Lichtenberg [Reprint 2019 ed.] 9783110818734, 9783110002621


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German Pages 501 [560] Year 1968

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Inhalt
Vorwort
Motto
Lichtenberg Bildnis seines Geistes
Lichtenberg. Geschichte seines Geistes
I. KAPITEL: Keime und Entwicklung
II. KAPITEL: Entfaltung, Krise, Klärung
III. KAPITEL: Prägung im Kampf
IV. KAPITEL: Wesen und Zeit (1774)
V. KAPITEL: Befreiung
VI. KAPITEL: Ruhm und Reife
VII. KAPITEL: Verfall und Vollendung
Schriftenverzeichnis
Personen- und Titelverzeichnis
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Lichtenberg [Reprint 2019 ed.]
 9783110818734, 9783110002621

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Franz H. Mautner / Lichtenberg

Staatsbibliothek Berlin • Bildarchiv ( H a n d k e )

Lichtenberg Geschichte seines Geistes von

Franz H. Mautner

Walter de Gruyter & Co Berlin 1968

© A r c h i v - N r . 43 52 68/1 Copyright 1968 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — K a r l J. Trübner — Veit Sc Comp. — P r i n t e d in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten, Satz und Druck: T h o r m a n n 6c Goetsch, Berlin

Inhalt Vorwort

IX

Motto

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Lichtenberg. Bildnis seines Geistes

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Lichtenberg. Geschichte seines Geistes

1

I. Kapitel: Keime und Entwicklung

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I. Das K i n d I I . Der Gymnasiast I I I . Der Student 1. Wesenszüge: Die ersten Notizhefte a) Die Themen 10; b) Die Denkweise 15; c) D e n k f o r m und Geistesgeschichte 21; d) Die Hefte „2" und „3": Keime zur Schriftstellerei 25 2. Die ersten Arbeiten „Von den Charakteren in der Geschichte" „Vom Nutzen der Mathematik" 31

26 26;

IV. Sternwarte-Assistent und T u t o r . Geburt des Aphorismus 1. Alltag und Beruf. Selbst-Schau 2. Die Notizhefte 4 und 5. Denken und Schriftstellerei. Geburt des Aphorismus 3. E n t w ü r f e und Fragmente

II. Kapitel: Entfaltung, Krise, Klärung I. II. III. IV. V.

Erster Weltblick: England Wieder in Göttingen (1770—1771). Professor Extraordinarius . . . . Reisen nach H a n n o v e r und Osnabrück (1771—1773) Stade (1773) Göttingen 1773—1774: Wissenschaft

III. Kapitel: Prägung im Kampf I. Grundsätzliches, bezogen auf Lichtenbergs Gegenwart I I . Gedanken zur Sprache. Übungen zur Schriftstellerei I I I . Methodik des Geistes

IV. Kapitel: Wesen und Zeit (1774) I. Bildung I I . Themen. Denkformen. Denkinhalte I I I . Existenzgrund und Kampfstellung

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Inhalt

V. Kapitel: Befreiung I. II. III. IV. V.

Das Leben in England England als Vorbild Deutschland als Gegenbild Sprachform als Lebensform Die Briefe über Garrick und das englische Theater

VI. Kapitel: Ruhm und Reife

128 128 137 142 149 154

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E R S T E R T E I L : 1775—1779 I. Lebenslauf und Alltag I I . Naturwissenschaft. Die Lichtenbergischen Figuren. Beziehung zu Lichtenbergs Denkprinzipien I I I . Satire und Polemik IV. Physiognomik, Antiphysiognomik, Pathognomik 1. Lichtenberg als Physiognomiker 2. Lavater „Von der Physiognomik" 3. Lavaters „Physiognomische Fragmente" 4. Lichtenberg „Über Physiognomik" 5. Exkurs: „Über Physiognomik" in der Geschichte der Ausdrucksforschung 6. Die 2. Auflage der Antiphysiognomik 7. Der IV. Band der Lavaterschen Fragmente. Mendelssohns und Lichtenbergs Antworten 8. Das „Fragment von Schwänzen" V. Der Göttinger Taschenkalender (I). Vorgeschichte. Eigenart 1. Die Leitaufsätze 2. Die kleinen Beiträge 3. Bilderklärungen V I . Lichtenbergs Weltbild nach England Beattie, Hartley und die Folgen Der Mensch als Mensch Ethik. Religion Sprache und Erkenntnis. Als-Ob V I I . Sprachkunst und Aphorismus V I I I . „Mit-Scham". Autobiographie. Persönlichkeit

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Z W E I T E R T E I L : 1779—1784 I. Lebenslauf und Alltag II. Das Göttingische Magazin 1. Absicht. Eigenart 2. Lichtenbergs größere Artikel Literaturkritik. Sprachphysiognomik: „Orbis Pictus"

240 251 251 253 253

Esprit de finesse und Esprit géométrique: Die Polemik mit Voß . . 258 Das Verdämmern der Aufklärung. Kulturkritik: „Antwort auf das Sendschreiben eines Ungenannten" 264 Das große Jahrhundert: „Vermischte Gedanken über die aerostatischen Maschinen 268

Inhalt 3. Lichtenbergs kleinere Beiträge 4. Geschichte des Magazins. Ausklang I I I . Die Kalenderaufsätze (II) Das Weltgebäude. N a t u r . Der Mensch Wust Bilderklärungen

VII 271 275 277 277 282 284

D R I T T E R T E I L : 1784—1790 I. Alltag u n d Beruf. Zersetzung des Lebens I I . Die Kalenderaufsätze (III) Herschel. Das neue Weltbild. Wissen? Die nicht-astronomischen Aufsätze I I I . Annahmen und Prinzipien der Naturwissenschaft D e r W e g zu K a n t I V . Religion. Spinoza. Common sense V. H o g a r t h (I): Die Kalender-Kommentare V I . Notizen aus G und H . Blüte des Aphorismus Der Blick ins Ich. Elend und Größe der Sprache. Innen und Außen. Ausblick auf die Welt

VII. Kapitel: Verfall und Vollendung I. Q u a l des Alltags. Beruf. Schuld und Kampf (1790—1798) I I . Naturwissenschaft I I I . Die Kalenderaufsätze ( I V ) : Philosophie und Belletristik Das Glaubensbekenntnis: „Amintors Morgenandacht" N a t u r , Analyse, Geheimnis: „Ein Traum" Nutzen und Vergnügen: See- u n d Luftbäder Soziale und gesellschaftliche Satire: Kriegsschulen und Damenanzüge Abschied vom 18. J a h r h u n d e r t : Die „Rede der Ziffer 8" „Ein Traum wie viele Träume" Charakteristische Kleinigkeiten IV. H o g a r t h (II): Die „ A u s f ü h r l i c h e Erklärung" V. Literarische Pläne und E n t w ü r f e . „Kopernikus". Gedanken über literarische Gegenstände V I . Erkenntnis. Sprache und Sein. K a n t V I I . Gott. Religion V I I I . Der Mensch: Psychologie und Anthropologie I X . Die französische Revolution. Staat u n d Mensch X . Das Ende: 1798—1799

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Schriftenverzeichnis

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Personen- und Titelverzeichnis

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Vorwort Dieses Buch hat sich drei Hauptaufgaben gestellt: erstens, den Leser mit dem ganzen Lichtenberg vertraut zu machen, nicht bloß dem Aphoristiker — wobei „ganz" nicht quantitativ gemeint ist — um Lichtenberg wirklich verständlich zu machen; zweitens, dies in der Form einer Geschichte seines Geistes zu tun; drittens, diesen beiden Aufgaben untergeordnet, aus der Distanz des durch Jahrhunderte getrennten demütigen Außenseiters einen Ersatz zu bieten für das Werk, das nach Lichtenbergs Wunsch „der bösen Welt wegen" erst nach seinem Tode herauskommen sollte, nämlich „eine Geschichte meines Geistes sowohl als elenden Körpers". So will es zur umfassenden Darstellung dieses Geistes — seiner Art, seiner Probleme und seiner Struktur — werden und des Lebens Lichtenbergs, soweit es für das Verständnis seines Geistes relevant ist. Lichtenberg machte die Abhängigkeit seines Denkens und Schaffens vom wechselnden Zustand seines Körpers und den Einwirkungen der ihn umgebenden Welt zu einem Teil seiner Selbstdarstellung. Sie findet auch in unserem Bericht ihren Platz. Die deutsche essayistische und wissenschaftliche Literatur über Lichtenberg hat sich fast nur mit den Gedankenbüchern befaßt, höchstens noch flüchtig mit den Hogarth-Kommentaren, mit drei oder vier Aufsätzen und einer oder der anderen der Streitschriften; durchaus mit Recht vom Standpunkt der Wirksamkeit Lichtenbergs im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Sollten aber wirklich die „Aphorismen" so völlig separierbar sein von der Menge alles anderen, was dieser unaufhörlich denkende und schreibende Professor der Naturlehre und Beobachter der Welt und seiner selbst sonst noch niederschrieb, publizierte und lehrte? Sollte wirklich all die in den „Sudelbüchern" sichtbare Schärfe des Denkens, Weisheit, philosophische Tiefe, Klugheit und Grazie nicht kennenswert sein, wo sie sich zu keiner den heutigen Geschmack befriedigenden literarischen Gestalt geformt hat oder zufällig unbekannt geblieben ist? Ferner: Oft ermöglicht nur die Kenntnis der andern Schriften das Verständnis des einzelnen „Aphorismus". Wer, wie der Verfasser, die Anerkennung und das Studium des Aphorismus als literarischer Gattung im Deutschen eingeleitet hat, wird nicht in den Verdacht fallen, ihre Eigenart und Eigenständigkeit zu verkennen; dieses Wissen von ihrem Wesen bedeutet aber nicht, daß wir meinen, Lichtenberg könne aus den „Aphorismen" allein völlig verstanden werden, und

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Vorwort

jeder aufgezeichnete Gedanke und Einfall aus sich selbst heraus ohne Kenntnis der Absichten, denen viele von ihnen dienen, und der wissenschaftlichen oder gedanklichen Probleme Lichtenbergs, zu deren Lösung sie beitragen sollten. Keineswegs kommt deshalb die ästhetische Würdigung zu kurz; sie ist im Gegenteil nicht nur in einzelnen Abschnitten zusammengefaßt, sondern sehr oft als Stilbetrachtung an Ort und Stelle mit der Erörterung des Gedanklichen vereint und von ihr durchdrungen. Daß das von der Forschung meist vernachlässigte Tagewerk Lichtenbergs, die Naturwissenschaften, einer der zwei Pole seines Denkens, ausführlich zur Sprache kommen mußte, versteht sich von selbst. Ihnen gelten unerkannt eine große Zahl seiner anscheinend rein philosophischen Aphorismen. Zweitens: In allen, auch den besten, Arbeiten über Lichtenberg werden seine Gedanken ohne Rücksicht auf ihre Chronologie behandelt, die Äußerungen des Fünfundzwanzigjährigen mit Selbstverständlichkeit neben denen des Fünfzigers, und so wird, trotz aller wichtigen Erkenntnisse, der sein Leben durchziehende, für die Entstehung und das Wesen seines „Gedankensystems" entscheidende dialektische Prozeß zunichte. Es ist ohne ernsthafte Prüfung behauptet worden, Lichtenbergs Denken weise keine „Entwicklung" auf. Dies wäre bei einem Mann von seiner geistigen Beweglichkeit und Intensität von vornherein erstaunlich. Außerdem: wenn Lichtenberg an einer Geschichte seines Geistes schrieb, so wußte er doch wohl, daß es eine gab. Jene Behauptung beruht offenbar auf der Tatsache, daß manche Gedanken schon seit seiner Jugend immer wieder in seinen Schriften auftaudien, eine Tatsache, der zum Teil unser einleitender Essay „Bildnis seines Geistes" gewidmet ist. Es sind aber die Variationen dieser Gedanken im Kampf mit andern, ihr Sieg und ihre Niederlage, ihr argumentierendes Verhältnis zueinander und zu seinem äußeren Leben, was die unaufhörliche Bewegtheit Lichtenbergschen Denkens ausmacht. Dem Wandel oder der Stetigkeit der Gedanken Lichtenbergs über gewisse Gegenstände geht also unsere Geschichte seines Geistes nicht um seiner Meinungen willen nach — weder, um auf deren Stetigkeit hinzuweisen, noch um kopfschüttelnd ihre Widersprüche festzustellen, sondern um im Erzählen dessen, was sich in diesem Geist abspielte, seine Dynamik und seine lebendigen Zusammenhänge darzustellen. Was zunächst wie ein Einerseits—Andrerseits erscheint, erweist so allmählich seinen Sinn als ein Sowohl—Als-auch, als coincidentia oppositorum, und verkörpert die alle Möglichkeiten erkundende und zu Ende denkende Umsicht des Geistes, der sich keinem starren System fügen will, weil er in ihm den Tod des freien Gedankens sieht. Die zahlreichen Rück- und Vorverweisungen in den Anmerkungen sollen es dem Leser erleichtern, den Ablauf dieser Gedankengänge in ihrem Hin und Her zu verfolgen. Methodisch war unser Forschen und Darstellen beherrscht von dem Bemühen, alle „Teilerkenntnisse" als tatsächlich aus einer Gesamterkenntnis unlös-

Vorwort

XI

bare Teile zu verstehen, u n d v o n der Überzeugung, Lichtenberg in seinem inneren Zusammenhang zu verstehen, sei eine dringlichere Aufgabe, als ihn v o n außen her zu erklären. — M u ß ausdrücklich gesagt werden, d a ß hier nicht um der Uberzeugungskraft gewisser Thesen willen ihnen widersprechende Ä u ß e r u n gen verschwiegen wurden? Vielen gebührt anläßlich des Abschlusses dieses Buches unser D a n k . Vor allem: der J o h n Simon Guggenheim Memorial Foundation f ü r die Verleihung einer Fellowship; dem Präsidenten u n d dem Board of Managers des S w a r t h m o r e College f ü r die G e w ä h r u n g eines Forschungsurlaubs; den H e r r e n Professoren K u r t Schreinert in Göttingen u n d P a u l Stöcklein sowie H e r r n D r . Siegfried Sudhof in F r a n k f u r t f ü r bibliographische Nachweise; den Professoren der P h y sik M a r k u s Fierz a n der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, Franklin Miller am H o b a r t College in Geneva, N e w Y o r k u n d Olexa M. Bilaniuk am S w a r t h m o r e College, Swarthmore, Pennsylvania f ü r Auskünfte in Fragen ihres Fachs; dem Leiter der Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- u n d Universitätsbibliothek Göttingen, H e r r n Bibliotheksrat D r . Klaus Haenel, u n d dem V o r s t a n d des Reference D e p a r t m e n t der S w a r t h m o r e College Library, Mr. H o w a r d Williams, f ü r nie aussetzende Hilfsbereitschaft; und dem Verleger u n d Dozenten an der Buchhändlerschule F r a n k f u r t a . M . , H e r r n L o t h a r Stiehm, f ü r sein Interesse an dem W e r k u n d fachmännische Beratung. In ganz besonderem M a ß e haben sich u m das Buch verdient gemacht Mrs. B a r b a r a Schmitt, Boulder, C o l o r a d o durch die v o n kundiger Liebe f ü r Lichtenberg befeuerte Hingabe, mit der sie die Herstellung einer vorläufigen Fassung des Manuskripts betreute, u n d meine G a t t i n H e d w i g Mautner durch seine mühsame Vorbereitung f ü r den Druck u n d vor allem durch die Geduld, mit der sie die vielfachen O p f e r auf sich nahm, die die J a h r e der Arbeit an diesem Buch f ü r sie bedeuteten. F. H . M. Grimentz, Wallis, August 1967

Ida habe schon lange an einer Geschichte meines Geistes sowohl als elenden Körpers geschrieben, und das mit einer Aufrichtigkeit, die vielleicht manchem eine Art von Mitscham erwecken [wird], sie soll mit größerer Aufrichtigkeit erzählt [werden] als vielleicht irgend einer meiner Leser glauben wird . . . Nach meinem Tod wird es der bösen Welt wegen erst herauskommen. Georg Christoph Lichtenberg

Wichtig zu Aphorismus: Wer sagt das? Ein Mensch, nicht bloß der Autor! Also: der Autor als Mensch. Ist der Aphorismus Teil eines Ich-Romans? Robert Musil

Lichtenberg Bildnis seines Geistes

Befragt, was vor allem Lichtenbergs Schriften kennzeichne und reizvoll mache, hätte man wohl zu antworten: Schärfstes und dabei tiefstes Denken, vereint mit heiterer Anmut. In diesem Neben- und Miteinander kommt ihm kein deutscher Schriftsteller gleich. U n d Sorge um echte Existenz p a a r t sich in ihm mit der Verspieltheit des Kindes und der ernsthaften Gebärde des Schalks. Was waren die Gegenstände seines Denkens? Die zwei Welten, die f ü r Lichtenberg „wirklich" waren, das Ich und das Weltgebäude, konfrontiert er mit zwei andern, die ihm nur scheiinhaft sind; ihre Macht aber bezeichnet er durch die Namen, die er für sie geprägt h a t : die „Wörter-Welt" und „das ganze Zeitungs-All". Diese Bezeichnungen, ohne jeden weiteren Zusatz, sind je eine Eintragung, je ein Aphorismus in Lichtenbergs Notizheften. Sein Forschungsdrang galt der Welt der Dinge und der Menschen; sein Mißtrauen der Welt der Worte — die er liebte — und sein Spott der Welt der Journale — die er haßte. Das Ich und das Weltgebäude sind im Denken und Bewußtsein des späteren Lichtenberg nicht voneinander trennbar. Jedes der beiden bedingt und erklärt ihm das andere: Der Wörter-Welt, trotz aller ihrer Scheinhaftigkeit, bedürfen wir als Menschen; das Zeitungs-All, im weitesten Sinn, gehört verdammt — vom Geist, vom Herzen und vom moralischen Urteil. Auch war er ein Beobachter, dessen Blick das Subtilste entdeckt, in den Dingen ebensowohl wie im Seelischen, und dann wieder hinausschweift über weithin sich erstreckende Perspektiven in der Geschichte des Weltgebäudes und des Menschengeschlechts. Als Lichtenberg starb, zehn Monate vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 56 Jahre alt, da waren manche dieser Aspekte seines Wesens noch kaum sichtbar, andre wieder, von denen man wußte, sind heute vergessen. Im maßgebenden biographischen Lexikon der kürzlich Verstorbenen, in Schlichtegrolls Nekrolog der Deutschen, wurde er gepriesen als „ein berühmter Lehrer auf einer berühmten Universität" und als „einer unserer witzigsten Schriftsteller und geschmackvollsten Gelehrten, als einer der glücklichsten Kämpfer gegen jede Torheit." Sein Ruf war also zweifacher A r t : Der Gelehrte hatte sich ihn erworben als der in „seiner Hauptwissenschaft, der Physik" angesehenste Professor der a»

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Lichtenberg

Naturlehre, Astronomie und Mathematik im Deutschland seiner Zeit, als Inhaber der in jedem Sinn ersten deutschen Lehrkanzel für Experimentalphysik, als Entdecker der aufsehenerregenden Lichtenbergschen Staubfiguren, von denen man hoffte, sie würden das Verständnis der Elektrizität erschließen, und als der kenntnisreichste, anregendste und dabei methodisch sorgfältigste, kurz als der beste Physiklehrer an deutschen Universitäten. Der Belletrist, oft vom Gelehrten kaum zu trennen, war nicht der Lichtenberg, mit dem wir vertraut sind: Zwei Jahrzehnte hindurch, bis zu seinem Tode, war er bekannt als Verfasser fast aller Beiträge in seinem Göttinger Taschenkalender, einem vor allem für die Damenwelt bestimmten winzigen Büchlein mit Kupferstichen; von 1780 bis 1785 als Hauptherausgeber und Mitarbeiter des Göttingischen Magazins der Wissenschaften und Literatur, eines Journals für Akademiker und gebildete Laien; als Autor der Buchausgabe eines sensationellen Kalenderaufsatzes „Über die Physiognomik, wider die Pbysiognomen" (1778) und des seit 1794 auf Subskription erscheinenden Geschenkwerkes „Ausführliche Erklärung der Hogarthiscben Kupferstiche". Drei kleine halb polemisch, halb satirische Schriften aus den Jahren 1773 und 1776 waren kaum hinausgedrungen über die Kreise der Theologen und Literaten. Weitverbreitete Aufregung aber riefen unter ihnen und den Gelehrten 1781 und 1782 zwei lange, erbarmungslos-witzige Streitschriften in seinem Göttingischen Magazin gegen Rektor Johann Heinrich Voß hervor, den Übersetzer Homers. Der Nekrolog verschwieg, daß der Ausbreitung von Lichtenbergs Ruhm als Naturforscher in den letzten Jahren seines Lebens dadurch eine Ende gesetzt schien, daß er sich allzulange der neuen Theorie der völligen Ersetzung des „Phlogiston" durch Sauerstoff widersetzt hatte. Und neben Jean Paul anerkannt als der geistvollste humoristische und satirische Schriftsteller der Nation, schien er vielen doch den Anschluß an die wahrhaft bedeutende moderne Literatur versäumt zu haben, an die deutsche Klassik und ihren Wirkungskreis. Er war ein Außenseiter geworden. Angesichts der Klassik, angesichts des Aufstiegs der Romantik, angesichts Jean Pauls verblaßte der Glanz seiner Schriften und sie wären wohl allmählich von allen außer den Literarhistorikern vergessen worden, hätte sich nicht etwas Unerwartetes ereignet: Kurz nach Lichtenbergs Tod kündigte Dieterich, sein Freund und Verleger, eine Ausgabe gewisser Teile seines Nachlasses an, „teils physikalischen, teils vermischten Inhalts." Sie bestünden „meistens aus kurzen Sätzen, einzelnen Gedanken und Bemerkungen, witzigen Einfällen, neuen Ansichten, Fragen . . ., aus denen man . . . seine Art, die Dinge anzusehen . . . , seinen Geist erkennen kann." Wenngleich einer dieser Teile „nur Bruchstücke" enthalte, so seien „diese doch von der Art, daß sie so manchen beliebten Mémoires, Pensées, und Réflexions an die Seite gesetzt zu werden verdienen, und daß der andere für die Freunde der Physik nicht weniger interessant" sein werde, bedürfe wohl keiner Versicherung.

Bildnis Was Lichtenbergs Ruhm im neunzehnten Jahrhundert neu begründen sollte, waren eben diese „Bruchstücke", von ihm selbst „Schmier-", „Waste-", „Sudel-" oder „Gedankenbücher" genannt. 1801 in enger Auswahl und willkürlicher Anordnung publiziert, als die ersten zwei von neun Bänden Vermischter Schriften, mußten sie die Bewunderung der Besten unter denen bestärken, die Lichtenbergs Größe schon erkannt hatten, als die Gedankenbücher noch sein Geheimnis waren, wie Kant, Goethe, Jean Paul, Schleiermacher und Alexander von Humboldt. Aber er war nur mehr der Autor f ü r eine Elite. Erst in unserem Jahrhundert, als Nietzsches Wort zu wirken begann, Lichtenbergs Aphorismen seien eines der drei deutschen Prosawerke, die allein außer Goethes Schriften es verdienten, „wieder und wieder gelesen zu werden", wuchs ihre Anziehungskraft, und seit dem Ende des letzten Krieges in erstaunlichem Tempo. D a ß die meisten jener Sudelbuch-Einträge, die um 1900 noch in Lichtenbergs Handschrift existierten, von Leitzmann in authentischer Form und Reihenfolge gedruckt, seit 1908 vorlagen, ermöglichte eine deutlichere Vorstellung von der Breite und Tiefe seines Geistes. Aber auch heute noch bedarf es philosophischer oder psychologischer Empfänglichkeit, ein andermal wieder menschlicher oder literarisch-ästhetischer, oder Vertrautheit mit seinem Denken, um auch das an seinen Schriften zu schätzen, was über den offenkundigen Witz und H u m o r seiner hundert oder zweihundert bekanntesten Aphorismen hinausgeht. Der meist ungelesene Rest, die Hauptmasse seines Werks, genießt heute bestenfalls den scheinhaften Respekt, den man aus Vorsicht dem gewährt, der wegen seiner Gescheitheit bekannt ist. Denn man weiß heute auch — und darauf zieht man sich angesichts des vielen Unwägbaren, Unverstandenen und Unbekannten in seinen Schriften zurück —, wieviel Lichtenberg zur Kenntnis des Menschen beigetragen hat. Keiner seiner Zeitgenossen kannte die „Heimlichkeiten des Menschen" besser als er und er beschrieb sie ohne die Gravität der Wissenschaft. Das ist seine bekannteste, konkret leicht umschreibbare „Leistung". Man weiß von ihr, seit die Kunde von der Seele auch die verborgeneren Antriebe und Komplexitäten im Leben des Einzelnen aufzudecken und deren Verkleidungen zu verstehen begonnen hat. Das Kräftespiel des Unbewußten, den Traum als seine Äußerung und darum als Quelle der Erkenntnis über das Ich, die „Sublimierung", die Fehlleistung und die Kompensation (im Sinne Alfred Adlers) — Vorgänge, die wir bezeichnenderweise mit fachwissenschaftlichen Marken benennen müssen — die Phänomene an der Schwelle des Bewußten und besonders das ganze Reich der Sprachphysiognomie, das alles hat Lichtenberg gesehen und mit leichter H a n d angedeutet. Er war, neben Goethe, der erste deutsche Tiefenpsycholog. U n d obwohl er die organische Einheit aller menschlichen Äußerungen immer wieder betonte, hat er mit kritischer Vorsicht die damals neue, nun von der Wissenschaft akzeptierte Unterscheidung von Physiognomischem und „Pathognomischem" eingeführt, die Unterscheidung zwischen der Deutbarkeit der festen Teile des Körpers und der „gefrorenen" Ausdrucksbewegungen und Formen.

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Lichtenberg

Auch ist Lichtenberg von erstaunten Fachleuten für fast alle philosophischen Systeme nach Hegel als „Vorläufer" oder Stütze in Anspruch genommen worden, f ü r den Neu-Kantianismus und die Als-Ob-Philosophie, den älteren, pragmatischen Positivismus Ernst Machs, den Neo-Positivismus des Wiener Kreises und die linguistisch-analytische Philosophie Wittgensteins und seiner Nachfolger. Einen sich ihr einfügenden Ausspruch Lichtenbergs über Philosophie — in der Tat eine konzise Umschreibung dessen, was heute in angelsächsischen Ländern meist f ü r ihr Wesen gehalten wird — hat daher eine englische Darstellung des Denkens der Aufklärung als „eine der originellsten Bemerkungen" bezeichnet, „die je über Philosophie gemacht worden sind". 1 Nicht der Inhalt dieser einzelnen Äußerungen Lichtenbergs ist das f ü r ihn Kennzeichnendste, sondern ihre bündige Vielfalt; noch mehr, daß sie bei aller Widersprüchlichkeit im Tiefsten Einheit haben, nämlich im Wesen seines Geistes. — D a ß Lichtenberg auch wesentliche Züge der modernen philosophischen Anthropologie der Pleßnerschen Richtung vorweggenommen hat, wie die Geist-Körper-Einheit, die Bedeutung der Gestik, die Umwelt- und Universum-Bezogenheit, ist unbemerkt geblieben. U n d schließlich hat er außer seiner physikalischen Entdeckung sowie den Ergebnissen seines psychologischen Vorauswissens und philosophischen Vorausdenkens noch ein der Subjektivität des Wertens entzogenes und sachkundigen Deutens nicht bedürfendes Vermächtnis hinterlassen: den bis heute verwendbarsten — d. h. inhaltsreichsten und genauesten — Kommentar zu Hogarth. Dadurch, daß man Lichtenberg auf handgreifliche „Leistungen" wie die eben erwähnten hin liest, erfaßt man ihn gewiß nicht; doch sollten auch sie als ein Aspekt seines Wesens dem bewußt sein, der dieses würdigen will, damit er den Kräften nachgehe, denen wir sie verdanken. Auch subtilere Artfcn des Forschens, wie die rein ästhetische und die rein geistesgeschichtliche, versagen vor der Aufgabe, Lichtenbergs Werk, und das heißt in einem ungewöhnlich hohen Grade, ihn selbst, zu verstehen. Die bloß ästhetische Beschreibung wird in den Fällen, die ihr besonders verlockend erscheinen, Wirkungsmittel und Kategorien finden, die mehr Aufschluß über den Aphorismus als Gattung gewähren als über das spezifisch Lichtenbergische; und die geistesgeschichtliche besagt mehr über Lichtenbergs Zeit als über ihn. Denn wer seine Werke und Aufzeichnungen auf Parteinahme und Tendenzen seines Zeitalters hin liest, wird sie alle wiederfinden, — voll entwickelt oder schon im Absterben oder rudimentär — und doch an Lichtenbergs Wesen vorbeigehen, außer vielleicht am Impetus des leidenschaftlichen Aufklärers in den frühen Schriften; und dies wäre so, selbst w'enn diese Wertungen einander nicht so radikal widersprächen, über die inneren Gegensätze des Spätrationalismus weit hinaus. Am ehesten würden gerade die „Widersprüche" einen Zugang zum Wesen seines Geistes eröffnen, denn der Leser Lichtenbergs wird sich allmählich einer unverkennbaren Einheit hinter ihnen bewußt: dessen, was er selbst sein „Gedanken"- oder „Meinungssystem" nannte. Weder „Meinung" noch „System" hat in diesem Wort den üblichen Sinn; es bezeichnet die Gestalt, besser noch die Dynamik seines Geistes; ein System, aber keine

Bildnis

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Doktrin. Darum sollte man nicht vor allem nach Lichtenbergs Meinungen suchen; Meinungen hatte er mit vielen gemeinsam, die Energie seines Denkens mit niemandem. Alle Tendenzen seiner Zeit, die wissenschaftlichen, philosophischen und politischen, die literarischen und die künstlerischen gingen in sein Denken ein und verbreiteten sich von da in sein Werk, in das private und das öffentliche, geprüft ohne bewußtes Vorurteil, akzeptiert oder verworfen oder geformt durch die Eigenart des Lichtenbergischen Geistes. Darum dient es dem um echtes Verständnis bemühten Porträtisten Lichtenbergs meist mehr, den ursprünglichen Antrieben und Formen seines Denkens, also seiner Denkweise, und der Verkörperung der Wesenszüge seines Geistes durch Sprache und Komposition nachzugehen als seinen Denkinhalten, als seiner „Stellungnahme" zu diesem oder jenem Problem. Ist doch, wenn wir von seiner Reaktion auf gewisse literarische Programme und Stile der Zeit (Hainbund und Sturm und Drang) und von seiner lebenslangen Abneigung gegen prätentiöse Mittelmäßigkeit absehen, beinahe seine einzige unwandelbare Haltung — wir sprechen hier nicht von Ideen — sein tiefwurzelnder Respekt vor der Würde und inneren Freiheit jedes menschlichen Wesens und seine leidenschaftliche Überzeugung, in dieser Würde beruhe das Recht und die Pflicht jedes Menschen, selbst zu denken. Dieser Grundsatz, zwar identisch mit dem Prinzip der Aufklärung, von Lichtenberg jedoch persönlich erlebt und als unaufgebbares inneres Bedürfnis empfunden, wurde zu einer Eigenschaft seines eigenen Geistes, der wesentlichsten. Die Leidenschaft des Denkens beherrscht Lichtenbergs ganzes Leben und Werk. Er fand allmählich gute theoretische Begründungen für seinen Trieb und bewußtes Bemühen, Gedanken und Sehweisen „auszuprobieren", die von den üblichen abweichen. Unsere Natur steht dem Erkennen im Wege: „Wenn wir nur einen Augenblick einmal etwas Anderes sein könnten. Was würde aus unserem Verstand werden, wenn alle Gegenstände das würklich wären wofür wir sie halten?" schreibt er 1773, noch ungeschult von Kant, und fügt hinzu: „Z. U . " [ = „zu untersuchen"]. Der sich hier äußernde Wagemut seines Denkens verleiht den Äußerungen Lichtenbergs Glanz und ihrer offenkundigen „Originalität" Tiefe, im Ernst und im scheinbaren Scherz. (Schopenhauer hat ihn deshalb als einen der wenigen Philosophen bezeichnet, die diesen Namen verdienen — die „Selbstdenker", die nach nichts streben als nach Wahrheit.) Die Formulierung dieses gedanklichen Erlebnisses der Einschränkung unseres Verstandes auf uns selbst, die daran geknüpfte Frage und das Vorhaben, sie „zu untersuchen", entstammt den „Sudelbüchern", der getreuen Niederschrift eines beträchtlichen Teiles dessen, was er dachte und plante. Aus ihnen wissen wir, daß Lichtenberg sich schon in seinen Studententagen zwei Ziele gesetzt hatte: Kenntnis nicht nur „unserer Seele", sondern des Menschen überhaupt, und Erforschung nicht nur „unserer Erde", sondern der Konstruktion der Welt. Um diese beiden Gegenstände und die Möglichkeit echten Wissens über sie kreiste sein Denken und Forschen sein Leben lang und die meisten Gedanken-

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Lichtenberg

hefte verraten ihren doppelten Zweck schon in ihrer Anlage: Die Bemerkungen über den Menschen, im konkretesten und im allgemeinsten Sinn, beginnen auf der ersten Seite, die über Naturlehre auf der letzten, und in der Mitte treffen sie einander. Die Notizen über die N a t u r und die Methoden ihrer Erforschung sind weit zahlreicher als eine Durchsicht der kritischen Ausgabe Leitzmanns glauben machen könnte. Auf manche ist nur im Anhang hingewiesen und eine große Menge fehlt, weil sie aus den handschriftlich nicht mehr oder nur zum Teil erhaltenen Büchern G, H , K und L stammen. Viele schließlich wirken, als wären sie aus rein philosophischem Nachdenken ¡entstanden, während sie zunächst wenigstens Prinzipien naturwissenschaftlicher Methodik, die Erklärung spezifischer Phänomene, die „Wahrheit" ganz bestimmter Theorien und den Sinn des Wahrheitsbegriffes betreffen. Je älter Lichtenberg wurde, desto klarer sah er den Menschen als einen Teil des Universums und das Universum (als begreif- und vorstellbare Gestalt) als Schöpfung des Menschen. Erkenntniskritik von Bacon über H u m e zu K a n t und naturwissenschaftliches Denken begegneten einander in dieser Auffassung seiner selbst und der Welt, nachdem schon Spinozas Lehre vom "Ev xat näv und dem Deus sive natura die ihm anerzogene dualistische Denkweise verdrängt und den ihm natürlichen H a n g seines Sehens und Denkens zu einer monistischen Welterklärung bestärkt hatte. Hauptgegenstand der ersten uns bekannten Merkbücher des Studenten aber ist der Mensch, und die Notwendigkeit, ihn zu kennen, das Thema seines ersten erhaltenen Vortragsentwurfes; Reflexionen über den Menschen sind der originellste Inhalt noch seines letzten Gedankenbuchs und der ergreifendste seines letzten Briefes. Lichtenbergs unablässiges Nachdenken über den Menschen ist also tief persönlicher Art, nicht bloß Mode, so sehr es gewiß durch die Flut von Untersuchungen und Meditationen der Zeit über das höchste und merkwürdigste Wesen auf dem irdischen Teil der Stufenleiter der Schöpfung bestärkt wurde. Als neue Anthropologie beziehen diese Untersuchungen den Menschen im weitesten Sinn ein — seinen Geist und dessen Beziehungen zu seinem Körper, seine Gebräuche und seine staatlichen und häuslichen Einrichtungen, seine religiösen Überzeugungen, seine Verhaltensweisen in der Gesellschaft und mit sich allein. Mit sich allein: das war f ü r Lichtenberg das vom Fenster beobachtete Mädchen in der Seitengasse, das seine Bänder „zu Eroberungen auf der nächsten großen Straße" zurechtlegte, das war der Schweinehirt, der heimlich lächelte, weil er seine Schweine glücklich in eine Schwemme gebracht hatte, das war alles das, was aus den Selbstbeobachtungen der Pietisten und „Hypochondristen" gelernt werden konnte, aus den Memoiren des Kardinals von Retz, und vor allem aus dem „Observieren" seiner selbst, Georg Christoph Lichtenbergs. Den Menschen als gesellschaftliches Wesen suchte er in Geschichtsbüchern und Reisebeschreibungen kennen zu lernen, in Anekdoten und Apophthegmata — alle die vielen Zitate aus solchen Werken zielen auf eine umfassende Kenntnis des Menschen hin, die einer universalen Erfahrungs-Psychologie gleichge-

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kommen wäre und weiterhin unmetaphysischer Gegenstand philosophischer B e trachtung werden sollte. Lichtenbergs H a n g zu emotionaler Versenkung in die Zustände des eigenen von spezifischen Anlässen aufgelockerten Ich und in die träumerische W e l t schweifender Melancholie gedieh im K l i m a der Zeit ebenso wie die intellektuell wache mikrologische Selbstbeobachtung, mit allen möglichen

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zwischen diesen Extremen. Aber wir bedürfen des Wissens von ihren Moden nicht, um dieses dominierende Element im Lebens-Stil Lichtenbergs zu

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klären. Es gehört innig zu seinem Wesen, als sein „ D ä m o n " im Goetheschen Sinn. Seine Selbstbeobachtung galt ebenso sehr den Operationen seines Verstandes und den Reaktionen seiner Sinne wie der Bewegtheit seines Gemüts, ist jedoch öfter wissenschaftlich motiviert als religiös. D e r gemäßigte Pietismus seines Elternhauses ist an Lichtenberg gewiß nicht spurlos abgeglitten, der typische Pietist aber wurde ihm ein Gegenstand wohlwollenden Spottes. Denn er glaubte ebensowenig an die unio mystica wie an die religiösen Dogmen über den Menschen oder die psychologischen Theorien seiner Zeit außer — eine Weile — an die physiologischen Hallers und H a r t l e y s . S o wünscht er über nichts mehr „die geheimen Stimmen denkender K ö p f e . . . zu lesen, als über die Materie von der Seele. D i e lauten, öffentlichen verlange ich nicht" und suchte das, was die geheimen Stimmen ihm versagten, durch eigene Beobachtung zu finden, mehr noch als durch Schlüsse aus seiner Lektüre. D e m „wirklichen" Menschen als Individuum und als Genus, als Gegenstand einer philosophischen, aber nicht transzendenten Anthropologie, spürte er nach in der offenbaren Eigenart, den verräterischen Eigenheiten und den verborgenen Motiven derer, die ihn umgaben und in den alltäglichen, am wenigsten bewußten Funktionen der Seele. Aus der Freude am Beobachten und dem Wunsch, den wahren Menschen der W e l t vorzustellen, befeuert von einem eingebornen D r a n g zu schreiben, 'entsprang bald die Absicht, das Gefundene zwei großen literarischen Plänen dienstbar zu machen: einem satirisch-psychologischen R o m a n und einer völlig aufrichtigen Geschichte seines eigenen Geistes und Körpers in deren kausalen und dialektischen Verhältnis zueinander. Sie werde „erst nach meinem T o d e herauskommen, der bösen W e l t wegen", denn die hatte ihn für das Wenige, das sie über ihn wußte, genug leiden lassen. Außer unserem typischen Alltagsverhalten und den Sonderbarkeiten des Ich als Manifestation der noch unerforschten „Seele" beschäftigte den philosophisch veranlagten und ausgebildeten Geist Lichtenbergs der Vorgang des D e n kens: W i e entstehen unsere Begriffe und Ideen und wie verknüpfen sie sich miteinander? I h r Verhältnis zur „Wirklichkeit" und deren Wesen w a r ihm ein dauerndes grundsätzliches Problem. S o wie ihm die Leistungen und Fehlleistungen des Bewußtseins oder des Unbewußten nicht etwas Selbstverständliches waren, sondern Gegenstände reflektierender Beobachtung und amüsierter Überraschung, so wird für Lichtenberg auf den Gebieten der Seelenkunde und der N a t u r -

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lehre das Denken aus einem Werkzeug zum Thema, und mit dem Denken dessen Medium, die Sprache. Als solches, als Mittel des Menschen, Dinge, Vorgänge, Zustände zu benennen, erzeugt sie eine Vorstellung vom Menschen, gestaltet sie die Welt; sie denkt über das in Worten formulierte Erkennen und Denken nach, in Worten, denkt über Sprache nach in der Sprache. Wie weit schafft die Sprache als Terminologie, Metaphorik, Instrument aller Systematik eine fiktive, vom Menschen erfundene Natur, die er zum Gegenstand der Wissenschaft erhebt, „die Wörter-Welt"? Für sie als Erzeugnis der Seele gilt potenziert was für diese selbst gilt, in immer neuer Abwandlung: Ob es wohl möglich ist, sich deutlichere Erkenntnis von einer gewissen Substanz zu erwerben als man dadurch bekommt, daß man die Substanz, von der die Rede ist, selbst ausmacht? Wir wissen von unsrer Seele wenig und sind sie selbst. Lichtenberg suchte Wirklichkeit, die Wahrheit „für den Menschen" zumindest, und anfangs Leibnizschen Vorstellungen getreu, Ideen, welche noch unbekannte, aber vorhandene Wahrheiten ans Licht bringen sollten. Dieses Suchen erfolgte zunächst auf eine beinah uniforme Weise, eine charakteristische „DenkForm". Er ging vom einzelnen Phänomen aus, das ihm in zufälligem Wahrnehmen oder in seiner Lektüre auffiel, analysierte es kausal, logisch oder psychologisch, fand unweigerlich Analogien zu ihm, nahe oder ferne, und zog aus ihnen praktische, aufs Handeln zielende Schlußfolgerungen. Dieser im ersten erhaltenen Notizheft des Studenten wie zwanghaft erscheinende Denkvorgang wurde bald weniger starr, erhielt sich aber auch in Lichtenbergs späteren Schriften in fragmentarischer Form — eine oder zwei der vier Phasen blieben unausgesprochen oder wurden übersprungen — bis schließlich spontane Phantasie oder diskursives Nachdenken über ihm bereits bewußte Probleme diesen Äußerungen der Grundform seines Denkens ein Ende bereiten. An die Stelle des Phänomens tritt sehr häufig der Einfall, kommentarlos, aber doch trächtig mit unausgesprochenen Folgerungen. Die vier Phasen dieses für Lichtenberg typischen geistigen Vorgangs bezeichnen zugleich die vier sein Wesen konstituierenden Aspekte und seine vierfache Begabung: Als sammelnder Beobachter, als Denker, als witziger Kopf (im Sinne des 18. Jahrhunderts) und als Praktiker. In diese Kategorien läßt sich zwar „das Lichtenbergische" nicht einfangen, aber sie liegen ihm zugrunde, versetzt mit Humor und Schwermut, mit Sinnlichkeit und Güte. Beobachtungen, oft als Ausgangspunkte für Reflexionen, ausgesprochene oder unausgesprochene, machen zum großen Teil den Inhalt der ältesten fünf Heftchen (A) aus, und das Buch D hat Lichtenberg selbst kurzerhand als „Budh voll Beobachtungen" gekennzeichnet. Hat das Wort hier auch zweifellos den sinnlichgeistigen Doppelsinn von Bemerkungen (remarques, observations), so weist doch gerade dies auf ihren doppelten Charakter hin. Zu beobachten, war ein leidenschaftliches Vergnügen Lichtenbergs und Genauigkeit des Beobachtens seine besondere Gabe. Sie liefert ihm das Material für seine ebenso besondere, Lichtenbergische, Darstellungsgabe. Oft wüßten wir ohne die eine nicht von der andern.

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H a n d l e es sich nun um ein physikalisches oder ein physiognomisches Detail, um den locker sitzenden Strumpf eines Menschen auf der Straße oder eines vom Schauspieler Garrick gespielten oder von Hogarth gemalten oder die Richtung des Windzuges in einem seiner Kupferstiche, die Vorliebe eines Bedienten f ü r ein bestimmtes Wort, den Klang von Schritten auf der Treppe oder einer Konsonantenverbindung — Lichtenberg bemerkt mehr an dem Phänomen als seine Zeitgenossen, die Naturforscher, Psychologen, Kritiker, Erzähler, mehr auch von seiner Wirkung auf ihn selbst. U n d auch diese scheinbar belang- und bedeutungslosen Tatsachen werden ihm Ausgangspunkte in weite Fernen führender Überlegungen, ausgesprochener und unausgesprochener. So pflegte er dieses ihm von N a t u r eigene scharfsichtige und hellhörige „Bemerken" bewußt, beobachtet er mit intensiver Konzentration. Gewissenhaftes Beobachten war ihm eine Tugend — die Haupttugend des Menschenkenners und darum eine der wichtigsten des Schriftstellers. Das „Observieren" f ü h r t zu den Entdeckungen des Astronomen wie des Moralisten: „Die Yoricks sind die Observatores bei der philosophischen Fakultät dieser Welt, die man ebenso nötig hat als bei Sternwarten, sie brauchen die großen Kunstgriffe, allgemeine Lehrsätze zu ziehen, nicht zu verstehen, nur gnau observieren müssen sie können". Was würde man von einem Astronomen denken, der nichts zu berichten weiß, als er habe den Mond „sehr schön" gesehen und „erschrecklich viele Sterne"? „Aber unsere meisten Schriftsteller sind weiter nichts als solche moralische Observatoren, die einem Kenner ebenso abscheulich zu lesen sind, als einem gründlichen Astronomen solche sein müßten". Der Moralist Deutschlands hatte Lichtenberg schon in seiner Studentenzeit werden wollen. Dazu kam auch von der westeuropäischen Aufklärung her als Protest gegen das abstrakte System, das die Fülle der einzelnen Tatsachen verzehrt oder ihnen Gewalt antut, der Nachdruck auf dem einzelnen, genau gekannten Faktum. Fakta aber waren Empfindungen (Perzeptionen) geworden. Genaue Kenntnis kommt — dies glaubt Lichtenberg lange Zeit — nur durch Analyse zustande. Analyse wieder ist Analyse der Empfindung, Analyse seiner selbst. Lichtenbergs selbstbeobachtende Intelligenz war von der Feststellung und Analyse der „Tatsachen" kaum je abwesend: „Eine genaue Betrachtung äußerer Dinge führt leicht auf den beobachtenden Punkt, uns selbst, zurück" notiert sich schon der Student. Und auch auf diesem bewußten Weg, nicht nur durch seine Feinnervigkeit, entdeckte -er obendrein alle die unterschwelligen Gefühle, die f ü r die Psychologen seiner Zeit nicht existiert hatten. Das dritte der vier Hauptmerkmale Lichtenbergscher Denkweise, das Sehen von Analogien zu einem weit Abgelegenen, die traumhafte Leichtigkeit des Assoziierens, ist das charakteristischeste. Seine Vorstellungsgabe spürt nicht nur in die Tiefe der Seele, sie reicht auch ins Weite der Welt, und er erzog sich dazu, sie noch mehr auszubilden: als Spaß oder als heuristisches Mittel. „Begriffe und Sachen zusammenzubringen, die selten zusammenkommen, oder die gemeinen mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit und Beobachtungsgeist anzusehen kann

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einen auf einen Gedanken leiten" ist nur einer von Dutzenden ähnlicher Zurufe an sich selbst. Lichtenbergs Auge, sein Denken, sein Vorstellen sind stets offen f ü r spontane Assoziationen. Sie werden Quellen f ü r die überraschendsten Folgerungen und er bringt sie oft vor mit einer Miene, die es schwer macht, zu entscheiden, wo der Ernst aufhört und der Scherz beginnt, der Scherz zu Ende ist und der Ernst einsetzt. Goethe liebte diese Qualität seines Geistes: „Ihm stand eine ganze Welt von Wissen und Verhältnissen zu Gebote, um sie wie Karten zu mischen und nach Belieben schalkhaft auszuspielen." Erstaunlich aber ist, daß gerade ein solcher Geist, so hingegeben dem Schauen und dem Denken und so leicht entrückt ins Reich der Ähnlichkeiten, wirklicher oder hervorgezauberter, so oft noch einen weiteren Schritt unternimmt, zurück zur Erde, zur praktischen Anwendung, besonders zur technologischen, diene diese nun dem Haushalt, der Wissenschaft, der Heilkunde oder irgendwelchen Erleichterungen des täglichen Lebens. Lichtenbergs Phantasie und seine oft gelobte handwerkliche Geschicklichkeit, auf die er stolz war, halfen ihm dabei. Die Gesetze der Wärmelehre veranlassen ihn, im Taschenkalender Ratschläge zu geben, wie man beim Kochen Brennstoff sparen könne, analogische Betrachtung der Tiere ohne Ohrmuschel bringt ihn auf die Idee der Knochenleitung f ü r Schwerhörige; er hat sich den elektrischen Telegraph im Prinzip ausgedacht und der Forschung nützliche neuartige Apparate gebaut. Selbst hier mischt sich seine Freude am Spaß ein und er ersinnt sich amüsantes Spielzeug f ü r seine Physikvorlesungen. Die vier nun umschriebenen Grundeigenschaften und -tendenzen Lichtenbergischen Geistes, dazu seine Phantasie, sein H u m o r — was das achtzehnte Jahrhundert „Laune" nannte — und sein Witz sind vereint oder vereinzelt eingegangen in alle seine Schriften: die Taschenbuchbeiträge (seien sie nun Plauderei oder Erzählung, „Traum" oder Scherz, oder Berichte über die Fortschritte der Wissenschaft, Bilderklärung oder wissenschaftliches Feuilleton), in die satirischen und polemischen Artikel im Göttingischen Magazin, in das Hogarthwerk und die Vorlesungsentwürfe, in seine wissenschaftlichen Rezensionen und seine pointierten Verse, vor allem aber, in ihrer ursprünglichsten Form, in das Repositorium alles dessen, was ihm durch den Kopf ging, seine „Schmierbücher". In sie trug Lichtenberg Zitate und Beobachtungen ein, Einfälle, Gedanken und Überlegungen, auch kurze und kürzeste Fragmente oder Themen f ü r Werke, die er plante. So werden sie Abklatsch seines geistigen Lebens. Manche dieser Einträge bestehen nur aus einem einzigen Wort, das er gefunden oder geprägt hatte; andere sind lange Absätze oder bildhafte Wendungen oder sorgfältig ausgewogene und geschliffene Formulierungen. Sie alle, soweit sie kurz sind, kann die Wahl eines bestimmten Wortes, ein Doppelsinn, ein Vergleich, eine Pointe oder eine nicht ausgesprochene Folgerung, eine implizierte Aufforderung zum Weiterdenken zum „Aphorismus" im Sinn einer literarischen Gattung machen. Diese existierte als solche noch nicht in Lichtenbergs Deutschland. Manche der Notizen

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sind kurze, aber doch diskursive Reflexionen, hinzielend auf ein größeres Ganzes, manche isolierte Gedanken, flüchtig hingeschrieben, wie der Moment sie ihm eingab, gelegentlich mit dem Zusatz „Ich verstehe mich". Denn er glaubte, wie bald nach ihm die Romantiker und in unserem Jahrhundert Valéry 2 , Experimentieren mit Ideen könne zu einer fruchtbaren Einsicht, ja wissenschaftlichen Entdeckung führen, als oft der Intuition entspringender Ersatz f ü r Leibniz' systematische Suche nach Wahrheit durch die „characteristica universalis": „Ich habe die Gewohnheit, daß ich meine Gedanken über Dinge niederschreibe, keineswegs, um sie etwa einmal anzubringen, sondern bloß in der Absicht, ihren Zusammenhang zu probieren." In einer Notiz, die der Behauptung „keineswegs, um sie etwa einmal anzubringen" genau widerspricht, vergleicht er die Aufgabe seiner „Sudelbücher" mit der des „Wastebook" in der doppelten Buchhaltung: „Erst ein Buch, worin ich alles einschreibe, so wie ich es sehe oder wie es mir meine Gedanken eingeben, alsdann kann dieses wieder in ein anderes getragen werden, wo die Materien mehr abgesondert und geordnet sind, und der Leidger [ledger] könnte dann die Verbindung und die daraus fließende Erläuterung der Sache in einem ordentlichen Ausdruck enthalten." Gewiß, diese beiden Versuche zu erklären, was ihn zum Niederschreiben der „Aphorismen" trieb, widersprechen einander, aber sie schließen einander nicht aus, solange wir uns nicht pedantisch auf das „keineswegs" berufen. Der Gegensatz der beiden Behauptungen entspringt aus der einfachen Tatsache, daß Denken in knappen, scheinbar isolierten Einheiten, also die „aphoristische" Denkform, f ü r Lichtenberg die natürlichste war, was immer f ü r Zwecken er sie dienen lassen wollte. Drängen doch auch jene eingewurzelten Neigungen seines Denkens Lichtenberg zum Aphoristischen: Seine Liebe zum einzelnen Phänomen — „das Besondere statt des Allgemeinen" — und sein Mißtrauen gegen Systeme. So sollten wenigstens provisorisch die Gedanken als „Pfennigwahrheiten" vereinzelt bleiben; vielleicht würden sie sich so zu einem großen Schatze sammeln. Nicht nur die Form, auch der Charakter der „Bemerkungen" Lichtenbergs ist oft ein direktes Ergebnis seiner Methode des immer wachen Aufmerkens (besonders auf Geistig-Seelisches), gefolgt von radikaler gedanklicher Analyse. Sie f ü h r t notwendigerweise oft zur Demaskierung. Sein scharfes und rücksichtslos unabhängiges Denken auf allen Gebieten legt verborgene Zusammenhänge bloß und negiert solche, die mit Selbstverständlichkeit vermutet werden: Paradoxa sind die Folge. Das Paradoxon und Demaskierung sind seit dem siebzehnten Jahrhundert überaus häufige Gattungsmerkmale in der europäischen Tradition des literarisch gefärbten Aphorismus und so fügen sich Lichtenbergs formal isolierte konzise Aufzeichnungen ihr unprogrammatisch ein. Aber ihre inhaltliche Spannweite wird bei ihm unendlich größer. Philosophisch und psychologisch geschult, obendrein der Körperlichkeit des Menschen dauernd bewußt, eröffnet ihm sein energisches Denken neue Sichten der Wirklichkeit. Es wird befruchtet von einer Phantasie, die vom gesellschaftlich Heiteren bis zum unirdisch Bizarren reicht.

