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German Pages 194 Year 2000
GERHARD SEHER
Liberalismus und Strafe
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Heinrich Dömer Dr. Dirk Ehlers Dr. Jürgen Welp
Band 135
Liberalismus und Strafe Zur Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
Von
Gerhard Seher
Duncker & Humblot . Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Seher, Gerhard:
Liberalismus und Strafe: zur Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg I von Gerhard Seher. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; Bd. 135) Zug!.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10131-6
D6 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 2000 Duncker &
ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-10131-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersemester 1999 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Bis dahin hat es lange gedauert, und der Rückblick auf diese Zeit veraniaßt mich zu vielfältigem Dank: Zunächst an meinen verehrten akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Yalentin Petev, der nicht nur meine Dissertation mit einer Fülle von Anregungen, mit Ermutigung und großer Geduld betreut, sondern mich auch weit über die dienstlichen Belange hinaus persönlich begleitet hat. Ihm habe ich in der Zeit meiner beruflichen Prägung sehr viel zu verdanken. Herr Professor Dr. Gerhard Fezer hat mir nach dem Referendariat die Wiederaufnahme der Arbeit an der Dissertation ermöglicht, indem er mich als Mitarbeiter an der Universität Hamburg angenommen hat. Dafür bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Gleichermaßen dankbar bin ich Herrn Professor Dr. Eberhard Struensee, der so freundlich war, in kurzer Zeit das Zweitgutachten zu ersteIIen, und Herm Professor Dr. Jürgen Welp fur die Aufnahme der Arbeit in die vorliegende Schriftenreihe. Einen großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit hat auch meine Freundin Johanna Schulenburg. Sie ist mir eine wertvolle Diskussionspartnerin und hat meine manchmal sprunghafte Arbeitsweise verständnisvoII ertragen. Vor aIIen anderen bin ich aber meinen Eltern dankbar dafür, daß sie an meiner Arbeit nicht verzweifelt sind, sondern deren VoIIendung mit Geduld, Vertrauen und nicht versiegender Unterstützung ermöglicht haben. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft sage ich Dank für die großzügige Übernahme der Druckkosten. Jena, im Januar 2000
Gerhard Seher
Inhaltsverzeichnis Einleitung
15
TeilA
Strafe im klassischen Liberalismus John Stuart Mills
19
Kapitel I
Nützlichkeit und Freiheit - Zur Grundstruktur der politischen Phllosophie John Stuart Mills
19
1. Das Nützlichkeitsprinzip als axiologisches Prinzip ..................................
20
2. Das Freiheitsprinzip als praktisches Moralprinzip ...................................
21
3. Freiheitsprinzip und Utilitarismus ..................................................
24
a) G1ücklichkeit als Selbstentfaltung - Mills Menschenbild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
b) Mills indirekter Utilitarismus ............ . .............................. . ........
26
Kapitel 11
Das Freiheitsprinzip als Grund und Grenze staatlicher Strafbefugnis
28
1. Begriff und Anwendungsbereich von Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
a) Moral, Unrecht und Strafe .......................................................
28
b) Der Anwendungsbereich von Strafe .............................................
29
2. Umfang und Grenze staatlicher Strafbefugnis ............................ . ..........
30
a) Der legitime Umfang staatlicher Strafe..........................................
31
b) Die Grenze staatlicher Strafbefugnis .............................................
32
3. Überleitung: Die Kritik am Freiheitsprinzip als Herausforderung für den heutigen Liberalismus .......................................................................
33
a) Die grundlegende Kritik an Mills Philosophie ...................................
34
8
Inhaltsverzeichnis b) Die Relevanz der systemimmanenten Kritik.....................................
35
c) Das Freiheitsprinzip als Fundament des Liberalismus............................
36
TeilB
"Moralische Grenzen des Strafrechts" Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
37
Kapitel III
Feinbergs Methode und Konzeption
37
1. Zur kohärentistischen Methodologie .... . ...........................................
38
a) Das Ad-hominem-Argument ....................................................
39
b) Zur Analytik der Begriffe ,,Intuition" und "Intuitionismus" ......................
40
c) Legitimation durch Kohärenz....................................................
42
d) Anwendungen ...................................................................
44
2. Konzeptionelle Einschränkungen ...................................................
45
3. Der limitierend-materielle Straftatbegriff ...........................................
46
4. Der Begriff der ethischen Legitimität ...............................................
47
5. Die Freiheitsvermutung und die freiheitsbeschränkenden Prinzipien ................
48
a) Die Freiheitsvermutung .........................................................
48
b) Die freiheitsbeschränkenden Prinzipien................................... . ......
50
aa) Einzelne freiheitsbeschränkende Prinzipien .................................
50
bb) Die inhärente Systematik der Prinzipien ....................................
51
Kapitel IV
Die Begründung staatlicher Stratbefugnis: Das ScbädigunWiprinzip
53
1. Die Herleitung des Schädigungsprinzips ............................................
53
2. Schaden als Verletzung von Interessen ................................ . .............
55
a) Die Begriffe des Schadens und des Interesses ....................................
55
b) Das Interessennetzwerk .........................................................
56
aa) Elemente des Interessennetzwerks ..........................................
57
bb) Grenzen des Interessennetzwerks .................. . .......... . .............
59
Inhaltsverzeichnis
9
cc) Der Wirkungsbereich des Strafrechts.. .. ... ... ... .. .... ... . .. ... . .... .... . . .
59
dd) Abgrenzung der Schädigung von Interessen von anderen Beeinträchtigungen
62
c) Problematische Fallgruppen .....................................................
64
aa) Lediglich moralischer Schaden .............................................
64
bb) Fremdbezogene Interessen und nachempfundene Schädigungen .............
65
cc) Tötung und "posthume Interessen" .......................................... (1) Tötung als Interessenverletzung .........................................
66 67
(2) Posthume Schädigung und "posthume Interessen" ....................... (3) Das ,,Problem des Subjekts" . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68 69
(4) Lösungen: Die Verlagerung der Perspektive und der Begriff des Rechtsgutes . ..... ...... ... ...... ... ...... ..... .... .... .... ...... .... .... .......
70
dd) Pränatale Schädigungen ....................................................
72
ee) Unterlassungen.............................................................
73
3. Interessenverletzung als Unrechtszufügung .........................................
77
a) Rechtfertigung und Entschuldigung .............................................
77
b) Unrechtszufügung als Verletzung moralischer Rechte. ......... ... . . ... ... . . .... .
78
4. Analytik und Kritik von Feinbergs Konzept moralischer Rechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
a) Vorbehalte gegen Feinbergs Konzeption der Rechtsverletzung ...................
81
b) Prinzipielle Kritik an der Idee moralischer Rechte ...............................
82
c) Rechte als Ansprüche: Feinbergs Begriff moralischer Rechte ....................
83
aa) Zur Definition des Begriffs ,,moralisches Recht" ............................
84
bb) Die Funktion moralischer Rechte...........................................
85
cc) Der Begriff der Moralität ...................................................
87
dd) Feinbergs Verteidigung moralischer Rechte .................................
88
d) Zur Kritik an Feinbergs Begriff moralischer Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
aa) Ein konzeptioneller Widerspruch ...........................................
91
bb) Ein erster Lösungsvorschlag: Zwei Ebenen von Rechten ....................
92
ce) Ein zweiter Lösungsvorschlag: prima/acie-Rechte ..........................
93
dd) Das Problem der Redundanz moralischer Rechte ............................
96
5. Hierarchisierung von Interessen ....................................................
99
a) Interessenhierarchisierung als Element der Rechtfertigungsprüfung ..............
99
b) Interessenkonflikte und Interessenkonkurrenz ................................... 100 c) Hierarchisierungskriterien für Interessenkonflikte ... ". . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 100 d) Interessenhierarchisierung und sozio-moralischer Diskurs ....................... 102 6. Anwendungsmaximen für das Schädigungsprinzip .................................. 104
10
Inhaltsverzeichnis Kapitel V
Die Ergänzung staatlicher Stratbefugnis: Das Störungsprinzip (ojfense principle)
106
1. Der Begriff der offense .............................................. . .............. 107
a) Arten von offenses .. ,. '" ...... '" ........... '" ... .. .... .. . . . . .. . ... . . ... .. . .... 107 b) Die Unterscheidung von Schädigung und offense................................ 108 c) Zur Strafwürdigkeit von offenses ................................................ 109 2. Maximen zur Anwendung des Störungsprinzips: Das Abwägungsschema ........... 111 a) Die Schwere der offense ......................................................... 112 b) Die Vernünftigkeit des Tliterverhaltens .......................................... 112 c) Gewichtung und Bewertung der Anwendungsmaximen .......................... 114 3. Sonderfalle von offenses ............................................................ 115 a) Wahrnehmungsunabhängige Beeinträchtigungen (Profound offense) ............. 115
aal Unterscheidung zwischen bloßen Störungen (nuisances) und profound
offenses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
bb) Zur Strafwürdigkeit der profound offenses .................................. 116 b) Obszönitäten ...................... ;............................................. 117
aal Pornographie als Obszönität ................................................ 118 bb) Obszöne Worte.................... ......................................... 118 cc) Zur Strafwürdigkeit von Obszönitäten ...................................... 119 4. Das Unrecht einer offense und die Verletzung moralischer Rechte.... . .. .. ... .... . .. 120 a) Die Bedeutung des Abwägungsschemas für die Unrechtsbewertung .............. 120 b) Die Verletzung moralischer Rechte des Gestörten................................ 121
Kapitel VI
Die Begrenzung staatlicher Stratbefugnis 1. Schutz des Menschen vor sich selbst? - Autonomie versus Paternalismus
123 124
a) Arten des Paternalismus......................................................... 124
aal Wohlmeinender und nichtwohlmeinender Paternalismus ....... . ...... . ..... 125 bb) Harter und weicher Paternalismus........................................... 126 cc) Wann ist eine Norm paternalistisch? ........................................ 128
Inhaltsverzeichnis
11
b) Das Konzept der Autonomie..................................................... 130 aa) Der Begriff der Autonomie ................................................. 130 (1) Autonomie als Zustand und als Ideal .................................... 130 (2) Autonomie als moralisches Recht ....................................... 131 bb) Inhalt und Grenzen persönlicher Autonomie ................................ 133 cc) Die Gewichtung der grundlegenden Prinzipien: One's right versus one's good .. ...................................................................... 136 c) Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137 aa) Freiwilligkeit als variabler Begriff .......................................... 137 bb) Freiwilligkeit und Vernünftigkeit ........................................... 138 cc) Freiwilligkeitsmängel .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 140 2. Die Ablehnung des Moralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 143 a) Begriff und Arten des Moralismus ............................................... 143 b) Der Begriff des Übels ........................................................... 145 c) Moralistische Herausforderungen an den Liberalismus........................... 145 aa) Die Vermutung zugunsten moralistischer Gesetzgebung..................... 147 bb) Ist der Liberalismus eine Art von Moralismus? ... .. .... ...... .... . ... ....... 147 cc) Der Einwand begriff1icher Untrennbarkeit von moralischem Übel und Schaden ......................................................................... 148 d) Der moralische Konservatismus................................................. 149 aa) Das Argument der Unfaimess gegenüber der Mehrheit... . ... ...... .. ... .... 149 bb) Das Argument der Verletzung eines Interesses der Mehrheit................. 150 cc) Veränderungen der Sozialmoral als Übel an sich ............................ 151 e) Der Strenge Moralismus .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 151 aa) Die reine Form des Strengen Moralismus ................................... 152 bb) Die unreine Form: DevIins Desintegrationsthese ............................ 153 cc) Das Ausbeutungsprinzip .................................................... 154 f) Der paternalistische Perfektionismus, das Vorteilsprinzip und die Erziehungs-
theorie .......................................................................... 156 aa) Kritik des paternalistischen Perfektionismus................................ 157 bb) Das Vorteilsprinzip ......................................................... 159 cc) Die Erziehungstheorie ...................................................... 160
12
Inhaltsverzeichnis
Teil C
Feinbergs Philosophie des Strafrechts im Kontext des heutigen Politischen Liberalismus
162
Kapitel VII
Feinbergs Liberalismus als Theorie der moralischen Grenzen des Strafrechts
163
l. Ethischer und Politischer Liberalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Feinbergs eingeschränkte Konzeption.......................... . .................... 164 a) Dogmatischer Liberalismus: Das Autonomieaxiom .............................. 165 b) Vorsichtiger Liberalismus: Plausibilität statt Wahrheit ........................... 167 c) Kulturelle Vielfalt und dogmatischer Liberalismus............................... 168 Kapitel VIII
Das Problem des ,,moralischen Minimums" und die kornmunitaristische Kritik am Liberalismus
170
l. Liberalismus und moralisches Minimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 170 2. Das moralische Minimum in Feinbergs Konzeption ................................. 172 3. Die Funktionen des moralischen Minimums in Feinbergs Theorie ................... 173 4. Die Kritik am moralischen Minimum ............................................... 174 a) Der Beliebigkeitseinwand ....................................................... 175 b) Der Diskursivitätseinwand ...................................................... 176 c) Der Untrennbarkeitseinwand .................................................... 177 d) Die Plausibilität des moralischen Minimums. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178 5. Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus .................................... 179 a) Die kommunitaristischen Vorwürfe .............................................. 179 b) Kompatibilität von Liberalismus und Kommunitarismus: Die Idee einer liberalen Gemeinschaft ................................................................... 180
Scblußbetrachtung
183
Literaturverzeicbnis
186
Stichwortverzeichnis
191
Abkürzungsverzeichnis Aufl.
Auflage
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
Bd.
Band
BGH
Bundesgerichtshof
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
ders.
derselbe
d. h.
das heißt
eig. Übers.
eigene Übersetzung
engl.
englisch
f.
folgende
ff.
fortfolgende
Fn.
Fußnote
hrsg.
herausgegeben
Hrsg.
Herausgeber
IVR
Internationale Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie
JZ
Juristenzeitung
Kap.
Kapitel
LG
Landgericht
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
Nr.
Nummer
Nrn.
Nummern
o.
oben
Rdnr. S. s. seil. s. o. sog. StGB s. u.
Randnummer Seite siehe scilicet siehe oben sogenannte(r) Strafgesetzbuch siehe unten
u.
unten
u. a.
unter anderem; und andere
14 UNO US USA vgl. VS.
Z.B. zit.
Abkürzungsverzeichnis United Nations Organisation United States United States of America vergleiche versus zum Beispiel zitiert
Einleitung Der amerikanische Rechts- und Moralphilosoph Joel Feinberg hat zwischen 1984 und 1988 unter dem Titel The Moral Limits 0/ the Criminal Law sein philosophisches Hauptwerk vorgelegt, eine liberale Theorie zur Legitimation und Begrenzung staatlicher Strafbefugnis. In den vier Bänden dieses Werksl hat Feinberg zahlreiche Ansätze aus seinen früheren Publikationen aufgegriffen und zu einem strafrechtsphilosophischen System zusammengefaßt. Das Werk fußt auf dem klassischen Liberalismus John Stuart Mills. Die - zumindest für den Bereich der Strafe - nur recht grob entwickelte Position Mills wird vertieft und im Lichte der aktuellen rechtsphilosophischen Diskussion weiterentwickelt mit dem Ziel, den liberalen Ansatz zur Straflegitimation gegen gängige Kritik zu verteidigen und zugleich ein geschlossenes liberales Konzept vorzulegen, das im praktischen politischen Diskurs nutzbar ist, beispielsweise um einen Gesetzgeber bei der Gestaltung des positiven Strafrechts anzuleiten. Die Strafrechtsphilosophie Feinbergs hat im anglo-amerikanischen Raum große Beachtung und Anerkennung erfahren. Hingegen beschränkt sich bislang die Rezeption in Kontinentaleuropa, insbesondere in der deutschsprachigen Philosophie, im wesentlichen auf einige wenige Rezensionen? Das mag zum einen daran liegen, daß eine in den Begriffen und Strukturen des englischen Liberalismus wurzelnde Philosophie hierzulande eine vergleichsweise gering ausgeprägte Tradition hat, zum anderen daran, daß Feinbergs Schriften noch nicht in deutscher Sprache vorliegen. Vor diesem Hintergrund ist es das wesentliche Anliegen dieser Arbeit, die Strafrechtsphilosophie Feinbergs zusammenfassend darzustellen, um sie für die deutsche rechtsphilosophische Diskussion verfügbar zu machen. Die Schwerpunkte liegen dabei auf einer Rekonstruktion des klassischen Liberalismus, soweit sie für das Verständnis von Feinbergs philosophischem Ausgangspunkt notwendig ist; auf der kritischen Analyse zentraler Begriffe in Feinbergs Denken; und schließlich auf einer Einbeuung seiner Theorie in die aktuelle, vorwiegend anglo-amerikanische Diskussion um den Politischen Liberalismus. Nicht intendiert ist hingegen ein Systemvergleich etwa mit kantischen oder Hegeischen Konzeptionen der Straflegitimation. I Hann to Others (1984), Offense to Others (1985), Hann to Self (1987) und Hannless Wrongdoing (1988). 2 Neumann, ARSP 1986, S. 118-125, ders .• ARSP 1989, S. 550-552; Wellman (1987), S. 397-399; Wolf(1988), S. 454-464.
