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German Pages [209] Year 2010
Liebe zum Fremden
LIEBE ZUM FREMDEN Xenophilie aus geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektive
Klara Deecke Alexander Drost (Hg.)
2 010 B Ö H L AU V E R L AG KÖ L N W E I M A R W I E N
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Philosophischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Hannah Hoech: Dada-Puppen. Foto: Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Berlin. © VG Bild-Kunst, Bonn 2010. © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20578-2
Inhalt Vorwort ALEXANDER DROST Xenophilie – Beziehungen zum Fremden. Eine Einführung
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CHIARA PIAZZESI „Innen ist die Mühe“. Liebe als Verarbeitung des unverzichtbaren Fremden
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DARJA SPRINGSTÜBE Responsivität. Eine Antwort zur Herausforderung des Fremden
47
MORITZ EGE Afroamerikanophilie als Xenophilie. Aneignungspraktiken, Exotismen, Fluchtlinien
57
MIRKO GRÜNDER Liebe deine Feinde! Turkophilie im 15. Jahrhundert?
67
PETER F. N. HÖRZ Die Anderen als Ressource für die Gestaltung des Eigenen. Das „Virtually Jewish“ zwischen Eigen und Fremd
85
BETTINA ENGSTER Formen der Aneignung des Fremden im Bollywoodfilm Veer-Zaar
101
NINA REDL Judentum und Xenophilie. Fremde Heimat, vertraute(r) Fremde(r)?
125
VI
Inhalt
KLARA DEECKE Fremdheit als Chance und Bedrohung. Xenophile Idee und xenophobe Wirklichkeit einer Modernisierung der ostpreußischen Landwirtschaft durch schottische Kolonisten
147
MONIKA KULECZKA Das Eigene mit den Augen des Fremden sehen. EulenspiegelNovellen als Zerrspiegel der frühneuzeitlichen Gesellschaft
169
ANIKÓ ZSIGMOND Zwischen Eigenliebe und Fremdenliebe. Die struktur- und identitätsbildende Funktion des Fremden in Anna Mitgutschs Romanen „In fremden Städten“ und „Haus der Kindheit“
179
DIETA KUCHENBRANDT UND MANFRED BORNEWASSER Gemeinsames Musizieren. Affektive Einflüsse im deutsch-polnischen Kontext
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NACHWORT
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Register
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Vorwort
Die Begegnung von Menschen unterschiedlicher Herkunft erfuhr in der Folge der politischen Umbrüche seit 1989 in Europa eine neue Qualität. Fremdenfurcht, Fremdenhass und übersteigerter Nationalismus oder Rassismus haben in der Öffentlichkeit, aber auch in den von ihr befragten Wissenschaftsdisziplinen einen spezifischen Bedarf an Erklärungsmustern hervorgebracht. Viel weniger Beachtung finden dagegen die positiven Aspekte der Begegnung mit dem Fremden: der auf allen Ebenen des Kontaktes wirksame, aber unspektakuläre Austausch zwischen verschiedenen Gruppen, Kulturen, Ethnien und Nationen und seine vielfältigen integrativen Wirkungen. Eine Zone besonders reger und integrativer Austauschbeziehungen in Geschichte und Gegenwart bildet die Ostsee: Hier sorgten schon früh die verschiedenen naturräumlichen Bedingungen und Rohstoffvorkommen über die Grenzen sprachlicher Gemeinschaften (Germanen, Slawen, Balten, Finno-Ugrier) hinweg für einen intensiven Austausch im weitesten Sinne, das heißt auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Spätestens seit der Wikingerzeit förderten die Verdichtung der Kommunikation durch die intensivierte Schifffahrt sowie die Migration von Personengruppen tiefgreifende Transformationsprozesse, in deren Folge sich vor- bzw. übernationale Ostseekulturen herausbildeten. Wenn auch einzelne Mächte für längere Perioden die Herrschaft über die Ostsee (das Dominium Maris Baltici) anstrebten oder gewannen, entsprach die kulturelle Integration doch nicht den herrschaftlich-staatlichen und nationalen Entwicklungen, sondern lief diesen zum Teil sogar entgegen. Dennoch spielen in dem Wissen um die Vergangenheit bei den seit dem Mittelalter, zum Teil aber auch erst in der Neuzeit entstandenen Völkern bis in die Gegenwart hinein kriegerische Auseinandersetzungen und politische Spannungen sowie die in diesem Zusammenhang entstandenen Stereotypen eine prägende Rolle. Das entspricht durchaus dem gängigen Bild des Fremden in der nationalen Überlieferung, und auch in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Fremdenthemas ist die Anschauung weit verbreitet, dass der Kontakt mit dem Fremden und die dadurch verursachte Erkenntnis des Selbst im Unterschied zu den Anderen ein Faktor der Kulturentwicklung und inneren Stärkung menschlicher Gruppen sei, ja dass sogar die Ausbildung des nationalen Bewusstseins damit zusammenhänge. Mit der positiven Wirkung nach innen hängt aber gemäß dem Konzept des Ethnozentrismus auch die entgegengesetzt negative Wertung der Fremdgruppe zusammen, die in Xenophobie und Rassenhass kulminieren kann. Aus der Vielfalt der Fremdkontakte entfaltet sich vor dem Hintergrund der Deutungsversuche ein reiches Spektrum an zeitgenössischen und historischen Themen, deren Gegenwartsbezug gerade im Ostseegebiet gegeben ist, wo die jun-
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Vorwort
gen Nationen der Esten, Letten und Litauer erst vor wenigen Jahren ihre staatliche Unabhängigkeit wiedererrungen haben. Aus diesem Grund hat sich das Greifswalder Graduiertenkolleg 619 „Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum“ in der Zusammenarbeit verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen zur Aufgabe gemacht, Formen und Wirkungen der Rezeption und Konzeption des Fremden, die Entstehung des Bildes vom Fremden, die Funktion des Fremden, fremde Elemente in Kultur und Lebensordnung, Faktoren der Ablehnung und Ausgrenzung von Fremden sowie die Entwicklung und Funktionen des Gemeinsamen und Ebenen und Schauplätze der Integration zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund veranstalteten die Stipendiaten des Kollegs die dritte internationale und interdisziplinäre Graduiertenkollegstagung zum Thema „Von Liebe und Fremde(n). Xenophilie aus der Sicht der Geistes- und Sozialwissenschaften“. Der Fokus dieser Konferenz lag dabei weniger auf den irritierenden Momenten der Begegnung mit dem Fremden, die lediglich als Reflektionsfläche für die positiven Wirkungen des Kontakts zum Fremden fungierten, als auf dem Phänomen der Liebe des oder zum Fremden. Xenophilie macht das ambivalente Verhältnis von Grenzziehung und Grenzüberwindung deutlich und kann – ähnlich den Veränderungsprozessen, die durch Fremdenfurcht oder Fremdenhass hervorgerufen werden – substantielle Wandlungen in verschiedenen Lebenskontexten bedingen. Die mit diesem Prozess verbundenen positiv konnotierten Wirkungen des Fremden bringen Veränderungen mit sich, die sich im Denken und Handeln der Menschen abbilden. Das Greifswalder Graduiertenkolleg verfolgte mit dieser Tagung das Ziel, die vielfältigen Facetten dieser Annäherungs- und Abgrenzungsprozesse zwischen den Polen Liebe und Fremdheit zu untersuchen. Der aus den Beiträgen dieser Tagung hervorgegangene Band zeigt auf, dass die Liebe zum Fremden nicht nur die Selbstwahrnehmung und -einschätzung beflügelt, sondern im Prozess der Veränderung des Eigenen und des Fremden zu Austausch und Verstehen, vielleicht zu einer gemeinsamen Basis auf bestimmten Feldern des Denken und Handelns führen kann. Aber es wird auch deutlich, dass mit der Herausbildung dieser Gemeinsamkeiten im Umgang mit dem Fremden keine Überwindung bzw. Negierung des Fremden verfolgt werden sollte. Mit der Überwindung des Fremden würde seine Stimulans verloren gehen. Greifswald, im August 2010
Michael North
Alexander Drost
XENOPHILIE – BEZIEHUNGEN ZUM FREMDEN Eine Einführung
Fremd ist uns das Unbekannte oder das von uns Bekanntem Verschiedene. Um Fremdheitszuschreibungen vornehmen zu können, müssen wir uns zu Anderen in eine Beziehung setzen und uns zumindest kognitiv mit dem Gegenüber auseinandersetzen. Das Gegenüber mag Charakteristiken mit uns teilen, doch wird uns gleichzeitig klar, dass wir das sind, was der Fremde nicht ist.1 Unser Interesse am Fremden ist somit für unsere Identität konstitutiv und der Reiz des Fremden wird damit zu einem notwendigen Aspekt unseres Daseins. Im Rahmen der Tagung „Von Liebe und Fremde(n) – Xenophilie aus der Sicht der Geistes- und Sozialwissenschaften“ des DFG-Graduiertenkollegs 619 „Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum“ stand die Liebe des oder zum Fremden. Den Kontext der Betrachtung bildeten Beziehungen zwischen Individuen und Gruppen. Gerade die Liebe zum Fremden gehört zu den von der Forschung weniger beachteten Kategorien interkultureller Beziehungen und gewann letztlich erst an Bedeutung, als die Kulturtransferforschung die willentlich angestrengten Formen des Austausches von kulturellen Inhalten zwischen klar umrissenen Einheiten, kulturellen Systemen oder Gruppen herausarbeitete. Ein wichtiger Impuls für die Verschiebung der Perspektive in Richtung interkultureller Beziehungen und der in ihnen konstruierten Fremdzuschreibungen war die Überwindung der aus dem 19. Jahrhundert überkommenen westlichen Determinationshoheit über zivile und kulturelle Wertmaßstäbe und der damit verbundenen starren Abgrenzung von Eigenem und Fremdem in einem asymmetrischen Verhältnis.2 Bis zur kulturellen Wende, ausgelöst durch die anthropologischen Fragestellungen der 1970er Jahre, standen die überwiegenden Betrachtungen des „Fremden“ im Kontext von Gefahr und Bedrohung. Anthropologie und Ethnologie initiierten einen wissenschaftlichen Zugriff, der fremden Kulturen ihre Eigenständigkeit durch ein Verständnis von Kultur als „grundlegende[r] Dimension von Gesellschaften“ beließ.3 Die in den letzten beiden Jahrzehnten beschleunigte überregionale, transnationale und auf bestimmte Felder beschränkte globale Integration verschiedener Kulturen in politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen intensiviert die allgemeine Wahrnehmung, interkulturelle Beziehungen nicht mehr nur unter den negativen Auswirkungen des Fremdkontaktes zu betrachten. Die Forschungsprojekte des Graduiertenkollegs 619 haben die Facetten von Reiz und Faszination des Fremden in den Blick genommen und so die Frage evoziert, welche
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Alexander Drost
Rollen die Faszination am Fremden im Kontext historischer, ethnologischer, philologischer, psychologischer und philosophischer Forschung spielt. Zunächst ist es aber notwendig, auf die Konstitution des Fremden einzugehen, insbesondere auf das konstitutive Moment der Beziehung. Daran anschließend wird der motivierende Aspekt der Liebe zum Fremden genauer beleuchtet, bevor das Spektrum der hier versammelten Beiträge eingeführt wird.
1.
Das Relationale des Fremden
Mit Blick auf die kulturelle und soziale Dimension von Fremdheit im Kontext von interkulturellen Beziehungen wird das Eigene und das Fremde nach Stichweh4 und Hellmann5 systemisch im Sinne von jeweils abgrenzbaren gesellschaftlichen Ordnungen verstanden, die miteinander in Kontakt treten. Jede dieser Ordnungen weist eine eigenständige Evolution von Konventionen, Traditionen, Strukturen, Codes und Wertvorstellungen auf, die den Mitgliedern spezifische Handlungs- und Denkweisen an die Hand geben. Der Fremde verfügt in einer dieser Ordnungen nicht über die Mitgliedschaft. Ihm bleibt zunächst nur der Rückgriff auf Handlungs- und Denkweisen seiner eigenen Ordnung, die verschieden zu den Traditionen derjenigen Ordnung sind, mit der er Kontakt aufgenommen hat. Fremdheit resultiert somit aus der Beziehung zwischen zwei verschiedenen Ordnungen – mittels institutioneller oder individueller Kontaktaufnahme – und ist nicht ontologisch bestimmbar. Sie wird anhand kognitiver Prozesse in einer Beziehung konstruiert und ist somit relational.6 Mit der Feststellung von Verschiedenheit mittels eines Vergleiches zwischen zwei oder mehr zueinander in Beziehung stehenden Ordnungen wird Fremdheit der jeweils von der eigenen verschiedenen Ordnung zugeschrieben.7 Erst diese Abgrenzung aus der Beziehung heraus macht den Fremden bzw. das Fremde zum Fremden. Die Zuschreibungen des Fremden sind abhängig von der Form der Ordnungen und ihrem Wandel. Die Komplexität und strukturelle Diversifizierung bedingt spezifische Umgangsformen mit dem Fremden, da beispielsweise Gesellschaften, die dem Individuum intern weniger Raum bieten, in geringerem Maße Verhaltensweisen gegenüber Andersartigkeit oder Verschiedenheit entwickeln als komplexere Ordnungen, die auf funktionaler Differenzierung basieren und hierdurch den internen Fremdkontakt fördern, weil Subsysteme in verschiedensten Konstellationen in Beziehung zueinander stehen. So fehlen in archaischen Gesellschaften Orte oder Sonderrollen, die der Fremde einnehmen kann, um sich strukturell einbinden zu lassen und dem Anderen es auf diese Weise zu ermöglichen, mit seiner Fremdheit umzugehen. Solche segmentär organisierten Gesellschaften ermöglichen lediglich einen Umgang zwischen gleich organisierten Gesellschaftseinheiten wie Familien. Identi-
Xenophilie – Beziehungen zum Fremden. Eine Einführung
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tät wird durch diesen Sozialverband zugeschrieben. Dieser strukturelle Mangel in der Beziehung zum Fremden äußert sich entweder in einer verherrlichenden Form, in der der Fremde als gottgleiche Figur wahrgenommen wird, oder in einer grundlegenden Ablehnung, die unter Umständen zur umgehenden Tötung des Fremden führen kann. Diese Art der Beziehung lässt lediglich extreme Umgangsformen zu, da der strukturelle Mangel die Entwicklung von gemäßigten Verhaltensweisen gegenüber dem Fremden verhindert. Entweder wird der Fremde mit Gewalt oder durch die totale Angleichung „ausgelöscht“. Ähnliche Umgangsformen weisen vormoderne Gesellschaften auf, in denen dem Fremden allerdings bereits Sonderrollen zugebilligt werden können. Dies geht auf eine Struktur der gesellschaftlichen Schichtenbildung zurück, bei der gesellschaftsintern Gruppen unterschieden und somit erste Muster für den Umgang mit Andersartigkeit bzw. Verschiedenheit entwickelt werden, weil Gesellschaftsmitglieder unterschiedlicher Schichtenzugehörigkeit miteinander umgehen. Gastfreundschaft und Fremdenfeindlichkeit liegen zwar weiterhin nah beieinander, doch der strukturelle Wandel im Vergleich zu archaischen Strukturen lässt den „reisenden Händler“8 bereits gewähren. Die vormoderne Gesellschaft begrüßt geradezu sein Kommen und evoziert hierdurch eine Beziehung zum Fremden, die differenziertere Umgangsformen entstehen lässt. Erste Prozesse der Integration des Fremden in die eigenen Strukturen sind Ausdruck dieser Entwicklung, durch welche die bedrohliche Präsenz des Fremden und seiner Fremdheit abgeschwächt werden können. Im Unterschied hierzu zeichnen sich moderne Gesellschaften durch eine interne Komplexität aus, die einen Dauerkontakt zwischen Fremden bewirkt. Segmentierung und Stratifikation werden durch eine Funktionalisierung abgelöst, die gleiche und ungleiche Teilsysteme hervorbringt, in denen die Einzelfunktion spezifischer Subsysteme die multifunktionalen Teilsysteme der archaischen und vormodernen Gesellschaften ablöst. Die Identität eines Individuums resultiert nicht mehr vorrangig aus der Verwurzelung im Sozialverband der multifunktionalen Gesellschaft vormoderner Ordnungen, sondern wird durch die jeweilige Zugehörigkeit zu einem Subsystem bestimmt. Der jeweiligen Funktion – beispielsweise im Wirtschaftssystem – entsprechend, wandelt sich die Identität kontinuierlich und damit auch die Beziehung zu Anderen. In der sich durch Systemdifferenzierung auszeichnenden Ordnung wird die Fremdheitserfahrung zu einer alltäglichen Erfahrung, wodurch vielfältige Formen des Umgangs mit dem Fremden aus diesem dauerhaften Kontakt zum Fremden heraus entwickelt werden.9 Der Wandel sozialer Systeme bestimmt somit die Entwicklung der Beziehung zum Fremden sowie die Formen des Umgangs mit ihm. Die systemische Abhängigkeit der Mechanismen des Umgangs mit dem Fremden, der aus dem unterschiedlichen Vermögen der Ordnungen entsteht, mit dem Fremden eine durch Integration oder Interaktion gekennzeichnete Beziehung einzugehen, be-
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Alexander Drost
dingt den Platz des Fremden in Bezug auf das System, in das es eintritt. Nähe und Ferne des Fremden sind in den hier beschriebenen Ordnungen unterschiedlich gestaltet.10 Dem Fremden werden von Aktionslosigkeit bis hin zur ungebrochenen Aktivität kongruent zu einzelnen Integrationsstadien – ausgegrenzt, integriert, eigenständig – verschiedene Verhaltensmuster ermöglicht. Hieraus resultiert aber, dass die Art der Beziehung auch die Wahrnehmung des Fremden bestimmt. Stellt das Fremde eine Bedrohung oder einen Gegenstand der Begierde dar? Der „reisende Händler“ oder „the would-be member of the approached group“ werden in ihrer Aktivität innerhalb eines ihnen fremden Systems nicht nur durch die Beschränkungen ihrer eigenen Fähigkeiten, sich Codes und Verhaltensweisen zur Aufrechterhaltung der Beziehung anzueignen11, separiert, sondern auch durch die Rezeption ihres Verhaltens in der Ordnung, zu der sie hinzugestoßen sind. Das Erleben des Fremden spielt eine entscheidende Rolle im gegenseitigen Umgang miteinander und bedingt den beiderseitigen Verstehensprozess und damit auch den Umgang miteinander. Ortfried Schäffter beschreibt insgesamt vier Arten dieses Fremderlebens. Drei dieser Modi beziehen sich dabei auf eine Aneignung des Fremden, die diesem seine Eigenheit nimmt. Es handelt sich zunächst um Fremdheit als einen Resonanzboden des Eigenen, der gleichsam die Basis für die emanzipatorische Entwicklung bzw. kontrastreiche Weiterentwicklung der Identität darstellt. Eigenes und Fremdes haben die gleiche Basis und damit einen konstitutiven Zusammenhang, aus dem sich das Eigene herauslöst, zu dem es aber weiterhin zugehörig bleibt. Diese Beziehung „lässt Fremdheit über Affinität, Verständnis, Einfühlung, Solidarität, Liebe, Mitleid oder Empathie als prinzipiell verstehbar erscheinen, ohne dabei die Grenze vernachlässigen oder leugnen zu müssen“.12 Fremdheit als Gegenbild sieht Verflechtungen dieser Art nicht vor. Es wird stattdessen die Grenze zwischen Eigenem und Fremdem in der Wahrnehmung betont und die Integrität geschützt. Das Fremde wird vollständig ausgegrenzt.13 Fremdheit als Ergänzung ist zu verstehen als Selbsterfahrung im Sinne eines Aneignungsprozesses, bei dem Leerstellen besetzt oder Fehler korrigiert werden. Insbesondere im hier dargestellten Prozess der Multiplizität von Fremdheitserfahrungen in komplexen Gesellschaftssystemen finden kontinuierliche Prozesse der „Verinnerlichung des Äußeren“ und des „Entäußern[s] von Innerem“ statt, die als „Aneignung von Fremde[m] mit struktureller Selbstveränderung“ verstanden werden.14 Fremdheit als Komplementarität kann nun zunächst dadurch von den vorherigen Arten insofern unterschieden werden, als dass das Fremde in einer Weise aufgefasst wird, die es in seinem So-Sein belässt. Das Eigene stellte in den vorherigen Modi immer den zentralen Bezugspunkt dar. Wenn diese perspektivische Zentralität des Eignen zugunsten einer „wechselseitigen, sich gegenseitig hervorrufenden Fremdheit“ aufgegeben wird, wird zwischen Eigenem und Fremdem eine dynamische Ordnung etabliert, die sich durch ein „permanentes
Xenophilie – Beziehungen zum Fremden. Eine Einführung
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‚Oszillieren‘ zwischen Positionen der Eigenheit und der Fremdheit, die sich im wechselseitigen Kontakt gegenseitig hervorrufen“, auszeichnet.15 Damit geht die Eindeutigkeit des Fremden zugunsten einer Pluralität einzelner Standpunkte verloren, und in einem dauerhaften Prozess von Unterscheidungen muss das Fremde stetig neu bestimmt werden. Gerade die Komplexität von interkulturellen und interpsychischen Beziehungen spiegelt diese Prozesse wider. Wiederholt werden insbesondere emotionale und habituelle Konnotationen zueinander in Beziehung gesetzt, die nie vollständig verstanden werden können, weil sich spezifische traditionale Muster einem Erlernen durch ein Nicht-Mitglied entziehen. Münkler und Ladwig sprechen insbesondere in diesem Fall von kultureller Fremdheit als einer Unvertrautheit.16 Das Fremde bleibt fremd, kann aber innerhalb der fremden Ordnung bestehen, weil es als komplementäres Element keine Gefahr für das Eigene darstellt und sich in modernen Systemen Umgangsformen für das Problem des Kontaktes mit dem Fremden entwickelt haben. In der Erforschung verschiedener Fremdheitserfahrungen müssen diese systemischen Aspekte der Beziehungen und die jeweiligen Modi des Fremderlebens bei der Beurteilung des jeweiligen Umgangs mit dem Fremden beachtet werden. Die hier versammelten Beiträge zeigen diese verschiedenen Modi des Fremderlebens auf und spüren der Rolle der Xenophilie als einer bestimmenden Form der Annäherung an das Fremde nach.
2.
Die Liebe zum Fremden
Xenophilie gibt der Beziehung zum Fremden eine besondere Qualität. Die totale Ausgrenzung des Fremden wird durch die gewollte Beziehung ausgeschlossen, ebenso das Unbeteiligtsein. Es ist zunächst entschieden, dass das Fremde keine Bedrohung darstellen soll, was nicht ausschließt, dass das Fremde zu einem späteren Zeitpunkt als Bedrohung, gar als Feind wahrgenommen werden kann. Die Faszination des Fremden, vielleicht auch die Liebe zu ihm gibt die Richtung dieser Beziehung vor. Da auf beiden Seiten etwas als fremd erfahren wird, handelt es sich um eine wechselseitige Wahrnehmung. Mindestens von einer Seite muss ein Zugehen auf den Fremden bzw. Anderen geschehen. Um dieses zu vollziehen, muss ein Entäußerungsprozess angestrengt werden, durch den man seine eigene Ordnung zu einem gewissen Grad verlässt. Tzvetan Todorov hat im Kontext seiner Überlegungen zum Fremden diesen Prozess als ein xenophiles Verhalten beschrieben. Dabei beurteilt er den vorgenannten Entäußerungsprozess nicht als Öffnung eines Systems oder einer Ordnung, sondern sieht ihn als Loslösung von dem eigenen kulturellen System an. In dieser Loslösung vom Eigenen liegen besondere Gefahren für den Umgang mit dem Fremden. Todorov bezeichnet Xenophilie deshalb als die andere Seite der Medaille, die auch die Xenophobie abbildet. Er rekurriert dabei auf die Pro-
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Alexander Drost
jektion gegenwärtiger „political correctness“ in den Beziehungen zu Fremden, die auf Frieden und Ausgleich angelegt sind und eine Beurteilung fremden Daseins und Verhaltens ausschließen. Gleichzeitig unterstreicht er die Asymmetrie der Beziehungen zum Fremden, die man überwunden glaubte. Eine solche Charakterisierung der Beziehungen zum Fremden betont das Unvermögen, mit dem Fremden überhaupt umzugehen. Xenophilie bedeutet nach Todorov die Loslösung von den moralischen Haltepunkten.17 Ausgehend von unserer Teilhabe an einer Kultur als einer ständigen Verhandlung zwischen den einzelnen internen Kulturen – Kultur ist in sich hybrid – bedeutet Xenophilie ein Heraustreten aus der eigenen Kultur und den ihr immanenten binnenkulturellen Verhandlungen: „To be of a culture conceived in national terms is, as Todorov explains, both to invoke a structural artifice and to signify one’s involvement in this intracultural translating process. Xenophilia is a step outside that process, an act of imaginative projection into the culture of an other rather than the mutually challenging process of intra- and intercultural engagement.“18
In diesem Sinne würde Xenophilie nicht einen Wandel durch Austausch bedeuten, sondern Substitution. Diese Dislozierung wiederum beraubt uns unserer Möglichkeit, Werturteile zu treffen, da wir nicht mehr Teil der Moral einer Kultur sind. In diesem Sinne führt eine Beziehung dieser Art zu Relativierung und nicht zu Toleranz. Die fehlende moralische Basis verweist nach Angelika Bammer, die mit Todorovs Modell arbeitet, auf den Umstand, dass „Xenophobia calls for a politics of repression; xenophilia tries to deny this repression“.19 Xenophilie und Xenophobie können mithin als Extreme des Umgangs mit dem Fremden aufgefasst werden, die beide das Fremde in seinem Fremdsein belassen – einerseits als Bedrohung, andererseits als Objekt der Begierde. Während Todorov mit seiner Anbindung der Xenophilie an die Xenophobie den Erhalt des Fremden durch die fehlende Auseinandersetzung mit ihm als negativen Prozess des Unvermögens, mit dem Fremden umzugehen, beschreibt, zeigen die Ausführungen von Bernhard Waldenfels und Chiara Piazzesi (in diesem Band), wie wenig die Überwindung des Fremden überhaupt gewünscht sein kann. Dem negativ konnotierten Unvermögen mit dem Fremden umzugehen, wird eine gewollte Auseinandersetzung mit dem Fremden gegenübergestellt. Xenophilie wird vor diesem Hintergrund – ähnlich den in der Kulturtransferforschung positiv besetzten Begriffen Anglophilie etc. – eher als Motivator, als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Verflechtung von Eigenem und Fremdem angesehen. Die Überwindung des Fremden spielt in diesem Kontext des Umgangs mit dem Fremden keine Rolle, weil in einer Überwindung des Fremden der Aspekt des Austausches und damit auch der Aspekt der Innovation, der aus der Bezie-
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hung mit dem Fremden resultieren kann, verloren ginge. Wenn aber der Reiz, den das Fremde durch die Möglichkeit seiner Überwindung gewinnt, nicht mehr besteht, fehlt auch ein bedeutender Motivator für Wandel. Todorovs Annahmen zum Umgang mit dem Fremden greifen an dieser Stelle zu kurz, weil er in der Aneignung und Assimilierung des Fremden die grundlegenden Muster der Auseinandersetzung mit dem Fremden sieht. Vielmehr müssen auch für die Xenophilie als Motivator für den Aufbau einer Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem die gleichen Sukzessionsstufen des Verstehens des Fremden gelten, die Todorov generell annimmt. Auf der ersten (das Fremde angleichen) und zweiten (das Eigene zugunsten des Fremden auslöschen) sowie dritten Stufe (wieder das Eigene ins Zentrum rücken, nachdem alles unternommen worden ist, das Fremde zu verstehen) nähern sich Eigenes und Fremdes kaum aneinander an und erreichen damit nicht den Grad wechselseitiger Beeinflussung und Komplementarität. Nur die vierte Phase des Fremdverstehens nach Todorov beschreibt die Zirkulation von Neuem zwischen Eigenem und Fremdem sowie die daraus resultierende Veränderung beider innerhalb ihrer jeweiligen Autonomie, die Systemen und Ordnungen in ihrer Begrenztheit eigen ist. Diese letzte Phase, die Todorov annimmt, entspricht der Annahme Schäffters von Fremdheit als Komplementarität im Kontext von modernen Systemen, in denen das Fremde fremd bleibt, wiewohl eine intensive Auseinandersetzung mit ihm stattfindet und vielfältige Verflechtungen zwischen Eigenem und Fremdem über Identitätsbildungsprozesse hinaus eingegangen werden.20 Xenophilie betrifft durchaus auch das Maß an Interesse am Fremden, das über die notwendigen Inklusions- und Exklusionsprozesse zur Bestimmung des Eigenen hinausgeht. Es geht in diesem Kontext zum Beispiel um die Infragestellung und Neukonzipierung des Eigenen durch die Beziehung zum Fremden mittels Mimikry und Verfremdungstechniken, die beispielsweise innovative Entwicklungen in der Kunst auslösen und befördern können.21 Wir wollen Xenophilie in diesen Kontexten als Motivator für besondere, teilweise auch widersprüchliche Beziehungen zum Fremden verstanden wissen. Die Faszination am Fremden betont insbesondere die Manifestation des Anderen und nicht seine Überwindung, da seine Überwindung, Aneignung oder Integration gleichzeitig seine Nivellierung bedeutete.22 Das meint: Die Liebe zum Fremden – im übertragenen und konkreten Sinn – setzt sich nicht über die Differenz hinweg, da damit die Existenz des „Objekts“ der Begierde und somit auch der Gegenstand der Liebe wegfiele.
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3.
Alexander Drost
Das Spektrum der Liebe zum Fremden. Die Beiträge des Bandes
Im Kontext einer Liebesbeziehung betrachtet CHIARA PIAZZESI Xenophilie existenziell und reflektiert die Rolle der Fremdheit in Form von „Differenz“ als konstitutives Moment einer Beziehung. Im Umgang mit Gegensätzlichem und kulturell Differentem, das in der Liebesbeziehung zusammenfindet, liegt die verbindende Kraft, welche die einzelnen Teile eines „Intimsystems“ Liebespaar zusammenzuhalten versucht. Mit Niklas Luhmann wird die Differenz zwischen zwei Liebenden zunächst systemtheoretisch erklärt. Der kontinuierliche wechselseitige Austausch zwischen den Individuen, die als System „Person“ vorgestellt werden, festigt das Intimverhältnis in einer Einheit, dem Intimsystem. Die gemeinsame Kommunikation findet ihren Ursprung in der Notwendigkeit der dauernden Bestätigung der Liebe in Abgrenzung zur anonymen Außenwelt. Das Medium „Liebe“ erzeugt somit soziale Systeme, in denen die Differenz den Raum der Liebesspannung und zugleich der Entfremdung beschreibt. Entfremdung – oder auch Unaufmerksamkeit gegenüber der Differenz – bedeutet in diesem Zusammenhang eine Bedrohung für die Einheit der Liebenden, da die Missachtung des Anspruchs der dauernden Bewunderung des Anderen und seines kommunikativen Beitrags zur Aufrechterhaltung des Intimsystems dem Beobachter die Leistung des „Übersehens“ abverlangt. So liegen konstitutive und destruktive Mechanismen der Gestaltung einer Liebesbeziehung nah beieinander. Um die Relevanz des „Fremden“ in der Liebesbeziehung zu verdeutlichen, beschreibt Chiara Piazzesi im Folgenden verschiedene Modi der Verarbeitung, des Umgangs mit dem Fremden und des Verstehens des „Fremden“, die (1) auf die Missachtung der Differenz, (2) die Fiktion eines Konsenses zwischen den „Personen“ und (3) die hieraus ableitbare Narration eines gemeinsamen Identitätsmythos sowie (4) die Individualität akzeptierende Instanz der Treue rekurrieren. Dabei wird deutlich, dass dem „Fremden“ im Kontext der Erzeugung einer gemeinsamen Identität des Paares die Tendenzen zur Gegensätzlichkeit genommen werden müssen, damit durch „Übersehen“ oder durch die Annahme eines Grundkonsenses zwischen den Partnern der „Einheit“ eine Chance gegeben werden kann. Auch das Vernachlässigen von Idiosynkrasien im Kontext der gemeinsamen Liebesbeziehung verfährt mit dem Fremden in gleichem Maße. Mit zunehmender Verflechtung der individuellen Sinnebenen der Partner im Intimsystem stellt sich aber auch die Frage nach dem Gleichgewicht zwischen der Verarbeitung durch Vernachlässigung und Ausblendung sowie der Notwendigkeit von Individualität, die vor allem im Augenblick empfundener Fremdheit in einer Beziehung offensichtlich werden. Dieses Gleichgewicht wird durch Treue hergestellt, die die „Unbeständigkeit des liebenden Bewusstseins durch die Beständigkeit der Motivation ausgleicht“23.
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Die Notwendigkeit eines Ausgleichs in diesen Beziehungssystemen wird im Kontext der „Erfahrungen von Fremdheit“ deutlich, die in einer Liebesbeziehung durchaus auch zu Erfahrungen der Inkompatibilität oder Trivialität – dem Verlust der Einzigartigkeit der Beziehung – und deshalb zur Auflösung führen können. Gleichzeitig wirken Erfahrungen des Fremden aber auch produktiv, indem sie die Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden begünstigen bzw. forcieren. Die Zuneigung zum Fremden befördert in diesem Sinne die Identitätsbildung als positiv zu wertende Erweiterung des Selbst. Der Bruch mit der eigenen Ordnung und die Erweiterung des Horizontes seien Ergebnisse unserer Antworten auf das Fremde, dem wir aus diesem Grund immer wieder zugetan wären. DARJA SPRINGSTÜBE macht im Anschluss an diesen von Bernhard Waldenfels entfalteten Gedanken der Responsivität von Eigenem und Fremdem darauf aufmerksam, dass die Herausforderung durch das Fremde die Quelle einer unaufhörlichen Genese von Innovativem ist. Das Fremde stellt sich zunächst als ein Außer-Ordentliches dar, das aber nur in Hinsicht auf eine spezifische Ordnung als etwas wahrgenommen werden kann, was außerhalb ihrer liegt. Insofern sind Eigenes als Ordnung und Fremdes als ein außerhalb dieser Ordnung Liegendes untrennbar und weisen mannigfache Verflechtungen miteinander auf, die zwischen beiden einen Interaktionsraum bilden, der grenzüberschreitend, aber nicht auflösend wirkt. Vor diesem Hintergrund wird die Frage nach Aneignung oder Bewahrung gestellt, die in der Erkenntnis mündet, dass das Fremde einen Anspruch an uns stellt, der mehr verlangt als eine Antwort, nämlich eine Reaktion. Diese Handlungsweise führt uns über unseren eigenen Horizont hinaus, bricht mit unserer Ordnung, da wir vor diesem konkreten an uns gestellten Anspruch keinerlei Idee ebendieser unserer Antwort hatten. Diese kontinuierliche Reaktion und Reaktionsbereitschaft, die das Fremde in uns auslöst, bestärkt unter anderem unsere Affinität zu ihm. Am Beispiel eines Berliner subkulturellen Milieus in den Jahren 1967 bis 1975 erläutert MORITZ EGE in seiner ethnologischen Studie zur Afroamerikanophilie theoretische Modelle und Methoden der Kulturwissenschaften im Kontext eines dynamischen Verständnisses von Eigenem und Fremdem. Mit dem gegenkulturellen Milieu des Westberliner „Blues“ schuf eine am schwarzen Amerika orientierte Gruppe von weißen, meist männlichen Großstadtbewohnern eine am Unterdrückungsdiskurs der schwarzen Bevölkerungsteile in den USA partizipierende Kultur. Sie wirkte umfassend auf mehreren Ebenen des Alltags und stellte politisch, sozial und kulturell ein Gegenmodell zu zeitgenössischen politischen Strömungen, ausgedrückt durch Zeichen, Kleidung und Lebensstil, dar. Diese Imitation von Repressionsmerkmalen im Kontext der Genese von Milieus bildet den Rahmen für eine Diskussion der „politisch-kulturellen Liebe“24 anhand zweier Modelle – Bourdieu’s „Feldanalyse“ und Deleuze/Guattari’s „Minoritär-Werden“.
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Alexander Drost
Während die „Feldanalyse“ politisch-kulturelle Strategien der Afroamerikanophilie in verschiedenen Feldern des gesellschaftlichen Lebens vergleichbar macht, verdeutlicht der Prozess des „Minoritär-Werdens“ die Dynamik verschiedener Umdeutungs- und Abgrenzungsprozesse mittels xenophiler Orientierungen. Eigenes und Fremdes stehen sich weniger statisch als vielmehr gegenseitig beeinflussend gegenüber. Den Aspekt, dass sich Feindschaft in einen positiven Wandlungsakt verkehren kann, charakterisiert die historiographische Analyse der zeitgenössischen Diskurse zur Turkophilie im 15. Jahrhundert von MIRKO GRÜNDER. Mit dem Fall von Konstantinopel und der autokraten Expansionspolitik Mehmeds II. stellte das Osmanische Reich eine ernstzunehmende Herausforderung für das Abendland dar, das in zahlreichen Diskursen durch die Beschwörung von Antagonismen eine Feindschaft zwischen Orient und Okzident bekräftigte, die in der allgemeinen Wahrnehmung kaum Zwischentöne zuließ und das Fremde als eine reine Bedrohung herausstellte. Doch gerade im Kontext der Humanismusund Renaissanceforschung ist wiederholt die Formierung zeitgenössischer Ideen jener Epoche aus einem Bestand antiker Kulturinhalte betont worden, die über den Austausch und die Migration von Gelehrten aus dem Osmanischen Reich nach Europa gelangten.25 Im Kontext zweier Diskurse dieser Zeit, die zum einen den Ursprungsmythos der Türken, zum anderen die heilsgeschichtliche Einordnung des expansiven Verhaltens Sultan Mehmeds zum Gegenstand haben, spürt Mirko Gründer den turkophilen Stimmen dieser Diskurse nach. Der westliche Herkunftsdiskurs gelehrter Humanisten über die Türken stützt sich dabei auf den skythischen Ursprung und das damit verbundene barbarische Charakteristikum bei Enea Silvio Piccolomini und Otto von Freising. Dadurch sollte ein älterer Mythos der Abstammung der Türken von den Trojanern dekonstruiert werden, der den Türken die gleichen antiken Wurzeln zuschrieb wie den Makedoniern und Franken. Unter der aggressiven Publizistik Piccolominis und anderer konnte sich die Vorstellung eines „Barbarenursprungs“ der Türken durchsetzen und diese so von einem gemeinsamen Ursprung entfremdet werden. Gründer zeigt auf, dass trotz dieses Umfeldes der Annahme einer negativen Ethnogenese der Türken eine turkophile Publizistik ihren Platz fand, die – wie z. B. wiederum Piccolomini – die Faszination der zuvor diskursiv Entfremdeten durch die Bewunderung ihrer Stärke artikulierte. Diese Affinität zu Macht und Stärke des Sultans erfuhr insbesondere im zweiten von Gründer untersuchten Diskurs eine Eskalation, als die religiösen Antagonismen beider Kulturen in der westlichen Publizistik auf subtile Weise eingeebnet werden sollten. Das Fremde, das nicht nur eine andere Ordnung darstellte, sondern in dieser anderen Ordnung insbesondere in Hinblick auf die explizit betonten Unterschiede von Christentum und Islam auch Feindschaft bedeutete, sollte durch einen Akt der Übernahme angeeignet werden. Missionierung war das Stichwort und die Motivation für eine
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Korrespondenz und Publizistik, die die Stärken und Vorzüge eines fremden Herrschers pries, die er besser im „richtigen Glauben“ zu nutzen vermochte. Interessanterweise bleibt das xenophile Moment damit latent feindlich. Ein langes Schweigen europäischer Gesellschaften, gespeist aus Schuld und Unsicherheit, kennzeichnet das Entschwinden des jüdischen Lebens aus der Alltagskultur im Nachkriegseuropa des 20. Jahrhunderts. Seit den 1990er Jahren ist eine Reflexion jüdischen Lebens in europäischen Städten festzustellen, der sich PETER HÖRZ mit seiner Studie zum „Virtually Jewish“ widmet. Die zumeist ahistorische Rekonstruktion von Stätten jüdischen Lebens und der durch die Shoah überschattete Umgang mit jüdischer Kultur führten zu einer musealen Anschauung, die konkretes Interesse an jüdischer Kultur und ihren Inhalten eher verhinderte als stimulierte. Die sinnliche Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur hatte neben den ritualisierten Pflichtübungen, politischen Bekenntnissen und ethisch-moralischen Verpflichtungen kaum Platz. Dieser Entfremdung des Jüdischen aus der europäischen – insbesondere der deutschen, österreichischen und osteuropäischen – Alltagskultur tritt gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Faszination und Identifikationskraft entgegen, die dem fremden Jüdischen wieder einen Platz im alltäglichen Leben einräumt. Insbesondere bildungsbürgerliche Mittelstandschichten nehmen sich jüdischer Artefakte – Menora, Klezmer, koscheres Essen – an und setzen damit einen Prozess der Aneignung in Gang, der an ein Bild jüdischer Vorkriegskultur erinnert. Ganze Stadtteile, wie z. B. in Krakau, erfreuen sich einer neuen, durch die Gegenwart geprägten Blüte jüdischen Lebens, das im Kontext der heutigen Massenkultur konsumiert wird. Die Faszination am Fremden erscheint hier, ausgedrückt durch einen hauptsächlich kommerziellen Akt, der unserer heutigen Kultur eigen ist, als Motivation für die Auseinandersetzung mit der fremd gewordenen jüdischen Kultur. Peter Hörz beschreibt die Phänomene dieser neuen Faszination an der jüdischen Kultur und geht der Frage nach, ob diese durch den Kommerz initiierte Auseinandersetzung anstößig oder zu begrüßen ist. Den von Waldenfels und anderen konstatierten Erfahrungen der Fremdheit, die multipel sowie abhängig von räumlichen, zeitlichen, individuell-geistigen und anderen Parametern rezipiert werden, spürt die filmwissenschaftlich-historische Studie von BETTINA ENGSTER nach. Sie untersucht den indischen Film „Veer und Zaara“, eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Indien-Pakistan-Konflikts, der mit seinem Romeo-und-Julia-Motiv Fremdheit auf verschiedenen Sinnebenen thematisiert und darüber hinaus Techniken der Aneignung dieses Fremden in einer Welt aufzeigt, die realiter xenophob geprägt ist. Damit wird durchaus eine xenophile Grundhaltung des Films belegt, der in seiner Einzigartigkeit zwar die Grenzen zwischen beiden Nationen und religiösen Kulturen aufzeigt, dieses jedoch nicht – wie ansonsten üblich – zu einem bestimmenden Element werden lässt. Vielmehr sind die einzelnen Beziehungen der Charaktere auf Annäherung und Verstehen angelegt, die dem Publikum die
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Nähe des Fremden vor Augen führen sollen. „Der Andere, der bleibt“26, wird durch Assimilationshandlungen nicht nur in eine andere Ordnung aufgenommen. Vielmehr werden faszinierende Momente der fremden Ordnung ebenso übernommen und inkorporiert, so dass ein hybrides Umfeld entsteht, in dem sich auch der Fremde wohl fühlt. Diese erzählerischen Sequenzen werden von Filmtechniken begleitet, deren Analyse die unterschiedlichen Ebenen von Erfahrungen des Fremden konkret erfahrbar macht. Musikhybride, Traumsequenzen und Überblendungen verstärken die filminterne Faszination und die Liebe, die immer zwischen Eigenem und Fremdem pendelt, und bieten dem Publikum einen Denkanreiz, sich dieser speziellen Dimension von Fremdheit, wie sie im Umgang mit diesem Jahrzehnte andauernden Konflikt thematisiert wird, zu nähern. Mit der Faszination am Fremden im Kontext des Enthusiasmus gegenüber dem Konvertiten zum Judentum führt NINA REDL in die ambivalente Beziehung der jüdischen Gemeinde zum Fremden ein. Mittels der begrifflichen Analyse der biblisch-hebräischen Termini „gerim“ ( )גריםund „zarim“ ( )זריםbzw. „nochrim“ ( )נכריםwerden Fremder und Anderer in ihrer gesellschaftlichen Relevanz seit biblischer Zeit untersucht. Es zeigt sich, dass trotz Assimilation und der Möglichkeit der Modifikation des Fremdheitsstatus‘ das Fremde in letzter Konsequenz immer erhalten bleibt. Die Einbindung und Angleichung in der Entwicklung zum Anderen, der Mitmensch ist, erfolgt über die pragmatische Anordnung und Einhaltung von Verhaltensmaßregeln, die den Nicht-Juden zwar von der Mitgliedschaft in der Religionsgemeinschaft ausschließen, ihn aber Teil der Lebensgemeinschaft werden lassen. Diese Besonderheit und die sich daraus ergebenden Widersprüche und Spannungen verdeutlicht Nina Redl am Beispiel von Bezeichnungen für Konvertiten im Kontext modernen jüdischen Lebens. Die Konversion im Sinne des Reformjudentums findet bei orthodoxen und konservativen Juden keine Anerkennung, was wiederum Auswirkungen auf den Status des Fremden und auch des Anderen innerhalb der Gesamtheit des Judentums hat. Diese Problematik verweist auf die innerjüdischen Debatten, die gegenüber den Konflikten zwischen Juden und Nicht-Juden seit der jüdischen Emanzipation und Hinwendung zur Moderne zu Tage treten. Die Grenzziehungen innerhalb des Judentums führten zu einer Pluralität von Fremd- und Anders-Zuweisungen, deren differierende Semantik zu einer Gesichtslosigkeit des Fremden in der jüdischen Philosophie geführt hat. Die eigene Identität in den Mittelpunkt der Betrachtung rückend, konstatierte man zunächst Gott als „Ganz-Anderen“ im Kontext jüdischen Daseins. Dieser Beziehung folgt die rabbinische Zeit, in der aus der Notwendigkeit der Herstellung von sozialer Ordnung der Andere vor dem Hintergrund der Unterscheidung von ‚anderer Jude’ und ‚Nicht-Jude’ betrachtet worden ist. Die daraus resultierende Polarität in der Bestimmung des
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Fremden und Anderen bestimmt auch die Beziehung des Judentums zum Anderen. Der in diesem Band mehrfach angesprochene Aspekt der Modifizierung des Eigenen durch den aus Faszination am Fremden resultierenden Austausch mit ihm steht im Mittelpunkt der historiographischen Untersuchung einer schottischen Bauernkolonie bei Königsberg seit 1818 von KLARA DEECKE. Widrige Umstände, ausgelöst durch sozioökonomische Transformationsprozesse in Großbritannien am Beginn des 19. Jahrhunderts, verschlugen drei schottische Familien nach Ostpreußen, die dort mit Unterstützung der preußischen Regierung eine landwirtschaftliche Vorbildwirtschaft aufbauten, die innovativ auf die umliegenden Gehöfte wirken sollte. Gerade die britischen Agrarreformen jener Jahrzehnte wirkten nachahmenswert, da sie erfolgreich waren. Die lange Tradition der Aufnahme von Migranten als Innovatoren gab den preußischen Beamten zunächst Recht. Doch die Anfangserfolge dieser fremden Gruppe von Musterlandwirten zeigten keine Dauerhaftigkeit. Es scheint – mit Waldenfels gesprochen – die Antwort, die zu einer Reaktion führen könnte, beidseitig ausgeblieben zu sein. Die notwendige Verflechtung und der kontinuierliche Austausch zwischen Eigenem und Fremdem konnten sich nicht in dem Maße etablieren, wie es erwünscht und notwendig gewesen wäre. Während das Xenophile – als Anglophiles durchaus auch dem Zeitgeist verhaftet – sich in Handlungen und Meinungen der preußischen Beamten und ihrer Berichte ausdrückt, scheint das Fremde in der Unmittelbarkeit des direkten Kontaktes zwischen einheimischen und fremden Bauern eher xenophob betrachtet worden zu sein. In diesem Spannungsverhältnis sieht Klara Deecke einen Grund für das Scheitern der Kolonisten, deren Fremdheit vor Ort eher als Bedrohung wahrgenommen wurde, unterstützt durch den Anpassungsdruck, der von der Regierung auf die ansässigen Bauern und Gutsbesitzer ausgeübt worden ist. Der Fremde wird hier wieder zum Merkmalsträger, durch den mittels der Projektionen beider Seiten ein Antagonismus aufgebaut wird, der letztendlich den Fremden nicht zu einem näherstehenden Anderen werden lässt. Simmels „Wanderer“27, der im Kontext xenologischer Studien selten fehlt, wird in einer literaturwissenschaftlichen Studie zu den Novellen des „Till Eulenspiegels“ von MONIKA KULECZKA als Fremder entlarvt. Eulenspiegel ist der Wanderer, der seinen Platz als „bleibender Fremder“ in der Gesellschaft gefunden hat, aus der er selbst hervorgegangen ist. Sein Außenseitertum wird instrumentalisiert, damit das Fremde als initiatorische Kraft einer Entwicklung erkannt werden kann, die einen Blick auf das Eigene durch das Fremde ermöglicht.28 Eulenspiegels Bruch mit den gesellschaftlichen Konventionen sowie die Überreizung des ästhetischen Empfindens der breiten Masse wirken weniger verschreckend auf die Rezipienten als auf die Figuren im Text. Vielmehr zeigen Figur und Kontext ein Abbild bestehender Strukturen und Ordnungen, die durch den zentralen Held zusammengehalten werden und den Lesern einen Spiegel
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ihrer vermeintlichen Wirklichkeit vorhalten. Diese Verfremdung, die auf satirische Weise den Blick auf das Eigene freigibt, erfreute sich großer Beliebtheit beim Publikum. Monika Kuleczka spricht sogar von einer Art humanistischer Xenophilie – ein Begriff, der den moralisierenden Charakter der entfremdeten Eigenheit in den Geschichten hervortreten lässt. Das Narrativ eines andauernden Identitätsbildungsprozesses, bei dem die Sehnsucht nach Exotik ein Kernelement für die Handlungen der Protagonisten bildet, ist Gegenstand der literarischen Analyse der Romane „In fremden Städten“ und „Haus der Kindheit“ von Anna Mitgutsch. ANIKÓ ZSIGMOND folgt den Waldenfelsschen Kategorien des Zugangs zum Fremden, wobei der Ort eine Schlüsselstellung neben der Zeit und der Art des Zugangs – in unserem Fall die Liebe – einnimmt.29 Alterität als identitätsprägendes Erlebnis wird über eine Ortsveränderung erzeugt, die kulturelle Brüche und hierdurch tiefer gehende Erfahrungen von Fremdheit bedingt. Die Suche nach Identität und die Sehnsucht nach dem Fremden sowie ihre Befriedigung in der emotionalen Liebe gehen eine Symbiose ein, die in beiden untersuchten Romanen Auslöser für Entwurzelung und die Suche nach Halt ist. Doch jede Annäherung an das Ersehnte macht es vertraut und nivelliert die Anziehungskraft des „Objektes“ der Begierde. Daher begeben sich die Protagonisten wiederholt auf die Suche, um einerseits an dieser zu verzweifeln und Liebe in Hass zu verwandeln und andererseits in der Suche eine Erfüllung zu finden. Kann man Xenophilie bewirken? In ihrer psychologischen Studie zu Intergruppenkontakten zwischen deutsch-polnischen Musikensembles sucht DIETA KUCHENBRANDT gemeinsam mit MANFRED BORNEWASSER nach den Indikatoren, die Emotionalität und Fremdheit miteinander in Beziehung setzen. In dieser empirischen Studie wird der Bedrohungsaffekt des Fremden als ein Faktum angenommen, das es zu überwinden gilt. Dieses geschieht mittels Intergruppenkontakten, denen gemeinhin eine Konflikte, Vorurteile und Diskriminierungen nivellierende Wirkung zugeschrieben wird.30 Doch welche Rolle spielen so genannte affektive Faktoren? Welchen Einfluss haben kurzfristig hoch emotionelle Kontaktsituationen auf den Wandel unserer Einstellungen zum Fremden, und kann sich daraus Zuneigung bilden? Welche Rolle spielen Wissen und Unwissen in diesem Kontext? Dieta Kuchenbrandt zeigt auf, dass beide Faktoren – sowohl emotionale als auch kognitive Erfahrung – einen bestimmenden Einfluss auf die Wandlungsfähigkeit und die Transformation unserer Einstellungen haben. Der Verflechtungsaspekt zwischen Eigenem und Fremdem als Grundlage eines Transformationsprozesses, in dem der Fremde zum Anderen wird, wird hier in besonderem Maße deutlich.
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J. BABEROWSKI, Selbstbilder und Fremdbilder: Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel, in: Ders., H. Kaelble und J. Schriewer (Hgg.), Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentation sozialer Ordnung im Wandel, Frankfurt-New York 2008, S. 10. Vgl. J. OSTERHAMMEL, Gastfreiheit und Fremdenabwehr. Interkulturelle Ambivalenzen in der Frühen Neuzeit, in: H. Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 399, 403. S. S. TSCHOPP und W. E. J. WEBER, Grundfragen der Kulturgeschichte, Darmstadt 2007, S. 7f. Siehe auch: H. KAELBLE, Eine europäische Geschichte der Repräsentationen des Eigenen und des Anderen, in: Baberowski/Kaelble/Schriewer (Hgg.), Selbstbilder und Fremdbilder, S. 67-81. R. STICHWEH, Der Fremde – Zur Soziologie der Indifferenz, in: H. Münkler (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin 1998, S. 45-64. K.-U. HELLMANN, Fremdheit als soziale Konstruktion. Eine Studie zur Systemtheorie des Fremde, in: Münkler (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, S. 401-59. J. STAGL, Grade der Fremdheit, in: H. Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 86; O. SCHÄFFTER, Modi des Fremderlebens, Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: DERS. (Hg.), Das Fremde, Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedeutung, Opladen 1991, S. 12f. H. MÜNKLER und B. LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S. 14. Der „reisende Händler“ ist Simmels idealtypisches Beispiel des Fremden in: G. SIMMEL, Exkurs über den Fremden, in: DERS., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908, S. 685-91. HELLMANN, Fremdheit als soziale Konstruktion, S. 403-9; STICHWEH, Der Fremde – Zur Soziologie der Indifferenz, S. 47, 49. Zum Diskurs von Nähe und Ferne im Kontext des Fremden siehe: SIMMEL, Exkurs über den Fremden, S. 685ff.; A. SCHÜTZ, The Stranger: An Essay in Social Psychology, in: The American Journal of Sociology, 49 (1944) 6, S. 503; B. WALDENFELS, Phänomenologie des Eigenen und des Fremden, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S. 68f. SCHÜTZ, The Stranger, S. 503. SCHÄFFTER, Modi des Fremderlebens, S. 16. DERS., Modi des Fremderlebens, S. 19. DERS., Modi des Fremderlebens, S. 22f. DERS., Modi des Fremderlebens, S. 25; J. SCHRIEWER, Einleitung, in: Baberowski/Kaelble/Schriewer, Selbstbilder und Fremdbilder, S. 85f. Münkler und Ladwig sprechen von Nicht-Zugehörigkeit und Unvertrautheit, die u. a. auf die in Fußnote 10 genannten Texte von Schütz und Simmel zurückgehen. MÜNKLER/LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, S. 15, 26. Zur Mitgliedschaft siehe STICHWEH, Der Fremde – Zur Soziologie der Indifferenz, S. 46. TZVETAN TODOROV, The Morals of History, Minneapolis-London 1995, S. 71ff. A. BAMMER, Xenophobia, Xenophilia, and No Place to Rest, in: G. Brinker-Gabler (Hg.), Encountering the Other(s), Studies in Literature, History and Culture, Albany 1995, S. 50. BAMMER, Xenophobia, Xenophilia, and No Place to Rest, S. 51. TODOROV, The Morals of History, S. 71ff. M. SCHMITZ-EMANS, Fremde und Verfremdung – einführende Überlegungen zu Modellen des Lesens, in: K. Röttgers und M. Schmitz-Emans, Die Fremde, Essen 2007, S. 11.
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22 E. LEVINAS, Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen, München 1991, S. 57. 23 Siehe den Beitrag von C. PIAZZESI, „Innen ist die Mühe”. Liebe als Verarbeitung des unverzichtbaren Fremden, in diesem Band. 24 Siehe den Beitrag von M. EGE, Afroamerikanophilie als Xenophilie. Aneignungspraktiken, Exotismen, Fluchtlinien, in diesem Band. 25 N. MOUT (Hg.), Die Kultur des Humanismus, Reden, Briefe, Traktate, Gespräche von Petrarca bis Kepler, München 1998, S. 16. 26 SIMMEL, Exkurs über den Fremden, S. 685. 27 Ebd. 28 TH. BEDORF, Die Konjunktur des Fremden und der Begriff des Anderen, in: Röttgers/Schmitz-Emans, Die Fremde, S. 31f.; SCHMITZ-EMANS, Fremde und Verfremdung, S. 11ff. 29 B. WALDENFELS, Topographie des Fremden, Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 1997, S. 20. 30 TH. F. PETTIGREW und L. R. TROPP, Allport’s Intergroup Contact Hypothesis, Its History and Influence, in: J. F. Dovidio, P. Glick und L. A. Rudman (Hgg.), On the Nature of Prejudice, Fifty years after Allport, Malden 2005, S. 262-77.
Chiara Piazzesi
„INNEN IST DIE MÜHE“ Liebe als Verarbeitung des unverzichtbaren Fremden1
„Einander kennen lernen, heißt lernen, wie fremd man einander ist.“ (Chr. Morgenstern) „An allen Dingen fühlt sich neu die Frühe. Der schöne Wind geht eitel durch den Hain. Oh sieh das Blühen: innen ist die Mühe; Kaum tritt es aus, ist es ein Seligsein.“ (R. M. Rilke)
Eben weil Liebe und Fremdheit wie Gegensätze klingen, habe ich mir überlegt, ob diese Entgegensetzung nur scheinbar ist, oder besser: inwiefern sie scheinbar ist, inwiefern wesentlich. Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Frage beschäftigen, ob die Spannung zwischen Liebe und Fremdem nicht der Liebe selbst als Beziehung angehört, ob sie etwas Wesentliches in ihrer Wechselwirkung ist und, wenn ja, wie die Beteiligten, d. h. die Liebenden, diese Spannung behandeln und damit zurechtkommen. Die Diskussion dieser Fragen wird sich in vier Teile gliedern. Im ersten Abschnitt (1) wird anhand systemtheoretischer und phänomenologischer Betrachtungen herausgestellt, inwiefern die Liebesbeziehung keineswegs eine Aufhebung des Fremden ist und wie im Gegenteil die ihr zugrunde liegende Differenz für die Beziehung selbst konstitutiv ist: In diesem Sinne bedeutet die Liebesbeziehung eine Verarbeitung von Differenzen. Dann werden wir einerseits einige Prozesse dieser kommunikativen Verarbeitung aus soziologischer und psychologischer Sicht erkunden (2), andererseits einige Formen des Versäumens (3) dieser Auseinandersetzung mit der Differenz, die sie nicht bewältigen können. In diesem Rahmen wird kurz das Beispiel der interkulturellen Paare angeführt. Im letzten Abschnitt (4) werden die vorherigen Betrachtungen zusammengefasst und in Hinblick auf die Möglichkeit einer positiven Bewertung des Fremden in der Liebe gedeutet, auch in Bezug auf die heutige Evolution der Form der Intimbeziehung.
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„Innen ist die Mühe“. Liebesbeziehung als Verarbeitung der Differenz
Wie von A. Hahn betont, ist Fremdheit keine Eigenschaft, sondern die Definition einer Beziehung2, innerhalb deren diese Definition eine spezifische Funktion erfüllt, die mit den Identitäten der Einzelnen als Ergebnis ihrer Wechselwirkung und ‚systemischer’ Erfahrung des anderen zu tun hat. Um zu verstehen, was für eine Erfahrung die Entfremdung ist, woher sie kommt, welche Rolle sie spielt, in welchem Verhältnis sie zur entsprechenden Beziehung steht, in welcher sie ein besonderes Moment ist, müssen wir zunächst die Beziehung selbst genauer betrachten. Unser Ziel ist, in gewissem Maße, das Zusammengehören von Liebe und Möglichkeiten der Entfremdungserfahrung zu erklären. In diesem Sinne werden wir die Liebe ausschließlich als Beziehung betrachten: nicht als Zustand oder als Gefühl, das subjektiv und innerlich erlebt wird, sondern als intensive und anhaltende Wechselwirkung zwischen zwei Individuen, die sich lieben, und deren Weltverhältnisse, deren Identitäten und deren Leben von dieser Wechselwirkung tief geprägt werden. Gefühle gehören selbstverständlich auch zu einer solchen Beziehung, aber sie entfalten sich als Selbst- und Fremderfahrung im Rahmen der kommunikativen Interaktion selbst: Sie dürfen nicht per se betrachtet werden. Hinsichtlich dieses Ziels ist N. Luhmanns systemtheoretische Auffassung der Liebe und der Intimbeziehung von großer Bedeutung, da sie eben in der Lage ist, die Spannung zwischen Einheit und Differenz in der Liebesbeziehung zu beschreiben und als strukturell und konstruktiv wirkend zu erklären. Die Liebe ist laut Luhmann ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium3, dessen Funktion ist, die Wahrscheinlichkeit der unwahrscheinlichen persönlichen Kommunikation zu steigern. Dies bedeutet, dass das Medium Liebe sich für die Behandlung und Berücksichtigung der Individualität spezialisiert: Es dient sozusagen der liebenden (aber nicht exklusiv passionierten) Annäherung und der gegenseitigen Bestätigung von Individuen, wo jene Bestätigung des „egozentrischen Weltenwurf[es] des anderen“ selbstverständlich umso unwahrscheinlicher und schwieriger wird, je individualisierter und einzigartiger das Individuum wird.4 Seit dem Anfang seiner Evolution im 15. Jahrhundert hat das Medium Liebe – samt der entsprechenden Semantik – die Bildung von kleinen sozialen Systemen begünstigt, deren Form sich schrittweise als solche stabilisiert hat: Der Evolution des Mediums entspricht die des Intimsystems, das sich von der historischen Phase der Liebe als Passion über die der romantischen Liebe bis zur heutigen Form der Partnerschaft entwickelt hat.5 Das Intimsystem operiert in Bezug auf die Unterscheidung zwischen dem System selbst und seiner Umwelt so, wie alle Systeme: Anhand dieser Unterscheidung, die durch seine Operationen (d. h. Kommunikation) erzeugt wird,
„Innen ist die Mühe“. Liebe als Verarbeitung des unverzichtbaren Fremden
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gewinnt das System Information, die wiederum die Unterscheidung bestätigt und das Weiteroperieren des Systems als solches ermöglicht. Als ausdifferenziertes System verfügt auch das Intimsystem über einen Code, der dem Medium Liebe strukturell gehört und der in Bezug auf diese Grundunterscheidung durch einen binären Schematismus alle Informationen bestimmt. Die Hauptdifferenz dieses Codes für Intimität kann einfach als Lieben/Nichtlieben beschrieben werden; operativ bedeutet sie, dass „alle Informationen dupliziert werden in Hinblick auf das, was sie in der allgemeinen, anonym konstituierten Welt bedeuten, und das, was sie für Dich, für uns, für unsere Welt bedeuten“.6 Die Möglichkeit dieser Duplizierung besteht durch den Code selbst. Durch diesen Kommunikationsapparat erzeugt also das Intimsystem die Unterscheidung, die die Reproduktion des Systems selbst – d. h. sein Weiteroperieren als Kommunikation – zirkulär bedingt und ermöglicht: Das Intimsystem begrenzt sich und bestimmt seine Umwelt nach dem Unterscheidungsschema, das P. Fuchs als „Wir Zwei/Rest der Welt“ bezeichnet hat.7 Bei dieser Trennung von Intimsystem und Umwelt handelt es sich aber um keine Tatsache, keine Evidenz, sondern um eine operative Realität: Die Einheit wird im Operieren durch jedes Kommunikationsereignis behauptet und produziert, das im System stattfindet – wo auch die Möglichkeit dieses „im“ sich in der Kommunikation selbst vollzieht. Bei der Intimkommunikation handelt es sich also, mit Luhmanns Worten, „um die Reproduktion von Sinnüberschüssen, denen man entnehmen kann, daß die Liebe kontinuiert“8. Zu diesem Zweck kann sich die Liebe im Prinzip aller Themen bedienen, aber bevorzugt sind jene Themen, die persönlicher und sozusagen ‚idiosynkratischer’ sind. Die Liebenden, die das System konstituieren, müssen ständig in der Lage sein, so miteinander zu kommunizieren, dass sie durch jene Grenzziehung zwischen ‚der Welt’ ihrer Liebe und der anonymen Welt die Intensität ihrer Beziehung steigern und gegenseitig bestätigen.9 Das Intimsystem, das Paar, ist in diesem Sinne eine (operative, kommunikative) Einheit, für deren Bewahrung die Behauptung ihrer Einheit grundsätzlich ist. Es ist aber eine paradoxe Einheit insofern, als es laut Luhmann die Einheit einer Differenz ist, und zwar „die Einheit der Differenz, die seiner Informationsverarbeitung zu Grunde liegt“.10 Das Intimsystem bzw. das Paar ist von zwei psychischen Systemen bzw. Personen konstituiert: Trotz der operativen, psychologischen, leidenschaftlichen, praktischen Betonung des Zusammenseins besteht das ‚Zusammen’ aus zwei Individuen. Darum bedeutet das Intimverhältnis laut Luhmann zwischenmenschliche Interpenetration, d. h. als wechselseitiges Zugänglich- und Relevantwerden von „mehr und mehr Bereiche[n] des persönlichen Erlebens und des Körperverhaltens eines Menschen für einen anderen“, das auch als „Intimität“ bezeichnet werden kann.11 Ein solches Verhältnis „bringt nicht verschiedene Systeme zur Einheit“, es erzeugt keine Indifferenz. Im Gegenteil ist die interne Differenz zwischen den
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zwei Systemen „Person“ die Bedingung der Interpenetration, des gemeinsamen Operierens, wegen dessen alles, was in jedem System „Person“ passiert, für das andere relevant ist. Durch diese totale Berücksichtigung des Erlebens des anderen zeigt man seine Liebe: Man engagiert sich nach dem „Beobachteten“12 und zwar so, dass es klar ist, „daß nur der, der liebt, so handeln kann“13. Dies bedeutet, dass für den geliebten Anderen jener Unterschied zwischen dem, was ich für mich tue (gemäß meinen Interessen, Gewohnheiten, Motiven, Zielen usw.) und dem, was ich ‚für Dich’ tue, immer deutlich verfügbar sein muss.14 Daran wird einem klar, ob oder dass man geliebt wird – was wiederum auf die o. g. Grundunterscheidung „Wir Zwei [unsere Welt]/Rest der Welt“ verweist. In diesem Sinne, als „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen“, setzt die Liebe die Differenz zwischen den zwei Beteiligten voraus, eben weil sie verlangt, dass die Differenz ununterbrochen als Engagement umgesetzt wird, indem die Individualität des anderen, und nicht meine, dieser Wahl zugrunde liegt (ich liebe Dich, weil Du der/die bist, den/die ich liebe). An dieser Differenz wächst die Intensität der Gefühle, die Interpenetration, sodass nicht nur in der Anbahnphase der Beziehung G. Simmels Feststellung gilt, laut derer die Liebe sich „an der Individualität“ entzündet. Das ist aber nur der erste Teil von Simmels Betrachtung: Der zweite behauptet, dass die Liebe zugleich an der Unüberwindlichkeit der Individualität zerbricht. Aus diesem Sowohl-als-auch besteht die „reinste Tragik“, welche die Liebe ist.15 Die Differenz ist der Raum der Liebesspannung, solange die Differenz motivierend wirkt. Aber sie ist zugleich der Raum des Erlebnisses der Entfremdung, sobald die Differenz eine Lücke bildet. Eben weil das gemeinsame Operieren des Intimsystems die Grundunterscheidung „Wir Zwei/Rest der Welt“ immer wieder betonen muss, erwartet jeder Beteiligte, Anerkennung und Bestätigung für seine individuelle, idiosynkratische „Selektion“ zu erhalten. Es muss laut Luhmann dem Geliebten nicht nur gezeigt werden, dass man sich bemüht, seine Wünsche (als seine) zu erfüllen, sondern vor allem, dass diese Wünsche und diese idiosynkratischen Selektionen, kurz das Weltverhältnis des Geliebten, der Welt des Liebenden Sinn zuführen können.16 Nach diesem Schema führt Luhmann die kleinen Konflikte, die kleinen Missverständnisse der Paare, die zu großen Krisen werden können, durch den Begriff Attributionskonflikt auf die operative Bedeutung der Differenz selbst in der Kommunikation zurück. Attributionskonflikt heißt: Der, der handelt, hat die Tendenz, sein Handeln der Situation zuzurechnen; der, der den Handelnden beobachtet und erlebt, neigt jedoch dazu, das Beobachtete auf die Persönlichkeit des Handelnden zurückzuführen. Der Anspruch auf Bestätigung und Anerkennung, der dieser Beobachtung im Falle der Liebe und des Intimsystem unterliegt, macht die Beobachtung selbst besonders empfindlich für die möglichen Missachtungen dieses Anspruchs – dieses Bedürfnisses.17 Da die Zurechnung auf die Beziehung im Prinzip immer näher liegt, weil der Beobachter sich vom
„Innen ist die Mühe“. Liebe als Verarbeitung des unverzichtbaren Fremden
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Handeln des anderen „behandelt“ fühlt, muss der Beobachter in der Lage sein (was nicht selbstverständlich ist), die empfundene Missachtung auf die Situation zu schieben, um sie anders interpretieren zu können. Luhmanns Beispiel des Autofahrens ist wohl bekannt18: Der fahrende Partner fährt auf seine Art, der mitfahrende kritisiert – und, wie die allgemeine Erfahrung bestätigt, kann es schnell zum Streit kommen. Luhmann meint, der Mitfahrer betrachtet nicht die Merkmale der Situation, sondern fragt sich in Bezug auf die Beziehung: „Handelt er [oder sie, C. P.] so, daß er meine (und nicht seine) Welt zu Grunde legt?“ Der Unterschied der gemeinten Fahrweisen (der wegen dieser queren Attribution merkwürdigerweise auch dann betont wird, wenn der Mitfahrer nicht fahren kann) wandelt sich schnell in Missachtung um: „Er ‚schneidet die Kurven’, obwohl er weiß, daß ich das nicht mag; sie ‚fährt auf der Autobahn stur links’, obwohl sie weiß, wie pedantisch ich immer auf die Vorschriften achte“, usw.19 So mag die Differenz zur Entfremdung werden: Es ist, als ob ich ‚allein’ bleiben würde, als ob ich (plötzlich, obgleich vorübergehend, obgleich ‚irrational’) keinen Anschluss mehr finden würde, um mich zu vergewissern, dass ich geliebt (bzw. berücksichtigt und bestätigt) werde, dass die Liebe ‚weiter geht’. Die Differenz, die Bedingung des Intimverhältnisses ist, kann also durch die gleichen Mechanismen zur Belastung werden, die das Intimverhältnis konkret, positiv gestalten. Die wechselseitige Berücksichtigung von Idiosynkrasien und Einzigartigkeit, von der die Liebe angezündet und bestätigt wird, mag schnell die Kommunikationszusammenhänge beeinträchtigen, wenn nur die jeweiligen Ansprüche oder Motive der Partner, die zu unterschiedlichen Attributionen führen, eben wegen ihrer Einzigartigkeit und Individualisierung nicht zu versöhnen sind. Wie Luhmann feststellt, müssen nämlich sowohl die Konflikte als auch ihre Lösungen auf der gleichen Ebene erfolgen: Die Ebene der persönlichen Kommunikation muss die Möglichkeit bieten, aus der Differenz der Individualitäten entstehende „Meinungsverschiedenheiten“ usw. zu lösen, die aber ihrerseits zugleich tendenziell auf jene Ebene des Persönlichen zurückgeführt werden20, wo sie dementsprechend eine Bedeutung in Bezug auf die Beziehung erhalten21 – eine Bedeutung, die, so wie im Falle des Autofahrens, mit dem diskutierten Sachverhalt (z. B. ob man auf der Autobahn ganz rechts fahren muss) nur teilweise zu tun hat. Die Beziehung ist also, wie gesagt, immer miteinbezogen in ihre eigenen Operationen. Dies bedeutet, dass die Differenz immer wieder behauptet wird, indem sie sich als Einheit behauptet: Die Behandlung der Differenz erfolgt in Hinblick auf die Liebe, d. h. auf die Einheit, was aber nicht ausschließt, dass man trotzdem immer mit einer Differenz zu tun hat. In diesem Sinne ist es wahrscheinlich fruchtbarer, sich das „Eins-Sein“ des Systems „Intimbeziehung“ wie ein Geflecht vorzustellen, in dem – mit Luhmanns Worten – „Fremdreproduktion“ und „Selbstreproduktion“ zugleich getrennt, weil die Bewusstseine eben zwei bleiben, und ineinander gewebt sind, weil die Liebe den Gegenstand ver-
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ändert, den sie beobachtet: Das „Vom-anderen-erlebt-Werden“ der Beobachtung wird in die Beobachtung einbezogen und das „Beobachtetwerden“ wird von dem beobachteten Anderen aufgenommen und erlebt usw.22 Man könnte paradox sagen, dass die Schwierigkeit der Liebenden ist, dass sie nie allein zusammen ohne ihre Beziehung sind: Sie sind Teile eines Systems mit eigenen Operationen und Mechanismen, die nicht nur die Summe der Bewusstseinszustände und -bewegungen der zwei Beteiligten sind. Ich bin nicht nur mit dem Anderen zusammen: Ich bin auch mit dem Anderen in mir und mit mir in ihm zusammen – wo es sich nicht um Zustände, sondern um Operationen, um Interaktionen handelt. So wie B. Waldenfels feststellt, gehört dieses „Ineinandersein von Eigenem und Fremdem“ zu allen Verhältnissen, in denen das Soziale sowohl als Vorbedingung des Mitseins als auch als Möglichkeit der Entfremdung wirkt: In diesem Sinne kann die Spannung von dem ineinander verflochtenen Eigenen und Fremden „weder von dem einem noch von dem anderen Pol noch von einem Dritten her zur Ruhe gebracht werden“. Die Dimension des Mitseins, d. h. das Ineinandersein von Eigenem und Fremdem, ist die Voraussetzung der Wahrnehmung des Fremden, wenn ich auf „fremde Ansprüche“ antworte: sowohl dafür, dass ich sie als fremd wahrnehme, als auch dafür, dass ich sie als Ansprüche wahrnehme und annehme bzw. ablehne (was immer ein ‚Antworten’ ist). So schreibt Waldenfels: „Ich und ich sind niemals völlig bei sich, aber ich und du, wir sind auch niemals völlig bei uns“23. In der Liebesbeziehung erreicht diese Konstellation aus den o. g. Gründen eine kritische Dimension. Jede Erfahrung der Entfremdung gefährdet die Beziehung selbst: Wenn ich die Ansprüche des anderen als fremd wahrnehme und/oder umgekehrt, wenn auf meine Ansprüche mit einer distanzierenden, unbefriedigenden Weise geantwortet wird, heißt das schon, dass dieses System der wechselseitigen totalen Berücksichtigung der Individualität des anderen irgendwie ins Stocken geraten ist. Aber das, was von den Beteiligten unter Umständen als schmerzhafte Entfremdung bzw. Mangel an Achtung erfahren wird, ist in der Liebesbeziehung immer mitimpliziert: Wenn die Individualität des anderen berücksichtigt und geliebt werden muss, bedeutet das nicht auch die Notwendigkeit der ununterbrochenen Einübung des Verständnisses, die respektvolle Anerkennung des Andersseins, die Fähigkeit, mit Enttäuschungen umzugehen – kurz: die bewusste und liebvolle Akzeptanz der Unverzichtbarkeit des Fremdsein? Bevor wir die Implikationen unserer These im Abschnitt 4 gründlicher diskutieren, müssen wir aber sehen, wie die Liebenden mit der Konstruktion der ‚Einheit ihrer Differenz’ konkret umgehen.