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Aber selbst diese seltsame Welt der Einbildungskraft, in der die üblichen Verbindungen unserer Vorstellungen, Begriffe und Gedanken aufgehoben sind, läßt sich nur in Worten aussagen, ist ein Bestandteil der „Wörter-Welt", die Lichtenberg durch eben diesen Ein-Wort-Aphorismus gekennzeichnet hat, den allumfassendsten und für sein Denken entscheidendsten, den er je geschrieben hat. Seine Zweifel am Erkenntniswert der Sprache, aus grundsätzlich philosophischen und linguistischen Gründen, allgemeinen — der Bedingtheit des Denkens durch ihre innere Form (Vokabular und Grammatik) — wie spezifischen (des Verblassens und Erstarrens der Metapher), hat Lichtenberg Dutzende Male ausgedrückt. Sie färben sein gesamtes Denken. Jedoch findet er einen Ausweg aus dieser Not: Im Erschaffen neuer Metaphern. Das Bild und die Metapher, neu geschaffen oder neu belebt und dadurch herrlich wie am ersten Tag, sind der Lebensnerv vieler Aphorismen Lichtenbergs. „Wenn man ein altes Wort gebraucht, so geht es oft in dem Kanal nach dem Verstand, den das ABC Buch gegraben hat, eine Metapher macht sich einen neuen, und schlägt oft grad durch." Aber auch die bloße Feststellung eines Beobachteten, in knappster Form, wird durch ihre Isolierung, durch das, was Friedrich Schlegel das Igelartige des (romantischen) „Fragments" nannte, zur übersprachlichen Metaphorik, zu einem Aphorismus: „Zum Lärmen machen wählt man die kleinsten Leute, die Tambours." Daß Lichtenberg so viel Aphoristisches schrieb und darunter zwei- oder dreihundert Aphorismen im strengen Sinn der Gattung, dafür gibt es genug Ursachen auch außerhalb der präzis faßbaren inhaltsbezogenen Grundzüge seines geistigen Lebens, artikuliert von ihm in der Form von Prinzipien und beschreibbar durch uns als Fähigkeiten. Sein Geist war unaufhörlich tätig. Bis zur Erkrankung am Ende des Jahres 1789 drängten sich ihm die Einfälle so zu, daß er sich ihrer kaum erwehren konnte; nichts jedoch schien ihm einfach, und alles in Beziehung zu stehen mit allem. Lichtenberg hat zweifellos sich selbst gemeint, als er schrieb: „Er kann, ehe man ein Vaterunser betet, 10 Umstände aufzählen, seine Gedanken kommen ihm, als wenn sie ihm der Kobold brächte" und „Er konnte einen Gedanken, den jedermann für einfach hielt, in sieben andere spalten wie das Prisma das Sonnenlicht, wovon einer immer schöner war als der andere, und dann eine Menge anderer sammeln und Sonnenweiße hervorbringen, wo andere nichts als bunte Verwirrung sahen." Jedes seiner Sudelbücher ist ein Protokoll dieses dauernden Selbstgesprächs. In den späten neunziger Jahren aber, als sich in ihm die Uberzeugung festsetzte, seine Inspiration und geistige Energie seien erlahmt, überdies werde er bald sterben und so weder als Forscher noch als Schriftsteller seine Lieblingspläne verwirklichen können, da begann er bewußt, die nun kümmerlich kommenden Gedanken ängstlich und sparsam festzuhalten, hoffend, wer andrer werde sich ihrer bedienen können, und schrieb sich Schemata auf, wie sie künstlich-systematisch hergestellt werden könnten. Auch sonst sind im Stil der „Bemerkungen" Lichtenbergs fundamentale

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Eigenschaften seines Geistes deutlich gespiegelt, und in den spontaneren unter ihnen, den von keiner literarischen Absicht bestimmten, am deutlichsten: In seinen einschränkenden Nebensätzen sein genaues und behutsames Denken; in seinen vielen Fragen sein Überprüfen allgemein anerkannter Dogmen; und in seinen kommentarlosen Feststellungen bloßer Tatsachen sein Lächeln über das Beschränkte, Rätselhafte und Paradoxe menschlicher Wesensart: Welch eine Welt von Gedanken erweckt der alleinstehende Satz „Da saß nun der große Mann und sah seinen jungen Katzen zu"! In den Fragmenten f ü r geplante Schriften, besonders die polemischen, wirkt Lichtenbergs Schreibweise oft elegant oder rhetorisch durch die Ausgewogenheit des Satzbaus und die Vorliebe f ü r Antithese, eine dem Satiriker in ihm wesensgemäße Form; in seinem Wortvorrat und präzisen Formeln und Gleichungen ist der Mathematiker und Astronom sichtbar. Wo jedoch ein Problem komplex ist und eine Behauptung dem Denker nur eingeschränkt richtig erscheint, da verbietet ihm sein intellektuelles Gewissen überwältigend einfache gefällige Formulierungen. D a r u m enthalten die Bemerkungen öfter ein „vielleicht" oder „manchmal" oder „zumeist" oder „eigentlich" und sind öfter in potentiellen oder hypothetischen Konjunktiven geschrieben als die selbstbewußt-eindrucksvolle Balance der Maximen Larochefoucaulds es zulassen würde. (Doch wäre Lichtenberg nicht er selbst, wenn er sich nicht dagegen wehrte, wahrheitsträchtigen Witz von Pedanterei erschlagen zu lassen: „Der große Kunstgriff, kleine Abweichungen von der Wahrheit f ü r die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differentialrechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unserer witzigen Gedanken, wo oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden.") Dem Ursprung nach gibt es zwei Grundformen echter Aphorismen: den Einfall und die Klärung 3 . Der Einfall ist plötzliche Schau eines Sinn-Ganzen oder eines Symbols, plötzliche Begabtheit einer Realität mit symbolischen Zügen, Kristallisierung eines verworrenen Beziehungsknäuels, Aufreißen einer Aussicht auf sachlich oder gedanklich bisher nebelverhülltes Gebiet. Er entstammt den Pausen der Sammlung oder entspringt spontan mitten im bemühten Betrieb des Geistes, jeder Bemühung entzogen, manchmal geboren von einem alten Wort, das plötzlich mit einem neuen Antlitz begabt ist — seinem ältesten. Verstandesmäßiger als der momenthafte Einfall, dessen Geburt unbegreiflich ist, wirkt der andere H a u p t t y p u s des Aphorismus: die „Klärung". Sie ist der Abschluß einer Reflexion; das Finden der Antwort auf lang bemühtes Fragen oder das Formulieren eines noch nicht Sprache und daher nicht völlig klar gewordenen Denkergebnisses, „der letzte Ring einer langen Gedankenkette" (Ebner-Eschenbach). Beide Formen kommen bei Lichtenberg vor, die erste öfter als die zweite. Am häufigsten aber sind bei ihm Ringe aus der Gedankenkette, nur scheinbar isolierte Stadien immer neu ansetzender Denkvorgänge, Fragen oder Erkennt-

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nisse als Ergebnisse einmaliger oder latenter Beobachtung, deren Gegenstände ihm plötzlich universale Bedeutung angenommen haben. Dennoch vermeidet er eher die fest geprägte Form, als daß er sie suchte, denn nicht nur die übermäßig verallgemeinernde, auch die als endgültig auftretende Äußerung erscheint ihm intellektuell unverantwortlich. So haben besonders die möglicherweise weittragenden unter seinen Aperçus oft etwas Versuchsartiges an sich: „Man muß mit Ideen experimentieren" — auch im Sinne selbstkritischer Vorsicht. Valérys Kennzeichnung seiner eigenen isoliert aufgezeichneten Gedanken als „gebrechlich" liest sich immer wieder, als wollte er die Lichtenbergs charakterisieren. Er zählt sich unter die „amateurs de tentatives . . . dans leur étant naissant ou provisoire d'incidents de l ' e s p r i t . . . J e songe bien vaguement que je destine mon instant perçu à je ne sais quelle composition future de mes vues . . . pour remettre les unes [de „ces petites crétures mentales"] au néant, et construire au moyen des autres l'édifice de ce que j'ai voulu." 4 Diese merkbare Entstehungsweise so vieler Notizen Lichtenbergs und ihr unverschleierter Charakter des Provisorischen verleiht ihnen oft den Eindruck größerer existentieller Dignität als den geschliffenen, mehr „literarischen" Erzeugnissen bewußter Aphoristiker, denen die Erfüllung traditioneller formaler Ansprüche oder Konventionen der Gattung vorschwebt. Ein leiser Verdacht des Pseudo-Glanzes haftet diesen vollkommenen Stücken manchmal an, genau das, was Lichtenberg verabscheute. Dies führt uns zurück zu einigen weiteren Wesenszügen seines Geistes, die sich in all sein Denken hinein verzweigen. Zwei von ihnen bewirken, daß der Stil der „Bemerkungen" so oft das Vorläufige ihres Inhalts andeutet, ohne daß sie experimentierend im eben besprochenen Sinn wären und auch ohne daß ihre syntaktische Form vorläufig wäre: Skeptik und Relativismus. Beide tragen zur inneren Einheit seines unsystematischen „Gedankensystems" vielleicht das Wesentlichste bei. Die zumindest grundsätzliche theoretische Skepsis Lichtenbergs wurzelt im ersten Gesetz seiner geistigen Welt: dem autonomen Denken, ein Gesetz, das ihm verbietet, ungeprüfte Meinungen und unbewiesene „Erkenntnisse" anzunehmen, und schon gar Folgerungen aus solch zweifelhaften Voraussetzungen. Hier trifft sich seine Skepsis mit seinem Ethos als Forsdier. Auch steht Lichtenberg durch Neigung und als Professor der hannoverischen Universität Göttingen, .die — dem König von England untergeordnet — von England her inspiriert ist, englisch-französischem Denken und damit der bis auf Bacon zurückgehenden Feindschaft der westeuropäischen Aufklärung gegen das System bald näher als der deutschen Schulphilosophie. Die Skepsis seines Denkens und Forschens ist aber keineswegs nur philosophischer Art. Sie ist außerdem oft handfest begründet auf konkreten Mängeln wissenschaftlicher Methodik und dem Bewußtsein unzähliger unbekannter Fehlerquellen im Studium der Natur und der Formulierung ihrer Gesetze: Wir kennen nur die Oberfläche der Erde und schließen von ihr auf das Weltgebäude. Ebenso „ist auch das Innere der Dinge nicht für den Menschen, sondern nur die Oberfläche, wenn man die geringe Tief« abrechnet, in welcher der philosophische Taucher noch leben kann.

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Was ihr von Grund aus studieren nennt, geht bloß in die Breite, das Gründlich ist nicht f ü r den Menschen, solange er an diese Maschine angeschlossen ist, die ihm nur Anstöße summiert, so muß er bei der Fläche bleiben. "Will er weiter, so ist -er noch sehr glücklich, wenn er das Leben verliert, er könnte um seinen Verstand kommen." Was f ü r die Erkenntnis der N a t u r gilt, und f ü r das „Innere der Dinge", gilt auch f ü r die des Menschen: Wir kennen nur die Oberfläche. Wohl durchschaute Lichtenberg Masken und war erfolgreich im Deuten vieler Symptome des Inneren, wohl rühmte er sich einmal seiner psychologischen „Belagerungskunst", vor der alle Befestigungswerke der Verstellung fallen, dennoch aber war eines seiner Hauptargumente im Kampf gegen Lavater die — gewiß polemisch übersteigerte — Behauptung unserer absoluten Unwissenheit über unseren Nächsten, und der gelegentliche Stolz auf seine psychologischen Entdeckungen beugte sich vor dem Geheimnis des Individuums: „Man greife doch mehr in seinen eigenen Busen, und man wird finden, wie wenig sich etwas von andern behaupten l ä ß t . . . Nichts ist unergründlicher als das System von Triebfedern unsrer H a n d lungen." In einer Notiz über das Standard-Lehrbuch der Naturlehre von Erxleben, das Lichtenberg ja viermal bearbeitete, schreibt er: „Es ist ein großer Fehler, in Sachen des Erkennens nicht zweifeln zu wollen. Wer von Gewißheit ausgeht, wird mit Zweifeln enden". Sein Wort aus dem Jahre 1793 „Zweifle an allem, auch daß zwei mal zwei vier ist" meinte er durchaus ernsthaft, ohne von der Relativierung der Euklidischen Mathematik etwas ahnen zu können. Die These heutiger Wissenschaftstheorie, daß zwar ein allgemeiner Satz durch eine widersprechende Tatsache widerlegt werden könne, aber durch noch so viele übereinstimmende Tatsachen nicht endgültig verifiziert, ist ein durchaus Lichtenbergscher Gedanke. Sein eigenes Kompendium über die Physik sollte kennzeichnenderweise den Titel tragen „Leitfaden . . . als Vorbereitung zu einer künftigen Wissenschaft der N a t u r " . Umgekehrt ist ihm daher der Bereich des Möglichen mindestens so groß wie der des Denkbaren, der Einfälle, des „Experimentierens mit Gedanken" — all dies gespiegelt in seinen vielen potentialen Konjunktiven 6 — ein wahrhaftes Reich der „unbegrenzten" Möglichkeiten, begrenzt nur durch die Naturgesetze. Aber auch sie gelten nur so lange, als sich nicht etwas ereignet oder neu verstanden wird, wissenschaftlich oder philosophisch, was das eine oder andere von ihnen aufhebt, einschränkt oder relativiert. U n d so eggt ihm echte und vorgebliche Skepsis den Boden f ü r blühende Phantasie. Relativität aller Urteile ist neben der Ungewißheit vermeintlicher Tatsachen der zweite Grund, der ihm die Stabilität aller Hypothesen u n d Äußerungen bedroht, mit Ausnahme derer, die Relativität zum Gegenstand haben. Die Subjektivierung und Psychologisierung der europäischen Philosophien im achtzehnten Jahrhundert sind das geistige Klima, das diesen persönlichen Neigungen Lichtenbergs durchaus förderlich ist. Die Lehre, daß die Urteile des b

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Menschen von der Zeit und dem Raum abhängen, in dem er lebt, begann unter ihrem Einfluß auch in Deutschland schon banal zu werden. Dieser kollektiven Relativierung fügte Lichtenbergs Denken noch Relativierung der Urteile durch die seelische Beschaffenheit eines Individuums in einem gegebenen Moment und durch seine persönlichen Motive hinzu. U n d was die Urteile des Menschen betraf, so übersetzte sich Lichtenberg Kants Erkenntnistheorie, auch als er sie schon verstand und durchlebte, obendrein ins Psychologische und Anthropologische und konnte trotz seines Wissens von der philosophischen Sinnlosigkeit solcher Betrachtungsweisen nicht vom Vergnügen lassen, sich vorzustellen, wie wohl andere Wesen als der Mensch die Welt „sehen und verstehen". Dies gibt seinen theoretischen Gedanken die Lichtenbergische, leicht humoristisch-bizarre Färbung: „Es wäre ein Tier möglich, dessen Gehirn die See wäre und dem der N o r d wind blau und der Südwind rot hieße." „Ich kann mir gar wohl vorstellen, daß es Wesen geben könnte, f ü r die die Ordnung des Weltgebäudes eine Musik ist, wonach sie tanzen können, während der Himmel aufspielt." U m reichere Wahrheit zu finden, die der vollen „Wirklichkeit" näher kommen sollte, ermahnte sich Lichtenberg, die Gegenstände seines Denkens oder der Wissenschaft von den verschiedensten Gesichtspunkten zu betrachten und entwarf Schemata solcher Aspekte. Erfahrungen seines privatesten Lebens betrachtete er in der Form des mathematisch-astronomischen Gleichnisses „Wenn ich etwas als Körper und dann als Geist betrachte, das macht eine entsetzliche Parallaxe. Er [wohl Lichtenberg selbst] pflegte jenes den somatozentrischen und dieses den psychozentrischen Ast eines Dings [zu nennen], Sarkozentrisch." „ . . und bei der Brille pflegte ihm öfters einzufallen, daß der Mensch . . die Macht [hätte], Brillen zu schleifen, wodurch er [die Welt] schier erscheinen machen könne, wie er wolle." Im Vergleich zu solchen philosophisch geschulten Bemerkungen wirkt beinahe naiv Lichtenbergs Freude daran, immer wieder auf die dimensionale Relativität hinzuweisen, die sich aus dem Unterschied der Betrachtungsnähe ergibt — die Verschiedenheit der Vorstellungen etwa, die der Blick durch das Teleskop oder Mikroskop erweckt oder das mit dem „verkehrten" Ende ans Auge gesetzte Fernrohr. Das alles kann ihm zu religiöser Erhebung oder Selbstverkleinerung dienen, zu wissenschaftlicher Hypothesenbildung oder bloßem Spaß. „Das, was ich unter moralischem Aether verstehe" schreibt Lichtenberg einmal, „ist eigentlich das Geistige, was allezeit in unseren Handlungen, auch in unsern kleinsten steckt und alles durchströmt, das sowohl in dem und er nahm eine Prise als in dem Qu'il mourut oder dem gestopft vollen Soyons amis, Cinna des Corneille anzutreffen ist", ein Undefinierbares. Dieses auch im Kleinsten steckende und alles durchströmende Undefinierbare in Lichtenbergs Schriften ist sein H u m o r . Das Lichtenbergsche Lächeln, zum Teil Sache des Temperaments, zum Teil eine das Behaupten in Belustigung transponierende Betrachtungsweise des Geistes — rasche Sicht des Relativen etwa — ist so charakteri-

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stisdi für ihn, daß die korrekteste Analyse seiner Denkinhalte oder Denkformen, die seinen Humor nicht betont, ja ihn unterschlägt, Lichtenbergs Physiognomie •wesentlich entstellt. Sein Humor kann einer Erörterung von Anfang bis zu Ende Stil geben oder unerwartet hervorbrechen in fast burlesk-phantastischer Form oder als mild sarkastische Tönung oder als gespielter Ernst. Er kann gehäuft erscheinen oder nur für einen Moment sich regen, inmitten philosophischer, physikalischer, politischer Diskussion, oder selbst als letztes, abreagierendes Wort echter Trauer. Er lauert immer unter der Oberfläche, oft infolge des Assoziationszwanges, dem Lichtenberg unterworfen ist. Das Relative im Denken und Handeln des in seinem eigenen Gesichtskreis befangenen Menschen, das nur dem betrachtenden Außenseiter bewußt wird, ihm selbst aber höchstens in seltenen Augenblicken der Reflexion, ist ein ohne weiteres begreiflicher Anlaß humoristischen Reagierens in jedem Betrachter. Um wieviel mehr einem der Anlage nach munteren Geist wie dem Lichtenbergs, der das Relative überall zu sehen geneigt ist! Leicht stellt sich seine Phantasie einen Außenseiter auf einer andern Stufe der Wesen vor und die humoristische Ironie wird Selbstironie auf die Menschenrasse, Menschendünkel und menschliche Philosophie. Im Göttinger Taschenkalender 1788 berichtet er über eine Affenart, die sich durch eine der menschlichen gleichende Nase auszeichne. „Der Schriftsteller, aus dem ich diese Nachricht entlehne meint, dieser Affe sei, seiner Ähnlichkeit mit dem Menschen wegen, eine wahre Demütigung für den Stolz desselben. Das hat aber wohl alles wenig zu bedeuten, solange die Affen . . . keine Menschen in ihren Naturalienkabinetten aufstellen." Auch der Gedanke, daß die Wilden doch bessere Menschen sind, taucht unpathetisch und unsentimental in paradoxer Gestalt auf: „Der Amerikaner, der den Columbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung." Und die Fragwürdigkeit alles stolzen philosophischen Dualismus trifft ins Mark die gelassene Bemerkung: „Die Menschen schreiben viel über das Wesen der Materie, ich wünschte, daß die Materie einmal anfinge, über das menschliche Gemüt zu schreiben. Es würde herauskommen, daß wir einander bisher gar nicht recht verstanden haben". Relativismus ist nur eine der philosophischen Sehweisen, die solcherart belebt von Lichtenbergs Phantasie und Beobachtungsgabe, ihn Mensch und Tier in humoristischem Licht sehen lassen und ihm seine Gedanken als mythologische Kreaturen verkörpern. Seine Abneigung gegen das subjektive Systematisieren der Wirklichkeit nimmt diese Form an: „Dieser Mann arbeitete an einem System der Naturgeschichte, worin er die Tiere nach der Form der Exkremente geordnet hatte. Er hatte drei Klassen gemacht: die zylindrischen, sphärischen und kuchenförmigen." Die intellektuelle Satire wird zu humoristisch, aber nicht bösartig gesehnen Charaktertypen verarbeitet; für den Kollegen aus den Geisteswissenschaften bleibt sogar etwas wie amüsiertes Wohlwollen übrig: „Er las immer ,Agamemnon' statt angenommen', so sehr hatte er den Homer gelesen." Die Heiterkeit, mit der Lichtenberg seine Entdeckungen aus dem Reich des Unbewußten so oft vorbringt, unterscheidet ihn von seinen französischen Vorb*

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fahren und deutschen Zeitgenossen bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein. Daß sein Witz, so scharf er im Intellektuellen ist, außerhalb der polemischen Schriften alle Spuren unaggressiven Behagens an sich trägt, macht es sinnvoll, ihn als Äußerung seiner humoristischen Weltansicht zu sehen. Seine Clownerie und Schalkhaftigkeit in den Briefen an Groß und Klein — die warme Beschreibung „Sibyllchens"7, die Erzählung vom treuen Hosenknopf, der Flirt mit Christelchen — sein Ton, das alles geht aus ursprünglicher, nicht weiter zu analysierender Freude am Scherz, an den Dingen, am Spiel hervor, aus echter Munterkeit. Nur selten kommandiert er diese Fähigkeiten wie der Shakespearesche Narr die seinen, um Betrübnis ins Fröhliche umzuschminken. Der gelegentlich gequälte Witz und Humor sind nicht echte, d. h. ursprüngliche Bestandteile der Lichtenbergschen Geistesart, sondern bewußt gesuchter Ersatz für mangelnde geistige Frische und erlahmende Schöpferkraft. Zweifel und Relativismus intellektuell, Humor temperamenthaft, sind die dominierenden Sehweisen Lichtenbergs; Zweifel und Relativismus sind in seinen Schriften, verglichen mit den Gedankenbüchern, teils gemildert durch Rücksicht auf sein Publikum, teils persönlich gefärbt und wettgemacht durch Schaulust und Liebe für das sinnlich Konkrete auf der einen, durch Phantasie auf der anderen Seite. Wohl stellte Lichtenberg sein tiefer und tiefer spürendes Denken mit der ganzen Triebkraft seines Tatsachenhungers und Forschungsdranges der neuen undogmatischen Natur- und Menschenkunde zur Verfügung. Aber er gestattete den Vorschriften Newtons und dessen Schülern (wie Maupertuis und d'Alembert, die als Deutung nur anerkennen wollten, was den Kreis des Beobacht- und Beweisbaren nicht verließ) nicht, außerhalb des strengen offiziellen Betriebs der Wissenschaft das Schweifen und den Spürsinn seines Geistes einzuschränken. Lichtenberg ließ sich von methodischen und philosophischen Regeln nicht dümmer machen als er war, so sehr er sich eine Zeitlang darum bemühte. Seine Analogien gingen über das, was Newton darunter verstanden hatte, weit hinaus. Die beobachteten „Tatsachen" sind durchtränkt von Lichtenbergscher Subjektivität; die Regeln zu durchbrechen, lockt ihn immer wieder und das von der Regel Abweichende interessierte ihn am meisten. Die Lust am Bizarren blieb in ihm immer wach. Intellektuelle und emotionale Subjektivität des Urteils — das, was Jean Paul Lichtenbergs „Imperativ des Ich" nannte — mischen sich in seine sachlich gemeinten Beobachtungen, verstärkt durch seine ursprüngliche Sinnenfreude. Sie kommt am lebhaftesten, ja mitreißend in den Reisebriefen heraus, ist aber auch sichtbar in den wenigen Erzeugnissen reiner Phantasie wie der Beschreibung des Balletts in „Ein neuer Damenanzug" oder dem gespenstischen Alltagstreiben im „Traum" vom Blocksberg. Lichtenbergs Freude an der Erscheinung ist ebenso groß wie die am Denken und am seelenkundigen Enthüllen. Sie hat ihr Widerspiel in der an Christian Morgenstern erinnernden sinnlichen Form, in der bei ihm Begriffe, Gefühle und Gedanken erscheinen, wie die Eigenart der verschiedenen Wochentage oder die Gemütsstimmungen im „Fragment von Farben"

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oder die Zahlen in der „Rede der Ziffer 8". Immer gegenwärtige Erotik fügt sich in seine Sinnesfreude ein. Diese paart sich mit seinem kindhaften Spieltrieb, und die Wachheit f ü r das Erotische mit der Kunst der sprachlich-analogischen Anspielung: Er macht einen Vorschlag „Kaminfeuer zu färben", die physikalischen Experimente sollen seinen Studenten außer Kenntnissen womöglich auch Amüsement gewähren und belustigen ihn selbst endlos, und ein wichtiges Ereignis im Leben eines Mädchens umschreibt er: „Sie ist zwar noch nicht verheiratet, hat aber promoviert." Angesichts der Skepsis Lichtenbergs und seiner rigorosen Ansprüche an die Phänomene zwecks Anerkennung als Wirklichkeit ist erstaunlich seine wachsende Neigung, im Besonderen das Allgemeine zu vermuten, ja zu „sehen", seine Neigung zu bald intuitivem, bald logisch begründbarem symbolischem Schauen. Er hat ihr expliziten Ausdrude gegeben, wenn auch mit theoretischen Vorbehalten da und dort. Der Zusammenhang dieser f ü r seine Wissenschaft wie f ü r die Aphorismen wichtigen Neigung mit sekundären, aber grundlegenden Überzeugungen Lichtenbergs ist deutlich. Wir nennen sie sekundär, weil sie sich in seinem Denken erst allmählich entwickelt haben und ¿«Wíbezogen sind, anders als seine „primären", ursprünglichen Schauweisen. Die wichtigste dieser Uberzeugungen ist die von der alles umfassenden Einheit in der N a t u r , im Geist und im Menschen, Einheiten, die selbst wieder aufeinander bezogen sind. Sie äußert sich zunächst, psychologisch begründet, als Postulat f ü r das Erkennen der einheitlichen, organischen Eigenart des Individuums, dann als ethisches f ü r dessen Lebensform, wird zur wissenschaftlichdogmatischen Erfassung des Wesens der N a t u r und des Geschehens in der Welt als kausale oder sonst irgendwie universale Verknüpfung von Allem mit Allem und führt schließlich zur immer wieder verkündeten Forderung, die N a t u r kunde so zu betreiben, daß der Forscher sich dieses Ganzen immer bewußt bleibe, damit sie in der Zukunft zur wissenschaftlichen Rekonstruktion der Einheit werde, eine Einheits- und Universalwissenschaft, die aber konkret demonstrierbar sein müsse. Die vier Denkschritte des jungen Lichtenberg sind hier wiederholt; nur der zweite — die Analyse — ist übersprungen oder stillschweigend vorausgesetzt. Die Zerstörung der Eigenschaftenpsychologie schon im Notizheft A, das häufige Zitat des schließlich als Motto gewählten Satzes „The whole man must move together" und schließlich der Aphorismus „Alles ist sich gleich, ein jeder Teil repräsentiert das Ganze" sind Stationen auf diesem Weg. „Die Metapher ist weit klüger als ihr Verfasser und so sind es viele Dinge. Alles hat seine Tiefen. Wer Augen hat, der sieht [alles] in allem". Die Welt muß gelesen werden wie eine Metapher: „Der Schriftsteller gibt der Metapher den Leib, aber der Leser die Seele"; im Vertrauen darauf wird der Schriftsteller oft notgedrungen zum Aphoristiker, können wir hinzufügen. So erwirbt im Denken Lichtenbergs die Schauweise, die ihm von vornherein natürlich ist, Analogie, mit der Zeit eine tiefere und allgemeinere Bedeutung als die, dem Wesen nach subjektiver Witz

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oder ein persönliches symbolisches Sehen zu sein, und sein Aphorismus erleuchtet in der Eingebung des Moments bisher ungesehene Zusammenhänge oder Wirklichkeit, an die er glaubt. Das allmähliche Verschwinden der Analyse zugunsten der Analogie, und zwar der auf Prinzipien begründeten, nicht der bloß geistreichen, ist auch hier im Gang seines Geistes deutlich beschlossen. Die empirische Kleinarbeit der Wissenschaft wird sich als unendliche Aufgabe allmählich der Richtigkeit des intuitiv Gesehnen, des „Geträumten" zu versichern haben. Die Parallele zum Weg von der Totalitätsidee Herders und über Goethes Symbolschauen zu Schelling und der Frühromantik, Novalis' besonders und Ritters und ihrer ästhetischen Theorie ist offenbar. Die beiden Wege sind parallel, aber nicht identisch. Durch die Vorstellung eines organisch geordneten Weltalls oder die — Lichtenberg bewußte — Adaptierung der Menschensprache an ein solches inneres Bild können wir wohl erklären, daß er überaus häufig in die sachlichste wissenschaftliche Erwägung wie in sein Sinnieren über Angelegenheiten des Alltags extrem teleologische Gedanken eintreten läßt, obwohl er theoretisch den Zweifel gegenwärtiger Wissenschaftstheorie an Kausalität im üblichen Sinn äußert. Im Anfang läßt er Zweck-Bedingtheit unbegründet, später sieht er den „Geist der Ordnung" oder — gleichbedeutend damit — „Gott" als ihren Urheber. Hierin unterscheidet er sich kaum von der englisch-französischen wissenschaftlichen Bewegung des 18. Jahrhunderts, die zwar Metaphysik durch Erfahrungsphilosophie ersetzte, aber unter dem Einfluß Newtons aus dem astronomischen Zusammenhang des Universums gleichfalls eine von Gott eingesetzte teleologische Weltordnung ableitete. Ein methodischer Kunstgriff zur Erweiterung unserer Kenntnisse und unseres Verständnisses, den zu preisen Lichtenberg nicht müde wird und im wissenschaftlichen Experiment immer wieder anwendet, manchmal, aber keineswegs immer, in loser Beziehung zum Konzept der alles beherrschenden Relativität, ist das Vergrößern und Verkleinern. Es kann unser „gefrorenes" Denken modifizieren und ihm neue Ahnungen eröffnen. Im Geistigen spielt es sich ab als Veränderung der Distanz und „Perspektive", in der Naturwissenschaft im Verlangen nach immer größeren und stärkeren Instrumenten; denn was der typische Gelehrte nicht sieht, dessen Existenz leugne er. (Der Gedanke war gewiß nicht neu, aber niemand hat ihn so radikal zum Prinzip erhoben wie Lichtenberg, und die Geschichte der Wissenschaften hat ihm recht gegeben). „Nicht da sein heißt bei den Naturforschern, wenigstens bei einer gewissen Klasse, so viel als nicht empfunden werden" notiert er sich schon sehr früh, 1769. Das „affirmative Erfinden" eines nicht Vorhandenen ist ihm die gegensätzliche Gefahr. Radikalen Folgerungen aus Lichtenbergs gedanklicher Emanzipation von jeglicher Doktrin und seiner Relativierung alles fragenlos Akzeptiertem widersteht dennoch sein H a n g zum „Natürlichen" und sein Sinn f ü r das Praktische, beides entscheidende K r ä f t e in seinem Wesen. Im Widerspiel mit der einschnei-

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denden Subtilität seines Denkens macht dies sein Verhalten in Dingen des Geistes und des Alltags so lebendig, spannungsreich und unaufhörlich dialektisch. Verschieden im Ursprung, vereinigen sich die beiden Kräfte zum gleichen Zweck. Gemeinsam und unterstützt von Verstand und Vernunft, werden sie zur bewußten Lebens- und Forschungsregel, man dürfe nicht aus dem Auge verlieren, in welchen Anwendungsbereichen Skepsis, Relativismus, das theoretisch Richtige ihren Platz haben, in welchen nicht. Wohl sollte Lichtenbergs Einleitung zum Kompendium der Physik betonen, daß wir die Welt nur als Modifikationen unseres Selbst kennen, wohl ermahnte er sich, bei der Behandlung der meisten Gebiete der Physik nicht mehr das Wort Theorie zu gebrauchen, sondern Mutmaßungen oder Vorstellungsart, aber „der Weg, wobei man Alles so sehr von dem gemeinen Menschenverstand . . . abzurücken sich bestrebt, gefällt mir, so lobenswürdig er auch in mancher Rücksicht sein mag, in Wahrheit nicht." Für „subtile Dummköpfe", „die Mücken seigen und Kamele verschlucken", hat Lichtenberg nichts übrig. „Der gemeine Menschensinn ist" [und hier schleicht sich in dessen Verteidigung durch ein „meiner Meinung nach", der vorsichtige Skeptizismus ein] „ein sehr respektabler Punkt auf der Stufenleiter unserer Kenntnisse," [so] „daß man ihn wohl als einen Anfangspunkt gebrauchen kann . . .". So läßt Lichtenberg auch den „Wahrheits"-Gehalt einander widersprechender Philosophien und Religionen nebeneinander gelten, je nach ihrer Funktion und Brauchbarkeit im Leben verschiedener Menschengruppen bei verschiedenen Anlässen: Kritik der reinen Vernunft neben spinozistischem Monismus, Deismus neben traditionellem dogmatischem Christentum. „Nutzen" und das „Natürliche" sind für Lichtenberg eng miteinander verbunden. In der Wissenschaft zieht er eine theoretisch falsche, aber jedermann verständliche Terminologie einer richtigeren, aber „gekünstelten" vor — das bemerkt er bei unzähligen Anlässen und auch im Licht seiner Sprachphilosophie —, das traditionelle Maßund Gewichtssystem dem metrischen und althergebrachte, philologisch nicht korrekte Orthographie „unnatürlichen" Reformen. Affektation, Pedanterie und Mangel an Menschenverstand sah er hinter Klopstocks und Vossens theoretisch gut begründeten Vorschlägen. Uber wenige literarische Erscheinungen spottet er so häufig wie über den „unnatürlichen" Stil, über das „Mienen-Annehmen" beim Schreiben, über das, was er „Festtagsprose", Nestroy das „Feiertagsg'wandel" der Rede genannt hat, über alles außerhalb des Bereichs der Theorie, was ihm extrem und daher „unnatürlich" und unmännlich erschien, exzessiven Ausdruck des Gefühls vor allem. England blieb sein Paradies, weil die Werte und der Stil des Lebens ihm dort natürlicher erschienen als daheim. Die ideale Lebensform für den, der die Natürlichkeit verloren hatte, war ihm die des vollendeten Weltmannes, der es dazu gebracht hat, sogar bloß Erlerntes zur Natur werden zu lassen und aufzutreten wie ein „natürlicher Mensch", ohne gelehrte, amtliche oder aristokratische Gravität. Lichtenberg selbst war imstande, den Ton des Gesprächs von Mensch zu Mensch zu wahren, auch wo die Schwierigkeit seiner Themen dies schwer machten.

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Die Beschränkung unseres Wissens, die Erkenntnis der Unausweichlichkeit des Erfassens aller „Dinge", „Vorgänge" und „Beziehungen" in bloß menschlichen Kategorien — ein Erfassen, das sogar in verschiedenen Sprachen auf verschiedenartige Weise vor sich geht — und Lichtenbergs Liebe f ü r das NützlichPraktische, vereint mit seinem Respekt f ü r den common sense, diese fundamentalen Überzeugungen und Neigungen seines Geistes geben gemeinsam seinen späteren Schriften den bewußten Als-Ob-Charakter, wegen dessen Lichtenberg als Vorläufer der Philosophie Vaihingen betrachtet wurde. Er wurde eine bewußte Signatur seines Lebens. Das Lächeln, das nach den Berichten seiner Studenten so oft auch seine ernsthaftesten und schwierigsten physikalischen Erörterungen begleitete, mag neben der Freude des geborenen Lehrers an seinem Stoff etwas damit zu tun haben. Hypothesen, d a r a n erinnerte er sich selbst ausdrücklich, waren ja nur Mittel, die geheimnisvollen Erscheinungen der Körperwelt in eine „Vorstellungs-Art" zu zwingen, die „Mythen der Physiker"! Der Glanz des Aphoristikers und des Menschenkenners Lichtenberg hat vergessen lassen, daß er einer der auch als Fachmann geistig bedeutendsten Naturforscher seiner Zeit gewesen ist, gewiß der bedeutendste deutsche Physiker. Man erwähnt, daß er Professor der Naturlehre war, meist mehr als pflichtgemäß mitzuteilende Nebensache, nicht als entscheidendes Faktum seines geistigen Lebens, das sich — unerkannt — in Hunderten scheinbar nicht wissenschaftlichen Notizen und Aphorismen ausdrückt. Gewiß, die historischen H a n d bücher der Naturwissenschaften gewähren ihm nur einen Absatz, denn ihnen geht es vor allem um die großen Entdecker und Schöpfer neuer Theorien, die auf die Wissenschaft lange gewirkt haben. Aber wieviele solcher Gestalten gab es im Deutschland der zweiten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts? Die bleibende Bedeutung Lichtenbergs f ü r die Geschichte der Physik hat wenig zu tun mit der Bedeutung der Physik f ü r die Geschichte Lichtenbergs. Die vielversprechenden „Lichtenbergschen Figuren" blieben unerklärbar bis in unser Jahrhundert, bis zur Entdeckung der Ionen. Seine Kenntnisse aber und seine Umsicht im Experimentieren, die Klarheit kritischen Schließens und der Einfallsreichtum seiner logisch disziplinierten Phantasie blieben vorbildlich f ü r Generationen seiner Schüler. Die Art und Weise seines dem naturwissenschaftlichen Tagwerk gewidmeten Denkens, völlig verschmolzen mit seinem Denken überhaupt, und einige ihm entspringende Lieblingsgedanken dürfen in einem Bildnis seines Geistes nicht fehlen, ohne dessen Struktur unvollständig zu lassen. Der wesentlichste ist, daß Lichtenberg als die moralische, ja religiöse Aufgabe seines Lebens die Erforschung der N a t u r sah — die des Menschen war sein intellektuelles Vorhaben — und zwar auf eine seine eigenen strikten Ansprüche befriedigende Weise. Auch wer dies übersieht, kann zum Zentrum seines Denkens und Schreibens nicht vordringen. Bald bezog er den Menschen (den chronologisch ersten Gegenstand seines Denkens und Beobachtens) in die N a t u r ein; der nächste Schritt war, ihn

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als problematisches Instrument zu ihrer Erforschung zu sehen, und im letzten Jahrzehnt seines Lebens ist für ihn eine Quelle immer neuer Erbauung der Gedanke, daß der der Natur angehörige Mensch sich fähig gemacht habe, die Welt selbst als Organ zu ihrer Erforschung zu gebrauchen — ein großartiger Zirkel, und als solcher oft Anlaß religiöser Erhebung, oft aber auch ins Praktische eingebauter erkenntniskritischer Resignation. Daß außerdem alle Physik nur „Menschenphysik" ist, bedingt durch die von uns eben erwähnten philosophischen, psychologischen und sachlichen Gründe, wurde ihm immer mehr der Rahmen seines Lehrens. Philosophische, psychologische und sachliche Vorbehalte sind also darin vereint. Lichtenberg behandelte die Physik, wenn er am Erkennen verzweifelte, als a priori Wissenschaft; er liebte sie jedoch mit all seinem Wirklichkeitssinn als empirische, und diese Liebe war sanktioniert von den Grundsätzen moderner Naturforschung. Dennoch trieb ihn seine philosophisch angeregte Phantasie zur Betätigung einer verbotenen Leidenschaft: Hypothesen zu formen, mit schlechtem Gewissen, wegen Newtons hypotbeses non fingo; er will sie als „unschuldige Träume" angesehen wissen. Vieles bestärkte ihn in dieser verschämten Liebe: Sein Credo vom Zweifel an allem Selbstverständlichen, auch in der Wissenschaft, und von der Einheit alles Natürlichen; sein Mißtrauen gegen die ausschließlich ihren Sinnen trauenden Naturforscher; und seine oft ausgesprochene Demut vor der Eingebung und dem Zufall als Entdeckern der Wahrheit. Und dieselbe tiefsitzende Abneigung gegen alles Ungeprüfte, die im Aphorismus zum Paradoxon führt, bringt ihn dazu, dem Dogma zuwiderlaufende Hypothesen Anderer zu befürworten, solange sie gute Gründe für sich haben, wenn auch keine Beweise. Doch verfährt Lichtenberg hier höchst parteiisch: Forschern, die er persönlich schätzt, wie Franklin oder Deluc, billigt er das Recht zur Hypothese zu, den ihm unsympathischen wirft er vor, unbeweisbare Hirngespinste als Wissenschaft auszugeben. Im Kampf gegen sie, und nur gegen sie, fehlte es ihm an Selbstkritik. Selbst seinen Schülern fiel dies auf. 8 Ebenso zog er, seinem Sinn für das Einfache getreu, auch in der Naturwissenschaft einfache Theorien komplizierten grundsätzlich vor; stammen diese aber von Forschern, gegen die er eingenommen ist, wie Lavoisier, so bezweifelt er sie als Produkte des französischen „Simplizitätsgeistes", der in der Wissenschaft ebenso wie an der Philosophie alles Unstimmige und Problematische hinwegeskamotieren wolle, um des Schönnen Scheins willen. Die Zentren seines Interesses waren nacheinander Astronomie und Elektrizität; dann die Lehre von den Gasen und der „Verbrennung" (also der zögernd mitgemachte Weg in die Anfänge moderner Chemie) und Meteorologie; über Probleme der Akustik und Optik sann und schrieb er mit lebendiger Anteilnahme; Tatsachen und Theorie der Geologie beschäftigten seine wissenschaftliche Einbildungskraft immer wieder, bis ans Ende. Sein Grundprinzip der Einheit der Natur verlor er darüber nie aus den Augen, und Wissenschaftler, die nur

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in Fächern dachten, verachtete er. Die Natur als Ganzes blieb ihm der Hintergrund streng empirisch behandelter Probleme. Die Kluft zwischen Empirie und Uberzeugung bot ihm reichlichen Anlaß zu seinen „Träumen". Nicht wenige von ihnen wurden vom neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert bestätigt. Nun ist es eine Tatsache der Geschichte der Naturwissenschaften, daß zu allen Zeiten Hypothesen auftauchen, die sich irgendwann später als richtig erweisen. Die Lichtenbergs zeichneten sich durch kenntnisreiche Begründung und kritisch-analogisches Denken aus. So war er überzeugt, daß Elektrizität und chemische Vorgänge eine unendlich größere Rolle in vielen unerklärten Erscheinungen spielten als seine Kollegen wahrhaben wollten; daß mit feineren Instrumenten noch ungeahnter Magnetismus festgestellt werden könnte; und daß die beiden „Kräfte" zusammenhingen. Er sah ferner voraus, daß es verschiedene „Arten" oder Abstufungen von Licht geben könne; aber er erging sich auch in eine Anzahl anderer „Phantasien", die sich als unrichtig herausstellten. Der aufregendste innere Konflikt des Naturforschers Lichtenberg galt der Anerkennung der Lavoisierschen Theorie von der ausschließlichen Rolle des Sauerstoffs im Prozeß der Verbrennung und der Leugnung der Existenz irgend eines „Feuer- und Wärme-" und eines Lichtstoffes. Der Konflikt ist charakteristisch für den starken Emotionalismus, mit dem Lichtenbergs intellektuelles Gewissen zu kämpfen hatte. Vor allem wegen der ihm als typisch französisch erscheinenden theatralischen Proklamierung der „neuen Chemie" und der dogmatischen Unterdrückung von Zweifeln begegnete er ihr anfangs mit Mißtrauen, Sarkasmus und Starrsinn. Er ließ sich allmählich vom Prinzipiellen überzeugen, aber nicht von allen Folgerungen, pries zwar schließlich Lavoisier als den „Kopernikus der Chemie", konnte sich aber nicht versagen, daran zu erinnern, daß auf diesen ein Kepler gefolgt sei, der manches zu korrigieren hatte. In seinem Gedankenbuch gestand er sich in den späten neunziger Jahren als Ergebnis kritischer Selbstanalyse: „Was mich eigentlich bewogen hat, so lange mit meinem Beifall für die antiphlogistische Chemie zurückzuhalten, ist (verzeihe mir meine schwere Sünde,) bloß der enthusiastische Beifall gewesen, womit sie von einigen Leuten beehrt worden ist, deren Flüchtigkeit im Schließen, Seichtigkeit und Ignoranz in der Naturlehre mir bekannt war." Das Wort über die „Sünde" beweist seine religiöse Auffassung vom Beruf des Forschers. Der Forscher Lichtenberg kann zwar von Lichtenberg, dem Philosophen und philosophischen Anthropologen und Psychologen unterschieden, aber kaum getrennt werden. Obwohl er Naturwissenschaft streng empirisch betrieb, ist sie nur eine Provinz in seinem philosophischen Denken; denn dieses ist sich ihrer fragwürdigen Ziele, Methoden, Ergebnisse stets bewußt: Sie alle sind bedingt vom Wesen des Menschen, der selbst ein Bestandteil der Natur ist und dennoch außerdem zu verstehen sucht, was er selbst wohl sein möge. „Es hat einige Ähnlichkeit mit dem Hunde, dem man einen Knochen an den Schwanz gebunden hat." Naturwissenschaft ist als Ursachenforschung in Lichtenbergs Bewußtsein eine der

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zum Wesen des Menschen gehörenden Tätigkeiten. Als ein seltsames Tier könne man ihn sehen, das sich in dem Schimmel nährt, womit eine um die Sonne schwebende antike Steinmasse — die Erde — überzogen ist, ausgestattet ist mit einem „Trieb, Verhältnisse aufzusuchen, die es Ursachen nennt, und sich um eine Menge von Dingen zu bekümmern, die es auf der Gotteswelt nichts anzugehen scheinen", „angespornt durch eine Art geistischen Hungers": „das Ursachen-Tier", „eine Bastardbrut vom Affen und einem höheren Wesen" und trotzdem für die ruhige Vernunft „ein Ganzes von unermeßlichem Wert". (Dieselbe Vernunft hat Lichtenberg bewogen, seinen Vergleich mit dem Hund und dem Knochen als wahr, aber „etwas unedel" zu bezeichnen.) Wer so weit gelesen hat, muß erkannt haben, daß Lichtenberg einer der allerbesten Philosophen Europas gewesen ist, daß aber seine Philosophie nie dogmatisch oder im Prinzip transzendent war, sondern stets spekulativ-dialektisch. Er hatte ein „Gedanken-", ein Meinungssystem, aber kein Lehrgebäude, kein Gehäuse. Am verwandtesten ist sie der Kants; Sprachphilosophie, vorwiegend nominalistisch, und psychologische Phänomenologie sind in sie eingegangen. Das heißt nicht, daß Lichtenberg Kant vom Philosophischen aufs Psychologische reduziert, wie es manchmal den Anschein hat, sondern er geht über ihn hinaus, indem er den in den neunziger Jahren philosophisch völlig verstandenen Kategorien Kants die psychologischen, physischen, geschichtlichen, gesellschaftlichen, kurz, im weitesten Sinn anthropologischen im Wesen des Menschen und im individuellen Subjekt liegenden Gegebenheiten hinzugefügt, denen das menschliche Erkennen, d. h. unsere sogenannte Wirklichkeit unterworfen ist. Das Beobachtete ist vom Beobachtenden geformt, das Erkannte vom Erkennenden, und umgekehrt: „Wenn also etwas auf uns wirkt, so hängt die Wirkung nicht allein von dem wirkenden Dinge, sondern auch von dem ab, auf welches gewirkt wird. Beide sind, wie bei dem Stoß, tätig und leidend zugleich; denn es ist unmöglich, daß ein Wesen die Einwirkungen eines andern empfangen kann, ohne daß die Hauptwirkung gemischt erscheine . . . durch jede Einwirkung wird das einwirkende Ding modifiziert, und das, was ihm abgeht, geht den andern zu und umgekehrt." „Wohin wir sehen, so sehen wir bloß uns." Die Subjekt-ObjektSpaltung ist aufgehoben; nicht als ursprüngliche Identität, sondern als eine der Erkenntnis undurchdringliche Reziprozität, eine mehr dynamische als quantitative „Mischung". Grundlegend in der Reflexion und dem Unterricht des späteren Lichtenberg ist sein Bemühen, den Unterschied von „praeter nos" ( = „verschieden von uns") und „extra nos" ( = „im Räume verschieden" von uns) aus dem Denken zu verbannen: „Etwas außer sich empfinden ist ein Widerspruch . . . wir sagen, es gibt Dinge, man sollte sagen praeter nos, dem praeter substituieren wir die Präposition extra, das ist etwas ganz anders, das ist, wir denken uns diese Dinge im Räume außerhalb unser." Die Frage, ob es Dinge außer uns gibt, ist also sinnlos. Daran ändert nichts, daß Lichtenberg sich in seinen letzten Aufzeichnungen Kant gegenüber einige Male auf den common sense beruft. Das ist vielmehr

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philosophische Weisheit und potenzierter Kant, indem er, sich auf K a n t berufend, die oben zitierte Bemerkung über die Wechselwirkung von Wirkendem und Bewirktem damit einleitet, „daß wir ja auch so gut etwas sind als die Gegenstände außer uns." Es ist ganz Lichtenbergische Geistesart, wenn sich sein Bedürfnis nach sinnlicher Vorstellung in mythologischen, durch Erkenntnistheorie befruchteten, intellektuell amüsanten Einfällen ergeht: „Wenn uns ein Engel einmal aus seiner Philosophie erzählte, ich glaube, es müßten manche Sätze so klingen als wie 2 X 2 ist 13." „Wir, der Schwanz der Welt, wissen nicht, was der Kopf vorhat." Auch diese Vorstellungen spielen sich, würde der reife Lichtenberg sagen, innerhalb des „Universums" seines Ichs ab. U n d dies wäre f ü r ihn mehr als eine bloße Metapher, denn das Lichtenbergsche Ich, in dem alles vor sich geht, gleicht eben darin dem physikalischen Kosmos, dem das Ich selbst angehört, und durch das dieser Kosmos gedanklich in unserer Vorstellung geschaffen wurde. Und so ist der Rundweg geschlossen. Das Ich kann selbst entscheiden, ob es sich in Alltags-common sense-Redeweise ausdrücken will oder in phantasievollen nicht-menschlichen Perspektiven und Betrachtungsarten („Andere Geister denken sich vielleicht die Dinge unter andern uns unbegreiflichen Verhältnissen"), ob im alltäglichen Vokabular oder in einem mathematischen oder metaphorischen. Es kann sich so oder so „stimmen". Dies wird aber f ü r Lichtenberg in der Regel nicht, wie f ü r den Romantiker, Ergebnis seiner Laune sein, sondern sorgfältig „abgestimmt" auf das Publikum, an das die Äußerung sich richtet und auf den Zweck, dem sie dient. „Reine" Wahrheit, auch nur „reine" Philosophie könne durch Sprache ja nicht wiedergegeben werden und der vielleicht am bewußtesten „existenzielle" deutsche Denker des achtzehnten Jahrhunderts ist zugleich der subtilste: „Ich" und „Sein" sind bloße Wörter: „Das Ich anzunehmen, ist [bloß] praktisches Bedürfnis" und „es kommt [ihm] immer vor", [charakteristisch f ü r Lichtenbergs Vorsicht, daß er es nicht behauptet,'] als wenn der Begriff sein etwas von unserm Denken Erborgtes wäre . . . So viel merke ich, wenn ich darüber schreiben wollte, so würde mich die Welt f ü r einen N a r r e n halten, und deswegen schweige ich. Es ist auch nicht zum Sprechen, so wenig als die Flecken auf meinem Tisch zum Abspielen auf der Geige." Wir verstehen hier, warum schon der junge Lichtenberg der einzige unter den „Aufklärern" war, der sich vor Jacob Böhme beugte, und warum gerade die Frühromantiker einen Autor so liebten, dem in Resignation vor den Begriffen und der Sprache einfiel: „Vielleicht ließe sich eine Art von Feenmärchen auf Kantische Philosophie bauen, andere Formen der Anschauung, wo das Licht Musik wird." In einer Geschichte der Philosophie könnte Lichtenberg nur in einem eigenen Kapitel Platz finden, nicht in einem, das irgendwelchen „Richtungen" oder „Schulen" gewidmet wäre. Es müßte daran erinnern, in welchem gebrochenen Licht ihm oft seine eigenen notwendigerweise sprachlichen Aussagen erschienen, mit einer hinter den Worten des „Ursachen-Tiers" lauernden geheimen Ironie.