16
Einleitung
Da diese Arbeit der Vorstellung und Analyse von Feinbergs Konzeption dient, können in ihrem Rahmen verschiedene Fragen nicht aufgegriffen werden, die für die philosophische Diskussion um die Strafe eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehört zunächst die Debatte um die Legitimation des Rechtsinstitutes der Strafe an sich. Feinberg setzt Strafe als existierendes Element staatlicher Ordnung voraus und nimmt nur implizit zu Fragen der Strafzwecke Stellung. Angesichts der faktischen Integration der Strafe in jede gängige Rechtsordnung läßt sich Feinbergs Theorie über den legitimen Umfang der Strafe in hinreichender Weise würdigen, ohne die Frage zu problematisieren, welchem Ziel Strafe an sich dienen soll. Ähnlich verhält es sich mit jüngeren Beiträgen, die eine "Krise der Straflegitimation" diagnostizieren. 3 Selbst wenn man den Sinn der staatlichen Strafe in der heutigen Zeit generell in Zweifel zieht und erwägt, die Strafe durch andere Formen staatlicher Lenkung zu ersetzen, bleibt die von Feinberg thematisierte Frage, welche individuellen Verhaltensweisen der Staat mit Zwangsmitteln lenken darf, in derart abgewandelter Form bestehen. Insoweit läßt sich Feinbergs Theorie unabhängig von Zweifeln am Nutzen der Strafe analysieren. Feinbergs umfangreiche Konzeption spricht eine Vielzahl von Detailfragen und Fallkonstellationen an. 4 Sie können im Rahmen einer zusammenfassenden Analyse weder sämtlich Erwähnung finden noch gar unter Berücksichtigung der jeweils reichen Literatur vertieft werden. Die Auseinandersetzung mit anderen philosophischen Ansätzen erfolgt daher exemplarisch im Zusammenhang mit Schlüsselfragen von Feinbergs Theorie. Die Elaborate von Josiah S. Carberry hingegen werden nicht berücksichtigt; sie könnten kaum zum Erkenntnisgewinn beitragen. S Nachweise der zahlreichen Publikationen von Feinberg selbst werden in einer Weise selektiv erscheinen, die den Hinweis erforderlich macht, daß viele seiner Aufsätze in überarbeiteter Form in The Moral Limits 0/ the Criminal Law eingeflossen sind. 6 Sie werden daher nur insoweit gesondert betrachtet, als sich markante Abweichungen in Grundfragen feststellen lassen oder andere Themenkreise behandelt werden. Im übrigen sei hinsichtlich Feinbergs wissenschaftlichem Gesamtwerk auf die vollständige Bibliographie verwiesen, die seiner Festschrift beigegeben wurde? Die Erörterungen dieser Arbeit beginnen zur Hinführung auf den Ausgangspunkt von Feinbergs Konzeption mit einer kurzen Darstellung der Rolle der Strafe in der Philosophie John Stuart Mills (Teil A). Hierzu werden in Kapitel I einige V gl. z. B. Lüderssen (1995) und ders. (1989). Feinberg selbst weist auf die Überfülle von Einzelfragen hin, die mit einer vollständigen Theorie der Straflegitimation verbunden sind: " ... the myriad of subtopics discussed in this four-volume work", Harmless Wrongdoing, S. 318. S Eine ähnliche Einschätzung deutet Feinberg selbst an, vgl. Harm to Self, S. XIX. 6 Vgl. insoweit die ,,Acknowledgments", die Feinbergs jedem der vier Bände vorangestellt hat. 7 ColemanlBuchanan (1994), S. 351 ff. 3
4
Einleitung
17
Grundbegriffe des Millschen Utilitarismus und Liberalismus referiert. Die Darstellung folgt dabei neueren Interpretationen, die Mill in überzeugender Weise als konsistenten indirekten Utilitaristen begreifen. Eine Auseinandersetzung mit der älteren, Mill-kritischen Sicht ist im vorliegenden Rahmen jedoch nicht möglich. - Im Anschluß daran wird in Kapitel TI versucht, den Bereich zu lokalisieren, den Mill der Anwendung staatlicher Strafe zugedacht hat. Da diese Frage bei Mill nicht explizit entwickelt wurde, muß die legitime Rolle der Strafe aus dem Zusammenhang seiner Schriften - insbesondere aus On Liberty und dem 5. Kapitel von Utilitarianism - erschlossen werden. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet Teil B, in dem die Strafrechtsphilosophie Joel Feinbergs nachgezeichnet und kritisch anal)'siert wird. Die Darstellung orientiert sich weitgehend an Feinbergs eigener, nicht ohne jedoch verschiedentlich aus systematischen Gründen Gedanken zusammenzufassen, die Feinberg voneinander getrennt aufgreift. Vorab werden in Kapitel m Fragen der methodologischen Grundlegung behandelt. Hier wird zunächst Feinbergs intuitionistisches Begründungsmuster erläutert. Sodann werden die konzeptionellen Grenzen abgesteckt und schließlich die Begriffe der Freiheitsvermutung und der freiheitsbeschränkenden Prinzipien als Rahmenkonzepte der gesamten Theorie vorgestellt. Kapitel IV thematisiert den Kern des Feinbergschen Strafbegründungskonzepts: die detailreiche Interpretation des Millschen Begriffs der "Schädigung anderer" als Verletzung von Interessen sowie die Einführung der letztlich erst straflegitimierenden Kategorie des Unrechts, das Feinberg als Verletzung moralischer Rechte deutet. In diesem Zusammenhang wird versucht, Vorschläge zur Präzisierung seines Begriffs moralischer Rechte zu erarbeiten und dadurch Unschärfen seiner Konzeption zu bereinigen. Anschließend werden die zentralen und schwierigen Fragen der Gewichtung konfligierender Interessen behandelt. Kapitel V enthält eine Art Annex zur Strafbegründungskonzeption, nämlich die Erörterung der Strafwürdigkeit von Störungen und Belästigungen. Feinberg hat diese persönlich mißbilligten Einwirkungen ausdrücklich nicht als Interessenverletzungen qualifiziert und ihre Strafbarkeit einem eigenen Prinzip unterworfen. Nachdem bis dahin die straflegitimierende Seite der Theorie behandelt wurde, setzt sich Kapitel VI mit deren strafbegrenzendem Aspekt auseinander. Dieser Aspekt ist ein besonderes Anliegen des Liberalismus, der sich - traditionell - als eine Theorie über die Grenzen staatlicher Macht begreift. Feinberg befaßt sich hier mit zahlreichen Ansätzen, die er gegen den Liberalismus abgrenzt und auf der Grundlage eines Konzeptes unangreifbarer persönlicher Autonomie ablehnt. Die Darstellung in diesem Kapitel konzentriert sich auf die Nachzeichnung von Feinbergs Argumentationsgang. Angesichts der zahlreichen Spielarten, in denen illiberale Theorien auftreten, sei es in der Form des Paternalismus oder des Moralismus, ist eine Vertiefung der Analyse durch Rückgriff auf die überreiche internationale Literatur hier nicht möglich. 2 Seher
Einleitung
18
Im dritten Teil der Arbeit (c.) wird die Theorie Feinbergs in den Kontext des philosophischen Liberalismus eingeordnet. Dabei qualifiziert Kapitel vn die Theorie Feinbergs als einen eingeschränkten Politischen Liberalismus im Sinne von John Rawls. In Kapitel VITI wird die Rolle analysiert, die die Idee eines sog . ..moralischen Minimums" in einer liberalen Theorie einnimmt, und gegen verschiedene Kritik verteidigt. Danach werden, im Zusammenhang mit dieser Kritik, die notwendig eine grundsätzliche Kritik am liberalen Selbstverständnis enthält, noch die Vorwürfe erörtert, die der Kommunitarismus geäußert hat. Die Arbeit hofft zu zeigen, daß Joel Feinberg ein ausgereiftes, in sich geschlossenes Sy'stem vorgestellt hat, das dem von ihm selbst formulierten Ziel, den Liberalismus in bezug auf das Strafrecht so plausibel wie möglich darzustellen 8 , in hohem Maße gerecht wird.
8
Feinberg. Harmless Wrongdoing, S. 319.
TeilA
Strafe im klassischen Liberalismus John Stuart Mills Der ethische Liberalismus des 19. Jahrhunderts hat in der Philosophie John Stuart Mills eine besonders prägnante Ausgestaltung erfahren, die bis heute in der philosophischen Diskussion fortwirkt. Seine Schriften weisen ihn aber nicht nur als bekennenden Liberalen aus, sondern zunächst als einen klassischen Utilitaristen. Diese Symbiose aus Utilitarismus und Liberalismus konstituiert einerseits die Originalität der Millschen Philosophie, hat andererseits aber von Anfang an massive Kritik und erhebliche interpretatorische Schwierigkeiten hervorgerufen. Im folgenden sollen einige Grundzüge der Millschen Philosophie dargestellt werden, soweit sie für das Verständnis der Strafrechtsphilosophie Joel Feinbergs unverzichtbar sind.) Dabei wird ausgegangen von den Ergebnissen der neueren Forschung, die versucht, Mill als einen konsistenten Denker nachzuweisen. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Thesen und mit der älteren Kritik2 kann hier nicht geleistet werden, ebensowenig eine Bewertung der lebhaften Diskussion um John Stuart Mill. Wesentlich ist nur aufzuzeigen, wie Mills berühmt gewordenes Freiheitsprinzip in den Kontext seiner Philosophie eingebettet werden kann und wie sich daraus eine Begründung und Begrenzung staatlicher Straflegitimation ableiten läßt. Dies soll in den beiden Kapiteln dieses ersten Teils erfolgen. Kapitel I
Nützlichkeit und Freiheit - Zur Grundstruktur der politischen Philosophie John Stuart Mills Mills Philosophie ist geprägt vom Zusammenspiel dreier wesentlicher Elemente: des Utilitarismus auf der Basis des Nützlichkeitsprinzips als übergeordnetem teleogischem Prinzip; des Freiheitsprinzips als eines praktischen Prinzips der Moralität ) Für die folgende Analyse wird nur Bezug genommen auf Mills Schriften "Utilitarianism" und "On Liberty", weil sie die für den vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Aussagen enthalten. 2 S. hierzu insbesondere Stephen, Berlin, S. 173 ff., McCloskey (1971); vgl. auch die Darstellung bei Halliday, S. 114 f. 2·
20
A. Strafe im klassischen Liberalismus lohn Stuart Mills
und seines spezifischen Menschenbildes, vor dessen Hintergrund allein die politische Theorie Mills verständlich wird. Daß sich diese Elemente zu einem stringenten System zusammenfügen lassen, ist immer wieder bestritten worden; die Annahme, daß ein solches System überhaupt bestehe, ist daher bereits eine Frage der Interpretation. Diese Interpretation hat innerhalb der letzten Jahrzehnte einen maßgeblichen Wandel durchlaufen: Wurden die verschiedenen Ansätze Millschen Denkens früher überwiegend als inkompatibel angesehen 3 , haben neuere Ansichten4 mit beachtlichem Erfolg versucht nachzuweisen, daß sich die genannten Elemente durchaus zu einem schlüssigen philosophischen Konzept vereinen lassen - wenn auch einzelne Schwächen nicht ganz überwunden werden konnten. Diese neueren Deutungen haben sich unter anderem der Frage angenommen, wie sich das - distributive - Prinzip größtmöglicher Handlungsfreiheit, das Mill in seiner Schrift On Liberty entfaltet, mit einem Utilitarismus in Einklang bringen läßt, der - als aggregative Theorie - die Maximierung von Glück als den höchsten ethischen Zweck statuiert. Im folgenden soll - in der gebotenen Kürze - diese Interpretation eines kohärenten, liberalen Utilitarismus Mills nachgezeichnet werden,.um die Rolle zu verdeutlichen, die das für die Frage staatlicher Strafe letztlich relevante Freiheitsprinzip darin spielt. 1. Das Nützlichkeitsprinzip als axiologisches Prinzip Die Millsche Konzeption politischer Philosophie geht aus von seinem Utilitarismus, den er auf der Grundlage des gängigen Nützlichkeitsprinzips entwickelt, demzufolge "Handlungen richtig sind in dem Maße, in dem sie GlücklichkeitS fördern, und falsch sind, soweit sie das Gegenteil von Glücklichkeit hervorrufen".6 Dieses Prinzip dient als übergeordnetes Leitkonzept für alle drei Bereiche, in die Mill die praktische Philosophie einteilt: Moral, Klugheit (prudence) und Ästhetik. 7 Es ist also keinesfalls ein nur moralisches Prinzip.8 Zu der älteren, kritischen Sicht vgl. Fn. 2. Hier ist insbesondere zu nennen die ausgezeichnete Interpretation von Gray (1983); außerdem die Werke von Rees, Ten und Wollheim, S. 253 - 269; zu weiteren Beiträgen der neueren Ansicht s. Gray (1983), Fn. 17 zu Kapitell (S. 131 f.). S Der englische Begriff ,.happiness" wird regelmäßig mit "Glück" übersetzt. Diese Übersetzung ist insofern nicht präzise, als sie die Assoziation mit derjenigen Art ..Glück" mitumfaßt, die man als ..glücklichen Zufall" bezeichnen kann (engl.: luck). Deshalb wird hier der Begriff "Glücklichkeit" verwandt, um ausschließlich den inneren (Geistes- bzw. Geflihls-)Zustand zu kennzeichnen, nicht einen äußeren Glücksfall. 6 Mill, Utilitarianism, S. 137 (eig. Übers.); die Mill-Forschung hat nicht weniger als fünfzehn Formulierungen dieses Prinzips ausgemacht, die jedoch als äquivalent angesehen werden und daher hier keiner Vertiefung bedürfen, vgl. Brown, S. 1-12. 7 Vgl. Mill, A System of Logic, Buch VI, Kap. XII, § 6. 3
4
I. Zur Grundstruktur der politischen Philosophie Mills
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Als höchstes Bewertungsprinzip evaluiert es auf einer kritischen Ebene Dinge und Zustände - unabhängig davon, ob sie auf menschlichen Handlungen beruhen oder nicht; daher kann es nicht selbst Handlungsverpflichtungen auferlegen, so daß es nicht als praktisches, sondern als rein axiologisches Prinzip zu verstehen ist. 9 Damit stellt sich die Frage, wie eine Beziehung herzustellen ist zwischen dem Nützlichkeitsprinzip und menschlichen Handlungen, denn jede Form von Utilitarismus kann nur dann praktische Wirkung entfalten, wenn eine Anwendung ihrer letzten Wertungen auf menschliches Verhalten möglich gemacht wird. Dieses Bindeglied zwischen dem Nützlichkeitsprinzip und der menschlichen Praxis wird, wenn man verschiedenen jüngeren Mill-Interpreten folgt10, durch ein Prinzip konstituiert, das Mill selbst nicht ausdrücklich erwähnt, das seine Theorie aber zwingend voraussetzt: Das Tunlichkeitsprinzip (in der Terminologie von Gray: the Principle 0/ Expediency). Diesem Prinzip zufolge ist eine Handlung tunlich, wenn sie (zumindest) soviel Nützlichkeit erzielt wie jede andere konkret mögliche Handlung. 11 Damit wird der glücklichkeitsmaximierende Gehalt des Nützlichkeitsprinzips auf der praktischen Ebene operationalisierbar gemacht. 12 Neben dem Nützlichkeitsprinzip aber wird die Philosophie Mills geprägt von einem zweiten, ethisch ausgerichteten Prinzip, dem Freiheitsprinzip.
2. Das Freiheitsprinzip als praktisches Moralprinzip Das in Mills liberaler Bekenntnisschrift On Liberty entworfene Freiheitsprinzip (Principle 0/ Liberty) besagt, daß "das einzige Ziel, das es rechtfertigt, daß die Menschheit, einzeln oder kollektiv, in die Handlungsfreiheit eines der ihren eingreift. Selbstschutz ist; daß der einzige Zweck, für den legitimerweise Macht über ein Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft gegen dessen Willen ausgeübt werden darf, die Verhinderung eines Schadens bei anderen ist. Sein eigenes Wohl, sei es physisch oder moralisch, ist keine hinreichende Rechtfertigung.,,13
Das Freiheitsprinzip hat unmittelbar die Funktion, die Anwendung von Zwang durch die Gesellschaft auf das Individuum umfassend und abschließend zu regeln. Dies geschieht über eine doppelte Aussage: eine positive, derzufolge "SelbstVgl. Gray (1983), S. 20f. Gray (1983), S. 22. 10 Vgl. Gray (1983), S. 22f. sowie Dryer, S. lxiv. 11 Gray, (1983), S. 23. 12 Daß ein solches Tunlichkeitsprinzip als praktische, handlungsweisende Umsetzung des axiologischen Nützlichkeitsprinzips erforderlich ist, erscheint plausibel; es erhebt sich aber die Frage nach der Herleitung dieses Prinzips. Dies führt aber in die letzte Fundierung von Mills Ethik hinein und soll hier nicht weiterverfolgt werden. 13 Mill, On Liberty, S. 14 (eig. Übers.). 8
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schutz" (d. h. Schutz anderer vor Schäden l4) die einzige Legitimation für einen zwangsweisen Eingriff in die Handlungsfreiheit des Individuums ist; und eine sich anschließende negative, daß nämlich das eigene - physische oder moralische Wohl des handelnden Individuums kein hinreichendes Kriterium für einen solchen Eingriff darstellt. Daß Mill dieses Prinzip als ein "sehr einfaches Prinzip" bezeichnet hat lS , hat ihm zu Recht viel Kritik eingetragen. Es scheint in der Tat, daß er die schwierigen Fragen, die sich daraus zwangsläufig ergeben, nicht vollständig überblickt hat. Dennoch ist das Freiheitsprinzip - in gleicher oder ähnlicher Form - ein Grundbekenntnis des politischen Liberalismus geworden und bis heute ein maßgeblicher Ansatzpunkt der um den Liberalismus kreisenden philosophischen Diskussion. Auch bei Joel Feinberg steht es - wenn auch mit einem auf das Strafrecht eingeschränkten Anwendungsbereich - als Schädigungsprinzip im Mittelpunkt seiner Theorie. 16 Das Freiheitsprinzip begrenzt die legitime Anwendung von Zwang gegen ein Mitglied der Gesellschaft auf den Zweck des "Selbstschutzes", d. h. auf die Verhinderung eines "Schadens bei anderen". Die Interpretation dieser Formel hat seit jeher erhebliche Schwierigkeiten bereitet, wobei die strittigen Fragen insbesondere um den Begriff des "Schadens bei anderen" kreisen. Zunächst hat der Schadensbegriff eine unvermeidliche konturelle Unschärfe: Zwar werden keine Zweifel darüber aufkommen, daß physische, insbesondere schmerzhafte Verletzungen als Schäden zu klassifizieren sind; was aber ist mit lediglich psychischen Reaktionen auf das Verhalten anderer, z. B. Ekel oder Wut? Und liegt auch dann ein Schaden vor, wenn jemand durch den "schlechten Einfluß" anderer charakterlich "verdorben" wird? - Hier zeigt sich, daß der Gehalt des Schadensbegriffs möglicherweise abhängig ist von moralischen oder kulturellen Ansichten - mit der Folge, daß sich gar kein abstrakt feststehender Rahmen dieses Begriffs zeichnen ließe. Dann aber schiene fraglich, ob der Schadensbegriff überhaupt ein taugliches Element zur Bestimmung der Freiheitssphäre bzw. ihrer Grenzen darstellt. Eine nächste Schwierigkeit betrifft den Regelungsbereich des Freiheitsprinzips. Es bleibt nämlich offen, ob es nur dann Eingriffe in die Individualsphäre zuläßt, wenn schadensverursachende Handlungen betroffen sind, oder schon dann, wenn ein Schadenszustand beliebigen Ursprungs verhindert werden kann l7 - mit anderen Worten: ob es um jede Art von Schadensverhinderung geht oder nur um Schädigungsverhinderung. 18 14
IS 16 17
Vgl. Halliday, S. 119. Mill, On Liberty, S. 13. S. dazu u. Kapitel IV. Vgl. Gray (1983), S. 48.
18 Zu dieser Frage s. Ten, S. 61-67; auch Feinberg hat sich mit dieser Differenzierung eingehend beschäftigt, s. Harm to Others, S. 31 ff.
