgeführt, der von einer höhergestellten Dame mit Gunstbeweisen verfolgt, das Weite sucht.“ (Ergänzungen in eckigen Klammern durch S. R.). Vgl. hierzu auch Drumbl, Fremde Texte, S. 186f., Anm. 29. So schließt Heinen, Konvention, S. 351, im Hinblick auf eine „Identifikationsbasis“, welche durch einige der Kürenberger-Strophen für Sänger und Hörer geschaffen werde: „Die Strophe 8,9, falls sie dem Kürenberger zuzuschreiben ist, fügt sich schwerlich in diesen Rahmen, und auch 8,17 und 9,21 dürften trotz ausdrücklicher Erwähnung von sozialen Wertungen nur am Rande dazu gehören.“ Tomasek, Komik, S. 18, sieht die Strophe C4 als eine – allerdings nicht störende – Beigabe: „Es scheint sich hier eine Gewohnheit der Minnesänger bzw. Vortragenden abzuzeichnen, ihre Repertoires mit komischen Einzelstrophen zu garnieren, um zur Belustigung einer am Adelshof versammelten Runde beizutragen.“ Vgl. hierzu die überzeugenden Schlussfolgerungen bei Schilling, Performanz, S. 261: „[…] die immer wieder konstatierte Abgeschlossenheit und Selbständigkeit der einzelnen Strophe im frühen, oft auch noch im hohen Minnesang lässt vielmehr vermuten, dass die Lieder für variierende Zusammenstellungen bestimmt waren. Die vielfältigen Versuche der Germanistik, die Strophen des Kürenbergers zu gruppieren und zu kombinieren, bezeugen deutlich genug, dass den Texten diese Variabilität eingeschrieben ist. […] es ist nicht nur vorstellbar, sondern sogar wahrscheinlich, dass man die konkreten Aufführungen flexibel an die jeweilige Situation und an die Erwartungen und Bedürfnisse des Publikums anpasste.“ Vgl. auch grundlegend Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 81. Vgl. Schilling, Performanz, S. 254: „Unabhängig von der Frage, ob man C4, C12 und C5 als ein zusammengehöriges dreistrophiges Lied ansieht oder C5 als Einzelstrophe betrachtet, die den vorangehenden Zinnenwechsel parodistisch überbietet, in jedem Fall wird man von einem engen Zusammenhang zwischen diesen drei Strophen ausgehen müssen.“

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Zugaben abgetan werden, welche dem ‚eigentlichen‘ Kürenberger-Corpus nicht zugehörig seien.36 Hiermit verknüpft ist die Frage, inwiefern die provenzalische Dichtung als Konnotationshintergrund der Texte anzunehmen ist, was für den Minnesang ab Friedrich von Hausen als sicher gilt.37 Heinen spricht im Hinblick auf die in der Forschung konstatierte „Kluft zwischen dem donauländischen und dem hohen Minnesang“ von „gängigen Vorstellungen von der Entwicklung des Minnesangs“, die „bestimmt nicht völlig falsch“ seien.38 Dennoch warnt er vor einer zu scharfen Trennung: „die Behauptung einer fundamentalen Andersartigkeit kann ein Verständnis der archaischen Lieder erschweren.“39 Schnell hebt „vielfältige Möglichkeiten“ hervor, „den Kürenberger an die romanische Liebeslyrik anzubinden, freilich nicht in formaler Hinsicht.“40 Oft differenziert die Forschung hierbei jedoch zwischen einzelnen Strophen des Kürenberger-Corpus, sodass die einen Strophen mehr, die anderen weniger auf die literarischen Ideen der Romania reagierten.41 Krohn sieht deshalb den Kürenberger als Vertreter einer „Übergangsepoche“, für die „das Neben-, nicht aber das Nacheinander unterschiedlicher Einflüsse charakteristisch“ sei.42 Brem argumentiert, dass der Kürenberger „die neue ethisch-erotische Bindung zwischen den Geschlechtern“ zur Sprache bringe, und sieht ihn ebenfalls als ‚Vermittler‘ „der Frühphase einer Gattung, deren Etablierung offenbar – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht völlig un-vermittelt erfolgt ist.“43 Sie spricht von einer „Darbietung zentraler Merkmale des neuen Liebeskon-

36 Siehe oben Anm. 33. 37 Vgl. u. a. Schnell, Minnesang I, S. 54, Schweikle, Minnesang2 , S. 84–87, Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 20, 72f. 38 Heinen, Konvention, S. 346; Krohn, Begehren, S. 124, spricht im Hinblick auf den sog. „ZinnenWechsel“ von einem „kritisch-ironische[n] Spiel mit den Elementen des alten und des neuen Sangs“. 39 Heinen, Konvention, S. 346. 40 Schnell, Minnesang I, S. 60. Er spricht ebd., S. 57, von „erstaunliche[n] Parallelen zu romanischen Liedern, wobei freilich nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Fälle auf Vorstellungen zurückgehen, die in der ritterlich-höfischen Welt der Romania wie der Germania beheimatet sind.“ Krohn, Begehren, S. 123, konstatiert, dass sich eine Kenntnis der „aus der Romania eindringenden Ideen der höfischen Minne-Auffassung“ unschwer nachweisen lasse, „wenn er [der Kürenberger] sie auch nicht in aller Konsequenz übernehmen mochte“. Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 82, betont eine Eigenständigkeit der frühen Lyrik, die sich vor allem durch die Kompaktheit des Vierzeilers begründe. Sayce, The medieval German lyric, S. 89, spricht von einer unzweifelhaften Beeinflussung auf inhaltlicher Ebene, beispielsweise in Bezug auf die Ausdrücke „lugenaere“ und „merkaere“ in Strophe C3: „[…] shows that he undoubtedly knew the Romance terms and their particular associations.“ 41 Krohn, Begehren, S. 131, fällt es beispielsweise schwer, „im Kürenberger nicht einen witzigen Kritiker der neuen westlichen Minne-Doktrin zu sehen, selbst wenn er in anderen Strophen auf solche Polemik verzichtet.“ 42 Ebd., S. 123. 43 Brem, Gattungsinterferenzen, S. 95, bezogen auf die letzte Strophe des Corpus, MF 10,17.

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zepts in rechtfertigendem und zugleich autoritativem Gestus“44 . Im Hinblick auf die möglicherweise parodistische Konzeption einiger Strophen des Kürenbergers spricht Krohn von Strophen, „in denen er [der Kürenberger] die neumodischen Sprach- und Verhaltensmuster des provenzalisch beeinflussten Minnesangs lächerlich zu machen und ad absurdum zu führen versucht […]“45 , wobei insbesondere eine Abkehr von dem Dienstmodell romanischer Prägung erfolge. Krohn geht in seiner Annahme einer parodistischen Bezugnahme folglich noch weiter, indem er den Kürenberger als einen Dichter beschreibt, „der in der frühen Rezeptionsphase des provenzalischen Frauendienstes Kritik zu üben versucht an der zunehmenden Geltung dieses höfischen Minnewesens.“46 Entscheidend ist hierbei nun jedoch die Frage, ob eine parodistische Bezugnahme auf das vermeintliche Modell der hohen Minne tatsächlich auch als eine Distanzierung von d e m aus der Romania stammenden Liebeskonzept – sofern es ein solches überhaupt gibt – zu bewerten ist, welches sehr viel facettenreicher ist als oftmals angenommen. So schließt Schnell im Hinblick auf die meist als Parodie abgetane Dialog-Strophe C5: Unterstellt man der Trobadorlyrik nicht ein in sich geschlossenes Liebeskonzept (z. B. Frauendienst), sondern gesteht ihr eine breite, vielfältige Diskussion um die rechte Liebe zu, dann muss MF 8,9 nicht als Abwehr trobadoresker Auffassungen gedeutet werden, sondern als ein Mitsingen in einem vielstimmigen Chor.47

44 Ebd., S. 97. 45 Krohn, Begehren, S. 123. Vgl. hierzu ähnlich Kasten, Frauendienst, S. 216, die überlegt, „ob der Wechsel nicht vor allem als literarische Polemik zu begreifen ist, die sich gegen das neue poetische Konzept, gegen den romanischen Frauendienst, richtet. […] Es fällt schwer, in dieser Konstanz der Umkehrung nicht eine parodistische Absicht am Werke zu sehen. Diese Möglichkeit gewinnt bei einer näheren Analyse zunehmend an Wahrscheinlichkeit.“ Vgl. hierzu ähnlich Kasten, Lyrik, S. 589. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es ein eindeutig zu bestimmendes „neues poetisches Konzept“ überhaupt gibt. Schilling, Performanz, S. 262, Anm. 45, argumentiert gegen eine parodistische Bezugnahme aufgrund der vom Kürenberger gewählten – nicht in der Romania vertretenen – Textform des ‚Wechsels‘: „[…] ein Parodist hätte sich kaum die Chance entgehen lassen, die von ihm attackierte Literatur gerade auch in ihrem äußerlichen, markant von der herkömmlichen Tradition abweichenden Erscheinungsbild zu konterkarieren.“ Inhaltlich finden sich dagegen deutliche Parallelen. 46 Krohn, Begehren, S. 123. 47 Schnell, Minnesang I, S. 58. Vgl. auch ebd., S. 28 u. 41. Schnell knüpft ebd., S. 59f., seine Überlegungen an die Gattungszugehörigkeit einzelner Texte, was im weiteren Verlauf dieser Arbeit eine Rolle spielen wird: „Sobald man von Liebeskonzept und Frauenbild absieht, also nicht mehr konzeptionsgeschichtlich argumentiert […], sondern die Abhängigkeit der Aussagen von der jeweiligen Gattungszugehörigkeit wahrnimmt, also gattungshistorisch argumentiert, fällt das Urteil über Pro und Contra eines romanischen Einflusses anders aus. Zugleich wird deutlich, wie fragwürdig es ist, von einem allzu eng gefassten Liebeskonzept oder Frauenbild der Trobadors auszugehen und daran die deutschen Minnesänger zu messen.“

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Dass ein männliches Text-Ich seinen Dienst infrage stellt und zumindest androht, sich von seiner Dame abzuwenden, ist beispielsweise ein häufig im Minnesang begegnendes Motiv.48 Hieraus sogleich auf eine kritische Distanz zum romanischen Dienstmodell zu schließen, führt zu weit, zumal sich zahlreiche Motivparallelen finden, wie die Forschung gezeigt hat.49 Gerade die Vielfalt der Erscheinungsformen des Sprechens über Minne stellt einen wesentlichen Anknüpfungspunkt des Kürenbergers an die Texte der Romania dar.50 Für den spielerischen Charakter und die Literarizität des diesem Namen zugeordneten Corpus ist gerade die seine Strophen kennzeichnende Rollenvielfalt wesentlich, auf welche die Forschung wiederholt hinweist.51 Schilling sieht hierin den Kürenberger in einer Reihe mit späteren

48 Vgl. etwa Friedrichs von Hausen Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden (hier insbesondere Str. 4, MF 47,33), Walthers von der Vogelweide sumerlaten-Lied oder sein Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp (L 48,12). Zu denken ist in diesem Zusammenhang an den aus der Romania bekannten Liedtyp der mala canso (vgl. Schnell, Minnesang II, S. 134). 49 Siehe oben Anm. 40. 50 Zu betonen ist in diesem Zusammenhang auch das unterhaltsame Moment der Texte. Vgl. Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 89: „Der frühe Minnesang versagt sowohl den Inhalten, die er hat, wie der Gesellschaft, der sie dienen, den nötigen Ernst. Aufgelöst im Spiel der Sprache, werden die Zwangsmaßnahmen der Moral und der Liebe zur Pointe, die sich über das schon hinweggesetzt hat, was sie zu gestalten vorgibt.“ Den Aspekt des Spielerischen betont auch Krohn, Begehren, S. 128, wobei seiner Vorstellung eines „Gegengesangs“ nicht zuzustimmen ist (s. oben: Ausführungen zur Unterstellung eines parodistischen Umgangs des Kürenbergers mit dem vermeintlichen Minne-Dienst-Modell der Romania). 51 Schnell, Minnesang I, S. 60, sieht gerade hierin auch ein Argument gegen ein zu eng gefasstes Liebeskonzept: „Aufgrund der Heterogenität der Rollen und Positionen auch im Kürenberger-Œuvre kann man nicht von einem verbindlichen Handlungsmuster sprechen, das in den Liedern vorgegeben wäre.“ Die Rollenvielfalt bemerkte bereits Kraus, Des Minnesangs Frühling. Untersuchungen, 1939, S. 31: „Gerade dieser Reichtum an Motiven macht ja diese Kleinkunst so reizvoll: der sehnenden Frau steht die herrische Gebieterin gegenüber, der schüchternen die leidenschafterfüllte, dem hingebenden Werber der abweisende oder übermütige Ritter, und so stellt fast jede Strophe mit wenigen Worten einen neuen Charakter und neue Stimmungen dar.“ Vgl. außerdem Hensel, Vom frühen Minnesang, S. 37: „Die einzelnen Strophen stellen in der Regel schlaglichtartige Momentaufnahmen dar, wobei die Ausgangssituation der sich rollenhaft artikulierenden Minnenden in der Regel eine gesellschaftlich bedingte Trennung involviert“, sowie Schweikle, Die frouwe der Minnesänger, S. 100, welcher erklärt, dass der männliche Sprecher in „den Rollen bestimmter Typen“ auftrete, was auch für frouwe bzw. wîp gelte. Den Begriff der „Rolle“ definiert Schweikle ebd. folgendermaßen: „Rollen sind sowohl die Figurationen des weiblichen als auch des männlichen lyrischen Ichs, also auch die ausdrücklich gekennzeichneten Gestalten frouwe, wîp, megetîn, ritter, bote.“ In Bezug auf die Strophen 7,19; 10,1; 9,13; 10,9 schreibt Heinen, Konvention, S. 351: „Die Strophen […] spiegeln vier verschiedene Einstellungen zum Verhältnis zwischen Mann und Frau und vier unterschiedliche Sprecherrollen wider, lassen sich aber in ihrem Gebrauch von Konventionen (huote, tougen minne) und in der impliziten Lehre einer vorbildlich höfischen Haltung vergleichen.“ Vgl. hierzu ebenso Sayce, The medieval German lyric, S. 86: „All the poems illuminate the problem of love from different angles by presenting figures in differing roles and attitudes.“ Vgl. hierzu auch Drumbl,

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Minnesängern.52 Die durch die Rollenvielfalt bedingte Komplexität steigt, wenn man die Strophen im Zusammenhang betrachtet, was die zahlreichen zwischen ihnen bestehenden Korrespondenzen nahelegen.53 Reuvekamp-Felber macht dabei – ähnlich wie bereits Grimminger – deutlich, dass es gerade um ein Ausleuchten der unterschiedlichen Facetten des Minnebegriffs zu gehen scheint – nicht um das Erzählen einer ‚Geschichte‘ zweier Liebender.54 Die handschriftliche Überlieferung in C zielt in diesem Sinne – u. a. durch ihre Strophenanordnung – nicht auf die inhaltlich stringente Darstellung einer Mann-Frau-Beziehung. Hierbei ist zudem darauf hinzuweisen, dass die Rollen auch innerhalb einer Strophe nicht so klar zu fassen sind, wie bisweilen angenommen wird. Im Einzelfall ist stets zu überlegen, ob tatsächlich „die Ich-Figurationen im Bereich der Einzelstrophe konsistent bleiben“55 . Die Rollenhaftigkeit der Texte geht oft einher mit einer Schwierigkeit der Zuordnung einzelner Strophen zu bestimmten Figurentypen, wodurch diese an Deutungsoffenheit gewinnen.56 Gerade in der Uneindeutigkeit einzelner Aussagen

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Fremde Texte, S. 107: „Die Strophen sind nicht nach Geschlechtern differenziert, sondern nach Rollen […].“ Sayce, The medieval German lyric, S. 87, hebt darüber hinaus neben der Präsentation verschiedener Rollen auch auf formaler Ebene die Vielschichtigkeit des Corpus hervor: „The poems thus combine aspects of the lyric, epic and dramatic.“ Vgl. Schilling, Performanz, S. 262, der von der „spielerische[n] Inszenierung der Texte“ spricht sowie dem „bereits voll entwickelte[n] Bewusstsein ihrer Rollenhaftigkeit“, was darauf hindeute, „dass der Autor oder wenigstens der Konzeptor der Aufführung mit einem Publikum rechnen durfte, das mit solchen Texten und ihrer Fiktionalität vertraut war.“ Vgl. auch ebd.: „Immerhin zeichnet sich in der – wie ausschnitthaft auch immer – erhaltenen Konzeption ab, dass ernsthafte Minnestrophen unterschiedlicher Tonlage abwechselten mit burlesk-ironischen Strophen, die geeignet und vermutlich auch dazu bestimmt waren, die elegische Atmosphäre der Liebeslieder zu brechen.“ Vgl. Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 394: „In diesem die Einzelstrophe übergreifenden Moment liegt eine Komplexitätssteigerung des Sprechens über Liebe vor, das sich unter den thematischen Leitbegriffen Werbung, Freude, Sehnsucht, Trennung und Verzicht in diversen affirmativen oder die Liebesbeziehung problematisierenden Konstellationen von Mann und Frau in Szene setzt. Dabei führt die in spielerischer Form ästhetisch vermittelte Diskussion um Liebe und Geschlechterbeziehungen völlig differente Sprecher der Einzelstrophen vor […].“ Vgl. ebd., S. 392–395. Ebd., S. 395. Vgl. Cramer, Frauenstrophe, S. 22, welcher von einer intendierten Offenheit der SprecherrollenZuweisung spricht: „Man darf unterstellen, dass sie beabsichtigt ist, denn sie verleiht dem Gedicht Mehrschichtigkeit, da der gleiche Wortlaut einen gänzlich anderen Sinn transportiert, je nachdem, ob er als von einer Frau oder einem Mann geäußert vorgestellt wird.“ Ähnlich macht Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 88, auf die durch eine „Konzentration auf das Wesentliche“ bestimmten Leerstellen aufmerksam: „It is a poetic form which cannot discuss problems explicitly, argumentatively, or reflectively as did that of the later Minnesänger. The strophic composition of four long-lines leaves no room for description, explanation, or qualification. It presents, demonstrates, but above all abbreviates; only those moments and actions necessary for the narrative are stated. Catchwords […] and objective actions […] function suggestively, even symbolically. They speak to the imagination

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und ihrem weiten Konnotationsspektrum liegt ein Wesenskern des Minnesangs insgesamt wie auch der provenzalisch-französischen Lyriktradition.57 Die Intention der Texte scheint hierbei in den ‚Effekten‘ zu liegen, die durch pointierte Zuspitzungen oder unerwartete Wendungen erzielt werden, welche sich aus der Darstellung von Einzelsituationen ergeben, die nur lose bzw. punktuell miteinander verknüpft sind.58 Im Zentrum steht ein ‚Umspielen‘ zentraler Begrifflichkeiten und Konzepte, wie es ebenso für die romanische Poesie spezifisch ist. So schreibt bereits Grimminger im Hinblick auf die für den Kürenberger zentrale liebe-leit-Thematik: „jede Motivation des frühen Minnesangs kann ihre konkreten Ursachen weitgehend oder ganz verlieren, vröude und leit können durchaus zum Grund ihrer selbst werden.“59 Es gehe dabei gerade nicht um strophenübergreifende Kohärenz.60 Ähnlich wie Waltenberger in dem von ihm untersuchten Rîtest dû nu hinnen, der aller liebste man (MF 4,35) des Kaisers Heinrich einiges findet, „was man zugunsten einer strophenübergreifenden narrativen Kohärenz komplementär auf die erste Strophe [des von ihm untersuchten Liedes] beziehen könnte“61 , lassen sich jedoch ebenso viele Divergenzen finden – in den Kürenberger-Strophen sehr viel augenscheinlicher als in Kaiser Heinrichs Wechsel. Eben hier spricht Waltenberger nun aber von einer „methodische[n] Prävalenz des Differenziellen“, in der er eine spezifische literarische Intentionalität zu erkennen glaubt.62 Das Spannungsverhältnis der einzelnen Strophen bedingt durch „kommunikative[n] Bruch und dialogische Anknüpfung“63 fungiert hierbei als Literarizitätsmerkmal, welches sich einer Eindeutigkeit der Interpretation widersetzt: Privilegiert man nun im Gegenzug die textuelle Form, dann kann der kommunikative Hiat zwischen den Strophen des ‚Wechsels‘ von vornherein zum Literarizitätsmarker verabsolutiert werden: Er gilt aus dieser Sicht schon immer als Beleg einer konstitutiven ‚Künstlichkeit‘, ‚Fiktionalität‘ oder ‚Erzählfiktionalität‘ der Texte.64

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of the listener, assuming an understanding of their significance. Such a structure presents only the essentials […].“ Vgl. hierzu u. a. Krohn, Begehren, S. 123; Sayce, The medieval German lyric, S. 88; Schilling, Performanz, S. 262, Anm. 45. Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 83, verweist in diesem Zusammenhang auf kasuistische Literaturtraditionen und spricht von der „geschliffene[n] Form der Pointe“, welche gerade durch die Kompaktheit des Vierzeilers bedingt sei. Auch Waltenberger, Kaiser Heinrichs artificium, S. 159, spricht von einer „Strategie der Pointierung“. Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 67. Vgl. ebd., S. 17f. Waltenberger, Kaiser Heinrichs artificium, S. 155. Ebd., S. 156. Ebd., S. 155. Ebd., S. 150.

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Vor diesem Hintergrund ist das Bestreben der Kürenberger-Forschung, einzelne Strophen aufgrund inhaltlicher Analogien zu festen Liedeinheiten zu verbinden, zu hinterfragen. So fordert auch Waltenberger, die Komplexität der Texte ernst zu nehmen und Deutungsschwierigkeiten nicht als ein „Phänomen archaischer Schlichtheit“ abzutun.65 In der hier vorliegenden Untersuchung soll keine Neubewertung des Gesamtcorpus des Kürenbergers erfolgen. Entscheidend ist die Frage, wie das dialogische Moment der Strophe C5 zu bewerten ist und wie gerade der Dialog das spielerischunterhaltende Potential des Minnesangs auszuschöpfen weiß. Darüber hinaus soll punktuell aufgezeigt werden, wie das Corpus des Kürenbergers in außergewöhnlicher Weise einen Einblick in die Poetik des Minnelieds überhaupt zu geben vermag. Besonders augenscheinlich ist hierbei das für den Minnesang typische Sprechen in unterschiedlichen Registern, welches vorgeführt wird und zu zahlreichen Verunsicherungen hinsichtlich einer Zuordnung der Sprecherinstanzen führt. Dies gilt es vor allem anhand der Strophen C4–C6 zu erläutern, wobei die Strophe C5 besagten kurzen dialogischen Austausch enthält. Hierfür ist es notwendig, zunächst die jeweiligen Strophen für sich zu betrachten – ein Vorgehen, auf das zahlreiche Interpreten verzichten, was dazu führt, dass durch die gedankliche Vorwegnahme von sich anschließenden Strophen bestimmte Deutungsalternativen von vornherein ausgeblendet werden, wodurch jedoch die für den Minnesang oftmals spezifische Deutungsoffenheit verlorengeht.66 Im Folgenden sollen daher zum einen in einem ersten Schritt die betreffenden Strophen des Kürenberger-Corpus jeweils einzeln betrachtet werden, um im Anschluss daran unterschiedliche Möglichkeiten dialogischer Bezüge zu diskutieren. Die umgebenden Strophen sind insofern von Bedeutung, als durch diese die Bedeutungsoffenheit einzelner Strophen noch vergrößert wird, da der Rezipient Bezüge herzustellen versucht, hierbei jedoch immer wieder an seine Grenzen stößt:

65 Ebd., S. 149f.: „Die Unwägbarkeiten der Überlieferung lassen allerdings Raum für die Möglichkeit, die Strukturen des ‚Wechsels‘ auch etwa im Kürenberger-Korpus nicht einfach als Phänomen archaischer Schlichtheit, sondern als Produkt einer literarisch reflektierten Funktionalisierung zu verstehen – vielleicht sogar in bewusst parodierender Auseinandersetzung mit dem Konzept der Hohen Minne.“ Zu letzterer Überlegung vgl. oben die Ausführungen zum parodistischen Forschungsansatz. 66 Vgl. hierzu beispielhaft Scholz, Zu Stil und Typologie, S. 73, der im Hinblick auf die Überlegungen zur Sprecherzuordnung der Strophe C4 schreibt: „Doch jedes weitere Spekulieren ist müßig, da durch II [= C12] die erste Strophe eindeutig als Frauenstrophe determiniert wird, das ganze Gebilde sich demnach als Wechsel zwischen Mann und Frau erweist und ‚minne‘ in II,4 klar und einzig auf Minnedienst deutet.“

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C 3; MF 7,19 (Text hier nach MF) ‚Leit machet sorge, vil liebe wünne. eines hübschen ritters gewan ich künde: daz mir den benomen hânt die merker und ir nît, des mohte mir mîn herze nie vrô werden sît.‘ C 4; MF 8,1 ‚Ich stuont mir nehtint spâte an einer zinne, dô hôrt ich einen rîter vil wol singen in Kürenbergers wîse al ûz der menigîn. er muoz mir diu lant rûmen, alder ich geniete mich sîn.‘

C 12; MF 9,29 Nu brinc mir her vil balde mîn ros, mîn îsengewant, wan ich muoz einer vrouwen rûmen diu lant, diu wil mich des betwingen, daz ich ir holt sî. si muoz der mîner minne iemer darbende sîn.

C 5; MF 8,9 Jô stuont ich nehtint spâte vor dînem bette, dô getorste ich dich, vrouwe, niwet wecken. ‚des gehazze got den dînen lîp! jô enwas ich niht ein eber wilde‘, sô sprach daz wîp. C 6; MF 8,17 ‚Swenne ich stân aleine in mînem hemede, unde ich gedenke an dich, ritter edele, sô erblüet sich mîn varwe, als der rôse an dem dorne tuot, und gewinnet daz herze vil manigen trûrigen muot.‘ C 7; MF 8,25 ‚Ez hât mir an dem herzen vil dicke wê getân, daz mich des geluste, des ich niht mohte hân noch niemer mac gewinnen. daz ist schedelîch. jône mein ich golt noch silber: ez ist den liuten gelîch.‘

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C4. ‚Ich stand allein gestern Abend spät an einer Zinne, da hörte ich einen Ritter sehr schön singen in der Weise des Kürenbergers, mitten aus der Menge heraus. Er muss auf mein Geheiß67 das Land verlassen, oder ich erfreue mich seiner.‘ C5. Wahrlich, ich stand gestern Abend spät vor deinem Bett. Da wagte ich dich, Herrin, nicht zu wecken. ‚Dafür möge Gott dich hassen! Wahrlich, ich war doch kein wilder Eber‘, so sprach die Frau. C6. ‚Wenn ich allein in meinem Hemd dastehe, und an dich denke, edler Ritter, dann erblüht meine Farbe so wie die Rose an dem Dorne und meinem Herz wird sehr sehr traurig zumute.‘

Die Strophe C3 beginnt mit einer sentenzhaft-verallgemeinernden Äußerung68 über die Wirkung von leit und minne: leit verursache Sorge, viel liebe Wonne.69 Der weitere Verlauf der Strophe wird als Konkretisierung dieses in einer recht allgemein wirkenden Form daherkommenden Lehrsatzes betrachtet.70 Grimminger betont hierbei die klare Strukturierung der Strophe insgesamt71 : Im zweiten Vers berichtet das Text-Ich, dass es von einem höfischen Ritter erfahren habe (Bezug auf vil liebe wünne möglich). Dieser sei ihm jedoch durch die merker und deren

67 Dativus commodi oder ethicus? – s. unten Anm. 99. 68 Zur großen Verbreitung von Sentenzen im Minnesang insgesamt – auch im als früh geltenden – vgl. Schmaltz, Beiträge, S. 185f. 69 Zur textkritischen Diskussion vgl. Schweikle, Minnelyrik, S. 366; Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 82f.; Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs S. 78, Anm. 75. Lachmann, Bartsch, Vogt und Kraus deuteten den ersten Vers als einen Satz, in dem zum Ausdruck gebracht werde, dass Sorge die große Wonne in Leid verwandle. Vgl. Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 82, mit Verweis auf Vogt. Vgl. daher auch 3 MF, S. 273: „Lachmanns Text ‚leid macht (d. h. in Leid verwandelt) Sorge auch die liebste Freude.‘ ist freilich nicht ganz so plan im Ausdruck, wie man es beim Kürenberger zunächst erwartet, passt aber weitaus am besten zum Folgenden.“ Es wird jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Handschrift die erste Zeile durch einen Punkt zweigeteilt wird. Schweikle lehnt v. Kraus’ Vorwurf der „Banalität“ ab. Vgl. außerdem Boll, Alsô redete, S. 162, Anm. 35: „Die minimale grammatikalische Struktur korrespondiert mit dem Inhalt, der eine Sentenz wiedergibt: Prägnanter Inhalt wird prägnant formuliert.“ 70 Vgl. Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 87; Brem, Gattungsinterferenzen, S. 94 u. 97. 71 Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 81: „Einsichtig ist weiterhin, daß diese schematische Prägnanz in einer Strophe, die nur aus wenigen Zeilen besteht, dazu zwingt, Satz um Satz wie einen Baustein auf den anderen zu setzen. Die Syntax erhält die scharfen Grenzen der Parataxe, und zwischen den Grenzen liegt ein Niemandsland nichterzählter Begebenheiten.“ Er verweist ebd., S. 79 auf die Kompaktheit der Strophe C3 unter Verweis auf „eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Lehrplan mittellateinischer Schulen“: „Zusammenfassung des Themas als Einleitung – deduktiv angegliederte Durchführung – induktiv angeschlossene Summe“ (ebd., S. 80).

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Neid genommen worden, weshalb sein Herz seitdem niemals fröhlich geworden sei (leit machet sorge). Während der zweite Vers narrativ davon erzählt, dass das Text-Ich Kunde von dem Ritter gewonnen habe, kehrt dieses im dritten Vers sogleich in einen reflektierenden Modus – bei dennoch gleichzeitiger Fortführung des narrativen Moments – zurück: Dadurch dass (daz) er ihr genommen worden sei, dadurch (des) sei ihre Freude vergangen. Überschneidungen narrativer und reflexiver Aussageformen sind typisch für das Sprechen im Werbungslied insgesamt72 und auch die Satz-Konstruktion mit einer daz … dez-Struktur begegnet hier überaus häufig.73 In den Versen 3 und 4 findet sich jeweils eine Form des Präteritums, doch durch das sît am Strophenende erfolgt eine Ausdehnung des erfahrenen Leids auf die Gegenwart des Text-Ichs.74 Am Ende lässt sich somit ein erneuter Bezug auf die Sentenz des Anfangs hergestellt: Das narrativ Geschilderte führt zum beschriebenen Leid (des …)75 , sodass die erzählte Situation folglich der Begründung einer fehlenden Fröhlichkeit dienen kann.76 Die Strophe C4 wird durch das bekannte Ich stuont mir […] eröffnet – eine Formulierung, welche die nächsten beiden Strophen erneut aufgreifen:

72 Vgl. Eikelmann, wie sprach sie dô, S. 21, der stets von der „Minnekanzone“ im Hinblick auf das Werbungslied spricht: „Das Erzählen geht immer wieder in Formen der Ich-Rede wie Klage oder Bitte über, es vermischt und überschneidet sich mit Reflexionen über Gründe oder Folgen eines berichteten Geschehens.“ In Strophe C4 (s. unten) ist der narrative Strophenanteil um einiges größer (Vv. 1–3). Erst in Vers 4 findet sich ein reflektierendes Moment, da die Möglichkeit des genieten als von der Forderung des lant rûmen abhängig dargestellt wird. 73 Vgl. etwa Reinmar, MF 155,30–33: daz ich mit triuwen allen mînen sin / Bewendet hân, dar es mich dunket vil, / und mir der besten einiu / des niht gelouben wil; MF 156,29–30: daz ich nû niht mêre enkan, / des enwunder nieman […]; MF 158,11–12: Daz ich mîn leit sô lange klage, / des spottent die, den ir gemüete hôhe stât; MF 163,18–19: Daz mir von gedanken ist alse unmâzen wê, / des überhoere ich vil und tuon, als ich des niht verstê. 74 Drumbl, Fremde Texte, S. 100, verweist genau hierauf: „Die erzählende Zeile ist ganz dem ‚Besprechen‘ untergeordnet und der Gegenwart der sprechenden Frau auch durch ‚sit‘ verbunden.“ Vgl. ebenso Ertzdorff, Begriff des Herzens, S. 220f., sowie zu narrativen Elementen insgesamt Eikelmann, wie sprach sie dô, S. 37: „Schon die Kürze der narrativen Elemente macht deutlich, daß sie in der Kanzone bis um 1200 nicht der Veranschaulichung oder Konkretisierung der Minnesituation dienen. […] Das narrative Element setzt die Minnesituation dabei nur ganz punktuell als Handlungsraum in Szene; es fordert aber die Auseinandersetzung des Ich mit seinen Erfahrungsund Handlungsmöglichkeiten heraus.“ 75 Vgl. Brem, Gattungsinterferenzen, S. 97: „Aus dieser Perspektive bildet der Einleitungssatz das Resümée ihrer ‚eigenen‘ – stellvertretend vorgeführten – Erfahrung, die mit mentalen Grunddispositionen des Publikums rechnet und in Einklang steht“; Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 79: „wurde mîn herze nie mêre frô – genau diese Feststellung erhob die Sentenz des Eingangs zu einem allgemein gültigen Gesetz.“ Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 88, weist ebenfalls auf das direkte Aufgreifen des Leids im letzten Vers durch die Formulierung nie vrô hin. 76 Das Leiderfahrung umrahmt sozusagen die Strophe: V. 1: Leit machet sorge […] – V. 4: […] nie vrô werden sît. Vgl. auch Brem, Gattungsinterferenzen, S. 97.

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C4: Ich stuont mir

C5: Jô stuont ich

C6: Swenne ich stân

Das Text-Ich erzählt in einem narrativen Gestus (Vers 1–3), dass es am vergangenen Abend spät auf einer Zinne gestanden und einen Ritter auf schöne Weise singen gehört habe, und zwar auf Kürenbergers wîse. Der reflexive Dativ mir bleibt oft unübersetzt, welcher nach Schmid „allenfalls als ‚allein‘ interpretiert“77 werden könnte. Dennoch scheint dies ein wichtiger Hinweis auf die dargestellte Situation und den vorliegenden Redegestus insgesamt zu sein, der – im Unterschied zu C3 – die Situation des Text-Ichs genauer fixiert, wie auch der weitere Verlauf des ersten Verses deutlich macht. Fast durchgängig angenommen wird, dass es sich um ein weibliches Text-Ich handelt, was sich vor allem aus der Korrespondenz zur Strophe C12 ergibt, die als zur vorliegenden gehörig interpretiert wird.78 Die Strophe legt diese Option aber auch selbst nahe, ist doch das Bild einer ‚dastehenden‘ Frauenfigur nicht ungewöhnlich und verfügt über ein gewisses Konnotationspotential.79

77 Schmid, Sprachgeschichte, S. 197. Zur Auffassung von mir als Reflexivkasus vgl. auch Paul, Grammatik, S. 349. 78 Der auf schöne Weise singende Ritter tut dies gewöhnlich für eine Dame, weshalb dessen Erwähnung ebenfalls eine weibliche Geschlechtszuordnung des hiervon berichtenden Sprecher-Ichs nahelegt. 79 So finden sich vergleichbare Textstellen, in denen explizit darauf hingewiesen wird, dass die Frau allein dastehe, etwa bei Heinrich von Morungen: Ich vant si an der zinne / eine […] (MF 140,1–2). Das Text-Ich in Heinrichs von Morungen Lied XXII wird von ‚ihr‘ an ein Fenster hoch über der Zinne geführt: swenne si wil, sô vüeret sî mich hinnen / zeinem venster hôh al über die zinnen (MF 138,31–32). Auch in einem Lied Dietmars von Eist begegnet eine „allein“ stehende Frau, in Gedanken versunken und in Erwartung ihres Geliebten, MF 37,4–7: Ez stuont ein vrouwe alleine / und warte über heide / unde warte ir liebes, / sô gesach si valken vliegen (von einer erhöhten Position der Frau ist hier allerdings nicht die Rede, gleichzeitig findet sich hier ein Bezug auf die Falkenthematik). Die weibliche Figur in Albrechts von Johansdorf Ich vant si âne huote steht ebenfalls „allein“, bevor sie von einem männlichen Text-Ich in ein Gespräch verwickelt wird. Das Bild ist folglich in der frühen Lyrik nicht ungewöhnlich. Vgl. u. a. die Belegstellen bei Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 56 sowie ebd. Anm. 16. Auch in der Epik ist dieses Bild recht verbreitet: Im Nibelungenlied erblickt Siegfried Prünhild an einem Fenster: Sô sihe ich ir eine in jenem venster stân / in snêwîzer waete, diu ist sô wol getân; / die welent mîniu ougen durch ir schoenen lîp. / ob ich gewalt des hête, si müese werden mîn wîp (NL, 392). Vgl. auch NL 1716, Vv. 1f.: Kriemhilt diu frouwe in ein venster stuont: / si warte nâch den mâgen, sô friunt nâch friunden tuont. Hierbei wird freilich nicht eine Liebesthematik evoziert, im Gegenteil. Krohn, Begehren, S. 125, verweist daneben auf ein Beispiel aus Veldekes Eneid, für das gerade auch die Trennung zwischen Mann und Frau spezifisch sei: „Beide Male blickt die Frau von der Höhe eines herrschaftlichen Gebäudes […] herab und sieht bzw. hört einen Ritter, der sich vor allen anderen auszeichnet; beide Male wird sie von Leidenschaft ergriffen und beschließt, diesem Manne auf irgendeine Weise näherzutreten.“ Zudem begegnet die Figur des ‚dastehenden‘ Mädchens in den Carmina Burana (s. unten). Vgl. ebenso Haupt, Kemenate, S. 138; Krohn, Begehren, S. 124: „Die ersten Zeilen entwerfen eine für den einsetzenden Minnesang nicht ganz ungewöhnliche Situation“; Schmid, Lieder, S. 34.

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Ehlert jedoch argumentiert gegen eine topische Auffassung und erwägt, ob nicht auch eine Situation vorstellbar sei, „in der ein (Landes-)herr von der Zinne herab einen Sänger die Hofschar mit seinem Gesang begeistern hört“80 . Vor allem vor dem Hintergrund der ähnlichen Parallel-Stellen aus MF (sowie der umgebenden Frauenstrophen) ist es jedoch naheliegender, hier von vornherein ein weibliches Text-Ich anzunehmen, wie es die Forschung auch gemeinhin tut.81 Es ließe sich somit vorstellen, dass die Dame auf der Zinne den Gesang eines Ritters unterhalb ihrer erhöhten Position wahrnimmt. Der unbestimmte Artikel (einen rîter) macht deutlich, dass keine nähere Bekanntschaft zwischen beiden anzunehmen ist. Denkbar wäre daher durchaus eine Situation, wie sie aus dem Minnesang romanischer Prägung bekannt ist, in der ein Ritter um die Gunst der ihn (im übertragenen Sinne) überragenden Dame wirbt.82 Zu berücksichtigen ist darüber hinaus der unmittelbare Strophenkontext, sprich Strophe C3. Das hier sprechende weibliche Text-Ich leidet unter dem Verlust ihres höfischen Ritters: Dass zwischen den hier präsentierten Figuren ein etwas engeres Verhältnis besteht, ist anzunehmen, da sich sonst der Hinweis darauf, dass die merker ihn ihr genommen hätten, nur schwer erklären ließe, von einer näheren Bekanntschaft scheint auszugehen zu sein. So heißt es zwar in Vers 2: eines hübschen ritters gewan ich künde, aber im darauffolgenden Vers liest man sogleich: daz mir den benomen hânt […]. Bei dem Versuch eine Brücke zu schlagen zwischen den Strophen C3 und C4, ließe sich im ersten Vers von C4 zunächst vorstellen, dass es sich um das Text-Ich aus C3 handelte, welches nun erneut ansetzen würde, um von einem vergangenen Ereignis zu berichten (ähnlich wie in C3: gewan ich künde), wobei bereits die situative Verortung der dargestellten Szene durch eine Zeit- und Ortsangabe (nehtint spâte, an einer zinne) auf ein anderes Sprech-Register schließen lässt, welches stärker zu konkretisieren

80 Ehlert, Ablehnung, S. 292. Vgl. außerdem ebd., S. 292f.: „Gegen die Möglichkeit einer solchen Annahme sprechen auch nicht die sich dem heutigen Rezipienten assoziativ einstellenden Parallelen aus dem Dukus Horant oder der Kudrun, da der Hilde-Kudrun-Stoff nach Boesch Österreich, also den weiteren Entstehungsbereich des [sic] Kürenbergstrophe, erst im zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts erreichte und auch der Dukus Horant in der vorliegenden Form vermutlich erst um 1300 im Rheinland entstanden ist, so dass die scheinbar topische Situation, in der jemand an der Zinne stehend einem Sänger zuhört und von seinem Gesang in Bann gezogen wird, jedenfalls nicht von diesen Texten her dem Erwartungshorizont des Publikums eines um 1150/60 im Donauländischen produzierenden Sängers angehören kann.“ Auf die Parallelen in MF geht Ehlert hier jedoch nicht ein. Im Sinne Ehlerts argumentiert auch Cramer, Frauenstrophe, S. 22: „Als Einzelstrophe ist der Text nicht eindeutig einer weiblichen Sprecherin oder einem männlichen Sprecher zuzuordnen.“ 81 Vgl. etwa Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 398, Anm. 63, der den Ansatz Ehlerts zwar akzeptiert, aber aufgrund des Kontexts ebenfalls für ein weibliches Text-Ich plädiert. 82 Vor dem Hintergrund des unten, S. 308ff., behandelten lateinisch-deutschen Carmen Buranum 177 (STETIT Puella / rufa tunica […]) ist andeutungsweise auch die Vorstellung des Mädchens der Pastourelle präsent, auch wenn der Hinweis auf die Zinne die Naturkonnotation schwächt.