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Wir haben die auffallendsten stilistischen Eigenheiten der Gedankenbücher Lichtenbergs als die Spiegelung der auffallendsten Züge seines Geistes erklärt: die kommentarlosen Feststellungen, die Fülle der Fragen und einschränkenden Nebensätze, die vielen „vielleicht", „dünkt mich" und dgl., die Metapher als bewußt proklamiertes Mittel der Wahrheitsfindung, und das kaum beweisbare Lächeln, veranlaßt durch die Paradoxa der Natur des Menschen und seines Verhaltens zu sich selbst, zur Welt und zum Schicksal. Auch in seinen andern Schriften ist die Sprache trotz ihrer so verschiedenartigen Zwecke meist unverkennbar Lichtenbergisch, nur wenig beschränkt und bestimmt durch die besonderen Bedürfnisse der literarischen Gattung. Sie ist meist gesprochenes Deutsch, gepflegt aber unfeierlich und leicht zu erfassen in ihrem ungezwungen gefälligen Rhythmus. Die Darstellung philosophisch oder wissenschaftlich schwierigen Inhalts in solcher Form, mit Vergnügen am sinnlichen Bild und wirksamen Vergleich, verstärkt den Eindruck völliger Meisterung der Materie. Pedanterie als geistige Schwerfälligkeit auf der einen Seite, alles, was ihm als emotionale Übersteigerung erscheint auf der andern, sind die Pole, die er zu vermeiden sucht. Fast nur wo er gefährdete moralische Werte verteidigen will (also in den frühen polemischen Schriften) oder intellektuelle in ihrer Größe verherrlichen (etwa Herschels oder Kopernikus' Leistung), für ein mit dem Gegenstand unvertrautes Publikum, verfällt er manchmal für kurze Strecken in ein „erstimuliert" wirkendes Pathos und weit ausschwingende Rhetorik. Ironie liegt ihm viel näher und ist überall zu finden: hart-treffend im Stil Swifts in den Satiren, leicht, gesellschaftlich witzig, selbst anmutig fast überall in seinen Schriften als weltmännischer Ausdruck geistiger Überlegenheit, psychologischer Sehweise oder früh erworbener Altersweisheit, Wielandisch, nur ein wenig mehr bedacht auf Wirkung da und dort. Dieser Eindruck aber ist gemildert — und er bringt sich dadurch dem Leser näher — durch seine graziöse Selbstironie, gerichtet gegen allerhand Schwächen des Menschengeschlechts, derer er sich bewußt war und besonders gegen sein Abschweifen vom Gegenstand. Weder dieses Abschweifen noch seine sich durch Ironie entlastenden Bemerkungen darüber sind immer bewußt gepflegte Kunstform wie bei Laurence Sterne oder Jean Paul. Assoziatives Denken ist die Denkform Lichtenbergs und er kann sich ihrer nicht erwehren, auch wo er will. Wir verdanken ihr, verbündet mit seinem Humor, den reizvollen Plauderton vieler seiner Aufsätze und der Hogarth-Erklärungen. Assoziation verknüpft ihm alles mit allem und machte auch seine Vorlesungen so anregend: In ungedruckten Paralegomena für sein Physikkolleg 9 kommt Lichtenberg von der Frage der Gültigkeit mathematischphysikalischer Gesetze auf die Entstehung der Welt zu sprechen, und von ihr auf das Wesen mathematischer Aussagen und der Sprache: „Man kann auch sagen, 2 mal 2 ist 5, aussprechen sollte man sagen, aber wie kann [man] es denken. [Die Leibnizsche Idee der characteristica universalis taucht wieder auf:] Ich habe daher schon oft gewünscht, daß es eine Sprache geben möchte, worin man eine Falschheit gar nicht sagen könnte, oder wo wenigstens jeder Schnitzer

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gegen die Wahrheit auch ein grammatikalischer wäre." Und er fährt fort: „Allein freilich wäre das traurig für viele Assembleen und Gesellschaften und für unsere unzähligen Versicherungen und Komplimente. Ich glaube, da wo jetzt oft am meisten geplaudert wird, möchte es sehr stille werden, oder von grammatikalischen Schnitzern wimmeln." Im Alter furchtsam geworden, strich er diese Bemerkung wieder aus. Kürze aber, sein oft verkündetes Stilideal, ist die raison d'etre und die Tugend seiner Aphorismen. Seine Ungeduld mit Pedanterie, Freude an der Ausdruckskraft der Sprache, das Wunschbild des Weltmanns und einfach ein nicht weiter zu analysierendes ästhetisches Ideal stehen hinter dem konzisen Satz. Trotz jener Fähigkeit zur weit ausholenden und hoch aufgebauten Periode, wirksam gebraucht in einigen von moralischer Indignation inspirierten Polemiken, liegt Lichtenbergs stärkste Kraft in der eleganten kurzen Formulierung und schwerelosen Präzision, wo es sich um Logisches, und im originellen Bild, wo es sich um Komplexes oder Intuitives handelt. Der Gabe, Assoziation und Konzision im anspielungsreichen Wort oder Bild zu vereinigen, manchmal noch gestützt durch die Beziehung der Wörter zueinander und ihre rhythmisch gestalthafte, pointierte Anordnung im Satz, verdanken seine gedanklichen und humoristischen Kunstgebilde ihren Glanz, ihren Witz und ihre Ausdruckskraft. Die wirkungsvolle Metapher, auch wo sie nicht heuristisches Mittel ist, und der originelle, aber nicht mühsame Vergleich, unverkennbare Merkmale Lichtenbergscher Prosa, sind Ausdrucksformen seines sinnlichen Denkens, konkreter Phantasie und sprachlicher Gestaltungsfreude. Diese teilt sich dem Leser mit, als Heiterkeit, und macht das Abstrakteste oder geistig Gestalthafte, aber noch Unartikulierte mühelos anschaulich, mit dem Gehaben völliger Spontaneität. Etwa in den Sätzen von den Wesen, die zur Musik des Weltgebäudes tanzen oder den folgenden: „ . . . viele Menschen, die nur die Formen der Philosophie haben, gleichen einem Gebäude mit gemalten Fenstern; man glaubt Wunder was sie für Licht hätten, sie sind aber dessenungeachtet sehr dunkel; oder gegen ein Fenster, das ein bißchen Licht ins Haus bringt, sind allemal zehn gemalte." „Er glich gewissen Blumenblättern, die man nie gerade biegen kann, sie bleiben immer nach der einen oder der anderen Seite hohl." „Es ist zum Erstaunen, wie weit ein gesunder Menschenverstand reicht. Es ist auch hier, wie im gemeinen Leben, der gemeine Mann geht hin, wohin der Vornehme mit Sechsen fährt." Selbst dem harmlosen Scherz verleiht Lichtenbergs Gestaltungskunst aphoristischen Glanz: „Er verschluckte viel Weisheit, es war aber, als wenn ihm alles in die unrechte Kehle gekommen sei." So nimmt denn auch seine Freude am Paradoxen sprachliche Form an: „Es gibt manche Leute, die nicht eher hören bis man ihnen die Ohren abschneidet."

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Sprachliche Hellhörigkeit, Bewußtsein der Physiognomie der Wörter ist ein anderer Aspekt der dichten Verflechtung ihres Klangs mit Vorstellungen und Begriffen. H a r t stoßen sich ihm im Wort die Sinne und Begriffe: „Despaviladera heißt eine Lichtputze auf Spanisch. Man sollte glauben, es hieße wenigstens kaiserlicher Generalfeldmarschallieutenant." „Man sollte Katharr schreiben, wenn er bloß im Halse, und Katarrh, wenn er auf der Brust sitzt." Die alltägliche Redewendung wird Lichtenbergs wachem Hören wie Nestroy als ein dem Sprecher unbewußtes Wortspiel zur anmutig-witzigen Szene: „Nun, Liebster, Ihre H a n d . — Ihren Mund — so, nächstens mehr. Leben Sie wohl." Der ganze Scherz dieses Miniatur-Dialogs lebt diesem doppelsinnigen mehr. In Zeiten depressiver Erschöpfung allerdings und Bemühens um Witz scheut Lichtenberg auch vor albernen, auf bloß äußerlichem Gleichklang beruhenden Wortspielen nicht zurück; aber er läßt sie nicht drucken. Die stete Offenheit der Sinne und die Gabe, das Gesehne oder Gehörte Sprachgestalt werden zu lassen, unmittelbar oder durch den sich aufdrängenden Vergleich, haben bewirkt, daß der Schriftsteller Lichtenberg, der als Bekämpfer der Physiognomik in die Literaturgeschichte eingegangen ist, zugleich der Meister der geistigen Charakterisierung durch physiognomisch-pathognomische Beschreibung, Metapher und Vergleich wurde. Hier ein paar der unzähligen Einzelfälle: „Ein Amen-Gesicht." „Eine Art von Gang, als wenn er in seinen Kopf kriechen wollte." „Er bewegte sich so langsam als wie ein Stundenzeiger unter einem H a u f e n von Sekundenzeigern." „Er hatte ein paar Augen, aus denen man, selbst wenn sie still standen, seinen Geist und Witz so erkennen konnte, wie bei einem stillstehenden Windhunde die Fertigkeit im Laufen." In Lichtenbergs satirischen Schriften wird solche Beschreibung zur Karikatur — bei der Bewunderung Klopstockscher Oden und Lavaterscher Weisheiten gehen den „Kandidaten" „die Augen über und die Zehen auseinander" — und Empfindlichkeit f ü r Physiognomie der Sprache zur Parodie. Das Parodistische verleiht in seinen ältesten Kampfschriften der konsequent durchgeführten Ironie besondere Lebensnähe, ja die Lebendigkeit gesprochener Mimesis. Lichtenbergs geistige Lebendigkeit also und seine Freude am sinnlich Konkreten, sein Spaß am Demonstrieren prägen immer wieder seine Sprache und bewirken im Leser das Gefühl persönlicher Anwesenheit des Autors in allem, was er sagt. Dauernde intellektuelle oder emotionale Spannung, in nicht zu großen Abständen gelockert durch Scherz oder Pointe, begleitet das Lesen seiner besseren Aufsätze, Bilder-Kommentare und vor allem seiner Briefe. Trotz des scharfkantigen Realismus der Beschreibungen wirkt Lichtenbergs Prosa wie ein Beweis seiner philosophisch fundierten Überzeugung von der Untrenn-

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barkeit des Beobachteten vom Beobachter: Fragen und Antworten unterbrechen die Darlegung oder Erzählung; das nuancierte Wort und ein markanter Rhythmus gestalten außer dem Gegenstand oder Vorgang auch die von ihm ausgehenden Impulse. Ein Beispiel aus den Briefen möge eine Vorstellung von der Umsetzung bald empathischer, bald reflektierender Beobachtung bewegten Lebens in dramatisch lebendige, sinnennahe und -freudige Darstellung geben: [„Ich w i l l " ] schreibt er seinem Kollegen Baldinger aus London, Ihnen ein flüchtiges Gemälde von einem A b e n d in London auf der Straße machen, das ich mündlich. . . mit einigen Gruppen vermehren will, die man nicht gern mit so dauerhafter Farbe als Tinte malt. Ich will dazu cheapside und Fleetstreet nehmen, so wie ich sie in voriger Woche, da ich des Abends etwas v o r 8 U h r aus H e r r n Boydells Haus nach meinem Logis ging, gefunden habe. Stellen sie sich eine Straße vor, etwa so breit als die Weender, aber, wenn ich alles zusammen nehme, wohl auf 6 mal so lang. A u f beiden Seiten hohe Häuser mit Fenstern von Spiegelglas. Die untern Etagen bestehen aus Boutiquen und scheinen ganz v o n Glas zu sein; viele tausende von Lichtern erleuchten da Silberläden, Kupferstichläden, Bücherläden, Uhren, Glas, Zinn, G e mälde, Frauenzimmer-Putz und Unputz, G o l d , Edelgesteine, Stahl-Arbeit, K a f f e e z i m m e r und Lottery Offices ohne Ende. Die Straße läßt, wie zu einem Jubelfeste illuminiert, die Apotheker und Materialisten stellen Gläser, worin sich Dietrichs Kammerhusar baden könnte, mit bunten Spiritibus aus und überziehen ganze Quadratruten mit purpurrotem, gelbem, grünspangrünem und himmelblauem Licht. Die Zuckerbäcker blenden mit ihren Kronleuchtern die Augen, und kützeln mit ihren Aufsätzen die Nasen, f ü r weiter keine Mühen und Kosten, als daß man beide nach ihren Häusern kehrt; da hängen Festons von spanischen Trauben, mit Ananas abwechselnd, um Pyramiden von Ä p f e l n und Orangen, dazwischen schlupfen bewachende und, was den T e u f e l gar los macht, oft nicht bewachte weißarmigte N y m p h e n mit seidenen Hütchen und seidenen Schlenderchen. Sie werden von ihren H e r r n den Pasteten und Torten weislich zugesellt, um auch den gesättigten Magen lüstern zu machen und dem armen Geldbeutel seinen zweitletzten Schilling zu rauben, denn Hungriche und Reiche zu reizen, wären die Pasteten mit ihrer Atmosphäre allein hinreichend. Dem ungewöhnten A u g e scheint dieses alles ein Z a u b e r ; desto mehr Vorsicht ist nötig, Alles gehörig zu betrachten; denn kaum stehen Sie still, Bums! läuft ein Packträger wider Sie an und ruft by your leave wenn Sie schon auf der E r d e liegen. In der Mitte der Straße rollt Chaise hinter Chaise, Wagen hinter Wagen und K a r r n hinter K a r r n . Durch dieses Getöse, und das Sumsen und Geräusch von tausenden v o n Zungen und Füßen, hören Sie das Geläute von Kirchtürmen, die Glocken der Postbedienten, die Orgeln, Geigen, Leiern und Tambourinen englischer Savoyarden, und das Heulen derer, die an den Ecken der Gasse unter freiem Himmel Kaltes und Warmes feil haben. Dann sehen Sie ein Lustfeuer von Hobelspänen Etagen hoch auflodern in einem Kreis von jubilierenden Betteljungen, Matrosen und Spitzbuben. A u f einmal ruft einer, dem man sein Schnupftuch genommen: stop thief und alles rennt und drückt und drängt sich, viele, nicht um den Dieb zu haschen, sondern selbst vielleicht eine U h r oder einen Geldbeutel zu erwischen. Ehe Sie es sich versehen, nimmt Sie ein schönes, niedlich angekleidetes Mädchen bei der H a n d : come, M y Lord, come along, let us drink a glass together, or I'll go with you if you please; dann passiert ein Unglück 40 Schritte v o r Ihnen; G o d bless me, rufen Einige, poor creature ein A n d e r e r ; da stockt's und alle Taschen müssen gewahrt werden, alles scheint Anteil an dem Unglück des Elenden zu nehmen, auf einmal lachen alle wieder, weil einer sich aus Versehen in die Gosse gelegt hat; look there, damn me, sagt ein Dritter und dann geht der Zug weiter. Zwischendurch hören Sie vielleicht einmal ein Geschrei von hunderten auf einmal, als wenn ein Feuer auskäme, oder ein H a u s einfiele oder ein Patriot zum Fenster herausguckte.

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B e k a n n t als Meisterstück beschreibender E r z ä h l u n g des Erlebten ist die Schilderung des Schauspielers Garrick g e w o r d e n , verdientermaßen. A m besten aber scheint uns Lichtenberg z u sein im u n b e m ü h t e n Bericht des P r i v a t e n , an sich U n b e d e u t e n d e n : D i e Beschreibung der K ö n i g i n v o n D ä n e m a r k beim Speisen i n m i t t e n einer kleinen Hofgesellschaft, beobachtet v o m K n i r p s e n

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verborgen hinter d e m breiten Rücken eines T ö l p e l s v o n H a u s k n e c h t , o d e r die der vergnüglichen W u n d e r u n d A u s f l u g s - A t m o s p h ä r e einer Sdiiffsreise nach H e l g o l a n d sind unübertrefflich in der präzisen u n d dennoch lebendigen W i e d e r g a b e einer Fülle v o n k o n k r e t e n Beobachtungen, u n w ä g b a r e m H a l b - u n d U n g e s a g t e m , v o n Menschenkunde u n d Reflexion, sich a u f d r ä n g e n d e n Scherzen u n d Selbstironie u n d des m i t k e i n e m W o r t e r w ä h n t e n u n b ä n d i g e n Vergnügens, an all d e m t e i l z u n e h m e n . U n a n g e s t r e n g t scheint es Sprache g e w o r d e n z u sein, G e g e n w a r t : Stade, den 28. Juni 1773 Liebste Frau Gevatterin, U n d so wie ich in den Speisesaal hineintrat, w a r ein schicklicher P l a t z zum Observieren das erste worauf ich dachte. Nach einer Wahl von etlichen Augenblicken kam es zum Schluß, ich stund, und die Beobachtungen nahmen ihren Anfang. Ich hatte mich . . . herrlich postiert. Zur Rechten etwas von mir, doch so, d a ß wir einander mit den Rockfalten berührten, stund ein Mädchen, welcher ich mit meinen Augen fast an die Nase reichte, und ich konnte frei über ihre linke Achsel weg die Tafel mit meinen Augen bestreichen; wollte ich frei stehen, so schob ich nur meinen rechten A r m an ihrem linken Arm (ohne die Rockfalte zu berühren, welchen mutwilligen Gedanken ich mir ernstlich hiermit verbitte) vorbei, so stund ich v o r a n ; grad umgekehrt v e r f u h r ich, wenn ich wieder bedeckt sein wollte. Zur Linken stund mir ein Tölpel, von sechs Fußen, dem ich mit meinem Scheitel, ich meine den, welchen mir der Perückenmacher in H a n n o v e r aufgesetzt hatte, an den dritten Westenknopf, von oben gerechnet, reichte. H i n t e r diesen, dachte ich, willst du dich zurückziehen, wenn du ganz versteckt sein willst, und überhaupt, hinter diesem Kerl bist du wie zu Haus. D o r t die dicke Dame, grade gegen uns über, in dem blauen Kleide ist die Königin, sagte der Hausknecht, indem sein Zeigefinger seinen Weg nach der Königin durch meine rechte Locke nahm, d a ß ich fast böse geworden w ä r e : H a l t er das Maul, ich sehe sie schon lange, antwortete ich bloß mit einem kurzen Schütteln des Kopfes, das in Nicken endigte. I n p r i v a t e n Briefen u n d A u f z e i c h n u n g e n e n t f a l t e t e sich auch seine K u n s t des Porträtierens, h a n d l e es sich u m S k i z z e n seiner kleinen Tochter oder seiner Stud i e n f r e u n d e o d e r u m ein breiter ausgeführtes Bildnis w i e das seines G ö t t i n g e r K o l l e g e n , des T h e o l o g e n K u l e n k a m p : . . . Ein M a n n von gutem Jovialischen Gesicht und noch besserer N a t u r , und richtigem Tritt. Sein Gang ist der beste unter allen Professoren. Er besitzt die Gabe, sich in die Brust zu werfen mehr als irgend jemand, den ich in Deutschland gesehen habe. In England sind diese Leute häufiger. Sein H e r z ist nicht schlecht, er ist eher schwach als bös . . . Sein Umgang bei Tisch ist angenehm und er ist in einem hohen G r a d was die Engländer a Jolly fellow nennen. E r ist selten der letzte, der aus einer Gesellschaft weggeht, und niemals der erste, es wäre denn, d a ß er versprochen hätte, bei einer andern der letzte zu sein. So wie der Wein in der Bouteille fällt, so steigt bei ihm der Witz oder mehr der Mutwillen und weil er ein Geistlicher ist, so gibt dieses bei Leichtfertigen seinen Scherzen einen Reiz, es ist der Sieg über eine N o n n e . Eigenes ist in seinen Einfällen wenig oder nichts, er weiß aber Geschichtdien gut anzubringen. Ein Mann, der nicht so gut aussähe wie er, könnte sich unmöglich mit so wenig K r a f t in Gesellschaft erhalten; so zusammen genommen gefällt er. Ich habe mich mehr als einmal befragt, warum c

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es mir in seiner Gesellschaft gefiele, und habe mir es nie erklären können, allein es gefiel mir in seiner Gesellschaft. V o n seinem V e r s t a n d m u ß ich bekennen, habe ich keinen sehr vorteilhaften Begriff. Ich glaube, er hat wenig oder gar keinen. W e n n m a n auf einem P u n k t stehen bleibt und auseinandersetzt, so ist er still, oder er erläutert nur mit alltäglichen F o r m e l n die Bemerkungen des letzten, der gesprochen hat. A b e r was er spricht, spricht er gut, und w e r kein Deutsch versteht, muß glauben, er habe etwas Gutes gesprochen. Ich bin nicht ganz in seiner Gelehrsamkeit unterrichtet . . . allein er ist seiner U m stände zu sicher, um für Geld zu arbeiten und seine Begierde liegen zu sehr nach einer andern Seite, um nicht völlig mit dem K r e d i t zufrieden zu sein, den er hat, oder zu haben glaubt. Seine Bibliothek ist vortrefflich und er überhaupt ein Mann im Geschmack der Zeit. Seine Liebes-Geschichten sind Einbildungen . . . seiner falschen Bewunderer. E r spricht zu viel und zu deutlich v o m F r a u e n z i m m e r , als d a ß es ihm ein sehr hoher E r n s t sein könnte. Ich t r a u e ihm bei seinem starken K ö r p e r wenig zu . . , 1 0

Diese Schilderung hat zumindest den Rang der berühmteren Porträts La Bruyères oder des Kardinals de Retz, ja ist ihnen überlegen durch die un„engagierte" Sachlichkeit, den gelassenen Humor, die Einbeziehung und die Analyse der Wirkung des Porträtierten auf seine Umwelt, ja den Porträtisten : des „Fluidums", der „attrativa", als Bestandteil der Persönlichkeit. Aphoristische Formulierungen — der „letzte" und der „erste", das Bild vom Steigen des Mutwillens in Proportion zum Fallen des Weins, der psychologisch analytische „Sieg über eine Nonne" — und der Beobachter als Teil des Bildes machen es über den Inhalt hinaus reizvoll (menschlich und ästhetisch) und durch und durch lebendig: Es spiegelt die immer bewegliche geistige Vielfalt seines Malers. — Aber was bedeutet das für den Ruf eines Schriftstellers in der Weltliteratur? La Bruyère führt uns durch eine Galerie von Bildern, beim Kardinal sind sie in großen geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet und sie sind zahlreich. Bei Lichtenberg sind es Zufallsfunde, oft nur wie Skizzen wirkend, verstreut in Briefen, Konzepten, Gedankenbüchern. Auch sonst ist ihm außerhalb der Briefe nur Weniges zur äußeren Vollendung gediehen, zum geplanten, runden Werk: die „Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche", die kleinen Aufsätze und Erzählungen im Taschenkalender, einige wenige polemische Artikel und Satiren. Die Hogarth-Kommentare waren eine genau umschriebene Aufgabe, die ihm bestimmte Gegenstände zur Verfügung stellte, an denen sich sein Wissen und didaktischer Eifer betätigen, sein Witz und sein Einfallsreichtum entzünden konnten, die Abschluß zu bestimmten Zeitpunkten verlangte und dem Willensschwachen durch den Anreiz hoher Entlohnung leichter machte. Ebenso zwang ihn das regelmäßige Erscheinen des Taschenkalenders jahraus, jahrein die ernsthaften und humoristischen Aufsätze und Plaudereien und essayistischen Feuilletons zu beenden — literarische Gattungen, die seiner Natur ohnehin lagen und nicht zu viel Selbstdisziplin erforderten, unter ihnen sein Glaubensbekenntnis „Amintors Morgenandacht", entstanden in einer Zeit stiller Einkehr nach schwerer Krankheit, und das heiter-praktische „Warum hat

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Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?". Auch zwei, drei über den Rang der andern hinausragende allegorische Erzählungen und Phantasiestücke mit philosophischer oder satirischer Tendenz gelangen ihm so: „Ein Traum", „Von den Kriegs- und Fastschulen der Schinesen", die „Rede der Ziffer 8" und drei satirische Streitschriften. Alles andere, Dutzende von Plänen zu Romanen, Märchen, Dramen ist Fragment geblieben, denn Lichtenbergs Phantasie war imstande, aphoristische Ein-Satz-Mythen zur Verkörperung des Abstrakten zu schaffen, wie der Kantischen Philosophie, nicht aber Charaktere, nicht Handlung, und seine geistig-nervöse Konstitution hat ihm das Komponieren und standhafte Ausführen des Geplanten in der Regel unmöglich gemacht. Seine auf einander bezogenen Kenntnisse auf den verschiedensten Gebieten, die Rationalität seiner Betrachtungsweise, sein philosophischer Geist und seine Darstellungsgabe des Gedanklichen scheinen Lichtenberg zum Essayisten zu bestimmen; was er aber als Essay beginnt, wird ihm durch die mangelnde Energie seines Kompositionswillens und den ihm natürlichen Drang, sich mit seinem Leser auf gefällige Weise zu unterhalten, unter der H a n d zum Feuilleton. Jean Paul — der Lichtenberg Jahrzehnte lang las, liebte und bewunderte — sah in ihm den Dichter-Humoristen, der aber leider vom Irdischen, vom Prosaischen und von der Wissenschaft nicht völlig befreit war und darum nicht vollkommen. „Ein wenig von britischer und von mathematischer Einseitigkeit festgehalten, stand [er] doch mit seinen humoristischen K r ä f t e n höher, als er wohl wußte, und hätte bei seiner astronomischen Ansicht des Welttreibens und bei seiner witzigen Überfülle vielleicht etwas Höheres der Welt zeigen können als zwei Flügel im Äther, welche sich zwar bewegen, aber mit zusammengeklebten Schwungfedern." 1 1 „[Humoristisch . . .] wird der edle Lichtenberg genannt, dessen vier glänzende Paradiesesflüsse von Witz, Ironie, Laune und Scharfsinn immer ein schweres Registerschiff prosaischer Ladung tragen, so daß seine herrlichen komischen Kräfte nur von der Wissenschaft und dem Menschen ihren Brennpunkt erhalten, nicht vom poetischen Geist." 12 Seinen Zeitgenossen galt Lichtenberg als der Satiriker, aber in Jean Pauls Augen war diese Satire nicht von der Art, die er „als ernsten moralischen Unwillen" dem H u m o r und dem „Komischen" entgegenstellte, das „mit dem Kleinen des Unverstandes sein poetisches Spiel [treibt] und . . . heiter und frei" madit. Für Jean Paul vernichtet „Humor . . . nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee." Wohl hat Lichtenberg in seiner Polemik — die nicht immer von Satire zu trennen ist — Einzelne zu vernichten gesucht und sich dazu auch des Witzes und der Anstiftung zum Gelächter bedient, und so, als witziger Verspotter des Einzelnen — der leichtfertigen Physiognomen, der Hainbündler, Zimmermanns, Vossens — hat ihn seine Zeit und die spätere Literaturgeschichte gesehen; aber fast immer war ihm in diesen Schriften das Einzelne zugleich ein Endliches im Kontrast mit der Idee und dadurch Anlaß zu ernstem moralischem Unwillen, zu echter Satire im Sinne Jean Pauls. c»

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Denn ihm selbst war sein Kampf gegen die „Zeitungsschreiber" und „Rezensenten", „Primaner" und „Schwärmer", „falschen Gelehrten" und „Cliquen" ein Kampf für das Echte, Natürliche, für Suche nach Wahrheit, Gesamtmenschentum und Berufsethos gegen das, was ihm als das moralisch und geistig Substanzlose, als ethische und geistige Trägheit oder prinzipienlose Betriebsamkeit, Affektation und Selbstbespiegelung erschien, als Verrat an der Idee des Gelehrten, des Dichters, des Menschen. Kurz, sein Kampf ging gegen den „Literaten" aller Berufe, „Journalismus" als eine potentiell alles umfassende Geistesund Gesellschaftsform: „das gawzeZeitungs-All"13. „Gezwitscher ",„KandidatenProse", Professoren-Deutsch waren ihm Sprachgestalt des verurteilens- oder verlachenswerten Abfalls von der Idee; Parodie, Polemik, Satire seine Abwehr. Das alles besagt nichts über den Wert seiner Satire oder ihre „Berechtigung", aber das Wesentliche über ihren Sinn. Die Analogien zu Karl Kraus liegen auf der Hand. Kaum noch erkannt — oder bloß kaum erwähnt? — ist die Rolle der Kulturkritik in Lichtenbergs Denken und Schreiben, Kritik der deutschen Kultur seiner Zeit, sein Unbehagen in der deutschen Gesellschaft. Das Viele, das .er über sie zu sagen hatte, das Weh, das er über sie empfand — zum Teil allerdings, weil er sich von ihrem Besten ausschloß — wird von den Auswahlen und Würdigungen Lichtenbergs unterdrückt oder höchstens in vorsichtigster Form angedeutet. Aus dem Moralisten wäre er gerne der Praeceptor Germaniae geworden, ja mehr: „Oft wenn mir Zeit und Genie zuraunte: jetzt, Photorin, jetzt schlage zu, werde der Retter deines Vaterlands, du kannsts, so habe ich gepfiffen oder an den Fensterscheiben getrommelt." 14 („Photorin" ist „Lichtenberg" auf griechisch.) Unterdrückung selbständigen, unerschrockenen Geistes, Mangel an Maß und Urbanität — Prinzipienreiterei, die im Geistigen und im persönlichen Umgang Schlachten gewinnt und Kriege verliert — sah er als deutsche Erblaster. Er blickt voraus auf die Zeit, „wenn wir uns alle zu Chinesern abgeschliffen haben, wenn unsere Moneten [?] sich . . . zu einer einzigen politischen Uhr zusammentun, wenn uns die Polizeibedienten ins Haus kommen und die Dinte mit Fingerhüten wöchentlich zumessen werden." 15 Er stand westeuropäischer Bildung und Lebensidealen zu nahe, um nicht im Nationalismus Klopstocks und der Hainbündler die Gefahr eines Ausscheidens Deutschlands aus dem europäischen Kulturkreis zu sehen (trotz Herders und Goethes), er hatte zu lange die demokratische Luft Englands geatmet, zu lange in einem Land gelebt, in dem es zum guten Ton gehört, sozialen Rang und Wissen im Umgang mit andern eher zu verbergen als zu betonen, einem Land, dessen Bewohner über die Ozeane hinwegblicken, um nicht unter dem provinziellen Charakter und dem so betont hierarchieund „bildungs"-bewußten Auftreten der Deutschen zu leiden. Es schien ihm die Würde des Menschen zu verletzen und seine Anmut zu gefährden. Wie steht es mit Lichtenbergs Wirkung auf die ihm folgenden Generationen?

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Gerät ein Kenner der Physik, Astronomie, Mathematik oder der Wissenschaftstheorie einmal in Berührung mit Lichtenbergs verschollenen fachlichen Schriften und Gedanken, dann ist des Staunens kein Ende über all sein richtiges „Raten" über so viele oft erst in unserem Jahrhundert entdeckte oder verstandene Vorgänge in der Natur, über seine methodische Umsicht und Konsequenz, seinen Spürsinn und seine Voraussicht, also Eigenschaften seines Geistes, nicht Ergebnisse. Aber fast nur die zählen in den Naturwissenschaften. Der Historiker der Philosophie, soweit ihm Lichtenberg „nur ein Aphoristiker" ist — sein Name erscheint, soweit wir sehen, in keiner deutschen Geschichte oder Anthologie der Philosophie, wohl aber in einer englischen, — erkennt, auf zwei Jahrhunderte zurückblickend, in seinem Werk Grundgedanken fast aller auf die Aufklärung folgenden wichtigeren philosophischen Systeme, teils als radikal durchdachte Folgerungen aus dem Denken seiner Vorgänger, teils als selbständige Funde. Er selbst konnte keines formen, weil der ihm eingeborene Zwang, alle Denkweisen zu überprüfen, ja sie sich versuchsweise zu eigen zu machen, kurz, die Offenheit seines Geistes dessen Wesen ausmacht. Und die Einsicht in die „Täuschungen" der Sprache bei gleichzeitiger Notwendigkeit, sich ihrer zu bedienen, das dauernde Bewußtsein ihres quasi-Charakters war bis vor vierzig oder fünfzig Jahren kein Thema, das bei der Fachphilosophie besondere Beachtung gefunden hätte und daher kein Grund, ihn zu erwähnen. Der Psychologie als Wissenschaft, ja dem Bewußtsein des Halbgebildeten sind Lichtenbergs Entdeckungen im Bereich des Unbewußten, besonders der Ausdrucks- und Gestaltpsychologie, systematisiertes Gemeingut geworden, entblößt vom geistigen Reiz des ersten Findens, bar der persönlichen Gestaltung und so ihrer sprachlich-literarischen Anziehungskraft. Auf dem eng als „Literatur" umschriebenen Gebiet, dem Lichtenberg allzulange fast ausschließlich zugezählt wurde, sind unter seinen Erzählungen und Aufsätzen trotz allen feinen Humors, trotz aller Weltweisheit und allen Tiefsinns weniger als ein halbes Dutzend, die irgendwem als dem Liebhaber oder dem Erforscher und Deuter auch abgelegener, uns nicht mehr unmittelbar ansprechender Literatur etwas sagen können; unter den polemischen und satirischen Schriften, ähnlich wie bei Lessing, kaum eine. Es ist mit ihnen allen so gegangen, aus anderen Gründen, wie mit seinen Gedanken und Entdeckungen in den Naturwissenschaften, der Philosophie, der Psychologie und der philosophischen Anthropologie: Erneut und in geschlossenen Systemen absorbiert, wurden sie, als Lichtenbergische, vergessen oder sind gegenstandslos geworden. So verblich denn auch sein Ruhm im neunzehnten Jahrhundert außer bei einzelnen Großen und ihm Verwandten, trotz der Bewunderung seiner ihn überlebenden scharfsichtigen und weisen oder für das Subtile empfänglichen Schüler und Zeitgenossen: Kants, Alexander von Humboldts, der Brüder Schlegel, Jean Pauls. Goethe vergaß eine Zeitlang seine Hochachtung für ihn, als Lichtenberg den optischen Schriften die erhoffte wohlwollende Aufnahme versagte. Sein Ressentiment darüber ging so weit, noch 1806 zu bemerken, von Lichtenbergs „unglück-

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lieber körperlicher Konstitution" rühre es mit her, „daß es ihn erfreut, etwas noch unter sich zu erblicken . . . Er war nur auf Entdeckung des Mangelhaften gestellt." Erst in den Wanderjahren wurde er ihm wieder der „heitere N a t u r forscher", der „vollkommen wahr gesprochen", der Autor, dessen Schriften „wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen [können]: Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen." So wenig wir vergessen dürfen, daß der tiefe Respekt dieser Großen Lichtenberg galt, noch bevor die „Aphorismen" erschienen waren — und es wird allzu oft vergessen —, so erklärt sich das Vergessen doch daraus, daß es das Korpus der Gedankenbücher ist, in dem wir diese hier von Goethe berührten Eigenschaften des Lichtenbergschen Geistes in aller seiner Fülle und Köstlichkeit am reinsten genießen können. In diesen Büchern, als Ganzes betrachtet, werden sehr viele der scheinbar isolierten, kein bestimmtes Fach betreffenden Späße, die Beobachtungen und Funde wieder organisch-lebendig, und noch offenkundiger jene philosophischen und ästhetischen, anthropologischen und naturwissenschaftlichen Gedanken, die politischen und literarischen und die komplex Lichtenbergischen. Sie beziehen sich öfter als es auf den ersten Blick sichtbar ist, auf die anderen Schriften und ihren Autor, geprägt von seiner Eigenart im kürzesten Satz, im heitersten Vergleich und in der unbeantworteten Frage. Sie allein schon bewirkt unaufhörliche Bewegung mit dem Unterton intellektueller Spannung, ja Erregtheit. Nach Jean Paul, dem Lichtenberg noch mit vielem Recht als der humoristische Schriftsteller der Spätaufklärung galt, nach Goethe und Kierkegaard, waren es im neunzehnten und unserem Jahrhundert die Eigenartigsten und Sensitivsten im deutschen Kulturkreis, die unter seinen Bann gekommen sind: Schopenhauer 16 und Nietzsche, Grillparzer und Mörike, Hofmannsthal, Karl Kraus und Musil; Freud zitiert ihn mehr als ein Dutzend Male; das Exemplar der Aphorismen in Thomas Manns Nachlaß ist übersät mit Anstreichungen, einfachen und doppelten und Rufzeichen. Das Verschiedene, das jeden von ihnen in Lichtenberg besonders anzog, schließt sich wie die verschieden beleuchteten, aber doch von einem Baugesetz beherrschten Fassetten eines Kristalls zu einem nicht weiter reduzierbaren, wenn auch unvollständigen Bild seines Geistes zusammen. Es war Lichtenbergs Kampf um die von keinem System einzufangende Wahrheit, um existenzielle Selbständigkeit im Geistigen und sein daraus folgender H o h n auf die Literaten und Zeitungsschreiber, was Kierkegaard zu seinen bei ihm ungewohnt begeisterten Zurufen drängte und ein Wort Lichtenbergs über törichte Buchkritik als eigenes Motto wählen ließ. 17 Auch sein Stilmittel der Ironie als Ausdrucksform des sonst nicht Sagbaren muß Kierkegaard zutiefst angesprochen haben. Für Schopenhauer als Philosophen, als Verfasser der Parerga und Paralipomena-Kapitel über Gelehrte, Bücher und Stil und als Ubersetzer Gracians war der Fragmentist Lichtenberg der vorbildliche „Selbstdenker", „Meister" jener

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wahren Philosophen, deren „Genuß und das Glück ihres Daseins im Denken" besteht. Seine Wirkung auf den jüngeren Nietzsche, zunächst wahrscheinlich auf dem Weg über Schopenhauer, war geradezu überwältigend. Nietzsche, der Psycholog fand bei ihm sein Durchschauen der individuellen und kollektiven Masken vorweggenommen, die Physiologie des Denkens, den hellen, Körperliches ins Geistige einbeziehenden Realismus der Seele; der Denker die Kritik der Sprache; der Sucher nach einem neuen Stil und der Kulturkritiker die von ihm selbst angestrebte und bei den Franzosen so sehr bewunderte wolkenfreie Kühle und heitere Geistigkeit. U n d der Lobpreiser „des Aphorismus, der Sentenz [als] Formen der Ewigkeit", des schwerelosen Sagens des Tiefsten, des „in Ketten Tanzens" traf auf Lichtenbergs verwirklichtes Stilideal: ein Maximum an Gedachtem in einem Minimum an Worten auszusagen oder zu implizieren. „Mein alter Heiliger" war Lichtenberg f ü r Mörike seit seiner Studentenzeit 18 aus einem Blickpunkt, der dem Nietzsches beinah entgegengesetzt war. „Am ganzen Leibe" sich schüttelnd über eine Charakterisierung seines Lieblings als bloß witzigen Kopf, bezeichnete er ihn als den im Herzen wahrhaft religiösen Menschen. Er fand bei ihm die ihm selbst so natürliche Verbindung des Schalkhaften mit dem Wissen um mystische Erlebnisse vor (selbst in der trivialen Form des Aberglaubens), die Liebe für das Kuriose, sichtbar in ernsthaft-humoristischer Mythenschöpfung, sowie das Nebeneinander rokokohafter Eleganz und der Entspannung vom hellen Intellekt im Zauber der Dämmerung, ja in bewußt genossener Melancholie. So wie Nietzsche bewunderte Grillparzer 1 9 Lichtenberg als Analytiker des Seelischen. Seine Tagebücher enthalten Dutzende Bemerkungen über ihn und Stellen aus seinen Schriften mit und ohne Namen des Verfassers. Mit ihm im Sinn umschrieb der junge Grillparzer sein Ideal des Psychologen, in dieser Beschreibung Lichtenberg selbst zitierend: „Tiefer Beobachtungsgeist, eindringender Scharfsinn, anhaltendes Studium der körperlichen und geistigen N a t u r gehören dazu . . . O Lichtenberg Lichtenberg, warum wardst du deinem Vaterlande so früh entrissen!" Durch Nietzsche wirkte Lichtenbergs Sprachkritik auf Hofmannsthal; und als Motto des Buches C f a n d er bei ihm Addisons „The whole man must move together"; es sollte auch einer seiner Zentralgedanken werden. Es war Lichtenbergs Instinkt f ü r den enthüllenden psychologischen Scherz, der es Sigmund Freud ermöglichte, so viele der „Aphorismen" seiner Untersuchung „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" zugrundezulegen. Der Glanz und die Subtilität der witzigen Sprache, in inniger Beziehung zum Gedanken, Lichtenbergs Antijournalismus und seine Aphorismen als Gestaltungsform der Gesellschaftskritik erklären ohne weiters Karl Kraus' Vorliebe f ü r ihn. Ungewöhnliche Einsicht in die „Tiefe" und unterirdische Verbundenheit der Aphorismen bezeugte sein W o r t : „Lichtenberg gräbt tiefer als irgendeiner . . . Er redet unter der Erde. N u r wer selbst tief gräbt, hört ihn." 2 0

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Gelegentlich — aus gewiß sehr eingeschränkter Sicht — als der „Ernst Mach des 18. Jahrhunderts" bezeichnet, sollte Lichtenberg mit seiner Betonung des Empirischen, seinen erkenntnisanalytischen Tendenzen (vor allem seiner nominalistischen Behandlung philosophischer und wissenschaftlicher Sprache und seinem zeitweiligen Mißtrauen gegen den Begriff des Ich) willkommener, oft zitierter Zeuge für die Neopositivisten werden, den „Wiener Kreis" der 1920—30er Jahre, für Wittgenstein und die Grundlagenforschung der Wissenschaft. Robert Musil, der selbst eine Dissertation über Mach geschrieben hatte, berichtet, er habe Lichtenberg erst spät entdeckt — obwohl Mach ihn zitiert — und nach anfänglicher Gleichgültigkeit „verschlungen". Kein anderes P a a r großer durch weiten zeitlichen Abstand getrennter deutscher Schriftsteller ist einander geistig im tiefsten so sehr verwandt wie diese beiden ins Literarische verschlagenen Physiker und vom Psychologischen bezauberten Philosophen, von ihrer Methode zutiefst überzeugte Experimentatoren auf dem Gebiet des Denkens, bewußt auf der Ausschau von seinen entferntesten Grenzen nach der Welt der theoretisch unbegrenzten „Möglichkeiten". (Unter Nichtdeutschen stehen wohl Diderot, Joubert und Valéry Lichtenberg durch verschiedenartige Konfigurationen wesentlicher Züge am nächsten.) Musils Lieblingsformel „Genauigkeit und Seele" und die ihr entsprechende „Mathematik und M y s t i k " könnten für Lichtenberg geprägt sein: Gemeinsam ist beiden die Präzision des Intellekts, vereint mit der Offenheit für das Mystische und dem Versuch, es exakt zu beschreiben, ohne es seines Charakters zu berauben; die psychologische Sicht gewisser Aspekte des Philosophischen, neben der philosophischen Sicht der Psychologie; die minuziöse Beobachtung des Gefühlten oder Halbbewußten und die Fähigkeit, es sprachlich zu gestalten; die Beschreibung des Denkprozesses als ein Fühlen, ja die Aufhebung der Grenzen zwischen dem Fühlen und Denken, zwischen dem Wahrgenommenen und dem Ich; der Ersatz des Entweder-Oder durch das Sowohl-alsAuch, die coincidentia oppositorum vor Gott; das Mißtrauen gegen das — meisterhaft gehandhabte — Wort als explizites Mittel der Erkenntnis und der Selbstaussprache; sein Ersatz durch die Analogie und die Metapher; das — trotz der zusammenhängenden Schreibweise Musils — aphoristische Denken in jedem Sinn. Was aber erklärt, über das Wohlgefallen oder selbst die Bewunderung aller dieser Autoren hinaus, die der Person geltende schwärmerische Verehrung eines Grillparzer oder Mörike? (Grillparzer zog sich von seinem Abgott Laurence Sterne zurück, bloß weil Lichtenberg dessen Charakter mißbilligte, Mörike verwahrte eine Handschrift Lichtenbergs im Schreibtisch, um sie „zu Zeiten wie ein stärkendes Amulett" vor sich zu nehmen.) W a r u m w a r er für Fritz Jacobi ebenso wie für Mörike „der edle Lichtenberg"? 21 U n d was besagt das typische warme Lächeln, hervorgerufen bei so vielen seiner Leser durch die bloße Erwähnung seines Namens? Auch diese charakteristische Wirkung der Eigenart seiner Schriften muß,