„Innen ist die Mühe“. Liebe als Verarbeitung des unverzichtbaren Fremden
2.
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Ausblendung des Fremden: die Verarbeitung der Differenz in der Liebesbeziehung
In Anspielung auf Chr. Morgensterns Satz könnte man sagen, dass in der Liebesbeziehung – und wahrscheinlich überhaupt – einander kennen lernen nicht nur lernen, sondern vor allem übersehen heißt, wie fremd man einander ist.24 Die interne Differenz wird in der Erzeugung der gemeinsamen Welt der Liebesbeziehung nicht überwunden, sondern nur so behandelt, dass sie am wenigsten in der alltäglichen Interaktion stört. In diesem Abschnitt werden einige Modi der Verarbeitung der internen Differenz analysiert.
2.1
Der „blinde Fleck“ des Intimsystems
Die Liebenden, die eine Beziehung eingehen, müssen dann mit der internen, unüberwindbaren Differenz zurechtkommen, umgehen. Das Streben nach Einheit und ‚wortloser’ Verständigung ist unter anderem auf eine historisch entwickelte Semantik der romantischen Liebe angewiesen, die eine reibungslose, beständige Liebe als Ideal vorschreibt, die den höchsten Wert auf die Verschmelzung der Liebenden legt und die dementsprechend die Kommunikation im Intimsystem orientiert. In diesem Rahmen bilden sich die strukturelle Kontinuität der Selbstprüfung des Intimsystems und die entsprechende Abhängigkeit der Liebenden von den Zeichen der wechselseitigen, erwiderten Liebe. Die Hervorhebung der internen Differenz entkräftet im Prinzip die Grundunterscheidung „Wir Zwei/Rest der Welt“ in Bezug auf die systemische Kommunikation. Aber es handelt sich vor allem auch um eine schmerzhafte Erfahrung, um eine affektive Belastung: Der Entzug der Liebe kann das persönliche Glück, die existentielle Stabilität, das psychologische Wohlfühlen, das Weltverhältnis selbst verderben. Aus psychologischer und existentieller Sicht ist der Mensch seit der Kindheit auf Liebe angewiesen, um die mühsame Arbeit des Aufbaus seiner Persönlichkeit (auch als subjektiven Gewinn der ‚Identitätserfahrung’) leisten zu können. Das Liebesverhältnis zum Kind vermittelt ihm insofern die soziale Anerkennung, als die Wahrnehmung von Liebeszeichen innerhalb dieses Verhältnisses unmittelbar auf symbolische Repräsentationen von Werten verweist.25 Im Intimsystem wird dann nicht nur viel Energie für die Beständigkeit der gegenseitigen (liebenden) Berücksichtigung investiert: Diese Investition prägt sogar die gesamte Struktur der internen Kommunikation und der affektiven Wechselwirkung, so wie anhand Luhmanns Analyse beschrieben. Die Eingrenzung der gemeinsamen, ausdifferenzierten Privatwelt, die keineswegs eine tatsächliche Aufhebung der internen Differenz verursachen kann, vervollkommnet
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sich im Intimsystem als eine fiktive Aufhebung jener Differenz, die auf unterschiedliche Weisen erfolgt.26 „Der Andere, das ist eine bestimmte formale Struktur, aber an seiner Stelle ist der Andere kein Anderer. Zwei Liebende sind nicht füreinander Andere, sie sind einfach nur zwei differente und vom Bewußtsein her inkompatible Formen des Erlebens“27: Von dieser Feststellung geht Peter Fuchs aus, um nämlich die Verarbeitung dieser Grundinkompatibilität als deren Ausblendung zu bezeichnen. Erstens müssen die zwei Bewusstseine ihre eigenen Idiosynkrasien und die des anderen bewältigen, um sich näher zu kommen; und da die räumliche Distanz zwischen den Beteiligten kürzer wird, weil „die Zugänglichkeit“ der Körper auch zum Programm gehört, müssen die Bewusstseine zugleich nach der Evidenz und gegen die Evidenz der Wahrnehmung arbeiten, um „Ekelschranken“ oder „ästhetische Abneigungen“ zu überwinden.28 Darüber hinaus bildet sich wegen der „Anforderung der romantischen Liebe [...] ein System, in dem nicht alles gesagt werden darf, obwohl (entsprechend der Vorschrift) alles gesagt werden kann, ja soll“: Das „Moment des Verschweigens“ wird im System eingebaut, da die Vorschrift des Alles-Sagens in der Tat durch eine delikate, anstrengende „Oszillation zwischen Reden und Schweigen“ realisiert wird.29 Den „blinden Fleck des Intimsystem“ sieht Fuchs eben in der fiktiven Annahme, dass das Bewusstsein „ein komplett Betreubares, komplett Akzeptables“ ist, während es „nicht kalkulabel“, „in der Kommunikation in gewisser Weise dämonisch“ ist: In der Intimkommunikation wird es trotzdem so behandelt, als ob es „mit einem anderen, ebenso quirligen und dämonischen Bewußtsein eine Einheit bilden [könnte], die WIR heißt, aber die dann nur die kommunikativen Operationen steuert, ohne in irgendeinem Sinne faktisch (auf der Ebene der Bewußtseine) zustandezukommen“30. Eben weil die interne Differenz immer neu als konkretes Erleben und als Erfahrung auftaucht, welche die Kommunikation im System gefährden können, sind Intimsysteme „ignorante Systeme, Systeme mit struktureller Ignoranz“, unter deren Grundleistungen das Schweigen, das Übersehen, das Nichtbeachten, das Vergessen, kurz die Manipulierung auf der Ebene der Wahrnehmung, zu rechnen sind.31 Wie J.-C. Kaufmann, der in mehreren Untersuchungen die Konstruktion der gemeinsamen Welt des Paares in der Alltags- und vor allem Haushaltspraxis analysiert hat32, feststellt, „werden die zwei Individuen zum Paar“, indem sie sich auf das „Zentrum“ der Vertrautheit hinbewegen; „dennoch werden sie während ihrer gemeinsamen Geschichte füreinander immer vertraute Fremde bleiben und Phasen erleben, in denen Fremdheit und Vertrautheit immer wieder andere Kombinationen eingehen werden“33.
„Innen ist die Mühe“. Liebe als Verarbeitung des unverzichtbaren Fremden
2.2
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Konsensunterstellung und -fiktion
Hahn bezeichnet als „Konsensunterstellung“ jenen Interaktionsprozess in der Beziehung, aus dem bei den zwei Beziehungspersonen die Überzeugung der Übereinstimmung und der Verständigung entsteht und sich festigt, ohne dass ihre Begründung nachgeprüft wird. Das lässt sich insbesondere bei jungen Paaren und Ehen beobachten, die strukturell einen höheren Bedarf an Vertrauen und Konsens in der Aufbauphase der Beziehung haben und deren Verhältnis durch kein starkes Rollenverständnis strukturiert ist. Um die Erzeugung einer gemeinsamen Welt zwischen zwei im Prinzip fremden Individuen zu erklären, reicht laut Hahn nicht, auf das Modell des Gesprächs und der totalen expliziten Kommunikation zurückzugreifen, als ob die Partner ihre Differenz offen und bewusst behandeln und zwischen ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Lebensentwürfen vermitteln würden. Vielmehr liegt der gemeinsamen Wirklichkeitserzeugung der Partner die Konsensunterstellung zugrunde, die laut Hahn ihrerseits aus der Liebe und vor allem aus deren tradierter Vorstellung entspringt: „Die Liebe lasse eben alle Hindernisse als überwindlich erscheinen“. So wird „der objektiven Unwahrscheinlichkeit, daß man mit einem fremden Menschen je zu einer gemeinsamen Auffassung dessen, was und was in dieser Beziehung sein soll, kommen kann“, das „Trotzdem des Gefühls der Liebesverbundenheit entgegengesetzt“. 34 Das merkwürdige Ergebnis von Hahns Untersuchung, die auf die Überprüfung des Wirklichkeitsgrads eines solchen unterstellten Konsens zielte, ist aber, dass dieser Konsens den objektiven Status einer Fiktion hat: Unabhängig über verschiedene Aspekte des gemeinsamen Lebens- und Beziehungsentwurfes befragt, zeigen sich die Partner überhaupt nicht als einig, obwohl sie in den meisten Fällen unterstellen, dass der/die andere die gleiche Antwort geben wird/würde. Wichtige, kritische Meinungsunterschiede kommen eben da ans Licht, wo die Partner sich bisher als ähnlich wahrgenommen hatten. Aufgrund der Liebe als Einheitsgefühl erfahren sich die Partner jeweils als „Träger von Eigenschaften“, denen der andere zustimmt. „Es ist also nicht so, als wenn die Liebe typischerweise vorhandenen Dissens irrelevant machte, sie macht ihn allenfalls unsichtbar. Liebe reduziert keineswegs den Konsensbedarf, sondern steigert ihn. Das schließt nicht aus, daß Verschiedenheiten gesehen werden. Aber sie werden gleichsam durch ein Verkleinerungsglas angeschaut und nicht als Einwand gegen die sowohl als gegeben wie als erforderlich unterstellte Einigkeit in den für das Zusammenleben wichtigen Daseinsbereichen ernstgenommen.“35
Der unterstellte Konsens entpuppt sich als Fiktion („schon die Unterstellung gleicher Erinnerungen an gemeinsam erlebte Ereignisse erweist sich oft als trügerisch“36) nicht nur sobald er in Frage gestellt wird, sondern sobald eine
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Frage gestellt wird, die ihn irgendwie explizit machen soll. Konsens und Einigkeit ergeben sich in den meisten Fällen nicht aus einer offenen diskursiven Verhandlung, sondern bauen einen festen, sicheren Boden eben insofern, als über das und jenes nicht diskutiert wird, in Bezug auf das man unterstellt, dass man sich schon einig ist. Bis „bei gemeinsamem Handlungsbedarf“ die Meinungsunterschiede auftauchen, handelt man einfach unmittelbar als ob.37 Dieses Verfahren wurde auch von Kaufmann in Bezug auf die Anfangsphase des Zusammenlebens und auf die Einrichtung des ersten gemeinsamen Haushalts des Paares analysiert. Um die initiale Fremdheit (man ist ja in Anwesenheit „eines intimen Fremden“38) zu bewältigen, macht man sie sozusagen „unsichtbar“, d. h. man übersieht, so wie von Fuchs beschrieben, Differenzen und Idiosynkrasien – hier: über die Haushaltsverwaltung und die entsprechenden Aufgaben –, die aber später in der Geschichte des Paares wieder auftreten werden und Schwierigkeiten bereiten.39 Man fängt unbewusst an, durch die Manipulation der Selbstvorstellung einen gewissen Vorrat an Konsens und Verständigung zu speichern aufgrund des Versuchs, vor dem Partner nicht als ‚allzu fremd’ aufzutreten.40 Am Beispiel der Verwaltung und der Verteilung besonderer Haushaltsaufgaben, die Reinigung und Räumung von Wäsche betreffen, zeigt Kaufmann, wie diese Organisation von Funktionen, Prioritäten, Beteiligungen usw. meistens keiner offenen Verhandlung unterliegt, sondern durch die graduelle Entstehung von Routinen und Automatismen strukturiert wird, denen die Überzeugung entspricht, es besteht darüber ein voller Konsens. Wenn nun im Rahmen des von Kaufmann geleisteten Interviews nach dem Wieso und dem Warum der verschiedenen Routinen und Praktiken gefragt wird, stellt man oft fest, dass die Beziehungspersonen sich einfach wortlos, durch eine non-verbale Verhandlung einander angepasst haben und dass auf diese Weise eine praktische Einigkeit41 graduell entstanden ist, wo am Anfang nur zwei Fremde waren. Auf diese Weise ist „die Haushaltsintegration“ mit der Integration durch das Gefühl gekoppelt, obwohl sie zwei differente Prozesse bleiben.42 Und in diesem Sinne schreibt Kaufmann, dass sowohl in Bezug auf die persönliche Identität als auch in Bezug auf das Paar „der unaufhörliche Prozeß der Herstellung von Einheit zu der Illusion einer solchen führt“43: Die praktische, nicht explizite, ununterbrochene wechselseitige Anpassung in Bezug auf die problematischen Zusammenhänge der Beziehung schafft die Illusion bzw. die Überzeugung des Konsens, die als Wirklichkeit und Tatsache angenommen und wahrgenommen wird. Im Gegensatz zu der „non-verbale[n] Kommunikation“, die „die gewöhnlichen Abläufe“ und „die Mechanismen der Kommunikation in der Beziehung“ nicht in Frage stellt, enthüllt die offene Diskussion „das kritische oder verhandelnde Wort“ dieser Mechanismen und in gewissem Maße die Fiktion, die ihnen zugrunde liegt.44 Um die Interaktion und die intime Kommunikation nicht zu verunsichern, darf diese Art offener, kritischer Verarbeitung der Differenz und der verbleibenden ‚intimen Fremdheit’ nur ausnahmsweise stattfinden – wenn z. B. die Partner auf
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kein anderes Instrument zugreifen können, die interne, aufgetauchte Differenz zu bewältigen. Die Konsensunterstellung lässt sich eigentlich als elementares, konstruktives Instrument der sozialen Bewältigung der Fremdheit bezeichnen, in Kontexten, die ein gewisses Maß an Sicherheit und Vertrautheit erfordern, damit die Kommunikation und die Interaktion glatt gehen können – ein höheres oder niedrigeres Maß, je nachdem, um welche Art von sozialem Kontext es sich handelt. Wie sowohl von Hahn als auch von Kaufmann herausgestellt, ist die Praxis der Erzeugung von Grundverständigung durch Grundverständigungsfiktion eigentlich ein übliches soziales Verfahren, das aber in der Liebe und in der Partnerschaft eine makroskopische Dimension erreicht.45 In diesem Konstruktionsspiel kann aber die Behauptung von Differenzen bzw. Fremdheit wieder ein Instrument der Identitätsgewährleistung sein, in jenen Interaktionszusammenhängen, wo die Identifikation bzw. die Verschmelzung nicht zu weit gehen dürfen. Der Begriff „partizipative Identitäten“ heißt laut Hahn, dass „Inklusion und Exklusion“ als „Instrumente der Selbstbeschreibung“ gelten:46 Die Differenzen können immer wieder betont werden, um eine Identifikationsunterscheidung zu begünstigen, oder umgekehrt übersehen werden, um die Konstruktion einer inklusiven Identität zu ermöglichen. Diese Oszillation, die unter Umständen mehr oder weniger elastisch bleiben kann, stellt auch Kaufmann im Rahmen der Erzeugung der gemeinsamen Welt bzw. der Einheit innerhalb der Liebesbeziehung fest. Die Insistenz auf Differenzen, so wie z. B. im Rahmen Kaufmanns Untersuchung auf unterschiedliche Weisen, Zeiten, Bedeutungen der Leistung der Haushaltsarbeit, die unterschiedlichen Rollenvorstellungen und Beziehungsentwürfen entsprechen, kann auf die Aufrechthaltung von Individualität bzw. individualisierter und selbstständiger Identität zielen: Der Integrationsprozess von Identitäten, der die Liebe begleitet, mag in gewissem Maße auch als Identitätsgefährdung wahrgenommen werden und insofern Angst verursachen. Um die Integration zu bremsen, kann man auf persönliche Idiosynkrasien bestehen47 – wobei das wiederum das Risiko der Störung des Einigungsprozesses mitimplizieren kann, und deswegen eine ständige Kompensation erfordert. Die Intimbeziehung als Wechselwirkung und Integration von Differenzen kann also als ein Geflecht gesehen werden, das enger oder lockerer sein kann, je nachdem, welche Ansprüche die Beteiligten der Beziehung stellen – die aber nur als ein Geflecht eine Einheit bildet. In diesem Rahmen besteht unmittelbar die Möglichkeit für die Modi der Verarbeitung der internen Differenz, auf der einen Seite an bestimmten Situationen oder Problemen zu scheitern, auf der anderen Seite in ihrer Leistung selbst einen gewissen Raum für Distanzierung und für Nicht-Integration ‚absichtlich’ zu bewahren.
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2.3
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Liebesgeschichte als Kristallisation des „Wir“. Risiko der Kollusion
Sowohl die Ausblendung von Idiosynkrasie als auch die Konsensfiktion sind also Funktionen jener Grenzziehung48, die operativ die Einheit als Ausblendung von Differenzen in der Beziehung realisiert. Die Grenze ist wie gesagt keine objektive Grenze, und die entsprechende Einheit ist keine wirkliche Einheit, sondern die Modalität des Operierens des Intimsystems. Darum kann man nicht die Einheit als solche bezeichnen und beschreiben, sondern, wie von K. Lenz betont, die „Kristallisationsformen der Paar-Einheit“49, die eine Erfahrung der Einheit ermöglichen bzw. den Raum der Entfremdungserfahrung verringern. Diesen Formen sind z. B. der „Beziehungskalender“, die „Beziehungssymbole“, die „Paarsprache“, das „Beziehungsthema“, das „gemeinsame Weltbild“ zuzurechnen: Es handelt sich um Formen der Erfahrungsverarbeitung, durch die neue Kategorien der gemeinsamen Erfahrung die persönlichen so ersetzen, dass auch am Ende einer anhaltenden Beziehung die letzteren nicht wieder die gleichen wie früher sein werden. Durch jene Formen der gemeinsamen Narration, der geteilten Selbstvorstellung, des kollektiven Lebenssinnes, wird aus Ich und Du ein operatives „Wir“ erzeugt. „Dieses Wir ist keine bloße Illusion, die sich die Beziehungspersonen in einer Verkennung ihrer unaufhebbaren Eigenständigkeit machen, sondern hat durchaus einen realen Gehalt. Es verweist auf die Transformationsprozesse, die eine jede der beiden Personen, einschließlich ihrer Vergangenheit und Zukunft, durch die Beziehung durchmacht. [...] Das Wir steht stellvertretend für das Paar als Einheit, die durch die Beziehungsarbeit in Zweierbeziehungen in Erscheinung tritt.“50
P. Fuchs bezeichnet diese Kristallisation der gemeinsamen Erlebnisse in eine Narration – die „Liebesgeschichte“51 – als die Entstehung eines „Nebencode[s]“ im Intimsystem, der die Referenz auf die gemeinsamen Erinnerungen codiert und der darüber hinaus „eine Mythologie“ produziert: „Denn wie bei der Disposition über Anfang und Ende der Beziehung ist auch diese Geschichte reversibel, umdeutbar“52. Der Prozess der Erzeugung des „Wir“ kann aber auch problematisch bzw. pathologisch erfolgen. In seinem wohlbekannten Werk über die Zweierbeziehung53 hat J. Willi herausgestellt, wie die Fokussierung auf und die progressive Kristallisierung um das Beziehungsthema im Paar eben zur Herstellung einer pathologischen operativen Einheit führen kann, die Willi als Kollusion bezeichnet. Das hergestellte Wir ergibt sich dann aus einem „kollusiven Patt“, indem die Beziehungspersonen ein Verhältnis bilden, durch das sie unbewusst versuchen, ihre eigenen ungelösten psychischen Konflikte zu bewältigen, ihre mangelhafte psychologische Autonomie auszugleichen.54 Dem erzeugten „Wir“ ent-
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spricht laut Willi immer ein „gemeinsames Unbewußtes“ der Partner, das sich nämlich gegebenenfalls in einem kollusiven Muster gestalten kann. Die kleinen Streitigkeiten des kollusiven Paars, die von ‚unbedeutenden’ Meinungsunterschieden und Missverständnissen ausgelöst werden, verhüllen den authentischen, ursprünglichen Konflikt, der von der kollusiven Interaktion im Unbewussten gehalten wird.55 Die Kollusion erscheint dann als die pathologische Entwicklung des systematischen Teilens eines gemeinsamen psychologischen und praktischen Horizonts zwischen den Partnern. Jene erzeugte Gemeinsamkeit zeigt sich als selbstdestruktiv (und zugleich aufrechthaltend) für das Paar: „Die Kollusion entpuppt sich als destruktives Arrangement und erzeugt Wut, Haß, Rachegefühle, Verzweiflung und bittere Enttäuschungen“56.
2.4
Die Metaebene der Treue als „Beharrungsvermögen der Seele“
Die Differenz zweier Bewusstseine ist keine beschreibbare und objektive Differenz (wie im Modell ‚mein Charakter’, ‚dein Charakter’): Es handelt sich um eine operative, sozusagen auch phänomenologische Differenz. Sie setzt sich also in Gedanken, Stimmungen, Reaktionen um – und das ist die problematische Differenz: dass jedes Bewusstsein insofern seinen eigenen Weg geht. G. Simmel hat die Spannung zwischen dieser ununterbrochenen inneren Lebendigkeit und den festen sozialen Formen (vor allem: soziale Beziehungen57) hervorgehoben, in denen sie sich einigermaßen kristallisiert, und die sie zugleich zum Ausdruck bringen. Laut Simmel besteht zwischen „dem Fließen, der wesentlichen Bewegtheit des subjektiven Seelenlebens“ und „der Fähigkeit seiner Formen, die nicht etwa ein Ideal, einen Gegensatz gegen seine Wirklichkeit, sondern gerade dieses Leben selbst ausdrücken und gestalten“, ein prinzipieller, formaler Gegensatz.58 Die Beziehungen zwischen Individuen neigen zu einer „Verfestigung ihrer Form“ und funktionieren dann wie „ein mehr oder weniger starres Präjudiz für den weiteren Verlauf des Verhältnisses“: Aufgrund dieser Verfestigung werden sie immer unfähiger, sich „der vibrierenden Lebendigkeit, den leiseren oder stärkeren Wandlungen der konkreten Wechselbeziehung anzupassen“. Diese Entgegensetzung erzeugt eine zunehmende „Diskrepanz innerhalb des Individuums“59, was gegebenenfalls zu einer psychologischen, existentiellen und kommunikativen Belastung sowohl für die Person als auch für die Beziehung führen kann. Dieses Risiko wird noch von dem Versuch der Beteiligten gesteigert, sich kräftig gegen diese ‚Präjudiz-Form’ der Beziehung, die auch eine gewisse Immobilität bzw. einen ‚Verlust’ der persönlichen Identität mitimplizieren kann, zu verteidigen – wie es auch von Kaufmann im Rahmen seiner Untersuchung als Verhandlungs- und Kompensierungsproblem innerhalb des heutigen Paares hervorgehoben wurde. Eine der größten Schwierigkeiten für die Beziehung allgemein und für die Beziehungspersonen, insbesondere in der heutigen Zeit,
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ist eben, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der gemeinsamen Arbeit der Ausblendung der Fremdheit, die von Liebe und Lust auf ‚Einheit’ und Verschmelzung motiviert ist, und der individuellen Lust an Individualität, Einzigartigkeit, Selbstständigkeit – auf die das Individuum gesellschaftlich getrieben ist, Energie, Zeit und vor allem Ansprüche und Erwartungen zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang spielt laut Simmel die Treue in der Motivierung der Beteiligten eine wichtige Rolle. Sie ist ein Begleitgefühl, das sich aus dem ersten auf das Verhältnis gerichteten Interesse und Impuls entwickelt und das Fortdauern des Verhältnisses direkt begünstigt bzw. ermöglicht. Insofern bezeichnet Simmel die Treue in Bezug auf ihren Ursprung als „Induktionsschluß des Gefühles“, der jenes anfängliche Interesse und die unmittelbare Motivierung ersetzt; und, in Bezug auf ihre Leistung, als „das Beharrungsvermögen der Seele“, eben weil solcher Ersatz die gleiche Funktion des Ersetzten aufnimmt, d. h. die Investition in die Beständigkeit des Verhältnisses.60 Die Treue verlegt insofern das Problem der Verarbeitung der internen Differenz (so wie das Problem der Verarbeitung der externen Störungen) auf eine Metaebene, als sie sozusagen die Unbeständigkeit des liebenden Bewusstseins durch die Beständigkeit der Motivation ausgleicht: Die Treue dem Verhältnis gegenüber transzendiert in gewissem Maße die Ebene der direkten Verhandlung des Gleichgewichtes von Einheit und Selbstständigkeit, denn sie ist nämlich laut Simmel „ein eigner Seelenzustand [...], gerichtet auf den Bestand der Verhältnisses als solchen, und unabhängig von den spezifischen Gefühls- oder Willensträgern seines Inhaltes“61. Die Treue ist in diesem Sinne „die Brücke und Versöhnung für jenen tiefen, wesensmäßigen Dualismus, der die Lebensform der individuellen Innerlichkeit von der der Vergesellschaftung abspaltet“62: Eine Versöhnung, die innerhalb des Individuums, als „psychologisches Korrelat“ des Bestandes des Verhältnisses erfolgt, weil sie sich im Gefühl konkretisiert, das die Gestaltung der Liebe als „primäre“ Motivierung63 in eine soziale Form begleitet.64 Offensichtlich kann auch die Treue das Individuum zu internen Konflikten führen, z. B. wenn ihre Motivierungskraft nicht mehr ausgleichend genug wirkt. Es kann vorkommen, dass man seinem Engagement gegenüber eine gewisse Exteriorität oder Entfremdung empfindet. Allgemeiner betrachtet, kann das ausgeblendete, verarbeitete, einigermaßen beherrschte Fremde unerwartet wieder auftauchen und sowohl dem Intimsystem als kommunikative Einheit als auch dem selbstmotivierenden Individuum Schwierigkeiten bereiten.
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Die Erfahrung(en) der Fremdheit
B. Waldenfels besteht im Rahmen seiner Untersuchung des Fremden auf die Notwendigkeit von Erfahrungen des Fremden bzw. der Fremdheit zu sprechen anstatt von Fremderfahrung. Die Fragestellung sollte sich nicht auf die Definition des Fremden und der entsprechenden Erfahrung richten, sondern „den verschiedenen Formen der Fremdheit und den gegensätzlichen Bewältigungsweisen [gelten], mit denen wir auf die Herausforderung des Fremden antworten“65. In diesem Sinne bilden die verschiedenen Modi des Umgehens mit der internen Differenz nur einige mögliche Strukturen der Verwaltung der Erfahrung des Anderen in der Beziehung, von denen unterschiedliche Varianten vorkommen können. Und so sind auch die Möglichkeiten ihres Scheiterns, die wir jetzt betrachten werden, nur als Konstellationen, als allgemeine Erfahrungsmuster zu bezeichnen. Was das Fremde in der Liebe ist, versteht man nicht anhand einer vorwegnehmenden Definition, sondern am Platz, den es konkret in Angelegenheiten der Liebe einnimmt, d. h. an den Formen, unter denen es in der liebenden Wechselwirkung auftaucht. Die erkundeten Bewältigungsformen legen aber eine Feststellung nahe, die wir schon am Anfang angedeutet hatten: Das Fremde ist der Liebesbeziehung überhaupt nicht fremd, sondern es ist die dunkle Seite der mühsamen, unendlichen produktiven Herstellung der Einheit des Paares, der durch die Referenz auf das „Wir“ erfolgenden Grundunterscheidung zwischen Intimsystem und Umwelt. Die Fremdheit besteht am Anfang als Anlass der kreativen Erziehung eines Verhältnisses, im Lauf der Beziehung als negative Referenz der Beziehung bzw. als Paradoxie ihrer Einheit (als Einheit einer Differenz); die Fremdheit entwickelt sich zusammen mit der Vertrautheit insofern, als das Gemeinsame der Liebe nie wirklich das Eigene ist, und bleibt darum trotz aller Bemühungen einigermaßen fremd. Man könnte behaupten, dass der einzige Weg, dieses fortbestehende Fremde aufzulösen, wäre, die Paradoxie der Beziehungseinheit aufzuheben, d. h. die Differenz selbst. Aber, wie Simmel feststellt, dann wäre auch die Liebe aufgehoben.66 Die elementarste Form der Fremdheitserfahrung ist eben jene immer mögliche Erfahrung der internen, nur provisorisch ausgeblendeten Differenz als Differenz, und nicht als Einheit. Die Entfremdung kommt nämlich vor, wenn Meinungsunterschiede, kleine Konflikte usw. nicht unmittelbar in den Lauf der Kommunikation aufgenommen werden können (wie paradoxerweise auch bei Kollusionspaaren der Fall), sondern das gewöhnliche hergestellte Zusammenspiel irgendwie unterbrechen und das Gefühl der Unanschließbarkeit der Differenz erzeugen. Man empfindet dem anderen gegenüber eine gewisse Fremdheit: Einem fehlt die Orientierung. Auf diese Form der Entfremdung kann das System als solches antworten, z. B. durch die Anwendung der Metakommunikation, was auch die Gelegenheit bieten mag, die Regeln des gewöhnlichen Spiels in gewissem Maße zu ändern67,
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und die spezifische Bestimmung der Differenz, die eine Fremdheitserfahrung verursacht hat, wieder in die Kommunikation und ins ‚Können’ des Intimsystems aufzunehmen. Im Rahmen dieses Prozesses kann das Intimsystem auch auf die Möglichkeit der Unmöglichkeit der Kommunikation in Bezug auf die erlebte Entfremdungsangelegenheit stoßen: Das ist das Phänomen, das Luhmann als Inkommunikabilität bezeichnet. Sie kommt jedes Mal vor, wenn man schon allzu gut weiß, wie es in der Kommunikation laufen wird, und zwar gegebenenfalls weiß, dass sie schief gehen wird68: Darum kann man auf die Kommunikation ganz verzichten, weil einem bewusst ist, dass sie ‚quer’ vom anderen interpretiert werden und nicht so verstanden wird, wie sie gemeint wäre.69 In diesem Sinne „widerspricht“ die Inkommunikabilität der Intimität nicht, sondern „sie entspricht ihr“, sie fällt „mit der Ausdifferenzierung“ der Intimsysteme zwangsläufig an.70 Die Inkommunikabilität entsteht aus der tiefen gegenseitigen Kenntnis der Partner und macht darauf aufmerksam, dass man sozusagen weiß, dass man sich zu gut kennt, um nicht zu wissen, dass man sich einigermaßen fremd bleibt. Insofern ist es in der Tat auch ein Weg, dem Fremden auszuweichen: Die Gefahr der Fremdheit steht da und wird wahrgenommen, der Wahl, einen Umweg zu nehmen, liegt diese Wahrnehmung zugrunde. Die Erfahrung der Möglichkeit der Unmöglichkeit einiger Aspekte der Intimkommunikation, die Wahrnehmung permanenter Hemmungen kann auch zur Erfahrung der Inkompatibilität führen, die von Luhmann als die Entdeckung der Möglichkeit der Unmöglichkeit der Liebe71 bezeichnet wird, so wie er die Inkommunikabilität als wichtige Errungenschaft der Evolution des Mediums Liebe bezeichnet.72 Es kann also vorkommen, dass man eine Entfremdung der Beziehung gegenüber erlebt. Der Weg bis zur Anerkennung der Inkompatibilität ist lang und muss eigentlich nicht bis zu den letzten Konsequenzen führen – d. h. er kann sich endlos in der Wiederholung von Entfremdungserfahrung weiter entwickeln. Die Trennung ist nicht bei jedem Paar und in jeder Situation die bevorzugte (oder zu bevorzugende) Lösung, sondern die Intimbeziehung ist fähig und kann immer fähiger werden, zahlreiche Fremdheits- und Inkompatibilitätserfahrungen zu tolerieren und zu assimilieren. Auf diesem Weg liegt zum Beispiel die von Simmel herausgestellte Erfahrung der Trivialität. Simmel stellt fest, dass die Beziehungspersonen einen großen Wert auf die Einzigartigkeit ihrer Beziehung legen – was wir in Bezug auf unsere Fragestellung auch als ein Korrelat der zu erzeugenden Einheit betrachten könnten. Erotische Beziehungen bekommen durch die Vorstellung: „Eine Liebe wie diese habe es überhaupt noch nicht gegeben, weder mit der geliebten Person noch mit unserer Empfindung sei irgend etwas zu vergleichen“73, und allgemeiner: „Ein solches Erlebnis habe es überhaupt noch nicht gegeben“, einen „besonderen und bedeutsamen Timbre, ganz über ihren sonst angebbaren Inhalt und
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Wert hinaus“74. Das „Entschwinden“ dieses „Einzigartigkeitsgefühl[s]“ in der Beziehung kann zur Erfahrung der Trivialität führen: Die Wahrnehmung, es ist ein „tausendmal dagewesenes Erlebnis“, das man wieder erlebt und „wenn man nicht zufällig eben dieser Person begegnet wäre, [hätte] irgend eine andre die gleiche Bedeutung für uns gewonnen“.75 In diesem Zusammenhang verweist die überfallende Erfahrung der Trivialität auf die Tatsache, dass „das Zweien Gemeinsame vielleicht niemals bloß ihnen gemeinsam ist, sondern einem allgemeinen Begriff zugehört, der noch viel andres einschließt, viele Möglichkeiten des Gleichen“76. Man spürt, dass auch in der tiefsten Intimität zweier einzigartiger Individuen etwas wiederholt wird, dass die Form selbst, die jene Intimität annimmt, vielen anderen auch gehört, sowohl in der Geschichte als auch in der Gleichzeitigkeit und in der Zukunft. Simmel meint, dass jene Erfahrung der Trivialität „die generellere, mindestens die unüberwindlichere Fremdheit, als die durch Differenzen und Unbegreiflichkeiten gegebene“ sein kann.77 Man erlebt unmittelbar und vor allem emotionell das, was Waldenfels als das Ineinandersein von Eigenem und Fremdem, d. h. als Präsenz eines sozialen „Dritten“ bezeichnet hat, das zwischen Eigenem und Fremdem vermitteln kann.78 Die Möglichkeit des Antwortens auf das Fremde ist auf dieses Dritte angewiesen, das nicht Ich und nicht Du ist, aber immer da ist, wenn Ich und Du zusammen sind – und vor uns da war und nach uns da sein wird und nur einigermaßen für uns da ist. Das Angewiesensein auf die Wiederholung dessen, was jenes Dritte vorschreibt und vorbereitet, ist dann als entfremdend gegenüber der eigenen Erfahrung erlebt. Mit Simmels Worten, erlebt man, dass „eine Gleichheit, Harmonie, Nähe besteht, aber mit dem Gefühle, dass diese eigentlich kein Alleinbesitz eben dieses Verhältnisses ist, sondern ein Allgemeineres, das potenziell zwischen uns und unbestimmt vielen Andern gilt und deshalb jenem allein realisierten Verhältnis keine innere und ausschließende Notwendigkeit zukommen lässt“.79
Diese Erfahrung der Fremdheit der Beziehung gegenüber kann nicht nur jene allgemeine Form der Beziehung und der Intimität als Nicht-Eigenes betreffen, sondern auch die internen Ereignisse und Mechanismen der Beziehung selbst. So ist wie gesagt die innere Bedeutung eines Verhältnisses nicht „für seine Träger von dem Faktor des Wievielmal unabhängig“, wobei aber dieses „Wievielmal“ auch „die Repetitionen der gleichen Inhalte, Situationen, Erregungen innerhalb des Verhältnisses selbst bedeuten kann“: „Mit der Empfindung der Trivialität begleiten wir ein gewisses Maß von Häufigkeit, von Bewußtsein der Wiederholtheit eines Lebensinhaltes, dessen Wert grade durch ein Mass von Seltenheit bedingt ist“80. Die erwähnte Erfahrung der Inkommunikabilität kann also auch von der Empfindung der Trivialität begleitet werden und insofern frustrierender sein.
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Ganz wichtig ist in Hinsicht auf unser theoretisches Vorhaben Simmels Bemerkung, laut derer die Tatsache, dass in Zweierbeziehungen „der Ton der Trivialität oft zur Verzweiflung und zum Verhängnis wird“, den „soziologischen Charakter der Zweierformungen“ beweist: Solche Formungen neigen nämlich dazu, „sich an die Unmittelbarkeit der Wechselwirkung zu binden und jedem der Elemente die überindividuelle Einheit vorzuenthalten, die ihm gegenübersteht, indem es zugleich an ihr teil hat“81. Die Fremdheit der Beziehung kann letztendlich, wie schon angedeutet, auch als Entfremdung sich selbst gegenüber empfunden werden, was auf die Pluralität des Selbst, auf die Mannigfaltigkeit der „Facetten der Identität“82 verweist. Die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen die Akteure interagieren, erleben, handeln usw., lösen einige Aspekte (Gewohnheiten, einverleibte Erfahrung, Erinnerungen, Konflikte, Bedürfnisse, Motive usw.) deren Persönlichkeiten aus und inhibieren andere Aspekte, die latent bleiben, um gegebenenfalls später – oder vielleicht nie83 – wieder aufzutauchen. In seiner o. g. Analyse der Herstellung des gemeinsamen Haushalts durch die praktische Bestimmung von Regeln, Prioritäten und Ordnungen betont Kaufmann, wie diese Arbeit einen starken Einfluss auf die Verarbeitung der Persönlichkeiten der Beteiligten ausübt. Das Ich setzt sich laut Kaufmann „aus vielen Facetten“ zusammen: Die Akteure sind „zwischen gegensätzlichen Interaktionskräften“ gefangen, verfügen über ein „Erbe heterogener Gewohnheiten“ und sind „zugleich ständig mit dem Entwurf von Zukunftsbildern beschäftigt, die sich von ihrer Gegenwart abheben“: „Die hergestellte Einheit ist immer nur vorläufig und hängt von einem präzisen sozialen Kontext ab“84, obwohl die Akteure sich normalerweise auf eine Selbstwahrnehmung der eigenen ‚Einheit’ stützen können. Jene Einheit ist in der Praxis erzeugt und ist auf deren Kontexte angewiesen. Das Selbst kann darum Verdoppelungs-, Fluktuanz-, Destabilisierungsphänomenen unterliegen, je nachdem, welche Veränderungen seiner Konstellation jene Kontexte hervorrufen (z. B. das Annehmen oder Ablegen einer Gewohnheit). Auch die Selbstidentifizierung kann in diesem Sinne in ihrer Sicherheit erschüttert werden: Nicht nur in einer gewissen Situation findet man sich nicht (mehr) zurecht, sondern im Selbstbild, das jene Situation widerspiegelt. Dies kann man als Selbstentfremdung bezeichnen. Wie von Kaufmann festgestellt, besitzt das Subjekt nicht „die Fähigkeit, die Anzeichen seiner Vielfalt zu bemerken, sondern bemerkt nur einfache Gegensatzpaare, Verdoppelungen seiner Persönlichkeit, die häufig sehr stark phasenbedingt sind“85. Eine Verdoppelung des Selbst und die entsprechende Selbstentfremdung können z. B. erlebt werden, wenn man in Kontexten der Intimwechselwirkung zu Aussagen oder Reaktionen ‚geführt’ wird, in denen man sich kaum wiedererkennen kann. Das intime Zusammenspiel kann dann insofern entfremdend sein, als man wahrnimmt, dass man nicht alles im Griff hat, d. h. beispielsweise, dass die eigenen Mitteilungen und Handlungen eine ganz andere
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Bedeutung erhalten als die, die gemeint war; oder dass man selbst etwas macht und sagt, das man sofort oder sogar zugleich bereut („Ich meinte nicht ...“, „Ich hatte nicht vor ...“, „Wie konnte ich ...“ usw., bis zum: „Das war ich wirklich nicht“). Die systemische Insistenz auf die Einheit in der Intimbeziehung, oder anders gesagt die intime Interaktion mit einer geliebten Person, kann in verschiedenen Zeiten und Zusammenhängen diese Spannungen verschärfen, in Bezug auf den Vergleich zwischen unterschiedlichen gleichzeitigen Selbstbildern oder auf den Gegensatz zwischen Handlungen und Erlebnissen, die sich nicht auf denselben Sinn und entsprechenden Selbstentwurf zurückführen lassen. Dieses Phänomen lässt sich makroskopisch beobachten bei jenen Paaren, deren Hauptbeziehungsthema die gegenseitige Fremdheit ist, oder bei denen zumindest die Fremdheit eine explizite und reflektierte, strukturierende Rolle spielt: interkulturelle oder binationale Paare, die auf einer kulturellen und/oder religiösen Differenz beruhen. Ob aus Stolz, aus Glück, aus Scham, aus Unzufriedenheit oder aus Evidenz, in jenen Paaren wird auf diese Differenz, eben als Spielraum der Fremdheit, ständig ein gewisser Wert gelegt: Das Fremde bedeutet Faszination, Bereicherung, Entdeckung; aber auch mühsame Auseinandersetzung mit Anderem, kommunikative Schwierigkeiten, spürbare, konkrete, thematisierbare Differenz. Die Zweideutigkeit der Fremdheit kann in diesem Zusammenhang nicht so leicht abgemildert werden: Die Behauptung der Fremdheit als Wert und ‚Vorsprung’ des Paares schließt unmittelbar auch ihre Unterscheidungsfunktion aus. Anders gesagt, dass die interne Differenz durch den Verweis auf die kulturelle bzw. religiöse Differenz makroskopisch wird, bedeutet auf der einen Seite, dass sie sich besser behandeln lässt, weil sie auf jene makroskopische Erklärung zurückgeführt werden darf (was in gewissem Maße die Beziehung entlasten kann, indem die Beteiligten sich der ‚persönlichen’ Verantwortung entziehen können); auf der anderen Seite, dass sie aber eben nicht ausblendbar bleibt, und insofern als besonders konfliktträchtig empfunden werden kann. Die ganz nachvollziehbare Tendenz der interkulturellen Paare, sowohl ihre gegenseitige Ergänzung und Bereicherung als auch ihre Konflikte auf die interne kulturelle bzw. religiöse Differenz zurückzuführen und ihr zuzurechnen,86 erzeugt eine Oszillation zwischen den zwei Polen, deren unterschiedliche Intensität von der jeweiligen spezifischen Geschichte und Entwicklung eines jeden Paares abhängt. In diesem Sinne wendet das Paar die Kategorie „Fremdheit“ auch in gewissem Maße als empfangene kulturelle Konstruktion an, als allgemeine Form des Verständnisses und der Erfahrung des Anderen, der das Paar sich bedient, um sie zugleich auf seine Weise einigermaßen, durch seine individuelle Geschichte und die spezifischen Modi seiner Wechselwirkung, zu „dekonstruieren“.87 In Bezug auf die Erfahrung der Fremdheit betont O. Schäffter, wie die Ordnungsstruktur komplexer Systeme (denen wir das Intimsystem allgemein zurechnen können) wirklich produktiv wird, wenn sie nicht in „der schützenden
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Abgrenzung des Eigenen nach außen“ besteht, sondern „in der Regelung von Prozessen einer Verinnerlichung des Äußeren und einem Entäußern von Innerem“. Dementsprechend bildet sich die Erfahrung von Fremdheit in solchen Systemen als ein bereicherndes „Zusammenspiel von Aneignung von Fremdem mit struktureller Selbstveränderung“: Bei diesem Zusammenhang der „Fremdheit als Ergänzung“ liegt aber das Risiko des Fremdkontaktes in dessen Bezug auf den „jeweiligen internen Entwicklungszustand“ des Einzelnen. Es geht, anders gesagt, „um temporale Probleme einer gegenseitigen Anschlußfähigkeit von Entwicklungen”: Die Kontingenz dieser Entwicklungen bedingt die Möglichkeit der positiven Aneignung des Fremden durch Selbstveränderung.88 Hinsichtlich unserer These zeigt sich dies als eine potentiell positive Leistung jeden Paares, je nach den verschiedenen Stufen der Interpenetration und des gegenseitigen offenen Über-sich-hinaus-Gehens. Und insofern mag es zugleich eine allgemeine Quelle der Gefährdung des gegenseitigen Verstehens sein, wenn die jeweiligen persönlichen Entwicklungen nicht übereinstimmende Bedürfnisse, Erwartungen, Bedeutungen, Gedanken usw. ans Licht bringen – wie es schon angedeutet wurde. Genau in diesem Rahmen lassen sich solche Bewegungen bei interkulturellen Paaren makroskopisch beobachten: Die Stimmigkeit der Entwicklungen oder die Bereitschaft der Partner, fremde Einstellungen oder Weltanschauungen aufzunehmen, kann, aufgrund der bedeutsameren Dimensionen der ursprünglichen internen Differenz, wichtige und tiefe Veränderungen des eigenen Weltverhältnisses und des Lebensentwurfes der Einzelnen erzeugen – was M. Menz anhand des Begriffes „biographisches Lernen“ an konkreten Fällen untersucht hat.89 In diesem Falle entspricht der Aneignung des Fremden jene von Waldenfels gewünschte Enteignung durch das Fremde90, die den Austausch intensivieren kann. Dementsprechend können aber, in anderen Phasen der Beziehungsentwicklung, die Motive der Unstimmigkeit der Auseinandersetzung auf der negativen Seite der Fremdheit kumulieren und einer Kristallisation unterliegen, die auch in diesem Falle intensiver sein mag als bei den Paaren, die über jene ‚zusätzliche’ Differenz nicht verfügen.
4.
Zusammenfassung. Eine Fruchtbarkeit des Fremden in der Liebe?
In den vorherigen Abschnitten haben wir versucht, mithilfe von einigen soziologischen Analysen der Problematik, das Zusammengehören von Liebe als Interaktion und Beziehung und Fremden als theoretische und praktische Unmöglichkeit einer Einebnung der internen Differenz zu erörtern, die zwischen den Liebenden nicht nur als Störung, sondern vor allem als „Entzündung“ besteht und die Intensivierung ihrer kommunikativen Intimität ermöglicht.
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Erstens (1) wurden einige theoretische Voraussetzungen von der Systemtheorie aufgenommen, die besonders ausführlich erklären können, welche Rolle die interne Differenz im Intimsystem spielt und vor allem aus welchem Grund es für das Intimsystem von höchster Wichtigkeit ist, die fortbestehende Differenz, auf der es basiert, ständig auszublenden. In seinen Operationen auf die Grenze zwischen ihm und der Umwelt für seine Definition angewiesen, arbeitet das System mit der ununterbrochenen Behauptung dieser externen Differenz bzw. der internen, vom Liebescode selbst vorgeschriebenen Einheit: „Wir zwei/Rest der Welt“ liegt jeder kommunikativen Operation des Systems zugrunde, und wird zugleich von ihr reproduziert – oder das System als solches gerät in Schwierigkeiten. Es handelt sich aber, wie gesagt, nur um eine operative Einheit: Wie vom Beispiel des Attributionskonfliktes gezeigt, besteht die interne Differenz fort und gewährleistet, dass die Kommunikation im System stattfindet. Trotzdem arbeitet das System mit der Vorstellung der Einheit, und zwar so, dass es auch in gewissem Maße die Illusion der Einheit erzeugt (2). Einige Modi der auf die Herstellung dieser Illusion zielenden Differenzenverarbeitung wurden dann analysiert. Wie von P. Fuchs herausgestellt, leisten die beteiligten Bewusstseine eine systematische Ausblendung der Idiosynkrasien: Das Intimsystem bildet sich als ein ignorantes System, das viel übersieht, um mit reduzierten Störungen operieren zu können. Neben diesem ‚negativen’ Aspekt der Herstellung der Einheit gibt es aber auch einen positiven: Das Paar neigt dazu, Konsens und Einigkeit zu unterstellen, solange keine Information dieser Unterstellung widerspricht. Diese Konsensfiktion (A. Hahn) bedeutet einen deutlichen Gewinn an Kommunikations- und Handlungssicherheit, die aber kein anderes konkretes Fundament als jene Unterstellung hat, d. h., dass sie weder verhandelt wurde noch nachgeprüft wird, bis man auf ihre Grundlosigkeit stößt und den Konsens dann offen aushandeln muss. Wie auch J.-C. Kaufmanns Untersuchungen über die Konstruktion der Haushaltsordnung des Paares beweisen, erfolgt die Erzeugung der Einheit durch unterstellten Konsens nicht in der Diskussion, sondern in der Praxis. Der Kristallisierung von gemeinsamen Gewohnheiten, Routinen, Handlungsschemata entspricht die Kristallisierung einer gemeinsamen Identität, eines „Wir“, das sich wieder in der Art und Weise, wie das und jenes „von Uns“ oder „bei Uns“ gemacht wird, widerspiegelt. Zur Herstellung des Wir gehören gehört auch die Verarbeitung der Beziehungsgeschichte, die auch eine gewisse „Beziehungsmythologie“ enthält, und des Beziehungsthemas, das in manchen Fällen auch eine pathologische („kollusive“) Konfiguration annehmen kann. Eine letzte Form der Verarbeitung der Differenz, die wir in Betracht gezogen haben, ist die Treue als emotionelles „Beharrungsvermögen der Seele“ (G. Simmel), die dazu beiträgt, die inneren Unbeständigkeiten der Bewusstseine auszugleichen. Wenn diese – oder weitere – Modi der Verarbeitung der internen Differenz scheitern, taucht die Differenz in den unterschiedlichsten Formen auf (3). Von
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den winzigsten Meinungsunterschieden bis zur Selbstentfremdungskrise, durch die Facetten der Inkommunikabilitäts- und Inkompatibilitätserfahrung, tritt das Fremde unerwartet hervor, wo bisher Einheit und Einigkeit waren, und setzt sich mit unterschiedlicher Kraft durch. Nun können wir unsere Fragestellung mit einigen Schlussbemerkungen ergänzen. Obwohl die tradierte Liebessemantik und die entsprechende Vorstellung der Liebe, die die potentiellen und aktuellen Liebenden besitzen, eine Art totaler Transparenz und unmittelbarer Verständigung vorschreiben, ist das Fremde der Liebe in der Tat offensichtlich nicht entgegenzusetzen, sondern müsste als ein wichtiger Bestandteil von ihr anerkannt werden. Das Verbleiben eines gewissen Maßes an Fremdheit, das Hervortreten von Entfremdungserfahrungen muss nicht unbedingt mit Frustration erlebt und als Scheitern der Beziehung betrachtet werden. Jene Anerkennung könnte im Gegenteil die günstigen Bedingungen schaffen, um ein positiveres Verhältnis zu den Differenzen in der Liebe zu entwickeln. Wenn das Paar bzw. das ‚Programm’ des Intimsystems als soziales System in der Lage ist, interne Differenzen zu tolerieren und aufzunehmen, ohne durch sie kritisch gefährdet zu werden, besitzt das fortbestehende Fremde in Liebesangelegenheiten zweifelsohne ein positives Potential. Hier werde ich nur zwei Beispiele dieses Spielraums des Fremden anführen. In Bezug auf die soziale Funktion der verschiedenen Formen des Geheimnisses betont Simmel den positiven Wert der Diskretion innerhalb der Liebesbeziehung und der Ehe. Ob „das Maximum von Gemeinsamkeitswerten“ dadurch erreicht wird, „daß die Persönlichkeiten ihr Fürsichsein gänzlich aneinander aufgeben“ oder „gerade umgekehrt durch ein Zurückbehalten“, d. h. ob sie „sich nicht etwa qualitativ mehr gehören, wenn sie sich quantitativ weniger gehören“, ist laut Simmel auch eine soziologische Frage nach der Form der intimen Verhältnisse. Die Idee der Ehe als „Gemeinsamkeit aller Lebensinhalte“ gehört nicht nur der romantischen Vorstellung, sondern auch der (damaligen) Soziologie an: Diese gepflegte Idee bereitet in der Tat den Akteuren „schwere Enttäuschungen“, wenn „die absolute Einheit von vornherein antizipiert wird“91, statt als ein endloser Prozess betrachtet und behandelt zu werden. Wenn „Verlangen wie Darbieten keinerlei Zurückhaltung kennt“ und das Paar eine totale, ‚blinde’ Einheit anstrebt, übersieht es eben, dass „das Glück und die innere Lebendigkeit des Verhältnisses“ auf die „Unbeendbarkeit“92 der Konstruktion der wechselseitigen Kenntnis angewiesen ist: „die bloße Tatsache des absoluten Kennens [...] lähmt die Lebendigkeit der Beziehungen und läßt ihre Fortsetzung als etwas eigentlich Zweckloses erscheinen. [...] An diesem Mangel gegenseitiger Diskretion, im Sinne des Nehmens wie des Gebens, gehen sicher viele Ehen zugrunde, d.h. verfallen in eine reizlos-banale Gewöhnung, in eine Selbstverständlichkeit, die keinen Raum für Überraschungen mehr hat. Die fruchtbare Tiefe der
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Beziehungen, die hinter jedem geoffenbarten Letzten noch ein Allerletztes ahnt und ehrt, die auch das sicher Besessene täglich von neuem zu erobern reizt, ist nur der Lohn jener Zartheit und Selbstbeherrschung, die auch in dem engsten, den ganzen Menschen umfassenden Verhältnis noch das innere Privateigentum respektiert, die das Recht auf Frage durch das Recht auf Geheimnis begrenzen läßt“.93
Insofern bildet also Simmels Idee der Diskretion einen positiven Spielraum der Fremdheit, als sie „Respekt“ und „Selbstbeherrschung heißt“, als sie „Raum für Überraschung“ schafft. Den Partnern muss der Wert dieser Diskretion und dieses absichtlichen Sicheinlassens auf das Unerwartete bewusst sein. Ihre gemeinsame, diskretionsvolle Arbeit an ihrer Differenz kann sie dann nicht nur vor Enttäuschungen schützen, die von falschen Vorstellungen verursacht werden; sondern auch ihr Verhältnis und ihre Gefühle positiv lebendig halten, indem die Fremdheit eines Intimen reizvoll und faszinierend sein kann. Das zweite Beispiel ist die Form der Liebesbeziehung, die von N. Luhmann als „Programm des Verstehens“ bezeichnet wurde. Als Merkmal und Synthese der heutigen Liebessemantik schreibt das Programm des Verstehens vor, dass in der Beobachtung eines Systems die Umwelt und das Umweltverhältnis dieses Systems, die „Kontingenzen und Vergleichsschemata in Bezug auf die im System beobachteten Nachrichten als Selektionen erlebt und behandelt werden“ und die „Selbstdarstellungsnotwendigkeiten“ des System einbezogen werden.94 Dies bedeutet, dass ich versuche, wenn ich den geliebten anderen beobachte, seine Welt, seine Vorstellungen, seine Erwartungen, seine Motive als seine zu berücksichtigen und dadurch meine Interpretation zu mildern, dass ich verstehe, wie das alles in seiner Umwelt vorkommt – und nicht nur in meiner, durch die Interpenetration, die uns verbindet. So Luhmann: „Die Eigenart des anderen, den man liebt und auf den hin man Welterfahrungen aufnimmt und handelt, wird als Resultat von Enttäuschungsverarbeitung in den eigenen Lebenssinn übernommen, und zwar speziell in den Hinsichten, in denen er anders ist als man selbst“95. Die wechselseitige Kenntnis kann also helfen, nicht den Wahn der Aufhebung und der Einebnung der Differenz zu pflegen, sondern die immer mögliche und immer wieder auftauchende Fremdheit zu akzeptieren: auf das Fremde nicht nur durch die Aneignung, sondern durch die Selbstauslieferung an das Fremde („Enteignung“) zu antworten.96 Ein verständnisvolles Verstehen muss nämlich versuchen, den beobachteten anderen als anderen anzunehmen, durch das, was keine vollkommene Identifikation sein kann (der andere werde ich keineswegs), sondern eine Komprension, die den Beobachter auch zu einer Selbstobjektivierung führt: zu einer Distanzierung von der emotiven Verwicklung in der Beobachtung, zu einer kritischen Einstellung seinen Erwartungen gegenüber (eben als Korrelat jener Enttäuschungsverarbeitung), zu einer geduldigeren Selbst- und Fremdbeobachtung, zu einer Akzeptanz der Transzendenz der Beziehung gegenüber den individuellen Ansprüchen und Bedürfnissen usw.
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Dieser Verstehensversuch kann natürlich auch heißen, dass ich trotz aller Anstrengungen nicht verstehe, wie der andere denkt und handelt. Aber auch wenn die Inkomprension – die Fremdheit – fortbesteht und Probleme verursacht, kann eine fremdenfreundliche Liebe sich eben dadurch zeigen, dass niemand dafür schuldig gemacht wird. Dass man, anders gesagt, die Unschuldigkeit des Fremden97 in der Liebe durch die Liebe behauptet.
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Für die Hilfe bei der sprachlichen Verarbeitung des Textes möchte ich mich bei Emanuel Herold herzlich bedanken. Ich bin auch den Organisatoren, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern und dem Publikum der Tagung für ihre Fragen und Anregungen sehr dankbar. Diese Forschungsarbeit wurde durch die Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert. A. HAHN, Die soziale Konstruktion des Fremden, in: W. M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann, Frankfurt am Main 1994, S. 140-66, hier S. 140. Das betont auch Schäffter: „Erst wenn Grenzen zu Kontaktflächen werden, wird Fremdheit zu bedeutsamer Erfahrung. So läßt sich festhalten, daß nur dann, wenn wir uns näher gekommen sind, die Fremdheit des anderen überhaupt erst in Erscheinung tritt. Fremdheit ist daher keine Eigenschaft von Dingen oder Personen, sondern ein Beziehungsmodus, in dem wir externen Phänomenen begegnen“ (O. SCHÄFFTER, Modi der Fremderlebens, in: Ders. (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, S. 11-42, hier S. 12). Die Liebe ist ein Kommunikationscode, „nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird“ (N. LUHMANN, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1982, S. 23). LUHMANN, Liebe als Passion, S. 25. „Die stabile Komponente in all diesen Transformationen ist ein Interesse an sozialen Formen, die der zunehmenden Individualisierung der Einzelperson und der Anerkennung dieser Individualität in sozialen Kontakten Rechnung tragen können“ (N. LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 306). LUHMANN, Liebe als Passion, S. 25. P. FUCHS, Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme, Konstanz 1999, S. 43ff. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 43. Das Intimsystem ist dann ein soziales System „der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung, in der jede Information die Einheit der gemeinsamen Welt bestätigen soll und daher jede Information die Information der Differenz aufbrechen lassen kann“ (LUHMANN, Liebe als Passion, S. 219). Diese Differenz, aus Sicht jedes Teilsystems „Person“ her betrachtet, ist die Differenz zwischen dessen Umwelt und anderen psychischen Systemen (d. h. Personen) bzw. einem anderen psychischen System innerhalb dieser Umwelt: die Hervorhebung und totale Berücksichtigung eines anderen Menschen, die Liebe heißt.
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10 LUHMANN, Liebe als Passion, S. 222. 11 LUHMANN, Soziale Systeme, S. 304. 12 Luhmann erklärt die Funktionsweise des Mediums Liebe (so wie der anderen symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien) anhand der attributionstheoretischen Unterscheidung zwischen Erleben und Handeln: Die Asymmetrie von Erleben und Handeln ist auf unterschiedliche Zurechnungsmöglichkeiten angewiesen (in Bezug auf die Umwelt für das Erleben, in Bezug auf das System selbst für das Handeln: vgl. LUHMANN, Soziale Systeme, S. 123ff.). Im Medium Liebe wird Egos Handeln von Alters Erleben ausgelöst, und zwar so, dass die Asymmetrie für die Kommunikation insofern von Belang ist, als die Wahl, die sie erfordert, die Liebe selbst bzw. die Möglichkeit der Reproduktion des Intimsystems testet: „Der Liebende, der idiosynkratische Selektionen bestätigen soll, muß handeln, weil er sich mit einer Wahl konfrontiert findet [scil. die idiosynkratische Selektion abzulehnen oder anzunehmen, C. P.]; der Geliebte hatte dagegen nur erlebt und Identifikation mit seinem Erleben erwartet“ (LUHMANN, Liebe als Passion, S. 26ff.). 13 LUHMANN, Liebe als Passion, S. 219f. 14 Es handelt sich um eine ständige Reaktualisierung des „In-der-Welt-des-anderen-Vorkommen-und-daraufhin-handeln-Können[s]“, was erfordert, „daß der Handelnde sich beobachtbar macht als einer, der seine Gewohnheiten und Interessen überschreitet“: In diesem Sinne kann nur „kontinuierliche Aufmerksamkeit und Dauerhandlungsbereitschaft im Blick auf den anderen“ die Liebe symbolisieren (LUHMANN, Liebe als Passion, S. 43f.). 15 G. SIMMEL, Über die Liebe (Fragment), in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 20, Frankfurt am Main 2004, S. 116-75, hier S. 167. 16 LUHMANN, Liebe als Passion, S. 220. 17 Die attributionstheoretische Sicht (vgl. Anm. 9) ermöglicht, das Konfliktpotential von angeblich neutralen Zusammenhängen zu erklären, indem sie „von beobachtbarem Verhalten“ ausgeht und die Frage stellt, „wie Personen dieses Verhalten auf seine eigentlichen Ursachen zurechnen“. So stellt man fest, dass Beobachter „stärker auf Personmerkmale“ zurechnen, und dass dies „verstärkt“ für Beobachter gelten dürfte, „die Vertrauen oder Liebe testen und wissen möchten, ob sie mit stabilen Haltungen auf der anderen Seite rechnen können“ (LUHMANN, Soziale Systeme, S. 307f.). 18 „Die Ehen werden im Himmel geschlossen, im Auto gehen sie auseinander. Denn derjenige, der am Steuer sitzt, richtet sich nach der Situation und fährt, wie er meint, auf Grund seines besten Könnens; aber der, der mitfährt und ihn beobachtet, fühlt sich durch die Fahrweise behandelt, führt sie auf Eigenschaften des Fahrers zurück. Er kann nur in einer Weise handeln, nämlich kommentieren und kritisieren; und es ist wenig wahrscheinlich, daß er dabei die Zustimmung des Fahrers findet“ (LUHMANN, Liebe als Passion, S. 42; vgl. auch DERS., Soziale Systeme, S. 308f.). 19 LUHMANN, Liebe als Passion, S. 42f. 20 Ebd., S. 198. 21 In einem früheren, vor Kurzem veröffentlichen Beitrag über die Liebe stellte Luhmann die Verarbeitung der Konflikte in der Ehe etwas anders dar. Meinungskonflikte gelten in der Ehe als „Symptome oder als Symbole, oder als Waffen“ für einen „tieferliegenden Konflikt“, den Luhmann als auf der Ebene „des Erwartens von Erwartungen“ liegenden Konflikt beschreibt, der potentiell „die Liebe ruiniert“. Die Relevanz eines Streits lässt sich an der Frage messen, „welche Erwartungen man in bezug auf die Erwartungen des anderen hegen kann“: Aufgrund des Vorrangs dieser Frage, d. h. des unentbehrlichen Verweises auf die Ebene der Beziehung, können Meinungskonflikte (Luhmann fügt hin-
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zu: „in guten Ehen“) entweder unterdrückt oder genau auf jene Ebene „umsteuert“ werden, nämlich in einen Konflikt von „Erwartungserwartungen“ umgesetzt werden (N. LUHMANN, Liebe. Eine Übung, Frankfurt am Main 2008, S. 60f.). Man sieht, dass diese Auffassung im Wesentlichen schon dem entspricht, was Luhmann später mit der Sprache der Attributionstheorie zum Ausdruck bringen wird. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 220. B. WALDENFELS, Antwortregister, Frankfurt am Main 1994, S. 423. Auf das konkrete Zusammenspiel von Lernen und Übersehen innerhalb dieses Prozesses hat mich E. Herold aufmerksam gemacht. A. HONNETH, Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt am Main 2003, S. 26. Ohne die operative Bedeutung der internen bzw. externen Differenz deutlich zu betonen, stellt Luhmann in seinem früheren Beitrag über die Liebe schon heraus, dass die Insistenz auf die gemeinsame Systemgeschichte dem Konflikt in der Ehe „einen bestimmten Schwerpunkt“ verleiht, der „auf der Ebene des Erwartens von Erwartungen liegt“ (vgl. auch oben, Anm. 21). Dies bedeutet, dass jeder Meinungskonflikt im Prinzip auch die Übereinstimmung der Erwartungen gefährden kann; aber auch, dass diese Übereinstimmung erst anhand jener Insistenz aufgebaut werden kann: Von der Ebene der Erwartungserwartungen aus kann eben, fügt Luhmann hinzu, „der faktisch vorhandene Konsens erfolgreich überschätzt, also generalisiert werden“ (LUHMANN, Liebe. Eine Übung, S. 60). FUCHS, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 15. In seiner Analyse der Identitätsverarbeitung in der Beziehung bedient sich K. Lenz u. a. der theoretischen Werkzeuge E. Goffmans und stellt diesbezüglich den Unterschied der Selbstdarstellungsritualien in der Zweierbeziehung in Vergleich zu denen, die in der Öffentlichkeit stattfinden, heraus (K. LENZ, Die Soziologie der Zweierbeziehung, Opladen-Wiesbaden 1998, S. 193). Das gilt aber nicht nur für das Nichtsehen und Nichtmerken, das Fuchs betont, sondern auch in einem konstruktiven Sinne, weil die Möglichkeit eines differenzierten Ausdruckspotentiales eine entsprechende differenzierte gemeinsame Wirklichkeit erzeugt, in der die jeweiligen Identitäten der Beziehungspersonen innerhalb der Wechselwirkung aneinander orientiert werden. FUCHS, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 30f. „Wichtig bleibt, daß die Anschlüsse im WIR-ZWEI/Rest-der-Welt-Modus errechnet werden. Und daß genau deswegen ein blinder Fleck auftritt, in dem übersehen wird, daß das Bewußtsein auch ein Rest der Welt ist, insofern es unentwegt denkt und nicht unentwegt liebt“ (FUCHS, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 76). FUCHS, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 75. J.-C. KAUFMANN, Casseroles, amour et crises: ce que cuisiner veut dire, Paris 2005; DERS., Mit Leib und Seele. Theorie der Haushaltigkeit, Konstanz 1999; DERS., Schmutzige Wäsche, Konstanz 1994. KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, S. 72; Hervorhebung durch C. P. A. HAHN, Konsensfiktionen in Kleingruppen. Dargestellt am Beispiel von jungen Ehen, in: F. Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie. Perspektiven und Materialien (= Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 25), Köln 1983, S. 210-32. Ebd., S. 214. Ebd., S. 222. Hahn verweist z. B. so wie Luhmann auf die von der Attributionstheorie beschriebene Asymmetrie zwischen Erlebendem und Handelndem, die eine unterschied-
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liche Beteiligung an der Situation bedeutet und infolgedessen sich auch in unterschiedlichen Erinnerungen kristallisieren kann (ebd.). Ebd., S. 221. KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, S. 75. Ebd., S. 69. „Man tut, als kenne man sich. Aber ‚sich kennen’ tut man nicht und deshalb gilt es, sich gegenseitig sehr, und dies sehr schnell, zu gefallen, dem gegenüber zu gefallen und zu ignorieren, was nicht gefällig ist. So kommt es, daß sich die Fremdheit verflüchtigt [...]. Nichts, fast nichts schockiert wirklich“ (KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, S. 70). „Allein die Tatsache, daß man zusammenlebt, auf die Ereignisse reagiert und die tausend kleinen Probleme des Alltags lösen muß, bringt ein Paar dazu, auf dem Weg zu einer stärkeren Integration immer weiter voranzuschreiten, seine Organisation zu vervollkommnen und das Anspruchsniveau anzuheben“ (KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, S. 101). KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, S. 107. Ebd., S. 169. Ebd., S. 229. Laut Hahn basiert die gesellschaftliche Kommunikation selbst auf „intersubjektiver Ignoranz. Das, was an Verstehen möglich ist, gründet auf Nicht-Wissen und insofern Nicht-Verstehen“ (HAHN, Die soziale Konstruktion des Fremden, S. 145; vgl. auch ebd., S. 149 und A. HAHN, „Partizipative“ Identitäten, in: H. Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 115-58). Zu diesem Thema allgemein und in Bezug auf die Liebesbeziehung siehe auch LENZ, Soziologie der Zweierbeziehung, insb. Teil III: Zweierbeziehung und Konstruktion der Wirklichkeit. HAHN, „Partizipative“ Identitäten, S. 117. KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, S. 99. Soziologisch betrachtet ist die Grenzziehung eine Hauptfunktion jeder Gruppe: Darauf bezieht sich auch das o. g. Spiel der Inklusion und Exklusion durch Identitätsdefinitionen, das A. Hahn analysiert hat (HAHN, „Partizipative“ Identitäten). Das Problem wurde aber schon von G. Simmel ausführlich erörtert: Vgl. insb. Exkurs über die soziale Begrenzung in: SIMMEL, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (= Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt am Main 1992, S. 698ff. (siehe auch B. NEDELMANN, Georg Simmel – Emotionen und Wechselwirkungen in intimen Gruppen, in: Neidhardt (Hg.), Gruppensoziologie, S. 174-209, hier S. 184ff.). Aus psychologischer Sicht ist die Grenzziehung mit der Konzentration der libido gekoppelt: Sie begünstigen sich wechselseitig, was normalerweise eine pseudo-narzisstische Bewegung verursacht, die P. Slater als soziale Regression bezeichnet hat (P. SLATER, On social regression, in: American sociological review 28,3 (1963), S. 339-64). Auch J. Willi betont die verschiedene Bedeutung einer „starren“ bzw. „diffusen“ Grenze sowohl innerhalb als auch außerhalb der Beziehung für die Relation der Partner (J. WILLI, Die Zweierbeziehung. Spannungsursachen – Störungsmuster – Klärungsprozesse – Lösungsmodelle, Hamburg 1975, S. 16). LENZ, Soziologie der Zweierbeziehung, S. 233ff. Ebd., S. 233f. Auf diese Dynamik bezieht sich wahrscheinlich auch R. Barthes’ Versuch, seine Darstellung des Liebesdiskurses soviel wie möglich dieser Form der codierten Narration zu entziehen: Denn die Liebesgeschichte ist laut Barthes „der Zoll, den der Liebende der Welt zu entrichten hat, um sich wieder mit ihr zu versöhnen“ (R. BARTHES, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main 1984, S. 20). Der Diskurs von Barthes’ liebendem Subjekt gehört nicht einem Paare und insofern einer anerkannten Form von
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Liebeserfahrung, sondern einem Einzelnen, der liebt, und von seiner Liebe spricht, unabhängig vom Bedarf, mit einem Anderen eine gemeinsame Welt im sozialen Raum zu erzeugen. FUCHS, Liebe, Sex und solche Sachen, S. 63. WILLI, Die Zweierbeziehung. „Kollusion meint ein uneingestandenes, voreinander verheimlichtes Zusammenspiel zweier oder mehrerer Partner auf Grund eines gleichartigen, unbewältigten Grundkonfliktes“ (WILLI, Die Zweierbeziehung, S. 59). WILLI, Die Zweierbeziehung, S. 174. Ebd., S. 175. Aber nicht nur: „Das innere Leben, das wir als Strömung, unaufhaltsamen Prozeß, Auf und Nieder der Gedanken und Stimmungen empfinden, kristallisiert für uns selbst zu Formeln und festgelegten Richtungen, oft schon dadurch, daß wir es in Worte fassen“ (SIMMEL, Soziologie, S. 659). SIMMEL, Soziologie, S. 660. Ebd., S. 659. Ebd., S. 653 bzw. 655. Ebd., S. 655. Ebd., S. 660f. SIMMEL, Über die Liebe (Fragment), S. 117. Die Treue kann in diesem Sinne auch die eigene Unbeständigkeit der Liebe selbst kompensieren und sie beziehungsfähig machen. Nedelmann schreibt dazu: „Akteure, die in ‚Treue verbunden’ sind, können die extremen Schwankungen ihrer Liebe glätten; ihre Wechselwirkung wird damit krisenbeständiger. Das reine Liebe ständig begleitende Gefühl der Gefährdung, der Tragik und der elegischen Problematik wird durch Treue in Berechenbarkeit, Gewißheit und Alltäglichkeit umgewandelt“ (NEDELMANN, Georg Simmel – Emotionen und Wechselwirkungen in intimen Gruppen, S. 183). B. WALDENFELS, Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1990, S. 58. Sowohl für den Versuch der mystischen Überwindung des Selbst in der Einheit mit Gott als auch in der Liebe ist die Paradoxie der Einheit einer Differenz eine unüberwindbare existentielle Tragik: „Gerade wenn man zu Zweien ist, ist man allein: denn dann ist man eben getrennt, ist ‚gegenüber’, ist der Andre. Und wenn man zur Einheit verschmolzen ist, ist man wieder allein: denn nun ist nichts mehr da, was die Einsamkeit der Nur-einsSein aufheben könnte“ (SIMMEL, Über die Liebe (Fragment), S. 167). Ein Wechsel der Spielregeln mag z. B. von einer ‚Störung’ der gewöhlichen Kommunikation bzw. Interaktion verursacht werden, die nicht mehr erlaubt, das übliche Spiel wie früher zu spielen, und die insofern in Vergleich zu dem auf einer Metaebene erfolgt. Darauf zielt das Modell der Kurztherapie von Watzlawick et al., das u. a. auf Wittgensteins Auffassung des Spiels beruht (vgl. insbesondere L. WITTGENSTEIN, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, in: Ders., Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1974, III, § 77, S. 203): Bei problematischen Konstellationen, in denen das „Mehr derselben“ Maßnahme keine Lösung ist, d. h. wenn „die Lösung selbst das Problem ist“ (P. WATZLAWICK, J. WEAKLAND und R. FISCH, Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern 1974, S. 51), bedarf es, Störungsmaßnahmen anzuwenden, die die Beteiligten zwingen, ihre ganze Orientierung und mit ihr das ganze Spiel zu wechseln. Dies bezeichnen die Autoren als „Lösungen zweiter Ordnung“ (ebd., S. 99ff.), die dem „gesunden Menschenverstand“ häufig „absurd, unerwartet und vernunftswidrig“ scheinen (ebd., S. 105), eben weil sie dem normalen „mehr derselben“ Muster – die Lösungen „erster Ordnung“
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– widersprechen. Was man so verursacht, ist eine „Umdeutung [reframing]“ des problematischen kommunikativen Kontextes (ebd., S. 116ff.). Die Inkommunikabilität ist von Luhmann so definiert: „Es geht [...] um das Problem, ob es nicht, und zwar gerade in Intimbeziehungen, Sinn gibt, der dadurch zerstört wird, daß man ihn zum Gegenstand einer Mitteilung macht“ (LUHMANN, Liebe als Passion, S. 155). LUHMANN, Soziale Systeme, S. 310. Hier spielt die Differenz zwischen Informations- und Mitteilungsebene in der Kommunikation eine Rolle: Die Mitteilung leistet insbesondere in der Intimkommunikation eine wichtige Funktion, sie wird auch „zur Information für den Attributionsprozeß“, anhand derer das Kommunizierte interpretiert und auf den Kommunizierenden zurückgeführt wird. Es ist genau „diese oblique Auswertung aller Äußerungen“, die „in Intimbeziehungen absehbar“ wird und die Kommunikation „blockiert“ (LUHMANN, Liebe als Passion, S. 156). LUHMANN, Liebe als Passion, S. 155. Auf diese Erfahrung der Unmöglichkeit der Liebe beziehen sich laut Luhmann die „selbstdestruktiven Tendenzen“ (LUHMANN, Liebe als Passion, S. 213) von der Intimbeziehung und von den Beziehungspersonen: Die wechselseitige Bestätigung und das Fortbestehen des Intimsystems auch in selbstzerstörenden Konstellationen (wie, füge ich hinzu, im Falle der schon erwähnten Kollusionsmuster) könnte als ein Versuch betrachtet werden, diese Unmöglichkeit zu negieren und sie sowohl theoretisch als auch existentiell nicht anzuerkennen. LUHMANN, Liebe als Passion, S. 191. SIMMEL, Soziologie, S. 769. Ebd., S. 103. Ebd., S. 769. Ebd. Ebd. WALDENFELS, Antwortregister, S. 423. SIMMEL, Soziologie, S. 769f. Ebd., S. 104; Hervorhebung durch C. P. Ebd. Vgl. LENZ, Soziologie der Zweierbeziehung, S. 178ff.; KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, Kap. 5. Hier gilt, was Nietzsche in Bezug auf die ganze Evolution der Menschheit feststellt: „Unzähliges, was sich die Menschheit auf früheren Stufen aneignete, aber so schwach und embryonisch, dass es Niemand als angeeignet wahrzunehmen wusste, stößt plötzlich, lange darauf, vielleicht nach Jahrhunderten, an’s Licht: es ist inzwischen stark und reif geworden. [...] Wir haben Alle verborgene Gärten und Pflanzungen in uns; und, mit einem andern Gleichnisse, wir sind Alle wachsende Vulcane, die ihre Stunde der Eruption haben werden: – wie nahe aber oder wie ferne diese ist, das freilich weiss Niemand, selbst der liebe Gott nicht“ (F. NIETZSCHE, Die fröhliche Wissenschaft, in: DERS., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 3, Berlin-New York 1988, S. 381.). KAUFMANN, Schmutzige Wäsche, S. 158. Ebd., S. 161. G. VARRO (Hg.), Les couples mixtes et leurs enfants en France et en Allemagne, Paris 1995. Vgl. D. LARCHER, Die Liebe in den Zeiten der Globalisierung. Konstruktion und Dekonstruktion von Fremdheit in interkulturellen Paarbeziehungen, Klagenfurt 2000. SCHÄFFTER, Modi des Fremderlebens, S. 22f.
