Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung: Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie [1 ed.] 9783428523672, 9783428123674

Im Wintersemester 2005/2006 fand an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg eine Ringvorle

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Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung: Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie [1 ed.]
 9783428523672, 9783428123674

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Schriften zum Strafrecht Heft 189

Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie

Herausgegeben von

Eric Hilgendorf und Jürgen Weitzel

Duncker & Humblot · Berlin

ERIC HILGENDORF / JÜRGEN WEITZEL (Hrsg.)

Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung

Schriften zum Strafrecht Heft 189

Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie

Herausgegeben von

Eric Hilgendorf und Jürgen Weitzel

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-12367-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Im Wintersemester 2005/2006 fand an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg eine Ringvorlesung mit dem Titel „Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung“ statt. Im vorliegenden Band werden die Beiträge dieser Ringvorlesung, an der auch die Studentenschaft regen Anteil nahm, in überarbeiteter Form abgedruckt. Es liegt auf der Hand, dass die Geschichte des Strafgedankens nur schlaglichtartig und unter Fokussierung auf besonders prägnante Problembereiche behandelt werden kann. Dennoch hoffen die Herausgeber, den Leserinnen und Lesern mehr zu bieten als nur eine Aneinanderreihung disparater Gesichtspunkte und Themenstellungen. Das Thema des Bandes berührt Strafrechtsgeschichte wie Strafrechtsphilosophie gleichermaßen und darf schon deshalb auf Interesse hoffen, weil die Geschichte und die Philosophie des Strafens im Regelstudienplan kaum zur Sprache kommen. Bei der Lektüre der Beiträge wird darüber hinaus schnell deutlich werden, dass in spezifischer Weise nach dem Werden unseres heutigen Strafrechts, nach der Art und Weise unseres Strafens gefragt wird. Solche Fragen können gestellt werden sine ira et studio, einfach so, denn wie alles Recht ist auch unser Strafrecht historisch gewachsen, liegen seine Entstehung und Entwicklungen „in der Zeit“. Man kann die Fragen an Geschichte und Philosophie des Strafens aber auch cum ira et studio stellen. Dann verbindet man damit von vornherein Kritik am geltenden Strafrecht, denkt über seinen „unmöglichen Zustand“, seine Abschaffung oder Zurückbildung erwägend, nach. Auch diese Perspektive, die Umfang, Leistung und gesellschaftliche Kosten des Strafens heute zu würdigen bestrebt ist, wird im vorliegenden Band eingenommen. Der Rechtshistoriker fühlt sich freilich wohler, wo es um die Herausbildung des Strafrechts geht. In der Geschichte, so können wir hoffen, werden sich Gegenpole, Vorformen und Teilelemente dessen finden, woraus unser heutiges Strafrecht erwachsen ist. Der darauf angelegte Erkenntnisprozess muss allerdings zumindest zweierlei beachten: erstens sind die Sanktionen für abweichendes Verhalten historisch gesehen äußerst vielgestaltig, und zweitens ist der Begriff „Strafe“ unscharf. Heute sind Strafen zumindest die im StGB angedrohten Sanktionen. Es gibt zudem ein breit entwickeltes Nebenstrafrecht. Leichtere Sanktionen be-