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als Teil ihrer Eigenart, in deren Beschreibung einen Platz finden. Es ist wohl die ungewöhnlich genaue Gleichsetzung der Gedankenbücher mit ihrem als liebenswert empfundenen Autor, was diesem scheinbar unter- oder überliterarischen Verhältnis zwischen ihm als Person und dem Leser zugrundeliegt. U n d es ist als Anteilnahme an der dauernden reflektierenden Darstellung des Verfassers seiner selbst als Privatperson, auch wo sie nicht beabsichtigt ist — und oft genug ist sie's —, an Bruchstücken der „Geschichte meines Geistes sowohl als elenden Körpers", durchaus berechtigt. Nicht nur Pietät vor Lichtenbergs Wunsch, sie möge nach seinem Tode erscheinen, auch das Bewußtsein der engen Verflochtenheit seines Werks mit seiner Person als dessen zugleich denkendem und beobachtendem Gegenstand erlaubt uns noch einige Bemerkungen über den Menschen Lichtenberg in seiner scheinbaren Privatheit: Bis zur schweren Erkrankung seines Gemüts im Winter 1789, die sich seit langem vorbereitet hatte, war er heiter und übermütig in seinem Auftreten — mit Freunden und im Hörsaal, aber auch allein mit sich und den Dingen —, ein glänzender Gesellschafter, wenn er seine Schüchternheit überwunden hatte, lehrfreudig, aber nicht lehrhaft, und immer voll Freude am kindlichsten Spaß. Warm, zart, überaus feinfühlend, war Lichtenberg in der mittleren Spanne seines Lebens bemüht, seine Empfindsamkeit zu verbergen. Unter dem Einfluß bewegender Stimmungen, hervorgerufen durch Schönheit und Größe der N a t u r , Erinnerung an seinen toten Vater, Furcht, Genesung nach Krankheit brach Religiosität hervor. Verstand ist die Signatur seiner Schriften, H e r z immer wieder die seines Handelns. Schon frühzeitig hatte er erkannt: „Bei mir liegt das H e r z dem Kopf wenigstens um einen ganzen Schuh näher als bei den übrigen Menschen, daher meine große Billigkeit. Die Entschlüsse können noch ganz warm ratifiziert werden." 2 3 Dem Herzen erkannte er schließlich auch theoretisch die Überlegenheit zu. Voll tätiger Hilfsbereitschaft, Mitgefühls und Delikatesse, besonders im Verkehr mit den sozial Tieferstehenden und Armen, rücksichtsvoll, aber leicht reizbar, jähzornig und von nachträgerischer Spottsucht gegen seine Feinde, so erscheint Lichtenberg in seinen Schriften, Tagebüchern und Briefen. So erschien er auch nach außen, nur etwas fragwürdig durch seinen Lebensstil: Als der geistvolle, weichherzige und joviale, später verkauzte Gelehrte und Göttinger Bürger, der aber von ein, zwei Lastern bedrängt war — von seiner Stadt- und landbekannten Verfallenheit an die Lockungen des Geschlechts, offenkundig in seinen unbürgerlichen erotischen Beziehungen, über die nur die Wohlwollendsten nicht indigniert waren; und, in den letzten Jahren, von seiner wachsenden Abhängigkeit von häuslichem Trinken. Man wußte, es sollte der Arbeitsfähigkeit des immer kränklichen kleinen Buckligen aufhelfen. Uns der Tatsache, daß er bucklig war, zu raschen und billigen, fundamental gemeinten Erklärungen seiner Geistesart und Persönlichkeit zu bedienen, sind wir nicht bereit. Leichtfertiges Psychologisieren könnte auf sein Gebrest ebenso gut Lichtenbergs oft ausgesprochenes Wohlgefallen an schön gebauten Menschen zurückführen wie, Goethe folgend, sein angebliches „Wohlgefallen an

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Lichtenberg

Karikaturen" (Hogarths!) oder seine Neigung zur Satire. Gewiß muß Lichtenbergs Mißgestalt auf sein Wesen gewirkt haben; auf welche Art aber und wie stark, ist unkontrollierbare Spekulation. Sein großer Buckel machte ihn verlegen — er trachtete in seinen Vorlesungen, ihn vor seinen Hörern zu verbergen — , aber ganz offenbar nicht unglücklich; und er machte sein Zwergentum in Briefen an seine Freunde wiederholt zum Gegenstand überzeugend unbefangener scherzender Darstellung. Das Erotische hatte eine dominierende Rolle in Lichtenbergs Privatleben: verbunden mit erzieherischer hingebender Liebe in dem Verhältnis zu dem Kind, das er zur Frau und seiner Lebensgefährtin machte; als befriedigte Sinnlichkeit in vielen Jahren Zusammenlebens, das, als er zu sterben fürchtete, 1789 zur kirchlich sanktionierten Ehe mit seiner ihn umsorgenden Haushälterin wurde — seinem „Bettkameraden", wie er sie nannte, der guten Mutter seiner Kinder; als erregende Geschlechtlichkeit in der geheimen Beziehung zu dem Mädchen, das er die letzten Jahre vor seinem Tode, geplagt von Angst vor seiner Frau, begehrte, besaß und haßte. Geschlecht erscheint als feiner, rokokohafter Erotizismus in seinen Schriften, als pointierter Esprit in seinen Versen, regt sich überall in seinen Briefen an Männer in urwüchsiger Form, als warme Anteilnahme an ihrem Wohlbehagen, als Scherz, als obszön-witzige Zeichnung. Zu verklären sucht er das Sexuelle nie, aber auch nicht herabzusetzen. Es ist ihm ein unverhohlen wichtiger Bestandteil im Leben des Mannes. In den Sudelbüchern der siebziger Jahre sieht er es vor-psychoanalytisch, Wielandisch, etwas spöttisch, aber ohne Lüsternheit als Quelle jugendlichen Dichtens und seraphischen Schwärmens. Vergeistigung des Geschlechtlichen in den traditionellen Formen europäischer Nach-Renaissance lag ihm völlig fern. Lichtenbergs Leidenschaft des Beobachtens und Denkens wich oft schon in seiner Jugend Anfällen von Melancholie, und er genoß sie, in seinen Worten, „wollüstig". Sie gingen in späteren Jahren in dauernde Ängstlichkeit und langwährende Depressionen über, nach der Krankheit von 1789/90 in Zustände krankhafter Angst und lähmender Verzweiflung als deutlichste Formen seines „Nervenübels". In den achtziger Jahren verbarg er es nicht mehr vor der Welt, von etwa 1790 an bediente er sich seiner gewohnheitsmäßig als Entschuldigung für seine Schwächen und Schwierigkeiten und sah sich in seinen Briefen immer wieder als „armen, schwachen Mann". Er könne nicht mehr arbeiten. „Es ist ja nicht Faulheit, nicht Widerwillen, sondern die reine Unmöglichkeit . . . Ich fürchte . . . durch Anstrengung in eine Krankheit zu verfallen, die ich nicht so gut aushalten möchte als das Nervenübel" 2 4 . Seiner übermäßigen nervösen Reizbarkeit hatten sich Entschlußunfähigkeit und endloses Aufschieben gesellt, Menschenscheu und ein gänzlicher Rückzug aus der Gesellschaft. Eine Unzahl körperlicher Leiden und Beschwerden erkannten schon seine Ärzte als seelisch, im Wesentlichen oder in ihrer Intensität, darunter die oft beklagte physische Unfähigkeit, seine Hand zum Schreiben zu gebrauchen. Um die Mitte der neunziger Jahre war Lichtenberg zum Sonderling geworden, tapfer im Kampf mit

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seiner Krankheit, und furchtsam bis zur Charakterlosigkeit im Vermeiden von Äußerungen, die ihm „schaden" konnten. Seine sonstigen menschlichen Qualitäten, untrennbar von den geistigen, bleiben bis zum Ende lebendig trotz körperlicher und seelischer Hemmungen; so seine temperamentvolle Anregbarkeit von der Welt der Dinge und seine Schaulust: Am 29. Juni 1792 fährt der Fünfzigjährige trotz Zahnschmerzen und einer „abscheulichen geschwollenen Backe" um 5 Uhr Früh aufs Gartenhaus (und versteckt sich dort in der Dachkammer „im allerverschlossenesten incognito" vor seinen Kollegen), „um die preußische Artillerie passieren zu sehen." „Ich wäre . . . freilich besser zu Hause geblieben, allein ich konnte meinen Augen unmöglich den Anblick versagen, die ultima ratio Regum in so schöner logischer Form vorbeiziehn zu sehen." 2 5 U n d an Goethe schreibt er im nächsten J a h r : „Haben Ew. Hochwohlgeboren wohl auch schon die herrlichen lila Schatten gesehen? Da ich seit dem Empfang Ihres Schreibens den bunten Schatten nachlaufe, wie ehmals als Knabe den Schmetterlingen, so hatte ich neulich in einer meiner Kammern unvermutet einen herrlichen Anblick. Es herrschte . . . ein sonderbares, ungewisses, magisches Licht,. . ." 2 6 und es folgt der Versuch einer anschaulichen optischen Erklärung und der Bericht über ein auf der Stelle angestelltes Experiment. Wer könnte hier, ebenso wie in der Beschreibung der Episode beim Diner der Königin von Dänemark das Temperament des Privatmanns von der Art des Schriftstellers trennen, den Schriftsteller vom N a t u r forscher, den Beobachter vom Beobachteten, das ihn selbst einschließt? Lichtenbergs f ü r den Druck bestimmte Schriften der Spätzeit, die literarischen und die wissenschaftlichen, zeigen nichts von dem seelischen Verfall, der in ihm vorging, aber Witz weicht allmählich der Weisheit, Scharfsinn dem Weitblick, Lächeln schließlich einem Ton leiser, gefaßter Traurigkeit; es bleibt der Öffentlichkeit und den Briefen vorbehalten. Es ist eine Traurigkeit von undefinierbarer, beinahe transzendent anmutender Art. Für Lichtenberg selbst nimmt sie die Form konkreter Äußerungen an im Bedauern, sein „Ziel" nicht erreicht, seine Pläne — den Roman, sein eigenes Lehrbuch der Physik, wohl auch die Autobiographie — nicht verwirklicht zu haben. 1798 sieht er hilflos auf sein Leben zurück und auf das alte Nervenübel, „das, wie ein böses Principium, in mir alle meine Entschließungen umzuändern und meine Unternehmungen zu vereiteln weiß." Sein Werk, von seinen Absichten her gesehen, blieb unvollendet, mußte unvollendet bleiben, Lichtenbergs ganzem Wesen nach. Die Gemüts-, die „Nerven"-Krankheit ist nur ein sich allmählich ausprägender Teil davon, aber ein nicht zu übersehender. Für seine großen Projekte fehlte ihm die Fähigkeit des Komponierens und die Kraft des Willens. Der Zwang zur Assoziation — im Leben von Lichtenberg als übermäßige Ablenkbarkeit beklagt — stand ihnen im Weg und der Zwang des radikalen zu Ende Denkens auf vielfachen Wegen, das Sowohl-als-Auch und das Vielleicht.

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Lichtenberg

D a ß hier seine Stärke lag und im einzelnen bedeutungs- und beziehungsreichen Einfall, in seinem Witz und seiner Grazie, und in der seelischen Souveränität, Weisheit als H u m o r erscheinen zu lassen, das wußte Lichtenberg nicht. Uns ist sein Werk vollendet, in diesen Gaben, in der Spiegelung nie erschlaffender Sensitivität und unaufhörlicher geistiger Bewegung, in der glücklichen Schlagkraft und Fähigkeit seiner Sprache, zu gestalten und anzudeuten — die Dinge ebenso wie das Denken und das Fühlen — und in der sprachlichen Fixierung der Haltepunkte dieses Denkens in einer Weise, die sie zu Ausgangspunkten neuen Sinnens macht. Blicken wir darauf zurück, als Ganzes und aus großer Distanz, dann ist ein Lächeln unserer intellektuellen Bewunderung beigemengt, ja es ist die Summe aller unserer Reaktionen, trotz aller Melancholie, die in diesem Werk fühlbar, trotz aller Tragik, die hinter ihm verborgen ist, trotz aller Spuren endlosen geistigen und seelischen Kampfes — so wie ein Lächeln meist die erste Antwort im Gespräch ist, nennt man den N a m e n „Lichtenberg". Vielleicht bezeichnet diese Diskrepanz am besten Lichtenbergs Wesen und seine Größe. Wir haben diesen Versuch, Lichtenbergs geistige Physiognomie in ihren deutlichsten Zügen nachzuzeichnen, ein „Bildnis" genannt, um unser Ziel anzudeuten. Es kann nur eine Skizze sein. Das D r a m a und die Komplexität seines Denkens, die Verflochtenheit dieses komplexen Denkens mit seinen Trieben — den geistigen und den körperlichen — und seinen Leiden sind ihr entschlüpft. Ein der lebendigen Wirklichkeit näherkommendes Bildnis seines Geistes entfaltet sich erst in dessen Geschichte.

Anmerkungen Die in diesem Essay zitierten Stellen aus Lichtenberg sind mit Ausnahme der hier belegten im zweiten Teil des Buches, der Geschichte seines Geistes, nachgewiesen u n d meist im Zusammenhang erörtert. 1

1 . Berlin, S. 277. Albert Schneider hat in seinen beiden Lichtenberg-Büchern wohl als erster auf diese Verwandtschaft hingewiesen. 3 Die Unterscheidung, Terminologie u n d folgende Erörterung sind abgekürzt unserer Studie „Der Aphorismus als literarische G a t t u n g " entnommen. 4 V o r w o r t zu Analecta in Tel quel. 5 P h M IV, S. 130. 9 Vgl. die Lichtenberg gewidmeten Seiten 210 f. in A. Schöne, „Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil", Euphorion LV (1961). 7 Vgl. S. 81. (Lichtenberg schreibt „Sybillchen".) 8 Vgl. S. 369, Anm. 146. 9 Vorlesungsmanuskript, etwa 1787 (?), zwischen S. 20 und 21. 10 Br. I, S. 404 f. 11 Vorschule der Ästhetik, I. Abt., V I I . Progr., § 32. 12 Ib., V I I I . Progr., § 36; die beiden nächsten Stellen ib., §§ 29 und 32. 13 Unser Sperrdruck. 14 Aphorismen, II, S. 328. 15 D 647. Vgl. S. 404. „Moneten" f ü r „Minuten"? — In England geschrieben. Lichtenbergs extreme Bitterkeit bricht hervor in der Fortsetzung: „Das einzige Volk, von dem ich noch etwas Ähnliches erwarte, sind etwa die N e u s e e l ä n d e r . . . weil sie stolz t a p f e r und treu sind wie die Deutschen und endlich weil sie schon jetzt, da es ihr gänzlicher Mangel an Feder und Dinte nicht anders verstattet, bei gelehrten und andern Dispüten ihre Antagonisten auffressen." 16 Zu seiner "Wirkung durch Schopenhauer auf Nietzsche und H o f m a n n s t h a l vgl. Requadt, 2. Auflage, S. 18 f. u n d D. Vjschr. f. Litwiss. u. Geistesgesch. X X I X (1955), S. 258 ff. 17 Vgl. A. Vetlesen, „S0ren Kierkegaard og Georg Christoph Lichtenberg", E d d a X X X I V (1934), S. 234 ff. 18 Vgl. S. 389, Anm. 224a. 19 Zu Lichtenbergs Bedeutung f ü r Grillparzer vgl. die (unvollständigen) Stellennachweise im Personenverzeichnis zu Grillparzers Tagebüchern in der A. Sauerschen GesamtAusgabe der Stadt Wien. 20 Sprüche und Widersprüche, S. 193 der Ausgabe 1924 (1. Ausg.: 1909). - Die A u f nahme eines langen Artikels über Lichtenberg (von L. Ulimann) in Kraus' Zeitschrift Die Fackel ( N r . 319/320, März 1911, S. 47—55) w a r eine der seltenen Abweichungen von seinem Prinzip, nur kleine Beiträge anderer, später gar keine aufzunehmen. 21 Vermischte Schriften I I I , S. 207. 22 Die zweite Formel zit. nach Schöne, S. 209. Vgl. G. Baumann, „Robert Musil", Germ.Rom. Monatsschrift, N . F. X (i960), S. 420—442. Diese Analyse der „Struktur" des Musilschen Geistes liest sich weithin, als gälte sie Lichtenberg; sie weist auch in einigem auf ihn hin. 2

46 23 24 25 26

Anmerkungen

C 19. 19. Mai 1797; Br. III, S. 185. An Blumenbach, S. 53 und Tagebuch vom selben Datum. 7. Okt. 1793; Br. III, S. 93.

Lichtenberg Geschichte seines Geistes

I. K A P I T E L

Keime und Entwicklung1 I. Das

Kind

Georg Christoph Lichtenberg wurde am 1. Juli 1742 geboren, als das siebzehnte Kind des Pastors von Oberramstadt in Hessen, einem Dorfe nahe von Darmstadt. Seine Mutter war eine Pfarrerstochter, sein Vater Johann Conrad Lichtenberg ein Mann „von nicht gemeiner theologischer Gelehrsamkeit und ausgezeichneter Kanzelgabe, auch von viel anderen Kenntnissen". Mit besonderer Vorliebe beschäftigte er sich mit den Naturwissenschaften; sein Nekrolog berichtet, er habe gern astronomische Betrachtungen in seine Predigten verwoben. Pastor Lichtenberg schrieb zahlreiche theologische und moralische Abhandlungen und, mit größter Leichtigkeit, eine Fülle von Texten für Kirchenmusik. Mystische Erlebnisse waren ihm nicht fremd, und er liebte es, sie zu erzählen. Seinen Fähigkeiten und seiner ungewöhnlichen Bildung mag er es verdankt haben, daß er 1745 erster Stadtpfarrer in der Landeshauptstadt und fünf Jahre später Superintendent der Obergrafschaft wurde. Dem Unterricht seiner Söhne in Mathematik, Naturlehre und der „Einrichtung des Weltgebäudes" widmete er sich selbst, die anderen Fächer überließ er Hauslehrern. Für seine Experimente hatte er schon 1749 einen beträchtlichen physikalischen Apparat angeschafft, darunter eine Elektrisiermaschine, ein damals noch seltenes Ding. Georg Christoph war von früh an schwächlich und litt an einer Rückgratsverkrümmung, die sich allmählich verstärkte; seit seinem achten Jahr etwa mußte er als bucklig bezeichnet werden. Er blieb immer klein. N u r vier Geschwister waren zur Zeit seiner Geburt noch am Leben, das jüngste ein f ü n f einhalbjähriger Bruder, das älteste eine vierundzwanzigjährige Schwester, alle also zu alt, um ihm Spielgefährten zu werden. Sein Vater, der sich viel mit ihm beschäftigt hatte, starb, als Georg neun Jahre alt war. So scheint es ihm auferlegt zu sein, abseits von der Menge der selbstverständlich Gesunden zu leben, das Getriebe der Welt mehr zu beobachten, als in ihm mitzuwirken. Doch darf man das körperliche Gebrechen des Kleinen nicht allzurasch als aus1

1

Quellen f ü r das Biographische in diesem Kapitel: Strieder, Schlichtegroll, Meusel, Diehl, Lichtenbergs Briefe und die über sein ganzes W e r k verstreuten autobiographischen Notizen, ergänzt durch Deneke. Mautner, Lichtenberg

2

Das Kind

reichende Erklärung seines späteren Wesens benutzen: Beliebt wegen seines munteren Temperamentes in der weiteren Familie und bei seinen Kameraden der Stadtschule, die er nach dem ersten häuslichen Unterricht besuchte, war Georg Christoph immer bereit zu Knabenstreichen, oft auch als Führer. Sein späterer Hang zu Schwermut allerdings mag sich unter dieser Oberfläche durch seine Verschiedenheit von den Andern vorbereitet, sein Hang zur Reflexion verstärkt haben. Die aufgeklärt-pietistische Atmosphäre des Elternhauses war solchen Neigungen günstig gewesen. Der Doppelseitigkeit seines Wesens wurde er sich schon als Student bewußt und noch im Alter von einundvierzig Jahren schreibt er, wehmütigen Gedanken an seine Eltern nachzuhängen, macht, was man auch davon denken mag, da man mich für lustig hält, sicherlich mein größtes Vergnügen2 aus, obgleich freilich dieses nicht das rechte W o r t sein mag, diesen Genuß auszudrücken, so weiß ich doch, daß Sie mich verstehen.

Zwei Menschen galten in seiner Kindheit seine stärksten Gefühle: seiner Mutter und — dem Schulprimus. Ihn verehrte der Junge auf die schüchternste Weise: er hörte gern von ihm erzählen, versuchte, mit allen Mitschülern über ihn zu reden, sprach ihn selbst nie, war aber erfreut, als er hörte, der Knabe habe von ihm gesprochen. Nach der Schule kletterte er auf eine Mauer, um ihn weggehen zu sehen.3 Mit 27 Jahren erinnert sich Lichtenberg alles dessen und seines Aussehens noch deutlich: er habe sich in ihn verliebt. Seine Mutter liebte er mit schwärmischer Andacht; in einem Fragment für seine Autobiographie, in der dritten Person geschrieben, notiert er: „förmliche Anbetung seiner heiligen Mutter." 4 „Sie las v i e l . . . einen besonderen Reiz für sie hatten Betrachtungen der Natur; Unterhaltungen über die Größe und Einrichtung des Weltgebäudes waren für sie Gottes Verehrung." Noch viele Jahre nach ihrem Tode träumte er jede Nacht von ihr, 5 gedachte ihres Sterbetages alljährlich in seinem Tagebuch und schrieb ihr die stärkste Einwirkung auf seine Gedankenwelt zu. 6 1777 bemerkt er: „In meinem Kopf leben noch Eindrücke längst abgeschiedener Ursachen, (meine liebe Mutter! ! ! ! ! ! !)" 7 Die Tagebuch-Eintragung vom Neujahrstag 1799 — acht Wochen später starb er — lautet: „Es geht ans Leben dieses Jahr. Mutter wird helfen." 8

II. Der Gymnasiast Im Herbst 1752 trat Georg Christoph Lichtenberg in das Darmstädter Gymnasium („Pädagogium") über, ein heiterer und witziger, dabei empfindsamer Junge. Er war einer der besten Schüler und hatte auch hier viele Freunde; 2

Lichtenbergs Unterstreichung. An F r a n z F. Wolff, 8. Sept. 1 7 8 3 ; Br. II, S. 92.

s

F 1210.

7

F 482.

8

Handschrift Lichtenberg 13, 10. Universitätsbibliothek Göttingen.

4

F 1207.

5

F 679.

6

Ib.

3

D e r Gymnasiast

bis ans Ende seines Lebens hing er an ihnen mit großer Pietät. Die Beobachtungsgabe und nuancierte Empfänglichkeit schon des Jungen zeigt sich in Jahrzehnten später geschriebenen Erinnerungen: die Hauptfiguren jener Zeit erscheinen da mit ihren Wesenszügen in markanter Frische. Seine geistige Aufgeschlossenheit ging über das in der Schule Gebotene hinaus; sie galt vor allem der Mathematik, der Sternkunde und der Dichtung, besonders Klopstock. Er hielt einigen Mitschülern „Vorlesungen" nach Abraham Kästners neuen Anfangsgründen der Mathematik. Liebe zur Astronomie, von den Eltern seit früher Kindheit ihm anerzogen, beherrscht schon seine Schuljahre: Manche Nächte brachte er mit Semlers Sternkunde und einem Himmelsglobus in Taschenformat im Freien zu. „Was für ein himmlisches Vergnügen gewährte mir nicht Astrognosie in meiner Jugend. Du gerechter Gott! ich kenne keine schöneren Zeiten . . . Wie selig lebte ich damals!" 9 In seinem vierzehnten Jahr begann Lichtenberg, Verse zu schreiben. In einem Fragment der geplanten Selbstbiographie erzählt er von dieser Zeit: Ich w i l l . . . beschreiben, was ich [damals] in mir fühlte, man w i r d leicht erachten können, wie jemand aussehen muß, der dieses fühlt. Ich f a n d die Sprache in unserer Familie etwas zu plan, ich vermißte hier und da die Beiwörter und fühlte mich so voll, wenn ich welche fand, zumal die ich selbst gemacht hatte p p . 1 0

Klopstocks Hexameter wurden in seinem sechzehnten Jahr sein Vorbild, Youngs „Nachtgedanken" in Eberts Übersetzung in seinem achtzehnten sein Lieblingsbuch. Ins gleiche Jahr fällt die innige Beziehung zu dem zwei Jahre älteren Christian Heinrich Zimmermann, seinem „besten, ältesten, unvergeßlichen Freund". 1 1 Sie trafen sich jeden Abend, lasen Homer und betrieben Mathematik zusammen. 12 Kurz, des jungen Lichtenberg wissenschaftliche und literarische Neigungen waren schon deutlich ausgeprägt und schienen ihn zu prädestinieren, einer der gebildeten Empfindsamen, vielleicht ein Mitglied des späteren Göttinger Hains, zu werden. Auch religiösen Stimmungen war er überaus hingegeben, obwohl er sich seit seinem 16. J a h r nicht mehr überzeugen

[ k o n n t e ] , daß Christus Gottes

Sohn sei; dieses . . . verwuchs so sehr mit ihm, d a ß an eine Uberzeugung gar nicht mehr zu gedenken w a r . 1 3

„Sein Glaube an die Kräftigkeit des Gebets; sein Aberglaube in vielen Stücken, Knien, Anrühren der Bibel und Küssen derselben; förmliche Anbetung der Geister, die um ihn schwebten" 1 3 sind andere Züge, derer sich Lichtenberg noch 1779 erinnert. Aggressive Triebe des Jugendlichen und Depressionen regen sich im dunklen Seelenleben der reifenden Gymnasiasten: ' Schriften, I, S. 15. 10

B 128.

11

B r i e f Lichtenbergs von 1 7 9 7 ; Neues, S. 1 7 9 f .

12

Ib.

"

F 1207.



4

Der Gymnasiast

Findet oft ein Vergnügen darin, Mittel auszudenken, wie er diesen oder jenen Menschen ums Leben bringen könnte, ohne daß es gemerkt würde, oder Feuer anzulegen, ohne daß man es merkte. O h n e jemals den festen Entschluß gefaßt zu haben, so etwas zu tun, oder auch ohne nur die mindeste N e i g u n g zu haben, ist sehr oft mit solchen Gedanken eingeschlafen

und mit 16V2 Jahren kam ihm das erste Mal der Gedanke, sich selbst zu töten, ohne jeden Anlaß, als er in einem Klassenzimmer stand und ein paar gleichgültige Wörter auf der Schultafel las. „Ever since I cannot help thinking of selfmurder." 1 4 Wer glaubt, f ü r diese f r ü h einsetzende, in Lichtenbergs späterem Leben regelmäßig wiederkehrende Tendenz konkretere Gründe finden zu können als in tiefen Schichten des Unbewußten wurzelnde charakterologische, mag an seine Verwachsenheit denken oder an die armseligen Lebensverhältnisse der Familie seit dem Tode des Vaters: Vom Herbst 1758 mußte er drei Jahre lang in der „Selekta" bleiben, eine den besten Schülern vorbehaltene Fortsetzung der Prima, weil seiner Mutter die Mittel fehlten, ihn früher zur Universität zu schicken. Dennoch konnte in diesen trüben Umständen Lichtenbergs gedrücktes Selbstbewußtsein darin Beruhigung finden, daß ihm, der am Pädagogium „einige Jahre lang durch Fleiß und Scharfsinn den ersten Platz rühmlich innehatte", die ehrenvolle Aufgabe zufiel, am 16. September 1761, über neunzehn Jahre alt, im N a m e n aller Abiturienten die Abschiedsrede zu halten. Sie handelte in deutschen Versen „de vero litteris et poesi constituendo pretio", 1 5 vom wahren Werte der Wissenschaften und der Dichtkunst. (Der Nekrolog machte daraus „Über wahre Philosophie und philosophische Schwärmerei", ein Hauptthema seines Denkens sein ganzes Leben lang. 16 Nicht nur nachträgliche Stilisierung der Affaire durch die Familientradition mag hier im Spiel sein, sondern tatsächliche Erinnerung an die Tendenz der Rede. Sie ist nicht erhalten.) Universitätsstudium, das seinen Brüdern als Selbstverständlichkeit zuteil geworden war, ist ihm, dem begabtesten der drei, weiter durch Armut verwehrt. Lichtenbergs lebenslange Abneigung gegen die Wohlhabenden und Bevorrechtigten, ein oft unkritisches Ressentiment, mag in seinem zwiespältigen Verhältnis zur Umgebung seiner Jugend eine Wurzel haben. Fast ein Jahr verbrachte er nun mit seiner vierundvierzigjährigen Schwester zu Hause bei seiner Mutter, bis diese sich entschloß, beim Landgrafen um ein Stipendium anzusuchen, das ihm das Studium ermöglichen sollte. Es sind bereits elf Jahre, daß ich mich in einem betrübten Witwenstande befinde, und während dieser Zeit habe ich außer andern großen Kosten mit meinen annoch sämtlich unversorgten Kindern zwei Söhne auf Universitäten gehalten, wodurch ich in die Unmöglichkeit versetzt worden, meinem jüngsten Sohne Georg Christoph einen gleichen Beistand widerfahren zu lassen,

14 15 16

23. Juli 1771; Nachlaß, S. 144. Deneke, S. 23, 29. Schliditegroll, S. 109.

Der Student

5

heißt es in ihrer Bittschrift. Sein „fester Vorsatz, sich ganz alleine der Philosophie, besonders aber der gemeinen u n d höheren M a t h e m a t i k zu widmen, [gebe] die gegründete H o f f n u n g , d a ß er dereinst seinem Vaterlande auf eine w a h r e A r t nützlich werden könne." 1 7 I m F r ü h j a h r 1763 wird das Gesuch endlich bewilligt u n d der junge Lichtenberg, drei Semester hinter seinen Klassenkameraden zurück, fast 21 J a h r e alt, bezieht die Universität Göttingen.

III.

Der

Student

Als hannoversche Landesuniversität 1734 gegründet und als solche dem König von England Untertan u n d mit England durch persönliche Beziehungen vielfach verbunden, w a r Göttingen damals die modernste, liberalste u n d am stärksten von naturwissenschaftlichen Geist berührte der deutschen Universitäten. Die Z a h l namhafter Forscher auf der F a k u l t ä t w a r noch gering. N e b e n dem Klassizisten H e y n e u n d dem Historiker Gatterer w a r der Mathematiker A b r a h a m Kästner wohl der bekannteste; in Fachkreisen durch seine Lehrbücher, im literarischen Publikum durch seine geschliffenen Epigramme. W ä h r e n d der zehn oder zwanzig J a h r e nach Lichtenbergs I m m a t r i k u l a t i o n w a r das K u r a torium der Georgia Augusta in seinen Berufungen so erfolgreich, d a ß sie etwa von 1780 an an der Spitze der deutschen Universitäten stand. 1 8 Lichtenberg traf am 6. Mai 1763 ein und stürzte sich voll lebendiger Lernlust auf die verschiedensten Gegenstände: A u ß e r seinen H a u p t f ä c h e r n M a t h e m a t i k u n d Physik — einschließlich Astronomie — besuchte er Vorlesungen aus N a t u r geschichte, Theologie u n d Geschichte. Sein H a n g f ü r die belies lettres verkümmerte darüber nicht; das Verseschreiben fiel ihm schon seit seiner Kindheit leicht. Sie sind gewandt pointiert, beherrscht v o m P r i n z i p des Witzes. E r studierte unter der persönlichen Leitung Kästners. Einflußreich an der F a k u l t ä t , gefürchtet als bissiger, gewandter Epigrammatiker, stand er dem jungen Studenten durch die Verbindung exakter Wissenschaften, schöngeistiger Leistung und scharfen Witzes als Vorbild täglich vor Augen. (Lichtenbergs E h r f u r c h t sollte sich nach wenigen Jahren in tiefe Abneigung gegen diese eitle u n d herrschsüchtige Universitäts-Größe verwandeln.) Eineinhalb Jahre nach seinem Eintreffen in Göttingen ging eine glänzende Beurteilung des Stipendiaten durch Kästner an den zuständigen hessischen Minister, von Riedesel, ab: Sein Fleiß übertreffe fast, was m a n sonst auf Akademien zu erwarten gewöhnt ist. Seine Bemühungen würden einmal „durch eine nützliche Verbindung gründlicher theoretischer Einsichten mit großen p r a k tischen Geschicklichkeiten sehr viel Vorteil bringen". Auch besitze er „in den schönen Wissenschaften, den neueren Sprachen, der Dichtkunst viel Geschicklichkeiten, welches ihn zu einem angenehmen Vortrage solcher Kenntnisse, die sonst 17 18

Deneke, S. 34. Pütter und von Seile, passim; Deneke, S. 36.

6

Eine neue Welt

nur sehr trocken scheinen, fähig machen kann", später tatsächlich neben seinem Witz seine offenkundigste Gabe. „Die Geschicklichkeiten dieses jungen Menschen [könnten] ihm leicht auch außer seinem Vaterlande Hoffnung zu einem anständigen Glücke machen". 19 Kästner hat offenbar schon damals daran gedacht, den begabten Schüler für die akademische Laufbahn zu gewinnen und sie ihm im voraus zu ebnen. Am 25. April 1766 berichtete er im Hannoverischen Magazin über eine Kometenbeobachtung durch Herrn Lichtenberg, der sich hier mit glücklichem Eifer auf die Mathematik gelegt hat, ein Jahr später, am 27. April, ließ er in die Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen eine Nachricht über seine Beobachtung eines Erdbebens einrücken. Lichtenberg mußte sich mit einem Stipendium, einem Freitisch und gelegentlich finanzieller Hilfe von der Mutter durchfretten. So nahm er eine Menge zeitraubender Geschäfte auf sich: er las Korrekturen für Buchdrucker und verfertigte Verse auf Bestellung, „repetierte" mit wohlhabenden Studenten und gab Privatstunden. Ein Jahr nach seiner Ankunft starb die so sehr geliebte Mutter; das Stipendium ging am Ende des zweiten Jahres zu Ende. Er war häufig krank, lag im Jahre 1766 fast ein Vierteljahr zu Bett, mit Schmerzen unter dem Herzen; der Doktor sagte ihm, es sei nicht Hypochondrie. 20 Aber in all dem inneren Jammer und der äußeren Dürftigkeit seiner Umstände befeuerte den jungen Studenten die Aufgeschlossenheit für alle Wissenschaften und für das Leben, das zu ihm drang, erst aus einer ungeheuren Leserei, abgebildet, abstrahiert oder poetisiert, dann allmählich als Wirklichkeit. Der Kreis seiner Bekannten und Freunde wuchs rasch. Von den mit Lichtenberg intimeren Studenten — meist Haus- oder Zimmergenossen — wissen wir aus Stammbuchblättern oder Einträgen in seine Notizhefte, von dreien, die ihm besonders nahe standen, entwarf er nach ihrem Abgang von der Universität in seinem Tagebuch Charakterskizzen, erste Beispiele seiner konzisen Portraitkunst. 2 1 Einer von ihnen, der Schwede Ljungberg, um sechs Jahre jünger, wurde 1766 sein bester Freund; Lichtenberg hatte großen Respekt vor seiner geistigen Begabung: „He is truly a genius." Er war Lichtenberg verwandt in seiner verborgenen Leidenschaftlichkeit und in durchdringender Menschenbeobachtung, in seiner Weltklugheit und auf die Spitze getriebenen Selbständigkeit des Denkens, in seinem Witz und seiner abgründigen Skepsis. Sie kamen einander später noch näher durch gemeinsame Arbeit an der Universitätssternwarte. Eine neue Welt tat sich Lichtenberg auf in den Beziehungen zu den Göttinger „AufWärterinnen", den Stubenmädchen in den Studentenquartieren, meist vom Lande kommend, oft noch unverdorben, weiblich-willig rasch mit den jungen Herren vertraut. Seine erotischen Abenteuer, erlebt mit einer an Wieland geschulten sinnlich-ästhetischen Reizsamkeit, führten ihn ein-, zweimal in tiefere 10 20

21

5. August 1764; Deneke, S. 44 f. An Heyne, anläßlich der Wiederkehr derselben Symptome sechzehn Jahre später, Br. II, S. 37. Nachlaß, S. 141 ff.

Sinne, Seele, Bücher

7

Verstrickung. „Mein Leben hat nie höher gestanden als im August 1765 und im Februar 1766, einen Sommer und einen Winter; genug für mich; ich werde diese Zeit allezeit für den Mittelpunkt der Vergnügungen meines Lebens ansehen" schreibt er im Mai 1769. 2 2 „Vergnügungen" kann für Lichtenberg alles bedeuten, von der bewußten Lust der Sinne zu der „hinschmelzenden" der Seele, und zwei Notizen weiter heißt es: Einen einzigen Abend in einer L a u b e im Genuß seiner eigenen E m p f i n d u n g . . . z u zubringen, w a r für ihn das beste und höchste, darnach schätzte er die G r ö ß e und das Glück der Menschen . . . 2 3

Jene zwei halben Jahre schlössen wohl das alles ein. „Genug für mich" — das weist, wie ähnliche Bemerkungen noch oft, auf seine körperlich, nervlich und seelisch zarte Konstitution hin. Die erwähnte lange Bettlägerigkeit ist nur eine der uns bekannten unzähligen Hinfälligkeiten — von Kopfschmerzen und Husten bis zu schwerer Krankheit — die, in seiner armseligen Körperlichkeit und im labilen Seelischen wurzelnd, sein Leben lang immer wieder auftauchen werden. An dauernder Arbeit hinderten ihn während seiner Studentenjahre diese wirklichen und eingebildeten Leiden nicht; er versuchte, sie mit Objektivität zu sehen. Riedesel, Kurator seiner Heimatuniversität Gießen, ließ ihm zu verstehen geben, daß er „eine dermaleinst anständige akademische Beförderung" für ihn vorhabe, verbunden mit einem Lehrauftrag für Englisch. Zu Einschränkungen auf bestimmte Gebiete bewogen diese Pläne Lichtenberg nicht. Sein Feuereifer, alle Fakta des geistigen Lebens kennen zu lernen, vergleichbar dem eines heranwachsenden Kindes, mit den Dingen bekannt zu werden, hinderte ihn, zum akademischen Streber zu werden, sich rasch durch streng spezialisierte methodische Arbeit bloß für die in Aussicht stehende Stelle tauglich zu machen, und er bedauerte dies später: Ich hatte in meinen Universitätsjahren viel z u viel Freiheit, und leider etwas überspannte Begriffe v o n meinen Fähigkeiten, und schob daher immer auf, und das w a r mein Verderben. I n den J a h r e n 1763 bis 1 7 6 5 hätte ich müssen angehalten werden, täglich wenigstens sechs Stunden, die schwersten und ernsthaftesten Dinge zu treiben (höhere Geometrie, Mechanik und Integralrechnung), so hätte ich es weit bringen können. A u f einen Schriftsteller habe ich nie studiert, sondern bloß gelesen, was mir gefiel, und behalten, was sich meinem Gedächtnis, gleichsam ohne mein Zutun, wenigstens ohne eine bestimmte Absicht, eingedrückt h a t . 2 4

Undatiert, stammt dieser Rückblick wohl aus den späten Jahren seines Lebens, in denen der vorzeitig gealterte Mann dauernd unter dem Druck von Enttäuschungen und Schuldgefühlen aller Arten lebte. Charakteristisch ist die Stelle für ihn nicht. Denn Lichtenberg hatte die genaueste Kenntnis seiner selbst, wußte, was ihm lag und was nicht, und seine bald auf das Ethische, bald aufs Praktische gerichtete Selbsterziehung ging meistens darauf aus, seine Eigenart zu nützen und zu veredeln, nicht, sie zu zwängen. Ihr Niederschlag 22

B 152.

23

B 155.

24

Schriften, I, S. 2 1 .

Der Student

8

s i n d s e i n e A u f z e i c h n u n g e n ; sein „ V e r d e r b e n " , u n d v i e l l e i c h t d a s d e r

Wissen-

s c h a f t , ist u n s e r G e w i n n . 1. W e s e n s z ü g e : D i e e r s t e n N o t i z h e f t e Von „Kepa;

1765—1771 'AnaMteiag"

führte Lichtenberg („Horn

ein N o t i z h e f t c h e n v o n

der Amalthea"), hauptsächlich

68

Seiten,

für Zitate

und

k u r z e A u s z ü g e a u s s e i n e m r a s t l o s e n L e s e n . 2 5 A u ß e r d e m e n t h ä l t es e i n e G r u p p e v o n e t w a 6 0 F r a g e n , d i e d e r M e t h o d i k des w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e o b a c h t e n s u n d D e n k e n s , e i n e r Ars

observandi,26

dienen sollen. Diese lange, vielseitige F r a g e n -

r e i h e b e z e u g t e i n e e r s t a u n l i c h e , r a s t l o s e B e w e g l i c h k e i t des G e i s t e s . H i e r

einige

B e i s p i e l e , m i t H i n w e i s e n a u f i n i h n e n sich a n k ü n d i g e n d e g e i s t i g e W e s e n s z ü g e u n d methodische Neigungen: [Originalität] W o m u ß ich hierbei hinsehen, u m etwas zu finden, was noch kein Mensch gef u n d e n hat? [Psychologie des Beobachtenden] W i e w ü r d e dieses geworden sein, w e n n ich es selbst aus h ä t t e finden sollen nach der V e r f a s s u n g meines Systems? [Genauigkeit] Die G r e n z e n der Fehler dabei zu bestimmen, soviel wissen wir gewiß, soviel ist z w e i f e l h a f t , d a f ä n g t sich das gewiß Falsche an. [Experimentierlust u n d R e l a t i v i t ä t ] W a s leidet es f ü r Abweichungen, wenn m a n gewisse U m s t ä n d e ändert? [Mathematische Betrachtungsweise] W a s k a n n hierbei auf M a ß , Z a h l u n d F i g u r gebracht werden? [Analyse] L ä ß t sich dieses in a n d e r e Dinge Zerfällen? [Suche nach ursächlicher V e r k n ü p f u n g ] L ä ß t sich dieses auf e t w a s andres referieren, so wie die Ü b e r w u c h t auf eine geringere Schwere? [Analogie] M i t welchen A r t e n v o n Dingen ist dieses v e r w a n d t , e t w a so wie die d ü n n e n Becher mit d e r Gestalt der H o b e l s p ä n e , o d e r k a n n m a n etwas d a r a u s herleiten, so wie m a n aus der Gestalt d e r H o b e l s p ä n e auf jene Becher schon h ä t t e schließen können? [Verallgemeinerung] G e h ö r t es nicht mit u n t e r ein bekanntes Genus von Dingen? [Wechsel des S t a n d p u n k t e s ] Mathematisch betrachtet Physisch „

2r

' Eine kleine A u s w a h l d a r a u s ist abgedruckt in Aphorismen, Erstes H e f t , S. 166—168. (Zeus machte das H o r n der Ziege A m a l t h e a , die ihn g e n ä h r t hatte, z u m unerschöpflichen Füllhorn.) 26 L e i t z m a n n macht es plausibel, d a ß Lichtenberg sie im Hinblick auf eine v o n ihm zweimal notierte P r e i s a u f g a b e d e r H a r l e m e r A k a d e m i e über das T h e m a „ W a s w i r d zu der K u n s t zu b e o b a d i t e n e r f o r d e r t u n d wieviel t r ä g t sie bei, den V e r s t a n d vollk o m m e n zu machen?" (D, S. 271) aufgezeichnet habe. (Verhandelingen der . . . M a a t s c h a p p i j e der Weetenschappen te H a a r l e m , 1768).

Wesenszüge: D i e ersten N o t i z h e f t e

9

Physiologisch betrachtet Metaphysisch „ Politisch „ Moralisch „ [Fiktion aus Einbildungskraft] W e n n dieses gar nun nicht da wäre, was würde alsdann werden? [Kritische Skepsis] Ist es auch wirklich das, w o f ü r man es hält? D i e Reihe endet mit dem Ausruf: Mein Gott, wenn das so fortgeht! [Selbstpersiflage und H u m o r ]

Seine eigenen Gedanken mit anderen Zielrichtungen und einige wenige fachwissenschaftliche Hinweise begann Lichtenberg wohl am Beginn seiner Universitätszeit, spätestens im Winter 1764/65, in eine Reihe anderer Heftchen, später gebundener Schreibebücher, einzutragen. Diese Gewohnheit behielt er bis an sein Lebensende. Er spricht von diesen Notizen 2 1 als seinem „Gedankenbuch" oder „Hausbuch" oder „gelehrtem Hausbuch", später auch als „Sudelbuch" 28 oder „Schmierbuch" und unterscheidet sie dadurch von seinen Tagebüchern; 29 in diesen vermerkt er Ereignisse seines täglichen Lebens. Die ersten zwei Gedankenheftchen dieses ersten Universitätsjahres sind verloren, schon das dritte 30 kennen wir. Es enthält Bemerkungen, die an Gelesenes und Erlebtes anknüpfen, an Gesehnes und Geträumtes — Gedanken, Fragen und Einfälle. Es eröffnet uns mit einem Schlag Einblick in die Gedankenwelt des jungen Lichtenberg, in seine Denkinhalte und Denkformen. Angesichts seines diskrepanten Inhalts haben wir uns gefragt, ob nicht schon in diesen ersten Einträgen Durchgängiges inhaltlicher oder formaler Art verborgen sei, das f ü r ihn zumindest in jener Zeit bezeichnend wäre. U n d vielleicht könnte das Verharren, der Wandel oder das Verschwinden solcher wesentlichen Züge auch manches im späteren Werk erklären. So haben wir das erste erhaltene Notizheft des Studenten (A 1—52 der Leitzmannschen Ausgabe) einer Analyse unterworfen und in der Tat gefunden, daß ein einheitliches, sinnvolles Themengefüge und eine und dieselbe ganz bestimmte Weise der Gedankenführung die verschiedensten Aufzeichnungen aus den verschiedenartigsten Gebieten durchwaltet. Völlig eindeutig und scharf, wenn auch noch nicht reich, sind die ihm eigenen Denkformen sichtbar. Die Sie sind textgetreu, doch mit einigen Auslassungen, zuerst von A. Leitzmann unter dem T i t e l „Aphorismen" veröffentlicht worden. D i e Bücher sind v o n Lichtenbergs eigener H a n d seit e t w a dem Ende des Jahres 1772 mit C, D , E, F, (fast sicher G, H ) , J, K und L bezeichnet worden. Leitzmann hat die älteren H e f t e A und B genannt. Vgl. hierzu Nachlaß, S. V I I — X I und Leitzmanns Anmerkungen zu den einzelnen Büchern. 28

30

Dies ist der Titel des Buches F (1776—1779). In den Reflexionen E 46 und 149 (1775) taucht dieses W o r t als denkbare Bezeichnung für Gedankenbücher zum ersten Mal auf, in einer Wortliste schon D 662, mit dem Zusatz „(common place book)". N u r ein geringer Teil ist erhalten. Vgl. hierzu des Verfassers „Lichtenbergs ungedruckte Tagebücher" und Nachlaß, S. X V I — X V I I I . D a s H e f t y ( 1 7 6 4 — 1 7 6 5 ) ; die zwei verlorenen waren offenbar mit a und ß bezeichnet.

10

Der Student

Themen, wie feste Pole in magnetischen Kraftfeldern, und die ganz bestimmte Weise der Gedankenverknüpfung geben zusammen dem scheinbar zufälligen Durcheinander seines Denkens eine feste Struktur. Die Erkenntnis dieser Struktur erlaubt Schlüsse auf den allgemeineren Sinn der Bemerkungen, ihre Beziehung auf ein größeres Vorhaben und auf die K r ä f t e und Hemmungen im geistigen Leben ihres Urhebers. Im Keim ist hier das ganze Werk des Schriftstellers enthalten. N u r erhebt er sich noch nicht über sich selbst — darum fehlt hier seine später so charakteristische Selbstironie; und noch nicht über Dinge und Schicksal — darum fehlt hier sein H u m o r . Sein Verhalten zu einzelnen Fragen mag sich später gewandelt haben. Es mußte sich wandeln, weil ja eine Haupteigenschaft von Lichtenbergs Denken die ist, jede Frage grundsätzlich immer wieder zu prüfen, von immer wieder neuen Seiten zu betrachten. Aber die Zentren seiner späteren Themenfelder sind schon da, und seine spezifische Denkweise, die wir nun schildern wollen. Sie bildet in ihrer Anwendung, ihrem gelegentlichen Zerreißen und ihrem Versagen noch viele Jahre lang die Gewohnheiten, die fruchtbare Erschütterung und das Erstarren seines Geistes ab. So ist seine „Weltanschauung" nicht einfach die mühsam integrierte Summe seiner widerspruchsvollen Aussagen über die Welt. Zumindest ebenso wichtig f ü r das Verständnis seines Geistes ist die Frage, was er f ü r anschauenswert hält (a) und wie das Anschauen vor sich geht (b). Was diese Weise des Anschauens im Ganzen seines Geistes und seiner Zeit bedeutet, wird gleichfalls zu erörtern sein (c). a) Die T h e m e n Der häufigste Gegenstand der Beobachtungen Lichtenbergs, seines Denkens, und darum wohl auch seiner Einfälle, ist der Mensch. Es geht ihm um Erkenntnis seines Wesens, und sie soll unvoreingenommen von Dogmen sein. Wirklichkeitsnähe und Detailreichtum sind Voraussetzung dafür. Diese Erkenntnis glaubt er finden zu können in der Kunde von der Seele in ihren alltäglichsten, am wenigsten beachteten Funktionen, Sonderbarkeiten und Fehlleistungen, dann in der Kunde vom Denken und dessen Medium, der Sprache, und schließlich in der Kunde von den Individualisierungen der menschlichen Seele, den Charakteren. (Und zwar in den Charakteren, wie sie sind und wie sie sich physisch kundgeben, im Körper und in den Ausdrucksbewegungen.) Welches die Themen auch sein mögen, die Lichtenberg wählt, seine besonderen Fähigkeiten, die sich schon hier zu enthüllen beginnen, die Gabe scharfer Beobachtung, ungewöhnliche Sensibilität und genaues Denken, vereint mit einer ans Dichterische grenzenden Leichtigkeit des Assoziierens, machen bei ihm stets die Entdeckung von Neuem, die Korrektur falscher oder unklarer Meinungen und das Aufspüren von Problemen wahrscheinlich. Sehr oft helfen ihm diese Gaben zu Feststellungen, die, wichtig oder unwichtig, wie endgültig aussehen und keinen Anreiz zu weiteren Gedankengängen zu enthalten scheinen.