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scheint.83 Im zweiten Vers ist nun jedoch von einem rîter die Rede. Dass es sich um den in Strophe C3 genannten Ritter handelt, ist daher eher unwahrscheinlich. Oder erkennt das in C4 sprechende Text-Ich zunächst nicht den ihr von den merkern genommenen hübschen ritter? Diese Auflösung wirkt recht konstruiert und ist auch vor dem weiteren Verlauf der Strophe nicht anzunehmen. Ein Hinweis auf die ‚Identität‘ des Ritters der Strophe 4 findet sich dagegen im viel diskutierten Hinweis in Kürenbergers wîse84 , wodurch gleichzeitig die Ebene des Sangs selbst zum Thema gemacht wird (s. unten). Dass sein Gesang aus der Menge heraussticht, lässt sich als ein weiteres Lob des Ritters deuten – neben der Anmerkung vil wol.85 Im letzten Vers der Strophe überrascht nun jedoch die Aussage, dass er das Land verlassen müsse. Eine Erklärung folgt im Abvers, da sich das Sprecher-Ich andernfalls dessen genieten wolle – ob im positiven oder negativen Sinne muss offenbleiben (die oben gewählte Übersetzung wählt eine positive Lesart, die hier jedoch nicht zwingend ist). Dieser Schluss und die Strophe insgesamt haben vielfältige Deutungen erfahren.86 Hierbei lassen sich vor allem drei Bedeutungsebenen unterscheiden, die in der Forschung unterschiedlich stark betont werden: (1) das

83 Dennoch bleiben auch Fragen offen. Vgl. Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 399: „Die räumlichen und zeitlichen Koordinaten dieser akustischen Begegnung sind zugleich unbestimmt und bestimmt. zinne kennzeichnet die Burg als Ort des Zusammentreffens, bleibt aber in der Vagheit des unbestimmten Artikels einer unkonkret.“ 84 Strittig ist, ob der genannte Ritter ‚in der Art‘ des Kürenbergers singt oder ob möglicherweise der genannte Ritter selbst den Namen ‚Kürenberger‘ trägt. Ist mit diesem Namen überhaupt ein tatsächlich gelebt habender Autor zu identifizieren? Vgl. Kasten, Lyrik, S. 589f.; Schmid, Lieder, S. 26; Schweikle, Minnelyrik, S. 367: „Die in der Forschung erörterte Frage, ob mit dem ritter, der in Kürenberges wîse singt, der Dichter selbst gemeint sei, oder ob ein anderer Ritter die Weise vom Dichter der in C unter Kürenbergs Namen stehenden Liedersammlung entliehen habe, wird sich kaum klären lassen.“ Vgl. außerdem zum Begriff wîse Haymes, In Kürenberges wîse, S. 40: „We have to remember, that wîse, in Middle High German, not only refers to the strophic pattern, but to the melody used for that strophe. We know from the beginning of the transmission of music, in the late Middle Ages, that melodies were either associated with specific works, or with specific poets. This melody was associated with der Herr von Kürenberc, it was ‚Kürenberges wise.‘“ 85 Vgl. Drumbl, Fremde Texte, S. 100, der die positive Darstellung des erwähnten Ritters betont und hieraus ebenfalls auf die „Selbstdarstellung eines Sängers“ schließt, wenn es heißt „in Kürenberges wîse“. Vgl. auch ebd. zu der Formulierung ûz der menigîn: „er gehörte also zum engen Kreis des Herrschers, und ist kein wandernder Berufssänger!“ Vgl. außerdem Ehlert, Ablehnung, S. 297, sowie die Beobachtungen von Schmid, Lieder, S. 36: „Wie der Gesang des Ritters aus dem Kreise der versammelten Hofgesellschaft bis hin zu der einsamen Frau auf der Burgzinne dringt und die Gegensätze überwindet, so sprengt auch der Aussagesatz dieser Zeile die Versgrenze, um erst im Schluss der dritten Langzeile zu enden. Dieses Enjambement wirkt umso intensiver, als der Kürenberger sonst den Zeilenstil bevorzugt.“ 86 So erläutert Drumbl, Fremde Texte, S. 100: „Die im Präsens gesprochene Schlußzeile bietet dem Verständnis eine Schwierigkeit, die, auf die eine oder andere Weise gelöst, auch zur Entscheidung über die Rolle führt, in der diese Strophe gesungen wurde.“

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Minneverhältnis zwischen einem hier sprechenden weiblichen Text-Ich und dem Ritter (Minnethematik), (2) das Auftreten des Text-Ichs als Herrscher/Herrscherin (Herrschaftsthematik), (3) die Begegnung des Text-Ichs mit einem Sänger, der in Kürenbergers wîse singt (Sangesthematik).87 Welchen Konnotationshintergrund die Interpreten jeweils bevorzugen, hängt vor allem mit dem Rezeptionskontext (Wechsel zusammen mit Strophe C12?) zusammen sowie mit der Auslegung des Verbs genieten und des vierten Verses insgesamt, auf dessen Ambivalenz immer wieder hingewiesen wird, wobei jedoch keine eindeutige Festlegung möglich ist. Bereits die Auffassung des Modalverbs bereitet Schwierigkeiten.88 Bei einer Übertragung ins Neuhochdeutsche ist eine Bedeutungsfestlegung durch eine Konkretisierung mit müssen/können/sollen etc. notwendig, wobei graduell Abstufungen möglich sind, was wiederum Auswirkungen auf den Aussagemodus hat: Verhält sich das Text-Ich herrisch oder bringt es lediglich einen Wunsch zum Ausdruck? ‚Muss‘ oder ‚soll‘ der Ritter ‚verschwinden‘ oder ‚sich lediglich zurückziehen‘? Im zweiten Versteil findet sich nun das vielbesprochene genieten. BMZ schlagen als Übersetzung für den Abvers vor: »er muss mein werden und mit ihm muss ich die freuden der liebe pflegen« (II/1, S. 349). Kuhn interpretiert den Ausdruck noch sehr viel eindeutiger mit »oder ich will meine Lust mit ihm haben.« Beide Übersetzungen konkretisieren sehr einseitig, was dem mittelhochdeutschen Wortlaut jedoch nicht gerecht wird, da der Ausdruck genieten durch eine gewisse semantische Offenheit gekennzeichnet ist, die eine eindeutige Auslegung der Textstelle verhindert. Die konkrete Auflösung im Sinne eines sexuellen Verlangens des Sprecher-Ichs nach dem Ritter erfolgt meist vor dem Hintergrund der als unmittelbare Anknüpfung verstandenen Strophe C12. Die Forschung spricht hier von einer misogynen Anspielung, „die der Frau eine beständige Bereitschaft zur Sinnlichkeit und mangelnde sittliche Kraft unterstellt.“89 Die Lesart von BMZ und Kuhn verweisen auf

87 Auch Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 398, schließt unter Betonung der Sangesthematik: „Die Thematisierung von Autorschaft ist dabei an einen Liebes- und einen Herrschaftsdiskurs geknüpft und profiliert auf raffinierte Weise die hohe artistische Kompetenz des Künstlers.“ 88 Vgl. zur Verwendung des Modalverbs Drumbl, Fremde Texte, S. 101: „Ein zweites Interpretationsproblem stellt das Modalverb dar. Das System der Modalverben ist im Nhd. neu strukturiert worden und nhd. ‚müssen‘ entspricht daher nicht einfach mhd. ‚müezen‘; in unserem Beispiel ist zudem der vom Modalverb in den Satz eingebrachte Bedeutungsfaktor verbunden mit der semantischen Opposition zwischen den zwei Sätzen, die durch ‚alder‘ und Parataxe ausgedrückt ist, im Nhd. aber sprachlich präziser gefaßt wird, wie in entsprechenden anderen Fällen von Satzgefügen.“ Vgl. auch Paul, Grammatik, S. 272: „müezen hat mit durfen/dürfen in seiner semantischen Entwicklung den Platz getauscht, insofern als es urspr. ‚können, dürfen‘ bedeutete und heute die Notwendigkeit einer Handlung angibt. Das Mhd. kennt beide Verwendungsweisen. müezen kann außerdem zur Umschreibung des Futurs und zum Ausdruck des Wunsches gebraucht werden […].“ 89 Vgl. Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 50: „[…] Diese Einschätzung weist sie [das weibl. Text-Ich, Ergänz. S.R.] ausdrücklich ab.“ Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 56, spricht gar im

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ein weibliches Text-Ich, welches sein erotisches Temperament nicht unter Kontrolle zu halten vermag und bei einem weiteren Verweilen des Ritters diesen nicht (körperlich) von sich fernzuhalten wüsste – eine Lesart die dem Strophenschluss eine durchaus unterhaltende Pointe abgewinnt. Die Textstelle ließe sich dann in diesem Sinne konkretisieren: Er muss auf mein Geheiß unbedingt das Land verlassen, denn andernfalls kann ich mein (sexuelles) Verlangen nach ihm nicht mehr bändigen und stürze mich auf ihn! Die sehr direkte Thematisierung einer Liebeserfüllung durch ein weibliches Text-Ich ist in den frühen Liedern darüber hinaus recht verbreitet90 und auch die Konnotation des CB 177 deutet in diese Richtung, aber dennoch erlaubt die Strophe aufgrund der Gegensätzlichkeit des konnotativen Potentials hier keine Festlegung. Schweikle übersetzt deshalb zurecht: »Der muss meine Lande räumen, es sei denn, ich erfreue mich seiner.«91 Hier bleibt der Schluss auch im Neuhochdeutschen offener, da u. a. ein Bezug auf die Sangesthematik möglich ist.92 Die Formulierung in Kürenbergers wîse könnte als Begründung hierfür herangezogen werden.93 Auch die Auffassung des alder im Sinne eines »sei denn dass«

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Hinblick auf rîter und „Dame“ von einer „Angst“ letzterer, „sich desselben zu genieten“. Wird das weibliche Text-Ich jedoch wirklich als so willensschwach dargestellt, dass es seine Begierde nicht zügeln könnte? Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 50f., schließt auf ein Modell ethischmoralischer Erziehung, welches er aus der Strophe ableitet: „Diese Korrektur eines konventionellklerikalen Frauenbildes erfolgt im Namen einer neuen höfischen Ethik, die beide Geschlechter betrifft“ (ebd., S. 51). Dass die Kürenberger-Strophen als Widerspiegelung einer Diskussion über Distanz und Nähe in der mittelalterlichen Mann-Frau-Beziehung zu verstehen sind, engt deren Bedeutungsoffenheit jedoch zu sehr ein. Sie begegnet u. a. auch in den namenlosen Liedern. Vgl. z. B. Strophe MF 6,5: ‚Mir hât ein ritter‘, sprach ein wîp, / ‚gedienet nâch dem willen mîn. / ê sich verwandelt diu zît, / sô muoz ime doch gelônet sîn. / Mich dunket winter unde snê / schoene bluomen unde klê, / swenne ich in umbevangen hân. / und waerz al der welte leit, / sô muoz sîn wille an mir ergân.‘ Schweikle, Die frühe Minnelyrik, S. 119. Vgl. Ehlert, Ablehnung, S. 291f.: „Wodurch dies ‚erfreuen‘ bewirkt wird, bleibt in der Strophe nämlich offen: Dem Publikum ist hier Raum für Vermutungen gegeben. Diese Offenheit hat die Interpreten der Neuzeit mit ihrem am Minnesang ausgerichteten Erwartungshorizont (und mit ihrer Vorentscheidung darüber, dass 8,1 und 9,29 ein Wechsel sei) dazu verleitet, hier ausschließlich Minnesangkonnotationen zu suchen und folglich die Beziehung, welche in dieser Strophe vom Ich gewünscht wird, als Minnebeziehung aufzufassen.“ Vgl. auch Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 58: „Der Zinnenwechsel spielt mit der Vorstellung der Liebeserfüllung, ohne von ihrem Vollzug zu sprechen. Alle wissen (und stellen sich wohl gerne vor), was aus der Begegnung des Sängers mit der Dame an der zinne zu resultieren droht, was passieren würde, wenn der Ritter das Land nicht rûmen würde.“ Vgl. auch Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 398, der sich für die Fiktionalisierung der Sängerrolle in dieser Strophe interessiert: „Der Text delegiert das Lob seines Verfassers in die distanzierte Rollenrede einer Frau. Das weibliche lyrische Ich – hier abweichend von den üblichen Inszenierungen nicht passiv und abwartend, sondern aktiv und fordernd – setzt insofern narrativ die künstlerische Exklusivität des Kürenbergers in Szene, als seinem Gesang erhebliche Bedeutung zugemessen wird.“

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gewinnt dem Vers eine weitere mögliche Bedeutungsnuance ab, liegt doch in der gewählten neuhochdeutschen Formulierung eine untergründige Forderung: … es sei denn, ich erfreue mich seiner (seiner selbst oder seines Gesanges?) weiterhin (was mein Wunsch ist und weshalb ich ihn unter Druck setze). Ehlert warnt ebenso unter Rückgriff auf BMZ vor einer zu eindeutigen Auflösung des Ausdrucks: „sich nieten mit Genitiv heißt aber zunächst: Eifrig um etwas bemüht sein, wobei der Gegenstand angenehmer Art (etwas genießen, Vergnügen daran haben, sich daran erfreuen) oder unangenehmer Art sein kann (etwas ertragen, erdulden).“94 Letztere Bedeutung wäre für die vorliegende Strophe ebenfalls denkbar und würde dieser ebenfalls eine ironische Abschlusspointe verleihen: Er muss verschwinden, oder ich muss ihn (ihn selbst oder seinen Gesang?) weiterhin ertragen! Diese Auslegung ließe sich erneut – nun als selbstironischer –  Hinweis auf die Sangesthematik beziehen.95 Reuvekamp-Felber verdeutlicht in seiner Untersuchung, wie der poetologische Diskurs mit der Minne- und darüber hinaus der Herrschaftsthematik verknüpft werde: „sîn zu genieten, bezieht sich gerade nicht ausschließlich auf die Musik, sondern auf die Person des Sängers, der nicht nur als Künstler hervorgehoben erscheint, sondern im Wunsch der vrouwe, über ihn verfügen zu können, im Kontext der Minnelyrik auch als Liebhaber.“96 Er spricht von einer symbolischen Raumdarstellung, in der er „die Macht- und Rangstellung der wohl als Landesherrin gezeichneten weiblichen Rollenfigur“ erkennt, die gleichzeitig als „machtbewusste Potentatin“ den Ritter als Künstler begehre.97 Die Herrschaftsthematik wird vor

94 Ehlert, Ablehnung, S. 291 (Verweis auf BMZ II/1, S. 348f.). 95 Einer eindeutigen Deutung entgegen wirkt auch die Verwendung bzw. Nicht-Verwendung von Modalverben im Mittelhochdeutschen im Unterschied zum Neuhochdeutschen, weshalb hier die Übersetzung mit einem Modalverb möglich ist oder auch nicht. Vgl. Drumbl, Fremde Texte, S. 101 (sowie oben Anm. 77), der ebenfalls die Übersetzungsschwierigkeiten betont, die sich aus dem mit „alder“ eingeleiteten zweiten Versteil ergeben: „Wenn wir aber einmal das Prinzip akzeptieren, daß im Nhd. ein Modalverb verwendet wird, wo im Mhd. keines verwendet wurde, dann wird die bisher immer unproblematisch behandelte Bedeutungsstruktur des ganzen Satzes fragwürdig. Der Satz am Ende der Strophe kann dann – korrekt übersetzt und ohne jeden vorbestimmten interpretierenden Eingriff! – ganz anders verstanden werden, als er bisher immer verstanden wurde: ‚Wenn er mir nicht die Lande räumt, dann muß ich ihn ertragen.‘“ Drumbl deutet hier recht konkret: „In diesem Fall spricht offensichtlich ein Sänger-Konkurrent, und der Sinn der Strophe ist – sollte der Kürenberger selbst gesungen haben – ganz klar die Selbstanpreisung des Sängers und Komponisten, der (wie es später auch Walther von der Vogelweide machen wird) in die Rolle eines weniger begabten Konkurrenten schlüpft, um den eigenen Wert als Sänger zu unterstreichen.“ 96 Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 399. Vgl. auch Ehlert, Ablehnung, S. 292: „Der Gesang des Ritters in Kürenbergs Weise gefiel dem von fern zuhörenden Ich so sehr, dass es daraus die Konsequenz zieht, der Sänger müsse die Gebiete verlassen, in denen das Ich herrscht, oder aber es (weiter) erfreuen.“ 97 Reuvekamp-Felber, Fiktionalität, S. 399. Vgl. auch ebd.: „In der räumlichen Konstellation – sie oben vereinzelt und allein an der Zinne stehend, der Sänger als Bestandteil der wohl unterhalb der

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allem auch vor dem Hintergrund der Strophe C12 angeführt, ist jedoch bereits in C4 angelegt98 : „daz / diu lant rûmen als terminus technicus des Kriegshandwerks bezeichnet sowohl das freiwillige als auch das erzwungene Zurückweichen von einem Ort (mit oder ohne Dativ der die Entfernung erzwingenden Person)“.99 Die Offenheit, mit welcher der Rezipient hier konfrontiert wird, werde laut Ehlert noch verstärkt durch den Wechsel ins Präsens.100 Gerade hierin scheint ein Spezifikum dieser Strophe und insbesondere des Versschlusses zu liegen, der keine eindeutige Auslegung zulässt. Bezüge zu den umgebenden bzw. weiteren Strophen des Corpus sind punktuell möglich, schöpfen das Konnotationspotential der Strophe jedoch nur bedingt aus. Vor diesem Hintergrund führt Vizkeletys Fazit seiner Untersuchung zum Budapester Fragment weiter101 : „Sie [die Parallelüberlieferung] beweist, dass man in diesem Raum und zu dieser Zeit (oder bereits früher) diesen Strophen nicht ein nur antiquarisches Interesse entgegenbrachte, sondern dass man auch um ein Textverständnis bemüht war.“102 Die mehrdeutige Textstelle des

Dame gedachten Menschenmenge – spiegelt sich die intendierte vertikale Ordnung von weiblichem lyrischen Ich und Ritter wider.“ 98 Boll, Alsô redete, S. 163, beschreibt vor dem Hintergrund der Strophe C12 „das von der Frau intendierte und vom Mann zurückgewiesene Liebesverständnis“ wie folgt: „Dieses fußt nicht auf freiwilligem Einverständnis, sondern gleicht eher einer gewalttätigen Eroberung von Seiten der Frau. Flieht der Ritter nicht, so nimmt sie ihn einfach in ihre Gewalt.“ Vgl. ebenso Kasten, Lyrik, S. 589: „Die im Wechsel artikulierte Kritik wendet sich offensichtlich gegen das dem Frauendienst zugrundeliegende, nach dem Muster der Vasallität konstruierte Paarmodell (Erhöhung der Frau zur ‚Herrin‘, Stilisierung des Mannes als ‚Diener‘, als ‚Vasall‘); sie wendet sich gegen die geforderte Unterordnung des Mannes unter den Willen der Minnedame und gegen das an ihn gerichtete Postulat der sexuellen Zurückhaltung, das durch die der Frau zugesprochenen Forderungen ad absurdum geführt werden soll.“ 99 Ehlert, Ablehnung, S. 292, welche ebd. vor diesem Hintergrund Schweikles Übersetzung im Hinblick auf dessen Auffassung des „mir“ kritisiert und den durch den Vers betonten Aspekt der Herrschaft hervorhebt: „Indem Schweikle den dativus commodi des ersten Halbverses in seiner Übersetzung zum Possessivum werden lässt […], verschiebt er den Akzent, den der mittelhochdeutsche Text auf die Verfügungsgewalt über die Person setzte, auf die Herrschaft über die ‚Lande‘. […] Das Ich kann also als eine Person identifiziert werden, die in diesem Sinne Herrschaft ausübt.“ Denkbar wäre jedoch auch eine Auffassung als dativus ethicus, wodurch ein besonderes persönliches Interesse des in dem Satz sprechenden Ichs an dem Verlassen des Landes durch den Angesprochenen zum Ausdruck gebracht würde. 100 Ehlert, Ablehnung, S. 290f.: „Aus dieser Erinnerung wird im Augenblick des Sprechens ein in die Gegenwart, ja die Zukunft hineinweisendes Resümee gezogen, im Halbvers 8,7 durch ein Modalverb im Präsens mit Infinitiv, im Halbvers 8,8 je nach der Interpretation des Verbs entweder durch Präsens pro futuro (zu genieten) oder durch ein Futur bezeichnendes Präfix ge- (zu nieten) angezeigt“. 101 Zit. n. MF, S. 464. 102 Vizkelety, Die Budapester Liederhandschrift, S. 407.

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Verses 4 nach C ist hier ersetzt, da das Text-Ich eindeutig als maget bezeichnet wird103 : ch stuont naechten spate an einer zinne. do hort ich einen / ritter vil wol singen. in chvrenbergere wise mir enwer / de der lip sin. er muoz mir daz lant rovmen sprach [d]az mage / din.

Aufgrund der genaueren Bestimmung des weiblichen Text-Ichs scheint die Strophe in der Tat zunächst ein wenig an Offenheit zu verlieren, wird doch hierdurch beispielsweise die Frage, ob es sich möglicherweise um eine Landesherrin handelt, negativ beantwortet.104 Dennoch sind derartige Überlegungen auch in der Bu-Version von Bedeutung, da sich die vermeintliche ‚Identität‘ des Text-Ichs erst am Ende der Strophe klärt, sodass sich derartige Fragen bei einem chronologischen Strophen-Durchgang durchaus stellen. Des Weiteren fällt zwar der Begriff des genieten weg, aber dafür findet sich eine veränderte Formulierung im dritten Vers: mir enwerde der lip sin lässt sich hier als exzipierender Nebensatz zu Er muoz mir diu lant rûmen auffassen. So übersetzt Brunner: »Wird er mir nicht zuteil, muß er mir das Land verlassen«105 . Boll sieht den „im Verb sich genieten mitschwingende[n] aktive[n] Handlungsimpetus“ hierdurch abgeschwächt; stattdessen sei „die Forderung der Sprecherin in Bu eher passiver Natur“106 ; der „herrische Charakter“, den man der Frau in C abgewinnen könnte, verliere „etwas an Schärfe“107 . Gleichwohl findet sich in Bu ebenfalls die Formulierung muoz mir daz lant rovmen, welche – wenn auch in abgeschwächter Form – ein gewisses Selbstbewusstsein des hier sprechenden Text-Ichs zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus ließe sich spekulieren, wie genau beispielsweise das Adjektiv lip in diesem Zusammenhang zu konkretisieren ist – gerade wenn von einer maget die Rede ist.108 Dem von Vizkelety hervorgehobenen Bemühen um ein Textverständnis in der Bu-Version ist somit zustimmen, aber offene Fragen, die sich bei dem Durchgang durch die C-Version aufgedrängt haben, bleiben weiterhin bestehen.

103 Zum Begriff der maget vgl. Schweikle, Die frouwe der Minnesänger, S. 99 (er geht hier u. a. auf die maget als „unverheiratetes Mädchen“ ein); Lexer I, Sp. 2008: „jungfrau, bes. die jungfrau Maria […] unfreies Mädchen […] dienende jungfrau einer vrouwe, dienerin, magd“. 104 Schweikles Übersetzung wird hierdurch unterstützt. 105 Brunner, S. 33. Vgl. auch ebd., S. 198: „In Bu erscheint die Situation abgemildert: hier begegnet am Schluss als Sprecherin ein Mädchen, der Landesverweis ist kein Befehl, sondern eher ein Wunsch.“ 106 Boll, Alsô redete, S. 166. 107 Ebd., S. 173. 108 Pastourellenkonnotationen drängen sich auf, wenn man beispielsweise auch die Strophe C6 (Swenne ich stân aleine) oder besagtes CB 177 Stetit puella berücksichtigt.

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Zahlreiche Interpreten beziehen nun die Strophe C12 direkt auf C4. So liest Müller aufgrund der Wortresponsionen den Aufbruch des Ritters in C12 als Reaktion auf die Forderung des weiblichen Text-Ichs in C4.109 Die Strophe wird somit vorgezogen, um eine Wechsel-Struktur herzustellen. Ein männliches Text-Ich bittet sein Gegenüber – vermutlich ein Knappe – ihm sein Pferd und seine Rüstung zu bringen, da er einer Dame aus dem Weg gehen müsse (muoz … rûmen). Sie wolle ihn dazu zwingen, ihr zu gehören (holt sî); seine Liebe werde sie jedoch niemals bekommen. Die im Minnesang häufig begegnende Konstellation eines um Erhörung bittenden Mannes ist hier in ihr Gegenteil verkehrt, da der Ritter vor der Herrin die Flucht ergreift, obwohl sie ihm eine Liebeserfüllung gewähren zu wollen scheint.110 Schmid spricht im Hinblick auf beide Strophen von einer „parallelistischen Gestaltung“ und verdeutlicht dies sehr eindrücklich anhand zahlreicher Beobachtungen zur Textstruktur.111 Sie legt zudem dar, wie das eigentliche Thema der als Wechsel interpretierten Strophenkombination, die minne, bis zum Ende aufgespart wird (C12, V. 4)112 , wobei mit der Perspektivierung der Aussagen vor allem im Hinblick auf eine herrendienstliche Ebene – welche zunächst in C12 zu dominieren scheint – und minnethematische Sprechebene gespielt wird.113 Inhaltlich ist unter

109 Vgl. Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 55f.: „In der Männerstrophe (MF 9,29) geht der Sänger auf die Forderung der Dame, das Land zu rûmen, ein und verhindert so die von ihr offensichtlich befürchtete Eskalation. Die Situation ist gekennzeichnet durch eine Grenze, über die hinweg kommuniziert wird. Und das Problem scheint zu sein, dass diese Grenze durchlässig zu werden droht.“ 110 Boll, Alsô redete, S. 172, lehnt diese Sichtweise ab, da im Hinblick auf den Kürenberger von anderen Voraussetzungen auszugehen sei: „Die Rollen zwischen Mann und Frau sind im Blick auf die Liebeskonzeption des Hohen Minnesang keineswegs ‚vertauscht‘, da in den Kürenbergliedern ein vollkommen anderes Liebesverständnis als im Hohen Sang artikuliert wird. Mann und Frau befinden sich in einer vom Hohen Sang grundverschiedenen Ausgangssituation: Basis ist die gemeinsame Liebe und ihre Gefährdung durch die Umwelt.“ Problematisch an dieser Argumentation erscheint jedoch die hieraus ableitbare Annahme eines fest definierten „Liebesverständnisses“. Von einer „grundverschiedenen Ausgangssituation“ zu sprechen, ist ebenso zu hinterfragen, da aufgrund der Gegensätzlichkeit der dargestellten Situationen und der vielfältigen Deutungsmöglichkeiten kein klar zu fassendes Konzept, sondern eher eine Diskussion um Minne bzw. Liebe aus dem Corpus des Kürenbergers abzuleiten ist. 111 Schmid, Lieder, S. 43–54, analysiert sehr detailliert die zahlreichen Responsionen innerhalb der Einzelstrophen und insbesondere die Korrespondenz zwischen den Strophen C4 und C12. Sie beobachtet u. a. eine „Klammerfunktion“ der Eingangs- und Schlussverse (S. 38 u. 41) und spricht ebd., S. 44, von einer „präzisen Parallelschaltung“ und „wechselseitigen Verknüpfung der Schlussverse“. Vgl. außerdem ebd., S. 26. 112 Vgl. ebd., S. 41: „Bis zuletzt hat der Kürenberger gewartet, das auch klanglich so wirksame und in Alliterationen und Assonanzen eingebettete Themawort zu bringen […]. Eine deutlichere Schlussbeschwerung lässt sich nicht wünschen.“ 113 Ehlert, Ablehnung, S. 294, weist auf diese Doppeldeutigkeit der Terminologie anhand des Adjektivs holt hin, welches zunächst „herrendienstlich“ zu verstehen sei und erst „im Nachhinein mit

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Annahme eines direkten Zusammenhangs mit Strophe C4 jedoch u. a. zu überlegen, inwiefern die Formulierung holt sîn als eine Konkretisierung des genieten in Strophe C4 aufgefasst werden kann. Angenommen, dass die in C4 sprechende Frauenfigur tatsächlich einen Drang zur Erfüllung sexueller Lust zum Ausdruck brächte, ist die vom Ritter gewählte Formulierung des »ergeben zu sein« eine doch recht vage Bezugnahme auf den letzten Vers der Strophe C4, es handelt sich jedenfalls um eine andere Ausdrucksebene. Auffällig ist hierbei vor allem – wie Kasten beobachtet – das verwendete Vokabular aus dem Bereich „Macht und Herrschaft“114 , welches neben einer Dienstbereitschaft mit dem Adjektiv holt gar die Ebene der Leibeigenschaft konnotiert.115 Auch angesichts der Formulierung si muoz der mîner minne iemer darbende sîn ist kritisch zu fragen, ob sich der durch diese Aussage unterstellte Liebeswunsch der Dame tatsächlich aus C4 ableiten lässt – gerade vor dem Hintergrund der Mehrdeutigkeit des Strophenschlusses in C4. Es ließe sich sogar fragen, ob nicht durch das Vorziehen der Strophe C12 die Strophe C4 in eine bestimmte Deutungsrichtung gedrängt wird, jedenfalls C4 seiner Deutungsoffenheit beraubt ist. So betont Boll im Hinblick auf die Vielschichtigkeit des Ausdrucks genieten, dass erst die Reaktion des Mannes Klarheit über die Beweggründe der Frau bringe.116 Eine solche Einschränkung der Mehrdeutigkeit der Strophe ist in den Texten jedoch möglicherweise überhaupt nicht angelegt. Ehlert zufolge erlaube die „späte Determinierung der Herrendienstebene zur Konnotation […] ein doppelsträngiges Verstehen beider Strophen sogar unter Einschluß der letzten Zeile [bezogen auf C12, V. 4], weil das Bewußtsein der Rezipienten dafür wach gehalten

minne identifiziert“ werde, und schließt: „In dieser Strophe wird also gespielt mit der Eigenheit der Minnedienstterminologie, das Verhältnis der von solchem Minnedienst Betroffenen mit der Begrifflichkeit des Herrendienstes zu fassen.“ Vgl. ebd., S. 300. Vgl. auch das Lemma zu holt in u. a. Lexer I, Sp. 1327f.: »gewogen, günstig, freundlich, liebend […] dienstbar, treu«. 114 Vgl. Kasten, Frauendienst, S. 214: „Unbestreitbar verweisen die Begriffe holt sîn, betwingen, geniezen nicht nur auf den Bereich der Liebe, sondern auch auf den von Macht und Herrschaft, und ganz offenkundig spielt der Kürenberger auf beide Bedeutungsebenen an.“ Vgl. außerdem Krohn, Begehren, S. 126: „rûmen diu lant ist ein Rechtsbegriff, der in mittelalterlichen Texten mehrfach Verwendung findet; betwingen gehört in den Bereich der juristischen Sprache und erscheint entsprechend auch im Lehnsrecht; und auch holt, häufig als Bezeichnung für erotische Geneigtheit verwendet, konnte daneben – dem zeitgenössischen Zuhörer unverkennbar – auch als Ausdruck der Vasallität verstanden werden.“ Vgl. außerdem das Lemma zu „rûme“ bei BMZ II/1, S. 791. 115 Ich danke Ursula Peters für diesen Hinweis. 116 Vgl. Boll, Alsô redete, S. 163, Anm. 40: „der Gegenstand, nach dem verlangt wird, kann dabei angenehmer oder unangenehmer Natur sein im Sinne von ‚sich etw. erfreuen oder etw. leiden, ertragen müssen‘ (vgl. Lexer II 79 […]) In der Frauenstrophe ist das genieten in seiner Bedeutung noch sehr ambivalent. Erst die Reaktion des Mannes bringt Klarheit über die Beweggründe der Frau.“

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wird, daß hier mit der partiellen Kongruenz von Herrendienst- und Minnedienstterminologie gespielt wird.“117 Sie geht daher von einem Spiel „mit der Eigenheit der Minnedienstterminologie“118 aus und distanziert sich von Deutungsansätzen, die versuchen, eine eindeutige Textaussage aus den Strophen herauszulesen.119 Es bleibe vorläufig unentschieden, „welches der beiden Konzepte – der Herrendienst oder der Minnedienst – denotativ und welches konnotativ angesprochen ist.“120 Diese Beobachtung einer „Mehrschichtigkeit der Minnedienstterminologie“ (s. oben Anm. 119) ist für ein angemessenes Verständnis der Strophen grundlegend, wobei jedoch etwas deutlicher darauf hinzuweisen ist, dass diese Mehrdeutigkeit von Anfang an besteht: Durch das Bild des auf der Zinne stehenden Burgfräuleins – wenn auch nicht so eindeutig konkretisiert – wird ein eindeutiger Minnebezug hergestellt, der ohnehin durch den unmittelbaren Strophenkontext bereits besteht (vgl. Str. C3). Gleichzeitig wird auch in C4 mit dem Begriff des rûmen der Bereich „Herrschaft und Macht“ abgerufen. Unabhängig von der Frage, ob die Strophen C4 und C12 nun in einem direkten Zusammenhang zu rezipieren sind121  – was die handschriftliche Überlieferung ja gerade nicht nahelegt122  – zeigt sich, dass sich das „Spiel mit der Mehrschichtigkeit der Minnedienstterminologie“ (s. oben Anm. 119) auch und gerade innerhalb einzelner Strophen wiederfindet. Ohne den Einbezug der Strophe C12 – welche die Minnethematik am Ende explizit macht – sieht sich der Rezipient der Strophe mit unterschiedlichen Konnotationsebenen konfrontiert ohne eine eindeutige Möglichkeit der Konkretisierung. Eine Umstellung einzelner Strophen scheint diesem Ansatz gerade entgegenzuwirken, weshalb zu überlegen ist, ob nicht die Überlieferungssituation selbst bei der Betrachtung der jeweiligen Strophen ernster zu nehmen ist, zumal sich im unmittelbaren Strophenkontext zu C4 ebenfalls sprachliche Parallelen finden. So knüpft die auf C4 folgende Dialogstrophe C5 an den narrativen Sprechgestus der ersten Verse von C4 an, der reflektierende Modus eines Text-Ichs findet sich hier nicht: Das Text-Ich greift wortwörtlich Formulierungen der vorangegangenen Strophe auf. Doch bereits der Anfang des Verses ist erweitert durch die bekräftigende Interjektion jô – was ein erster Hinweis auf ein anderes Register zu sein

117 Ehlert, Ablehnung, S. 299f. (Ergänzung in eckigen Klammern durch S.R.). 118 Ebd., S. 294. 119 Vgl. ebd., S. 295: „Die vermeintliche Eindeutigkeit, welche der letzte Vers insinuiert, hat nun aber verhindert, die bis zum Vers 9,31/32 bestehende Mehrdeutigkeit beim Wort zu nehmen und mehr in ihr zu sehen, als ein nur auf endgültige und eindeutige Festlegung hintendierendes Spiel mit der Mehrschichtigkeit der Minnedienstterminologie, hat verhindert, dass der in dieser Mehrdeutigkeit angelegte Rückverweis auf den Herrendienst herausgehört werden konnte.“ 120 Ebd., S. 299. 121 Vgl. Schilling, Performanz, S. 254. 122 Im Budapester Fragment ist darüber hinaus die Strophe C12 nicht enthalten.

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scheint (darüber hinaus sind Subjekt und Prädikat vertauscht: C4: Ich stuont – C5: stuont ich).123 Gleichzeitig entsteht der Eindruck, als versuche das Text-Ich den Aussagesatz aus C4 ein wenig zu überbieten. So wird die Interjektion jô gerade beim Aus- und Zuruf verwendet, was möglicherweise auch einen Hinweis auf eine veränderte Artikulation des die Strophe vortragenden Sängers gibt. Zugleich stellt sich hier erneut die Frage: Wo stand das Text-Ich? Mit dem Pronomen dînem erfolgt die Hinwendung an ein Gegenüber, was – gerade im Anschluss an die Strophe C4 – eine weitere Überraschung bedeutet, handelt es sich doch innerhalb des Tons II um das erste Pronomen in der zweiten Person. Der kundige Rezipient könnte nun zunächst an den in der frühen Lyrik verbreiteten Wechsel denken, der ja die direkte Hinwendung an ein Gegenüber kennt, ohne dass dieses als tatsächlich anwesend vorzustellen sein muss. Doch auch in der einzelnen Monolog-Strophe findet sich die Hinwendung an eine vrouwe, wobei eine derartige Ansprache im frühen Minnesang nicht sehr verbreitet ist.124 Dennoch ist gerade auch in dieser Phase nicht von vornherein davon auszugehen, dass die Verwendung eines Pronomens der zweiten Person sogleich auf einen Dialog hindeutet, von einer Vertrautheit des Publikums mit der Hinwendung an ein imaginiertes Gegenüber ist auszugehen. Wenn man nun die Ergänzung bette hinzunimmt, entsteht eine weitere – und vermutlich die wirkungsstärkste – Irritation, handelt es sich doch um ein Wort, welches in MF kein weiteres Mal begegnet und eine erotische Thematik nicht nur konnotativ abruft – die explizite Erwähnung des Betts an sich als Ort der erotischen Begegnung zwischen Mann und Frau überrascht. Im späteren Minnesang begegnet der Begriff dagegen häufiger, u. a. bei Walther und vor allem Johannes Hadlaub.125 Im zweiten Vers nun entpuppt sich das angesprochene Gegenüber als vrouwe, wodurch weitere Irritationen entstehen: Zunächst wird nun zweifellos klar, dass es sich um ein männliches Text-Ich handelt, was insofern überrascht, als die beiden vorangehenden Strophen einer weiblichen Stimme in den Mund gelegt sind – wenn dies auch für

123 Vgl. Kössinger, Stimmen und Stimmungen, S. 107. 124 Sie begegnet beim Kürenberger in Strophe C11 (MF 9,21) sowie bei Dietmar von Eist, MF 36,34: Vrouwe, mînes lîbes vrouwe. 125 Erwägenswert wäre an dieser Stelle möglicherweise auch, ob ein unterhaltsames Moment durch den Gleichklang mit bete – »Bitte« entstehen könnte, ein Wort, welches sehr viel verbreiteter ist und letztendlich das Verlangen einer Liebeserfüllung des Text-Ichs zum Ausdruck bringt, welches in der hier vorliegenden Strophe durch das männliche Text-Ich in den folgenden Versen aber ja gerade nicht artikuliert wird. In Kraus’ Liederdichtern findet sich der Ausdruck zwei Mal, jedoch nicht im Kontext einer solch intimen Begegnung wie hier beim Kürenberger. Imaginiert wird ein solches Zusammenkommen lediglich bei Reinmar von Brennenberg, KLD 44, IV: swie müede ich bin, sô lât sie mich des nahtes niht entslâfen. / sô ist mir wie daz sie vor mînem bette stê: / swann ich ûf blicke, so ist si hin, sô schrît mîn herze ‚wâfen […]‘ (XIV,2–4). Besonders beliebt ist der Ausdruck dagegen bei Johannes Hadlaub, der das Bett in sehr expliziter Form in seine Lieder einbaut. Des Weiteren findet sich das Wort zweimal in Walthers „Lindenlied“.