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Ein weiterer Einwand ergibt sich daraus, daß das Freiheitsprinzip vor allem der Abgrenzung fremdschädigender von ausschließlich selbstbezogenen Handlungen dient. Es setzt also implizit voraus, daß sich diese beiden Kategorien klar voneinander unterscheiden lassen. Daß es aber überhaupt Handlungen gibt, die allein den Handelnden selbst schädigen, ohne zugleich relevante Schäden bei anderen zumindest mittelbar nach sich zu ziehen, ist immer wieder bestritten worden. Gibt es aber keine rein selbstbezogenen Handlungen, verliert die griffige Formel des "Schadens bei anderen" ihren praktischen Nutzen. 19 Um die zuletzt angedeutete Schwierigkeit zu überwinden, hat lohn Rees vorgeschlagen, mit dem Begriff des Interesses zu arbeiten. 2o Nach seiner Auffassung ist dieser Begriff geeignet, die von Mill gedachte Sphäre nur selbstbezogenen Handelns zu bestimmen?1 Die Annahme, daß eine Schädigung anderer nur dann vorliegt, wenn deren Interessen negativ betroffen sind, trägt einerseits zur Konkretisierung des uferlosen Schadensbegriffs bei, und andererseits läßt sich auf diese Weise sinnvoll eine Gruppe von Handlungen beschreiben, welche den Handelnden selbst schädigen, ohne zugleich andere Personen schädigend zu beeinträchtigen. Diese Lösung bewirkt, daß es nicht mehr erforderlich ist zu behaupten, daß es Handlungen gebe, die überhaupt keine Effekte auf andere Menschen haben; es reicht nun nachzuweisen, daß es selbstschädigende Handlungen gibt, die die relevanten Interessen anderer nicht berühren. 22 Gray nimmt diese Interpretation auf, präzisiert sie jedoch maßgeblich. Diese Präzisierung erscheint insofern notwendig, als der Interessenbegriff zunächst nur wenig klarer ist als der des Schadens: Auch Interessen können - je nach kulturellem und moralischem Standpunkt - grundlegend unterschiedlich definiert werden. Gray weist nun darauf hin, daß Mill bestimmten Interessen ein besonderes Gewicht zumißt und ihnen den Status von Rechten zuweist: den Interessen an Autonomie und an Sicherheit. 23 Das Freiheitsprinzip solle genau diese Interessen vor Eingriffen Dritter schützen. Gestützt wird diese Ansicht durch Mill selbst, der hinsichtlich des Sicherheitsinteresses ausfUhrt: ,,Das betroffene Interesse ist das an Sicherheit, nach jedennanns Gefühl das essentiellste aller Interessen. Alle anderen irdischen Güter (benefits) werden von einer Person gebraucht, von einer anderen nicht, und auf viele von ihnen kann, wenn notwendig, freudig
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Vgl. hierzu Rees, S. 139ff. und Wolf!, S. 24. Rees. S. 142 ff.
21 Mill selbst hat den Begriff des Interesses im Zusammenhang mit der Frage der Fremdschädigung verwandt, vgl. u. a. On Liberty, S. 83. 22 Ten (S. 12) weist jedoch darauf hin, daß der Interessenbegriff, wenn Rees ihn an soziale Akzeptanz knüpft, die Gefahr birgt, einem Konservatismus Vorschub zu leisten, den Mill gerade nicht vertreten wollte. 23 Gray (1983), S. 52.
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Die überragende Bedeutung wiederum, die Mill der Autonomie beimißt, wird unmittelbar deutlich aus der Intention, die der ganzen Schrift On Liberty zugrundeliegt: Eine Sphäre uneingeschränkter individueller Handlungsfreiheit zu garantieren, die notwendige Voraussetzung zur Selbstentfaltung und damit zur Erreichung von Glücklichkeit ist. 25 Diese Deutung des Millschen Schadensbegriffs und seiner Äußerungen bezüglich Interessen und Rechten finden in der Tat einige Stütze in seinen Schriften, und sie vermögen ein recht stringentes Konzept der Millschen Theorie zu entwerfen. Allerdings ergeben sich hieraus auch neue Fragen: Was, z. B., ist der Inhalt des Sicherheitsinteresses: Gehört nur der Schutz von Leben, Leib und Bewegungsfreiheit dazu oder auch eine Garantie von Eigentum und bestimmten Lebensentfaltungsmöglichkeiten? - Warum sollen gerade und nur die Interessen an Autonomie und Sicherheit dem Individuum Rechte verleihen? Und woher leitet sich der Rechtsstatus dieser Interessen ab? Die Fragen führen hinein in die Details der MiII-Interpretation, aber auch jeder anderen liberalen Theorie über Zwangsbefugnisse des Staates, weil in jedem Falle eine zuverlässige Beschreibung von Kemübeln gefunden werden muß, deren Verhinderung auch mit dem Mittel der Strafe legitim sein soll. Diese Problematik erfahrt in der Theorie von Feinberg eine detaillierte Vertiefung. 26 Auch wenn man bereit ist, Grays Interpretation zu folgen, bleibt noch das gewichtige Problem des Verhältnisses von Utilitarismus und Liberalismus, also von Nützlichkeitsprinzip und Freiheitsprinzip, offen; das negativ-distributive Prinzip gleicher Freiheit von gesellschaftlichem Zwang steht nämlich in eigentümlich gegenläufiger Tendenz zum aggregativen Nützlichkeitsprinzip.
3. Freiheitsprinzip und Utilitarismus Mill hat keinen Zweifel daran gelassen, daß das Nützlichkeitsprinzip die umfassende und höchste Wertungsinstanz für alle Bereiche der praktischen Philosophie darstellt. 27 Es gilt also auch für das Freiheitsprinzip als einem praktischen Moralprinzip. Diese gleichzeitige - und jeweils uneingeschränkte - Geltung beider Prinzipien scheint in einen kaum auflösbaren Widerspruch zu münden: Das Nützlichkeitsprinzip28 fordert die unbedingte Maximierung von Glücklichkeit, und sei es Mill, Utilitarianism, S. 190 (eig. Übers.). Vgl. Gray (1983), S. 55. 26 S. dazu u. Kapitel IV. n Mill, A System of Logic, Buch VI, Kap. XII, § 7. 28 Bzw. dessen normatives Äquivalent, das Tunlichkeitsprinzip, vgl. o. S. 21. 24 25
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durch zwangsweise Freiheitsbeschränkung; das Freiheitsprinzip demgegenüber fordert die unbedingte Enthaltung von zwangsweisen Beschränkungen der individuellen Handlungsfreiheit in maßgeblichen Bereichen, und sei es auf Kosten der Nutzenmaximierung. Ein Ausweg aus diesem konzeptionellen Dilemma ist nur dann möglich, wenn sich zeigen läßt, daß gerade das Freiheitsprinzip besser als jede andere Maxime der Förderung des Nützlichkeitsprinzips dient. Dies ist von der neueren Mill-Interpretation unter Rückgriff auf das Menschenbild versucht worden, das in ausgeprägter Weise Bestandteil der Philosophie Mills ist. a) Glücklichkeit als SelbstentJaltung - Mills Menschenbild
Mill zeichnet verschiedentlich ein Bild des Menschen, das durch drei Annahmen konstituiert wird: daß es eine Pluralität menschlicher Charaktere gebe, daß dem Menschen eine Tendenz zur Selbstverwirklichung innewohne und daß der Mensch nur durch eine freie Selbstentfaltung zu dem Genuß "höherer Freuden" (higher pleasures) gelangen könne. 29 Die Annahme einer Vielzahl menschlicher Naturen, also einer Individualität der Charaktere und Fähigkeiten, impliziert, daß es nicht den einen, für alle gleichermaßen erfolgreichen Weg zur Entfaltung dieser Fähigkeiten gibt, sondern vielmehr für jeden Menschen einen eigenen oder zumindest innerhalb einer Gesellschaft eine unüberschaubare Vielzahl solcher individueller Wege. 30 Eine Maxime, die das Nützlichkeitsprinzip ethisch-praktisch umsetzt, muß diesem Umstand Rechnung tragen, indem sie, statt durch uniforme Verhaltensbewertung menschliche Handlungen zu kanalisieren, Raum läßt für evaluative Flexibilität. Diese Notwendigkeit wird bestärkt durch die zweite Annahme des Millschen Menschenbildes: eine natürliche Tendenz des Menschen zur Selbstverwirklichung. Mill schreibt hierüber: ,,Die menschliche Natur ist keine nach einem Modell zu bauende Maschine, die dazu da wäre, genau die Arbeit auszuführen, die für sie bestimmt wäre, sondern ein Baum, der wachsen und sich nach allen Seiten entwickeln muß, entsprechend der Neigung seiner inneren Kräfte, die ihn zu einem lebenden Ding machen. ,,31
Die individuelle menschliche Natur entfaltet sich jedoch nicht (wie ein Baum) nach einem streng vorgezeichneten biologischen Programm, sondern in einem komplexen individuellen und sozialen Prozeß. Die richtige Art und Weise der Entfaltung ist im Menschen nicht so eindeutig angelegt, daß jeder sie für sich ohne Mill, Utilitarianism, S. 138 ff. und ders., On Liberty, Kapitel 3. Vgl. zu diesem Individualismus der Lebensverwirklichung auch Nietzsehe, S. 717: ",Das - ist nun mein Weg - wo ist der eure?' so antwortete ich denen, die mich ,.nach dem Wege" fragten. Den Weg nämlich - den gibt es nicht'''. 31 Mill, On Liberty, S. 66 (eig. Übers.). 29
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weiteres erkennen und danach handeln könnte. Vielmehr liegt in der individuellen Natur eine Mehrzahl von Anlagen, deren Optimierung wesentlich eine Sache von Erfahrung ist, so daß der Mensch zur Selbstverwirklichung und damit zur Herbeiführung des für ihn größtmöglichen Nutzens auf einen Freiraum angewiesen ist, der es ihm ermöglicht zu lernen, Entscheidungen zu treffen und diese dann in Handlungen umzusetzen. 32 Grundvoraussetzung der Selbstverwirklichung ist mithin die Schaffung eines solchen Freiraumes. Dies gelingt durch die Garantie einer die individuelle Handlungsfreiheit gewährenden Autonomie. Hinzukommen muß eine hinlängliche soziale Sicherheit, ohne die ein autonomer Freiraum dadurch entwertet würde, daß der einzelne seine Energien und Möglichkeiten zur Selbstverteidigung gegen die anderen einsetzen müßte, anstatt sie zur bewußten und selbstgewählten Entwicklung seiner Persönlichkeit nutzen zu können. Das dritte Element des Millschen Menschenbildes stellt einen unmittelbaren Bezug zum Nützlichkeitsprinzip her: Allein durch die Ausprägung der spezifisch menschlichen Fähigkeit zu autonomem Denken und Handeln könne der Einzelne zu den ,,höheren Freuden" (higher pleasures) des Lebens gelangen. 33 Diese höheren Freuden aber vermitteln erst die Glücklichkeit, deren Erreichen das Nützlichkeitsprinzip fordert. 34 Eine Maxime, die das Nützlichkeitsprinzip im Bereich der Moral umsetzt, muß also, will sie der Natur des Menschen gerecht werden, ein Mehrfaches leisten: Sie muß die Verschiedenartigkeit der Individuen respektieren, ihnen Autonomie und Sicherheit garantieren und ihnen dadurch den Weg zur Selbstentfaltung und damit zu persönlicher Glücklichkeit eröffnen. b) Mills indirekter Utilitarismus
Es wird deutlich, daß die Aufgaben, die sich durch das soeben skizzierte Menschenbild stellen, genau durch das Freiheitsprinzip erfüllt werden sollen: Es dient der Schadensverhinderung 3S und damit der Sicherheit jedes einzelnen; zugleich bietet es ihm Schutz vor willkürlichen Eingriffen in seine autonomen, nicht fremdschädigenden Handlungen und eröffnet damit einen Raum respektierter Autonomie zur Selbstentfaltung. Um nachzuweisen, daß diese Funktionen auch von Mill selbst so konzipiert worden sind, setzt Gray an bei dem letzten Kapitel von Utilitarianism. in dem zur Verfolgung von Nützlichkeit ein "quasi-absolutes Prinzip (gefordert wird), das mit Vgl. Mill. On Liberty, Kapitel 3 passim. Vgl. Mill. Utilitarianism, S. 138 ff.; zum Begriff der ,,höheren Freuden" s. Wolf(1992a), S.49ff. 34 Vgl. Gray (1983), S. 70-89. 35 Bzw. - je nach Interpretation - der Schädigungsverhinderung, vgl. o. S. 22. 32 33
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der Respektierung moralischer Rechte zu tun hat".36 Der Status moralischer Rechte wiederum kommt, wie bereits erwähnt, ausschließlich den essentiellen Interessen des Individuums an Sicherheit und Autonomie zu. Das Freiheitsprinzip, das genau diese Interessen schützt, muß daher das gesuchte "quasi-absolute Prinzip" sein. Diese Ableitung impliziert eine ,,Beschränkung utilitaristischer Strategie auf Schadensverhinderung,,31, und sie ist nur dann stringent, wenn gerade der Schutz der essentiellen Interessen zumindest notwendige Voraussetzung ist für die Entfaltung von Glücklichkeit. Das ist aber nur dann der Fall, wenn eine direkte Verfolgung des Nützlichkeitsprinzips nicht so nützlichkeitsfördernd ist wie eine indirekte - eben die nur auf Schadensverhinderung ausgerichtete. Mill hat also - wenn es eine sinnvolle Beziehung zwischen Nützlichkeits- und Freiheitsprinzip geben soll - einen indirekten Utilitarismus vertreten 38 , demzufolge die direkte Verfolgung von Nützlichkeitsmaximierung gerade ihr Gegenteil bewirken würde. Ein solcher indirekter Utilitarismus gewinnt Plausibilität nur vor dem Hintergrund des bereits skizzierten Millschen Menschenbildes: Wenn die Menschen die ihnen eigenen Anlagen und Fähigkeiten nur durch freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit entdecken und entwickeln können; wenn nur die freie Persönlichkeitsentwicklung den Zugang zu höherer, weil spezifisch menschlicher Glücklichkeit eröffnet; und wenn die zwangsweise Einflußnahme auf diesen Entwicklungsprozeß die Persönlichkeitsentfaltung gerade verhindert - obwohl sie vielleicht eine Art Gesamtglücklichkeit fördern könnte -, dann ist die direkte Nützlichkeitsintention tatsächlich nützlichkeitsverhindernd. 39 Mit dieser Ableitung ist ein Weg aufgezeigt, den Utilitarismus Mills mit seinem Liberalismus in Einklang zu bringen. Damit hat die ältere Mill-Kritik, die ihn zum Teil als in sich widersprüchlichen Denker beschrieb40, viel von ihrem Gewicht verloren. Nachdem bis hierher eine plausible Grundstruktur von Mills philosophischem Gesamtkonzept angedeutet wurde, ist nun darzulegen, welche Rolle die Strafe innerhalb des Millschen Systems einnimmt. Dieser Ausschnitt aus Mills Theorie ist der für Joel Feinberg maßgebliche Anknüpfungspunkt, weil seine Theorie sich nur mit der staatlichen Strafe befaßt.
Gray (1983), S. 60. Gray (1983), S. 60. 38 Vgl. Gray (1983), S. 12 und S. 38 ff.; ebenso Wolf(1992a), S. 98. 39 Derselbe Gedanke steht hinter der Auffassung von Odo Marquard, der, unter der Annahme, daß es sich bei dem heutigen Modebegriff des "Sinns" um nichts anderes handelt als eine ,.Pseudonymisierung von Glück", vor der "direkten Sinnintention" warnt als dem sichersten Mittel, den Sinn nicht zu finden, vgl. Marquard, S. 33 ff., insbes. S. 42 ff. 40 Vgl. insbesondere Himmelfarb, die die "These der zwei Mills" geprägt hat. 36 37
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Kapitel II
Das Freiheitsprinzip als Grund und Grenze staatlicher Stratbefugnis On Liberty ist eine Schrift über die Einwirkungen der Gesellschaft auf den einzelnen Menschen. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Gesellschaft - organisiert als Staat - den einzelnen durch die Androhung oder Verhängung von Strafe zu einem Verhalten zwingen darf, betrifft einen besonderen Ausschnitt aus dem Verhältnis Gesellschaft - Individuum; sie ist daher in On Liberty miteingeschlossen. Mill hat sich dieser speziellen Frage jedoch nicht direkt angenommen, weil es ihm vor allem um die Herausarbeitung einer Sphäre ging, innerhalb derer das Individuum frei von jeglicher zwangsweisen Einwirkung durch die Gesellschaft handeln dürfe. Die Einwirkung gerade durch einen staatlichen Strafakt war ihm dabei keineswegs das Hauptanliegen, vielmehr ging es ihm ganz wesentlich um die in seinen Augen schädlichen Wirkungen der ..Tyrannei der öffentlichen Meinung,,41 auf das Individuum. Da Bestrafung aufgrund staatlicher Gesetze aber ein paradigmatischer Fall von gesellschaftlicher Zwangsausübung ist, lassen sich der mögliche Anwendungsbereich staatlicher Strafe und seine Grenzen aus Mills Theorie zumindest skizzenhaft ableiten. Dabei wird deutlich werden, daß sich das Freiheitsprinzip sinnvoll als Richtschnur für die staatliche Strafbefugnis deuten läßt. Im folgenden werden hierzu zunächst Begriff und Anwendungsbereich von ..Strafe" bestimmt; sodann wird letzterer auf die spezielle Form des Strafens durch den Staat eingegrenzt.
1. Begriff und Anwendungsbereich von Strafe
a) Moral, Unrecht und Strafe Strafe kommt als Sanktion für moralisch mißbilligenswertes Verhalten in Betracht. Für Mill ist jedoch das Verhältnis von moralischem Unrecht (wrong) und Strafe ein besonderes: Er erklärt nicht etwa Strafe dann für relevant, wenn ein Unrechtsakt festgestellt wird, sondern führt - gerade umgekehrt - aus, daß ..wir niChts Unrecht nennen, außer wenn wir damit implizieren wollen, daß eine Person für das betreffende Verhalten auf die eine oder andere Weise bestraft werden sollte,,42. Unrecht wird also definiert als ein Handeln, das Strafe verdient. Das bedeutet, daß sich unrechtes - also moralisch mißbilligenswertes - Verhalten gerade durch seine Strafwürdigkeit konstituiert. 41
42
Mill, On Liberty, S. 8 f. und 13; vgl. auch Ten, S. 2 und 12. Mill, Utilitarianism, S. 184 (eig. Übers.).