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Chiara Piazzesi
89 M. MENZ, Biographische Wechselwirkungen. Genderkonstruktionen und „kulturelle Differenz“ in den Lebensentwürfen binationaler Paare, Bielefeld 2007; DIES., Neue soziale Wirklichkeiten in Biographien binationaler Paare (= Hamburger Beiträge zur Erziehungs- und Sozialwissenschaft, 11), Hamburg 2007. 90 WALDENFELS, Der Stachel des Fremden, S. 57ff. 91 SIMMEL, Soziologie, S. 403. 92 Ebd., S. 403ff. 93 Ebd., S. 405. 94 LUHMANN, Liebe als Passion, S. 212f. 95 Ebd., S. 212. In seiner früheren Auffassung der Liebe als Zweierbeziehung hob Luhmann schon deutlich hervor, dass die Behandlung der Konflikte in der Ehe auf der Ebene des Dissenses zwischen „Erwartungserwartungen“ auf alle Fälle „ein hochentwickeltes psychisches Leistungsvermögen, eine differenzierte soziale Sensibilität und ein entsprechend komplexes personales System der Erlebnisverarbeitung“ voraussetzt (LUHMANN, Liebe. Eine Übung, S. 61). Vgl. auch oben, Anm. 21 und 26. 96 WALDENFELS, Der Stachel des Fremden, S. 57ff. 97 Insofern, als diese Einstellung eine Übung der begeisterten und nicht bloß passiven Akzeptanz dessen, was ist, darstellt, auch indem es jederzeit etwas Anderes, etwas ‚Fremderes’ werden kann und als solches eine weitere Verarbeitung jenes ‚Unerwarteten’ erfordert, nähert sie sich einigermaßen Nietzsches Verständnis der „Unschuld des Werdens“: niemand für sein „Sein“ verantwortlich zu machen (F. NIETZSCHE, Götzen-Dämmerung, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, Bd. 6, Berlin-New York 1988, Die vier grossen Irrthümer, § 8, S. 96f.) heißt vor allem, dem „Instinkt des Strafen- und Richten-Wollens“ zu widerstehen (ebd., § 7, S. 95). In unserem Sinne heißt das, nicht unmittelbar Verantwortung und Schuld zu verteilen für das, was in der Wechselwirkung und Auseinandersetzung von zwei differenten Menschen vorkommt, und das nicht nur unerwartete Freude, sondern auch unerwarteten Schmerz bereiten kann.
Darja Springstübe
RESPONSIVITÄT Eine Antwort zur Herausforderung des Fremden
Seit Jahrtausenden beschäftigt „der Fremde“1 oder allgemeiner „das Andere“ die Menschen in ihrem Alltag sowie die Forscher zahlreicher Fachrichtungen. Von der Faszination für dieses Thema habe auch ich mich anstecken lassen und setze mich in diesem Beitrag mit der von Bernhard Waldenfels formulierten „Philosophie der Responsivität“ als möglichem Umgang mit dem Fremden auseinander. Dafür möchte ich den verwendeten Begriff des Fremden genauer untersuchen. Meine Ausführungen kreisen um die Fragen: Was bedeutet „fremd“ innerhalb einer Philosophie der Responsivität? Wie kann ich Fremdes beschreiben? Lässt es sich bestimmen? Bernhard Waldenfels geht in seinen Schriften von der paradoxen Überlegung aus, wie sich dem Fremden genährt werden kann, wie man versuchen kann, es zu verstehen und ihm zugleich seine Fremdheit belassen. Die Charakterisierung des Fremden als „bewährbarer Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“2 hat er von Edmund Husserl übernommen. Doch im Gegensatz zu Husserl kann das Fremde für Waldenfels nicht auf Eigenes zurückgeführt werden. Er greift dafür auf die von Levinas vorgenommene Charakterisierung des Anderen als einer Figur des Überschusses zurück, die unser Denken aufbricht und über unsere eigenen Möglichkeiten hinausgeht. „Das radikal Fremde läßt sich nur fassen als Überschuß, als Exzeß, der einen bestehenden Sinnhorizont überschreitet.“3 Im Gegensatz zu Levinas, der vom Anderen4 spricht, unterscheidet Waldenfels zwischen Fremdheit und Andersheit. Das Andere bezeichnet eine Variante innerhalb einer Ordnung wie beispielsweise eine Tierart in Abgrenzung zu anderen Arten. Das Fremde ist ein Spezialfall des Anderen, es entsteht durch einen Prozess der Ein- und Ausgrenzung, so wie im Falle der Erstsprache, deren Normalität alle anderen Sprachen zu Fremdsprachen macht. Etwas erscheint als Fremdes wenn es sich jenseits des Eigenen befindet und sich so unserem Zugriff entzieht.5 Für Bernhard Waldenfels gibt es verschiedene Grade der Fremdheit: Zunächst die alltägliche und normale Fremdheit, die einer Leerstelle in unserem Vertrauenshorizont gleicht. Vorstellen könnte man sich dazu etwa die Nachbarin, die wir zwar des Öfteren treffen, aber nicht kennen. Die strukturelle Fremdheit betrifft, was außerhalb einer bestimmten Ordnung anzutreffen ist, wie eine Fremdsprache oder ein rätselhaftes Lächeln, das wir nicht deuten können.6 Die radikale Fremdheit bezeichnet, was über jede Ordnung hinausgeht. Dabei wird
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nicht eine bestimmte Interpretation innerhalb einer Ordnung, sondern die bloße „Interpretationsmöglichkeit“7 in Frage gestellt. Gegenüber dem Eigenen zeichnet sich Fremdheit durch drei Aspekte aus: den Ort, den Besitz und die Art, wobei der Ortsaspekt für Waldenfels der bestimmende ist. Den Ort des Fremden bezeichnet er in Anlehnung an Marc Augé als einen „Nicht-Ort“, einen Ort, der sich mir entzieht.8 Das Fremde ist das Anderswo, das keinen gewohnten Platz hat und sich der Einordnung widersetzt. Dem radikal Fremden kann ich mich nur annähern, indem ich seine Ferne aushalte. Das Fremde wird beschrieben als das Außen einer Ordnung9, ein Grenzund Umbruchphänomen „verdichtet zu einem Augenblick, der die Raum- und Zeitlosigkeit streift“.10 Jede Ordnung ist zwangsläufig begrenzt, sie wird von ihrem Außen wie von einem Schatten begleitet. Die Ordnung benötigt ihr Außen als Grund, von dem sie sich abhebt. Wie bei Saussure die Rückseite des Blattes Papier nicht zerschnitten werden kann, ohne auch die Vorderseite zu zerschneiden, so ist das Außerordentliche die Kehrseite des Ordentlichen und weist innerhalb der Ordnung schon immer über diese hinaus. Das Außerordentliche bildet also keinen Eigenbereich, sondern lebt vom Kontrast zum Ordentlichen, welches es als Überschuss überschreitet. Das Fremde ist schon immer Teil der Ordnung und verhindert so, dass die Ordnung in sich selbst zur Ruhe kommt. Dieses Fremde mitten in der eigenen Kultur ermöglicht uns so den Austausch mit anderen Kulturen. Der äußeren Fremdheit entspricht eine Fremdheit in der eigenen Person. Auch meine Handlungen, mein Reden und Empfinden ist nie vollständig meins. Für Waldenfels gibt es „keine Welt, in der wir je völlig zu Hause sind, und es gibt kein Subjekt, das je Herr im eigenen Haus wäre“.11 Meine Träume beispielsweise sind mein Eigenstes, nur ich kenne sie, und doch haben sie etwas Fremdes an sich: Ich kann sie nicht beeinflussen, Träume überkommen mich, es träumt in mir. Das Fremde geht dem Eigenen voraus, Eigenes entsteht erst durch die Abhebung vom Fremden. Unsere Welt kommt zustande, indem wir Vertrautes eingrenzen und Unvertrautes ausschließen.12 Es gibt nicht „das Fremde“; Fremdheit – wie auch Eigenheit – wird von unserer jeweils eigenen Position aus bestimmt. Ein standortloses „Fremdes überhaupt“ ist genauso unmöglich wie ein „Links überhaupt“. Die Differenz von Eigenheit und Fremdheit geht mit einer unaufhebbaren Präferenz des Eigenen einher. Dies nicht insofern, dass das Eigene besser wäre, sondern weil die Unterscheidung vom eigenen Standpunkt aus getroffen wird. Das Verhältnis von Eigenem und Fremden ist durch eine unaufhebbare Asymmetrie geprägt. An Walter Benjamin anschließend bezeichnet Waldenfels den Übergang von Eigenem und Fremdem als „Schwelle“13:
Responsivität. Eine Antwort zur Herausforderung des Fremden
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„Das Fremde befindet sich nicht einfach anderswo, es ist ähnlich wie Schlafen vom Wachen, Gesundheit von der Krankheit, Alter von der Jugend durch eine Schwelle vom jeweils Eigenen getrennt. Dabei steht keiner von uns jemals auf beiden Seiten der Schwelle zugleich.“14
Es gibt keine tragende Ordnung, die beide Bereiche umschließt. Eigenes und Fremdes könnten und müssten sich nicht voneinander abgrenzen, wenn sie nicht schon auf vielfache Weise ineinander verschränkt und verwickelt wären. Das Verhältnis von Eigenem und Fremdem, ihr gleichzeitiges Ineinander und Auseinander nennt Waldenfels mit Paul Valéry auch Verflechtung oder Chiasma. Wer das Muster entflicht, würde es zerstören. Doch Verflechtung bedeutet nicht Vermischung, eine Überschreitung von Grenzen nicht ihre Überwindung, denn dann würde sich alles in einem ununterscheidbaren Brei auflösen. Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem bleiben bestehen, auch wenn sie oft unscharf sind. Dieses Ineinander bildet einen Unruheherd, es ist ein ständiger Prozess, weil keine von beiden Seiten in sich zur Ruhe kommen kann. Die Verschränkung widersetzt sich jeglicher Form von Reinheit. Wir finden sowohl Eigenes im Fremden wie auch Fremdes im Eigenen. Im Zwischen der Verschränkung findet ein Austausch zwischen beiden statt. Es gibt ein Netz von Relationen, mit Knotenpunkten, Anschlussstellen, Verbindungswegen, mit „vielfachem Grenzgängertum“,15 aber ohne Zentrum. Diese Zwischenwelt ist nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen beschränkt, sondern zeigt sich auch im Zusammenspiel der Kulturen sowie in sämtlichen Bereichen, wo Fremdes und Eigenes sich begegnen. In seiner Unvertrautheit erscheint uns das Fremde verlockend und bedrohlich zugleich. Beängstigend wirkt es, da es zur Konkurrenz des Eigenen wird; anziehend, weil es Möglichkeiten aufzeigt, die von der eigenen Ordnung ausgeschlossen sind. Doch auch wenn das Fremde in seiner Unheimlichkeit zum Feindlichen hinüberschillert, ist es uns kein Feind. Die Risse, die das Fremde hervorruft, brechen unsere Welt auf und halten sie so am Leben. Das Fremde zeigt sich mir als Erschütterung der Ordnung, als Gefährdung; aber darin ist es zugleich ein Lebenselixier, das davor bewahrt, lediglich das Vorhandene zu repetieren. Das Fremde kann seine provokative Kraft nur entfalten, weil es durch die gegenseitige Verschränkung dem Eigenen so nahe steht, dass es als dessen mögliche Variante erscheint. Die Erwiderung auf das Fremde gleicht oft einer Bewältigung. Die Positionen reichen von einer schlichten Ablehnung und Vernichtung bis zu seiner Aneignung. Aneignen ist die ökonomischere Form: Sie verspricht, das Fremde zu wahren, indem sie es absorbiert und nützlich macht. Fremdheit scheint mit einem Makel behaftet, den es zu tilgen gilt. Der Maßstab ist der eigene verallgemeinerte Standpunkt. Auch Liebe strebt immer danach, das geliebte Andere zu besitzen
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und ihm so den Stachel der Andersartigkeit zu nehmen. Die Kluft zwischen Eigenem und Fremden lässt sich nicht schließen auch wenn dies immer wieder probiert wird. Auf all ihren Ebenen ist die Fremderfahrung diesem Spiel von Aneignung und Enteignung ausgesetzt. Der Umgang mit Fremden besitzt also per se eine ethische und politische Komponente. Der Ausweg kann nicht darin bestehen, dem Fremden eine sachgemäßere Behandlung zukommen zu lassen. Vielmehr muss sich die Stellung des Fremden in der Erfahrung, also letztlich unsere Einstellung zum Fremden, ändern. Die Aneignung beginnt damit, dass wir das Fremde zu etwas machen, das sich besprechen lässt, zunächst mit Mythen und Märchen, später mit Sprach- und Rechenformeln. Das Unberechenbare wird berechenbar. Doch wie können wir mit etwas umgehen, worüber sich nichts sagen lässt und wovon man nicht einmal schweigen kann? Aus dem Bann der Aneignung und Gleichstellung können wir nur ausbrechen, wenn wir uns dem Fremden aussetzen. Um das Fremdartige erfahren zu können, muss die Erfahrung sich selbst fremd werden. Im Zusammenstoß mit dem Fremden kommt der Erfahrung ihre Selbstverständlichkeit abhanden. Diese Konfrontation zeigt mir, dass es auch andere Möglichkeiten als die meinen gibt, zeigt mir die Grenzen meiner Ordnung. Durch das sich entziehende Fremde werde ich auf mein Eigenes zurückgeworfen und stoße dabei auf Möglichkeiten, die meine Ordnung mir verborgen hat.16 Ein Umgang mit Fremdem, der diesem seine Fremdheit belässt, kann nicht bei uns selbst beginnen, sondern muss seinen Ausgang beim Fremden nehmen. Das bedeutet, nicht auf das Fremde zuzugehen, auf es zu zeigen und zu fragen, was es ist und wozu es gut ist. Wäre das Fremde selbst ein Etwas oder Jemand, so wäre es bereits eine Sache mehr oder weniger vertrauter Bestimmungen. Stattdessen sollten wir von der Aufforderung ausgehen, die das Fremde an uns stellt. Es begegnet uns als Herausforderung und Provokation, es ist ein Anspruch im doppelten Sinne des Wortes: einmal das Aufmerksammachen durch eine sprachliche Äußerung im Anspruch sowie die Artikulation einer Forderung. „Der fremde Anspruch tritt in der Weise auf, daß uns etwas einfällt, auffällt, befällt, überfällt oder zufällt, und an diesem Geschehen bin ich nur im Dativ beteiligt: mir fällt etwas ein.“17 Laut Nietzsche kommen Gedanken nicht, wenn ich möchte, sondern wenn sie es wollen. Wie ein ungeladener Gast spaziert das Fremde zur Tür hinein und fordert Gehör. Bei Levinas ist der Befehl die Metapher für den Anspruch des Anderen, er benutzt die Wörter nahezu synonym: „der Ausdruck des Anderen [...] das, was mir befiehlt, ihm zu dienen. Ich verwende diese extreme Formulierung. Das Antlitz ersucht mich und gebietet mir“.18 Doch auch in der positiveren Bestimmung bei Waldenfels enthält der Anspruch ein zwingendes Moment: Er ist insofern Verpflichtung, als das wir uns ihm nicht entziehen können; man kann nicht nicht antworten.
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Der Aufforderungscharakter kommt nicht nur den Menschen, sondern allem Außerordentlichen zu. Schon Merleau-Ponty schreibt über das Verlangen, durch welches die Dinge über sich hinaus streben und an Andere appellieren: „aus allem Erlebten (das manchmal nur geringfügig ist) taucht dasselbe unermüdliche Begehren auf: der Wunsch, zum Ausdruck zu kommen“.19 Für Bernhard Waldenfels ist Antworten die Art und Weise, mit dem Anspruch des Fremden umzugehen und zugleich dem Fremden seine Ferne zu belassen. Das Fremde ist nicht etwas, sondern das Worauf der Antwort. Das, worauf wir antworten, bildet den „blinden Flecken unseres Antwortverhaltens“.20 Nur im Ereignis des Antwortens wird das Fremde erfahrbar, es lässt sich also niemals vollständig und eindeutig bestimmen, wir können nur versuchen uns ihm zu nähern. „Das, worauf wir antworten, ist immer unendlich mehr als das, was wir ‘mit eigenen Mitteln’ zur Antwort geben.“21 Trotz des vom Anspruch ausgehenden Antwortzwangs ist das Antworten ein prinzipiell offenes Geschehen – keine „Ausfüllung von Wissenslücken“22 – denn ihre Art und Weise ist nicht vorgegeben, sie muss als Antwort erfunden werden. Waldenfels entlehnt seine Idee einer schöpferischen Antwort MerleauPontys Konzept des schöpferischen Ausdrucks.23 Indem der Ausdruck auf den Anspruch eingeht, ist er kreativ und antwortend zugleich. „Jede geistige Erzeugung ist eine Antwort und ein Appell, ist Mit-Erzeugung.“24 In der Antwort auf den Anspruch überschreite ich meine eigenen Möglichkeiten. So entsteht in der Zwischenwelt von Eigenem und Fremdem etwas Neues. Es wird kein existierender Sinn wiedergegeben, der Sinn entwickelt sich erst im Antworten selbst. Das Paradox einer kreativen Antwort besteht darin, das „wir geben, was wir nicht haben“.25 Unsere Eigenheit erwächst aus dem Antworten, insofern ist Fremdheit in unser Eigenes eingeschrieben. In der schöpferischen Antwort auf einen fremden Anspruch wird Fremdes in Eigenes überführt, ohne dass die Fremdheit je getilgt würde. Am Kunstwerk lassen sich die Vielfältigkeit des Fremden und die Entstehung von Neuem besonders gut aufzeigen. Zunächst einmal antwortet ein Künstler auf den Anspruch von Dingen in der Welt, die mit seinen Sehgewohnheiten brechen. Dies kann eine besondere politische Situation sein, oder das noch nie gesehene Blau des Meeres.26 Die Kunst ist niemals bei sich selbst. Auch diese Antwort des Künstlers – dieses Bild, diese Installation oder Statue – ist für mich wiederum eine Herausforderung, wenn sie an die Grenzen meiner Ordnung stößt. Wie immer ich auf diesen Kunstgegenstand reagiere, antworte ich auf dessen Herausforderung. Sollte es mir gelingen, in meiner Antwort produktive und reproduktive Elemente zu verbinden, sollte ich selbst in meiner Antwort kreativ werden, wird auch diese wieder einen Anspruch bilden. Diese Kette lässt sich immer so weiterführen, da die gegebene Antwort immer wieder
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für jemand anderen eine Herausforderung darstellen kann. Neues entsteht im kreativen Zusammenspiel von Eigenem und Fremdem, Altem und Neuem. Mit Responsivität bezeichnet Bernhard Waldenfels die Tatsache, dass jede Handlung und jede Aussage den Charakter einer Antwort besitzt. Antworten sind nicht auf sprachliche Erwiderungen beschränkt, sondern schließen jegliche Form der Reaktion mit ein. Vor allen Dingen verweisen uns die Antworten darauf, dass nichts bei uns selbst beginnt, sondern wir immer nur im Nachhinein Stellung zu etwas beziehen können. Das Wort Responsivität stammt vom lateinischen „respondere“ = „antworten“ und wird häufig mit „Antwortverhalten“ oder „Antwortbereitschaft“ übersetzt. Gemeint ist also die Disposition, auf etwas eingehen zu können und sensibel für die Umgebung zu sein. Neben diesem dialogischen Aspekt enthält der Begriff noch einen weiteren Anklang: Die Ähnlichkeit mit dem englischen Wort „responsibility“ bringt den Gesichtspunkt der Verantwortung oder Verantwortlichkeit mit ins Spiel. Diese Bedeutung wird durch die gemeinsame Herkunft der Wörter „Antwort“ und „Verantwortung“ verstärkt. Ein fremder Anspruch verpflichtet, mich ihm gegenüber zu öffnen und zugleich auf ihn zu antworten. Wie in der Levinaschen Ethik des Anderen geht auch bei Waldenfels vom Fremden eine Verpflichtung aus. Ich kann mich einer Antwort nicht entziehen. Auch die Liebe zum Fremden kann nur eine responsive seine; ich bleibe mit meiner antwortenden Liebe immer hinter dem Fremden selbst zurück. Das Geliebte bleibt mir fremd, ansonsten wäre ich wieder auf dem Wege der Aneignung. Doch wie kann ich über etwas sprechen, schreiben, diskutieren, ja, sogar zu etwas wissenschaftlich arbeiten, das mir doch fremd ist? Müsste sich nicht, mit gelingendem Fortschritt der Gegenstand der Forschung selbst auflösen? Solange wir ansetzen zu fragen, was das Fremde ist, solange wir versuchen, es zu verstehen, ordnen wir es in ein Vorwissen ein. Auf dem Weg des Begreifens, Verstehens und Erklärens wandelt sich alles Fremde in etwas, das noch nicht begriffen, verstanden oder erklärt ist, auch wenn wir einen Rest Unerklärliches dulden oder sogar verehren. Keine Xenologie entkommt dem Paradox einer sich selbst aufzehrenden Wissenschaft, es kann eben gerade keine Theorie des Fremden geben. Dieser Falle entgehe ich nur, wenn ich darauf verzichte zu bestimmen, was das Fremde ist, und es stattdessen nehme als das, worauf ich antworte. Also als Herausforderung und Anreiz. Alles Betrachten, Beobachten und Untersuchen nimmt dann responsive Züge an. Die Philosophie selbst beginnt beim Staunen über und der Angst vor dem Unbegreiflichen. Diese verlockende und bedrohliche Herausforderung ist ihr blinder Fleck, die Fremdheit, die ihr von jeher innewohnt. Indem ich die Gedanken von Bernhard Waldenfels hier vortrage, antworte ich ihnen zugleich. Es ist eine Antwort, die in indirekter Weise Ideen von Waldenfels aufnimmt, reproduziert und zugleich – schon durch Auswahl, Präsen-
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tation und natürlich durch das Weiterdenken – einen eigenen produktiven Teil dazu beiträgt. Dem Usus der wissenschaftlichen Arbeit entsprechend habe ich versucht, die Teile voneinander zu trennen, also die Wiedergabe von Waldenfels Denkansätzen und meine eigene Fortführung dazu. Doch ist dies nicht wirklich machbar. Unsere Gedanken gehen vielfach überkreuz, indem ich meine in die seinen einflechte und hoffe, dass in diesem Zwischen etwas Neues und Kreatives entsteht. „Ein Zitat, das nicht nur dazu angetan ist, eine vorhandene Rede wiederzugeben, sondern das vielmehr fremde Reden in der eigenen Rede anklingen lässt, durchbricht die Zentrierung auf das Normale und das Heimischwerden im Eigenen.“27 Fremdes ist nicht direkt zugänglich. Wenn ich dennoch versuchen möchte, mich seiner Darstellung zu nähern, kann dies nur mit Hilfe von Beispielen und in Skizzen geschehen, die dem Überraschendem nicht wieder eine Ordnung überstülpen. Außerordentliches zeigt sich in den verschiedensten Regionen und nimmt eine Fülle von Variationen an: Es beschränkt sich nicht auf die Fremdheit anderer Kulturen, sondern tritt überall dort auf, wo Ordnungen durchbrochen werden, wo vermeintlich Eigenes unvertraut wirkt, wo Irritierendes auftritt. Es gibt verschiedene Dimensionen des Fremden. Es zeigt sich in ekstatischen Momenten des Lebens wie Schlaf, Tod, Rausch, Eros sowie in „wiederkehrenden Übergangserlebnissen wie Abschied und Wiedersehen, Einschlafen und Erwachen, Erkranken und Gesunden, die unseren gewohnten Alltag durchlöchern. Man geht nicht in den Schlaf, sondern man fällt in Schlaf, wie beim ‘to fall in love’ oder beim ‘tomber malade’. Der Einbruch des Fremdartigen und Außerordentlichen ereignet sich erst recht in unwiderruflichen Lebenszäsuren wie Geschlechtsreife, Berufseintritt oder Altersversagen, bei einschneidenden persönlichen Erfahrungen wir den Metamorphosen der Liebe oder den Kehrtwendungen religiöser und politischer Konversionen, bei umstürzenden öffentlichen Ereignissen wir Naturkatastrophe, Kriegsausbruch oder Revolution, schließlich bei Grenzerfahrungen wie Geburtstrauma und Todeserwartung.“28 Fremd können andere Kulturen sein, Kinder, die sich auf einer früheren Entwicklungsstufe befinden, sowie Krankheiten und Anomalien. Fremd ist das zeitliche Vergangene und das geografisch Ferne. Als Abweichung, Störung, blinder Fleck oder gegenläufiger Rhythmus zeigt sich Fremdes in der sinnlichen Erfahrung. Das Unbeschreibliche eines Musikstücks oder das Faszinierende eines Bauwerks bringen uns an die Grenzen des Vertrauten. Nur so kann uns Kunst überraschen, beflügeln und „entsetzen“.29 Besonders die moderne Literatur bedient sich einer Vielzahl von Abweichungspraktiken – beispielsweise in Collagen oder durch gezielte Zitattechniken – die das Außerordentliche an bestimmte Ordnungen zurückzubinden. So wie Kunst und Literatur besitzt für Waldenfels auch die Philosophie eine Störfunktion, die sie ernst nimmt, indem sie auf Anderes hört und dabei immer wieder die Ordnung des geregelten Ganzen durchbricht.
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Fremdheit tritt in einer nicht überschaubaren Vielfalt auf, man fühlt sich wie in einer „World of Strangers“30 in der das Eigene verschwindend gering ist. Aber es gibt immer nur bestimmte Fremde, bezogen auf die eigene Ordnung. Dass Fremdes immer die andere Seite der Schwelle ist verhindert, dass es ein „Land der Fremden“ geben kann. Diese Singularität von Fremdheit führt aber dazu, dass innerhalb der Waldenfelsschen Untersuchungen nicht erklärt werden kann, warum manches „Fremde“ ausgeschlossener ist, warum auf manches mehr gehört wird, als auf anderes. Denn Antworten ist nicht gleich Antworten, ein Nichtbeachten spricht von einer anderen Gewichtung als ein einfühlsames Hinhören. Wir schenken und verweigern das Gehör und den Blick. Indem aber dieses Beachtung findet, versinkt jenes in Schweigen, so werden sogar ganze Nationen zu Randgruppen. Es könnte also aufschlussreich sein, den Anspruch hinsichtlich Macht- und Herrschaftsfragen zu untersuchen. Auch auf das Moment der Macht, das der Durchsetzung einer Antwort im Gegensatz zu allen anderen anhaftet, ist Waldenfels nicht eingegangen. Es ließe sich hier beispielsweise eine Brücke schlagen zu den Wirkweisen der Macht bei Foucault. Zwar gibt es Waldenfels zufolge verschiedene Dimensionen der Fremdheit – mein Name ist nicht etwas völlig Fremdes, doch etwas, das ich von anderen übernehme, er ist eine Einbruchsstelle für das Fremde in das Eigene –, doch zwischen verschiedenem außerordentlichem Fremdem lässt sich nicht vergleichen. Ich kann feststellen, dass eine bestimmte Rauminstallation mit meinen Denkgewohnheiten bricht und in Frage stellt. Waldenfels’ Philosophie der Responsivität kann aber nicht erklären, warum mich ein Kunstwerk mehr berührt und verstört als ein anderes. Denn als Außerordentliches entzieht es sich jedem Vergleich. Dass uns manches in größeres Staunen versetzt als anderes, dass wir uns von diesem mehr bedroht fühlen als von jenem, zeigt, dass es verschiedene Grade der Herausforderung gibt. Fraglich wäre auch, ob es einen Unterschied gibt zwischen dem Außerordentlichen meiner Ordnung und dem Außerordentlichen jedweder Ordnung. Zwar ist etwas immer nur von meinem Standpunkt aus fremd, doch zugleich gibt es einen Unterschied zwischen einem fremden Menschen, der aus einer eigenen Ordnung stammt, und einem Traum, der nicht wiederum aus einer Traumordnung kommt, sondern immer das Außerordentliche meiner eigenen Gedanken ist, oder der erschütternden Wucht eines Erdbebens, welches sich in kein System eingliedern lässt. Wer kann beurteilen, welches Außerordentlich einer anderen Ordnung zugehörig ist, und welches nicht? Die Waldenfelssche Responsivität schließt sich an Merleau-Pontys Begriff der „kohärenten Deformierung“ an und übernimmt dessen Idee der Kontinuität der Gesamtheit der Ausdrücke: Jeder Ausdruck greift einen vorherigen auf und entwickelt ihn dadurch weiter.31 Im Zuge dessen spricht auch Merleau-Ponty an einigen Stellen davon, dass ich mit meinen Ausdrücken auf die Heraus-
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forderung der Dinge antworte.32 Diese Antwort übernimmt Waldenfels als Gegenpart zu seinem Fremden, für ihn ist jedes Verhalten eine Antwort auf die Herausforderung des Fremden. Damit macht er aus Merleau-Pontys Gedanken ein allumfassendes Prinzip: Alles wird der Idee vom Fremden angepasst. Dabei gibt es zwischen beiden Autoren grundsätzliche Unterschiede, über die Waldenfels hinwegsieht. Seine allumfassende Kategorie „fremd“ beinhaltet auch fremde Menschen oder Kulturen; sie bleiben für uns unerreichbar und unverständlich. Merleau-Ponty hat aber durchaus davon geschrieben, dass andere Kulturen für uns verstehbar sind, da das grundsätzliche Denken bei allen Menschen gleich verläuft. Seine Untersuchungen sollen letztlich „zu einer Besinnung auf den transzendentalen Menschen oder auf das allen gemeinsame ‘natürliche Licht’, das im Laufe der Geschichte hervor scheint, führen“.33 Waldenfels Ausführungen wirken dagegen sehr negativ, und manchmal auch ein wenig simplifizierend. Zumindest haben sie nicht die Merleau-Pontysche Offenheit und seine Aufmerksamkeit für Zwischentöne und Details. Dies trifft besonders auf das zu, was Waldenfels selbst entwickelt: das Fremde als Gegenpart der Responsivität. Denn die Responsivität – und das Verdienst dieser Entdeckung kommt Bernhard Waldenfels zu – ist schon bei Merleau-Ponty zu finden, auch wenn dieser selbst es nie explizit so benannt hat.
Anmerkungen 1
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Ich werde in meinem Beitrag vorwiegend von „dem Fremden“ in der maskulinen Form sprechen. Eine Untersuchung des Begriffs, die auch „die Fremde“ und „das Fremde“ mit einschließt – und welche auch immer mit einer Thematisierung der Übersetzung und der Ausdrucksmöglichkeiten beispielsweise im Französischen und Englischen einhergeht – kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Selbstverständlich beschränkt sich „fremd“ nicht auf Wesen männlichen Geschlechts. E. HUSSERL, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana I), Den Haag 1950, S. 144. B. WALDENFELS, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt am Main 1997, S. 37. Vgl. beispielsweise E. LEVINAS, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, München ³1992, S. 213f. B. WALDENFELS, Grenzen der Normalisierung. Studien zur Phänomenologie des Fremden 2, Frankfurt am Main 1998, S. 136. WALDENFELS, Topographie des Fremden, S. 35f. C. GEERTZ, Dichte Beschreibung, Frankfurt am Main 1983, S. 61. M. AUGÉ, Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main 1994, vgl. insbesondere S. 92ff, 120ff. Dieses Bild des Außen, welches uns wiederum auf das Eigene zurückwirft, knüpft an die Heterotopien von Foucault an. Vgl. M. FOUCAULT, Andere Räume, in: um 1968. konkrete utopien in kunst und gesellschaft. Städtische Kunsthalle Düsseldorf 27.05.-08.07.1990, Ausst.-Kat., Köln 1990.
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WALDENFELS, Topographie des Fremden, S. 37. Ebd., S. 11. B. WALDENFELS, Der Stachel des Fremden, Frankfurt am Main 1990, S. 31ff. „Die Schwelle ist ganz scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte ‚schwellen’“. W. BENJAMIN, Das PassagenWerk. Gesammelte Schriften Band V.1, Frankfurt am Main 1982, S. 617f. WALDENFELS, Topographie des Fremden, S. 21. B. WALDENFELS, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987, S. 181. WALDENFELS, Grenzen der Normalisierung, S. 43. Ebd., S. 82, Hervorhebung im Original. E. LEVINAS, Ethik und Unendliches, Wien 1992, S. 74f, Hervorhebung im Original. M. MERLEAU-PONTY, Die Prosa der Welt, München 1984, S. 95. WALDENFELS, Grenzen der Normalisierung, S. 110. B. WALDENFELS, Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt am Main 1999, S. 150, Hervorhebung im Original. B. WALDENFELS, Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt am Main 2005, S. 81. „Überall ist der Ausdruck schöpferisch.“ M. MERLEAU-PONTY, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, S. 445f. M. MERLEAU-PONTY, Vorlesungen I, Berlin 1973, S. 121. WALDENFELS, Topographie des Fremden, S. 53. Vgl. Merleau-Ponty, der über den Maler schreibt: „alles, was er malt, ist eine Antwort auf diese Anregung“, die er gesehen hat. M. MERLEAU-PONTY, Das Auge und der Geist, in: Ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg 2004, S. 314. WALDENFELS, Vielstimmigkeit der Rede, S. 166. WALDENFELS, Der Stachel des Fremden, S. 32. WALDENFELS, Grenzen der Normalisierung, S. 166. So lautet der Untertitel eines Buches von K. A. APPIAH, Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, New York 2007. M. MERLEAU-PONTY, Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, in: Ders., Das Auge und der Geist, S. 141. Vgl. M. MERLEAU-PONTY, Schrift für die Kandidatur am ‚Collège de France’, in: Ders., Das Auge und der Geist, S. 106, DERS., Das indirekte Sprechen und die Stimmen des Schweigens, S. 139ff. MERLEAU-PONTY, Schrift für die Kandidatur am ‚Collège de France’, S. 109.
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Moritz Ege
AFROAMERIKANOPHILIE ALS XENOPHILIE Aneignungspraktiken, Exotismen, Fluchtlinien
Ich möchte diese kulturanalytische Skizze mit einem Blick auf die Zeit zwischen 1967 und 1975 beginnen.1 Soul-Musik, die nicht zuletzt von der Differenz afroamerikanischer Erfahrung handelt und sich als schwarze Musik inszeniert, feierte nahezu weltweit Erfolge und fand vielerorts musikalische Nachahmung. Auch in der Bundesrepublik setzten Zeitschriften, die vor allem ein jugendliches Publikum ansprechen, plötzlich schwarz-weiße Paare auf ihre Titelbilder. Berliner Autoren erklärten ihre Heimat Kreuzberg zu „Westberlins Harlem“ und sich selbst zu „weißen Niggern“ (sic), Eldridge Cleavers Buch „Seele auf Eis“ wurde unter Intellektuellen enthusiastisch rezipiert und die Slogans und Gesten der Black-Power-Bewegung wurden auf Demonstrationen und im Nachtleben präsentiert. Abstehende Locken fanden als „Afro-Frisur“ Bewunderung, die Kölner Limonadenfirma Flach bewarb ihre Produkte Afri-Cola und Bluna mit schwarzen Models und mit Zeichen von schwarzem Glamour. Einige politische Studentengruppen – ein nur scheinbar ganz anderes Phänomen – konzentrierten sich beim „Agitieren“ amerikanischer GIs beinahe ausschließlich auf afroamerikanische GIs.2 Betrachtet man all das, dann liegt die Frage nahe, ob hinter dieser Häufung afrophiler, zumeist afroamerikanophiler Ereignisse in unterschiedlichen kulturellen Feldern auch ein gemeinsames Muster steckt. Man kann dieses Muster, das ich Afroamerikanophilie nenne, diachron verstehen, man kann auf Josephine Bakers europäische Bewunderer verweisen, auf Norman Mailers „White Negro“ und die Jazz-Begeisterung der jungbürgerlichen Existenzialisten der 1950er Jahre und von dort Kontinuitätslinien in die Gegenwart ziehen. Stellt man diese Betrachtungsweise zurück, dann macht jene afroamerikanophile Konjunktur um 1968 aber auch ein zeitspezifisches Phänomen aus. Sie ist Teil eines kulturellen Moments, verstanden im Sinne der Cultural Studies, mit Rolf Lindner gesprochen, als „Zusammentreffen von Umständen struktureller, kultureller und biographischer Art“, als „historische[r] Augenblick, in dem die verschiedenen Impulse zusammenkommen und eine neue gestaltgebende Einheit bilden“.3 Was Afroamerikanophilie in diesem kulturellen Moment bedeutete, ließe sich in unterschiedlichen Feldern wie Werbung, Spielfilmen, dem Sex-Diskurs, der Popmusikgeschichte und vielem anderen mehr verdeutlichen. Ich möchte in meinem Beitrag kurz auf eine Fallstudie aus dem politisch-gegenkulturellen Milieu eingehen, um dann zwei kulturtheoretischmethodologische Modelle kursorisch anzusprechen, von denen ich hoffe, dass sie
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LIEBE DEINE FEINDE! Turkophilie im 15. Jahrhundert?
Im 15. Jahrhundert erreichte das Osmanische Reich den Höhepunkt seiner Vitalität. Es hatte die letzten vereinten Abwehranstrengungen der christlichen Welt hinweggefegt und damit begonnen, sich die christlichen Reiche der Balkanhalbinsel und die muslimischen Herrschaften des Nahen Ostens einzuverleiben. Seine militärische und wirtschaftliche Potenz war für den lateinischen Westen ebenso erdrückend wie seine ethnische und kulturelle Assimilationskraft. Was noch 1350 ein kaum bekanntes Stammesfürstentum in Anatolien gewesen war, war um 1500 ein Vielvölkerreich, das Ungarn, Italien und das Reich direkt bedrohte.1 Stellvertretend für die Bedrohung durch die Türken stand für die Zeitgenossen die Eroberung der alten Kaiserstadt Konstantinopel im Jahr 1453.2 Dutzende von Berichten vom Fall der Stadt kursierten bereits kurz darauf im ganzen Abendland. Sie stimmten in einem überein und versuchten sich darin gegenseitig zu überbieten: in der Beschreibung des Turcorum rabies, der türkischen Raserei. Die Standardliste der Türkengräuel umfasste die Schändung und Plünderung sakraler Einrichtungen, den Mord an unzähligen Menschen, die Vergewaltigung von Frauen – insbesondere Nonnen – und auch Männern, den Raub von Kindern und die Versklavung der Erwachsenen.3 „Was die türkische Raserei aus der königlichen Stadt machen wird, weiß ich nicht“, klagte Enea Silvio Piccolomini in einem Brief, „doch es ist leicht zu erraten. Das unsere Religion hassende Volk wird dort nichts heilig und rein lassen“.4 Angesichts der für die Berichterstatter unfassbaren Brutalität, mit der die Türken ihren Sieg errangen, stand plötzlich nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als die Existenz des christlichen Abendlandes und damit der Zivilisation überhaupt. Piccolomini war überzeugt, dass der Fall von Konstantinopel das endgültige Ende für die große griechische Gelehrsamkeit bedeutete, und dass, abgeschnitten von der Quelle, auch die lateinische Zivilisation bald erlöschen würde. Das Christentum sah er in die Ecke gedrängt: „Weh dir, du einst so weit dich erstreckende Christenheit, wie bist du nun eingezwängt und dem Untergang geweiht!“5 Das Klima war denkbar ungünstig für vermittelnde Stimmen, umso mehr für Bewunderer und Freunde des Türkischen. Xenophilie – ohnehin nie eine verbreitete Geisteshaltung im vormodernen Europa – war gegenüber den türkischen Barbaren nicht nur unangebracht, sondern sie konnte nicht anders verstanden werden denn als Verrat an der eigenen Kultur.
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1. Turkophilie In welchen Zusammenhängen spricht man von „Turkophilie“? Das Stichwort begegnet in der Wissenschaft vor allem in der Kunst- und Kulturgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts und wird dort – als Synonym für „Turquerie“ – für eine Erscheinung im Zusammenhang mit der orientalistischen Mode jener Zeit verwendet.6 Besonders England, Deutschland, Österreich und Frankreich wurden geradezu von einer „Turkomanie“ erfasst, die Kunst und Mode durchdrang. Diese dem schwärmerischen Exotismus zuzuordnenden Haltungen blieben überwiegend unpolitisch und romantisierend. Vor allem ab dem 19. Jahrhundert, als die europäischen Großmächte zunehmend politischen und militärischen Einfluss im Osmanischen Reich gewannen, änderte sich dies. Englische, französische und preußische Gesandte und Militärberater waren tief in die Strukturen des Reiches eingebunden und wurden oft daheim als „turkophil“ bezeichnet. Die Geschichte hat ihr eigenes Urteil über diese politische Turkophilie gesprochen, indem der vor allem preußisch geförderte Militarismus der Jungtürken das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg trieb.7 Heute bleibt ein eher diffamierend gemeinter Turkophilie-Vorwurf in xenophoben Kreisen gegenüber Menschen gängig, die dem EU-Beitritt der Türkei positiv gegenüberstehen. In der Geschichtswissenschaft wird das Thema Turkophilie allerdings nirgends so begeistert verhandelt wie in der Forschung zum Verhältnis des lateinischen Westens zum Osmanischen Reich während dessen Aufstiegs- und Großmachtzeit. Insbesondere einigen Humanisten des 15. Jahrhunderts ist nachgesagt worden, sie hätten turkophile Tendenzen kultiviert.8 Dies wäre umso ungewöhnlicher, als damals die Türken überwiegend als fast dämonischer Feind wahrgenommen wurden, der Körper und Seele des Abendlandes gleichermaßen zu vernichten drohte – vergleichbar höchstens mit „dem Russen“ des Kalten Krieges. Im Folgenden soll dem Thema anhand zweier im 15. Jahrhundert höchst lebendiger Diskurse nachgegangen werden: der Frage nach dem ethnischen Ursprung der Türken einerseits und dem Problem ihrer heilsgeschichtlichen Einordnung andererseits. Lassen sich in den fast ausschließlich turkophoben Diskursen tatsächlich eindeutig turkophile Dokumente finden?
2.
Origo Turcorum: eine mittelalterliche Debatte9
Im Spektrum der Propaganda spielten seit jeher Herkunftsdiskurse eine entscheidende Rolle, und zwar sowohl was den familiären Hintergrund einer Person als auch was die Ethnogenese eines Volkes betraf. Die edlen Ahnen waren soziales Kapital, das sich in die Legitimität von Besitz- und Herrschaftsansprüchen ummünzen ließ. Den Nachweis unedler Vorfahren wiederum konnte man effektiv
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zur Diffamierung derartiger Ansprüche bei seinen Feinden einsetzen. Dabei waren die Motivationen keineswegs akademisch: Auch lange vor der heutigen Genforschung war man sicher, dass etwas von den Ahnen in ihren Erben fortlebte. Große Vorfahren bedeuteten Prestige und eine bedeutende Zukunft.10 Kaum jemals blühte der literarische Kampf um die Herkunft so auf wie im 15. Jahrhundert, als die Aufsteigerdynastien Europas um die Aufnahme in den Hochadel buhlten, Stadtstaaten in ihren Stadtgeschichten mit Gründungsmythen jonglierten und allerorten um neue Grundlagen der Legitimität gerungen wurde. Auch dem selfmade man der Renaissance war es ein Bedürfnis, seine Legitimation nicht nur auf das Recht des Stärkeren (oder Klügeren) zurückführen zu können. Der Sinn für das Historische war geschärft wie nie zuvor. Es wurden alte Traditionen aufgegriffen und umgedeutet und völlig neue geschaffen.11 In diesem Klima gediehen auch die origo gentis-Diskurse hervorragend. Die Franzosen, deren Nationalstolz seit 1429 aus langer Lethargie erwachte, proklamierten wieder stolz ihre überlieferte Abstammung von den Trojanern.12 England besann sich nach den Rosenkriegen auf seinen eigenen aus dem Mittelalter stammenden Trojaner-Mythos und bestritt zugleich den französischen.13 In Italien machte man sich über beide lustig. Giovanni Boccaccio erklärte, dass zweifellos nur die Römer über eine trojanische Abstammung verfügten.14 Vor diesem Hintergrund, in dem trojanische Ahnen offenbar das edelste darstellten, über das man im ethnischen Stammbaum verfügen konnte, mag es irritieren, dass auch den Türken immer wieder eine Herkunft von den tragischen Helden Trojas nachgesagt wurde. Wie die Legende vom trojanischen Ursprung der Franken geht die Idee, den Stammbaum der Türken mit dem Untergang Trojas zu beginnen, auf die Chroniken des sog. Fredegar aus dem 7. Jahrhundert zurück.15 Bei diesem wird berichtet, dass die Flüchtlinge aus Troja sich in verschiedene Gruppen aufspalteten, die die Keimzellen späterer Völker wurden: der Makedonen, die später Alexander den Großen hervorbringen sollten, der Franken selbst und eben der Türken. Letztere hätten sich auf dem Weg nach Westen von den Franken abgespalten und zwischen dem Donaudelta und Thrakien angesiedelt. Nach ihrem Führer Torquotus nannte man sie Turqui.16 Dass diese Quelle auf vielfache Weise problematisch ist, braucht kaum noch erwähnt werden. Viel ist in den letzten anderthalb Jahrhunderten über Fredegars Turqui und die Frage, wer damit gemeint sein könnte, geschrieben worden.17 Diejenigen türkischen Völker, mit denen es die Europäer des Spätmittelalters und der Renaissance zu tun hatten, hatten jedenfalls zu Fredegars Zeit den Wahrnehmungshorizont des lateinischen Westens noch lange nicht erreicht.18 Das sollte erst mit den Kreuzzügen geschehen. Die Frage spielt hier allerdings keine Rolle. Fredegars Text begründete einen Strang19 der Tradition von der trojanischen Abstammung der Franken, und die Referenz auf Torquotus und seine Turqui wurde in zahlreichen Chroniken der
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Folgezeit gleich mit übernommen. Die Namen bedeuteten allerdings den Zeitgenossen noch nichts. Als die Kreuzfahrer in Kontakt mit den Seldschuken kamen, änderte sich die Lage schlagartig. Aus der Obskurität eines scheinbar vergessenen Volkes wurden aus Fredegars Turqui nun die Türken des Nahen Ostens. Schon 1130 verband Hugo von St. Viktor in seiner Chronik beide, und aus Torquotus und den Turqui wurden leichterhand Turcus und Turci.20 Wilhelm von Tyrus baute diese Verbindung noch weiter aus.21 Die große Chronik des Dominikaners Vinzenz von Beauvais trug sie – allerdings eher als Randnotiz – weiter an ein breites Publikum und machte sie quasi zur Allgemeinbildung des Spätmittelalters.22 Eine interessante Fälschung des Spätmittelalters goss weiteres Öl ins Feuer. Es handelt sich um einen Brief eines türkischen Herrschers, der Morbisanus genannt wird, an den Papst, in dem er unter anderem verkündet, das Trojanische Reich zu alter Größe zurückführen und die Griechen für die Untaten gegen seine Ahnen bestrafen zu wollen. Der Brief stammt wohl aus dem Jahr 1345, zirkulierte jedoch viele Jahrzehnte in ganz Europa und brachte es sogar zu volkssprachlichen Übersetzungen.23 Er wurde immer wieder aktualisiert und begründete seinerseits – in Kombination mit der Abstammungsthese oder auch ohne sie – eine eigene Motivtradition, die den Türken den Wunsch nach Rache für Troja als ihr Hauptmotiv im Kampf gegen Byzanz unterstellte.24 Wie fest die so tradierte Verankerung der trojanischen Abstammung der Türken im Wissenskorpus war, zeigen die häufigen Referenzen auf sie ab dem Zeitpunkt, an dem die Türken für lateinische Autoren wirklich interessant wurden, also ab der Mitte des 15. Jahrhunderts. Diese Bezüge sind überwiegend – wie nicht anders zu erwarten – negativ. Die Abstammung von den Trojanern gehörte zum besten, was ein ethnischer Stammbaum aufweisen konnte. Es konnte einfach nicht richtig sein, dass die barbarischen ungläubigen Türken über so edle Ahnen verfügten. Überdies ergab sich ein „staatsrechtliches“ Problem. Die Kreuzzugsidee basierte stark auf dem Motiv der restauratio der widerrechtlich von den Ungläubigen annektierten, einst christlichen Gebiete.25 Stammten die Türken von den Trojanern ab, hätten sie ein älteres Anrecht auf einen Großteil der fraglichen Gebiete. So wurde der eigentliche origo Turcorum-Diskurs aus dem Bedürfnis geboren, die überlieferte Trojaner-These zu widerlegen und durch etwas Angemesseneres zu ersetzen. Zum wichtigsten Advokaten dieses Kampfes machte sich der bereits oben zitierte Humanist Enea Silvio Piccolomini, einer der bedeutendsten Redner und Autoren seiner Zeit, der überdies 1458 als Pius II. den Papstthron besteigen sollte.26 In zahlreichen Reden, Briefen und seinen historiographischen und ethnographischen Werken diskutierte er den Ursprung der Türken, polemisierte gegen die Trojaner-These und trug offensiv seine eigene Deutung vor: Die Türken stammten in Wirklichkeit von den Skythen ab, jenem barbarischen Volk nördlich des Schwarzen Meeres, von dem die antiken Quellen so viel Despek-
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tierliches zu berichten wussten.27 Auch Piccolominis Idee vom skythischen Ursprung der Türken hatte ihre Quellen in der Tradition. Er bezieht sich explizit auf die obskure Cosmographia des Aethicus Ister aus dem 8. Jahrhundert, die er der Verfasserintention entsprechend für die Übersetzung eines antiken griechischen Werkes hielt. Aethicus platzierte seine Turchi nördlich des Schwarzen Meeres und beschrieb sie reichlich unfreundlich als Volk, das verabscheuungswürdige Essgewohnheiten habe, ja sogar totgeborene Kinder, Hunde und anderes unreines Getier verspeise, abstoßend aussehe, sich niemals wasche und weder Wein noch Salz kenne.28 Piccolominis zweite Hauptquelle ist die von ihm viel benutzte Chronik Ottos von Freising, die für das Jahr 758 vermerkt, dass die Turci aus dem Kaukasus herabkamen, um mit den Avaren zu kämpfen.29 Basierend auf diesen Informationen zu ihrer lokalen Herkunft hatte schon Flavio Biondo die Türken zu Skythen erklärt.30 Piccolomini folgte ihm hierin und baute das Thema durch eine Beweisführung zu einem polemischen Diskurs aus. Die Urväter der Türken waren, so Piccolomini, ein „grimmiges Volk, voll von Schande und hurenhaft in allen Schandtaten und Bordellen. Es verzehrte, was die Übrigen verabscheuen: das Fleisch von Lasttieren, Wölfen und Geiern, und es ließ auch Frühgeburten von Menschen nicht unangetastet. Festtag hielt es keinen, außer im August das Saturnus-Fest.“31
Zwar räumt Piccolomini ein, dass die Türken durch ihre lange Herrschaft in Kleinasien und Griechenland zivilisierter geworden seien, doch beklagt er die Vernichtung des alten Kulturlandes in Kleinasien durch ihren Einfluss.32 Seine Beschreibung der Eroberung Konstantinopels zeigt, wie wenig sich die Türken von ihren skythischen Ahnen entfernt hatten: „Die Heiligenbilder wurden entweder mit Kot besudelt oder mit dem Schwert zerstört. Die Altäre wurden niedergerissen; sogar in den Kirchen wurden Bordelle von Dirnen oder Pferdeställe eingerichtet.“33 Echos und Äquivalente dieser Beschreibung finden sich allerorten in der zeitgenössischen Literatur. Ihre Verbindung mit der skythischen Abstammung der Türken war Piccolomini ein Anliegen und durch die weite Verbreitung seiner Schriften in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts34 gelang es ihm tatsächlich, die Trojaner-These völlig an den Rand zu drängen. Die Abstammung von den barbarischen Skythen, über die die Alten so viel zu berichten wussten, passte einfach besser in die zeitgenössische Vorstellung vom türkischen Feind. So war die scheinbare Debatte über die Ethnogenese der Türken überwiegend ein hausgemachter Schauprozess aus Piccolominis Feder. Zwar fand man die Trojaner-These in den älteren Chroniken, doch kaum jemand im 15. Jahrhundert wagte es mehr, sie zu vertreten. Ihr haftete der Geruch der Turkophilie an. Tauchte sie auf, so musste sie doch zumindest umgedeutet werden. So findet
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sich in einem erst kürzlich von Margaret Meserve neu für die Diskussion entdeckten lateinischen Versepos De destructione Constantinopolitana aus dem Jahr 1458 zwar eine klare Bejahung der trojanischen Abstammung der Türken, doch wird der Gesamtzusammenhang zum Nachteil der Türken verschoben. Der Autor, ein gewisser Florentius Liquenaius aus Tours, gibt an, über die Taten des Barbarenfürsten zu berichten, der aus Rache für den Tod Hektors die Stadt der Griechen eroberte. Der „Morbezanus“ genannte Türkenherrscher wird gar von Mars in einer Vision heimgesucht, in der der Gott ihn an die Tragödie seiner Ahnen erinnert und zur Rache anstachelt. Doch nicht die Türken sind die Helden des Poems, das dicht an Vergils Aeneis orientiert ist, sondern die frommen und heroischen griechischen Verteidiger. Trotz des Einstiegs, der immerhin eine causa iusta für den türkischen Angriff gegen Konstantinopel präsentiert – das ist ungewöhnlich genug –, sind die Türken als die räuberischen Barbaren porträtiert. Das Epos schließt mit der Hoffnung auf baldige Befreiung der geknechteten Länder vom türkischen Joch.35 Von einem echten Dokument der Turkophilie kann man jedoch bei einem anderen Versepos sprechen, dem leidlich bekannten Poem Amyris des Giovanni Mario Filelfo, Sohn des ungleich bekannteren Humanisten Francesco Filelfo.36 Das 1476 beendete Gedicht ist ein Auftragswerk für den Kaufmann Othman Lillo Ferducci aus Ancona, der Verbindungen zum osmanischen Hof unterhielt und sich bei Filelfo eine Lobeshymne an Sultan Mehmed II. bestellte, um diesen zu erfreuen.37 Dass die Annahme eines solchen Auftrages im Italien der Renaissance nicht ganz ungefährlich war, wird das später zur Sprache kommende Beispiel des Georgios Trapezuntios noch zeigen. Filelfo jedenfalls erfüllte seine Aufgabe mit Bravour und lieferte dem Auftraggeber ein 4.439 Zeilen umfassendes Lobgedicht in vier Teilen ab, welches dieser in seinem ebenfalls überlieferten Begleitbrief dem Sultan zueignete.38 Filelfo zieht in dem Werk alle Register seines humanistischen Könnens. Unter den vielfältigen von ihm verarbeiteten antiken Motiven legt er besonderen Wert auf die trojanische Abkunft der Türken. Das Werk beginnt mit einem göttlichen Wettkampf um die Gunst des jungen Mehmed. Der junge Sultan fühlt sich nicht Venus und ihren Versprechungen zugeneigt, sondern der Kriegsgöttin Bellona, die ihm ein Leben voller Kämpfe und Ruhm zusagt. Schon Bellona erinnert Mehmed an die seinen trojanischen Vorfahren von den Griechen zugefügte Schmach, die bisher ungeahndet blieb: „Du bist der Nachfahre des Priamus, und die Zierden dieser einst unbesiegbaren Blutlinie, die durch Betrug verloren wurden, sind dein.“39 Kaum einem Erzfeind wurde wohl in der Geschichte der Literatur eine größere Adelung zuteil. Der Rest des Gedichts berichtet in epischer Breite vom Leben des Eroberers und seinen großen Siegen und findet schließlich seinen Höhepunkt in der Eroberung von Konstantinopel, durch die Mehmed sein Schicksal erfüllt und die trojanische Schmach gerächt ist.
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Tatsächlich haben wir hier ein turkophiles Werk vor uns. Der Sultan und sein Volk werden gelobt, geadelt und in ihren Taten gerechtfertigt. In der Konsequenz, mit der es ausgeführt ist, dürfte Filelfos Werk allerdings einmalig sein. Und ob es die tatsächlichen Gedanken des Verfassers ausdrückt, darf man ebenso getrost bezweifeln. Denn kurz nach dem Tod des Auftraggebers Ferducci machte sich Filelfo an eine Überarbeitung seines Poems, indem er das vierte Buch ausbaute und umschrieb, um es nunmehr zu einem flammenden Appell für einen neuen Kreuzzug gegen die Türken zu machen, den er dem Herzog von Mailand zueignete. Wie sehr der Zweck eines Textes die Aussage determiniert, lässt sich auch an einem besonders skurrilen Beispiel turkophiler Tendenzen sehen, das ebenfalls im Rahmen des origo Turcorum-Diskurses steht. Kein Geringerer als der bereits als besonders begnadeter Türkenfeind beschriebene Enea Silvio Piccolomini ist sein Urheber. Als Papst Pius II. verfasste er 1461 einen Brief an den türkischen Sultan Mehmed, in dem er diesen zum Christentum zu bekehren versucht.40 Es klingen dem Leser noch seine oben zitierten Sätze über die skythische Abstammung der Türken im Ohr, wenn er in diesem Brief des Papstes plötzlich lesen muss: „Deine Abstammung geht, wie wir gehört haben, auf die Skythen zurück; es ist überliefert, daß unter den Skythen viele berühmte Männer unter Waffen gestanden haben, die das ihnen steuerpflichtige Asien mehrere Jahrhunderte lang beherrscht und die Ägypter über die Sümpfe hinaus vertrieben haben. Weder die Ägypter noch die Araber sind mit dem skythischen Geschlecht zu vergleichen, ein Tapferer und ein Feiger können kein ebenbürtiges Bündnis eingehen. Man muß sich nur wundern, daß die Araber mit ihren Behexungen es vermochten, die furchtlosen und außerordentlich tapferen Skythen in ihre Gemeinschaft einzubinden.“41
3.
Der Sultan als heilsgeschichtliche Schlüsselfigur
Der zweite hier zu betrachtende Diskurs, dem turkophile Dimensionen nachgesagt werden, bemühte sich um eine heilsgeschichtliche Deutung der osmanischen Expansion, insbesondere der Eroberung von Konstantinopel. Die eschatologische Ausdeutung historischer Ereignisse hatte im Mittelalter Hochkonjunktur. Die schicksalhafte Konfrontation mit dem Islam hatte sie von Anfang an besonders provoziert.42 So tauchte in christlichen Schriften über den Islam schon früh Satan auf. In der Apologie des al-Kindī aus dem 9. Jahrhundert, die einen absolut fundamentalen Einfluss auf die Ausprägung des Islambildes im lateinischen Westen hatte, wird der Glaube der Muslime als die Offenbarung des Teufels bezeichnet.43 Petrus Venerabilis arbeitete unter Anschluss an Augustinus in seiner 1144 ent-
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standenen Summa totius haeresis ac diabolicae sectae Saracenorum zum ersten Mal eine eschatologische Gesamtdeutung des islamischen Erfolgs aus. Er zog eine Linie von den alten Häresien über den Islam zur schließlichen Herrschaft des Antichristen und stellte damit Muhammads Lehre in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Seit jeher bekämpfe nämlich der Teufel den Glauben an die Inkarnation, welcher allein die Menschen zum Heil führen könne, und versuche, Christus zu einem bloßen Menschen zu verkleinern. Mit Hilfe seines Werkzeugs Muhammad, des „verworfensten aller Menschen“, gelang es ihm diesmal, fast die Hälfte der Weltbevölkerung zu verdammen.44 Selbst in den nüchternsten Texten über Muhammad fehlte der Teufel selten und übernahm mindestens die Aufgabe, den Propheten des Islam zu seiner Karriere zu inspirieren. Diese Tradition setzte sich fort und nahm in weniger theologisch ambitionierten Texten auch direktere Formen an. So bezeichnete Wilhelm von Tyrus Muhammad als „des Teufels Erstgeborenen“,45 vielfach wurde er als Vorläufer des Antichrists identifiziert.46 In den im Spätmittelalter besonders einflussreichen Werken des Joachim von Fiore wird der Islam insgesamt gewöhnlich mit der Öffnung des vierten Siegels in Zusammenhang gebracht, zu dem die Johannesoffenbarung Schreckliches zu sagen hat: „Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, dessen Name war: Der Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen wurde Macht gegeben über den vierten Teil der Erde, zu töten mit Schwert und Hunger und Pest und durch die wilden Tiere auf Erden.“47
Die Beispiele für eine eschatologische Aufladung der islamischen Bedrohung ließen sich beliebig vermehren.48 Sie brachen auch im Angesicht des Falls von Konstantinopel schnell an die Oberfläche. Beispielhaftes Dokument ist die am 30. September 1453 erlassene Kreuzzugsbulle Papsts Nikolaus V.49 Muhammad, der Begründer des Islam, ist für ihn der schrecklichste Feind, den die Kirche Christi jemals hatte: „ein Sohn Satans, der Verdammnis und des Todes“. Ihn gelüste stets nach Seelen und nach Körpern, ihn dürste nach dem Blut der Christen, er sei der „furchtbarste und blutrünstigste Feind der Erlösung durch Jesus Christus“.50 Wahrhaftig sei er jener große rote Drache, von dem in der Johannesoffenbarung die Rede ist.51 Fast den ganzen Orient, Ägypten und Afrika habe er sich unterworfen und die Menschen dort gezwungen, seinem Unglauben zu folgen. Doch mit alldem diene er nur der göttlichen Vorsehung, betont der Papst. Das Wohlergehen der Feinde ist Bestandteil von Gottes Plan. So habe auch in diesen Tagen ein zweiter Muhammad52 sich erhoben, ein Nachahmer des ersten, der mit Leidenschaft christliches Blut vergieße. Nach härtester Belagerung habe er nun die Stadt Konstantinopel erobert, viele Christen getötet und alle Tempel und Heiligtümer entweiht, die Reliquien der Heiligen mit den Füßen getreten
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und die Bilder Christi und seiner Mutter in den Schmutz geworfen und zerstört. Er sei ein echter Vorbote des Antichrist, der mit seiner Stärke und der Vielzahl seiner Gefolgschaft prahlt, den gesamten Westen erobern und den christlichen Glauben völlig auslöschen zu können. Doch nichts anderes als wahnsinnig sei er, wenn er glaubte, er könne gegen Gottes Macht bestehen. Denn – und der Papst zitiert hierfür ein Wort Christi an Petrus – kein Feind werde die Kirche jemals vernichten können.53 War die türkische Expansion im origo Turcorum-Diskurs säkular als eine Bedrohung der westlichen Zivilisation durch die Barbarei erfasst worden, so deutet die heilsgeschichtliche Perspektive sie als eine Bedrohung der christlichen Welt, der Kirche und ihres Erlösungswerkes. Aus dem schicksalhaften Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei gab es keinen Ausweg, es sei denn die Vernichtung des Gegners. Für die Konfrontation mit Ungläubigen jedoch kannte die christliche Welt eine andere Lösung: die Bekehrung der Heiden und ihre Eingliederung in die Kirche. Ein großer Teil derjenigen Literatur, die unter dem Label der Religionsgespräche in der Forschung behandelt wird, widmet sich dieser Aufgabe. Die bedeutendsten Verfechter der damit gemeinten Haltung zum Islam im hier behandelten Zeitraum sind der deutsche Kardinal Nikolaus Cusanus und der kastilische Theologe Juan de Segovia.54 Ihnen freilich Turkophilie nachzusagen, würde die Sache verfehlen, es sei denn, man erweitere den Begriff so sehr, dass er jede Haltung einschließt, die den türkischen Feind zum der vernünftigen Kommunikation fähigen Gegenüber erklärt. Das Phänomen der Toleranz sollte scharf von dem der Xenophilie getrennt bleiben.55 Die Literaturgeschichte jener Jahrzehnte kennt jedoch einen Fall, in dem ein Bekehrungsdiskurs die Grenze zur Turkophilie überschritt. Es ist der des bereits erwähnten Georgios Trapezuntios, der auf Kreta geboren und vor allem durch seine Aristotelesübersetzungen berühmt wurde.56 Er war wohl ein recht streitlustiger Charakter, über den seine Zeitgenossen wenig Freundliches zu berichten wissen, und trat mit seiner Comparatio philosophorum Platonis et Aristotelis im Jahr 1458 die heftigste Phase im humanistischen Streit um den Vorrang aristotelischer bzw. platonischer Philosophie los.57 Mehrmals landete er im Gefängnis, unter anderem 1466, als man ihm Verrat an der Christenheit vorwarf. Der Grund: Er war in Istanbul gewesen, um seine Dienste dem Sultan anzutragen.58 Georgios Trapezuntios hat mehrere Schriften verfasst, die für Mehmed II. persönlich bestimmt waren. Ihn trieb die ungewöhnliche Überzeugung an, dass die Türken eine positive Rolle im Heilsgeschehen spielten. Besonders ihr Herrscher, einmal zum Christentum übergetreten, sollte sich als wichtiger Akteur der Heilsgeschichte zeigen, indem er die Menschen unter dem Dach der christlichen Religion zusammenführen würde. Sich selbst sah Georgios als den Propheten dieser Vision und als denjenigen, der die entscheidende Konversion des Sultans zustande bringen würde. Sein frühester Vorstoß in diese Richtung ist unmittelbar nach der Eroberung
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Konstantinopels verfasst, die ihn wohl endgültig von seiner und Mehmeds Mission überzeugte. Der Brieftraktat An den Emir, über die Wahrheit des Glaubens der Christen59 beglückwünschte den Sultan zu seinem Sieg und informierte ihn darüber, dass er diesen nur erringen konnte, weil Gott ihn dazu ausersehen habe, die Muslime zum christlichen Glauben zu führen. In langen Argumentationen legte Georgios ihm dann die Konvergenzen von Islam und Christentum ebenso dar wie die Überlegenheit der christlichen Lehre an jenen Punkten, an denen sich beide unterscheiden. Zum Ende fordert er ihn auf, dem Beispiel Konstantins zu folgen und so die Herrschaft über die Ökumene zu gewinnen. Noch entschlossener wurden Georgios’ Avancen Mitte der 60er Jahre. 1465 reiste er nach Istanbul, wohl um den Sultan persönlich zu treffen. Mehrere Schriften aus diesem Zusammenhang sind überliefert, darunter drei Widmungsbriefe an Mehmed II. , die diesem einige von Georgios Werken zueignen, sowie zwei längere Traktate, die eigens für den Sultan verfasst zu sein scheinen. „Ich kam aus keinem anderen Grund nach Konstantinopel, oh König der Könige und Autokrat der Autokraten, als mit Euer Hoheit zu sprechen und den Drang zu demonstrieren, mit dem ich Eure Macht preisen will, denn ich denke es gibt nichts besseres in diesem Leben, als einem weisen König zu dienen, der über die höchsten Dinge nachsinnt.“60
Dass ihm seine Schmeicheleien keinen Weg zum Herrscher bahnten, wissen wir aus den Quellen, es schmälert jedoch nicht seine bemerkenswerte Wahrnehmung von dessen historischer Rolle. Auf der Rückfahrt nach Italien verfasste er zu seinen Ehren den Traktat Zum ewigen Ruhm des Autokraten, in dem er Motive aus seinem Brief aus dem Jahr 1453 erneut aufarbeitete. Es war dieser Text, der Kardinal Bessarion in die Hände fiel und Georgios eine Zeit im päpstlichen Gefängnis einbrachte. „Mit deinem Sieg“, so schreibt Georgios an den Sultan, „übertrug Gott dir das Königreich [gemeint ist das Universalreich Konstantins, M. G.], um durch dich alle Völker unter einem Glauben und einer Kirche zu versammeln, und dich hervorzuheben als den Autokraten der ganzen Welt und den König nicht nur der vergänglichen Dinge, sondern auch der Himmel selbst. Dies ist mein Verständnis der jetzigen Lage, so gut ich es aus vergangenen Ereignissen und Prophezeiungen herausarbeiten kann.“61
So ist Mehmed II. bei Georgios vom Vorboten des Antichristen geradezu zu dessen Gegenpol avanciert, jedenfalls soweit es mittelalterliches apokalyptisches Denken betrifft. Dieses kennt die Prophezeihung vom Friedenskaiser der Endzeit, der die Menschheit vor dem Weltende in einem idyllischen Zustand des Friedens und der Gerechtigkeit vereinen werde.62 Dass der Gedanke, dass der türkische Sultan diese Rolle einnehmen könne,
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durchaus nicht nur einem exaltierten Hirn wie dem des Georgios entspringen konnte, dafür birgt erneut Enea Silvio Piccolomini, der 1461 in seinem päpstlichen Bekehrungsbrief an den Sultan andeutet, dieser könne zum größten Herrscher der Christenheit aufsteigen und dieser den Frieden bringen, würde er sich nur taufen lassen. „Wenn Du dies tust, wird es auf Erden keinen Fürsten geben, der Dich an Ruhm übertrifft oder Dir an Macht gleichzukommen vermag. Wir werden Dich Herrscher der Griechen und des Orients nennen, und was Du eben noch gewaltsam besetzt hast und zu Unrecht beherrschst, wirst Du zu Recht besitzen. Die Christen werden Dich alle verehren und zum Richter über Ihre Streitfälle machen. […] O wie groß wäre das Übermaß an Frieden, wie groß der Jubel des Christenvolkes, wie groß das Frohlocken überall auf Erden! Es kehrten die Zeiten des Augustus zurück und erneuert würde, was die Dichter das Goldene Zeitalter nennen.“63
4.