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Strophe C4 nicht durch grammatikalisch-lexikalische Hinweise eindeutig bestätigt werden kann.126 Ein Missverständnis besteht nun in dem ‚Aneinander-Vorbei‘ in einer als vergangen geschilderten nächtlichen Situation. Das männliche Text-Ich erzählt, dass es nehtint spâte vor ihrem Bett gestanden habe, sich jedoch nicht getraut habe, sie, die vrowe, zu wecken.127 In den Versen 3f. folgt nun eine Replik eines wîp, das am Ende der Strophe eindeutig durch eine inquit-Formel als solches ausgewiesen wird (sô sprach daz wîp): Gott möge ihn dafür hassen; sie sei doch kein wilder Eber! Das gewählte Register bringt den Ärger der Frau sehr deutlich und direkt zum Ausdruck – vor allem durch das äußerst starke gehazze, welches in MF nicht sehr verbreitet ist und sich in der direkten Hinwendung einer Frau zu einem Mann kein weiteres Mal findet.128 Die Anrufung Gottes wirkt nicht minder deutlich, ähnelt der gesamte Vers doch einer fluchartigen Verwünschung. Besonders das Bild des Ebers bereitet nun Deutungsschwierigkeiten: Zunächst einmal bringt die Frau sehr deutlich zum Ausdruck, dass ihr das nächtliche Verhalten des Mannes missfällt. Er hätte sich folglich in der geschilderten Situation anders verhalten müssen, was bedeutet, dass er sie hätte wecken sollen. Nun stellt sich jedoch die Frage, wodurch sich die Falschheit dieses ‚Nicht-Weckens‘ begründet. Die Aussage der Frau, kein wilder Eber zu sein, erlaubt unterschiedliche Verständnismöglichkeiten. Anzusetzen ist zunächst bei dem in der Literatur des Mittelalters verbreiteten Bild des Ebers. Speckenbach unterscheidet in seiner umfassenden Studie zwischen der germanischen und antiken Tradition einerseits sowie der jüdisch-christlichen Auffassung des Ebers nach Psalm 79,14129 andererseits und weist darauf hin, dass der jeweilige Kontext über die vorliegende Eberauffassung entscheide.130 Während

126 Ergänzend hierzu ließe sich auch anführen, dass sich in der Rede des Mannes klingende Reime finden, im Gegensatz zu den übrigen Mannesstrophen. Vgl. hierzu u. a. Schweikle, Minnelyrik, S. 367. Die bloße Anrede vrouwe fällt auch insofern auf, als sie kein Epitheton enthält – im Unterschied zu Vers MF 10,2 des Kürenberger-Corpus: vrouwe schoene – auch an weiteren Stellen des Corpus sind Anreden meist mit einem Adjektiv versehen (vgl. MF 8,18: ritter edele; MF 9,21: Wîp vil schoene). 127 Zum Motiv des im Angesicht der Dame überwältigten Liebenden vgl. z. B. Reinmar, MF 170,26–28: Maniger zuo den vrouwen gât / und swîget allen einen tac / und anders niemen sînen willen reden lât. Siehe hierzu u. a. auch Schweikle, Minnesang2 , S. 200 (hier werden weitere Belegstellen genannt); Krohn, Begehren, S. 127 sowie ebd., Anm. 52, mit weiteren Literaturhinweisen; Wallmann, Minnebedingtes Schweigen, S. 29–61. 128 Zwei Belegstellen finden sich in der Rede eines männlichen Ichs, welches seine Liebe dem Hass der Frau gegenüberstellt. Vgl. Rudolf von Fenis, MF 81,9: ich minne sî, diu mich dâ hazzet sêre; Reinmar, MF 166,31: sît sî mich hazzet, die ich von herzen minne. In der direkten Hinwendung an ein Gegenüber wirkt der Ausdruck jedoch sehr viel ‚intensiver‘. 129 Speckenbach, Eber, S. 463. 130 Ebd., S. 468: „Grundsätzlich sollte man in einer Dichtung nicht eine einheitliche Eberauffassung nach einer Tradition voraussetzen, bei jedem Beleg muss neu über eine Zuordnung entschieden werden […].“

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im theologischen Diskurs in Anknüpfung an den aper de silva (Ps. 79) dem Eber große Wildheit und Zerstörungswut als Eigenschaften zugesprochen werden und er darüber hinaus mit dem Teufel gleichgesetzt wird131 , spricht Speckenbach auch gleichzeitig von einer „positive[n] Auffassung vom Eber im Umkreis des Kampfes […] in der deutschen Heldenepik und in der frühhöfischen Dichtung“132 . Dennoch beobachtet er auch Gemeinsamkeiten: „Die überwiegende Zahl der deutschen Ebervergleiche bezieht sich auf den kämpfenden, sehr oft auf den sich bei der Jagd verteidigenden Eber.“133 Hieran knüpft Tervooren in seiner Analyse der Kürenberger-Strophe an: Aber gleichgültig, ob Zorn, Herrschaft oder Sexualität angenommen wird, das Bild muss präziser in die Interpretation eingepasst werden. Man müsste zunächst fragen, ob überhaupt eine übertragene Bedeutung zum Verständnis der Stelle nötig ist. Die Jagd auf Eber ist ja deshalb so gefährlich, weil sich der Eber im Gegensatz zu anderen Tieren zur Wehr setzt. Das wissen natürlich die jagderfahrenen Mitglieder einer Adelsgesellschaft und können die Antwort der Dame richtig interpretieren.134

Vor diesem Hintergrund lässt sich sagen, dass die Frau in C5 zunächst einmal darauf hinweist, dass von ihr keine Gefahr ausgehe. Eine erste Deutung des Verses läge somit in der folgenden Aussage: Warum hast du mich nicht geweckt, ich bin doch nicht gefährlich! Ich hätte dich nicht angegriffen (und zu töten versucht), wie dies ein gejagter Eber tut! Hieran anknüpfend stellt sich jedoch zugleich die Frage, wie sich die Frau in besagter Situation verhalten hätte, wenn sie also gerade nicht gekämpft und gewütet hätte. Es bieten sich mehrere Möglichkeiten an: (a) Wenn sie nicht wie ein wilder (triebgesteuerter) Eber reagiert hätte, hätte sie sich in dieser – vor dem gesellschaftlichen Hintergrund unmöglichen – intimen Situation durchaus angemessen zu verhalten – und vor allem zurückzuhalten – gewusst.135 (b) Sie könnte jedoch

131 Vgl. ebd, S. 425–438. Speckenbach, weist ebd., S. 434, in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Eber besonders gefährlich sei, wenn er sich paare. Vgl. ebenso Tervooren, eber, S. 296, der unter Bezug auf den moraltheologischen Diskurs schreibt: „Die spirituellen Eberdeutungen zielen nämlich auf Unzucht, Unkeuschheit, Zügellosigkeit und darüber hinaus natürlich auf die personifizierte Unzucht, auf den Teufel. […] Im Klartext könnte dann die Aussage der Frau heißen: ‚Ich bin doch nicht ein Inbegriff von Unzucht und Zügellosigkeit, ich bin (nur) eine Frau.‘“ 132 Speckenbach, Eber, S. 445. 133 Ebd., S. 459. Vgl. außerdem ebd., S. 449: „Diese verschiedenen Auffassungen berühren sich im Hervorheben der Wildheit des Ebers; wie diese zu verstehen ist, wird meist unterschiedlich beurteilt. […] Im Bewußtsein der deutschsprachigen Dichter erscheint der Eber vor allem als kampfwütendes und starkes Wild, das seine gefährlichen Eigenschaften besonders bei der Jagd entfaltete.“ 134 Tervooren, eber, S. 295. 135 Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 50, erläutert: „Der Eber, mit dem die Dame nicht verglichen werden will, gilt als sexuell aggressives Tier […] Sie sagt also: Ich war doch nicht sexuell

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auch im Gegenteil hierzu zum Ausdruck bringen, dass sie sich nicht verteidigt und ihn – möglicherweise auch sexuell – erhört und keineswegs zurückgewiesen hätte.136 Letztere Deutung ließe sich vor allem aus den Pastourellenkonnotationen der Folgestrophe ableiten. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch einige Hinweis Speckenbachs zum Bild des Ebers für die „unbeugbare, ungnädige Geliebte“137 in der mittelalterlichen Literatur. Vor diesem Hintergrund ließe sich die Aussage in C5 ebenfalls in dem Sinne deuten, dass sich die Frau gerade nicht spröde und abweisend verhalten hätte. Schnell erwägt darüber hinaus ein „Nachsprechen aggressiv, das heißt, du hättest mich ruhig wecken können, du hast meine Verhaltensmöglichkeiten unterschätzt. Sie spielt damit auf die gängige misogyne Anthropologie an, die der Frau eine beständige Bereitschaft zur Sinnlichkeit und mangelnde sittliche Kraft unterstellt. Diese Einschätzung weist sie ausdrücklich ab.“ Tervooren, eber, S. 295, hebt allerdings unter Berufung auf Speckenbach, Eber, S. 476, hervor, dass die Sexualsymbolik beim Kürenberger noch keine Rolle spiele. Aber auch wenn der Eber hier nicht mit sexueller Potenz in Verbindung zu bringen ist, bleibt die von ihm ausgehende zügellose Gefährlichkeit weiterhin bestehen, sodass sich auch im Hinblick hierauf sagen lässt, dass die Frau sich durchaus gesittet zu verhalten und den Mann auf angemessene Weise in seine Schranken zu weisen gewusst hätte. Unter Rückgriff auf den Jagddiskurs verweist Tervooren, eber, S. 297, darüber hinaus auf die Gegensätzlichkeit der Eber- und Falkensymbolik: „Eber- und Falkensymbolik stehen in diesem Diskurs offensichtlich als konträre Positionen, die durch die Merkmale alt vs. modern, âne zuht vs. mit zühten, unhöfisch vs. höfisch beschrieben werden können.“ Dies wiederum würde bedeuten, dass sich die Frau – im Gegensatz zum Eber – in besagter Situation durchaus höfisch zurückhaltend zu verhalten gewusst hätte. 136 Gerade aus dem Hinweis, dass von ihr keine Gefahr, kein Zur-Wehr-Setzen ausgehe, ließe sich eine Bereitschaft zu sexueller Erhörung ableiten: Sie hätte sich gegen den Mann nicht zur Wehr gesetzt. Vgl. hierzu Hensel, Vom frühen Minnesang, S. 39f. Problematisch bleibt im Hinblick auf diese Deutung dennoch die Frage, inwiefern der Eber mit Unkeuschheit verbunden werden kann. Die von Speckenbach angeführten frühen Quellen legen dies nicht vordergründig nahe, wobei eine Gleichsetzung mit dem Teufel auch hierauf hindeuten könnte (s. oben Anm. 131). Angenommen, dass ein solches Verständnis dem Eberbild in dieser Strophe zugrundeläge, würde dies einer Bereitschaft zu sexueller Erfüllung widersprechen, würde doch die Frau betonen, gerade nicht ein sexuell unkeusches Wesen zu sein (vgl. Mertens, Erzählerische Kleinstformen, S. 50). Tervooren, eber, S. 295, gewinnt dem Bild eine weitere unterhaltsame Note ab, indem er einen Bezug zu Wolframs Cundrie herstellt: „Dient der Vergleich der Deskription? Ist er also ein ironisches Lob ex corpore?“ 137 Vgl. Speckenbach, Eber, S. 461: „Schließlich kann sogar die unbeugbare, ungnädige Geliebte mit einem Eber verglichen werden, wie wir es bei Ovid als Bild für die Betrogene kennen.“ Zudem weist er auf eine Stelle bei Artemidor hin: „Der Eber bedeutet […] Landleuten aber wegen der Verheerungen, die er in Pflanzungen anrichtet, Unfruchtbarkeit, und Einem, der sich verheiratet, stellt er ein Weib zur Seite, die dem Manne weder wohl will, noch zu ihm passt.“ (zit. nach Speckenbach, Eber, S. 453). Vgl. außerdem sein Fazit, ebd., S. 462: „Überblicken wir die Fülle der Ebervergleiche in der deutschen Literatur des Mittelalters, so stellt man fest, daß ausnahmslos die Kampfsituation den Bezug hergibt, und nur mit der Einschränkung für Hugo von Trimberg und die Vergleiche der zornigen oder spröden Geliebten mit einem Eber (wohl auch bei den ironischen Brechungen etwa der Lieder im Neidhart-Ton) dienen alle Beispiele der rühmenden Hervorhebung des Kämpfenden.“

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trobadoresker Zitate“138 unter Berufung auf ein Lied Bernhards von Ventadorn.139 Hier dient der Tier-Vergleich ebenfalls dem Hinweis auf die ‚Gefahrlosigkeit‘ der Dame – allerdings expliziter als beim Kürenberger – wenn es aus dem Munde des männlichen Text-Ichs heißt: »Ihr seid doch kein Bär oder Löwe, dass Ihr mich tötet, wenn ich mich Euch ergebe!« Dennoch stellt sich auch hier die Frage, wie genau sich das weibliche Text-Ich verhalten würde, wenn es sich ergäbe. Der Ausgang von C5 zeugt somit erneut von einer Vielschichtigkeit möglicher Deutungsmöglichkeiten, gerade auch in der dialogischen Kommunikationssituation.140 Meist wird die Strophe als bloße Parodie der vorangegangenen Strophe betrachtet.141 Krohn spricht von einer „Travestie des höfischen Frauendienstes“142 und sieht eine Verbindung zur Strophe C4 in dem dominanten Auftreten des weiblichen Ichs, wobei sich an die ein erotisches Begehren zum Ausdruck bringende Bedeutung des genieten anknüpfen ließe.143 Es ist jedoch zu fragen, ob eine einzelne Strophe

138 Schnell, Minnesang I, S. 57. 139 Vgl. PC 70,31: Non es meravelha s’eu chan, Str. VI u. VII, Übersetzung nach Appel, Bernhart von Ventadorn, S. 193: Str. VI: »Wenn ich sie erblicke, ist es wohl sichtbar an meinen Augen, am Gesicht, an der Farbe, denn so zittere ich vor Furcht wie das Blatt vor dem Winde. Ich habe nicht so viel Verstand wie ein Kind haben würde, so unterliege ich der Wirkung der Liebe; und an einem Manne, der so besiegt ist, mag eine Frau wohl große Barmherzigkeit üben.« Str. VII: »Gute Frau, um nichts bitte ich Euch, als dass Ihr mich zum Diener nehmt, denn als einem guten Herrn will ich euch dienen, wie es mir auch mit dem Lohn ergehe. Sehet mich hier zu Eurem Befehl, edles, mildes, fröhliches und artiges Wesen! Ihr seid doch kein Bär oder Löwe, dass Ihr mich tötet, wenn ich mich Euch ergebe!« 140 Vgl. Tervooren, eber, S. 298: „Ebenso kann der Vortragende diese semantische Offenheit des Homonyms durch nicht-verbale Begleithandlungen, durch visuelle Erscheinungen oder durch Pausen, Akzent und Intonation, kurz: durch die Stimme sinnvoll schließen – als moralische Anweisung, als parodistischer Kommentar oder einfach als Spiel und Burleske.“ 141 Schweikle, Minnelyrik, S. 367, spricht von einer „Parodie, die in einer Gesellschaft, die nicht so empfindsam verfeinert war, wie sie manchen Minnesanginterpreten erscheinen mag, durchaus erfolgsträchtig gewesen sein kann.“ Vgl. außerdem ebd.: „Die wörtliche Parallelität der 1. Halbzeile zur vorhergehenden Str. IV soll nach W. Scherer (ZfdA 17, 1874, S. 575[f.]) Anlass für die fälschliche Einrückung der Strophe bei Kürenberg gewesen sein. Man kann die Strophe aber ebensogut als Parodie zur Situation der vorhergehenden auffassen […]“. Boll, Alsô redete, S. 164, thematisiert die Diskussionen um die „Echtheit“ der Strophe, die sich jedoch durch die Entdeckung des Budapester Fragments nicht mehr aufrechterhalten ließen. 142 Krohn, Begehren, S. 126; vgl. ebd., S. 127: „Da wird schon in der Anrede ‚Herrin‘ die Welt des höfischen Frauendienstes beschworen, und auch die beliebte Vorstellung vom überwältigten Liebhaber, dem es angesichts seiner Angebeteten die Sprache und den Mut verschlägt, gehört dem Bereich der provenzalisch geprägten Minnelyrik an.“ 143 Vgl. ebd., S. 127: „Noch in ihrem drastischen Dementi bleibt der Herrschaftsanspruch der vrouwe spürbar, der hier freilich wiederum (wie schon in MF 8,1) in die Nähe übergroßer sexueller Begehrlichkeit gerückt und durch die Unangemessenheit seiner Formulierung lächerlich gemacht wird.“

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des Corpus als bloße Parodie abgetan werden kann, wird sie doch in einer Reihe von Strophen präsentiert, die im Hinblick auf Wortwahl und Motivik eng verknüpft sind. Kasten geht davon aus, dass die Strophe C5 den Wechsel vermutlich nicht parodiere, „sondern seinen komischen Effekt variierend zu wiederholen und zu verdeutlichen sucht, denn auch hier ist das Thema sexuelles Begehren und seine Frustration“144 . An die Situation der Strophe C4 wird insofern angeknüpft, als hier von den drei herausgearbeiteten Thematiken (Minne, Herrschaft, Sang) vor allem die Minnethematik aufgegriffen wird und eine vermeintliche Konkretisierung des dort dargestellten Minneverhältnisses erfolgt. Die dargestellten Situationen gehen jedoch nicht nahtlos ineinander über; die gewählten Register unterscheiden sich deutlich voneinander. Das Text-Ich der Strophe C4 äußert sich lobend über einen Ritter, es hörte ihn vil wol singen. Die Formulierung er muoz mir lässt es eher dominant wirken, der Begriff genieten ermöglicht jedoch ob seiner Konkretisierungsmöglichkeiten kein abschließendes Urteil über die dargestellte Frauenfigur. Das weibliche Text-Ich in C5 wählt mit dem an eine Verfluchung erinnernden Ausruf in Vers 3 sowie dem Bild des wilden Ebers einen sehr viel direkter wirkenden Sprechgestus, wenn auch ein Anschluss an die möglicherweise herrische Auffassung des letzten Verses von C4 möglich zu sein scheint, aber die dort konnotierten Herrschafts- und Sängerdiskurse werden ausgeblendet. Es kommt somit zu einer thematischen Verengung, jedoch ohne dabei die dargestellte Frauenfigur auf einen bestimmten Typus festzulegen: Dies geht vor allem aus dem Bild des Ebers hervor, welches sich sehr unterschiedlich auffassen lässt und je nach Auflösung ein anderes Frauenbild impliziert. Das Budapester Fragment145 konkretisiert hier nur scheinbar: A stuont ich naecht[en] spate vor dinem bette. d[o] ge / torst ich dich frowe nicht gewechen. des m[ve]zze got / gehazzen den dinen lip. ia was ich niht ein per wilder ich / was ein wip.

Eber146 und Frau werden hier antithetisch einander gegenübergestellt, wobei vor allem die Weiblichkeit der Frau betont wird.147 Gerade dieser Antithetik ist eine besondere Heiterkeit abzugewinnen, macht doch die Frau auf eine Selbstverständlichkeit – Ich bin doch kein Tier! – aufmerksam, als wäre ihr Gegenüber begriffsstut144 Kasten, Frauendienst, S. 217. 145 Zit. n. MF, S. 464. 146 Vgl. zur textkritischen Diskussion um v. Kraus’ Konjektur bëre (= Bär; bêr = Zuchteber; bër = Bär) und zur Frage, inwiefern diese durch Bu gestützt wird, Tervooren, eber, S. 291–298, der die Verwendung des Wortes per in Bu landschaftssprachlich erklärt. 147 Vgl. Boll, Alsô redete, S. 168.

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zig.148 Dass das männliche Text-Ich sich in einer prekären Situation in höfischer Zurückhaltung zu üben versuchte, scheint auf ihr Unverständnis zu stoßen. Ein besonderer Witz entsteht gerade auch vor dem Hintergrund der Strophe C4: Angenommen, dass eine dort sprechende Frauenfigur den Ritter tatsächlich aufgrund der mangelnden Fähigkeit, ihre Leidenschaft zu zügeln, zu distanzieren beabsichtigt: In C5 wird nun eine gegenteilige Reaktion des Ritters kritisiert, nämlich dass er sich zurückgehalten und eine Distanz aufrechterhalten hat. In der Zusammenschau beider Strophen ergeben sich somit zahlreiche Verunsicherungen im Hinblick auf das kommunikative Gefüge der einzelnen Strophen sowie bedingt durch das große Konnotationspotential einzelner Aussagen. So bleibt es auch in der Bu-Version ähnlich wie in C offen, was es bedeutet, ein wîp zu sein.149 Eine genauere Konkretisierung findet erneut nicht statt. Dabei deutet sich hier zudem ein Charakteristikum dialogischer Texte insgesamt an, wenn die Frau in einem – möglicherweise auch ironisch nuancierten – Modus spricht, der auf ein für das Dialoglied typisches Aneinander-Vorbeisprechen – bzw. in diesem Fall eher Aneinander-Vorbei-‚Handeln‘ – hinweist. Die auf den kurzen dialogischen Austausch folgende Strophe C6 knüpft ein weiteres Mal mit dem Verb stân an die vorangehenden Strophen an.150 Bereits syntaktisch fällt auf, dass die gesamte Strophe aus einem einzigen Satz besteht: Ein mit swenne eingeleiteter Nebensatz steht dem mit sô beginnenden Hauptsatz gegenüber, der durch einen parenthetischen als-Satz unterbrochen wird. Formal findet sich darüber hinaus wie in C5 eine Anrede im zweiten Vers, womit neben dem stân eine weitere formale Parallele zu beobachten ist: C5: dô getorste ich dich, vrouwe, niwet wecken.

C6: unde ich gedenke an dich, ritter edele

Inhaltlich handelt es sich jedoch um eine deutlich zu unterscheidende Situation, welche in einem erneut anderen Register präsentiert wird: Dies verdeutlicht bereits 148 Vgl. hierzu auch ebd.: „Die Rolle des Mannes, der gegenüber der schlafenden Frau Zurückhaltung übt, wirkt gerade vor dem Hintergrund ihrer Aussage, sie sei doch ‚nur‘ eine Frau, geradezu lächerlich.“ Boll sieht darüber hinaus in der Strophe „die Aufforderung an die Männer, in der Liebe aktiv und beherzt zur Tat zu schreiten. Ein raffinierter Schachzug ist es, diese Worte einer Frau in den Mund zu legen […].“ 149 Vgl. ebd., S. 167f.: „Frau-Sein wird damit ex negativo definiert, indem das Frau-Sein als Abgrenzung zu einem Übel (eber wilde) bestimmt wird. Was es positiv bedeutet, wird allerdings nicht genannt.“ 150 Vgl. auch Krohn, Begehren, S. 131: „Dreimal Strophenbeginn mit stuont bzw. stân; dreimal die Frau in einer pointiert übertriebenen Rolle, die ihr nach zeitgenössischem Rechts- und Sittlichkeitsempfinden nicht zukam und die auch nicht allein mit dem Hinweis auf die Wunsch-Übertragung der Männer völlig erklärt werden kann; dreimal vergebliches Warten der (zumindest zweimal extrem) liebesdurstigen Dame; dreimal persiflierender Bezug auf den höfischen Frauendienst“.

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der Strophenbeginn, da die Konjunktion swenne ein Satzgefüge einleitet, welches für einen reflexiveren Sprechgestus typisch ist. Eikelmann spricht von einem „verallgemeinernden Aussagemuster“, welches jedoch hier eher nicht konditional aufzufassen sei.151 Trotzdem erwägt er, dass auch in dem vorliegenden Satz ein „ursächliches Verhältnis“ zwischen Neben- und Hauptsatz mitgemeint sein könne.152 Ohne diese Frage abschließend zu beantworten, erscheint es für die Strophe doch wesentlich, dass sie sich durch ihren reflektierenden Modus deutlich von dem Register der vorangehenden Strophen des Tons unterscheidet.153 Während dort jeweils eine als vergangen geschilderte Situation narrativ im Indikativ Präteritum präsentiert wurde (stuont), wird nun ein imaginärer Raum eröffnet, im Sinne eines »Immer wenn ich …«, was bedeutet, dass das Text-Ich in dem Moment der Äußerung seiner Worte eben nicht unbedingt in seinem hemede dastehen muss.154 Die Formulierung erfordert somit ein größeres Maß an Abstraktion, wodurch das gewählte Register nicht so direkt bzw. konfrontativ wie in Strophe C5 wirkt. Das Text-Ich führt – an einen »edlen Ritter« gerichtet – aus, dass, wenn es allein in seinem hemede dastehe und an ihn denke, seine Farbe sich erblühe (sprich: es erröte) wie die Rose an dem Dorne, sein Herz gerate jedoch in eine sehr traurige Stimmung. Erneut ist die Bildlichkeit der Strophe durch sehr gegensätzliche Bezugsmöglichkeiten gekennzeichnet. So begegnet ein in seinem hemede155 dastehendes 151 Vgl. Eikelmann, Denkformen, S. 63 u. S. 122: „[…] Das einleitende swenne kann durch ein ‚Immer wenn‘ oder ‚Sobald‘ übersetzt werden und bezeichnet mit der temporalen Einfärbung eine gewohnte Verhaltensreaktion.“ 152 Vgl. ebd., S. 123: „Hinzu kommt, daß gerade das mittelhochdeutsche swenne die konditionale neben der temporalen Komponente aufweist. Wenn also die Strophe MF 8,17 zunächst nur den regelhaften Zusammenhang zwischen Alleinsein und Gedenken einerseits (MF 8,17f.), der ausgesagten seelischen Reaktion andrerseits (MF 8,19f.) anspricht, so legt die ingressive Aktionsart der Verbformen erblüet und gewinnet dann auch die weitergehende Deutung nahe, daß ein ursächliches Verhältnis mitgemeint sei, indem die unvermeidlichen Wirkungen einer typischen Situation hervortreten.“ Boll, Alsô redete, S. 174, relativiert hierbei jedoch deutlich: „Es dominieren in der weiblichen Rede insofern auch Äußerungen im Erfahrungsstil, die sich von den reflexiven modalen Äußerungen der Sprecherinnen wie etwa in Reinmars Frauenstrophen deutlich unterscheiden. Die Erfahrungssätze werden mit swer oder swenne eingeleitet und setzen einen einfachen Wahrheitsanspruch.“ Dass es sich dennoch um einen eindeutigen Registerwechsel, gerade im Vergleich mit den übrigen Strophen handelt, wird hier nicht thematisiert. 153 Eikelmann, Denkformen, S. 123f., beobachtet anhand weiterer Belege für Nebensatzkonstruktionen mit swenne, dass diese „entweder die unmittelbare Begegnung von Mann und Frau […] oder den Kontakt in Wahrnehmung und Vorstellung […] als Ausgangsgröße einführen; und sie alle beleuchten diese Konstellation in ihrer Auswirkung oder ihrer Bedeutung für das Ich […].“ 154 Vgl. ebd., S. 64: „Das berichtete Geschehen kommt dabei nicht in seiner einmaligen Besonderheit, sondern in seiner typischen Struktur und wiederkehrenden Regelhaftigkeit in den Blick, was vor allem das einleitende swenne zeigt.“ Vgl. auch Drumbl, Fremde Texte, S. 105. 155 Im Hinblick auf die Kontroverse um die Bedeutung der Vokabel sei hier nur verwiesen auf Krohn, Begehren, S. 128f.; Wapnewski, Stern und Blume, S. 447.

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Text-Ich auch in dem bereits genannten CB 177 als eine puella und evoziert vor diesem Hintergrund einerseits die Vorstellung eines naiv-unschuldigen (Schäfer-) Mädchens (erblüet sich mîn varwe im Sinne eines schamhaften Errötens deutbar), andererseits jedoch auch die weiteren für eine Pastourelle typischen Konnotationen. Krohn hat unterschiedliche Vergleichspunkte zwischen beiden Texten herausgearbeitet: „Die Bezüge zwischen dieser Strophe und dem Vagantenlied sind deutlich genug: der episierende Beginn, die Sprecherin, die leichte Bekleidung, das Erblühen der Wangen, der Rosen-Vergleich.“156 In C6 fallen jedoch erneut die gegensätzlichen Deutungsmöglichkeiten der gewählten Bilder auf, erotische Anspielungen begegnen lediglich verhüllt157 : So ist das Bild der rôse an dem dorne158 kontrastiv aufgeladen durch einen Mutter-Gottes-Bezug einerseits, welcher das Sprecher-Ich in ein Licht der Unversehrtheit und Reinheit rückt159 , sowie durch die Konnotation der Defloration andererseits160 , wobei die Verwendung des Blumenbildes für eine Beschreibung der Gesichtsfarbe durchaus verbreitet ist.161 Das Carmen Buranum

156 Krohn, Begehren, S. 130. Krohn nennt ebd., S. 128f. (sowie ebd. Anm. 67 u. 68), Belege „für die sexuelle Bedeutung der Kleider- und namentlich der Hemden-Metapher“ (S. 129). Das Carmen Buranum spiele darüber hinaus auf den Liebesgruß des Ruodlieb an, welcher in das letzte Drittel des 11. Jahrhunderts datiert wird, woraus Krohn, ebd., S. 129, schließt: „Jedenfalls muss der Gedanke erlaubt sein, dass dem Kürenberger und seinen Hörern die Strophen auch in ihrer zweideutigen, vagantischen Version bekannt waren“. Die dritte Strophe von CB 177 besteht darüber hinaus aus lateinisch-deutschen Mischversen, was eine Nähe des Liedes zur volkssprachlichen Dichtung nahelegt. Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 107, ist hierbei etwas vorsichtiger: „The ‚hemede‘ is a natural token of the woman’s privacy, and it, coupled with her solitude, not only serves as an impetus to her thinking of the knight, but it also enhances the inward privacy of the memories which cause her to blush.“ 157 Die erotische Deutung ist jedoch erneut nicht zwingend. So schreibt etwa Schweikle, Minnelyrik, S. 368: „So wie rôse dem Erröten oder Erglühen der Wangen entspricht, so entspräche der dorn dem trûrigen muot, dem Stachel im Herzen, der von der Trennung vom Geliebten herrühren kann.“ Vgl. Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 107: „This image would suggest the memory of a love previously consummated“, S. 105: „Although the hunt für erotic overtones can go too far, changing the MS manages only to regulate the meter and glosses over the possible erotic symbolism.“ 158 In Bu fehlt dieser Hinweis. Es heißt hier lediglich: so [e]rblvet sih / min varbe als div rose t[vo]t (MF, S. 464). 159 Wapnewski, Stern und Blume, S. 446, verweist auf die Jungfrau Maria als „Rose unter den Dornen“ (u. a. mit Bezug auf das Hohelied). Die erotischen Konnotationen thematisiert er jedoch nicht: „Es sind die garstigen Dornen, die den Glanz der Rose noch erhöhen“ (S. 447). Vgl. außerdem LCI 3, Sp. 564: „Die R. als Inbegriff weltl. u. geistl. Schönheit u. Minne (rosa caritatis) wird zum bevorzugten Symb. Mariens, ja n. Dante zum Ort ihrer Apotheose“; Melkonyan, Hayren-Dichtung, S. 117f.; Kesting, Maria-Frouwe, S. 145f. 160 Vgl. Brauns, Zur Heimatfrage der Carmina Burana, S. 189: Dorn als „obszöne Umschreibung für penis“ in Bezug auf pastourelleske Texttraditionen. 161 Vgl. von Lieres und Wilkau, Sprachformeln, S. 40f., die auf weitere Belegstellen hierfür verweist (u. a. Nibelungenlied und ‚Iwein‘).

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bringt die Erotik dagegen expliziter zum Ausdruck: Dies wird bereits durch die Verwendung der Vokabeln tetigit (»berühren«) und crepuit 162 deutlich: STETIT Puella rufa tunica; si quis eam tetigit, tunica crepuit. eia! Stetit puella tamquam rosula: facie splenduit et os eius floruit. eia!   Stetit puella bi einem bovme, scripsit amorem an eime lǫvbe. dar chom Venus also fram; caritatem magnam, hohe minne bot si ir manne.163

‚Swenne ich stân aleine in mînem hemede, unde ich gedenke an dich, ritter edele, sô erblüet sich mîn varwe, als der rôse an dem                                                      dorne tuot, und gewinnet daz herze vil manigen trûrigen                                                             muot.‘   (als der rôse tuot erblüet sich mîn varwe)

In CB 177 heißt es, dass »ein Mädchen dastand« (stetit puella).164 Die Identität des in C6 sprechenden Text-Ichs wird nicht genannt, sondern ist lediglich konnotativ abrufbar (s. oben). Vor dem Hintergrund der vorangehenden Strophen ließe sich auch ganz allgemein ein wîp oder etwas konkreter eine maget annehmen (vgl. Bu). Der Text macht hier jedoch keine Vorgaben. CB 177 nennt des Weiteren auch insgesamt mehr Details: Die Tunika ist rot (rufa), sie raschelt bzw. platzt (crepuit), das Gesicht glänzt und der Mund blüht (facie splenduit, os eius floruit). Die puella stand bi einem bovme, schrieb Liebe an eime lvbe, wobei sich für den Dorn jedoch 162 So berücksichtigt Krohn, Begehren, S. 129, auch die Bedeutungsunterschiede des Verbs crepuit, welches – neben »knistern« und »rascheln« – auch mit »knallen, platzen« übersetzt werden könnte. Hierbei handelte es sich um einen deutlichen Hinweis auf die Defloration des Mädchens. 163 Zit. n. Vollmann. 164 Es findet sich hier ähnlich wie in den Strophen C4–C6 ein dreimaliger Beginn mit Stetit, wobei dieser Stropheneingang jedoch nicht variiert wird, die Situation und die Stimmung bleiben zumindest in den Strophen 1 und 2 gleich. Vollmann, S. 1191, spricht im Hinblick auf die dritte Strophe von einem „charakteristisch verschieden“ gestalteten Vorgang: „Der Raum (freie Natur) wird umrissen; in ihm vollziehen sich zeitlich gegliederte Abläufe (das schreibende Mädchen, die Ankunft der Venus, der Vollzug der Liebe).“ Am auffälligsten erscheint hier jedoch die Aktivität des Mädchens im Vergleich zu den ersten Strophen: Sie schreibt und schenkt ‚hohe minne‘.

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keine Entsprechung findet. Der Gestus des Carmen Buranum ist – abgesehen von dem freudig wirkenden Ausruf eia! Am Ende der Strophen 1 und 2 – durchgehend beschreibend-narrativ, wohingegen in C6 aus der Ich-Perspektive heraus eine Gegensätzlichkeit der zum Ausdruck gebrachten emotionalen Befindlichkeit des Text-Ichs erkennbar ist: Es befindet sich in der dargestellten swenne-Situation in einer traurigen Stimmung (vil manigen trûrigen muot), ein positiver Gegenpol lässt sich nur ansatzweise aus der schamhaften Errötung beim Gedenken an den edlen Ritter ableiten. In CB 177 heißt es darüber hinaus zum Abschluss des Liedes explizit, dass es zu einer Liebeserfüllung komme, si – hier sehr wahrscheinlich mit der puella gleichzusetzen – schenkte hohe minne. Eine Pointe bestünde nun darin, dass hiermit die Konnotation sublimierter Liebe abgerufen würde, sodass die im Lied aufgebaute pastourellentypische Erwartung sexueller Liebeserfüllung gerade am Ende durch eine nicht sexuelle bzw. nicht eindeutig auf Sexualität fixierte ‚Liebe‘ konterkariert würde. Dies ist jedoch nur eine mögliche Deutung. Denkbar wäre auch, dass eine Differenzierung zwischen verschiedenen Arten der Liebe hier gerade nicht erfolgt: amorem, Venus, caritatem und hohe minne könnten eine synonyme Verwendung zu finden. Im Hinblick auf diese beiden Deutungsalternativen enthält das Lied ebenfalls eine – wie für den Kürenberger durchgehend spezifische – Deutungsoffenheit.165 Dennoch sind die Unterschiede augenscheinlich und bereits durch den kurzen Vergleich wird deutlich, wie stark die Strophe C6 das mögliche erotische Konnotationspotential durch unterschiedliche Strategien in eine gewisse Distanz rückt: Während in CB 177 im Indikativ Perfekt narrativ berichtet wird (stetit), ist die Situation in C6 durch die swenne-Konstruktion in einen imaginären Raum verschoben. Das Herz des in C6 sich äußernden Text-Ichs gerät in eine traurige Stimmung, wenn es an den edlen Ritter denkt: Dass es überhaupt zu einem Kontakt zwischen dem Text-Ich und besagtem Ritter kommt, ist überhaupt nicht klar. Die Anrede an den Ritter allein muss nicht implizieren, dass sich Mann und Frau hier in einer Situation direkten Austauschs befinden.166 C7 knüpft erneut über eine Isotopie an die vorausgehende Strophe an:

165 Mariologische Bezüge durch Begriffe wie rosula und splenduit lassen sich ebenfalls diskutieren, aber das ‚Pastourellenhafte‘ des Textes ist hier dennoch dominant. Vgl. auch Vollmann, S. 1190: „Vergleichbar ist nicht die Stimmung – hier Liebesklagen, dort Liebeserfüllung –, sondern die Technik des verhüllenden Sprechens, die den Hörer zwingt, aus einem statischen Bild den Vorgang zu erschließen.“ Pereira, Frauenfiguren, S. 287, spricht im Hinblick auf dieses Lied von einer „impressionistischen Suggestivität, die aus einer elementar-parataktischen Syntax resultiert“, und schließt ebd., S. 288: „Der Dichter deutet die kleine Geschichte erfüllter Liebe mehr an, als dass er sie tatsächlich ausführt.“ Insgesamt betrachtet formuliert CB 177 dennoch sehr viel direkter als die Strophe des Kürenbergers. 166 Krohn, Begehren, S. 130, spricht in Bezug auf C6 von einer „verhüllten Offerte“.

Dialogstrukturen in Des Minnesangs Frühling

C6: und gewinnet daz herze vil manigen trûrigen muot.

C7: Ez hât mir an dem herzen vil dicke wê getân

Die Strophe bereitet in syntaktischer Hinsicht zahlreiche Schwierigkeiten.167 (1) In der Lesart nach MF hat es (ez) dem Text-Ich weh getan, dass es danach verlangte, was es nicht haben konnte, noch jemals haben werde. Dies sei schädlich, etwa: Es hat mich oft im Herzen geschmerzt, dass ich Lust auf etwas hatte, das ich nicht haben konnte, noch jemals bekommen kann: das ist ein Schaden! (2) Neben dieser syntaktischen Auslegung der Verse ließe sich beispielsweise jedoch auch ein Punkt nach getân setzen. Dies wiederum hätte Auswirkungen auf den Gesamtsinn der Strophe, etwa: Dass ich Lust auf etwas hatte, das ich nicht haben konnte, noch jemals bekommen kann: das ist ein Schaden! Der erste Vers stünde in diesem Fall losgelöst vom Rest der Strophe: Es hat mich oft geschmerzt. Hier ließe sich nun – aber ebenso in Version (1) – der Bezug des die Strophe eröffnenden ez diskutieren. Zu erwägen wäre beispielsweise ein Verweis auf den Inhalt der Strophe C6, endet diese doch mit dem trûrigen muot des weiblichen Text-Ichs, wobei hier ja der Inhalt des Hauptsatzes in Abhängigkeit des swenne-Satzes steht, sodass eine möglicherweise immer wiederkehrende Situation geschildert wird und eine direkte Korrespondenz zu dem Perfekt-Satz in Strophe C6 problematisch ist (hât […] getân)168 . Das ez ließe sich jedoch auch im Sinne eines vorausweisenden »dies« auffassen: Dies – was ich im zweiten Vers mitteilen werde – hat mich oft im Herzen geschmerzt. Zu diskutieren ist ebenso der Bezug des zweiten des in Vers 2169 sowie die Frage, was überhaupt schädlich ist: Dass es dem Text-Ich oft im Herzen geschmerzt hat? Dass es Lust auf etwas hatte, das es nicht haben konnte? Oder ist das gemeint, was das Text-Ich nicht haben kann noch jemals haben wird? Die vielfältigen Bezugs- und Deutungsmöglichkeiten seien hier nur angedeutet.170 Es soll jedoch vor allem auf das erneut andere Sprechregister der Strophe C7 hingewiesen werden, welche ebenso wie die vorangegangenen Strophen auf spezifische Weise eine Eindeutigkeit der Deutung verhindert. Dies ist nicht nur syntaktisch bedingt, sondern wiederum auch durch den Inhalt der Strophe. Umstritten ist die Sprecherzuordnung, wobei die Interpreten mehrheitlich ein weibliches Text-Ich annehmen, was aufgrund des

167 Vgl. hierzu Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 110f. 168 Zur Frage der Wiedergabe des Perfekts im Neuhochdeutschen (Gegenwart oder Vergangenheit) vgl. Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 112f.; Drumbl, Fremde Texte, S. 106. 169 Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 111: „The second ‚des‘ is either dependent on ‚niht‘ or is genitive by attraction to the first ‚des‘.“ 170 Vgl. auch ebd. das Fazit Agler-Becks: „The utterances are obviously all related and any punctuation we set is at best a patchwork job; perhaps Roediger’s suggestion that an apo koinu might be present should be kept in mind.“

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weiblichen Strophenkontextes vermutet wird – derweil die Verse jedoch männlich stumpf wie in den Mannesstrophen enden. Auch sei die Erwähnung des Herzens ein Hinweis auf eine Frau.171 In einer Reihe mit den vorangehenden Strophen ließe sich ebenfalls anführen, dass hier erneut ein weibliches Text-Ich den Wunsch nach Liebe zum Ausdruck brächte – womöglich auch nach körperlicher Liebe – diesmal jedoch äußerst verschlüsselt formuliert.172 Schnell weist hierbei auf eine wortwörtliche Parallele bei Wilhelm IX. von Aquitanien, erklärt jedoch, dass „es sich um eine nachweislich sprichwörtliche Redensart“ handle, und hält es für „nicht erforderlich, hier romanischen Einfluß zu bemühen.“173 Das Text-Ich meine weder Gold noch Silber: „es sieht den Menschen ähnlich, d. h. es ist der geliebte Mann“, so schreibt MF (Anm., S. 27), den „enigmatisch[en]“ Schluss174 auflösend, wobei jedoch eine Konkretisierung des geliebten Mannes gerade nicht erfolgt – auch wenn diese Konnotation unter der Annahme einer Frauenstrophe naheliegend ist.175 Durch den Wechsel zahlreicher Register bei einer zusammenhängenden Betrachtung der Strophen C3 bis C7 (und darüber hinaus) finden sich trotz einer fehlenden narrativen Gesamtkohärenz zahlreiche Anknüpfungspunkte – sowohl

171 Vgl. Drumbl, Fremde Texte, S. 107, welcher ebd. zudem darauf hinweist, dass nur diese Strophe reine Reime aufweise. Vgl. außerdem Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 94 u. S. 112, sowie Ertzdorff, Begriff des Herzens, S. 221f. Boll, Alsô redete, S. 161, lässt in ihrer Untersuchung der Frauenstrophen C7 aus, da sie nur solche Strophen berücksichtigt, „bei denen aufgrund externer und interner Merkmale eine weibliche Sprecherrolle anzunehmen ist“. Schnell, Minnesang I, S. 57, hält dagegen eine Männerstrophe für wahrscheinlicher: „Da für den Fall, daß eine Frau diese Auffassung vom Begehren des Unerreichbaren ausspricht, die Aussage von 8,25 im Mittelalter allzu sehr mit misogynen Assoziationen belastet wäre, plädiere ich für 8,25 als Mannesstrophe […].“ Vor dem Hintergrund des konnotativen Potentials der bereits besprochenen Strophen ist die Möglichkeit einer Frauenstrophe dennoch nicht auszuschließen. Insgesamt ist erneut festzuhalten, dass eine eindeutige Sprecher-Zuordnung nicht erfolgt. 172 Beispielsweise begegnet der Begriff „geluste“ im ‚späteren‘ Minnesang wiederholt im Zusammenhang mit „kuste“, was aufgrund des Reims naheliegend ist, aber gleichzeitig bereits auch hier möglicherweise eine erotisch-körperliche Konnotation abrufen könnte. Vgl. Heinrich Hetzbolt von Weißensee, KLD 20, VII: Ach swer daz kuste, zwâr den geluste vröude âne nôt (II,1); Wenzel von Böhmen, KLD 65, II: wie wol mich des geluste, / sô sich ze lachen gæb dîn munt, / daz ich in in der lieben stunt / sô lachelîchen mir ze fröiden kuste (III,7–10). 173 Schnell, Minnesang I, S. 57. Er verweist ebd. auf Parallelen in der lateinischen Literatur und bei weiteren Trobadors. 174 Vgl. Schweikle, Minnelyrik, S. 368. 175 Vgl. die Diskussion bei Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 112f., S. 112: „Norman’s translation, ‚it is shaped like a man,‘ ignores the plurality of ‚den liuten,‘ a term which in MHG refers not just to ‚people (both men and women, although generally men), warriors,‘ but also to ‚human beings.‘ A fairer rendering would perhaps be ‚it is shaped like man,‘ a translation which still leaves the identity of the speaker uncertain.“ Schweikle, Minnelyrik, S. 368, nennt hier den „Mensch[en]“ als „Ziel der Sehnsüchte“.

Dialogstrukturen in Des Minnesangs Frühling

auf inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene. Inhaltlich werden dabei weibliche Rollenbilder vermittelt, die sich nicht eindeutig auf einen bestimmten Typus festlegen lassen. Durch sprachliche Isotopien wird dennoch eine Zusammengehörigkeit der Strophen signalisiert – etwa durch das Verb stân. In jeder der genannten Strophen begegnet – je nach Deutung – eine zur Liebe bereite Frauenfigur, doch niemals kommt es zu einer Liebeserfüllung, selbst nicht in den Strophen, in denen Mann und Frau in einer intimen Zweierbegegnung imaginiert werden. In Ansätzen lässt sich hierbei die liebe-leit-Thematik als ein durchgängiges (verbindendes) Motiv erkennen:176 3C:

4C: 5C: 6C: 7C:

Leit machet sorge – viel liebe wünne eines hübschen ritters – den benomen hânt die merker und ir nît […] nie vrô werden rîter vil wol singen – er muoz mir die lant rûmen Dialogstrophe: Leid/Ärger der Frau aufgrund des ‚Verhaltens‘ des Mannes erblüet sich mîn varwe […] – vil manigen trûrigen muot vil dicke wê getân – daz mich des geluste – des ich niht mohte hân

Grimminger, der davon ausgeht, dass ein Spezifikum der frühen Texte gerade in der Wechselhaftigkeit der in den Strophen dargestellten Situationen liegt, geht von einem dialogischen Element aus, welches nicht auf narrativer Kohärenz beruhe, im Gegenteil: Gerade in der Zusammenstellung von nicht stets zusammenpassenden Situationen sieht er eine Konturierung des Minne-Begriffs.177 Der Reiz der vorliegenden Strophenreihung liegt nun gerade in der Gegensätzlichkeit, mit der unterschiedliche Minnesituationen abgerufen werden: Die von den merkern von ihrem Geliebten abgehaltene Dame, das auf der Zinne stehende Burgfräulein, eine intime Begegnung zwischen Mann und Frau in der Nacht, ein sich in Liebe verzehrendes weibliches Text-Ich in seinem »Hemdchen«.178 Die Strophe C5

176 Vgl. hierzu auch Agler-Beck, Der von Kürenberg, S. 95. Zur Dialektik zwischen vröude und leit vgl. etwa auch Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 42f. sowie S. 60f. Hensel, Vom frühen Minnesang, S. 37, spricht von einer „regelrechten Verkettung von Liebe und Leid in sentenzhafter Einstilisierung, was für den frühen Minnesang an sich selten ist“, bezogen auf die Strophen C3 und C11. Vgl. außerdem Boll, Alsô redete, S. 174, die allerdings der liebe-leitDichotomie „nicht die Bedeutung einer abstrakt formulierten Liebeskonzeption“ im vorliegenden Corpus zuspricht. 177 Vgl. Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 88. Bezogen auf das „Spiel zwischen vröude und leit“ vgl. ebd., S. 43: „Dieses Spiel folgt dem Versuch, mit den Mitteln des 12. Jahrhunderts, der dialektischen Verbindung von Gegensätzen (sic et non), die Totalität der Minne zu umschreiben.“ 178 Brem, Gattungsinterferenzen, S. 93, unterscheidet zwischen verschiedenen „Darstellungstypen“: „‚Ich‘-Reflexion über die Liebe ohne weitere Einkleidung (z. B. MF 8,13)“, „‚Szenentyp‘ (z. B. MF 8,17)“ und „Sentenztyp“.