11. Das Freiheitsprinzip als Grund und Grenze staatlicher Strafbefugnis
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Der Begriff der Strafwürdigkeit dient damit als Trennlinie zwischen bloß untunlichem - d. h. dem allgemein-praktischen Tunlichkeitsprinzip entgegengesetzten und unmoralischem Verhalten: untunliches Verhalten ist nur dann auch unmoralisch, wenn es Strafe verdient. Diese Abgrenzung zwischen untunlichem und unmoralischem Verhalten ist insofern bemerkenswert, als sie vom utilitaristischen Ausgangspunkt aus sehr untypisch ist: Gängigerweise ist für einen Utilitaristen nur eine solche Handlung gut, also moralisch billigenswert, die Nützlichkeit maximiert, und umgekehrt jede Handlung schlecht, die Nützlichkeit nicht maximiert (sofern es eine nützlichkeitsförderndere Handlungsalternative gäbe). Für Mill hingegen ist eine Handlung nur dann schlecht, wenn sie nicht nur untunlich, sondern auch strafwürdig ist. Dadurch besteht ein Raum moralisch indifferenten Verhaltens, der auch untunliche Handlungen enthält: solche Handlungen nämlich, die trotz ihrer Untunlichkeit nicht strafwürdig sind. 43 Mill scheint also mit einem sehr engen - da Strafwürdigkeit erfordernden Moralbegriff zu arbeiten. Dieser Anschein wird jedoch sogleich relativiert, wenn man sich die Reichweite des Millschen Stratbegriffs vergegenwärtigt. Die Bandbreite der von Mill als "Strafe" bezeichneten Sanktionen umfaßt nämlich sowohl Strafe "durch das Gesetz" als auch durch infonnelle soziale Mißbilligung (the opinion of his fellow creatures) als auch "durch Gewissensbisse".44 Durch die Einbeziehung sozialer Mißbilligung und des eigenen Gewissens gibt Mill seinem Konzept der Strafe eine Weite, durch die letztlich wohl ein großer Deckungsbereich zwischen Tunlichkeit und Moralität erreicht wird: die allenneisten untunlichen Handlungen dürften nämlich - aus utilitaristischer Sicht - im Nachhinein wenigstens ein schlechtes Gewissen verdienen.
b) Der Anwendungsbereich von Strafe
Ist damit das Sanktionsspektrum von Strafe beschrieben, ergibt sich nunmehr die Frage nach dem Anwendungsbereich von Strafe. Diese Frage beantwortet Mill über den Begriff der Pflicht (duty). Ein wesentliches Merkmal der Pflicht sei, daß sie erzwungen werden dürfe; ein nicht verpflichtendes Verhalten hingegen könne niemals legitimerweise erzwungen werden. Ein Verhalten erzwingen heiße aber nichts anderes, als die betreffende Person für den Fall der Mißachtung der Pflicht mit Strafe zu bedrohen.4s Die Verletzung einer moralischen Verpflichtung als einer mittels Strafdrohung erzwingbaren Verhaltensnonn stellt daher nach der Millschen Definition Unrecht dar. Die Vgl. Ryan, S. 236; Gray (1983), S. 28. Mill, Utilitarianism, S. 184. Zum Millschen Begriff des Gewissens s. Wolf (l992a), S. 119 ff., zur Kritik daran ders. (l992a), S. 123 f. 45 Mill, Utilitarianism, S. 183. 43
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Frage. wann Strafe in Betracht kommt. beantwortet sich also danach. wann eine verletzte - moralische Verpflichtung vorliegt. Moralische Verpflichtungen gliedern sich nach Mill in vollkommene und unvollkommene Verpflichtungen; die vollkommenen sind jene. auf deren Erfüllung eine andere Person ein Recht46 hat. wohingegen die Erfüllung unvollkommener Verpflichtungen von niemandem konkret verlangt werden kann. weil sie keinen bestimmten Adressaten haben oder in der Art ihrer Erfüllung nicht festgelegt sind (z. B. Wohltaten. caritative Handlungen).47 Beide Arten von Pflichten sind gleichermaßen obligatorisch. ihr Unterschied besteht allein in dem Bestehen bzw. Nichtbestehen eines korrespondierenden Rechts einer anderen Person auf Erfüllung. Wann im Einzelfall eine Pflicht gegeben ist. ist innerhalb des Millschen Systems nach utilitaristischen Kriterien zu beantworten. Diese Bestimmung ist nach Gray möglich durch die Verknüpfung des Tunlichkeitsprinzips mit der Frage der Durchsetzbarkeit und Strafwürdigkeit. Danach ist ein Akt genau dann moralisch verpflichtend. wenn a) es maximal tunlich ist. den Akt auszuführen und b) es maximal tunlich ist. das Unterlassen dieses Aktes zu bestrafen. 48
Zusammenfassend ist bis hierhin festzustellen. daß Mill mit einem sehr weiten Begriff von Strafe arbeitet. der außer dem staatlichen Strafakt ..durch das Gesetz" auch informelle Akte öffentlicher Mißbilligung sowie Gewissensbisse beim Täter selbst umfaßt. Strafe ist eine legitime Reaktion auf die Verletzung moralischer Pflichten sowohl vollkommener wie unvollkommener Art. Und da Strafe eine legitime Reaktion auf solche Pflichtverletzungen ist. stellen diese Unrecht dar. weil Unrecht als ein Verhalten zu verstehen ist. das durch Strafe sanktioniert zu werden verdient. 2. Umfang und Grenze staatlicher Stratbefugnis
Bislang ist Strafe innerhalb der Millschen Konzeption in einem allgemeinen Sinne verstanden worden. der außer dem staatlichen Strafakt auch die herabsetzende Wirkung sozialer Mißbilligung und die Belastungen durch das eigene Gewissen mit einschließt. Dieser Begriff von Strafe ist jedoch im Hinblick auf die Theorie von Joel Feinberg zu weit. da letztere sich nur mit staatlicher Strafe befaßt. Infol46 Zu Mills Begriff eines Rechts s. Utilitarianism. S. 189; vgl. auch Rees, S. 147 f.; der hier verwandte Begriff des Rechts ist offenbar weiter als der von Gray analysierte. der nur den Schutz der essentiellen Interessen an Autonomie und Sicherheit umfaßt. Eine Analyse des Millschen Begriffs der Rechte kann hier jedoch nicht erfolgen, so daß diese (scheinbare) Diskrepanz auf sich beruhen muß. 47 Mill, Utilitarianism, S. 184 f. 48 Gray (1983), S. 28.
11. Das Freiheitsprinzip als Grund und Grenze staatlicher Strafbefugnis
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gedessen bedarf es noch der Eingrenzung des Millschen Strafbegriffs auf Umfang und Grenze staatlicher Strafbefugnis, um letztlich die Basis aufzuzeigen, auf der die Konzeption Feinbergs fußt. a) Der legitime Umfang staatlicher Strafe
Mill selbst hat den legitimen Bereich staatlicher Strafe nicht explizit herausgearbeitet. Dieser läßt sich aber aus seinen Prinzipien und einigen andeutenden Bemerkungen in Utilitarianism und On Liberty entwickeln. Wenn ein Verhalten gegeben ist, das Strate verdient - also die Verletzung einer moralischen Verpflichtung -, muß sich die Wahl der richtigen Strafform nach utilitaristischen Maßstäben vollziehen, denn Strafe ist Schadenszufügung49 , und als solche kann sie nur dann tunlieh sein, wenn sie - als Kompensation für die ihr immanente Schädigung des Bestraften - hinreichenden Nutzen hervorbringt. Es läßt sich also sagen, daß eine Strafe nur dann tunlieh sein kann, wenn die gewählte Strafform nach utilitaristischen Kriterien verhältnismäßig ist5o • Die Strafformenwahl ist also eine Frage der Billigkeit und unterliegt damit dem - nach der Rekonstruktion von Gray - bei Mill impliziten Billigkeitsprinzip (Principle of
Equity).51
Auszugehen ist hierbei von der Intensität einer Bestrafung. Zweifellos wird man sagen können, daß - außer bei einzelnen besonders skrupulösen Naturen - die Strafe durch staatlichen Akt oder durch soziale Mißbilligung als schwererwiegend empfunden wird als schlichte Gewissensbisse, die verdrängt oder verheimlicht werden können. Staatliche Strafe kommt also, hat man den "durchschnittlichen" Staatsbürger vor Augen, jedenfalls nur bei Pflichtverletzungen von hinreichend gewichtigem Ausmaß in Betracht. Eine Kategorisierung der moralischen Pflichten nach ihrem Gewicht wird mithin einen maßgeblichen Hinweis auf den möglichen Rahmen legitimer staatlicher Strafe geben. 52 49 Vgl. Mill, On Liberty, S. 85: Wenn Mill hier von Verhaltensweisen schreibt, die es nicht rechtfertigen, "einer Person Schaden zuzufügen", so kann dieser "Schaden" nur in einer bestrafenden Sanktion liegen. so Der gegen den Utilitarismus erhobene Vorwurf, er legitimiere auch unverhältnismäßige Strafen, soll hier nicht behandelt werden. Zu seiner Widerlegung insbesondere mit Blick auf den Millschen Utilitarismus s. Wolf(l992b), S. 90-112. SI Gray weist darauf hin, daß Mill eines solchen Billigkeitsprinzips bedarf, um aufzeigen zu können, "wieviel Freiheit für wieviel Schadensverhinderung hingegeben werden darf', daß also ein solches Prinzip, obwohl Mill es nicht ausarbeitet, vorausgesetzt werden muß, vgl. Gray (1983), S. 66f.; vgl. hierzu auch Ten, S. 65. S2 Nach der Interpretation von Halliday (S. 116 ff.) ergibt sich der Bereich legitimer staatlicher Sanktionierung unmittelbar aus Mills Differenzierung zwischen selbstbezogenem und fremdbezogenem Handeln: letzteres unterliege der staatlichen Sanktion, ersteres nicht. Dies ist in dieser Grundsätzlichkeit jedoch nicht plausibel, wie die folgende - abweichende - Ableitung zu zeigen hofft.
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A. Strafe im klassischen Liberalismus lohn Stuart Mills
Die wesentliche Unterscheidung zwischen verschiedenen moralischen Pflichten wurde bereits angesprochen: diejenige zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Da unvollkommene Pflichten keinen Adressaten haben, der sich als "Berechtigter" ansehen könnte, können solche Pflichten auch gegenüber anderen kein ausgeprägtes Gewicht entfalten: Werden derartige Pflichten verletzt, kann sich niemand persönlich beschwert oder geschädigt fühlen; oft wird eine solche Pflichtverletzung nicht einmal wahrgenommen werden. Unvollkommene Pflichten sind daher zweifellos von niedererem Rang als die vollkommenen Pflichten. 53 Staatliche Strafe als Sanktion von grundSätzlich erheblichem Gewicht ist - unter Billigkeitserwägungen - mithin nur als Reaktion auf die Verletzung vollkommener Pflichten angemessen. b) Die Grenze staatlicher Strafbefugnis
Fraglich ist jedoch, ob staatliche Strafe für alle Verletzungen vollkommener Pflichten legitim ist. Auch bei der Verletzung rein privatrechtlicher Pflichten (z. B. Erfüllung eines Vertrages) sind Rechte einer bestimmten anderen Person betroffen, die durchzusetzen der Staat gewiß berufen ist. Allerdings dürfte es utilitaristisch kaum begründbar sein, z. B. die Nichtbezahlung einer Kaufvertragsschuld ohne weiteres mit strafrechtlichen Mitteln zu ahnden: Hier stehen grundSätzlich genauso effektive, aber weniger schädigende staatliche Mittel zur Verfügung. Auch der Bereich der vollkommenen Pflichten bedarf also noch einer Einschränkung, um die Grenze billiger staatlicher Strafbefugnis abzustecken. Das hierfür entscheidende Kriterium wird vermittelt über den Begriff der Gerechtigkeit. Eine formale Beschreibung seines Gerechtigkeitsbegriffs gibt Mill im letzten Kapitel von Utilitarianism: "Gerechtigkeit ist der Name für bestimmte moralische Erfordernisse, die, zusammen betrachtet, höher im Rang sozialer Nützlichkeit stehen und deshalb in überragenderer Weise verpflichtend sind als irgendwe1che anderen."s4
Mill weist selbst darauf hin, daß Verletzungen dieser Gerechtigkeitserfordernisse konsequenterweise strengere Sanktionen verdienen als andere Pflichtverletzungen. 55 Eine genauere Bestimmung der Millschen Idee von Gerechtigkeit soll hier nicht erfolgen. 56 Insbesondere soll nicht entschieden werden, ob jede Verletzung vollkommener Pflichten gegen irgendein Gerechtigkeitsgebot verstößt. Wichtig ist allein, daß Mill als "markanteste Fälle von Ungerechtigkeit ... Akte unrechtmäßiS3 Zur ethischen Gewichtung von Handlungen je nach Existenz eines Rechtsinhabers als Handlungsadressaten s. Feinberg. Harmless Wrongdoing, S. 164. S4 Mill. Utilitarianism, S. 200 (eig. Übers.). ss Vgl. Mill. Utilitarianism, S. 20 I. S6 S. hierzu Mill. Utilitarianism, 5. Kapitel; zur Interpretation s. Wolf(l992a), S. 168 ff.
11. Das Freiheitsprinzip als Grund und Grenze staatlicher Strafbefugnis
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ger Aggression oder unrechtmäßiger Ausübung von Macht über jemand anderen"S7 ansieht. Diese "markantesten Fälle von Ungerechtigkeit" sind die augenfälligsten Formen von unrechtmäßigen Schädigungen anderer: ,,Aggression" als Eindringen in die körperliche Integrität eines anderen, "unrechtmäßige Ausübung von Macht" als Freiheitsberaubung oder Nötigung, wobei sowohl Aggression als auch unrechtmäßige Machtausübung auch als Verletzung fremden Eigentums auftreten können. Daraus ergibt sich, daß die gravierendsten Verletzungen moralischer Pflichten gerade diejenigen sind, die zu unterbinden das Freiheitsprinzip bestimmt ist: Verletzungen der Interessen an Sicherheit und an Autonomie. s8 Damit wird das - so interpretierte - Freiheitsprinzip zum Maßstab für die Reichweite staatlicher Strafbefugnis: Es legt den Grund für staatliches Strafen fest, indem es den Schutz oberster Gerechtigkeitserfordemisse postuliert, und es bestimmt die Grenze legitimen staatlichen Strafens, da es im Fall der Verletzung von weniger essentiellen Interes,.. sen eine Zwangsausübung verbietet. Die gerade dargestellte Ableitung des Rahmens legitimer staatlicher Strafe aus dem Gerechtigkeitsbegriff und dem Freiheitsprinzip ist in hohem Maße interpretatorisch: Bei Mill findet sie sich nicht in so deutlicher Form. Die Plausibilität dieser Deutung hängt ab vom Inhalt des Schadensbegriffs: Wenn die "Schäden", die das Freiheitsprinzip verhindern soll, genau dieselben sind, die die "markantesten Fälle von Ungerechtigkeit" darstellen, dann ist das Konzept schlüssig. Für das Interesse des einzelnen an Sicherheit findet sich ein entsprechender Hinweis bei Mill selbst, wiederum im letzten Kapitel von Utilitarianism: Dort betont er, das Sicherheitsinteresse sei das "lebenswichtigste aller Interessen"S9; wenn also überhaupt ein Interesse den Schutz durch das Strafrecht verdient, dann dieses. Für das Autonomieinteresse ist der Schlüssigkeitsnachweis schwieriger zu flihren. Er wird jedoch plausibel durch den überragenden Wert, den Mill der Autonomie als Grundvoraussetzung flir die Verfolgung individueller Glücklichkeit beimißt.
3. Überleitung: Die Kritik am Freiheitsprinzip als Herausforderung für den heutigen Liberalismus Das Ziel dieses ersten Teils war es, aus Mills Konzeption eines indirekten, ethisch auf Schadensverhinderung beschränkten Utilitarismus Umfang und Grenze legitimen staatlichen Strafens abzuleiten. Dabei wurde bewußt versucht, eine konsistente Linie innerhalb des Millschen Gesamtkontextes aufzuzeigen. Allerdings mußte dabei schon anklingen, daß vieles bei der Mill-Interpretation umstritten ist. S7 S8 S9
Mill. Utilitarianism, S. 196 (Hervorhebung von mir); vgl. auch Gray (1983), S. 52. Zum Inhalt des Sicherheits- und des Autonomieinteresses s. o. S. 23 f. Mill. Utilitarianism, S. 190.
3 Seher
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A. Strafe im klassischen Liberalismus John Stuart Mills
Diese Auseinandersetzung um das praktisch-philosophische Konzept Mills hat jedoch nicht dazu geführt, daß das Interesse an Mill erlahmt wäre, sondern wird bis heute als Herausforderung für den rechtsphilosophischen Diskurs empfunden. Joel Feinberg hat diese Herausforderung ausdrücklich angenommen und sich in The Moral Limits of the Criminal Law um eine auf Mills "motivierenden Geist,,60 gegründete Fortentwicklung seines Liberalismus bemüht. Vor der Darstellung von Feinbergs Konzeption sei die Kritik an Mill nochmals zusammengefaßt. Sie läßt sich danach differenzieren, ob sie Mill als in sich widersprüchlichen Denker nachzuweisen versucht oder ob sie um die richtige Interpretation eines insgesamt als konsistent begriffenen Systems ringt. Dabei ist zu berücksichtigen, inwieweit die jeweilige Kritik für Feinbergs Konzeption relevant ist oder Elemente in Mills Philosophie betrifft, die dessen Liberalismus als solchen unberührt lassen. a) Die grundlegende Kritik an Mills Philosophie
Die fundamentale Kritik an Mill richtet sich vor allem gegen drei von ihr behauptete Inkompatibilitäten: 1. Die wesentliche Spannung innerhalb Mills Philosophie wird zwischen dem Nützlichkeitsprinzip und dem Freiheitsprinzip gesehen. 61 Auf die Schwierigkeit, im Rahmen des Utilitarismus ein Prinzip absoluter individueller Freiheiten zu integrieren, ist bereits eingegangen worden, ebenso auf Grays Versuch, sie zu überwinden. Dieses Problem stellt sich jedoch nur bei gleichzeitigem Eintreten für Utilitarismus und Liberalismus. Da Feinberg sich nicht prinzipiell zum Utilitarismus bekennt, ist er diesem Inkompatibilitätseinwand nicht ausgesetzt. 2. Ein zweiter, fundamental gegen Mill gerichteter Ansatz ist die sog. "These der zwei Mills". Sie behauptet einen Widerspruch innerhalb von Mills politischen Überzeugungen, indem sie versucht, unterschiedliche Wertungen in Mills Schriften nachzuweisen: Einerseits vertrete er einen kompromißlosen liberalismus, andererseits zeige sich ein Individualismus mit durchaus elitären Zügen. 62 Auch dieses Argument betrifft die spezifische Struktur von Mills Gesamtkonzept und richtet sich nicht gegen das Freiheitsprinzip als solches. Eine Theorie, die - wie die Feinbergs - nur an das Freiheitsprinzip anknüpft, ohne zugleich andere Elemente aus Mills politischem Denken zu übernehmen, braucht sich mit diesem Vorwurf an Mill mithin nicht auseinanderzusetzen. 3. Schließlich deutet ein dritter Argumentationsgang auf Sprünge in Mills Menschenbild hin: Wahrend er in A System of Logic konstante, wissenschaftlich erFeinberg, Hann to Others, S. 15. Vgl. zur Darstellung dieser Kritik Gray (1983), S. 1ooff. und ders. (1991), S. XIX ff.; vgl. ebenso Ten, S. 2-9. 62 Vgl. Himmelfarb und die Darstellung bei Ten, S. 109-115. 60 61
11. Das Freiheitsprinzip als Grund und Grenze staatlicher Strafbefugnis
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gründbare Strukturen der menschlichen Natur annehme, betone er späterhin die Variabilität und Komplexität der individuellen Charaktere und die Notwendigkeit für den Einzelnen, durch trial anti error den je richtigen Weg zu finden. 63 Einiges aus Mills Menschenbild ist durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse dieses Jahrhunderts überwunden, anderes wiederum ist nicht zwingender Bestandteil des Liberalismus. Daher ist auch diese Kritik für Feinbergs Konzeption nicht maßgeblich. Es zeigt sich damit, daß der lange geführte Streit darüber, ob Mill als konsistenter Denker zu akzeptieren ist, hier keiner vertieften Behandlung bedarf, weil die insoweit aufgeworfenen Fragen nicht seinen Liberalismus als solchen betreffen, sondern dessen Zusammenspiel mit anderen Elementen seiner Philosophie. b) Die Relevanz der systemimmanenten Kritik
Die neuere Mill-Interpretation hat mehrere Varianten aufgezeigt, in denen Mills Schriften als Bausteine eines im großen und ganzen konsistenten Systems dargestellt werden können. Ihre kritische Analyse bestimmter Begriffe und Aussagen Mills zielt auf eine Vertiefung des Verständnisses seines Systems. Wie bereits ausgeführt, fokussiert die Diskussion um das Freiheitsprinzip vor allem auf die Bedeutung des Begriffs "Schaden bei anderen". Es wird nach Möglichkeiten gesucht, die Sphären selbst- bzw. fremdbezogener Handlungen zu bestimmen und den Schadensbegriff durch eine Konzeption von Interessen zu operationalisieren. 64 Auch das Konzept von Rechten als Schutzansprüchen wird thematisiert. Die um diese Begriffe kreisenden Fragen nehmen auch einen zentralen Platz in der Konzeption von Feinberg ein. 65 Darüber hinaus wird auf den pessimistischen, sozialkritischen Hintergrund hingewiesen, vor dem insbesondere On Liberty entstanden ist. 66 Mill bezog sich mit seinem politischen Anliegen sehr direkt auf das viktorianische England, so daß sich insoweit - auch wenn man der Fundamentalkritik nicht folgt, die an seinem Bild der menschlichen Natur geübt wurde - für die heutige Diskussion Differenzierungen aufdrängen. Eine heutige liberale Konzeption für die pluralistische Gesellschaft des 2l. Jahrhunderts hat andere Beobachtungen des Menschen zugrundezulegen. Eine auf Mills theoretischem Ansatz fußende Philosophie des Strafrechts muß daher vor allem zweierlei leisten: Sie muß das Millsche Freiheitsprinzip so präziVgl. Anschutz sowie Feyerabend; zusammenfassend Rees, S. 100ff. Daß allerdings auch die Interessenkonzeption der Schädigung ihre Schwierigkeiten und Schwächen hat, ist von Ten, S. 11-14 prägnant herausgestellt worden. 6S S. dazu u. Kapitel IV. 66 S. hierzu z. B. Halliday, S. 121: Der nivellierende Druck der öffentlichen Meinung führe, so Mill, zu einer dumpfen Uniformität in der Gesellschaft. 63
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A. Strafe im klassischen Liberalismus John Stuart Mills
sieren, daß es gegen die genannten Einwände geschützt und zugleich auf die Einzelfälle der sozialen Praxis anwendbar ist, und sie muß die Bedingungen berücksichtigen, unter denen die Menschen in der heutigen, globalisierten Gesellschaft leben. Beide Aspekte spielen in Feinbergs Konzeption eine wesentliche Rolle.