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Vorwort

zeichnen wir als „Bußgelder“ wegen begangener Ordnungswidrigkeiten. Auf der anderen Seite kennt das BGB die „Vertragsstrafe“, und das „Schmerzensgeld“ soll Ausgleich und Genugtuung bringen. Kern des Strafgedankens, der hier beleuchtet werden soll, ist der so genannte öffentliche oder staatliche Strafanspruch. Das meint, dass die Verfolgung und Bestrafung der Verbrechen vom Staat und seinen Organen (Staatsanwaltschaft, Strafgerichte) – unter Ausschluss des Geschädigten – allein als seine Aufgabe, als sein Recht und seine Pflicht wahrgenommen und organisiert wird. Der Geschädigte ist im Strafverfahren prinzipiell nur Zeuge, nicht Partei. Da es nun das ganze Mittelalter über eine derart anspruchsvoll organisierte Staatsgewalt nicht gegeben hat, müssen die geschädigten Parteien irgendwann vom entstehenden modernen Staat in Bezug auf die aus der verletzenden Handlung zu ziehenden Konsequenzen „entmündigt“ worden sein – natürlich in bester Absicht. Und zunächst beschränkt auf die Verfolgung und Ahndung der schwersten Verbrechen. Man darf folglich die vor jenem „Entmündigungszeitpunkt“ liegenden Rache-, Entschädigungs- und Genugtuungsansprüche der Opfer von Verbrechen (heute könnten sie unter dem Stichwort „Täter-Opfer-Ausgleich“ thematisiert werden), nicht unbesehen mit Strafe gleichsetzen und sie schon gar nicht aus einem staatlichen Strafanspruch herleiten. Strafe im Sinne des hier thematisierten Strafgedankens ist nichts, was es „schon immer“ gegeben hätte. Betrachtet werden vielmehr Herausbildung und heutige Reichweite eines den Willen und die Wünsche der Opfer eines Verbrechens marginalisierenden staatlichen Sanktionswillens, der wegen des der Rechtsordnung gegenüber erwiesenen Ungehorsams nach Maßgabe staatlicher Notwendigkeiten und Ressourcen, also auch entsprechend bürokratisiert und gelegentlich politisiert, tätig wird. Strafrecht ist ein diffiziles, facettenreiches und u. U. für den rechtsunterworfenen Bürger gefährliches Instrument, das der Staat nur mit großer Zurückhaltung einsetzen sollte. Der Sammelband bietet viele erhellende Einblicke in die faktische Vielgestaltigkeit der rechtlichen Reaktionsformen auf deviantes Verhalten und in das ebenfalls vielgestaltige Denken, das diese Reaktionsformen im Laufe der Geschichte begleitet hat. Strafrecht, so wird deutlich, ist Teil der menschlichen Kultur und aufs engste mit der allgemeinen Kulturentwicklung verbunden – im Guten wie im Schlechten. Zu herzlichem Dank verpflichtet sind wir Frau Karin Schmiedel, die das Manuskript umsichtig betreut hat, sowie Achim Bischoff, Christiane Kusche, Anna Kristina Scheffner und Sabine Stahl für vielfältige Unterstützung. Eric Hilgendorf Jürgen Weitzel

Inhaltsverzeichnis Jan Dirk Harke, Würzburg Das römische furtum als Eigentums- und Vermögensdelikt . . . . . . . . . . . . . . .

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Jürgen Weitzel, Würzburg Der Strafgedanke im frühen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dietmar Willoweit, Würzburg Rache und Strafe, Sühne und Kirchenbuße. Sanktionen für Unrecht an der Schwelle zur Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christiane Birr, Würzburg „Kriminalstrafe ist öffentliche Rache“. Beobachtungen zum Strafgedanken in der juristischen Literatur der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Günter Jerouschek, Jena Die Carolina – Antwort auf ein „Feindstrafrecht“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Naucke, Frankfurt a. M. Feuerbachs Lehre von der Funktionstüchtigkeit des gesetzlichen Strafens . .

101

Arnd Koch, Augsburg Binding vs. v. Liszt – Klassische und moderne Strafrechtsschule . . . . . . . . . .

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Klaus Laubenthal, Würzburg Historische Entwicklung der Kriminalbiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Günter Spendel, Würzburg Justiz und Politik. Das Magdeburger Fehlurteil – Analyse eines politischen Rufmordes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Frank Zieschang, Würzburg Die deutsche Strafrechtsentwicklung zwischen 1945 und 1975 am Beispiel der Vorschriften über den Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

173

Eric Hilgendorf, Würzburg Beobachtungen zur Entwicklung des deutschen Strafrechts 1975–2005 . . . .

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Brian Valerius, Würzburg Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht. Ein Blick in die Zukunft

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Winfried Bausback, Würzburg Völkerstrafrecht als Friedenshindernis? – Amnestieverbote im modernen Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das römische furtum als Eigentums- und Vermögensdelikt Von Jan Dirk Harke, Würzburg