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nimmt hierbei eindeutig eine Sonderstellung ein, kommt doch in den umgebenden Strophen jeweils nur eine einzige Stimme zu Wort. Auffällig ist jedoch, dass sich die dialogische Struktur in einer Reihe mit einstimmigen Strophen findet und formal nicht deutlich von diesen abgehoben wird. Die direkte Konfrontation zwischen Mann und Frau führt aber gerade nicht zu einer größeren Eindeutigkeit der Deutung bzw. Konkretisierung des dargestellten Mann-Frau-Verhältnisses (vgl. u. a. Auslegung des Eberbildes). Darüber hinaus zeichnet sich hier bereits ein weiteres Spezifikum des Dialogliedes ab: Die Rede des Mannes greift auf bereits ‚bewährte‘ Aussageformen zurück (hier der erste Vers der Strophe C4: Ich stuont …), die jedoch punktuell variiert werden (Jô; bette statt zinne). Die Rede der Frau dagegen bedient sich in diesem Beispiel eines gänzlich anderen Registers, wie der derbe Gestus der letzten beiden Verse (vor allem Vers 3) in C5 zeigt. Im Dialoglied im engeren Sinne, aber auch in dem im Folgenden betrachteten Beispiel – dessen Zuordnung zu den frühen Liedern als überhaupt nicht gesichert gilt – lässt sich noch sehr viel besser beobachten, wie der Mann in seiner Rede Versatzstücke des Werbungsliedregisters verwendet. Grimminger sieht ein Spezifikum der Einzelstrophen in der literarischen Pointe, die wiederum „im Witz und in der Schlagfertigkeit des Gesprächs angesiedelt“ sei: „Strophensystem und Kasuistik haben nicht zuletzt die Aufgabe, den Witz des Gesprächs in die Formen der Literatur und die Artistik ihrer Rollen zu übersetzen.“179 Die Komik in C5 ist im Vergleich zu den übrigen Strophen – auch bedingt durch eine gewisse Derbheit bzw. Direktheit des weiblichen Sprech-Registers – überaus deutlich, was den Kürenberger-Dialog ebenfalls in eine Reihe mit den übrigen Dialogliedern stellt. Aber auch insgesamt lassen sich in dem Corpus zahlreiche unterhaltende Effekte erzielen – bedingt durch die Aneinanderreihung unterschiedlicher Register in aufeinanderfolgenden Strophen, womit eine punktuelle Anknüpfung bei gleichzeitiger Irritation und Infragestellung des zuvor Ausgesagten einhergeht. Gleichzeitig gewinnt dabei jedoch auch die minne selbst an Kontur, wie anhand der immer wieder wiederholten liebe-leit-Thematik ersichtlich. Der Dialog im engeren Sinne stellt hierbei ein Register neben zahlreichen anderen dar. 3.1.2

Walther von Mezze (Namenlos, XIV): Der walt in grüener varwe stât (MF 6,14)

Aufgrund formaler Einwände wurde und wird das Lied oftmals dem namentlich in den Handschriften A und C ausgewiesenen Walther von Mezze – dessen Texte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstanden sein sollen und dem die Strophen

179 Grimminger, Poetik des frühen Minnesangs, S. 83.

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in A zugeordnet sind180  – abgesprochen.181 Jüngere Forschungsansätze zählen das Lied jedoch aus sehr nachvollziehbaren Gründen nicht zur Frühschicht des Minnesangs, da die Absprache bestimmter Strophen eines ausgewiesenen Autors bei gleichzeitiger Zuweisung anderer Strophen zu besagtem Autor – die jedoch im gleichen Kontext überliefert sind – den Eindruck der Willkür erweckt.182 Boll erwägt darüber hinaus: „Nicht auszuschließen ist, dass Waltram von Gresten und Walther von Mezze Töne in der Manier des frühen Minnesangs gedichtet haben, um auf diese Weise ihrem Liedcorpus bewusst einen archaisierenden Ton zu verleihen.“183 Geht man jedoch von einem generellen Sprechen in unterschiedlichen Registern im Minnesang aus, muss man hier überhaupt nicht die bewusste Aneignung eines „archaisierenden Tons“ bemühen. Das Lied macht darüber hinaus eine große Vertrautheit mit typischen Aussageformen des Werbungsliedregisters deutlich, wie auch Schmid beobachtet, welche im Hinblick auf die ersten beiden Strophen betont, „daß es [das Lied] zum großen Teil aus Versatzstücken nicht nur des männlichen und weiblichen Motivreservoirs, sondern geradezu aus einem Bestand an geläufigen Formeln gearbeitet ist.“184 Vor allem die dritte Strophe sticht hierbei heraus, welche im Hinblick auf das gewählte Register neu ansetzt und – je nach Redezuweisung – einen kurzen dialogischen Austausch zwischen Mann und Frau präsentiert. Auch hier beobachtet Schmid in ihrer kurzen Betrachtung des Liedes

180 Vgl. Wachinger, Art., Walther von Mezze, Sp. 651f. 181 Vgl. ebd., Sp. 653, im Hinblick auf die Strophen des Liedes: „Sie sind einer frühen Phase oder einer archaisch stilisierten Schicht des Minnesangs zuzuweisen“; Brunner, S. 192, argumentiert: „Für frühe Entstehung des Liedes sprechen die Gemeinsamkeit der Empfindungen, das Fehlen des Dienstgedankens, dazu der unreine Reim in Str. 1, v.2 und 4.“ Ebenso lehnt Kasten, Lyrik, S. 583, aufgrund formaler Aspekte eine Zuweisung an Walther von Mezze ab: „Inhalt, Strophenbau (Kreuzreime), Sprache und glatter Rhythmus werden in der Forschung als Indizien für eine Entstehung des Liedes in zeitlicher Nähe Reinmars gewertet. Die Assonanz in der ersten Strophe (zît/wîp) könnte indessen auf eine frühere Entstehungszeit hinweisen. Auch das Naturbild und die Stilisierung der Paarbeziehung sind für den Minnesang um 1200 nicht unbedingt charakteristisch. Sichere Anhaltspunkte für eine Datierung lassen sich jedoch kaum gewinnen.“ Zur Verortung Walthers von Mezze vgl. auch Heinen, Walther und seine Kollegen, S. 126f. 182 Sehr deutlich macht dies vor allem Eder, Natureingang, S. 188, Anm. 32: „Die Herstellung dieser Textformation ist aber insofern in höchstem Maße problematisch, als unter der Kategorie einerseits ausgewählte […] Strophen der mhd. Einlagen im Codex Buranus (M), die durch Parallelüberlieferung nicht einem namentlich bekannten Verfasser zuzuweisen waren […], versammelt sind, andererseits handschriftlich sehr wohl in namentlich markierten Liedercorpora überlieferte Texte, die ihren (handschriftlich ausgewiesenen) Verfassern einfach abgesprochen wurden […].“ Vgl. auch das Urteil von Boll, Alsô redete, S. 149: „Ein Konsens zu dieser Frage wurde allerdings in der Forschung bisher noch nicht erzielt. Prinzipiell ist daher anzuraten, den in den Hss. getroffenen Autorzuschreibungen zu folgen, wenn andere Kriterien fehlen.“ 183 Boll, Alsô redete, S. 149. 184 Schmid, Inszenierung, S. 56.

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eine große Artifizialität: „In meiner Lesart taucht der abrupte Umschwung in der dritten Strophe die höfische Formulierung und den gehobenen Ton der Männerrede in ein ironisches Licht. Jedenfalls ist das Lied alles andere als schlicht und altertümlich, sondern setzt ein ganzes Arsenal von Konventionen voraus.“185 Die folgende Analyse versucht in einem ersten Schritt Schmids Beobachtung eines Rückgriffs auf einen „Bestand an geläufigen Formeln“ nachzugehen, um im Anschluss hieran die Rolle des Dialogs im Zusammenhang des beobachteten Registerwechsels in Strophe 3 zu diskutieren und hieraus Rückschlüsse auf die Gesamtkonzeption des Liedes zu ziehen:

185 Ebd., S. 58.

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Walter von Mezze A 10–12; MF 6,14 (Text hier nach MF) I

Der walt in grüener varwe stât. wol der wunneclîchen zît! mîner sorgen wirdet rât. saelic sî daz beste wîp, Diu mich troestet sunder spot. ich bin vrô. Dêst ir gebot.

II

Ein winken und ein umbesehen wart mir, dô ich si nâhest sach. dâ moht anders niht geschehen, wan daz si minneclîche sprach: ‚Vriunt, du wis vil hôchgemuot.‘ wie sanfte daz mînem herzen tuot!

III

‚Ich wil weinen von dir hân‘, sprach daz aller beste wîp, ‚schiere soltu mich enpfân unde trôsten mînen lîp.‘ Swie du wilt, sô wil ich sîn, lache, liebez vrowelîn.

I. Der Wald steht in grüner Farbe. Hoch lebe die wonnereiche Zeit! Meinen Sorgen wird Abhilfe geschafft. Gesegnet sei die beste Frau, die mich tröstet ohne Spott. (Kuhn: die mich wirklich tröstet)186 Ich bin froh. Das ist ihr Gebot. (Kuhn: Sie will es so.) II. Ein Winken und ein Zurückschauen wurden mir zuteil, als ich sie aus nächster Nähe sah. (Kuhn: jüngst) Da konnte es anders nicht geschehen, als dass sie liebreich sprach: ‚Mein Lieber, du sollst sehr hochgestimmt sein.‘ (Kuhn: Liebster, sei du ganz                                                                                                     hoffnungsvoll.) Wie angenehm dies für mein Herz ist!

186 Vgl. auch insgesamt die Übersetzung von Kuhn, in: Kasten, Lyrik, S. 43.

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III. ‚Ich werde wohl deinetwegen weinen‘, sprach die allerbeste Frau, ‚bald sollst du mich empfangen (Kuhn: damit du mich schnell in die Arme nehmen und                                                                                                            mich trösten kannst) und mich trösten.‘ Wie auch immer du willst, so will ich sein, lache, liebes Fräulein.

Eröffnet wird das Lied durch einen Natureingang187 : Der Wald steht in grüner Farbe, hoch lebe die wonnereiche Zeit! Aus Vers 3 geht hervor, dass den Sorgen – welche das dargestellte Text-Ich wohl bisher hegte (mîner sorgen) – nun Abhilfe geschafft werde, sodass von einer Komplementarität zwischen Jahreszeitencharakter und der Befindlichkeit des Text-Ichs auszugehen ist. Wie für das Sprechen im Werbungslied typisch, wird jedoch das Wissen um eine Zeit der Sorgen, in der es dem Text-Ich nicht gut ging, präsent gehalten. Zudem bringt das Prädikat wirdet eine gewisse Prozessualität zum Ausdruck: Zumindest angedeutet wird, dass noch nicht alle Sorgen beseitigt worden sind. Verantwortlich für die dennoch ‚positive Entwicklung‘ scheint eine Frau zu sein, die in Vers 4 – versehen mit einem diese herausstellenden Epitheton – genannt wird: Gesegnet sei das beste wîp, welches das Text-Ich tröste, und zwar ohne Spott. Letztere Bemerkung gibt einen Hinweis auf die Qualität des beschriebenen Mann-Frau-Verhältnisses, scheint es sich doch – zumindest aus der Perspektive des nun eindeutig als männlich zu identifizierenden Text-Ichs – um die Darstellung eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Liebesverhältnisses zu handeln – vor allem der Hinweis sunder spot deutet dies an, da das Verhalten der Frau scheinbar nicht lediglich als ein unverbindliches Zur-Kenntnis-Nehmen interpretiert wird.188 Gleichzeitig stellt der Begriff sælic suggestiv auch einen Bezug zur mittelalterlichen Marienverehrung her, worin eine Anknüpfung an die für das Werbungslied typische sublimierende Erhöhung der Dame erkennbar ist.189 Die Art des Trostes bleibt allerdings (noch) unklar, in der zweiten Strophe ließe sich hieran anknüpfen durch ein winken und ein umbesehen. In dem die Strophe abschließenden Vers bekennt das männliche Text-Ich, froh zu sein, und zwar auf Geheiß der Frau, wobei die Prägnanz der Aussagen des parataktisch gestalteten Strophenschlusses ins Auge sticht, welche jedoch durchaus nicht ungewöhnlich für das die Freude

187 Zur Differenzierung zwischen unterschiedlichen Formen der „Jahreszeiten bzw. Naturpräsentation“ (Natureingang, locus amoenus, Jahreszeiteneingang) vgl. ebenfalls Eder, Natureingang, S. 108–128. 188 Vgl. etwa eine Passage aus Ulrichs von Gutenberg Leich, MF 76,1–6: mîn lôn der ist noch unbereit. / ich waene wol, mir sî ze gâch: / si giht alrêrst, wan sî dernâch / [] versaget mir in spotes wîs. / dêswâr des hât si kleinen prîs, / daz sî mir gît ze lône spot. 189 Vgl. zum Einfluss der Marienverehrung auf den Minnesang allgemein Kesting, Maria-Frouwe, S. 131f.

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des Mannes zum Ausdruck bringende Sprechregister des Werbungslieds ist.190 Die Darstellung einer Umbruchsituation, in der das Text-Ich von einem Zustand der Sorge einer Zeit der Freude entgegenblickt oder diese bereits erreicht zu haben scheint, ist im Minnesang weit verbreitet.191 Auch die Verknüpfung zwischen Jahreszeit und Gemütslage gehört zu den gängigen Motiven der männlichen Stimme im Minnesang, wobei hierbei die unterschiedlichsten Möglichkeiten der Abstufung und gegenseitigen Bezugnahme begegnen.192 In der z we ite n St rophe von MF 6,14 wird nun aus Sicht eines erneut männlichen Text-Ichs eine Situation beschrieben, in der es nahest mit einer Frau (si) aufeinandertraf, wobei das Adverb sowohl räumlich (aus nächster Nähe) als auch zeitlich (jüngst) aufgefasst werden kann. Ein Winken und ein Zurückschauen – also

190 Vgl. Heinrich von Veldeke: ‚Ich bin vrô, sît uns die tage / liehtent unde werdent lanc‘ (MF 57,10–11). 191 Bei Heinrich von Morungen heißt es beispielsweise: Mîn vrowe ist sô genaedic wol, / daz si mich noch tuot von allen mînen sorgen vrî. / des bin ich vrô reht als ich sol. / ich waene, nieman lebe, der in sô ganzen vröiden sî (MF 140,18–21). Auch hier wird durch die kleinen ‚Einsprengsel‘ wol (V. 1) und noch (V. 2) – sowie vor dem Konnotationshintergrund des Werbungslieds insgesamt – deutlich, dass der Zustand eines völligen Frei-Seins von Sorgen eben noch nicht erreicht ist, was aber nicht das Text-Ich daran hindert, frohen Mutes zu sein. 192 So findet sich in einem Lied Heinrichs von Rugge, welches enge Parallelen zu MF 6,14 aufweist, eine Strophe, in der ein männliches Text-Ich die Sehnsucht nach dem – wohl noch nicht eingetroffenen – Sommer zum Ausdruck bringt: Ich gerte ie wunneclîcher tage. / uns wil ein schoener sumer komen, / al deste senfter ist mîn klage. / der vogele hân ich vil vernomen, / Der grüene walt mit loube stât. / ein wîp mich des getroestet hât, / daz ich der zît geniezen sol. / nu bin ich hôhes muotes, daz ist wol (MF 108,6–13). Bereits die Hoffnung auf den schönen Sommer (uns will …) bedingt, dass die Klage des Text-Ichs sanfter werde, wobei sich mit dem Gesang der Vögel auch schon erste Hinweise auf einen Jahreszeitwechsel finden. In Vers 5 heißt es dann indikativisch, dass der Wald grün sei. Besonders auffällig ist, wie hier mit der Spannung zwischen einer Erwartung auf den Sommer (Vv. 1–3) und der ‚tatsächlich‘ angebrochen zu sein scheinenden grünen Jahreszeit (Vv. 4ff.) gespielt wird. Zudem ist ebenfalls – und erneut im zweiten Teil der Strophe – von einer Frau die Rede, die das Text-Ich getröstet habe, und zwar in Form einer Aufforderung, die Zeit zu ‚genießen‘. Nun sei es ‚hohen Mutes‘, dies sei gut (auffälligerweise ist auch hier der letzte Vers syntaktisch losgelöst vom Rest der Strophe; es wird beispielsweise kein verbindendes des gebraucht). Erneut findet sich ein prägnanter parataktischer Satzbau am Strophenende, wobei der letzte Vers ebenfalls in zwei kurze Phrasen unterteilt ist, wodurch das Text-Ich seine positive Gemütslage konstatiert. Auffällige Parallelen zu MF 6,14 bestehen des Weiteren darin, dass die schöne Jahreszeit die Hoffnung auf ein Ende der Sorgen erweckt bzw. dass es in dieser zu einem Ende der Sorgen kommt. Verantwortlich hierfür scheint ebenfalls eine Frau zu sein, die das Text-Ich tröstet. Während in MF 6,14 (Str. 1) die Art des Trostes nicht näher genannt wird, findet sich bei Rugge eine Art Aufforderung der Frau. Wie genau jedoch das von ihr geforderte Genießen der zît (Sommer?) umzusetzen ist, bleibt offen. Aber bereits diese Hoffnung führt bei Rugge zu einem Hochgefühl des Text-Ichs. Der kurze Vergleich zeigt, dass in MF 6,14 geläufige Aussageformen des Werbungslieds benutzt werden, wobei diese in die jeweiligen Texte auf eine spezifische Weise integriert werden, der jedoch hier im Hinblick auf die angeführten Vergleichstexte nicht im Einzelnen nachgegangen werden kann. Vgl. hierzu insgesamt auch Eder, Natureingang.

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ein Blick – seien ihm zuteil geworden. Darüber hinaus habe die Frau liebreich gesagt: Vriunt, du wis vil hôchgemuot. Anders hätte es gar nicht geschehen können: dâ moht anders niht geschehen, wan daz […] Auch hierbei handelt es sich um eine der im Werbungslied verbreiteten Aussageformen, „die, indem sie den ausschließlichen Charakter des Gemeinten betonen, in erster Linie der Verstärkung dienen.“193 Unter Berücksichtigung der ersten Strophe ließe sich der dort genannte Trost nun durch eine Geste, einen Blick sowie eine direkte Anrede der Frau an den Mann konkretisieren. Das Verhalten bzw. die Rede der Frau erfährt mit minneclîche erneut eine positive Bewertung, woraus eine Zufriedenheit des dargestellten männlichen Text-Ichs abgeleitet werden kann. Auch hier ist eine Analogie zur ersten Strophe beobachtbar, wurde doch dort explizit darauf hingewiesen, dass das wîp (sunder spot) tröste und der Mann auf ihr Gebot hin fröhlich sei. Die direkte Aufforderung, hôchgemuot zu sein, lässt sich somit als Konkretisierung der Formulierung dêst ir gebot deuten. Die Art und Weise, wie diese Gemütslage zu erreichen ist, bleibt jedoch erneut unklar, eine distanzierte Unverbindlichkeit der Äußerungen der Frau ist charakteristisch für deren Sprechweise: Der Blick und Gruß der Dame könnten das männliche Text-Ich ebenso in den genannten Zustand versetzen wie sein beständiger Minnedienst und -sang selbst, dem der Mann in dem vorliegenden Lied nachgeht.194 Des Weiteren ist auch hier – wie stets in solchen Situationen – davon auszugehen, dass der Mann aus den positiven Signalen der Frau eine weitergehende Liebeserfüllung erhofft, was sich jedoch aus dem vorliegenden Lied nur konnotativ ableiten lässt.195 Allein dadurch, dass die Frau dazu auffordert, das Leid zu beenden,

193 Schmaltz, Beiträge, S. 102, bezogen auf die poetische Technik Reinmars in dem Kapitel zu einschränkenden Widersprüchen. 194 Zu denken wäre etwa an Aussagen wie: wâ von sol der sprechen, / der nie hôhen muot gewan? bei Heinrich von Morungen (MF 146,37–38). 195 Schmid, Inszenierung, S. 57, verweist in diesem Zusammenhang ebenfalls auf die Stereotypität der Aussagen: „Auch gehört es üblicherweise zum männlichen Part, jähes Entzücken durch einen Blick, ein Wort, eine Geste der angebeteten Dame auszudrücken und ebenso, die Modalitäten der Erfüllung des Begehrens durch den verhüllenden Terminus trôsten im Vagen zu belassen.“ So lässt sich erneut Bezug nehmen auf Parallelstellen, wobei jedoch – wie ebenfalls für das Register des Werbungslieds typisch – oftmals ein abweisendes Verhalten der Dame beschrieben und die Hoffnung auf eine – noch nicht eingetretene – Zuwendung zum Ausdruck gebracht wird: Spraeche ein wîp: ‚lâ sende nôt‘, / sô sunge ich als ein man, der vröide hât (Reinmar, MF 195,28–29); Ich spriche iemer, swenne ich mac und ouch getar: / ‚vrouwe, wis genaedic mir.‘ / si nimet mîner swachen bet vil kleine war. / doch sô wil ich dienen ir (Reinmar, MF 173,6–9). Ein weiterer Beleg für die Formelhaftigkeit der Sprache in MF 6,14 findet sich erneut bei Heinrich von Rugge, MF 105,10–14, wobei auch hier ein männliches Text-Ich seine Hoffnung auf Gnade zum Ausdruck bringt; wiederum stechen zudem sprachliche Parallelen ins Auge: Genâde, vrouwe, saelic wîp, / und troeste sêre mînen lîp, / der sich nâch dir gesenet hât. / du enwellest des ein ende lân, / der sorgen wirdet niemer rât. Vgl. auch Reinmar: Vröwe mit rede daz herze mîn, / troeste mir den lîp; / jâ verdien ich ez wol. / muge ez vor liebe niht gesîn, / sô soltu, saelic wîp, / dur ein wunder doln (MF 190,36–191,3);

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bringt das männliche Text-Ich jedenfalls seine Freude zum Ausdruck: wie sanfte daz mînem herzen tuot! Bereits die Aufforderung der Frau scheint auszureichen, um das männliche Text-Ich in einen Zustand der Freude zu versetzen. Von einem weiteren aktiven Dazutun ihrerseits ist allerdings nicht die Rede. Inwiefern die Frau dennoch über die bereits erfolgte Zuwendung hinaus – in der Vorstellung des männlichen Text-Ichs – an dem Erreichen eines solchen Hochgefühls beteiligt sein könnte, lässt sich lediglich spekulieren – so konnotiert der Begriff hôchgemuot auch einen Glückszustand, der durch die körperliche Hingabe der Dame ausgelöst werden kann.196 Folgende Auslegung des Verses (durch das männliche Text-Ich) wäre beispielsweise denkbar: Sei frohen Mutes, denn du kannst davon ausgehen, dass ich alle deine Wünsche erfüllen werde. Es lässt sich somit an dieser Stelle des Liedes nicht entscheiden, w i e die Aufforderung dazu, vil hôchgemuot 197 zu sein, umzusetzen ist. Ab Vers 6 der zweiten Strophe spielt nun die bereits erwähnte Schwierigkeit der Sprecherzuweisung eine Rolle. So erlaubt der Folgevers keine eindeutige Zuordnung zu einer bestimmten Stimme. (1) Die Lesart von MF impliziert, dass hier erneut das männliche Text-Ich spricht: Das zum Ausdruck gebrachte positive Gefühl ließe sich durch die Aufforderung zum vil hôchgemuot-Sein begründen. Die Herausgeber setzen jedoch keine Anführungszeichen, demzufolge sich das männliche Text-Ich nicht direkt an die Dame wenden würde, sondern ohne eindeutig zu bestimmenden Adressaten sein Glück zum Ausdruck brächte, wie es für das monologische Register des Werbungsliedes typisch ist. Dennoch überrascht hier der Wechsel ins Präsens im Vergleich zu den narrativ im Präteritum präsentierten Stropheninhalten der Verse 1–5. Eine solche Art des Wechsels auf eine aktualisierende Sprechebene ist jedoch gerade am Ende einer Strophe recht verbreitet. (2) Denkbar wäre aber auch, dass es sich um eine Aussage des Mannes in der beschriebenen Kommunikationssituation als direkte Antwort auf die Bitte des weiblichen Text-Ichs handelte. Dies würde bedeuten, dass sich Mann und Frau in einer direkten Gesprächssituation befänden – vor dem Hintergrund der dritten Strophe wäre dies durchaus denkbar. Auch diese Variante wird durch den Wechsel ins Präsens unterstützt. (3) Als dritte Möglichkeit wäre zudem zu erwägen, dass sich hier weiterhin das weibliche TextIch äußert: Dies würde bedeuten, dass – wenn der Minnende den Zustand ‚hohen Mutes‘ erreicht – die emotionale Befindlichkeit der dargestellten Frauenfigur ebenfalls positiv wäre. Die Aufforderung würde hierdurch insofern erweitert, als die

Rudolf von Fenis: mües ich sî sehen, mîn sorge waere dahin. / ‚Sô ich bî ir bin‘, des troestet sich mîn sin (MF 82,8–9). 196 Den Begriff hôchgemuot bezeichnet Zotz, Intégration courtoise, S. 217, als „Schlüsselbegriff des Minnesangs für Hochgestimmtheit durch Liebeserfüllung“. Die Art der Liebeserfüllung ist hierbei jedoch nicht (!) klar definiert. Vgl. auch Schweikle, Minnesang2 , S. 172. 197 Auffällig ist die durch das vil noch einmal gesteigerte Freude dieses Zustands.

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Frau selbst von der Hochstimmung des Mannes profitierte. Vor dem Hintergrund der zitierten Vergleichsstellen ist diese Variante jedoch weniger wahrscheinlich, da meist direkt im Anschluss an eine nicht ablehnende Hinwendung durch die Dame die positiven Auswirkungen auf das männliche Text-Ich zum Ausdruck gebracht werden. Dennoch finden sich hier erste Unwägbarkeiten der Zuweisung von Figurenrede: Handelt es sich um ein Sprechen in der narrativ geschilderten Situation dialogisch an die Dame gerichtet oder monologisch im Register des Werbungsliedes? Diese Schwierigkeiten einer genaueren Konkretisierung treten in Strophe 3 in aller Deutlichkeit hervor. Der Beginn der d r itte n St rophe wirkt zunächst ein wenig irritierend, da das hier sprechende Text-Ich verkündet, aufgrund des bzw. der Sprechenden weinen zu werden. Denken ließe sich an das Ich des Werbungsliedes, in welchem der Gegensatz zwischen Freude und Leid stets präsent gehalten wird, sodass der Wechsel in einen Klagegestus des männlichen Text-Ichs hier nicht ungewöhnlich wäre198 , wobei ein Weinen meist ein weibliches Rollen-Ich kennzeichnet.199 Im zweiten Vers der Strophe wird denn auch diese Äußerung explizit der Stimme einer Frau zugewiesen, und zwar dem aller beste wîp – eine Bezeichnung, die in derselben Form etwa auch bei Heinrich von Rugge und Reinmar begegnet. Der Bezug zur ersten Strophe ist hier sehr augenscheinlich, wie an weiteren Parallelen erkennbar.200 Auffällig ist dennoch die nochmalige Steigerung des Superlativs durch die Ergänzung aller, womit sich möglicherweise bereits eine Überbietung des durchaus ‚gängigen‘ Registersprechens der ersten beiden Strophen andeutet. Vor deren Hintergrund lassen sich inhaltlich zahlreiche Fragen stellen: Aus welchen Gründen und zu welchem Zeitpunkt ist etwa das Weinen der Dame vorzustellen? Dass es sich um die in Strophe 2 dargestellte Begegnung handelt, ist nicht anzunehmen, da diese als recht einvernehmlich dargestellt wird. Von einem Bedauern des in Strophe 2 sprechenden weiblichen Text-Ichs ist nichts zu erkennen – im Gegenteil: Die Aufforderung an den Minnenden, der Blick und der Gruß lassen sich als ein selbstbewusstes Auftreten der dargestellten Frauenfigur deuten, ein Hinweis auf die Traurigkeit des weiblichen Text-Ichs findet sich nicht. Der Begriff des weinen 198 Auch in diesem Lied wird die typische Antithetik der liebe-leit-Thematik umspielt. Bereits in der ersten Strophe ist im Frühlingseingang von einer wonnereichen Zeit die Rede, das Text-Ich ist froh. Gleichzeitig erwähnt es seine Sorgen, woraus sich die Notwendigkeit des Trostes ableitet. Die direkte Aufforderung der Frau, hôchgemuot zu sein, gipfelt in dem Ausdruck großer Zufriedenheit des Text-Ichs (wie sanfte daz mînem herzen tuot!). Der positive Gefühlsausdruck steht jedoch in direktem Gegensatz zum Begriff des weinen in Strophe 3. Diesem wird dann sogleich wieder der Trost entgegengesetzt, woraus sich die Hoffnung auf Freude ableiten lässt. Das emotionale ‚Hin und Her‘ findet am Liedende seinen Höhepunkt in der direkten Aufforderung zu lachen. 199 Die Antithetik von Freude und Leid wird auch in dieser Strophe aufrechterhalten: V. 1: weinen –V. 6: lache. 200 Vgl. die Gegenüberstellung bei Schmid, Inszenierung, S. 57.

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begegnet in Des Minnesangs Frühling häufig im Zusammenhang mit der Klage einer Dame über die Abwesenheit des Mannes bzw. über die bevorstehende Trennung von diesem.201 Das in Strophe 3 sprechende weibliche Text-Ich könnte daher ebenfalls – in Anlehnung an Wechsel und Frauenlied – seine Einsamkeit und das Ausbleiben des geliebten Ritters betrauern. Es zeigt sich also, dass sich die weibliche Stimme hier eines völlig anderen Registers bedient als in Strophe 2, in der vielmehr die distanziert und unverbindlich wirkende Dame zu sprechen scheint, von welcher das Werbungslied zu berichten weiß. Vor diesem Hintergrund ist in Strophe 2 eine andere Konzeptualisierung anzunehmen. In Anlehnung an Wechsel und Frauenlied lässt sich nun auch die Aussage in den Versen 3 und 4 der dargestellten Frauenfigur in den Mund legen, welche den Angesprochenen aufgrund ihrer Traurigkeit auffordert, bald zu ihr zu kommen und sie zu trösten (erneuter Bezug auf Str. 1). Doch was für eine Art von Kommunikationssituation ist hierbei vorzustellen? Dass der Wortwechsel direkt an die in Strophe 2 dargestellte Situation anknüpft, scheint unwahrscheinlich aufgrund der deutlichen Divergenz hinsichtlich der verwendeten Sprechregister. Die sehr weitgehende Bitte – konnotiert doch der Begriff des enpfân die körperliche Vereinigung zwischen Mann und Frau202  – widerspricht ebenfalls dem in Strophe 2 dargestellten Verhalten, welches mit Blick und Gruß recht zurückhaltend ausfällt. Ist die in Strophe 3 dargestellte Frauenfigur allein und wendet sich dennoch mit der zweiten Person an den Mann – wie für den Wechsel typisch? Denkbar wäre zudem, dass sie sich an einen Boten richtete, der ihre Nachricht überbringen möge. Eine weitere Möglichkeit der Strophenkonzeption bestünde nun aber auch in einer Gesprächssituation, in welcher ein männliches Text-Ich als anwesend vorzustellen wäre, welches von der Frau aufgefordert würde, sie in einer intimen Zweierbegegnung zu empfangen, hieß es doch auch in Strophe 1, dass die Frau ihn »ohne Spott« tröste. Die Aussage in Strophe 3 ließe sich nun als eine Konkretisierung dieses in Strophe 1 recht unspezifisch wirkenden Zusatzes deuten, indem das wîp seinerseits Trost einforderte und gleichzeitig eine Liebeserfüllung in Aussicht stellte. Dennoch scheint hier eine völlig andere Sprechsituation als im Hinblick auf den Monolog der ersten Strophe anzunehmen. Dies legen vor allem auch die folgenden Verse nahe, welche Hinweise auf einen direkten Austausch zwischen Mann und Frau enthalten: Die Verse 5 und 6 sind jeweils mit einem Prädikat der zweiten Person an ein Gegenüber gerichtet: Während sich jedoch Vers 6 aufgrund der Apostrophe vrowelîn eindeutig an ein weibliches Text-Ich wendet, ist Vers 5 grammatikalisch nicht eindeutig einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen:

201 Vgl. u. a. Dietmar von Eist, MF 39,26; Heinrich von Morungen, MF 131,4; Reinmar, MF 168,24; Der von Kürenberg, MF 9,13–14. In Heinrichs von Morungen Strophe MF 144,1 wird das Weinen der Frau durch das „Umfangen“ des Mannes beendet; in Reinmars Strophe MF 196,29 ist ein Ende des Weinens an den Trost durch den Geliebten geknüpft. 202 Vgl. Dietmar von Eist MF 39,30: Urloup hât des sumers brehen, hier Str. 2.

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Swie du wilt, sô wil ich sîn. Die Herausgeber von MF setzen diesen und auch den folgenden Vers nicht in Anführungszeichen, wodurch die Äußerung – wie am Ende von Strophe 2 – nicht als Teil der von dem männlichen Text-Ich wiedergegebenen Kommunikationssituation dargestellt wird. Vielmehr erfolgt hier erneut ein Wechsel auf die Ebene des aktuellen Sängervortrags, wodurch sich das Text-Ich nicht direkt an ein Gegenüber – wie dies für einen Dialog spezifisch wäre – wendet, was eine Ausdehnung der dialogischen Situation von einer als bereits vergangen geschilderten Rede bis hin zum diese Rede aktualisierenden Vortrag des männlichen Text-Ichs bedeutet. Diese Lesart ist jedoch nicht zwingend: (1) MF ‚Ich wil weinen von dir hân‘, sprach daz aller beste wîp, ‚schiere soltu mich enpfân unde trôsten mînen lîp.‘ Swie du wilt, sô wil ich sîn, lache, liebez vrowelîn.

(2) ‚Ich wil weinen von dir hân‘, sprach daz aller beste wîp, ‚schiere soltu mich enpfân unde trôsten mînen lîp.‘ „Swie du wilt, sô wil ich sîn, lache, liebez vrowelîn.“

(3) ‚Ich wil weinen von dir hân‘, sprach daz aller beste wîp. „schiere soltu mich enpfân unde trôsten mînen lîp.“ ‚Swie du wilt, sô wil ich sîn.‘ „lache, liebez vrowelîn.“

(4) ‚Ich wil weinen von dir hân‘, sprach daz aller beste wîp. schiere soltu mich enpfân unde trôsten mînen lîp. Swie du wilt, sô wil ich sîn, lache, liebez vrowelîn

(2) Das Text-Ich spricht in den Versen 5 und 6 ein Gegenüber sowohl in der zweiten Person (du) als auch mit den Worten liebez vrowelîn direkt an. Zudem findet sich mit lache eine imperativische Aufforderung. Was jedoch fehlt, ist eine narrative Einkleidung wie in Bezug auf die beiden Äußerungen der Frau in den Versen II,4 und III,2 (jeweils sprach). Dennoch wäre hier eine direkte Antwort auf die vorausgehende Aussage in den Versen 3f. denkbar: Auf die Bitte, sie bald zu empfangen, könnte der Mann seine Bereitschaft erklären, genau dies zu tun. Die Aufforderung zu lachen und somit das Weinen zu beenden, ließe sich hieran anknüpfen.203

203 Angenommen, dass es sich bei den Versen 3f. um die Aussage eines männlichen Text-Ichs handelte, ließe sich die Aussage in Vers 5 als Zustimmung eines weiblichen Text-Ichs deuten. Der sechste Vers wäre dann jedoch aufgrund der Apostrophe vrowelîn wiederum eindeutig dem Mann in den Mund zu legen.

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(3) Zu überlegen wäre ebenfalls, ob es sich bei den Versen 3 und 4 nicht auch um männliche Rede handeln könnte. Der Mann würde sich in diesem Fall an die Frau wenden und möglicherweise versuchen, sie zu trösten: Auch ich bin traurig, bald sollst du mich empfangen und trösten! Was dagegen für eine Zuweisung der Verse an eine Frauenstimme spricht, ist die in Vers 1 angekündigte Traurigkeit des weiblichen Text-Ichs, wobei jedoch besagter Deutung (3) ein durchaus unterhaltendes Moment abzugewinnen wäre, zumal auch der fünfte Vers aus dem Munde der Frau den Rückgriff auf eine Aussageform bedeutete, die im Werbungslied dem Minnenden vorbehalten ist (s. unten). Zumindest aufgrund grammatischer und lexikalischer Signale lässt sich der fünfte Vers nicht einem bestimmten Geschlecht zuordnen. (4) Ebenso denkbar wäre auch – und so legt Vogt in seiner Ausgabe von MF aus dem Jahr 1914204 die Strophe aus –, dass die Verse 2 bis 6 in der Rede eines männlichen Text-Ichs zu realisieren wären, welches sich losgelöst von der narrativ als vergangen geschilderten Aussage der Frau auf einer synchron zur Sängerrede vorzustellenden Ebene äußern würde. Das Text-Ich spräche dann sozusagen zu sich selbst bzw. richtete sich an eine nicht als ihm unmittelbar gegenüberstehend dargestellte Frauenfigur und würde versuchen, diese ‚aus der Ferne‘ zu trösten, sich aber dabei gleichzeitig ‚seinen Teil‘ denken: Nur keine Sorge: Bald schon wirst du mich in die Arme nehmen und ‚trösten‘. Ich mache dann, was du von mir verlangst! Lache, liebes Fräulein! (Du wirst schon sehen: Wir kommen bestimmt beide auf unsere Kosten). Auch hier ließen sich dann die letzten beiden Verse als ein ironisch nuancierter Hinweis auf eine baldige Liebeserfüllung deuten, wobei jedoch diese in eine größere Distanz als in einer dialogisch gestalteten Situation rückte (dies gilt ebenso für Möglichkeit 1 in MF). Die direkte Anrede steht dieser Auslegung nicht im Wege, findet sich eine solche doch häufiger im einstimmigen Werbungslied. Wie bereits oben beim Kürenberger beobachtet spielt erneut die Auslegung der Hilfsverben wil und soltu eine wichtige Rolle für die Gesamtdeutung der Strophe. Bereits im ersten Vers ergäbe sich statt der Auffassung »Ich werde wohl wegen dir weinen« eine interessante Deutungsalternative durch die Formulierung »Ich will wohl wegen dir weinen«.205 In diesem Sinne übersetzt auch Kuhn: »Ich will deinetwegen weinen, damit du mich schnell in die Arme nehmen kannst.« Das weibliche Text-Ich würde sein Weinen folglich einsetzen, um den Trost des Mannes möglichst bald zu erlangen. Denken ließe sich hier womöglich an das kokette Mädchen der Pastourelle, welches ‚flirtend‘ sein Gegenüber um den Finger wickelt. Der Begriff vrowelin konnotiert – da es sich um einen Diminutiv handelt – darüber hinaus

204 Siehe ebd., S. 4. 205 Dass auch die Aussage selbst eine gewisse Unwägbarkeit aus Sicht des Text-Ichs impliziert, deutet Vogt, 3 MF, S. 267f., an, der Belege von ich wil in der Bedeutung »ich will wohl« zusammenträgt. Vgl. auch das Lemma wellen bei Lexer III, Sp. 754, mit Verweis auf diese Textstelle: »du wirst mir wohl trähnen bringen«.