c) Das Freiheitsprinzip als Fundament des Liberalismus
Ungeachtet aller Kritik an On Liberty herrscht unter den neueren Mill-Interpreten Einigkeit darüber, daß diese Schrift bis heute eine der herausragenden Explikationen des Liberalismus verkörpert. Die Idee eines garantierten Freiraumes des Einzelnen gegenüber jeder Art von staatlichem Zwang hat seither nichts von ihrer Faszination verloren und bleibt auch in einer Zeit relevant, in der die führenden Gesellschaften der sog. westlichen Welt liberales Gedankengut ausgeprägt in ihren Rechtsordnungen verankert haben. Es zeigt sich auch, daß die Grundaussagen des Liberalismus diesen immer wieder in die Nähe Millscher Argumentationsstrukturen bringen - sei es, daß der Übelscharakter staatlichen Zwanges herausgehoben wird, daß ein individueller Freiraum mittels einer Konzeption selbstbezogener Handlungen gesucht oder die Individualität der Menschen gegenüber ihrer Rolle als Mitglieder einer Gesellschaft betont wird. Aus diesen Gründen stellt die intuitive und konzeptionelle Anziehungskraft des Millschen Freiheitsprinzips nach wie vor eine Herausforderung an die rechtsphilosophische Diskussion um den Liberalismus dar - gerade auch weil noch viele Details in der Interpretation umstritten sind.
TeilB
,,Moralische Grenzen des Strafrechts" Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg Joel Feinberg hat das Millsche Freiheitsprinzip als Ausgangspunkt seiner liberalen Strafrechtsphilosophie genommen. The Moral Limits 0/ the Criminal Law ist "der Versuch, den von Mills On Liberty ausgehenden traditionellen Liberalismus zu verteidigen" - nicht in strenger Anlehnung an Mills Argumentation, aber angeregt von dem von Mill ausstrahlenden "motivierenden Geist". 1 Zu Beginn der Erörterung von Feinbergs umfassender Theorie soll deren konzeptioneller und methodischer Rahmen abgesteckt werden, bevor in den Kapiteln IV bis VI Feinbergs Argumentationsgang von der Stratbegründung durch das Schädigungs- und das Störungsprinzip zur Stratbegrenzung durch die Ablehnung verschiedener illiberaler Ansätze dargestellt und kritisch analysiert wird. Kapitel m
Feinbergs Methode und Konzeption Philosophische Konzepte zu staatlicher Strafe existieren in großer und konkurrierender Zahl. Zumeist sind es StrafbegTÜndungstheorien, die den ethischen Sinn oder den politischen Zweck von Strafe an sich aufzeigen. Joel Feinberg stellt die Frage nach dem Sinn der Strafe nicht, sondern setzt Strafe als faktisch existierendes staatliches Sanktionsinstrument voraus. Er entfaltet auf dieser Basis eine Theorie zur legitimen Anwendung dieses Zwangsmittels und insbesondere zu den ethisch gebotenen Schranken der Bestrafung. 2 Feinbergbaut die von John Stuart Mill gelegten liberalen Grundstrukturen einer Theorie der legitimen Grenzen staatlicher Macht zu einem eigenständigen, in vielfältige Details verfeinerten System aus. Zwar wird unter dem Begriff des ,,Liberalismus" eine Mehrzahl theoretischer Ansätze vereinigt; gemeinsam ist allen liberalen Theorien aber die Betonung indiFeinberg, Hann to Others, S. 15. Daher handelt es sich nicht um eine Straftheorie, sondern um eine Strafrechtstheorie als einer Theorie über den legitimen Inhalt eines staatlichen Strafrechts; vgl. zu dieser Terminologie Calliess, S. 27 ff., der jedoch den Begriff "Strafrechtstheorie" auf Konzeptionen zur Dogmatik des positiven Rechts beschränken will. 1
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
vidueller Handlungsfreiheit als eines außerordentlich hohen individuellen oder sozialen Wertes, der innerhalb einer jeden ethischen Konzeption mit maßgeblichem Gewicht zu berücksichtigen sei. 3 Da es Feinberg hier nur um einen spezifischen Ausschnitt aus dem Gesamtspektrum der Sozialethik geht, nämlich der Einwirkung des Staates auf den Bürger durch Zwangsmittel, kann er mit einem eingeschränkten Begriff der Handlungsfreiheit arbeiten: Freiheit ist nur relevant als Fehlen gesetzlichen Zwanges, wobei Zwang - wiederum restriktiv - nur verstanden wird als Strafbewehrung gesetzlicher Gebote und Verbote. 4 Der Begriff "Freiheit" wird daher im folgenden, soweit nicht anders kenntlich gemacht, in dieser eingeschränkten Bedeutung verwandt. Die typische liberale Argumentationstechnik besteht nun - ausgehend von der Freiheit als dem relevanten positiven Wert - darin, Zwang unter dem Blickwinkel seiner freiheitsbeschränkenden Wirkung grundsätzlich als Negativum anzusehen und daher für jede im Einzelfall vorgeschlagene Zwangsausübung oder -androhung eine Rechtfertigung zu verlangen. 5 Die Plausibilität dieser Argumentationstechnik hängt unmittelbar von der Überzeugungskraft der Freiheitshypothese ab. Feinberg muß also, wenn er aus der Freiheitshypothese normative Aussagen über die Legitimität von Zwang ableiten will, Angaben darüber machen, mit Hilfe welcher methodologischer Struktur er diese Hypothese begründen will. Insbesondere muß er vorab auf der metaethischen Ebene klarstellen, ob er sich eines argumentativen Instrumentariums zur Letztbegründung bedienen will. Wegen ihres logischen Vorrangs soll diese metaethische Frage hier vorab erörtert werden, gefolgt von einigen Anmerkungen zu Konzeption und Reichweite von Feinbergs Theorie. Auf dieser Grundlage können dann in den folgenden Kapiteln wesentliche Einzelfragen der Theorie kritisch diskutiert werden.
1. Zur kohärentistischen Methodologie Feinberg gibt nur wenige Hinweise auf den metaethischen Hintergrund seiner Theorie - es kommt ihm ausschließlich auf das normativ-ethische Konzept an. Probleme der Letztbegründung läßt er ausdrücklich offen: Fortschritt bei den vorletzten Fragen brauche nicht auf die Lösung der letzten Fragen zu warten. 6 Das Bekenntnis zum Liberalismus wird mithin nicht - wie bei John Stuart Mill - utilitaristisch fundiert, auch nicht etwa kontraktualistisch wie bei John Rawls? 3 Vgl. Cranston, Maurice, ,,Liberalism", in: Edwards, S. 458; zur Definition des ,,Liberalismus" s. genauer u. Kapitel VII. 4 Feinberg, Harm to Others, S. 7 f. S S. hierzu genauer u. S. 48 ff. 6 Feinberg, Harm to Others, S. 18.
III. Feinbergs Methode und Konzeption
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Ebensowenig nimmt Feinberg Rückgriff auf eine naturrechtliche Ableitung des Wertes der Freiheit8 oder definiert den Freiheitsbegriffaxiomatisch, etwa mit Evidenzerwägungen. 9 Da Feinberg auf jede Art dogmatischer Letztbegründung verzichtet,lO muß er die Plausibilität des hohen Ranges individueller Handlungsfreiheit auf andere Weise erklären. Er arbeitet hierzu mit dem argumentum ad hominem 11 , einer Argumentationsfigur, die - allgemein gesagt - an Umstände in der Person des Adressaten appelliert. a) Das Ad-hominem-Argument
Der Begriff des argumentum ad hominem wird nicht einheitlich verwandt. Für Feinberg beinhaltet er einen direkten Appell ..an die Person" des Gesprächspartners, an die ..Überzeugungen, von denen angenommen wird, er oder sie besitze sie bereits". 12 Maßgeblich ist an dieser Form der Argumentation, daß sie die Präsuppositionen des Adressaten anerkennt 13 , also nicht primär versucht, Positionen des Sprechers durchzusetzen, sondern bewußte oder unbewußte Positionen des Zuhörers zu aktivieren. Walton hat in seiner ausführlichen, kritischen Studie zum argumentum ad hominem einen anderen Begriff dieses Arguments zugrundegelegt. 14 Er versteht dieses Argument als Form des persönlichen Angriffs auf den Gegner und unterscheidet zwischen einer indiziellen Variante, die Eigenschaften oder Verhaltensweisen des Adressaten aufzeigt, die mit dessen Behauptungen nicht kompatibel sind, und einer mißbräuchlichen Variante, die den Adressaten durch Erwähnung eigentlich nicht relevanter Umstände disqualifiziert. ls Daß diese Form des persönlichen Angriffs, 7 Ob die Gerechtigkeitstheorie von Rawls tatsächlich in ihrem wesentlichen Gehalt kontraktualistisch ist, wie er selbst meint, wird von Feinberg bezweifelt, vgl. Duty and Obligation in the non-ideal World, S. 263 - 275, insbesondere S. 265 f. 8 Zu naturrechtlichen Begründungen eines Freiheitsprinzips s. u. a. Utz, S. 81 ff. und S. 152 ff., insbes. S. 164; Coing, S. 181 ff. 9 Im Verlauf der Erörterungen entwickelt Feinberg jedoch einen Begriff persönlicher Autonomie, dem er einen kategorischen Vorrang vor allen anderen Werten zumißt, ohne diesen Vorrang erschöpfend zu begründen; vgl. hierzu u. Kapitel VI.l.b) und Kapitel VII.2.a). 10 Neumann (ARSP 1986, S. 119) bezeichnet Feinbergs Methode nicht zu Unrecht als ..ethischen Eklektizismus". 11 Feinberg, Harrn to Others, S. 18. 12 Feinberg, Harrn to Others, S. 18. 13 Gontier; T., .. Argument", in: Jacob, S. 157. 14 Vgl. Walton passim. 15 Ein Beispiel für die indizielle Variante (circumstantial ad hominem) läge vor, wenn A von B verlangt, das Rauchen aufzugeben, und B damit kontert, A sei doch selbst Raucher; B beruft sich damit auf ein Indiz, das die Position des A schwächt. - Mißbräuchlich ist in dieser Terminologie das Argument, wenn B den A dadurch in Mißkredit bringt, daß er - wiederum in einem Disput über das Rauchen - den A als Alkoholiker brandmarkt. Letzterer Umstand
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
besonders bei ,,Bemerkungen unter der Gürtellinie", in vielen Fällen unlauter ist, liegt auf der Hand. Es ist daher wichtig festzustellen, daß Feinberg diese Argumentationsrichtung nicht intendiert. Ihm geht es um den Appell an "tief eingegrabene, informierte Überzeugungen", d. h. "Intuitionen ,,16 desLesersP Dabei nimmt er an, daß sich diese Intuitionen bei jedem einzelnen zu einem "Überzeugungsnetzwerk" (conviction network) zusammenfügen. 18 An dieses bei jedem möglichen Gesprächspartner zu erwartende Überzeugungsnetzwerk richtet sich Feinberg, um durch Appell an bestimmte Intuitionen die Bereitschaft zu wecken, andere Intuitionen zu modifizieren oder aufzugeben. 19 Er verfolgt damit eine ethische Kohärenzmethode. 20 Zur Verdeutlichung dieser Methode sind insbesondere die - in der Philosophie durchaus unterschiedlich verwandten - Begriffe der Intuition und des Intuitionismus zu bestimmen; sodann wird die Funktionsweise und Reichweite der Kohärenzmethode skizziert. b) Zur Analytik der Begriffe "Intuition" und "Intuitionismus" Mit ,,Intuition" wird - insbesondere in der Epistemologie - eine Wissensform bezeichnet, bei der das gewußte Objekt unmittelbar und gänzlich im Geist gegenwärtig ist. Die Intuition wird damit dem diskursiven, deduktiven oder symbolischen Wissen entgegengesetzt.21 Dieser Begriff erfaßt beispielsweise das Descartsche "Cogito": die nicht weiter reduzierbare Gewißheit, daß Denken existiert. 22 Rorty unterscheidet in diesem Zusammenhang vier verschiedene Bedeutungen von ,,Intuition", unter denen sich so divergierende Ideen finden wie die kantische ,,intuition" von Zeit und Raum und die ,,nicht ausdrückbare Intuition" der Dauer in Bergsons Philosophie. 23 In der Ethik bezieht sich der Begriff der Intuition - entsprechend dem Erkenntnisgegenstand dieser Disziplin - auf die Natur bzw. Quelle moralischer Urteile. untergräbt nicht die Position des A bezüglich des Rauchens, sondern seine Glaubwürdigkeit schlechthin. 16 Feinberg, Hann to Others, S. 16. 17 Feinberg verwendet die Begriffe ,Jntuition" (intuition) und ,;nfonnierte Überzeugungen" (infonned convictions) als Synonyme. Auch seine Tennini ,,Alltagsansichten" (everyday attitudes) und ,,moralische Ansichten" (moral beliefs) sind wohl in demselben Sinne zu verstehen. 18 Feinberg, Hann to Others, S. 19. 19 Feinberg, Hann to Others, S. 18. 20 Feinberg, Hann to Others, S. 18. 21 De Buzon, F., ,Jntuition", in: Jacob, S. 1368. 22 Zum epistemologischen Begriff der Intuition in den europäischen Philosophien des 17. und 18. Jahrhunderts s. Bjelke. 23 Rorty, Richard, ,Jntuition", in: Edwards, S. 204.
Iß. Feinbergs Methode und Konzeption
41
Auch hier gibt es zumindest zwei verschiedene Ansätze, die mit diesem Begriff arbeiten, ihn aber in jeweils inkongruenter Weise verwenden. In einer objektivistischen (starken) Variante steht ,,Intuition" für einen Wahrheitsindikator: Sie ist das - im menschlichen Verstand angelegte - Instrument, um auf nicht-inferentielle Weise die Wahrheit ethischer Urteile zu erkennen. 24 Andere Theorien, so beispielsweise die von Richard M. Hare, bezeichnen mit ,,Intuitionen" - in einem schwächeren Sinn, der nicht auf apriorische Kategorien zurückgreift - erlernte prima jacie-Prinzipien. 25 Diese Prinzipien fußen gerade nicht, wie in der ersten Variante, auf einer angeborenen Fähigkeit - einem sog. moral sense -, sondern sind ein Resultat der sozialen Einflüsse, denen der Mensch von Geburt an ausgesetzt ist. Es wird unmittelbar deutlich, daß diese Definitionen. zu strukturell konträren ethischen Konzeptionen führen. Konsequenterweise steht daher der Begriff des "ethischen Intuitionismus" für eine ganze Gruppe von Theorien 26 • In einer objektivistischen Spielart knüpft der Intuitionismus an die Intuition als unmittelbare Quelle ethischer Erkenntnis an27 und gelangt über die Annahme, daß diese Erkenntnisquelle bei allen oder zumindest bei einigen informierten Menschen auf gleiche Art angelegt sei, zu einer UniversaIisierbarkeit intuitiver ethischer Wahrheitserkenntnis. 28 Dieser Intuitionismus wird vor allem insofern kritisiert, als er Schwierigkeiten hat, die Existenz derartiger Intuitionen und deren Universalisierbarkeit plausibel zu machen. 29 Unter Zugrundelegung des zweiten, pluralistischen Begriffs der Intuition gelangt man zu einem Begriff des Intuitionismus, der mit dem gerade skizzierten nicht kompatibel ist.3o Ob diese zweite Verwendung "irreführend" ist, wie Sinnott-Armstrong beklagt3!, mag dahingestellt bleiben; wichtig ist allein festzustellen, daß nicht jede ethische Theorie, die mit Intuitionen arbeitet, zwingend zu einem Intuitionismus im obigen, ersten Sinne führen muß. Vielmehr kann mit Intuitionismus auch gemeint sein, daß die Tatsache divergierender kultureller Prägungen des IndiS. hierzu Harrison, Jonathan, ,,Ethical Objectivism", in: Edwards, S. 72. Hare, S. 85. 26 Sinnott-Armstrong, Walter, ,,1ntuitionism", in: Becker, S. 628. 27 Hierbei ist die Quelle der Intuitionen ein Gegenstand der Kontroverse: Sie wird teilweise in einer sinnesgleichen Wahrnehmung gesehen (moral sense theories), teilweise in einer apriorischen Struktur. Einer Vertiefung dieser Kontroverse bedarf es für das Verständnis von Feinbergs Methode jedoch nicht; s. dazu Sinnott-Armstrong, Walter, ,,1ntuitionism", in: Becker, S. 629. 2S Namhafte Vertreter eines solchen objektivistischen Intuitionismus sind u. a. Price (der als erster den Begriff der ,,Intuition" im Zusammenhang mit moralischem Urteilen verwandte) und in diesem Jahrhundert G. E. Moore, Ross und PriclUlrd. 29 Vgl. Lumer, Christoph, ..Kognitivismus I Nonkognitivismus", in: Sandkühler, S. 822. 30 V gl. auch Harrison, Jonathan, der ausdrücklich auf die "zweideutige" Verwendungsweise des Begriffs aufmerksam macht: s. ,,Ethical Objectivism", in: Edwards, S. 72. 31 Sinnott-Armstrong, Walter, "Intuitionism", in: Becker, S. 628. 24
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
viduums konstatiert wird, um die Resultate dieser Einflüsse als "primajacie-Prinzipien", ,Jntuitionen" oder "Überzeugungen" in eine ethische Konzeption einzubeziehen. In letzterem Sinne verwendet beispielsweise Rawls den Begriff ,Jntuitionismus", indem er darunter die Lehre versteht, "es gebe eine nicht weiter zurückführbare Familie von ersten Grundsätzen, aus denen durch wohlüberlegtes Urteil eine möglichst gerecht gewichtete Kombination herzustellen sei,,32. Diese Definition von "Intuitionismus" impliziert nicht nur die Pluralität grundlegender moralischer Überzeugungen, sondern darüber hinaus das Fehlen ausdrücklicher Regeln zur Gewichtung dieser Grundsätze im Vergleich zueinander 33 . Feinberg bezieht sich ausdrücklich auf die genannte Definition von Rawls 34 . Allerdings lehnt er - anders als Rawls - diese ethische Methode nicht ab, sondern bekennt sich, wie schon in einem früheren Aufsatz gegen Rawls,35 zum pluralistischen ("schwachen") Intuitionsbegriff und strebt nach einer möglichst großen Übereinstimmung der divergierenden Intuitionen untereinander.