Die Themen

11

F ü r ihn aber werden sie Ausgangspunkte u n e r w a r t e t e r Folgerungen und für uns, eben deshalb, mehr als Spreu. U m neben dem größeren oder kleineren E i g e n w e r t jener bloßen Feststellungen das Überraschende und Eigenartige auch des Weiterdenkens sichtbar zu machen, brechen wir sie dort ab, w o es einsetzt. So w i r d das Überraschende und

die E i g e n a r t

dieses Denkens

später,

wo

wir

die Anknüpfungen

Sprünge zeigen (S. 15 ff.), u m s o deutlicher sichtbar, u n d d a r a u f k o m m t

und es

uns hier an. Eine Aneinanderreihung charakteristischer Beobachtungen in der Reihenfolge ihrer Niederschrift macht offenkundig, wie ihr A u t o r v o n einem weiten Fragenkreis angezogen wird, d a ß er aber zu den genannten immer wieder zurückkehrt und d a ß innerhalb ihrer der Alltag und die Einwirkung das

Geistige

unbemerkter

überhaupt

alltäglicher

Themengruppen des

Funktionseigentümlichkeiten

ihn besonders anziehen. 3 1

Seelischen auf

(Dies erst macht ihm das

Geistige „menschlich", bemerkenswert.) . . . Weil . . . unsere wichtigsten Entschlüsse, wenn wir sie ohne Worte denken, oft nur Punkte sind . . . (A 3). Es ist schwer anzugeben, wie wir zu den Begriffen gekommen sind, die wir jetzo besitzen, niemand, oder sehr wenige werden angeben können, wenn [ = „wann"] sie den Herrn von Leibniz zum ersten Mal haben nennen hören . . . (A 9). Die Erfindung der wichtigsten Wahrheiten hängt von einer feinen Abstraktion ab... (All). Wenn wir auf einen Gegenstand hinsehen, so sehen wir noch viele andre zugleich mit, aber weniger deutlich . . . (A 13). Eine geringe Veränderung in der gemeinsten Verknüpfung der Dinge kann unsere Abstraktion leicht so sehr verwirren, daß man mit leichter Mühe Taschenspielerkünste aus den gewöhnlichsten Dingen herauslockt, wenn man kleine Umstände dabei verändert . . . (A 16). Es ist nicht so angenehm, wenn uns andere von einem Taschenspieler erzählen, als ihn selbst zu sehen . . . (A 20). Rousseau nennt mit Recht den Akzent die Seele der Rede und Leute werden von uns oft für dumm angesehn und wenn wir es untersuchen, so ist es bloß der einfache T o n in ihren Reden . . . (A 21). Plato sagt, das poetische Genie werde durch die Harmonie und die Versart rege gemacht, und dieses setze den Dichter in den Stand, ohne Überlegung seine Gedichte zu verfertigen. Plato, thou reason'st well, ein jeder wird dieses bei sich verspürt haben, wenn er mit Feuer Verse gemacht hat . . . (A 27). Jeder Gedanke hat gewiß bei uns eine besondere relative Stellung der Teile unsers Körpers, die ihn allemal begleitet, . . . ohnerachtet sie freilich nicht allemal so heftig sind, daß sie andern in die Sinne fallen, so sind sie doch da und der Geist zeigt sich desto freier, je weniger er diese äußeren Bewegungen an sich halten darf . . . (A 34). 31

Die Zahl der hier zu gebenden Zitate muß hoch sein, damit eine annähernd richtige Vorstellung von der Dichte ihres Aufeinanderfolgens innerhalb der ersten in Leitzmanns T e x t aufgenommen 52 Einträge entstehe; die mehr als zufällige Einheit ihres Charakters wird nur so deutlich. Die folgenden kommen zur Spradie: A 3—5, 8—13, 16—18, 20—24, 27, 29—31, 33—37, 39, 41, 42, 44—52. Die bloß im Anhang erwähnten oder zitierten Notizen sind rein fachwissenschaftlich.

12

Der Student

D i e Furcht v o r d e m T o d , die den M e n s c h e n e i n g e p r ä g t i s t . . . ( A 3 9 ) . W e n n ich b i s w e i l e n v i e l K a f f e e g e t r u n k e n h a t t e u n d d a h e r über alles erschrak [1. B e m e r k u n g ] , s o k o n n t e ich g a n z g e n a u m e r k e n , d a ß ich eher erschrak, e h e ich d e n K r a c h h ö r t e [2. B e m e r k u n g ] . . . ( A 4 9 ) . L e u t e , die nicht die f e i n e V e r s t e l l u n g s k u n s t v ö l l i g i n n e haben, u n d a n d e r e m i t F l e i ß h i n t e r g e h e n w o l l e n , e n t d e c k e n uns g e m e i n i g l i c h das G e n e r e l l e ihrer g a n z e n D e n k u n g s a r t bei d e r ersten Z u s a m m e n k u n f t . . . ( A 50). Ich t r ä u m t e n e u l i c h an e i n e m M o r g e n , ich l ä g e w a c h e n d i m B e t t e u n d k ö n n t e k e i n e n A t e m b e k o m m e n , d a r a u f e r w a c h t e ich g a n z helle u n d spürte, d a ß ich n u r g a n z m ä ß i g M a n g e l nach m e i n e r d a m a l i g e n L a g e d a r a n h a t t e . . . ( A 51).

Als zweiter Bereich des Menschlichen scheint ihm das Denken bemerkenswert; so wie ihm häufig die alltäglichen Funktionen der Seele nichts Selbstverständliches sind, sondern Gegenstände der Beobachtung und des Wunderns, so wird ihm auch das Denken aus einem Werkzeug zum Thema. U n d wie er Bewußtseinsvorgänge im allgemeinen von Zuständen beeinflußt sieht, die außerhalb dieser Vorgänge liegen, so erfaßt er im besonderen die Notwendigkeit, zugleich mit dem Denken auch sein Medium zu erforschen, die Sprache. Das fragwürdige Ergebnis beider ist die rein begriffliche Erkenntnis. Gewonnen auf fragliche Weise mit fraglichem Werkzeug, komme ihr nicht notwendigerweise Anspruch auf Sachgerechtheit zu. Eben erst, im Herbst 1764, war, eingeleitet von Kästner, die erste Ausgabe der philosophischen Schriften von Leibniz erschienen. Lichtenberg wurde von seinem Werk aufs stärkste ergriffen und er verehrte es lange als das des „großen Weltweisen". Besonders zog ihn Leibnizens Idee einer „allgemeinen Charakteristik" an, und damit der Plan eines zu entwerfenden von sprachlichen „Zufällen" freien Gedankenalphabets, der lingua characteristica universalis. Schon die dritte Eintragung lautet: Um

eine allgemeine

Charakteristik

z u s t a n d e z u b r i n g e n , müssen w i r erst

von

d e r O r d n u n g [ = W o r t f o l g e ] in der Sprache a b s t r a h i e r e n , die O r d n u n g ist eine g e w i s s e M u s i k , die w i r f e s t g e s e t z t u n d die in w e n i g e n F ä l l e n (z. E. femme

sage,

sage

e i n e n s o n d e r b a r e n N u t z e n h a t . E i n e solche Sprache, d i e d e n B e g r i f f e n f o l g t ,

femme) müssen

w i r erst h a b e n , o d e r w e n i g s t e n s f ü r b e s o n d e r e F ä l l e suchen, w e n n w i r in d e r C h a r a k teristik f o r t k o m m e n w o l l e n . . .

Sprachtheorie war der Treffpunkt von Lichtenbergs philosophischen, sprachlichen und psychologischen Interessen. D a n k seinem seelenkundigen Blick und seiner frühen Denkschärfe erkennt er sofort eine Hauptschwierigkeit jenes Planes, nämlich den Zwittercharakter alles Sprachlichen aus Psychologischem und rein Begrifflichem, und fügt die oben erwähnte selbständige Beobachtung vom Punktartigen wortloser Entschlüsse (A 3) als gewichtigen denkkritischen Einwand dagegen an, daß jeder Denkvorgang artikuliert sein müsse: „. . . so wird eine solche Sprache ebenso schwer sein zu entwerfen als die andere, die daraus gefolgert werden soll." Ebenso leitet die Bemerkung über die Entstehung von Begriffen (A 9) sogleich zur Frage der Entstehung von Urteilen, und sogar evidenten, über und von da zu allgemeiner Erkenntniskritik. Auch Verlockungen des Stils trüben unsere Erkenntnis:

Denken, Sprache, Charakter

13

D e r Einfluß des Stils auf unsere Gesinnungen u n d Gedanken . . . zeigt sich sogar bei dem sonst genauen Linnaeus, er sagt, die Steine wachsen, die Pflanzen wachsen und leben, die Tiere wachsen, leben und empfinden, das erste ist falsch, denn das Wachstum der Steine hat keine Ähnlichkeit mit dem Wachstum der Tiere und Pflanzen. Vermutlich hat ihn das Steigende des Ausdrucks auf den Gedanken gebracht. . . (A 22).

Die f ü r das ganze W e r k Lichtenbergs charakteristische Stilkritik setzt ein; sie ist bei ihm im G r u n d e (intellektuelle) Kritik des Denkens oder (ethischpsychologische) Kritik des H a n d e l n s und der H a l t u n g . So betreffen denn auch die einzigen Zitate im ersten Heftchen, soweit sie nicht seiner Berufswissenschaft angehören, Sprachliches: ein H i n w e i s auf Leibnizens Characteristica universalis (A 12), eine Erinnerung an eine zeitgenössische Untersuchung über den wechselseitigen Einfluß von Sprache u n d Denken (A 21) und eine Bemerkung, d a ß Synonyma „ihren Erfindern gewiß nicht einerlei, sondern vermutlich Species ausgedruckt" haben (A 30). Im engsten Zusammenhang mit der K u n d e von den einzelnen Vorgängen im Seelischen u n d von ihren Äußerungen steht das dritte Thema vom Menschen; von ihm sollte er sein ganzes Leben lang nicht loskommen: der Charakter. Lichtenberg a h n t von A n f a n g an, d a ß alles im Leben des Einzelnen Schlüsse auf seinen C h a r a k t e r erlauben könne. So sind ihm die T r ä u m e der Menschen nicht bloß als rätselhafte seelische Vorgänge bemerkenswert — m a n w u ß t e längst, d a ß sie auf Erlebtes hinweisen — sondern: „Aus den Träumen der Menschen, wenn sie dieselben genau anzeigten, ließe sich vielleicht vieles auf ihren C h a r a k t e r schließen . . ." (A 33). Die Beobachtung A 45: „Heftigen E h r geiz u n d M i ß t r a u e n habe ich noch allemal beisammen gesehen" leitet über zur Feststellung: „Wir arbeiten öfters d a r a n , einen lasterhaften A f f e k t zu d ä m p f e n und wollen dabei unsere übrige gute alle behalten . . . " D a r a u f erfolgt unmittelbar nichts weniger als die Entdeckung der Ganzheit und Unzertrennlichkeit alles Seelischen: . . . wir sehen den Charakter . . . nicht als ein sehr richtig zusammengefügtes Ganzes an, das nur in seinen Teilen verschiedene relative Stellungen annehmen kann, sondern wir sehen die A f f e k t e wie aufgeklebte Schönpflästerchen an, die wir verlegen und w e g w e r f e n könnten . . . (A 46). 3 2

Welche Stütze hätte diese Einsicht f ü r die Genie-Ethik des Sturm u n d D r a n g bedeuten können, f ü r Schiller zum Beispiel, dessen E n t w ü r f e deutlich zeigen, d a ß er noch durchaus unter dem Bann einer zusammensetzenden EigenschaftenPsychologie gestanden h a t ! Diese grundsätzliche Einsicht in den organischen Zusammenhang alles Seelischen gibt auch den H i n t e r g r u n d ab f ü r Einzelbeobachtungen wie jene von der Selbstenthüllung der Leute ohne „feine Verstellungskunst" (A 50). 32

Weiter: „Viele dergleichen Irrtümer beruhen auf den dabei so nötigen Sprachen . . ." (ibid.) Also auch hier Wissenschaftskritik auf der Grundlage v o n Sprachkritik. — D i e Zusammenhänge zwischen Charakterkunde und Sprachkritik werden klarer im gleichzeitigen Vortrag über die Charaktere in der Geschichte (Vgl. S. 30).

14

Der Student

I m engsten, Lichtenberg selbst noch unbewußten Zusammenhang mit der Auffassung des Charakters als einer Einheit stehen schließlich seine Bemerkungen über das Gesicht als Ausdruck einer Gemütsart. (Nicht aber seien einzelne Gesichtszüge Ausdruck einzelner, von einander gesonderter Eigenschaften.) D a r u m können die Gesichter der Menschen „oft bis zum Ekelhaften häßlich" sein (A 4). 33 Die H a u p t t h e m e n seines Lebens außer den naturwissenschaftlichen sind hier angeschlagen. N u r umfangreicher, gewichtiger u n d stärker durchlebt w u r d e mit dem Reifen des Mannes der Rohstoff zu seinen Notizen, so d a ß er mit dem Wachsen der A n z a h l der Einzelfälle diese als typisch oder als zufällig unterscheiden konnte. So verzweigten sich die Themen auch auf immer mehr Einzelgebiete u n d Einzelfragen, f a n d e n konkrete A n w e n d u n g : genialische Einfälle u n d Altklugheit w u r d e n zu Uberschau u n d Weisheit. In jenen Themen verdichtet sich Lichtenbergs alles überflutendes Interesse f ü r „den" Menschen. Es spricht sich aus auch in den Gegenständen der übrigen, vereinzelten N o t i z e n dieses Heftchens: in Ethik, Religion, Metaphysik, psychologischer Ästhetik. Persönliche A r t u n d Neigungen d e r Z e i t sind in dieser Themenwahl einander begegnet. D e r tief empfindende und scharf beobachtende verkrüppelte A u ß e n seiter des Lebens w a r z u m Nachdenken über das Wesen u n d T u n des Menschen durch sein Schicksal gedrängt u n d er lebte in einer Zeit, welche dieses Verhalten begünstigte. Es w a r die Zeit, welcher, nach jenem bis z u m Ü b e r d r u ß wiederholten W o r t Popes, Studium des Menschen der Menschheit erstes A n liegen sein sollte, in welcher R o m a n u n d Romantheorie sich dem „wirklichen" Menschen als Individualcharakter oder als Typus zuwandten, 3 4 u n d in welcher die moralischen Wochenschriften es unternahmen, das unübersehbare Gebiet des Menschlichen in allen seinen Verzweigungen zu bearbeiten. In Lichtenbergs späteren Gedankenbüchern dehnt sich das Gebiet seiner Interessen allmählich auf Geschichte u n d Geographie, besonders auf ferne Völker u n d ferne Länder aus, und m a n könnte staunen, wie sehr dieser tiefe Geist von tausend Kuriositäten u n d allerlei anekdotischem Wissen angezogen w a r , w ü ß t e m a n nicht, d a ß hinter all diesem Fragen u n d Aufzeichnen sein Forschen nach dem Wesen u n d den Möglichkeiten des Menschen steht; u n d erinnerte m a n sich nicht ähnlicher Aufzeichnungen aus philosophischem Antrieb in den Dictionnaires philosophiqu.es der Zeit, in der E n z y k l o p ä d i e vor allem, käme einem anläßlich Lichtenbergs nicht so leicht Diderot in den Sinn. „Als ob eine ganze Reihe uralter Disziplinen über N a c h t das Recht unabhängiger Existenz verloren hätte, f a ß t e m a n alle, die nur irgendwelche Beziehungen z u m Menschen hatten, als 83 34

Vgl. auch A 18. z. B. Wieland im Vorbericht zur 1. Ausgabe des „Agathon" (1766) und Blankenburg 1774 im „Versuch über den R o m a n " .

Die Denkweise

15

die ,Wissenschaft vom Menschen' zusammen." 35 In Lichtenbergs Werken kann man diese Entfaltung miterleben. Ebenso zerstört die Psychologisierung der Logik und der Philosophie, von England her eindringend, in Frankreich das System Descartes', in Deutschland das Leibniz-Wolffsche, und findet in Lichtenbergs naturwissenschaftlicher Selbstbeobachtung empfänglichen Boden. So wird der Mensch in den Mittelpunkt auch der philosophischen Disziplinen gestellt — philosophische Anthropologie ist der gemeinsame Boden — und seine Absonderlichkeiten erhalten Bedeutung. b) Die Denkweise Das erste unmittelbar sichtbare formale Merkmal von Lichtenbergs Werk ist die Systemlosigkeit seines Denkens und seines Darstellens; scheint es ja vorwiegend auf Einfall und Assoziation zu beruhen, ohne deshalb des schärfsten logischen Schlußvermögens zu entbehren. Diese Systemlosigkeit im Anheben des Denkens, schon als äußerliches Merkmal sogleich auffallend, ist so oft als Grundvoraussetzung seiner Aphoristik hervorgehoben und als Hindernis der Produktion „größerer" Werke bedauert oder gerügt worden, daß wir uns hier, zunächst mit der bloßen Beschreibung der gedanklichen Gestalt beschäftigt, nicht länger dabei aufzuhalten brauchen. Der Art seiner Gedankengänge nachspürend, werden wir Spezifischeres aufzufinden haben. Lichtenbergs Denken geht vom Einzelnen aus und zwar meist vom Phänomen, von der beobachteten oder sonst irgendwie (etwa aus der Lektüre) 36 zur Kenntnis genommenen Tatsache, oder vom einzelnen Einfall. Man vergleiche wegen ihres psychologischen oder charakterologischen Themas oben wiedergegebene Einzelbeobachtungen wie A 3 , 13, 16, 20 (S. 11), 45 (S. 13), 50, 51 (S. 12). Heißt es in A 45 auch „allemal" und in A 5 0 „gemeiniglich", so schweben dem Autor doch ganz bestimmte Fälle vor. (Das Ausweiten einer gegebenen einmaligen Situation zur allgemeinen Erkenntnis deutet übrigens auch schon auf den echten Aphoristiker voraus. Nur ist die Wendung vom Expliziten zum Impliziten noch nicht vollzogen.) 37 Bei manchen der Notizen zeigt sich schon die später überhandnehmende Neigung Lichtenbergs, Kuriositäten festzuhalten, oft Ungereimtheiten aller Art. A m 4. Juli 1 7 6 5 lag ich an einem T a g , w o immer heller H i m m e l mit

Wolken

abwechselte, mit einem Buche auf dem Bette, so d a ß ich die Buchstaben ganz deutlich erkennen konnte, auf einmal drehte sich die H a n d , w o r i n ich das Buch hielt, unvermutet, ohne d a ß ich etwas verspürte, und weil dadurch mir einiges Licht

entzogen

wurde, so schloß ich, es müßte eine dicke W o l k e v o r die Sonne gezogen sein . . . (A 3 5 ; ähnlich A 4 8 ) . 35

Felix Günther, Die Wissenschaft v o m Menschen. Ein Beitrag zum deutschen Geistesleben im Zeitalter des Rationalismus ( 1 9 0 7 ) , S. 2 2 .

38

z. B. A 2 1 und A 27 (S. 11).

37

Vgl. Verf., D e r Aphorismus, S. 157.

16

Der Student

Seiner wachsenden Teilnahme am einzelnen Faktum, des Ausgehens vom Individuellen, ist Lichtenberg sich bewußt, und er begründet es auch theoretisch: D i e Bemühung, ein allgemeines Principium in manchen Wissenschaften zu finden, ist vielleicht ebenso fruchtlos, als die Bemühung derjenigen sein würde, die in der Mineralogie ein erstes Allgemeines finden wollten, durch dessen Zusammensetzung alle Mineralien entstanden seien. D i e N a t u r schafft keine genera und species, sie schafft individua und unsere Kurzsichtigkeit muß sich Ähnlichkeiten aufsuchen, um vieles auf einmal behalten zu können. Diese Begriffe werden immer unrichtiger, je größer die Geschlechter sind, die wir uns machen (A 17).

Doch damit, die Phänomene, die Individua als solche, bewußt zu sehen und festzuhalten, begnügt er sich nicht. Oft bemerkt er in ihnen unbeachtet gebliebene Einzelheiten — und das Einfache wird ihm so zum Komplexen — oder seine genauere Beobachtung stellt Althergebrachtes richtig. Und immer wieder sieht er mit unverbrauchter Frische des Geistes und Hellsichtigkeit, die sich aufs schönste der naiven Freude am bloß Kuriosen paart, hinter den anscheinend banalsten Tatsachen Probleme. Schon von seinen bloßen Aufzeichnungen gilt, was Goethe von seinen Scherzen bemerkte: „Lichtenbergs Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute bedienen; wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen." 3 8 Aber auch die detailreichen Phänomene genügen ihm schließlich nicht, wenn er nicht auch das Warum kennt, ein präziseres Wie und das Woher. Mittel zur Beantwortung dieser stets wiederkehrenden Fragen ist die Analyse; bei allgemein seelischen Tatbeständen die seelenkundliche Zerlegung (und seelische Tatbestände sind ihm vielfach auch solche, die zunächst als rein sachliche erscheinen), bei rein gedanklichen die erkenntniskritische Überprüfung. In ihr schreitet Lichtenbergs Denken aus, nachdem es vom Einzelnen angezogen wurde. Hier eine Reihe von Beispielen für diesen bei ihm fast unvermeidlich scheinenden zweiten Schritt innerhalb der gedanklichen, der charakteristisch Lichtenbergschen, Erfassung der Wirklichkeit in ihrem weitesten Bereich. Die Beobachtung des gleichzeitigen Sehens mehrerer Gegenstände (A 13, s. S. 11) setzt er analysierend f o r t : „Es ist die Frage, ob dieses Gewohnheit ist, oder ob es eine andere Ursache habe? . . ." Von der Feststellung „In Werken des Geschmacks ist es sehr schwer, weiter zu kommen, wenn man schon einigermaßen weit ist" (A 18) geht er Schritt f ü r Schritt psychologisch zerfällend weiter: .. . weil leicht hierin ein gewisser Grad v o n Vollkommenheit unser Vergnügen werden kann, so daß wir nur diesen Grad zum Endzweck unserer Bemühungen setzen, weil dieser unsern ganzen Geschmack ausfüllt; in andern Stücken, die nicht bloß auf das Vergnügen ankommen, verhält es sich ganz anders; daher haben wir in den letzteren den Alten es weit zuvorgetan, in den ersten aber sind wir noch tief unter ihnen, . . . Dieses kommt daher, das G e f ü h l des neueren Künstlers ist nicht scharf genug, es geht nur bis auf die körperlichen Schönheiten seines Musters und nicht auf die moralischen,. . . 58

Aus Makariens Archiv.

D i e D e n k w e i s e : D a s Einzelne, Analyse

17

O d e r : Das besondere Vergnügen, ein Taschenspielerkunststück selbst zu sehen (A 20) u n d „die traurige Situation, worin die Esel jetzo in der Welt leben", wird auf Vorurteile der Zuschauer u n d der Eseltreiber zurückgeführt: . . . denn viele Eselstreiber gehen deswegen mit ihren Eleven so fürchterlich um, weil es Esel, nicht weil es träge und langsame Tiere sind (A 26).

Piatons Bemerkung über die Anregung zum Dichten durch R h y t h m u s u n d M e t r u m (A 27) bringt ihn auf Analysen vergleichbarer eigener u n d an anderen beobachteter Gefühle u n d Sonderbarkeiten: Eine große Fertigkeit im Dividieren . . ., die ich bei jemand bemerkte, brachte mir zuerst die Lust der Rechenkunst bei: ich dividierte mehr der eiförmigen Gestalt der A u f l ö s u n g willen als aus einer andern Absicht. Ich habe junge Mathematicos gekannt, die oft ein solches Vergnügen darin fanden, die Worte Calcul und Vues auszusprechen, daß ich nicht z w e i f l e , daß kleine Ncbenergötzlichkeiten, die sie in dergleichen Vorstellungen fanden, ihren Fleiß munter erhalten haben.

H i e r haben wir die erste, noch vereinzelte, Spur eines später typisch Lichtenbergischen Vorganges: D a ß ernsthafte Analyse z u m Lächeln über menschliche Eigenart wird, über das P a r a d o x e menschlicher Eigenart. Linnes angreifbare naturwissenschaftliche Feststellung über das „Wachsen" der Steine (A 22, S. 13) deckte Lichtenberg psychologisch als Ergebnis stilistischer V e r f ü h r u n g a u f ; ähnlich unterzieht er ein andermal ein Ethisches psychologischer Analyse (A 36) oder erklärt einen logischen Fehler aus den ganz bestimmten Bedingungen, denen der Schließende seinem Wesen nach u n t e r w o r f e n ist (A 41). Nicht nur die Gegenstände der Kunst, selbst traditionelle Einzelheiten handwerklicher Erzeugnisse werden auf sachliche N o t w e n d i g k e i t u n d willkürliches Belieben hin analysiert (A 47). U n d die grundsätzlichen I r r t ü m e r der Eigenschaftspsychologie (A 46, S. 13) . . . beruhen auf den dabei so nötigen Sprachen, weil diese keine Verbindung notwendig unter sich haben, sondern sie erst durch die beigefügte Erinnerung bekommen, so kommt die gewöhnlichste Bedeutung uns immer in den Sinn, sobald man die Erinnerung ein wenig nur aus der Acht l ä ß t . . .

So wie das Ausgehen v o m Einzelnen ist auch möglichst weit getriebene Zerfällung f ü r Lichtenberg nicht nur Gewohnheit, sondern ganz bewußtes Arbeitsprinzip. I m Kegag d u c d d e i a ; heißt es: M a n frage sich selbst, ob man sich die kleinsten Sachen erklären kann, dieses ist das einzige Mittel, sich ein rechtes System zu formieren, seine Kräfte zur erforschen und seine Lektüre nützlich zu machen. 3 9

Zu dieser Zeit auch im Ästhetischen ganz unbefangen rationalistisch, schätzt er „Die Kunst, alle Dinge recht tief unten anzufangen und eine Frage in tausend untergeordnete zu zerfallen", 4 0 nicht nur als Methode, sondern glaubt ernstlich, alles Vergnügen d o r t zu finden, w o das Kausalitätsbedürfnis u n d der erklärende Verstand auf ihre Rechnung k o m m e n : 3a

K A 17.

2

Mautner, Lichtenberg

40

K A 18.

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D e r Student

W i r finden nur alsdann Vergnügen, w o wir Absicht bemerken, wenigstens urteilt unser A u g e und Ohr nach diesem Grundsatz, der Flügel eines Schmetterlings gefiel anfangs wegen der regelmäßigen Farben, dieses ward man g e w o h n t und jetzt gefällt er wieder v o n neuem, wenn man sieht, daß er aus Federn besteht, der Quarz mehr als [der] unförmliche Sandstein . . .(A 44).

Dies klingt noch recht erlernt, nachgesprochen. Wenn die zwei vorhergehenden Notizen aber auch nur Lesefrüchte sein sollten, so hat sich Lichtenberg später doch oft zu ihnen bekannt. Neben der Gabe, überall Probleme zu wittern und dem Drang, die Erscheinungen und Vorgänge zu analysieren, fällt die manchmal wie ein Zwang wirkende Fähigkeit auf, Analogien zu schauen. Sie führt, als zweiter Denkschritt, von analysierten oder von unzerlegten komplexen Erscheinungen ausgehend, bald zum bloß erhellenden Vergleich, bald zum Analogieschluß — oft zwischen den entferntesten Gebieten — und zumindest zur Frage, ob sich nicht Analogien finden ließen. Manchmal schweifen sie zu so entlegenen Gebieten, daß von „Schlüssen" nicht mehr die Rede sein kann, nur von Operationen einer kühnen Phantasie. Wo Analogie nicht vorhanden ist, sucht Lichtenberg sie, und analogisch geformte Scheindefinitionen lobt er als „sehr artig". 4 1 Rousseaus Bemerkung über die Wichtigkeit der Betonung beim Sprechen ( A 2 1 , S. 11) führt zur analogischen Nutzanwendung: Weil nun dieses bei den Schriften w e g f ä l l t , so muß der Leser auf den A k z e n t geführt werden, dadurch, daß man deutlicher durch die W e n d u n g anzeigt, w o der Ton hingehört.. .

Der Zwang zu analogischen Denken wird besonders deutlich in A 24: Bei allen Tieren ist der äußere Zustand ihres Körpers und die Veränderung der sinnlichen Werkzeuge derselben allzeit eine Funktion ihrer H a n d l u n g e n und ihrer Lebensart. Bei den Menschen ist dieses z w a r auch wahr, allein . . .

Das analogische Weiterdenken von Piatons Bemerkung (A 27, S. 11) führte zu der Analyse eines Gefühls (S. 17), das Geschichtchen von dem beschatteten Buch (A 35, S. 15) leitet zu einem Schluß auf eine allgemeine Eigenschaft des Denkens über: „So sind oft unsere Schlüsse beschaffen, wir suchen Gründe in der Ferne, die oft in uns selbst ganz nahe liegen." Hier und oft noch ist die Leichtigkeit erstaunlich, mit der Lichtenberg vom scheinbar Belanglosesten zum fruchtbaren Analogieschluß übergeht. Manchmal macht er ihn der Psychologie dienstbar, manchmal der Erkenntniskritik, manchmal wird aus dem Schluß eine Maxime des Handelns. Mitunter macht die Einsicht, welche von der Analogie gewährt wird, nur eine Hälfte ihres Wertes aus, die andere ist die ästhetische Freude an der Analogie selbst. So ist in A 23 der Schlußsatz eine deutliche Prägung des „Witzes" im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts, als Kunst, entfernte Gebiete zusammenzubringen: D i e Versart den Gedanken anzumessen, ist eine sehr schwere Kunst, und eine 41

A 12.

D i e D e n k w e i s e : Analogie. A n w e n d u n g

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Vernachlässigung derselben ist ein wichtiger Teil des Lächerlichen. Sie verhalten sich beide zusammen wie im gemeinen Leben Lebensart und A m t .

In solchen mit H i l f e der Analogie sich als mathematische Verhältnisse (in der Form A : B = C : D) formulierenden N o t i z e n sind schon jetzt echte Aphorismen von einer ganz bestimmten Form vorgebildet, die seit Friedrich Schlegel im Deutschen Typus wird. 4 2 In Form einer Analogie verteidigt denn Lichtenberg auch den Gebrauch von Analogien, um der Erkenntnis ebenso sehr wie um des Witzes willen: D e r große Kunstgriff, kleine Abweichungen von der Wahrheit für die Wahrheit selbst zu halten, worauf die ganze Differentialrechnung gebaut ist, ist auch zugleich der Grund unserer witzigen Gedanken, w o oft das Ganze hinfallen würde, wenn wir die Abweichungen in einer philosophischen Strenge nehmen würden (A l ) . 4 3

Lichtenbergs t r a u m h a f t e Leichtigkeit des Assoziierens in der Form der Analogie gipfelt im freischaffenden Phantasieren. Einmal ist es durchaus ernsthaft, d a n n wieder Erzeugnis spielender Laune. Nicht selten satirisch gefärbt, erzeugt es später in Massen die f ü r sein W e r k so besonders kennzeichnenden kuriosen Einfälle, „Vorschläge", „Ideen zu . . . " I m ersten N o t i z h e f t noch unbedeutend, werden sie in den folgenden Büchern immer häufiger humorvoll oder witzig, entarten in der letzten aber manchmal zu anmutlosen Ergebnissen einer nicht viel mehr als schrulligen Routine. I m Rückblick wirken sie alle als T r a banten seiner kostbaren Hypothesen und G r u n d g e d a n k e n . Diese typischen D e n k a b l ä u f e scheinen ganz die eines die Wirklichkeit z w a r scharf erfassenden, aber mit ihrer D e u t u n g sich begnügenden und sich manchmal dem Spiel der Phantasie ergebenden Denkers zu sein. Verblüffend ist deshalb die Wendung zur Praxis, die sie schließlich immer wieder nehmen, u n d der praktische Sinn, mit dem die Möglichkeiten zu ihrer Ü b e r p r ü f u n g gesehen werden. Dieser Sinn dient bald der Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens oder Lehrens, bald der Erziehung oder dem Leben im weitesten Begriff. So sei es nicht so einfach, die „Seelencharakteristik", die sich in Physiognomien auszusprechen scheint, zu lesen: . . . U m einigen Grund in dieser schweren und weitläufigen Wissenschaft zu legen, müßte man, bei verschiedenen N a t i o n e n , die größten Männer, die Gefängnisse und die Tollhäuser durchsehen, denn diese Fächer sind so zu reden die 3 H a u p t f a r b e n , durch deren Mischung gemeiniglich die übrigen entstehen (A 4).

Anläßlich einer Geschichte der Geometrie f r a g t sich Lichtenberg, „. . . was wohl im gemeinen Leben am geschicktesten [ w ä r e ] , die Menschen auf wichtige geometrische Sätze zu f ü h r e n " (A 10), u n d selbst aus der Folgerung aus einem Taschenspielerkunststück (A 16) entspringt ein G e d a n k e zur Methodik des Lehrens u n d Forschens. Auch die Beobachtung, d a ß die „Erfindung der wichtigsten W a h r h e i t e n " von einer im üblichen Alltagsleben unmöglichen Abstraktion 42

Vgl. Verf., Der Aphorismus, S. 168, d.

43

Vgl. auch Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, II. Abt., I X , § 53.

2*

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Der Student

abhänge (A 11). f ü h r t zu einer Nutzanwendung: d a ß ein Philosoph „. . . also billig als ein Kind schon besonders erzogen werden" sollte. An die Bemerkung Piatons über die Anregung des poetischen Genies (A 27, S. 11) und die über das Sehen vom Blick nicht fixierter Gegenstände (A 13, ib.) schließen sich Fragen nach der Möglichkeit, andere Fähigkeiten, sogar moralische, durch „Kunstgriffe" auszubilden. U n d woher sollen die Künstler das Gefühl f ü r das Moralische in gewissen Mienen erlernen? „Unsere Ästhetiken sind bei weitem noch nicht praktisch genug." (A 18) Zur Lebensregel wird die Bemerkung über die Leute, die nicht die feine Verstellungskunst völlig inne haben (A 50, S. 12): . . . wer also der Neigung eines andern schmeicheln will und sich in dieselbe schicken lernen will, der muß bei der ersten Zusammenkunft sehr acht geben, dort findet man gemeiniglich die bestimmende P u n k t e der ganzen Denkungsart vereinigt.

U n d die Liebe zu den Erkenntnissen der Wissenschaft von der N a t u r kann Zwecken der religiösen Erziehung dienstbar gemacht werden, unmittelbar als Inhalt (A 29) und mittelbar als Methode: Man sollte in der Woche wenigstens einmal diätetische Predigten in der Kirche halten und wenn diese Wissenschaft auch von unsern Geistlichen erlernt würde, so könnte man doch geistliche Betrachtungen einflechten, . . . denn es ist nicht zu glauben, [wie] geistliche Betrachtungen mit etwas Physik vermischt, die Leute aufmerksam erhält und ihnen Gott stärker darstellt als die oft übel angebrachten Exempel seines Zorns (A 37).

Lichtenbergs Vater hatte sich in seinen Predigten dieser Praxis bedient. Übrigens gesellt sich seinem Sinn f ü r das Praktische harmonisch Lichtenbergs ursprüngliche Abneigung gegen hilfloses Gelehrtentum, das ausschließlich auf Theorie gerichtet ist. So gestattet sich denn der junge Lichtenberg auch nur eine einzige Denkweise innerhalb des Metaphysischen, ja er bedient sich ihrer in so kühner Art, daß es mitunter fraglich werden kann, ob der Ernst nicht in Blasphemie überschlage, der teleologischen nämlich. Anscheinend zweckfreie Erscheinungen unterwirft sie einem praktischen Ziel: Die Furcht vor dem T o d , die den Menschen eingeprägt ist, ist zugleich ein großes Mittel, dessen sich der H i m m e l bedient, sie von vielen Untaten abzuhalten, vieles wird aus Furcht vor Lebensgefahr oder Krankheit unterlassen (A 39).

U n d die Überlegung über den Einfluß der Speisen auf den Zustand der Menschen, „wie er jetzo ist" (A 42), führt nicht nur zur Voltairehaften Frage: . . . wer weiß, ob wir nicht einer gut gekochten Suppe die Luftpumpe und einer schlechten den Krieg oft zu verdanken haben . . .,

sondern weiter auch zu der noch im Scherz teleologischen: . . . allein wer weiß, ob nicht der Himmel damit große Endzwecke Untertanen treu erhält, Regierungen ändert und freie Staaten macht . . .

erreicht,

Denkform und Geistesgeschichte

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c) Denkform und Geistesgeschichte Der innere Vorgang: Bemerkung oder Beobachtung des Einzelnen — Analyse — Analogie (vom rein Intuitiven bis zum fast logischen Schluß reichend) — Gesetz, Regel und womöglich praktische Auswertung hat sich nun als Grundform von Lichtenbergs Denken ergeben, die wirre Folge der anscheinend durch Zufall gewordenen 52 Notizen hat als Ganzes durch ihr Kreisen um bestimmte, auf einander bezogene Gruppen von Themen Sinn und durch die vorwaltende einheitliche Form ihres inneren Lebens Struktur gewonnen. Dieses innere Leben, eben jener Denkvorgang, bezeichnet in seinen viermaligen Haltepunkten Lichtenbergs vierfache Begabung als Beobachter und Denker und Phantasiemcnsch und Praktiker. Wo so vielerlei gleich starke Fähigkeiten sich kreuzen, oft bis ins Seltsame gesteigert durch ungewöhnliche Reizsamkeit des Naturells, da dürfen wir erwarten, daß ihre Früchte immer interessant sein werden, da müssen wir uns fragen, ob solche Vielfalt zum Vollbringen des großen, geschlossenen Werkes taugen werde.

Eine Frage erhebt sich: Ist dieser zwanghafte Denkvorgang ausschließlich Lichtenberg eigen oder hat er seine Entsprechung und seinen Rückhalt auch in Denk-Gewohnheiten oder Denk-Regeln der Zeit? U n d in welcher ihrer zwei typischen Geisteshaltungen, „typisch", auch wenn sie vielfach ineinander übergehen? Das auffälligste und oberflächlichste Kennzeichen der Notizen, die Systemlosigkeit, ist, auf Bacon zurückgehend, Art der westlichen, sensualistischen, anticartesianischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, gehört aber gewiß auch zum Irrationalismus, selbst in seiner theoretischen Grundlegung durch Shaftesbury. Die besondere Form dieser Systemlosigkeit aber, das rein sachlich beobachtende und beschreibende emotionsfreie Festhalten des einzelnen Phänomens, Lichtenbergs besondere Art, ist ganz überwiegend „aufklärend". Wo in der Geniebewegung und im Irrationalismus vom Faktum ausgegangen wird, wird es in einem lebendigen Wirkungszusammenhang oder als Erreger von Stimmungen gesehen, und im Systemrationalismus Descartes' war es ein Exempel f ü r eine Idee gewesen. Hier aber handelt es sich um reine Erkenntnis an sich. Jede echte Erkenntnis soll nun überhaupt in den Phänomenen ihren Ursprung nehmen. Die oben (S. 16) zitierte Ableugnung der genera drückt dies auch theoretisch aus. N u r das Beschriebene, nicht das Definierte gilt — in einer Wendung gegen die Scholastik — als erkannt, höchstens das genetisch Definierte. Lichtenberg macht sich die Tatsachen der Welt und des Seelenlebens nach Wie und Warum durch fortgesetzte Analyse zu eigen, und zwar ganz bewußt. Der Mensch des Irrationalismus „erlebt" die Wirklichkeit, um sie so am tiefsten zu ergründen. Schon Leibniz hat sich die Verwirklichung einer Scientia generalis vom Fortschritt der Analyse, von der Auflösung aller komplexen Denkfragen in ihre Bestandteile erwartet. Die Analyse durch die persönliche selbstgesetz-

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Der Student

liehe Vernunft ist die Fähigkeit und die zwanghafte Methode der Aufklärungswissenschaft und -philosophie. Sie erstreckt sich ja gleichermaßen auf das bloß Faktische wie auf die Zeugnisse der Offenbarung, der Tradition, der Autorität und will zu den Motiven vorstoßen, um so erst die Fakten zu verstehen. In der Anwendung unbeschränkt,44 bezieht sie auch das Seelische, Lichtenbergs Lieblingsgebiet, ein. Erfahrung, der Reichtum an genau gekannten Erscheinungen, wird also unentbehrliche Grundlage, und Analyse die Methode alles Erkennens und wissenschaftlichen Denkens. Nie vorher ist Denken programmäßig so sehr „wissenschaftliches" Denken gewesen wie im Bildungskreis der Aufklärung, in dem Lichtenberg aufgewachsen ist. Im besonderen entspricht die Aufeinanderfolge von Denkschritten, die für die ersten Aufzeichnungen Lichtenbergs so charakteristisch ist und auch später trotz des Uberwucherns durch literarische Zweckformen sichtbar bleibt, weitgehend — bis auf die theoretisch nicht zugelassene Hypothese — der M e t h o d i k d e r z e i t g e n ö s s i s c h e n N a t u r w i s s e n s c h a f t , gegründet auf Newtons Regulae philosophandi am Anfang des dritten Buches der Philosophiae Naturalis Principia Mathematica. Diese sind im 18. Jahrhundert an die Stelle von Descartes' Discours de la Methode getreten, unmittelbar oder als selbstverständliches Prinzip vielfältigster Forschung, haben die Deduktion verdrängt und beherrschen weiteste Bereiche der Wissenschaft. Besonders Newtons Erläuterung zur dritten und die vierte Regel sind in unserem Zusammenhang aufschlußreich: We are certainly not to relinquish the evidence of experiments for the sake of . . . vain fictions of our own devising; nor are we to recede from the analogy of Nature, which is . . . always consonant to itself . . . That all bodies are impenetrable, we gather not from reason, but from sensation. The bodies which we handle we find impenetrable, and thence conclude impenetrability to be an universal property of all bodies whatsoever. That all bodies are movable and . .., we only infer from the like properties observed in the bodies which we have seen. [Dasselbe gelte von allen andern Qualitäten.] And this is the foundation of all philosophy . . . In experimental philosophy we are to look upon propositions inferred by general induction from phenomena as accurately or very nearly true, not withstanding any contrary hypotheses that may be imagined, till such time as other phenomena occur, by which they may either be made more accurate, or liable to exceptions. This rule we must follow, that the argument of induction may not be evaded by hypotheses.45

„Till such time as other phenomena occur": Von hier aus fällt ein entscheidendes Licht auf Lichtenbergs Tatsachen-Sammelleidenschaft und auf die Methode der induktiven Behandlung dieser Tatsachen. Jedes bisher als gültig betrachtete Gesetz kann durch eine neu entdeckte oder genauer erforschte Tatsache umgestoßen werden. Neue Tatsachen, und seien es auch nur „Kuriositäten", schärfere Beobachtung schon bekannter, bereichern nicht nur das Wissen von der 44 45

Vgl. E. Cassirer, Philosophie der Aufklärung (1933), passim. Hervorhebungen nicht im Original. Zitiert nach der englischen Ubersetzung Andrew Motte's (1729), zugrundegelegt der Ausgabe Florian Cajoris (Berkeley, California: University of California Press, 1934), 399 ff.

Denkform und Geistesgeschichte

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Welt und dem Menschen; sie helfen auch kraft der vorläufigen Beweiskraft der Analogie, die Welt und den Menschen besser verstehen. Die Ergebnisse und die Methodik Newtons auf dem Gebiete der Physik hatten isoliert nebeneinander bestehende Kenntnisse auf einander bezogen und in ein gesetzmäßiges Gefüge gebracht, welches die Erklärung alles mechanischen Weltgeschehens wurde. Zum großen Teil seiner Wirkung verdankten die N a t u r wissenschaften den unbestrittenen Vorrang innerhalb der Forschung des 18. Jahrhunderts. Das hat nicht nur die bekannte Folge, daß die Aufklärung insofern naturwissenschaftlich denkt, als sie Geistiges auf „Natürliches" zurückführt, es in den Bereich der N a t u r einbezieht — so z. B., wenn Lichtenberg häufig Seelisches durch physiologische Vorgänge erklärt — sondern auch die, daß sie formal die Forschungsweise der Naturwissenschaften auf jedes wissenschaftliche und philosophische Forschungsgebiet übertragen will. Man vergleiche etwa die hier beschriebene Denkweise mit der Friedrichs des Großen, wie Dilthey sie darstellt. Diltheys Charakteristik von Friedrichs geistigem Verhalten ist offenbar ebenso unter der Macht des beschriebenen Sachverhaltes entstanden wie unsere beschreibende Analyse des ersten Notizheftes. Auch sie leitete Lichtenbergs spezifische Denkweise bloß aus dem Text ab, ohne die zeitgenössische Denkform zu berücksichtigen, und erkannte diese erst nachträglich als typisch f ü r die Methode der Naturwissenschaften: Diesem König der Aufklärung, der Alles, was er tut und was er schaut, dem Raisonnement unterwirft, war es nun Bedürfnis, dieses Kräftesystem [der Staaten und der Völker] immer wieder, bald in seinen gegenwärtigen, bald in seinen vergangenen Erscheinungen zu beschreiben, zu untersuchen, in seine letzten Faktoren zu zerlegen, bis er die einfachen Gesetze gefunden hätte, die dasselbe beherrschen, und die festen Normen, die sich daraus für das praktische Handeln ableiten ließen. Das war nur möglich, weil er nicht nur Genie der T a t und politischer und historischer Schriftsteller, sondern auch Philosoph war. 4 6

Die Bewunderung und Verehrung des 18. Jahrhunderts für Newton, nicht nur f ü r den Forscher, mit dessen Ergebnissen eine neue Zeit f ü r die Naturwissenschaft heraufgekommen war, sondern auch f ü r den großen Methodiker des Erkennens war grenzenlos, 47 und es ist kaum denkbar, daß in einer Zeit, in der die Naturwissenschaft den Vorrang innerhalb der Wissenschaften beanspruchte, ihre Arbeitsweise nicht auf andere Gebiete geistiger Tätigkeit eingewirkt haben soll. Lichtenberg im besonderen, dem Studenten und späteren Professor der Physik, muß diese von den „exakten" Wissenschaften mit Selbstverständlichkeit befolgte Forschungsmethode durch sein berufliches Tagwerk ganz nahe 46

W. Dilthey in „Friedrich der Große und die deutsche Aufklärung", Ges. Schriften, III (1927), S. 181. Kursivdruck von uns.

47

Belege bei Cassirer, a.a.O., S. 57 ff., 267. — Der „Weise" wird er nicht nur bei Lichtenberg oft genannt, sondern auch auf der Gegenseite: z . B . bei Lavater, Geheimes Tagebuch (1771), S. 144 und öfters in den Physiognomischen Fragmenten.

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Der Student

gerückt, „mechanisch" geworden sein. 48 Auch mußte sie ihm v o n N a t u r aus besonders liegen. D e n n Liebe zum P h ä n o m e n verband sidi in ihm mit einer ungewöhnlichen Begabung für das exakte Beobachten innerer und äußerer V o r gänge und Erscheinungen, u n d seine Denkenergie hemmte nicht den Flug seiner so oft aufs Praktische gerichtete Phantasie, sondern trieb sie an. D a m i t verbindet sich ohne weiteres eine Vorliebe für mathematische Bezeichnungen, Formeln und Vergleiche. In ihnen schlägt die Berufsterminologie in die Alltagssprache durch und zugleich sind sie Gestalt des quantitativen,

naturwissen-

schaftlich messenden Betrachtens und Überlegens. 4 9 Andere Kräfte seines Geistes aber setzen sich allmählich, scheinbar des beschriebenen Denkschemas sich bedienend, gegen dieses Schema durch: Selten im ersten N o t i z h e f t , später häufiger, k a n n diese Methode die A n a l o g i e nämlich gewissermaßen negativ anwenden, als W i t z in tieferem Sinn; dies da, w o die Unangemessenheit zwischen der schematischen Behandlungsweise und dem lebensvollen, k o m p l e x e n Gegenstand dem U n b e f a n g e n e n b e w u ß t wird. U n d die sprunghafte Wiederherstellung der v o m Schema bedrohten Unbefangenheit des Denkens und Schauens, über alle sachlichen u n d methodischen Prinzipien hinweg, ist eine vorzügliche Eigenschaft Lichtenbergs. Durch sie hat er es seinen Erklärern, hat er es sich selbst so schwer gemacht. Seine Ironie kehrt sich später manchmal genau so gegen sein eigenes T u n w i e gegen das der Anderen; ein Wissen v o n der paradoxen, Regeln sprengenden Unberechenbarkeit menschlichen 48

Man vergleiche etwa, um an einer von Lichtenbergs Notizen diese typische Denkweise im Zusammenhang zu sehen, die Behandlung und Auswertung der Beobachtung, daß geträumte Atemnot auf einen geringeren Grad wirklicher Atemnot zurückzuführen sei ( A 5 1 ) : Zunächst (1) der Versuch einer verallgemeinernden Erklärung durch Analyse der als wesentlich erkannten Umstände: „Einem bloß fühlenden Körper kommen böse Empfindungen allzeit größer vor, als einem, der mit einer denkenden Seele verknüpft ist." Die Wirkung dieser Umstände wird psychologisch begründet (2): „wo selbst oft der Gedanke, daß die Empfindungen nichts zu bedeuten haben, oder daß man sich, wenn man nur wollte, davon befreien könnte, vieles vom Unangenehmen vermindert." Ein als Analogie gesehner Fall wird 'Wahrscheinlichkeitsbeweis f ü r die Richtigkeit der Erklärung (3): „Wir liegen öfters mit unserm Körper so, daß gedrückte Teile uns heftig schmerzen, allein, weil wir wissen, daß wir uns aus dieser Lage bringen könnten, wenn wir nur wollten, so empfinden wir wirklich sehr wenig." Noch ein mit wissenschaftlicher Phantasie als Analogie gesehner Fall bestätigt die Richtigkeit des abgeleiteten Gesetzes. Die aus der These (1) gezogene Folgerung, daß ein unerklärbarer Schmerz durch Hinzufügung einer erklärbaren Ursache seinen Schrecken verliere, dient zugleich einer N u t z anwendung — und wir sind mitten drin im Gebiet der praktischen Alltagsratschläge der Kalender, deren einen der große Schriftsteller später selber herausgegeben und mit dem er vom Publikum identifiziert werden sollte: (4) „Dieses bestärkt eine Anmerkung, die ich unten gemacht habe, nämlich, daß man sich durch Drücken die Kopfschmerzen vermindern kann."