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Neben teils obskurem turkophilen Schrifttum64 gab es auch im 15. Jahrhundert politische Entitäten, die unter Turkophilie-Verdacht gerieten. Dem soll hier nicht mehr ausführlich nachgegangen werden, erwähnt sei jedoch, dass besonders die italienischen Herrschaften mit ihren komplexen Feindschafts- und Bündnisgeflechten und ihren Handels- und Machtinteressen im Levanteraum nicht immer über das Liebäugeln mit dem Feind erhaben blieben. Diese Lage erreichte ihren Höhepunkt am Ende der 1470er Jahre, als nach der Pazzi-Verschwörung und dem Attentat auf die Medici-Brüder in Florenz das politische Klima auf der Halbinsel besonders brodelte. Als 1480 ein türkisches Heer nach Süditalien übersetzte und in der Festung Otranto einen Brückenkopf errichtete, verdächtigte mancher Lorenzo de Medici, die Türken nach Italien gerufen zu haben, damit sie seinen Feinden in den Rücken fielen. Dass der Sultan den Medici den Attentäter von 1478, der in Istanbul ergriffen worden war, zum Geschenk machte, und Lorenzo daraufhin eine Münze zur Ehrung des türkischen Herrschers gestalten ließ, zeigt gute Beziehungen zwischen beiden Herrschern, die völlig untypisch für die Zeit waren und auch bei weitem das überschritten, was etwa Venedig oder Ancona unternahmen, um den Sultan für einen Ausbau der Handelsbeziehungen günstig zu stimmen.65 Deutlich ist – und das überrascht nicht –, dass turkophile Avancen die Ausnahme waren in einer Situation, die eher durch einen tief empfundenen Antagonismus geprägt war. Oft ist überdies unklar, ob sie tatsächlich einer turkophilen Gesinnung entsprachen. Humanisten konnten für ein Türkenlob bezahlt werden, wie der jüngere Filelfo, um wiederum dem Interesse eines Auftraggebers zu dienen, dessen Motive wirtschaftliche oder andere Vorteile sein mochten.
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Mancher versprach sich von einem Lobgedicht finanziellen Gewinn – wie üblich war es doch unter Humanisten, fast beliebigen Herrschern gelehrte Schmeicheleien zu schicken, um deren Aufmerksamkeit zu erregen. Es war allerdings ungewöhnlich, den Sultan unter die derart ansprechbaren Herrschern zu zählen. Insofern ist es womöglich kein Zufall, dass der größte Teil der durch turkophile Schriften auffällig gewordenen Autoren entweder selbst aus dem Osten stammte oder viel dort gereist war – Giovanni Mario Filelfo hatte eine griechische Mutter und als Kind und Jugendlicher in Konstantinopel gelebt, Georgios Trapezuntios stammte aus der Ägäis.66 Der zweifellos aufregendste Fall ist der seine. Georgios handelte allerdings nicht aus Sympathie oder Bewunderung für die Türken und war auch nicht in Form eines Exotismus von ihnen fasziniert. Dass er in dem Sultan den Heilsbringer einer zerrissenen Welt sah und ihn als solchen proklamierte, entstammte seiner tief empfundenen apokalyptischen Überzeugung. Deutlich ist, dass die hier angesprochenen turkophilen Dokumente einer gründlichen Einbettung nicht nur in die Diskurse, als deren Teile sie entstanden, bedürfen, sondern auch einer konsequenten lebensweltlichen Kontextualisierung. Lebensumstände und Hintergründe ihrer Autoren spielen ebenso ihre Rolle wie politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen. So wird letztlich fraglich, ob es das Phänomen der „Feindesliebe“ tatsächlich gibt. Die Zweckhaftigkeit dieser Zuneigung ist offenbar: Der Türke wird nicht an sich geliebt. Man lobt ihn als Vernichter der verhassten Griechen, als Brotgeber, vielleicht auch als mächtigen Herrscher, der einem Schutz vor Bösewichten angedeihen lässt, ja sogar als Heilsbringer. Der Hass und die Furcht vor dem feindlichen Fremden jedoch bleiben dem Türkenlob der Renaissance stets inhärent.
Anmerkungen 1
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Die Literatur zur Aufstiegsphase des Osmanischen Reiches, die landläufig bis zur Niederlage von Wien 1683 datiert wird, ist reichhaltig. Zum Einstieg vgl. H. İNALCIK, The Ottoman Empire. The Classical Age 1300-1600, New York 1973; C. KAFADAR, Between Two Worlds. The Construction of the Ottoman State, Berkeley 1995; C. IMBER, The Ottoman Empire 1300-1650. The Structure of Power, Basingstoke 2002. Zur hier vorwiegend interessierenden zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts vgl., noch immer grundlegend, F. BABINGERS Arbeiten, insbesondere sein Mehmed der Eroberer und seine Zeit. Weltenstürmer einer Zeitenwende, München 21959. Das europäische Bild vom Osmanischen Reich dieser Periode thematisiert A. HÖFERT, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450-1600, FrankfurtNew York 2003. Zur Eroberung selbst vgl. R. CROWLEY, 1453. The Holy War for Constantinople and the Clash of Islam and the West, New York 2005 und, immer noch grundlegend, S. RUNCIMAN, The Fall of Constantinopel 1453, Cambridge 1965. Zur Aufnahme des Ereignisses durch die Zeitgenossen vgl. besonders die Quellensammlung von A. PERTUSI, La caduta di Con-
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stantinopoli, 2 Bde., Mailand 1976. Einen Überblick über die Befunde bietet E. MEUTHEN, Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: R. Haubst (Hg.), Der Friede unter den Religionen nach Nikolaus von Kues, Mainz 1984, S. 35-60. Siehe auch die einschlägigen Beiträge in F.-R. ERKENS (Hg.), Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter, Berlin 1997 sowie B. GUTHMÜLLER und W. KÜHLMANN (Hgg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000. 3 Für die komplette Liste, entfaltet an den Berichten der Kardinäle Bessarion und Isidor und dem Bischof Leonardo von Chios, vgl. L. F. SMITH, Pope Pius II’s Use of Turkish Atrocities, in: The Southwestern Social Science Quarterly 46 (1966), S. 407-15, hier S. 409f. Vgl. auch J. HELMRATH, Pius II. und die Türken, in: Guthmüller/Kühlmann (Hgg.), Europa und die Türken, S. 79-137, hier S. 104ff. Zahlreiche Beispiele derartiger Beschreibungen sind gesammelt in PERTUSI, La caduta di Constantinopoli. 4 ENEA SILVIO PICCOLOMINI, Brief an Nikolaus Cusanus aus Graz vom 21. Juli 1453, ediert als Nr. 112 in Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini, hrsg. v. R. Wolkan, Bd. 3/1, Wien 1918, S. 204-15, hier S. 207: „Quid autem factura sit Turchorum rabies in urbe regia non scio, suspicari facile est: inimica gens nostre religionis nil ibi sanctum, nil mundum relinquet.“ Übers. hier und im Weiteren, wenn nicht anders vermerkt, vom Autor. 5 Ebd., S. 212: „Heu late patens Christiana quondam religio quomodo coartaris et deficis?“ 6 Vgl. zum Bild des Orients in der Kunst G.-G. LEMAIRES reich bebilderten Band Orientalismus. Das Bild des Morgenlandes in der Malerei, Köln 2000. 7 Bereits 1835 wurden preußische Militärberater im Osmanischen Reich aktiv. Besonders die Jungtürken waren eng mit dem Deutschen Reich verknüpft und ließen sich von Wilhelm II. schließlich in den Krieg ziehen. Vgl. übersichtshalber K. KREISER, Der osmanische Staat 1300-1922 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 30), München 22008, S. 36ff. Weiterführende Literatur zu den Beziehungen zu europäischen Mächten ebd., S. 176ff. 8 Vgl. etwa R. SCHWOEBEL, The Shadow of the Crescent. The Renaissance Image of the Turks (1453-1517), Nieuwkoop 1967, S. 148ff.; J. HANKINS, Renaissance Crusaders. Humanist Crusade Literature in the Age of Mehmed II, in: Dumbarton Oaks Papers 49 (1995), S. 111-207, hier S. 130. 9 Für einen kurzen Überblick zum westlichen origo Turcorum-Diskurs im Spätmittelalter vgl. HÖFERT, Den Feind beschreiben, S. 184ff. Für detailliertere Informationen vgl. M. MESERVE, Medieval Sources for Renaissance Theories on the Origins of the Ottoman Turks, in: Guthmüller/Kühlmann (Hgg.), Europa und die Türken, S. 409-36 sowie DIES., Empires of Islam in Renaissance Historical Thought, Cambridge (Mass.)-London 2008. 10 Zu den mittelalterlichen origo gentis-Diskursen im Allgemeinen vgl. A. PLASSMANN, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftungen in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen, Berlin 2006. 11 Vgl. etwa B. GUTHMÜLLER, Herrschaftslegitimation im höfischen Festspiel der italienischen Renaissance, in: P. Wunderli (Hg.), Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, Sigmaringen 1994, S. 225-39 und N. HAMMERSTEIN, Geschichte als Arsenal. Geschichtsschreibung im Umfeld deutscher Humanisten, in: A. Buck, T. Klaniczay und S. K. Németh (Hgg.), Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung in der Renaisance, Leiden 1989, S. 19-32; außerdem die einschlägigen Beiträge in J. HELMRATH, U. MUHLACK und G. WALTHER (Hgg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002. 12 Die Tradition dieses Motivs reicht bis auf die Fredegar-Chroniken zurück. Vgl. G. HUP-
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PERT, The Trojan Franks and their Critics, in: Studies in the Renaissance 12 (1965), S. 227-41. Zur Konjunktur der Idee in der Renaissance vgl. R. E. ASHER, National Myths in Renaissance France. Francus, Samothes and the Druids, Edinburgh 1993. In England geht der Mythos auf Geoffrey von Monmouths Historia regum Britanniae von 1138 zurück. Vgl. H. A. MAC DOUGALL, Racial Myth in English History. Trojans, Teutons, and Anglo-Saxons, Montreal 1982. Vgl. Giovanni Boccaccios 1365 vollendete Genealogiae deorum gentilium, 6. Buch, Kap. 24. Die hinreichend bekannten Fakten und Streitpunkte zu dieser Chronik sollen hier nicht erneut wiedergekäut werden. Statt dessen sei auf die einschlägigen Lexikonartikel verwiesen. Vgl. B. KRUSCH (Hg.), Chronicarum quae dicuntur Fredegarii Scholastici libri IV com continuationibus, in: Monumenta Germaniae historica. Scriptores rerum Merovingicarum, Bd. 2, Hannover 1888, S. 46. Vgl. die Zusammenfassung der Forschungsgeschichte bei MESERVE, Empires of Islam, S. 48ff. Erst im 10. Jahrhundert begannen die turkmenischen Völker aus Zentralasien nach Westen zu wandern und drangen in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in die muslimische Welt vor, wo sie das Sultanat der Seldschuken errichteten. Die Expansion der Seldschuken in den kleinasiatischen Machtbereich Konstantinopels gilt als einer der Auslöser der Kreuzzugsbewegung. Der zweite Strang dieser Tradition ist abhängig von der Historia Francorum regum aus dem 8. Jahrhundert, in deren Version keine „Türken“ vorkommen. Vgl. H. VON ST. VIKTOR, Excerptionum allegoricarum libri XXIV, in: Patrologia latina, Bd. 177, Sp. 191-285, hier Sp. 275f. Vgl. das Chronicon (auch Historia rerum in partibus transmarinis gestarum) des WILHELM VON TYRUS, Edition als Guillaume de Tyr, Chronique, hrsg. v. R. Huygens, Tournai 1986, S. 114f. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch A. MURRAY, William of Tyre and the Origin of the Turks. On the Sources of the Gesta Orientalium Principum, in: M. Balard, B. Kedar und J. Riley-Smith (Hgg.), Dei gesta per Francos. Crusade Studies in Honour of Jean Richard, Aldershot 2001, S. 217-29. Vgl. VINCENT DE BEAUVAIS, Speculum historiale, Buch 2, Kap. 66. Als Standardausgabe gilt noch immer die vierbändige Edition des Speculum maius aus dem Jahr 1624, in deren vierten Band sich das Speculum historiale befindet. Als Beispiel für die Tradierung des Motivs ins 15. Jahrhundert vgl. etwa HARTMANN SCHEDELS Liber chronicarum von 1493, Fol. 37. Zu Hintergrund und Überlieferungslage dieses Textes vgl. MESERVE, Empires of Islam, S. 35ff. Margaret Meserve vertritt die These, dass viele – wenn nicht gar alle – Autoren, die sich im 15. Jahrhundert dieser Idee vom türkischen Rachefeldzug gegen Byzanz widmeten, von dem gefälschten Sultansbrief inspiriert waren. Vgl. ebd., S. 37, mit Beispielen auf den folgenden Seiten. Dieses Argument macht besonders Alfons Becker in seiner großen Biographie Papst Urbans II. (1088-99), der 1095 zum ersten Kreuzzugs aufrief, stark. Vgl. A. BECKER, Papst Urban II. (1088-1099), Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 334ff. Dass der restauratio-Gedanke wesentlich auf die frühesten Kreuzzugskonzeptionen wirkte, bestätigt auch N. DANIEL, The Legal and Political Theory of the Crusade, in: H. W. Hazard und N. P. Zacour (Hgg.), A History of the Crusades. Volume 6: The Impact of the Crusades on Europe, Madison
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1989, S. 3-38, hier S. 30ff. 26 Zu ihm vgl. neben den einschlägigen Lexikontexten v. a. seine Autobiographie, die Commentarii rerum memorabilium, hrsg. v. A. van Heck, 2 Bde., Vatikanstadt 1984 sowie die nach wie vor umfangreichste Biographie von G. VOIGT, Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst Pius der Zweite und sein Zeitalter, 3 Bde., Berlin 1856-63. Beide Werke sind mit angemessener kritischer Distanz zu rezipieren. Einen hilfreichen Überblick über Piccolominis breitgefächerte schriftstellerische Tätigkeit gibt F. J. WORSTBROCK, Art. Piccolomini, Aeneas Silvius (Papst Pius II.), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon 7, Berlin-New York 1989, Sp. 634-69. 27 Die prominentesten Referenzstellen zur Skythenthese in Piccolominis Werk finden sich in De Europa im Kapitel 20f. (in A. VAN HECKS Edition, Vatikanstadt 2001, S. 62ff.), in De Asia im Kapitel 100 (in den Opera quae extant omnia, Basel 1551, S. 383ff.), in der Frankfurter Reichstagsrede Constantinopolitana clades vom 15. Oktober 1454 (hrsg. v. J. Helmrath in DERS., Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini. Studien zu Reichstag und Rhetorik, ungedr. Habilitationsschrift Köln 1994, S. 367) und im Brief an Nikolaus Cusanus (wie Anm. 4, S. 209), der wohl zugleich die früheste Referenz darstellt. 28 Vgl. O. PRINZ (Hg.), Die Kosmographie des Aethicus (= Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 14), München 1993, S. 119ff. Zu dem mysteriösen Autor und seinem Ruf im Mittelalter vgl. die dortige Einleitung. Vgl. auch MESERVE, Medieval Sources, S. 420ff. 29 Vgl. O. VON FREISING, Chronica sive Historia de duabus civitatibus, hrsg. v. A. Hofmeister, Hannover-Leipzig 1912, S. 253. 30 Und zwar in seinen einflussreichen sog. Dekaden. Vgl. F. BIONDO, Historiarum ab inclinatione Romanorum, Basel 1531, S. 151. 31 PICCOLOMINI, De Europa (wie Anm. 27), S. 63: „gens truculenta, ignominiosa et in cunctis stupris ac lupanaribus fornicaria. Comedit que ceteri abominantur: iumentorum, luporum et uulturum carnes, nec abortiuis himinum abstinuit. Diem festum nullum coluit, nisi mense Augusto Saturnalia.“ Hier und im Folgenden zit. nach der Übers. von A. HARTMANN, Enea Silvio Piccolomini: Europa, Heidelberg 2005, S. 96. 32 Vgl. PICCOLOMINI, De Asia (wie Anm. 27), S. 384f. 33 PICCOLOMINI, De Europa (wie Anm. 27), S. 81: „sanctorum imaginesaut luto fedate aut ferro delete. Altaria diruta. In templis ipsis aut lupanaria meretricum facta aut equorum stabula.“ 34 Zur frühen Rezeption der Schriften Piccolominis in Deutschland vgl. überblickshalber WORSTBROCK, Piccolomini, Sp. 660ff. sowie die bibliographische Studie von P. WEINIG, Aeneam suscipite, Pium recipite. Aeneas Silvius Piccolomini. Studien zur Rezeption eines humanistischen Schriftstellers im Deutschland des 15. Jahrhunderts, Wiesbaden 1998. 35 Vgl. MESERVE, Empires of Islam, S. 40f. 36 Zur Biographie vgl. D. AGUZZI-BARBAGLI, Art. Giovanni Mario Filelfo, in: Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and Reformation, Bd. 2, Toronto 1986, S. 33f. sowie Aldo Manettis Einleitung zu Giovanni Mario Filelfo, Amyris, hrsg. v. A. MANETTI, Bologna 1978, S. 17ff. 37 Zu Ferducci vgl. ebd., S. 20 sowie A. PERTUSI, The Anconitan Colony in Constantinopel and the Report of Its Consul, Benevento, on the Fall of the City, in: A. E. Laiou-Thomadakis (Hg.), Charanis Studies. Essays in Honor of Peter Charanis, New Brunswick 1980, S. 199-218, hier S. 203f. 38 Edition von A. MANETTI. 39 FILELFO, Amyris, Buch 1, Z. 482ff.: „tu genus es Priami, teque ornamenta sequuntur /
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sanguinis invicti quondam, dein fraude remissi.“ 40 R. F. GLEI und M. KÖHLER (Hgg.), Pius II. Papa: Epistola ad Mahumetem. Einleitung, kritische Edition, Übersetzung, Trier 2001. 41 Ebd., S. 266: „Tua origo, sicut accepimus, Scythica est; inter Scythas multos fuisse viros in armis claros memoriae traditur, qui vectigalem Asiam pluribus saeculis tenuerunt et Aegyptios ultra paludes eiecerunt. Non sunt comparandi aut Aegyptii aut Arabes Scythico generi, non est forti et ignavo aequa societas. Mirandum est tantum potuisse suis fascinationibus Arabes, ut audaces et praestantes Scythas in suam societatem adduxerunt.“ Übers. zit. nach ebd., S. 267. 42 Bereits in den frühesten christlichen Islamtexten tritt das Motiv auf. Vgl. J. TOLAN, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002, S. 45ff. u. ö. Man folge dort auch den zahlreichen Indexeinträgen zum Stichwort „Antichrist“, S. 360. Vgl. auch R. K. EMMERSON, Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalyptism, Art, and Literature, Manchester 1981, S. 67f. u. ö. sowie B. MC GINN, Antichrist. Two Thousand Years of the Human Fascination with Evil, San Francisco 1994, S. 85ff. 43 Die Apologie unterscheidet zwischen drei Offenbarungen: der Gesetzesreligion des Mose und der Gnadenreligion Jesu, die ihren Ursprung in Gott hätten, und schließlich der Offenbarung des Teufels. Vgl. die Edition in F. G. MUÑOZ, Exposición y refutación del Islam. La versión latina de las epistolas de al Hāšhimī y al-Kindī, Coruña 2005, S. 65. 44 Vgl. P. VENERABILIS, Summa totius haeresis ac diabolicae sectae Saracenorum, in: Ders., Schriften zum Islam, hrsg. v. R. Glei, Altenberge 1985, S. 2-23, bes. S. 16ff. 45 Vgl. R. B. C. HUYGENS (Hg.), Willelmi Tyrensis Archiepiscopi Chronicon (= Corpus Christianorum. Series Latina. Continuatio Medieaevalis, 63), Tournai 1986, S. 105: „Mahomet primogentii Sathane“. 46 Vgl. Anm. 42. 47 Offb. 6.8. ― Zu Joachims Islambild vgl. R. W. SOUTHERN, Western Views of Islam in the Middle Ages, Cambridge (Mass.)-London 1962, S. 40f., und EMMERSON, Antichrist, S. 60f. und 67. 48 Vgl. neben der in Anm. 42 genannten Literatur auch N. DANIEL, Islam and the West. The Making of an Image, Oxford 21993, bes. S. 210ff. 49 Die Kreuzzugsbulle ediert in H. WEIGEL und H. GRÜNEISEN (Hgg.), Deutsche Reichstagsakten, Bd. 19/1, Göttingen 1969, S. 59-64. 50 Ebd., S. 60: „Fuit iam olim ecclesie Christi hostis acerrimus crudelissimus persecutor Mahomet, filius sathane, filius perditionis, filius mortis, animas simul et corpora cum patre suo diabolo cupiens devorare, Christianum sanguinem sitiens, redemptionis facte per salvatorem et redemptorem Jhesum Christum dominum nostrum atrocissimus et sanguinolentissimus inimicus.“ 51 Vgl. ebd., unter Berufung auf Offb. 12, aber auch 13 und 20. 52 Der türkische Sultan Mehmed II. – Mehmed ist die türkische Namensform von Muhammad. 53 Zur heilsgeschichtlichen Aufladung der Eroberung Konstantinopels vgl. die Quellen in PERTUSI, La caduta di Constantinopoli, Bd. 2. Vgl. auch die detailreiche Darstellung von U. ANDERMANN, Geschichtsdeutung und Prophetie. Krisenerfahrung und -bewältigung am Beispiel der osmanischen Expansion im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: Guthmüller/Kühlmann (Hgg.), Europa und die Türken, S. 29-54. 54 Die Literatur zum Religionsgespräch im 15. Jahrhundert ist inzwischen zahlreich. Als Überblick vgl. zu Nikolaus Cusanus W. A. EULER, Una religio in rituum varietate. Die Begegnung der Religionen bei Nikolaus von Kues, in: Zeitschrift für Missionswissen-
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schaft und Religionswissenschaft 85 (2001), S. 243-57; zu Juan de Segovia vgl. M. GRÜNDER, Via pacis et doctrinae. Juan de Segovia und die Herausforderung durch den Islam nach dem Fall Konstantinopels 1453, in: M. Heimbach-Steins und R. Wielandt (Hgg.), Was ist Humanität? Interdisziplinäre und interreligiöse Perspektiven, Würzburg 2008, S. 57-67. Zum theoretischen Spektrum des Toleranzbegriffs vgl. R. FORST, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003, S. 30ff. Laut Forst enthält Toleranz eine „Ablehnungs-Komponente“, die dem Liebesbegriff gerade nicht eigen ist. Zu Georgios vgl. die grundlegende Biographie von J. MONFASANI, George of Trebizond. A Biography and a Study of His Rethoric and Logic, Leiden 1976. Derselbe Autor hat auch eine Sammlung von Schriften von Georgios ediert: Collectanea Trapezuntiana. Texts, Documents, and Bibliographies of George of Trebizond, Binghamton 1984. Vgl. dazu J. HANKINS, Plato in the Italian Renaissance, Leiden-New York-Köln 1990, bes. S. 236ff. Vgl. MONFASANI, George of Trebizond, S. 189f. Im Original Perˆ tÁj ¢lhqe…aj tÁj tîn cristianîn p…stewj prÕj tÕn ¢mir©n. Eine Edition wurde 1954 von G. ZORAS herausgegeben. Zoras’ Text und eine französische Übersetzung finden sich in A.-T. KHOURY (Hg.), Georges de Trébizonde: De la vérité de la foi des chrétiens, Altenberge 1987. MONFASANI, Collectanea Trapezuntiana, Stück LXXXII: Preface to Maomettus II for the Isagoge to Ptolemy’s Almagest; dort griech. Originaltext und engl. Übersetzung. Die beiden dort folgenden Einträge verweisen auf die beiden anderen Widmungsbriefe. Ebd., Stück CXLIV: On the Eternal Glory of the Autocrat, Kap. I, Abs. 11 (S. 530, engl. Übers. S. 495). Zu diesem Konzept vgl. übersichtshalber T. STRUVES Artikel im Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, München 1989, S. 921ff. sowie die ausführliche Studie von H. MÖHRING, Der Weltkaiser der Endzeit. Entstehung, Wandel und Wirkung einer tausendjährigen Weissagung, Stuttgart 2000. PICCOLOMINI, Epistola ad Mahumetem, S. 144ff.: „Hoc si feceris, non erit in orbe princeps, qui te gloria superset aut aequare potential valeat. Nos te Graecorum et Orientis Imperatorem appellabimus, et, quod modo vi occupas et cum iniuria tenes, possidebis iure. Christiani te omnes venerabuntur et suarum litium iudicem facient. [...] O quanta esset abundantia pacis, quanta Christianae plebis exsultatio, quanta iubilatio in omni terra! Redirent Augusti tempora et, quae poetae vocantaurea saecula, renovatur.“ Übers. zit. nach ebd., S. 145ff. Die Zahl der oben genannten Beispiele lässt sich vermehren. Prominent ist vor allem die Chronik des Kritoboulos von Imbros, eine der wichtigsten zeitnahen Geschichtsquellen, die der Autor dem Sultan zueignete und deren Zweck, die Herrschaft Mehmeds zu verherrlichen, außer Frage steht. Text und Studie in D. R. REINSCH (Hg.), Critobuli Imbriotae historiae, Berlin 1983; eine deutsche Übersetzung von Reinsch ist erschienen als Mehmet II. erobert Konstantinopel, Graz 1986. Für weitere Beispiele vgl. auch F. BABINGER, Eine lateinische Totenklage auf Mehmed II., in: Ders., Aufsätze und Abhandlungen zur Geschichte Südosteuropas und der Levante 2, München 1966, S. 151-61 oder, zu Francesco Filelfos panegyrischer Entgleisung, A. PERTUSI, Testi inediti e poco noti sulla caduta di Costantinopoli, Bologna 1983, S. 264-69. Vgl. dazu F. BABINGER, Lorenzo dei Medici und der Osmanenhof, in: Ders., Spätmittelalterliche fränkische Briefschaften aus dem großherrlichen Seraj zu Stambul, München 1963, S. 1-53.
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66 Auch diese Liste lässt sich fortsetzen: Kritoboulos stammte ebenfalls aus der Ägäis und stand gar in Mehmeds Diensten. Francesco Filelfo hatte lange Zeit in Konstantinopel gelebt.
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DIE ANDEREN ALS RESSOURCE FÜR DIE GESTALTUNG DES EIGENEN Das „Virtually Jewish“ zwischen Eigen und Fremd
Noch bis vor gar nicht allzu langer Zeit – etwa bis Ende der achtziger Jahre – war die Auseinandersetzung mit jüdischer Kultur in nichtjüdischen Kontexten die Sache kleiner gesellschaftlicher Minderheiten. Die populäre Kenntnis dessen, was „Judentum“ genannt wird, entsprach dem geringen Interesse. Die beschränkten Wissensbestände über „Jüdisches“ wurden eher lustlos im Religionsunterricht erworben, wobei die Wissensvermittlung im Wesentlichen auf die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen christlicher und jüdischer Religionslehre beschränkt blieben. Kamen im Schulunterricht darüber hinaus Juden vor, dann im Fach Geschichte. Dort aber ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihrer Opferrolle in der Shoah. Man las – weil als Oberstufenlektüre verordnet – „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff;1 den jüdischen Alltag verstanden, die jüdische Kultur, ihre Herkunft und die näheren Umstände ihrer Entstehung und Ausformung indessen begriff man hierdurch nicht.2 Wo man darüber hinaus mit der Thematik konfrontiert wurde – in historischen TV-Spielfilmen wie „Holocaust“3 oder in Fernsehdokumentationen wie „Shoah“4, in alternativen Geschichtswerkstätten und in Volkshochschulvorträgen – standen Vergangenheitsbewältigung und der Umgang mit (kollektiver) Schuld im Vordergrund. Abermals waren Juden Opfer, waren die Gegangenen, die Deportierten, von denen man wenig mehr hatte als die vage Ahnung, dass sie irgendwann einmal Gekommene gewesen sein mussten, ohne jemals wirklich Angekommene und Angenommene geworden zu sein. Die alte Bundesrepublik – und mit ihr auf nicht identische und doch ähnliche Weise die Zweite Republik Österreich – fanden sich im Spagat zwischen offiziell proklamiertem Philosemitismus und unterschwellig omnipräsenten antijüdischen Ressentiments.5 Jene wenigen Historiker und Landeskundler, die nach 1945 das Thema „Juden“ aufgriffen, bemühten sich nach Kräften darum, das bessere „Davor“ in den Vordergrund zu stellen, konstruierten rückblickend symbiotische Idyllen im Zusammenleben von Juden und Nichtjuden und umschifften somit die Frage nach dem „Warum“ der Shoah.6 Die noch selteneren historisch-sozialwissenschaftlich argumentierenden Wissenschaftler, die dergleichen Mythenbildung kritisierten – man darf an die Frankfurter Schule7 oder – für Vertreter des Faches Volkskunde8 besonders wichtig – an Utz Jeggle9 erinnern –, wurden zumindest als unbequeme Geister mit der Tendenz zur Nestbeschmutzung kritisiert.
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Natürlich sollte an dieser Stelle nicht nur von der alten BRD die Rede sein. Vielmehr ist es geboten, den staatlich verordneten Antizionismus und die posthume Vereinnahmung der NS-Opfer zugunsten des Sozialismus und die Konsequenzen für die populäre Sicht des Jüdischen in der DDR und in anderen seinerzeitigen COMECON-Staaten zumindest zu erwähnen.10 Es muss erwähnt werden, dass die retrospektive Konstruktion einer multikulturellen Musterlandschaft im Hinblick auf die Staatsdoktrin der Zweiten Republik in Österreich in eigenartigem Widerspruch zur gleichzeitigen ideellen wie praktisch-politischen Ausgemeindung der Holocaust-Überlebenden steht.11 Es muss gesagt sein, dass Antifaschismus, Nationalismus und Antisemitismus in der Volksrepublik Polen ein eigenartiges, teilweise voneinander abgegrenztes, teilweise miteinander verschränktes Nebeneinander bildeten12 und dass dort die einzigen Pogrome in Europa nach 1945 stattfanden.13 Dies alles muss gesagt sein, um die Merk-Würdigkeit dessen zu verstehen, wovon hier eigentlich zu reden ist. Und vermutlich müsste diese Vorgeschichte noch viel ausführlicher erörtert werden, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Doch lässt sich bereits anhand der bisherigen Ausführungen erahnen, dass die Auseinandersetzung mit „jüdischen Themen“, die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und Kultur in Deutschland wie in Österreich und in einigen anderen mitteleuropäischen und ostmitteleuropäischen Gesellschaften vieles gewesen sein mag, ganz gewiss aber kein Freizeitvergnügen. Die Beschäftigung mit „Juden“ mag ritualisierte Pflichtübung, politisches Bekenntnis, ethisch-moralische Verpflichtung und – denken wir an die Folgen von „68“ und an alternative Geschichtswerkstätten – politisches Kampfinstrument gewesen sein. Ganz sicher aber wurde die Auseinandersetzung mit dem „Jüdischen“ nicht lustvoll betrieben, und sie war alles andere als sinnlich. Wer Nichtjude war, verspürte kaum je das Bedürfnis Jüdisches an sich haben zu wollen. Und während in der alten Bundesrepublik dank der „Woche des ausländischen Mitbürgers“ griechische Volkstänze zum Breitenkulturgut wurden und der Horizont allmählich über Europa hinaus erweitert wurde, trat jüdisches Kulturgut auch im Kontext der Multikulti-Republik so gut wie nicht in Erscheinung. Bei allem Unbehagen angesichts der verkürzten Darstellung lässt sich – über den Daumen gepeilt, aber dennoch nicht unzutreffend – sagen, dass Juden für die meisten mitteleuropäischen Gesellschaften Fremde waren, als sie kamen und ihre Fremdheit reproduziert worden ist bis zum Zeitpunkt von Vertreibung und Deportation, ja – genau genommen – noch darüber hinaus.14 Angesiedelt von absolutistischen Herrschern als Humankapital, vom Klerus ungern geduldet und oftmals in Allianz mit der christlichen Bevölkerung auf unterschiedlichste Weise verfolgt und ausgegrenzt, blieben Juden im Sinne dessen, was Gunnar Myrdal im Zusammenhang mit den Afroamerikanern als „vicious circle of cumulative causation“15 bezeichnet hat, über lange Zeiträume hinweg fremd.
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Im Laufe der Nationalstaatenbildung geriet die jüdische Bevölkerung – assimiliert oder nicht – zur zweifelhaften Größe in den zunehmend ethnisch homogen gedachten Gemeinschaftskonzepten, ja mitunter auch – wie Joanna Beata Michlic im Blick auf Polen formuliert hat – zum „threatening other“ im Kontext der nichtjüdischen Bevölkerung.16 Die Anthropologisierung und Biologisierung der menschlichen Existenz essentialisierte das Anderssein lange bevor die Idee der ethnisch-nationalen Homogenisierung in der Shoah kulminierte. Nach 1945 herrschten Sprachlosigkeit und Vergessenwollen, Erinnernmüssen oder Nichterinnerndürfen – vier Jahrzehnte lang. Umso erstaunlicher möchte es anmuten, dass in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre Angebot und Nachfrage auf dem Gebiet der Wissensvermittlung über jüdische Kultur massiv zunehmen und sich ein Markt für jüdische Kulturgüter und Jüdisches im weitesten Sinne entwickelt. Ein neuer Markt, der sich zunächst in der verstärkten Gründung jüdischer Museen oder jüdischer Abteilungen in Stadt- und Regionalmuseen, in Synagogenrestaurierungen und in verstärkter Präsenz des Jüdischen in den Medien abbildet. Ein Markt, der noch an Dynamik gewinnt, als die Öffnung von Ostmitteleuropa Orte ins Blickfeld der europäischen Aufmerksamkeit rückt, die im westlichen Nachkriegseuropa als Orte überhaupt bzw. im östlichen Europa als jüdische Orte der Vergessenheit anheimgefallen sind. Was infolge dieser Horizonterweiterung Anfang der neunziger Jahre beginnt, ist nicht nur die Wiederentdeckung touristischer Destinationen in Ostmitteleuropa, sondern zugleich auch die Wiederentdeckung der jüdischen Kultur an den ostmitteleuropäischen Schauplätzen. Und weil im Berliner Scheunenviertel, weil in Prag oder Tykocin17 eine Bausubstanz erhalten geblieben ist, der jüdische Geschichte und jüdische Geschichten bereits eingeschrieben sind oder der Jüdisches unschwer inskribiert werden kann, werden touristische Erkundungen auf jüdischen Spuren in den 1990er Jahren zunehmend interessant: Angeboten werden Stadtführungen mit Schwerpunktsetzungen auf dem Feld der jüdischen Lokalgeschichte, Besuche in (musealisierten) Synagogen und Friedhofsbesichtigungen. In Berlins so genannter Neuer Mitte setzt die frisch sanierte goldene Kuppel der Synagoge in der Oranienburger Straße, deren Renovierung noch zu DDRZeiten beschlossen worden ist, ein weithin sichtbares Zeichen gewesener und aktueller jüdischer Präsenz. Im Umfeld der Synagoge indessen beginnen die Gründer der nach der „Wende“ neu entstehenden Geschäfte und Lokale bei deren Namensgebung mit jiddischen Begriffen und jüdischen Familiennamen zu spielen oder beziehen die verblichenen Schriftzüge, die von ehemaligen jüdischen Läden künden, in die neue Fassadengestaltung ein. In Wien und Berlin entstehen in den 1990er Jahren neue jüdische Museen, die öffentlich-rechtlichen TVSender berichten von der jüdischen Geschichte in den ostmitteleuropäischen Reformstaaten und das längst abgesetzte, gleichermaßen lehrreiche wie erfrischend despektierliche ARD-Jugendformat „Moskito“ widmet dem Thema
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„Juden“ eine eigene Sendung, in der nicht nur religiöse Aspekte, Vertreibung und Vernichtung, sondern auch die „jüdische Alltagskultur“ thematisiert werden.18 Der Klezmer, die Unterhaltungsmusik der ostmitteleuropäischen Juden, wird, teils in Stilkombination mit Jazz und Rock, teils in traditioneller Interpretation zu einem populären Musikgenre, das auch die Phonoindustrie zu interessieren beginnt und mitunter auch den bildungsbürgerlichen Nachwuchs zum Klarinettenunterricht motiviert. In koscheren Restaurants wie der Wiener Arche Noah19 – zuvor in die mental maps der meisten nichtjüdischen Stadtbewohner allenfalls durch die permanente Polizeipräsenz vor dem Lokal eingeschrieben – ist Mitte der neunziger Jahre angesichts des massiven kulinarischen Interesses von upper middle class-Gojim oft kein Platz mehr zu bekommen und die Menora hält tausendfach Einzug in die Mittelschicht-Wohnlandschaften. All dies Zeichen eines zunehmend entkrampften und zunehmend sinnlichen Zugangs zu einer ehedem fremden, aber allmählich doch vertraut gemachten jüdischen Kultur und einer offensichtlichen Identifikation mit dem, was im populären Kontext zu dieser Zeit als jüdisch begriffen wird. Zugleich kann all dies auch als Zeichen einer demonstrativen Identifikation der qualifizierten und politisch korrekten Mittelklasse mit den Opfern des Nationalsozialismus und als der Versuch verstanden werden, sich – historisch betrachtet – auf der richtigen Seite zu verorten. Doch dies ist längst nicht alles: In Krakau, wo die Nationalsozialisten aus geschichtswissenschaftlich bislang nicht aufgeklärten Motiven die Bausubstanz des ehemaligen jüdischen Stadtteils Kazimierz unzerstört beließen, setzt nach der Weltpremiere von Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ eine europaweit beispiellose Dynamik bei der Revitalisierung jüdischer Kultur ein. Im 16. und 17. Jahrhundert ein Kristallisationspunkt der europäisch-jüdischen Kultur galt Kazimierz den Juden der Diaspora einst als „Stadt und Mutter Israels“ und hat somit bis heute für Juden in aller Welt erhebliche Bedeutung als historische Stätte und Erinnerungsort. Ein Ort, der all das reflektiert, was die historischen Stationen des ostmitteleuropäischen Judentums prägt: Schutz- und Fluchtraum von europäischer Bedeutung im 15. und 16. Jahrhundert, wirtschaftliche Prosperität und intellektuelle Spitzenleistungen im 16. und 17. Jahrhundert, Verfall durch äußere und innere Umstände ab dem 18. Jahrhundert, Aufkommen und Blüte des Chassidismus, Emanzipation der Eliten und ungleichzeitige Unterschichtenkultur, Antisemitismus als Spaltprodukt der Nationswerdung Polens in der Moderne und Untergang infolge der deutschen Invasion von 1939. Nach dem Zweiten Weltkrieg zur mehr oder minder zwangsläufigen Wohnstätte für Unterschichten und Randgruppen geworden, stellt sich der jüdische Teil von Kazimierz nach der „Wende“ als der am weitesten heruntergekommene Teil von Krakau dar, der mit Ausnahme des 1988 gegründeten Jüdischen Museums, der winzigen noch immer ihrer Zweckbestimmung nach genutzten Remuh-Synagoge20 und des ihr angeschlossenen Friedhofs über keinerlei touristische Attraktionen verfügt. Dass das Stadtviertel auf kleinster Fläche vier wei-
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tere damals zweckentfremdete Synagogen, ein Dutzend Betstuben sowie zahlreiche jüdische Wohnhäuser aus unterschiedlichen baugeschichtlichen Epochen aufzuweisen hat, war damals allenfalls auf den zweiten oder dritten Blick erkennbar. Touristenführer oder lokalhistorische Literatur, welche die jüdische Bevölkerung thematisierten, waren so gut wie gar nicht erhältlich, zumal nicht in englischer oder gar deutscher Sprache. Die Anfang und Mitte der 1990er Jahre gratis an Touristen verteilten Krakau-Broschüren empfahlen den als unsicher dargestellten Stadtteil zumindest bei Dunkelheit nicht aufzusuchen. Es ist der Initiative einiger weniger nichtjüdischer Krakauer Investoren geschuldet, dass in Kazimierz in den neunziger Jahren eine Judaica-Buchhandlung (Jarden)21 und ein kleines Café mit Judaica-Dekor, jüdischem Speisen- und Getränkeangebot und regelmäßig abgehaltenen Klezmer-Darbietungen (Ariel)22 eröffnet wurden. Noch im Januar 1993 – und somit kurze Zeit vor dem Kinostart von „Schindlers Liste“23 – bilden diese Buchhandlung und das Café die einzigen kommerziellen Angebote auf dem Feld der jüdischen heritage industry. Drei Jahre später, und somit nur rund ein Jahr nach dem US-Kinostart von Spielbergs Film, hat sich das Café Ariel nach der Trennung seiner bisherigen Inhaber in zwei Etablissements aufgegliedert, die beide vergleichbare Angebote machen, beide unter dem Namen Ariel firmieren und sich beide bester Nachfrage erfreuen. Nicht minder frequentiert wird das neu eröffnete Klezmer Hois24, das im Gebäude der ehemaligen Mikwah25 eröffnet worden ist. Die Remuh-Synagoge wie auch der ihr angeschlossene Friedhof ist von Sonntag- bis Freitagmittag gegen Eintrittsgebühr für Besichtigungen geöffnet und geführte Spaziergänge mit Bezügen zu Spielbergs Film oder Erläuterungen zur jüdischen Geschichte erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Auf der Basis einiger weniger aus lokalen Kontexten heraus entstandenen oder von ausländischen Dritten ausgegangenen Initiativen, vor allem aber infolge der durch den Film erzeugten weltweiten Aufmerksamkeit setzt nur kurze Zeit nach dessen Premiere in den USA und Europa ein privatwirtschaftlich initiierter boom des Jüdischen in Kazimierz ein, dessen Eigendynamik alle Bemühungen einer sich erst langsam reorganisierenden bzw. neu strukturierenden (kultur)politischen Administration um die Einflussnahme auf die Prozesse in diesem Viertel ins Leere laufen lässt.26 Mit den Versatzstücken jüdischer Kultur spielend, mit Klezmer-Musik, hebräischen und jiddischen Schriftzügen, Kunstgegenständen, Kulinaria und allem, was an Mobiliar und Zierrat alt anmutet und als jüdisch präsentiert werden kann, inszenieren nichtjüdische Unternehmer in der ulica Szeroka das jüdische Kulturerbe von Kazimierz. Langwierige Restitutions- und Organisationsverfahren führten zu einer nur langsam voranschreitenden Restaurierung und Öffnung der Synagogen, die zunächst – nicht anders als die „ethnographischen Objekte“ eines Museums ohne erläuternde Kontexte – lediglich „Geschichte“ und „Fremdheit“ reflektierten. Die von Stuart Hall diagnostizierte Wertschätzung des Traditionellen um seiner
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selbst willen und seine ahistorische Verarbeitung waren unumgänglich,27 weil sich für die Erläuterung der Objekte zunächst niemand zuständig fühlte. Niemand – außer den neu aus dem Boden schießenden Instanzen der kommerziellen Kulturund Geschichtsvermittlung. Dabei ergaben und ergeben sich für die Kulturtouristen in Kazimierz durchaus verschiedene Ebenen der Fremdheitserfahrung: Sind es für nichtjüdisch-polnische Touristen vor allem die „ethnographischen Objekte“, welche die Fremdheit konstituieren, so kommt für westliche Besucher hinzu, dass sie meist der Sprache nicht mächtig sind, dass sie mit einer insgesamt unvertrauten Architektur in teilweise noch unsaniertem Zustand und mit einem Viertel konfrontiert sind, dessen soziale Struktur zunehmend von dem Gegensatz zwischen sozialem Brennpunkt und Bohème-Quartier gekennzeichnet ist. Solcherart bilden die eindeutig als jüdisch dechiffrierten „ethnographischen Objekte“ im Zusammenspiel mit der nicht notwendigerweise als jüdisch zu klassifizierenden und dennoch von der Baukultur der Herkunftsländer der westlichen Touristen abweichenden Architektur des Viertels, dessen abschnittsweise noch immer malerisch-vernachlässigtem Charme und dem sozialkulturellen „Milieu“ ein Amalgam des Exotischen, welches die Fremdheitserfahrung steigert und am Ende das Bild vom „Jüdischen“ prägt. Und mehr noch: Das Jüdische erscheint umso fremder, als es in seiner musealen wie kommerziellen Darbietung die assimilliert-bürgerliche jüdische Kultur ausklammert und überwiegend bis ausschließlich als ein von Chassidismus und Orthodoxie geprägtes Ostjüdisches präsentiert wird. Treten jüdische Bildungs- oder Erinnerungsreisende in Gruppen auf, so ergibt sich Fremdheit und Distanz schon auf Grund der Tatsache, dass diese Reisegruppen meist von bodyguards abgeschirmt werden oder/und dadurch, dass es sich um Gruppen orthodoxer Männer handelt, die durch schwarze Tracht, lange Bärte und große Hüte auffallen.28 Spätestens seit Ende der neunziger Jahre zieht es jährlich zehntausende Touristen nach Kazimierz. Die Mehrheit davon sind Nichtjuden ohne spezifische Lern- oder Gedenkabsichten. Hinzu kommt ein studentisches Publikum, welches die seit der Jahrtausendwende neu entstehenden Kneipen und Bars für sich entdeckt hat. Es gibt zahlreiche „jüdische“ Cafés und Bars, der Klezmer erklingt allabendlich an mehreren Orten, das zumindest halbwegs profitorientierte Galizisch-jüdische Museum des jüngst verstorbenen vormaligen BBC-Polenkorrespondenten Chris Schwartz29 veranstaltet „Jewish Karaoke Nights“, es gibt „richtige Kunst“ und jede Menge Tinnef, und an jeder Ecke werden hölzerne Chassidim feilgeboten. Infolge des booms sind die vormals lächerlichen Immobilienpreise im Quartier inzwischen auf das Niveau der teuersten Zentrumslagen von Krakau angestiegen, und weiterhin wird investiert, renoviert und konsumiert, so dass die Ökonomin und als solche Spezialistin für Freizeit- und Heritage-Management, Monica A. Murzyn, zufrieden feststellen kann, dass die Revitalisierung des Stadtteils auf der
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Basis der unternehmerischen Nutzung des jüdischen Kulturerbes weit vorangetrieben worden sei.30 Nüchtern, aber kulturwissenschaftlich durchaus nicht falsch analysiert Murzyn: „In the process of regeneration Jewish heritage becomes a contemporary product created for a variety of educational, cognitive and commercial reasons and adressed for a wide range of customers.“31 Anders ausgedrückt und um einige Aspekte aus dem Gedankenreservoir der Kulturwissenschaften geringfügig erweitert: Die in Kazimierz feilgebotene jüdische Kultur ist ein auf die ererbten Kulturgüter projiziertes Produkt der Gegenwart, das für die Unterhaltungsbedürfnisse, Bildungs- und Erkenntnisinteressen breiter Schichten erzeugt wird. Was also an diesem Ort performativ produziert wird, was in die steinernen Relikte jüdischer Kulturgeschichte inskribiert wird, ist entkoppelt davon, was gemeinhin unter dem Begriff historische Tatbestände gefasst wird. Daran wäre im Großen und Ganzen wenig auszusetzen, denn der boom des kulturellen Erbes und das durch Erlebniskonsum bedingte afterlife ausgelebter Kulturgüter vom Kohlebergwerk bis zur schmalspurigen Bimmelbahn ist ein verbreitetes Phänomen der Spätmoderne, und es bleibt zu fragen, ob Geschichte nicht stets zwangsläufig ein Produkt der Gegenwart sein muss. Allein, es handelt sich um ein jüdisches Erbe, das hier zur kommerzialisierten Exploitation gelangt. Und delikater noch: Es handelt sich um eine Inszenierung jüdisch-historischer Erbgüter, die von Nichtjuden organisiert wird, denn die Klezmorim, die in Kazimierz Tag für Tag aufspielen, sind ebenso wenig Juden im Sinne des innerjüdischen Verständnisses wie die Kellner in den jüdischen Cafes, die Verkäufer in den mittlerweile drei Judaica-Buchhandlungen oder das Personal des scheinbar jüdischen Hotels „Ester“. Vom „Virtually Jewish“ spricht in diesem Zusammenhang die US-Journalistin Ruth E. Gruber in ihrer materialreichen Sammlung von Phänomenen des „Reinventing Jewish Culture in Europe“32 und kommt immer wieder zu der überraschenden Erkenntnis, dass sich die Präsenz jüdischer Kultur in den letzten 15 Jahren allerorten in Europa reziprok zu der Präsenz gegenwärtig vor Ort lebender jüdischer Menschen verhält. Mit einer im Vergleich zu früher beeindruckenden Unbekümmertheit machen sich Gojim heute selbstverständlich dingliche wie geistige Kulturgüter zu Eigen und beantworten die Frage nach ihrer Motivation nur lapidar mit den Worten: „If there is an antisemitism without Jews, why not Jewish music?“33. Aus innerjüdischer Perspektive werden solche Aneignungen freilich nicht immer als positiv zu bewertende Versuche einer Annäherung, umso häufiger jedoch als Anmaßungen begriffen. Schon auf Grund ihres fortgeschrittenen Alters von der Performanz wie auch von der Wertschöpfung aus dem jüdisch-kulturellen Kapital ausgeschlossen, fühlen sich Mitglieder der im Frühjahr 2006 noch 176 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde von Krakau zwar als legitime Erben der Kulturgüter, doch sehen sie sich im Umgang mit diesem Erbe zugleich überfordert und fremdbestimmt. Überfordert, weil die alternde Gemeinde weder die Macht noch die Ressourcen hat, sich des Stadtquartiers anzunehmen. Fremdbe-
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stimmt indessen, weil die Art und Weise der Inszenierung des jüdischen Erbes von Nichtjuden betrieben wird, weil die Wertschöpfung aus dem jüdisch-kulturellen Erbe vor allem Nichtjuden zugute kommt, nicht zuletzt aber auch deshalb, weil letztlich völlig unverbindlich ist, was die zahlreichen Touristen am Ende über das jüdische Krakau und über jüdische Kultur im weitesten Sinne mitnehmen. Als „Zydoland“, also als einen jüdischen Disney-theme park, hat vor diesem Hintergrund der 69-jährige Krakauer Jude, Tadeusz Jakubowicz, unter Verwendung des polnischen Begriffes „Żyd“ für „Jude“ das heutige Kazimierz bezeichnet.34 Und schon Jahre zuvor artikulierte Joel Berger, langjähriger Landesrabbiner von Württemberg und seinerzeitiger Sprecher der Deutschen Rabbinerkonferenz, sein Unbehagen an dem Stadtteil, indem er diesen schlicht als ein „potemkinsches Dorf“ bezeichnet und sich darüber echauffiert hat, dass sich die in Kazimierz angebotene „Jewish Cuisine“ bei näherem Hinsehen nicht als „kosher“, sondern nur als „kosher style“ erweist.35 Unbehagen, mithin gesteigert bis zu Wut und Zorn, konstatiert auch die USAnthropologin Erica Lehrer bei internationalen jüdischen Besuchern, welche die Partizipation nichtjüdischer Polen an der Heritage-Industrie als geschmacklose Bereicherung an der Tragödie der Juden empfänden.36 Verbitterte Kulturpessimisten indessen, deren Position ihre verständlichen Ursachen hat, sehen im fortwährenden Klezmerfestival von Krakowski Kazimierz sogar einen Tanz auf den Gräbern der ermordeten Juden Europas. Damit bricht sich in Bezug auf die Verhältnisse in Krakau, die zumindest in quantitativer Hinsicht alles in den Schatten stellen, was sonst in Europa an „virtual Jewishness“ angeboten wird, eine Kritik Bahn, die bereits früher andernorts und in Bezug auf andere Phänomene der Aneignung des Jüdischen geübt wurde. So kritisierte etwa der frühere österreichische Wissenschaftsminister Erhard Busek in seinem Vorwort zu einem Buch über jüdische Friedhöfe, dass sich im bildungsbürgerlichen Konsum jüdischer Kultur und im leichtfüßigen Flanieren über jüdische Friedhöfe der Vorhang der Idylle zwischen die Betrachter und die historische Wirklichkeit schiebe.37 Diese Kritik ist nicht neu, denn sie schließt in gewisser Weise an jene Positionen an, die von den Repräsentanten der Frankfurter Schule und ihren Epigonen vertreten wurden, und die darauf abzielten, dass die Idyllisierung der Vorvergangenheit der Shoah zur konsequenten Flucht aus der Konfrontation mit dem Antisemitismus führe, diesen als unverständliches und unbegreifbares Phänomen extrahistorisiere und der rationalen Durchdringung entziehe.38 Doch, kann diese Kritik wirklich der Weisheit letzter Schluss sein, und lässt sich diese Kritik auf die heutigen Erlebniskonsumenten jüdischer Kultur und auf Phänomene des „Virtually Jewish“ tatsächlich anwenden? Gewiss, die Aneignungen jüdischer Kultur durch Nichtjuden aus dem mitteleuropäischen Raum finden (wie alle Diskurse und jegliche Performanz im Zusammenhang mit jüdischen Themen) stets im Schatten von Auschwitz statt, und ganz ohne Zweifel
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fordern die Phänomene des „Virtually Jewish“ – gerade der scheinbar unbekümmerten possessiven Identifikationen wegen – kritische Anmerkungen geradezu heraus. Doch ist es nicht ein durchaus positives Zeichen, dass sich Angehörige der tendenziell höher qualifizierten Mittelschichten in Deutschland, Österreich oder auch in Polen mit jüdischen Dingen identifizieren können, auch wenn diese Identifikation in Bezug auf ein „virtuelles“, ein „gespieltes“ und für den Erlebniskonsum zugerichtetes Jüdischsein erfolgt? Und ist es nicht geradezu ermutigend, dass als jüdisch definierte Ausdrucksformen und Stilmittel heute von Nichtjuden zu deren Selbstinszenierung herangezogenen werden können, weil hiermit zugleich signalisiert wird, dass das „Jüdische“ als positiv erlebbare Größe gedacht wird? Geht man von dem von der US-Anthropologin Naomi Seidman entwickelten Konzept der „politics of vicarious identity“39 aus, so lassen sich den Phänomenen des „Virtually Jewish“ durchaus positive Seiten abgewinnen, weil eine nachempfindende Identitätsbildungspolitik nur das nachzuempfinden trachtet, was positiv erlebt und bewertet wird.40 Daran kann man natürlich kritisieren, dass die Shoah in diesen Besitz ergreifenden Identifikationen nicht ständig in den Vordergrund gestellt wird, und natürlich kann man argwöhnen, dass der demonstrative Konsum jüdischer Güter vor allem deshalb so attraktiv ist, weil das Jüdische – nach allem was war – als besonders fremd und exotisch gilt. Doch man täusche sich nicht: Die Shoah steht beim virtuell-jüdischen Erlebniskonsum in Krakau wie auch andernorts stets im Hintergrund präsent, und nach allem, was ich – von begeisterten deutschen und österreichischen Kazimierz-Touristen und in Diskussionen mit deutschen Studierenden vor Ort gelernt habe41 – erscheint die These nicht unberechtigt, dass für die Erlebniskonsumenten gerade die Identifikation mit den Opfern des Nationalsozialismus eine entscheidende Rolle für ihre Auseinandersetzung mit jüdischen Dingen spielt. Daran lässt sich kritisieren, dass der Erlebniskonsum im jüdischen Kontext und die Selbstinszenierung mittels jüdischer Ausdrucksmittel auch dazu dienen kann, die nichtjüdischen deutschen, österreichischen oder polnischen Erlebniskonsumenten weit weg von der Täterseite zu verorten. Doch wie immer man dies bewerten möchte, stets wird dabei doch das Jüdische, das gerade im Verhältnis zwischen mitteleuropäischen Nichtjuden auf der einen und Juden auf der anderen Seite besonders fremd erscheint, zu einer Ressource, derer man sich zur Gestaltung des Selbst bedient, indem man sich dieses Fremde zu Eigen und sich selbst zum Teil einer durch Wissen konstituierten community macht. Ob mit der Menora im Ikea-Regal, mit der Teilnahme an der Jewish Karaoke Night oder im Verzehr eines virtuell-koscheren Karpfens in einem virtuell jüdischen Restaurant in Kazimierz – stets wird mit der Aneignung des Jüdischen ein Bedürfnis erfüllt, das Joachim Schlör als eine Sehnsucht nach Rekonstruktion dessen bezeichnet hat, was der Nationalsozialismus zerstört und anschließende Geschichtsvergessenheit ausgeblendet habe, wobei sich die Sehnsucht stets ihr
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eigenes Bild erschaffe.42 Mit dieser Sehnsucht verbunden aber ist zugleich der Wunsch, sich in Bezug auf die eigene Herkunftskultur zu verfremden, das Bedürfnis „aus der Haut zu fahren“ und sich auf einer anderen, vielleicht auf der besseren Seite zu verorten. Wer in jüdische Museen geht, wer Klezmermusik hört und in Krakau in einem Hotel namens Ester absteigt, macht nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine soziale Umwelt deutlich, dass er oder sie nichts am Hut hat mit den antisemitischen Sprüchen von deutschen oder österreichischen Stammtischen. Wer in Kazimierz eine Judaica-Buchhandlung oder ein Jewish styled Café eröffnet, macht für sich selbst wie für das soziale Umfeld deutlich, dass er nicht zu jenen dreißig Prozent der polnischen Bevölkerung gezählt werden möchte, die in Umfragen auch heute noch äußern, dass sie lieber keine jüdischen Nachbarn haben möchten. Einer solchen Identitätsbildungspolitik mag man zum Vorwurf machen, dass sie leichten Fußes die Seiten wechselt, ohne dass für die Opfer der Shoah und deren Nachkommen irgendetwas geleistet würde und dass die heiklen Fragen nach Schuld und Sühne großräumig umfahren werden, indem man sich selbst auf die Seite der schuldlosen Opfer verortet. Indem aber in Erlebnis und Performanz jüdischer Kultur, jüdische Geschichte und Kultur entabstrahiert und Juden schlichtweg unter dem Aspekt ihres menschlichen Seins vor den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts thematisiert werden, besteht – Kommerzkritik hin, moralische Bedenken her – zumindest die Chance, Bildungseffekte zu erzielen, verhärtete Lesarten von Geschichte aufzuweichen und die essentialistischen Positionen hinsichtlich des „Jüdisch-Nichtjüdisch“ in Frage zu stellen. Solcherart könnte das „Virtually Jewish“ in all seinen Spielarten dabei behilflich sein, die Essentialisierung des Jüdischseins wie auch die Anthropologisierung von „Eigen“ und „Fremd“ in Bezug auf das Jüdische aufzuheben.
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Abbildungen
Abb. 1: Weithin sichtbares Zeichen jüdischer Präsenz in Berlins Neuer Mitte: Synagoge in der Oranienburger Straße. Foto: Hörz 2008.
Abb. 2: Spiel mit dem Jüdischen: Café Silberstein, Oranienburger Straße, Berlin. Foto: Hörz 2008.
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Abb. 3: Virtuell-jüdische Gastronomie in der ulica Szeroka, Kazimierz/Krakau. V.l.n.r.: Klezmer Hois, Rubinstein, Awiw, Bąbelstein, Aleph, Ariel. Foto: Hörz 2009.
Abb. 4: Juden zum Mitnehmen: Im Angebot hölzerne Chassidim/Klezmorim, 20-40 cm. Foto: Hörz 2009.
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A. VON DROSTE-HÜLSHOFF, Die Judenbuche, Stuttgart 1981. In meinen Beispielen beziehe ich mich auf eigene Erinnerungen, aber auch auf Gespräche mit Studierenden in meinen Lehrveranstaltungen zu jüdischen Themen an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn in den Jahren 2008 und 2009. M. J. CHOMSKY, Holocaust. Fernsehfilm in vier Teilen nach einem Buch von Gerald Green, USA 1978. C. LANZMANN, Shoah. Fernseh-Dokumentation, Frankreich 1985. Vgl. etwa F. STERN, Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen 1991; R. BECKERMANN, Unzugehörig. Österreicher und Juden nach 1945, Wien 1989. Vgl. hierzu auch P. HÖRZ, Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente – volkskundliche Analysen, Wien 2005, S. 67-97. M. HORKHEIMER und TH. W. ADORNO, Vorwort, in: P. W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt am Main 1959, S. V-VIII. Gemeinsam mit Volkskunde sind auch die standortspezifischen Ausformungen des Faches unter den Fachbezeichnungen „Europäische Ethnologie“, „Kulturanthropologie“ und „Empirische Kulturwissenschaft“ gemeint. U. JEGGLE, Judendörfer in Württemberg, Tübingen 1969. Vgl. hierzu etwa S. MEINING, Kommunistische Judenpolitik. Die DDR, die Juden und Israel, München 2002; M. KEßLER, Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz: politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995; A. TIMM, Hammer, Zirkel, Davidstern: das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997; V. VON WROBLEWSKY, Zwischen Thora und Trabant: Juden in der DDR, Berlin 1993. Vgl. z. B. BECKERMANN, Unzugehörig. – Auf einige bemerkenswerte Details der symbolischen Ausgrenzung bzw. Nicht-Wiedereingemeindung des „Jüdischen“ in Österreich nach 1945 hat der Wiener Euro-Ethnologe Konrad Köstlin hingewiesen: K. KÖSTLIN, Versuchte Erdung. Oder: Der ‚jüdische Beitrag’ zur Wiener Kultur, in: F. Raphael (Hg.), „... das Flüstern eines leisen Wehens ...“. Beiträge zu Kultur und Lebenswelt europäischer Juden, Konstanz 2001, S. 451-66, bes. S. 459-64. Zu grundsätzlichen Fragen zu österreichischen Positionen hinsichtlich der NS-Vergangenheit vgl. D. A. BINDER und E. BRUCKMÜLLER, Essay über Österreich. Grundfragen von Identität und Geschichte 1918-2000, München-Wien 2005. Aus der Perspektive des zu Zeiten der Volksrepublik nach jüdischer Identität suchenden Aktivisten nachvollziehbar und beeindruckend dargestellt bei K. GEBERT, Living in the Land of Ashes, Kraków-Budapest 2008. Vgl. hierzu u.a. die Aufsätze des Sammelbandes D. GLOWACKA und J. ZYLINSKA (Hgg.), Imaginary Neighbors. Mediating Polish-Jewish Relations after the Holocaust, Lincoln/Nebraska-London 2007. Dies heißt zwar, dass das Phänomen der Judenfeindschaft oder der gesellschaftlichen Nichtakzeptanz der jüdischen Bevölkerung über lange Zeiträume hinweg in unterschiedlicher Ausformung zu beobachten ist. Nicht aber heißt dies, dass es in der Qualität von Judenfeindschaft und -nichtakzeptanz eine phänomenlogische Konstanz gegeben hätte, und dies heißt auch nicht, dass hinter den Einstellungen und Werthaltungen der nichtjüdischen Bevölkerung gegenüber der jüdischen stets die gleichen Motive gestanden sind.
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15 Myrdal meint hiermit, dass der soziale Status einer marginalisierten oder als fremd wahrgenommenen Gruppe in die Außenwahrnehmung einfließt, welche wiederum ein Verhalten bedingt, das dazu führt, dass sich am Status der Fremden nichts ändert. G. MYRDAL, An American Dilemma. The Negro Problem and Modern Democracy, New York-London 1944, S. 75. 16 J. B. MICHLIC, Poland's Threatening Other: The Image of the Jew from 1880 to the Present, Lincoln/Nebraska 2006. 17 Tykocin, jiddisch Tiktin, ist eine Stadtgemeinde im Kreis Białystok (Wojewodschaft Podlachien) mit langer jüdischer Siedlungsgeschichte. Um 1800 waren dort etwa 70 % der Bevölkerung Juden, bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs immer noch etwa 50 %. 1939 fiel die Stadt der Sowjetunion zu (Hitler-Stalin-Pakt); nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht wurden die noch ansässigen 1400 Juden in einem Waldstück nahe des Ortsteils Łopuchowo ermordet. Bereits in der späten Volksrepublik durch den Besuch von Delegationen aus Israel als Erinnerungsort markiert, sind die jüdischen Kulturgüter bereits früh als solche aufgewertet und saniert worden. Heute bildet der Tourismus, v.a. jener auf jüdischen Spuren ein zentrales ökonomisches Standbein der Gemeinde. Zur Geschichte der Juden von Tykocin vgl. auch die website der International School for Holocaust Studies, Jad Vashem [Stand: 30.08.2008]: http://yadvashem.org.il/education/ceremonies/march/tykocin.htm. 18 Den konkreten Anlass hierzu bildete v.a. die Zuwanderung von jüdischen Migranten aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Moskito – Nichts sticht besser. Jugend-TVSendung des SFB, Deutschland 1987-1995. 19 Inzwischen Restaurant Alef, Seitenstettengasse 2, Wien. 20 Damals die einzige, heute die einzig regelmäßig als solche genutzte Synagoge der Stadt. 21 Buchhandlung und Touristenagentur Jarden, ul. Szeroka 2, Kraków, gegründet 1991/1992, www.jarden.pl [Stand: 27.12.08]. 22 Restauracja Żydowska Ariel, ul. Szeroka 18. Im Angebot u.a.: Gefillte Fisch, koscheres Bier (in den neunziger Jahren äußerst populär, inzwischen jedoch vom Markt verschwunden) und koscherer Wodka sowie diverses Gebäck. 23 Schindlers Liste („Schindler’s List“), Spielfilm von Steven Spielberg, nach dem gleichnamigen Roman („Schindler’s Ark“) von Thomas Kenally, USA 1993. 24 Klezmer-Hois – Hotel, Restauracia, Kawiarnia, ul. Szeroka 6, Kraków, www.klezmer.pl [Stand: 30.12.2009]. 25 Rituelles Tauchbad der Juden. 26 Zu Recht haben Ruth E. Gruber und Samuel Gruber im Rahmen der Diskussion dieser Thematik jüngst darauf hingewiesen, dass die Prozesse vor Ort durch ein Ineinanderzahnen der Handlungen lokaler nichtjüdischer und ausländischer jüdischer Akteure bestimmt waren. Gründeten etwa Krakauer Nichtjuden die Judaica-Buchhandlung Jarden (ul. Szeroka 2), so gingen einige Konzertveranstaltungen auf die Initiative von Juden aus den USA zurück. Ruth Grubers Bemerkung „it didn’t come from nothing“ ist insofern richtig. Richtig ist aber auch, dass die Dynamik des Marktes für touristische Dienstleistungen auf Basis des jüdischen Kulturerbes ohne Spielbergs Film so nicht zu Stande gekommen wäre. Die Diskussionen hierzu entspannen sich im Anschluss an Tagungsbeiträge auf der International Conference: Urban Jewish Heritage and History in East Central Europe, Lviv, 2931.10.2008: R. E. GRUBER, Touching and Retouching: Balancing Real, Surreal and Real Imaginary Jewish Spaces. Keynote Speech; S. GRUBER, Can Lviv Develop as a Jewish Heritage Center? Lessons Learned Since 1990; P. HÖRZ, Trip to Żydoland. Appropriations,
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Performances, and Mystifications of Jewish Culture in Post-Socialist Cracow. Ein Tagungsband wird derzeit vorbereitet. ST. HALL, Notes on Deconstructing ‘The Popular’, in: S. Raphael (Hg.), People’s History and Socialist Theory, London 1981, S. 227-49, hier S. 234. Tatsächlich fallen jüdische Einzelreisende selten auf, weil sie ohne Leibwächter unterwegs sind und oft nur als „Amerikaner“ oder „Ausländer“ im weitesten Sinne wahrgenommen werden. M. A. MURZYN, Kazimierz. Środkowoeuropejskie doświandczenie rewitalizacji/The Central European Experience of Urban Regeneration, Kraków 2006, S. 390. Ebd. Ebd., S. 452. R. E. GRUBER, Virtually Jewish. Reinventing Jewish Culture in Europe, Berkeley/CA 2002. Ebd., S. 69. H. M. BRODER, Reise nach Zydoland, in: Der Spiegel, 05.04.2006. Online verfügbar unter: www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,409793,00.html [Stand: 09.11.2007]. Diskussion der Eindrücke von Kazimierz im Rahmen einer von Joel Berger geleiteten Exkursion mit Studierenden des Ludwig-Uhland-Instituts für empirische Kulturwissenschaft der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Februar 1996. E. LEHRER, Bearing False Witness? „Vicarious“ Jewish Identity and the Politics of Affinity, in: Glowacka/Zylinska (Hgg.), Imaginary Neighbors, S. 84-109, hier S. 88. E. BUSEK, Hinter dem Vorhang der Idylle. Österreicher und Juden – eine ambivalente Beziehung, in: P. Steines, K. Lohrmann und E. Forisch (Hgg.), Mahnmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 1992, S. 36-8, hier S. 38. Vgl. HORKHEIMER/ADORNO, Vorwort; U. JEGGLE, Judendörfer in Württemberg (= Volksleben 23), Tübingen 1969, S. 8. N. SEIDMAN, Fag-Hags and Bu-Jews: Toward a (Jewish) Politics of Vicarious Identity, in: D. Biale, M. Galchinsky und S. Heschel (Hgg.), Insider/Outsider: American Jews and Multiculturalism, Berkeley 1998, S. 248-64. Vgl. auch LEHRER, Bearing False Witness. Seit Anfang der neunziger Jahre regelmäßig (d. h. mit Ausnahme der Jahre 2000 und 2001 mindestens zweimal jährlich) in Krakau/Kazimierz präsent, konnte ich die Entwicklungen im Stadtteil beobachten und deren Wahrnehmung von Einheimischen und Touristen in zahlreichen Gesprächen ermitteln. Die erwähnten Diskussionen mit Studierenden ergaben sich im Rahmen von Exkursionen zu Lehrveranstaltungen, die ich zu jüdischen Themen an den Universitäten Bamberg (2005, 2006), Jena (2007) und Bonn (2009) durchgeführt habe. J. SCHLÖR, Bilder Berlins als „jüdischer Stadt“, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), 207-29, hier S. 209.
Bettina Engster
FORMEN DER ANEIGNUNG DES FREMDEN im Bollywoodfilm Veer-Zaara
1.