c) Legitimation durch Kohärenz
Der metaethische Ansatz, dessen Argumentation darauf zielt, bereits vorgefundene, mehr oder weniger reflektierte Überzeugungen zu gewichten und zu harmonisieren, wird als ethische Kohärenzmethode bezeichnet. Die Vertreter dieser Methode konstatieren, daß die Frage ethischer Letztbegründung ungelöst ist, ziehen daraus aber nicht den Schluß, daß rationale Argumentation in der Ethik deshalb unmöglich sei. 36 Angesichts des Fehlens eines unhintergehbar fundierten letzten ethischen Prinzips knüpft die Kohärenzmethode an tatsächlich vorhandene moralische Intuitionen (convictions, beliejs)37 als einzig greifbarem Startpunkt für einen ethischen Diskurs an. Diese Intuitionen divergieren zwischen verschiedenen Personen, und auch bei ein und derselben Person können Widersprüche zwischen mehreren zugleich gehaltenen Überzeugungen zutage treten. Rawls (1991), S. 52. Rawls (1991), S. 53; Rawls distanziert sich jedoch ausdrücklich von der intuitionistischen Methode und postuliert eine strenge Prioritätsfolge unter seinen Gerechtigkeitsprinzipien. 34 Feinberg, Joel, Harrn to Others, Endnote 12 zur Generallntroduction (S. 247). 35 Feinberg, Rawls and Intuitionism. 36 Vgl. Ewing, S. 9. 37 Die Begriffe der ,,Intuition" in der schwachen, bei Rawls und Hare erscheinenden Bedeutung und der "Überzeugung" im Sinne einer (mehr oder weniger) wohlüberlegten moralischen Ansicht werden verschiedentlich als Synonyme verwandt. Auch Feinberg differenziert insoweit nicht. Daher soll auch hier kein begrifflicher Unterschied zwischen ,,Intuition" und "Überzeugung" gemacht werden. 32
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III. Feinbergs Methode und Konzeption
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Maßgebliches Ziel des ethischen Kohärentismus ist zunächst, auf - unbedachte oder ungewollte - Konsequenzen einer schon vertretenen Überzeugung aufmerksam zu machen. Glover betont hier den Zusammenhang zwischen den Antworten, die jemand, hinsichtlich einer moralischen Ansicht befragt, gibt, und seinen allgemeinen moralischen Überzeugungen selbst. 38 Fragt man beispielsweise jemanden, der sich als radikalen Pazifisten bezeichnet, wie er in einer Notwehrsituation reagieren würde, wenn er nur durch Tötung des Angreifers das Leben seines Kindes retten könnte, und würde er hier eine Tötung für akzeptabel halten, so wäre er genötigt, sein radikales Pazifismusprinzip neu zu fonnulieren. Die Frage der Akzeptabilität der Konsequenzen ist somit der Test für moralische Überzeugungen. 39 Ein weiteres Anliegen des Kohärentismus ist die Verallgemeinerung einzelner Intuitionen zu moralischen Prinzipien. 40 Spricht sich z. B. jemand für ein allgemeines Tötungs- und Verletzungs verbot und für den strafrechtlichen Schutz des Privateigentums aus, kann man versuchen, durch Präzisierung des Schadensbegriffs aufzuzeigen, daß der Betreffende eine bestimmte Art von Schädigungsprinzip vertritt. Sowohl das Aufzeigen von Konsequenzen als auch die Generalisierung beruht dabei auf rationaler Argumentation. Der Kohärentismus betreibt kein "intuitives Philosophieren", sondern sucht nach strenger logischer Konsistenz zwischen geäußerten Überzeugungen. 41 Die argumentative Vorgehensweise ähnelt dabei den Grundsätzen des epistemologischen Fallibilismus. Ohne Unterschiede in der Erkenntnisstruktur zwischen Epistemologie und Ethik verwischen zu wollen, läßt sich auch für die Ethik eine Methode fonnulieren, die Intuitionen als "moralische Hypothesen" statuiert und sie durch Konfrontation mit tatsächlichen Lebenssituationen und mit anderen zugleich vertretenen Intuitionen stützt, modifiziert oder verwirft. Das Ergebnis ist zwar nie ethische "Wahrheit" - ebenso wenig wie die Naturwissenschaften sich der "Wahrheit" ihrer nicht falsifizierten Hypothesen sicher sein können; erreicht werden kann aber - idealerweise - ein widerspruchsfreies System von moralischen Anschauungen, das im ethischen Diskurs nicht ohne weiteres ignoriert werden kann. Ein solches kohärentes System von moralischen Prinzipien führt überdies dazu, daß jedes einzelne Prinzip innerhalb des Systems durch die Kohärenz mit anderen Prinzipien gestärkt wird. Der Kohärentismus kann auf diese Weise zwar ein in sich geschlossenes ethisches Gerüst errichten, die Waffe der Kohärenz bleibt aber stumpf gegenüber jedem, der grundlegend andere Intuitionen in den Diskurs einbringt. 42 So bekennt Glover, S. 26 ff. Glover, S. 26. 40 V gl. Ewing, S. 10. 41 Zur Rationalität der Argumentation und zum Nachweis von Inkonsistenzen als Anliegen des Kohärentismus s. Glover, S. 25. 38 39
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
Feinberg selbst: "Wo keine gemeinsame Grundlage moralischer Überzeugungen zwischen zwei Individuen besteht ... , ist das Spiel aus, bevor es beginnt. ,,43 Immerhin aber erhält sich der Kohärentist die Möglichkeit, auch mit Vertretern ethischer Letztbegründungen zu diskutieren, vorausgesetzt nur, sie teilen moralische Überzeugungen mit ihm - mögen sie sie auch anders begründen. Damit ist auf der metaethischen Ebene eine größtmögliche Offenheit erreicht.44 Angesichts dessen kann die von Feinberg zugestandene, einzige Einschränkung - "bezüglich der logisch möglichen, aber nicht sehr wahrscheinlichen Person, deren gesamte moralische Überzeugungen meinen eigenen logisch widersprechen, gibt es nichts, das ich ihr sagen könnte,,4S - ohne zu wesentlichen Verlust für Geltungsanspruch und Wirkkraft der Theorie hingenommen werden. d) Anwendungen Im Zusammenhang mit seinen methodologischen Vorbemerkungen gibt Feinberg selbst Hinweise auf Fälle, in denen er das ad hominem-Argument anwendet, um die Widerspruchsfreiheit von abweichenden ethischen Ansätzen auf die Probe zu stellen.46 Da bei der folgenden Darstellung der Theorie diese Fälle genauer analysiert werden, sollen sie hier nur kurz erwähnt werden: Zunächst ruht die Anknüpfung an den liberalen Wert individueller Handlungsfreiheit auf der suggestiven Annahme, jeder, der dieser Freiheit beraubt werde, werde ihr Fehlen als "wirklichen Verlust" (genuine personalloss) empfinden. 47 Die Notwendigkeit, entgegen Formen eines radikalen Liberalismus außer Schädigungen auch nichtschädigende Störungen vom Strafrecht zu erfassen, verdeutlicht Feinberg, indem er eine ausgesprochen plakative und fantasievolle Reihe von Beispielen anführt ("A ride on the bUS ..48 ), die es jedem Leser schwermacht, die dargestellten Störungen rur irrelevant zu halten. Weitere Fälle sind die Grundlegung der Autonomie-Doktrin49 und der Ansatz zur Entkräftung des moralischen Konservatismus so. 42 Diesen Punkt muß auch Brody (S. 446 -456) eingestehen, der im übrigen versucht, ausgehend von einem schwachen Begriff der Intuition als einem "vorläufigen Urteil" (tentative judgment) zu einem Intuitionismus zu finden, der dennoch Objektivitätskriterien erfüllt. 43 Feinberg, Justice, Fairness and Rationality, S. 1020; in gleichem Sinne Glover, S. 23. 44 Daß die Kohärenzmethode auch der soziologischen Analyse gesellschaftlicher Diskursprozesse eher entspricht als Theorien ethischer Letztbegründung, betont zu Recht Petev (1993), S. 219ff. 45 Feinberg, Harm to Others, S. 18. 46 Feinberg, Harm to Others, S. 18 f. 47 Feinberg, Harm to Others, S. 9. 48 Feinberg, Offense to Others, S. 10-13. 49 Feinberg, Harm to Self, S. 52. so Feinberg, HarmIess Wrongdoing, S. 74ff.
III. Feinbergs Methode und Konzeption
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Bei der nachfolgenden Darstellung der Theorie Feinbergs wird auf die argumentative Struktur immer wieder hingewiesen werden. Dabei soll am jeweiligen Einzelproblem gezeigt werden, inwieweit die kohärentistische Argumentation in sich konsistent ist und inwieweit sie auch Vertreter von zumindest zum Teil abweichenden Intuitionen überzeugen kann. 2. Konzeptionelle Einschränkungen Joel Feinberg baut seine Theorie auf der Grunddoktrin des klassischen Liberalismus auf, wie sie von John Stuart Mill formuliert wurde. Allerdings schränkt er die Reichweite der Untersuchung in zweierlei Hinsicht ein: Wahrend es Mill um jede Form staatlichen und gesellschaftlichen Zwanges gegenüber dem Individuum ging, betrachtet Feinberg ausschlieBlich staatlich-offizielle Zwangsausübung, und aus diesem Spektrum nur Maßnahmen in der Form staatlicher Strafakte. Hatte Mill vor allem die Freiheit des Individuums im Blick, geht es Feinberg maßgeblich um deren Kehrseite, die Kontrolle staatlichen Zwangs. Die Rechtfertigung staatlicher Autorität im allgemeinen und einer grundsätzlichen staatlichen Strafbefugnis im besonderen wird dabei nicht thematisiert. Auch findet sich keine Erörterung der kontroversen Strafzweckdebatte. Strafe wird als universell-faktisches Instrument staatlichen Handeins akzeptiert. Lediglich aus dem textlichen Zusammenhang läBt sich erschließen, daß Feinberg keinesfalls absoluten Ansätzen zur Strafbegründung zuneigt: Er legt dar, es gebe für alle strafrechtlichen Verbote andere Techniken, um deren jeweiligen Zweck zu erreichen. 51 Dieser Hinweis ist mit der Auffassung von Strafe als (retributivern) Selbstzweck unvereinbar. Strafe erscheint bei Feinberg vielmehr in instrumentellem Kontext: als zweckorientierter - und damit an Effizienz zu messender - staatlicher Regelungsmechanismus. Dieser Zugang zur Strafe läBt sich wohl auch schwerlich mit retributivistischen Ansätzen in Einklang bringen, denn retributive Strafe dient nicht primär als gesellschaftliches Steuerungsmittel, sondern als individuell orientierte VergeltungsmaBnahme - mit dem lediglich sekundären Effekt, Rachegelüste von Opferseite zu befriedigen. Auch die Frage, wie Strafen zu vollziehen seien, ist nicht Gegenstand der Diskussion; Feinberg geht vom in heutigen Demokratien gängigen Normalfall der Strafsanktion durch Freiheitsentziehung oder Geldstrafe aus. 52 Zunächst scheint in der Tat die Ausgestaltung der Rechtsfolgenseite nicht unmittelbar mit der moralischen Legitimität von Strafe an sich zusammenzuhängen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß für bestimmte, insbesondere kleinere Vergehen die Legitimität von Strafe prinzipiell davon abhängen kann, ob diese Strafe mittels einer SI 52
Feinberg, Hann to Others, S. 22. Vgl. Feinberg, Hann to Others, S. 24.
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
angemessenen Sanktion vollzogen wird - mit anderen Worten: Stehen nur Sanktionen zur Verfügung, die erst bei einem bestimmten Unrechtsgehalt ethisch angemessen sind, wirkt dies unmittelbar auf die Legitimierbarkeit der Pönalisierung bestimmter Verhaltensweisen zurück. Feinberg muß also unterstellen, daß Freiheitsentziehung und Geldstrafe Sanktionen darstellen, die in allen tatbestandlich strafwürdigen Fällen auch zu einer moralisch legitimen Bestrafung führen können. 53
3. Der limitierend-materielle StraftatbegritT Feinberg problematisiert, wie dargestellt, weder die Institution "Strafe" an sich noch die in "westlichen" Demokratien geläufigen Strafformen; sein Interesse gilt allein der Tatbestandsseite der Strafnorm. Die zentrale Frage seiner Theorie lautet: "Welche Verhaltensweisen darf der Staat legitimerweise (rightly) unter Strafe stellen?"54 Die Antwort auf diese Frage sucht er im wesentlichen nicht auf diskursiv-prozeduralern Wege, sondern durch Bestimmung eines Wertgefüges, innerhalb dessen sich die Bestrafung konkreter Verhaltensweisen als mögliches Instrument zum Schutze höherer Werte erweisen läßt. Feinberg geht es also um einen axiologischen, materiellen Begriff der Straftat. Das auf diese Weise angestrebte materielle Kriterium der Strafwürdigkeit dient aber nicht zur Erarbeitung eines abschließenden Katalogs all jener Handlungen, die bestraft werden soLLten. sondern zur Ausgrenzung jener Handlungen, die legitimerweise nicht bestraft werden dürfen. Feinberg differenziert hier zwischen ethisch gerechtfertigten (justified) und ethisch legitimen (legitimized) Normen. Legitim ist eine Strafnorm immer dann, wenn sie durch ethische Prinzipien gestützt wird. Gerechtfertigt ist sie nur dann, wenn sie sowohl legitim als auch nützlich, weise und politisch konsensfähig ist. 55 Letzteres ist stets eine Frage der konkreten politisch-sozialen Situation und damit abhängig von Umständen, die sich wegen der Vielgestaltigkeit komplexer sozialer Systeme nicht in einer für die Theoriebildung hinreichend präzisen Weise kategorisieren lassen. S3 Dieser Punkt soll nicht weiter vertieft werden. Solange Feinberg Kriterien ..für eine ideale Gesetzgebung in einem demokratischen Staat" sucht (Harrn to Others, S. 4), darf er voraussetzen, daß dieser Gesetzgeber ihn nicht z. B. mit der Wiedereinführung von Talionsstrafen überrascht. Ob die stereotype Verhängung von Freiheitsstrafen ftir nicht nur geringfügige Straftaten tatsächlich eine effiziente und damit den instrumentellen Zweck der Strafe erfüllende Strafform darstellt, kann sinnvoll bezweifelt werden; diese Frage berührt aber Probleme, die von der philosophischen Konzeption in The Moral Limits 0/ the Criminal Law unabhängig sind. Zur - unter anderem - symbolischen sozialen Funktion staatlicher Strafe s. Feinberg, The Expressive Function ofPunishment. 54 Feinberg, Harm to Others, S. 3. 55 Feinberg, Harm to Others, S. 6.
III. Feinbergs Methode und Konzeption
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Ethische Legitimität hingegen betrifft die Frage des abstrakt Vertretbaren und ist damit philosophischer Analyse von Prinzipien und mithin der Theoriebildung zugänglich. Allerdings - und darauf weist schon der Titel von Feinbergs Werk: ,,Moralische Grenzen des Strafrechts" hin - dient der Begriff der Legimität nur der Auslese möglicher Normen und damit der Ausgrenzung nicht vertretbarer Regelungen. Insofern kommt dem von Feinberg gesuchten Begriff der Straftat vor allem ein limitierender Charakter zu. Der Gegenstand von Feinbergs Untersuchung läßt sich daher beschreiben als limitierend-materieller Straftatbegriff.
4. Der Begriff der ethischen Legitimität Nun fragt sich aber, wie sich der zentrale Begriff der ethischen Legitimität.56 umreißen läßt. Überraschenderweise versucht Feinberg nicht, eine abstrakte Analyse dieses Begriffs zu erarbeiten. Er verläßt sich hier - intuitionistisch - auf die Assoziationen des Lesers und gibt lediglich das Beispiel des red-headed strangers, der einen fremden Passanten auf der 5 th Avenue in New York fragt, wo er hin wolle, und ihm im Falle des Ausbleibens einer suffizienten Antwort den Durchgang verweigert. 57 Jeder von uns, so Feinberg, werde das Verhalten des Fremden als unangemessen bzw. illegitim ansehen. Die plakative Suggestivität dieses Beispiels wird in der Tat bei jedem, der freiheitlich erzogen wurde und sich darauf verläßt, nicht ohne guten Grund in seinen privaten Verrichtungen gestört zu werden, Erfolg haben. Allerdings könnte es ein Passant, der in einem diktatorischen Land aufgewachsen ist und gerade zum ersten Mal nach New York eingereist ist, geradezu alltäglich finden, auf diese Weise angehalten zu werden. Hier liegt mithin eine petitio principii nicht fern: Das Beispiel des red-headed strangers zeigt zunächst nur, daß wir, wenn wir es moralisch legitim finden, ungehindert über die 5th Avenue zu spazieren, es moralisch illegitim finden, dort willkürlich angehalten zu werden. Feinberg müßte also, um den intuitiven Wert des Beispiels zu wahren, die zusätzliche Annahme machen, daß auch jemand, der unter staatlicher oder gesellschaftlicher Willkür aufgewachsen ist, dennoch eine lebenslang erfahrene und vielleicht sogar verinnerlichte Willkür als moralisch illegitim ansieht. Eine solche An56 Feinberg verwendet den Begriff ,,morallegitimacy". Unter ,,Moral" sollen aber in dieser Arbeit die faktisch beim Einzelnen oder in der Gesellschaft bestehenden normativen Überzeugungen verstanden werden, wohingegen die ,,Ethik" als philosophische Disziplin die Moral zum Gegenstand hat. Im Sinne dieser Terminologie geht es also um "ethische", nicht um "moralische" Legitimität. S7 Feinberg. Harm to Others, S. 6.