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ebenfalls eine solche Frauenfigur, mit der eher die Bereitschaft zu körperlicher Hingabe verbunden wird. So weit muss man jedoch überhaupt nicht gehen, da ähnliche Aussagen wie in den Versen 1–4 auch für Frauenlied und Wechsel verbreitet sind, die dann wiederum ihrerseits oftmals eine Pastourellensituation zumindest ansatzweise konnotativ abrufen.206 Für Vers 3 bieten sich ebenfalls unterschiedliche Auffassungsmöglichkeiten an: (a) Im Sinne eines Bald wirst du empfangen oder Bald kannst du mich ja (endlich) wieder in den Arm nehmen ließe sich die Aussage als ein Trost des Mannes deuten. Inwiefern ein Bald darfst du mich empfangen hier denkbar wäre, scheint ebenfalls zu diskutieren. Zweifelsohne läge auch in dieser Übersetzung ein ironisch nuancierter Verweis auf das Selbstbewusstsein eines männlichen Text-Ichs. (b) Handelte es sich jedoch um die Äußerung des weiblichen Text-Ichs wäre die Übersetzung mit (Ich werde wegen dir weinen …) Bald sollst du mich (deshalb) empfangen naheliegender, da die Frau nicht tröstend, sondern fordernd sprechen würde, um ihre Traurigkeit zu beenden. Besonders augenscheinlich ist nun jedoch erneut, wie eine verbreitete Aussageform des Werbungslieds auch in dieser dialogischen Situation Verwendung findet, wenn es heißt: Swie du wilt, sô wil ich sîn – eine Formulierung, die in variierter Form häufig begegnet: „Swie si mir gebiutet, sô wil ich leben. sie gesach mîn ouge nie, die mir sô wol müge ein hôhgemüete geben.“                                                                                 (Reinmar, MF 197,6–7) „Allez, daz ich umb ir hulde lîden sol. ich diene ir, swie sô sî gebiutet mir.“ (Reinmar, MF 195,14–15) „Swie mîn vrowe wil, sô sol ez mir ergân, der ich bin ze allen zîten undertân.“ (Ulrich von Gutenberg, MF 78,1–2)

Wiebke Schmaltz subsumiert derartige Aussageformeln in ihrer Untersuchung des Registersprechens Reinmars der Kategorie „Programme“, welche sie wie folgt definiert: „Gemeint sind grundsätzliche Aussagen in Form eines programmatischen Beschlusses vom Typ: ‚Ich werde (immer) das und das tun …, ich werde mich immer so und so verhalten …, diesem Prinzip folgen …‘. Man könnte sie in dem syntaktischen Grundtyp ‚ich wil iemer …‘ erfassen.“207 Spezifisch für dieses Register sei eine gewisse Totalität, die das Text-Ich für sich in Anspruch nehme.208

206 Vgl. auch Schmid, Inszenierung, S. 57: „Frauenstrophen, in denen die begehrende Frau, wie hier in der dritten Strophe, Tröstung des Leibes verlangt oder eine Umarmung usw. herbeisehnt, sind nicht schwer zu finden.“ 207 Schmaltz, Beiträge, S. 230. 208 Vgl. ebd., S. 239: „Es geht um eine Haltung, die ganz bewußt und ausdrücklich eingenommen wird, die als persönliches Programm, als Richtschnur des Handelns und Verhaltens ein Allesoder-Nichts-Denken bezeugt, das in dieser eindeutigen, wenig anspruchsvollen Form in Reinmars

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Darüber hinaus schlussfolgert Schmaltz: „Wichtig ist hier der We g, nicht das Erreichen eines Zieles!“209 Vor dem Hintergrund eines solchen „unermüdliche[n] Bemühen[s]“210  – welches besagtes ‚Programm‘ impliziert – erzielt die Aussage in Strophe 3 des Lieds MF 6,14 eine überaus unterhaltende Wirkung, da dieses Bemühen nun ein abruptes Ende erfährt: Ist die Formel im Werbungslied darauf gerichtet, langfristige Mühen und möglicherweise auch Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen, scheint dies in der vorliegenden Liedsituation überhaupt nicht mehr nötig zu sein: Die Frau bekennt bereitwillig, ihn bald zu „empfangen“, was eben auf eine Liebeserfüllung hinweist und sogar den (ersehnten) körperlichen Aspekt miteinschließt. Das aus dem Werbungslied bekannte Register stößt gerade in der dialogischen Situation somit an eine Grenze und wird seiner ‚ursprünglichen‘ Funktion eines Stilmittels „von ausdrücklich emphatischem Gewicht“211 beraubt. Die Verunklarungen der Sprecherzuweisung und insgesamt der genaueren Konkretisierung dieser Strophe lassen jedoch auch weiterhin eine Relativierung dieser Deutung zu: Angenommen, dass sich das Text-Ich in den Versen 5 und 6 nicht direkt an die Frau wendete, sondern – wie nicht untypisch – ein in der fingierten Situation als nicht unmittelbar gegenwärtig präsentiertes Gegenüber anredete, träte aufgrund der hierdurch erzeugten Distanz zwischen männlichem und weiblichem Text-Ich die im Dialog hervorgerufene ‚unmittelbare‘ Möglichkeit einer hindernisfreien Liebeserfüllung erneut in den Hintergrund, was wiederum nicht untypisch für das Register des Werbungsliedes wäre, welches das Verhältnis zwischen Text-Ich und Dame durch unterschiedlichste Strategien zu verunklaren versucht. Festzuhalten ist somit, dass in dem Aufgreifen verbreiteter Aussageformen des Werbungslieds eine Spezifik des Dialoglieds überhaupt liegt, welche sich somit auch in der recht Liedern immer wieder auftaucht. Die Perspektive ist eng, das ‚Vorhaben‘ begrenzt in einseitiger, totaler Festlegung. Die hyperbolische Ausschließlichkeit der Form weist auf die außerordentliche, daseinsbestimmende Bedeutung der Aussage. […] Entscheidend ist bei dieser perspektivischen Festlegung das eindeutige Bekenntnis zu dem jeweiligen Verhalten, der verbindliche, öffentliche Entschluß, die ausdrückliche Willensbekundung.“ [Hervorhebung durch S.R.] Als Beispiel für die „daseinsbestimmende Bedeutung der Aussage“ sei hier nur kurz verwiesen auf Reinmars Herzeclîcher vröide wart mir nie sô nôt (MF 196,35), welches in seiner zweiten Strophe ebenfalls besagte Formel enthält: Waz unmâze ist daz, ob ich des hân gesworn, / daz sî mir lieber sî danne elliu wîp? / an dem eide wirt niemer hâr verlorn: / darumbe setze ich ir ze pfande mînen lîp. / Swie sô sî gebiutet, alsô wil ich leben. / sin gesach mîn ouge nie, diu baz ein hôhgemüete könde geben (MF 197,3–8). Wenn das Text-Ich bekennt, sein Leben zum Pfande zu setzen (V. 4), ist die Dimension des im folgenden Vers verkündeten „Programms“ sehr deutlich erkennbar; und auch die dritte Strophe veranschaulicht, dass die Umsetzung dieses Vorsatzes einer großen Ausdauer und Hartnäckigkeit bedarf, wobei hier kein direkter Bezug auf den swie-Satz erfolgt: Ungevüeger schimpf bestêt mich alle tage: / si jehent des, daz ich ze vil gerede von ir (MF 197,9–10). 209 Schmaltz, Beiträge, S. 240. 210 Ebd., S. 241. 211 Ebd., S. 240.

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knappen dialogischen Struktur eines Liedes der frühen (?) Lyrik wiederfindet. Gleichzeitig beobachtet Schmid anhand des genannten swie-Satzes, wie sich das männliche Text-Ich an das Register der Frau anpasst – hier wohl hinsichtlich der direkten Anrede mit du: „Aber indem ‚sie‘ den Ton angibt, schlagen Tonart und Stillage um. Nicht nur spricht ‚sie‘ aus einer ganz anderen Situation als die hohe Dame im Bericht der Männerstrophe, sondern ‚sie‘ schlägt einen intimen Ton an, und ‚er‘ geht – auch verbal – darauf ein: swie du wilt, sô will [sic] ich sîn.“212 Auch dies ist eine Beobachtung, die sich in zahlreichen Dialogen wiederfindet. Das Lied MF 6,14 macht darüber hinaus sehr deutlich, wie schwierig – aber ebenso ertragreich hinsichtlich unterschiedlicher Redezuordnungen bzw. Redeadressierungen – oftmals die Abgrenzung dialogischer von monologischen Partien im Minnesang fällt. Eine narrative Einkleidung direkter Rede scheint nicht zwingend notwendig zu sein.213 Gerade in der Uneindeutigkeit der Zuweisung von Redepartien scheint dabei ein großes Potential für das Erreichen unterhaltender Schlusspointen zu liegen, weshalb diese Verunklarungen der Sprecheridentität wohl gezielt am Ende eines Liedes begegnen. Dies macht das im Folgenden besprochene Lied Walthers von der Vogelweide deutlich, welches sich nicht eindeutig den Formtypen Wechsel und Dialoglied zuordnen lässt. Die bereits aus den bisherigen Analysen erkennbare Tendenz des Dialoglieds hin zu einem Abruf unterschiedlicher Aussageformen und Sprechmodi – vor allem des Werbungslieds – wird hier erweitert durch eine deutliche Überschneidung bzw. Divergenz der minne- und sangesthematischen

212 Schmid, Inszenierung, S. 57. Nachträglich ließe sich auch überlegen, ob nicht das Text-Ich in Kürenbergers Strophe C5 den etwas emotionaleren Gestus (Jô …) anschlägt als Reaktion auf das ebenfalls als aufbrausend interpretierbare Register am Ende der Strophe C4. 213 Dies ist gerade auch für die oftmals schwere Abgrenzung des Wechsels vom Dialoglied von Bedeutung. Erneut lässt sich hier an Waltenbergers, Kaiser Heinrichs artificium, S. 159f., Überlegungen zum oben bereits erwähnten Lied Kaiser Heinrichs anknüpfen: „Mir scheint aber, dass das Lied mit seinen pointierten Abhebungen des Vergangenen vom Gegenwärtigen und der indirekt zitierten von direkter Rede, gerade daraufhin angelegt ist, den performativen Suggestionen etwas Widerständiges einzutragen und auf diese Weise ein Imaginäres als notwendiges Komplement des explizit Gesagten und des sichtbar Präsentierten zu konturieren.“ Besonders in Bezug auf Texte des frühen Minnesangs spricht Waltenberger, ebd., S. 152f., darüber hinaus von „Problemfällen“, wenn man „nach Maßgabe eines differenziell konzipierten Strukturmusters“ vorgehe: „Abgesehen von der Überlieferungsvarianz beginnen die Probleme schon damit, dass viele Texte dreistrophig sind, wobei die dritte Strophe manchmal als auktorialer Kommentar verstanden werden kann, sich in anderen Fällen aber unklar oder sogar disparat zu den kommunikativen und semantischen Vorgaben der beiden vorhergehenden Strophen verhält“ (ebd., S. 153). Abgesehen davon, dass die Zuordnung von MF 6,14 zu den frühen Liedern überaus problematisch ist, sind Waltenbergers Beobachtungen zu einer Sonderstellung der dritten Strophe auch für dieses Lied von Bedeutung, handelt es sich doch nicht um einen Einzelfall, von dem er ausgeht. Für die hier vorliegende Untersuchung sind seine Überlegungen insofern relevant, als solche Schwierigkeiten der Konzeptualisierung erneut im Zusammenhang mit dialogischen Sprechpartien begegnen.

Strophisch organisierte Dialoglieder

Sprechebenen, wodurch der metapoetische Charakter des Dialogs noch stärker in den Vordergrund rückt.

3.2

Strophisch organisierte Dialoglieder

3.2.1

Walther von der Vogelweide

3.2.1.1 Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche (L 70,22)

Die Forschung zu dem vorliegenden Lied Walthers von der Vogelweide214 widmet sich vor allem den Gattungsfragen des Textes, was sich bereits auf den ersten Blick bei dem Versuch einer Textsortenbestimmung zeigt, lässt sich das Lied doch nicht eindeutig den Typen Wechsel oder Dialoglied zuordnen, weshalb man in ihm eine Art ‚Mischform‘ zu erkennen glaubt215 : Die erste Strophe ist in der Du-Rede direkt an eine frouwe gerichtet, in den Strophen 2 und 3 spricht das Text-Ich jeweils in der dritten Person aus der Perspektive von Frau (Str. 2) und Mann (Str. 3), in der vierten Strophe findet sich erneut eine Frauenrede, doch diesmal ebenfalls in der Du-Rede direkt an ein Gegenüber gerichtet. Bei den Strophen 2 und 3 liegt somit eine Wechselstruktur vor, welche dem direkten Austausch zwischen Mann und Frau zwischengeschaltet ist. Während die Forschung hierbei einerseits strukturalistisch argumentiert, dominiert jüngere Deutungsversuche ein inhaltlich-hermeneutisches Interesse. Kasten etwa betrachtet die Strophen 2 und 3 als „innere Monologe, die bei der Aufführung des Lieds vermutlich à part gesprochen wurden. Sie verschaffen den Zuhörern Einblick in das Innere der Sprechenden, was diesen selbst gegenseitig verborgen bleibt“216 . Für Köhler stellt der Wechsel den übergeordneten Bezugs-

214 Vgl. Angermann, Wechsel, S. 134, der von einer „wahllose[n] Mischung von direkter und indirekter Rede“ spricht, die „vom künstlerischen Gesichtspunkte aus“ zu verwerfen sei; Jungbluth, Thesen, S. 101–112; Meyer, Strophenfolge, S. 115–118; Kaplowitt, Power of Love, S. 140f.; Scholz, Genâde, frouwe, S. 83–103; Kasten, Frauenlieder; Köhler, Wechsel, S. 215–220; Wolf, Frauenlied aus Männermund, S. 87f.; Rasmussen, Reason, S. 181–184; Mecklenburg, Walthers weibliche Stimme, S. 97f.  215 Vgl. hierzu Schweikle, Liedlyrik, S. 629. Schweikle spricht ebd., S. 196 von einer „DialogWechsel-Kombination“. Dies hat bisweilen dazu geführt, das Lied Walther abzusprechen. Zu den diskutierten Echtheitsfragen des Liedes vgl. Scholz, Genâde, frouwe, S. 87f.; Kasten, Dialoglied, S. 92, spricht von den „Möglichkeiten der Doppelperspektivierung, die sich in dieser Kombination von Dialog und ‚Wechsel‘ andeuten“. Zu unterscheiden ist hier zudem zwischen einem Dialog im engeren Sinne (direkter Austausch zwischen zwei Figuren) und „quasi-dialogischen“ Elementen, worunter Kehrt, Jô enwas, S. 148, „Motiv- und Reimresponsionen, das Wiederaufgreifen von Themen und Argumentationsmustern“ versteht. 216 Kasten, Dialoglied, S. 91f.

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rahmen des Liedes dar, wobei er von einer „modifizierten Wechselstruktur“ sowie der „innovativen Verarbeitung einer existierenden Liedgattung“ spricht, weil „gerade die für das Dialoglied konstitutiven Merkmale – direkte Rede und Gegenrede, die Einheit von Zeit und Raum“ fehlten.217 Trotz einer konsequenten Vermeidung eines Dialogs „im Sinne von Rede und Gegenrede“218 knüpfe jedoch jede Strophe deutlich an die vorhergehende an.219 Scholz spricht von einem „nicht zustande gekommenen Dialog“220 : „Wie oben vermutet, besteht der Sinn dieser eigenartigen Struktur gerade darin, das Nicht-Zustandekommen einer dauerhaften Beziehung und die Entfremdung zwischen den Partnern evident zu machen.“221 Abgesehen davon, dass Spekulationen über eine „Entfremdung zwischen Partnern“ sowie eine „dauerhafte Beziehung“ viel zu weit führen – der Text erlaubt aufgrund der Schwierigkeit einer Konkretisierung der einzelnen Redebeiträge keine Rückschlüsse auf derartige inhaltliche Deutungen –, scheint gerade die Frage, w i e dieses „Nicht-Zustandekommen“ vonstatten geht, einen wesentlichen Hinweis auf das Gesamtverständnis des Liedes zu geben. Ebenso sieht Meyer einen Reiz „in der fortlaufend erneuerten Entgegensetzung der Positionen von Mann und Frau“222 , was auch für die Textsorte ‚Dialoglied‘ typisch ist, wird doch hier das Register-Sprechen des Werbungslieds oftmals in zahlreichen ‚Neuansätzen‘ in seinen unterschiedlichen Ausprägungen abgerufen.223 Das Lied zeigt somit, dass die Grenzen zwischen den einzelnen Textsorten fließend verlaufen und eindeutige Zuordnungen oftmals nicht möglich sind. Grundlegend ist dabei ein AneinanderVorbeireden, welches nicht in Form einer gegenseitigen Übereinkunft aufgelöst wird: Während das weibliche Text-Ich die Untreue des Mannes beklagt, macht dieser um die Möglichkeit einer solchen überhaupt keinen Hehl und spricht im dialogischen Register indirekt, im monologischen Register scheinbar direkter von

217 Auch in inhaltlicher Hinsicht verweist Köhler, Wechsel, S. 220, auf Analogien zum Dialoglied, wobei seine Sicht auf den Wechsel insgesamt etwas zu schematisch ausfällt, worauf die Forschung bereits hingewiesen hat. 218 Ebd., S. 219. 219 Vgl. ebd. 220 Scholz, Genâde, frouwe, S. 92. 221 Ebd.; der Vollständigkeit halber sei hier auch noch verwiesen auf den Ansatz Jungbluths, Thesen, S. 111, der das Lied „weit eher“ als inneren Monolog deutet und in der frouwe den Wiener Hof zu erkennen glaubt. 222 Meyer, Strophenfolge, S. 117. 223 Eine solche Form der Minne-Diskussion, welche den metapoetischen Charakter dieser Texte kennzeichnet, nimmt Kerth, Jô enwas, S. 148f., auch für den Wechsel in Anspruch, weshalb Mann und Frau nicht von vornherein bestimmten ‚Typen‘ zuzuordnen seien. Die Frauenrede greift auch im Wechsel bisweilen auf Aussageformen zurück, welche aus dem männlich dominierten Werbungslied bekannt sind, sodass stets danach zu fragen ist, wie (vermeintlich) bekannte Redemuster jeweils in die Struktur der vorliegenden Strophe und deren argumentatives Schema eingefügt sind.

Strophisch organisierte Dialoglieder

der Hinwendung zu einem anderen wîp, um die Gnade der Angesprochenen frouwe bzw. des saelic wîp zu erlangen. Wird in Strophe 1 ein Treuebruch lediglich erwogen bzw. angedroht, wirft das Text-Ich der zweiten Strophe dem Mann vor, sich anderen Frauen bereits zuzuwenden. Die Absicht des Mannes (Str. 1) und der Vorwurf der Frau (Str. 2), welche von einer bereits erfolgten Hinwendung ausgeht, klaffen somit auseinander.224 Dabei ist erneut eine Unterscheidung zwischen Minneund Sangesebene zu beobachten, wodurch wiederum die Missverständnisse des Aneinander-Vorbeiredens eine Erklärung finden.

I

II

A 14–17, C 246–249; L 70,22225 Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche:226 lâ mich dir einer iemer leben. obe ich daz breche, daz ich furder strîche! wan einez solt dû mir vergeben, Daz maht dû mir ze kurzer wîle erlouben gerne, die wîle unz ich dîn beiten sol. ich nennez niht, ich meine jenz, dû weist ez wol. ich sage dir, wes ich angest hân: dâ fürht ich, daz ich ez wider lerne. ‚Gewinne ich iemer liep, daz wil ich haben eine. mîn friunt der minnet andriu wîp. an allen guoten dingen hân ich wol gemeine, wan dâ man teilet friundes lîp. Sô ich in underwîlent gerne bî mir sæhe, sô ist er von mir anderswâ. sît er dâ gerne sî, sô sî ouch dâ. ez tuot sô manigem wîbe wê, daz mir dâ von niht wol geschæhe.‘

224 Vgl. hierzu auch Kasten, Frauenlieder, S. 258. 225 Zitiert nach der Ausgabe von Bein (Text nach *AC auf der Basis von C), S. 291f.; die Editionen der 14. und 15. Auflage Cormeaus bzw. Beins unterscheiden sich deutlich, da in der 15. Auflage auf Konjekturen aus metrischen Gründen verzichtet wird; weitere Editionen: Schweikle, Walther1 , S. 196–199; Wapnewski, Walther, S. 42f. 226 Zur Textkritik dieses Verses vgl. unten Anm. 229.

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III

Si sælic wîp, si zürnet wider mich ze sêre, daz ich friunde an manige stat. sî gehiez mich nie geleben nâch ir lêre, swie jâmerlîch ich sî es bat. Waz hilfet mich, daz ich si minne vor in allen? si swîget iemer, als ich klage. wil sî danne, daz ich anderen wîben widersage, sô lâze ir mîne rede ein wênic baz gevallen.

IV

‚Ich wil dir jehen, daz dû mich dicke sêre bæte, und nam ich des vil kleine war. dô wisse ich wol, daz dû allenthalben alsô tæte, dâ von wart ich dir sô frömde gar. Der mîn ze friunde ger, wil er mich gewinnen, der lâze alle solhe unstætekeit. gemeine liep daz dunket mich gemeinez leit. nû sage, weist dû anders iht? dâ von getar ich dich niht geminnen.‘

Übersetzung teilweise orientiert an Schweikle, Walther1 , S. 197/199 I. Gnade, Herrin, und zwar folgendermaßen auf einsichtige Weise: lass mich nur für dich allein immer leben. Wenn ich jedoch dagegen verstoße, dass ich dann umherstreife! Nur eines sollst du mir vergeben, das kannst du mir für kurze Zeit ruhig erlauben, die Zeit, solange ich auf dich warten soll. Ich nenne es nicht, ich meine jenes, du weißt es wohl. Ich sage dir, wovor ich Angst habe: Da fürchte ich, dass ich wieder rückfällig werde (Wapnewski). II. ‚Gewinne ich jemals etwas Liebes, das will ich für mich allein haben. Mein Freund, der liebt andere Frauen. Bei allen guten Dingen ist mir Gemeinschaft willkommen, außer dort, wo man einen geliebten Menschen teilt. Wenn ich ihn bisweilen gerne bei mir sähe, so ist er anderswo (als bei mir). Da er dort gerne ist, so soll er auch dort sein. Es tut so mancher Frau weh, dass auch mir deshalb nicht wohl wäre.‘

Strophisch organisierte Dialoglieder

III. Die glückbringende Frau, sie zürnt mit mir zu sehr, weil ich mancherorts Freundschaft pflege. Sie befahl mir jedoch nie, nach ihrer Anleitung zu leben, wie jämmerlich ich sie auch darum bat. Was hilft es mir, dass ich sie vor ihnen allen liebe? Sie schweigt immer, wenn ich klage. Will sie daher (nun), dass ich mich von anderen Frauen lossage, so möge sie sich meine Rede ein wenig besser gefallen lassen. IV. ‚Ich will dir zugestehen, dass du mich oft eindringlich gebeten hast und ich dies nur sehr wenig zur Kenntnis genommen habe. Da wusste ich schon zu gut, dass du es überall genauso hieltst, dadurch wurde ich dir gegenüber ganz zurückhaltend. Wer mich zur Freundin haben möchte, wenn er mich gewinnen will, der unterlasse alle solche Unbeständigkeit. Gemeinsame Liebe, das scheint mir auch gemeinsames Leid zu bedeuten. Nun sag mal, weißt du es etwa anders? Deshalb traue ich mich nicht, dich zu lieben.‘

Das Lied beginnt mit einem typischen Aussagemodus des Werbungslieds.227 Das Wort bescheidenlîche verweist hierbei auf ein ‚angemessenes‘ Verhalten sowie auf eine Haltung, welche durch den Verstand gelenkt zu sein scheint.228 Scholz empfiehlt

227 Beispiele für eine an die Dame gerichtete Bitte um Gnade und eine mit einem Imperativ formulierte Aufforderung an diese finden sich in großer Zahl – etwa bei Heinrich von Rugge, wenn es dort heißt: Genâde, vrouwe, saelic wîp, / und troeste sêre mînen lîp, / der sich nâch dir gesenet hât. / du enwellest des ein ende lân, / der sorgen wirdet niemer rât (MF 105,10–14). Ebenfalls begegnen im Register des Werbungslieds wiederholt Formen von lân in Verbindung mit dem Bekenntnis, allein für die Dame zu leben. Vgl. etwa Heinrich von Veldeke: wol getâne, / valsches âne, / lâ mich wesen dîn / unde wis dû mîn. (MF 59,7–10); Ulrich von Gutenberg: ‚Vrouwe, habe genâde mîn, / daz zimt wol dîner güete. / lâ mich ir iemer einer sîn, / der dîner êren hüete, als ich ie tet (MF 72,21–25). 228 Vgl. auch Rasmussen, Reason, S. 182: „The term bescheidenlîche brings into play the entire complex of beliefs and values about reason, virtue, and women’s honor […].“ Sie versteht den Begriff bescheidenlîche ebenfalls im Sinne von »vernünftig«: „‚Have mercy, Lady, and act with reason and good judgment‘“. Der Begriff bescheidenlîche wird sowohl in den Lied-Corpora Heinrichs von Rugge als auch Reinmars verwendet. Vgl. Heinrich von Rugge, MF 109,36–41: Ich hân nâch wâne dicke wol / gesungen, des mich anders niene bestuont, / und lobe iedoch, als ich dâ sol, / swâ guotiu wîp bescheidenlîche tuont. / Daz biute ich mînen vriunden ze êren / und wil in iemer vröide mêren; Reinmar, MF 162,34–38: Ez tuot ein leit nâch liebe wê; sô tuot ouch lîhte ein liep nâch leide wol. / swer welle, daz er vrô bestê, / daz eine er dur daz ander lîden sol / Mit bescheidenlîcher klage und gar ân arge site. MF schlägt für die genannten Reinmar-Verse die Bedeutung »geziemend« vor. Lachmann fügt im ersten Vers ein tuo ein („Genâde, frouwe, tuo alsô bescheidenlîche“),

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für die vorliegende Walther-Stelle eine Übersetzung mit »unter solcher Bedingung« oder »so einsichtig, vernünftig«, wobei er das Adjektiv auf das Handeln des Mannes bezieht und anders als Bein interpungiert: Genâde, frouwe! alsô bescheidenlîche / lâ mich dir einer iemer leben.229 Während in dieser Lesart das männliche Text-Ich ein ‚einsichtiges‘ Verhalten für sich in Anspruch nimmt, impliziert die Aussage in der Ausgabe Beins – aber auch bei Schweikle und Wapnewski230  – eine Aufforderung an die Dame, sich angemessen und »ohne übles Gebaren« zu verhalten. Was unter einem Verhalten zu verstehen ist, welches vor der Hintergrundfolie des Werbungsliedregisters insgesamt als bescheidenlîche zu gelten hat, bleibt ebenfalls unklar. Es findet sich jedoch nun bereits im dritten Vers eine Einschränkung des zuvor dargebrachten Angebotes, da das Text-Ich in Form einer Konditionalkonstruktion die Möglichkeit eröffnet, gegen sein Versprechen zu verstoßen. In diesem Falle wolle es sich auf der Stelle zurückziehen, wobei das Verständnis des Verses nicht eindeutig ausfällt231 : Neben einer Relativierung der in Vers 2 erfolgten Absichtserklärung ließe sich die Aussage möglicherweise auch als eine indirekte

Wapnewski ergänzt mir („Genâde, frouwe, mir alsô bescheidenlîche“ – Cormeau schließt sich dem in der 14. Aufl. der Lieder Walthers an). Vgl. hierzu Wapnewski, Walther, S. 240: „Lachmann ergänzt tuo, und fügt damit eine nicht unwichtige Sinnbeigabe hinzu. Der Vorschlag unterstellt, daß beide Handschriften Unverständliches geschrieben haben.“ Wapnewski versteht die Form genâde „nicht als elliptische Exklamation sondern als Imperativ des Verbums genâden“ (ebd.), ebenso wie Bein, Walther, S. 293 (vgl. Lexer I, Sp. 851, das Lemma „genâden“: „gnädig, freundlich, wolwollend sein mit dat. d. p.“). In beiden Fällen (Wapnewski/Lachmann) forderte das Text-Ich die Dame jedoch zu einer Aktivität auf: Gnade, Herrin, handle (tuo) so auf richtige Weise – Herrin, sei mir gegenüber gnädig auf so richtige Weise. Beide Auffassungen wären daher denkbar – entscheidend ist, dass das Wort bescheidenlîche jeweils auf die Angesprochene bezogen wird. Dies gilt auch für die hier wiedergegebene – den Handschriften folgende – Auffassung des Verses in der 15. Auflage Beins: „Genâde, frowe, alsô bescheidenlîche: […]“, der mit einem Doppelpunkt nach dem ersten Vers interpungiert. Die Frage, ob das Wort genâde hier als Substantiv oder Verb verwendet wird, ist unerheblich, da in beiden Fällen das Text-Ich sehr deutlich an die ‚Gnade‘ der Dame appelliert. 229 Vgl. Scholz, Genâde, frouwe, S. 83, der – den Handschriften folgend – ebenfalls auf die Ergänzung von tuo bzw. mir verzichtet. Vgl. ebd., S. 84: „Es scheint mir hier darum zu gehen, daß der Mann es ist, der Bedingungen stellt oder vernünftiges Handeln für sich reklamiert.“ Vgl. ebenso Köhler, Wechsel, S. 215: „Warum sollte das Rollen-Ich nicht sagen können: ‚Genade, meine Herrin, so verständig lass mich dir allein immer dienen …‘? Auch metrisch steht dieser Lesung nichts entgegen […]“.  230 Siehe oben Anm. 225. 231 Auch die syntaktische Abhängigkeit des daz-Satzes ist hier nicht eindeutig. Eine Abhängigkeit von dem lâ des zweiten Verses ließe sich diskutieren. Vgl. die Übersetzungen bei Schweikle, Liedlyrik, S. 197: »lasse zu, dass ich Dir allein stets lebe, wenn ich jedoch dagegen verstoße, dass ich mich fortan zurückziehe« sowie Kasten, Frauenlieder, S. 105: »und laß mich immer nur für dich allein leben! / Breche ich dies Wort, so werde ich mich auf der Stelle von dir entfernen!« Entscheidend ist jedoch, dass das Text-Ich seinen Willen zum Ausdruck bringt, sich im Falle eines Verstoßes zurückzuziehen.

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Bekräftigung des zuvor angekündigten Vorhabens auffassen, etwa: Wenn ich dagegen verstoße (was ich mir jedoch unmöglich vorstellen kann), werde ich mich sofort zurückziehen (was ich jedoch keineswegs möchte)! 232 Dennoch wird durch diese Uneindeutigkeit der Textstelle sowie die bloße Möglichkeit eines Verstoßes gegen die Ausschließlichkeit der angesprochenen frouwe ein anderer Ton angeschlagen. Das Verb strîchen könnte hierbei etwa auch das »Herumstreichen« des fahrenden Sängers konnotativ abrufen233 und dadurch einen explizit sangesthematischen Bezug herstellen. Nolte verdeutlicht in diesem Sinne unter Verweis auf Kraus, dass es dem Text-Ich hier – mit Bezug auf die gesamte Strophe – darum gehe, „Druck auf die Dame auszuüben, indem erneutes Wandern und ein hiermit verbundenes Singen für fremde Frauen angekündigt werden, wenn die Dame noch länger auf sich warten lasse (1,6)“234 . In Vers 4 findet sich eine weitere Relativierung der in den ersten beiden Versen erfolgten Selbstpräsentation des Text-Ichs als aufopferungsbereiter Minnender: wan einez solt dû mir vergeben, woraufhin im fünften Vers erneut ein Imperativ begegnet: daz maht dû mir … erlouben, und zwar ze kurzer wîle gerne: Hierunter lässt sich eine »kurze Zeit« ebenso verstehen wie eine Unterhaltung und ein Vergnügen235 ; jedenfalls scheint das Text-Ich etwas für sich Angenehmes zu erbitten, das allerdings darüber hinaus keine nähere Konkretisation erfährt – so wird es in Vers 4 mit einez bezeichnet, in Vers 5 mit daz. Die Auffassung, dass dieses »eine« für eine »kurze Zeitdauer« erbeten wird, lässt hierbei unterschiedliche Rückschlüsse zu: Zum einen könnte man den Hinweis in dem Sinne deuten, dass das Erbetene nicht als etwas allzu Bedeutsames für das Text-Ich einzuschätzen ist, etwa: Eine Sache sollst du mir (nur) für kurze Zeit gern erlauben – sie ist nebensächlich und nimmt daher nicht viel Zeit in Anspruch (mach dir daher keine Sorgen, ich komme schnell zu dir zurück, weil du ja einzigartig bist). Zum anderen könnte 232 Vgl. hierzu auch die Übersetzung Wapnewskis, Walther, S. 43: »Breche ich diesen Vorsatz, dann – schwöre ich – geh ich für immer von Dir!« 233 Hierauf verweist bereits Kraus, Walther von der Vogelweide, S. 279, der zudem ebd., Anm. 3, deutlich macht, dass zum „Wandern“ auch die Aussage der zweiten Strophe Sô ich in underwîlent gerne bî mir sæhe, / sô ist er von mir anderswâ passe. Ebenso verweist er auf die Begriffe allenthalben (IV,3) und an manege stat (III,2), worauf auch Nolte, Walther von der Vogelweide, S. 160 sowie ebd., Anm. 21, mit Bezug auf Kraus aufmerksam macht. 234 Ebd. 235 Kasten, Frauenlieder, S. 105, übersetzt mit »zum Zeitvertreib«. Bei Reinmar beispielsweise ist der Begriff positiv konnotiert, da hiermit die Zeit bezeichnet wird, in der das Text-Ich die Dame zu Gesicht bekommt. Vgl. etwa MF 164,25–27: Dô was aber ich sô vrô der stunde, / und der vil kurzewîle, daz man der guoten mir ze sehenne gunde, / daz ich vor liebe niht ensprach. Bein konstatiert allerdings in der 15. Auflage der Lieder Walthers, S. 639: „Frühere Hgg. haben an das Kompositum ‚Kurzweil‘ gedacht. Ob die Schreiber der Hss. dies gemeint haben, mag aber zweifelhaft sein, da das Kompositum in dieser Zeit bereits auch handschriftlich verbreitet ist. Man kann diese Stelle auch folgendermaßen deuten: ‚für kurze Zeit‘ (nämlich die Zeit, in der der Mann auf die Frau warten muss).“

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das Text-Ich jedoch auch zum Ausdruck bringen, dass die Dame ihm diese eine Sache – welche (zum Glück) nicht viel Zeit beanspruche – unbedingt erlauben soll, gerade weil sie für ihn so wichtig ist, etwa: Eine Sache sollst du mir (wenigstens) für kurze Zeit gern erlauben, weil sie so wichtig für mich ist (mach dir aber keine Sorgen, ich komme schnell zu dir zurück …). Der sechste Vers führt ebenso zu keiner Konkretisation des Erbetenen, sondern wirkt zunächst eher wie ein retardierender Einschub: die wîle, unz ich dîn beiten sol […] Auffällig ist hier jedoch das erneute Aufgreifen des Begriffes wîle. Wird im fünften Vers durch das Wort eine positive Konnotation abgerufen, da der Mann in dieser Zeit das Eintreten von etwas von ihm Erwünschtem zu erwarten scheint, verweist es im sechsten Vers eindeutig auf die Zeit des Wartens auf die Dame, welche im Werbungslied prägend für den Dienst des Minnenden ist.236 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie sehr das Text-Ich in L 70,22 aus dem Rahmen zu fallen scheint: Während bei Ulrich von Gutenberg etwa das Angebot einen Anspruch auf Dauer erhebt (iemer, daz ich niemer vuoz getret), wird dieses bei Walther sogleich eingeschränkt: obe, wan einez […]. Dass es zu einer Einschränkung kommt und dass der aufopfernde Dienst für die Dame kein Selbstzweck ist, gehört zu den Paradigmen des Werbungslieds. Auch wird die Sorge um ein zu langes Warten häufig zum Ausdruck gebracht, doch dabei werden gleichzeitig der Wert einer Zeit fehlender Erhörung an sich und die Fähigkeit zur Ausdauer betont.237 Kennzeichnend ist hierfür meist, dass das ersehnte Ende der Zeit des Wartens an die auserwählte Dame geknüpft ist. In der vorliegenden Strophe Walthers von der Vogelweide scheint das Text-Ich dagegen überaus schnell und dabei die eigene Dienst- bzw. Opferbereitschaft für die frouwe hinter sich lassend zu einer Einschränkung des in den Versen 1 und 2 dargebrachten Angebots zu kommen; es präsentiert sich als nicht bereit, diese 236 Im Leich Ulrichs von Gutenberg liest man beispielsweise: Vrouwe, habe genâde mîn, / daz zimt wol dîner güete. / lâ mich ir iemer einer sîn, / der dîner êren hüete, / als ich ie tet; / und daz ich niemer vuoz getret / ûz dîme lobe, / ich geliges under oder obe (MF 72,21–28); bei Veldeke erhält derjenige eine Belohnung, der sich durch langes Warten bewährt: Swer wol gedienet und erbeiten kan, / dem ergêt ez wol ze guote (MF 67,33–34). Auch in zahlreichen Liedern Reinmars wird die Beständigkeit – die staete des Dienstes – betont: Ich spriche iemer, swenne ich mac und ouch getar: / ‚vrouwe, wis genaedic mir.‘ / si nimet mîner swachen bet vil kleine war. / doch sô wil ich dienen ir / Mit den triuwen, und ich meine daz / und alse ich ir nie vergaz, / sô gestân diu ougen mîn und niemer baz (MF 173,6–12). 237 Vgl. Reinmar, MF 189,21–22: dâ bî sô ist diu sorge mîn, / daz man ze lange beitet. daz kumet niht wol ze guote; ders., MF 189,32–37: Ez bringet mich in zwîvel eteswenne, / daz ich lônes bîte in alsô langer mâze. / an der ich aber triuwe und êre erkenne, / waene ich des, daz mir diu ungelônet lâze, / Sô geschaehe an mir, daz nie geschach. / guot gedinge ûz lônes rehte nie gebrach; ders., MF 174,1–2: tuot si mir ze lange wê, / sô gedinge ich ûf die sêle niemermê; Dietmar von Eist, MF 33,23–30: Ich bin dir lange holt gewesen, vrowe biderbe unde guot. / vil wol ich daz bestatet hân! du hâst getiuret mînen muot. / swaz ich dîn bezzer worden sî, ze heile müez ez mir ergân. / machest dû daz ende guot, sô hâst du ez allez wol getân.

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lange Zeit des Ausharrens als eine Zeit von Verzicht und Entbehrung auf sich zu nehmen. Der Mann erbittet darüber hinaus etwas – einez –, das auffälligerweise nicht unmittelbar an die Dame selbst geknüpft ist: Während in den Versen 4 und 5 denkbar ist, dass sich die Bitte des Text-Ichs auf ein gewünschtes Verhalten der Dame bezieht – eine Liebeserfüllung durch diese? – macht Vers 6 deutlich, dass dies nicht der Fall zu sein scheint, da es heißt: »solange ich auf dich warten soll.« Zwar wird die Angesprochene hierdurch herausgestellt – scheint es sich doch zu lohnen, auf sie zu warten –, aber gleichzeitig implizieren die Aussagen des TextIchs, dass es in der Zeit des Wartens seinen Vorsatz brechen wolle, allein für die Angesprochene zu leben: Sie möge »erlauben« und »vergeben«, was ob der Bitte nicht einer gewissen Komik entbehrt, gerade auch vor dem Hintergrund der Herausstellung der Dame in anderen Minneliedern – bei Friedrich von Hausen heißt es etwa, dass der Minnende sogar im Gebet an die Dame denkt und hierfür um Vergebung bittet.238 Auch im siebten Vers der ersten Walther-Strophe weigert sich das Text-Ich, das von ihm Erbetene genauer zu benennen: ich nennez niht, ich meine jenz, dû weist ez wol. Es scheint sich hier auf ein mit der Angesprochenen gemeinsames Wissen zu beziehen, welches es jedoch nicht explizit machen möchte, wobei allerdings der Verweis auf eine zu gewährende Liebeserfüllung – gerade auch aufgrund der Nicht-Nennung – hier konnotativ überaus stark ist. Der letzte Vers überrascht nun wegen einer Angst des Mannes: Er fürchte, dass er ez wider lerne. Angenommen, dass sich ez auf das zuvor genannte einez und jenz bezöge, welches erbeten wurde, bringt das Text-Ich nun eine Sorge zum Ausdruck, welche durch den Erwerb dieses »einen« bedingt zu sein scheint. Schweikle übersetzt hier: »Ich fürchte, dass ich es dabei wieder liebgewinne.« Die ab dem zweiten Vers konnotativ evozierte Hinwendung zu einer anderen Dame wird erneut angedeutet, mit der sich das Text-Ich wohl durchaus anfreunden könnte, was dem Verweis auf die eigene Angst eine ironische Note abgewönne, etwa: Ich befürchte, dass ich mich (den durchaus angenehmen Verlockungen) anderer (Damen) nicht entziehen kann (wenn du dich nicht bald mir gegenüber ein wenig gnädiger verhältst). Das wider verweist möglicherweise auch darauf, das die Angesprochene gerade nicht ‚die Einzige‘ zu sein scheint, das Text-Ich könnte wohl früher schon ‚eine andere‘ – gemäß der Übersetzung Schweikles – »lieb gehabt« bzw. umworben haben.239 Zu überlegen

238 Mîn herze unsanfte sînen strît / lât, den ez nu mange zît / hât wider daz alre beste wîp, / der ie mîn lîp / muoz dienen, swar ich iemer var. / ich bin ir holt; swenne ich vor gote getar, / sô gedenke ich ir. / daz geruoch ouch er vergeben mir: […] (MF 46,9–16). 239 Meyer, Strophenfolge, S. 116, Anm. 2, plädiert gegen eine Gleichsetzung des Gefürchteten mit dem, was sich das Text-Ich wünscht: „Das ‚eine‘, was Walther sich zugestanden wünscht von der Dame (v.4–7), kann schwerlich gleichzusetzen sein mit dem, was er v.8f. fürchtet. Die Schwierigkeit ist zu beheben durch eine neue Interpunktion (gegenüber LACHMANNs Doppelpunkt hinter v.8): ‚ich sage dir: wes ich angest hân , / dâ fürht ich daz ichz wider lerne.‘ D.h. ‚Dagegen sage

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ist hier allerdings, ob die Übersetzung mit »liebgewinnen« nicht etwas zu stark im positiven Sinne konkretisiert, da das mittelhochdeutsche lernen auch im Neuhochdeutschen seine Bedeutung behält. Eine Festlegung fällt an dieser Stelle jedenfalls schwer. Wapnewskis Übersetzung mit »rückfällig werden« wirkt etwas neutraler, da mit dieser Formulierung nicht einseitig eine positive Bewertung des im letzten Vers genannten ez einhergeht.240 Scholz folgert im Sinne Schweikles, wenn er schreibt: „Dieser Schluß ist nichts anderes als Nötigung, ein Erpressungsversuch, um sie zu einem raschen Ja zu bewegen.“241 Köhler spricht von einer „für die vorliegende Männerrolle typische[n] Chuzpe“: „Der Mann versucht, latent auf die Frau Druck auszuüben, damit sie seinem Anliegen schnell entspricht.“242 Der Bezug des mehrmals wiederholten ez auf eine andere Frau ließe sich hierbei vor allem auch sangesthematisch deuten, indem der Mann – rhetorisch durchaus geschickt – sozusagen einen ‚Spagat‘ versuchen würde zwischen der ‚wahren‘ Liebe für die eine – für die allein er leben möchte (Minneebene) – und dem Dienst und Sang auch für andere Frauen (Sangesebene), während er auf die Angesprochene wartet; auch der weitere Liedverlauf macht sehr deutlich, dass ein Missverständnis gerade durch eine solche Überschneidung von Sanges- und Minneebene bedingt zu sein scheint, etwa: Lass mich doch wenigstens – während ich auf dich warte – weitersingen und (hierbei auch anderen Herrinnen) dienen, ohne dabei jedoch deine Einzigartigkeit ich dir eines ganz offen (im Unterschied zu dem ungesagt Gebliebenen, v.7): Ich fürchte, dabei (= beim Singen für die anderen) das erneut zu erfahren, wovor ich angest habe‘ – nämlich das Zürnen der Dame (vgl. III,1ff.).“ Scholz, Genâde, frouwe, S. 102, Anm. 71, argumentiert dagegen, er hält Meyers Auffassung des Verses „für kaum nachvollziehbar“: „Der stärkere syntaktische Einschnitt nach dir wäre im Vortrag kaum wiederzugeben, außerdem heißt ez wider lernen kaum ‚etwas erneut erfahren‘.“ Während Scholz die Angst darauf bezieht, das unbestimmte ez »wieder zu lernen«, welches je nach Deutung mit dem zuvor genannten ez in den Versen 4–7 gleichgesetzt werden könnte (Ich fürchte, dass ich ez „wider lerne“), bezieht Meyer das ez wider lerne auf etwas, vor dem das Text-Ich Angst habe (Ich fürchte ez erneut zu erfahren, wovor ich Angst habe). Die Unterschiede in der jeweiligen Auffassung sind jedoch gar nicht so groß, da Meyers Bezug auf das Zürnen der Dame nur eine mögliche Deutung darstellt. Es ließe sich hier ebenso wie hinsichtlich der Lesart Scholz’ – wie auch im Hinblick auf die dieser Arbeit zugrundeliegende Auffassung des Verses – diskutieren, ob nicht ebenso der Dienst an anderen Frauen oder gar die Liebeserfüllung durch diese ursächlich für die Furcht des Text-Ichs sein könnte, was ja letztendlich ebenso zu dem Zorn der Angesprochenen führen könnte. Die Angst vor etwas Erwünschtem irritiert zwar zunächst (siehe Meyer), würde aber dem Vers eine durchaus unterhaltende Pointe abgewinnen. 240 Lexer I, Sp. 1885, schlägt hier darüber hinaus »kennen lernen« vor, im Lemma bei Hennig, S. 202, findet sich zudem die Bedeutung »erfahren«. Wapnewski, Walther, S. 43, übersetzt: »ich fürchte, daß ich dabei rückfällig werde.« Allerdings findet sich in dieser Übersetzung das für die Deutung der Strophe wesentliche ez des letzten Verses nicht wieder. 241 Scholz, Genâde, frouwe, S. 86. Mecklenburg, Walthers weibliche Stimme, S. 97, spricht von einer „höflich vorgebrachte[n] Erpressung“ und schließt hieraus gleichzeitig auf „die beständige Zielstrebigkeit des Mannes bei der Verfolgung seines Begehrens“. 242 Köhler, Wechsel, S. 216f.