49

Ein Beispiel f ü r viele: „Der Tod ist eine unveränderliche Größe, allein der Schmerz ist eine veränderliche, die unendlich wachsen kann. Dieses ist ein Satz, den die Verteidiger der Folter zugeben müssen, denn sonst foltern sie vergeblich, allein in vielen wird der Schmerz ein Größtes und kleiner als der Tod." (A 52)

Keime zur Schriftstellern

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Handelns, von den Möglichkeiten des Versagens aller Methodik vor dem Leben, hebt ihn über seine aufklärerischen Genossen hinaus, Wieland vielleicht ausgenommen. So hat gewiß, wie wir zu zeigen versucht haben, jenes scheinbar willkürliche Schweifen der ersten Notizen seinen sehr bestimmten Sinn und seine sehr bestimmte Weise, jener dargestellt durch das Themengefüge, diese durch den beschriebenen Denkvorgang in seinen vier Phasen, von denen höchstens der eine oder der andere Schritt übersprungen wird: Dieser ganze Prozeß ist seinem Wesen nach, auch in den sonderbarsten Formen, wissenschaftlich-philosophisches Denken. Aber schon in Lichtenbergs Anfängen wird es gelegentlich durch seine utopisch witzige Phantasie überholt: Sie überfliegt, im Schauen überraschender Analogien, zu denen nüchtern wissenschaftliches Denken sich nicht bekennen würde, vom Ausgangspunkt weit abgelegene Gebiete. In Lichtenbergs Schriften des nächsten Jahrzehnts wird dieses sich Loslösen vom geregelten Denkvorgang, wird mit dem Respekt vor der Macht des Gemüts auch das Wirken der unsystematischen "Laune immer häufiger. Ihr haben wir jene Fülle schöpferischer Einfälle zu verdanken, die, von der französischen Aufklärungsästhetik als „saillies" so nachdrücklich verlangt, der deutschen Aufklärung abseits von Lichtenberg und Hippel aber fremd, erst in der Frühromantik und bei Jean Paul f ü r die deutsche Literatur wirksam wurden. Laurence Sterne konnte ihn darin nur bestärken. d) Die H e f t e „2" und „3"; Keime zur Schriftstellerei Die Einträge in die nächsten zwei Notizhefte, von Leitzmann 4 9 a als „2" und „3" bezeichnet, A 53—87 und 88—114, unterscheiden sich von denen im ersten höchstens im Grade ihrer Eigenart. (Heft „2" gehört in der Hauptsache dem Jahre 1766 an, „3" setzt es wahrscheinlich fort und reicht möglicherweise bis ins J a h r 1769, könnte aber auch zwischen „1" und „2" entstanden sein.) Die Themen sind im wesentlichen die gleichen geblieben, aber bezogen auf weitere Gebiete. So f ü h r t zum Beispiel die Einsicht in die unzerstörbare Einheit der Persönlichkeit in zwei neue Richtungen weiter: zum Gedanken einer Typologie der Charaktere, in der die Künstler und Gelehrten ihre unverkennbare Rolle bekämen; 5 0 und, lose verknüpft mit der Einheits- und Ganzheitsidee, zu einem Glauben an eine Art Gesetz von der Erhaltung der seelischen oder geistigen Energie und Fähigkeiten innerhalb eines Menschen: wo eines wachse, schrumpfe das andere. Glück bestehe in Harmonie, ein Genie könne als nützliche Mißgeburt gesehen werden. 51 Auch hier schleicht sich also Teleologie ein. — Die charakteristische Denkform ist unverändert, aber die Tendenzen sind deutlicher geworden und der Ton ist etwas persönlicher. Nachdruck auf dem unersetzlichen Wert und der sprachlichen Unartikulierbarkeit der Gefühle und 4,3

A, S. 169 .

50

A 92.

31

A 107.

26

Der Student

Empfindungen durch Sprache wird häufiger, ironisch verhüllte Kritik und Satire, soziale und literarische, merklicher: gegen Prediger, Kavaliere, Offiziere, „Stutzer" und Anakreontiker. Wirklicher H u m o r ist noch selten. Sprach jedoch aus dem ersten Heftchen vielfach noch der beflissene Lerner, so begegnen wir hier gelegentlich schon einem bewußt auf Originalität im Inhalt und Ausdruck bedachten Selbstdenker, der sich vielleicht schon als Schriftsteller sieht. Einer eigenartigen Schlußfolgerung (A 67) und einer witzigen Pointe (A 85) fügt Lichtenberg die Buchstaben p. m. hinzu, ein häufiges Sigel für seinen N a m e n (wahrscheinlich erklärbar als pellucidus mons = „Lichtenberg"). 52 Es wird ihm auch in späteren Aufzeichnungen dazu dienen, seine persönliche Autorschaft zu betonen. Aber der monologische Charakter des Ganzen dominiert; ein phantasievoller, fruchtbarer Vergleich endet mysteriös mit dem Hinweis: „so kommt man schon auf mein System von Seelenwanderung" (A 87). Schriftstellerisch, im strikt stilistischen Sinn, haben diese Notizen, kurzen Gedankengänge und Aperçus der ersten drei Heftchen noch keine deutliche Eigenart. Sie zeigen die typischen Züge der guten Schriftsteller der Aufklärung: sie spiegeln klares Denken und Scharfsinn, sind meist knapp, anregend und gefällig, werden aber manchmal schwerfällig im Kampf um den präzisen Ausdruck. Heiterkeit über unerwartete psychologische Entdeckungen, in der Beobachtung anderer oder seiner selbst, schimmert da und dort durch (wie schon in A 26, 27, vgl. S. 17). Durch anmutige, weil schwerelose Darstellung entzückt die Tiefe des Denkens in der Vereinigung von Sprachkritik und -Philosophie mit dem empirisch gewonnenen Postulat einer Ganzheitspsychologie ( A 4 6 ; vgl. S. 13). Mitten in einer physiognomischen Erörterung (A 18) im ersten, sonst durchaus monologischen Gedanken-Heftchen überrascht uns die Wendung: „Was ich hier sagen will, wird wohl jeder verstehen, f ü r den ich eigentlich schreibe." Wenn Lichtenberg nicht als echter Schriftsteller auch wo er f ü r sich schreibt, den Widerhall und das Verständnis seiner Worte bei einem vorgestellten Publikum abschätzt, so haben wir hier das erste Zeichen einer beabsichtigten Einwirkung auf die Öffentlichkeit vor uns, wenn noch nicht als Schriftsteller, so als Vortragender. 2. Die ersten Arbeiten „Von den Charakteren in der Geschichte" Am 25. Oktober 1764 war eine Anzahl Göttinger Dozenten zu einer historischen Akademie zusammengetreten, die auch Studenten als außerordentliche Mitglieder aufnahm. Lichtenberg hielt ein Vierteljahr nach der Gründung, am 30. Januar 1765, einen Vortrag „Von den Charakteren in der Geschichte"53, 52 53

Vgl. Verf., Lichtenbergs „PM". Nachlaß, S. 183.

V o n den Charakteren in der Geschichte

27

der nach seinen Worten 54 eine Idee auseinandersetzte, die er sich damals von der vollkommenen Schilderung eines Charakters in einer Geschichtserzählung machte. Wie eine zweite Spiegelung seiner Eigenart und ein bewußteres Programm seiner späteren Wirksamkeit stellt sich uns der Entwurf zu diesem Vortrag dar, Lichtenbergs erste erhaltene zusammenhängende Niederschrift. 55 Sie zeugt von stärker bewußter, zielgerichteter Denkarbeit als die ersten Notizen, denn Lichtenberg versucht hier, seine verstreuten, von der jeweiligen Anregung abhängigen Ideen auf einen Gegenstand zu sammeln, auf die Aufgaben des Geschichtsschreibers. Nicht ganz bewußt aber ist er sich des inneren Sinnes dessen, was sich hier abspielte: Er spricht hier das erste Mal sein ihn ein Leben lang beherrschendes Streben nach Kenntnis und Verständnis des Menschen aus. D a ß er dieses gerade f ü r den Geschichtsschreiber als notwendig begründete, empfinden wir heute als Zufall, und auch er deutet derartiges an: D i e Eigenschaften, die ich vorhin genannt habe, sind diejenigen, die jeder besitzen soll, der die W e l t mit E r f o l g lehren will, er mag Geschichtschreiber, Poet, Rechtsgelehrter, Redner oder A r z t sein; und sie sind auch zu allen Zeiten die unterscheidende Züge großer Schriftsteller gewesen . . . 5S

Wir wissen, daß sich Lichtenberg um jene Zeit mit dem Plan eines psychologischen Romans trug. Mit dem Grundthema seines Lebens, Menschenkenntnis, offenbart sich auch seine Grundhaltung: Skepsis gegenüber allem Wissen, eine Skepsis aber, die kritisch zu immer neu tätigem und rücksichtslosem Forschen, Denken, Überprüfen antreibt. Sie ist Ausgangspunkt des Vortrags: Die Charaktere der Geschichte, wie sie waren, seien nicht unbedingt gleichzusetzen jenen, die uns geschildert werden. Wolle man diese kennen, so müsse man erst mit der Verfassung des Geschichtsschreibers vertraut sein und wissen, ob er die nötigen Kenntnisse habe. Das große Thema, das der Titel angibt, wird also sofort verkleinert. Zerfällung u n d Spezialisierung seiner Themen aus Gewissenhaftigkeit, Wittern des Problemreichtums und Interesse am minuziösen Detail sollten stets Lichtenbergs Art bleiben. Dies so herausgeschälte besondere Thema, statt in einer Vorlesung erledigt zu werden, wird auf deren drei aufgeteilt: N u r die Niederschrift der ersten, der „allgemeinen", ist erhalten. Aufklärerisch und echt Lichtenbergisch zugleich soll dann der „Nutzen" einer solchen Schilderung dargetan werden und was man später Befriedigung „zweckfreien wissenschaftlichen Interesses" nennt, heißt hier sehr einfach Befriedigung [geographischer und geschichtlicher] Neugier. In Beurteilung der Unternehmen komme es an auf „die natürliche Geschichte eines Reichs und auf die Kenntnis des Genies [d. h. der Geistesart] einer N a t i o n " . Große Männer seien „nichts als große Charaktere der Länder und ihrer Bewohner", ihre Schilderungen nichts als Teile einer noch wenig bearbeiteten Naturgeschichte, 54 55 55

Schriften, IV, S. 13. Nachlaß, S. 3 — 1 0 . S. 6 f.

D e r Student

28

nämlich der vom menschlichen Herzen. In ein paar Sätzen ist so Lichtenberg vom Sprungbrett der Geschichte bei dem immer zentralen Gegenstand seines Denkens angelangt. (Aus ihm entwickeln sich ja auch bald seine Pläne zur Autobiographie, zur Lebensgeschichte des sonderbaren Kauzes Kunkel, Antiquars in Göttingen, und zum Roman „Christoph Seng".) Der 22jährige erkennt, daß das Entscheidende im Leben durch den Charakter bestimmt ist, und begründet dies exakt: Die gnaue Verbindung unserer Gesinnungen mit unsern H a n d l u n g e n , und dieser letzteren mit unsern Begebenheiten, macht, d a ß das P o r t r a i t einer Seele zugleich ein P l a n ihres Lebens und ihrer ganzen Geschichte i s t . . , 5 6 a

So werde das Seelenbildnis, von einem großen Künstler gezeichnet, wichtiger als alle Lebensbeschreibungen und bisweilen ein Inbegriff von den Begebenheiten eines Staates und ein Auszug aus der Menge von Triebfedern, die ganzen Weltteilen eine andere Gestalt geben können: In der Seele Julius Casars liege der Grund jahrhundertelanger geschichtlicher und geographischer Veränderungen. Und schon hier erfolgt der erste seiner später unzähligen Angriffe auf kompilatorisches, geistloses Gelehrtentum, in einem Satze, der dadurch echter Lichtenberg ist, daß Ernst unmerklich in Scherz übergeht, doch so, daß mit ernster Miene die Scherzhaftigkeit abgeleugnet werden könnte: . . . d a m a n heutzutage schon a n f ä n g t zu verlangen, d a ß jedes Buch eine Abbildung der körperlichen Eigenschaften seines Verfassers enthalten soll, der sehr oft nicht so viel Anteil an seinem Buch hat, als C a e s a r an der heutigen Verfassung des deutschen Reichs. 0 7

Und gleich darauf wieder eine angesichts der Vorliebe der Zeit und Lichtenbergs eigener für teleologische Betrachtungen unentscheidbar zwischen Ernst und Scherz schillernde Feststellung, gleichfalls sichtlich als verblüffender einzelner, „aphoristischer" Einfall entstanden und hier eingefügt: W i r wundern uns über das hohe A l t e r der E r z v ä t e r , wenn m a n aber die E r weiterung unserer Erkenntnis und die Besserung unserer Seele für den Endzweck unsers Lebens ansieht, so hatten sie Ursache, ein längeres Leben zu verlangen als wir, denn w i r haben den Unterricht der Geschichte; und w e r sich desselben als Philosoph bedient, hat allzeit schon ein halbes J a h r t a u s e n d gelebt, auch wenn er in seinem 40sten stirbt.

Anläßlich der vorgestellten Aufgabe, ein Seelengemälde zu entwerfen, regt sich auch hier, wie in den Gedankenbüchern, das grundlegende Erlebnis in Lichtenbergs Gedankenwelt: die Entdeckung der Ganzheitspsychologie, bestimmt, an die Stelle einer Psychologie — mehr Seelentheorie als Seelenkunde — zu treten, die isolierte Eigenschaften willkürlich miteinander verbindet: [Die P r o p o r t i o n in den Seelengemälden] ist würklich da, und unsere guten H a n d bücher der Sittenlehre sind die Zeichenbücher, w o die einzelnen Teile oft mit vielem Glück

entworfen

sind, die aber

vielleicht

ebensowenig

schon

in einer

Verbindung

existiert haben als die Glieder des Vatikanischen Apolls. Die Regeln dieser Zeichenkunst sind freilich . . . noch nicht tief genug untersucht.

r,li

« S. 4.

57

S. 5.

Geschichtsschreibung. Seelenkunde, Sprache

29

Welche Fähigkeiten sind nun erforderlich, um ein solches Seelengemälde anzufertigen? Nur ein wahres philosophisches Genie sei dazu imstande, gebildet nicht durch Logik, sondern durch „eigene" [persönliche] Betrachtung. „Eine beständige Aufmerksamkeit auf sich selbst, ein tiefes Nachdenken über die Begebenheiten, worunter ich auch die gemeinsten rechne, und über die kleinsten Triebfedern der menschlichen Handlungen . . D a s ist von Anfang bis Ende eine Beschreibung von Lichtenbergs eigenem Denkleben: das für die ganze Aufklärung wesentliche, sein privates Dasein als Schriftsteller aber geradezu beherrschende Thema der Autonomie des Denkens ist hier ebenso angedeutet wie seine Lieblingsbeschäftigung, die Selbstbeobachtung; und der aphoristisch in weite Fernen führende Ausgang von der unbedeutenden Einzelheit 58 ebenso wie seine mikrologische Psychologie. Bloß der gleichfalls geforderte „Umgang mit Leuten von allerlei Stand und Alter" fehlte ihm noch; das Wissen von dieser Notwendigkeit zeigt seine unvoreingenommene Einsicht. Sie führt dazu, daß er aus ihm bald einen Programmpunkt seiner Lebensführung macht. Ebenso notwendig für jeden, „der die Welt mit Erfolg lehren will", sei „eine durch lange Übung erlangte Fertigkeit in der Mienen-Kenntnis": sein Lieblingsthema der 70er Jahre, die Physio- oder Pathognomik, taucht auf, ziemlich an den Haaren herbeigezogen und schon mit der charakteristischen Verwendung des Wortes „Mienen-" [und nicht mehr „Gesichts-JKenntnis". So wie die Eigenschaften, die der Geschichtsschreiber haben solle, jene sind, die Lichtenberg bei sich selbst kultiviert, so warnt er vor einer Gefahr, die ihn selbst dauernd bedrohte, vor der „Leidenschaft, durch Witz glänzen zu wollen". „Die Macht des Witzes über die Meinung [ = den Gedanken], beide in einerlei Person genommen, ist wohl mehr gefühlt als gesagt worden . . ." Diese Formulierung klingt an den Titel eines Buches an, den Lichtenberg sich damals notierte: 59 Michaelis' Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen (Berlin 1760) und an den ganzen Umkreis seiner Leibniz-inspirierten sprachkritischen Bemühungen. 60 Eine Analogie zum Einfluß der Sprachen auf das Denken hat sich ihm hier im Witz eröffnet. Zu ihr komme „der Einfluß . . . des Mechanischen in der Schreibart", nämlich die unwillkürliche Verfälschung der Wahrheit durch Verlockungen des Stils, wie Antithesen, symmetrischen Aufbau und Abrundung der Perioden. (Man erinnert sich hier der Worte des anderen großen Mathematikers, Wahrheitssuchers und Aphoristikers, Pascal, über die fausses fenêtres pour la Symmetrie; Pascals, der mit solcher Macht die Antithese als Ausdruck echten antithetischen Denkens und antithetischer Weltanschauung verwendete.) Wirklich verlassen ungezwungener Sprechton und Natürlichkeit Lichtenberg nur in jenen Gattungen, die ihm nicht lagen, wie in den Romanfragmenten. Experimentell (!) hat der in die Literatur verschlagene junge Physiker versucht, diese Verfälschung zu beweisen, indem er ein Stück aus Guicciardini in eine solche 58 59

s. V e r f . , D e r Aphorismus, passim. 8 0 Vgl. S. 12 ff. A 21, A n m .

Der Student

30

„grammatische Musik" setzte. In den Notizheften nahm er den Gedanken bald wieder auf, indem er darauf hinwies, wie Linné einmal die Naturgeschichte durch eine Metapher verfälschte. 61 In seiner Sprachbetrachtung ist Lichtenberg zu dieser Zeit noch ganz Rationalist und scheut vor der zeugenden Kraft der Wörter auch f ü r die Darstellung geistiger Tatbestände zurück. Außer Metaphern sei eine ganz spezifische Gefahr bei Charakterschilderungen noch die Unbestimmtheit der Wörter, mit denen die Eigenschaften der Seele bezeichnet werden. Denn man sei in der Analyse des menschlichen Gemüts noch nicht sehr weit gekommen und die Eigenschaftsbezeichnungen seien sozusagen nur Geschlechtsnamen, die noch sehr viele G a t tungen unter sich begreifen. Nicht nur, daß es keine wirklichen Synonyme gibt — sie bezeichnen in Wirklichkeit verschiedene Species einer und derselben Gattung. Aber auch zu den vorhandenen Wörtern, die keine vermeintlichen Synonyma neben sich haben, müßten noch Species gefunden werden. Da so viele Regungen in uns feiner sind als unsere Worte, borgen wir Worte und zugleich mit ihnen Begriffe, die über das Ganze eine Ungewißheit verbreiten, die erst verschwinden werde, bis ein La Bruyère und ein noch Größerer als er die Seele in einem Wörterbuch erklären werde. Worauf Lichtenberg als Physiker später immer Gewicht legte, auf Verfeinerung der Untersuchungsmethoden, Verbesserung der Instrumente, das verlangt er hier f ü r die Geisteswissenschaft: Verfeinerung der Begriffe, dadurch Verfeinerung, d. h. Spezialisierung, der Wörter. Diese neuen Instrumente könnten dann getreuere Bilder der geschichtlichen Wirklichkeit entwerfen. Damit bricht die erste Vorlesung ab; die zweite und dritte sind nicht erhalten. Vermutlich brachte nach dieser allgemeinen Einleitung die zweite Besonderes zur Physiognomik, u n d die dritte Erläuterungen zur geistvollen und fruchtbaren Kreuzung aus Sprachkritik und energischer Mikropsychologie, mit dieser Kritik der Sprache aber auch Kritik der Geschichte. Man ahnt schon angesichts dieses ersten Vortrags, wie schwer Lichtenberg sich jedes einzelne Urteil machte und warum er trotz genialer Einsichten in Sachliches so oft wie ein erfolglos bemühter Wissenschaftsmethodiker und grundsätzlicher Erkenntniskritiker wirkt, der nie ein im landläufigen (wissenschaftlichen oder literarischen) Sinn großes Unternehmen vollendete, das die Gegenstände der Wissenschaft selbst behandelt hätte oder eine unmittelbare literarische Darstellung gewesen wäre. Auch zeigt die unsystematisch lockere Gedankenverknüpfung, die wir Schritt f ü r Schritt wiedergegeben haben, wie Lichtenberg einige seiner Lieblingsideen, die ihm innerlich, durch die Einheit seiner Person, zusammengehören, auf ein gegebenes Thema bezieht, auch wo sie mit diesem in traditionellem Denken wenig zu tun haben. Dieser Mangel an Systematik im äußeren A u f b a u u n d orthodoxen Fragestellungen schon seiner Erstlings-Schrift läßt beispielhaft erkennen, warum sein ganzes Werk irrig oft 01

A 22. Vgl. S. 13.

Mathematik und bel

esprit

31

nur als Fülle geistreicher Einzelbeobachtungen gewertet wurde und nicht als Ausdruck einer einheitlichen, persönlich durchgeformten, aber niemals starren Weltanschauung, eines „Gedankensystems", wie er es später zu nennen pflegte. „Von dem Nutzen der Mathematik" Im J a h r darauf, 1766, erschien im Hannoverischen Magazin, wohl angeregt von dessen Redakteur, einem Studienfreunde Lichtenbergs, 62 sein erster gedruckter Aufsatz, „Von dem Nutzen, den die Mathematik einem bei esprit bringen kann"'3 die erste seiner langen Reihe von Plaudereien, die aus dem Material der wissenschaftlichen Berufsarbeit und den Tatsachen der verschiedensten Wissenschaften genährt, auf gefällige und witzige Form die Gebildeten und Halbgebildeten unterhalten und belehren sollten. 64 (Kästner hatte vor Jahren über den Nutzen der Mathematik in der Moral und ihren Wert als Zeitvertreib geschrieben.) Als Thema ist das Ganze ironisch, aber kaum parodistisch gehalten, atmet den von keinem Zweifel getrübten Geist der Schul-Aufklärung — das einzige Warme darin ist die Begeisterung f ü r Mathematik — und ist getragen von recht selbstgefälliger Verachtung des wissenschaftlich ungebildeten „Stutzers" und von hochmütiger Abneigung gegen Leute, „die in der ganzen Reihe der menschlichen Wissenschaften überhaupt nur bis . . . auf die gemeine poetische Kenntnis von Mädchen, Wein und Westwinden gekommen sind", gegen Anakreontiker und „Schäfer" also, den bei esprit und den „galanten" Hohlkopf. Ihm und an ihm zeigt er, wie gut sich Ausdrücke wie Asymptote, Gleichung, Moment, Schwerpunkt auch innerhalb seiner Lebensformen und Vorstellungskreise verwenden ließen, ja selbst eine mathematisch sinnlose Wendung wie „weniger als nichts". Die bei Lichtenberg üblichen Seitenhiebe gegen den Logiker, dem die Mathematik die Unwahrheit seiner Ableitungen beweist, gegen den nicht denkenden Gelehrten und den theoretisierenden Sprach-Pedanten sind auch da. Aber trotz des Wissens, daß die N a t u r Meisterin der Dichter werden solle, erwärmt sich Lichtenberg f ü r ein Gedicht, das mit „Kunst die . . . Lehren der Mathematik, ganz wie sie sind, in ein Gedicht brächte". Dichtung ist ihm nun offenkundig die Vereinigung von Wissen, Rhetorik und Esprit. Wieder, wie im Vortrag „Von den Charakteren", war Lichtenberg auf einem Umweg seinen eigentlichen, vom scheinbaren Thema abliegenden Anliegen nachgegangen — hier in ironischer Behandlung — und dies in prägnanter und zugleich bildhafter Sprache. Er wünscht ausdrücklich, daß die Wissenschaften sich solcher Stilmittel mehr bedienten, um „schnell und kurz zu sagen, was sonst kaum ein langsam konvergierender Paragraph würde gesagt 02 63 61

Vgl. Deneke, S. 62. 62. Stück, 4. August. Abgedruckt in Schriften, III, S. 53—62. In diese Reihe gehört auch der kleine A u f s a t z „Über das Spiel mit künstlich verflochtenen Ringen . . ." in den Göttingischen Anzeigen von gemeinnützigen Sachen, 80. Stück v o m 14. Oktober 1769, S. 6 3 7 — 6 4 0 . Abgedruckt in P h M , I, S. 253 ff.

32

Sternwarte-Assistent und Tutor

haben". 65 Daß Konzision zum Wesen des großen Schriftstellers gehöre, wird bald einer der drei oder vier Grundartikel der Lichtenbergschen Ästhetik werden. Das Auseinanderklaffen zwischen Lichtenbergs wirklichem Ausdrucksverlangen und dem diesem aufgenötigten Schein-Thema, und wohl auch das Bewußtsein, zum ersten Male für die Öffentlichkeit zu schreiben, haben schuld daran, daß die Abfolge der Gedanken gezwungen, Witz und Ironie in ihrer Überfülle meist stumpf wirken. Altklug und ungraziös wirkt auch das Bedauern darüber, daß man gewissen Leuten die Wissenschaft nicht wegen ihres eigentlichen Wertes, ihres Nutzens (!), nahebringen könne, sondern nur wegen des Spaßes, den sie bereitet. IV.

Sternwarte-Assistent

und Tutor.

Geburt

des

Aphorismus

1. Alltag und Beruf. Selbst-Schau Zur Zeit seiner von Kästner publizierten Kometenbeobachtung, im April 1767, war Lichtenberg am Ende seines Universitätsstudiums angelangt. Sein Hauptinteresse im Fachlichen verschob sich allmählich in der Richtung auf Wetterkunde und die neue Wissenschaft von der Elektrizität — „einen ganzen Winter, den von 1767 auf 68, habe ich wegelektrisiert"6® —, aber er blieb, als unbezahlter Assistent Kästners, mit der Astronomie weiter in Verbindung. Eine neue Tätigkeit machte dies finanziell möglich: Im Juni 1767 verpflichtete er sich als Hofmeister eines sechzehnjährigen englischen Studenten, des Waisen eines Admirals Swanton, und zog mit ihm in eine vornehme Studentenpension. 67 Lichtenbergs Fähigkeiten als Gelehrter, schon in seinen Anfängen, sind völlig im Einklang mit denen, die wir als Ausdruck seiner Eigenart aus seinem literarischen Werk kennen. Der moderne Physiker bemerkt, Lichtenbergs Erdbeben-Bericht 68 und auch die Beobachtung einer optisch-atmosphärischen Erscheinung69 charakterisiere „den jungen Studenten bereits trefflich: in der Anschaulichkeit seiner Darstellung, . . . der Sicherheit seines Urteils . . . und seiner Feinnervigkeit — er hatte nötig, sich eine auftretende Übelkeit durch etwas Wein zu vertreiben . . . All diese Kleinigkeiten geben Zeugnis von Lichtenberg als einem eifrigen, hoffnungsvollen Studenten, der, verläßlich im Beobachten, gewandt und geistreich im Darstellen, sich zu einer nützlichen Hilfskraft im akademischen Betrieb entwickelte". 70 Er wurde dem Betriebe des Observa65 66 07 68

70

S. 58. Ungedruckter Brief vom 27. Jan. 1777; zit. bei Deneke, S. 76. Deneke, S. 67. Vgl. S. 6. Göttinger Gel. Beiträge zum Nutzen und Vergnügen, 1768, S. 203 (lt. Hahn, Anm. 14). Hahn, S. 7.

Alltag und Beruf. Selbst-Schau

33

toriums um so nützlicher, als sein Vorstand Kästner, vorwiegend Mathematiker, zumindest in der Praxis ein schlechter Astronom gewesen sein soll. 71 K n a p p nachdem Lichtenberg die Hofmeisterstelle übernommen hatte, im Juli 1767, kam aus der Heimat die Anerkennung seiner Fähigkeiten: Als der Minister Riedesel erfuhr, daß sein Stipendiat „sich anderwärts engagieren wolle", suchte er, ihn davon abzuhalten und versprach ihm die zweite Professur f ü r Mathematik mit einem Lehrauftrag f ü r Englisch an der Landesuniversität Gießen. Lichtenberg zeigte sich überaus beglückt, bat aber um einen zweijährigen unbezahlten Urlaub vor Antritt der Stelle. Er könne mit seinem Zögling später England sehen, „ein Vorteil, der für einen angehenden Mathematiker von unendlichem Nutzen ist". So werde er sich ohne Unkosten f ü r den Landgrafen „durch Besehung der englischen Kabinette und Sternwarten" zu seiner Stelle geschickter machen können. 72 Es wird dies nicht der einzige Grund seiner Bitte um Aufschub gewesen sein. Kästner hat ihm vermutlich Hoffnungen auf eine bedeutendere Professur an Göttingen, der ihm vertrauten und dazu modernsten Universität, gemacht. Bei Kästner selbst mag die Erwartung mitgespielt haben, von den ihm unliebsamen astronomischen und physikalischen Aufgaben befreit zu werden. Sein Assistent hatte rasch umsichtige Diplomatie und weltkluge Vorsicht gelernt, eine Haltung, die später zu fast schrulliger Ängstlichkeit im Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten ausarten sollte. Im Ganzen ist Lichtenbergs Selbstbewußtsein nun durch Anerkennung, Freiheit von wirtschaftlichen Sorgen und die Aussicht auf Befreiung aus einer sozial gedrückten Existenz gesteigert und sein Wesen befeuert. Im Sommer 1769 erfolgt ein schwerer Rückschlag. Ein halbes Jahr vorher entwirft er ein aufschlußreiches, außerordentliches Selbstbildnis (B 77), betitelt „Charakter einer mir bekannten Person" Ihr Körper ist so beschaffen, daß ihn auch ein schlechter Zeichner im Dunkeln besser zeichnen würde, und stünde es in ihrem Vermögen, ihn zu ändern, so würde sie manchen Teilen weniger relief geben. Mit seiner Gesundheit ist dieser Mensch, ohnerachtet sie nicht die beste ist, doch noch immer so ziemlich zufrieden gewesen, er hat die Gabe, sich gesunde Tage zu Nutze zu machen, in einem hohen Grade. Seine Einbildungskraft, seine treuste Gefährtin, verläßt ihn alsdann nie, er steht hinter dem Fenster den Kopf zwischen die zwo Hände gestützt, und wenn der Vorbeigehende nichts als den melancholischen Kopfhenker sieht, so tut er sich oft das stille Bekenntnis, daß er im Vergnügen wieder ausgeschweift hat. Er hat nur wenig Freunde, eigentlich ist sein Herz nur immer für einen gegenwärtigen, aber für mehrere abwesende, offen, seine Gefälligkeit macht, daß viele glauben, er sei ihr Freund, er dient ihnen auch aus Ehrgeiz, Menschenliebe, aber nicht aus dem Trieb, der ihn zum Dienst seiner eigentlichen Freunde treibt. Geliebt hat er nur ein oder zweimal, das eine Mal nicht unglücklich, das andere Mal aber glücklich, er gewann b l o ß durch Munterkeit und Leichtsinn ein gutes Herz, worüber er nun oft beide vergißt, wird aber Munterkeit 71 72

3

Vgl. u. a. Hahn, S. 8. An Riedesel, 18. Juli 1767; Br. I, S. 4. M a u t n e r , Lichtenberg

Sternwarte-Assistent und Tutor

34

und Leichtsinn beständig als Eigenschaften seiner Seele verehren, die ihm die vergnügtesten Stunden seines Lebens verschafft haben, und könnte er sich noch ein Leben und noch eine Seele wählen, so wüßte ich nicht, ob er andere wählen würde, wenn er die seinigen noch einmal wieder haben könnte. Von der Religion hat er als Knabe schon sehr frei gedacht, nie aber eine Ehre darin gesucht, ein Freigeist zu sein, aber auch keine darin, alles ohne Ausnahme zu glauben. Er kann mit Inbrunst beten und hat nie den 90 t e n Psalm ohne ein erhabenes, unbeschreibliches Gefühl lesen können. E h e d e n n d i e B e r g e w o r d e n pp ist f ü r ihn unendlich mehr als: S i n g , u n s t e r b l i c h e S e e l e pp. Er weiß nicht was er mehr haßt, junge Officiers oder junge Prediger, mit keinen von beiden könnte er lange leben. Für Assembleen sind sein Körper und seine Kleider s e l t e n gut, und seine Gesinnungen selten . . . 12a genug gewesen. Höher als drei Gerichte des Mittags und zwei des Abends mit etwas Wein, und niedriger als täglich Kartoffeln, Äpfel, Brot und auch etwas Wein, hofft er nie zu kommen, in beiden Fällen würde er unglücklich sein, er ist noch allzeit krank geworden, wenn er einige Tage außer diesen Grenzen gelebt hat. Lesen und schreiben ist f ü r ihn so nötig als Essen und Trinken, er hofft, es wird ihm nie an Büchern fehlen. An den Tod denkt er sehr oft und nie mit Abscheu, er wünscht, daß er an alles mit so vieler Gelassenheit denken könnte, und hofft, sein Schöpfer wird dereinst sanft ein Leben von ihm abfordern, von dem er zwar kein allzu ökonomischer, aber doch kein ruchloser Besitzer war. .. "Wir haben hier vielleicht das erste Fragment der Selbstbiographie,

die

Lichtenberg plante. Inhalt und Art dieser Schilderung, in ihrer Hellsichtigkeit und ihrer Gabe der Vergegenwärtigung an die Selbstschilderungen des jungen Goethe erinnernd, geben ein Bild v o n Lichtenbergs Wesen, das durch sein ganzes Leben bestätigt w i r d und w i e ein Beispiel w i r k t für die Erkenntnis des 22jährigen, d a ß „das Portrait einer Seele zugleich ein P l a n ihres Lebens und ihrer ganzen Geschichte" sei. 73 D i e meisten Züge dieses Portraits sind auch in sein Werk eingegangen, als ausdrücklich oder impliziert dargestellter Inhalt u n d als charakteristische D a r stellungsform: A u f der Grundlage schwankender Gesundheit und Feinnervigkeit bei überwiegend intellektuellen N e i g u n g e n und taktvoller

Selbstständigkeit

des Urteils ein Leben der Innerlichkeit, phantasievollen Schweifens und der Träumerei; Religiosität im Innersten, Versuch eine Lebensführung nach ethischen Prinzipien, aber doch zugänglich „politischen" Erwägungen; Wechsel v o n Melancholie und Heiterkeit; Selbstliebe und Selbstbewußtsein, dabei Anschlußbedürftigkeit; exakte Selbstbeobachtung und Selbstkritik, gepaart mit eingewurzelten Marotten; gewinnendes Wesen; anmutige Selbstironie; im allgemeinen: D i s t a n z v o m unmittelbaren, ungebrochenen Leben und ein Lebensstil des eingebornen u n d b e w u ß t e n Maßes. U m so stärker w i r k e n die seltenen Durchbrüche eines Urtümlichen: Jener Selbstcharakteristik f o l g t ein „Schreiben an H e r r n Ljungberg, v o n H e r r n S. im Rausch geschrieben" 74 , das zeigt, welcher sinnlich bedingten, schwärmerisch 72a 73 74

Auslassung im Text. Vgl. S. 28. B 78. Das verschleiernde „von H e r r n S." ist erst später hinzugefügt.

Alltag und Selbst-Schau

35

ekstatischen Aufschwünge der rationalistisch bemühte A n a l y t i k e r seiner selbst fähig w a r , und das Entstehen eines neuen Themenkomplexes begreiflich m a c h t : Mein lieber Freund, mehr habe ich wohl noch nie an einen Freund geschrieben als ich jetzo an dich schreibe. Und was denn? Die Beschreibung einer der schönsten Kreaturen, die für uns vielleicht gelebt hat. . . . Stelle dir ein Mädchen vor, nicht sehr reich, aber doch für ihren Stand wohlhabend, gutherzig und die jedermanns Vergnügen wünscht und vielleicht (ich getraue kaum diese Zeile zu schreiben:) auch gern befördert und es zuverlässig befördern kann . . . A u f eine echt Lichtenbergische, gesund-sachliche Beschreibung ihres Körpers, ohne Sentiment oder Lüsternheit, folgt der aus aller T r a d i t i o n herausfallende Versuch des Geometers, den Reiz ihrer Gestalt wiederzugeben, mehr zeichnerisch-ästhetisch als verliebt, aber doch w a r m . D a s k o m m t der Schilderung des Mädchens als Person zugute: Nicht sehr groß, mehr fleischicht als fett, gewachsen wie, wie wie das schönste Mädchen gewachsen sein muß, wie ein Bogen, wo aber die konvexe Seite Brust, Bauch und Schenkel werden. Zart, Bescheidenheit und alle Tugenden in dem feinen Gesicht, Gutherzigkeit, Geschmack, Schätzerin von Munterkeit und liebenswürdigen Leichtsinn. Ihr Busen — U n d dann bricht die E r o t i k durch, artikulierter Sprache unfähig,

aber

doch im Menschlichen bleibend: O ! Ljungberg, Ljungberg, wie viel, wie viel war da. Menschliche Wollust, das höchste Werk des Vollkommenheit suchenden Himmels. Wollust, du kennst dieses Wort in unserer Bedeutung, in unserer gefühlvollen Bedeutung, diese wohnte auf ihr. Verständlich sind diese Zeilen für uns, Nonsense vielleicht für alles übrige was lebt. Ihre Sprache! Engel, sprecht so, ich bin fromm, ich bin gottselig, ich bin Engel. Ihr Kuß, zu hoch sind meine Empfindungen nun gestimmt, als daß irdische Worte Nonsense der Entzückung, Nonsense, Nonsense. Gedacht, gefühlt ist besser als gesprochen, Himmel gefühlt ist ausgedruckt Nonsense, Nonsense. Schweigt oder lernt besser Deutsch. Kein Deutsch für diese Empfindungen, kein Deutsch. Gottsched, was bist du, Riedel, Kästner, Wieland, Rosenfarb und Silber, Amen! Welcher S t u r m und D r a n g v o r dem Ausbruch des S t u r m und D r a n g , welcher Impetus im Verneinen der schon früher rational bezweifelten Fähigkeit

der

Sprache, Gefühle auszudrücken! Doch die Aufschwünge brechen in sich zusammen und die H e l l e jener J a h r e w i r d immer wieder verdunkelt durch A n fälle v o n Melancholie. E t w a ein halbes J a h r später schreibt e r : Heute habe ich . . . etwas über die Theorien der Kometen nachgelesen, als ich mich etwas ermüdet fand, stützte ich mich auf meinen Tisch, weil dieses die Lage ist, in welcher ich gemeiniglich an mich selbst denke, so nahmen meine Gedanken jetzo diesen Zug wieder: In den Gedanken gibt es gewisse Passat-Winde, die zu gewissen Zeiten beständig wehen, und man mag steuern und lavieren, wie man will, so werden sie immer dahin getrieben. Bei solchen Novembertagen, wie die jetzigen, streichen alle meine Gedanken zwischen Melancholie und Selbstverkleinerung hin, wenn übrigens kein besonderer Strom mich seitwärts treibt, und ich würde oft mich nicht mehr zu finden wissen, wenn nicht die beiden Kompasse, Freundschaft und Wein, midi lenkten und mir Mut gäben, against a sea of troubles zu kämpfen . . , 75 75

3*

B 259.

36

Sternwarte-Assistent und Tutor

Bemerkenswert ist die Selbstanalyse: die psychologische E r k l ä r u n g des Einsetzens der Meditation durch das Spiel der Assoziationen, befördert durch die Körperhaltung. Selbstmordgedanken kamen Lichtenberg schon frühzeitig. W i r haben berichtet, wie ihn im Alter v o n sechzehn Jahren, bei der Schultafel stehend, plötzlich, ohne Anlaß, der Impuls faßte, sich zu töten. Seither müsse er immer a n Selbstmord denken, schreibt er noch im Sommer 1771. 76 U m die Jahreswende 1769/70 hatte er völlig sachlich v e r m e r k t : . . . Im August 1769 und in den folgenden Monaten habe ich mehr an den Selbstmord gedacht als jemals vorher, und allezeit habe ich bei mir befunden, daß ein Mensch, bei dem der Trieb zur Selbsterhaltung so geschwächt worden ist, daß er so leicht überwältigt werden kann, sich ohne Schuld ermorden könne . . . Bei mir ist eine vielleicht zu lebhafte Vorstellung des Todes, seines Anfangs und wie leicht er an sich ist, schuld, daß ich vom Selbstmord so denke. Alle, die mich nur aus etwas größeren Gesellschaften . . . kennen, werden sich wundern, daß ich so etwas sagen kann. Allein Herr Ljungberg weiß es, daß es eine von meinen Lieblingsvorstellungen ist, mir den Tod zu gedenken und daß mich dieser Gedanke zuweilen so einnehmen kann, daß ich mehr zu fühlen als zu denken scheine und halbe Stunden mir wie Minuten Vorübergehn. Es ist dieses keine dickblütige Selbstkreuzigung, welcher ich wider meinen Willen nachhinge, sondern eine geistige Wollust für mich, die ich wider meinen Willen sparsam genieße, weil ich zuweilen fürchte, jene melancholische nachteulenmäßige Betrachtungsliebe möchte daraus entstehen. 77

V o n Todesahnungen des äußerlich heiteren Vierundzwanzigjährigen wissen wir aus einem Stammbuchblatt. In jenem August 1769 oder k n a p p vorher hat Lichtenberg auch die m ü d e resignierte „Rede eines Selbstmörders" aufgeschrieben, „kurz vor der T a t aufgesetzt". 7 8 N u r Müdigkeit, nicht Verzweiflung spricht aus seiner furchtlosen, von keinen „ f r o m m e n Possen" gestörten Bitte an die N a t u r , ihn in die Masse der Wesen wieder einzukneten, einen Busch, eine Wolke aus ihm zu machen, „alles was du willst, . . . auch einen Menschen, aber mich nicht m e h r " . Unterdrücktes Leiden unter der Entstellung seines Körpers m a g an der Ausbreitung solcher Stimmungen mitgewirkt haben. Enttäuschungen, die sich an die Liebeserlebnisse knüpften, lösten sie oft aus. Lichtenbergs nervlich überaus empfindliche Konstitution w a r Erschütterungen nicht gewachsen. E n t t ä u schungen konnten nicht ausbleiben, schon als Folge seines rationalen, womöglich naturwissenschaftlichen Analysierens, das f ü r ihn aus einer Gabe zum Z w a n g w u r d e u n d mitunter verheerendes Schicksal. Das enthusiastische Gestammel an Ljungberg versieht er nachträglich, wir wissen nicht w a n n , mit dem Z u s a t z : „gerast gegen Ende des Februars 1769, da der Saft anfing, in die Bäume zu steigen. Viel nonsense, was im Rausch Vernunft zu sein schien." Sein weiches Gemüt, seine nicht nur im Erotischen ungewöhnliche Sensitivität („Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun"), 7 9 durchforscht von jener unbezwinglichen Sezierlust, mußte leiden. 70 77

Vgl. S. 4. A 117.

78

B 205.

79

B 383.

Selbst-Schau. Vernunft und Sinne

37

Jene Jahre haben ihn, als der Gebrauch der intellektuellen G e w a n d t h e i t und der analysierenden Verstandesschärfe übermächtig z u w e r d e n drohte, die Erschütterungen des Ich bis zur Selbstaufgabe kennen gelehrt: . . . ö f t e r s allein zu sein, und über sich selbst zu denken, und seine Welt aus sich zu machen, kann uns großes Vergnügen gewähren, aber wir arbeiten auf diese Art unvermerkt an einer Philosophie, nach welcher der Selbstmord billig und erlaubt ist, es ist daher gut, sich durch ein Mädchen oder einen Freund wieder an die Welt anzuhaken, um nicht ganz abzufallen. 8 0 Ein neues Thema tritt so in sein Leben: das Recht der Sinnlichkeit gegenüber der Vernunft überhaupt, und im besonderen der K a m p f gegen unverklärte Sinnlichkeit. D e r w i r d für sein ehrliches D e n k e n u n d seine b e w u ß t e , mit dem Werk in innigster Beziehung stehende Lebensgestaltung so wichtig, d a ß er über das b l o ß Private weit hinausreicht. Einträge, die sich auf sinnliche Erfahrungen beziehen, Gedanken über den Selbstmord und seine Melancholie lösen einander in seinen N o t i z e n unmittelbar ab. 81 U n d jene unmittelbar darauf f o l g e n d e Beschreibung seiner N o v e m b e r s t i m m u n g e n , 8 2 die durch eine genaue A n a l y s e des Entstehens dieser Empfindungen v o m äußeren A n l a ß und der Situation eingeleitet war, setzt er so fort: Mein Verstand folgte heute den Gedanken des großen Newton durch das Weltgebäude nach, nicht ohne den Kützel eines gewissen Stolzes, also bin ich doch auch von dem nämlichen Stoff, wie jener große Mann, weil mir seine Gedanken nicht unbegreiflich sind, und mein Gehirn Fibern hat, die jenen Gedanken korrespondieren, und was Gott durch diesen Mann der Nachwelt zurufen ließ, wird von mir gehört, da es über die Ohren von Millionen unvernommen hinschlüpft. An diesem Ende folge ich der ehrwürdigen Philosophie, während als am andern Ende zwo Aufwärterinnen (die Stella inhabilis und der Planet) eben diesen Verstand, der sich so über die Erde zu schwingen glaubt, in einem Winkel nicht einmal f ü r wichtig genug halten, allen ihren Witz gegen ihn zu gebrauchen . . . Die Einbildungskraft, mit welcher ich der subtilsten Wendung einer Wielandischen Beschreibung folge, mir selbst meine eigene Welt schaffe, durch die ich, wie ein Zauberer, wandele, und die Körner eines kleinen Leichtsinns in ganze Gefilde geistiger Lust aufblühen sehe, diese Einbildungskraft wird oft von einer fein gebogenen Nase, von einem aufgestreiften gesunden Arm in ihrem schnellsten Schwung so heftig angezogen, daß von der vorigen Bewegung nicht ein flüchtiges Zittern übrig bleibt. So hänge ich in der Welt zwischen Philosophie und Aufwärterinnen-List, zwischen den geistigsten Aussichten und den sinnlichsten Empfindungen in der Mitte, taumelnd aus jenen in diese, bis ich nach einem kurzen Kampf zur Ruhe meines beiderseitigen Ichs dereinst völlig geteilt hier faule und dort in reines Leben aufdunsten werde. Wir beide, Ich und mein Körper sind noch nie so sehr zwei gewesen als jetzo, zuweilen erkennen wir einander nicht einmal, dann laufen wir so wider einander, daß wir beide nicht wissen, w o wir sind. D e r K o n f l i k t zwischen den Forderungen des Körpers und der Vernunft w i r d noch eine Zeitlang eines der H a u p t t h e m e n Lichtenbergs bleiben, eindrucksv o l l e Darstellung in ursprünglich gesehnen Bildern, w i e die hier wiedergegebene, eine seiner besten Fähigkeiten werden. 80 81 82

B 258. z. B. B 257 und 258. B 259; vgl. S. 36.

38

Sternwarte-Assistent und Tutor

2. Die Notizhefte 4 und 5: Denken und Schriftstellerei. Geburt des Aphorismus Die Notizheftchen 4 und 5 enthalten, obwohl sie einen Zeitraum von zehn Monaten (November 1769 bis August 1770) umspannen, 83 von Fachwissenschaftlichem abgesehen, nur achtzehn Einträge (A 115—132); zwölf von ihnen, fast alle gewichtig, gehören der Zeit vor der ersten Englandreise an. Zu dieser zweiten Folge von Aufzeichnungen in A gehört die oben (S. 36) zitierte mit gezügelter „geistiger Wollust" genossene Tod- und Selbstmordbetrachtung (A 117) und eine andere ähnliche, in der er sich zu seinem „erstaunenden Vergnügen" mit Lavaters „Aussichten in die Ewigkeit" trifft: Betrachtungen vor dem Einschlafen, die „gemeiniglich auf den Tod, oder die Seele überhaupt, und das, was Empfindung ist" gehen; sie „endigen sich in einer Bewunderung der Einrichtung des Menschen, alles ist mehr Gefühl als Reflexion und unbeschreiblich." 84 Die nächste Notiz, streng rational, stellt den Menschen mit seinen Erkenntnismitteln in seine Umwelt und Abhängigkeiten hinein. Dieser Gedanke wird f ü r Lichtenbergs Philosophieren und naturwissenschaftliches Denken immer wichtiger: 85 . . . Eine genaue Betrachtung der äußeren Dinge führt leicht auf den betrachtenden Punkt, uns selbst, zurück, und umgekehrt, wer sich selbst einmal erst recht gewahr wird, gerät leicht auf die Betraditung der Dinge um ihn . . . 88

Er macht sie mit Entschlossenheit zum Gesetz f ü r den Forscher, den Denker, den Menschen und setzt f o r t : „Sei aufmerksam, empfinde nichts umsonst, messe und vergleiche; dieses ist das ganze Gesetz der Philosophie." Es ist das Gesetz, dem Lichtenberg sein ganzes Leben lang zu folgen sich bemühte, bewußt, d a ß Weiser-Werden heiße „immer mehr und mehr die Fehler kennen lernen, denen dieses Instrument, womit wir empfinden und urteilen, unterworfen sein k a n n " (A 128). Es ist dieses Gesetz, dem wir so unglaublich viele „Beobachtungen" — im zweifachen Sinn — Lichtenbergs verdanken. Auf seine Nicht-Beachtung dieser Regel geht es zurück, daß „nicht da sein. . . .bei den Naturforschern, wenigstens bei einer gewissen Klasse, so viel [heißt] als nicht empfunden werden" (A 118). Dutzende Male hat Lichtenberg diese These wiederholt. Sie hat ihn zu rigoroser wissenschaftlicher Kritik, zu Entdeckungen und zu schrulligen und großartigen Phantasien geleitet. Die trügerisch glatte Buchstabenreihe A, B, C usw. als Bezeichnung der Lichtenbergschen Gedankenbücher hat dazu geführt, sie zu behandeln, als folgten sie aufeinander. In Wirklichkeit hatte Lichtenberg jedoch das von 83 84 85

86

Eines, von Mitte Dezember 1769 bis Februar 1770 reichend, fehlt vielleicht. A 120. Vgl. A 1 1 5 : „Die Welt ist ein allen Menschen gemeiner Körper, Veränderungen in ihr bringen Veränderung in der Seele aller Menschen vor [sie], die just diesem Teil zugekehrt sind." A 121.