Einleitung: Verfremdung – Entfremdung – Aneignung
Der Film Veer-Zaara des indischen Regisseurs Yash Chopra aus dem Jahre 2004 bedient sich unterschiedlicher Ebenen von Fremdheit und zeigt deren Auflösung. Er ist damit im relativ großen Spektrum der Bollywoodfilme, die sich mit dem Indien-Pakistan-Konflikt beschäftigen, eine der wenigen Ausnahmen, die sich nicht in erster Linie auf die Zuschreibung moralischer Kategorien wie Gut und Böse, Schuld und Unschuld beziehen, sondern der eine scheinbar ebenso sympathische wie pragmatische Lösung für die Probleme hat: Liebe und Frieden, Toleranz und Empathie. Der andere – der jenseits der Grenze – erscheint hier einmal nicht als Feind und als „Objekt von Feindseligkeit und Hass.“ Dass es sich hierbei – also bei Feindschaft und Verachtung – um das gängige Muster insbesondere auch im indischen Mainstream-Kino handelt, hat Aparna Sharma deutlich und sicherlich zu Recht betont.1 Nicht so bei Yash Chopra. Bei ihm verbindet die Liebe zwischen Veer und Zaara am Ende nicht nur die beiden Liebenden miteinander, sondern das Fremde, hier Pakistan, wird aus indischer Perspektive wieder angeeignet und die Differenz aufgehoben. Daran ändert nichts, wenn Mehru Jaffer entgegengesetzt feststellt, dass es in Veer-Zaara zwar Szenen gibt, „die für feuchte Augen sorgen, aber die Tränen [...] der Teilung des geliebten Heimatlandes 1947 in Indien und Pakistan [gelten]. Keine der Figuren scheint über die Differenz der Religionen bzw. der Figuren zu weinen.“2 Weiterhin betont Jaffer, es handele sich bei VeerZaara nicht um einen Film über eine interreligiöse Liebesbeziehung, sondern über die Nostalgie über ein vereintes Punjab.3 Tatsächlich steht die Religion hier einmal nicht im Zentrum des filmischen Konflikts. Indien und Pakistan sind erst seit 1947 zwei voneinander getrennte Staaten, die zuvor eine Einheit gebildet haben. Im Zuge der Nationenbildung hat sich Pakistan auf seine Religion besonnen. Gerade diese Besinnung auf die Religion wird immer wieder als Grund für die Trennung beider Nationen bemüht. Während viele Filme dementsprechend auf die Fremdheit von Indien und Pakistan abheben und hierbei insbesondere die Religion thematisieren, ist dies – wie bereits erwähnt – in Veer-Zaara kein konfliktauslösendes Element. Der Film ist bemüht, das Augenmerk des Zuschauers weg von der Teilung hin zur Vereinigung zu lenken. Es stellt sich die Frage, ob und wie etwas ehemals Bekanntes zu etwas
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Fremden gemacht wird. Der Film beantwortet die Frage in Bezug auf die Nationenteilung Indiens und Pakistans mit nein. Am Ende gibt es nichts Fremdes mehr. Die durch die Politik offenbar konstruierte Fremdheit wird hier völlig aufgelöst. Am besten lässt sich dieser Vorgang der Verfremdung um 1947 mit Herfried Münklers und Kathrin Mayers Modell der „sekundären Fremdheit“4 erläutern. „Das Fremde ist nicht, es wird fremd. [...] Sekundär sind Fremdheiten, die aus Relationen der Zugehörigkeit und/oder Vertrautheit erwachsen und die solche Relationen zur Voraussetzung haben. Nur dort, wo etwas zunächst nicht fremd, zumindest nicht als fremd definiert ist, kann es zur Entstehung sekundärer Fremdheit kommen. Dabei handelt es sich um eine Differenzierung, die jedoch nicht als solche, sondern als Exklusion gedeutet wird.“5
Die Fremdheit bewegt sich hier auf der sozialen Ebene und nicht auf der kulturellen. Die jeweils Anderen werden im Zuge der Nationentrennung als Nichtdazugehörige exkludiert.6 Mit dem Verzicht auf religiöse Polarisierungen – nicht aber auf religiöse Unterschiede – verliert ein in vielen Darstellungen wesentliches Element der Fremdheit im Verhältnis der beiden Staaten seine bestimmende Rolle. Wo nicht eine existenziell zu nennende Fremdheit bestimmend ist, wird auch das Gefühl der wesensmäßigen Infragestellung des jeweils Eigenen nicht unerträglich. Denn diese Verunsicherung ist, so argumentiert Bernhard Waldenfels, eine wesentliche Folge der Fremdheit: „Die Konfrontation mit dem Fremden löst“ – so Waldenfels – „stets einen Rückschlag aus. Erfahrung, Sprache, Land, Leib, Vernunft und Ich, die als fremd auftreten können, hören auf, schlicht das zu sein, was sie bislang waren.“7 Dieser Rückschlag und diese Verunsicherung werden, wo das Andere nicht als das vollkommen Fremde erscheint, vermieden. Vermieden wird damit zugleich, dass der Fremde – wie Carl Schmitt den Übergang vom Fremden zum Feind bestimmt – „in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind“, die nicht durch Recht oder Schiedsspruch zu beheben wären.8 So besteht das Problem von Veers und Zaaras Liebe letztlich nicht in der Tatsache, dass Veer Inder und Sikh, hingegen Zaara Pakistani und Muslima ist, sondern darin, dass Konventionen und persönliche Missgunst dieser Beziehung entgegenstehen. Der Film ist eine Liebeserklärung an das nicht länger fremd erscheinende Andere und bekennt sich gewissermaßen zur Xenophilie. Zugleich wird damit eine gewisse Andersartigkeit des Anderen akzeptiert. Im indischen Kino ist dies ein durchaus bemerkenswerter und geradezu verwegen zu nennender Schritt. Pakistan nicht entweder als Zerrbild des Hasses oder als eigentlich zu reintegrierendes Eigenes darzustellen, hat im indischen Kino wenig Tradition.
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“Over the past sixty years,” – so formuliert Sunny Singh – “Hindi cinema has careened between extremes of xenophobic and aggressive nationalism […] and a paternalistic pacifism that appears to deny that neighbour state its validity as a separate nation.”9
2.
Verfremdungsformen in Veer-Zaara
Im Folgenden soll verdeutlicht werden, wie der Film zunächst Fremdheit aufbaut, um sie dann in einem nächsten Schritt weitgehend aufzulösen. Dabei werden die Themen in filmchronologischer Reihenfolge thematisch geordnet. Als Merkmale der Fremdheit bezieht sich der Aufsatz im Folgenden insbesondere auf die Kategorien Territorium, Religion, Geschlecht und gesellschaftliche Konventionen. Dabei bleibt die blutige Geschichte, die erst die beiden Staaten Indien und Pakistan hervorgebracht hat, in Veer-Zaara eher an der Oberfläche. Der Schlussstrich unter eine leidvolle Geschichte scheint hier einmal eher als Brücke der Menschen zueinander hin, und nicht – wie sonst üblich – voneinander weg zu dienen. Gleiches gilt für die Grenze, die hier einmal nicht Ort der Bedrohung ist, sondern Ort der Verbundenheit, sofern sie überhaupt sichtbar wird. Der Film beginnt damit, dass ein Erzähler ein poetisches Landschaftsbild zeichnet, das voller Sehnsucht und Erwartung und doch nicht richtig greifbar erscheint. Hier begegnet dem Zuschauer das erste verfremdende filmische Element, die Traumsequenz, die erst am Ende der Szene als solche erkennbar wird. „Eines schönen Morgens erhob sich die Sonne aus ihren Kissen in den Gipfeln der Berge und sah, dass das Tal der Herzen erfüllt war von der Jahreszeit der Sehnsüchte und die Zweige der Erinnerung Blüten vergangener Momente trugen. Eine unausgesprochene, unerhörte Sehnsucht, halb schlafend, halb wachend, reibt sich die Augen und sieht wie das Leben Welle um Welle dahinplätschert, als sei jeder Augenblick neu und doch derselbe, ja dasselbe Leben, dessen Gewand Liebe und Trauer umhüllt, sich uns nähert, uns davon gleitet und in uns das Gefühl hinterlässt, die Zeit rausche an uns vorbei wie ein Wasserfall und erzähle uns vom Tal der Herzen und der Jahreszeit der Sehnsüchte und von den Zweigen der Erinnerung, die Blüten vergangener Momente tragen.“10
Während der Erzähler spricht, sind eindrucksvolle Landschaftsbilder passend zum Erzählten zu sehen. Dann setzt Musik ein und ein Mann beginnt bei strahlendem Sonnenschein zu singen. Dies wiederum ruft für ein westlich geprägtes Filmpublikum zumeist ein Gefühl der Befremdung hervor, da es hier nicht üblich ist, in das Filmgeschehen song and dance sequences, wie sie typisch und charakteristisch für den Bollywoodfilm sind, einzubauen, die zumeist nicht einmal narrative Relevanz besitzen.
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Nicht so in Veer-Zaara, hier kommt den ‚Unterbrechungen’ eine starke narrative Unterstützung zu. „Warum singt der Wind heute ein Lied? Warum regnet der Frühling Farben? Mein Herz fragt, was heute geschehen wird? Warum scheint der Mond am hellen Tag? Wo führt das Leben uns hin?“11
Die Kamera schwenkt nun auf Ohrringe, Armbänder und Fußglöckchen an einer unbekannten, verschwommenen Frauengestalt. Dann richtet sie sich wieder auf den singenden Mann. „Wessen Gesicht mag das nur sein? Ich sehe es in jeder dieser Blumen. Wessen Stimme mag das nur sein? Ich höre sie ohne darauf zu achten. Wessen Schritte nähern sich da nur? Welche Träume wollen sie mir zeigen? Mein Herz fragt, wessen Ankunft es erwartet? Warum singt der Wind heute ein Lied?“12
Während der zweiten Strophe ist weiterhin die verklärte Frauengestalt zu sehen. Schließlich laufen beide aufeinander zu, dann ist ein Schuss zu hören, beide halten in ihrer Bewegung inne und die Frau sinkt zu Boden. Es erfolgt ein Schnitt und der Betrachter findet sich in einem Raum mit einem schwer atmenden Mann wieder. Langsam entfernt sich die Kamera vom Gesicht und der Zuschauer sieht, dass der Mann sich in einer Zelle befindet. Mehr erfährt das Publikum zunächst nicht, da wieder ein Schnitt erfolgt und die nächste Person eingeführt wird, Saamiya Siddiqui (gespielt von Rani Mukherjee), die am Grab ihres Vaters sitzt. Obwohl noch nicht viel geschehen ist, weiß das Publikum bereits durch die Eingangsszene und das Lied, dass der Mann von einer Frau träumt, die er kennt und liebt. Sie ist in seinen Träumen bei ihm. Wo diese Landschaft ist, ist letztlich unerheblich, denn es ist ein Traum. Aber die Frau scheint ihm allmählich zu entgleiten, daher ist sie nur verschwommen und nur in Teilen sichtbar. Das Moment einer existenziellen Gefahr für die Liebenden ist nicht zu verkennen. Aufgrund der Tatsache, dass der Mann offenkundig im Gefängnis sitzt, ist es leicht vorstellbar, dass sie sich eine lange Zeit nicht gesehen haben. Während sowohl der Mann als auch die Frau im Traum jung sind, hat der Mann im Gefängnis leicht ergrautes Haar. Hier finden sich bereits die ersten Anhaltspunkte dafür, dass es sich um eine Liebesgeschichte handeln wird. Die erste Grenze wurde im
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Traum überwunden: Die der Gefängnismauern, welche durch Träume durchbrochen werden. Der Gefangene stiehlt sich aus der Fremde in eine ihm scheinbar bekannte Welt. Gleich zu Beginn begegnen dem Publikum die filmischen Besonderheiten des Bollywoodkinos. Handlungssequenzen und song and dance sequences wechseln sich in regelmäßigen Abständen ab und ergänzen einander. Auf diese Besonderheit und Fremdheit des indischen Mainstream-Kinos muss sich ein eher westlich geprägtes Kinopublikum einlassen können. Der Film spielt auf zwei Zeitebenen: Die Rahmenhandlung erzählt die Geschichte des indischen Piloten Veer Pratap Singh – verkörpert von BollywoodSuperstar Shah Rukh Khan – der im Gefängnis in Lahore, Pakistan sitzt und dessen Fall nun durch Saamiya Siddiqui, einer Anwältin der Menschenrechtskommission, neu verhandelt werden soll, um ihm die Freiheit und Rückkehr nach Indien zu bescheren. Die Binnenhandlung zeigt Veers Liebesgeschichte mit Zaara – gespielt von Preity Zinta –, in deren Folge er letztlich ins Gefängnis geraten ist. Hier ist Veer der Erzähler und Saamiya die Zuhörerin, bis sich Veers Erzählung am Ende in der Gegenwart auflöst und beide Ebenen miteinander verschmelzen.
3.
Das Verschwinden von Fremdheit im Film Veer-Zaara
Gefangener Nummer 786 sitzt in seiner Zelle und bekommt Besuch von einer Frau. Sie ist Anwältin und hat von der Menschenrechtskommission den Fall dieses Mannes zugewiesen bekommen. Der Insasse hat seit 22 Jahren nicht geredet. Dennoch ist die junge Frau zuversichtlich. Sie spricht den Häftling an: „Vielleicht beginnen wir mit dem Namen. Mein Name ist Saamiya Siddiqui, und Ihrer?“.13 Der Häftling schweigt. „Soll ich Sie Sieben-Sechsundachtzig nennen wie die anderen hier? Ihr Name wird wohl kaum so schlimm sein, dass Ihnen eine Nummer lieber ist, Veer Pratap Singh.“ Der Häftling richtet seinen Blick auf die Anwältin. Für einen kurzen Moment hat sie seine Aufmerksamkeit. Erst später öffnet sich der Häftling Saamiya gegenüber. Er fängt tatsächlich an, mit ihr zu reden. Erst im Nachhinein erfährt die Anwältin durch Veer, warum er überhaupt mit ihr gesprochen hat: „Weil Du mich mit meinem Namen angesprochen hast. [...] Du bist die erste Person, die meine Unschuld nicht anzweifelt. Du bist die erste Person, die glaubt, dass ich Veer Singh bin. Irgendwie habe ich in all den Jahren selbst vergessen, wer ich bin. Du hast mich daran erinnert, wer ich bin. Du hast mich bei meinem Namen gerufen, mich respektiert. Veer Pratap Singh.“14
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Durch das Nennen des Namens wird hier die erste Hürde von Fremdheit überwunden. Durch die Erwähnung seines Namens erhält Veer seine Identität zurück. Der Fremde wird zu einem Bekannten. Saamiya macht sich mit Veer nicht nur bekannt, sie macht ihn wieder zu einem Subjekt mit einer Identität und einem Bezugspunkt. Im weiteren Verlauf des Films kommt es noch zu einigen anderen Szenen dieser Art, wo zumindest eine erste Beziehung durch das Vorstellen der Personen stattfindet. So erfährt das Publikum den Namen von Zaaras Mutter auch erst, als diese Veer in Lahore aufsucht und sich ihm als Mariam Hayat Khan (Kirron Kher) vorstellt, die ihre Tochter von ihm zurück verlangt. Zaara wird durch eine der für das indische Kino typischen song and dance sequences eingeführt. Ihre Zofe Shabbo (Divya Dutta) weckt sie und weist sie daraufhin, dass sie, nun da ihre Hochzeit arrangiert sei, nur noch Gast im Hause ihrer Eltern sei und sich nun auf das Eheleben vorbereiten müsse. Das Lied Hum to bhai jaise hain (Ich bleibe, wie ich bin)15, verdeutlicht nicht nur Zaaras Wunsch, nicht zu heiraten und sich verändern zu müssen, sondern visualisiert durch die Bilder ihre Beziehung zu ihrer Kinderfrau Bebe (Zohra Seghal). Mit dieser geht sie in den Sikh-Tempel und betet dort sogar, was für eine Muslima ungewöhnlich ist. Aber sie haben auch zusammen Spaß wie zwei Teenager, indem sie etwa ein Eiswettessen veranstalten. Durch diese song and dance sequence wird Zaaras unabhängiges Wesen verdeutlicht und ihre Beziehung zur Sikh-Frau Bebe unterstrichen. Gleichzeitig wird hier veranschaulicht, welche Erwartungshaltung die pakistanische obere Gesellschaftsschicht an eine zukünftige Ehefrau stellt. Hatte Zaara bisher die Möglichkeit, ihre Verhaltensweisen selbst zu bestimmen, die weitestgehend durch die Vertrautheit mit Bebe geprägt waren, schaltet sich nun die mütterliche Instanz ein und übernimmt die Vorbereitung der Tochter zu einer guten moslemischen Ehefrau und unterweist sie in ihren Pflichten. Dass diese eher befremdend auf das Mädchen wirken, verdeutlichen auch die Frotzeleien Zaaras gegenüber ihrer Mutter, diese sei in vielen Situationen nicht ‚cool’ genug. Hier wird dann auch die Spaltung von Zaaras bisherigem Leben und ihrem zukünftigen Leben verdeutlicht. Eine schnellere, detailgetreuere und charakteristischere Einführung ist schwer vorstellbar. So ist es dann nicht weiter verwunderlich, dass Zaara, am Totenbett ihrer Bebe, zunächst nicht einwilligt, deren Asche nach Indien zu bringen, da sie will, dass die alte Frau weiter lebt. Sie will an ihrem alten Leben festhalten. Dann aber stellt sie sich in den Dienst der Religionsausübung der Dienstbotin und akzeptiert deren Wunsch, in Kiritpur bestattet zu werden. Hier wird deutlich, dass nicht die Kinderfrau sich an die Religionspraktiken ihrer Arbeitgeber angepasst hat, sondern die Tochter die Praktiken ihrer Kinderfrau respektiert. Ein weiterer Hinweis dafür, dass die Religion hier eher als verbindendes Element der Figuren fungiert denn als konfliktträchtiges Element.
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4.
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Die Liebe zum Fremden
Die erste Begegnung von Veer und Zaara erinnert erneut an die Eingangsszene des Films, indem das Traumelement erneut bemüht wird, um hier einen Wiedererkennungswert zu schaffen und ein verbindendes Element zu kreieren. „Ich hatte sicherlich schon schönere Frauen gesehen. Aber aus irgendeinem Grund musste ich sie immer wieder ansehen. Sie hatte den Blick gesenkt und atmete schwer. Sie hatte große Angst. Eine Haarsträhne verdeckte ihr rechtes Auge. Sie versuchte sie zu lösen, aber es wehte ein starker Wind, die Strähne blieb dort. Als ich sie lösen wollte, sah sie mich voller Angst an. Da trafen sich unsere Blicke zum ersten Mal. Ich spürte ihre Angst. Sie senkte den Blick. Aber ich konnte nicht anders. Ich musste sie ansehen, bis sie mich aus meinem Traum riss.“16
So beginnt Veer Pratap Singh, seiner Anwältin Saamiya Siddiqui von seiner ersten Begegnung mit Zaara Hayat Khan zu erzählen, die er als Rettungspilot der indischen Luftwaffe in tapferer Pflichterfüllung aus einer Gefahrensituation befreit hat. Bezeichnend ist seine verklärte Wahrnehmung der Frau, die er liebt. Als sie ihn dann plötzlich aus diesem Zustand reißt, ist er zunächst enttäuscht von dem Verhalten der jungen Frau: Sie riskiert sowohl ihr Leben als auch das ihres Retters, um ihre Tasche zu bergen. Ihr Verhalten in dieser Situation ist ihm – zumindest zunächst – fremd und unverständlich, schnell allerdings wird die Tasche zu einem verbindenden Element der beiden Charaktere. In ihr befindet sich die Asche von Zaaras verstorbener Kinderfrau. Zaara will deren sterbliche Überreste über die indisch-pakistanische Grenze an den SikhWallfahrtsort Kiritpur bringen, damit die Verstorbene auf heimischem Boden ihre letzte Ruhe finden soll. Noch kennt der indische Pilot die junge Frau nicht. Welche Rolle sie im Film spielt, wird hingegen rasch durch ein für indische Filmproduktionen charakteristisches technisches Hilfsmittel verdeutlicht: Der durch ihr Haar wehende Wind weist den erfahrenen Zuschauer bereits darauf hin, dass sich zwischen den Protagonisten eine Romanze entspinnt. Allerdings weht der Windmaschinenhauch hier nicht wie üblich an einem eigentlich windstillen Ort, sondern er wird hier als Teil der Naturkulisse und als ganz natürlicher Wind ausgelegt. – Ein durchaus irritierendes Moment. Veer und Zaara stellen einander nach der dramatischen Rettungsaktion auf dem Dach eines Busses von der Grenze nach Kiritpur vor. Veer entscheidet sich, die junge Frau zu begleiten und sicherzustellen, dass sie wohlbehalten am Wallfahrtsort ankommt. Durch das Lied Aisa des hai mera (So ist mein Land) wird nicht nur physisch der Weg von einem Ort zu einem anderen überwunden, sondern hier wird auf die Schönheit und die Besonderheiten des indischen Landes hingewiesen, die es so wunderbar und einzigartig machen. Am Ende resümiert
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Zaara singend, dass es ihr so vorkäme, als sei ihr Land nicht so anders als sein Land und sein Land nicht so anders als das ihre. In Kiritpur angekommen, verstreuen Veer und Zaara gemeinsam Bebes Asche. Auch hier nimmt Veer zunächst an, dass Zaaras Religion eine Hürde werden könnte, doch der Geistliche bewundert die große Hingabe Zaaras und fühlt sich geehrt, die Segnung vorzunehmen. Durch die Zeremonie sind nun Veer und Zaara für immer mit Bebe und hierdurch miteinander verbunden. Durch das gemeinsame Ritual motiviert, bittet Veer Zaara um einen weiteren Tag. Sie habe ihn an ihrem Leben teilhaben lassen, nun wolle er sie an seinem beteiligen. Zaara begleitet ihn in sein Dorf, um dort mit ihm das Lodi-Fest zu feiern. Die Maxime auf indischer Seite scheint Vergebung zu sein, was durch die herzliche Begrüßung Zaaras durch Veers Vater Chaudhary (Amitabh Bachchan), aber immer mit Bauji angesprochen, verdeutlicht wird. Als Zaara ihren Namen nennt und erwähnt, dass sie eine Pakistani sei, ist Bauji hoch erfreut: „Wunderbar! Du wirst unser Ehrengast sein! Weißt Du, wir haben soviel für unsere Leute getan. Jetzt können wir auch mal was für unser Nachbarland tun.“17 Die Reaktion des Farmers ist, wie Nirmal Kumar betont hat, durchaus erstaunlich: “he betrays no bitterness or hatred for the country of her origin and welcomes her warmly. Her Pakistani origin is just a footnote, mentioned but neither despised nor questioned.”18 Die Existenzberechtigung Pakistans, so hebt Kumar weiter hervor, wird endlich zugestanden: “Chopra has steered clear of any hate-filled situations; Pakistan is accepted as a legal entity.”19 Dass dieser Enthusiasmus im Lesen des Films allerdings gewisse Ambivalenzen beiseite schiebt, verdeutlicht die Tatsache, dass es immer wieder auch zu einer Auflösung der Integrität Pakistans durch die Aneignung von indischer Seite kommt. Indes ist es nicht die Eigenart der Menschen, die hiervon berührt wird. Zaara feiert als vollwertiges Mitglied der Dorfgemeinschaft das Lodi-Fest mit, was zu keinem Zeitpunkt zu religiös begründeter Ablehnung oder zu Konflikten führt. Auch ist Zaara nicht überfordert mit der Festetikette und den Ritualen. Und das, obwohl hier eine offene Brautwerbung praktiziert wird, die Zaara fremd sein muss. Sie selbst wird von ihren Eltern in eine arrangierte Ehe gegeben. Hier im Dorf hat die Frau die Wahl, die Werbung anzunehmen oder abzulehnen. Zaara akzeptiert die Praxis und nimmt sie kommentarlos zur Kenntnis. Zudem kann sie sich als Frau zeigen, die Aspekte von Bildung und Emanzipation in der Gesellschaft verfolgt. Als Bauji Zaara auf seinem Fahrrad durchs Dorf fährt und ihr alles zeigt, fällt ihr auf, dass es keine höhere Schule für die Mädchen gibt. Bauji ist zunächst verwirrt, hört sich Zaaras Argumente jedoch an. Vor dem Lodi-Fest legt Zaara dann noch den Grundstein der durch sie initiierten High School für Mädchen, der das geplante Kricketfeld weichen muss. Durch diese Grundsteinlegung ist Zaara nun mit dem Dorf verbunden. Gleichzeitig hat hier eine umgekehrte Aneignung stattgefunden: Die Fremde bringt
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das Vorbildliche aus ihrer Heimat ein. Pakistan erscheint in Fragen der Emanzipation von Frauen einen ganzen Schritt weiter zu sein als Indien. Hier werden jedoch nicht nur die Grenzen der Nationalität, sondern auch die der traditionellen Geschlechterrollen durchbrochen: Der Mann hört auf den Rat einer Frau und nimmt ihn an. Auch Pakistan kann zum Vorbild taugen. Dass gerade die gute schulische Ausbildung Zaara wenig nützen wird, da sie als Ehefrau von den haushaltlichen Verpflichtungen in Anspruch genommen werden wird, kann hier nur mitgedacht werden. Es enthüllt aber den Wunsch Zaaras, mehr aus ihrem Leben zu machen, und betont noch einmal die Befürchtung der jungen Frau, in der Ehe ein auf die Häuslichkeit reduziertes Dasein führen zu müssen.
5.
Die Grenze als Symbol der Teilung und Verfremdung
Indien und Pakistan werden durch eine ca. 3.000 Kilometer lange Grenze voneinander getrennt, die durch Militärposten auf beiden Seiten gesichert und notfalls auch mit Gewalt verteidigt wird. Die Überwindung dieser real existierenden Grenze kann in Veer-Zaara als Phänomen betrachtet werden, das die „pleasures and trials of border crossing“ erschließt, wie Rajinder Dudrah formuliert.20 Hier kann die Grenze ohne größere Probleme überschritten werden, wie gleich zu Anfang schon Zaaras Reise von Lahore nach Kiritpur verdeutlicht. Selbst die Tatsache, dass sie als Frau alleine reist, verursacht keine Probleme. Nur Veer hat als Pilot der indischen Luftwaffe keine Chance auf eine Einreise nach Pakistan. Aus Liebe zu Zaara gibt er seinen Traumberuf auf, um zu ihr nach Lahore reisen zu können. An dieser Stelle wird dann doch deutlich, dass es Bestimmungen und Regeln gibt. Als Angehöriger des indischen Militärs bliebe ihm die Einreise verwehrt. Ebenfalls erstaunlich ist das Fehlen jeglichen Militärs an den Grenzposten. Erst in der Schlussszene, in der Zaara und Veer Pakistan an dem Wagha Grenzposten verlassen und nach Indien gehen, sieht man zum ersten Mal ganz deutlich bewaffnete Soldaten. Auch hierfür steht die Grenze: “The use of the border as a clearly identifiable representation and apparatus of state control appears only twice in the film: once at the railway station of Atari that borders on the northwest fringe of India’s geography with Pakistan, and in the final scenes of the film when Veer and Zaara return to India by walking across the Wagah border from Pakistan into India.”21
Faktisch verhält es sich anders. Es dauert Stunden, bis man die Grenze überquert hat und es ist auch keineswegs einfach, ein Visum für das jeweils andere Land zu bekommen. Es ist in der Realität viel mühsamer als im Film dargestellt. Das mag daran liegen, dass der Film scheinbar die Grenzen zu überwinden ver-
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sucht und sie nicht noch stärker akzentuieren will. Aber auch eine andere Lesart ist denkbar: dass hier die Grenze in ihrer Existenz negiert wird. So mag man an dieser Stelle Mehru Jaffer recht geben, der „die Teilung des Gebietes als eine emotionale und kulturelle Tragödie“22 charakterisiert. Daher auch der Verzicht auf bewaffnete Soldaten. Die tatsächliche Grenze wird hier durch das Weglassen des Militärs unsichtbar gemacht. – Es sind immerhin nicht die Zivilisten beiderseits der Grenze, die in einer Frontstellung zueinander leben und hierdurch auch den Charakter der Grenze ins Bedrohliche wenden.
6.
Gefühle und Fremdheit
Die Emotionen spielen auf beiden Seiten der Grenze eine große und fast schon übergeordnete Rolle. Scheinbar sind die Figuren nur von ihren eigenen Emotionen getrieben und diese als einzige Handlungsmotivation zu begreifen. Auch dies scheint ein Charakteristikum des Bollywoodfilms zu sein. Die Charaktere werden hier kaum durch psychologische Motivationen geprägt, vielmehr definiert die Emotionalität einer Figur ihren Charakter. Bezeichnenderweise werden ausgerechnet Bauji und Zaaras Vater hier komplementär zueinander dargestellt, was wiederum Auswirkungen auf die ganze Familie und deren Emotionalität hat. Man könnte hier von „emotional communities“ im Sinne von Barbara H. Rosenwein sprechen, die an dieser Stelle dazu dienen sollen, ein weiteres Element der Verfremdung beider Kulturen einzufangen. Obwohl es Gemeinsamkeiten gibt, wie z. B. die Küche und die Kultur, trennt beide Nationen scheinbar der Umgang mit den eigenen Emotionen. Vor allem Zaara bewegt sich in verschiedenen „emotional communities“ und vereint in ihrer Person beide Nationen. Während die anderen Charaktere sich in scheinbar festgelegten emotionalen Strukturen bewegen. Charakteristisch ist hier die Trennung der Emotionshaushalte von Indern und Pakistanis. Der Islam, hier sei vor allem an die verschiedenen Formen des Sufismus gedacht23, war schon früh bemüht, Emotionen, die als gefährliche und vor allem unkontrollierbare Antriebskräfte menschlichen Handelns wahrgenommen wurden, zu bändigen und die Gläubigen in der Kontrolle der eigenen Gefühle zu schulen und zu unterweisen. So zeichnen sich die Pakistanis durch eine gewisse Emotionslosigkeit oder Kälte aus, während es auf indischer Seite sehr emotionsbetont und warmherzig zugeht, was durch das Feiern des Lodi-Festes noch betont wird. Durch die geistige Abwesenheit Zaaras auf ihrer Verlobungsfeier wird hier die Emotionalität eher auf Zaara denn auf ihre Familie gelenkt, so dass hier erst gar keine feierliche und ausgelassene Stimmung aufkommt. Dieser Form der Gefühlskontrolle steht die Figur Baujis entgegen. Er ist ein höchst gefühlsbetonter Charakter und ermutigt auch seinen Sohn, seine Gefühle Zaara gegenüber offen zu zeigen.
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Zaara scheint ihrem Wesen nach nicht in das Gefühlskorsett ihrer Familie zu passen. Sie erscheint von Anfang an in dieser Hinsicht eher zu Veer zu gehören. Doch auch diese Differenz wird im weiteren Handlungsverlauf wieder aufgelöst und zu einem eher verbindenden Element. Das von Peter Fuchs beschriebene System des „Wir Zwei/Rest der Welt“24, das die Welt der Liebenden beschreibt, greift hier nicht. Bezeichnenderweise verständigen sich die Liebenden gleichermaßen darauf, zum Wohle und der Ehre der Familien auf das persönliche Liebesglück zu verzichten. Veer ist mit Zaaras Einverständnis bereit, Mariam Hayat Khan ihre Tochter zurückzugeben. Hier sind die Regeln und Praktiken beider Nationen dieselben. Das Intimverhältnis, wie es typisch für die westliche Welt erscheint, findet dennoch Eingang in den Film.
7.
Indien-Pakistan. Die inszenierte Fremdheit
Die Darstellung der Landschaft und Umgebung in Pakistan ist konträr zu dem Bild Indiens. In Pakistan bewegt sich Veer in einem urbanen Umfeld mit vielen Häusern und wenig offener Landschaft. Fast alle Szenen finden in Räumen statt, während die Szenen in Indien fast ausschließlich unter freiem Himmel spielen. Pakistan mutet eher einengend und dunkel an, da viele Szenen am Abend stattfinden. Indien hingegen zeichnet sich durch eine blühende, helle Landschaft aus. Dennoch hat Zaara bekundet, dass sein Land dem ihren gleiche und Veer bestätigt dies nochmals in seiner Rede im Gerichtssaal am Ende des Films. Dennoch wird hier eher ein nicht nur positives Bild Pakistans gezeichnet. Hier wird die Fremdheit unterstrichen, und zwar nicht nur die der Landschaft. Ravi Vasudevan schreibt dies der Anlage des Bollywoodkinos zu: “While the working premise of social representation in mainstream cinema is the stereotype, we must understand that Bombay cinema is always tended to reserve a notion of normalcy for the Hindu hero, the apex figure in the composite nationalism of its fictions. Exaggeration in cultural behaviour is attributed to other social groups, especially Muslims, Christians and Paris.”25
Die Religion wird immer wieder als ein Streitpunkt innerhalb der Gesellschaft Indiens bemüht. Hier lebt die drittgrößte moslemische Gemeinschaft der Welt, die jedoch auf einen dominierenden Hindu-Anteil von etwa achtzig Prozent trifft. Seit dem ersten Kontakt von Hindus mit Moslems auf indischem Boden im 7. Jahrhundert ist das Verhältnis zwischen beiden Gruppen immer wieder angespannt und harten Proben unterworfen gewesen. Es kommt immer wieder zu Unruhen aufgrund der unterschiedlichen Religion. Um hier Abhilfe zu schaffen, war 1947 der Staat Pakistan für die Moslems geschaffen worden. Die Begründungen hierfür variieren je nach Ausrichtung und Religionszugehörigkeit
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der Autoren. Moslems werden dann auch laut Priya Kumar im Bollywoodkino häufig als „a backward, deeply religious, and conservative community“26 beschrieben. Mit diesem Bild des Islam zumindest ist der Film bemüht aufzuräumen, hier wird eher an ein nostalgisches Bild eines harmonischen Punjabs festgehalten, das durch die politischen Entscheidungen zerstört wurde. Mit Blick auf die Dramaturgie des Films erstaunlich ist hier allerdings die Wahl der Religion von Veer: Er ist kein Hindu, sondern gehört einer weiteren religiösen Minderheit, den Sikhs, an. Er kommt aus dem Punjab, der genau an der Grenze zu Pakistan liegt. Vor allem die Sikhs, die zum großen Teil vor der Teilung auf der hinterher pakistanischen Seite lebten, wurden Opfer der Spaltung des Landes. Viele wurden damals aus ihrer Heimat vertrieben.27 Umso deutlicher akzentuiert ist hier die versöhnende Haltung Baujis Zaara gegenüber. Als Bauji mit Veer über seinen Traum spricht, sieht er genau, wer die Frau an Veers Seite sein soll. Veer entgegnet darauf zunächst verwirrt: „Du hast wohl was getrunken. Sie ist Pakistani! Pakistani!“.28 Doch Bauji entgegnet seinem Sohn: „Lass sie Pakistani, Chinesin oder Japanerin sein. Das spielt doch keine Rolle. Ich weiß nur eins: wenn sie hinter Dir auf dem Fahrrad sitzt, wird ihre Hand auf deinen Schultern ruhen. Sie wird Dich niemals fallen lassen. Mit ihr wirst Du deinen Weg machen.“29 Er ist so von dem Mädchen angetan, dass ihre Herkunft darüber bedeutungslos wird. Entscheidend ist, dass er zum Vergessen und Vergeben bereit ist – oder anders: er trennt zwischen den Verursachern einer Situation und jenen, die mit deren Entstehung nichts zu schaffen haben. Zugleich wird deutlich, dass Veer, obwohl er sich bereits in Zaara verliebt hat, nie in Erwägung gezogen hatte, sie zu heiraten. Erst durch die Ansprache Baujis wird Veer klar, dass die Liebe zu Zaara nicht unmöglich ist, obwohl sie Pakistani und Muslima ist. Erstaunlicherweise spielt die Religion Zaaras in der ganzen ersten Filmhälfte kaum eine Rolle, sie wird eher in Verbindung zu der Religion der Sikh, mit der sie durch ihre Kinderfrau Bebe vertraut ist, eingeführt. Erst in der zweiten Hälfte des Films sieht man sie Rituale des Islam vollziehen, allerdings immer in Verbindung mit ihrem neuen Leben als Ehefrau von Raza. Durch die Art der Inszenierung entsteht hier der Eindruck, als müsse Zaara nun selbst fremde Rituale und Praktiken vollziehen. Offenbar ist es für Zaaras Eltern kein Problem, dass ihre Tochter durch die Kinderfrau auch Rituale der Sikh vollzieht und mit in den Tempel geht. Toleranz und Empathie sind auch hier zunächst bestimmende Elemente und Verhaltensweisen. Dass Zaara eigentlich eher mit den Sikh-Ritualen lebt und somit eher in Veers Welt gehört, wird von den Eltern nicht problematisiert.
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8.
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Liebe: Dekonstruktion von Fremdheit
Konflikthaft ist die Beziehung von Veer und Zaara dennoch, allerdings offenbar eher aus sozialen Gründen denn aus religiösen. Durch die Visualisierung der Häuser Khan und Pratap wird deutlich, dass Familie Hayat Khan sehr wohlhabend ist und zur pakistanischen Oberschicht gehört. Veers Familie hat das Dorf im Punjab zwar mit aufgebaut, aber von einem großen Wohlstand ist nichts zu sehen. Bezeichnenderweise gehört Zaaras Vater genau der Berufsgruppe an, die vordergründig für die Trennung der Nationen verantwortlich ist. Er ist Politiker. So verwundert es nicht, dass hier die eigenen Interessen denen der restlichen Familienmitglieder übergeordnet werden. Als Zaaras Mutter Mariam Hayat Khan erfährt, dass ihre Tochter sich in einen Inder verliebt hat, dem es nichts ausmacht, dass sie eine Pakistani ist, macht sie dieser unmissverständlich klar, dass, wenn ihr Vater davon erführe, er seine Tochter umbringen würde. „Sei Dir über eins im Klaren: Deine Zukunft ist bei Raza. Daran werden weder du noch dein Gott etwas ändern können.“30 Immerhin: Die fehlende Gottgefälligkeit der Liebe zu einem Sikh ist es nicht, die zu einem Problem wird. Hier stehen offenkundig die familiären Interessen der bereits einem anderen versprochenen Tochter aus gutem Hause im Vordergrund. Von Zaara wird erwartet, die Ehre der Familie zu wahren und die Ehe aus politischen Gründen einzugehen. Hier steht das Wohl der Familie über dem persönlichen Lebensglück der einzigen Tochter. Wahre Liebe gäbe es nur in Romanen, wie Mariam ihrer Tochter klarzumachen versucht. Ihre Aufgabe als Frau sei es, ihrem Mann eine liebende und fürsorgliche Ehefrau zu sein. Dies widerspricht der Erwartungshaltung Zaaras ihrem Leben gegenüber. Doch auch Mariam Hayat Khan bricht bald die eigenen Konventionen, indem sie zu Veer geht und ihn um die Rückgabe ihrer Tochter bittet. Durch das Gespräch kommen sich Veer und Mariam näher, so dass sie ihn am Ende des Gesprächs fragt: „Ist jeder Sohn ihres Landes wie Sie?“ Veer entgegnet darauf: „Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass jede Mutter meines Landes genauso ist wie Sie.“31 Als Veer wieder zurück nach Indien reisen will, gibt Mariam ihm einen Talisman, der ihn beschützen soll, und verspricht ihm, dass ihre Tochter Zaara ihm in den nächsten Leben gehören wird. Hier wird deutlich, dass Mariam eigentlich Veer für den besseren Ehemann für ihre Tochter hält, aber sie kann sich nicht über die gesellschaftlichen Regeln hinwegsetzen und auch nicht gegen den Willen ihres Mannes handeln. Der Film bricht durch die mündliche Liebeserklärung Veers an Zaara eine scheinbare Konvention des Bollywoodfilms. Dienen gerade die song and dance sequences in den meisten Filmen als Ort der Offenbarung der Liebe zu dem/der Anderen, ist es hier anders. Raza besorgt die Fahrkarten und Veer verbringt noch einen kurzen Augenblick mit Zaara allein.
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„Ich habe nach einem Weg gesucht, Sie aufzuhalten. Sie nicht wegzulassen und Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie mag. Ich hatte gehofft, dass Sie mich vielleicht auch mögen und wir sogar heiraten könnten. […] Aber der da oben ist manchmal komisch. Erst baut er mein Vertrauen auf, und dann kommen wir hier an und auf einmal ist alles ganz anders. […] Ich weiß, Sie sind einem Anderen versprochen. Ich weiß, es war nichts zwischen uns und es wird auch niemals etwas sein. Aber ganz egal, wo oder wann, wenn Sie mal einen Freund brauchen, vergessen Sie nicht, jenseits der Grenze gibt es jemanden, der sein Leben für Sie gäbe.“32
Zaara erwidert nichts auf die Worte Veers. Neben Raza wirkt sie verunsichert und schüchtern. Raza bedankt sich bei Veer für die Rettung seiner Verlobten und fragt, ob er etwas tun könnte, um ihm dafür zu danken. Veers Antwort lautet: „Machen Sie Zaara glücklich, dann sind wir quitt.“ Raza ist erstaunt über den Wunsch und warnt Veer: „Vorsicht, sonst muss ich noch denken, Sie hätten sich in Zaara verliebt.“ Darauf entgegnet Veer ganz selbstbewusst: „Ob es Liebe ist, weiß ich nicht. Aber ja, ich wünsche mir von ganzen Herzen, dass sie nie weinen muss, dass sie immer lächelt. Wenn das Liebe ist, ist es Liebe.“ Raza ist entsetzt: „Mr. Veer Pratap, sie reden hier über meine Verlobte und sagen mir das so einfach ins Gesicht. Soll ich das jetzt als Kompliment verstehen oder als Beleidigung?“ Veer entgegnet ihm: „Weder, noch. […] Denn die Wahrheit ist: Ich bedeute ihr nichts und Sie bedeuten ihr alles.“33 Danach verabschieden sie sich. Auch hier wird die Kontrolle von Emotionen auf pakistanischer Seite hervorgehoben. Raza und Veer stehen in starkem Kontrast zueinander. Während Veer als sympathischer Mann eingeführt und dargestellt wird, der in Jeans oder in seiner Dienstkleidung steckt, ist Raza das genaue Gegenteil. Raza sei „literally and symbolically signified as Pakistani and also as the film’s central negative character, akin almost to that of the villain’s entry in popular Hindi cinema.” Raza wird als der stereotype Moslem par excellence eingeführt. Er ist gekleidet in einen schwarzen pakistanischen sherwani-style Anzug. Auch die Musik charakterisiert ihn durch „strings, percussions, and vocal chords” zu einem Menschen, dessen Aura „[...] create[s] associations with Islamic sounds and the stature of an aspiring mogul,” wie Dudrah schreibt.34 Bezeichnenderweise strebt Raza – wie sein Schwiegervater – die Karriere eines Politikers an. „Der Schurke in dem Film ist eindeutig die Politik jener Zeit, die das Heimatland in zwei Teile gespalten hat um konkurrierenden Politikern zu gefällig zu sein, die beide herrschen wollen.“35 Während die Kleidung der Frauen sich nicht so sehr voneinander unterscheidet, ist sie bei den Männern zudem auch ein Indikator der Religionszugehörigkeit. Neben Raza können vor allem Bauji und auch Jehangir Hayaat Khan durch ihre Kleidung ihrer religiösen Richtung zugeordnet werden. Aber auch bei ihnen wird nicht nur die Religion, sondern auch der soziale Status sichtbar. Ein weiteres
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trennendes Element ist hier erneut die Emotionalität bzw. deren Fehlen auf moslemischer Seite.
9.
Die Erzeugung von Fremdheit durch filmische Mittel
Der Film kann aufgrund seiner visuellen und auditiven Mittel die Fremdheit und deren Auflösung noch unterstützen. Vor allem durch Kameraeinstellungen und die Musik, aber auch durch Kleidung und Bewegung. Das Lied Do pal ruka khwaabon ka kaarvaan (Für einen Augenblick blieb unsere Traumkarawane stehen) ist als Duett angelegt und zeigt Veer und Zaara abwechselnd über ihre vergangene Zeit resümieren. Ihre Trennung voneinander wird durch getrennte Rahmen, in denen sich die Figuren bewegen, unterstützt. Sie sind nur gemeinsam im Bild, als sie beide den jeweils anderen imaginieren. Die song and dance sequence wird durch einen harten Schnitt ins Gefängnis unterbrochen, wo Saamiya dem Gefängniswärter sagt, dass Veer, der die Zahl Allahs trägt36, besser von ihm behandelt werden sollte, da er ein Mann Gottes sei. Bezeichnend ist die Idee, dass Allah seinen Gläubigen einen Inder geschickt haben soll, um sie zu prüfen. Dann zeigt die Kamera Veer, der ein Fußkettchen in der Hand hält, auf das er verträumt blickt. Abermals setzt das Lied Do pal ein und man sieht, wie Zaara sich noch einmal zu Veer umdreht und ihm ein durch die rechte Hand zum Kopf geführtes Adaab, den Gruß der Moslems, schickt. Veer hebt ebenfalls seine Hand zum Gruß. Als er sich umdreht, entdeckt er Zaaras Fußkettchen in seiner Jackentasche. Hier wird der Bezug zwischen den Ebenen Gegenwart und Vergangenheit geknüpft. Das Paar wird im Traum räumlich voneinander getrennt. Durch das Fußkettchen jedoch sind sie verbunden. An dieser Stelle wird dem Zuschauer deutlich, dass es ebendieses Fußkettchen ist, das Veer im Gefängnis ständig in der Hand hält wie einen Talisman, der ihm einerseits Schutz gibt und andererseits die Kraft, sein Schicksal zu ertragen. Die Liebe Zaaras zu Veer wird durch das Lied Main Yahaa Hoon (Ich bin da) verbildlicht. Zaara lässt der Satz Veers – „Jenseits der Grenze gibt es jemanden, der sein Leben für sie gäbe.“ – nicht mehr los. Die song and dance sequence zeigt deutlich, dass Zaara sich von der Liebe des Inders überrumpelt und verfolgt fühlt. Er ist immer um sie und macht sie schier verrückt. Ist sie zunächst noch gewillt, ihre Pflicht als gute Tochter zu erfüllen und ihrer Familie Ehre zu erweisen, ergreift die Sehnsucht nach Veer mehr und mehr Besitz von ihr. Zaara entfernt sich durch ihre Liebe zu Veer immer mehr von den emotionalen Konventionen ihres Elternhauses. Was sich bereits in der Offenbarung Veers Raza gegenüber angedeutet hat – die Möglichkeit, der Inder könnte zu einer Bedrohung für Razas Zukunft mit Zaara werden – wird hier eindrücklich bestätigt: Veer eignet sich Zaara durch ihre Liebe zu ihm an. Noch erstaunlicher ist jedoch die Offenlegung der sexuellen Wünsche Zaaras, die hier auch visualisiert werden. Sie sehnt
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sich nach Veer auch auf einer körperlichen Ebene. Selbst auf ihrer Verlobungsfeier mit Raza imaginiert Zaara Veer, er ist immer präsent. Dieser Hinweis auf Intimität stellt einen Bruch mit den Konventionen des Bollywoodkinos dar, das eher als Familienkino ausgerichtet ist und solchen Anspielungen nur in den Liedern Raum gibt. Zaara entfernt sich durch ihre Emotionen immer mehr von der elterlichen Gefühlskultur. Dennoch unterliegen diese Regungen zwischenzeitlich den Regeln der Kultur, die auch Veer teilt. Ohne den Segen der Eltern kann Veer Zaara nicht zu seiner Frau machen. Die Liebenden trennen sich einvernehmlich zum Wohle von Zaaras Familie. Als ein verbindendes Element spielt die Musik eine wichtige Rolle. Durch sie werden Veer und Zaara miteinander verbunden. Wie Rajinder Dudrah betont hat, ist die Musik in Szenen, die Veer und Zaara zeigen, weder indisch noch pakistanisch, sondern eine Melange beider Stile.37 Nach der Trennung in Atari haben Veer und Zaara ein gemeinsames Thema, das sich am Ende in dem Lied Tere Liye (Für Dich) verbalisiert und das Leben ohne den jeweils anderen beschreibt.
10.
Der Konflikt in Veer-Zaara
Shabbo, die nicht mit ansehen kann, wie sehr Zaara unter der Trennung von Veer leidet, ruft ihn an und bittet ihn, nach Lahore zu kommen und Zaara mit sich zu nehmen. Sie ignoriert damit alle Regeln loyalen Verhaltens gegenüber ihren Arbeitgebern. Um ihn zu beherbergen, stellt sie ihm ihr Zimmer außerhalb des Hauses der Familie zur Verfügung. Dann verrät sie ihm, wo er am nächsten Tag auf Zaara treffen kann. Das ungezügelte Verhalten des Inders kann Raza nicht ungestraft hinnehmen. Zum einen weil es seine berufliche Zukunft gefährdet, zum anderen weil es seine Integrität als Mann in Frage stellt. Da Raza ebenfalls zur Oberschicht gehört, kann er es arrangieren, Veer durch das pakistanische Militär einsperren zu lassen. Hier hat die durch Saamiya Siddiqui repräsentierte Rechtsstaatlichkeit Pakistans noch keinen Bestand; Korruption und Manipulation werden sichtbar. Um seine eigene Zukunft als Politiker zu schützen, denn darum geht es bei der Eheschließung mit Zaara, erpresst Raza Veer, der aus Liebe zu Zaara seine Identität verleugnet, um ihre Ehre zu schützen. Diese Liebe wird von Raza belächelt und ausgenutzt. Hier wird der Moslem einmal mehr als der ‚Andere’, der ‚Feind’ inszeniert. Sowohl Veer, der von nun an in Pakistan im Gefängnis sitzt und schweigt, als auch Zaara, die nach Indien geht, um dort die Schule für die Mädchen zu leiten, verlieren ihre bisherigen Identitäten und Leben nun jeweils ‚auf der anderen Seite’. Überhaupt werden die pakistanischen Frauen im Film als starke und auch als emanzipierte Frauen gezeigt. Sowohl Saamiya Siddiqui, die sich als Anwältin in einer Männerdomäne behauptet, als auch Zaara, die sich allein auf den Weg
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nach Indien macht, um den letzten Wunsch ihrer Kinderfrau zu erfüllen, setzen sich ohne einen Mann an ihrer Seite durch. Saamiyas Vater hat seine Tochter als unabhängige Frau erzogen, er selbst hat sich für die Rechte und Gleichberechtigung der Frauen Pakistans eingesetzt. – Auch wenn Saamiya immer wieder betont, dass er hiermit nicht so weit gekommen sei, wie er es sich gewünscht habe. Sie ist nun bemüht, seinen Traum weiterzuführen. Mit diesem Argument versucht sie auch, Veers Schweigen zu brechen: „Ich habe hart dafür gearbeitet, diesen ersten Fall zu bekommen. Aber alle halten ihn für aussichtslos. Sie wollen, dass ich ihn verliere, damit sich keine Frau mehr in diese Männerdomäne traut. Aber ich werde nicht verlieren. Ich werde weder meinen Vater noch die Frauen in Pakistan enttäuschen. Aber dazu brauche ich ihre Hilfe. Reden sie mit mir.“38
Saamiya muss sich auch vor ihrem ersten Besuch bei Veer von den Gefängniswärtern aufziehen lassen, die, obwohl sie von ihnen in ihrer Stellung als Anwältin respektiert werden muss, einen recht respektlosen Umgang mit der Frau pflegen. Ähnliches widerfährt ihr mit dem Staatsanwalt Zakir Ahmed, der früher ihr Mentor war. Dieser ist ständig bemüht, Saamiyas Menschlichkeit zu seinen Gunsten auszunutzen und als Schwäche darzustellen. Als er den Fall gegen Saamiya verliert, ist er jedoch versöhnlich und gratuliert ihr: „Heute ist mir klar geworden, dass die Zukunft beider Länder in den Händen junger Leute wie Ihnen liegt, die Menschen nicht beurteilen nach groß-klein, Mann-Frau, Hindu-Moslem. Die nicht dauernd an 1947, 1965, 1999 und andere bittere Jahre erinnern. Die nach vorn sehen und die Wahrheit suchen und nichts als die Wahrheit. Denn ein Land, in dem die Wahrheit regiert, lässt sich nicht aufhalten. Ihr Vater wäre stolz auf sie.“39
Er gesteht ihr zu, eine gute Anwältin zu sein. Sie hat sich am Ende sowohl als Frau als auch mit ihrer Menschlichkeit und ihrem Mitgefühl durchgesetzt. Da diese oft als weibliche Attribute gezählt werden, hat sie sich als Frau in ihrer Art als Frau durchgesetzt – nicht, indem sie männliche Verhaltensweisen adaptiert hätte. Bemerkenswert ist aber auch, dass er gerade in der Abkehr von der Erinnerung an eine spannungsvolle und blutige Geschichte den richtigen Weg in eine bessere Zukunft sieht. Deutlich wird hier die verklärte Wahrnehmung der jüngeren Generation, die in einem Staat groß geworden ist, in dem sie nicht die religiöse Minderheit darstellen und ihre Interessen als Gruppe sowohl in Politik als auch im Rechtssystem durchsetzen können. Zakir Ahmed gehört zu der Generation, die aus ebendiesen Gründen für einen eigenen Staat für die Moslems waren, um die Interessen der Gruppe endlich durchsetzen zu können. Auch Zaara ist eine starke Frau, die sich gegen die Regeln ihrer Eltern durchsetzt und aus persönlicher Verpflichtung ihre Reise nach Indien unternimmt. Dennoch stellt Nirmal Kumar die Konventionalität ihres Wesens deutlich heraus,
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wenn er schreibt, sie sei: „made to appear a typical woman from any patriachal South Asian family, where her destiny is determined by her family“.40 Sie begründet ihre Reise nach Indien vor ihrer Mutter mit dem Argument, dass sie vor ihren Pflichten als Ehefrau noch etwas Bedeutendes getan haben wollte. Obwohl sich das abenteuerlustige und lebensfrohe Mädchen gerne gegen diese Konventionen wehren würde, weiß sie doch, dass sie nicht anders kann. Erst als sie von Veers fingiertem tödlichen Unfall hört, löst sie mit Hilfe ihres Vaters die Ehe mit Raza und geht zurück nach Indien, um den Traum Veers zu verwirklichen. Sie gibt ihre Heimat auf und lebt von da an im Dorf und unterrichtet die Mädchen. Ihre Zofe Shabbo begleitet sie.
11.
Die Aneignung des Fremden im Film Veer-Zaara
Die Liebe zu Zaara hat Veer die ganzen 22 Jahre lang schweigen lassen. Erst der respektvolle Zugang Saamiyas auf Veer bringt ihn dazu, sein Schweigen zu brechen und führt nicht nur dazu, dass aus dem Gefangenen Nummer 786 wieder Veer Pratap Singh wird, sondern führt auch die beiden Liebenden wieder zueinander. Das Gericht entschuldigt sich bei Veer für die verlorenen 22 Jahre seines Lebens. Belohnt wird es mit einer emotional vorgetragenen Rede Veers, die zugleich die totale Auflösung aller zuvor kreierten Fremdheitsaspekte bedeutet und symbolisch die Nationen vereint: „Ich, Gefangener Nummer 786, schaue durch die Gitter meiner Zelle. Ich sehe Tage, Monate, Jahre sich in Ewigkeiten verwandeln. Aus der Erde dieses Landes strömt der Duft der Felder meines Vaters. Seine heiße Sonne erinnert mich an die kühle Buttermilch meiner Mutter. Mit dem Regen, der hier fällt, ändern sich auch meine Jahreszeiten. Der Winter erfüllt mich mit der Wärme der Feuer unserer Lodi-Feste. Sie sagen mir, es ist nicht dein Land. Warum fühlt es sich dann so an? Er sagt nur, ich sei nicht wie er? Warum sieht er dann aus wie ich? Ich, Gefangener Nummer 786, schaue durch die Gitter meiner Zelle. Ich sehe einen Engel, den der Himmel mir schickt. Sie selbst nennt sich Saamiya, und mich nennt Sie Veer. Obwohl sie mir fremd ist, behandelt sie mich wie einen Freund. Die Wahrheit in ihren Worten zu hören, gab mir neuen Mut. Das Versprechen, das sie mir gab, verlieh mir neue Kraft. Sie sagen, sie sei anders als ich. Warum kämpft sie dann für mich? Er sagt, ich sei nicht wie sie.
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Warum sieht sie dann aus wie ich? Ich, Gefangener Nummer 786, sehe durch die Gitter meiner Zelle. Gehüllt in die Farben meines Dorfes steht sie da, eine neue Zaara. Meinen Traum wollte sie erfüllen und vergaß darüber den ihren. Für meine Leute opferte sie sich auf und ließ ihre daheim zurück. So gern möchte ich ihr Leben mit Freude erfüllen, ein ganz neues Leben erleben, nur für sie. Sie sagen, ihr Land sei nicht mein Land. Warum wohnt sie dann in meinem Haus? Er sagt mir, ich sei nicht wie sie. Warum sieht sie dann aus wie ich? Ich, Gefangener Nummer 786, sehe durch die Gitter meiner Zelle.“41
Die Rede überwindet – nicht ohne ein gewisses Pathos – einige Grenzen der Fremdartigkeit, wie z. B. den Ort, die Person und die Hautfarbe. Sie wirkt am Ende friedenstiftend und versöhnlich, deutet sie doch an, dass es zumindest zwischen Pakistan und Indien keine Unterschiede gibt, die es rechtfertigten, sich als Fremde und als Feinde wahrzunehmen, anstatt sich in Freundschaft die Hand zu reichen und in friedlicher Koexistenz nebeneinander zu leben. Mit der immer wieder zitierten Formulierung Georg Simmels ist der Fremde nicht „als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht“ zu sehen, sondern als der, „der heute kommt und morgen bleibt“. Er ist – so Simmel weiter – „sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“.42 Dies könnte übertragen auch auf die Moslems in Indien zutreffen, die im 11. Jahrhundert gekommen und bis heute geblieben sind. Dennoch darf nicht die Tatsache außer acht gelassen werden, dass sie aus Sicht der Hindus und somit der Mehrheit der indischen Bevölkerung immer noch die Fremden sind, dass der Film also eine durchaus unkonventionelle Annäherung zeigt. Saamiyas Liebe zur Gerechtigkeit und Menschlichkeit hat sie alle denkbaren Grenzen im Umgang mit Veer vergessen lassen. Sie war bereit, sich für den Fremden einzusetzen, ihm eine Chance auf seine Freiheit zu gewähren. Sie selbst hat die Grenze zwischen Pakistan und Indien überwunden, um in Veers Dorf ein Zeugnis seiner Identität zu finden. Dennoch kann kritisch festgestellt werden, dass die grenzüberwindende Liebe von Zaara und Veer eben nicht jedem zugänglich ist: “When the film jumps to the present […] it appears to suggest that cross-border distances are unbridgeable in the present, except by political and human rights-linked actions. There can be no Veer-Zaara-style love story for the present generation on the subcontinent, as represented by the young Pakistani lawyer, Saamiya, whose travels across the border to India have no ostensible impact on her.”43
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Zaara hingegen ist bereit, mit Veer nach Indien zu gehen und dort mit ihm ihr neues Leben gemeinsam zu verbringen. Da aber sein Land auch ihr Land ist und ihr Land wie sein Land erscheint, macht es scheinbar keinen Unterschied, ob Veer und Zaara nun in Pakistan oder Indien leben, denn diese Grenze wurde endgültig aufgelöst, am Ende sind beide Nationen scheinbar wieder vereint. Erstaunlich ist die Entscheidung Zaaras, mit Veer nach Indien zu gehen, jedoch nicht, war diese bereits früh im Film angelegt. Durch die Identifikation Zaaras mit der religiösen Kultur ihrer Bebe ist Veers Welt ihr weniger fremd als sie ihr sonst gewesen sein würde. Schon in frühester Kindheit wurde der Grundstock für die Überwindung der Fremdheit gelegt. Die Amme hat Zaara zu einer von ihren Leuten gemacht. Somit gehörte Zaara von Filmbeginn an eher zu Veer denn zu Raza. Sie war somit von Anfang an eigentlich keine Fremde. Am Ende des Films findet eine vollständige soziale Inkludierung Zaaras in die Dorfgemeinschaft Veers statt, was sich bereits beim Lodi-Fest angedeutet hatte, und die Fremdheit Zaaras ist damit vollständig aufgehoben. Übertragen auf beide Nationen bedeutet dies den Verlust des Status der sekundären Fremdheit und somit der Fremdheit überhaupt. Da Zaara ihre Freundin Shabbo mit nach Indien genommen hatte, musste sie auch nicht auf deren Freundschaft verzichten und hatte in der Fremde immer etwas Vertrautes bei sich. Veer hat scheinbar die Liebe zu seinem Land seiner Liebe zu Zaara untergeordnet. Dass dies nicht aus Mangel an Patriotismus oder Mut geschieht, zeigt sein von ihm sehr ernstgenommener Beruf bei der indischen Luftwaffe, den er aus Liebe zu Zaara aufgibt. Hier bringt er ein großes Opfer, wenn er dies auch selbst kaum als solches empfindet. Er hat sich dazu entschieden, zu schweigen und Zaaras Ehre zu schützen. Am Ende wird Zaara durch das Sindoor, das Veer ihr in den Scheitel streicht, nicht nur symbolisch zu seiner rechtmäßigen Frau, sondern gleichzeitig verliert ihre Identität als Pakistani ihre Bedeutung. Aneignung wird hier – wie von Rahel Jaeggi beschrieben – gesehen als „etwas, [das] einem also nicht äußerlich [bleibt]. Indem man es sich zu ‚Eigen’ macht, wird es in gewisser Hinsicht Teil von einem Selbst“.44 Die Frage bleibt, was mit dem Angeeigneten passiert. Verliert es seine Identität und Berechtigung, oder erscheint es als wesensgleich und insofern gleichwertig? Gleichzeitig wirft der Film an dieser Stelle die Frage auf, wie sich Identität und Zugehörigkeit definieren und zuweisen lassen. Zaara ist ihrer Abstammung nach Pakistani, durch ihre Bebe wird sie aber partiell als Sikh sozialisiert. Zunächst spielen diese Zugehörigkeiten keine Rolle, erst als Zaara verheiratet wird mit Raza rückt dieses identitätsstiftende Element in den Vordergrund und verändert Zaaras Leben und stellt ihre bisherige Identität in Frage. Sie wird sich selbst fremd und ist bemüht, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
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Noch komplizierter zu beantworten ist diese Frage im Hinblick auf scheinbar gängige Rollenmuster indischer und pakistanischer Kulturen, in denen die Frauen den Männern untergeordnet sind und auch eine Intimbeziehung, wie sie im westlichen Kulturkreis der Norm entspricht, in dieser Form in Indien aber nicht vorhanden ist. Deutlich wird dies anhand des durchgängigen förmlichen Verhaltens der Liebenden zueinander. Nur durch die song and dance sequences erfährt der Zuschauer die wahren erotischen Gefühle der Charaktere füreinander. Die Liebe von Bauji und Maati zu Veer lässt sie Zaara herzlich willkommen heißen. Sie vertrauen auf sein Urteil, dass es sich, wenn er schon einen Gast mitbringt, nur um einen besonderen Menschen handeln kann. Hier wird die Vergangenheit zugunsten einer neu entstehenden Freundschaft überwunden. Zaaras aufgeschlossenes Wesen und ihre Neugier auf das Dorf lassen die letzten Zweifel schwinden. So sind beide bereit, Zaara als Schwiegertochter zu akzeptieren. Der Hass und die Intrige Razas führen letzten Endes nur dazu, dass er seine Ziele nicht erreicht und Zaara sich von ihm trennt. Raza selbst verlässt Pakistan.
12.
Auflösung von Fremdheit in Veer-Zaara?
Bei all den Unterschieden beider Länder, die am Ende nicht aufgelöst wurden, ist die Botschaft dennoch klar: Liebe deinen vermeintlichen ‚Feind’, da er dann schon morgen dein Freund sein könnte. Angesichts der im Jahr 2004 wieder aufgenommenen Friedensgespräche zwischen Indien und Pakistan und dem kommerziellen Erfolg des Films Veer-Zaara, der durchaus nicht selbstverständlich war, verwundert diese Botschaft nicht. Auch beim indischen Publikum kam sie an, wie der große Erfolg des Films zeigt. Auf pakistanischer Seite ist der Enthusiasmus hingegen eher verhalten. So schreibt Kushro Mumtaz in der Zeitung Dawn: “However, don’t be fooled into thinking that Veer-Zaara is some sort of huge leap in representing inter-religious or cross-border love affairs on-screen. [...] If the movie is Indian, then the boy will be Hindu/Indian and the girl will be Muslim/Pakistani and if the movie is Pakistani then the exact opposite will be the case. The same holds true for Veer-Zaara and the (socio-psychological) implications of this should be fairly obvious to all. Until both societies are mature enough to accept a romance where the male is from across the border and/or of the ‘other’ faith then no real progress can be said to have been made.”45
Immerhin zeigt auch diese Kritik an der noch als unzureichend empfundenen Hinwendung zum jeweiligen Nachbarland, dass auch aus pakistanischer Sicht eine Annäherung wünschenswert erscheint. Zudem sei darauf verwiesen, dass die Frauen keineswegs nur als passive Wesen erscheinen, sondern sich in verschiedenen Personen als selbstbewusste Akteurinnen präsentiert haben.
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Weniger kritisch sieht die Rollenverteilung die neunzehnjährige Inderin Kumkum aus Utthar Pradesh: “I love Preity in Veer-Zaara, how she does care about the honour of her family but puts her honesty and love above religion and above her country, Pakistan. Shahrukh also puts his love above India. […] They have sacrificed for each other and they have been like heroes for others to see this is what matters, not the land or the border.”46
Es sind nicht die einfachen Menschen, seien es nun Inder oder Pakistanis, die die Religion zu einem Element erheben, das es unmöglich machen würde, in friedlicher Koexistenz in einem vereinigten Staat zu leben. Vielmehr sind es die – aus Eigeninteressen unmoralisch handelnden – Politiker, die für Feindbilder sorgen, um ihre Machtstellungen zu festigen. Werden sie gestürzt, ist ein harmonisches Zusammenleben der einen Nation möglich. Der Fremde ist dann aufgelöst, das Fremde wird vertraut. Der Mythos einer in Harmonie und Frieden lebenden vereinten Nation kann gelebt werden.
Anmerkungen 1 2 3 4
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A. SHARMA, My Brother, My Enemy. Crossing the Line of Control through the Documentary, in: M. Bharat und N. Kumar (Hgg.), Filming the Line of Control. The Indo-Pak Reationship through the Cinematic Lens, New Delhi 2008, S. 140-56, hier S. 140. M. JAFFER, Wie religiös ist Bollywood?, in: C. Tieber (Hg.), Fokus Bollywood. Das indische Kino in wissenschaftlichen Diskursen, Wien-Berlin 2009, S. 134-44, hier S. 141. Ebd. H. MÜNKLER und K. MAYER, Die Konstruktion sekundärer Fremdheit. Zur Stiftung nationaler Identität in den Schriften italienischer Humanisten von Dante bis Machiavelli, in: H. Münkler, K. Meßlinger und B. Ladwig (Hgg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin 1998, S. 27-129. Ebd., S. 34. H. MÜNKLER und B. LADWIG, Einleitung: Das Verschwinden des Fremden und die Pluralisierung der Fremdheit, in: Münkler/Meßlinger/Ladwig (Hgg.), Die Herausforderung durch das Fremde, S. 11-26, hier S. 12. B. WALDENFELS, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden 1, Frankfurt/Main 21999, S. 9ff. C. SCHMITT, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 61999, S. 27. S. SINGH, Defining a Non-Pakistan-centric Post-globalisation Self in Hindi Cinema 19962006, in: Bharat/Kumar (Hgg.), Filming the Line of Control, S. 111-27, hier S. 126. Y. CHOPRA, Veer-Zaara. Die Legende einer Liebe, Indien 2004, Zeit 00:00:35. Veer-Zaara, Zeit 00:02:28. Veer-Zaara, Zeit 00:03:28. Die hier aufgeführten Dialogtexte sind der Übersetzung Veer Zaara durch Rapid Eye Movies entnommen.
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Veer-Zaara, Zeit 02:24:10. Veer-Zaara, Zeit 00:15:15. Veer-Zaara, Zeit 00:24:26. Veer-Zaara, Zeit 00:52:56. N. KUMAR, ‘Kaisi Sarhaden, Kaisi Majbooriyan’. Two Countries, Two Enemies, One Love Story, in: Bharat/Kumar (Hgg.), Filming the Line of Control, S. 128-39, hier S. 133. Ebd. R. DUDRAH, Borders and Border Crossing in Main Hoon Na and Veer Zaara, in: Bharat/Kumar (Hgg.), Filming the Line of Control, S. 40-57, hier S. 47. Ebd. JAFFER, Wie religiös ist Bollywood, S. 141. H. BASU, Hierarchy and emotion: love, joy and sorrow in a cult of black saints in Gujarat, India, in: P. Werbner und H. Basu (Hgg.), Embodying Charisma. Modernity, Locality and the Performance of Emotion in the Sufi Cults, London 1998, S. 117-39, hier S. 117f. P. FUCHS, Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme, Konstanz 1999, S. 43f. P. KUMAR, Limiting Securalism. The Ethics of Coexistence in Indian Literature and Film, Minnesota 2008, S. 179. Ebd. U. BUTALIA, The Other Side of Silence. Voices from the Partition of India, Durham 2000. Veer-Zaara, Zeit 01:11:00. Veer-Zaara, Zeit 01:11:02. Veer-Zaara, Zeit 01:35:10. Veer-Zaara, Zeit 01:59:50. Veer-Zaara, Zeit 01:20:25. Veer-Zaara, Zeit 01:22:21. DUDRAH, Borders and Border Crossing, S. 51. JAFFER, Wie religiös ist Bollywood, S. 141. Numerischer Zahlenwert für Bismillah = Im Namen Allahs, im Namen Gottes. Anfang des Korans. DUDRAH, Borders and Border Crossing, S. 50. Veer-Zaara, Zeit 00:10:27. Veer-Zaara, Zeit 02:58:47. KUMAR, Limiting Securalism, S. 135. Veer-Zaara, Zeit 02:54:26. G. SIMMEL, Exkurs über den Fremden, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (= Gesamtausgabe, Bd. 11), Frankfurt am Main 1992, S. 76490, hier S. 764. S. SINGH, Defining a Non-Pakistan-centric Post-globalisation Self in Hindi Cinema 19962006, S. 116. R. JAEGGI, Aneignung braucht Fremdheit, in: Texte zur Kunst 46 (2002), Internetquelle: www.bollywoodforum.ch/forum/showthread.php?t=6342. K. MUMTAZ, Eight days a week, in: Dawn. The Review, 9.12.2004. www.dawn.com/weekly/review/archive/041209/review11.htm. Kumkum, eine 19-jährige Inderin aus Utthar Pradesh über Veer-Zaara; zit. nach S. BANAJI, Facist Imaginaries and Calendestine Critiques. Young Hindi Film Viewers Respond to
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Bettina Engster
Violence, Xenophobia and Love in Cross-border Romances, in: Bharat/Kumar (Hgg.), Filming the Line of Control, S. 157-78, hier S. 169.
Nina Redl
JUDENTUM UND XENOPHILIE Fremde Heimat, vertraute(r) Fremde(r)?
Seit dem Beginn der Diaspora bis zur Staatsgründung und vielleicht sogar darüber hinaus befindet sich das Judentum in einer inneren Spannung, die sich am besten mit folgenden Worten beschreiben lässt: „fremde Heimat – vertrautes Exil“. Die Heimatlosigkeit ist heimatlich vertraut, das Eigene oft fremder als der Andere. Die ambivalente Beziehung zum Anderen ist jedoch wesentlich älter. Schon in der biblischen Literatur ist der Fremde in seiner Andersheit ebenso faszinierend wie abschreckend, manchmal so nah, dass er sich kaum vom Juden unterscheiden lässt, dann wieder Welten entfernt. Das Judentum, erwachsen aus Andersheit und durch Andersheit, hat eines der wohl faszinierendsten und weitgefächertsten Spektren, wenn es um die Beziehung zum Anderen geht, sowohl dem NichtJuden wie auch gegenüber dem Anderen in den eigenen Reihen: fremder Bruder und brüderlicher Fremder, geliebter Feind und verhasster Freund existieren nicht nur innerhalb desselben Texts, sondern oft innerhalb desselben Hauses. Der Fremde ist essentiell notwendig für die Definierung des Selbst, sei es in Freundschaft, sei es in Bedrohung des Eigenen. Interessant wird die Beziehung zu ihm, wenn der vertraute Fremde an die Schwelle tritt, an der er zum vertrauten Anderen und nicht mehr Fremden wird, also – mit Herman Cohen – vom Nebenmenschen vielleicht sogar zum Mitmenschen1 wird. Die folgende Abhandlung wird sich genau diesen oftmals spannungsgeladenen Grenzbereichen widmen, in denen der Fremde aufhört, Fremder zu sein, und in den Status des Anderen, des Nebenmanchmal sogar Mitmenschen eintritt, und erforschen, wie das Eigene durch den Anderen geprägt ist.
1.
Der Fremde im eigenen Land: Fremder, Anderer, Proselyt?