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infrage zu stellen! Die Furcht am Ende deutet nun jedoch an, dass er diese Kunstausübung wieder zu sehr liebgewinnen könnte und hierdurch Gefahr liefe, dass die Angesprochene zu einer Differenzierung zwischen beiden Ebenen – Minnevs. Sangesebene – nicht fähig wäre, indem sie nicht erkennen würde, dass der Mann, auch wenn er für alle oder andere Frauen singt, in Wahrheit nur ihr dient. Latent ist hierdurch gleichwohl auch weiterhin stets die Hinwendung zu einer anderen Frau auch auf der Minneebene – und Abwendung von der Angesprochenen Dame – präsent. Das Ausmaß der Bitten des Mannes wirkt im Register des Werbungslieds umso unpassender, wenn man bedenkt, dass im ersten Vers der Walther-Strophe das Text-Ich je nach Bezug des bescheidenlîche ein ‚angemessenes‘ Verhalten der Dame einfordert: Zu einem solchen gehört gerade die Zurückhaltung gegenüber den Offerten des Minnenden, der jedoch in der vorliegenden Strophe Walthers ein gegenteiliges Verhalten für wünschenswert zu erachten scheint, da er eine Zuwendung durch die angesprochene Dame indirekt einfordert.243 Auf das Text-Ich bezogen – wie es die Handschriften nahelegen – wirkt der Begriff des bescheidenlîche ebenso unpassend, da der Minnende aufgrund seiner Forderungen das werbungsliedtypische Gebot der mâze zu überschreiten scheint. Eine ironisch nuancierte Deutung der Furcht des Mannes ist jedoch nicht zwingend: Möglicherweise ist diese auch insofern ‚ernst‘ zu nehmen, als das Text-Ich tatsächlich die Liebe der in dieser Strophe Angesprochenen vorzöge. Köhler verweist ebenso auf diese Zweideutigkeit des Strophenschlusses: „Ist seine Angst, er könne jenes Ungenannte (dauerhaft) wieder aufnehmen, Teil seiner ‚Strategie‘ oder äußert sich darin ernsthafte Betroffenheit?“244 In diesem Sinne ließe sich der Vers in etwa derart konkretisieren: Ich befürchte (ernsthaft), dass ich es (eine andere Frau – den Dienst an ihr bzw. den Sang für sie – die Liebeserfüllung durch diese?) liebgewinnen und dich dadurch verlieren werde. (Sieh daher zu, dass du dich mir gegenüber ein wenig entgegenkommender verhältst!) ODER Ich ‚befürchte‘ (allerdings nicht ernsthaft), dass ich es (eine andere Frau … s. oben) liebgewinnen werde …245 Die im dialogischen Register nur angedeutete Nennung des Ersehnten wird nicht konkretisiert.246 Die

243 Vgl. hierzu auch Rasmussen, Reason, S. 182, unter Einbezug der Rede des weiblichen Text-Ichs im weiteren Liedverlauf: „But equally, the female speaker in the poem clearly claims that taking the action suggested by the lover would not constitute sound and reasonable judgment on her part.“ 244 Köhler, Wechsel, S. 217. 245 Ebd., Anm. 564, weist auf die unterschiedlichen Auffassungen von wider lernen hin, „je nachdem ob man wider iterativ (‚wieder, erneut lernen‘) oder adversativ (‚das Gegenteil erfahren‘) deutet.“ Kasten, Frauenlieder, S. 105, übersetzt denn auch: »Da fürcht ich, daß ich’s Gegenteil erfahre.« Diese Auffassung setzt einen etwas anderen Akzent und ließe sich in dem Sinne verstehen, dass eine andere Frau möglicherweise nicht so ‚zimperlich‘ ist wie die Angesprochene. 246 Diese Frage ist auch in anderen Liedkontexten schwer zu entscheiden, wenn es etwa heißt Frömde wîp, diu dankent mir vil schône (L 100,17), da auch hier danach zu fragen ist, worin genau der Dank der fremden Frauen besteht. Haferland, Hohe Minne, S. 288, konkretisiert hier viel zu stark:

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wörtlich zu nehmende Auffassung der Furcht würde jedoch erneut eine indirekte Herausstellung der Angesprochenen bedeuten247 , was wiederum – wenn auch nur andeutungsweise – auf die werbungsliedtypische Einzigartigkeit der Herrin verwiese.248 Die z we ite St rophe wird in Form einer Art Grundsatz des sprechenden TextIchs eröffnet: Gewönne es jemals einen Geliebten bzw. Liebe – die Bedeutung von liep ist hier nicht eindeutig konkretisierbar – wolle es diesen bzw. diese für sich allein haben. Köhler spricht von „festen Grundsätzen“, welche die Frau – als eine „Nur wenn sie ihm das eine – den Beischlaf – gewähre, wolle er ihr allein dienen und andern wîben widersagen (L 71,7).“ 247 Ähnlich äußert sich der Minnende in weiteren Liedern Walthers. Vgl. L 53,17: Mîner frowen darf niht wesen leit, / daz ich rîte und vrâge in frömdiu lant / von den wîben, die mit werdekeit / lebent, der ist vil mengiu mir erkant, / Und die schœne sint dâ zuo. / doch ist ir deheine / weder grôz noch kleine, / der versagen mir iemer wê getuo; L 100,17: Frömde wîp, diu dankent mir vil schône, / daz si iemer sælig müezen sîn! / daz ist wider mîner frowen lône / mir ein kleinez denkelîn. / Si hab den willen, den si habe, / mîn wille ist guot, und klage diu werc, / gêt mir an den iht abe. Auch hier wird stets deutlich, dass trotz der Hinwendung zu anderen Frauen die ‚eine‘ besungene Dame ihren Status der Einzigartigkeit nicht einbüßt. 248 Dass sich das ez in Vers 9 auf das zuvor Erbetene bezieht, ist allerdings nicht von vornherein anzunehmen. Eine weitere Deutung ist vor dem Hintergrund der folgenden Strophen und deren erneuter Anknüpfung an die staete-Thematik zu erwägen. Dass diese für das Verständnis des gesamten Lieds grundlegend ist, machen alle Strophen deutlich, in welchen es jeweils um das Thema einer Hinwendung des Mannes zu anderen Frauen geht, was einen offensichtlichen Verstoß gegen das staete-Gebot bedeutet. Köbele, Ironie und Fiktion, S. 304, unterscheidet in ihrer Untersuchung von Walthers staete-Lied L 96,29 zwischen staete als „objektive[r] Wertkategorie (stæte als êre, V. 2)“ und „subjektive[r] Leiderfahrung (stæte als angest, nôt, ungemach, leit, Vv. 1–6)“. Vgl. ebd., S. 305: „Es beklagt sich ein endlicher Mensch, der unendlich – endelôs – dienen soll, seine stæteVersicherungen also nicht abschließen, nur abbrechen kann. stæte kommt dem zu, der sich müde dient ohne Lohn. Seine Spannung gewinnt der stæte-Begriff einerseits aus diesem ambivalenten Zeitstatus (stæte als Verlaufsmodell in der Zeit, zugleich ‚ewig‘) und anderseits seiner geistlichweltlichen Zwischenstellung (die erhoffte ‚Gnade‘ steht zugleich innerhalb und außerhalb des Dienst-Lohn-Bedingungsverhältnisses).“ Vor diesem Hintergrund setzt das in L 70,22 präsentierte männliche Text-Ich seine subjektive Leiderfahrung (s. Str. 3: si swîget iemer …) sehr viel höher an und scheint einen Ehrverlust in Kauf zu nehmen. In Anknüpfung an das von Köbele untersuchte staete-Lied Walthers wäre hier jedoch auch eine andere Akzentuierung möglich. Besagtes Lied beginnt wie folgt und führt die staete als einen Auslöser für eine Furcht des Text-Ichs ein: Stæte ist ein angest und ein nôt, / in weiz niht, ob si êre sî […]. Es ist daher zu überlegen, ob sich die Angst des Text-Ichs am Ende der ersten Strophe in L 70,22 nicht auch in dem Sinne deuten ließe, dass es fürchte, sich erneut auf die staete zu besinnen, also auf einen der Grundgedanken des Werbungslieds überhaupt. Seine Angst wäre dadurch zu erklären, dass es sich in diesem Fall eben nicht auf eine andere Frau einlassen könnte und weiterhin um die dame sans merci werben würde – ohne Aussicht auf (baldiges) Glück einer Liebeserfüllung: Ich sage dir, wovor ich Angst habe: dass ich (meine Androhungen nicht wirklich in die Tat umsetzen können werde und) es (= meinen aufopfernden Dienst an dir) wieder lerne (du bist einzigartig)! Die in diesem Zusammenhang recht offene Bedeutung des Verbs lernen würde diese Auffassung des Verses ebenfalls unterstützen.

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solche ist das Text-Ich spätestens ab Vers 2 zu erkennen – dem „Wankelmut“ des Mannes gegenüberstelle.249 Der erste Vers allein erlaubt jedoch noch keinen genauen Rückschluss auf die Gesamtdeutung der Strophe: Eine Pronominalform der Anrede findet sich hier zwar nicht, aber dennoch wäre es denkbar, dass sich das Text-Ich direkt an die Figur der ersten Strophe richtete, was inhaltlich durchaus nachvollziehbar wäre. Das in einem solchen Fall auch ohne Berücksichtigung des zweiten Verses als weiblich zu bestimmende Text-Ich würde auf das Ansinnen des Mannes der ersten Strophe, nicht nur für die ‚eine‘ zu leben (V. 2), verkünden, dass es dies für sich allein haben wolle, was es liep gewonnen habe. Erwarten ließe sich daher möglicherweise ein direkter ‚Schlagabtausch‘ über den Ausschließlichkeitstopos.250 Entschärft wird diese Situation dann jedoch durch den zweiten Vers, der ein monologisches Sprechen der Frauenfigur nahelegt, äußert sie sich doch in der dritten Person über ihren ‚Freund‘. Die Bestimmung des Texttyps fällt hier somit zunehmend schwer. Das Sprechen über den anderen bzw. die andere ist spezifisch für den Wechsel, wodurch im Hinblick auf die Andeutung eines Konflikts die Möglichkeit eines Aneinander-Vorbeiredens eröffnet wird. Hinsichtlich des ebenfalls wechseltypischen Registers eines Gefühlsausdrucks der weiblichen Sprecherin verhält sich diese jedoch äußerst zurückhaltend. Insgesamt laviert ihr Sprech-Modus zwischen verallgemeinernden Aussagen und solchen, welche die Situation des Text-Ichs selbst betreffen.251 Inhaltlich knüpft der zweite Vers noch deutlicher als der erste an die vorangegangene Strophe an, da das nun eindeutig als weiblich zu bestimmende Text-Ich verkündet, dass sein Geliebter (friunt) andere Frauen minne, woraufhin in den Versen 3 und 4 eine Wertschätzung von Gemeinschaftlichkeit im Hinblick »auf alle guten Dinge« zum Ausdruck gebracht wird, wobei jedoch gerade ein friunt nicht zu teilen sei.252 Bezogen auf die in der Deutung der ersten 249 Köhler, Wechsel, S. 217. 250 Vgl. hierzu auch die Reinmar-Strophe MF 179,30, wo ein männliches Text-Ich von der Frau auss ch l i e ßl i ch geliebt werden möchte: Mir ist lieber, daz si mich verber, / und alsô daz sî mir doch genaedic sî, / danne si mich und jenen und disen gewer; / seht, sô wurde ich niemer mê vor leide vrî. / Nieman sol des gerende sîn, / daz er spreche ‚mîn und dîn / gemeine‘. / ich wil ez haben eine. / schade und vrome sî mîn. 251 Im letzten Vers dagegen verschmelzen beide Ebenen miteinander: ez tuot sô manigem wîbe wê, daz mir dâ von niht wol geschaehe (II,9). 252 Eine sehr ähnliche Forderung findet sich in einem weiteren Lied Walthers, in diesem Fall als Aussage eines männlichen Text-Ichs: Frowe, des versinne / dich, ob ich dir zuo ihte mær sî. / eines friundes minne / entouc niht, dâ ensî ein ander bî. / Minne entouc niht eine, / sie sol sîn gemeine, / , daz si gê / durch zwei hertze und niht mê (L 51,5). Auch wenn in beiden Liedern thematisch ein ähnlicher Standpunkt vertreten wird, handelt es sich doch um deutlich voneinander zu unterscheidendende Sprechregister: L 51,5: dû versinne dich / dâ ensî, / si sol sîn gemeine / sô gemeine, daz si gê. – L 70,22: daz wil ich haben eine / hân ich wol gemeine […]. Die Rede der Frau in L 70,22 wirkt im Vergleich zum Lied L 51,5 vielmehr als eine Umsetzung der durch ein männliches Text-Ich geforderten Position.

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Strophe eröffnete Unterscheidung zwischen Minne- und Sangesthematik bezieht sich die Frau konsequent auf die Minneebene, sie sieht ihre Einzigartigkeit infrage gestellt und unterstellt dem Mann eine Minne zu anderen Frauen.253 Während Vers 1 impliziert, dass sie keine liep – keinen Geliebten? – habe (»Gewinne ich jemals […]«), deutet sie durch die Formulierung mit mîn im zweiten Vers an, dass eine engere Bindung zwischen ihr und einem Mann, dem friunt, zu bestehen scheint. In Vers 5 geht die dargestellte Frauenfigur erneut auf ihre eigene Situation ein: Wenn sie ihn einmal gerne sehen möchte, sei er anderswâ254 ; wenn er nun aber gerne »dort« sei, so solle er auch ruhig dâ bleiben. Im letzten Vers kommt es erneut zu einem verallgemeinernden Bezug auf viele andere Frauen, denen offensichtlich dasselbe widerfahre: So manchem wîbe tue ez weh, weshalb auch ihr deshalb nicht wohl wäre.255 Worauf sich das hier genannte ez (vgl. Str. 1) bezieht, bleibt erneut unklar: Was genau tut so mancher Frau weh? – die Abwesenheit des Mannes? Das Anderswo-Sein des Mannes? Das liep-Gewinnen eines Mannes? Im Register des Frauenlieds begegnet die Sorge des Text-Ichs um die Treue des Geliebten etwa als Sorge um das vremeden sowie um dessen Aufrichtigkeit.256 Dabei wird ein Bedauern des Text-Ichs oftmals sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: nu fürht aber ich, tuot mir den tôt, muoz ich klagen … Die Frau in der zweiten Strophe des Walther-Tons äußert sich dagegen äußerst distanziert: So heißt es zwar, dass sie ihn bisweilen gerne bei sich sähe, ein Gefühlsausdruck hinsichtlich der in dieser Strophe als aktuell dargestellten emotionalen Befindlichkeit des Text-Ichs findet sich dagegen nicht. Auch der letzte Vers arbeitet mit auffälligen Strategien der

253 Die weibliche Rede greift hier auf Aussageformen des Werbungsliedregisters zurück und passt diese in ihre Argumentation ein. Scholz, Genâde, frouwe, S. 86, betont im Hinblick auf L 70,22, dass die Frau genau das formuliere, „was der Mann ihr mit seinen ersten Versen gelobt hat“: „Sie greift nur den einen Punkt auf und stellt zudem das, was der Mann als Möglichkeit für die Zukunft ausgesprochen hat, als Faktum für die Gegenwart hin“. Vgl. I,2: lâ mich dir einer iemer leben – II,1: […] daz wil ich haben eine. 254 Über die Bedeutung des anderswâ besteht hier kein Zweifel. Vgl. auch Bolls Interpretation dieses Wortes in Albrechts von Johansdorf Ich vant si âne huote (s. unten). Unter Berücksichtigung des Walther-Liedes ist eine auf einen Kreuzzug bezogene Deutung des Begriffes wohl zu bezweifeln, auch wenn das Albrecht-Lied früher entstanden ist. Vgl. darüber hinaus etwa auch das zweite Ambraser Büchlein, Vv. 536f., wo mit anderswar ebenfalls eindeutig eine andere Frau gemeint ist. 255 Rasmussen, Reason, S. 183f., verweist auf die Verwendung von ‚Allgemeinplätzen‘ (‚commonplaces‘) in der Rede des weiblichen Text-Ichs. 256 Vgl. Walther, L 71,24: nû fürht aber ich, daz erz mit valsche meine; Reinmar, MF 156,8–9 (VIa): sîn vremeden tuot mir den tôt / unde machet mir diu ougen rôt; Heinrich von Rugge, MF 107,17–26: Solt ich an vröiden nu verzagen, / daz waer ein sin, der nieman wol gezaeme. / er muoz ein staetez herze tragen, / alse ich nu bin, der mich dâ von benaeme; / er muose zouberliste haben, / wan mîn gewin sich hüeb, alse er mir kaeme. / sîn langez vremeden muoz ich klagen. / du solt ime, lieber bote, sagen / den willen mîn, / wie gerne ich in saehe, sîne vröide [] vernaeme.

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Distanzerzeugung: Das Text-Ich schließt hier von einer verallgemeinernden Feststellung hinsichtlich vieler Frauen auf sich selbst: »Es tut so mancher Frau weh, dass auch mir deshalb nicht wohl wäre«, konstatiert das Text-Ich unter Verwendung des Konjunktivs im Hinblick auf die eigene emotionale Verfassung (aber bisher scheint es der Frau noch nicht sehr schlecht zu gehen? – trotz des Verhaltens des Mannes?). Vers 7 fällt dagegen aus dem Rahmen, da sich das Text-Ich hier in einem äußerst direkt wirkenden Gestus äußert.257 Die Entschlossenheit und klare Abweisung des Mannes ist wiederum typisch für das weibliche Register des Dialogliedes. Insgesamt betrachtet ließe sich darüber hinaus auch diese Strophe vor dem Hintergrund einer Überschneidung von Sanges- und Minnethematik deuten: Möglicherweise vollzieht die Dame die je nach Lesart in Strophe 1 eröffnete Differenzierung zwischen Minneund Sangesebene nicht mit und erkennt dadurch bedingt nicht an, dass der Mann, auch wenn er vielerorts und unterschiedlichen Frauen seinen Dienst und Sang darbiete, dennoch nur sie ‚wahrhaft‘ liebe, weshalb sie sich in ihrer Einzigartigkeit zurückgesetzt sähe: Die Bitte des Mannes in Strophe 1, nur für sie zu leben, aber dennoch auch – unabhängig von ihr – Minnesang ausüben zu dürfen, würde sie folglich nicht durchschauen. Gleichzeitig wird jedoch auch genau gegenteilig das Versprechen des Mannes, nur für sie zu leben, auch wenn er anderen Frauen diene, durch das in Strophe 2 sprechende Text-Ich infrage gestellt, da nicht auszuschließen ist, dass er sich nicht doch – minnethematisch gesprochen – einer anderen Dame ‚ernsthaft‘ zuwenden könnte. Das Text-Ich der zweiten Strophe nähme somit seine Treueschwüre (vgl. Vers 1,1–2) nicht ernst und durchschaute den Mann, welcher nur vorgeb en würde, sie als einzige zu lieben. Auch für das Verständnis der d r itte n St rophe ist diese Unterscheidung zwischen Minne- und Sangesebene ausschlaggebend, wobei der Mann nicht deutlich zwischen beiden Ebenen unterscheidet: Die Rede beginnt in einem reflektierenden Modus des Minnenden: Die glückbringende Frau zürne mit ihm zu sehr, weil er mancherorts Freundschaft pflege.258 Als Begründung für dieses ‚Fremdgehen‘, das er im zweiten Stollen einzugestehen scheint, gibt der Mann an, dass die Frau ihm noch nie befohlen habe, nach ihrer Anleitung (Schweikle übersetzt »nach ihren Vorstellungen«) zu leben, so jämmerlich er sie auch darum gebeten habe, wobei die Bedeutung von ir lêre nicht näher geklärt wird. Vor dem Hintergrund der zweiten

257 Vgl. Meyer, Strophenfolge, S. 117, wobei er jedoch dieses Urteil für die Strophe insgesamt fällt: „Dem rücksichtsvollen Ton der Bitte im Bemühen, das, was die Frau erzürnen könnte, durch bloße Andeutung tunlichst zu mildern, steht ihre Antwort schroff entgegen, die aus dem Zorn so wenig einen Hehl macht wie aus dem Motiv dafür“. Eine solche aus den Worten des Text-Ichs ableitbare Wut scheint jedoch lediglich auf den siebten Vers zuzutreffen, da das Text-Ich insgesamt doch eher in einem Modus spricht, der eine gewisse Distanz zum Ausdruck zu bringt. 258 Vgl. Schweikle, Walther1 , S. 629: „Grundbedeutung ›sælde (Heil, Glück, Güte) habend oder verteilend‹, häufige Captatio benevolentiae gegenüber der besungenen Frau“.

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Strophe ließe sich annehmen, dass hiermit der hohe Stellenwert einer Ausschließlichkeit des Minnepartners gemeint sein könnte: an allen guoten dingen hân ich wol gemeine, wan dâ man teilet friundes lîp (II,3f.). Um eben diese hat zudem bereits das männliche Text-Ich in Strophe 1 gebeten: »Lass mich allein für dich immer leben!« Die Frauenfigur der zweiten Strophe bedauerte jedoch den Verstoß des Freundes gegen dieses Gebot und offensichtlich nicht grundlos, da der Mann der ersten Strophe ebenfalls eine Lockerung der Ausschließlichkeit der frouwe erbeten bzw. angedeutet hat. Das Text-Ich in Strophe 3 kritisiert demzufolge ein Verhalten der Dame (si zürnet wider mich), das dadurch bedingt zu sein scheint, dass es selbst nicht zu einer Umsetzung der von ihm zu Beginn des Liedes angekündigten Absicht (lâ mich dir einer iemer leben, V. I,2), welche mit der in Strophe 2 dargelegten Einstellung der Dame (… daz wil ich haben eine, V. II,1) übereinstimmt, bereit ist. Das Prinzip des Minnedienstes wird hierdurch auf den Kopf gestellt: Die Schuld für seinen offensichtlichen Verstoß gegen den aufopfernden Dienst an der Dame sucht der Mann bei dieser selbst. In einer weiteren Begründung hebt er auf seine eigenen Ansprüche im Sinne des do, ut des ab: Was nütze es ihm schon, dass er sie vor a l l e n and ere n liebe? Sie schweige immer, wenn er klage.259 Das Text-Ich scheint geradezu um Verständnis für seine Absichten – einen Verstoß gegen das staete-Gebot der sog. ‚hohen Minne‘ – zu bitten, auf der minnethematischen Ebene wird hierdurch dennoch erneut die Einzigartigkeit der Dame betont. Im Werbungslied bewährt sich der Minnende dagegen gerade in der Fortführung des Dienstes für seine auserwählte Herrin, wozu das hier sprechende Text-Ich aber offensichtlich nicht bereit ist. In Vers 7 gewinnt der Ton an Schärfe und schlägt in ein forderndes Sprechen um: Wenn sie wolle, dass er sich von anderen Damen fernhalte, müsse ihr seine Rede ein wênic baz danne ê gevallen (V. 9). Der gewählte Aussagemodus ist durch eine sehr viel größere Direktheit als in Strophe 1 gekennzeichnet, der Mann baut gegenüber der Dame – trotz der Rede in der dritten Person üb e r sie – eine geradezu erpresserische Erwartungshaltung auf.260 Die Art der Anerkennung seiner rede wird dabei nicht konkretisiert, sondern durch ein eher unspezifisches gevallen

259 Mecklenburg, Walthers weibliche Stimme, S. 97, sieht hierin aus Sicht des „Sängers“ einen Mangel an „Urteilsfähigkeit und kommunikativer Kompetenz“. Ein derart konkreter Vorwurf wird jedoch keineswegs formuliert. Kaplowitts, Ennobling Power, S. 140, Aussage scheint ein wenig zu ‚optimistisch‘: „He seems perfectly eager to renounce other women for the sake of his beloved, but he is not about to do so until she gives him some sign that she returns his affection.“ Köhler, Wechsel, S. 217, weist darauf hin, dass dieser von seiner Position nicht abrücke: „Er liebe sie mehr als alle anderen, aber nur wenn sie auf sein Werben eingehe, werde er sich von den anderen Frauen abwenden.“ Er spricht unter Verweis auf die Begriffe jamerlîche und als ich klage von einer „persönliche[n] Betroffenheit […], die vom durchgehend humorvollen Ton der ersten Strophe absticht.“ Von dieser Deutung ist jedoch abzusehen, da Komik hier ja gerade auch aus solchen Gegensätzen heraus erwächst. 260 Vgl. hierzu erneut Köhler, Wechsel, S. 217, der sich allerdings etwas zurückhaltender äußert.

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benannt. So ließe sich danach fragen, ob hierunter eine künstlerisch-ästhetische Anerkennung der Rede zu verstehen ist oder ob vielmehr der geforderte ‚Gefallen‘ auch eine Verpflichtung gegenüber dem Mann auf der Minneebene einschließt. Das durch diesen artikulierte Verlangen wäre zwar nicht zwangsläufig mit der Einforderung einer Liebeserfüllung gleichzusetzen – ein Blick oder Zuwinken der Dame könnten beispielsweise ebenso gemeint sein –, wobei die Ausrichtung des Dienstes hierauf dennoch konnotativ abgerufen würde.261 Gleichwohl geht es dem Text-Ich vordergründig um seine rede, nicht um sich selbst: Dass die Sangesthematik in der Strophe insgesamt eine zentrale Rolle spielt, wird terminologisch sehr deutlich (V. 2: friunde, V. 4: jâmerlîch … bat, V. 5: minne, V. 6: klage, V. 7: widersage, V. 8: mîne rede). Während sich das Verb friunden hierbei mehr auf die minnethematische Ebene bezieht, aber vor dem Hintergrund der Kanzone auch das Pflegen einer Freundschaft durch Sang impliziert, wird mit der Formulierung jâmerlîch … bat sehr deutlich auf das Werbungslied angespielt, auch unter dem in Vers 5 angeführten minnen lässt sich ein minnen durch Singen (Minne-Sang) verstehen. Das Text-Ich macht dabei jedoch innerhalb der Strophe nicht transparent, auf welcher Ebene es sich jeweils äußert: So lässt sich fragen, ob es sich anderen Damen lediglich als Singender oder auch als Minnender zuwendet und ob diese Zuwendung eine Abwendung von der unmittelbar in dieser Strophe genannten Dame impliziert oder nicht. Gleichzeitig liegt hierin die Chance, eine Hinwendung zu anderen Frauen dadurch zu rechtfertigen, dass das Text-Ich selbst – offenbar im Unterschied zur Dame – zu einer Unterscheidung zwischen Sanges- und Minneebene, zwischen Minnesang und Minne in der Lage ist.262 St rophe 4 lässt grammatikalisch keine eindeutige Geschlechtszuordnung des Text-Ichs zu. Inhaltlich deutet allerdings bereits der erste Vers auf eine weibliche Sprecherin hin, heißt es doch, dass das angesprochene Du es oft »gebeten« habe; das Text-Ich gesteht ein, die Offerten des Dus nur sehr wenig zur Kenntnis genommen zu haben, wobei ihm aber »damals« schon bewusst gewesen sei, dass sein Gegenüber überall dasselbe getan habe. Das Text-Ich scheint sich nun ebenfalls auf die Sangesebene zu beziehen, die Formulierung dicke sêre baete legt einen poetologischen Verweis auf die Rede des Mannes im Werbungslied nahe. Spätestens an dieser Stelle lässt sich davon ausgehen, dass ein männliches Du angesprochen wird, welches mit dem Mann der vorangegangenen Strophen übereinstimmt.263 Dadurch, dass er überall »genauso« handle, habe sie sich ihm gegenüber so abweisend verhalten. Wer sie jedoch als Freundin (Geliebte) begehre, müsse, wenn er 261 Wenn man hierbei tatsächlich an eine Liebeserfüllung denkt, wird durch die Formulierung ein wênic baz (danne ê) erneut ein komischer Effekt erzielt, da der Schritt hin zu einer Liebeserfüllung als recht klein dargestellt und die Bitte des Mannes verharmlost wird. 262 Vgl. hierzu auch Meyer, Strophenfolge, S. 118, welcher von einem „circulus vitiosus“ spricht. 263 Vgl. auch Köhler, Wechsel, S. 216.

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sie gewinnen wolle, von solcher Unbeständigkeit ablassen.264 Gemeinsame Liebe scheine ihr auch gemeinsames Leid zu bedeuten, worin ein Anklang an die zweite Strophe zu erkennen ist.265 Die in Strophe 4 begegnende Frauenfigur bringt dabei ebenfalls – ähnlich wie in Strophe 2 – sehr deutlich und in einem distanziert erklärenden und auch kommentierenden Modus ihren Standpunkt zum Ausdruck. Ein weiteres Mal wird zudem die Bedeutsamkeit einer Gegenseitigkeit hervorgehoben, wobei die erneut sententiös wirkende Aussage gemeine lieb, daz dunket mich gemeinez leit die Erwartungen an die geforderte gemeine liebe in Ergänzung zu Strophe 2 weiter konkretisiert.266 Vor dem Hintergrund einer Unterscheidung von Sangesund Minneebene würde die Dame unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass eine solche für sie nicht akzeptabel ist: Der Mann soll nur für sie singen und ausschließlich sie minnen. Auch der letzte Vers spielt hier mit der Erwartungshaltung des Rezipienten, ohne dass eine Ergänzung des mittelhochdeutschen Texts (aus metrischen Gründen) vonnöten ist. So heißt es in einem deutlichen Neuansatz: nû sage, weist dû anders iht? – Nun sage: Weißt du etwa etwas anderes? (oder: Weißt du es auf andere Weise?). Erhofft sich das weibliche Text-Ich mit dieser Frage womöglich eine Umgehung ihres zuvor recht schematisch formulierten Grundsatzes gemeine lieb, daz dunket mich gemeinez leit? Würde es vielleicht ebenso gerne mit

264 Mit dem Begriff der unstætekeit erfolgt eine explizite Anknüpfung an die staete-Diskussion, welche im Minnesang insgesamt und insbesondere bei Walther einen hohen Stellenwert einnimmt (s. oben): Die Frau fordert die staete des Werbenden, unstætekeit führt zum Verlust der Dame, deren staete ebenfalls gelobt wird. Vgl. Heinrich von Rugge, MF 110,12–15: Welle er ze vriundinne mich gewinnen, / sô tuo mit allen sînen sinnen / daz beste und hüete sich dâ bî, / daz mir iht kome ze maere, wie rehte unstaete er sî; Hartmann von Aue, MF 211,37–212,4: des hât mir mîn unstaetekeit / ein staetez wîp verlorn. / diu bôt mir alse schoenen gruoz, / Daz sî mir ougete lieben wân. / dô sî erkôs / mich staetelôs, / dô muose ouch diu genâde ein ende hân; Reinmar, MF 171,25–31: Ich bin tump, daz ich sî grôzen kumber klage / und ir des wil deheine schulde geben. / sît ich si âne ir danc in mînem herzen trage, / waz mac si des, wil ich unsanfte leben? / Daz wirt ir iedoch lîhte leit. / nu muoz ichz doch alsô lâzen sîn. / mir machet niemen schaden wan mîn staetekeit. 265 Rasmussen, Reason, S. 184, verweist hierbei ebenfalls auf das Wortspiel im Kontext der zweiten Strophe: „‚Shared love is shared sorrow‘ refers not just to the ethical standard which the lofty lady upholds for herself and the poet-lover, it also refers to the dilemma of the ladies who ‚share‘ this roving fellow – they do indeed have a shared sorrow!“ 266 Schweikle übersetzt den fünften Vers der Strophe sehr auffällig mit einem »nun«, welches er auch in den mittelhochdeutschen Text (aus metrischen Gründen) einfügt: „Der mîn ze friunde ger, wil er mich nû gewinnen […]“. Diese Ergänzung verstärkt eine Deutungsmöglichkeit der Strophe insgesamt, welche ohnehin in dieser angelegt zu sein scheint, da sich das »nun« als weiterer indirekter Hinweis darauf auffassen ließe, dass die Art des Verhältnisses zwischen Mann und Frau unterschwellig ‚in der Schwebe gehalten‘ wird, wirkt doch die zunächst absolut wirkende Zurückweisung des weiblichen Text-Ichs an manchen Stellen brüchig – bereits in Strophe 2 hieß es ja mîn friunt, den die Frau bisweilen gerne bei sich sähe. Aus der zeitlich bezogenen Übersetzung eines (interpolierten) nû könnte man womöglich indirekt schließen, dass eine generelle Erhörung – zu einem anderen Zeitpunkt unter anderen Voraussetzungen – nicht auszuschließen wäre.

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den Regeln der sog. ‚hohen Minne‘ brechen? – etwa: Nun sage, gibt es vielleicht doch einen anderen Grundsatz (der mich dich auch unter anderen Bedingungen lieben lässt)? Zuvor hieß es bereits – je nach Akzentuierung etwas unsicher wirkend: daz dunket mich. Naheliegender ist jedoch, dass es sich um eine Empörung ausdrückende Nachfrage handelt, etwa: Nun sage, du meinst doch nicht ernsthaft, dass es eine andere (ernsthaft zu erwägende) Möglichkeit gibt? Vor dem Hintergrund der sehr deutlichen Bezüge auf die Sangesebene in den Strophen 3 und 4 wäre es zudem denkbar, dass die Dame sich auf die Sprechweise des Mannes – und somit seinen Minnesang – bezöge: Nun sage, etwas Besseres – bezogen auf deine Argumentation und/oder Sprechweise – fällt dir nicht ein? Die abschließende Absage lässt sich dementsprechend unterschiedlich perspektivieren: Deshalb, weil er nicht nur sie liebe und nicht nur für sie singe, könne sie ihn nicht lieben, oder: Deshalb, weil er so fadenscheinig argumentiere, könne sie ihn nicht lieben, was eine unterhaltsame Schlusspointe setzen würde. Da die Dame jedoch grundsätzlich keine Abneigung gegenüber dem Mann zum Ausdruck bringt, ist der Ausgang des Lieds auch durch eine gewisse Offenheit gekennzeichnet – eine Beobachtung, die auf die Haltung beider im Lied präsentierter Figuren zutrifft, wie die Analyse gezeigt hat.267 Im Hinblick auf Deutungsansätze, die hier von der Profilierung eines bestimmten Frauen- bzw. Männerbildes ausgehen, ist daher Vorsicht geboten.268 So stellen sich auch bei einer Zusammenschau der geschlechtsgleichen Strophen zahlreiche Fragen: In Strophe 2 beispielsweise bekennt das Text-Ich, dass es seinen Freund (mîn friunt) bisweilen gerne bei sich (bî mir) sähe. In der dialogischen Strophe 4 wirkt das dargestellte Verhältnis sehr viel distanzierter. Von einer Zuneigung des Text-Ichs zu dem Mann ist keine Rede. Es heißt ganz allgemein: der mîn ze friunde ger […] In Strophe 1 wird eine frouwe angesprochen, in Strophe 3 spricht das 267 Vgl. hierzu auch Rasmussen, Reason, S. 184, welche im Hinblick auf die abschließende Aussage der Frau von einem „act of differentiation“ spricht, und im Hinblick auf das gesamte Lied, ebd., S. 183, schließt: „The actions and motives of both characters remain open to interpretation, and the question of the extent to which the lofty lady acts bescheidenlîche is thrown back, it seems to me, to the audience or reader for debate.“ 268 Mecklenburg, Walthers weibliche Stimme, S. 97f., widmet sich vor allem der Funktion der weiblichen Stimme, welche er in Abhängigkeit der Erfordernisse eines zu diskutierenden „Minneproblems“ sieht. Hinsichtlich der weiblichen Stimme bei Walther insgesamt sieht er, ebd., S. 104, die Reduktion einer „auf Männer und Männlichkeit zielende[n] Aussageintention“. Mecklenburgs Interpretation fällt an dieser Stelle jedoch zu einseitig aus und wird der Komplexität des vorliegenden Liedes nicht gerecht. Seine gemeinsame Betrachtung von Wechseln und Dialogliedern Walthers sollte hier stärker differenzieren, zumal die Rolle der jeweiligen weiblichen Figur vor allem doch auch der Texttypen-Spezifik geschuldet zu sein scheint. Dass die Frau der Rede des Mannes widerspricht, gehört zunächst einmal zu den Spezifika des Dialoglieds. Vgl. hierzu auch Kerth, Jô enwas, S. 145, mit Verweis auf die Arbeiten Peters’ und Schnells zu einer Modifizierung der Vorstellungen von einer Konstruktion der Frau als „Ausdruck männlicher Liebesphantasien“, sowie vor allem auch ebd., S. 159f.

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Text-Ich von einem wîp. Im Hinblick auf das Sprechregister dominiert der Bezug auf das Werbungslied, mit dessen Aussagemustern jedoch sehr deutlich gespielt wird. So wird die geradezu topische Gnade-Anrufung des Werbungsliedregisters in Strophe 1 schrittweise ihrer gewohnten Einbindung in das Argumentationsgefüge des Werbungslieds enthoben – jedoch, ohne dass dies auf eine Eindeutigkeit hinausläuft, wie die Analyse gezeigt hat. Gerade eine Unterscheidung zwischen Minne- und Sangesebene, welche die Strophen 2 und 3 auch explizit nahelegen, führt hierbei die Interpretation des Liedes weiter. Im Hinblick auf eine Zusammenschau der dialogischen Strophen 1 und 4 beobachtet Köhler darüber hinaus „das gerade für einen Dialog typische Ineinandergreifen der einzelnen Repliken“269 . Das vorliegende Lied bietet dabei mit seinen monologischen Strophen einen scheinbar tieferen Einblick in die Beweggründe der dargestellten Figuren. Die Unterschiede zwischen dialogischem und monologischem Sprechen fallen jedoch weniger deutlich aus, als bisweilen angenommen: Wenn der Mann etwa in Strophe 3 bekennt, auch andernorts Freundschaft zu pflegen, hebt er gleichzeitig dennoch die Einzigartigkeit der e i ne n Dame hervor, sodass unklar bleibt, ob er – wie für das Werbungslied charakteristisch – an der dame sans merci festhält oder nicht. Das Lied gewinnt somit sehr deutlich an Witz und vor allem Komplexität, bedingt durch ein nicht klar zu fassendes Aneinander-Vorbeisprechen der Figuren, welche sich nicht immer eindeutig auf eine bestimmte Sprechebene beziehen. 3.2.1.2 Ich hœre iu sô vil tugende jehen (L 43,9)

Das am häufigsten überlieferte Lied Walthers von der Vogelweide stellt den ersten in dieser Untersuchung besprochenen mittelhochdeutschen Text dar, welcher eindeutig als Dialog konzipiert ist, wobei sich der Werbungsgespräch-Charakter der dialogischen Interaktion erst allmählich und nicht vordergründig herauskristallisiert, was auch für weitere Lieder des Texttyps nicht ungewöhnlich ist. Hierbei fallen die Überlieferungsvarianten zum Teil so deutlich aus, dass die Liedinterpretation punktuell variiert.270 Das in Walthers Genâde frowe, alsô bescheidenlîche (L 70,22, s. Kapitel 3.2.1.1) erkennbare Aneinander-Vorbeisprechen wird insofern verstärkt, als die Äußerungen von Mann und Frau durch den dialogischen Austausch noch enger miteinander verfugt sind, sodass im unmittelbaren Rückgriff auf einzelne Aussageformen und Begrifflichkeiten der jeweils vorgängigen Rede diese durch unterschiedliche Strategien neu perspektiviert werden, welche es im Folgenden vorzustellen gilt.

269 Köhler, Wechsel, S. 219f. 270 Vgl. unten Anm. 274.

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BCEFOas: I–IV D: I 1–9            Text nach O271 I

Ich hœre iu sô vil tugende jehen, daz iu mîn dienest iemer ist gereit. enhæt ich iuwer niht gesehen, daz schadete mir an mîner werdecheit. Ich wil immer deste tiurer sîn und bite iuch, vrouwe, daz ir iuch underwindet mîn. ich lebete gerne, kunde ich leben, mîn wille ist guot, nû bin ich tump: nû sult ir mir die mâze geben.

271 Zitiert nach der Ausgabe von Bein, Walther, S. 148–150; weitere Ausgaben: u. a. Schweikle, Walther1 , S. 200–207; Kellner, Spiel der Liebe, S. 479–481, gibt den Text jeweils getrennt nach B, E und O wieder. Vgl. hierzu ebd., S. 479: „Durch Abgleich der Varianten lassen sich BC auf der einen Seite und E auf der anderen Seite differenzieren. O, F, s und a stehen, so resümieren Bauschke-Hartung und Schweikle, dazwischen.“ Forschung zu diesem Lied: Schmidt, Reinmar von Hagenau und Heinrich Rugge (1874); Kraus, Berliner Bruchstücke einer Waltherhandschrift (1933); Kraus, Walther von der Vogelweide (1935/1966); Beyschlag, Herzeliebe und Mâze (1945); Frings, Walthers vaden (1951); Frings, Walthers Gespräche (1954/1971); Schaefer, Walther von der Vogelweide (1972); Adam, Die „wandelunge“ (1979); Jackson, Reinmar’s women (1981); Meyer, Strophenfolge (1981); Kuhn, Minnelieder Walthers von der Vogelweide (1982); Ranawake, Der manne muot (1988); Kasten, Dialoglied (1989); Rasmussen, Representing women’s desire (1991); Köhler, Wechsel (1997); Schweikle, Walther von der Vogelweide, Bd. 2 (1998/2011); Haferland, Hohe Minne (2000); Mecklenburg, Walthers weibliche Stimme (2004); Reichert, Walther von der Vogelweide (2005); Mertens, Lehre (2011); Münkler, Aspekte (2011), S. 77–104; Kellner, Spiel der Liebe, S. 479–485. Vgl. auch Ranawake, Der manne muot (1988), wobei sie auf das Lied, dem das titelgebende Zitat ihres Aufsatzes entnommen ist, nicht gesondert eingeht.