Denken und Schriftstellerei

39

Leitzmann „B" genannte dicke Schreibebuch schon im J u n i 1768 begonnen; die erste H ä l f t e stammt aus der gleichen Zeit wie die eben besprochenen H e f t chen [ A ] 4 (1769) u n d 5 (1770) u n d wie wahrscheinlich der größere Teil des Heftes 3, und es reicht bis gegen E n d e August 1771. W a r u m f ü h r t e Lichtenberg w ä h r e n d mindestens zweier J a h r e gleichzeitig zwei Gedankenbücher? D e n Zweck der Zweiteilung u n d die Eigenart des Buches B verrät seine Uberschrift, Jocoseria: Scherz u n d Ernst, manchmal scharf geschieden, manchmal u n t r e n n b a r in einander übergehend, ioco seria?1 den Ernst im Scherz. Diese Überschrift n i m m t Goethes f r ü h e r zitierte C h a r a k terisierung Lichtenbergs vorweg: „Wo er einen S p a ß macht, liegt ein Problem verborgen." U n d fernerhin w i r d das Buch Jocoseria der A u f b e w a h r u n g s o r t f ü r alles, was Literatur werden sollte, helles lettres, nicht Forschung u n d nicht Philosophie. Es enthält die ersten E n t w ü r f e , bezeichnet die Spaltung zwischen dem lernenden u n d dem schreibenden Lichtenberg. (Später gab er die T r e n n u n g auf.) An Scherzen, witzigen Wendungen, N o t i z e n u m des Vergnügens der Formung willen h a t t e es in A fast nichts gegeben, weder vor noch gleichzeitig mit B. Lichtenberg h a t nun den formulierten Spaß entdeckt u n d in B festgehalten, den S p a ß des Lebens u n d den Spaß des Beobachtens, des Erkennens u n d des Schreibens, u n d er schreibt nun manches u m des Spaßes oder Witzes willen, sei es des intellektuellen, des ästhetischen oder psychologischen. Lichtenberg vollzieht hier den Übergang zu bewußter Schriftstellerei. Das heißt nicht nur, d a ß er jetzt bestimmte Schriften p l a n t u n d ganze, oft längere, Absätze f ü r sie niederschreibt, er notiert auch selbstgenügsam amüsante, „witzig" formulierte G e d a n ken, deren V e r w e n d b a r k e i t f ü r noch nicht formulierte literarische Pläne ihm b e w u ß t ist. Wir setzen „witzig" unter Anführungszeichen, weil sie oft so deutlich dem uns f r e m d gewordenen Begriff des Witzes der A u f k l ä r u n g dienen: der u n erwarteten Z u s a m m e n f ü g u n g zweier Tatsachen oder Erscheinungen aus Gebieten, die f ü r unser Alltags-, f ü r „vernünftiges" D e n k e n nichts miteinander zu tun haben. Lichtenbergs z w a n g s h a f t e Begabung f ü r Assoziation u n d Analogie k o m m t dieser A r t des intellektuell schöpferischen, n u r manchmal im modernen Sinn „witzigen" Zusammensehens aufs natürlichste entgegen. Bereits in A haben wir im zunächst zusammenhanglosen Notieren einzelner F a k t a die empirische, b e w u ß t antisystematische Denkweise der westeuropäischen A u f k l ä r u n g entdeckt, eine Denkweise, die als P r o g r a m m auf Francis Bacon zurückgeht, als den P r o p a g a t o r der v o n ihm im formalen Sinn „aphoristisch" genannte Methode. Welch grundsätzliche Bedeutung das Sammeln der einzelnen, scheinbar isolierten D a t e n aus der Welt der Dinge, der Gesellschaft, des Geistes f ü r Lichtenberg hat, zeigt seine Bemerkung B 190: „. . . In den kleinen alltäglichen Pfennigsbegebenheiten steckt das moralisch Universale, ebenso gut als 87

Nicht iocosa, womit dieses W o r t in der Lichtenberg-Literatur verwechselt wird. (Der Titel bezeichne Einfälle seiner scherzhaften Laune.) Die Prägung geht auf (XitouöOYe/.otov zurück.

40

Sternwarte-Assistent und Tutor

in den großen, wie die wenigen Adepten wohl wissen . . ." Die Idee des Einzelnen intrigiert ihn so sehr, daß eine Notiz (B 112) nur aus der Wortreihe „Die kleinen Pfennigs-Vorurteile, (Tugenden), (Wahrheiten)" besteht und daß er in einem längeren Absatz „die kleinen Pfennigswahrheiten" und die großen erfolglos konfrontiert und bemerkt: Das was ich unter moralischem Äther verstehe, ist eigentlich das Geistige, was allzeit in unsern Handlungen, auch in unsern kleinsten, steckt und alles durchströmt . . . Ja, wer die Kosten des Abtreibens nicht scheut, der zieht aus dem ersten, dem besten heraus was er w i l l . . ,88

So hat Lichtenberg in B auch ein halbes Dutzend meist nur aus einem Satz bestehender Anekdoten oder Apophthegmata ohne jeden Kommentar aufgezeichnet88 und er notiert sich, in diesem Sinn höchst bezeichnend: „Cicero de natura deorum 1166.1 sagt von sich cum minime videbamur tum maxime philosopbabamur" Zugleich mit den zwei Wesenszügen des Aphoristischen, die wir hier genannt haben — dem inhaltlich „Witzigen" und dem bedeutsamen Einzelnen — können wir in dieser Periode von Lichtenbergs geistigem Werden einen dritten in statu nascendi beobachten: die geschliffene, konzise Form. Mehr als ein halbes Hundert von den etwa 300 Einträgen in B aus der Zeit vor England besteht aus zusammenhanglosen bloßen Wendungen, sprachlich geglückt als Metapher oder durch Wortwahl und Wortbildung, angenähert den witzigen Bemerkungen durch Parallelität, Pointierung und andere formale Mittel, die originelle Suggestivität bewirken. So ist der Unterschied zwischen „Wendungen" und „Bemerkungen" (Aphorismen) oft nur äußerlich. Audi fehlen nicht die theoretischen Begründungen für die Handhabung der Sprache, die wir heute als typisch „aphoristisch" betrachten (die Anregung zum Ausspinnen des Gedankens durch die unterdrückte Schlußfolgerung, ein Unterschied von der Schreibweise in A), und f ü r die anderen eben erwähnten Mittel sprachlicher Stimulierung: Da, w o einen die Leute nicht mehr können denken hören, da muß man sprechen, sobald man dahin kommt, wo man nun wieder Gedanken voraussetzen kann, die mit unsern einerlei sind, da muß man aufhören zu sprechen . . . die meisten Bücher enthalten zwischen zweien merkwürdigen Punkten nichts als den allergemeinsten Menschenverstand, eine stark ausgezogene Linie, wo eine punktierte zugereicht hätte. Alsdann ist es erlaubt, das Gedachte auszudrücken, wenn es auf eine besondere Art ausgedrückt w i r d . . . 91

„Ein gutes Genie", das noch unerfahren ist, wird seinen Gedanken . . . auf die vorteilhafteste Art zeigen. Der Praktikus, dem so etwas nichts Neues ist, drückt ihn ohne Schimmer aus, und wohl gar so, daß dem Leser noch etwas daran zu verdienen bleibt. 92 88 80 80

B 124. 114,161,202,203, 210,226. 91 B 310. B 82.

92

B 282.

Geburt des Aphorismus

41

Des abgestuften Spielraums seiner Gedanken, die sich v o m Subtilsten, Privaten bis z u m Ideengut der Zeit erstrecken, u n d ihrer verschiedenen Reichweite von Intimen zur W i r k u n g auf die Welt ist Lichtenberg sich wohl b e w u ß t : . . . W a s mich allein angeht, denke ich nur; was meine guten Freunde angeht, sage ich ihnen; was nur ein kleines Publikum bekümmern kann, schreibe ich, und was die W e l t wissen soll, wird gedruckt. V o n einem Gedanken, der mich angeht, brauche [ich] nur ein Exemplar, ebenso für den Freund . . ., die W e l t muß mehrere Exemplare haben, und so lassen wir sie drucken. Wäre es möglich, auf irgendeine andere Art mit ihr zu sprechen, daß das Zurücknehmen noch mehr stattfände, so wäre es gewiß dem Druck vorzuziehen, 9 3

eine f ü r Lichtenbergs Überzeugung v o m Vorläufigen, Versuchsweisen eines jeden Gedankens überaus charakteristische Schlußbemerkung. Hauptsächlich die Gedanken, die er nicht drucken ließ, sind es, die nach seinem Tode die Welt zu bekümmern begannen. Diese N o t i z ist die letzte einer f o r t l a u f e n d e n Reihe von Bemerkungen (B 264, 266, 267, 268) über die A u f g a b e n des Schriftstellers, der zur Welt sprechen will u n d nicht nur zur Welt, „wie die jetzige ist", sondern zu „dem Menschen in abstracto zu allen Zeiten u n d in allen W e l t a l t e r n " : . . . A u f diese Art natürlich zu schreiben, erfordert unstreitig die meiste Kunst, jetzo da wir meistens künstliche Menschen sind; . . . Philosophie, Beobachtung seiner selbst und z w a r gnauere, Naturlehre des Herzens und der Seele . . . diese muß derjenige studieren, der für alle Zeiten schreiben will . . . Wer nur für etliche Jahre schreibt, . . . kommt mit wenigerem aus . . ."4

So sind Lichtenbergs Ansprüche an sich als Schriftsteller die höchsten, seine E r wartungen manchmal die geringsten. Er setzt f o r t : D e r Gedanke, daß es so außerordentlich leicht i s t . . . etwas Schlechtes zu schreiben, das man für sehr schön hält, hierin liegt das Demütigende. Ich zeichne eine gerade Linie und die ganze W e l t sagt, das ist eine krumme . . . W a s ist da zu tun? D a s beste ist, keine gerade Linien mehr gezeichnet und dafür anderer Leute gerade Linien betrachtet, oder selbst nachgedacht.

H i e r liegt ein tiefer Zwiespalt Lichtenbergs offen, das Schwanken zwischen dem Griff nach der höchsten K r o n e u n d dem Schweigen oder, was diesem am nächsten kommt, den Bemerkungen mit dem Nachsatz „Ich verstehe mich". Die Einzelergebnisse der „Beobachtung seiner selbst und z w a r genauere N a t u r l e h r e des Herzens u n d der Seele" liegen im Buch B in großer Menge v o r ; unterbrochen von E n t w ü r f e n und Zitaten, stehen sie an Zahl den Wendungen u n d witzigen Bemerkungen nur wenig nach, manchmal decken sie sich mit ihnen. Lichtenbergs Notizen über sich selbst halten teils Züge persönlicher Eigenart fest — intellektuellen Mut, nervöse Ängstlichkeit, einen feinen Erotizismus u n d U n f ä h i g k e i t zu O r d n u n g — teils unauffällige seelische Vorgänge a n der Schwelle des Bewußten, die bisher nie des Festhaltens, u n d schon gar nicht des analysierenden, f ü r w ü r d i g befunden worden waren, u n d wären sie es, durch 93

B 268.

04

B 266.

42

Sternwarte-Assistent und T u t o r

ihre Vagheit ein Zeitalter abgeschreckt hätten, das sich bisher meist dem R a t i o nalistisch-Systematischen oder dem Sentimental-Leidenschaftlichen ergeben hatte. Adam Bernd zwar, in seiner weit zurückliegenden „Eigenen Lebensbeschreibung" ( 1 7 3 8 ) hatte sich ähnlichem Forschen hingegeben, mit besonderem Erfolg, und es wurde Zeitstimmung

unter den englischen und deutschen

„Hypo-

chondristen", 95 aber ihr Streben reichte nicht hinaus über Erkenntnis des eigenen Ich aus pietistisch-religiös oder nervös-emotional gefärbter Sorge um das Ich. Es ging ihnen nicht um Erkenntnis des Menschen.

Darin liegt ein entscheidender

Unterschied zwischen ihrem und Lichtenbergs Tun, so sehr dieses durch Lichtenbergs eigene melancholische Anwandlungen und, später, deutlich neurotische Anfälle gefördert wurde. Lavaters „Geheimes Tagebuch von einem Beobachter seiner selbst" erschien erst 1772, nach Abschluß des Buches B . Erst 12 J a h r e nach der hier behandelten Zeit begann K a r l Philipp Moritz, kunde"



„Erfahrungsseelen-

psychologische und psychopathologische Beobachtungen,

Sprach-

psychologie u. dergl. — in seiner hierfür gegründeten und nach ihr benannten Zeitschrift zu bearbeiten. 98 Sein psychologischer R o m a n „Anton Reiser" begann erst 1784 zu erscheinen, gefolgt von „Andreas H a r t k n o p f " , voll von Bemerkungen, die Lichtenberg mit Freude hätten erfüllen müssen, 97 hätte er hier nicht vollbracht gesehen, was er selbst nur dauernd plante. Hier ein paar Beispiele: Lichtenbergs Reaktion auf den Klang seiner Haustreppe unter fremden Fußtritten (B 75), eine unmotivierte Animosität zwischen ihm und einem anderen, ihm unbekannten Theaterbesucher (B 95), die Assoziationen des Wortes „jonisch", das er in Gedanken als Attribut seinem wohlgebauten willfährigen Mädchen verleiht (B 150), den kitzelnden Schmerz in der H a n d , den er bei der zufälligen Berührung eines Mädchens verspürt und ihn an eine Stelle bei Xenophon erinnert (B 257), und das Gefühl des „Vergnügens und angenehmer Sicherheit" beim Ausgehen in neuen Strümpfen (B 2 2 9 ) — V o r boten Proustischen Bemerkens und Erinnerns. Wir erfahren hier das erste M a l von Lichtenbergs Observationsposten

am Fenster, der sich traditionell

mit

unserer Vorstellung seiner Alltagsexistenz verbindet und vom innigen

Zu-

sammenhang dieser Beobachtungen mit seiner „Gedankenfindung": . . . W e n n ich wüßte, w o diejenige Stube sein wird, die für die beste Observation v o m Fenster die glücklichste L a g e hat, ich böte . . . 1 0 0 T a l e r für einen P l a t z ; weil dieses nicht geschehen kann, so will ich midi wenigstens bemühen, bei einer aus meinem Fenster den besten Gedanken zu haben. 9 8

Manche dieser Notizen waren wohl als die ersten Beiträge zu der wahrscheinlich schon damals geplanten Autobiographie gedacht, manche als realistische Beiträge zur psychologischen Erkenntnis der Gattung Mensch, Berichte über „Pfennigsbegebenheiten", wie sie ihm für den guten Schriftsteller unent9ä 66 97 98

Vgl. R e q u a d t , besonders die aufschlußreichen Seiten 1 7 — 3 0 der ersten Auflage. Pvöjfri o s a w o v oder M a g a z i n zur Erfahrungsseelenkunde, seit 1 7 8 2 . Vgl. S. 3 3 5 . B 249.

Geburt des Aphorismus

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behrlich erschienen. Sie fügen sich in eine Betrachtung des Aphoristischen zwingend ein, weil eine glückliche Metaphorik ihnen die formal paradoxe Weite des Konzisen gibt, die gedankenzeugende, entfaltende Kraft des Bildes. H u m o r und unzynische Selbstpersiflage verleihen dieser psychologischen „Materialsammlung" Grazie: . . . w i r beide, ich und mein Körper sind noch nie so sehr zwei gewesen als jetzo, zuweilen erkennen wir einander nicht einmal, dann laufen wir so wider einander, daß wir beide nicht wissen, w o wir s i n d . "

Solche Bemerkungen über den Menschen, andre oder sich selbst, schienen Lichtenberg f ü r den guten Schriftsteller, den wirklichen „Beobachter", unentbehrlich, um zu allgemeinen Wahrheiten zu gelangen. Sein Mißtrauen gegen Systeme ist besonders groß auf dem Gebiet der Psychologie und er diskutiert das Problem, indem er analogisch die Methode seines eigenen Faches, der Astronomie, als Modell wählt: D i e Yoricks10® sind die Observatores bei der Philosophischen Fakultät dieser Welt, die man ebenso nötig hat als bei Sternwarten, sie brauchen die großen Kunstgriffe, allgemeine Lehrsätze zu ziehen, nicht zu verstehen, nur gnau observieren müssen sie können . . . Unsere meisten Schriftsteller sind weiter nichts als . . . [in Allgemeinheiten und Alltagswahrheiten sich ergehende] moralische Observatoren, die einem Kenner ebenso abscheulich zu lesen sind als einem gründlichen Astronomen solche sein müssen. 1 0 1

Noch eine durchaus andere unsystematische Art gibt es, Entdeckungen zu machen: Momente, da man „zu gar nichts recht aufgelegt" ist, sind die Augenblicke, da man vielleicht geschickt wäre, die seltsamsten und größesten D i n g e zu unternehmen. Es ist dieses eine Art v o n Entgeisterung, w o r i n die Seele ebensoviel u n g e w ö h n lich Kleines sieht, als in . . . Begeisterungen ungewöhnlich Großes, und w i e diese letztere Art Zustand mit jenen verwegenen Aussichten der Astronomen verglichen werden kann, so läßt sich hingegen die erstere mit den Bemühungen eines Loewenhoedt zusammenhalten. 1 0 2

Reflektiv-mystische und intellektuelle Neigungen verschmelzen hier auf fruchtbare Weise. So wie Leeuwenhoek durch sein Mikroskop in scheinbar einfachen, nicht weiter zerlegbaren Substanzen Bakterien und Blutkörperchen, eine Welt von Kleinem, entdeckt hatte, so wird Lichtenberg durch konzentrierte analytische oder intuitive Hingabe an die einzelne Erscheinung der Entdecker des seelisch Mikrologischen, Begründer eines Phänomenalismus des Kleinen und einer Sondierung des scheinbar Einfachen. So wird er subtilerer Nachfolger der französischen Moralisten und Vorbereiter der modernen Tiefenpsychologie, mehr dem Kleinsten zugewandt als La Bruyere und ohne Larochefoucaulds oder irgend eines Späteren einheitliche Sinngebung durch ein dogmatisches System. Ein paar Beispiele mögen beides dartun — den Anschluß an die französische 98 100

101

B 259. Lichtenberg bewunderte Laurence Sternes „Yorick's Sentimental Journey" und seinen „Tristram Shandy" (1759—1767). 102 B 264. B 102.

(1768)

Sternwarte-Assistent und Tutor

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Tradition sowie die zu Nietzsche und der Seelenforschung des 20. Jahrhunderts, A l f r e d Adlers v o r allem, hinführenden empirisch-intuitiven Erkenntnisse. Wie bei ihnen führen Beobachtung und Analyse zu Skepsis und E n t w e r t u n g : Es ist nicht zu leugnen, daß das, was man Beharren nennt, manchen Taten das Ansehen von Würde und Größe geben kann, so wie Stillschweigen in Gesellschaft einem dummen H a u p t Weisheit und scheinbaren Verstand . . -103 Duell. Wenig wahre Herzhaftigkeit, mit einem unwiderstehlichen Vorsatz verbunden, etwas zu tun, das leicht ist, und doch jenen Mangel zu ersetzen scheint, falsche Begriffe von Ehre und Verdienst, Leichtsinn, mit einem Mangel an soliden Kenntnissen verbunden, das ist es ohngefähr, was der Student besitzt, der sich gerne stillägt. . , 104 Aber die abstrakte Einsicht bedient sich einer wirklichkeitsnahen,

bildhaften

Sprache: Der Stolz des Menschen ist ein seltsames Ding, es läßt sich nicht sogleich unterdrücken und guckt, wenn man das Loch A zugestopft hat, ehe man sich versieht, zu einem andern Loch B wieder heraus und hält man da zu, so steht er hinter dem Loch C usw. 105 D i e Lichtenbergsche Kunst der anschaulichen heiteren Metapher ist hier schon ausgebildet; ebenso genießt man sie in der Beschreibung der S y m p t o m e des Übergangs v o n der Pubertät zur verliebten A d o l e s z e n z : Damals fing sich etwas von der Leidenschaft in ihm an zu regen, die wir gewöhnlich nicht lange vorher, ehe wir uns zum erstenmal rasieren lassen, schon verspürt haben. Von Anfang an war es ein Ding, das gar keine Richtung hatte und er konnte nichts bemerken, als daß seine gewöhnlichen Begierden nicht sowohl besänftigt, als von etwas wenigstens ebenso stark nicht mehr dahin, sondern dorthin gezogen wurden, ein ärgerliches Gleichgewicht, man schüttelt und rüttelt und weiß nicht warum, nur um nicht still zu stehen, und wieder etwas anderem Überwucht zu geben, ein seltsamer Zustand, durch den wir Männer alle müssen . . , 106 Persönliche Erinnerung an seine Jugend steht hinter diesem

Fragment,

das belebt ist durch den Versuch der Beschreibung des schwer Beschreibbaren. 107 U m sie bemüht sich auch die folgende Bemerkung, in der Lichtenberg das vagste Gefühl konkret z u machen und in Worten einzufangen sucht. D e r Sitz des P o i n t d'honneur liege bei Männern um das Zwerchfell herum: Daher . . . die elastische Fülle in jener Gegend bei Unternehmung prächtiger Taten und eben daher das Schlappe, Leere daselbst bei der Unternehmung kleiner. 108 D i e Einheit des Charakters, die Lichtenberg schon vor Jahren entdeckt hatte, sieht er nun auf allen Gebieten menschlicher Betätigung u n d Erscheinung und er ist imstande, sie auf das konziseste symptomatisch darzustellen: Er mußte etwas zu spielen haben, hätte ich ihn keine Vögel halten lassen, so hätte er Maitressen gehalten. 109 D i e Ganzheit erstreckt sich auf ihre körperliche Erscheinungsform: den Gesichts103

104 B 149. B 169. Vgl. B 128, zit. S. 3. los b 1 3 5 . io» B 170.

107

B 119.

106

B 123.

Charakter. Physiognomie. Stil

45

ausdruck und Ausdrucksbewegungen des Körpers, alles das, was er später Pathognomik nennen sollte. Prachtvoll ist die ausführliche Gesichtsbeschreibung B 153, selbstsicher trotz ihrer Vagheit die Bemerkung B 263: Ich w e i ß nicht, der Mensch hatte wirklich die Miene, die man ein In-sich-kehren des Geistes nennen könnte, und allezeit ein Zeichen des Genies ist.

Mit einem köstlich originellen Vergleich reproduziert Lichtenberg einen Bewegungshabitus: „Er bewegte sich so langsam als wie ein Stundenzeiger unter einem H a u f e n von Sekundenzeigern" (B 254). Tägliche Beobachtung am Fenster erlaubt ihm, „deutlich an den Füßen der Studenten [zu sehen], ob sie aus einem Collegio kommen oder in eines zu gehen gewillt sind" und dies durch präzises Detail anschaulich zu machen: Jenes an der platt auffallenden Sohle, die den H u n g e r der regierenden Seele [ = körperlicher H u n g e r ] verrät, dieses an dem schmachtenden Schritt, w o Absatz und Zehen etwas langsamer nacheinander aufzuliegen kommen, der allemal ein Zeichen der kurz vorhergegangenen Sättigung ist. Bei denen Studenten, w o ich nichts dergleichen bemerken konnte, habe ich . . . fast allemal erfahren, daß sie zugleich in ein Kolleg gehen und aus einem kommen . . . n o

In die Grundüberzeugung von der Einheit des Charakters mit allen Äußerungsformen, körperlichen und geistigen, fügen sich auch seine Beobachtungen über den Sprachstil ein; sie zeigen Lichtenberg als ausgezeichneten Stilphysiognomen und -Parodisten und lassen ihn eine humorvolle Typologie sieben verschiedener Prosastile entwerfen. Vom „Physiognomischen" her lassen sich auch seine unzähligen Angriffe auf den Stil der Anakreontiker als Angriffe auf die in ihm sich offenbarenden Charaktere verstehen. Ihre Manier enthülle sie als unoriginell, unreif und affektiert, der Stil der Fortsetzung von Yoricks Reise z. B. ihren Verfasser sogleich als zu jung f ü r dieses Geschäft. 111 Selbständigkeit, Natürlichkeit (d. h. Echtheit) und Einfachheit sind ihm die großen Tugenden nicht nur des Schriftstellers, sondern des Mannes. „Festtags-" und „Sonntagsprose" (B 111, 285) sind ihm als unecht ebenso zuwider wie gewollte „edle E i n f a l t " : Unsere neuen Kritiker preisen uns im Stil die edle und ungekünstelte Einfalt an, ohne uns durch ihr Beispiel auf diese edle Einfalt zu führen, alles, w a s sie zu sagen wissen, ist, daß sie uns auf die A l t e n verweisen. In der Tat, eine Art zu verfahren, die nicht anders als gefährlich sein kann . . . Simpel und edel schreiben erfordert vielleicht die größte Spannung der Kräfte, weil in einer allgemeinen Bestrebung unserer Seelenkräfte, gefallen zu wollen, sich nichts so leicht einschleicht als das Gesuchte . . , 112

Wer H o r a z nachahmt, tut dies, weil er die Schönheiten des H o r a z als absolut für sich bestehend ansieht und nicht bedenkt, daß sie in einer [sie] gewissen Verhältnis mit der menschlichen N a t u r stehen, die er nicht kennt . . . (ib.).

110 B 121. 111

112

B 282 — H a l l Stevenson, The Continuation of the Sentimental Journey, London 1769, (lt. Leitzmann). B 20.

46

Sternwarte-Assistent und Tutor

Was treibt uns zum Künstlichen und dem dem Künstlichen so nahe Verwandten Schlechten . . . Antwort, wir werden nicht angehalten, individua im Denken zu w e r d e n . . . Liberty and property, darauf müssen wir halten. Der Mensch schreibt absolute immer gut, wenn er sich schreibt, aber der Perrückenmacher, der wie Geliert schreiben will, . . . [unleserlich], der den Winckelmann im Stil a f f e k t i e r t . . . schreibt schlecht. . , 113

Es ist bemerkenswert, wie das Philosophische, das Moralische und das Ästhetische hier wie überall bei Lichtenberg untrennbar unter der Oberfläche miteinander verbunden sind; die Anwendung der politischen Schlagwörter liberty and property auf das geistige Leben macht diese Einheit noch deutlicher. Der Begriff der Ganzheit und das Postulat der Selbständigkeit liegen allen diesen Äußerungen, Lichtenberg bewußt, zugrunde und sind ihre Kennzeichen. Noch eine durchgehende Tendenz hat in dieser jedem Zweifel, jeder Anregung offenen Einheit der Haltung und der Persönlichkeit Platz: das starke Recht, ja Vorrecht, der geprüften Empfindung und des common sense gegenüber dem bloß N ü t z lichen und dem rein Theoretischen: Wenn ich einen Augenblick einmal denke, aber es könnte dir in Zukunft schaden, so zu handeln; Possen, fällt mir meine Empfindung ins W o r t , und ich bin gewöhnlich schon überführt, ehe sie völlig ausgeredet hat. 1 1 4

Ähnlich die zwei darauf folgenden Notizen und B 298: So vortrefflich die gesunde Vernunft sich überall anläßt, so abscheulich links stellt sich die ungesunde bei jeder Gelegenheit. 1 1 5

„Bei unsrem frühzeitigen und oft gar zu häufigen Lesen . . . bedarf es oft einer tiefen Philosophie, unserm Gefühl den ersten Stand der Unschuld wiederzugeben, Sich aus dem Schutt fremder Dinge herauszufinden, selbst anfangen zu fühlen, und selbst zu sprechen und ich möchte fast sagen, auch einmal selbst zu existieren."(B 260). Es ist kein Zufall, daß Lichtenbergs Erwägungen hier vom großgeschriebenen und unterstrichenen „Sich", über das wiederholte und unterstrichene „selbst" zu einem „fast" gewagten, neuartigen Begriff des „Existierens", der Existenz, führen. Lichtenbergs, des Systemhassers, Bezeichnung f ü r diese in hunderten „Bemerkungen", Empfindungen und Resolutionen sich aufspaltende lebendige, existenzielle Einheit ist „mein Gedankensystem", ein dauerndes So-Und-Nicht-Anders-Sein des Geistes, des Reagierens, das nichts mit Impressionismus, aber auch nichts mit einem philosophischen, politischen, wissenschaftlichen „System" als „Gehäuse" (im Jasperschen Sinn) zu tun hat, sehr viel aber mit dem Problem des Verstehens: . . . Einen Menschen recht zu verstehen, müßte man zuweilen der nämliche Mensch sein, den man verstehen will. Wer versteht, was Gedankensystem ist, wird mir Beifall geben . . , 116

Der Glaube an das Gedankensystem als organische persönliche Eigenart bedeutet aber auch Strenge gegen sich selbst: 113

B 91.

1,4

B 206.

115

B 298.

116

B 258.

47

.Existieren". Das „Gedankensystem"

Man . . . befrage sich alle Schritte, warum glaube ich dieses? Folgt es aus meinem übrigen Gedankensystem oder ist es nur aus Trägheit zur Untersuchung, durch Vorurteil, fides implicita und dergleichen daran angeplackt worden . . . (B280).

Angesichts solcher Überlegungen und Vorsätze ist es unmöglich, die Frage zu beantworten — und von höchstens sekundärer Bedeutung, sie zu stellen — wie weit Lichtenbergs Auffassung vom Menschen als eines auch im Geistigen organischen Ganzen und Einheitlichen ursprünglich durchaus persönliches Gedankengut ist oder auch auf Shaftesbury zurückgeht. 117 D a ß diese Sicht von f r ü h an ein Zentralgedanke seines höchsteigenen „Systems" ist, ist offenkundig, ebenso wie das Problem der Empfindung und des „gesunden Menschenverstandes". Wenig Sinn hat auch die Frage nach der Originalität gewisser Abneigungen, mehr gefühls- und meinungsmäßig als gedanklich begründet, die in den Notizen dieser Jahre immer wieder auftauchen. Sie sind dem Inhalt nach antiaristokratisch, anti-theologisch, anti-dogmatisch religiös, anti-professoral und würden sich selbst, zusammenfassend, als anti-dumm auffassen. Die Ideen der Aufklärung müssen meinungsmäßig Gedankengut eines großen Teiles der Aufgeweckteren unter den bürgerlichen Studenten gewesen sein, und das bedeutete Mißtrauen, ja H a ß gegen bloß eingesetzte Autoritäten, gegen die Theologen und gegen die mit Vorrechten der Geburt Ausgestatteten. War doch die Universität auch zur Verbreitung der neuen Ideen und Forschungsweisen gegründet worden und hatte sich den Ruf der liberalsten deutschen Hochschule erworben. Überhebliches Auftreten der adeligen Studenten und der demokratische Wind, der aus dem mit H a n n o v e r durch Personalunion verbundenen England herüberwehte, hat diese Stimmung verstärkt. Lichtenbergs Stammbuchverse von 1765 und 1767 an studentische Freunde 118 ergehen sich in stoisch gefärbter Verachtung der „goldnen N a r r n " , von „Ruhm, Reichtum, Pracht und des Hofs Beschwerde" und preisen in herkömmlicher Weise bescheidene, tugendstolze Armut und Weisheit. O b der satirische Geist, „der sich seit einiger Zeit sogar der hiesigen, parfümierten, entsetzlich frisierten, leeren Stutzerköpfe bemächtigt hat", 119 wirklich, wie Lichtenberg glaubt, eine Zeiterscheinung war oder nicht vielmehr die übliche Reaktion des Studenten, des Jugendlichen, gegen den Philister oder das ihm Ungemäße, ist fraglich. Ein „Sinngedicht" in demselben Briefe, vermutlich von Lichtenberg selbst, ist charakteristisch f ü r diese H a l t u n g : Charakter

eines Barons, der neulich Göttingen

verließ

Steif, unbesonnen, stolz auf seinen Federhut Und in der feigen Brust tief-adlich dummes Blut, 117

Er erwähnt ihn nur zweimal (B 275 und Schriften, VI, S. 217), beide Male in Zusammenhängen, die hier irrelevant sind. Hamanns und Herders hierher gehörige Ideen wurden erst später publik. 1,8 Br. I, S. 394 f. u » An J. C. Kestner, 30. März 1766, ib. S. 2 f.

48

Sternwarte-Assistent und Tutor Hochmut und Unverstand auf der frisierten Stirne, Im Beutel selten viel und nichts in dem Gehirne. Nie still am rechten Ort, gesprächig im Konzert, Geboren für den Ball und das Philister-Pferd, Vernünftigen verhaßt: Das heißt mit wenig Worten, E r war der würdigste von seinem ganzen Orden.

Jedenfalls war Lichtenberg unter den jungen Satirikern einer der regsten, mit mehr natürlicher Bestimmung dazu als seine Umgebung. Seine frühe Neigung zu Ironie und Satire lebt sich so wie selbstverständlich aus. Was aber bei seinen Altersgenossen vorübergehender Brauch war, wird ihm bald theoretisch durchdachtes Ziel und Lebensgewohnheit. Auch tritt zum Sarkasmus Humor hinzu. 3. Entwürfe und Fragmente Pläne, Einfälle, Entwürfe aus dieser Zeit offenbaren Lichtenbergs Wunsch, an die Öffentlichkeit zu treten. 120 In aufsteigenden Stufen geht es in ihnen um bloße Inhalte (nämlich die Erkenntnisse des Denkens und der Naturwissenschaften, vertreten gegen Unwissenheit, Unbildung und Aberglauben), um die sittliche Pflicht und Würde des Denkens (vertreten gegen ästhetisierende Substanzlosigkeit) und um die praktische Freiheit, den Erkenntnissen der Vernunft gemäß zu handeln (vertreten gegen die orthodoxe Theologie, vor allem Hauptpastor Goeze und die Göttinger theologische Fakultät). Verklammert sind diese Tendenzen, die zugleich die der Aufklärung sind, untereinander durch Lichtenbergs altes, in den Notizen vorherrschendes Thema: der Mensch als Typus und, in sonderbaren Einzelfällen, „Naturgeschichte des menschlichen Herzens". Manchmal sind die Tendenzen, manchmal die bloße Freude am Beobachten und Verstehen im Vordergrund. Hauptsächlich tendenziöser Spott auf deutsche Zustände, neben individueller Charakterschilderung, scheint die Absicht des frühen 121 Fragments eines Romans über einen gutmütigen, abergläubischen, faulen und unfähigen Oberförster zu sein, dessen Leben sich um Tisch, Bett und Pfeife bewegt und der in blinder Ehrfurcht vor dem Adel erstirbt. „Oberförster" bezeichnete in Lichtenbergs Familie einen spießigen Dummkopf. 1 2 2 Wenn das „Försterische" auch „in der ganzen Welt so ziemlich einerlei ist", so verkörpert er doch den „Provinzialcharakter" Deutschlands, des ungenannten Landes, das „ohngefähr 1500 deut120

Deneke meint (S. 79), es stehe außer Zweifel, daß Lichtenberg der Verfasser eines mit L. gezeichneten Aufsatzes „Uber die Wochenblätter überhaupt, als eine Einleitung zu dem Göttingischen" sei, der die neu gegründeten Göttingischen Gelehrten Beiträge zum Nutzen und Vergnügen im ersten Stück, 6. April 1768 eröffnete.

121

Früh, aber nicht, wie Leitzmann glaubt, identisch mit dem Fragment von 1765, das Lichtenberg Schriften, V, S. 92 erwähnt. Nichts als Aberglauben verbindet die beiden Charaktere. Daß die Erzählung „wohl dem Jahr 1770" angehöre (Deneke, S. 129), ist denkbar, doch spricht nichts Konkretes dafür. Vgl. Brief vom 19. April 1770; Br. II, S. 11.

122

Entwürfe und Fragmente

49

sehe Meilen westlich von China liegt". Aufklärerisches Überlegenheitsgefühl und Enttäuschung des jugendlichen Intellektuellen über sein Vaterland diktieren dessen Schilderung als Stätte der Unwissenheit, Bigotterie und Intoleranz, bevölkert von gewissenlosen Kameralisten, abergläubischen Pfarrern, ungebildeten Ärzten und trinkenden, pflichtvergessenen Juristen. — Die wenigen erhaltenen Seiten des Fragments sind mit gewandter Natürlichkeit und Konzision geschrieben, nicht mehr mit anspruchsvollem Bemühen wie im „Nutzen der Mathematik". Umso wirkungsvoller ist gelegentlich die Kunst einer stark intellektuellen Zuspitzung und Steigerung: D e r Adel wird daselbst durchgängig für v o m H i m m e l eingesetzt gehalten, der Bürger und der Bauer sieht einen Adeligen w i e einen Erzengel an, dahingegen der Adlige den Bauern bei weitem nicht w i e ein Erzengel einen Menschen ansieht, nein unendlich viel geringer, so w i e ohngefähr ein Vernünftiger, der die W e l t und Verdienste kennt, einen Junker ansieht, der sonst kein Verdienst hat, als daß er Junker i s t . . ,123

Der zweite Aspekt deutscher zeitgenössischer Kultur, der den jungen Lichtenberg irritierte, sollte Gegenstand einer Erzählung werden, deren Entwurf er im Sommer 1769 niederschrieb {„Eine Erzählung", B 200): die Anakreontik als literarische Mode, die „tändelnde" Dichtung und mit ihr ihre Autoren und ihr gesellschaftlich maßgebendes Publikum, die „Stutzer", deren Einfluß schließlich bis in die Kreise der Regierung und der Schulen gereicht habe. Ein im Rom um 100 n. Chr. geborner junger Mann von mäßiger, vor allem ästhetischer Begabtheit und weichlich-weiblichem Charakter, sollte ihr Held sein; galante Empfindsamkeit entwickelt sich in ihm auf Kosten seiner Vernunft. — Ein stilistisch wirksamer Einfall ist es, von ihm oft als Neutrum, als „es" zu sprechen, da er ihn im Anfang als „ein Geschöpf" vorstellt, das aussah wie andere Menschen. Als sich endlich der Trieb bei ihm zu regen anfing, der . . . bei den Mannspersonen in die Zeiten des ersten Barts fällt, ich meine den Trieb, Bücher zu zeugen, so schrieb er Liedchen, und dieses nicht sowohl aus einem besonderen Wink der Natur, sondern weil es glaubte, „daß sich in diesem Fach mit der wenigsten Kraft die größte Ehre erreichen ließe".

Wenn es seine Vernunft gebrauchen sollte, so war es ihm beinah, als wenn es etwas mit der linken H a n d tun sollte . . . So tändelte es die H ä l f t e seines Lebens hin, glücklich für sich selbst, denn es konnte mit . . . einem Sonett dasjenige einige Zeit ausrichten, was andern Einsicht in den Zusammenhang der D i n g e und seiner selbst ist.

Die andere Hälfte des Lebens verbrachte er in einem Kloster; im Alter traktierte er Aristotelische Philosophie. Schon 1768 hat Lichtenberg „Beobachtungen zur Erläuterung der Geschichte des Geists dieses Jahrhunderts" aufgezeichnet. 124 „Die Geister der . . . einzelnen Jahre können immer neue Punkte darbieten, seine steten Linien dadurch zu 123

N a c h l a ß S. 12.

124

B 18.

4

Mautner, Lichtenberg

50

Sternwarte-Assistent und Tutor

ziehen". In diesem Sinne sind der soziale, der intellektuelle und der sich entwickelnde literarische Zustand Deutschlands hier Lichtenbergs Gegenstände; der katholische Klerus sowie katholische Philosophie bekommen noch in der Schlußwendung eins ab. In der Anakreontik sieht er durchwegs ein größeres Übel als ein bloß literarisches: öffentlich akzeptierte Affektation und Senkung des geistigen Niveaus der Literatur. Gleim aber, der äußerlich leicht mit den Anakreontikern hätte identifiziert werden können, dessen H a l t u n g mehr als Mode sei, verehrte er sein Leben lang als „Weisen" und als Dichter, neben Wieland, f ü r dessen Kunst Lichtenbergs Bewunderung unermeßlich war. Sein Vorbild ist es ganz offenbar, das Lichtenberg veranlaßt hat, die Handlung ins „Tiber-Athen" des nachchristlichen Altertums zu versetzen. Eine etwas erweiterte Fassung dieses Entwurfs trägt den Titel „Beiträge zur Geschichte des ***". 1 2 5 Sie wendet sich noch ausdrücklicher gegen das substanzlose literarisch gefärbte Geschwätz, das Schreiben omnium contra omnes, und den allgemeinen Verfall wirklichen Denkens. Der Ubergang zu expliziter Allegorie, das Geschöpf habe „endlich unter dem N a m e n Barbarei in einem sehr hohen Alter Ehre und Leben verloren", zerstört die innere Konsistenz der Erzählung und das Wenige an Anmut, das man in ihr finden könnte. 126 Kurz, der Wielandisch geplante H u m o r in diesem Roman wäre gewiß von der Satire überwuchert worden. Dringt sie doch sogar in eine lange scherzhafte Versepistel „Schreiben an einen Freund"127 ein, begonnen im Dezember 1768, die mit pietätvollem Behagen Göttinger Zustände malt, vor allem das Studentenleben. Die studentische Roheit und das Stutzertum sind die beiden Angriffsziele. Kampf gegen das „Stutzertum" durchzieht seine nächsten Jahre. Er unterscheidet den „körperlichen" und den „geistlichen" [ = geistigen] Stutzer, meint mit jenem das, was noch wir einen Stutzer nennen, mit diesem vor allem die jungen Literaten, die der Anakreontik als einer bloßen Mode verfallen sind. In einer gewissen schwerelosen weibischen Gefallsucht und Eitelkeit das Gemeinsame zwischen körperlichem Stutzertum und anakreontischer Mode entdeckt zu haben, ist der psychologische und kritische H a u p t f u n d . In ein paar Artikeln zu einem satirischen Wörterbuch, „Lexidion für junge Studenten", begonnen im Sommer 1769, gibt Lichtenberg pseudo-ernsthafte Erläuterungen des Begriffes. Sie zeigen seine kritische Fähigkeit, zwischen dem Ausdruck echten Lebensgefühls und bloßer Nachahmung zu unterscheiden; seine Neigung zu tiefenpsychologischer Analyse; und wieder seinen an Wieland geformten literarischen Geschmack. Der Ursprung der Stutzer 125

Schriften, II, S. 2 0 3 — 2 0 6 .

126

Auch haben w i r hier einen der ganz seltenen Fälle, in denen ein Ressentiment Lichtenbergs gegen den körperlich 'Wohlgebildeten sichtbar sein mag: „ N u n ist bekannt, daß, w a s ein sehr gesunder Verstand seinem Besitzer vielleicht mit der Zeit verschafft, Verteidiger, Bewunderer, Nachahmer, eine sehr gesunde Figur dem ihrigen g e w i ß und in kurzer Zeit verschafft" (S. 204).

157

N a c h l a ß S. 117.

Entwürfe und Fragmente

51

in der menschlichen Natur ist sehr früh und hat wie viele Torheiten den Grund in der Liebe und hauptsächlich in dem Verlangen, allen Mädchen zu gefallen, welches . . . in einer gewissen Hermaphroditerei in der Seele seine Befriedigung sucht. D i e Seele, die allzeit ein unglaubliches Vergnügen in der Betrachtung ihrer selbst finde, genieße hier, w a s oft ein verfeinerter Schwärmer bei einer glücklichen Liebe und der Gegenwart des sanften Bacchus in einer Sommernadit mitten unter den Zaubereien der wollüstigsten Musik nicht erreichen kann. 128 Seit 1764 sind die Stutzer am Geiste häufiger als jemals . . . Unsere Journale oder besser Wleß-Catalogues raisonnes haben Gelegenheit zur Ausbreitung dieses Übels gegeben. Bei Lesung dieser Bücher wachset in dem Gedächtnis des jungen Lesers der Wörtervorrat, wozu manchmal erst 20, 30 Jahre hernach die Ideen angeschafft werden. Also Wörter ohne Ideen dazu . . . das ist die Hauptwurzel des Obels . . . Von Leipzig kommen eine Menge solcher junger Herren,. . . weil mit Gelierten gesprochen . . . zu haben, . . . leicht aussehen kann, als vertraut mit den Musen gewesen zu sein . . . D e r Mensch, der sein H e i l statt im perfice

te in der Bequemlichkeit sucht,

verfällt in [der] Wissenschaft leicht auf das Tändelnde, Spielende, S ü ß e . . . und rechnet sich diese Neigung, die sonst Trägheit heißen würde, für feines Gefühl des Naiven, des Zärtlichen . . . an. H a ß gegen alle Wissenschaften, die . . . schwerer als die Frauenzimmer-Predigten, sind ihm G r e u e l . . . Oh, ihr verwöhnte Kinder, glaubt ihr vielleicht, einen Gleim zu verstehen, müsse man nichts als Liederchen an Doris, nichts als von Knöspchen, von Löwen, die die Füßchen der Liebesgötterchen küssen, gelesen haben? . . . Ihr versteht ihn nicht . . . wenn ich Gleimen spielen sehe, so sehe ich allezeit den Weisen durchschimmern, ich bewundere das sanfte Herz, das die Eindrücke, die das Meisterstück des Himmels, ein schönes Mädchen, auf es macht, mit einer jonischen Kunst der harmonierenden Seele des Lesers begreiflich zu machen weiß . . . aber ihr in euern Liederchen kommt mir wie junge Katzen vor, die mit . . . einer Kugel von Papier tändeln,129 Lichtenberg gab die Arbeit am „ L e x i d i o n " a u f und schrieb im Dezember 1 7 6 9 oder 1 7 7 0 ' 3 0 die „Dienbaren land,

hauptsächlich

auf

Betrachtungen

Universitäten".m

für junge

Gelehrte

in

Auch die „Betrachtungen"

Deutschgreifen

das Übel der Affektation im Leben und in der Literatur, den Mangel an echter Substanz an, voll E r n s t und Schwung diesmal, ohne Scherz und äußeres P a t h o s der Rede, aber mit dem inneren P a t h o s der Uberzeugung und der Sittlichkeit, dem scharfen Denken und der w a r m e n Menschlichkeit, wie sie den besten v o n Lessings Streitschriften eigen sind. Die W ä r m e erhalten sie durch das Bekenntnishafte, I n t i m e : sie seien an Dezemberabenden entstanden, an denen des A u t o r s Gedanken „meistens z w i schen Melancholie und ängstlicher Selbstverkleinerung" strichen, zur Zeit, wo jedermann ohne weitere Bestechung gradzu zu meinem Herzen kommen kann . . . vielleicht die beste Zeit, meinen jungen Mitbürgern etwas zu sagen, die beste Zeit, für midi und für sie . . . (S. 5 f.). 128 130

131

4*

129 B 180. B 175. Lt. Leitzmann in der Anmerkung zu B 259. Deneke möchte sie eher in den Dezember 1770 setzen. Schriften, I I I , S. 5—14.

52

Sternwarte-Assistent und Tutor

Wieder w i r d die A n a k r e o n t i k als der A n f a n g zur Entstehung der Barbarei u n d der Verderbnis des Geschmacks jugendpsychologisch erklärt: Wir hätten dem Trieb der Fortpflanzung mehr alberne Possen zu verdanken als Menschenkinder, „aber auch sehr viele Werke des Genies vom größten Gehalt, davon bin ich auch überzeugt" (S. 8). Wenn m a n wolle, möge man diesen Trieb der jungen Schriftsteller Liebe nennen, doch wünschte ich, daß man dieses Wort lieber von jener Seelenmischung verstehen möge, . . . zu deren unaussprechlicher Erscheinung . . . Wieland zuerst die Sprache gefunden . . . Aber was ihr meistens Liebe nennt, ist Hunger . . . und wird noch keine Liebe durch zärtliche Etiquette, oder ist tändelnder Wörtertausch, den ein hoher Grad von unmännlicher Eitelkeit unterstützt (S. 9).

Nicht Genie, sondern Verfall der Seelenkräfte, Neigung, mit so wenig K r a f t als möglich so viel als möglich zu tun, das ist es, was so viele unserer jungen H e r r n begeistert (S. 10). Das sei das tief Unsittliche an der neuen literarischen Mode, d a ß sie ohne E r f a h r u n g u n d ohne Denken durch bloße N a c h a h m u n g künstlerische Wirkungen erzielen wolle. Über die Zeitmode hinaus hat Lichtenberg hier eine allzeit gültige Abrechnung mit dem Mißbrauch der Sprache, mit dem Literatentum, gehalten. Er verfolgte es zeitlebens. Zugleich aber zeigt diese wirkungsvolle Abhandlung, w a r u m so viele seiner Schriften nicht fertig geworden, nicht zu öffentlicher W i r k samkeit gelangt sind. Nach einem höchst schlagkräftigen Abschluß — „ . . . wenn der Steuermann etwas taugt, so m u ß es gut gehen" (S. 45) — folgen mit neuem Atemschöpfen einzelne Bemerkungen, die z w a r in den Zusammenhang passen, aber doch den G e d a n k e n g a n g überflüssig ausdehnen und dann unvermittelt abbrechen. So kamen viele von Lichtenbergs E n t w ü r f e n zu keinem Ende, weil sich immer neue Einfälle ergaben und immer wieder der Z w a n g wirkte, das Gesagte von G r u n d auf neu zu durchdenken u n d aus ihm neue Folgerungen zu ziehen, häufig auch alte aufs neue. W a r die D u r c h f ü h r u n g eines Vorhabens, ein Buch über „den" Menschen, zu schreiben, auch noch weit entfernt, so lockte doch der Versuch, einen Menschen in allen seinen sonderbaren Lebensäußerungen darzustellen. Dieses U n t e r nehmen w a r umso lockender, wenn sich dabei die Möglichkeit u n d N o t w e n d i g keit ergab, in der A r t der Lessingschen Rettungen die programmatische V o r urteilslosigkeit zu betätigen, u n d eine Pflicht der Pietät zu erfüllen gegenüber einem von Lichtenberg zumindest um seiner Originalität willen so geschätzten M a n n e wie dem im Dezember 1769 verstorbenen Göttinger Trödler u n d A n t i q u a r Kunkel. Das Eigenwüchsige hat Lichtenberg immer entzückt. So entstand die „Rede über Kunkel", die Vorrede dazu und die Sammlung von Aufzeichnungen zu seiner „Biographie" ,132 Schon der Einfall w a r durchaus originell u n d hatte in der deutschen Li132

Ib., S. 15—47 und zahlreiche Einträge in den „Aphorismen",

Entwürfe und Fragmente

53

teratur nichts Gleichartiges vor sich: einen wirklichen Menschen aus niedrigen Schichten und ohne jedes öffentliche Verdienst zum Gegenstand einer psychologisch-biographischen Würdigung zu machen. Denn wenn diese auch allerorten Anlaß zu Ironie und Sarkasmus gab und die Zerstörung des schlechten Rufes, den Kunkel in der Stadt als Trinker, Raufbold und unredlicher Geschäftsmann hatte, manchmal zu witzig rabulistischen Beweisen ausartet, so ist sie doch von echter Teilnahme belebt, intellektueller und emotionaler, und die Tendenz — vorurteilsfreie Erhöhung und Rettung des Vielgelästerten — ist durchaus ernsthaft. Es reizte Lichtenberg, auf Grund seines Vermögens zu sorgfältiger, organischer Seelenzergliederung und seines selbständigen Denkens gegen eine „allgemeine Meinung" aufzutreten, die Kunkeln verspottete und seine menschlich wertvollen Eigenschaften nicht sah: Es bleibt mir nur ein W e g übrig, mich meinem Kunkel mit Anstand zu nähern, und das ist, zu zeigen, daß dasjenige, w a s er tat, und was jedermann weiß, daß er getan hat, auch einer andern Erklärung fähig sei, und daß mehr die einmal durch ein Ohngefähr in den Strom gebradite Laune eines flatterhaften Publikums als eine obsolute Possierlichkeit des Mannes allen seinen H a n d l u n g e n dieses zweifelhafte Licht erteilt habe . . . (S. 23),

eine Analogie zu seiner frühen Bemerkung über die aus Vorurteil schlecht behandelten Esel.133 . . . es ist immer gefährlich, in einer gar zu tiefen Gleise zu fahren, . . . betrachten Sie Kunkeln wieder einmal s e l b s t und nicht das lächerliche Bild, welches eine spöttische Stadt von ihm gemacht hat, und welches desto betrüglicher ist, w e i l es Wahrheit mit Karikatur verflochten enthält, die man zuletzt gar auch für wahr ansieht (S. 24 f.).