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
nahme mag durchaus plausibel sein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß immer wieder V6lker, die während mehrerer Generationen harten Diktaturen ausgesetzt waren, rebellieren, um sich der diktatorischen Willkür zu entledigen. Zu bedenken bleibt aber, daß diese Menschen, auch wenn sie eine derartige Intuition besitzen mögen, doch - erfahrungsbedingt - in relevanten Grenzfällen intuitiv anders werten können als Menschen, die lebenslange Erfahrungen mit einem freiheitlichen System gemacht haben. Das intuitionistische Konzept ethischer Legitimität bleibt also einstweilen vage. Feinberg kann nicht allein unter Rückgriff auf dieses Konzept in Einzelfällen zu ethischen Entscheidungen gelangen. Diesen Versuch macht er auch, wie sich zeigen wird, nicht; vielmehr versucht er, von Fall zu Fall die ethische Legitimität der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen argumentativ zu stützen. Mit der Einschränkung also, daß ethische Legitimität sich nur im Einzelfall und unter jeweils genau zu erarbeitenden Prämissen kohärentistisch erweisen läßt, bleibt Feinbergs Einführung dieses Begriffes vertretbar.
S. Die Freiheitsvermutung und die freiheitsbeschränkenden Prinzipien a) Die Freiheitsvermutung
Die erste Herausforderung ftir das Konzept der ethischen Legitimität besteht in der Übernahme und Anpassung der Millschen Freiheitsdoktrin. Feinbergs offenes Bekenntnis zum Liberalismus s8 ftihrt ihn dazu, die Grundfrage seiner Theorie zu reformulieren als Frage nach den "moralischen Grenzen individueller Freiheit", wobei er unter ,,Freiheit" - themenbezogen - schlicht das Fehlen gesetzlichen Zwanges verstehen Will. 59 Mit diesem Zugang knüpft er an die Freiheitsdoktrin an, wie sie klassisch von John Stuart Mill formuliert wurde. 60 Mill hatte, wie bereits dargestellt, die Freiheitsidee als kategorisches Prinzip in seinen Utilitarismus integriert. Diese prinzipielle Verankerung steht Feinberg nicht zur Verfügung, weil er - zumindest explizit - keinem übergeordneten ethischen System folgt. Konsequenterweise erscheint die Millsche Freiheitsdoktrin daher in der Form einer "Freiheits vermutung " (presumptive case for liberty): "Freiheit sollte die Regel sein; Zwang bedarf stets einer besonderen Rechtfertigung.,,61 Die Plausibilität dieser Freiheitsvermutung ergibt sich für Feinberg unmittelbar daraus, daß jeder, der seiner Freiheit beraubt werde, ihr Fehlen - ceteris paribus '8 Feinberg, Harm to Others, S. 15 und passim. 59 Feinberg, Harm to Others, S. 7. ro Dazu s. o. S. 21 ff. 61 Feinberg, Harm to Others, S. 9.
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als "wirklichen Verlust" empfinden werde. 62 Dieses Argument mag zunächst trivial erscheinen, aber es dient hier auch nur zur Stützung einer in ihrer Allgemeinheit ähnlich trivialen Vermutung63 . Auch die weiteren Gesichtspunkte, die Feinberg zugunsten der Freiheitsvermutung anführt - Einschränkungen der Freiheit führten zu mangelnder Flexibilität und größerer Anfälligkeit für unvorhergesehene Kontingenzen; und freie Bürger seien in der Regel erheblich fähiger und kreativer, weil sie darin geschult seien zu wählen, zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen64 - sind eher ein Spiegelbild des liberalen Menschenbildes als gute Gründe, denen sich ein intuitiver Gegner der Freiheitsidee nicht entziehen könnte. Sowohl utilitaristisch als auch soziologisch interessant ist Feinbergs zusätzlicher Hinweis auf die direkten und indirekten Kosten staatlicher Strafe.6S Dahinter verbirgt sich einerseits ein sehr aktuelles Problem insbesondere der Freiheitsstrafe: Was bringt sie, wenn vormalige Kleinkriminelle als potentielle Schwerkriminelle mit nun besten Kontakten zum entsprechenden Milieu wieder aus dem Gefängnis entlassen werden? - und andererseits die Frage staatlicher Ressourcen: Wieviel Geld und wieviele Mitglieder der Gesellschaft will diese einsetzen, um Strafrecht durchzusetzen? In späteren Kapiteln kommt Feinberg verschiedentlich auf den Wert individueller Freiheit zurück. Hierbei betont er - in Übereinstimmung mit Mill - den Wert offener Handlungsoptionen, sei es, um die individuell beste Lebensweise zu finden, sei es, weil sich Lebensziele und -träume ändern können und man dann gern auf andere Handlungsoptionen zurückgreifen möchte. 66 Auch im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Paternalismus führt Feinberg Argumente zugunsten des Wertes der Freiheit an. 67 Dort finden sich unübersehbar perfektionistische Anklänge, gegen die jedoch einzuwenden wäre, daß das Streben nach innerer Autonomie, nach rationaler Selbstlenkung des eigenen Lebens kein so allgemein geteiltes Ideal ist, daß es die Handlungsfreiheit für jedermann wertvoll machen könnte. Freiheit liegt auch im Interesse desjenigen, der sich einfach in triebhaften Vergnügungen ergehen will. Joel Feinberg macht nicht den Versuch, die Freiheitsvermutung auf unhintergehbare Weise zu untermauern. Aber er führt verschiedene Indizien an, die - entweder aus Sicht des Individuums oder aus Sicht der Gesellschaft - die Idee stützen, daß Feinberg, Harm to Others, S. 9. Daß Zwang nur soweit "gut" sein kann, wie er irgendeinem nützlichen Zweck dient, wird abstrakt von niemandem bestritten werden; die problematischen Fragen beginnen erst dort, wo bestimmt werden muß, welche Zwecke als relevante Gründe für die Beschränkung der Freiheit angesehen werden dürfen; hierzu sogleich unter b). 64 Feinberg. Harm to Others, S. 9. 6S Feinberg. Harm to Others, S. 10. 66 Feinberg. Harm to Others. S. 212. 61 Feinberg. Harm to Self, S. 27-51. 62
63
4 Seher
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
Freiheit an sich ein relevantes Gewicht hat, wenn es darum geht, wie stark der Staat zwangsweise regelnd in das Leben des Einzelnen eingreifen darf. Damit zeigt er zunächst, daß eine Freiheitsvermutung im Diskurs über die Legitimität von Strafe etwas für sich hat. Welches Gewicht dieser Vermutung im Einzelfall zukommt, bleibt der Diskussion um die Gegengründe - den freiheitsbeschränkenden Prinzipien - vorbehalten. b) Die jreiheitsbeschränkenden Prinzipien
aa) Einzelne freiheits beschränkende Prinzipien In die individuelle Freiheit greifen Strafnormen zumindest auf zweierlei Art ein: Einmal, indem sie durch die Sanktionsdrohung Hemmschwellen für bestimmte Verhaltensweisen errichten, und zum anderen, im Falle des Vollzuges verhängter Strafe, durch konkrete Freiheitsentziehung oder Vermögensminderung. Akzeptiert man die Freiheitsvermutung als Ausgangspunkt der Argumentation, bedürfen Strafnormen damit der Rechtfertigung. Eine solche Rechtfertigung ist möglich durch Maximen, deren Relevanz gegenüber der Freiheitsvermutung darin besteht, daß sie die Auferlegung von Zwang ethisch zu legitimieren versuchen.
Diese Maximen bezeichnet Feinberg als "freiheitsbeschränkende Prinzipien" (liberty-limiting principles)68. Ein freiheitsbeschränkendes Prinzip enthält die These, daß eine bestimmte Erwägung stets ein ethisch relevanter Grund für eine staatliche Strafnorm sei.69 Diese Prinzipien stellen jedoch weder notwendige noch hinreichende Bedingungen für Strafe dar: Sie sind keine notwendigen Bedingungen, weil jedes Prinzip unabhängig von den anderen einschlägig sein kann; hinreichend sind sie nicht, weil im Einzelfall gewichtigere Gegengründe gegen den Erlaß einer Strafnorm sprechen können. 7o Freiheitsbeschränkende Prinzipien werden im philosophischen Diskurs in größerer Anzahl vorgeschlagen. Feinberg listet die gängigsten auf71 , um dann einige für eine detaillierte Untersuchung auszuwählen. Aus den intuitiv klarsten Fällen strafwürdiger Handlungen läßt sich das "Schädigungsprinzip" (harm principle) herleiten. 72 Danach ist stets ein guter Grund für eine staatliche Strafnorm gegeben, wenn diese wahrscheinlich geeignet ist, die Schädigung einer Person, nicht aber der handelnden Person selbst, zu verhindern. 68 Wenn man davon ausgeht, daß ein ,,Prinzip" ein wohlbegründeter, akzeptierter Grundsatz ist, sollte man hier eher von freiheitsbeschränkenden "Hypothesen" sprechen. Der Einfachheit halber soll aber der von Feinberg verwandte Begriff übernommen werden. 69 Feinberg. Harm to Others, S. 9. 70 Feinberg, Harm to Others, S. 10. 71 Feinberg, Harm to Others, S. 26f. 72 Zu Einzelheiten dieser Herleitung s. u. S. 53 ff.
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Als zweites wird das "Störungsprinzip" (offense principle) aufgeführt, wonach ein guter Grund für eine Strafnonn dann vorliegt, wenn diese wahrscheinlich notwendig ist, um ernstliche Eingriffe in die sensorisch-seelische Sphäre73 eines anderen zu verhindern. Nach den Grundsätzen des Paternalismus (legal paternalism) ist auch die Verhinderung von Selbstschädigungen ein legitimes Strafziel. Unter dem Etikett des ,,Moralismus" (moralism) schließlich faßt Feinberg eine Gruppe von Theorien zusammen, nach denen es legitim ist, Verhaltensweisen zu verbieten, die zwar weder eine Schädigung noch eine offense bei anderen Personen hervorrufen, aber in sich unmoralisch sind. Weitere freiheitsbeschränkende Prinzipien - insgesamt enthält die Liste deren zehn - sind im wesentlichen Kombinationen oder Abwandlungen der ersten vier. Diesen vier Prinzipien widmet Feinberg - in der obigen Reihenfolge - in jeweils einem Band seines Werkes eine genaue Analyse. Die aufgeführte Liste scheint nicht als zwingenderweise vollständig begriffen zu werden. 74 Feinbergs Anliegen ist es auch nicht, ein geschlossenes System von möglichen Rechtfertigungen für Strafe vorzustellen. Ihm geht es darum, auf der Basis intuitiver Einschätzungen über die Strafwürdigkeit menschlicher Verhaltensweisen zu einer Konzeption zu gelangen, die so wenig wie möglich in die Freiheit des einzelnen eingreift und doch einen effektiven Individualschutz gewährleistet. Zu diesem Zweck will er das Schädigungsprinzip vorbehaltlos akzeptieren, auf andere freiheitsbeschränkende Prinzipien hingegen nur insoweit zurückgreifen, als zwingende Gründe es erfordern. 7s bb) Die inhärente Systematik der Prinzipien Die von Feinberg genannten freiheitsbeschränkenden Prinzipien repräsentieren die Grundstrukturen wesentlicher Strafbegründungstheorien. Durch eine Auseinandersetzung mit ihnen kann er eine zeitgemäße liberale Position angemessen beschreiben und von Gegenpositionen abgrenzen. Ohne den Anspruch auf systematische Vollständigkeit der diskutierten Prinzipien bliebe seine Theorie jedoch anfallig für Positionen, die zwar die Freiheitsvennutung akzeptieren, aber andere (neue) straflegitimierende Prinzipien vorschlagen. 73 Der amerikanische Begriff offense läßt sich nicht durch ein angemessenes deutsches Äquivalent wiedergeben. Er bezeichnet Störungen und Belästigungen, die entweder über die Sinne des Opfers aufgenommen werden (z. B. Lärm, Gestank) oder auf seelisch empfindsame Bereiche wie religiöse oder patriotische Einstellungen oder die Ehre einwirken (z. B. Blasphemien, Beleidigungen). Offense wurde daher hier mit ,,Eingriff in die sensorischseelische Sphäre" umschrieben. Im folgenden bleibt der amerikanische Begriff stehen. 74 Vgl. Feinberg, Harm to Others, S. 13 f. 7S Feinberg, Harm to Others, S. 15.
4"
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
Die von Feinberg aufgeführte Reihe freiheitsbeschränkender Prinzipien enthält jedoch unter einem sehr allgemeinen Gesichtspunkt eine implizite Systematik, die es erlaubt, die Reihe als erschöpfend anzusehen. Unter der Voraussetzung nämlich, daß nur solche Verhaltensweisen strafwürdig sind, die mit irgendeinem moralischen Unwert belegt sind,76 läßt sich nur eine begrenzte Zahl derartiger Unwerte unterscheiden: Sie können entweder in den Resultaten liegen, die die Handlung bewirkt, oder in der Handlung selbst bzw. der Einstellung des Täters zu seiner Handlung. Liegt der Unwert einer Handlung in ihrem "negativen" Resultat, gibt es nur zwei Fallgruppen: das Resultat trifft entweder eine andere Person oder den Handelnden selbst. Tritt bei keiner Person ein negatives Resultat ein, so kann die Handlung höchstens dann noch strafwürdig sein, wenn ihr selbst ein inhärenter Unwert beizumessen ist. Diese drei Fallgruppen möglicher Strafwürdigkeitsgründe decken sich mit den vier von Feinberg herausgegriffenen freiheitsbeschränkenden Prinzipien: Das Schädigungs- und das Störungsprinzip sehen den wesentlichen Strafgrund in dem negativen Resultat einer Handlung für eine andere Person, der Paternalismus will negative Folgen für den Handelnden selbst verhindern, und der Moralismus bezweckt die Verhinderung. von Verhaltensweisen, deren Unwert in der Handlung selbst oder in der Gesinnung des Handelnden liegt. Feinberg erfaßt also mit seinem Ansatz nicht nur die wesentlichen existierenden, sondern auch die wesentlichen möglichen Strafbegründungslehren - allerdings nur, soweit sie sich als freiheitsbeschränkende Prinzipien formulieren lassen. Letzteres setzt voraus, daß das Strafrecht als - wenn auch notwendiges - Übel begriffen wird, das als Freiheitsbeschränkung rechtfertigungsbedürftig ist. Sowohl absolute Straftheorien als auch andere Spielarten retributivistischer Ansätze stellen jedoch andere Fragen, weil sie Strafe weniger unter dem Gesichtspunkt des Individualschutzes als vielmehr unter dem der notwendigen bzw. verdienten Sanktion für den Täter sehen. Sie müssen zwar auch angeben, welche Verhaltensweisen sie als strafwürdig ansehen, im Mittelpunkt stehen hier aber eher Fragen der gerechten Strafzumessung. Ob Feinberg sich beispielsweise mit einem Hegelianer über die Grundsätze der Strafe einigen könnte, darf daher mit guten Gründen bezweifelt werden?7 Möglicherweise liegt hier ein fundamentaler Dissens über Sinn und Funktion der Strafe vor. Dies zu vertiefen, würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Daher soll 76 Daß ein moralisches Unwerturteil eine notwendige Voraussetzung dafür ist, eine auf ein bestimmtes Verhalten antwortende gesetzliche Sanktion als "Strafe" bezeichnen zu können, betont z. B. Kleinig (1973). 77 Hegel z. B. betrachtet die Ansicht, Strafe sei ein Übel, als "oberflächlich", vgl. § 99 (Zusatz). Indem er Strafe als ,,Aufhebung" des Verbrechens, als "Wiederherstellung des Rechts" bezeichnet (§ 99), versteht er sie geradezu als Anti-Übel- eine Konzeption, die Feinberg naturgemäß als kontraintuitiv empfindet (vgl. in diesem Sinne Feinberg, Harmless Wrongdoing, S. 163 f.).
IV. Das Schädigungsprinzip
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der Hinweis genügen. daß Feinberg diesen Dissens hinnehmen würde. wenn er sich mit seinem Gegenüber tatsächlich nicht über den Übelscharakter der Strafe als einem Eingriff in die intuitiv als schützenswert begriffene Freiheit einigen könnte. Es bliebe sein Anspruch. diesem Gegenüber zu zeigen. daß der Liberalismus keine inkohärente Theorie ist. sondern ein argumentativ abgerundetes System. dessen Plausibilität nicht ohne weiteres ignoriert werden kann. 78
Kapitel IV
Die Begründung staatlicher Stratbefugnis: Das Schädigungsprinzip Daß der Staat befugt sei. fremdschädigende Handlungen zwangsweise zu verhindern. ist seit John Stuart Mill das Kernstück einer liberalen Straftheorie. Allerdings handelt es sich bei dieser Doktrin keinesfalls um das "eine. simple Prinzip". als das Mill gehofft hatte. sie darstellen zu können. 79 Das zeigt nicht zuletzt die vielfältige Kritik. die Mill entgegengeschlagen ist. 80 Diese Kritik entzündet sich vor allem am Begriff des Schadens: Je nach den verfolgten Zwecken scheint er sich mit beliebigen Inhalten ausfüllen zu lassen. 81 Ist diese Kritik unwiderlegbar. läßt sich auf das Schädigungsprinzip keine liberale Straftheorie gründen. Feinberg bemüht sich daher um eine ausgefeilte Analyse des Schadensbegriffs. die sowohl sprachanalytische als auch normative Elemente enthält. Sodann ergänzt er die Doktrin der Strafwürdigkeit von Fremdschädigungen durch Anwendungsund Hierarchisierungskriterien. die Wertungsentscheidungen im praktischen Einzelfall ermöglichen sollen. Er liefert damit die bislang wohl ausgefeilteste Darstellung eines liberalen Strafbegründungsprinzips. In diesem Kapitel soll - nach einer kurzen Rekonstruktion der Herleitung des Schädigungsprinzips - Feinbergs komplexe Ausarbeitung dieses Prinzips wiedergegeben und dabei zugleich kritisch betrachtet werden.
1. Die Herleitung des Schädigungsprinzips Wie schon bei der Freiheitsvermutung. die als intuitionistische Reduktion der Millschen Freiheitsdoktrin erscheint82 • führt Feinberg nun auch das Schädigungs78
79
Vgl. Feinberg, Harm to Others, S. 15. Mill, On Liberty, S. 13 f.