Der Begriff des Fremden sowie die ersten zwei Kategorien von Fremden finden ihre biblischen Ursprünge in den biblisch-hebräischen Termini: gerim ()גרים, ortsansässige Fremde/„resident aliens“, und zarim ( )זריםbzw. nochrim ()נכרים2, Fremden, die sich regelmäßig, aber nicht beständig im Land aufhielten3 und damit leicht als Fremde erkennbar wurden. Letztere standen unter dem traditionellen Schutz und Gaststatus, wie in Hiob 31:32 beschrieben: „Kein Fremder musste im Freien übernachten, dem Wanderer öffnete ich meine Tür.“ Der regelmäßige und zumeist geschäftliche Kontakt zu ihnen ist bereits in der Tora geregelt.4
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Nina Redl
Da das gesamte Land, biblisch gesehen, den Juden gehörte,5 sie somit bestimmten, wer Fremder war, waren gerim zumeist Pächter. Ihr Sozialstatus war relativ gering, was schon daran erkennbar ist, dass sie an den Armenprivilegien6 teilhatten und unter dem Schutz der Israeliten standen.7 Diese Regelungen allein lassen erkennen, dass sie durch ihren Siedlungsstatus nicht mehr vollkommen fremd oder gar unbemerkt blieben, sondern in einen Übergangstatus zum Anderen eintraten, in dem ihnen ein Mindestmaß an Fürsorge zukam. Diese Fürsorge ist nicht nur auf reinen Anstand oder pure Vertragsverpflichtung zwischen Pachtherren und Pächtern zurückzuführen, sondern rührt auf theologischer Ebene tiefer: Der entscheidende Identifikationsfaktor mit der Gruppe der gerim ist der frühere Fremdenstatus der Israeliten in Ägypten8, der den Grundton zumindest respektvollen Miteinanders idealerweise bestimmt, nach dem Motto: „Erinnere dich, dass du vor nicht allzu langer Zeit ebenfalls ein Fremder warst.“9 Der ursprünglich Fremde, der vollkommen abhängige Sklave ohne Wert, wurde durch den Exodus zu Gottes Erwähltem, zu Gottes Eigenem. Insofern kann theologisch gesehen selbst der Fremde, der im Pachtstatus vom Israeliten Abhängige, nicht in den Status der Gleichgültigkeit fallen. Das Ideal der Beziehung muss theologisch höher liegen, selbst wenn die Realität diesem Status nicht immer gerecht wird: In Lev 19:3410 wird daher die (später im Christentum so bekannte) ethische Formulierung getroffen: „Der Fremde, der unter euch wohnt, soll einheimisch sein wie du, du sollst ihn lieben wie dich selbst“; der Fremde im eigenen Land soll idealerweise nicht anders sein als der Eigene. Xenophilie ist die natürliche Einstellung ihm gegenüber, wie im Heiligkeitsgesetz in Leviticus11 als Maßstab gesetzt. Im Sinne dieser Heiligkeit ist nicht nur der Israelit besonders für Gott, sondern auch der Fremde ist in besonderer Weise zu behandeln, als Anderer im Eigenen, vielleicht sogar als Eigener.12 Somit lässt sich erkennen, dass theologisch gesehen im Bund zwischen Gott und Israel zumindest der gute Wille dem Fremden gegenüber (als absolutes Mindestmaß) festgesetzt ist und damit ein bestimmtes Maß an Fremdheit oder Andersheit zum Eigenen gehört und unter solcher Obhut beständig Anderes in Eigenes transformiert wird. Mit Claude Lévi-Strauss lässt sich hier erkennen, dass das Fremdeste der Anderen wie ein anderes Wir zugänglich und bedeutsam wird.13 Dennoch ist klar, dass dieser Prozess, den Idealstatus des Heiligkeitsgesetztes zu erreichen, genauso wie sein Motto ein nicht unkompliziertes Unterfangen ist, das einen längeren Prozess erfordert, sei es praktisch gesehen, sei es eine theologische imitatio Dei. Fremde sind damit Andere, die langsam zu Eigenen wurden und somit begannen, (zumindest theoretisch) unter die eigenen Maßstäbe zu fallen.14 Die strenge Erinnerung Gottes, den ger als Gleichen zu behandeln (v. a. da die Torah zumindest theoretisch volle Kultgemeinschaft15 ermöglicht), findet einen weiteren Höhepunkt in Lev 25:23: „Das Land ist Mein, (auch) ihr (Israeliten) seid (nichts weiter als) einsässige gerim“. Volle Assimilation der gerim erfolgte mit der Zeit, jedoch bestanden Unterschiede in Bezug auf das jeweilige Ursprungsland und
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dessen Ursprungsbeziehung mit den Israeliten: Edomiter und Ägypter galten ab der dritten Generation16 als vollkommen assimiliert, Ammoniter und Moabiter oft nicht einmal nach der zehnten Generation.17 Fremder ist also nicht unbedingt gleich dem Fremden, v. a. dann nicht, wenn der Fremde zum vertrauten Anderen, eventuell sogar zum Eigenen wird. Der ger hat jegliche Möglichkeit zum Proselyten zu werden (ist im biblischen Hebräisch aber noch nicht identisch mit dem Proselyten)18. Er ist damit mit Sicherheit weder fremd noch bedrohlich.19 In den Anfängen ist der Schritt vom Fremden zum Anderen – von der dazu benötigten Zeitspanne abgesehen – ein ganz natürlicher, theologisch gesehen ein genuin intendierter (wenn auch oft langwieriger).20 In früherer, biblischer Zeit vor dem Zweiten Tempel ist unter den Fremden besonders der ger toschav von Interesse: Der ger toschav, „legal alien“, der ansässige Fremde, muss als Sonderkategorie der gerim gesehen werden. Im Unterschied zum nicht sesshaften Fremden (zar oder nochri) und sesshaften Pächter (ger), der das Land nur verwaltet, aber nicht (oder nur im seltensten Fall) besitzt, lebte der ger toschav permanent in seiner jüdischen Wahlgemeinde/Wahlheimat und besaß Land, ganz nach abrahamitischem Vorbild: Bereits Abraham selbst wird als ger toschav, „residierender/‚‘sitzender Fremder’“ während seines Aufenthalts und seines Landerwerbs von den Hethitern bezeichnet.21 Ähnlich dem arabischen jār war er der beschützte Andere, der in seinem Status von seinen Patronen abhängig war und im Gegenzug für sein Bürgerrecht seinen Patronen Loyalität22 schuldete. Er besaß nicht alle Privilegien eines Juden, war jedoch – zumindest in den sozialen und rituellen Bereichen – in gleicher Weise den Geboten verpflichtet23, um problemlos in einer jüdischen Gesellschaft existieren zu können. Damit war er – zumindest nach außen – für den Nicht-Juden nicht von seinen jüdischen Mitbürgern zu unterscheiden. Die Nähe, die der ger toschav vermutlich zu seinen jüdischen Nachbarn besaß, spricht von einer vertrauten Grundbasis der Beziehung sowie einer Anerkennung der Bemühungen des ger toschav, nach jüdischen Minimalmaßstäben zu leben und sich anzupassen. Der Fremde, der sich ernsthaft nähert, ist damit nicht automatisch Bedrohung, sondern kann durchaus zum willkommenen Nachbarn werden. Er ist der Fremde, der nach außen hin wie ein Eigener wirkt und wohl von innen dem Eigenen am nächsten kommt. Die Kategorie des ger toschav ist in rabbinischer Zeit die wohl am weitesten verbreitete in Bezug auf den Anderen. Das Traktat des Babylonischen Talmuds24 Avoda Zarah (Götzendienst), das sich unter anderem mit den Beziehungen zu Nicht-Juden in jüdischem Territorium beschäftigt, kennt bereits den formal bestätigten ger toschav, also denjenigen, der vor einem Bet Din25 einen der drei folgenden Eide auf sich genommen hat: (1) dem Götzendienst abzuschwören26, (2) sich dazu zu verpflichten, die sieben noachidischen Gebote27 einzuhalten oder (3) alle Gebote der Torah zu befolgen mit Ausnahme des Verbotes, von nicht geschächtetem28 Fleisch zu essen.29 Ein solcher ger toschav besaß ein hohes Maß an Vertrauen und Ansehen von Seiten der jüdischen Gemeinde.
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Er ist damit der Andere, der, wenn es um das tägliche Leben und die tägliche Interaktion geht, beinahe Mitmensch ist. Er bleibt Nicht-Jude, ist aber zumindest nach außen in seinem Verhalten kaum von einem Juden zu unterscheiden. Als solcher, wenn seinem Umfeld wohl gesonnen und nicht nur in sein Umfeld assimiliert, sondern auch von seinem Umfeld persönlich fasziniert, wird der ger toschav zum ger zedek, dem gerechten/gerechtfertigten Anderen: dem Nicht-Juden, der in der jüdischen Gemeinde als „Jude“, d. h. vollkommen nach jüdischen Lebensregeln/dem jüdischen Religionsgesetz lebt, sich jedoch noch keiner Konversion unterzogen hat (und damit offiziell vom Fremden/Anderen zum Eigenen würde). Er wird traditionell (vor der Festlegung erster strikter Konversionsregeln) als größte Bereicherung des Eigenen gesehen. Solange keine Konversion erfolgt ist, die aus dem Nebenmenschen einen Mitmenschen und damit halachisch einen Juden macht, bleibt jedoch ein bedeutender Unterschied zwischen dem ger zedek, dem vertrautesten Anderen, den das Judentum kennt, und dem geborenen oder konvertierten Juden. Mag ein Zusammenleben oberflächlich auch reibungslos möglich sein, so gibt es doch essentielle Bereiche, in denen auch der ger zedek immer noch goy30, ein Angehöriger eines nichtjüdischen Volkes, und damit ein Anderer bleibt. Somit sind ihm vom jüdischen Religionsgesetz (Halacha) her ab den Reformen Esras folgende Bereiche nicht zugänglich: die Heirat eines jüdischen Partners31 sowie volle Teilnahme am religiösen Leben. Geschäftliche Beziehungen mit Juden sind ebenso nur mit Einschränkungen möglich. Wie jedoch mit fast jedem Gebot, das seinen Ursprung und seine Details in rabbinischer Zeit findet und dessen Diskussion sich bis in die heutige Zeit hineinzieht, muss hier realistisch gesehen werden, dass die Ge- und Verbote zumeist auf ihrer gegensätzlichen Realität basieren32: kein Verbot existiert ohne realistischen Grund; das Ehe-/Beziehungsverbot zwischen Juden und Nicht-Juden besteht auf dem Boden der Realität, in der genau solche Ehen an der Tagesordnung gewesen sind, was von biblischer Zeit bis heute der Fall ist. Der Andere, der im wahrsten Sinne des Wortes „geliebter Fremder“ wird, ist nur so lange ein „Problem“, wie er nicht zum „eigen Fleisch und Blut“ wird.
2.
Der Konversionsprozess: vom Fremden zum Eigenen?
Mit Konversion wird aus dem Anderen der Eigene – oder etwa nicht? Dem Folgenden sei die Feststellung der überwiegend positiven, wenn nicht gar enthusiastischen Aufnahme der Personen, die ihre Konversion abgeschlossen haben, vorangeschickt. Beginnend mit der Ausweitung des Eheverbotes finden wir spätestens ab Ende des Zweiten Tempels/Beginn der rabbinischen Zeit eine strikte Unterscheidung zwischen Juden und Nicht-Juden. Das mischnaische Bild des Nicht-Juden
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ist zu großen Teilen negativ: geringe soziale, moralische und ethische Standards finden sich im gesamten Mischnakorpus.33 Die Trennlinie zwischen Juden und dem Rest der Welt scheint gesetzt und wurde – zumindest theoretisch – nur im Notfall überschritten, z. B. bei Krankheit, Lebensgefahr34 oder um des Friedens willen für einen Gruß an nicht-jüdischen (religiösen) Feiertagen.35 Wie bereits gesehen, kann nur der Konvertit diese Trennlinie überschreiten, und auch er nicht immer. Dies wirft ein interessantes Licht auf die wohl bekannteste talmudische Stelle bzgl. Konversion: „Unsere Rabbiner lehren: Ein (potentieller) Konvertit, der konvertieren will, man soll zu ihm sagen: Weshalb willst du konvertieren? Weißt du nicht dass die Söhne Israels verletzt, unterdrückt, verfolgt und zerstreut leben und dass Leiden über sie kommen? Wenn er antwortet: Ich weiß es und bin (dessen) unwürdig – so soll er sogleich aufgenommen werden. Und man unterweise ihn in den leichteren und ein paar der strengeren Gebote [...]. Wenn er diese annimmt, wird er sogleich beschnitten. Nach vollständiger Genesung, taucht er unter (Immersion). [...] Sobald er untergetaucht ist und aus dem Wasser kommt, ist er wie jeder Israelit in jeglicher Hinsicht.“36
Dieses Konversionsmodel, das in seinen Grundzügen bis heute das Muster für jegliche halachische Konversion zum Judentum darstellt – also: Unterweisung im Religionsgesetz, Beschneidung und Immersion im rituellen Tauchbad –, ist parallel zu sehen mit dem Ereignis, welches das Judentum zum Judentum machte: der Offenbarung am Sinai. Die Komponenten sind dieselben, die Parallelen nicht zufällig so gewählt: talmudisch gesehen wird ein Nicht-Jude zum Juden genau so, wie im biblischen Narrativ am Sinai eine Gruppe Israeliten den Bund mit ihrem Gott schloss, der das Judentum begründete. Die „Wüstensituation“ ist bis in die frühe Neuzeit noch immer gegeben, die Unterweisung kurz, die Vorbereitung so gut wie nicht vorhanden, die Konsequenzen jedoch bleiben radikal lebensverändernd. Der Fremde, sobald als Konversionskandidat akzeptiert, überschreitet innerhalb minimaler Zeit die Schwelle zum Eigenen. Der Konvertit zu talmudischer Zeit unterzieht sich in Grundzügen nichts anderem, als was am Sinai die 600.000 erlebt haben. Auch für den Konvertiten heute sind die Konversionskomponenten immer noch dieselben, lediglich die Vorbereitungs- und Lernzeit ist wesentlich länger. Die Traditionskette, die ihren Anfang in den Patriarchen sieht, hat ihren halachischen Beginn am Sinai. Kein Konvertit ist damit theoretisch anders oder fremder, als es ein Jude am Sinai war. Er steht damit zum Zeitpunkt seiner Konversion am Sinai, und ist damit am Sinai mit dabei, egal zu welcher Zeit.
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Nina Redl
Betrachtet man, dass der im Talmud beschriebene Konversionsprozess, sobald der Konversionskandidat akzeptiert war, im Vergleich zum Konversionsprozess der Moderne und Postmoderne wesentlich kürzer war und bei Bedarf innerhalb eines Tages (inklusive Beschneidung innerhalb weniger Tage) abgeschlossen sein konnte, so gibt dies einen interessanten Einblick in die Bereitschaft, den Anderen nicht problemlos, aber doch bereitwillig zum Eigenen werden zu lassen. Aus dem Anderen wird (theoretisch) ebenso schnell der Eigene, wie aus dem befreiten Sklaven am Sinai der Bundespartner Gottes wurde. Im Vergleich dazu erscheint der heute oftmals langwierige Konversionsprozess im Bereich der Orthodoxie und des konservativen Judentums, zumindest was den Zeitaufwand angeht, oftmals weniger offen, wenn auch in diesen beiden Richtungen des Judentums der Konversionskandidat von Anfang an willkommen ist und in das Leben der Gemeinde miteinbezogen wird. Jedoch kann der gelebte Unterschied des „Noch-nicht-Juden“ zum Juden v. a. im Bereich der Liturgie für den Konversionskandidaten besonders gegen Ende des einjährigen (manchmal sogar mehrjährigen Prozesses) schmerzhaft sein. Einer der wichtigsten Gründe für den langen Konversionprozess37, der sich in der Regel im heutigen Judentum findet, ist die Motivation, den Anderen langsam in das eigene Leben zu integrieren, fast im Sinne des Hineinwachsens in eine Lebenspartnerschaft. Wenn der Andere, der Fremde zum Eigenen, zum Lebenspartner werden soll, so spielen hier Test, Akzeptanz und Vorsicht eine entscheidende Rolle. Erst diese Erkenntnis zeigt die Spannung für die Situation des Konvertiten, der eigentlich nicht Anderer ist, aber dennoch Anderer bleibt, wie ich gleich erläutern werde.
3.
Der Eigene ohne Vergangenheit als Anderer im Eigenen
Die Faustregel, und das wohl am weitesten bekannte Zitat in Bezug auf einen Konvertiten nach der Konversion, findet sich in der Mischna38 Baba Metzia 4:10 und der darauf folgenden sugya39, die ausdrücklich darauf besteht, dass ein Konvertit nicht auf seine nicht-jüdische Vergangenheit angesprochen werden soll, ebenso wenig wie der Nachkomme von Konvertiten auf die nicht-jüdische Vergangenheit seiner Eltern angesprochen werden darf. Er ist damit in keinster Weise daran zu erinnern, dass er einst Fremder war. Der Wortlaut der Mischna ist wie folgt: „Wenn jemand ein Nachkomme von Konvertiten ist, so darf man nicht zu ihm sagen: „Erinnere dich an die Taten deiner Vorfahren/Eltern’40, wie/da es geschrieben steht: Und dem Fremden sollst du nicht Unrecht tun, noch ihn unterdrücken.“41 Damit ist bereits zu erkennen, dass der Fremde nicht nur nicht unbedingt neutral gesehen wurde, sondern dass sein Ursprung von zweifelhaftem Wert war. In einer Welt, die ab dem Ende der Zweiten-Tempel-Periode strikt zwischen jüdisch und nicht-jüdisch, (und damit fast automatisch) häre-
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tisch unterscheidet, ist diese Regel ebenso verständlich wie problematisch. Der Fremde ist damit nicht mehr der Nachbar, sondern derjenige, dessen Lebensweise bedrohlich und verachtenswert ist (zwei Eigenschaften, die einander bedingen). Heutzutage wird dieses Zitat wohl am positivsten ausgelegt und verstanden als: Der Konvertit ist zu behandeln, als wäre er immer schon Jude gewesen und soll in keinerlei Weise zu spüren bekommen, dass er „weniger jüdisch“ ist oder nicht unbedingt dieselbe, persönliche, jüdische Vergangenheit und die damit verbundenen Erinnerungen teilt. Aber genau in diesem Zitat sind bereits all die Probleme eines Vorgangs, der aus dem Fremden den Eigenen macht, impliziert sowie die Spannungsfelder zwischen jüdisch und nicht-jüdisch angedeutet.42 Von der Zeit des Zweiten Tempels bis in die heutige Zeit ist textlich wie erfahrungstechnisch gesehen nicht klar, ob der Konvertit nicht doch beides ist: eigen Fleisch und Blut und doch Fremder. Mischna, Tosefta43, Babylonischer und Palästinischer Talmud, geonische Literatur44 sowie unzählige Stücke der Responsaliteratur45 und Berichte von Konvertiten in allen Richtungen des Judentums berichten von dieser Spannung. Ist der Konvertit nach Abschluss des Konversionsprozesses auch schon zu Mischnaischer Zeit (2. Jahrhundert AD) wie einer, „der aus dem Grab auferstanden ist“46, so ist sein Status in der Realität doch nicht immer der eines radikal neuen Menschen oder eines Neugeborenen, d. h. eines Menschen ohne Vergangenheit.47 Dies ist bereits in einigen Teilen der Halacha sichtbar: So kann bzw. konnte ein Konvertit nicht in die Priesterkaste der Kohanim48 einheiraten.49 Auch bestehen Einschränkungen im Erbrecht. Mischna Bikkurim 1:4 berichtet, dass ein Konvertit, wenn er für sich ist, in seinem Gebet Gott als den Gott der Israeliten bezeichnen soll und nicht als den Gott „unserer“ Vorväter Abraham, Isaak und Jakob; und wenn er mit anderen „Juden durch Geburt“ betet, so soll er Gott als den Gott EURER Vorväter bezeichnen, hat er doch biologisch gesehen keine Mutter, die ihn direkt „gentechnisch“ in die jüdische Traditionslinie aufnimmt. Der hebräische Name eines Konvertiten ist bis heute X ben Avraham avinu ve Sarah imenu (X Sohn Abrahams unseres Vaters und Sarahs unserer Mutter) – ein Name, der den Konvertiten gleichzeitig auszeichnet und als Konvertiten erkennbar macht, trägt doch ein gebürtiger Jude seinen Namen und den Namen seiner leiblichen jüdischen Eltern (z. B. David Sohn des Michael und der Rachel). Der Konvertit bekommt die Eltern aller Juden, Abraham und Sarah, und ist somit dem Konzept nach Jude wie jeder Jude, und doch gleichzeitig schon für die Mischna gesehen „biologisch“ anders. Mit Abraham und Sarah ist er praktisch jüdischer als jüdisch, hat die Eltern aller Eltern und bleibt doch ein Konvertit. Sein hebräischer Name ist gleichzeitig Ehrentitel wie Hinweisschild auf seinen Konversionsstatus. Hinzu kommt, dass egal in welcher Epoche, von der Antike bis heute, den meisten erwachsenen Konvertiten, es sei denn sie sind in einem jüdischen Umfeld oder mit halb-jüdischer Familie aufgewachsen, persönliche Erinnerungen (z. B. die jüdische Küche der Großeltern, Familienrituale etc.) feh-
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len, was für viele Konvertiten nicht einfach ist, zumal observantes Judentum heute wie damals sehr stark bestehende Familienbande und kollektives Gedächtnis betont. Er ist damit der Andere und doch Eigene. Es gibt also den Anderen im Bereich der Eigenen, wenn dies auch (manchmal eine eher gefühlte Realität ist. Interessanterweise ist der Konvertit, der keine persönlichen spezifisch jüdischen Erinnerungen hat, damit vom postmodernen, säkular aufgewachsen Juden gar nicht so verschieden – der Andere im Bereich der Eigenen muss in der Moderne nicht der Konvertit sein, sondern kann ohne Weiteres der säkular assimiliert aufgewachsene Jude sein. Für ihn kann observantes Judentum genauso fremd sein wie für jeden Nicht-Juden. Das eigentlich Eigene wird zum Fremden. Weiterhin ist zu bemerken, dass von rabbinischer Zeit bis heute der Konvertit zum Zeitpunkt der Konversion oft besser über die Feinheiten jüdischen Lebens und jüdischen Religionsgesetzes Bescheid weiß als viele, die in das Judentum hineingeboren wurden. Stellten schon die Tosafisten50 im 12. Jahrhundert fest, dass Konvertiten sogar lästig sind in ihrer strikten religiösen Observanz und ihrem ausgeprägten Wissen alles Jüdischen51, so ist es heute im Konversionsprozess (zumindest außerhalb der Orthodoxie) an der Tagesordnung, dass die zumeist mehrjährige Unterweisung der Konvertiten diese häufig in eine gebildetere Position befördert als viele geborene, aber nur mittelmäßig gebildete oder erfahrene Juden erreichen. Hinzu kommt auf Seiten des Konvertiten die natürliche Neugier und der natürliche Wille, alles Jüdische geradezu zu inhalieren, ist doch der Wunsch gegeben, „vollkommen jüdisch“ zu werden. Die Motivation zu und Begeisterung von einem observanten jüdischen Leben eines Konvertiten oder Konversionskandidaten übertrifft (selbst Jahre nach der Konversion) nicht selten die eines geborenen Juden. Der Konvertit, derjenige der zum Eigenen wird, als Eigener anerkannt wird, bleibt doch in gewissen Bereichen Anderer, Anderer in Bezug auf seine nichtjüdische Vergangenheit (die trotz aller mischnaischen und talmudischen Ausmerzungsversuche existiert, was erst im modernen Konversionsprozess gewürdigt wird) und in Bezug auf sein jüdisches Wissen. Er findet sich damit oftmals in der Spannung zwischen Super-Juden und doch Anderem, als der Andere und doch der Eigene. In den Bemühungen von jüdischer Seite seit Beginn des offiziellen Phänomens Konversion den Anderen zum Eigenen zu machen, ist die Vorsicht vor dem Anderen, der entweder durch seine Vergangenheit oder durch seine allzu große Identifizierung mit dem Eigenen doch noch unheimlich bleibt. Wie in jeder Beziehung liegen Annahme und Vorsicht unmittelbar beieinander. Zusammenfassend ist zu sagen: Bereits am Vorabend der Zerstörung des Tempels und der damit beginnenden weltweiten Diaspora findet sich im Judentum eine konstante bipolare Einstellung dem Nicht-Juden gegenüber: der Fremde wird genauso schnell zum vertrauten Anderen, geliebten Freund und sogar eigen Fleisch und Blut, wie er andererseits mit Vorsicht betrachtet, mit Vorurteil belegt
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oder einfach der nicht beachtete, neutrale, aber oft auch der gefährliche Fremde bleibt. Wichtig ist hier das Identitätsmoment: Sobald der Fremde der eigenen, jüdischen Identität und dem Mitjuden auf eigenem Boden nicht gefährlich wird, wie z. B. durch religionsverschiedene Ehe (in einer Zeit lange vor religiösem Pluralismus) und vom eigenen Lebensstil weder zu weit entfernt noch, ohne Konversion, zu nahe ist, wird aus dem Fremden der Andere, der Nachbar. Tut er dann den letzten Schritt zur Konversion, findet er sich in der Spannung zwischen bedingungsloser Aufnahme und Verbleiben im Status des Konvertiten, die den Konvertiten je nach Situation zum Juden und manchmal doch noch zum Anderen im Bereich der Eigenen macht.
4.
Die Diasporasituation und die Moderne
Mit der Zerstörung des Zweiten Tempels und der Diaspora begann für das Judentum die Situation, sich selbst als fremd in der Fremde vorzufinden. Jüdische Geschichte ist die Geschichte des ewig wandernden Juden; des Fremden, der sobald er zum ansässigen Anderen und Nachbarn wird, wieder vertrieben, missbraucht oder getötet wird. Kurze goldene Zeitalter unterbrechen lange Perioden der Flucht, Verfolgung und Vertreibung, die in der Shoah ihren Höhepunkt finden. In den Nachbeben der Shoah wird der Staat Israel geboren, der ohne Zweifel bis heute – leider – das beste Beispiel für die Spannung zwischen Heimat und Fremde, Nachbar und Feind, Fremdem und Familie darstellt. Bis zur Staatsgründung: Zu Hause in der Welt, vertraut und heimisch in der Fremde und doch nirgends wirklich daheim, kehrt das Judentum teilweise in die fremde Heimat zurück, eine Heimat die seit zwei Jahrtausenden zu großen Teilen dem Anderen, dem Fremden, dem Nicht-Juden zur gerechtfertigten Heimat wurde. Schon in früher rabbinischer Zeit findet sich im rabbinischen Schrifttum der Zwiespalt des Judentums, der sich bis in die Moderne fortsetzten wird: Der Andere, der Fremde ist genauso faszinierend wie abschreckend, genauso lebensnotwendig wie bedrohlich für die eigene Identität. Die Abhängigkeit vom Wohlwollen des Anderen, des christlich oder muslimischen Oberherren, in der die eigene Andersheit des jüdischen Gesetzes und der jüdischen Kultur oftmals nicht frei gelebt werden konnte, erschwert eine wirklich gute Beziehung zum Fremden. Auf einmal ist nicht mehr der Andere, der Nicht-Jude die Ausnahme bzw. der Fremde im eigenen Bereich, sondern der Jude wird zum Anderen, zum Fremden, oft zur bedrohten Minderheit. Der Kampf um das eigene Überleben, die Beibehaltung der eigenen jüdischen Identität in Gefühl und Tat und deren Anerkennung, sowie das ständige Bestreben, in der Fremde eine Heimat zu finden, gleichwie die Frage, ob die Fremde jemals zur Heimat werden kann und darf, bestimmen die Ambivalenz dem Anderen gegenüber, die sich in rabbinischer Literatur niederschlägt. Jüdisches Gesetz, wie es im Talmud präsentiert wird, beschreitet den
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schmalen Grad, jüdische Identität zu wahren, aber dennoch den Umgang mit dem Anderen, der für das eigene Überleben essentiell ist, nicht unmöglich zu machen. Die Grundannahme, dass alle Nicht-Juden dennoch den sieben noachidischen Geboten folgen müssen, ermöglicht den Versuch, mit ihnen in einem gewissen rechtlichen Rahmen zu verkehren. Der Umgang mit dem Anderen ist in den Bereichen verboten oder eingeschränkt, in denen die eigene Praxis und die des Anderen zu weit auseinanderklaffen und aufgrund des Bundesverständnisses der Rabbiner eine Annäherung nicht möglich oder sogar gefährlich für die eigene jüdische Identität wäre (z. B. sexuelle Intimität, Kultgemeinschaft, gekochtes Essen, Wein etc.). Der Andere, der Fremde bestimmt somit indirekt die Grenzen des jüdischen Selbst. Wo der Andere in seiner Fremdheit zu nahe ist, muss das Eigene die beschützende Grenze ziehen. Dennoch ist die Grundhaltung respektvoll, wird die Diskriminierung gegen den Anderen nicht nur als Gefahr für freundliche Beziehungen52 gesehen, sondern vielmehr als Profanierung des göttlichen Namens53. Die Sicht des Anderen von jüdischer Seite aus findet sich im Mittelalter in der ständigen Spannung der Abhängigkeit vom Anderen, der Bedrohung durch den Anderen, dem Bestreben, in der Fremde gleichzeitig eine Heimat zu bilden und dennoch die eigene Identität zu wahren, also zwischen Assimilation, Selbstisolation (und später Ghettoisierung) zu balancieren, und ist damit mal Xenophilie und mal Verachtung. Der neutrale Fremde, der nicht entweder Freund oder Feind ist, ist kaum zu finden. Seit Beginn der Moderne ist der Andere nicht mehr unbedingt der Häretiker, jedoch auch nicht selbstverständlich sofort der neutrale oder willkommene Fremde, der Beinahe-Nachbar. Die Öffnung der Ghettos, der Beginn der europäischen Aufklärung und die verstärkten Bemühungen der jüdischen Aufklärung (Haskalah) führen zu einem zweigeteilten Eintritt des Judentums in die Moderne: Auf der einen Seite ist die nicht-jüdische Moderne höchster Anziehungsfaktor, alles Fremde und Neue, das bisher nur wenigen zugänglich war, kann kaum schnell genug aufgenommen werden; auf der anderen Seite wird das Neue schnell zur Bedrohung. Führende intellektuelle Vorläufer wie Moses Mendelssohn sehen und erleben jedoch bereits die Probleme, die genau diese Neugier und der Aufholdrang mit sich bringen. Mendelssohn, selbst Vater der jüdischen und Schlüsselfigur innerhalb der europäischen Aufklärung, erfuhr dies in der Lavater-Affäre am eigenen Leibe. Gebildet und nach dem Motto „a Jew at home, a man in the street“ lebend, damit äußerlich kaum als Jude zu identifizieren und mit Literatur, Moderne, Philosophie und Christentum ebenso vertraut wie mit dem eigenen traditionellen Judentum, wird er nicht mehr als Jude wahrgenommen und von Johann Caspar Lavater aufgefordert, entweder für die Wahrheit und den Wert der jüdischen Religion Rechenschaft abzulegen oder den letzten Schritt seiner scheinbaren Assimilierung zu tun und Christ zu werden54. In einer Zeit der ersten, zarten und leicht zerstörbaren Akzeptanz des Judentums in der größeren europäischen Öffentlichkeit beginnt Mendelssohn nach anfänglichem Zögern,
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dann gipfelnd in seinem religiösen Hauptwerk, „Jerusalem oder über die religiöse Macht des Judentums“ mit einer Definition des Judentums, die trotz anfänglicher religiöser Toleranz des Anderen und Ansätzen von religiösem Pluralismus versucht, Judentum als aufgeklärte, aufklärungstaugliche, politisch korrekte und v. a. universal-rationale Religion zu präsentieren, die damit vom Anderen wenn schon nicht als besser akzeptiert, dann doch zumindest als existenzberechtigt angesehen werden kann.55 Dennoch wird hier keine Brücke zum Anderen geschlagen, sondern die jüdische Eigenheit aber ganz klar als überlegen im Bereich der Lebbarkeit und Rationalität dargestellt. Judentum bleibt Judentum, von Vernunft gekennzeichnet, keineswegs unmündig und zweifelsohne geeignet für die Moderne, aber letztendlich doch abgegrenzt von einer dogmatisch bestimmten christlichen Moderne, die selbst den so vorzüglichen Verstand eines Lavater zu vernebeln scheint.56 Mendelssohns Jerusalem bleibt letztendlich einer geistig aufgeklärten und religiös gebildeten Elite vorbehalten, so dass mit Beginn des 19. Jahrhunderts die Grenzen des Judentums in vielerlei Hinsicht neu definiert werden müssen. Die Hauptfrage, die sich in der „dreifaltigen“ Neudefinierung des Judentums stellt, ist keine geringere als: Wie können Judentum und Moderne vereint werden zu einem Zeitpunkt, da die fremde Außenwelt erstmals wirklich zur Heimat werden kann? Kann man der Faszination des Anderen, Nicht-Jüdischen, so lange Ersehnten nachgeben oder ist der Fremde nach wie vor Bedrohung der eigenen Identität? Lassen sich Jude und Weltbürger in einer Identität vereinen oder war das Ghetto vielleicht doch, zumindest teilweise, Selbst-Ghettoisierung und Schutz vor dem Fremden? Die anfänglichen Antworten von Orthodoxie, Moderner Orthodoxie, positiv-historischem Judentum (später: konservativem Judentum) und Reformjudentum sind damit nicht nur als Antworten auf die Moderne und offizielle Herausbildung einzelner Richtungen des Judentums zu sehen, sondern bilden essentielle „comfort zones“57, die nicht nur die Akzeptanz der nicht-jüdischen Welt, sondern auch das Interaktionsniveau mit derselben beschreiben. Ist das Interaktionslevel der Orthodoxie mit der anders-religiösen oder säkularen Umwelt oftmals gering, so ist das liberale Judentum in der modernen Welt zu Hause, verliert aber schnell essentielle Komponenten der eigenen jüdischen Tradition (teils willig, teils als unabänderliche Folge einer enthusiastischen Assimilation, in der die europäische Moderne der eigenen jüdischen Tradition vorangestellt wird). Die Schwierigkeiten beginnen im Bereich der jüdischen Identität, der Andere ist nunmehr nicht mehr nur der Nicht-Jude, sondern mit der Ausdifferenzierung offizieller unterschiedlicher jüdischer Richtungen der „Jude“, der nicht in das eigene Identitätsmuster fällt. Dieses Identitätsmuster bestimmt sich größtenteils durch die Einstellung und Befolgung der Halacha, d. h. dem jüdischen Religionsgesetz. Ist es bis heute am „einfachsten“, innerhalb der Ultra-Orthodoxie nach jüdischem Religionsgesetz zu leben, da dieses nach wie vor einen jeglichen Lebensbereich umfasst und damit die jüdische Identität in beinahe jedem Hand-
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griff gelebt wird, so ist die Abgrenzung von allem Nicht-Jüdischen doch beachtlich und die Schwierigkeiten, traditionell-jüdisch nach eigenem Kalender, eigenem Wochen- und Jahresrhythmus zu leben in einer Welt, die außerhalb Israels und Nordamerikas mit dem Judentum wenig vertraut oder gar nicht bekannt ist, sind groß.58 Traditionell jüdische Identität zahlt den Preis der Abgrenzung (oftmals freiwillig in der Form neuer Selbst-Ghettoisierung): Der Fremde bleibt fremd, der Andere wird nicht näher als an die Oberfläche der eigenen „comfort zone“ herangelassen, Vorurteile und Unwissen auf jüdischer wie nicht-jüdischer Seite wachsen schnell und verhärten die Grenzen, die – selbst wenn gewollt – auf beiden Seiten nur schwer zu überwindern sind (dies gilt auch und oftmals v. a. für die Konversion59). Konservatives Judentum, das sich aus dem positiv-historischen Judentum entwickelt hat und heute zum Großteil nur noch in den USA und Kanada vorhanden ist, steht in der Mittelposition, gleichzeitig die traditionelle Halacha ausnahmslos anzuerkennen, wie diese auch nötigenfalls der Moderne anzupassen. Dies führt nicht nur zu Spannungen, sondern besonders innerhalb der letzten Jahrzehnte dazu, den Anderen in den eigenen Reihen neu zu definieren. Das Judentum kennt wie jede Religion nicht nur den Fremden als einen, der der eigenen Religion nicht angehört, sondern auch den Anderen in den eignen Reihen, denjenigen, der nicht unter alle Normen, Rechte und Pflichten des „mainstream“ fällt. War der Konvertit derjenige, der Eigener und doch Anderer blieb, so war er in diesem Status über die Jahrhunderte doch nie alleine. Zwei weitere Bereiche des Eigenen und doch Anderen werden in der Moderne und Postmoderne heftigst diskutiert. So findet sich hier halachisch argumentierende Responsaliteratur, die die beiden Anderen par excellence in jedem traditionellen religiösen Bereich gleichberechtigt: Frauen und Homosexuelle.60 Im Bereich der Frauen findet sich hier die Jahrhunderte alte Diskrepanz, in der Frauen von dem Bereich der positiv zeitgebundenen61 Gebote frei waren, was in der Interpretation oftmals zu ihrer Benachteiligung geführt hat, v. a. in einer Gesellschaft, in der derjenige, der dem Gebot verpflichtet ist und es einhält, als höher gestellt gilt als derjenige, der unverpflichtet ein Gebot erfüllt62, zumal die Gebotverpflichtung den Gottesbund repräsentiert. Somit ist der Andere im Eigenen so alt wie die Definition der Norm dessen, was Eigen ist, egal ob es sich um den Sonderfall des Konvertiten handelt63 oder den „stummen“ Anderen, der „anders“ geboren ist. War diese Gleichberechtigung des eigenen Anderen für das liberale Judentum für Frauen und Homosexuelle schon Jahrzehnte vor den Konservativen keine Frage, so bleibt hier doch zu sehen, dass sich das liberale Judentum bereits im 19. Jahrhundert durch die Ablehnung großer Teile der Halacha zum Anderen in den eigenen Reihen gemacht hat, was so weit führt, dass wir heute zwischen halachischem (Ultra-Orthodox, Orthodox, Modern Orthodox, Conservadox64, Conservative) und nicht-halachischem (Liberal, Progressiv, Reform, Rekonstruktionismus, Renewal) Judentum unterscheiden. Liberales oder Reformjudentum wird von den halachischen Richtungen oftmals nur als jüdisch zweiter Klasse oder
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im Bereich des „patrilinear Judaism“65, den es vertritt, als nicht wirklich jüdisch gesehen. Dies hat v. a. im Bereich der Anerkennung von Konversionen weit reichende Folgen. Eine Reformkonversion wird von der Orthodoxie nicht anerkannt und vom konservativen Judentum nur dann, wenn sie halachischen Standards (Unterweisung, Beschneidung, Immersion) gerecht wird. Hier bleibt der Fremde, der zum liberalen Mitjuden wurde, nach wie vor der Fremde/Andere, Nicht-Jude für einen großen Teil des Judentums – eine Problematik, die zum Alltag wurde. Innerhalb dieser Problematik ist nur noch die Ablehnung seitens des halachischen Judentums von religionsverschiedenen Ehen (jüdisch plus nichtjüdisch) gravierender, eine Problematik, die wie in biblisch-rabbinischer Zeit nur die oppositionell entgegengesetzte Realität darstellt: Innerhalb des konservativen Judentums finden sich fast genauso viele religionsverschiedene wie jüdische Ehen. Paradoxerweise sind es oft die nicht-jüdischen Partner, die Anderen, die den jüdischen Partner im Judentum halten und auf eine jüdische Erziehung der Kinder pochen und damit die Stützen des konservativen Judentums bleiben. Noch nie zuvor klaffte die Theorie des Anderen und die Realität des Lebens mit dem Anderen so weit auseinander. Der Andere, der Fremde, sogar der Bedrohliche ist aus jüdischer Sicht nicht mehr nur außerhalb der eigenen Reihen zu finden, sondern existiert in vielerlei Weise in ihren Grenzen. Der Fremde wird nicht nur durch Konversion, sondern auch durch Heirat mit dem Eigenen zum (Beinahe-)Eigenen (aus halachischer Perspektive), der das Eigene manchmal besser beschützt und kennt als der Mitjude – welch Ironie. Der Andere kann der andere Jude einer anderen jüdischen Bewegung sein, die je nach Übereinstimmung oder Unterschied mit den eigenen halachischen und kulturellen Lebensstandards bedrohlicher für die eigene jüdische Identität und die jüdische Zukunft verstanden werden kann als der Nicht-Jude. Die größten Dispute werden heute in Israel und Amerika schon lange nicht mehr zwischen Jüdisch und Nicht-Jüdisch ausgefochten, sondern sind innerjüdische Auseinandersetzungen und neue Grenzziehungen zwischen verschiedenen Richtungen des Judentums, die sich oftmals genauso fremd, wenn nicht gar fremder sind als Jude und Nicht-Jude.
5.
Der philosophische und theologische Hintergrund
In diesem Kontext wird auch verständlich, warum ein Großteil der modernen und postmodernen jüdischen Philosophie, die sich mit der Beziehung zum Anderen beschäftigt, den Anderen gar nicht mehr als jüdisch oder nicht-jüdisch definiert. Es gibt zu viele Kategorien des Anderen, des Fremden, sei er Jude oder Nicht-Jude, und die Schattierungen dessen, was als Eigen betrachtet wird, sind ebenso vielfältig. Der Andere, der Fremde, der in der Philosophie jeden, der nicht das Selbst umfasst, darstellt, ist im Denken des jüdischen Philosophen fast gesichtslos, sei er undefiniert (jüdisch/nicht-jüdisch), sei es transzendent als der
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„ganz Andere“. Die Problematik und Faszination des ‚menschlich’ Anderen erreicht eine ganz neue Dimension, wenn ein weiterer „ganz Anderer“, Gott, als Dritter im Bunde in die Gleichung mit aufgenommen wird. Näher als die eigene Halsschlagader und doch entfernter als die weiteste Galaxie, vertrauter als der eigene Atem und fremder als jeder andere Mensch jemals sein könnte, ist Gott der Andere und Eigene par excellence, überall anwesend und doch nirgends vollkommen fassbar. Die Unterscheidung jüdisch/nicht-jüdisch ist in Theorie wie Praxis oftmals zweitrangig. Der Andere ist genauso anziehend und faszinierend wie verunsichernd und zum Teil immer noch in der eigenen, selbst errichteten Identität bedrohlich. Ein Judentum, das seit der Moderne erstmals mit nur wenigen Unterbrechungen den Luxus besitzt bzw. durch Ereignisse wie die Shoah gezwungen ist, sich der eigenen Identitätsfrage zu widmen und hierzu Geschichte, Philosophie sowie die eigenen Tradition heranzieht, entdeckt v. a. philosophisch erstmals den großen, übergreifenden Rahmen, der die Beziehung des jüdischen Volkes und des Anderen auf eine neue Basis stellt. Der erste Andere des Judentums ist nicht der Nicht-Jude, sondern der „ganz Andere“, Gott. Er ist der „ganz Andere“, der absolut Fremde und gleichzeitig der absolut Vertraute, der, wie bereits oben angesprochen, das Judentum zum Judentum machte und macht.66 Ist dies in biblischer Zeit fast unausgesprochen klar67, so rückt in rabbinischer Zeit der andere Jude sowie der Nicht-Jude an die Stelle des Anderen, der die meiste Beschäftigung verdient, geht es in rabbinischer Zeit doch darum, jüdisches Leben nach innen und nach außen am laufenden Bande zu definieren und zu regulieren. Es ist nicht ohne historischen Hintergrund, dass die Stimme Gottes im Talmud eine untergeordnete Rolle spielt.68 Selbst der „ganz Andere“, oder gerade Er, kann leicht wieder zum Fremden, zum absolut Transzendenten werden, zumindest wenn so gewünscht. Die mittelalterliche philosophische Diskussion um freien menschlichen Willen und göttliche Determination und die Anerkennung des ontologischen Unterschiedes zwischen begrenzter menschlicher Existenz und göttlicher Unendlichkeit, die zum Teil nicht einmal in menschliche Sprache gefasst werden kann,69 mündet in der Neuzeit in die philosophische Diskussion um die Beziehung zu Gott: Aus dem Buber'schen ‚Ich – ewiges Du’, in dem die Transzendenz von göttlicher Seite zumindest anfänglich überwunden wird, um die ideale Ich-DuBeziehung zu formen, in der das Ich nicht mehr weiß, wo es aufhört und das Du beginnt70, wird bei Levinas der ganz Andere, der zum Teil fast schon brutal in die Totalität des Selbst einbricht, um es für den anderen Menschen, egal ob Jude oder Nicht-Jude humanistisch, menschlich, allzu menschlich zu öffnen.71 Levinas fordert ganz klar, dass der Fremde nicht im egozentrischen Vergleich zu verstehen (und damit zum Selbst zu machen) ist, sondern erst dann verstanden und als Anderer respektiert werden kann, wenn man die eigenen Parameter erbarmungslos stürzt und den Anderen – was in der Folge meint: sich selbst – zunächst nicht mehr versteht. Der/das Fremde ist damit nicht länger etwas nur Jenseitiges, son-
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dern geht mitten durch das Ich und rückt es von sich ab, die eigentliche Differenz findet im Selbst statt. Das Verstehen des Anderen folgt dann einem neuen Verstehen des Selbst in Bezug und Abgrenzung zugleich. Ist Hermann Cohens Nebenmensch und Mitmensch in der „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judenthums“72 noch ganz im jüdischen Rahmen zu sehen (u. a. auch als Reaktion auf Kant und Cohens eigene Wiederentdeckung des Judentums in Berlin zurückzuführen), ist Bubers Du und Levinas’ Anderer religionslos, transzendent wie immanent und damit allumfassend. Jedweder Andere hat das Potential, zum Du zu werden (und jedes Du, das nicht ewiges Du ist, ist dazu bestimmt wieder zum weniger nahen Es zu werden73), und sowie jeder (menschlich) Andere für Levinas wieder und wieder den ewigen Kreislauf der Totalität des Selbst durchbricht, ist dieser zum ersten Male durch den „ganz Anderen“ (Gott) erst geöffnet und für wirkliche menschliche Begegnung, die die Andersheit des Anderen als Besonderheit stehen lassen kann, bereit. Jedes Du, nicht nur das jüdische, weist bei Buber auf das ewige Du hin und bietet einen Vorgeschmack dessen, was eine Ich-ewiges-Du-Beziehung letztlich ist74: absolute Identifizierung mit dem „ganz Anderen“, Gott. Zumindest philosophisch sind die Grenzen zwischen Fremdem, Anderem und Eigenem in der Moderne wie Postmoderne verwischt – eine philosophische Entwicklung, die wiederum u. a. darstellt, wie einige hochpopuläre jüdische Denker eine Welt empfinden, die grenzenlos zu sein scheint oder zumindest das Potential zu multikultureller Identität hat, in der Fremdheit nur noch als Andersheit wahrgenommen wird. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Polarität des Judentums in seiner Beziehung zu Gott spiegelt sich in der Polarität der Beziehung zum Anderen wider. Genauso wie Gott sich nicht einheitlich definieren lässt, so ist auch der Andere nie einseitig, nie nur bedrohlich oder nur feindlich, sondern genauso fremd, anders, vertraut, verhasst, geliebt und ignoriert wie die jeweilige Situation des Judentums in seinem Umfeld. Der Eigene, der Andere und der Fremde finden sich in genauso vielen Formen, wie das jüdische Selbst in Bezug auf Gott und sich selbst zum Dialog bereit ist. Sicher ist aber, gleich welche Position zum Anderen bezogen wird, der Andere, der Fremde und v. a. der „ganz Andere“, ist bestimmend für das jüdische Selbst und das Finden und die Bestimmung jüdischer Identität, sei es in der Vertraulichkeit zum Anderen, sei es durch die Bereicherung oder Bedrohung des Anderen. Ohne den Anderen ist das Selbst nicht dasselbe, ja vielleicht gar nicht ausgeprägt vorhanden, ganz wie Jochen Schütze erkennt: „Der Mangel an Fremden hinterlässt eine Leere, in der sich das Eigene zu verlieren droht.“75 Egal in welcher Epoche, durch die Beziehung des Judentums zum „ganz Anderen“ fordert das jüdische Selbst den Anderen und wächst aus Beziehung und Kluft zum Anderen.
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H. COHEN, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judenthums, Wiesbaden 2008, Kapitel 8, S. 151-90. Nicht zu verwechseln mit ( נצריםnozrim) = Christen, ein Terminus, der erst ab rabbinischer Zeit verwendet wird. Vgl. z. B. Ex 21:8; 29:33. Dem zar oder nochri, dem nicht ansässigen Fremden, kann im Gegensatz zum Israeliten Zins abverlangt werden (Dtn 23:21), seine Schulden müssen ihm ebenfalls im Gegensatz zum Israeliten im siebten Jahr erlassen werden (Dtn 15:3). Da er vom israelitischen Kult ausgeschlossen ist, kann ihm jegliches an einem natürlichen Tod gestorbene Tier verkauft werden (Dtn 14:21). Er wird somit zum besten Geschäftspartner des Israeliten. Seine einflussreiche Position wird insbesondere durch das spezielle Thronnachfolgeverbot in Dtn 17:15 hervorgehoben. Der Fremde ist damit lebensnotwendig als Geschäftspartner, sein Einfluss aber muss in Grenzen gehalten werden, um das Eigene nicht zu bedrohen, so dass jede Beziehung zu ihm genau geregelt werden muss. Vgl. Lev 25:23-24. Zu den Armenprivilegien zählen der Verzehr von Fallobst der Weinberge (Lev 19:10) sowie der restlichen Feldfrüchte in den designierten „Feldecken“ (Lev 13:22), ein Anteil am Zehnten des dritten Jahres (Dtn 14:19) und die Erträge des Sabbatjahres (Lev 25:6). Es war verboten, sie in irgendeiner Weise zu belästigen (Ex 22:20, Jer 7:6), zu misshandeln (Deut 24:14) und sie waren vor dem Gesetz als absolut gleichberechtigt zu behandeln (Deut 1:16; 24:17; 27:19). Vgl. Lev 19:34 und Deut 10:19. Die gelebte Erinnerung im Judentum an ihr wohl bedeutendstes Gründungsnarrativ, den Auszug aus Ägypten durch die Hilfe Gottes, ist bereits in der Zeit des Zweiten Tempels die wohl stärkste Motivation für beides: einerseits Respekt, Toleranz und Fürsorge für den Anderen (insbesondere den Unterdrückten) wie auch andererseits extrem große Vorsicht dem Fremden gegenüber. Vgl. hierzu auch J. MILGROM, Leviticus 17-22. A New Translation with Introduction and Commentary, New York 2000, S. 1704: “The rule of equality before the law for alien and citizen alike (Lev 24:22; Exod 12:49; Num 15:16, 29) is bounded by and envelope structure contrasting the alien in Israel’s land with alien Israel in Egypt-land. Hence Israel should not oppress the alien, but love him.” Lev 19:34 ist das Gegenstück zu Lev 19:18, in dem sich das Liebesgebot auf den Eigenen, den anderen Israeliten bezieht. Lev 19:2 setzt den theologischen Rahmen des Heiligkeitsgesetztes: „Ihr sollt heilig sein, denn ich, Adonai, euer Gott, bin heilig.“ Der hebräische Begriff für heilig ist kadosh ()קדוש, was in seiner Grundbedeutung soviel wie separat, abgetrennt bedeutet und damit im übertragenen Sinne meint: abgesondert, zur Seite gesetzt für Besonderheit/Gottesbeziehung. Heilig bedeutet letztendlich aber nicht sakrosankt metaphysisch unantastbar, sondern ist nur unantastbar für den Bereich, für den es nicht beiseite gesetzt ist. Wie dieses Liebesgebot genau zu verstehen ist, ist umstritten. Nach Milgrom, Ellinger und Wellhausen ist Lev 19:18 platonisch und Lev 19:34 praktisch (also in Bezug auf praktische Handlungen) zu verstehen. Lev 19:34 steht damit in ungebrochener Beziehung zu vv 35-36, die sofort das erste Beispiel dieses Gebotes im Bereich der Businessethik darstellen, vgl. MILGROM, Leviticus, S. 1706. C. LEVI-STRAUSS und D. ERIBON, Das Nahe und das Ferne, eine Autobiographie in Gesprächen, Frankfurt am Main, 1996. Vgl. Lev 24:22.
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15 Einhalten des Shabbat (Ex 20:10; Dtn 5:14), Teilnahme an den religiösen Festtagen (Dtn 16:11. 14), Fasten am Versöhnungstag (Lev 16:29). 16 Dtn 23:8-9. 17 Dtn 23:4. 18 Erst für die Rabbiner des Talmuds ist ger identisch mit dem Proselyten (vgl. MILGROM, Leviticus, S. 1705). 19 Auch muss davon ausgegangen werden, dass selbst vor der generationsbedingten Assimilierung die Gruppe der gerim oftmals nicht von den Israeliten zu unterscheiden war, zumal auch Israeliten Pächter waren, sich als Tagearbeiter verdingten (vgl. Dtn 24:14 und Lev 19:13), ebenso wie gerim zu Geld und Ansehen und damit ebenfalls zu Landbesitz kamen. Ehen zwischen gerim und Juden fanden mit Sicherheit statt, was schon allein durch die spätere Ausweitung des Eheverbots erkennbar ist. (In dieser Zeit galt das Eheverbot nur zwischen Israeliten und nicht-genuinen Bewohnern Palästinas vgl. Dtn 7:3-4, sowie die spätere Ausweitung unter Esra – siehe unten). 20 Eine wirklich strikte Trennung zwischen Juden und Nicht-Juden lässt sich erst später während der Zweiten-Tempel-Periode feststellen, während der die Welt strikt nach jüdisch und nicht-jüdisch, also nach Tora-treu und häretisch/dem Götzendienst verfallen unterteilt wird. 21 Gen 23:4. 22 Vgl. Gen 21:23: „Aber nun schwör mir hier bei Gott, dass du weder mich noch meinen Thronerben noch meine Nachfahren hintergehen wirst. Das gleiche Wohlwollen, das ich dir erwiesen habe, sollst du mir erweisen und dem Land, in dem du dich als Fremder aufhältst.“ 23 Vgl. Num 15:14-16: „Wenn ein Fremder, der bei euch lebt, oder einer, dessen Familie schon seit Generationen unter euch lebt, ein Feueropfer als beruhigenden Duft für den Herrn darbringen will, dann soll er es ebenso machen wie ihr. Für euch und für die Fremden, die bei euch leben, gilt ein und dieselbe Regel; das soll bei euch als feste Regel des Herrn gelten, von Generation zu Generation, für euch ebenso wie für den Fremden: Gleiches Gesetz und gleiches Recht gilt für euch und für die Fremden, die bei euch leben.“ 24 Der Talmud ist das Hauptwerk rabbinischer Literatur. Es existiert in zwei Varianten, dem Babylonischen Talmud (Kodifizierung in Babylonien etwa im frühen 5. Jahrhundert AD) und dem Palästinischen Talmud/Talmud des Landes Israel (Kodifizierung etwa im späten 5./frühen 6. Jahrhundert AD). Er umfasst die weit gefächerten rabbinischen Diskussionen zur Mischna. 25 Jüdisches Legislations- bzw. Entscheidungsgremium, zumeist bestehend aus drei kundigen männlichen volljährigen Personen (d. h. zumeist Rabbinern). 26 Vgl. Deut 29:09-30:20 27 Verbot von Götzendienst, Mord, Diebstahl, sexueller Promiskuität, Blasphemie, Grausamkeit gegenüber Tieren (insbesondere bzgl. des Verzehrs von Fleisch noch lebender Tiere) sowie das Gebot, ein Rechtssystem zu haben.(Siehe Tosefta Avoda Zarah 8:4, ca. 300 AD., zitiert u. a. im Babylonischen Talmud, Traktat Sanhedrin 56a.) 28 Rituell, nach jüdischem Religionsgesetz geschlachtet. 29 BT Avoda Zarah 64b. 30 Der Teminus „Goy“ bezeichnet jeglichen Nicht-Juden und ist zumindest in seinen biblischen und rabbinischen Anfängen neutral. 31 Die religionsverscheidene Ehe stellt bis heute im halachischen Judentum ein Tabu dar.
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32 Dies lässt sich bereits in der vor-rabbinischen Zeit an der Ausweitung des Eheverbotes zwischen Juden und ursprünglich nur den sieben kanaanitischen Stämmen (Dtn 7:1-4) auf alle Fremden zur Zeit Esras sehen. Hier ist ganz klar zu sehen, dass biblisches Gesetz eine Sache war, Realität vermutlich aber eine ganz andere Angelegenheit. Jüdisches Gesetz, wie jegliches andere auch, basiert auf realen Zuständen und „case law“. 33 Bestes Beispiel hierfür liefert Mischna Ketubot 1:2 und 1:4; da einige der MischnaAutoren glaubten, dass Nicht-Juden sexuelle Beziehungen zu jeglichen weiblichen Wesen älter als drei Jahre und einen Tag pflegten, ist nur der Ehevertrag (Ketuba) einer Frau, die vor diesem Stichtag zur Jüdin wurde, 200 Dinar wert und damit dem einer israeltischen Jungfrau gleichwertig. Ist die Betreffende später konvertiert, so ist ihr Ehevertrag nur einen Maneh (100 Dinar) wert. 34 Babylonischer Talmud, Traktat Gittin 61a. 35 Tosefta Avoda Zara 1:3. Hier bleibt zu erwähnen, dass hinter diesem Gruß wohl weniger Respekt vor nicht-jüdischem Glauben oder Bräuchen stand, sondern eher die Sorge um friedvolles Zusammenleben von Juden mit Nicht-Juden auf nicht-jüdischem Territorium. 36 Babylonischer Talmud, Traktat Yevamot 47a-b. Dieser talmudische Text zeigt das erste detaillierte Regulativ für Konversion. In der Zweiten-Tempel-Zeit findet sich kein einziger Text, der genaue Maßstäbe für Konversion setzt, und es ist demnach zu vermuten, dass es bis in rabbinische Zeit verschiedenste Varianten gab, Jude zu werden, wie bereits in biblischen Texten angedeutet. Sobald der Andere nicht mehr vom Eigenen zu unterscheiden war, sobald die Annäherung in Assimilation übergegangen war, war aus dem Anderen der Eigene oder zumindest der Andere im Eigenen geworden. (Siehe hierzu S. COHEN, The Beginnings of Jewishness. Boundaries, Varieties, Uncertainties, Berkely-Los Angeles 1999, Kap. 5-7). 37 Selbst im konservativen oder Reformjudentum ist die kürzeste Zeit zwischen der Aufnahme in den Konversionsprozess bis zur eigentlichen Konversion in etwa ein Jahr, währenddessen lebt der Konversionskandidat den Jahreszyklus des jüdischen Kalenders in der Gemeinde mit, wird gleichzeitig vom Rabbiner und anderen jüdischen Lehrern unterrichtet und lebt sich somit mehr oder weniger natürlich ins Judentum hinein. Diese Zeit ist sowohl für den Konversionskandiaten da, um herauszufinden, ob der Wunsch Jude zu werden nicht nur auf einem unrealistischen Gedanken basiert und in Realität lebbar ist, als auch für die Gemeinde, um ein neues Mitglied langsam wie in eine Familie aufzunehmen. Der Andere soll langfristig zum Eigenen werden, die Gefahr ihn wieder zu verlieren soll so gering wie möglich gehalten werden. 38 Die Mischna ist die erste schriftliche Kodifizierung jüdischen Gesetzes im Jahr 200 AD. 39 Sugya = rabbinische Debatte, die sich an eine Mischna anschließt. 40 Konsequenterweise darf/soll daher auch der Konvertit selbst nicht an seine nicht-jüdische Vergangenheit erinnert werden. Er wird gesehen, als wäre er schon immer Jude gewesen. 41 Ex 22:20. 42 Können auch große Teile des kollektiven historischen und theologischen jüdischen Gedächtnisses von Konvertiten vollkommen mit jedem geborenen Juden geteilt werden, so sind doch persönliche Erinnerungen nicht mit dem Konversionstag erwerbbar, und die Jahre, die der Konversion vorangehen, können nur im seltensten Fall mit persönlichen jüdischen Erinnerungen gefüllt werden. 43 Die Tosefta (Kodifizierung ca. 300 AD) ist eine Sammlung der mündlichen Traditionen, die nicht in die Mischna aufgenommen wurden, ihre Autorität kommt der der Mischna aber dennoch gleich.
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44 Geonische Literatur ist die halachische Literatur der geonischen Zeit (589-1038 AD). Geonim waren ursprünglich die Oberhäupter der rabbinischen Akademien (beginnend mit Sura und Pumbedita in Baylonien) und waren die akzeptierten Leiter der jüdischen Gemeinden bis ins frühe Mittelalter. 45 Responsaliteratur (responsum = Antwort) ist die halachische Literatur, die seit geonischer Zeit versucht, die halachischen Fragen der einzelnen Gemeinden zu beantworten, und sich damit mit jeder neu präsentierten Frage, jeder neuen Situation und jedem neuen Problem halachisch auseinandersetzt. Responsaliteratur wird bis heute geschrieben. 46 Mischna Pessachim 8:8 (MPes 8:8), er ist damit beinahe wortwörtlich aus seinem früheren Nicht-Leben auferstanden, sein früheres Leben existiert nicht nur nicht mehr im Licht des neuen Lebens, sondern ist nicht einmal als wirkliches Leben anzusehen. 47 Würde es heutzutage ein Konvertit eher als Beleidigung ansehen, wenn seine nicht-jüdische Vergangenheit einfach ausradiert wird, so ist für die Antike und große Teile des Mittelalters zu beachten, dass Konversion in eine andere Religion (zeitlich weit vor jeglichem religiösen Pluralismus und damit religiöser Toleranz und Interaktion) generell den absoluten Bruch mit der Vergangenheit bedeutete und nicht selten als solcher akzeptiert und erwünscht war. Der Fremde unterzieht sich damit durch Konversion einer radikalen „Operation“ hin zum Juden. Im modernen Konversionsprozess zum Judentum wird in fast allen Richtungen des Judentums darauf geachtet, dass die nicht-jüdische Vergangenheit in all ihren Facetten gewürdigt und miteinbezogen wird und Spannungen, die aus einem solchen Prozess entstehen, gemildert werden. Insofern kommt es häufig zu Situationen, in denen die nicht-jüdische Ursprungsfamilie des Konvertiten ähnlich gut über das Judentum Bescheid weiß, jüdische Traditionen eventuell sogar mitlebt, und damit nicht mehr Fremder, sondern Anderer ist. 48 Hier bleibt zu erwähnen, dass die Heirat mit einem Angehörigen der Kohanim (Priesterklasse) besonderen Vorschriften unterlag, so dass eine Witwe oder eine Nicht-Jungfrau nicht in Frage kamen. 49 In der Orthodoxie besteht dieses Eheproblem zwischen einem Nachkommen der Kohanim und einem Konvertiten bis heute. 50 Die Tosafisten (Tosafot, hebräisch für Hinzufügung) waren Rabbiner des Mittelalters (zumeist in Deutschland und Frankreich), die kritische Glossen und Kommentare zum Babylonischen Talmud anfertigten. 51 Tosafot Kidushim 70b-71a. 52 Mischna Gittin 5:8-9 und Babylonischer Talmud, Traktat Avodah Zara 26a. 53 Babylonischer Talmud, Traktat Gittin 61a. 54 Herrn Carl Bonnets philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum. Samt derselben Ideen von der künftigen Glückseeligkeit des Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben von Johann Caspar Lavater, Zürich 1769, S. 2-5, abgedruckt in: M. MENDELSSOHN, Gesammelte Schriften Jubiläumsausgabe, Berlin 1929-1938, Bd. 7, Kapitel 3. 55 In Mendelssohns Beschreibung des Judentums kommt die Universalrationalität und der Universalgeltungsanspruch seines Verständnisses von Judentum ganz klar zum Ausdruck: „It is true that I recognize no eternal truths other than those that are not only comprehensible to human reason but also demonstrable and verifiable by it. [...] To say it in one sentence: I believe that Judaism knows nothing of a revealed religion [i.e. divinely revealed truth that needs a blind leap of faith like Christianity] in the sense in which Christians understand this term. The Israelites possess a divine legislation – laws, commandments, ordiances, rules of life, instruction in the will of God as to how they should conduct themselves
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in order to attain temporal and eternal felicity. What was revealed to them through Moses were rules and precepts of this kind, not doctrines, saving rules […]. These the Eternal One reveals to us and all other men at all times through the nature of things but not through the spoken or written word.” M. MENDELSSOHN, Jerusalem, or on religious Power and Judaism, Hanover-London 1983, S. 89f. Vgl. zur Lavater-Affäre u. a. A. ALTMAN, Moses Mendelssohn. A Biographical Study, Philadelphia 1973; sowie M. MENDELSSOHN, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Schriften zum Judentum, Bd. 7-8, Stuttgart 1974 und 1983. Der umgangssprachliche Terminus „Knautschzone“ würde hier ebenfalls passen. Beispiele für diese Schwierigkeiten sind z. B. die Beschaffung von bezahlbarem koscheren Essen, die Einhaltung der jüdischen Gebetszeiten und Feiertage in einer Welt, die zum großen Teil nach dem christlichen Kalender funktioniert und viele mehr. Eine Konversion in das Orthodoxe Judentum außerhalb Israels und Nordamerikas, wenn nicht aus Ehegründen verfolgt, dauert nicht selten zwischen fünf und zehn Jahren, bis der Fremde als Eigener angesehen und akzeptiert wird. Konversionen, die im letzten Moment dann doch nicht stattfinden oder nach langem Bemühen beiderseits abgebrochen werden, sind keine Seltenheit, zu hoch sind die Schranken in einer von innen und außen definierten Minderheitenwelt. Die erste Ordination einer konservativen Rabbinerin erfolgte 1985 in New York (Amy Eilberg, Jewish Theological Seminary of America), nachdem halachische Probleme aus dem Weg geräumt werden mussten, wie die traditionelle halachische Meinung, dass Frauen zu positiv zeitgebundenen Geboten (z. B. Gebet) und Torastudium nicht verpflichtet sind, was über Jahrhunderte oftmals v. a. im Bereich des Torastudiums als Verbot ausgelegt wurde. Homosexualität, halachisch bereits biblisch verboten, wurde im konservativen Judentum im Frühjahr 2007 zu einem akzeptierten jüdischen Lebensweg erklärt, dies öffnete konservativen Ausbildungsstätten die Möglichkeit, homosexuelle Studenten in den Bereichen Rabbinat und Kantorat aufzunehmen. Traditionell lassen sich die 613 Gebote in 248 positive und 365 negative Gebote unterteilen. Diese Erfüllung der Gebote kann zeitgebunden oder nicht-zeitgebunden sein. Frauen sind traditionell von positiv zeitgebundenen Geboten befreit (der talmudische Terminus technicus hierzu ist Hebräisch: patur = befreit, nicht asur = verboten) – was dazu führt, dass die positiv zeitgebunden Gebote theoretisch optionale Gebote für Frauen sind. Die fakultative Einhaltung optionaler Gebote wird aber schnell als ein ‚Nicht-Sollen’ interpretiert. Frauen wurden damit über Jahrhunderte als Juden zweiter Klasse angesehen, wenn es um das Leben mit den Geboten ging. Siehe Babylonischer Talmud, Traktat Kidushin 31a. Pardoxerweise konnte der männliche Konvertit dem Eigenen oft näher kommen als Frauen oder Homosexuelle. Eine moderne Mischung zwischen modern Orthodox and Conservative, die v. a. in den jüdischen Knotenpunkten Nordamerikas, wie New York, Boston, Washington, Chicago und Los Angeles, zu finden ist. Das Judentum wird traditionell durch die Mutter weitergegeben, jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat. Das Reformjudentum erkennt jedoch auch ein Kind eines jüdischen Vaters und einer nicht-jüdischen Mutter als Juden an, was vom konservativen und orthodoxen Judentum abgelehnt wird. Ist Judentum von innen zwar vorstellbar ohne direkte persönliche Gottesbeziehung, so doch nie ohne gelebten Bund zwischen Mensch und Gott. Hier ist anzumerken, dass der Bund genuin in erster Regel ein Vertrag und keine partnerschaftliche oder gar Liebesbezie-
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hung ist (auch wenn diese Interpretationen in früher Mystik und Philosophie der Moderne existieren und für heutige Spiritualität entscheidende Bedeutung besitzen). Das biblische berit (hebräisch für Bund, Vertrag) ist ein Vertrag zwischen einem Oberherrn und seinem Bediensteten, Pächter oder jedem von ihm abhängigen Individuum und keine gleichberechtigte Partnerschaft. Diese wird und wurde zwar in den Bund aufgenommen oder hineininterpretiert, ist aber nicht die Essenz des Bundes. Gelebter Bund bedeutet für halachisches Judentum ein Leben nach den Geboten. Judentum ist nach wie vor mehr eine Religion der Tat und damit mehr gelebtes als rezitiertes Credo. Der ganz Andere ist in nächster Nähe andauernd in die eigene Geschichte verwickelt, aber doch so anders und so überwältigend/bedrohlich, dass Sein Antlitz nicht gesehen werden kann, ohne dass Schaden genommen wird, vgl. Ex 33:18-23. Rabbinisches Judentum, das die detaillierten Regeln der mündlichen Tora schreibt, editiert und auslegt, kommt trotz des Bezugs auf die schriftliche Tora nahezu ohne direkte persönliche Beziehung zu Gott aus. Mag die mündliche Tora später auch von der Orthodoxie als göttliche, vom konservativen Judentum als göttlich inspiriert gesehen werden, so ist zu rabbinischer Zeit die mündliche Tora erst einmal nicht mehr als minutiöse Regulierung und Diskussion jedweden Lebensbereiches. Dies ist sogar im talmudischen Narrativ selbst belegt. Die berühmte Stelle des „Ofen Aknais“ (Babylonischer Talmud Baba Metzia 59b) weist die göttliche Stimme, die Rabbi Eliezer in einem halachischen Disput zu Hilfe kommt, ausdrücklich mit der Begründung zurück, dass die Tora nicht mehr im Himmel sei und Gott damit auf sie keinen Einfluss mehr habe. Einfluss und Auslegung und damit Ersatz des göttlichen Wortes ist menschliche Diskussion und Überzeugungskraft im Wortgefecht. Gott als der „ganz Andere“ wird somit praktisch zum zweiten Mal zum Anderen, der auf seinem zugewiesenen Platz zu bleiben hat und im Hauptkern des Geschehens nicht mehr zum engsten Kreis der Hauptakteure gehört. Vgl. z. B. Maimonides’ Theorie der negativen Attribute: von Gott kann nur gesagt werden, was Er nicht ist, so dass klar wird, dass er jenseits jeglichem menschlichen Fassungsvermögens steht und sein Nicht-Sein nicht Privation, sondern ultimatives Sein ist, in dem Existenz und Essenz identisch sind. (M. MAIMONIDES, The Guide for the Perplexed, translated from the original Arabic text by M. Friedländer, New York 1956, Chapter 58, S. 204ff.). „Wo aber Du gesprochen wird, ist kein Etwas. Du grenzt nicht. Wer Du spricht, hat kein Etwas, hat nichts. Aber er steht in Beziehung.“ M. BUBER, Ich und Du, Heidelberg 1977, S. 10f. Und: „Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. [...] Vor der Unmittelbarkeit der Beziehung wird alles Mittelbare unerheblich.“ Ebd., S. 18f. Sowie „Einzig in der Beziehung zu Gott sind unbedingte Ausschließlichkeit und unbedingte Einschließlichkeit eins, darin das All begriffen ist. [...] Aber in der vollkommenen Beziehung umfasst mein Du mein selbst, ohne es zu sein; mein eingeschränktes Erkennen geht in einem schrankenlosen Erkanntwerden auf.“ Ebd., S. 118. „L’absolument Autre, c’est Autrui“ (Das/der absolut Andere ist der Andere). E. LEVINAS, Totalité et Infini. Essais sur l’exteriorité, Den Haag 1961. Es handelt sich hier um die von Levinas ausdrücklich als Metaphsyik umschriebenen Andersheit des Anderen, des „ganz Anderen“ (Gottes), der sich in jeglicher Andersheit des anderen Menschen widerspiegelt (gleichsam des Buber´schen ewigen Du, das in jedem anderen nicht-göttlichen Du sich widerspiegelt und erlebt werden kann). Der Gehalt und der Effekt, den diese absolute Andersheit auf das Selbst hat, ist in zweifacher Hinsicht beunruhigend. Zunächst erschüttert sie die Selbstverständlichkeit des Ichs, die in der Tradition des Sokratismus jedes Andere nicht als Anderes wahrnahm, sondern als ein anderes Ich in das Selbst integriert hat. Der Andere ist hier nicht anders, sondern wird zu einem Teil des Selbst. Damit wird die
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wahrhafte Fremdheit zum ersten Mal wieder in den Mittelpunkt gerückt und das Selbst zur Öffnung zum wirklich Anderen gedrängt. Maurice Blanchot formulierte dies in seinen Überlegungen zu Totalité et Infinie folgendermaßen: „das wahrhafte Außerhalb ist nicht das des Objekts oder das der gleichgültigen Natur oder des unermesslichen Universums [...]. Die wahrhafte Fremdheit [...] kommt zu mir durch das Andere, was der Mensch wäre: der Mensch nämlich ist allein der Zentrumsentrückte [...]. Der Andere fällt nicht nur in meinen Horizont, er ist selbst ohne Horizont.“ M. BLANCHOT, L’entretien infinie, Paris 1969, S. 98. Erst durch dieses Einbrechen des Horizontlosen, der den Horizont des Selbst öffnet auf die Andersheit hin, ist eine wahrhafte Begegnung mit dem Anderen als Anderer möglich. COHEN, Religion der Vernunft, S. 151-90. „Das ist aber die erhabene Schwermut unseres Loses, daß jedes Du in unsrer Welt zum Es werden muß. [...] Jedem Du in dieser Welt ist seinem Wesen nach verhängt, Ding zu werden oder doch immer wieder in die Dinghaftigkeit einzugehn. In gegenständlicher Sprache wäre dies zu sagen: jedes Ding in der Welt kann, entweder vor oder nach seiner Dingwerdung, einem Ich als sein Du erscheinen.“ BUBER, Ich und Du, S. 24f. Und: „Das ewige Du kann seinem Wesen nach nicht zum Es werden; weil es einem Wesen nach nicht in Maß und Grenze, auch nicht in das Maß des Unermesslichen und die Grenze des Unbegrenztseins gesetzt werden kann.“ Ebd., S. 132. Sowie „Das ewige Du ist es seinem Wesen nach; nur unser Wesen nötigt uns, es in die Eswelt und Esrede zu ziehen.“ Ebd., S. 119. „Die verlängerten Linien der Beziehung schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm. Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das ewige an. Aus diesem Mittlertum des Du aller Wesen kommt die Erfülltheit der Beziehungen zu ihnen, und die Unerfülltheit. Das eingeborene Du verwirklicht sich an jeder und vollendet sich an keiner. Es vollendet sich einzig in der unmittelbaren Beziehung zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann.“ BUBER, Ich und Du, S. 91. J. K. SCHÜTZE, Vom Fremden, Wien 2000, S. 4.