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II

‚Kunde ich die mâze als ichne kan, sô wære ich zer werlde ein sælic wîp. ir tuot als ein wol redender man, daz ir sô hôhe tiuret mînen lîp. Ich bin vil tumber272 danne ir sît, waz darumbe? 273 doch wil ich scheiden disen strît. tuot alrest, des ich iuch bite, und saget mir der manne muot, sô lêre ich iuch der wîbe site.‘

III

Wir wellen, daz diu stætecheit den guoten vrouwen rehte ein krône sî. kunnen sie mit zühten sîn gemeit, sô stêt vil wol die lilie der rôsen bî. Nû merket, wie der linden stê der vogelsanc, dar under bluomen unde klê, noch baz stêt vrouwen schœner gruoz. ir minneclîcher redender munt der machet, daz man in küssen muoz.274

IV

‚Ich sage iu275 , wer uns wol behaget: der beide erkennet übel unde guot und ie daz beste von uns saget, dem sîn wir holt, ob erz mit triuwen tuot. Kan er dan ze rehte wesen vrô unde gedenken ime ze mâze nider unde hô, der mac erwerben, des er gert.276 welh wîp277 versaget im einen vadem? guot man ist wol guoter sîden wert.‘

272 Angabe bei Bein: „[…] nv bin ich doch tvmber BC, ich bin niht wiser E“. 273 Fehlt in O; hier Vers nach B; E: doch wæne ich; Angabe bei Bein: „Was daet am (oder om) s, fehlt EFO“. 274 Im Folgenden Wiedergabe nach Kellner, Spiel der Liebe, S. 480f.: B: Wir wellen, daz diu stætecheit / iu guoten wîben gar ein krône sî. / kunnent ir mit zühten sîn gemeit, / sô stêt lilie wol den rôsen bî. / nu merkent, wie der lilie stê / der vogellîne singen, / dar under bluomen und clê, / michels baz stât iu vrowen schœner gruoz. / iuwer minnenclicher redender munt / machet, daz man küssen muoz. // E: Sie wellent, daz die stætikeit / der guoten frouwen rehte crône sî. / kan sie mit zühten sîn gemeit, / sô

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Übersetzung in größeren Teilen nach Kuhn (Text nach B), in: Kasten, Lyrik, S. 401/403: Abweichungen kursiv I. Ich höre über Euch so viel Gutes sagen, dass ich Euch zu dienen immer bereit bin. Hätte ich Euch nicht gesehen, es würde mir an Wert und Würde schaden. Nun will ich künftig noch ausgezeichneter sein, darum bitte ich Euch, Herrin, dass Ihr Euch meiner annehmt.278 Ich würde mit Freuden leben, wenn ich zu leben verstünde, mein Wille ist gut, doch bin ich unerfahren: Nun sollt Ihr mir das rechte Maß zeigen. II. ‚Wüsste ich um dieses Maß – doch weiß ich’s nicht –, so wäre ich in dieser Welt eine glückliche Frau. Ihr sprecht wie ein beredter Mann, da Ihr mich so hoch preist. Ich bin […] viel unerfahrener, als Ihr es seid. Aber wenn schon? Doch will ich diesen Streit schlichten. Tut zuerst, worum ich Euch bitte: Sagt Ihr mir, was die Männer wollen, so lehre ich Euch der Frauen Art.‘

275 276 277 278

stêt die rôse wol der lilien bî. / nu merket, wie der linden stê / ir vogelsanc, / dar under bluomen und clê, / noch baz stêt frouwen schœner gruoz. / ir minnenclicher redender munt / machet, daz man in küssen muoz (Unterstreichungen S.R.). Angabe bei Bein: „Ir man frâgent wer BC“. Angabe ebd.: „so tuot er des daz herze gert BC“. Angabe ebd.: „frouwe E“. sich kümmern um (Bein).

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III. Wir wollen, dass die Beständigkeit bei den edlen Damen wahrhaft eine Krone sei. Verstehen sie es, fröhlich und doch beherrscht zu sein, so steht die Lilie sehr schön neben der Rose. Nun seht doch, wie gut die Linde und der Vogelgesang zusammenpassen, darunter Blumen und Klee: noch besser steht Damen ein freundlicher Gruß. Ihr Mund, der so liebreizend sprechen kann, der drängt einen, ihn zu küssen. IV. ‚Ich sage Euch, wer uns gut gefällt: Derjenige, der Gut und Böse unterscheiden kann und immer das Beste von uns sagt, dem sind wir zugetan, wenn er’s ehrlich meint. Kann er zudem in rechter Weise fröhlich sein und sich in angemessener Weise eine Vorstellung von niedrig und hoch machen, so kann er gewinnen, was er sich wünscht. Welche Frau würde ihm einen Faden verweigern? Ein guter Mann ist gewiss guter Seide wert.‘

Die e rste St rophe beginnt mit der Selbstnennung eines Text-Ichs, das sich im ersten Vers weder als weiblich noch als männlich zu erkennen gibt. Es spricht ein nicht näher bestimmtes iu an, von dem es höre, dass ihm sô vil tugende zugesprochen würden. Aufgrund der Anrede in der zweiten Person Plural lässt sich zu Beginn der Strophe noch nicht sagen, an wen diese gerichtet ist.279 Erst die im zweiten Vers erklärte Dienstbereitschaft legt es nahe, dass hier das werbungsliedtypische Dienstangebot eines Mannes an eine Dame vorliegt. Auffällig ist dabei, dass das Text-Ich die Vortrefflichkeit der Angesprochenen lediglich vom Hörensagen kennt. Es vertraut – ein solcher Eindruck entsteht zunächst – auf das Urteil anderer und leitet hieraus seinen Dienst ab. Wer der angesprochenen Person sô vil tugende zuspricht, geht aus den ersten Versen nicht hervor, da die im Minnesang verbreitete

279 Mertens, Lehre, S. 210, betont die Bedeutsamkeit einer Interaktion mit dem Publikum. „Für mich erschließt sich das Lied erst dann, wenn man sowohl die Minneregeln wie die Sprechhaltungen der Dialogpartner, ähnlich wie in den Tenzonen der Troubadours, als Funktionen eines artistischgesellschaftlichen Spiels versteht, das als performativ gedacht ist, insofern es das Publikum zum Interagieren veranlasst.“

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Formulierung hœre jehen280 hier sehr offengehalten ist. Es erfolgt dabei zudem ein Bezug auf das Motiv der Fernliebe, welches auf die Werthaftigkeit der Dame verweist. Erst im zweiten Stollen wird deutlich, dass das Text-Ich auch selbst die angesprochene Dame durch ihren Anblick kennt. Mithilfe einer die Verse 3 und 4 verbindenden Konditionalkonstruktion erklärt der Minnende, dass es seiner werdecheit schaden würde, wenn er sie nicht gesehen hätte. Die ebenfalls für das Werbungslied typische veredelnde Wirkung der vrouwe auf den Minnediener wird hier abgerufen. Auch vokabularisch fallen die Bezüge auf das genannte Register mit den Begriffen tugende, dienest und werdecheit sehr eng aus.281 Der Abgesang beginnt mit einer erneuten Selbstnennung des Text-Ichs, welches immer deste tiurer sein wolle, und im nächsten Schritt die Dame bittet, sich seiner zu underwinden. Durch die Anrede vrouwe (I,6) wird nun endgültig deutlich, dass diese Strophe an eine Dame gerichtet ist. Die Aussagen insgesamt sind dabei durch eine für das Werbungslied charakteristische Offenheit gekennzeichnet, ob tiurer hier etwa als ethische oder gesellschaftliche Kategorie aufzufassen ist, muss offenbleiben. Im zweiten Teil des Abgesangs erklärt der Mann in einem Neuansatz, dass er gern leben würde, wenn er leben könnte (I,8). Sein Wille sei gut, er selbst jedoch tump (I,9). Zum Schluss der Strophe wendet er sich daher mit einem weiteren Ansinnen an die Angesprochene und fordert (nu sult …) sie auf, ihm die mâze zu geben282 , die nun Abhilfe schaffen soll – mutmaßlich aufgrund der Diskrepanz zwischen »gerne leben wollen« und »nicht leben können« bzw. zwischen mîn wille ist guot und nu bin ich tump.283

280 Vgl. u. a. Dietmar von Eist: Ir tugende die sint valsches vrî, / des hoere ich ir die besten jehen (MF 34,34– 35); Heinrich von Rugge: swenne ich daz aller beste wîp / sô gar ze guote hoere loben (MF 103,20–21); Der ich dâ guotes hoere jehen (MF 105,1); Ich hôrte wîse liute jehen / von einem wîbe wunneclîche maere (MF 110,34–35); Reinmar: Mich betwanc ein maere, / daz ich von ir hôrte sagen (MF 170,8–9); Walther von der Vogelweide: mich müet, daz ich si hœre jehen (L 119,20). Schweikle, Walther1 , S. 626, spricht vom „Topos der gerüchtweisen Kenntnis vom andern“. 281 Die Schwierigkeiten einer Definition des Begriffes werdecheit verdeutlicht beispielsweise auch die (bei Bein, Walther, S. 279) zweite Strophe von Ir reiniu wîp, ir werden man (L 66,33: Lât mich an eime stabe gân […]). 282 Vergleicht man weitere Texte, in denen die mâze genannt wird, finden sich dort sehr häufig Formulierungen mit ze: Ein ‚zu viel an etwas‘ steht meist in einem engen Zusammenhang mit dieser. Weitere Belege für mâze bei Walther von der Vogelweide: L 46,33 (vrô Mâze), L 47,11; L 67,1; L 61,9; L 61,37; L 91,26. 283 Die Formulierung mâze geben ist hier ein wenig ungewöhnlich, welche innerhalb der Lyrik von Des Minnesangs Frühling und Walthers von der Vogelweide kein weiteres Mal begegnet; mâze wird hier nicht als etwas dargestellt, das man jemandem geben kann. Die in der zweiten Strophe verwendete Formulierung mâze kennen findet sich dagegen häufiger. Wortverbindungen mit geben begegnen im Minnesang oftmals in Verbindung mit dem sog. ‚hohen muot‘. Vgl. u. a. Walther, L 113,19: Frowe, gebt im hôhen muot; Reinmar, MF 165,35: dû gîst al der welte hôhen muot; Reinmar, MF 182,19–20: […] dicke mir diu schoene gît / vröide und einen hôhen muot.

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Kellner beobachtet in der Strophe insgesamt eine deutliche Zurückhaltung im Hinblick auf eine minnethematische Sprechebene, erkennt vielmehr ein deutliches Interesse des Mannes an seiner eigenen Wertsteigerung284 und verweist auf dessen Verlangen, belehrt zu werden (bite iuch […], daz ir iuch underwindet mîn; nu sult ir […] geben); er suche „eine Lehrmeisterin, die sich seiner annimmt und ihn aus dem Zustand der tumpheit (tump, V. 9)“ herausführe, „indem sie ihm das rechte Maß“285 zeige: „Man darf daher nach dieser ersten Strophe daran zweifeln, ob hier überhaupt eine Minnebindung vorliegt, oder ob es sich nicht viel eher um ein inszeniertes Lehrer-Schüler-Verhältnis handelt, bei dem es um die Vermittlung höfischer Normen und Werte geht.“286 Die schlichte Anrede mit vrouwe ohne lobendes Epitheton ist in diesem Sinne ebenfalls auffällig. Dennoch fällt Kellners Deutung hier zu einseitig aus, da sich auch – wie für das Werbungsgespräch typisch – eine Einbindung des vermeintlich didaktischen Interesses des Mannes in eine Werbungsstrategie erkennen lässt. Der Begriff underwinden etwa im Sinne von »über sich nehmen wofür zu sorgen, etw. zu tun od. zu leiden […] in besitz nehmen, sich bemächtigen, annehmen« verfügt über ein weites Bedeutungsspektrum und kann sich auch auf den »liebesgenusse« beziehen.287 Wenn sich der Mann daher mit der Bitte an die Dame wendet, sich seiner »anzunehmen«, geht es zwar vordergründig um seinen Wunsch, noch mehr an Ansehen zu gewinnen, aber dennoch schwingt hier auch das Verlangen nach einer anderen Art der Zuwendung – wo-

284 Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 481: „Über die Liebe des Werbers wird kein Wort verloren, die Funktion des Dienstes ist es vielmehr, dessen werdekeit zu steigern (V. 4f.).“ 285 Ebd. 286 Ebd. 287 Lexer II, Sp. 1811f.; auf eine solche Auffassung des underwinden weist eine weitere Strophe innerhalb der Lieder Walthers von der Vogelweide hin (L 119,26): Got hât vil wol ze mir getân, / sît ich mit sorgen minnen sol, / daz ich mich underwunden hân, / dem alle liute sprechent wol. / Im wart von mir in allen gâhen / ein küssen und ein umbevâhen: / dô schôz mir in mîn herze, daz mir iemer nâhe lît, / unz ich getuon, des er mich bat. / ich tætez, wurde mirs diu stat. Die Strophe wird als Frauenstrophe betrachtet, was aus der männlichen Bestimmung des angesprochenen Gegenübers hervorgeht (V. 5: Im wart; V. 8: des er mich bat). Das Text-Ich hat sich jemandem underwunden, von dem alle Leute sagen, dass er gut sei. In den beiden folgenden Versen heißt es nun, dass die hier sprechende Frau »ihn« (im) in großer Eile geküsst und umarmt habe. Noch verfänglicher wird der Inhalt der Strophe, wenn man versucht zu beantworten, worum er sie gebeten habe (des er mich bat, V. 8), wobei auch hier Rückschlüsse nur indirekt zu ziehen sind. Trotz des Gebrauchs des Begriffes underwinden im Umfeld der körperlichen Berührungen zwischen Mann und Frau lässt sich ein direkter Zusammenhang hiermit daher nicht von vornherein annehmen. Bei Reinmar bleibt der Begriff ebenfalls recht unbestimmt. Vgl. MF 169,27–32: Wol den ougen, diu sô welen kunden, / und dem herzen, daz mir riet / an ein wîp; diu hât sich underwunden / guoter dinge und anders niet. / Swaz ich durch si lîden sol, / daz ist kumber, den ich harte gerne dol.

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möglich bis hin zu einer Liebeserfüllung – konnotativ mit.288 Die im Werbungslied verbreitete Selbstbezeichnung des Text-Ichs als tump bezieht sich ebenfalls in den meisten Fällen auf das Verhalten des Minnenden in Liebesangelegenheiten, wenn er etwa sein eigenes Klagen, seine Abhängigkeit von der Liebe einer Frau oder ganz generell seine Leidensfähigkeit bedauert.289 Im vorliegenden Lied folgt die genannte Selbstbezeichnung auf die Erwähnung der Unfähigkeit, mit Freude (gerne) zu leben. Im Zusammenhang mit der zuvor vorgetragenen Bitte, dass sich die vrouwe seiner annehmen möge, ließe sich auch hier ergänzen, dass er nicht ohne die Angesprochene leben könne, ganz im Sinne der – für das Werbungslied paradigmatischen – existentiellen Bedeutsamkeit der Dame für den Minnenden. Das sich im zweiten Vers der Folgestrophe (St rophe 2) als Frau zu erkennen gebende weibliche Text-Ich knüpft nach dem Prinzip der Concatenatio-Technik an die am Ende der ersten Strophe erfolgende Bitte um mâze an. Die Sprecherin erklärt in den konditional verbundenen Versen 1 und 2, dass sie die mâze nicht kenne, und deutet dabei an, diese selbst gerne kennenlernen zu wollen, da sie dann in der Gesellschaft bzw. Welt eine glückliche Frau wäre. Insgesamt scheint sie bestrebt, das Bild, welches der Mann in Strophe 1 von ihr gezeichnet hat, ganz im Sinne höflich-zurückhaltender Bescheidenheit ein wenig zu relativieren. Sie lobt ihr Gegenüber im nächsten Stollen als einen wol redenden man, da er sie so hoch »erhebe« (tiuret). Während in Strophe 1 der Mann danach strebt, immer deste tiurer zu sein, bezieht sich die Frau hier auf die durch diesen in Bezug auf sie selbst vorgebrachte Wertsteigerung (Ich hœre iu …, I,1), doch das in schmeichelnder Rede (ir tuot als ein wol redender man) gezeichnete Bild einer tugendreichen Dame,

288 Auffällig ist an der gewählten Formulierung auch, dass sprachlich nicht direkt zum Ausdruck gebracht wird, dass er durch das underwinden der Dame tiurer werde. Beide Aussagen sind lediglich durch ein und verbunden: ich wil immer deste tiurer sîn / und bite iuch, vrwe, / daz ir iuch underwindet mîn. 289 U. a. finden sich bei Reinmar hierfür zahlreiche Beispiele: Ich bin tump, daz ich sô grôzen kumber klage (MF 171,25); ich rüeme ân nôt / mich der wîbe mêre, danne ich solte. / war sint komen die sinne mîn? / sol ez mir wol erboten sîn, / hân ich tumber gouch sô verjehen? (MF 160,16–20); ich tumber, / lîde ich senden kumber, / des ich gar schuldic bin? (MF 180,16–18); ich klage iemer mînen alten kumber, / der mir iedoch sô niuwer ist, / den sî mir gap, dô sî mir vröide nan. wê, ich vil tumber! (189,11–13); sô mac ich vil klagen, ich tumber man, / daz ich mîner tage niht wider gewinnen kan (MF 190,25f.); Wes versûm ich tumber man / mit grôzer liebe schoene zît (MF 201,19–20). Bei Walther begegnet die Selbstbezeichnung als tump weniger häufig: owê, waz lob ich tumber man? / mache ich mir si ze hêr, / vil lîhte wirt mînes herzen lop mîns herzen sêr (L 54,4–6). Vgl. auch Walthers Elegie, Vers L 124,32. Auch die Frau bezeichnet sich gelegentlich als tump und geht hierbei ebenfalls von ihrem Klagen aus: wê, warumbe / clage ich sô sêre, ich tumbe, / durch daz eine, / daz wir ie wârn mit rede gemeine? (Walther, L 184,20–23). Häufig findet sich auch tump in einer antithetischen Verbindung mit wîse: Ich bin tump, daz ist mir leit: / waer ich wîse, sô genüzze ich mîner arbeit (Reinmar, MF 201,37–38). Vgl. zu diesem Gegensatz außerdem: Heinrich von Veldeke, MF 62,11; Heinrich von Rugge, MF 103,35; Reinmar, MF 201,33; MF 189,5.

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welche in der Lage ist, sich des Mannes anzunehmen (underwinden) und ihm die mâze zu vermitteln, weist sie erneut von sich290 und übertrifft das tump der ersten Strophe, indem sie sich in Vers 5 selbst als tumber bezeichnet. Kellner stellt fest, dass sie ihren Gesprächspartner in Bescheidenheit überbiete und „sich als unerfahrener denn er“ stilisiere, was ein „Ausweis ihres höfischen Verhaltens“ sei.291 Im weiteren Strophenverlauf heißt es dann aber, dass sie nichtsdestotrotz (waz darumbe? nach B) disen strît entscheiden wolle292 , wodurch sie ihre zuvor betonte Bescheidenheit in einem selbstbewusst-bestimmt wirkenden Modus ein wenig zu relativieren scheint. Worauf sich der Begriff strît bezieht, kann nicht eindeutig entschieden werden.293 Vordergründig geht es um die Frage, wer von beiden tumber sei; von der mâze ist dagegen keine Rede mehr, zumal sich beide darüber einig scheinen, über deren Wesen im Unklaren zu sein.294 Der Begriff des strît eröffnet jedoch gerade im Dialoglied auch eine metapoetische Perspektive, zumal das männliche Text-Ich in Vers 3 als ein wol redender man bezeichnet wird. Der weitere Strophenverlauf ließe sich daher als versteckte ‚Kampfansage‘ in diesem ‚Redestreit‘ deuten, wenn sie nun ihrerseits – analog zu den Gesuchen des Mannes in Strophe 1 – eine Bitte an diesen äußert, welche zunächst wie ein kurzer – recht harmloser – Einschub wirkt (tuot alrest, des ich iuch bite), sich dann aber als ein erneutes Übertrumpfen deuten lässt: Er möge ihr der manne muot erklären, im Gegenzug würde sie ihn der wîbe site lehren.295 Die Dame scheint hier das Ansinnen

290 Es werden in der Folge weitere zentrale Begriffe der ersten Strophe aufgegriffen (vgl. hierzu auch Köhler, Wechsel, S. 224). Neben der Verwendung der Wörter mâze und tiuret (Str. 1: tiurer) bezeichnet sich die Sprecherin der zweiten Strophe im fünften Vers als tumber. 291 Kellner, Spiel der Liebe, S. 482. 292 Ähnlich selbstbewusst tritt das weibliche Text-Ich auch in Strophe 4 auf. 293 Vgl. hierzu Kasten, Dialoglied, S. 85f. u. 90 sowie ebd., Anm. 38. 294 Frings, Walthers Gespräche, S. 426, zieht aufgrund der Verwendung des Begriffes strît deutliche Parallelen zur provenzalischen Tenzone: „Doch will sie [die gepriesene Frau] das Gespräch nicht abbrechen, sondern zu einer klaren Antwort und Stellungnahme führen: das ist der Sinn der Zeile doch wil ich scheiden disen strît, wo strît dem provenzalischen tenzon entspricht, Disput in einer Liebesfrage.“ (Ergänz. in eckigen Klammern durch S.R.) Ferner spricht er, ebd., S. 430, von einer Anlehnung des Liedes an das provenzalischen Breviari d’Amor: „Walthers Gedicht also ist ein provenzalisches Breviari d’Amor, ein Breviarium de Amore in Form einer provenzalischen Tenzone, eines strît, wie er selbst sagt.“ Hierbei handelt es sich jedoch um eine voreilige Schlussfolgerung, da man weder sagen kann, was der Gegenstand des Streits ist, noch, inwiefern sich die beiderseitige ‚Belehrung‘ aufgrund ihrer Indirektheit und zum Teil fehlenden Motivierung (siehe unten) als ‚Breviarium‘ bezeichnen lässt. 295 Vgl. hierzu auch Mecklenburg, Walthers weibliche Stimme, S. 104: „Beachtenswert ist die, in der Überlieferung nicht variierende, feine Unterscheidung von muot, also einer emotionalen wie intellektuellen inneren Verfasstheit als Attribut der Männlichkeit, und site, dem äußerlich wahrnehmbaren Verhalten im Einklang mit einem ethisch-moralischen Wertesystem, als Attribut von Weiblichkeit“.

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des Mannes und dessen Frage nach der mâze insofern zu überbieten, als sie eine sehr viel umfassendere gegenseitige Belehrung erbittet.296 In St rophe 3 erklärt das männliche Text-Ich – hieran anknüpfend – nun jedoch, was die Männer, für die es kollektiv spricht (wir), von den Frauen erwarteten.297 Vor dem Hintergrund des in Strophe 2 erwähnten strît ließe sich auch dies nun als ein gezieltes Missverstehen der von der Dame vorgebrachten Bitte interpretieren: Die Männer wollten, dass Beständigkeit bei den edlen Damen die Krone der Vollkommenheit sei. Wenn sie es verstünden, fröhlich und doch beherrscht zu sein, so stehe die Lilie sehr schön neben den Rosen. Der Mann ruft hier das Bild der tugendsamen Dame des Werbungslieds ab, staetekeit und mit zühten sîn gemeit werden als Kennzeichen der »guten Damen« genannt. Die in der mittelalterlichen Dichtung beliebte Lilien- und Rosenmetaphorik als ein Marienattribut und bildhaftes Mittel zur Erhöhung der Frau findet gerade bei Walther auch eine auf weltliche Liebe bezogene Verwendung298 , was ab Vers 5 überaus deutlich bestätigt wird299 : linden, vogellîne, bluomen und klê evozieren die Vorstellung eines locus amoenus, der gerade für pastourellenhafte Lieder spezifisch ist und die hiermit verbundenen Konnotationen abruft. Auch sprachlich wird dieser Umbruch sehr deutlich markiert, wenn Vers 5 mit dem eine unmittelbare Präsenz erzeugenden Nu merket eröffnet wird.300 Der Sprechgestus in den Versen 5 bis 7 unterscheidet 296 Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 482: „Statt der zunächst gewünschten einseitigen Belehrung des Mannes durch die Dame, sollen beide einander lêren […].“ 297 Haferland, Hohe Minne, S. 332, stellt in Bezug auf beide Belehrungen der Strophen 3 und 4 fest: „Ein besonderer Witz besteht allerdings darin, dass keineswegs – wie vielleicht zu erwarten – der Werber über die Männer und die Dame über die Frauen spricht, sondern beide benennen, wie sie sich das andere Geschlecht vorstellen“. Vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 482: „Statt das Idealbild des eigenen Geschlechts auszumalen, werden also von beiden Seiten Anforderungsprofile für das jeweils andere Geschlecht entworfen.“ 298 Dies veranschaulicht vor allem sein Frauenpreis Vil wundern wol gemaht wîp (L 53,25), in dem das Text-Ich den Körper der von ihm Gepriesenen beschreibt (und sie in Hs. N sogar nachent sach, als sie dem Bad entstieg): Got het ir wengel hôhen vlîz,  / er streich sô tiure varwe dar, / sô reine rôt, sô reine wîz, / sô rôsenschîn, sô lilienvar (L 53,35–38). 299 Wann genau dieser Registerwechsel innerhalb der Strophe erfolgt, lässt sich nur sehr schwer sagen, da bereits das Adjektiv gemeit in Vers 3 auf eine Freudenthematik hindeutet, die gerade für ein pastourellenhaftes Naturgeschehen spezifisch ist. Noch weitergehend ließe sich sogar überlegen, ob nicht auch die krône in Vers 2 in einer Analogie zum kranz und schapel von Walthers Kranzlied (L 74,20) gedeutet werden könnte. Dann würde sich sogar schon im zweiten Vers der Strophe ein Registerwechsel ankündigen bzw. bereits erfolgen. 300 Kellner, Spiel der Liebe, S. 483, spricht von einer nach „Aufmerksamkeit heischenden und Performanz signalisierenden“ Formulierung. Auch Mertens, Lehre, S. 218, hebt bei seiner Interpretation des Liedes wie bereits Ranawake die Bedeutung des Registerwechsels hervor. Die traditionelle Thematik und der „banal“ erscheinende Formelgebrauch in Walthers Dialoglied würden gebrochen, indem der Sänger „statt von Tugendtheorie“ plötzlich vom locus amoenus als „Lustort“ spreche.

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sich ebenso auffällig von der bisherigen Strophengestaltung: Während das Text-Ich in den ersten beiden Versen in einem erklärenden Modus spricht (wir wellen, daz) und in den Versen 3 und 4 auf eine werbungsliedtypische Konditionalkonstruktion zurückgreift, äußert es sich in den Versen 5 bis 7 in einem eher beschreibenden Gestus mit einer unmittelbaren Deixis – ein geradezu gestisches Aufzeigen des Sängers scheint hier spürbar: Nun seht doch, wie gut die Linde und der Vogelgesang zusammenpassen (s. oben). Die adverbiale Bestimmung dar under ist hierbei typisch für eine lokal-situative Verortung als Teil des locus amoenus-Topos. Trotz eines vordergründig lehrhaften Sprechgestus versucht der Mann somit erneut – und hier sehr viel direkter als in Strophe 1 – auf die Minneebene umzuschwenken, welche auch auf das Verlangen nach einer körperlichen Liebeserfüllung hin transparent wird. Im Hinblick auf die Überlieferungsvarianten ist zu beobachten, dass in B die Dame bzw. die Damen durchgehend mit einem Anredepronomen angesprochen werden (iu guoten wîben, kunnent ir, nu merkent, stât iu vrowen, iuwer minneclicher redender munt), während in E und O abgesehen von dem deiktischen nu merket in Vers 5 auf eine direkte Hinwendung verzichtet wird (den guoten vrowen, kunnen sie, [nu merket], stêt vrouwen, ir minneclicher redender munt, hier nach O), wodurch eine größere Distanz und eine vermeintlich objektivere Wirkung entsteht, die in E noch einmal dadurch erhöht wird, dass sich das Text-Ich im ersten Vers selbst ausnimmt und in Anknüpfung an die zweite Strophe der manne muot in der dritten Person darzulegen beginnt: Sie wellent, daz […]. Die in B wiederholt Verwendung findende Anrede – welche sowohl kollektiv an alle Damen als auch direkt an die Angesprochene gerichtet sein kann – verstärkt die Werbungsabsicht der männlichen, vordergründig belehrenden Rede dagegen deutlich. Gleichwohl wird der Wunsch nach einem auch körperlichen Liebesbegehren der Männer in den letzten beiden Versen in allen drei Handschriften direkt – jedoch nur indirekt bezogen auf den Liebeswunsch des hier sprechenden Text-Ichs selbst gegenüber der (in B direkt angesprochenen) Dame – formuliert, wobei der Mann ab Vers 8 wiederum einen erneut eher generalisierenden Ton anschlägt: Zunächst heißt es, dass Damen ein schöner Gruß »noch besser« stehe. Auffällig ist hierbei die dreimalige Verwendung von Formen des Verbs stân in dieser Strophe: Wie die Lilie zur Rose und der Vogelgesang zur Linde passe, so gehöre auch zu den Damen der schöne Gruß. Diese auch sprachlich hervorgehobene Parallelität lässt die Zusammengehörigkeit von Gruß und Dame rhetorisch überzeugender wirken, zumal die Formulierung mit noch baz durch eine Steigerung im Vergleich zu den beiden zuvor genannten Beispielen dies noch einmal eigens betont. Dabei bleibt es allerdings nicht: Der liebreiche Mund der vrouwen lasse (den Männern) überhaupt keine andere Wahl (machet, daz man in küssen muoz), als ihn zu küssen, was – im Kontext der vordergründig belehrenden Intention der Strophe – unterstellt, dass der Mund der vrouwe das

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Unterlassen eines Kusses geradezu verhindert.301 Der minneclîch redende munt als pars pro toto nimmt dabei das in Strophe 2 gegenüber dem Mann angeführte Lob der Frau auf (ir tuot als ein wol redender man), welches nun jedoch funktional im Hinblick auf das Werbungsinteresse des Mannes eingesetzt wird, um in einem – dennoch verallgemeinernden Gestus – die Notwendigkeit zu begründen, den Mund der Damen zu küssen.302 Die liebesdidaktische Sprechebene überlagert sich somit sehr deutlich mit der minnethematischen Ebene der Werbung, welche sich hier jedoch nicht direkt auf das männliche Text-Ichs selbst bezieht. Die Dame erläutert nun (St rophe 4) in Anknüpfung hieran ihrerseits weniger der wîbe site als vielmehr der manne muot; die Strophen 3 und 4 sind in einer gewissen Analogie in Anknüpfung an Strophe 2 angelegt. Auch die Frau wendet sich – in Entsprechung zur E/O-Überlieferung der dritten Strophe – nur im ersten Vers direkt an ihr Gegenüber: Ich sage iu … bzw. Ir man frâgent in B.303 Auffällig ist dabei die Korrespondenz mit dem Liedeingang: Ich hœre iu …, wodurch wiederum ein Bogen zur ersten Strophe gezogen wird, in der die Angesprochene um eine Unterweisung gebeten wurde, der sie – anders als in Strophe 2 – zum Abschluss des Liedes doch noch nachzukommen scheint, wenn auch nicht bezogen auf die mâze. Im weiteren Verlauf der vierten Strophe wird dementsprechend in einem erklärenden Gestus ausschließlich in der dritten Person über das männliche Geschlecht im Allgemeinen sowie über die Erwartung an dieses aus weiblicher Sicht gesprochen (wer uns wol behaget, daz beste von uns saget, dem sîn wir holt): Den Frauen gefalle ein Mann, der zwischen gut und schlecht unterscheiden könne und ie daz beste von uns sage, womit sich das Text-Ich erneut auf einer sangesthematischen Ebene äußert – bezogen wird sich hier wohl auf das Werbungslied und insbesondere das Register des Frauenpreises. Einem solchen Mann seien die Frauen ergeben, wie das Text-Ich bekennt, woran sich jedoch sogleich eine weitere Einschränkung anschließt, wenn es heißt: ob erz mit triuwen tuot. Eine Distanzierung von ihrem Dialogpartner und der Möglichkeit, dass er derjenige sein könnte, der den Frauen insgesamt – nicht nur der hier sprechenden Frau – wohl gefalle (uns wol behaget), erfolgt somit mehrfach. Wenn er darüber hinaus auf angemessene Weise fröhlich sein könne und darauf bedacht ist, »weder zu bescheiden noch zu stolz zu sein«

301 Vgl. auch Kellner, Spiel der Liebe, S. 483: „gruoz (BCEO, V. 8) reimt sich entsprechend auf muoz (BCEO, V. 10). Semantisch folgt der Kusszwang dem Zusammenklang, den der Reim bereits verwirklicht.“ 302 Bereits mit der Erwähnung des Vogelgesangs in Vers 6 klang die Sangesthematik an, welche nicht aus den Augen zu verlieren ist, zumal sich deutliche Signale für einen Rede-Wettstreit (strît) zeigen, der durch ein gegenseitiges Überbieten in inhaltlich-formaler Anknüpfung an die jeweils vorgängige Rede gekennzeichnet zu sein scheint. 303 In EO wäre hier auch zunächst eine verallgemeinernde Ansprache an das Publikum vorstellbar.

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(Übersetzung Kuhn)304 , dann erwerbe er, was er sich wünsche.305 Mag das – in einem verallgemeinerten Gestus formulierte – Zugeständnis einer Erfolgsaussicht der Werbung des Mannes auch relativ deutlich ausfallen, so wird als weiteres – eine positive Zusage bedingendes – Kriterium die mâze angeführt, die bereits in den Strophen 1 und 2 genannt wurde und in welcher unterwiesen zu werden das männliche Text-Ich erbat (nu sult ir mir die mâze geben, V. I,10) – das weibliche Text-Ich sah sich dazu jedoch nicht in der Lage (Strophe 2). Die mâze stellt nun aber für die Frau ein wesentliches Auswahlkriterium bei der Entscheidung für oder gegen einen Mann dar: Worauf genau sich diese Unterscheidung zwischen »niedrig« und »hoch« bezieht, ob etwa auf einen ethischen oder gesellschaftlichen Maßstab, bleibt allerdings unklar; das Text-Ich bewegt sich hier in der Unverbindlichkeit des Werbungsliedregisters. Zudem ist es auffällig, dass es den Begriff der mâze ‚ganz selbstverständlich‘ zu verwenden scheint, ohne auf das Ansinnen des Sprechers in Strophe 1 (mâze geben) einzugehen, und im Widerspruch zur zweiten Strophe, in der es beteuerte, die mâze nicht zu kennen.306 Auf den Wechsel des Mannes auf eine naturthematische Sprechebene in Strophe 3 lässt sie sich nicht ein, geht jedoch ihrerseits ab Vers 9 in ein bildhaftes Sprechen über, wobei die Nennung von Seide und Faden – zumindest aus Sicht des heutigen Interpreten – sehr viel schwerer in ihrer Bedeutung zu erfassen ist als die Naturelemente in der vorangegangenen Strophe, welche das Verlangen des Mannes nach einer Liebeserfüllung – neben dem expliziten Kusswunsch – relativ deutlich hervorkehren.307 Das Lied endet mit den viel interpretierten Versen: welch wîp verseit dem einen vaden? / guoter man ist guoter sîden wert. Eine Absage lässt sich hierunter insofern verstehen, als die Aussage wörtlich in dem Sinne aufgefasst werden kann, dass der Mann tatsächlich ‚nur‘ einen Faden und nicht mehr erhielte, wodurch die in Strophe 3 aufgebaute Erwartungshaltung deutlich enttäuscht würde. Jedoch ist auch eine gegenteilige Deutung als Zusage möglich: Welche Frau könnte einem solchen Mann auch nur

304 Das Gegensatzpaar nider und hoch begegnet häufig im Minnesang, so u. a. auch bei Heinrich von Veldeke in der Strophe MF 62,36: dort bezogen auf den Gesang der Vögel. Zu den Überlieferungsvarianten der Verse 5–7 und den hiermit verbundenen Bedeutungsverschiebungen vgl. Kellner, Spiel der Liebe, S. 484. 305 Die BC-Überlieferung ist hier etwas zurückhaltender, wenn es dort heißt: so tuot er, des daz herze gert. In F heißt es: der mac wol pieten, wes er gert (= F). 306 Die Eindeutigkeit, mit der Rasmussen, Representing women’s desire, S. 73, den mâze-Begriff in diesem Lied bestimmt, ist jedoch zu hinterfragen. 307 Vgl. u. a. Mertens, Lehre, S. 220–227; Haferland, Hohe Minne, S. 333; Köhler, Wechsel, S. 212f.; Rasmussen, Representing women’s desire, S. 75, Anm. 12; Frings, Walthers vaden, S. 320; ders., Walthers Gespräche, S. 428–430; Kraus, Walther von der Vogelweide, S. 144f.; verwiesen wird dabei auf ein Lied Guilhems de Cabestanh, in dem der Seidenfaden als Liebespfand fungiert, wobei sich jedoch auch hier die Frage stellt, wie dieses „Zeichen der Zuneigung“ (Frings, Walthers Gespräche, S. 429) zu interpretieren wäre.

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einen Faden verweigern, d. h. irgendeinen Wunsch unerfüllt lassen, wenn er die zuvor genannten Eigenschaften erfülle? Der letzte Vers bietet ebenso ambivalente Deutungsmöglichkeiten: Ein guter Mann ist so wertvoll wie gute Seide – aber mehr auch nicht. Ebenso ließe sich erwägen, dass ein guter Mann, wenn er so kostbar wie gute Seide ist, davon ausgehen kann, dass auch eine Frau ihm wohlgesonnen ist und daher seine Wünsche erfüllt. Kellner nimmt einen metonymischen Bezug von Seide und Faden auf die Frau an und macht auf „Züge einer Liebesverheißung“ aufmerksam.308 Dennoch ist zu betonen, dass kein endgültiges Urteil über das Liedende möglich ist, was das Besondere dieses Schlusses ausmacht: Die besondere Pointe des Schlusses liegt darin, dass er prinzipiell in beide Richtungen lesbar ist. Eine Dame, die lediglich einen Faden als Gabe in Aussicht stellt, also die kleinste Kleinigkeit schlechthin, kann sich nichts vergeben, zumal nicht, wenn es sich um einen Mann handelt, der sich ganz dezidiert an der mâze orientieren will. Sie hält sich damit taktisch alle Möglichkeiten des Rückzugs offen und bleibt auf dem Boden des höfischen Comments.309

Im Hinblick auf den hier begegnenden Werber sichert sich die Dame darüber hinaus gleich mehrfach ab. Inwiefern die in Strophe 4 dargelegten Anforderungen nämlich auch durch den in dem Lied begegnenden Mann erfüllt würden, bleibt unklar; das weibliche Text-Ich äußert sich – vor allem dadurch, dass es verallgemeinernd von Männern und Frauen spricht – äußerst unverbindlich: Damen seien einem Mann holt, wenn er es mit triuwen tue. Derjenige erwerbe, was er begehre, der ze rehte froh sein könne.310 Was es bedeutet, tze mâze nidere und ouch tzuo mâzen 308 Kellner, Spiel der Liebe, S. 484. Vgl. ebd.: „Steht der Faden als pars pro toto für die Seide, diese metonymisch für ein Seidenkleid, welches wiederum metonymisch die Frau selbst meinen könnte oder als Gabe dem dienenden Mann zugeordnet wäre, so wird über die Kette von Synekdoche und Metonymien, welche imaginativ durch die bildliche Ausdrucksweise der Sprecherin in Gang gesetzt wird, angedeutet, dass ein Werber und Sänger die Frau, die er begehrt, durchaus erhalten könne.“ 309 Kellner, Spiel der Liebe, S. 485. Auch Köhler, Wechsel, S. 224f., legt sich daher nicht auf eine bestimmte Interpretation des Textes fest. Er sieht in der Zweideutigkeit der Aussage der letzten beiden Verse einen besonderen Wert, der auch den Charakter des gesamten Liedes kennzeichne: „Eine dritte Möglichkeit ist darin zu sehen, dass die Frau hier bewusst zweideutig bleibt. Denn gerade weil die siden sowohl konkret (‚Gewand‘) als auch im übertragenen Sinn – einem ‚guten‘ Mann winke ein ebensolcher Lohn – verstanden werden können, bleibt der Fall in der Schwebe und die erotische Spannung erhalten.“ Vgl. auch Haferland, Hohe Minne, S. 333: „Dem werbenden Mann ist so geholfen, der Faden gewährleistet die stætecheit der Frau, aber so allgemein, wie die Lehre von der Minnewerbung bleibt, so offen bleibt, was auf sie hin weiter geschieht und ob es nicht womöglich dabei bleibt.“ 310 Vgl. Mecklenburg, Walthers weibliche Stimme, S. 104: „Wann aber männliches Verhalten noch ze rehte vrô (IV, 5) ist, sagt sie nicht […]“.