Vgl. dazu o. S. 34f. Dies zeigt sich nicht zuletzt im Verlaufe der Auseinandersetzung Feinbergs mit paternalistischen und moralistischen Konzeptionen; s. u. Kapitel VI passim. 82 Vgl. O. S. 48. 80 81
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
prinzip nicht als notwendigen Bestandteil eines umfassenden ethischen Systems ein, sondern "vennutet,,83 seine Geltung aufgrund mehrerer Indizien. Zunächst und vor allem führt er an, alle zivilisierten Gesellschaften kennten eine bestimmte Gruppe von Delikten, deren maßgebliche Gemeinsamkeit sei, daß die in ihnen beschriebenen Straftaten schwere Schäden für das Opfer herbeiführten. Es handele sich unter anderem um Mord, Raub, Vergewaltigung und Körperverletzung ebenso wie Einbruch, Diebstahl und Betrug. 84 Die intuitive Legitimität der Kriminalisierung dieser Verhaltensweisen wird in der Tat kaum je bestritten werden. Darüber hinaus sind in allen gängigen Strafordnungen bestimmte Vergehen etabliert, die zwar nicht den Einzelnen unmittelbar schädigen, aber doch die sogenannte ,,Allgemeinheit" als Summe von Individuen, die in komplexen sozialen und rechtlichen Beziehungen zueinander stehen 85 , z. B. Geldfalschung und Steuerhinterziehung. Auch diese Delikte dienen der Verhütung von Schäden bei jedem Einzelnen - entweder direkten Schäden oder indirekten, z. B. im Falle der Schwächung öffentlicher Institutionen. Aus diesen intuitiv anerkannten Delikten, die alle gegen Fremdschädigung gerichtet sind, läßt sich, so Feinberg, der Grundsatz induzieren, die Notwendigkeit, (privaten oder öffentlichen) Schaden von Personen, nicht aber dem Täter selbst, abzuwenden, sei immer ein angemessener Grund für gesetzlichen Zwang. 86 Er gibt dem Schädigungsprinzip den folgenden Wortlaut: ,,1t is always a good reason in support of penal legislation that it would probably be effective in preventing (eliminating, reducing) harrn to persons other than the actor (the one prohibited from acting) and tbere is probably no other means that is equally effective at no greater cost to other values. ,,87
Diese Herleitung des Schädigungsprinzips trägt zunächst intuitionistische Züge, indem sie an Verhaltensweisen anknüpft, bei deren Vorliegen jedennann Strafsanktionen für geboten halten wird. Darüber hinaus enthält sie insoweit empirische Elemente, als Feinberg darauf Bezug nimmt, daß Rechtsordnungen faktisch diese Handlungen unter Strafe stellen. Und schließlich liegt ein analytischer Aspekt darin, daß er die Fremdschädigung als gemeinsames Element dieser Verhaltensweisen ausmacht. Man könnte gegen diese Indizien, insbesondere den Bezug auf die "zivilisierten Gesellschaften", einwenden, sie seien zu sehr auf die westlich-pluralistischen Gesellschaften zugeschnitten und böten daher keine breit genug angelegte Grundlage. Feinberg, Feinberg, 8S ZU dieser S. 1l. 86 Feinberg, 87 Feinberg, 83
84
Harrn to Otbers, S. 15. Harrn to Otbers, S. 10. Definition für "die Allgemeinheit" (the public) s. Feinherg, Harrn to Others, Harrn to Otbers, S. 1l. Harrn to Otbers, S. 26.
IV. Das Schädigungsprinzip
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In der Tat wird der Katalog von Verhaltensweisen, die eine Gesellschaft jedenfalls für strafwürdig erachtet, z. B. bei homogenen ,,Naturvölkern" oder religiösen Gesellschaften, einen anderen Inhalt haben. Allerdings wird auch dort als Grund für die Strafwürdigkeit eines Verhaltens die Tatsache angegeben werden, dieses Verhalten habe erhebliche fremd- oder sozialschädigende Wirkungen. 88 Insofern deutet sich mit dem Ansatz, Fremdschädigungen als primär strafwürdige Taten anzusehen, eine lebensnahe überkultureIIe Grundlage für eine Theorie staatlicher Strafbefugnis an. 89 2. Schaden als Verletzung von Interessen a) Die Begriffe des Schadens und des Interesses
Für eine auf das Schädigungsprinzip gegründete liberale Straftheorie ist naturgemäß der Begriff des Schadens der Dreh- und Angelpunkt. Der Begriff "Schaden" hat jedoch in der Nonnalsprache und in normativen Kontexten verschiedene Implikationen und bedarf daher der stipulativen Präzisierung. Zunächst weist Feinberg darauf hin, daß der typische Wirkungskreis des Strafrechts als staatlichem Eingriffs- und Steuerungsinstrument nicht die Verhütung oder Behebung jedweder Schäden ist, sondern vielmehr die Verhinderung schädigender Handlungen. 90 Ein Schaden kann mithin im Rahmen des Schädigungsprinzips nur dann relevant sein, wenn er auf einer schädigenden Handlung beruht. 91 Die maßgebliche Frage aber ist, wann eine Handlung schädigend ist - mit anderen Worten: wann bei einem Menschen infolge einer solchen Handlung ein Schaden eintritt. Feinberg verwendet hier das Kriterium der Interessenverletzung. 92 Damit verlagert sich die Notwendigkeit der Begriffsklärung vom Schadensbegriff hin zum Interessenbegriff. Nur wenn es gelingt, diesen Begriff hinreichend mit Inhalt zu füIIen, können aus dem Schädigungsprinzip substantieIIe Aussagen über die Strafwürdigkeit einzelner Verhaltensweisen gewonnen werden. Zur Verdeutlichung dessen, was er unter ,Jnteresse" verstehen will, wählt Feinberg den Vergleich mit einem Aktionär: Wenn jemand an einem Unternehmen 88 Wenn beispielsweise in einer GeselJschaft Gotteslästerung als Kapitalverbrechen betrachtet wird, liegt eine nahe Erklärung darin, daß die beleidigte Gottheit die Gesellschaft etwa durch eine Naturkatastrophe - strafen könnte und deshalb Gotteslästerungen zum Schutz der Gemeinschaft vor derartigen Schäden zu unterbinden seien. 89 Zu der dahinterstehenden Annahme eines universellen ,,moralischen Minimums" s. u. Kapitel VIII. I. - 3. 90 Feinberg, Harm to Others, S. 31. 91 Bzgl. weiterer Begriffsklärungen, z. B. der Differenzierung zwischen einem Schadenszustand und einem schädigenden Zustand sowie zu normalsprachlichen Verwendungen des englischen Wortes ,,harrn" s. Feinberg, Harm to Others, S. 31-33. 92 Feinberg, Harm to Others, S. 33.
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B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
finanziell beteiligt ist, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne "seine Aktien darin hat", dann hat er ein Interesse an diesem Unternehmen, weil er selbst in dem Maße gewinnt oder verliert, wie es das Unternehmen tut. 93 Übertragen auf die gesamten Lebensumstände eines Menschen bedeutet dies, daß der Einzelne an all den Dingen ein Interesse hat, die ihm so wichtig sind, daß ihr Gedeihen oder Mißlingen Einfluß auf seine Lebensumstände hat. Daraus ergibt sich für jeden Einzelnen ein je individuelles Interessennetzwerk. 94 Nur wenn ein Interesse aus diesem Netzwerk beeinträchtigt oder vereitelt wird, kann eine Schädigung vorliegen. Damit ist ein wesentliches, notwendiges Element des Schädigungsbegriffs erarbeitet. Die Verletzung von Interessen kann aber nicht allein zur Strafwürdigkeit einer Handlung führen, denn innerhalb eines komplexen sozialen Zusammenlebens ist es unvermeidlich, daß Interessen verschiedener Menschen zueinander in Konflikt geraten. Es bedarf daher noch eines normativen Kriteriums, um zu entscheiden, welche der zahllosen Interessenverletzungen tatsächlich bestraft werden dürfen. Diese normative Bewertung erfolgt bei Feinberg über den Begriff des Unrechts (wrong). Eine Person fügt einer anderen Unrecht zu, wenn sie "in nicht zu rechtfertigender Weise ein Recht des anderen verletzt".95 In der großen Mehrzahl der Fälle decken sich Interessenverletzung und Unrechtszufügung. Nur in Ausnahmefällen beeinträchtigt eine Unrechtszufügung nicht die Interessen des Betroffenen, z. B. das kurzzeitige, vom Eigentümer nicht gestattete Betreten eines großen Grundstücks. In umgekehrter Weise hingegen fallen Interessenverletzung und Unrechtszufügung häufiger auseinander: insbesondere alltägliche Konkurrenzsituationen gehören hierher oder Eingriffe, die von dem Interesseninhaber gebilligt wurden. Der strafrechtlich relevante Bereich des Wortes "Schaden" kann nur den Bereich von Handlungen umfassen, in dem sich die beiden Merkmale einer Schädigung überschneiden: Nur Interessenverletzungen, die (in einem noch zu bestimmenden Sinne) ein Unrecht darstellen und nur Unrechtszufügungen, die (schützenswerte) Interessen des Opfers verletzen, sind "Schädigungen" im Sinne des Schädigungsprinzips.96 b) Das Interessennetzwerk
Nach der stipulativen Definition von "Schädigung" als unrechtmäßige Verletzung von Interessen wendet sich Feinberg dem Begriff des Interesses zu. Er diffeFeinberg, Harm to Others, S. 33 f. Zum Begriff des Interessennetzwerks und zu den verschiedenen Kategorien von Interessen s. u. unter b). 9' Feinberg, Harm to Others, S. 34. Zum Begriff des (moralischen) Rechts s. u. S. 80 ff. 96 Feinberg, Harm to Others, S. 36. 93
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IV. Das Schädigungsprinzip
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renziert verschiedene Arten und Funktionen von Interessen und zeigt ihr Zusammenspiel in einem menschlichen Interessennetzwerk97 auf. aa) Elemente des Interessennetzwerks Im Mittelpunkt menschlichen Strebens stehen zwei verschiedene Kategorien von Interessen: die Grundinteressen, die das unmittelbare Wohlergehen betreffen (welfare interests), und die höheren Interessen (ulterior interests), durch die sich das Individuum umfassende, längerfristige Lebensziele setzt. 98 Sie werden ergänzt durch instrumentelle Wünsche (instrumental wants). Die Grundinteressen. - Zu den Grundinteressen zählt Feinberg unter anderem Leben, Gesundheit, die Abwesenheit von schwerem Leid, grotesker Entstellung, tiefen Ängsten und Ärgernissen, zumindest minimale finanzielle Sicherheit, eine erträgliche Leben~umwelt, aber auch die Fähigkeit zur Pflege von Freundschaften und einen gewissen Raum eigener Freiheit von äußeren Eingriffen und ZWängen. 99 Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie die essentiellen Grundlagen (bare minima) des menschlichen Lebens beinhalten und - eben deshalb - Interessen von Stabilität und Dauer sind. 100
Zu diesen Lebensgrundlagen zählt in einer komplexen Gesellschaft auch das Funktionieren zahlreicher sozialer und staatlicher Institutionen, z. B. des Geldverkehrs, äußerer Sicherheit, einer Gerichtsbarkeit und eines sozialen Netzes (soweit es eingerichtet wurde). Das Interesse an diesen Einrichtungen wird zwar gängigerweise als "öffentliches Interesse" bezeichnet; Feinberg weist aber zu Recht darauf hin, daß auch diese Belange letztlich Interessen des Einzelnen - als einem Glied der sozialen Gemeinschaft - sind. 101 Feinberg umreißt die Reichweite der Grundinteressen mehrfach, und zuweilen ist dabei nicht deutlich, ob sie nur diejenigen Belange umfassen sollen, die das reine - wenn auch menschenwürdige - Überleben betreffen, oder insoweit darüber hinaus gehen, als sie auch sozio-axiologische Anspruche an Lebensqualität mit einschließen. Dahinter steht letztlich die Frage, ob die Grundinteressen für alle Menschen unter allen Lebenssituationen identisch sind oder ob sie je nach Epoche und Kultur variieren. Angesichts dessen, daß Feinberg zahlreiche Anspruche in seine Aufzählung mit aufnimmt, die sich typischerweise nur in Industriegesellschaften formieren - z. B. das Bewußtsein für die Qualität der Umwelt, eine florierende Wirtschaft, eine funktionsfähige Gerichtsbarkeit -, liegt es nahe, daß Grund97 Zu Interdependenzen der Elemente dieses Interessennetzwerks s. Feinberg, Harm to Others, Diagramm 4, S. 61. 98 Feinberg, Harm to Others, S. 37,62. 99 Feinberg, Harm to Others, S. 37. 100 Feinberg, Harm to Others, S. 57. 101 Feinberg, Harm to Others, S. 63.
B. Die Strafrechtsphilosophie von Joel Feinberg
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interessen als kulturkontingent gedacht werden. Das scheint insofern angemessen zu sein, als Interessen - intuitionistisch - auf subjektiven Überzeugungen gründen und daher die Ansprüche von Individuen verschiedener Kulturen und Epochen notwendig zu unterschiedlichen Interessen führen müssen. Allerdings führt diese inhaltliche Offenheit des Interessenbegriffs zu einem sehr variablen Gehalt der - für den Schutzbereich des Strafrechts zentralen - Grundinteressen. Die höheren Interessen. - Über die Grundinteressen hinaus wird das Wollen und Handeln des Menschen durch höhere Interessen langfristig geprägt. Diese richten sich z. B. auf die Ausübung eines politischen Amtes, die Lösung eines entscheidenden wissenschaftlichen Problems, die Gründung einer Familie, die Erbauung eines Traumhauses oder anderes mehr. 102 Sie können sich aber auch aus dem Wunsch konstituieren, Grundinteressen über das essentielle Maß hinaus zu verwirklichen: durch Herausbildung eines besonders sportlichen Körpers, die Anhäufung von Reichtum oder ähnliche Pläne. 103 Höhere Interessen sind, zumindest auch, Selbstzwecke, da sie die höchsten Lebensziele darstellen, für die der Mensch lebt. Gleichzeitig stehen sie an einem Kreuzungspunkt innerhalb des Systems individueller Interessen, denn ihre Verwirklichung dient auch der Erfüllung anderer Interessen und Wünsche. 104
Die Rolle, die Feinberg den höheren Interessen zuschreibt, ist sehr am Lebensund Selbstverwirklichungsbild der westlichen Industriegesellschaft orientiert. Zwar konzediert er, daß "zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten fast alle Menschen ... das schlichte Wohlergehen als ihr höchstes Gut" ansehen. 105 Tatsächlich jedoch wird dies zu fast allen Zeiten und Orten und insbesondere auch in den heutigen Industriegesellschaften der Fall sein. Daher wird man die Bedeutung der höheren Interessen als tatsächliche Lebensziele, und nicht nur als feme Träume, nicht zu hoch einschätzen dürfen. Instrumentelle Wünsche. - Eine dritte, niedere Gruppe von Interessen bezeichnet Feinberg als "instrumentelle Wünsche" (instrumental wants).I06 Sie sind auf die Realisierung der Grundinteressen ausgerichtet. Ist das verfolgte Interesse beispielsweise ein gesunder Körper, stellt sich im Einzelfall der Verzicht auf die Süßspeise als instrumental want dar, oder, geht es um die Sicherung der finanziellen Grundlagen, ist das Ableisten von Überstunden im Beruf ein solcher instrumenteller Wunsch. Ohne eine Ausrichtung auf ein Grundinteresse ist ein instrumental want hingegen ein bloßer Wunsch, der nicht in die Gruppe der anerkannten Interessen fällt.
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lOS 106
Feinberg, Harm to Others, S. 37. Feinberg, Harm to Others, S. 57. Vgl. Feinberg, Harm to Others, Diagramm 4, S. 61. Feinberg, Harm to Others, S. 58. Feinberg, Harm to Others, S. 56 f.
IV. Das Schädigungsprinzip
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bb) Grenzen des Interessennetzwerks Der Bereich der Interessen wird begrenzt von bloß vorübergehenden Wünschen (passing wants) auf der einen und dem höchsten und umfassendsten Lebensziel auf der anderen Seite. Vorübergehende Wünsche - z. B. die spontane Lust auf ein Eis - entspringen dem Augenblick und betreffen nicht die Verfolgung der Grundinteressen oder der höheren Interessen. Wegen dieses fehlenden Bezuges und weil sie in aller Regel sprunghaft und willkürlich sind, sind sie von den (stabilen) Interessen zu trennen. 107 Auf der anderen Seite ist eine Einbeziehung des höchsten Lebenszieles (most ulterior and comprehensive goal) in die Kategorie der Interessen nicht möglich. Es läßt sich nur noch mit "Glücklichkeit" oder "Harmonie" beschreiben und nur durch die Verwirklichung darunter stehender konkreter Interessen inhaltlich ausfüllen, die ihrerseits als höhere Interessen bereits benannt sind. Glücklichkeit ist in diesem Sinne ein mittelbares Ziel (inclusive end). Würde man sagen, wir hätten ein Interesse an unserem Glück als der Summe der von uns angestrebten höheren Interessen, liefe das auf die Tautologie hinaus, daß wir "ein Interesse an unserem Interesse" haben. 108 Diese Qualifizierung des höchsten Lebensziels als Nicht-Interesse spiegelt den schon von Mill geäußerten Gedanken wider, daß Glücklichkeit nicht direkt intendiert werden könne. 109 Die Vollendung des höchsten Lebensziels kann man nur dadurch erreichen, daß man die - selbstgesetzten - einzelnen Voraussetzungen für diese Vollendung anstrebt und verwirklicht. Glücklichkeit wird damit bestimmt durch ihre individuell variablen Bedingungen und ist letztlich ein Begriff ohne allgemeingültigen Inhalt. Daher wäre der Satz ,,Ich habe ein Interesse an meiner Glücklichkeit" inhaltsleer. Die verschiedenen Kategorien von Interessen und die Wünsche und Ziele, die nicht als Interessen zu qualifizieren sind, lassen sich nach der Rangfolge ihrer Wichtigkeit für das Individuum in der Graphik auf der folgenden Seite darstellen.
cc) Der Wirkungsbereich des Strafrechts Innerhalb des Interessennetzwerks kann das Strafrecht nur begrenzt wirksam werden: Der eigenständige Schutz von momentanen Wünschen ist wegen ihrer fehlenden Bedeutung für die eigentlichen Interessen nicht gerechtfertigt, und das höchste Lebensziel kann wegen seiner Abstraktheit gar nicht selbständig geschützt werden.
107
108 109
Feinberg, Harm to Others, S. 43, 55 f. Feinberg, Harm to Others, S. 56. Vgl. dazu o. S. 26f.
Gegenstand des Strafrechts
nur teilweise vom Strafrecht schützbar
nicht vom Strafrecht schützbar
nur teilweise vom Strafrechtschützbar
z. B. ein hohes Amt übernehmen
Höhere Interessen (ulterior interests, focal aims)
Abbildung 1: Das Interessennetzwerk (human interest network)
z. B. Gesundheit, Einkommen
z. B. Überstunden machen
z. B. ein Eis essen
=
Grundinteressen (welfare interests) Kernbereich menschlicher Interessen
Instrumentelle Wünsche (instrumental wams)
Interessen (interests)
sind keine Interessen, weil sie lediglich aus dem Augenblick kommen und nicht den eigentlichen Zielen dienen
Vorübergehende Wünsche (passing wams)
- - -
nicht vom Strafrecht schützbar
z. B. Harmonie, Glücklichkeit
kein Interesse, da es nur indirekt, oft unbewußt, über die Verwirklichung von Interessen angestrebt wird
höchstes Lebensziel (most ulterior anti comprehensive goal)
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