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FREMDHEIT ALS CHANCE UND BEDROHUNG Xenophile Idee und xenophobe Wirklichkeit einer Modernisierung der ostpreußischen Landwirtschaft durch schottische Kolonisten
Seit 1818 bestand im Troppitter Wald bei Königsberg für etwa acht Jahre eine sich aus den Familien des Andrew Darling, John Boyle und William Murray zusammensetzende Kolonie schottischer Landwirte. Trotz umfangreicher Förderung durch die Königsberger Bezirksregierung, die sich von der Ansiedlung und ihrer beispielhaften Wirkung Fortschritte in der ostpreußischen Landwirtschaft versprach, scheiterte das Projekt nach anfänglichen Erfolgen. 1827 musste die letzte Familie ihren Hof aufgeben. Im vorliegenden Aufsatz wird diese Episode in Hinblick auf den Umgang mit dem Fremden im Spannungsfeld von Faszination und Abwehr behandelt. Von diesem Ansatz ausgehend sollen dabei insbesondere die folgenden beiden Fragen gestellt werden: Welche charakteristischen Erscheinungen im Umgang mit Fremdheit lassen sich anhand des Beispiels herausarbeiten? Inwieweit kann das Siedlungsprojekt durch die auftretenden Phänomene der Fremdheit und die Reaktionen auf den Kontakt mit dem Fremden beschrieben werden? Mit der ersten Frage wird untersucht, ob sich allgemeine Charakteristika von Fremdheit in den Geschehnissen um die Kolonie identifizieren lassen, ihre Beantwortung geht also über das zu Grunde gelegte Beispiel hinaus. Mit der zweiten Frage hingegen wird die Episode in den Mittelpunkt gestellt und erörtert, inwieweit für deren Beschreibung und Interpretation über die Orientierung an der Fremdheitsthematik hinausgegangen werden muss. Zur Bearbeitung der Fragestellung wird zunächst das Siedlungsprojekt zwischen den Polen von Faszination und Ablehnung der Fremdheit dargestellt. Es wird geprüft, wie die Idee zu einer schottischen Kolonie entstand und welche xenophilen, fremdenfreundlichen Ansichten und Idealisierungen, verstanden als Vorstellungen der Vollkommenheit des Fremden, bei der Verwaltung des Königsberger Regierungsbezirks, aber auch bei den schottischen Landwirten vorhanden waren und mit der Einwanderung verknüpft wurden. Wie zu zeigen sein wird, entstand die positive Voreingenommenheit durch Rückgriffe auf xenophile und am Fremden interessierte Traditionen und Deutungsmuster. Diesen Idealbildern wird sodann die mit Schwierigkeiten und Desillusionierungen verbundene Umsetzung des Siedlungsprojekts gegenübergestellt, so dass erörtert werden kann, wie die Spannungen zwischen den xenophilen Vorstellungen und der Realität sowie das Spannungsverhältnis zwischen Eigen und Fremd zu Erfolgen, Misser-
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folgen und letztlich dem Scheitern der Kolonie beitrugen. Abschließend werden die oben aufgeworfenen Fragen zusammenfassend beantwortet und mit Erörterung der zweiten Frage zugleich die im Aufsatz zu Grunde gelegte, auf Fremdheit und Xenophilie konzentrierte Vorgehensweise sowie die Verwendung der Begrifflichkeiten hinterfragt. In einem ersten Schritt sind jedoch zunächst diese Termini näher zu bestimmen sowie einige charakteristische Eigenarten des Fremden zu umreißen. Fremdheit ist u. a. bestimmt als Distanz und Differenz: Das Fremde unterscheidet sich vom Eigenen, Vertrauten. Fremdheit ist somit immer relativ zu verstehen und charakterisiert eine Beziehung bzw. Wechselwirkung. Dabei lässt sich eine soziale Dimension der Fremdheit (bspw. als Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe – auflösbar durch Eingliederung) von einer kulturellen (im Sinne von Unvertrautheit – auflösbar durch Lernen) unterscheiden. Es gibt den Fremden (Menschen), aber auch die Fremde und das Fremde, unvertraut-fremd können also auch Regionen und Länder, sowie Objekte sein, wobei letztere entweder als materielle Gegenstände oder immaterielle Kenntnisse, Fertigkeiten, Einstellungen etc. umfassen.1 Xenophilie als Fremden(vor)liebe und Faszination und -phobie als Fremdenfeindlichkeit und Ablehnung beschreiben mögliche Reaktionen auf – üblicherweise – fremde Menschen. In der Alltagssprache sind die Ausdrücke zudem oft positiv bzw. negativ konnotiert. Im Folgenden wird jedoch ein breiteres, auch objektbezogenes Verständnis von Xenophilie und -phobie als Bewunderung für, aber auch Idealisierung des Fremden bzw. Ablehnung von Fremdem zu Grunde gelegt und lediglich als diese Phänomene beschreibend, d. h. wertneutral ohne Nebenbedeutungen, verwendet. Die Thematik von Fremdheit und Xenophilie am Beispiel einer Kolonie von Immigranten zu untersuchen, bietet sich an, da insbesondere die Migration von Menschen – heute wie in der Vergangenheit – eine Kontaktsituation mit dem Fremdartigen und Unbekannten erzeugt und die Auseinandersetzung und Interaktion mit ihm erzwingt.2 Der Einwanderer verkörpert den Fremden schlechthin, ist letzterer doch ursprünglich durch ein räumliches Merkmal charakterisiert als derjenige, der eigentlich von ‚auswärts’ kommt, nun aber dauerhaft ‚hier’ ist, dadurch das Ferne nah kommen lässt und neue Qualitäten in das Bestehende hineintragen kann.3 Reaktionsformen auf den Kontakt mit dem Unbekannten bzw. Andersartigen changieren, häufig ambivalent, zwischen den Polen von Abweisung und Aneignung, wobei dem Fremden dabei oft weniger als Individuum denn als Träger typischer Eigenschaften begegnet wird.4 Diese stereotypen Zuschreibungen können positiv oder negativ und somit Xenophilie und -phobie gleichermaßen eigen sein, die dadurch als eng und gewissermaßen spiegelbildlich zusammenhängend erkennbar werden.5 In jedem Fall geben Fremdbilder größeren Aufschluss über die Beurteilenden als über ihren Gegenstand.6 So kann beispielsweise vor dem Hintergrund der Kritik am Eigenen ein Fremdbild als positives
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Gegenbild konstruiert werden.7 Fremderfahrung erzeugt überdies eine Spannung zwischen Eigenem und Fremdem, sie irritiert, fordert heraus, fasziniert vielleicht und ermöglicht, wenn ein Gefälle im Entwicklungsstand wahrgenommen wird, Veränderungen und Lernprozesse. Dieses kann aber auch als gefährlich empfunden werden und zum Kampf gegen die vermeintliche Bedrohung führen.8 Die beiden Seiten, durch deren Wechselwirkung erst die Bedingungen für Fremdheit und Xenophilie geschaffen werden, d. h. die der schottischen Einwanderer und der ostpreußischen Regierung, sollen in ihrer jeweils eigenen Sichtweise berücksichtigt werden. Dazu bedarf es aussagefähigen Quellenmaterials. Durch Verwaltungsberichte und Schreiben an Berliner Ministerien ist man gut über die Erwartungen und Einschätzungen der Administration des Königsberger Regierungsbezirks unterrichtet.9 Hingegen gibt es aus der Perspektive der drei eingewanderten schottischen Farmerfamilien keine Zeugnisse. Um trotzdem Aufschluss über die schottische Sichtweise zu erhalten, wurde auf das überlieferte Material eines anderen schottischen Landwirtes, Thomas Kyle, zurückgegriffen. Dieser wollte sich wenige Jahre nach Boyle, Darling und Murray zunächst alleine, später gemeinsam mit anderen Farmern ebenfalls in der Nähe von Königsberg niederlassen: 1820 plante er den Erwerb von Gut Camstigallen bei Pillau, 1823 bemühte er sich um die Pachtung des Vorwerks Kobbelbude und 1828 versuchte er, andere schottische Farmer für sein Vorhaben zu gewinnen, gemeinsam Land bei Königsberg zu erwerben und zu bewirtschaften. Sein Engagement in Ostpreußen war dabei von den drei 1817 eingewanderten schottischen Familien angeregt worden.10 Zu den Initiativen Kyles hat sich Quellenmaterial erhalten, das über die schottische Sichtweise auf Ostpreußen Informationen liefert. So sind die Korrespondenz mit der Königsberger Regierung und anderen preußischen Behörden überliefert, aber auch eine 1828 im Glasgower „Literary Advertiser“ publizierte und an schottische Landwirte gerichtete Darstellung seines geplanten Siedlungsprojekts.11
1.
Die schottische Kolonie bei Königsberg als xenophile Idee
Die Gründung einer schottischen Siedlung mit preußischer Unterstützung war eine von beiden Seiten kurzfristig geplante und mehr oder weniger spontane Entscheidung, die erst durch eine Enttäuschung, die den Schotten widerfahren war, ermöglicht wurde. Ursprünglich wollten die schottischen Einwanderer das Königsberger Gebiet nur passieren, um auf die Güter eines gewissen von Paz zu gelangen, eines polnischen Grafen, der zahlreiche Siedler zur Bewirtschaftung seiner Ländereien angeworben hatte. Allerdings stellten sich die Bedingungen dort nicht als so vorteilhaft heraus wie erwartet, so dass sich viele der Kolonisten wieder auf den Rückweg, zunächst nach Königsberg, machten.12
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Doch nicht alle Auswanderer wollten wieder in ihre Heimat zurückkehren. An diesem Punkt schaltete sich die Verwaltung des Regierungsbezirks ein: „Drey Landwirthe aus Schottland wünschen aber hier zu bleiben und sich anzusiedeln. Da sie nicht nur noch ein ziemlich bedeutendes Vermögen besitzen und bey sich haben, sondern auch von ausgezeichneter Bildung als Landwirthe sind, und sich bereit erklärt haben, ein zwischen dem großen Exercierplatz bey Königsberg und dem Lauthschen Mühlenteiche belegenes wüstes Forstland von 500 Morgen, den sogenannten Troppitter Wald, in Erbpacht zu nehmen, so hat die zweite Abtheilung Verhandlungen mit denselben eingeleitet, und auch bereits vorläufig die Genehmigung des Finanz-Ministerii nachgesucht“13.
Das Finanzministerium gab seine Zustimmung und die Königsberger Regierung überließ den aus East Lothian (südöstlich von Edinburgh) stammenden Familien Darling, Boyle und Murray urbar zu machendes Land in der Nähe von Königsberg, für das erst ab 1824 Pacht zu zahlen war, und stellte außerdem Darlehen zur Verfügung.14 Die Motive der Schotten, sich im Troppitter Wald anzusiedeln, können nur indirekt erschlossen werden. Generell spielen für eine Migrationsentscheidung sog. Push- und Pullfaktoren eine Rolle.15 Aus der Tatsache, dass sie zunächst auf den Gütern des Grafen Paz siedeln wollten, sich dann aber nahe Königsberg niederließen, lässt sich ableiten, dass sie vor allem ihr schottisches Herkunftsland verlassen wollten, die Pushfaktoren also überwogen. Ein Grund für die Auswanderung mag die Hoffnung gewesen sein, im Ausland leichter ein Auskommen zu finden, da es in Schottland wegen des dort weit entwickelten und daher kapitalintensiven Landbaus für kleinere Landwirte schwerer wurde, ihren Hof zu halten.16 Entsprechend äußerte sich auch der bereits erwähnte Thomas Kyle, der es als erwiesen ansah, “that the time has gone by when moderate capital can be laid out to advantage in farming lands in Scotland”17. Kyles Ausführungen erhellen auch die Pullfaktoren, d. h. die Anziehungskraft Ostpreußens für die schottischen Emigranten: “[T]he neighbourhood of Konigsberg was the most favourably situated of any part of the Continent of Europe for farming land, from the rich quality of the soil, the advantages for export, and the mild steady, and paternal administration of the government of Prussia, – advantages which, with respect to agriculture, the people, from their ignorance of the principles of farming, are unable to appreciate or take advantage of. […] [T]here is not a spot in Europe more favourable for the acquirement not of moderate fortunes only, but of large fortunes, than is presented by farming in the Prussian district of Konigsberg.”18
Es existierte offensichtlich die Überzeugung, dort auf äußerst positive Rahmenbedingungen zu treffen und auf Grund der überlegenen schottischen Agrikultur
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in der Konkurrenz mit den preußischen Landwirten erfolgreich wirtschaften zu können. Insgesamt gesehen handelte es sich bei der schottischen Einwanderung also um sog. Verbesserungsmigration aus wirtschaftlichen Gründen.19 Was sich die ostpreußische Regierung von der schottischen Kolonie versprach, erläuterte sie gegenüber Berliner Ministerien. Sie verknüpfte mit der Niederlassung die Erwartung, „daß durch die Ansiedelung dieser allem Anschein nach sehr achtungswerthen Farmers, welche noch dazu aus EastLothian, wo die Agricultur jetzt wohl die höchste Stufe erreicht hat, kommen und durch die Errichtung dieser dem Staate keinen Kosten Aufwand verursachenden Schottischen Kolonie neue landwirthschaftliche Kenntniße werden verbreitet werden, und überhaupt die Kultur des Landes einen nicht geringen Fortschritt gewinnen wird.“20
Mit Hilfe der Schotten, die dabei gleichsam als Entwicklungshelfer21 fungieren sollten, wurde ein Technologie- und Wissenstransfer zur Modernisierung der ostpreußischen Landwirtschaft angestrebt, welcher zudem ohne finanzielle Belastungen möglich schien. Das Beispiel der schottischen Landwirte sollte mit deren Erfolg und Überlegenheit die einheimischen Gutsbesitzer und Bauern überzeugen und so zu einer Verbreitung der moderneren schottischen Wirtschaftsweise führen. Inwiefern lässt sich das Siedlungsprojekt angesichts der damit verknüpften Vorstellungen aber als eine xenophile Idee verstehen? Ohne Frage nahm die preußische Regierung die schottischen Immigranten nicht aus karitativer, sozialer Fremdenliebe auf, genauso wenig wie es in der Absicht der Schotten lag, als Mittler von Know-how und Technik den ostpreußischen Landbau zu unterstützen. Beide Seiten verfolgten vielmehr ihr Eigeninteresse. Trotzdem fällt auf, wie wohlmeinend man dem jeweils Fremden gegenüber eingestellt war. Eine lange Liste positiver Meinungen über die als „tüchtige und unterrichtete Landwirthe“22 „aus dem durch die hohe Agricultur so berühmten Südschottland“23 bezeichneten Kolonisten und das Agrarwesen ihrer Heimat steht dem geschilderten idealisierten Bild Ostpreußens auf Seiten der Schotten gegenüber. Es lässt sich also durchaus von xenophilen Einstellungen sprechen. Dabei stellt sich die Frage, wie diese idealisierten Fremdbilder bei den Beteiligten entstanden. Da man in Hinsicht auf das Fremde, Unbekannte definitionsgemäß nur über beschränktes Wissen verfügt, kommt bereits vorhandenen Traditionslinien und Deutungsmustern bei der Haltung zum Fremden eine umso größere Bedeutung zu. Im Fall des schottischen Siedlungsprojekts existierten zahlreiche xenophile Anknüpfungspunkte, auf die zurückgegriffen werden konnte.
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2.
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Xenophile Traditionslinien und Deutungsmuster im schottischen Hintergrund
Eine drückende Lage in der Heimat kann die Fremde reizvoll und positiv erscheinen lassen, was im Fall der schottischen Migranten ein wichtiger Grund für das idealisierte Ostpreußenbild gewesen sein könnte. Während des 18. und bis in das 19. Jahrhundert hinein vollzog sich in Großbritannien die ‚Agrarrevolution’, eine Phase beschleunigter Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Sie wurde ermöglicht durch Verbesserungen im Ackerbau, z. B. durch neue Feldfrüchte (Futterpflanzen wie Klee und Rüben), Anbaumethoden und Bodennutzungssysteme (Fruchtwechselwirtschaft), neue landwirtschaftliche Maschinen (verbesserte Pflüge, Drill- und Dreschmaschine) und die Ausweitung der Anbaufläche. Letztere konnte durch eine Veränderungen der Flurverfassung, Gemeinheitsteilungen, Arrondierungen und die Zusammenfassung kleiner Höfe zu größeren wirtschaftlichen Einheiten erreicht werden.24 Die sozialen Folgen der ‚Agrarrevolution’ waren jedoch nicht nur positiv. Zwar konnten mehr Menschen ernährt werden, doch zugleich führten die dargestellten Prozesse zu immer mehr Großgrundbesitz und marktorientierter, kapitalintensiver landwirtschaftlicher Produktion. Viele kleinere Farmer und Pächter konnten mit dieser rasanten Entwicklung nicht mehr Schritt halten und mussten ihre Höfe aufgeben. Dabei kam es zu Bevölkerungsverschiebungen in größerem Rahmen, die durch die erzwungenen und gewaltsamen Umsiedlungen im Zuge der sog. Clearances, d. h. der Vertreibung von Kleinbauern und -pächtern durch die Gutsherren zugunsten größerer Ländereien, die vor allem in den Highlands, aber auch den Lowlands durchgeführt wurden, noch verstärkt wurde. Außerdem verschärfte die beginnende Industrialisierung die Landflucht zusätzlich.25 Von der Migration innerhalb Schottlands zur Auswanderung, wie sie im 19. Jahrhundert vor allem nach Nordamerika und Australien stattfand, war es dann nur noch ein kleiner Schritt,26 zumal die Bereitschaft, die Heimat zu verlassen in Schottland eine lange Tradition hatte.27 Die drei schottischen Kolonistenfamilien waren also kein Sonderfall und dies auch nicht in ihrem Migrationsziel. Die Anwesenheit von Schotten im Ostseeraum, besonders als Krämer und Kaufleute, sowie enge Handelskontakte zwischen Ostpreußen und Schottland waren bereits in der Frühen Neuzeit üblich.28
3.
Xenophile Traditionslinien und Deutungsmuster im ostpreußischen Hintergrund
Auf Seiten der Königsberger Regierung liegt eine Konstellation xenophiler Deutungsmuster vor, die das positive Bild nachvollziehbar erscheinen lassen, das sich die Verwaltung von den schottischen Landwirten machte. Hier traf eine
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lange Tradition der Aufnahme von Fremden als willkommene Arbeitskräfte und erwünschtes Humankapital auf eine anglophile Mode. Peuplierungspolitik wurde in Brandenburg-Preußen, besonders im dünn besiedelten und unter Arbeitskräftemangel leidenden Ostpreußen seit vielen Jahren betrieben. Die bekanntesten Beispiele sind die Aufnahme von Glaubensflüchtlingen wie der französischen Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts – die auch Königsberg erreichten – sowie der Salzburger Protestanten, die in den 1730er Jahren aus ihrer Heimat vertrieben wurden und sich auf Einladung des preußischen Königs fast komplett in Ostpreußen ansiedelten. Dort hatte einige Jahre zuvor eine Pestepidemie zu einer Bevölkerungsabnahme geführt.29 Um den Neusiedlern den Start zu erleichtern, wurden sie üblicherweise für einige Zeit durch Steuerfreijahre, Mietbefreiungen, kostenloses Siedlungsland sowie Bau- und Brennholz usw. privilegiert.30 Die Einwanderer wurden jedoch nicht nur als Arbeitskräfte, sondern auch als Träger wichtiger technologischer und gewerblicher Kenntnisse geschätzt. So übermittelten die aufgenommenen Glaubensflüchtlinge viele ökonomische Impulse und bewirkten in Preußen einen Modernisierungsschub.31 Ähnliches könnte auch der Königsberger Regierung vor Augen gestanden haben, als sie die Ansiedlung der schottischen Farmer unterstützte, zumal die britische Herkunft der Kolonisten der Verwaltung zu höchsten Erwartungen Anlass gab. Während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts war in den deutschen Territorien eine positive Einstellung gegenüber England weit verbreitet. Diese Anglophilie, von zeitgenössischen Kritikern gar Anglomanie genannt, kam bereits im 18. Jahrhundert auf. Sie entwickelte sich als Alternativströmung zur damaligen Frankreichbegeisterung und erstreckte sich auch auf andere europäische Länder.32 Das bewunderte „Englische“ meinte nach damaligem Gebrauch alles Britische und also auch Schottisches.33 So wurden – motiviert oft aus der Auseinandersetzung mit der landeseigenen Situation – vor allem Philosophen (Hume, Smith), die englische Verfassung und das Rechtssystem, die Werke von Romanautoren (Fielding, Sterne), die Zeitschriftengattung der Moralischen Wochenschriften und nicht zuletzt der englische Landschaftsgarten diskutiert und rezipiert.34 Vor allem aber interessierte man sich für die englische Wirtschaft, war Großbritannien doch damals die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt, in der die ‚Industrielle Revolution’ bereits begonnen hatte. Man versuchte englische Maschinen und englisches Know-how kennen zu lernen und nach Deutschland zu transferieren, sei es durch Reisen nach England, die Anwerbung britischer Ingenieure, Industriespionage etc.35 Großbritannien war allerdings nicht nur das Land, in dem die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war, sondern – wie bereits erwähnt – auch das Land der ‚Agrarrevolution’, die für das landwirtschaftlich geprägte Ostpreußen als Vorbild relevanter war. Auch die englische Bodenkultur war daher ein Gegenstand großen Interesses und intensiver Bewunderung, zumal sich hier die
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Bewunderung für das Fremde mit der Kritik am Eigenen verband: Schon während des 18. Jahrhunderts verstärkten sich auch in Preußen und anderen deutschen Territorien Bestrebungen zur Verbesserung des Agrarwesens, man beschäftigte sich wissenschaftlich mit Ackerbau und Viehzucht, immer umfangreichere Fachliteratur wurde gedruckt, ökonomische Gesellschaften wurden gegründet, die das Wissen popularisieren und zur praktischen Anwendung bringen sollten.36 Die englische Landwirtschaft stand den privaten wie staatlichen Reformern dabei oft als Muster vor Augen. Das Entwicklungsgefälle zwischen englischem und preußischem Feldbau war augenfällig, und man nahm auf Grund dessen auch die Chance wahr, durch den Transfer landwirtschaftlicher Innovationen aus England die preußische Agrikultur zu modernisieren.37 So heißt es in einem zeitgenössischen Lexikonartikel über „Englische Landwirthschaft“: „Da die Engländer unstreitig die Meister unter allen nur möglichen Wirthen, wie unter allen Künstlern, sind: so sucht man jetzt insonderheit ihre Viehzucht und ihren Ackerbau fast durchgängig nachzuahmen und überall einzuführen“38. Die wichtigsten Wege der Wissensvermittlung englischer landwirtschaftlicher Kenntnisse nach Deutschland waren ökonomische Reisen, Musterwirtschaften und Fachbücher. Reisen nach England mit dem Besuch landwirtschaftlicher Betriebe waren unter angehenden Gutsbesitzern, aber auch Verwaltungsbeamten nicht unüblich.39 Eine Musterwirtschaft ließ beispielsweise Friedrich II. von Preußen, der sich ebenfalls um die Verbreitung des britischen Landbaus bemühte, durch einen englischen Landwirt errichten und versuchte so, neue Anbaumethoden zu verbreiten.40 Zahlreiche Fachliteratur beschäftigte sich mit der möglichen Übertragung der englischen Landwirtschaft auf Deutschland. Besondere Berühmtheit und Wirksamkeit erlangte dabei der später in preußischen Diensten stehende Albrecht Daniel Thaer (1752-1828). Seine „Einleitung zur Kenntniß der englischen Landwirthschaft und ihrer neueren practischen und theoretischen Fortschritte in Rücksicht auf Vervollkommnung Teutscher Landwirthschaft“41, die ein großer Erfolg wurde und Thaer zum Meinungsführer für das Thema britische Landwirtschaft machte, behandelte – wie der Titel des Werks bereits ankündigt – allein die vermeintlich übernehmenswerten Elemente der britischen Agrikultur. Thaer trug so nicht nur bedeutend zur Einführung englischer Innovationen bei, sondern auch zu einer idealisierten Vorstellung über die britische Landwirtschaft.42 Eine tatsächliche Anwendung englischer Bodenkultur in Preußen, dem wichtigsten Einfallstor für britische agrarische Innovationen in Deutschland,43 fand vor allem auf den Gebieten der landwirtschaftlichen Maschinen und Anbaumethoden – Fruchtwechselwirtschaft, Anbau von Futtergräsern (wie Raygras) und -rüben (sog. Turnips) sowie Klee – statt. Gerade auf dem Gebiet der Landtechnik gelangen Schotten wichtige Erfindungen wie der James Small’sche Pflug, der von John Bailey weiterentwickelt wurde, oder die Dreschmaschine von An-
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drew Meikle.44 Die positive Voreingenommenheit der Königsberger Regierung wird vor diesem Hintergrund nachvollziehbar.
4.
Erfolge und Misserfolge der Kolonie
Nachdem die schottischen Neusiedler nach der Einigung mit der Königsberger Regierung zunächst nach Schottland zurückgekehrt waren, um ihre Angelegenheiten zu regeln, trafen die drei Familien Ende März 1818 samt Landarbeitern und Arbeitsgeräten mit insgesamt 27 Personen wieder in Königsberg ein und die schottische Kolonie wurde gegründet. In den folgenden acht Jahren erlebte sie Erfolge und Misserfolge, wobei erstere zunächst überwogen. Wie die Königsberger Regierung beobachtete, begannen die Kolonisten mit großem Fleiß und den für Schottland typischen Methoden mit der Urbarmachung ihres Bodens, wobei sie schnell Fortschritte erzielten.45 Die Regierung, die nie vergaß, dass die Ansiedlung kein Selbstzweck sein, sondern dem ostpreußischen Ackerbau neue Impulse geben sollte, konnte auch diesbezüglich früher als erwartet Erfolge vermelden und sich zuversichtlich zeigen, „daß diese Colonie [...] nicht blos gedeihen, sondern auch der hiesigen Provinz durch Uebertragung einer beßeren Boden-Cultur von segensreichen Folgen seyn wird. Schon jetzt erregen ihre Wirtschafts-Organisation und Ackergeräthe die Aufmerksamkeit der unterrichteten Landwirthe“.46
Doch nicht nur in Ostpreußen, auch in Schottland wurde von der Siedlung Notiz genommen: Eine kleine Zahl schottischer Handwerker, die hauptsächlich landtechnische Geräte herstellten, war den Kolonisten nachgefolgt. Außerdem kauften einige Briten, darunter der bereits zitierte Thomas Kyle, ostpreußische Güter.47 In vielerlei Hinsicht wurde mit der Kolonie also genau das erreicht, was man sich versprochen hatte. Anbaumethoden, Feldfrüchte und Landtechnik, die Elemente der englischen ‚Agrarrevolution’, die in Deutschland auf das größte Interesse gestoßen waren, verbreiteten sich durch die schottische Kolonie in Ostpreußen: „Schon in diesem Jahre sind an mehreren Orten Turnips- oder Futterrüben gebaut und der gute Erfolg hat schon mehrere Landwirthe zum Entschluß gebracht, im nächsten Jahre größere Versuche anzustellen. Auch hat man sich schon auf mehreren Gütern von den Vortheilen der brittanischen Ackerwerkzeuge überzeugt und es haben sich bei der öfteren Nachfrage nach denselben auf den Rath der Colonisten hier in Königsberg zwey schottische Maschinenbauer niedergelassen“.48
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Und des weiteren: „Außer den beyden schottischen Maschinenbauern wird sich jetzt hier auch ein Schmiedt niederlassen, und für alle drey sind schon so viele Bestellungen auf Ackerinstrumente gemacht, daß sie völlig beschäftiget sind, und die wünschenswerthe Verbreitung dieser Werkzeuge nicht mehr zu bezweifeln ist. Auch sind schon jetzt nicht unbedeutende Quantitäten von Sämereien von Turnips, Raygras, Kartoffelhafer u.s.w. angekommen, welche für hiesige Landwirthe, die dem Beispiel der Schotten im Anbau derselben folgen wollen, verschrieben sind.“49
Im folgenden Jahr hielt der Erfolg an, sowohl das Gedeihen der Kolonie betreffend, die eine gute Ernte einfahren konnte, als auch in ihrer beispielhaften Wirkung.50 Die positive Einschätzung der Königsberger Verwaltung setzte sich bis in höchste Kreise fort. Im August 1819 erhielt die Regierung Königsberg eine Kabinettsorder König Friedrich Wilhelms III., der sich zufrieden mit der Gründung und Entwicklung der Ansiedlung zeigte: „An die Regierung zu Königsberg. Ich habe aus dem Zeitungsbericht der Regierung zu Königsberg für den verflossenen Monath mit besonderm Wohlgefallen ersehen, daß die Schottische Colonie im Tropitter Walde für die Landes-Cultur guten Fortgang gewinnt, und werde es gern sehen, wenn durch neue Ansiedelungen ihr wohlthätiger Einfluß darauf sich immer weiter verbreitet. Berlin 21ter Aug. 1819. gez. Friedrich Wilhelm“51.
Schließlich besuchte 1819 sogar der berühmte Agrarwissenschaftler und Kenner britischer Landwirtschaft Thaer die Kolonie, befasste sich mit ihrer Wirtschaftsweise und den Landmaschinen52 und fertigte einen wohlmeinenden Bericht über sie an. Darin heißt es über die Siedler: „Sie haben, nachdem sie anderthalb Jahre aus ihrer Tasche gelebt, das Land zu größten Theil durch Rasenschälen und Brennen urbar gemacht und in diesem Jahre schon eine bedeutende Erndte in allen Kornfrüchten, die sie musterhaft [...] aufgelegt haben, gewonnen. Auch hatten sie schöne Turnips, Kohl, Ertoffeln und Klee, da sie ganz ohne Wiesen sind, für das Vieh gebauet. Sie haben sehr schöne Ackerwerkzeuge und einspännige Karren mitgebracht. Sie haben bisher in Erdhütten gewohnt, die aber sehr reinlich und nach ihrer Art decorirt sind. Nun haben zwei davon recht hübsch, aber nach englischer Art ganz leicht gebauet, einer aber, der der fleißigste, aber auch der ärmste ist, weiß sich nicht allein zu helfen. Sie haben ein sehr bescheidenes und dienstfertiges Betragen, und aus allen Zügen erkennt man, daß sie mit ihren Frauen und Gesinde moralisch-religiöse Menschen sind. Der Regierungs-Rath Hagen, der sich ihrer besonders annimmt, ist überzeugt, daß sie sich halten würden, wenn ihnen der gemachte Vorschuß geschenkt würde, indem sie denn auf ihren bebauten Hof einigen Credit erhielten. Es ist ihnen die Bedingung gemacht, daß sie ihr Grundstück an keinen andern, als an einen ihrer Landsleute veräussern dürfen. Mit ihnen
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sind mehrere schottische Schmiede-, Gestell- und Maschinen-Meister gekommen, die theils mit ihnen zusammen wohnen, theils sich bey der Stadt eingemiethet haben, und vortreffliche Arbeit machen. Einige andere Schotten haben sich als Wirthschafter vermiethet, vorerst wohl nur als Ausführer gewisser Operationen, und man ist ungemein mit ihnen zufrieden. Sie versichern, daß wenn es ihnen einigermaaßen gut ginge, mehrere von ihren Landsleuten, selbst Vermögendere, kommen würden; weil es in Brittannien für den Farmer nicht mehr auszuhalten und weil es in Preußen very good, batter than evrywere sey. Zu Urbarmachungen ist dort aber ein weites Feld. Das Beyspiel dieser Leute zeigt sich schon wirksam und ich habe in der Nähe von Koenigsberg schon bedeutende Turnips-Felder, nach ihrer Art gebauet, gefunden. Den Abschälungs-Spaten brauchen schon mehrere. Ich glaube, daß diese kleine Ansiedelung sehr große Folgen für die Landcultur dortiger Gegend und vielleicht weiter haben könne, und daß sie also jede zweckmäßige Unterstützung verdienen.“53
Von allen Seiten wurde die schottische Kolonie im Troppitter Wald also grundsätzlich positiv eingeschätzt. Wie jedoch schon aus Thaers Schreiben hervorgeht, hatten die Kolonisten auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Nach dem hoffnungsvollen Beginn machten Dürre, Missernten, eine ungünstige Getreidepreisentwicklung, nicht zuletzt aber auch ihre Fremdheit und Unvertrautheit mit der Sprache und Lebensweise es notwendig, die Kolonisten erneut finanziell zu unterstützen. Wiederholt wurden ihnen Vorschüsse und Darlehen gewährt und deren Rückzahlung immer weiter hinausgeschoben.54 Schon wenige Jahre nach der Gründung der Kolonie wurde deutlich, dass es den Siedlern trotz der erneut gewährten Unterstützungen nicht gelingen würde, sich eine dauerhafte Existenz aufzubauen. Statt einen Überschuss zu erwirtschaften, mussten sie immer wieder neues Saatgut kaufen, da ihre Ernten – teils durch Ausfälle, teils durch zu geringe Anbaufläche wegen der nur langsam voranschreitenden Urbarmachung des Bodens – unzureichend waren. Bereits 1820 kehrte Andrew Darling nach Schottland zurück, 1823 starb John Boyle, 1824 verließ William Murray Ostpreußen. Die Witwe des John Boyle versuchte noch einige Zeit, den Hof zu halten, 1827 wurde er jedoch zwangsversteigert. Dies war das Ende der schottischen Kolonie im Troppitter Wald. Nicht nur für die schottischen Farmer war das Siedlungsprojekt ein Misserfolg. Auch die vermeintlich kostenlose Gelegenheit zur Ansiedlung besonders fortschrittlicher Landwirte, die die Regierung ausgemacht hatte, erwies sich als teures Unternehmen. 1828 zog der preußische Finanzminister von Motz folgendes Resümee: „Nach einer Dauer von 7 Jahren, und nach dem sie dem Staat 3000 rthl. an baaren, in der Subhastation [Zwangsversteigerung] ausfallenden Vorschüssen 1849 rthl. [...], baar zum Ankauf von Bauholz und durch Freijahre 892 rthl. [...] zusammen 5741 rthl. gekostet haben, sind diese Etablissements, von welchen man sich so viel versprach, nun wegen der Subhastation in andere Hände übergegangen.“55
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Gründe des Scheiterns
Die eingewanderten schottischen Familien haben die Episode im Troppitter Wald sicherlich als ein Scheitern empfunden, mussten sie doch am Ende mittellos in das Land, in dem sie nicht mehr leben wollten, zurückkehren. Ob sich die schottischen Handwerker in Königsberg halten konnten, ist nicht bekannt. Die Regierung berichtet in den ersten Jahren nach ihrer Niederlassung davon, dass sie „so viele Bestellungen haben, daß sie damit nicht fertig werden können“56 bzw. „daß sie völlig beschäftiget sind“57, danach werden sie nicht mehr erwähnt. Auch die Königsberger Regierung wurde in vielerlei Hinsicht in ihren Hoffnungen enttäuscht. Obwohl anders als ursprünglich geplant einiges Geld in die Kolonie investiert wurde, gelang es nicht, sie dauerhaft zu etablieren. Andererseits dürften von der Siedlung tatsächlich einige Impulse zur Modernisierung der ostpreußischen Landwirtschaft ausgegangen sein. Wie dargelegt bestand unter gebildeten Gutsbesitzern genügend Vorwissen über die englische Landwirtschaft, das nun durch praktische Anschauung ergänzt wurde, so dass manches kompetent und unter Berücksichtigung der hiesigen Verhältnisse selektiv übernommen, aber auch modifiziert werden konnte, wofür sich in den Quellen etliche Belege finden. Bei der Suche nach den Gründen des Scheiterns bietet es sich an, die Ursachen, die die Königsberger Regierung dafür ausmachte, zum Ausgangspunkt zu nehmen. Sie sah den Hauptgrund in unglücklichen Umständen: „Die dem landwirthschaftlichen Gewerbe im Allgemeinen nachtheilige Zeitereignisse, und mehrere sie speciele betreffende Unfälle, hielten indeß das Gedeihen der Kolonie zurück.“58 Und an anderer Stelle: „Unter andern Zeitverhältnissen hätte die Anlage bei dem Eifer der Colonisten bald sehr blühend werden müßen.“59 Den schottischen Landwirten selbst wurde kein Vorwurf gemacht. Vielmehr äußerte man sich wiederholt anerkennend über ihren „Fleiß und die lobenswerte Ausdauer“60. Diese Einschätzung behielt die Regierung auch rückblickend bei, als das Ende der Kolonie bereits abzusehen war. Sie schrieb über die Kolonisten, sie hätten „doch unermüdet ihren Fleiß fortgesetzt und es war zu hoffen, daß wenigstens der Eine sich erhalten und daß die Zukunft ihn einstens für seine Aufopferungen entschädigen werde“61. Nicht nur ihr Einsatzwille, auch ihre Fähigkeiten wurden dabei nicht angezweifelt.62 Sicherlich liegt der Misserfolg der Kolonie nicht nur in der Landwirtschaft ungünstigen Umständen und unglücklichen Zufällen begründet. Inwieweit mangelnde individuelle Eignung der Schotten zum Scheitern beigetragen hat, kann nicht sicher geklärt werden. Selbstverständlich handelte es sich jedoch nicht bei jedem aus Schottland stammenden Landwirt um einen außergewöhnlich gebildeten, begabten und erfolgreichen. Dass sich die Familien Boyle, Darling und
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Murray für die Emigration entschieden, weist vielmehr eher darauf hin, dass sie sich in Schottland keine zufriedenstellende Existenz aufbauen konnten. Die Enttäuschung, die sie dann zunächst bei Graf Paz erlebten, deutet entweder auf eine verzweifelte Lage im Herkunftsland hin, die sie zu dem riskanten Schritt trieb, oder auf unzureichende Informationen über die bzw. eine unrealistische Beurteilung der Situation im Ausland. Insbesondere die Fremdheit der Schotten, die in den Quellen auch als „diese Fremdlinge“63 bezeichnet werden, und feindliche Reaktionen darauf scheinen wichtige Faktoren für das Scheitern der Kolonie gewesen zu sein. Längst nicht alle ostpreußischen Landwirte begegneten den Farmern interessiert, offen und lernbegierig. Besonders ihre unmittelbaren Nachbarn sahen sich selbst schlechter gestellt und empfanden die neuen Siedler als Bedrohung. Mehrfach berichtet die Königsberger Regierung von der fremdenfeindlichen Haltung der benachbarten Bauern. So heißt es über die Kolonisten: „Die Schwierigkeiten welche sie zu überwinden haben, sind außerordentlich groß. Nicht blos Unbekanntschaft mit der Landessprache und die rauhe Beschaffenheit des Bodens setzen ihnen unendliche Hinderniße entgegen, sondern auch besonders die Widerwärtigkeit ihrer Nachbarn, welche ihnen sogar wegen der durch diese Ansiedlung verloren gegangenen wohlfeilen Weidegelegenheit den Aufenthalt in den Dörfern durch Einmietung verweigert und sie zum Erbau von Hütten und Bretter-Buden gezwungen haben.“64
Mit der „Widerwärtigkeit der Nachbarn“ wird deutlich, dass die Einwanderer auch mit xenophoben Reaktionen konfrontiert wurden. Die Xenophobie der Einwohner schien dabei sogar noch über passive Feindlichkeiten hinauszugehen. Über einen der Siedler, John Boyle, schreibt die Regierung: „Er führte seine Wirthschaft mit Thatkraft und Ordnungsliebe, allein ungeachtet seine Verständigkeit und Biederkeit eben so wenig zu verkennen waren, so fand er doch unter den übrigen Nachbarn, die auf das diesen Colonisten verliehene Land, Weide Ansprüche zu haben und durch die Verleihung beeinträchtigt zu sein vermeinten, nicht die entfernteste nachbarliche Hilfe. Dies empfand er um so mehr, nachdem er seine ganze Habe durch eine (wie es scheint: bösliche) Brandstiftung verloren hatte“.65
Die Fremdenfeindlichkeit der Nachbarn, die das Leben der Kolonisten zusätzlich erschwerte, mag teilweise mit einer allgemeinen Abwehrreaktion gegen alles Fremde und Andersartige oder zusätzlicher Konkurrenz zu erklären sein. Das Gefühl der Bedrohung könnte durch den Anpassungsdruck auf die hiesigen Bauern, der ja erwünscht war, noch verstärkt worden sein. Ohne Zweifel erregten aber auch die bevorzugte Behandlung der Schotten und ihre Ansiedlung auf Land, das von den Nachbarn bisher als Weidefläche genutzt worden war, den Argwohn der Alteingesessenen.66
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Besondere Schwierigkeiten bereitete den Schotten offensichtlich auch die Anpassung an die ostpreußischen Verhältnisse. Mehrfach wird ihre Unvertrautheit mit Sprache, Boden usw. hervorgehoben, die ihnen ein Auskommen erschwerten. Das Festhalten an ihrer anderen Wirtschaftsweise – also ihre Nichtanpassung – die von ihnen geradezu erwartet wurde, da ihre Methode von den ostpreußischen Landwirten übernommen werden sollte, und nicht umgekehrt, erwies sich als problematisch. Unter diesen Umständen verlor die Königsberger Regierung relativ schnell das Interesse an den schottischen Landwirten: Berichte der Regierung über die Kolonie wurden wesentlich häufiger in der erfolgreichen Anfangsphase verfasst, in den Verwaltungsberichten wurde sie nach 1819 hingegen kaum noch erwähnt.67 So wurden die schottischen Kolonisten schließlich zwischen xenophilen Idealisierungen, mit denen man ihnen begegnete, xenophoben Reaktionen und der mangelnden eigenen Anpassungsfähigkeit zerrieben. Künftige Gesuche nach Förderung einer weiteren Ansiedlung schottischer Landwirte, die es durchaus gab, wurden sämtlich abschlägig beschieden, die diesbezügliche Initiative und Vermittlung der Verwaltung eingestellt. Zwischen den Zeilen lässt sich die jetzt sehr ablehnende Haltung, ja der Wunsch, sich nicht mehr mit schottischen Einwanderern auseinandersetzen zu müssen ebenso deutlich herauslesen wie die Gefahr, die die Regierung in unzureichenden Informationen sah – eine Erfahrung, die die drei schottischen Familien, aber auch die Regierung zuvor selbst machen mussten. So schrieb die Königsberger Verwaltung im Herbst 1823 an Thomas Kyle, der sich um die Pachtung der Domäne Kobbelbude beworben hatte: „Wenn Sie übrigens sich einige Kenntnisse der wirthschaftlichen Verhältnisse in hiesiger Provinz zu verschaffen gesucht haben, so werden Sie sehr leicht zur Ueberzeugung gekommen seyn, daß es Ihnen nicht an Gelegenheit fehlen wird, Privatbesitzungen jeder Art zu so wirthschaftlichen Preisen und Bedingungen zu erwerben, die Ihnen bey Überlassung Königl. Domainen nicht günstiger gewährt werden können. In dieser Beziehung darf es Ihnen daher gar nicht daran gelegen seyn, gerade eine Königl. Domaine in Besitz zu erhalten.“68
Der Desillusionierungsprozess, den die Königsberger Regierung durchlebt hatte, führte dazu, dass weitere Experimente geflissentlich vermieden wurden.
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Ergebnisse und Fazit
Die Untersuchung der Vorkommnisse um die schottische Kolonie im Troppitter Wald ergab, dass zunächst sowohl die schottische als auch die ostpreußische Seite idealisierte Vorstellungen vom jeweils anderen hatte, die sich mit xenophilen Traditionen und Deutungsmustern sowie fehlenden konkreten Informationen erklären lassen. So war die schottische Gesellschaft grundsätzlich mobilitätsfreudig, die Lage der kleineren Landwirte dort war angespannt, die Bereitschaft auszuwandern dadurch hoch und seit Jahrhunderten waren schottische Landsleute im Ostseeraum präsent, insbesondere in Königsberg. Auf preußischer Seite existierten eine lange Tradition der Peuplierungspolitik und positive Erfahrungen bei der Aufnahme von Einwanderern und ihrem wirtschaftlichen Know-how, die sich mit der Englandbegeisterung und Bewunderung des englischen Landbaus trafen. Am Ende stand – überspitzt formuliert – die Auffassung, dass sich den Schotten in Ostpreußen ein besseres Leben bieten würde und die Einwanderer kompetente, erfolgreiche Landwirte seien, deren Fähigkeiten sich durch die Kolonie verbreiten würden. Mit dem Gesagten wird deutlich, dass insbesondere die xenophile Haltung der Königsberger Regierung Kennzeichen einer Instrumentalisierung der schottischen Kolonisten gleichkam, die zur Modernisierung der ostpreußischen Landwirtschaft eingesetzt werden sollten. Die Haltung den Schotten gegenüber war damit fast gänzlich auf den Zweck der Beschaffung von Informationen reduziert, die für die Weiterentwicklung des Eigenen dienlich waren.69 Zugleich war die Hochschätzung der schottischen Farmer und mit ihr des britischen Agrarwesens, sozusagen als konstruiertes Gegenbild zu den regionalen Verhältnissen, auch motiviert aus der Kritik am Eigenen. Das Bezugssystem für die xenophile Voreingenommenheit war der vermeintlich unterentwickelte ostpreußische Landbau. Sowohl der Entstehungsgrund als auch der Zweck der Xenophilie der Regierung war damit das Eigene, nicht das Fremde. Hier findet sich die Aussage bestätigt, dass nationale Fremdbilder mehr über die eigene Gesellschaft aussagen als über die, der die – in diesem Fall positiven – Attribute zugeschrieben werden. Dabei zeigt die Xenophilie der Regierung Parallelen zur Xenophobie, so in der Neigung den Fremden als typischen Merkmalsträger und nicht als Individuum zu betrachten. Undifferenziert wurden die Landwirte Darling, Murray und Boyle als Träger all der Kenntnisse und Methoden betrachtet, für die die schottische Landwirtschaft so berühmt war. So lässt sich die Verwandtschaft von Fremdenliebe und Fremdenhass auch an den Geschehnissen um die Königsberger Kolonie zeigen. Während sich die Fremdheit und Nichtdazugehörigkeit der schottischen Einwanderer nicht relativierte, galt das für ihre Wirtschaftsweise nur bedingt. Lernprozesse reduzierten teilweise die kulturelle Fremdheit, indem einige ostpreußische Gutsbesitzer durchaus zu Modernisierungen angeregt wurden. Sie über-
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nahmen einzelne Futterpflanzen oder Ackergeräte und setzten sie so ein, wie es ihnen unter den spezifischen Umständen ihrer Landgüter sinnvoll erschien. In diesem Zusammenhang wird jedoch auch die charakteristische Ambivalenz des Kontakts mit dem Fremden zwischen Aneignung und Ablehnung sichtbar. Das Spannungsgefälle zwischen dem Entwicklungsstand der eigenen und fremden Landwirtschaft führte bei einigen Landwirten tatsächlich zu produktiver Infragestellungen des Althergebrachten und der Aufnahme innovativer Impulse, bei anderen – den Nachbarn – aber auch zu fremdenfeindlichen Abwehrreaktionen. Obwohl anhand des Beispiels hinsichtlich der Thematik von Fremdheit und Xenophilie durchaus Ergebnisse gewonnen werden konnten, soll abschließend die Frage erörtert werden, ob sich die Episode der schottischen Kolonie mit derselben Belegbarkeit aus den Quellen nicht auch anders interpretieren lässt. Zunächst sei zu diesem Zweck die Verwendung des Begriffs Xenophilie angesprochen. Die Schotten waren fremde Menschen, aber auch durch ihre Ackergeräte und Wirtschaftsweise Vermittler kulturell fremder materieller wie immaterieller Objekte. Bisher wurde im vorliegenden Aufsatz nicht zwischen personen- und objektbezogener Fremdheit differenziert und auch Xenophilie auf beide Aspekte angewendet. Allerdings kommt für den Verlauf der Ereignisse dem fremden, modernen Know-how der Schotten eine wesentlich größere Bedeutung zu als ihre persönliche soziale Nichtdazugehörigkeit als Ausländer. Die untersuchte Episode ist somit in erster Linie aussagefähig für den Umgang mit dem Fremden, nicht den Fremden. Die sichtbar gewordene Xenophilie und -phobie bezieht sich bei näherer Betrachtung im Kern nicht auf Personen, sondern Objekte: Die Schotten als Menschen spielten für die ostpreußische Regierung wie gesehen keine Rolle, interessiert war die Verwaltung ausschließlich an der fremden agrarischen Sachkenntnis, die sie in diesem Fall nur im Ausland erhalten konnte. Die Feindlichkeit der Nachbarn erscheint dann weniger als Ausländerfeindlichkeit und Ablehnung der Fremden, sondern als Abwehrreaktion auf Anpassungsdruck und unliebsame Konkurrenz – hervorgerufen durch neue, fremde Technik und Wirtschaftsweise. Die Differenzierung von sozialer und kultureller, vor allem aber von personen- und objektbezogener Fremdheit bzw. Xenophilie erscheint daher für eine präzisere Analyse der Geschehnisse sinnvoll. Die Regierung war xenophil lediglich in einem objektbezogenen Sinne, d. h. sie hegte Bewunderung und Vorliebe für bestimmtes, kulturell fremdes Know-how und versuchte sich dieses unter Instrumentalisierung der beteiligten Menschen anzueignen, um daraus einen Nutzen zu ziehen. Spätestens an diesem Punkt drängt sich allerdings die Frage auf, ob man den Ausdruck Xenophilie überhaupt für eine solche Vorliebe für fremde Objekte verwenden sollte, da diese Form nicht zwingend die Liebe zum fremden Menschen einschließt, was jedoch im Allgemeinen den Begriff wesentlich definiert. Außerdem könnte in diesem breiten Verständnis ein sehr großes Spek-
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trum unterschiedlicher Erscheinungen als xenophil bezeichnet und der Begriff damit unscharf werden. Welche Möglichkeiten der Beschreibung bestehen aber jenseits der Fokussierung auf Fremdheit und Xenophilie? Die Episode der schottischen Kolonie könnte auch im Kontext der Begeisterung nicht für fremde, sondern für neue Objekte aufgefasst werden. Eine alternative Untersuchungsperspektive könnte also darin bestehen, das Fremdartige inhaltlich anders zu fassen und die Verbreitung von neuem Wissen und Know-how in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, womit eher die Innovations-, Diffusions- und Transferforschung angesprochen wäre.70 Die Fragen stellten sich dann nach dem Umgang mit Innovationen, dem daraus erwachsendem Anpassungsdruck und den Bedingungen, unter denen Innovationen eingeführt werden, sich durchsetzen oder auf Gegenwehr stoßen. Das Scheitern der Kolonie erscheint von diesem Blickpunkt aus als ein Zerriebenwerden zwischen Fortschrittsbegeisterung der Regierung einerseits und Ablehnung auf Grund des Konkurrenzdrucks und ihrer Subventionierung auf Kosten alter Gewohnheitsrechte der Nachbarn andererseits. Der enge Bezug zum Thema Fremdheit bliebe jedoch auch in dieser Untersuchungsperspektive erhalten, denn die Differenz, die Fremdheit ausmacht, kann auch zwischen alt und neu, Tradition und Innovation bestehen.71 Eine Innovation ist unvertraut, kulturell fremd und jemand kann zum Fremden werden, indem er sich aus der Tradition herauslöst und diese Neuerung einführt. Unter Umständen kann aus Unvertrautheit mit einer neu übernommenen Technologie Aggression gegen die Fremden, die diese Technologie mitgebracht haben, erwachsen. Dies deutet bereits darauf hin, dass in der Lebenswirklichkeit der und das Fremde oft eng (und nur analytisch trennbar) miteinander verwoben sind, so dass auch im untersuchten Beispiel die Beschaffenheit der fremden Objekte, die die Schotten mitbrachten, entscheidend dafür war, wie sie als fremde Personen behandelt wurden, nämlich von der Regierung und manchen Gutsbesitzern unterstützend und interessiert als Möglichkeit zu lernen und zu profitieren und von den Nachbarn ablehnend als bedrohliche Konkurrenten.72 Beobachtungen und Interpretationen, die durch das Augenmerk auf Innovationen und Wissenstransfer gewonnen werden, können im vorliegenden Fall also die Erkenntnismöglichkeiten des Fremdheits- und Xenophilieansatzes ergänzen.
Anmerkungen 1
Vgl. O. SCHÄFFTER, Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, in: Ders. (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, S. 11-42, hier S. 12ff.; vgl. J. STAGL, Grade der Fremdheit, in: H. Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 85114, hier S. 100ff. Insbesondere zur Differenzierung von sozialer und kultureller Fremd-
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heit; vgl. H. MÜNKLER und B. LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S. 11-44, hier S. 15ff., 25ff. Vgl. B. WALDENFELS, Phänomenologie des Eigenen und des Fremden, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S. 65-84, hier S. 73f. Vgl. STAGL, Grade der Fremdheit, S. 102; vgl. MÜNKLER/LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, S. 25; vgl. G. SIMMEL, Exkurs über den Fremden, in: DERS., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 509-12, hier S. 509. Vgl. J. STAGL, Die Beschreibung des Fremden in der Wissenschaft, in: Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie 2 (1985), S. 96-118, hier S. 96; vgl. SCHÄFFTER, Modi des Fremderlebens, S. 24; vgl. STAGL, Grade der Fremdheit, S. 102. A. BRAMMER, Xenophobia, Xenophilia and no place to rest, in: G. Brinker-Gabler (Hg.), Encountering the Other(s). Studies in Literature, History, and Culture, Albany 1995, S. 45-61, hier S. 49ff. Vgl. W. J. MOMMSEN, Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: L. Kettenacker, M. Schlenke und H. Seier (Hgg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen. Festschrift für Paul Kluke, München 1981, S. 375-97, hier S. 375. M. EPKENHANS, Aspekte des deutschen Englandbildes 1800-1914. Vorbild und Rivale, in: Westfälische Forschungen 44 (1994), S. 329-42, hier S. 329. Vgl. MÜNKLER/LADWIG, Dimensionen der Fremdheit, S. 26; vgl. SCHÄFFTER, Modi des Fremderlebens, S. 22. Zeitungsberichte 1817-1823: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (GStA PK Berlin), I. HA, Rep. 89, Nr. 15940-15946. Verschiedene Schreiben an das Finanz- und Innenministerium sind enthalten in: GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296. Vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. Vgl. ebd. „Mehrere von dem Grafen Paz in Polen aus Schottland durch die glänzendsten Anerbietungen gelockten Landwirthe, Weber, Flachsbereiter und Handwerker, welche nebst ihren Familien hier durchgingen [...], haben sich, als sie den Ort ihrer Bestimmung erreichten, in ihren Erwartungen sehr getäuscht gefunden. Die Erfüllung vieler ihrer früher zugesagten Kontrakts-Bedingungen ist ihnen verweigert und manche haben um nur loskommen zu können, die Erlaubniß dazu erkaufen müssen. Eine große Anzahl derselben ist daher mit den gleichfalls vom Rhein dort hingezogenen Kolonisten schon wieder theils nach Deutschland theils nach Schottland durchgegangen, da sie hier nicht sogleich ein schickliches Unterkommen finden konnten.“ GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15940, Bl. 29 (Zeitungsbericht für September 1817). Ebd. Vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. D. HOERDER, J. LUCASSEN und L. LUCASSEN, Terminologien und Konzepte in der Migrationsforschung, in: K. J. Bade, P. C. Emmer, L. Lucassen und J. Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, PaderbornMünchen-Wien-Zürich 2007, S. 28-53, hier S. 28. Zu diesem Hintergrund vgl. Kap. 3. Vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. Ebd. Vgl. HOERDER/LUCASSEN/LUCASSEN, Terminologien und Konzepte, S. 37.
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20 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15940, Bl. 29 (Zeitungsbericht für September 1817). Diese Erwartungshaltung taucht in den Quellen wiederholt auf, vgl. auch GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15943, Bl. 61 sowie GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15944, Bl. 42 (Zeitungsberichte für November 1820 sowie September 1821). 21 Vgl. H. DUCHHARDT, Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer. Niederländer, Hugenotten, Waldenser, Salzburger, in: K. J. Bade (Hg.), Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 278-87, hier S. 286f.; vgl. K. J. BADE, Einführung. Das Eigene und das Fremde – Grenzerfahrungen in Geschichte und Gegenwart, in: Ders. (Hg.), Deutsche im Ausland, S. 15-28, hier S. 24. 22 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15941, Bl. 30 (Zeitungsbericht für Juni 1818). 23 Ebd. 24 Für die ‚Agrarrevolution’ und ihre einzelnen Innovationen vgl. O. ULBRICHT, Englische Landwirtschaft in Kurhannover in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ansätze historischer Diffusionsforschung, Berlin 1980, S. 52ff. Speziell für die Entwicklung in Schottland vgl. M. BUMB, Landwirtschaftliche Verbesserungen in schottischen Grafschaften 17001850. Die schottische Landwirtschaft vor dem Hintergrund der geistigen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Europas, Bensberg 1973, S. 81ff. 25 Für die ‚Clearances’ vgl. T. M. DEVINE, Social responses to agrarian ‘improvement’. The Highland and Lowland clearances in Scotland, in: R. A. Houston und I. D. Whyte (Hgg.), Scottish Society 1500-1800, Cambridge 1989, S. 148-67. Zu den sozialen Folgen der ‚Agrarrevolution’ allgemein vgl. BUMB, Landwirtschaftliche Verbesserungen, S. 104ff., 174ff. sowie ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 66. 26 Vgl. R. H. CAMPBELL, Scotland, in: R. A. Cage (Hg.), The Scots Abroad. Labour, Capital, Enterprise, 1750-1914, London-Dover, N. H. 1985, S. 1-28, hier S. 17; vgl. M. MAURER, Kleine Geschichte Schottlands, Stuttgart 2008, S. 213. 27 Vgl. CAMPBELL, Scotland, S. 2, 17. 28 Vgl. A. KOSSERT, Schottische Händler und Kaufleute in Ostmitteleuropa in der Frühen Neuzeit, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa, S. 945-8, hier S. 945. 29 Vgl. S. JERSCH-WENZEL, Preußen als Einwanderungsland, in: M. Schlenke (Hg.), Preußen. Beiträge zu einer politischen Kultur, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 136-61; vgl. DUCHHARDT, Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer, S. 279f., 284ff. 30 Vgl. K. J. BADE und J. OLTMER, Deutschland, in: Bade/Emmer/Lucassen/Oltmer (Hgg.), Enzyklopädie Migration in Europa, S. 141-70, hier S. 143f. 31 Vgl. BADE, Einführung, S. 24; vgl. DUCHHARDT, Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer, S. 279. 32 Vgl. TH. KLEINKNECHT, England als Modell. Nachahmung – Kritik – Ablehnung, in: Westfälische Forschungen 44 (1994), S. 1-23; vgl. M. MAURER, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen-Zürich 1987, S. 15ff.; vgl. EPKENHANS, Aspekte, S. 337. 33 Vgl. ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 52; vgl. MAURER, Anglophilie, S. 18. 34 Vgl. MAURER, Anglophilie, S. 60ff.; vgl. E. V. HEYEN, Französisches und englisches Verwaltungsrecht in der deutschen Rechtsvergleichung des 19. Jahrhunderts: Mohl, Stein, Gneist, Mayer, Hatschek, in: Ders. (Hg.), Verwaltung und Verwaltungsrecht in Frankreich und England (18./19. Jh.) (= Jahrbuch für europäische Verwaltungsgeschichte, 16), BadenBaden 1996, S. 163-90. 35 Vgl. MAURER, Anglophilie, S. 85ff.; vgl. W. KROKER, Wege zur Verbreitung technologischer Kenntnisse zwischen England und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1971.
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36 Vgl. ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 34f. 37 Vgl. ebd., S. 10. 38 J. G. KRÜNITZ, Englische Landwirthschaft, in: Oeconomische Enzyklopaedie oder Allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft, Th. 11, Berlin 1777, S. 22-3, hier S. 22. 39 So reiste 1798/99 der Referendar der Königsberger Kammer und spätere Oberpräsident von West- und Ostpreußen, Theodor v. Schön (1773-1856), nach England und Schottland, wobei er dem Studium der dortigen Landwirtschaft große Aufmerksamkeit zuwandte und u. a. landwirtschaftliche Maschinen nach Königsberg schicken ließ (vgl. B. SÖSEMANN, Der ostpreußische Reformer Theodor von Schön zu Wirtschaft und Gesellschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die Tagebuchaufzeichnungen seiner Reisen durch Deutschland und Großbritannien, in: Zeitschrift für Ostforschung, Länder und Völker im östlichen Mitteleuropa 32,1 (1983), S. 20-72). 40 Vgl. ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 14; vgl. G. SCHRÖDER-LEMBKE, Englische Einflüsse auf die deutsche Gutswirtschaft im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 12 (1964), S. 29-36, hier S. 33. 41 Bd. 1-3, Hannover 1798-1804. 42 Vgl. V. KLEMM und G. MEYER, Albrecht Daniel Thaer. Pionier der Landwirtschaftswissenschaften in Deutschland, Halle (Saale) 1968, S. 34ff.; vgl. ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 363. 43 Vgl. ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 372. 44 Vgl. BUMB, Landwirtschaftliche Verbesserungen, S. 81f.; vgl. ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 52. 45 „Die Schottischen Kolonisten bei Königsberg haben fortdauernd sich bestrebt das ihnen übergebene Forstland urbar zu machen, und besonders zwey derselben sind damit so rasch vorgegangen, daß ihre Fortschritte zu bewundern sind und es kaum glaublich scheint, daß die jetzt mit einer versprechenden Wintersaat bedeckten Felder noch im Mai dieses Jahres mit dem wildesten Gestrüppe bewachsen waren.“ GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15941, Bl. 43 (Zeitungsbericht für Oktober 1818). 46 Ebd., Bl. 20 (Zeitungsbericht für April 1818). 47 „Veranlaßt durch die Colonisten Darling, Boyle und Murray haben sich nehmlich schon jetzt mehrere brittische Landwirthe in die hiesiege Provinz gezogen, von denen der Schottländer Kyle das Gut Camstigal bei Pillau, der Engländer Marshal das ErbpachtsVorwerk Continen gekauft hat und der Schottländer Icardon wegen eines zum Gute Plamburg gehörigen Landstücks in Unterhandlung steht [...] und drey Stellmacher Preacher, Brown und Scott so wie der Schmidt Cow sämmtlich aus Schottland, haben sich in und bey Königsberg angesiedelt und beschäftigen sich vorzüglich mit der Anfertigung landwirthschaftlicher Werkzeuge und Geräthe.“ GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. 48 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15941, Bl. 44 (Zeitungsbericht für Oktober 1818). 49 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15942, Bl. 8 (Zeitungsbericht für März 1819). 50 „Die im Tropitter Walde bey Königsberg sich niedergelassenen Schottischen Colonisten haben während dieses Jahres in der Cultur ihrer Grundstücke bedeutende Fortschritte gemacht und eine sehr gesegnete Erndte an Weitzen und Sommerfrüchten gehabt. Ihr Beispiel findet schon viele Nachfolger und besonders breitet sich der Rübenbau aus, dessen Vortheile schon nicht mehr verkannt werden. In der Nähe von Königsberg wird eine bedeutende Wirthschaft ganz nach brittischen Grundsätzen betrieben“. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15943, Bl. 61 (Zeitungsbericht für November 1820). 51 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15942, Bl. 25.
Fremdheit als Chance und Bedrohung
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52 Vgl. W. KÖRTE, Albrecht Thaer. Sein Leben und Wirken, als Arzt und Landwirth, Leipzig 1839, S. 307. 53 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. 54 Ein genauer Nachweis aller genehmigten Förderungen findet sich im Bericht der Regierung Königsberg an Finanzminister von Motz, Königsberg, 16.11.1827, vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. 55 Ebd. 56 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15942, Bl. 8 (Zeitungsbericht für März 1819). 57 Ebd., Bl. 29 (Zeitungsbericht für Juli 1819). 58 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. 59 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15946, Bl. 85 (Zeitungsbericht für Dezember 1823). 60 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15944, Bl. 42 (Zeitungsbericht für September 1821). Ähnlich auch: GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15946, Bl. 85 (Zeitungsbericht für Dezember 1823). 61 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15946, Bl. 85 (Zeitungsbericht für Dezember 1823). 62 „Sie bewähren sich immer mehr als tüchtige und unterrichtete Landwirthe“. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15941, Bl. 30 (Zeitungsbericht für Juni 1818). 63 Ebd., Bl. 34 (Zeitungsbericht für Juli 1818). 64 Ebd., Bl. 20 (Zeitungsbericht für April 1818). 65 GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 87 B, Nr. 9296, unpag. 66 Zu dieser Reaktion in unterschiedlichen historischen Kontexten vgl. auch DUCHHARDT, Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer, S. 279f. 67 1818 wurde die Kolonie in den Verwaltungsberichten für die Monate April, Mai, Juni, Juli, Oktober, Dezember thematisiert (vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15941, Bl. 19f., 24, 30, 34f., 43f., 51). 1821 bis zur letzten Erwähnung in den Verwaltungsberichten 1823 wurde insgesamt nur zweimal Bezug genommen, vgl. GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15944, Bl. 42 und GStA PK Berlin, I. HA, Rep. 89, Nr. 15946, Bl. 85. 68 Schreiben der Regierung Königsberg an Thomas Kyle, Königsberg, 23.9.1823. GStA PK Berlin, XX. HA, Rep. 10, Tit. 21, Nr. 1, Bl. 8. 69 Vgl. SCHÄFFTER, Modi des Fremderlebens, S. 24. 70 Zu dieser Untersuchungsperspektive allgemein vgl. z. B. die beiden Sammelbände R. REITH, R. PICHLER und CHR. DIRNINGER (Hgg.), Innovationskultur in historischer und ökonomischer Perspektive. Modelle, Indikatoren und regionale Entwicklungslinien, Innsbruck 2006 und F. R. PFETSCH (Hg.), Innovationsforschung als multidisziplinäre Aufgabe. Beiträge zur Theorie und Wirklichkeit von Innovationen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1975 sowie ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, S. 20ff. (mit weiterer Literatur). ULBRICHT, Englische Landwirtschaft, sowie F.-W. HENNING, Die Innovationen in der deutschen Landwirtschaft im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert, in: Pfetsch (Hg.), Innovationsforschung als multidisziplinäre Aufgabe, S. 155-68 behandeln speziell agrarische Innovationen, insbesondere aus England, unter diesem Blickwinkel. 71 Eine explizite Bezugnahme auf die Innovationsforschung im Kontext der Analyse von Fremdheit findet sich auch bei STAGL, Grade der Fremdheit, S. 101. 72 Vgl. ebd.
Monika Kuleczka
DAS EIGENE MIT DEN AUGEN DES FREMDEN SEHEN Eulenspiegel-Novellen als Zerrspiegel der frühneuzeitlichen Gesellschaft
Die Novellen von Till Eulenspiegel, die unter dem Titel „Ein kurzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel, geboren aus dem Land zu Braunschweig“1 anonym in Straßburg im Jahre 1510 oder 1511 veröffentlicht wurden, gehören heute zu den populärsten Novellensammlungen der Renaissance. Schon in der Zeit ihrer Entstehung, die Geschichten wurden bereits um 1450 verfasst, fanden sie eine ungewöhnlich breite Resonanz. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts wurden mehrere deutschsprachige Auflagen gedruckt, von denen 23 bis heute erhalten sind. In dieser Zeit erschienen auch viele Übersetzungen und Paraphrasen – niederländische (zwischen 1526-1546), englische (zwischen 1516-1620), französische (1532 oder 1529), polnische (vor 1547), lateinische (1558, 1567), tschechische (1576) und jiddische (Ende des 16. Jahrhunderts).2 Die Rezeption des Textes erfolgte in unterschiedlichen Gesellschaftskreisen. Die Geschichten von Dil Ulenspiegel, später Till Eulenspiegel genannt,3 waren sowohl in Bibliotheken der Humanisten, unter dem Adel und den Bürgern wie auch im Volk verbreitet. In allen diesen Kreisen bekam das Buch eine eigene, spezifische Bedeutung. Eine besonders interessante Wirkung hatte die Rezeption von Till Eulenspiegel in Humanisten- und Elitenkreisen. Ausgerechnet die Gruppe, die zu dieser Zeit die Rolle als Autorität und Normsetzer in der Gesellschaft innehatte, zeigte großes Interesse an einem Buch, welches gerade die anerkannten Normen und Sitten infrage stellte. Trotz der Sperrigkeit und Grobheit der Figur sind die Geschichten zur Lieblingslektüre der Humanisten geworden. Durch ihre Rezeption ist der Held des Buches zu einem klassischen Beispiel für die Gestalt des Fremden in der Literatur geworden. In den zahlreichen bisherigen Studien über die Eulenspiegel-Novellen ist jedoch die Frage nach der Fremdheit des Helden nie direkt gestellt und interpretiert worden. Bisher wurde die Gestalt vor allem im Kontext der Volkskultur in der Renaissance vorgestellt.4 Hier sind insbesondere die Monografien von Michail M. Bachtin, Peter Burke, Walter Kaiser und Piero Camporesi hervorzuheben.5 Ein zweiter wichtiger Forschungsschwerpunkt hat den Text im Kontext der Narrenliteratur behandelt,6 wobei man vor allem die Abgrenzung des Helden von der Gesellschaft und seine Kritik der sozialen Ordnung diskutierte. Eulenspiegel als Fremder wurde in diesen Studien jedoch nicht untersucht, wenn auch bisherige Forschungen bereits einige Aspekte der Fremdheit beleuchtet haben.7 Vor
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allem ist zu fragen, warum Eulenspiegel, der im Umkreis von Braunschweig geboren wurde und aufwuchs, ein Fremder war, und wie diese Fremdheit seine Kontakte mit anderen beeinflusst hat. Eine weitere Frage bezieht sich auf den Grund der Popularität der Eulenspiegel-Novellen in Humanistenkreisen. Warum ist die Geschichte von einem ungelehrten Fremden, der die gesellschaftliche Ordnung infrage stellt, zu einer Lieblingslektüre der Eliten geworden? Die Beantwortung dieser Fragen gliedert die im Folgenden vorgenommene Interpretation der Eulenspiegel-Novellen. Beginnend mit dem Lebenslauf Eulenspiegels wird die Struktur der Fremdheit des Helden herausgearbeitet. Der zweite Teil stellt Eulenspiegel in der Diskussion mit unterschiedlichen Ständen vor. Die Frage nach dem Grund der Popularität von Eulenspiegel in Humanistenund Elitenkreisen wird im dritten Teil des Aufsatzes besprochen. Die Popularität der Geschichten hat zur Entstehung vieler Legenden beigetragen, bis hin zur Annahme eines historischen Eulenspiegels. Ich beziehe mich in diesem Aufsatz jedoch nur auf Eulenspiegel als literarische Figur.
1.