Lichtenbergs Vorliebe f ü r das Ungewöhnliche fühlte sich hier angezogen: . . . wäre er eine Pflanze gewesen, so würde man ihn als eine seltsame Spielart vielleicht in K u p f e r gestochen haben; nun er aber Mensch und z w a r Antiquarius war, . . . so will man ihn vergessen (S. 18),

ein sonderbares Gewächs, wie geschaffen, ein Beitrag zur „Naturgeschichte des menschlichen Herzens" zu werden. Wie ein experimentierender Physiker eine Erscheinung, die er studieren will, von Komplikationen, die nicht im Wesen der Sache liegen, möglichst befreit, so fragt sich Lichtenberg, was aus Kunkel hätte werden können, wenn er in anderen Lebensumständen geboren worden wäre, wie ihn das deutsche Publikum, das sich doch angeblich so nach deutschen „Originalcharakteren" sehne, sehen würde, könnte es sich der französischen, auf das Typische gehenden Betrachtungsweise entschlagen. Er sammelte noch Jahre lang an einzelnen Zügen zu Runkels Charakteristik, erfand Reden, die dieser hätte halten können und knüpfte an seine Eigenart und seine Äußerungen philosophische und satirische Erwägungen. Es schwebte ihm bald eine humoristisch gehaltene Biographie, bald ein satirischer Roman vor, bald auch ein Drama, in dem Kunkel als „Originalcharakter" hätte 133

Vgl. S. 17.

54

Sternwarte-Assistent und Tutor

auftreten können. Die Möglichkeit, so gut wie jeden Einfall und jede persönliche Bemerkung dem fiktiv gewordenen Kunkel anzuhängen, ließ diesen Plan nicht reif werden. Aber das für sein menschliches Verhältnis zu Kunkel Wesentliche hat Lichtenberg in den längeren Fragmenten zusammengefaßt, und es wurden Meisterstücke an Spannung und Witz, Herzlichkeit und Überzeugungskraft. Wo noch finden sich so lebendige Anfänge wie die folgenden? Wir haben den Antiquarius Jonas Kunkel verloren. Unter dem boshaften Gezisdie und Gepfiffe eines parteiischen Publikums . . . schlich E r sich im Dezember des vorigen Jahrs hinter die Kulissen dieser Welt. Bis auf heut gerechnet, also schon vier völlige Monate, und niemand hat nur im mindesten sich gegen jenen Machtspruch öffentlich geregt. Also wird er nun ohne weitere Appellation in alle E w i g k e i t fort gelten, dachte ich; diesem Gedanken folgte bei mir eine Bewegung in der Gegend, wo der point d'honneur sitzt, dieser Bewegung ein gerechter Unwille, und diesem gerechten Unwillen endlich der Entschluß, dem der Leser dieses Büchelchen zu danken hat.

Die pointierten Schlüsse fügen sich der stilistischen Brillanz ein: man habe Kunkel Mangel an Bescheidenheit vorgeworfen. Da erinnere man sich des Satzes: La modestie devrait être la vertu de ceux à qui les autres manquent. Aber Kunkel hatte genug andere.

Noch eine andere, weiter gediehne polemisch-satirische Publikation etwa aus der gleichen Zeit, kam zu Lichtenbergs Lebzeiten nicht zum Druck, betitelt „Zwo Schriften, die Beurteilung betreffend, welche die theologische Fakultät zu Göttingen über eine Schrift des Herrn Senior Goetze gefällt und dem Druck übergeben hat. Herausgegeben von L. C. G. [die Anfangsbuchstaben von Lichtenbergs Namen in umgekehrter Reihenfolge] Candidatus Ministerii Hamburgensis" . 134 Im Inhalt und in der polemischen Haltung der erhaltenen Entwürfe ist er Lessing am nächsten gekommen, aber Lichtenberg ist artistischer, raffinierter in der Fiktion; einer der zwei Teile ist geprägt durch das die Schrift von Anfang bis Ende durchziehende Stilmittel großzügiger Ironie. Anläßlich des Erscheinens (1768) zweier von einem Bergedorfer Pfarrer, Schlosser, anonym geschriebener Lustspiele, war 1769 in Hamburg ein Druckschriftenstreit über die Zulässigkeit der Verfertigung von dramatischen Stücken und des Besuchs der Theater durch einen Pfarramtskandidaten ausgebrochen. Der Hamburger Hauptpastor J . Melchior Goeze ließ darauf, lange vor den Angriffen auf Lessing, eine theaterfeindliche „Theologische Untersuchung über die Sittlichkeit der heutigen deutschen Schaubühne..." und über die Stellung eines Geistlichen zum Theater erscheinen (Hamburg 1769) und ersuchte die Göttinger 134

Nachlaß, S. 19—51 und 2 0 0 — 2 0 4 , zum Teil wiederholt in Aphorismen, B 285 und 292. Leitzmann datiert die Arbeit, Nachlaß, S. 197, „in die letzten Monate des Jahres 1769 oder in den Anfang 1770" und bezeichnet die als B 285 und 292 abgedruckten Fragmente in der Anmerkung zu B 285 als „Vorstudien zu der ins J a h r 1770 fallenden Satire". Deneke schreibt diese ohne Begründung dem Sommer 1770 zu, B 285 und 292 dem Juli oder August (S. 124). D a B 259 dem November 1769 angehört, erscheint uns eine so späte Datierung als unbegründet.

Entwürfe und Fragmente: „Zwo Schriften"

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theologische Fakultät um ein Gutachten über sein Buch. Es wurde am 19. Oktober 1769 erlassen und sofort gedruckt; 135 laut Leitzmann ist es nichts andres als eine knappe Rekapitulation Goezescher Gedanken; alle [seine] Fragen wurden in seinem Sinne entschieden; eigenen Gedankengehalt muß man dem Schriftchen ganz und gar absprechen. Verfasser desselben war wahrscheinlich Professor Gottfried Less, der damalige Dekan der Fakultät. 136

So war es nicht einmal dem Anschein nach ein sachliches Gutachten und dazu durch und durch kunstfremd. Über Shakespeare sagt es: Selbst Shakespeares Stücke . . . sind . . . so voll Nationalhaß, von radibegierigen, dem sanften Geiste des Evangelii gerade widersprechenden Grundsätzen und Gesinnungen und so angefüllt mit geilen Bildern,. . . daß einem würklichen Freunde christlicher Tugend das Vergnügen über die andern, lehrreichen, ergötzenden Stellen gar zu sehr durch die Wehmut vergället w i r d . . . wenn so edle Gaben des Schöpfers . . . zu Waffen gemachet werden, sein Reich zu zerstören. 137

Eine andere Stelle behauptete, eine Zweideutigkeit wäre vor Gottes allmächtigem Gericht wie Mord oder Straßenraub anzusehen. Es war zweifelhaft, ob selbst vom rein theologischen Standpunkt diese H a l t u n g berechtigt w a r ; Lichtenberg notierte schon im Oktober, offenbar zur Verwertung in seiner Gegenschrift, aus Luthers Tischreden: Christen sollen Komödien nicht ganz und gar fliehen, darumb daß zuweilen grobe Zoten und Buhlerei darinnen sei, da man doch umb derselben willen auch die Bibel nicht dürfte lesen. 138

Leitzmann meint, Lichtenberg habe zwei Schriften geplant, von denen eine die Stellungnahme der Fakultät bekämpfend, die andere, sie von einem beschränkten theologischen Standpunkt verteidigend, „sich selbst ad absurdum führen" sollte. Diese Antikritik zitiert aber nur wenige Stellen der Kritik am Gutachten. Wir glauben deshalb, Lichtenberg habe die Absicht, zweier gegensätzlicher Streitschriften, deren zweite nicht ernst gemeint wäre, aufgegeben und statt ihrer die Kritik als scheinbare Zitate in die uns erhaltene Antikritik verwoben. 139 D a f ü r spricht Lichtenbergs Zusatz zum Titel: Das Werk [!] könnte auch heißen: Gründlicher Beweis, daß die neulich zu Hamburg herausgekommene Schrift würklich von der theologischen Fakultät sei . . .

Die H a u p t p u n k t e jener Teile, die meist ernst und männlich, oft voll aufklärerischer Leidenschaft, das Fakultätsgutachten angreifen, sind erstens: Die Fakultät gebe Urteile über Angelegenheiten ab, in denen sie nicht zuständig sei, nämlich in Dingen des Geschmackes. [ N u n eine Abbiegung ins Ironische und ein Lichtenbergscher Lieblingsgedanke:] Vermutlich sei also die theologische Fakultät zu Unrecht als Verfasser genannt; irgendein Philosoph habe doch wohl an dieser sein Gebiet angehenden Schrift mitgearbeitet. 135 136 137 138 139

Hamburg, bei J. Chr. Brandt, 1769. Es war nicht zu beschaffen. Nachlaß, S. 197 in Leitzmanns Geschichte des Streits, S. 196 ff. Zit. ib., S. 206. Lt. Nachlaß, S. 199. Nachlaß, S. 19, Note 1.

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Die meisten Theologen kennen den Menschen nur aus der Bibel oder andern theologischen Schriften, aus welchen ihn herauszufinden so weit, als er darin enthalten ist, die meisten nicht feine Kenntnisse genug besitzen (S. 36). Zweitens: Wer, anstatt sich selbst kennen zu lernen; moralische Versuche an sich selbst anzustellen, die hernach nützlich könnten gebraucht werden; anstatt den leichtesten Weg zur Ausrottung gewisser epidemischer Irrtümer durch Studium der Naturlehre des menschlichen Herzens zu suchen, immer den gelindesten W e g . .., wer, sage ich, anstatt dieses zu tun, mir bei jeder Gelegenheit mit der ewigen Flamme droht . . . den Bannstrahl auf die Komödie schleudert, den ehrlichen Racine und den Shakespeare senget, O, der tut — zwar keine Sünde, aber gewiß mit allem seinem guten und ehrlichen Herzen und Absichten etwas sehr Einfältiges und Vergebliches (S. 37). Lichtenberg sieht also den Fall nicht als den Konflikt zweier Meinungen, sondern als einen, in dem die Ethik des experimentierenden Wissenschaftlers dem ungeprüften Vorurteil entgegengesetzt wird. U n d : D a ß man vor Gottes allmächtigem Gericht eine Zweideutigkeit wie Mord oder Straßenraub ansieht, ist eine Fakultätsgrille, woran langes Sitzen, kränklidies Blut und kindische Ideen von G o t t . . . Ursache sind. Zweideutige Reden und Scherze, am unrechten O r t angebracht, . . . sind eine strafbare Untugend . . . Aber . . . der Mensch, der . . . da weiß, was sein Gott und was er ist, lächelt bei solchem Aberglauben . . . (S. 49 f.). Drittens: W e n n bezüglich Shakespeares gesagt werde, es sei „in der Rede eines gewissen Polonius" mehr Gutes gesagt als in einer ganzen Vorlesung über die Moral, so könne er das nicht beurteilen, weil er nicht genug Englisch verstehe (S. 51). Lichtenberg hatte sich gerade damals ein R e z e p t z u m Gebrauch der Ironie vorgemerkt: U m zu machen, daß man sich in einer einmal angefangenen Ironie erhält, ist es gleich von Anfang gut, dem Ganzen eine Hauptwendung zu geben, das Ganze kann eine Verteidigung eines an sich schlechten Dinges . . . sein, dieses muß nicht einen Augenblick aus dem Gesicht verloren werden, . . . Spott wird erhalten, wenn man . . . Dinge als bekannt annimmt, die allgemein widersprochen werden. Das Ganze muß ein angenommener Ernst sein . . , 140 In der Antikritik führte er dies mit Meisterschaft durch und es blieb lange Zeit sein Lieblingsmittel. Jean Paul lobte ihn dafür. D e r in seiner Beschränktheit und seinem Diensteifer gegen die Oberen köstlich gezeichnete Candidatus Hamburgensis

Ministerii

— G o e z e w a r ja Hamburgischer H a u p t p a s t o r — beweist, nie-

m a n d außer der Göttinger theologischen Fakultät könne das Gutachten geschrieben haben. Sein Titel sage ohnehin nicht mehr, als d a ß es sich um die Meinungen der Fakultät handle, sie seien nirgends e t w a als „Vernünftige Meinungen" bezeichnet. Geschmack sei für einen Theologen nicht nötig u n d Philosophie auch nicht. D e r Verfasser m ö g e sich hüten, mit einer theologischen Fakultät anzubinden, die, w e n n sie w o l l t e , Vergehungen gegen sie mit einem Federstrich z u Vergehungen gegen unsere geheiligte Religion machen könnte. 140

B 306.

E n t w ü r f e und F r a g m e n t e : „ Z w o Schriften"

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Dies ist ein Kerngedanke der „Zwo Schriften"; er schafft sich in der Wortbildung „dieser böse und theologenvergessene Mensch" Sprachgestalt. Die durchdachte Einheitlichkeit der Anschauung schafft der Ironie hier Größe, auch dort, wo sie, in satirischer Verfälschung und befangener Selbsttäuschung, für den Leser selbst in ironische Beleuchtung gerät: Im Verschweigen, daß es dem Gutachten ja gar nicht um ästhetische Urteile geht, sondern um ethische, und im Ubersehen, daß diese einander widersprechen können. Der Mangel an Gewissenhaftigkeit im Ethischen aber, mit dem das Gutachten sich durch die unkritische Wiedergabe der Goezeschen Gedanken belastete, die überflüssigen Urteile über rein ästhetische Dinge, die es als unerheblich hätte außer acht lassen dürfen, und seine Maßlosigkeit auch im Theologischen können mit jener Befangenheit versöhnen. Die zwei Schriften lassen sich durchaus von der Ideologie der Aufklärung beherrschen, aber in einer kritischen und maßvollen Art, welche, fest in der Überzeugung, taktvoll im Vorbringen, Christlichkeit von der Theologie, und gute Theologie von der der Göttinger Fakultät zu trennen sucht. Diese war in ihrer Unbedeutendheit ein beliebter Gegenstand des Spottes in Göttingen. Die Ironie gegen die Verfasser bewegt sich auf allen Stufen von der flüchtigen Anspielung und dem sprachlichen Doppelsinn bis zu aggressivem Hohn, bewahrt dabei aber immer Geist. Von einem systematischen Aufbau ist keine Rede, eine Fülle von Hilfsgedanken und Einfällen, anmutig miteinander verknüpft, umranken die drei Hauptthesen. Rein schriftstellerisch betrachtet, ist Lichtenberg hier schon auf eine hohe Stufe gelangt; der pedantisch-hämische oder schimpfende Gelehrtenton, der die Polemiken jener Zeit beherrscht, wird nirgends laut. Die lächelnde Überlegenheit wird hier das erste Mal in Lichtenbergs Werk Grundhaltung, von ihr hebt sich da und dort umso wirkungsvoller sachliches Pathos ab, zutiefst nicht als Gegensatz, sondern als Steigerung. Auch diese Schriftengruppe, anscheinend unmittelbar vor dem Abschluß, blieb unvollendet. — In jener Zeit blickt Lichtenberg einmal auf seine vielen literarischen Pläne zurück, die sich alle um Satire und Menschenkunde drehen, und gibt den allgemein politischen, den kirchenpolitischen und den sozialen Verhältnissen schuld daran, daß er sie nicht verwirklichte: . . . [(gestrichen:) anno 1763] in diesem Frühling f ü r die deutsche Literatur, w o so viele D i n g e keimten, die jetzo groß und stark sind, da keimten auch auf meinem Schreibpult allerlei Gedanken, Pläne zu E n t w ü r f e n und Projekte zu Projekten, aber ich habe sie nie aufgestellt, sie sind alle verdorrt . . . Wenn mir jemand die Prozeßkosten bezahlen wollte — dann . . . wollte ich einmal eine Satire schreiben. Schleichhandel mit der Wahrheit zu treiben, d a z u ist meine Stirne zu offen und zu deutsch . . . (Anm. B 110.)

Einen großen Teil eines freimütigen Manuskriptes müsse der Autor aus Rücksichten auf Obrigkeiten, Kirche und einflußreiche Personen wieder streichen: . . . A m E n d e bleibt dem V e r f a s s e r ein kaltes unschmackhaftes D i n g , ein Caput mortuum von einer Satire übrig, das kein Mensch mehr auf sich deutet und deuten kann, der nur über 200 T a l e r Besoldung hat und was ist das f ü r eine Satire, die schon da aufhört, wenn alle N a r r e n in der Welt nur eine Macht von 200 Talern hätten; die

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rechte sollte noch um 800 Taler höher anfangen. [In seinem Pult mögen diese satirischen Schriften] liegen, libri unici auf meine Lebenszeit, und dann mögen sie, in ihrer natürlichen Gestalt erscheinen . . . (ib.). Lichtenberg w a r überängstlich. Rabener hatte in seinen Artikeln „Versuch eines deutschen Wörterbuchs" und „Beitrag zum deutschen Wörterbuch" neben schlechten Klerikern Monarchen, den Adel, Behörden und Gelehrte seiner Satire u n t e r w o r f e n und w a r unbehelligt geblieben. Lichtenberg ahmte nun' 4 1 in seinen drei „Beiträgen zu Rabeners Wörterbuch" — Aber, Afterreden, Instinkt — z w a r dessen Form nach, in schärferem Ton, n a h m sich aber außer den Geistlichen nur allgemein menschliche u n d sittengeschichtliche Erscheinungen z u m Ziel. K o n n t e n auch Sorgen um seine Existenz u n d Karriere Lichtenberg gewiß von mandier Veröffentlichung abhalten, so waren doch offenbar letzten Endes seine Eigenart, das unabschließbare Herbeiströmen der Einfälle, die geringe Fähigkeit zur Komposition, das Analysieren jedes einzelnen Einfalles d a r a n schuld, d a ß so wenig fertig wurde. A u d i w a r er nicht eitel, u n d so sehr ihm das Schreiben Bedürfnis w a r , so wenig das Gedrucktwerden. Z u diesen allgemeineren G r ü n d e n f ü r den Abbruch der „Zwo Schriften" k n a p p vor der Vollendung k a m wohl noch ein besonderer hinzu: Die Abreise nach England im F r ü h j a h r 1770.

141

Etwa zwei Jahre nach den „Zwo Schriften". (Vgl. Leitzmanns Datierung, Nachlaß, S. 210. Die Art des Humors macht uns das frühestmögliche Datum, Ende 1770, am wahrscheinlichsten.)

II. K A P I T E L

Entfaltung, Krise, Klärung I. Erster

Weltblick:

England

A m 25. März ging Lichtenberg mit den seiner O b h u t anvertrauten beiden jungen englischen Adeligen auf die lang geplante erste größere Reise seines Lebens, und seine so überaus lebendige Bereitschaft, neue Eindrücke a u f z u n e h men und auch aus den geringsten v o n ihnen Fragen, theoretische Folgerungen und praktische A n w e n d u n g e n zu ziehen, sah sich nun einer unaufhörlich eindringenden Fülle gegenüber. In den z w e i Wochen bis zur Überfahrt v o n H a r wich ist er durch H a n n o v e r und Osnabrück, Deventer, Utrecht, Leyden, den H a a g und Scheveningen hindurchgekommen, hat er, soweit die Zeit es zuließ, mit seiner nimmermüden Aufmerksamkeit Kunstsammlungen und wissenschaftliche Institute besichtigt und überall Sonderbarkeiten des Alltags und A b w e i chungen v o n heimatlichen Gebräuchen erspäht. Sie werden ihm sogleich Gegenstände kindlicher Freude und eindringender Deutung. D i e kleinsten Vorgänge setzen den g a n z e n typisch Lichtenbergischen Denkmechanismus in B e w e g u n g : Er hat im ersten holländischen D o r f drei Mägde im Hause bemerkt, die in den zwei Stunden, die ich da war, nicht das mindeste taten, das zu etwas anders als der bloßen Reinlichkeit gehört hätte. [Schon eine sachliche Kuriosität!] Es ist aber verdrüßlich zu sehen, wie Leute gleichsam mit ihrer Reinlichkeit geizen, immer putzen und diese Reinlichkeit nie genießen [Die Kuriosität gewinnt ihm psychologisches Interesse ab] oder gar deswegen selbst äußerst dreckigt sind [sie wird zum Paradoxon], ich habe dieses öfters gefunden. [Der Einzelfall erweitert sich zu einer allgemeinen Erscheinung.] Einer so sinnlichen Nation ist dieses endlich zu verzeihen. [Die Erscheinung wird analysiert und eine Sonderart seelischer Konstitution als Grundlage gefunden.] Ein Fremder muß einen Holländer von niederm Rang allemal als einen Betrüger behandeln [Praktischer Ratschlag], bis er vom Gegenteil überzeugt wird [Selbstkritische Warnung vor Verallgemeinerung],... zum Unglück heißt in Holland dasjenige öfters erlaubter Profit, was alle übrige christliche Nationen Beutelschneiderei und Betrügerei heißen [Versuch einer allgemeinen Erklärung durch völkerpsychologische Betrachtungsweise]. 1 E t w a s w i e Rührung ergreift den Physiker bei der Durchreise durch Leyden, berühmt als Stätte naturwissenschaftlicher Forschung: Ich ließ mich wecken und es war ein seltsamer Zustand, durch eine so berühmte Stadt durchzufahren, ohne etwas mehr davon zu sehen als die Gipfel der Häuser gegen 1

Nachlaß, S. 138 f.

Erster Weltblick: England

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den etwas hellen Himmel, doch hörte ich ein Glockenspiel, und so war ich in Leyden,

Lugduni

Batavorum.

Größere Verhältnisse und Erscheinungen, als er sie bisher kannte, treten in dichterer Folge an ihn h e r a n : D e r reiche, schöne H a a g , w o er leben würde, wenn er leben könnte, wo er wollte, in Scheveningen das Meer, groß und majestätisch. Sechzehn J a h r e später berichtet er mit Worten, die an Stifters Schilderung des Blicks von den H ö h e n bei Triest erinnern, von der erschütternden W i r k u n g jenes Ausblicks, die alles Rationale in ihm hinwegschwemmt: Etwas Größeres habe ich nie gesehen. Das Unaufhaltsame im Ganzen, die menschliche Verwegenheit und der Geist, der sich hierin zeigt, verbunden mit dem Donner der Wogen, denn es ist ein wahrer Donner, was man aus der Ferne hört, haben mir in Wahrheit Tränen, ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll, der Andacht, des Entzückens oder der Demütigung vor dem großen Urheber ausgepreßt (ib., S. 261).

Auf der Ü b e r f a h r t nach England bricht ein Sturm los, und erst nach zwei Tagen und Nächten landet Lichtenberg in Harwich. A m 10. April trifft er in London ein. Die Stadt sollte seine so vielfach vorbereitete Erkenntnis von der Kleinheit und Kleinlichkeit der Umstände, in denen er bisher gelebt hatte, reifen lassen, und das auf die vielfachste Weise. Sein Reisetagebuch bricht mit dem Tag der A n kunft in L o n d o n ab u n d auch die Gedankenbücher bleiben w ä h r e n d des A u f enthaltes in England leer. D e r Ansturm des Neuen ist zu stark. Aber aus drei langen, lebendigen u n d amüsanten Briefen an seine Gönner, die Professoren Kästner und H e y n e , und an seinen Freund, den Verleger Dieterich, ersteht farbig und reich an Detail das Bild Londons und Londoner Lebens, wie es sich in seinem Geiste formte. Eine Woche nach seiner A n k u n f t „in dieser ungeheuern S t a d t " berichtet er: Ich . . . lebe noch jetzo würklich in einer solchen Verwirrung, daß ich mich, da ich sonst mit kleinen Stadtneuigkeiten Bogen anfüllen könnte, in großer Verlegenheit befinde, aus London und aus dem Wust von Dingen, die ich sagen könnte, soviel klar zu bekommen, als zu einem kleinen Brief nötig ist. 2

Das Erlebnis „ L o n d o n " , das ihn w a h r h a f t überwältigte, wirkte auf ihn durch jene Momente, die noch auf so viele Besucher der Weltstadt nach ihm ihre Macht ausgeübt h a b e n : Durch die riesenhaften Dimensionen und Q u a n t i t ä t e n , die sinnvoll waren als Ausdruck eines über die Meere hinwegschweifenden Denkens, eines Verwaltens ungeheurer Schätze, als eine Selbstdarstellung von Macht, Selbstbewußtsein u n d Herrschertum. Lichtenberg, dem jede sonderbare, jede neuartige Erscheinung, ob Ding, ob Mensch, lebhafteste Teilnahme erweckt, ist nun umgeben von einer Fülle der außergewöhnlichsten Eindrücke. Er, dem schon anläßlich des Banalen die subtilsten und weitestführenden Gedankengänge k o m men, der so viel übrig hat f ü r die geschichtliche oder symbolische Aura eines jeden Gegenstandes der Welt oder der N a t u r , sieht im Lauf einer Woche die See, etliche Kriegsschiffe von 74 Kanonen, den König von Engelland in seiner ganzen Herrlichkeit mit der Krone auf dem H a u p t im Parlamentshaus, Westmünsters 2

An Heyne, 17. April 1770; Br. I, S. 5.

London

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Abtei mit den berühmten Gräbern, die Paulskirche, den L o r d M a y o r in einem großen Aufzug und unter dem G e d r ä n g e von vielen Tausenden, die alle huzza, God bless bim, . . . schrien (ib.).

Wie ein Märchenland erscheint ihm London, und besonders haben es ihm die Prinzessinnen dieser Märchenwelt angetan. Sonst schreibe er nicht gern von Frauenzimmern, es sei denn an ihnen etwas Außerordentliches; hier treffe dies z u : Ich habe in meinem Leben sehr viele schöne F r a u e n z i m m e r gesehen, aber seitdem ich in Engelland bin, habe ich mehrere gesehen als in meinem ganzen übrigen Leben zusammengenommen, und doch bin ich nur 1 0 T a g e in Engelland. 3

Und mit W i t z und Schwärmerei geht es noch ein p a a r Seiten über dieses T h e m a weiter. D a versteht es sich von selbst, daß auch Benehmen und Kleidung weit erhaben sind über alles, was er aus seiner H e i m a t kennt. U n d wie Lichtenbergs U m w e l t in die Breite und in die H ö h e wuchs, wie die ihn umgebenden Lebensformen aus kleinstädtischen weltmännische wurden, selbst im Gehaben seiner Aufwärterin, so w a r seine eigene Stellung im sozialen Getriebe nun völlig anders geworden, so mußte er sich aber auch widerwillig den ihm ungemäßen Lebensformen seiner neuen Umgebung anpassen. I n G ö t t i n gen in gedrückter Stellung lebend, gereizt über den Hochmut der Adeligen, w a r er hier als Mitglied der in England berühmten Göttinger Universität der angesehne Gelehrte, wurde in die Kreise der V ä t e r seiner bisherigen Zöglinge



Lord Boston und Admiral S w a n t o n — eingeführt, wohnte bei diesem, wurde vom berühmten Lord Marchmont auf seiner Stube besucht, Ereignisse, die er als durchaus unerwartet in seinen Briefen berichtet. Als Beauftragter Kästners erstattete er dem König Georg I I I . — der selbst in Astronomie dilettierte — persönlich Bericht über die Beobachtungen des Venusdurchganges in Göttingen, und der K ö n i g sandte Botschaft in seine Wohnung, er habe den H o f a s t r o n o m e n besondere O r d r e erteilt, ihm in seiner Privatsternwarte „alles genau zu zeigen". Teilt Liditenberg dies auch triumphierend in einer Nachschrift an Dieterich mit, so offenbart sich sonst in den Briefen aus England doch wieder sein völliger Mangel an Eitelkeit und sein klarer Blick für die ihm angeborene Eigenart und seine wirklichen Bedürfnisse. D a ß all das auf ein M a l auf ihn eindringt, sei für eine so eingezogene Seele wie die seinige eben das, was für seinen K ö r p e r eine Woche von Doktorschmäusen und Hochzeitsfesten ohne R u h e und ohne Schlaf sein würde. K ö n n t e er sich an das häufige Umkleiden, das üppige Speisen in großen Gesellschaften und die ganze Lebensart gewöhnen oder gar an ihr G e fallen finden, so wäre dies sein Verderben. „Ich wünschte gerne, hier zu bleiben", aber nur in völlig anderen Umständen, wenn ich mehr für mich und niedriger leben könnte, wenn ich gleich dieses Glück mit Verrichtungen erkaufen sollte, denen ich mich zu H a u s e nicht unterziehen w ü r d e . . . aber ich getraue mir keinen solchen Vorschlag zu tun, weil ich gewiß dadurch den alten ehrlichen L o r d Boston äußerst beleidigen w ü r d e . . . 4

3 4

A n Dieterich, 19. April 1 7 7 0 ; B r I, S. 12. A n H e y n e , 17. April 1 7 7 0 ; Br. I, S. 6.

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Göttingen (1770—1771); Professor Extraord.

Welche Möglichkeiten hätte hier der Satiriker gehabt, der sich daheim so oft darüber beklagt hatte, daß er nicht wagen dürfte, gegen die bevorrechteten Stände zu schreiben: Es kommt seit einiger Zeit hier ein Blatt heraus, der Whisperer, das wieder voller Schmähungen gegen die Regierung und den König ist, man macht sich aber hier nicht viel daraus. 5

Noch ein anderer Vorfall gibt ihm eine Vorstellung von englischer politischer Freiheit: Einmal gerät er, in einer Hof kutsche sitzend, in eine Straßendemonstration zur Feier der von den Massen geforderten Entlassung des „Volkstribunen" John Wilkes aus dem Gefängnis. Die Leute sahen Lichtenberg freundlich ins Gesicht und schrien .. . Wilkes and liberty, huzza und gingen, ohne uns nur das mindeste zuleide zu tun, weiter. Was für Gesichter ich da gesehn habe, läßt sich unmöglich beschreiben, halbnackende Männer und Weiber, Kinder, Kaminfeger, Kesselflicker, Mohren und Gelehrte, Fischweiber und Frauenzimmer in großen Staat, alles war in sich selbst vergnügt. 6

und Wilkes „nimmt es als ausgemacht an, daß er Mitglied vom Parlament ist und wird ehestens seinen Sitz nehmen wollen". 7 Innerhalb eines Monats waren die festlichen Tage in England um. Über die Rückreise fehlt jede Nachricht. Am 15. Juni, in Göttingen, setzen die TagebuchEintragungen wieder ein. II. Wieder

in Göttingen

(1770—1771)

Professor Extraordinarius Mittlerweile war Kästner f ü r seinen Schützling eifrig tätig gewesen, und am 8. Juni hatte das Hannoversche Universitätskuratorium dem König seine Ernennung zum außerordentlichen Professor f ü r reine und angewandte Mathematik vorgeschlagen. Neben seinen astronomischen Verdiensten wird hervorgehoben, daß er den in Göttingen studierenden Engländern gute Förderung leiste und sich bereit erklärt habe, die Stelle mit einem Gehalt von 200 Reichstalern anzunehmen, obwohl er schon die Berufung nach Gießen als Ordinarius mit 400 Reichstalern in der Tasche habe. 8 Am 19. Juni bestätigte der König die Ernennung, sich des Professors als eines Mannes „von viel Geschicklichkeit" erinnernd und befriedigt, daß er „bewogen worden ist, sein bisheriges Engagement zu verlassen". Lichtenberg erhielt sie am 30. Juni; er ließ die ahnungslose Universität Gießen weiter auf das Eintreffen ihres neuen Ordinarius warten. Mehr als ein halbes J a h r später, im Februar 1771, befahl man ihm von dort, zu seiner Pflicht zurückzukehren, unternahm auch in H a n n o v e r Schritte, ihn zurückzugewinnen. Sie hatten keinen Erfolg. Lichtenberg verblieb im Verbände der Universität Göttingen bis an sein Lebensende. 5 7 8

6 Ib., S. 7. Ib., S. 8. A n Dieterich, 19. April, Br. I, S. 13. Gött. Kuratorial-Akten, Lichtenberg, 8. Juni 1770. Abdruck bei Hahn, Anm. 22.

Mathematik und Natur

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Er machte sich sogleich an die Ausarbeitung einer mathematischen Abhandlung, „Programm" in der Universitätssprache jener Zeit genannt, vergleichbar im Wesen unseren Antrittsvorlesungen. So streng mathematisch auch das Thema angesehen werden kann, „Betrachtungen über einige Methoden, eine gewisse Schwierigkeit in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit beim Spiel zu heben" (1770) und so eifrig erörtert es in der mathematischen Literatur jener Zeit war, 9 so können wir doch in seiner Wahl typisch Lichtenbergische Eigenschaften erkennen: Die Vorliebe f ü r die Konfrontierung des abstrakten Denkens mit der Erfahrung und den H a n g zum Kuriosen. Die bisherigen Erwägungen über das fachliche Problem hatten durch Einsetzung neuer Größen in die Formeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung der Schwierigkeit beizukommen gesucht, daß das rein mathematische Ergebnis mit der Erfahrung und dem Verhalten des gesunden Menschenverstandes gar nicht übereinstimmte. Lichtenberg tritt in den Streit der Meinungen mit einer bisher „noch nicht eingeführten Waffe: dem [statistischen] Experiment", einem Verfahren, das seiner N a t u r und Denkweise am meisten lag. Von der bis heute von Mathematikern immer wieder behandelten Frage wird aber Lichtenberg zu einer anderen, ihm viel wichtigeren geführt: Zum Verhältnis zwischen Mathematik und N a t u r . Die Unstimmigkeit zwischen den Schlüssen des Mathematikers und der Wirklichkeit habe ihre Ursache darin, daß der Mathematiker sich von dieser Welt eine eigne [abstrahiert], von welcher er die Gesetzbücher gleichsam selbst in Händen hat; keine Kraft kann in derselben wirken, ehe er sie selbst hineinlegt; er weiß, was überall geschieht, und seinen Formeln liest er Weissagungen ab. 10

Aber nur die allgemeinsten Gesetze sind entdeckt und das ganze System von Kräften, beherrscht von „dem, der allein die Gesetzestafeln dieses Ganzen in seiner allmächtigen H a n d hält", ist uns noch völlig fremd. So könne, was innerhalb der mathematischen Welt stimme, in der Wirklichkeit versagen. Aufgabe des Mathematikers sei es daher, möglichst viele solche Abweichungen aufzufinden, um der Gültigkeit der mathematisch fundierten Sätze die nötige Einschränkung aufzuerlegen oder aber sein System um ein Stück dem der N a t u r anzunähern. 1 1 Was sich in Lichtenbergs Betrachtungen der alltäglichsten Dinge abspielt, ereignet sich hier anläßlich der Behandlung eines mathematischen Problems: D a ß das grundsätzliche Denken zwar im Besonderen auf Allgemeinstes lossteuert, aber mit der Überzeugung im Hintergrund, daß eine genauere Kenntnis der Wirklichkeit zur Korrektur der bisherigen oder zur Aufstellung neuer abstrakter Sätze führen werde. Hier berührt sich in den Wurzeln Lichtenbergs Forschungs9

Als das „Petersburger Problem". Wir referieren das rein Mathematische nadi Hahn, S. 10 ff. i* PhM, IV, S. 4. 11 Hahn, S. 14.

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Göttingen (1770—1771)

drang und Fortschrittsglaube mit dem empiristischen Credo der Aufklärung. Vielleicht aber ist auch von hier aus zu verstehen, warum er einen wissenschaftlichen Plan, der durch jahrzehntelange Mühe in den neunziger Jahren völlig ausgereift war, nie ausführte: sein eigenes Kompendium der Physik zu schreiben. Auf zwei mathematische Kollegs im Wintersemester 1770/71 läßt Lichtenberg in den beiden folgenden Semestern je ein mathematisches und ein astronomisches folgen. Der Astronomie gehörte seine besondere Neigung und Fähigkeit. Mit einigen diplomatischen Künsten gelang es dem Universitätskuratorium, die Eitelkeit und Eifersucht Kästners, des Ordinarius und Direktors der Sternwarte, zu umgehen und, wie es schon zur Zeit der Anstellung Lichtenbergs geplant war, seinen jüngeren Kollegen allmählich zum eigentlichen Universitätsastronomen zu machen. (Es war ein offenes Geheimnis, daß Kästner als praktischer Astronom sich nicht auszeichnete. Er blieb dem N a m e n nach Direktor.) Lichtenberg kam hierbei sein mechanisches Geschick zugute, wie ja in allem und jedem die Gleichzeitigkeit abstrakten Denkens mit Wirklichkeitsnähe f ü r sein Denken und Tun kennzeichnend ist. Er begann auch sogleich den Ausbau seiner astronomischen und physikalischen Instrumentensammlung und setzte ihn jahrzehntelang mit Anspannung seiner persönlichen finanziellen Mittel fort. Ihr gehörte seine Liebe. Sie machte noch im 19. Jhdt. das Physikalische Institut der Universität Göttingen berühmt. Drei Berichte in den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen von 1770 und 1771 über zwei zum Teil von Lichtenberg unter Mitwirkung Anderer entdeckte und wiederentdeckte Kometen, 12 halfen dazu, seinen Namen in Fachkreisen bekannt werden zu lassen. Ein Aufsatz im Hannoverschen Magazin vom 18. Oktober 1771 über „Elemente der partialen Mondsfinsternis .. ,"13 sind ein frühes Beispiel f ü r Lichtenbergs unermüdliche Bemühungen, durchaus im Sinne der Zeit, Wissenschaft allgemein verständlich zu machen. Der Artikel ist mit dem Wohlwollen, dem Lehreifer und Bemühen, sich in den Geist des Lesers hineinzuversetzen, aber auch der eigenen Freude am Experiment und an der N a t u r geschrieben, die es verständlich machen, warum Lichtenberg als akademischer Lehrer so beliebt wurde. So wuchs er allmählich in den wissenschaftlichen Betrieb und die Fakultät hinein und wurde durchreisenden ausländischen Astronomen bekannt. Seine besten Freunde wurden sein ehemaliger Lehrer, Professor Albrecht Meister, der Universitätszeichenmeister und AmateurAstronom Paul Kaltenhofer — Lichtenberg, von jeher ein begabter Zeichner, hatte bei ihm Unterricht genommen —, der Buchhändler Dieterich und seine Frau Christiane. Auch mit Christian Boie entwickelten sich freundschaftlichgesellige Beziehungen, obwohl Lichtenberg ihn nicht ganz ernst nahm. Mit Boies Freundeskreis, aus dem 1772 der „ H a i n " hervorgegangen war, wollte er nichts zu tun haben. Trotz der äußerlich befriedigenden Umstände hatten die Zurückversetzung in die Kleinstadtatmosphäre, der Weggang seiner Studienfreunde von der UniDeus sive NaturaElas (Keras Amaltheias) 8 f. Kolleg-Notizen, Kompendium 17, 25, 29; 320, 355 f., 372, 439, 446 und passim Künsteleien der Menschen an Bildung ihres Körpers 202 Kulenkamp 30 Kunkel, Jonas 28, 52 ff., 69, 73, 108, 121, 257 Lexidion f ü r junge Studenten 50 f. Lieutenant Greatraks 308, 459 Das Luftbad 386, 402 f. Merkwürdige Begebenheiten und Gebräuche 283 Nachricht von dem ersten Blitzableiter 246 Nachricht von einer W a l l r a t h f a b r i k 398 Naturgeschichte der Stubenfliege 308 f. Natürliche und affektierte Handlungen 205—208 Ein neuer Damenanzug, vermutlich in Indien 20; 405 N e u e Erfindungen, Moden . . . und andere Merkwürdigkeiten 259, 310 Das Neueste von der Sonne 383 f. Neuigkeiten vom Himmel 374 f. Nikolaus Kopernikus 356, 363 f., 385, 390, 424, 429 f., 434 Noch ein W o r t über H e r r n Ziehens Weissagungen 265 Orbis Pictus 147, 205, 253, 255 ff., 276, 279, 331 P. Jaquet D r o z und H . E. Jaquet D r o z Vater und Sohn 282 Paracletor, Parakletor 108, 146, 178, 424 f. Patriotischer Beitrag zur Methyologie der Deutschen 69, 82 Philosophische Betrachtung über das Aufschieben 237 Die Physiognomen 146, 179, 197 Pinik 68 f., 82 Postwagensatire 145 f. Preisaufgabe der Königlichen Sozietät der Wissenschaften f ü r 1794 356, 370 Preisverzeichnis von südländischen Kunstsachen und Naturalien 283 Probe sonderbarer Verschwendung aus den Ritterzeiten 202 Proben seltsamen Aberglaubens 283 Proben seltsamen Appetits 283 Prof. Lichtenbergs Anmerkungen über einen Aufsatz des H r n . Tiberius Cavallo . . . 274 Prof. Lichtenbergs A n t w o r t auf das Sendschreiben eines Ungenannten über die Schwärmerei unserer Zeiten 264, 266 Prof. Lichtenbergs Bemerkungen über vorstehende Abhandlung, in einem Sendschreiben an den Verfasser, H e r n . H o f r . Ebell zu H a n n o v e r 274 Prof. Lichtenberg an H r n . Dr. Erxleben 271 Prof. Lichtenberg an H r n . Prof. Georg Forster 274 Protokoll des Sekretärs der Königl. Sozietät der Wissenschaften zu London (Obersetzung) 271 Rede der Ziffer 8, am jüngsten Tage des 1798sten Jahres im großen R a t der Ziffern gehalten 21, 35; 386, 406—409, 411, 413 Rede eines Menschen, der sich aus Verzweiflung, weil ihn ein Mädchen nicht erhört, kastrieren will 65 f. Rede über Kunkel s. „Kunkel" Die Reisen meines Onkels 95

Personen- und Titelverzeichnis

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Rezensionen: Archenholz, England und Italien 292, 303 de Luc, Idées sur la Météorologie 303 Morgan, An examination of Dr. C r a w f o r d ' s theory of heat and combustion 241 Priestly, Experiments and Observations relating to various branches of natural philosophy with a continuation of the observations of air 241 St. Fond, Première suite de la description des expériences aérostatiques de MM. de Montgolfier . . . 303 Schreiben Caspar Photorins an einige Journalisten in Deutschland 94; s. auch „Conrad Photorin . . ." Schreiben an einen Freund (Versepistel) 50 Schreiben an H e r r n Werner in Gießen, die Newtonische Theorie vom Licht betreffend 316 ff. Seltsame Moden und Gebräuche 202 Simple jedoch authentische Relation von den curieusen schwimmenden Batterien . . . 273 Timorus 85-88, 92 ff., 100, 146, 153, 176, 179, 182, 398 T o bäh or not to bäh (Voß) 23; 258, 260—264, 444 Ein T r a u m 35; 386, 398—401 Ein T r a u m wie viele Träume s. „ D a ß du auf dem Blocksberge wärst" Trostgründe f ü r die Unglücklichen, die am 29sten Februar geboren sind 412 ff. Über Ernährung, Kochen und Kost-Sparkunst 357 Ober das Fortrücken unseres Sonnensystems 304 f. Über Gemütsfarben s. „Verschiedene Arten . . ." Über das Gleichgewicht der Wissenschaften in Deutschland 67 Über H r n . Vossens Verteidigung gegen mich im März/Lenzmonat des deutschen Museums 1782 . . . s. „To bäh or not to bäh" Über die Kopfzeuge, Eine Apologie f ü r die Frauenzimmermoden 282 Über die Macht der Liebe 219 f. Über die neuerlich in Frankreich angestellten Versuche, große hohle Körper in der Luft aufsteigen zu machen, und damit Lasten auf eine große H ö h e zu heben 268 Über den neulichen Erdfall zu Winzingerode 356 Über Physiognomik und am E n d e . . . (1777) 163, 184-190, 197, 200 f., 241, 326 und passim Über Physiognomik wider die Physiognomen . . . (1778) 4; 163, 191—193 und passim Über die Pronunziation der Schöpse des alten Griechenland. . . 258-264 Über das Spiel mit den künstlich verflochtenen Ringen 31 Über die Vornamen 202 Über wahre Philosophie und philosophische Schwärmerei 4 Über das Weltgebäude 200, 277 ff. Uber wichtige Pflichten gegen die Augen 363 Vergleichung der Ausmaße der St. Peters Kirche in Rom mit der St. Pauls Kathedrale in London 203 f. Vergleichung der Malerei auf einem Schmetterlingsflügel mit einem Meisterstück in mosaischer Arbeit 281 Vermählungsfeier eines Zwergenpaars 283 Vermischte Anmerkungen . . . f ü r Physik und Mathematik 439 Vermischte Einfälle . . . 439 Vermischte Gedanken über die aerostatischen Maschinen 268 f. Verschiedene Arten von Gemütsfarben 20; 427 ff., 431

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Personen- und Titelverzeichnis

Versuch über den Menschen 71 Verteidigung des Hygrometers und der de Lüc'schen Theorie vom Regen 353, 356 ff., 363, 370 Von der Ä o l u s - H a r f e 412 Von den Charakteren in der Geschichte 26—31 Von den Kriegs- und Fastschulen der Schinesen, nebst einigen anderen Neuigkeiten von daher 35; 386, 403 Von dem neuen Planeten 279 Von dem N u t z e n der Mathematik 31, 49 Von Tieren als Wetterpropheten 202 Vorbericht 272 Vorschlag zu einem Orbis pictus s. „Orbis Pictus" Voß-Polemik 258—264; s. auch „Voß" im Personenverzeichnis, „To bäh or not to b ä h " und passim W a r u m hat Deutschland noch kein größeres öffentliches Seebad? 34; 201, 386, 401 ff. Was Schiffsziehen in Ungern f ü r eine Strafe sei 310 Wider Physiognostik, Eine Apologie 195 f.; s. auch „Über die Physiognomik" William Crotch, das musikalische Wunderkind 253, 281 f.; s. auch „Protokoll des Sekretärs . . ." Wirkung der Musik auf einige Tiere 202 Zubereitung des Eises in Indien 203 Z w o Schriften, die Beurteilung betreffend, welche die theologische Fakultät zu Göttingen . . . 5 4 - 5 8

Goethe

Begegnungen und Gespräche H e r a u s g e g e b e n v o n ERNST GRUMACH u n d RENATE GRUMACH 12 B ä n d e T e x t und 3 Bände mit Quellenverzeichnis, Register und Anmerkungen G r o ß - O k t a v . Ganzleinen I. 1 7 4 9 — 1 7 7 6 . X V I I I , 511 Seiten. 1965. D M 6 2 , — I I . 1 7 7 7 — 1 7 8 5 . I V , 596 Seiten. 1966.

DM78,—

In diesem W e r k hat sich ein erheblicher Zuwachs an Gesprächen gegenüber den bisherigen Ausgaben ergeben. Es sind auch bisher unpublizierte und unbekannte handschriftliche Quellen zum erstenmal verwertet worden. Manchen mag es überraschen, in dem W e r k nicht nur Gespräche in engerem Sinne des Wortes zu finden, sondern auch Berichte über Goethes Begegnungen. Aber gerade dadurch ist das W e r k zugleich eine Chronik von Goethes Leben geworden, und w e r es liest, empfängt ein umfassenderes Bild von Goethes U m g a n g mit Menschen, seinem Miteinandersein mit Andern und seinem Verflochtensein in die Bezüge seiner U m w e l t . Sender Freies Berlin

Der junge Goethe H e r a u s g e g e b e n v o n HANNA FISCHER-LAMBERG Neubearbeitete Ausgabe in 5 Bänden G r o ß - O k t a v . Ganzleinen I. August 1 7 4 9 — M ä r z 1770. X , 5 1 9 Seiten. 1963. D M 3 8 , — I I . April 1 7 7 0 — S e p t e m b e r 1772. I V , 3 6 5 Seiten. 1963. D M 3 0 , — I I I . September 1 7 7 2 — D e z e m b e r 1 7 7 3 . I V , 4 8 9 Seiten. 1965. D M 4 8 , — I V . J a n u a r — D e z e m b e r 1774. I m Druck D a s W e r k stellt die umfassendste Studie dar, die wir zu diesem fesselnden T h e m a besitzen. M i t außerordentlichem Fleiß, bewunderungswürdigem Spürsinn und großer Übersicht trug die Verfasserin zum T e i l unbekanntes M a t e r i a l zusammen. Auch die Sekundärliteratur ist nahezu vollständig vertreten. Mitteilungsblatt des allgemeinen deutschen Neuphilologenverbandes

Goethes Gedankenform V o n FRANZ KOCH O k t a v . V I I I , 2 9 5 Seiten. 1967. Ganzleinen D M 4 8 , — V o n sieben verschiedenen Standpunkten aus überschaut der Blick das gesamte Lebenswerk Goethes, sein Dichten und Denken, Forschen und Versuchen, seine naturwissenschaftlichen Bemühungen, seine ästhetischen Einsichten, sein Geschichtsverständnis, sein Bemühen um die Synthese von N a t u r und Kunst, die Widersprüchlichkeit in der doch sinnvollen Einheit, das Dauernde im Wechsel. Audi dabei erweist sich das Geniale in Goethes Denken und T u n , als das im Grunde Einfädle, Gemäße. V o n solchen immanenten Kriterien her offenbart sich die Geschlossenheit und V i e l f a l t , die dynamische Statik der Goetheschen W e l t , wenn sie wie hier als das P r o d u k t einer von A n f a n g an polar angelegten D e n k f o r m — Goethe sagt „ G e d a n k e n f o r m " gesehen wird — , als „geprägte F o r m , die lebend sich entwickelt".

"Walter de Gruyter & Co • Berlin 30