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hô bedacht zu sein – ob bezogen auf einen ethisch-moralischen, gesellschaftlichen oder poetischen Maßstab – bleibt ebenfalls unklar, zumal das männliche Text-Ich gerade über diese Eigenschaft nicht zu verfügen scheint, wie es in der ersten Strophe selbst bekennt.311 Letztendlich sind es darüber hinaus die Frauen, die im Hinblick auf diese Fragen urteilen312 , was die vierte Strophe direkt zu Beginn dadurch veranschaulicht, dass sie als diejenigen vorgestellt werden, nach denen sich der manne muot zu richten hat, so heißt es ganz deutlich: wer uns wol behaget (IV,1). Erneut hat die Dame somit das letzte Wort und spielt hierbei in ihrer mehrfachkodierten Antwort rhetorisch geschickt mit der Möglichkeit einer Minneerfüllung, ohne sich aber konkret festlegen zu lassen. Vor diesem Hintergrund fällt die Absage des im nächsten Kapitel behandelten Liedes sehr viel deutlicher aus, in dem sich ebenfalls eine Überlagerung der Ebenen der Minnedidaktik und Werbung beobachten lässt, wobei ein hierdurch bedingtes Aneinander-Vorbeireden deutlich plakativer anhand des lîp-Begriffes vorgeführt wird. 3.2.1.3 Frowe, lânt iuch niht verdriezen (L 85,34)

Die Gesprächsanteile des Dialoglieds313 sind quantitativ gleichmäßig verteilt: Auf jeweils zwei Männer- und Frauenstrophen folgt die fünfte Strophe, in der beide Dialogfiguren zu Wort kommen314 , wodurch formal sehr deutlich die wettkampfrhetorische Ebene der romanischen Tenzonendichtung und ihrer strukturell symmetrischen Redesystematik abgerufen wird. Inhaltlich-argumentativ tritt diese Tradition vor allem ab Strophe 2 hinsichtlich des Wortspiels mit dem lîp-Begriff hervor, worauf sich die Forschung vornehmlich konzentriert: Indem die Dame das 311 Die Dame jedenfalls klärt es nicht darüber auf, da die Verwendung des Wortes in Str. 4 keine Definition ist. 312 Rasmussen, Representing women’s desire, S. 74, dagegen interpretiert die Antwort der Dame als eine Unterwerfung unter den Mann, dem die Fähigkeit der Urteilsfindung zugesprochen werde, während sich die Frau nach dem Mann zu richten habe. Für ein selbstbewusstes Auftreten der Dame in Strophe 4 argumentiert dagegen Köhler, Wechsel, S. 225f., da sie „in der vierten Strophe dann doch die Eingangsfrage des Mannes mit ihrer Definition von maze“ beantworte und sich hierdurch „schließlich als die Überlegene“ zu erkennen gebe und „die ihr zukommende Rollenvalenz der Minnedame“ aufzeige (zur Frage, ob in Strophe 4 tatsächlich eine Definition der mâze erfolgt, vgl. oben). 313 Zitiert nach der Ausgabe von Bein, Walther, S. 339f.; weitere Editionen: Kasten, Frauenlieder, S. 106–110; Schweikle, Walther1 , S. 208–213; Forschung zu diesem Lied u. a.: Eikelmann, Denkformen, S. 213–220; Kasten, Dialoglied, S. 81–93, bes. S. 81–83; dies., Frauenlieder, S. 259f.; Schweikle, Walther1 , S. 634–636; Rasmussen, Reason, S. 168–186, bes. 177–181; Wapnewski, Walther, S. 239f.; Meyer, Strophenfolge, S. 91–95; Classen, Verzweiflung und Hoffnung, S. 216–218; Fitschen, Körper, S. 113–118. 314 Schon will Wapnewski, Walther, S. 239, in dem Gespräch das „Prinzip der Gleichberechtigung“ umgesetzt sehen.

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dienstmetaphorische Werbungslied-Sprechen des Mannes zwar aufgreift, sich dabei aber das weite Bedeutungsspektrum des Begriffs in unterschiedlichen Wortverbindungen – vornehmlich im Hinblick auf die Formulierungen für eigen geben und nemen den lîp – argumentativ zunutze macht, konkretisiert sie die Aussagen des Mannes erbarmungslos und lässt ihn regelrecht auflaufen, woraus vor allem für das Liedende ein raffiniert-pointierter Komikeffekt erwächst. Darüber hinaus ergänzen Anklänge an das Lehrgespräch auch in diesem Dialoglied die werbungsthematische Sprechebene. Hinsichtlich der Überlieferungssituation ist zu beobachten, dass A unter dem Autornamen Lutold von Seven nur die ersten drei Strophen als Einzellied enthält. Demnach wird hier auf das ‚Spiel‘ mit der Bedeutungsunschärfe von lîp in den Strophen 4 und 5 – und vor allem den hiermit einhergehenden Implikationen – verzichtet.315 CE: I – V A: I – III Lutold von Seven                Text nach C (zit. n. Bein) I

Frowe, lânt iuch niht verdriezen mîner rede, ob sî gefüege sî. möht ichs wider iuch geniezen, sô wær ich dien besten gerne bî. Wizzent, daz ir schœne sît. hânt ir, als ich mich verwæne, güete bî der wolgetæne, waz danne an iu einer êren lît!

II

‚Ich wil iu zu redenne gunnen, sprechent, swaz ir welt, ob ich niht tobe.316 daz hânt ir mir an gewunnen mit dem iuwerm minneklichem lobe. In weiz, ob ich schœne bin, gerne hete ich wîbes güete. lêrent mich, wie ich die behüete; schœner lîp der touc niht âne sin.‘

315 Dass laut Schweikle, Walther1 , S. 636, die auf drei Strophen verkürzte Fassung „ganz den traditionellen Mustern“ entspreche, ist jedoch zu hinterfragen. Wobei auch unklar bleibt, was bei Schweikle unter „traditionellen Mustern“ zu verstehen ist. 316 In der Würzburger Handschrift E finden sich hier und auch in Strophe 3 Varianten, welche auf eine gewisse Unklarheit der Sprecherzuweisungen deuten, so heißt es ebd. in Vers II,2: swaz ir woellet frauwe ob ich niht tobe, sowie in den Versen III,5f.: einer sult ir iuwern lîp / zvo eigene geben

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III

Frowe, daz wil ich iuch lêren, wie ein wîp der welte leben sol: guote liute sult ir êren, minneklîch an sehen und grüezen wol; Eime sult ir iuwern lîp geben für eigen umb den sînen. frowe, woltent ir den mînen, den gæbe ich umb ein sô schœne wîp.317

IV

‚Beide an schouwen und an grüezen, swâ ich mich dar an versûmet hân, daz wil ich vil gerne büezen. ir hânt hovelîch an mir getân. Tuont durch mînen willen mê: sît niht wan mîn redegeselle! in weiz nieman, dem ich welle nemen den lîp, ez tæte im lîhte wê.‘

V

Frowe, lânt mich ez alsô wâgen: ich bin dicke komen ûz grôzer nôt, unde lânt es iuch niht betrâgen, stirbe aber ich, sô bin ich sanfte tôt. ‚Hêrre, ich wil noch langer leben! lîhte ist iu der lîp318 unmære, waz bedorfte ich solher swære, solt ich mînen lîp umb iuwern geben?‘

vn nemē den sinen. Im Hinblick auf letztere Stelle scheint es sich um einen Fehler zu handeln (einer – sinen). Auch bezogen auf die genannte Stelle der zweiten Strophe stellt sich die Frage, inwiefern die Aussage, dass die Dame sprechen möge, was sie wolle, zu dem Hinweis passt, dass das angesprochene Gegenüber dies mit seinem liebreichen Lob erreicht habe. Es deutet sich aufgrund dieser Uneindeutigkeiten eine fehlende Vertrautheit mit dem Texttyp bzw. eine auf diesen bezogene Unsicherheit an. Vgl. hierzu auch Schweikle, Walther1 , S. 208f. sowie S. 636, der ebd. von einem „ermunternde[n] Einwurf des Mannes“ spricht, „wenn nicht ein Versehen des Schreibers“. 317 Zur Varianz des Strophenschlusses in E vgl. unten die Ausführungen zur dritten Strophe. 318 daz leben E (vgl. hierzu unten die Ausführungen zu Strophe 5).

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I. Herrin, lasst Euch nicht stören durch meine Rede, wenn sie der höfischen Art entspricht. Könnte sie mir euch gegenüber von Nutzen sein, dann wäre ich gerne bei den Besten: Wisst, dass Ihr schön seid. Habt Ihr, wie ich vermute, Gutherzigkeit bei der Wohlgestalt, wieviel an Ansehen dann allein bei Euch liegt! II. ‚Ich will Euch erlauben zu sprechen, sagt, was Ihr wollt, sofern ich Euch folgen kann. Das habt Ihr bei mir erreicht mit Eurem liebevollen Lob. Ich weiß nicht, ob ich schön bin, gerne hätte ich die Gutherzigkeit einer Frau. Lehrt mich, wie ich die bewahre; Schönheit taugt nichts ohne Verstand und Empathie.‘ III. Herrin, ich will Euch lehren, wie eine Frau in der Gesellschaft leben soll: Gute Menschen sollt Ihr ehren, liebevoll ansehen und freundlich grüßen. Einem sollt Ihr Euch mit Leib und Leben zu eigen geben und er Euch ebenso. Herrin, wolltet Ihr dies von mir, ich gäbe es für eine so schöne Frau.

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IV. ‚Beides, Anschauen und Grüßen, wenn ich dabei irgendwie unaufmerksam gewesen bin, das will ich sehr gerne gutmachen. Ihr habt höfisch mir gegenüber gehandelt. Tut mir zuliebe noch etwas mehr: Seid nichts als mein Gesprächsfreund! Denn ich kenne niemanden, dem ich wollte Leib und Leben nehmen, es täte ihm vielleicht weh.‘ V. Herrin, lasst es mich also wagen: Ich bin oft großer Not entkommen, und lasst es Euch nicht schwer werden, sollte ich aber sterben, so bin ich auf sanfte Art tot. ‚Herr, ich aber will noch länger leben! Vielleicht sind Euch Leib und Leben gleichgültig, wozu (aber) brauchte ich solche Beschwernis, dass ich mein Leib und Leben für Eures (d. h. für Euer Leib und Leben) hingeben                                                                                                                   sollte?‘319

Das Lied beginnt mit der Anrede einer Dame und einem sich daran anschließenden Hinweis des Text-Ichs darauf, dass seine Rede sie nicht stören (verdriezen) möge, sofern sie gefüege sei, d. h. der höfischen Art entspreche, wobei die vuoge über ein weites Bedeutungsspektrum verfügt, weshalb sowohl ein ästhetischer als auch ein ethischer Bezug möglich wäre.320 In den Versen 3 und 4 erklärt das Text-Ich: Könnte sie (ichs) – die Rede – ihm bei der Angesprochenen etwas nützen, dann wäre er gerne unter den Besten.321 Damit wird der auf zwei Figuren begrenzte Bezugsrahmen erweitert und eine Konkurrenzsituation imaginiert, da sich der Mann nicht als einziger für die Dame zu interessieren und einer unter vielen zu sein scheint. Der Begriff des geniezen, und zwar wider iuch, macht dabei deutlich, 319 Vgl. auch die Übersetzungen von Schweikle, Walther1 , S. 208–213, Kuhn, in: Kasten, Lyrik, S. 449–451, Kasten, Frauenlieder, S. 107–111, Schaefer, Walther von der Vogelweide, S. 57–59, an denen sich die vorliegende Übersetzung teilweise orientiert. 320 Vgl. hierzu auch Kasten, Frauenlieder, S. 259: „gefüege, kann sowohl einen ästhetischen als auch einen ethischen Wert implizieren, ›wohl gefügt, kunstvoll; schicklich, passend, anständig‹.“ Man erfährt hier nicht, ob die Dame selbst oder eine andere Instanz darüber entscheidet, ob die Rede gefüege ist. Zur fuoge bei Walther von der Vogelweide vgl. auch Müller, Die frouwe und die anderen, S. 84f., welcher ebd., S. 84, in Bezug auf die fuoge in Lied L 47,36 von einer „allgemeinen Regel höfischen Verhaltens“ spricht. 321 Kasten, Frauenlieder, S. 107, wählt in ihrer Edition des Textes in Vers I,3 ichz statt ichs und bleibt etwas offener hinsichtlich des genauen Bezugs: »Herrin, laßt Euch meine Worte doch gefallen, / wenn sie schön und passend sind. / Könnt’ es mir bei Euch was nützen […]« (Hervorhebung S.R.).

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dass er mit seiner Rede auf einen von der Dame zu erteilenden – hier nicht näher bestimmten – Dank zielt. In Vers 5 findet sich wie bereits in Vers 1 ein Imperativ, wobei jedoch die Rede nun in ein Frauenlob mündet, weshalb nach Vers 4 auch ein Doppelpunkt denkbar wäre, scheint doch der Mann im Folgenden mit der zuvor thematisierten rede einzusetzen: Sie solle wissen, dass sie schön sei. Es handelt sich um die einzige indikativische Aussage, die nicht in die Abhängigkeit eines Konditionalsatzes gestellt wird, was den sprachlichen Registerwechsel hier noch deutlicher macht. Vers 6 setzt dagegen erneut mit einem Konditionalsatz ein: Wenn die Dame Gutherzigkeit (güete) bei ihrer Wohlbeschaffenheit habe – wie er es zumindest annimmt (als ich mich verwæne, V. 6) –, dann wäre es nicht auszudenken, über wie viel Ansehen sie verfügen würde. Damit wird auf die bei Walther häufiger thematisierte „Frage nach dem Vorzug der inneren gegenüber den äußeren Qualitäten der Frau“322 angespielt. Dass dieses Lob in die Abhängigkeit eines Konditionalsatzes gestellt wird, ließe sich zumindest andeutungsweise als eine Einschränkung des vorgebrachten Frauenpreises verstehen, zumal aufgrund der Aussage als ich mich verwæne – die ebenfalls eng an das Register des Werbungslieds anknüpft – ein weiterer Abstrich von der Gültigkeit dieses Lobs erfolgt323 , wobei diese Unsicherheit auch dadurch zu erklären wäre, dass sich eine ‚innere‘ Eigenschaft wie die güete im Unterschied zur äußeren Schönheit nicht auf den ersten Blick eindeutig als solche erkennen lässt.324 In St rophe 2 erteilt nun ein zweites Text-Ich – es handelt sich also wohl um die angesprochene Dame – dem Mann die Erlaubnis zu sprechen, wobei auch der sprachliche Gestus eng an die erste Strophe anknüpft: lânt (I,1) – sprechent (II,2); ob … (I,2) – ob … (II,2). Der Angesprochene solle sagen, was auch immer er wolle, wenn sie »nicht unverständig«325 sei, d. h. solange sie seine Ausführungen nachvollziehen könne.326 Diese Deutung würde insofern zum weiteren Ge-

322 Kasten, Dialoglied, S. 92. Vgl. außerdem dies., Frauenlieder, S. 259, mit dem Hinweis auf zwei weitere Lieder Walthers, L 50,19 und L 74,20. 323 Vgl. hierzu Kasten, Dialoglied, S. 82: „Oder der Mann fordert die Frau mit einer versteckten Provokation dazu heraus, ihm überhaupt zuzuhören und sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen, und zwar geschieht dies, indem er ihre Schönheit lobt, ihren inneren Wert aber mittelbar in Frage stellt“. Der Frauenpreis der Dame würde daher eingeschränkt. Vgl. auch Rasmussen, Reason, S. 178f. 324 Fitschen, Körper, S. 115, formuliert hier in diesem Sinne etwas vorsichtiger, dass der Mann „ihre innere Tugend der Güte“ nur vermuten könne. 325 So übersetzen Kasten, Frauenlieder, S. 108, sowie Schweikle, Walther1 , S. 209, wobei letzterer den Konditionalsatz im Deutschen zu einem Hauptsatz macht: „ich bin nicht unverständig“ (ebenso Brunner, Walther, S. 125: „ich bin doch nicht spröde“). 326 Eine Auffassung im Sinne von „wenn ich nicht ausraste/tobe“ wäre ebenfalls denkbar, setzte aber inhaltlich einen anderen Akzent: Die Dame würde in diesem Fall nicht ihre Auffassungsgabe als Bedingung nennen, sondern ihre Reaktion auf die Rede des anderen. Vgl. Bein, Walther, S. 341:

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sprächsverlauf – und auch zum Texttyp insgesamt – passen, als hier gerade ein Aneinander-Vorbeireden im Kontext der mehrfachkodierten Rede des Mannes zu einem Thema des Lieds erhoben wird. In den folgenden beiden Versen 3 und 4 kommt es zu einer kurzen Begründung für die zuvor durch die Dame gegebene – eingeschränkte – ‚Rede-Erlaubnis‘: Der Angesprochene habe sich dies von ihr verdient aufgrund seines »liebreichen Lobs«. Damit ließe sich ein Bezug auf den Frauenpreis in Strophe 1 herstellen, der offensichtlich von der Dame akzeptiert wird, wobei sich ab Vers 5 nun auch in der zweiten Strophe ein anderes Sprechregister findet: Sie wisse nicht, ob sie schön sei. Zudem wird ebenfalls ab Vers 6 – wie in Strophe 1 – der Begriff der güete aufgegriffen, über die sie gerne verfügen w ü rd e. Der im Rahmen des minneclîchen lobes (V. 4) der ersten Strophe vorgetragene Frauenpreis wird somit zurückgewiesen, worin sich ein Bescheidenheitstopos ganz im Sinne des höfisch-zurückhaltenden Frauenideals erkennen ließe. Die Äußerung des Wunsches in Vers 6 (gerne hete ich […]) mündet in Vers 7 in eine direkte Bitte um Belehrung: Er möge sie lehren, wie sie die güete (die) bewahren könne; ein schöner Körper tauge nichts ohne Verstand und Empathie (sin).327 Der Begriff der güete aus Strophe 1 wird somit zwar aufgegriffen, aber nicht als eine Eigenschaft der Dame bestätigt. Gleichzeitig erfolgt eine Herabsetzung des Lobs der Schönheit gegenüber dem Verstand bzw. der geistlich-sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeit (sin). Während aus der Haltung des weiblichen Text-Ichs einerseits eine gewisse Unsicherheit in den Versen 5 bis 7 spricht, wirkt die abschließende Äußerung der Strophe äußerst bestimmt. Wie selbstverständlich erkenne die Dame „die Autorität und Urteilsfähigkeit ihres männlichen Gegenübers an“, so Fitschen.328 Die ein Defizit zum Ausdruck bringende Aussage greift dabei ebenfalls in gewisser Weise die erste Strophe auf, da das männliche Text-Ich hier – bezogen auf die Angespro-

„Der Nebensatz ist ambivalent: ‚wenn ich bei Verstand bin‘ oder ‚wenn/solange ich nicht rase = wütend werde‘.“ 327 Zum Schönheitsideal bei Walther von der Vogelweide vgl. u. a. Fitschen, Körper, S. 115 sowie 139–147, die ebd., S. 115, auf das Verhältnis von innerer und äußerer Schönheit bei Walther eingeht. Vgl. ebenso Eikelmann, Denkformen, S. 213. Zur Verwendung des Begriffes sin im Minnesang vgl. Milan, Das Herz in der Sprache der Minnesänger, S. 81: „Dem gegenüber kann aber auch der Gegensatz zwischen lîp und sin betont werden. In diesem Falle steht sin bzw. sinne für den Gesamtinhalt des Geistigen im Gegensatz zu dem Körperlichen, für den Verstand, das Denken, die Gedanken.“ Anders als Schweikle, Walther1 , S. 209, der hier sin als „edle Gesinnung“ auffasst, sollte an dieser Stelle vor allem auch – gerade vor dem Hintergrund des weiteren Liedverlaufs – auf die geistlich-sinnliche Wahrnehmung abgehoben werden. Die Auffassung von sin im Sinne von ‚Verstand‘ passt zudem zu der oben vorgestellten Deutung des toben (vgl. V. II,2) in dem Sinne, dass die Dame hier auf ihre mentalen Fähigkeiten verwiese. 328 Fitschen, Körper, S. 115.

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chene – eine Unsicherheit im Hinblick auf das Vorhandensein der güete zumindest ansatzweise erkennen ließ (V. I,6).329 Der erneut männliche Sprecher der d r itte n St rophe knüpft an die Bitte um Belehrung an, geht jedoch (zunächst) nicht auf die güete ein, sondern verallgemeinert in dem Sinne, dass er aufweisen möchte, wie eine Frau prinzipiell in der Gesellschaft leben sollte (wie ein wîp der welte leben sol). Der Wunsch einer Beantwortung der Frage, wie ich die [= güete] behüete, wird somit zunächst nicht erfüllt. Der für Walthers Minnelieder ohnehin typische sangspruchhafte Redegestus des Belehrens mündet in eine Auflistung dessen, was eine Frau tun solle: gute Leute ehren, liebevoll (minneclîch) ansehen und freundlich grüßen.330 In Vers 5 vollzieht sich jedoch ein allmählicher Wechsel vom Gestus des Belehrenden zu dem des Werbenden, wobei hier allerdings die beiden Sprechebenen nicht klar voneinander geschieden sind331 : Einem nämlich solle sie sich (iuwern lîp) »zu eigen geben«. Während zuvor eine Verallgemeinerung in Form prinzipieller Verhaltensregeln für das weibliche Geschlecht insgesamt erfolgte, lenkt das Text-Ich nun den Blick zunehmend in Richtung einer auf Exklusivität beruhenden Hinwendung der Dame zu einem einzigen Mann, aber zunächst immer noch im Gestus der Belehrung: Eime sult ir … Wer dieser »eine« sein könnte, wird in den letzten beiden Versen der Strophe deutlich: Wenn sie s e i ne n lîp wollte, gäbe er diesen sehr gerne für eine so schöne Frau.332 Der Sprechmodus knüpft zum Ende der Strophe hin somit wieder mit den konditional verbundenen und im Irrealis formulierten Versen 7 und 8, welche – den Neuansatz markierend – mit einer erneuten Apostrophierung der frowe einsetzen (vgl. V. 3,1), deutlicher an die Werbungsrede der ersten Strophe an. Der in den Strophen 1 und 2 verwendete Begriff der güete wird hier nicht direkt aufgegriffen, doch ist er dadurch indirekt präsent, dass sich das geforderte 329 Eikelmann, Denkformen, S. 213, spricht in Bezug auf die ersten beiden Strophen von einer „Übereinstimmung der Rollen“. Diese spiegle sich „in den Formen indirekt-zurückhaltenden und rücksichtsvollen Sprechens, in dem sich eine weitere wichtige Funktion des Konditionals konkretisiert“. 330 Vgl. auch Fitschen, Körper, S. 115: „Die Dame solle Urteilsfähigkeit (einer der zentralen Punkte in Walthers neuer Minneethik) besitzen und (nur) gute Menschen achten. Dies hat sie durch die Gesten des freundlichen Blicks und des huldvollen Grußes sichtbar zu äußern.“ 331 Vgl. hierzu auch Rasmussen, Reason, S. 179: „In his posture as teacher the male speaker introduces a standard motif of love service, an exchange of selves between lovers […] and then – abandoning the role as teacher and resuming again the role of supplicant – proposes himself as a suitable partner for such an exchange“. 332 Ebd.: „In the previous stanza the lofty lady has attempted to move the dialogue toward a discussion of ethical discernment (sin), but as this last line makes clear, the male speaker continues to focus on the lady’s physical beauty and on the possibility of physical union to which the ‚exchange of persons‘ gestures.“ Zur Bedeutung des Begriffes lîp im Mittelhochdeutschen vgl. Fitschen, Körper, S. 112f. unter Bezug auf Godglück, Lîp und seine Metonymien, sowie Krause, Lîp, mîn lîp und ich, S. 373–396.

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Handeln der Angesprochenen als eine Form weiblichen ‚Entgegenkommens‘ deuten ließe, welches hier allerdings nicht näher bestimmt ist. Die Verwendung des Begriffs lîp ist in diesem Zusammenhang ebenfalls nicht eindeutig, wobei jedoch vordergründig der Anklang an die Sphäre der Dienstbarkeit und in diesem Fall auch Leibeigenschaft dominiert, wie vor allem der eine Servilität zum Ausdruck bringende eigen-Begriff sehr deutlich macht: Die Frau möge sich »einem« mit »Leib und Leben« – d. h. in ihrer gesamten Existenz – »zu eigen geben«, was dieser »eine« im Gegenzug zwar ebenso tun müsse (umb den sînen), was aber zunächst geradezu eine Umkehr des üblichen Dienstverhältnisses bedeutet, trägt doch in der Regel der Werbende der Dame den Dienst an.333 Der körperliche Aspekt des lîp spielt hierbei insofern eine Rolle, als sich die Angesprochene mit »Leib und Leben« in die Abhängigkeit des Mannes begeben soll.334 Inwiefern einerseits bereits auch eine körperlich-sexuelle Auffassung und andererseits eine übertragene Bedeutung im Sinne einer liebenden Dedikation des Lebens schlechthin – jedoch ohne den Aspekt einer Unterwürfigkeit – hierbei mitschwingen, lässt sich überlegen, wobei jedoch die genannte feudo-vasallitische Sphäre dominiert.335 Wenn es in den nun

333 Vgl. hierzu auch Kluckhohn, Ministerialität, S. 138 sowie ebd., S. 145: „sie [die Dichter] geben, nîgen, bieten, oder jehen sich ihrer dame und der minne vür eigen, wollen ihr vür eigen leben, dienen ihr eigenlîchen, sind ihr gebunden gar vür eigen […]“. 334 Fitschen, Körper, S. 116, hebt hierbei vollkommen zurecht den Aspekt einer „völlige[n] Hingabebereitschaft“ hervor: „Dreist fordert das männliche Ich die Dame im Topos des lîp-Tausches zu Gegenseitigkeit und völliger Hingabebereitschaft auf: Sie solle ihren Körper jemandem ganz und gar anvertrauen und erhalte im Gegenzug den Körper des anderen. Gönnerhaft bietet sich das männliche Ich daraufhin an, dieser ‚Jemand‘ sein zu wollen und seinen Körper einem solchen ‚Prachtweib‘ (ein sô schœne wîp) zur Verfügung zu stellen.“ Vgl. auch Meyer, Strophenfolge, S. 91: „Tausch von ‚Leib und Leben‘ (lîp) als die volle Hingabe an einen Einzigen“. Gleichwohl ist jedoch unbedingt darauf hinzuweisen, dass sich der Begriff des lîp im Minnesang eindeutigen Zugängen widersetzt, wie Fitschen, Körper, S. 113, selbst erklärt: „Der Einsatz der polyvalenten lîp-Wendungen unterliegt einem gewissen Reflexionsbewusstsein und dient den Autoren zum raffinierten Spiel mit der Mehrdeutigkeit“. Vgl. hierzu grundlegend Peters, Die Ligesse als Problemfeld, bes. S. 158–161, sowie dies., Das Forschungsproblem der Vasallitätsterminologie, wo sie ebd., S. 658, von einer „kaleidoskopartige[n] Fülle und virtuose[n] Flexibilität der lyrischen Dienstformeln und Unterwerfungs-Szenarien“ innerhalb der romanischen und deutschen Liebespoesie spricht. 335 Kluckhohn, Ministerialität, S. 148, warnt zur Vorsicht im Hinblick auf eine sich zum Vergleich heranziehen lassende Formulierung bei Dietmar von Eist: vil gar ir eigen ist mîn lîp (MF 35,15). Eine neuhochdeutsche Entsprechung im Sinne von „ich bin dîn“ sei hier nicht anzunehmen: „das eigen trägt mittelhochdeutsch einen starken ton“. Vgl. auch Meyer, Strophenfolge, S. 93, der darauf hinweist, dass „dieses Gegenseitigkeitsprinzip“ erst „im Verlauf des Lieds auf die geistig-ethische wie auf die sinnliche Seite der Beziehung angewendet“ werde. Vgl. ebenso Peters, Die Ligesse als Problemfeld, S. 161, die den Aspekt von „persönlicher Unfreiheit/Leibeigenschaft“ im Zuge des eigen-Begriffes sehr deutlich herausstellt. Das Motiv der Hingabe des lîp ist im Minnesang weit verbreitet. Ähnlich wie in dem vorliegenden Lied laviert die Bedeutung des Begriffes zwischen

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folgenden Versen 7 und 8 explizit um das Verhältnis des hier sprechenden Mannes – also des Text-Ichs selbst – zu der Dame geht, ist auffälligerweise allerdings lediglich von einer einseitigen lîp-Gabe die Rede: Wenn sie s e i n »Leib und Leben« wollte, gäbe er dies für eine so schöne Frau.336 Hieß es zuvor noch, dass sie ebenso ihren lîp einem nicht näher bestimmten »einem« für eigen geben solle, fordert das Text-Ich dies für sich selbst nicht direkt ein, was als rhetorischer Rückzug zu werten ist, wenn man bedenkt, dass die Aufforderung der Dame in den Versen 5f. ein sehr viel weitergehendes Ansinnen zum Ausdruck bringt.337 Entscheidend ist nun aber, wie die Dame der v i e r te n St rophe diese Aussage auslegt, greift sie doch erneut Formulierungen der vorangegangenen Strophe direkt auf. Gerne wolle sie (ihn) ansehen – ihm also einen Blick zuwerfen (?) – und grüßen. Wenn sie dagegen verstoßen habe, werde sie dies sehr gerne büßen, er habe ihr gegenüber höfisch – »auf feine, artige, unterhaltende weise«338  – gehandelt. Der Hinweis darauf, dass sie »sehr gerne« (vil gerne) Buße tun wolle, sofern sie sich etwas zu Schulden kommen lassen habe, wirkt dabei überaus höflich und entgegenkommend – vor dem Hintergrund der Tradition des Texttyps ließe sich dies bereits als (ironisch nuancierter) Hinweis darauf deuten, dass noch eine sehr deutliche Einschränkung folgen wird. Auf das Anerkennung zum Ausdruck bringende Lob

Leib/Körper und Leben. Vgl. u. a. Dietmar von Eist, MF 40,19–22: Wart âne wandel ie kein wîp, / daz ist si gar, der ich den lîp / hân gegeben vür eigen. / si roubet mich der sinne mîn; MF 40,27–29: Waz bedorfte des ein wîp, / daz ich sô gar dur sî den lîp / verlôs und al mîn sinne?; Reinmar, MF 182,18–21: Ich hân ir niht ze gebenne wan mîn selbes lîp; / derst ir eigen. dicke mir diu schoene gît / vröide und einen hôhen muot, / swanne ich daran gedenke, wie si mir tuot; Rudolf von Fenis, MF 82,34–37: Lîp unde sinne die gap ich vür eigen / ir ûf gnâde; der hât si gewalt. / ist, daz diu minne ir güete wil an mir zeigen, / sô ist al mîn kumber ze vröiden gestalt. 336 Auffällig ist hierbei auch die strophenverbindende Wortkette um die Schönheit der Dame: Lob der Schönheit (daz ir schœne sît, Str. 1) – Zurückweisung dieses Lobs (in weiz, ob ich schœne bin, Str. 2) – Lob der Schönheit (umb ein sô schœne wîp, Str. 3). 337 Vgl. hier auch die Varianz der Überlieferung in E in den Versen III,6f.: zuo eigene geben vn nemen den sinen / owê frouwe wolt ir mînen. Bezogen auf Vers III,5 wird der Gegensatz von lîp geben und lîp nemen (vgl. Str. 4) schon vorweggenommen, wobei auch hier der Mann die Verbindung lîp nemen in einem anderen Sinne als die Dame der vierten Strophe verwendet. Der siebte Vers als ein Ausruf der Klage (owê …) würde in diesem Fall die Dimension der männlichen Bitte in den Versen 5f. verstärken, welche sich auf den freiwilligen Gang in die Leibeigenschaft bezieht, die aufzunehmen – möglicherweise t rot z der Tragweite dieser Selbstaufgabe – sich der Mann bereit erklärt. Ebenso ließe sich der Ausruf jedoch auch als Ausdruck der Sehnsucht deuten, im Sinne von: Ach, Herrin, wenn Ihr doch nur mein Leib und Leben wolltet, was die werbungsliedtypische Bereitschaft des Mannes zur Servilität gegenüber der Dame ebenfalls noch stärker als in der AC-Überlieferung betonte, was gleichzeitig wiederum auch die auf einer zweiten Bedeutungsebene in der gewählten Begrifflichkeit mitschwingende körperlich-erotische und/oder übertragene Auffassung des lîp-Begriffes hervorkehren könnte. 338 Lexer I, Sp. 1362.

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folgt denn nun auch eine – den Wunsch des lîp-Tauschs einschränkende – Bitte: Er solle – ausgehend davon, dass er ihr gegenüber bereits höfisch gehandelt habe – noch mehr tun, und zwar möge er nicht mehr als ihr Gesprächspartner (redegeselle) sein, d. h. wie Kasten konstatiert: „Die Frau wünscht sich den Mann als Gesprächspartner, nicht als Liebhaber.“339 Der Sprechgestus wirkt hier erneut sehr bestimmt (daz wil ich, ir hânt), geht nun aber ab Vers 5 auch in einen fordernden Modus über (tuont, sît): Die in der vorangegangenen Strophe durch den Mann aufgestellte Forderung, einem den lîp zu geben, fasst die Dame dabei nicht im Sinne einer feudo-vasallitischen Metaphorik auf, indem sie – dem antithetischen Sprechen gerade des Werbungsliedregisters entsprechend – von einem lîp nemen spricht, welches sie dem lîp geben gegenüberstellt, das in Strophe 3 insofern eine wörtlich-konkrete Verwendung fand, als es vordergründig im Sinne einer tatsächlichen ‚Übergabe‘ des Körpers in die Leibeigenschaft gebraucht wurde: in weiz nieman, dem ich welle / nemen den lîp, ez tæte im lîhte wê (Vv. 7–8). Sie jedoch kenne niemanden, dem sie »das Leben nehmen« wolle, da es ihm sicherlich – körperlich erfahrbare – Schmerzen bereiten würde, wohingegen das männliche Text-Ich den Begriff lîp nicht im Sinne eines derartigen Bezugs auf physisch spürbaren Schmerz benutzt hat.340 Die für den Begriff ‚töten‘ verbreitete Wendung lîp nemen341 wird dabei insofern in etwas abgeschwächter Form verwendet, als die Dame das Bild im Sinne von »Schmerz zufügen« gebraucht, wenn sie im achten Vers von wê tuon spricht342 , wobei sich dieser Formulierung eine erneut ironische Nuance abgewinnen ließe, da wê tuon bezogen auf das lîp nemen im Sinne von »töten« eine euphemistische Verharmlosung darstellte. Dass die Dame, auch wenn sie das lîp geben hier nicht im physisch-sexuellen Sinne auffasst, die Wendung im Hinblick auf einen körperbezogenen Aspekt verwendet, entbehrt auch dadurch nicht der Komik, dass die Frau der Dialoglieder häufig das indirekte, mit Andeutungen auf den Wunsch einer Liebeserfüllung arbeitende Sprechen des Mannes kritisiert und hierbei in dem vorliegenden Lied nun die konnotativ in der Formulierung

339 Kasten, Frauenlieder, S. 259f. 340 Die Formulierung sît niht wan mîn redegeselle in Vers 6 weist hierbei bereits darauf hin, dass die Dame den Wunsch des Mannes als etwas versteht, das die Ebene des Gesprächs verlässt. 341 Zur Verwendung der Formulierung lîp nemen für »sterben« vgl. Krause, Lîp, mîn lîp und ich, S. 381f.; Beispiele in der Epik finden sich z. B. bei Hartmann, Iwein, Vv. 1390, 2231, 2293, 4071, 5257. Vgl. außerdem Nolte, Walther von der Vogelweide, S. 273f., S. 274: „‚Lîp‘ steht hier für die Person als körperlich-geistige Einheit. Der letzte Vers spielt jedoch mit der Bedeutung ‚Leben‘. ‚Den lîp geben‘ bedeutet nämlich ansonsten: ‚sein Leben hingeben‘, ‚sterben‘“. Die Dame aber entscheide sich für die zweite Bedeutung: „Einem ‚den lîp nemen‘ heißt nämlich: ‚das Leben nehmen‘, ‚töten‘“ (ebd.). 342 Diese Wendung wiederum ließe sich sowohl auf einen seelischen als auch einen körperlichen Schmerz beziehen.

Strophisch organisierte Dialoglieder

des lîp geben mitschwingende körperlich-erotische Bedeutungsnuance ausblendet. Der männlichen Verwendung des Ausdrucks liegen – vor dem Hintergrund der Minnesang-Tradition – zwar ebenfalls unterschiedliche körperliche Bedeutungsnuancen von lîp zugrunde, aber in dem vorliegenden Lied gerade nicht im Hinblick auf körperlich erfahrbaren Schmerz, sondern ganz im Gegenteil – neben der vordergründig dominierenden Leibeigenschaftsebene – im Sinne einer körperlich zum Ausdruck gebrachten Liebe.343 Die Dame des Walther-Dialogs erweist sich durch das geschickte Ausspielen dieser sich überlagernden Bedeutungsebenen als rhetorisch überaus versiert. Der Mann geht nun in St rophe 5 auf die in Strophe 4 eingebrachte Sorge ein, insistiert jedoch auf seinem (in der dritten Strophe erfolgten) Angebot (lânt mich ez … – bezogen auf das lîp geben) und erklärt sich bereit, ein Risiko einzugehen: Die Dame möge ihn einen Versuch wagen lassen, da er schon oft großer Not entronnen sei (Vv. 1–2), und sie solle es nicht »so schwernehmen« (V. 3). Das männliche Text-Ich nimmt folglich die im Hinblick auf eine körperliche Gefahr konkretisierte Auffassung des Begriffs lîp geben insofern auf, als es nun ebenfalls von einer ‚Notsituation‘ (ûz grôzer nôt) sowie einem gewissen Wagnis (wâgen) spricht. Es scheint das von der Dame befürchtete Risiko einer Lebensgefahr dabei jedoch ‚herunterzuspielen‘ und relativiert die Gefahr für sich selbst (ich bin dicke komen ûz grôzer nôt), etwa: Dieses (körperliche) Risiko gehe ich gerne (für Euch) ein – Eure Sorge (im Hinblick auf meine Forderung in Strophe 3, den ‚lîp‘ zu ‚geben‘) ist daher übertrieben. Auch wenn der Mann sich somit auf die Sprechebene der Dame einzulassen scheint, klingt in seiner Äußerung – vor allem durch die Nennung einer »großen Not« – terminologisch auch das metaphorische Sprechen des Werbungslieds an; das männliche Text-Ich scheint versucht, den Sprechmodus erneut mehr auf die Ebene einer uneigentlichen Ausdrucksweise – weg von einer ‚tatsäch-

343 Vgl. Fitschen, Körper, S. 116: „Die Dame will also die Forderung nach erfüllter Sexualität nicht verstehen: Sie geht auf den vorgeschlagenen Handel nicht ein und stellt sich ganz gezielt dumm: Unschuldig-naiv gibt sie vor, lîp im Sinne von ‚Leben‘ zu verstehen, wodurch sie ihre Ablehnung mit einem ethisch/humanitären Grundsatz begründen kann, ohne das männliche Ich direkt abzulehnen und ohne sich auch nur verbal auf ‚sexuelles Terrain‘ begeben zu müssen. Dadurch kann sie in ihrer Rolle als unerreichbare frowe bleiben.“ Kasten, Frauenlieder, S. 260, bezeichnet das Lied als ein „Musterbeispiel für hovelîches Sprechen, für eine Art der Konversation, in der Erotisches nur verhüllend und indirekt zur Sprache gebracht werden kann.“ Vgl. auch Händl, Rollen, S. 50: „Durch Wörtlichnehmen der Forderung des Sängers […] entwaffnet sie den Sänger […] und lehnt sein Ansinnen witzig und pointiert ab […].“ Vgl. zudem Schweikle, Walther1 , S. 635. Die Forschungsarbeiten gehen hierbei insgesamt jedoch nicht ausreichend auf die oben beschriebene feudo-vasallitische Aufladung der Aussage des Mannes in Strophe 3 ein.

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Werbungsdialoge des Minnesangs

lichen‘ Lebensgefahr – zu lenken344 , zumal auch der unerhörte Minnende im grant chant courtois immer wieder auf seine existentiell stilisierte Not verweist. Wenn der Mann auf dieser Sprechebene nun aber verkündet, schon oft einer großen Gefahr entronnen zu sein, erkennt Fitschen darin gar einen Hinweis auf „erotische Prahlerei“345 . Der Äußerung in Vers 3: unde lânt es iuch niht betrâgen (Nehmt es nicht so schwer!), ließe sich auf dieser Grundlage eine erneut pointiert-komische Wirkung abgewinnen, zumal der Mann hier eine Formulierung des Liedanfangs aufgreift, die sich dort auf seine rede bezog, welche die Dame nicht verärgern solle (V. V,3: unde lânt es iuch niht betrâgen – V. I,1: Frowe, lânt iuch niht verdriezen). In Strophe 5 würde jedoch gerade auf Basis der von Fitschen herausgestellten Lesart die mehrdeutige Rede des Mannes durchaus Anlass zu einem verdriezen der Dame bieten. Dies gilt auch für die nun folgende Aussage des vierten Verses, in dem der in den ersten drei Versen erfolgten Einschränkung des Risikos sowie der Bereitschaft zum Eingehen der genannten Gefahr nun doch die Möglichkeit des Sterbens gegenübergestellt wird (stirbe aber ich …)346 : Wenn er aber sterbe, so sei er auf sanfte Weise tot. Auch hier ist die Auslegung nicht eindeutig, da der Minnende zum einen durch eine – im Sinne der Dame – körperliche Versehrtheit sterben könnte, wie dem Wortsinn nach zu entnehmen, ist doch an dieser Stelle explizit – zum ersten Mal innerhalb des Liedes – von »sterben« die Rede, während zuvor

344 Ganz unabhängig vom Liedkontext könnte sich die genannte Notsituation auch auf die Verzweiflung des Minnenden der Klagekanzone beziehen, wobei hier gerade kein Ende der Notsituation in Aussicht steht. 345 Fitschen, Körper, S. 116f.: „Seine doppeldeutige Begründung für das ‚Wagnis‘: Er sei schon öfters aus großer Not entkommen […], was nun – im Spiel mit dem polyvalenten Begriff lîp – heißen kann, dass er schon öfters lebensbedrohliche Situationen zu meistern hatte. Die Erwiderung kann aber auch – und diese Lesart liegt nahe – als ‚erotische Prahlerei‘ mit großer sexueller Erfahrung (dicke) zu verstehen sein. In diesem Sinne würde das männliche Ich freilich gerne einen sanften Liebestod sterben.“ Zur Verwendung des Adjektivs senfte im Kontext des Liebestods vgl. auch Eikelmann, Denkformen, S. 216f. (unter Bezug auf u. a. Heinrich von Morungen und das Rietenburg-Corpus) sowie insbesondere S. 217: „In diesem Kontext fungiert das sanfte zugleich als Anspielung und Pointe: als Anspielung suggeriert der Hinweis auf den positiven Gefühlswert den ergänzenden Kontext der erotischen und sexuellen Erfahrung, wie er durch den mehrdeutigen Gebrauch von lîp in Strophe 3 vorbereitet ist. Als Pointe, die mit dem Kontrast auch die Überraschung des Hörers bewirkt, gewinnt die Darstellung eine Form, in der das Verstehen erst auf den unausgesprochenen Deutungshintergrund hingelenkt wird. Die Pointe stellt den Hinweis auf den positiven Gefühlswert so dar, dass dies Bedeutete selbst zum Signifikanten (für die erotische Erfüllung) wird, dessen Bedeutung es als Sinn zu entdecken gilt.“ 346 Eikelmann, Denkformen, S. 215, schreibt zu der kontrastiven Partikel „ab (= aber, aver)“, dass diese „den Fortschritt der Rede und die Eröffnung einer alternativen Argumentationsrichtung (>… sterbe ich hingegen …