Vita von Till Eulenspiegel. Die Fremdheit des Helden
Die 94 Historien, aus welchen das Buch besteht, beschreiben Leben und Wanderschaft Till Eulenspiegels. Die Novellen beginnen mit Geburt und Taufe, stellen Episoden aus Kindheit und Jugend vor, sodann die Wanderschaft Eulenspiegels sowie seine Abenteuer und enden mit seiner Beerdigung. Zunächst erhält der Leser den Eindruck, es werde die Geschichte eines vornehmen Menschen erzählt.8 Auch einige Novellenüberschriften lassen eine solche Assoziation zu, z. B. „Die siebzent Historie sagt, wie Eulenspiegel alle Kranke in einem Spital auf einen Tag ohn Arznei gesund macht“ (17.). Jedoch geschehen schon am Anfang ungewöhnliche Ereignisse. Till Eulenspiegel, der als Sohn eines Bauern im braunschweigischen Herzogtum geboren wurde, ist an seinem Tauftag nicht nur einmal, sondern dreimal getauft worden: „einmal im Tauff, einmal in der Lachen und eins im Kessel mit warmen Wasser“ (1., 11). In der Kindheit zeigen sich seine Schlauheit und sein Witz ebenso den anderen Kindern (4.), wie auch den Erwachsenen gegenüber (2., 8.). Auch auf die Ansprüche seiner Eltern findet er immer seine eigene Antwort (3., 6.). Das ist jedoch noch kein Zeichen seiner Fremdheit, Till Eulenspiegel ist zunächst nur „anders“ als die Mehrheit der Menschen in seinem Umkreis. Der eigene Lebensweg des Till Eulenspiegel entwickelt sich nach seiner Verweigerung einer regulären Berufsausbildung. Als die Mutter ihn davon zu überzeugen versucht, ein Handwerk zu erlernen, antwortet der Sohn: „Liebe Mutter, wozu sich einer begibt, daz würt ihm sein Lebtag gnug.“ (5., 19). Damit fängt die Wanderung des Helden durch Städte an, während der der ungelehrte Plebejer in unterschiedlichen Gesellschaftskreisen einen außergewöhnlichen Witz sowie
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Schlauheit und Edelmut beweist. Durch seine Bereitschaft, jede Art von Arbeit anzunehmen, kommt er mit Repräsentanten vieler verschiedener Ordnungen ins Gespräch. Er spricht mit Handwerkern (in den meisten Geschichten, z. B. 19., 20., 39., 40., 41., 43., 45., 46., 48.), Ratsherren (14., 71.), Königen und Fürsten (10., 22., 23., 24., 25., 26., 27., 87.), dem Papst (34.) und Priestern (11., 12., 13., 33., 36., 37., 38., 69., 82., 89., 95.), Gelehrten (28., 29., 92.) und Bauern (8., 9., 30., 42., 44., 66., 68., 91.) sowie mit Juden (35.). Eulenspiegel spricht mit gesellschaftlich höher wie niedriger stehenden Personen. Er diskutiert sowohl mit Einzelnen als auch mit Gruppen. Überall, trotz seiner äußerlichen Garstigkeit und seines plebejischen Verhaltens, wird er als ein gleichberechtigter Dialogpartner anerkannt. Die Abenteuer, die Till Eulenspiegel erlebt, werden meistens durch ihn selbst verursacht. Manchmal unternimmt er eine Handlung aufgrund des Zusammentreffens verschiedener Umstände, nur selten wird er provoziert. Obwohl er in der Regel die zwischenmenschliche Kommunikation versteht, agiert er fast immer auf der Grenze zwischen Dialog und Missverständnis. Charakteristisch an Eulenspiegel-Witzen ist vor allem der Irrtum, der durch das wörtliche Befolgen von Befehlen entsteht. Einerseits erfüllt er die Konvention, indem er immer versucht, den Befehlen seiner Vorgesetzten Folge zu leisten. Anderseits verletzt er sie, weil er die Aufträge wörtlich nimmt. Eine solche Situation tritt zum Beispiel ein, wenn Eulenspiegel von einem geizigen Bäcker den Befehl erhält, „das Mehl bei dem Mondschein“ zu reinigen. Der Schelm hat es als „in dem Mondschein“ verstanden und das Mehl durch das Fenster geworfen (20.). Durch solche Missverständnisse provoziert Eulenspiegel die Menschen und die von ihnen anerkannten Regeln. Eulenspiegel stellt des Weiteren auch die allgemein akzeptierten Sitten, Weisheiten und Autoritäten infrage. Er macht sich z. B. über eine Wirtin lustig, die Klatsch und Tratsch über die Schalkheit von Eulenspiegel verbreitet, obwohl sie ihn gar nicht kennt, und beweist ihr, dass er tatsächlich ein Schalk ist. Nachdem er sie in die heiße Asche gesetzt hat, sagt er: „nun mögen Ihr wol von Ulenspiegel sagen, daz er ein Schalk ist, Ihr empfinden es nun, und Ihr haben ihn gesehen, hiebei mögen Ihr ihn kennen.“ (84., 242). Ebenso verlacht er die höfischen Normen. Er wird als begabter flämischer Maler am hessischen Hof angestellt und bekommt einen Auftrag für eine Wandmalerei. Als sich der Fürst nach einiger Zeit nach dem Werk erkundigt, zeigt Eulenspiegel auf die weiße Wand und sagt, dass „wer dann nit recht eelich geboren ist, der mag mein Gemält nit wol sehen.“ (27., 79). Dadurch bekommt er einen höheren Lohn, obwohl er nichts gemalt hat und die Situation klärt sich erst, als die höfische Närrin gesteht, dass sie die Arbeit nicht bewunderungswert findet, weil sie nichts sehen kann. In Verlegenheit bringt Eulenspiegel letztendlich jeden: Er betrügt ebenso Diebe (9.), königliche Narren (24.) und gute Frauen (70.), wie er sich auch über Kranke, Blinde und Unbeholfene lustig macht (11., 13., 15., 16., 17., 30.).9 Zuletzt
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wird er selbst Opfer seiner Streiche und der Streiche der anderen (3., 7., 18., 43., 67.).10 Durch ein solches Verhalten befindet sich Eulenspiegel immer wieder an den Grenzen der zwischenmenschlichen Beziehungen. Seine ständigen Streiche ziehen überdies einen regelmäßigen Wechsel des Arbeitsplatzes nach sich; auf diese Weise verändert Till Eulenspiegel aus eigenem Willen ebenso seine Aufenthaltsorte wie auch Berufe. Darin spiegeln sich gleichzeitig ein bestimmter Lebensweg wie eine bestimmte Lebensanschauung der Figur. In der Wanderung und im Berufswechsel findet er seinen individuellen Platz in der Gesellschaft. Die Annahme eines festen Platzes in der Gesellschaft bedeutet auch, mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, in einem Verbund mit ihnen zu sein. Die Berufsausübung bedeutet, an gesellschaftliche Strukturen und Regeln gebunden zu sein, die bei der Arbeit erwartet werden. Die gesellschaftliche Fremdheit Eulenspiegels gründet sich also vor allem auf den regelmäßigen Wechsel der Arbeit und des Wohnortes. Seine Position in der Gesellschaft ist sehr individuell. Zum Teil kann man sie mit der eines Narren vergleichen, aber nur zum Teil, denn Narren haben in der Regel längere Zeit an einem Hof gelebt. Das Besondere an der Gestalt Eulenspiegels ist jedoch vor allem seine Persönlichkeit. Zu den wichtigsten charakteristischen Kennzeichen der Figur gehört, neben der genannten Schlauheit, dem Sinn für Humor und seiner Grobheit, sein Eigensinn, der ihn konsequent seine Meinung verteidigen und seine Ziele verfolgen lässt.11 Sogar wenn er in Gefahr gerät, oder wenn die Mehrheit eine andere Ansicht als die seine zu vertreten scheint, beharrt er hartnäckig auf seinem Standpunkt. Sein Charakter zeigt sich ebenfalls in der Motivation seiner Abenteuer. Zu den wichtigsten Quellen seiner Inspiration gehören Hunger, Geld oder der Wille, Streiche zu spielen. Spezifisch für die Streiche und Witze Eulenspiegels ist der Fäkalhumor. Zu dieser Art von Eulenspiegels Streichen gehören unterschiedliche obszöne Gesten, z. B. das Vorstrecken seiner Pobacken (2., 66.) oder der Vorschlag, seinen Hintern zu küssen (58.).12 Auf solche Weise werden viele seiner Witze abschlossen. Durch diese und andere Gesten verneint Eulenspiegel den zivilisatorischen Anpassungsprozess13 und verlacht seinen Gegner. Till Eulenspiegel ist also nicht aufgrund seiner Herkunft fremd, sondern entfremdet sich vor allem durch seine Persönlichkeit und deren Wirkung auf die Gesellschaft. Ist er somit ein Fremder oder nur entfremdet? Aus seinem Leben lassen sich sowohl seine Fremdheit wie auch seine Entfremdung ablesen. Die Fremdheit Eulenspiegels gründet sich auf seinen Lebensstil, die berufliche Unbestimmtheit und seine Wanderungen. Durch die permanente und konsequente Entfremdung ist der Schalk zu einem Fremden geworden. Was ihm dennoch erlaubt Teil der Gesellschaft zu bleiben, ist seine Persönlichkeit, insbesondere seine Fähigkeit zu täuschen und seine Schlauheit, die ihm oftmals Rettung in der
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Not sind. Noch genauer lassen sich Eulenspiegels Eigenschaften allerdings in seinen Streichen und Abenteuern im Dialog mit anderen beobachten.
2.
Die Gesellschaft im Dialog mit Eulenspiegel
Die Eulenspiegel-Novellen entlarven die Gesellschaft durch den Dialog mit einem Fremden. Eulenspiegel kommt als ein Wanderer in die Städte und jedes Treffen mit ihm führt zu unerwarteten Resultaten. Vor allem zwingt der Schalk die Akteure dazu, ohne die Maske von Sitten und Konventionen zu agieren. Auf solche Weise kann man aus den meisten seiner Abenteuer einen unerwarteten Schluss ziehen. Die Streiche und Witze, die Eulenspiegel macht, folgen einem bestimmten Schema. Der Schalk übernimmt oftmals die Argumentationsweise seines Gegenübers und führt diese ins Absurde. Dadurch beweist er den Unsinn der jeweiligen Meinung oder Situation. Die Eulenspiegel-Novellen zeichnen auf diese Weise ein komplexes Bild der zeitgenössischen Gesellschaft. Indem Eulenspiegel die Vertreter fast aller Gesellschaftsstände trifft, liefert das Buch ein breites soziales Panorama. Dieses Bild zeigt ungeschönt die schlechten Eigenschaften der Menschen und ihre Torheit. Es enthüllt Hochmütigkeit (76.), Gier (77.), Schwindelei (83.) und Dieberei, wie auch Tratsch und scheinbare Frömmigkeit. Individuelle und kollektive Mängel werden veranschaulicht. Die gesamte Gesellschaftsvorstellung, die sich aus den Novellen ergibt, kann man mithilfe der Interpretation von zwei Novellen kurz zusammenfassen. Die 14. Historie beschreibt, wie Eulenspiegel in Magdeburg eintrifft und dort den Leuten bekannt gibt, in das Rathaus zu gehen und aus dem Turm zu fliegen. Als sich eine Menschentraube vor dem Gebäude gebildet hat, sagt er: „Ich meinte, es wär kein Tor oder Nar mer in der Welt dann ich. So sih ich wol, daz hie schier die gantz Stat vol Thoren ist. Und wann ihr mir alle sagten, daz ihr fliegen wollten, ich glaubt es nit. Ich bin doch weder Ganß noch Fogel, so hon ich kein Fettich, und on Fettich oder Feder kann nieman fliegen. Nun sehen ihr offenbar, daz es erlogen ist.“ (14., 43).
Dies wurde später durch das Publikum kommentiert: „Das ist ein Schalckßnarr noch, dann so hat er war gesagt.“ (14., 43). Eine interessante Auseinandersetzung mit Eulenspiegel findet auch auf dem Bischofshof in Magdeburg statt, die in der 15. Historie beschrieben wird. Der Bischof lädt Eulenspiegel an seinen Hof ein und weil Eulenspiegels Schwank dem Bischof gut gefallen hat, bleibt der Gaukler bei ihm. Nicht bei allen Höflingen ist Eulenspiegel allerdings so beliebt. Besonders der Doktor sieht den Schalk ungern bei Hofe und sagt: „Nar bei Narren und Weiß bei Weissen. Hätten die
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Fürsten weiß Lüt bei ihn, so wär ihn vor die Weißheit, und so sie Narren bei ihn halten, so lernen sie Narrei.“ (15., 45). Anschließend kommen die Hofleute zu Eulenspiegel und schlagen ihm vor, einen Streich für den Doktor zu erdenken. So verkleidet sich Eulenspiegel als Arzt und behandelt den erkrankten Doktor mit geheimen, selbst gemachten Flüssigkeiten und Salben. Der kranke Doktor verlebt eine ganze Nacht in einer Tinktur aus Fäkalien und entdeckt erst am Morgen die Exkremente. Als er anfängt, sich bei den Hofleuten zu beklagen, sagen ihm der Bischof und die Höflinge: „Es ist gantz geschehen nach Euwren Worten. Ihr sagten nun, man solt sich nit mit Narren bekümeren, wann der Weiß würd dorecht bei Thoren. Aber Ihr sehent, daz einer wol durch Narren weiß würt gemacht, dann der Artzet ist Ulenspiegel gewesen, den hon Ihr nit kant und hon ihm geglaubt. Von den seind Ihr betrogen worden. Aber wir, die sein Narrei annamen, kanten ihn wol. Aber wir wollten Euch nit warnen, nachdem und als Ihr wo weiß wollten sein. Und nimant ist so weiß, er sol Thoren auch kennen. Unnd wann niedert kein Nar wär, wabei wolt man dann die Weisen kennen.“ (15., 47f.)
Die Geschichten von Eulenspiegel zeigen so die Allgemeinheit und Alltäglichkeit der Torheit. Bei der Begegnung mit Eulenspiegel wird jeder zum Narren gemacht. Die Fremdheit von Eulenspiegel ermöglicht ihm, dem Gesprächspartner dessen Fehler zu zeigen und ihm so dessen Torheit zu beweisen. Am meisten bewirkt Eulenspiegel durch simple Streiche und Witze. Gerade in solchen Situationen entlarvt er am überzeugendsten den Unsinn, der sich hinter den gesellschaftlichen Strukturen verbirgt. Auf diese Weise werden Meinungsänderungen angestoßen. Die Provokationen der Gaukler ermöglichen es, den Un-Sinn offen zu legen und zu verlachen. Die zwei vorgestellten Novellen illustrieren ebenso die Rolle Eulenspiegels im sozialen Leben. Der freie und schlaue Wanderer erweist sich als Narr der Gesellschaft, der mit jedermann und überall spricht und – ob man sich es wünscht oder nicht – den anderen ihre Fehler zeigt. Fehler, die in allgemeinen Einstellungen oder individuellen Meinungen bestehen. Paradox ist, dass Eulenspiegel, obwohl er die zentralen Institutionen der Gesellschaft (wie den Doktor) und die zentralen Elemente der gesellschaftlichen Ordnung (Ständeordnung, Tradition und Sitten) kritisiert,14 dennoch zur Gesellschaft dazugehört. Das wird besonders bei der Bloßstellung des Doktors in der 15. Historie deutlich. Diese Novelle zeigt vor allem, dass Eulenspiegel die Aufgabe übernimmt, die gesellschaftlichen Normen infrage zu stellen. Das Bild der Gesellschaft, welches die Novellen darstellen, wird vor allem durch die Torheit des Helden provoziert. Durch ihre Persönlichkeit und Fremdheit ermöglicht es die Figur ebenfalls, eine andere Perspektive auf die Struktur der Gesellschaft einzunehmen: Eulenspiegel hält den Menschen einen Zerrspiegel vor.
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3.
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Die Eliten der Renaissance und Eulenspiegel. Ein Fall humanistischer Xenophilie?
Die Popularität der Eulenspiegel-Novellen in den Elitenkreisen der Renaissance kann man mindestens auf zwei Ebenen verstehen. Erstens gehört Eulenspiegel, neben vielen anderen Schalk- und Schelmenfiguren, in der Renaissance zum populären Kreis der Narrenliteratur. Dieser Literaturtyp verbreitete sich seit Ende des 15. Jahrhunderts in ganz Europa. Neben den Eulenspiegel-Novellen gehören hierzu vor allem Sebastian Brants „Narrenschiff“ (1494) und das „Lob der Torheit“ (1509) von Erasmus von Rotterdam. Die Eulenspiegel-Novellen wurden, wie auch die anderen Werke dieser Literaturgattung, als ein intellektuelles Spiel mit den literarischen Normen und Konventionen aufgefasst. Die Historien von Eulenspiegel folgen nämlich nur auf den ersten Blick der klassischen literarischen Regel und führen diese im Resultat zu Unsinn und Witz. So beispielsweise am Anfang der Novellensammlung, als Eulenspiegel bei einer traditionellen Taufe dreifach getauft wurde und am Ende, als der Gaukler ebenfalls dreifach beerdigt wird. Eine Art literarisches Spiel steckt schon im Namen des Helden. Etymologisch stammen die Originalwörter aus dem Niederdeutschen. „Ule“ und „Spegel“ bedeuten „Eule“ und „Spiegel“. Die Auslegung des Namens bezieht sich auf die pejorative Symbolik der Eule, die in dieser Zeit als Bezeichnung der Dummheit diente.15 Der Spiegel bezeichnet zunächst einen Gegenstand, stellt aber zum anderen auch eine literarische Gattung dieser Zeit dar. Die Form, genannt Speculum, diente oft dazu, die gesellschaftlichen Vorbilder (den vollkommenen Fürsten, die vollkommenen Höflinge oder Bürger) vorzustellen.16 In diesem Kontext liefern die Eulenspiegel-Novellen das Bild eines Antihelden. Eulenspiegel ist der Schelm, der den anderen den Spiegel der Dummheit zeigt. Die Verbindung des Gauklers mit der Eule und dem Spiegel ist schon aus der ersten Auflage bekannt, in welcher der Held mit Eule und Spiegel abgebildet ist. Die Besonderheit der Eulenspiegel-Figur unter all den anderen Gestalten der Narrenliteratur besteht im Fremdsein des Helden. Die Fremdheit Eulenspiegels ist als ein literarischer Topos zu verstehen. Dadurch kann das Buch zeigen, was in der Gesellschaft durch Konventionen und Sitten erfolgreich versteckt wird. Fremdheit dient hier als ein Spiegel. Durch die Fremdartigkeit des Helden lassen sich individuelle und kollektive Schattenseiten darstellen, wodurch die Novellen die Oberflächlichkeit der gesellschaftlichen Normen verdeutlichen. Zu den extremsten Illustrationen dessen, was gesellschaftlich verpönt war, gehören die antiästhetischen Witze, die sich auf Fäkalien beziehen. Die Antiästhetik dient hier entsprechend als ein Zeichen des kompromisslosen Charakters Eulenspiegels, der bis an die Grenzen des guten Geschmacks geht. Die Sammlung von Eulenspiegel-Novellen ist eben auch ein Beispiel für die Rezeption der Volkskultur im Rahmen der Elitenkultur. Der Autor der Samm-
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lung, der mit großer Wahrscheinlichkeit selbst aus Elitenkreisen stammte,17 hat durch die Abenteuer eines Plebejers einen Zerrspiegel der ganzen Gesellschaft geschaffen. Die Sammlung ist ein Beispiel einer originellen Interpretation der Volkskultur in der Renaissance. Die breite Rezeption des Buches in Elitenkreisen macht aus den Novellen gleichzeitig einen Fall von Xenophilie der Eliten gegenüber der Volkskultur. Die Eulenspiegel-Novellen stellen jedoch nicht einfach nur ein allgemeines Beispiel für Xenophilie – also Fremdenliebe – dar, sondern können vielleicht insbesondere als eine humanistische Xenophilie verstanden werden: Die Geschichten eines Schelms enthalten nämlich immer auch eine gewisse Moral und haben damit eine erzieherische Funktion. Hier werden jedoch nicht nur in witziger Weise unterschiedliche gesellschaftliche Verhaltensweisen kompromittiert. Es wird darüber hinaus gezeigt, dass Torheit und Narrentum in jedem stecken. Wenn Fürst und Papst ebenso wie auch Gelehrte, Handwerker, Bauern und sogar Eulenspiegel selbst als Toren erscheinen, ergibt sich aus den Novellen die paradoxe Weisheit, dass die Torheit in gewissem Maße zur Gesellschaft dazugehört. Die Torheit weist auf Fehler und Schwächen der Gesellschaft hin, aus denen diese ihre Ordnung baut. So dient die Torheit den Menschen und ihrem kollektiven Leben. Das gerade – der Mensch und das kollektive Leben (Gemeinde, oekumene) – sind die Hauptwerte, auf die sich das Wirken der Humanisten konzentrierte.
4.
Fazit
Das Phänomen der Beliebtheit Eulenspiegels bei den Eliten der Renaissance ist einerseits durch die zeitgenössische Verbreitung der Narrenliteratur zu verstehen. Anderseits ist der Sinn für Humor und die moralische Kraft, die der Humor enthält, der Grund für die humanistische Xenophilie der Renaissance. Denn aus den Augen des Fremden wurde die allgemeine Torheit sowohl verlacht wie auch neu eingeordnet und sozialisiert. Eulenspiegel kann in seiner Zeit in einem gewissen Maße auch als Vorbild betrachtet werden. „Ungelehrter Weiser“, „frommer Häretiker“ oder „kulturvoller Räuber“ – je nach Gruppe, in der sich Eulenspiegel befindet, kann man ihn mit verschiedenen Bezeichnungen versehen. In allen diesen Beschreibungen fällt sein widersprüchlicher Charakter auf. Seine individuelle Persönlichkeit verkörpert aber vor allem die Idee eines freien Menschen, der durch seinen eigenen Willen und mit seinem eigenen Verstand seine Wirklichkeit bestätigt. Diese Idee war ein Ideal, das bei den Eliten der Renaissance besonders beliebt war.
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12 13
Als Textgrundlage diente in vorliegendem Artikel folgende Ausgabe: W. LINDOW (Hg.), Ein kurzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel, nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten, Stuttgart 1966. Alle Zitate stammen aus dieser Auflage. In Klammern nach einem Zitat wurde die Nummer der Historie mit einer Ordnungszahl und nach dem Komma die Seitenzahl angeführt. R. TENBERG, Die deutsche Till Eulenspiegel-Rezeption bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (= Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft, 161), Würzburg 1996, S. 42-208. Der Name wurde in den Frankfurter Ausgaben (aus dem Jahre 1555, um 1558 und 1569) erstmals benutzt und dann für weitere Editionen und die allgemeine Verwendung übernommen. R. GRZEŚKOWIAK und E. KIZIK, Wstęp [Einführung], in: Dies. (Hgg.), Sowiźrzał krotochwilny i śmieszny. Krytyczna edycja staropolskiego przekładu „Ulenspiegla“ [Eulenspiegel. Kritische Edition der altpolnischen Übersetzung], Gdańsk 2005, S. V-XL, hier S. VIII, Anm. 2. B. KÖNNEKER, Das Volksbuch vom Eulenspiegel. in: W. Wunderlich (Hg.), Eulenspiegel-Interpretationen: der Schalk im Spiegel der Forschung 1807-1977, München 1979, S. 108-30. M. M. BACHTIN, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hrsg. und mit einem Vorwort versehen von R. Lachmann, Frankfurt am Main 1987; P. BURKE, Popular Culture in Early Modern Europe, Aldershot 1988; R. KAISER, Praisers of Folly. Erasmus, Rabelais, Shakespeare, Cambridge 1963; P. CAMPORESI, Bauern, Priester, Possenreißer. Volkskultur und Kultur der Eliten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main-New York 1994. C. ERHART-WANDSCHNEIDER, Das Gelächter des Schelmen. Spielfunktion als Wirklichkeitskonzeption der literarischen Schelmenfigur. Untersuchungen zum modernen Schelmenroman, Frankfurt am Main-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien 1995; M. J. AICHMAYR, Der Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur im Kontext der europäischen Narren- und Schelmenliteratur, Göppingen 1991; J. JACOBS, Der deutsche Schelmenroman, MünchenZürich 1983; D. ARENDT, Eulenspiegel – Ein Narrenspiel der Gesellschaft, Stuttgart 1978. Zu den einzigen Studien, die einen Helden der Schelmenliteratur – Markolf – als Fremden vorstellen, gehören: M. GŁOWIŃSKI, Mythen in Verkleidung. Dionysos, Narziß, Prometheus, Marchołt, Labyrinth, Frankfurt am Main 2005 sowie O. EHRISMANN, Gewissen, Geburt und Gold. Die Schälke, Spiegel der Entfremdung, in: Eulenspiegel-Jahrbuch 22 (1982), S. 41-65. G. JÄCKEL, Nachwort, in: Ders. (Hg.), Ein kurzweilig Lesen von Till Eulenspiegel geboren aus dem Land zu Braunschweig. Wie er sein Leben vollbracht hat, fünfundneunzig seiner Geschichten. Mit 87 zeitgenössischen Holzschnitten, Leipzig-Weimar 1987, S. 251. GRZEŚKOWIAK/KIZIK, Wstęp, S. XXII. Ebd. Mehr zum Thema auch bei: W. RÖCKE, Schälke – Schelme – Narren. Literaturgeschichte des „Eigensinns“ und populäre Kultur in der Frühen Neuzeit, in: W. Spiewok und D. Buschinger (Hgg.), Schelme und Narren in den Literaturen des Mittelalters. XXVII. Jahrestagung des Arbeitskreises Deutsche Literatur des Mittelalters (Greifswald), Eulenspiegelstadt Mölln, 24.-27. September 1992, Greifswald 1994, S. 131-49. Ebd. J. RETTELBACH, Eulenspiegel in Nürnberg, in: Spiewok/Buschinger (Hgg.), Schelme und Narren, hier S. 115f.
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Monika Kuleczka
14 Vertiefend zur Gesellschaftskritik in der Narren- und Schelmenliteratur, auch bei Eulenspiegel: Aichmayr, Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur, S. 77ff. 15 W. WUNDERLICH, Till Eulenspiegel, München 1994, S. 56. 16 Speculum war auch im Mittelalter einer der populärsten Titel für geschriebene Werke aller Art. H. DZIECHCIŃSKA, Zwierciadło [Spiegel], in: T. Michałowska (Hg.), Słownik literatury staropolskiej. Średniowiecze-Renesans-Barok [Das Wörterbuch der Altpolnischen Literatur. Mittelalter-Renaissance-Barock], Wrocław 1998, S. 1067-68, hier S. 1067. 17 Literaturwissenschaftler suchen ihn vor allem in Straßburg. Zur Zeit der Veröffentlichung der Novellen arbeiteten dort in den literarischen Kreisen u. a. die Priester Johann Geiler von Kaisersberg (1455-1510) und Johannes Pauli (1455-nach 1530) sowie der Franziskaner Thomas Murner (1475-1537). Als möglicher Autor wird auch ein damaliger Stadtbeamter, Hermann Bote, diskutiert. J. SCHUTZ-GROBERT, Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung, Tübingen 1999; TENBERG, Die deutsche Till Eulenspiegel-Rezeption; GRZEŚKOWIAK/KIZIK, Wstęp.
Anikó Zsigmond
ZWISCHEN EIGENLIEBE UND FREMDENLIEBE Die struktur- und identitätsbildende Funktion des Fremden in Anna Mitgutschs Romanen „In fremden Städten” und „Haus der Kindheit”
1.
Einleitung
Bei einer näheren Auseinandersetzung mit Anna Mitgutschs Romanen fällt ins Auge, wie tief die Fremdheitsproblematik in ihrem Schaffen verankert ist. Zahlreiche ihrer Figuren geraten durch eine Konfrontation mit der Umwelt außerhalb der Normen der Gesellschaft und Fremdheit wird für ihre Identität ein konstitutives Erlebnis. Die Zahl der weiblichen Hauptfiguren, die als Grenzgängerinnen oder als Nicht-Zugehörige in Opposition zur Mehrheit (zum Normalen) stehen, ist zwar wesentlich größer, aber auch unter den männlichen Protagonisten finden sich viele, deren Identität durch die Fremde geprägt wird. Die in diesem Beitrag zur Analyse ausgewählten Romane haben jeweils eine weibliche und eine männliche Hauptfigur. Diese Tatsache soll zeigen, dass Fremdheit nicht geschlechtsspezifisch ist, sondern bei Anna Mitgutsch auf biografische Wurzeln der Autorin zurückzuführen ist und vieles von ihrem kritischen Verhältnis zu Österreich verrät, in das sie nach ihren Amerikaaufenthalten dennoch zurückgekehrt ist. Beide Geschichten handeln von Amerikanern, die in einen kulturellen Zwischenraum geraten, da das kommunikative Gedächtnis ihrer Familienbindungen bei ihnen den Wunsch nach Erkundung ihrer kulturellen Wurzeln hervorruft. In beiden Romanen liegen diese Wurzeln in Europa, in Österreich. Die Großeltern („In fremden Städten”) bzw. die Eltern („Haus der Kindheit”) sind aus Europa nach Amerika emigriert und haben die Erinnerung an die Heimat für die Hauptfiguren aufbewahrt. Diese Verbindung zu den ehemals unbekannten Wurzeln ist bei den Hauptfiguren stark gefestigt. Im Beitrag wird gezeigt, dass die Identität der beiden Hauptfiguren mit von dieser fremden Vergangenheit geprägt wird. Außerdem sind beide Hauptfiguren Künstler, wobei nur für die männliche Figur die Kunst Selbsterfüllung bietet. Zur Kunst kann er nach jedem Versagen zurückkommen. Die weibliche Hauptfigur kann sich weder im Leben noch in der Kunst selbstverwirklichen, daher endet sie tragisch. Die Begegnung mit der Fremde, die sich im Reisen und Lieben vollzieht und von den Hauptfiguren unbewusst und bewusst angestrebt wird, erfüllt sie nicht, erbringt nicht die ersehnte Selbstfindung und keine normale Identität. Der kurzweilige Besitz des Fremden führt zum Wunsch nach Freiheit, die individualistische Eigenliebe ermöglicht keine
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Anikó Zsigmond
Liebe des Anderen. Die Vereinsamung treibt die Hauptfiguren aber immer wieder zum Fremden hin und führt zur Wiederholung derselben Struktur und derselben Art der Liebe, des Erwerbs und der Distanzierung des Fremden (es entwickelt sich bei der weiblichen Hauptfigur sogar ein Fremdenhass), die schon einmal verwirklicht wurden. Dieser Beitrag geht einerseits auf diese strukturbildende Funktion des Fremden, andererseits auf die Repräsentationsformen des Fremden in den genannten Romanen ein.
1.1
Zum Roman „In fremden Städten”
Die Amerikanerin Lilian bricht ihr Studium ab und bei einer Reise nach Österreich lernt sie ihren künftigen Ehemann Josef kennen, den sie bald heiratet und nach Österreich zieht. Lilian bekommt innerhalb von 15 Jahren zwei Kinder, sie lebt als Hausfrau und Mutter, unterrichtet einige Stunden Englisch. Im Wesentlichen bleibt sie aber ihrer neuen Welt gegenüber fremd, sie hat Sehnsucht nach ihrer Heimat, nach ihrer Sprache, denn sie fühlt sich mit ihrem Ausländerdasein in Innsbruck und in ihrer Familie völlig vereinsamt und unverstanden. Nach einem gescheiterten Urlaub in Amerika beschließt Lilian, sich vom Ehemann zu trennen und nach Amerika zurückzukehren. Noch in Österreich lernt sie den amerikanischen Sänger Alan kennen, mit dem sie eine Affäre beginnt und in Amerika fortsetzen zu können hofft. Aber ihre Hoffnungen scheitern, sie erlangt nicht mehr ihre ersehnte Identität zurück, ihre Jugend existiert nur durch ihre Erinnerungen; Amerika zeigt ihr ein völlig fremdes Gesicht und eine fremde Sprache. Lilian gerät in einen Raum und eine Zeit des Dazwischens, sie konfrontiert sich mit ihrer entfremdeten Identität und steckt ihr Geburtshaus in Brand. Der Roman endet mit einer Szene, in der sie in Richtung Meer stürzt.
1.2
Zum Roman „Haus der Kindheit”
Es handelt sich um die Geschichte von Max und seiner Familie. Im Rückblick, in Bildern der Erinnerung wird das Schicksal der jüdischen Familie erzählt, die ihre Heimat, eine Kleinstadt in Österreich vor dem Zweiten Weltkrieg, verlassen musste und nach Amerika emigriert ist. Die Eltern haben ihre drei Kinder mitgenommen, aber alle anderen Verwandten sind in Österreich geblieben und umgekommen. Die Problematik der Emigration wird am deutlichsten an Max’ Mutter beschrieben: Wurzellosigkeit, eine kaputte Ehe, Sehnsucht, häufige Ortswechsel, Verarmung. Ein Foto des österreichischen Wohnhauses bewahrt die Vergangenheit für Max. Er wird ein erfolgreicher Architekt und als Soldat im Krieg besucht er das Haus seiner Großeltern und konfrontiert sich mit der Erfahrung, dass das Haus von neuen Bewohnern in Besitz genommen wurde. Er
Zwischen Eigenliebe und Fremdenliebe
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setzt sich zum Ziel, sich das Haus neu anzueignen und zu renovieren. Daher kehrt er Jahrzehnte später zurück und mit juristischer Hilfe gelingt es ihm Anfang der 90er Jahre, die SA-Nachkommen zu vertreiben. Bei seinen Aufenthalten in Österreich versucht Max seinen kulturellen Wurzeln nahe zu kommen und nimmt mit der kleinen jüdischen Gemeinde Kontakt auf, ansonsten fühlt er sich fremd in der österreichischen Kleinstadt. So sehr Max nach seiner Kultur sucht, so wenig will er sich bei einer Partnerin festlegen, die er oft wechselt. Den größten Eindruck machten auf ihn eine österreichische Emigrantin in Amerika, Eva, die ihn verlässt, weil Max auf keine tiefe Beziehung eingehen will, und eine junge Halbjüdin, die er in Österreich kennen gelernt hat und die eine Karriere als Fotografin in Amerika macht. Sie wird von Max verstoßen, bevor sich die Beziehung vertiefen könnte. Jahrzehnte später sieht Max seinen Fehler ein, aber Nadja, inzwischen Künstlerin geworden, wurde bei einer Reise nach Russland umgebracht. Max erwirbt das Geburtshaus schließlich, aber darin herrschen Kälte und Stille, so kehrt er mit über 70 Jahren nach Amerika zurück. Dieser Roman hat ein positiveres Ende als „In fremden Städten”, weil der Protagonist für sich erkennt, dass Heimat nicht mit einem Ort zusammenhängt. In beiden Romanen erbringt die Begegnung mit der Fremde für die Hauptfiuren jeweils eine Selbsterkenntnis, obwohl Lilian das Scheitern ihrer Selbstfindung nicht verarbeiten kann.
2.
Zum Problem der Identität, Alterität und Fremdheit
Als Schlüsselbegriff der interkulturellen Literaturwissenschaft gilt die aus der Fremdheitsforschung abgeleitete Opposition von Identität und Alterität. Hofmann zitiert in seinem Buch entscheidende Ergebnisse im Zusammenhang mit der Erschließung dieser oppositionellen Kategorie.1 Im Anschluss an Gutjahr bewertet er die Fremde als Alteritätsrelation zur Selbstbestimmung. Ohne die Erkenntnis der Alterität ist auch die der Identität nicht möglich. Aus der Abgrenzung des Ichs vom Nicht-Ich, also vom Anderen bzw. vom Fremden wird Identität konstituiert. Diese Begegnung stellt eine ursprüngliche Grunderfahrung für den Menschen dar.2 Die Konstruktion der eigenen Identität vollzieht sich im Bewusstwerden des Anderen, durch Grenzziehung gegen das Andere. Jegliche Begegnung mit der Fremde fördert das Selbstverständnis. Die Fremde kann Faszination oder Bedrohung ausüben. Hofmann führt die innere Fremdheitserfahrung auf Freud zurück, der behauptet, dass das Unheimliche gerade das verdrängte Eigene sei, das heißt also, dass der Mensch sich selbst fremd geworden sei.3 Diese Entfremdung ist laut Freud eine Grunderfahrung moderner Gesellschaften überhaupt. Kristeva konkretisiert Freuds These von der unheimlichen Fremde im Inneren: „Auf befremdliche Weise liegt der Fremde in uns selbst: Er
182
Anikó Zsigmond
ist die verborgene Seite unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die Zeit, in der das Einverständnis und die Sympathie zugrunde gehen.”4
3.
Der Raum und die Zeit als Ausdrucksformen der Fremde in den Romanen
3.1
„In fremden Städten”
Das Raumkonzept des Werkes beruht auf einer klar durchschaubaren Opposition der zwei geografischen Orte Amerika und Europa, die unterschiedliche kulturelle Bereiche darstellen. Einerseits sind es Naturorte, die die Aufenthaltsorte der Protagonistin kennzeichnen, andererseits sind es Wohnorte und topografische Räume, mit denen sie in Berührung gekommen ist. Auffallend ist die Gegenüberstellung von Meer und Bergen. Lilian wuchs in einer amerikanischen Kleinstadt an der Atlantikküste auf. Sie spazierte oft an der Küste oder betrachtete die Landschaft und so eröffnete sich vor ihr die Ferne. Lilian ist eine äußere Betrachterin der Räume, kein Ort gehört ihr wirklich. In einem Urlaub am Anfang ihrer Ehe will Lilian ihrem Ehemann ihre Liebe zur Heimat dadurch erklären, dass sie Josef auf die Schönheit der Landschaft aufmerksam macht. Aber Josef weigert sich, mit der amerikanischen Landschaft vetraut zu werden und jedes Mal geraten sie in eine Diskussion, in der sie sich immer wieder verletzt fühlt. Statt Berge sieht Josef nur „ein paar Hügel”, statt „schöner Küsten und Strände mit Palmen” nur „staubige Büsche”5. Beide wollen um Überlegenheit kämpfen, beide wollen die Fremde im anderen verändern, aber jeder besteht auf seinen eigenen kulturellen Wurzeln. Nach einer schlimmen Auseinandersetzung, in der Josef seinen Hass und seine Eifersucht auf Amerika sinnbildlich auf das Bild eines Mannes projiziert und seine verdrängte Aggression gegenüber der Fremdheit artikuliert („Wäre Amerika ein Mann, rief er ihr nach, dann brächte ich ihn um.”6), begleitet er seine Frau nie wieder nach Amerika in den Urlaub. Lilian fühlt aber Abneigung gegen die Alpen, sie glaubt, „an der Nähe der Berge ersticken zu müssen”7. Wegen der frühen Dämmerung in den Bergen kann sie keine richtige Dämmerung sehen, sie sieht in Österreich „überall das gleiche”. „Immer war da noch ein Tal, noch eine Höhe, noch ein Skigebiet”8. Die Bekannten und Verwandten Josefs präsentierten Lilian stets die Naturschönheit als kulturellen Stolz. Auf die Frage, was ihre Lieblingslandschaft sei, beschreibt Lilian das Bild des einsamen Strandes an stürmischen Novembertagen. Der statischen Beschreibung der Alpenlandschaft steht die Dynamik des Meeres gegenüber und Lilian fühlt und genießt dabei die Unberechenbarkeit und die Größe der Natur, wobei das Bild des Meeres metaphorisch Lilians Scheitern vorausdeutet:
Zwischen Eigenliebe und Fremdenliebe
183
„Und trotz des Wissens um seine [des Meeres] Regelmäßigkeit bei jedem Gang über den feuchten Streifen Sand auf der Suche nach Strandgut immer die leichte Angst im Rücken vor der Welle, die sich plötzlich hinterrücks aufbäumen konnte, um sie wie ein Riesenfisch zu verschlingen.”9
Trotz der Bedrohung birgt das Meer für Lilian eine inspirierende Kraft. In ihrer Jugend schöpfte sie an der Küste Ideen zu ihren Gedichten. Nach ihrer Rückkehr will sie ihr lyrisches Schaffen fortsetzen, aber die Inspirationen durch das Meer bleiben aus. Das Meer ist der einzige Ort, an dem sie sich unbegrenzt fühlt, es symbolisiert die Grenze zwischen Freiheit und Zugehörigkeit. Das Meer symbolisiert aber auch die Grenze zwischen den Kontinenten Europa und Amerika. So löst sich durch Lilians Tod der Gegensatz zwischen den Erdteilen auf oder ihr Sturz ins Meer bedeutet ihre ewige Zwischenposition. „[…] aber die Landschaft war Europa, eine Kleinstadt in Norditalien […], sie sehnte sich so sehr danach, daß sie am liebsten dem Unbekannten neben ihr berichtet hätte, dort bin ich schon mal gewesen […], so stolz war sie, als wäre es ihre Landschaft, die man auf der Leinwand zeigte. Ich habe Heimweh nach Europa, dachte sie verwundert.”10
Das kühle Amerika der Gegenwart ist nicht mehr mit dem angebeteten der Vergangenheit, das verhasste Europa der Vergangenheit ist nicht mehr mit dem ersehnten der Gegenwart identisch. Mit dem Erwerb von Josefs Liebe sollte Lilian den für sie fremden Raum, Europa, auch erwerben. Die Liebe zum fremden Raum und zum Ehemann ist schnell vorbei, Europa und Österreich verlieren für Lilian ihre Anziehungskraft, sie steht auch ihren kulturellen Wurzeln fremd gegenüber und die anfängliche Liebe zur Fremde schlägt in Hass um. Die fremden kulturellen Wurzeln können auch die nachfolgende Generation an der Aneignung der neuen Kultur hindern, das suggeriert Lilians Schwester, Lisa, indem sie sich Gedanken über den Tod ihres Onkels macht: „Und schuld daran war […], daß er sein ganzes Leben lang Europäer blieb, das war die Tragik dieser Generation, daß Bessie [Großmutter] ihm und wahrscheinlich auch unserer Mutter nicht erlaubte, hier Fuß zu fassen. […] Sie waren ohne Wurzeln und Zugehörigkeit.”11
Lilian konnte weder im Raum der Ahnen noch in ihrer Gegenwart Fuß fassen. Sie gehört nirgendwohin und niemandem. Die Erkenntnis ihrer Fremdheit zerstört sie.
184
3.2
Anikó Zsigmond
„Haus der Kindheit”
Die Mutter von Max scheitert in ihrer Assimilation in Amerika, sie kann sich einzig dem jüdischen Kollektiv anschließen. Gerade das Jüdische wird der bedeutendere Anteil ihrer Kultur, weswegen sie aus Europa geflohen sind und was sie in Österreich als Bedrohung erlebt haben. Ein Foto, das Foto des Hauses, das im Zimmer auf dem Regal steht, erinnert die Mutter an den Verlust ihrer Heimat und Familie; dieses Foto symbolisiert die Sehnsucht und verbindet die Zeiten und Räume. Die Ehe von Max’ Eltern scheitert kurz nach der Ankunft in Amerika, denn im Unterschied zur Mutter, der die neue Heimat Identitätsverlust bedeutet, bedeutet sie dem Vater Tatkraft und Möglichkeiten. „Das Foto stand auf der Kommode, solange Max sich zurückerinnerte. Es machte jede neue Wohnung, in die sie einzogen, zu einem Ort des Exils. Im Unterschied zu allen Gegenständen, die sie nach jeder Übersiedlung auspackten, reichte seine Bedeutung weit in die Vergangenheit, und wie ein Schwur verpflichtete es dazu, ein Versprechen einzulösen. Mitten in ihrem Leben verwies es auf die eine Gegenwart, die schmerzlich fehlte. Von seiner Mutter hat Max gelernt, daß die Erinnerungen das einzige waren, was einem nicht verlorengehen konnte.”12
Max’ Identität wird sehr deutlich von diesem Foto und dem Verlusterlebnis seiner Mutter geprägt. Das Meer als Raum und Erfahrung der Grenze erlangt auch in diesem Roman Bedeutung, denn Max und seine Mutter gehen in den ersten Jahren der Emigration oft an die Küste. Für Max als Kind ist die sichere Heimat mit dem Foto, mit der in Europa hinterlassenen Verwandtschaft verbunden. Daher hat er den Wunsch, zur Festigung seiner Identität als Erwachsener nach Österreich zurückzukehren. Aber er hat zu diesem Ort eine ambivalente Haltung, denn Österreich der Ort gewesen, der sie zu Flüchtlingen gemacht hat und dessen Bewohner für die Ermordung und Ausrottung seiner Verwandtschaft verantwortlich sind, was seiner Mutter lebenslang Schmerz bereitet hat. Der Widerspruch von Idyll und Chaos, der mit dem Raum und der Kultur Österreichs im Bewusstsein von Max fixiert ist, löst sich nicht auf. Bei seiner Rückkehr nach Österreich konfrontiert er sich mit dem Gefühl der Fremde, denn niemand lebt dort mehr, der seine Verwandtschaft gekannt hätte und auch die Leute nehmen keinen Kontakt zu ihm auf, obwohl jeder Stadtbewohner über ihn Bescheid weiß. Diese distanzierte Beziehung zu den Stadtbewohnern erläutert das Gespräch mit dem Wirt: „Sie sind Amerikaner, stellte der Wirt fest, aber Sie sind hier geboren. Es war ein eigenwilliges Beharren, das auf eine Erklärung pochte. Sagen Sie, fragte Max, gibt es hier eine jüdische Gemeinde? Wieso, fragte der Wirt verblüfft zurück. Er schaute Max minutenlang forschend an. Dann schien ihm ein Licht aufzugehen, gleich darauf hatte Max den Ein-
Zwischen Eigenliebe und Fremdenliebe
185
druck, als sei etwas Vorsichtiges, Lauerndes in seinen Blick eingetreten. Irgendetwas hatte sich verändert, Max konnte sich nicht sagen, was und der Wirt stellte keine Fragen mehr.”13
Zur jüdischen Gemeinde entwickelt Max ein Zugehörigkeitsgefühl, das einzige in seinem Leben. Diese Zugehörigkeit ist aber nicht von Raum und Zeit abhängig, sondern von der Kultur. Max, der individualistische Künstler, der in seinem Leben nur flüchtige Bekanntschaften hat, erlebt das erste Mal ein Kollektivgefühl, das das Fremdheitsgefühl gegenüber Raum und Zeit kompensiert. Trotzdem kann diese kollektive kulturelle Geborgenheit ihm keine Ruhe bieten, er kehrt nach Amerika zurück, wo er seine Arbeit als Architekt begeistert fortsetzt. Nach Jahrzehnten, nachdem er sich schon im Beruf verwirklicht hat, kehrt er zu seinen österreichischen Wurzeln zurück und bewohnt endlich sein erworbenes Haus, um sich aber mit 70 Jahren endgültig in New York niederzulassen. Er ist wie Lilian in einem Zustand des Dazwischens, aber er erlebt es nicht als Verlust, sondern als ein Weltbürger. Außerdem begegnet er der fremdkulturellen vergangenen Heimat vor dem Hintergrund einer moralischen Überlegenheit.
4.
Die Liebe als Ausdrucksform der Fremde in den Romanen
Die geliebte Person ist für die Protagonistin und den Protagonisten untrennbar mit dem Raum verbunden. Sie ist jeweils Requisite der Kultur, nach der sich Lilian und Max sehnen und von der sie sich distanzieren.
4.1
„In fremden Städten”
Lilian hatte nicht viele Liebesverhältnisse, die ihre Identität geprägt haben: ihr Mann und Alan, ihr Liebhaber, verkörpern unterschiedliche Teile ihrer Persönlichkeit. In ihrer Erziehung hat ihre Großmutter eine entscheidende Rolle gespielt, besonders nachdem ihre Mutter verunglückte. Die Großmutter ist das verbindende Narrativ zwischen Räumen und Zeiten. „Manchmal wenn Bessie von diesem Land sprach, wurde sie weich und jung, […] und diese Welt bestand noch, wenn auch verändert, alles hatte seinen Platz in Europa, Böhmen und Wien […] und deshalb war Lilian hergekommen, als Archäologin ihrer Herkunft”.14
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Anikó Zsigmond
Für Josef war Lilian ein Stück Exotik, das anders war als das Österreichische, für ihn verkörperte Lilian Freiheit, Regellosigkeit und Normbruch. Und Lilian gefiel diese Rolle der Anderen, Freien und Fremden im österreichischen Kulturraum. „Er hatte sich einen exotischen Vogel eingefangen, der alle Regeln, sogar die der Sprache, mit einer ahnungslosen Selbstverständlichkeit ignorierte, so daß selbst der Abglanz ihrer Freiheit, die auf ihn fiel, ihn noch berauschte.”15
Solange Lilian noch nicht in die österreichische Kultur gehört, kann sie sich frei darin bewegen. Nachdem sie sich aber das Österreichische als Heimat aneignen sollte, beginnt für sie die Entfremdung und nicht einmal die Liebe kann diese Kluft überbrücken. Sie und ihre Liebe sind schon Besitz eines Mannes in einem anderen Kulturraum geworden. Am Anfang der Ehe wollten sie noch „das Fremde im anderen erfahren können, und alles war faszinierend”16, dann „hatten sie aus Gewöhnung und Bequemlichkeit vergessen, was sie im anderen suchten”17, und öfter fielen Sätze wie „Deine Art zu reagieren ist mir fremd”.18 Das Gefühl der „grenzenlosen Freiheit damals in Wien” hat Lilien nie mehr empfunden. Für Lilian ist Liebe mit Freiheit, Faszination verbunden und mit der Zeit verliert die Liebe zu Josef diese exotische Färbung. Lilian kann sich im österreichischen Kulturraum, der voller Konventionen und Regeln ist, nicht selbstverwirklichen. Auch die kurze, leidenschaftliche Liebe zu ihrem Liebhaber Alan bringt nicht die erwartete Wende ihres Lebens. Merkwürdigerweise will dieser Mann Lilian nicht besitzen, obwohl sie sich danach sehnt. Nach der Heimkehr nach Amerika erweckt dieses Nicht-Dazugehören in Lilian Verzweiflung und sie konfrontiert sich mit ihrer Fremdheit. Auf dem anderen Kontinent fremd zu sein, war ihr ein Trotz, aber in der Heimat kann sie diesen Status nicht mehr aushalten.
4.2
„Haus der Kindheit”
Max hatte sehr viele Liebesbeziehungen, wollte sich aber an keine Frau endgültig binden. Ihn beeindruckten Frauen, besonders jene, die in Verbindung mit Österreich stehen. Eva, die aus Wien stammende Emigrantin, macht Österreich für Max noch mehr zum Land seiner Sehnsucht. Sie hat ein wenig Akzent, sie erscheint ihm als Fremde und übt eine größere Anziehungskraft als amerikanische Frauen auf ihn auf. Trotzdem ist es nicht das Richtige für Max, weil er Eva ohne Verpflichtungen besitzen will, aber Eva will Beständigkeit und Karriere, während Max immer auf der Suche nach etwas Neuem ist. Max will kein Gegenstand der Liebe einer ehrgeizigen Frau werden. Er ist selbst ehrgeizig genug.
Zwischen Eigenliebe und Fremdenliebe
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Die größte Wirkung übt Nadja auf Max aus, eine Halbjüdin, die er in Österreich in der jüdischen Gemeinde kennen lernt. Er hilft Nadja, Fotografin zu werden und trotz des großen Altersunterschiedes ist Nadja in ihn verliebt. Sie sucht Geborgenheit und Sicherheit bei Max, aber er gibt seine Unabhängigkeit nicht auf. Nadja ist für ihn nur so lange interessant, wie sie sich nicht ganz an ihn binden will. Sicherheit und Geborgenheit sind Max fremd. Zum Schluss der Beziehung wechselt die Erzählperspektive des Romans. Das bis dahin personale Erzählen herrscht zwar vor, aber aus dem Blickwinkel von Nadja wird das traurige Ende erzählt, nämlich dass sie von Max hinausgeworfen wurde, weil Max darauf besteht, dass niemand bei ihm einziehen wird.19
5.
Schlusswort
Identität konstituiert sich in einer ständigen Abgrenzung gegen die Alterität, weshalb die Protagonisten kontinuierlich auf der Suche nach ihrer Identität sind. Durch die Anziehungskraft der Fremde befinden sie sich immer in einem dynamischen Bereich des Wechsels von Zeit, Raum und Sprache. Sobald diese Dynamik aufhört und statisch zu werden droht, brechen sie damit und begeben sich erneut auf die Suche nach der Fremde. Und so verändert sich ihr Leben, nicht aber ihre Persönlichkeit. Ihre Persönlichkeit ist im Grunde genommen immer dieselbe, sie sind Sonderlinge, deren Prinzip die Auseinandersetzung mit der Fremde und die Abweichung von der Normalität ist. Aus dem Reiz der Fremdheit, die als Aufforderung, Provokation, Stimulus noch ins Vertraute umschlagen kann, wird eine „sich entziehende Fremdheit, die schon auf Grund der ständigen Gegenwart zur Feindschaft wird”20. Die Begegnung mit der inneren und äußeren Fremde löst Selbsterkenntnis und damit ebenso persönliche Konflikte aus. Max versteht mit diesen umzugehen, da er sich gut kennt, während Lilian die gewonnene Wahrheit über sich selbst nicht ertragen kann.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8
M. HOFMANN, Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, München 2006, S. 15. B. WALDENFELS, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 1997, S. 28. HOFMANN, Interkulturelle Literaturwissenschaft, S. 16. J. KRISTEVA, Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt am Main 1990, S. 11. A. MITGUTSCH, In fremden Städten, München 1994, S. 54. Ebd. MITGUTSCH, In fremden Städten, S. 79. DIES., In fremden Städten, S. 80.
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9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Anikó Zsigmond
DIES., In fremden Städten, S. 82. DIES., In fremden Städten, S. 177. DIES, In fremden Städten, S. 208. A. MITGUTSCH, Haus der Kindheit, Frankfurt am Main 2000, S. 7. DIES., Haus der Kindheit, S. 65. DIES., In fremden Städten, S. 66. DIES., In fremden Städten, S. 25. DIES., In fremden Städten, S. 30. Ebd. Ebd. MITGUTSCH, Haus der Kindheit, S. 149. H. WINTER, Zum Diskurs über Heimaterfahrung und -verlust in literarischen Texten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: Waltraud Mitgutsch, in: M. Razbojnikova-Frateva und H. Winter (Hgg.), Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur, Dresden 2006, S. 351-72, hier S. 363.
Dieta Kuchenbrandt und Manfred Bornewasser
GEMEINSAMES MUSIZIEREN Affektive Einflüsse auf Einstellungen im deutsch-polnischen Kontext
1.
Einleitung
Die Liebe und das Fremde oder die Liebe zum Fremden stellen das zentrale Thema des vorliegenden Tagungsbandes dar. Dennoch sind mit dem Fremden viel häufiger Gefühle wie Angst, Antipathie oder Hass assoziiert. In der Sozialpsychologie und primär in dem vorliegenden Kontext sind mit dem Fremden vor allem nationale, religiöse und ethnische Fremdgruppen gemeint. Beziehungen zwischen Gruppen, also zwischen der eigenen und anderen fremden Gruppen, sind oft durch Vorurteile, Diskriminierung und Konflikte gekennzeichnet. Es sind Phänomene, die zu unserem Alltag gehören. In der Regel wird die eigene Gruppe positiver bewertet als die Fremdgruppe und der Kontakt zu Fremdgruppen wird häufig gemieden. Wie kann aus Antipathie, Angst oder Misstrauen gegenüber fremden Gruppen Akzeptanz, Zuneigung oder gar Liebe entstehen? Was passiert, wenn Gruppen unterschiedlicher nationaler, religiöser und ethnischer Herkunft miteinander in Kontakt kommen? Der folgende Beitrag soll diese Fragen in Teilen aufgreifen. Hierzu werden zunächst einige theoretische Aspekte beleuchtet, anschließend werden Aspekte der eigenen Untersuchung herausgegriffen und erste vorläufige Ergebnisse vorgestellt.
2.
Theoretischer Hintergrund
Intergruppenkontakt gilt als erfolgreiche Strategie, Intergruppenkonflikte, Vorurteile und Diskriminierung zu reduzieren.1 In seinem Buch „The Nature of Prejudice“2 formulierte Gordon Allport bereits 1954, dass Intergruppenkontakt Vorurteile erfolgreich vermindern kann, wenn die Kontaktsituationen durch folgende vier Bedingungen gekennzeichnet sind: (1) gleicher Status zwischen den Gruppen bzw. deren Mitgliedern innerhalb der Kontaktsituation, (2) gemeinsame Ziele, (3) Intergruppenkooperation und (4) die Unterstützung des Kontakts durch Gesetze, Institutionen und Behörden. Diese Kontakthypothese hat die Vorurteilsforschung beeinflusst wie kaum eine andere Theorie und zu einer Vielzahl von Forschungsarbeiten angeregt. Lange Zeit waren die Forschungsbemühungen auf die Frage konzentriert, wie Intergruppenkontakt gestaltet sein muss, um erfolgreich zu sein. Daher wurden
190
Dieta Kuchenbrandt und Manfred Bornewasser
in der Folge eine Reihe weiterer Kontaktbedingungen ergänzt.3 Das Hinzufügen zusätzlicher Bedingungen führt jedoch zum einen dazu, dass die Kontakthypothese zu einer „open-ended laundry list of conditions“4 zu werden droht. Zum anderen verliert sie ihren praktischen Nutzen, da die wenigsten Intergruppenkontaktsituationen den geforderten Bedingungen entsprechen dürften.5 Metaanalytische Ergebnisse6 legen außerdem nahe, dass Intergruppenkontakt auch dann positive Effekte hat, wenn er nicht unter optimalen Bedingungen stattfindet. Optimale Kontaktbedingungen, wie Gordon Allport sie postuliert hat, führen allerdings zu deutlich stärkeren positiven Ergebnissen und sind daher als verstärkende Faktoren zu verstehen. Allports Kontakthypothese spezifiziert, unter welchen Bedingungen Intergruppenkontakt zur Verbesserung von Intergruppeneinstellungen führt. Sie lässt aber offen, wie Intergruppeneinstellungen verbessert werden,7 welche Prozesse also hierbei beteiligt sind. Aktuelle Forschungsansätze fragen daher vermehrt nach möglichen Mediatoren und Moderatoren von Kontakteffekten8. Untersuchte Mediatoren sind u. a. die wahrgenommene Wichtigkeit des Kontakts zur Fremdgruppe9, die wahrgenommene Bedrohung durch die Fremdgruppe10, eine größere Heterogenitätswahrnehmung der Fremdgruppe11, die Schaffung einer gemeinsamen Identität von Eigen- und Fremdgruppe anhand einer übergeordneten Kategorie12 sowie affektive Mediatoren wie verringerte Intergruppenangst13 und der Aufbau von Empathie14. Die am häufigsten untersuchten Mediatoren sind der Wissenserwerb über die Fremdgruppe15 und damit die Veränderung von Stereotypen Überzeugungen (Überzeugungen über bestimmt oft negative Eigenschaften der Fremdgruppe16), der Abbau von Ängsten17 sowie Empathie bzw. Perspektivenübernahme18. In einer weiteren Metaanalyse konnten Pettigrew und Tropp19 zeigen, dass sowohl Intergruppenangst als auch Empathie die bedeutsamsten Mediatoren darstellten, veränderte Stereotype hingegen zeigten nur schwache, wenn auch signifikante vermittelnde Effekte. Das bedeutet, einfach mehr über die Fremdgruppe zu wissen, ist nicht, wie von Allport ursprünglich angenommen, der zentrale Mechanismus, durch den Vorurteile reduziert werden. Vielmehr zeigen diese Ergebnisse, dass Intergruppenkontakt die anfängliche Angst, die solche Kontaktsituationen häufig begleitet, vermindert, was wiederum zu einer Reduktion von Vorurteilen führt. Gleichzeitig kann Kontakt zur Fremdgruppe empathische Gefühle im Sinne von Einfühlungsvermögen und Perspektivenübernahme fördern. Affektiven Faktoren scheint demnach eine zentrale Bedeutung bei der Veränderung von Intergruppeneinstellungen durch Kontakt mit der Fremdgruppe zuzukommen. Die bisherige Analyse möglicher Variablen, die zwischen Intergruppenkontakt und Vorurteilsreduktion vermitteln, ist durch einige Probleme gekennzeichnet. Wie die beispielhafte Auflistung bereits untersuchter Mediatoren deutlich macht, sind grundsätzlich sehr viele, teilweise untereinander korrelierte Mediatoren denkbar. Eine theoriegeleitete Vorgehensweise zur Identifikation zentraler
Gemeinsames Musizieren. Affektive Einflüsse im deutsch-polnischen Kontext
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Mediatoren würde der Gefahr entgegen wirken, dass die Untersuchung mediierender Variablen ihren praktischen Nutzen für die Gestaltung von Intergruppenkontakten verliert. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der größtenteils angewandten Methodik von Ex-post-facto- und Querschnittstudien zur Untersuchung von Intergruppenkontakt und vermittelnden Variablen. Auch wenn Intergruppenkontakt in den meisten Studien mit verminderten Vorurteilen assoziiert waren (Pettigrew und Tropp analysierten 515 Studien, von denen 94 % eine negative Beziehung zwischen Intergruppenkontakt und Vorurteilen zeigten), so ist die kausale Richtung nicht eindeutig zu determinieren. Beide kausale Richtungen sind denkbar und wahrscheinlich: Intergruppenkontakt kann Vorurteile vermindern, wohingegen geringere Vorurteile zu einer größeren Kontaktbereitschaft und einer höheren Kontaktqualität mit der Fremdgruppe führen können. Die Kontakt-Mediatoren-Vorurteils-Beziehung sollte daher als ein „reciprocal, ongoing process, rather than an unidirectional one”20 verstanden werden. Mit Hilfe von statistischen Verfahren wie Strukturgleichungsmodellen konnte zwar gezeigt werden, dass der Pfad zwischen Kontakt und Vorurteilsreduktion stärker ist als der umgekehrte Pfad21. Dennoch sind grundsätzlich Längsschnittuntersuchungen sowie experimentelle bzw. zumindest quasiexperimentelle Untersuchungen nötig, um stärkere Evidenzen über die kausalen Zusammenhänge zwischen Intergruppenkontakt, Mediatoren und Einstellungsverbesserung zu sammeln. Die vorliegende Arbeit zielte unter anderem auf diese angesprochenen Problematiken ab. Zunächst sollten zentrale Mediatoren theoriegeleitet identifiziert werden. Die Effekte von Kontakt auf Vorurteile sowie mögliche Mediatoren sollten ferner anhand einer konkreten Kontaktsituation getestet werden. Ein weiteres Ziel bestand zudem in der Untersuchung langfristiger Effekte mithilfe eines Längsschnittdesigns. Angestrebt wurde außerdem, primär die Bedeutung affektiver Mediatoren22 zu untermauern. Als Ausgangspunkt zur Bestimmung wichtiger Variablen, die zwischen Kontakt und Vorurteilsreduktion mediieren, bildet die Definition von Vorurteilen. Vorurteile können als Einstellungen gegenüber einer oder mehrerer Fremdgruppen definiert werden (nachfolgend wird daher vorwiegend der Begriff Fremdgruppeneinstellung bzw. fremdgruppenbezogene Einstellungen verwendet), wobei diese Einstellungen in der Regel negativ sind. Fremdgruppenbezogene Einstellungen sind globale Evaluationen einer Fremdgruppe auf Dimensionen wie positiv vs. negativ, gut vs. schlecht oder angenehm vs. unangenehm. Diese allgemeinen Bewertungen basieren auf Informationen über Affekte und Kognitionen.23 Mit Affekten sind hauptsächlich erlebte Emotionen gegenüber der Fremdgruppe gemeint. Kognitionen betreffen in erster Linie Stereotype (Überzeugungen, durch welche typischen Eigenschaften die Fremdgruppe gekennzeichnet ist) und Symbolische Überzeugungen (Überzeugungen, inwieweit die
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Fremdgruppe bestimmte für die Eigengruppe wichtige Normen, Werte und Traditionen unterstützt oder verletzt24). Wenn Fremdgruppeneinstellungen auf Affekten und Kognitionen basieren, lässt sich aus dieser Konzeption ableiten, dass diese Variablen eine entscheidende Rolle bei der Veränderung von Fremdgruppeneinstellungen, z. B. durch Kontakt spielen. In der vorliegenden Arbeit wurden daher Emotionen und Stereotype sowie Symbolische Überzeugungen als zentrale Mediatoren untersucht. Es ergaben sich folgende Fragestellungen: 1. Verbessert sich die Einstellung gegenüber der Fremdgruppe durch positiven Intergruppenkontakt? 2. Bleibt diese Einstellungsänderung stabil? 3. Vermitteln Emotionen, Stereotype und symbolische Überzeugungen zwischen positivem Intergruppenkontakt und der Einstellung zur Fremdgruppe?
3.
Methodisches Vorgehen
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden deutsch-polnische Musikbegegnungen als Kontaktsituation untersucht. Unter Musikbegegnungen sind mehrtägige von Musikschulen organisierte Treffen deutscher und polnischer Musikensembles (Orchester, Big Bands, Chöre etc.) zu verstehen, mit dem Ziel gemeinsamer Proben und mindestens eines gemeinsamen Konzerts. Die untersuchten Musikbegegnungen waren zusätzlich durch gemeinsame Mahlzeiten und Freizeitaktivitäten gekennzeichnet. Diese Kontaktsituationen wurden aus verschiedenen Gründen ausgewählt. Es sind reale Kontaktsituationen außerhalb des Experimentallabors oder theoriegeleitet entwickelter Interventionen, die dennoch den von Allport25 (1954) geforderten Kontaktkriterien genügen. So werden innerhalb dieser Begegnungen gemeinsame Ziele, wie beispielsweise ein Abschlusskonzert, verfolgt. Das gemeinsame Musizieren in einem Ensemble erfordert grundsätzlich Kooperation. Ferner ist davon auszugehen, dass zwischen den Gruppen innerhalb des Kontakts keine Statusunterschiede bestehen. Schließlich werden diese Begegnungen institutionell (beispielsweise durch die EU, das Deutsch-Polnische Jugendwerk etc.) unterstützt. Überdies stellt das gemeinsame Musizieren eine affektiv bedeutsame Situation dar, die geeignet ist, vor allem die Wichtigkeit von Emotionen bei der Veränderung von Fremdgruppeneinstellungen aufzuzeigen. Die Musikbegegnungen zwischen deutschen und polnischen Ensembles haben außerdem den Vorteil, dass die Teilnehmer sich in der Regel nicht alle gesondert, d. h. aus einer besonderen Motivation heraus dazu anmelden. Es ist wahrscheinlich, dass
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auch Musiker an diesen Begegnungen teilnehmen, die vor allem ein musikalisches Interesse, aber nicht zwangsläufig ein Interesse an deutsch-polnischen oder interkulturellen Begegnungen allgemein haben. Dies kann zumindest teilweise das potentielle Argument entkräften, dass nur Personen an Intergruppenkontakt partizipieren, die von vornherein positiv eingestellt und keine oder wenig Vorurteile gegen die Fremdgruppe haben. Die Studie war als Untersuchung mit Prä- (Zeitpunkt 1), Post- (Zeitpunkt 2) und Follow-Up-Messung (Zeitpunkt 3) gestaltet. Die deutschen Teilnehmer der Musikbegegnungen erhielten jeweils etwa eine Woche vor dem Kontakt, direkt nach dem Kontakt und erneut vier Wochen später einen Fragebogen. Insgesamt haben 80 Personen zu allen drei Zeitpunkten an der Untersuchung teilgenommen. Davon waren 54 weiblich. Das Durchschnittsalter lag bei 23,29 Jahren, wobei die Alterspanne von 12 bis 75 Jahren sehr breit war. Mehr als 70 % der Befragten waren jedoch nicht älter als 20 Jahre. In den erfassten Variablen waren keine Alters- und Geschlechtsunterschiede festzustellen. Zu allen Zeitpunkten wurden die Befragungsteilnehmer zunächst zu ihrer Einstellung befragt. Sie wurden gebeten, die polnische Fremdgruppe auf einer zehnstufigen bipolaren Skala mit den beiden Endpunkten „sehr negativ“ und „sehr positiv“ einzuschätzen. Die Werte konnten zwischen -5 und +5 variieren. Die Mittelwerte für alle drei Befragungszeitpunkte liegen bei M1 = 2,15; M2 = 2,91 und M3 = 2,78. Bei der Post-Messung wurden die Untersuchungsteilnehmer außerdem zu Emotionen, Stereotypen und Symbolischen Überzeugungen sowie zur Kontaktqualität innerhalb der konkreten Kontaktsituation befragt. Emotionen wurden mithilfe einer zehnstufigen unipolaren Skala mit den Endpunkten „fast nie“ und „fast immer“ erfasst. Die Teilnehmer wurden gebeten einzuschätzen, wie häufig sie verschiedene Emotionen während der Musikbegegnung empfunden haben. Hierzu wurde ihnen eine Liste mit sieben positiven Emotionsbegriffen (z. B. Sehnsucht, Begeisterung, Überraschung; M = 5,67; α = .80) und 5 negativen Emotionsbegriffen (z. B. Angst, Ärger, Misstrauen; M = 2,48; α = .75) vorgelegt. Die Werte können zwischen 1 und 10 variieren. Hohe Werte drücken hierbei eine hohe Frequenz der betreffenden Emotionen aus. Stereotype wurden mithilfe zweier Skalen erfasst. Zunächst sollten die Befragungsteilnehmer die Valenz von 15 Eigenschaften (z. B. intelligent, betrügerisch, gesellig) auf einer zehnstufigen bipolaren Skala mit den Endpunkten „sehr negativ“ und „sehr positiv“ bewerten. Anschließend sollte eingeschätzt werden, wie viele Polen nach Ansicht der Befragten die jeweilige Eigenschaft besitzen. Hierzu wurde eine zehnstufige Prozentskala von „0-10 %“ bis „91-100 %“ verwendet. Beide Skalen wurden anschließend multiplikativ zusammengefasst, indem die Valenz jeder Eigenschaft mit ihrer Häufigkeit multipliziert wurde. Die Produkte sind gemittelt worden (M = 14,76; α = .76). Die Werte können zwi-
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schen -50 und +50 variieren. Positive Werte drücken eine Assoziation der polnischen Fremdgruppe mit eher positiven Eigenschaften aus. Symbolische Überzeugungen sind anhand von acht als Aussagen formulierte Items (z. B. „Die meisten Polen bewerten Freundschaften nicht so hoch wie die meisten Deutschen“, wobei vier negativ und vier positiv formuliert waren) erfasst worden. Die Befragungsteilnehmer wurden gebeten, auf einer zehnstufigen unipolaren Skala mit den Endpunkten „stimme überhaupt nicht zu“ und „stimme vollkommen zu“ ihre Zustimmung zu den jeweiligen Aussagen anzugeben. Die vier negativen Items wurden invers kodiert, alle acht Items wurden zu einer Gesamtskala zusammengefasst (M = 7,45; α = .70). Ein hoher Mittelwert drückt positive Überzeugungen über die Fremdgruppe aus. Acht Items erfragten die Kontaktqualität. Auf einer zehnstufigen unipolaren Skala sollten die Teilnehmer einschätzen, wie kooperativ, freundlich, angespannt, vertrauensvoll, frustrierend, oberflächlich, angenehm und positiv sie den Kontakt zur polnischen Fremdgruppe wahrgenommen haben. Die Endpunkte waren beispielsweise „sehr kooperativ“ und „überhaupt nicht kooperativ“. Die positiven Begriffe wurden invers kodiert, so dass hohe Werte eine hohe Kontaktqualität indizieren (M = 7,79; α = .88).
4.
Ergebnisse
Zunächst wurde geprüft, inwieweit sich die Einstellung gegenüber der polnischen Fremdgruppe durch den Kontakt verändert hat (siehe Graphik. 1). Hierzu wurde der Mittelwert der Einstellung von Zeitpunkt 1 (M = 2,15) mit dem Mittelwert der Einstellung von Zeitpunkt 2 (M = 2,91) mittels eines T-Tests verglichen. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Einstellung nach dem gemeinsamen Musizieren signifikant verbessert hat (d = -0,46; t = -5,241; p < .05), wobei der Effekt mit d = -0,46 nach Cohen (1988) als klein zu bewerten ist. Ferner war zu prüfen, ob die Einstellungsverbesserung auch vier Wochen später stabil blieb (siehe Abb. 1). Mithilfe eines weiteren T-Tests wurde daher der Mittelwert der Einstellung zum Zeitpunkt 1 (M = 2,15) mit dem Mittelwert der Einstellung zum Zeitpunkt 3 (M = 2,78) verglichen. Auch hier zeigte sich ein signifikanter Unterschied (d = -0,40; t = -3,882; p < .05). Die Einstellung gegenüber der polnischen Fremdgruppe war demnach auch vier Wochen nach dem Kontakt positiver als vor der Kontaktsituation.
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Diagramm 1: Mittelwerte der Einstellung gegenüber Polen für alle drei Befragungszeitpunkte
Weiteres Ziel der Studie war die Untersuchung von Variablen, die zwischen Intergruppenkontakt und der Einstellungsänderung sowohl zu Zeitpunkt 2 als auch zu Zeitpunkt 3 vermitteln. Dafür wurden mehrere hierarchische Regressionen berechnet. Zunächst wurden die direkten Effekte der Kontaktqualität auf die Einstellung für beide Zeitpunkte mittels jeweils einer einfachen Regression berechnet. Anschließend wurden die postulierten Mediatoren „positive und negative Emotionen gegenüber der Fremdgruppe“ , „Stereotype“ sowie „symbolische Überzeugungen“ in die Regressionsrechnung schrittweise eingeführt. Mediationseffekte liegen dann vor, wenn die unabhängige Variable (in diesem Fall die Kontaktqualität) signifikant mit den Mediatorvariablen korreliert, die Mediatorvariablen signifikant das Kriterium (in diesem Fall die Fremdgruppeneinstellung) vorhersagen und eine vormals signifikante Korrelation zwischen unabhängiger Variable und Kriterium nach Einführung der Mediatoren nicht mehr signifikant ist. Wird diese Korrelation lediglich verringert und bleibt aber signifikant, spricht man von partieller Mediation. Die Ergebnisse der Regressionsrechnungen unterstützen grundsätzlich die Annahme, dass affektive und kognitive Variablen die Beziehung zwischen Intergruppenkontakt und der Einstellung zur Fremdgruppe vermitteln. Die Kontaktqualität allein klärte 26,3 % der Varianz der Einstellung zum Zeitpunkt 2 auf. Zusammen mit den Mediatoren wurden bereits 49,1 % der Varianz aufgeklärt. Der Zusammenhang zwischen der Kontaktqualität und der Einstellung zum Zeitpunkt 2 verringerte sich durch die Hinzunahme der Mediatoren (von ß =
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.52, p < .01 auf ß = .22, p < .05), blieb aber weiterhin signifikant, so dass von einer partiellen Mediation auszugehen ist. Betrachtet man die Beta-Gewichte (standardisierte Regressionskoeffizienten) der Mediatorvariablen, so fällt auf, dass nur positive (ß = .324; p < .01) und negative Emotionen (ß = -.427; p < .01) einen signifikanten Beitrag zur Erklärung der Fremdgruppeneinstellung zum Zeitpunkt 2 leisteten. Darüber hinaus zeigten Stereotype (ß = .15, p > .05) und Symbolische Überzeugungen (ß = .07, p > .05) keinen Zusammenhang zur Einstellung. Die Einstellung gegenüber der polnischen Fremdgruppe direkt nach dem Kontakt scheint demnach vor allem auf emotionalen Erfahrungen während des gemeinsamen Musizierens zu basieren. Anders sehen die Ergebnisse für die Einstellung vier Wochen nach dem Kontakt aus. Auch hier klärte die Kontaktqualität allein immer noch 23,5 % der Varianz der Einstellung zum Zeitpunkt 3 auf. Die Einführung der Mediatoren in die Regressionsrechnung führte wiederum zu einem Anstieg der Varianzaufklärung auf 41,7 %. Der direkte Effekt der Kontaktqualität verringerte sich durch Hinzunahme der Mediatoren (von ß = .45, p < .01 auf ß = .26, p < .05), blieb aber weiterhin signifikant, so dass auch hier eine partielle Mediation vorliegt. Die Bedeutung der einzelnen Mediatoren war für die Vorhersage der Einstellung gegenüber Polen zum Zeitpunkt 3 allerdings verändert. Positive Emotionen wiesen keinen signifikanten Zusammenhang mit der Einstellung auf (ß = .15, p > .05). Negative Emotionen blieben zwar ein signifikanter Prädiktor (ß = -.224; p