I. Einführung Der römische Begriff furtum kommt in der modernen Strafrechtslehre vor allem in Verbindung mit dem Genetiv usus vor. So bezeichnet er einen Bereich, der von den heutigen Tatbeständen des Diebstahls und der Unterschlagung nicht erfaßt wird. Beide verlangen eine Zueignung der entwendeten Sache und scheiden aus, wenn der Täter sie lediglich vorübergehend nutzen und danach dem Eigentümer zurückgeben will. Das römische furtum war auch in diesem Fall begangen und außerdem einschlägig, wenn der Täter eine ihm gehörende Sache dem Pfandgläubiger wegnahm, nach moderner Vorstellung also eine Pfandkehr verübte. Obwohl diese heute durch eine besondere Strafvorschrift geregelt und die Wegnahme zum bloßen Gebrauch straflos ist, haben beide Taten mit Diebstahl und Unterschlagung doch gemein, daß eine Sache dem Berechtigten entwendet, ihm also ohne seinen Willen entzogen wird. Der Unterschied zum geltenden Recht ist nicht groß. Die Konstellation, die das römische furtum von Diebstahl und Unterschlagung im modernen Sinne wirklich trennt, ist die wissentliche Annahme einer nichtgeschuldeten Leistung. Sie ist heute entweder straflos, weil sich der Empfänger nur den Irrtum des Leistenden zunutze macht. Oder sie unterfällt dem Tatbestand des Betrugs, weil der Irrtum über die eigene Verpflichtung auf einer vom Empfänger oder einem Dritten erregten oder unterhaltenen Täuschung beruht. Diebstahl oder Unterschlagung kommen von vornherein nicht in Betracht, weil diese Delikte allein die Fremdund nicht die unbewußte Selbstschädigung erfassen. Anders das römische furtum, das nach der ganz herrschenden Ansicht unter den römischen Juristen auch die rechtsgrundlose Leistung an einen bösgläubigen Empfänger erfaßte.1 1 Vgl. die Stellungnahmen der Frühklassiker Labeo und Mela in D 13.7.3 Pomp 18 Sab, D 47.2.52.11 Ulp 36 ed (unten Fn. 24), der Hochklassiker Afrikan, Pomponius und Scaevola in D 46.3.38.1 Afr 7 quaest, D 47.2.44pr. Pomp 19 Sab und

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Jan Dirk Harke

II. Der Tatbestand des furtum und die herrschende Ansicht unter den römischen Juristen Unproblematisch war diese Zuordnung allerdings nicht. Der Tatbestand des furtum besteht nach der bei Gellius in seinen noctes Atticae überlieferten Definition des frühkaiserzeitlichen Juristen Sabinus im adtrectare invito domino, also in der Ergreifung einer Sache entgegen dem Willen ihres Eigentümers:2 Gell. 11.18.20 Verba sunt Sabini ex libro iuris civilis secundo: qui alienam rem adtrectavit cum id se invito domino facere iudicare deberet, furti tenetur’.3

Ganz ähnlich ist die Definition des furtum in den Institutionen des Gaius, einem Mitte des 2. Jahrhunderts entstandenen Anfängerlehrbuch. Auch ihm zufolge setzt die Strafbarkeit des fur das contrectare invito domino voraus: Gai 3.195 Furtum autem fit non solum, cum quis intercipiendi causa rem alienam amovet, sed generaliter, cum quis rem alienam invito domino contrectat.4

Wie läßt sich hierunter der Empfang einer nichtgeschuldeten Leistung subsumieren, der gerade vom Willen des Leistenden abhängt? Die Konstruktion scheint einfach: Der Wille des Eigentümers, der annimmt, zur Leistung verpflichtet zu sein, ist durch seinen Irrtum derart gestört, daß er entgegen dem äußeren Anschein die Annahme der Leistung durch den Empfänger nicht mehr deckt.5 Indem dieser den Irrtum des anderen ausnutzt, handelt er gegen dessen wahren Willen und damit invito domino.6 Ist dann D 13.1.18 Scaev 4 quaest sowie der Spätklassiker Ulpian und Paulus in D 47.2.43pr. Ulp 41 Sab, D 12.4.14 Paul 3 Sab, D 47.2.21.1 Paul 40 Sab, D 47.2.67.3 Paul 7 Plaut. Ihnen schließt sich auch die nachklassische Kaiserrechtsprechung an; vgl. das Diokletianreskript in CJ 6.2.19. 2 Daß es statt auf das Wegtragen der Sache auf ihre Berührung ankommt, liegt daran, daß der Versuch des furtum straflos ist; vgl. Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899, S. 735. 3 „Die Worte Sabinus’ im zweiten Buch über das Zivilrecht sind: Wer eine fremde Sache ergreift und annehmen muß, daß er dies gegen den Willen des Eigentümers tut, haftet mit der actio furti.’“ 4 „Ein furtum begeht nicht nur, wer eine fremde Sache, um sie zu entwenden, wegschafft, sondern allgemeiner, wer eine fremde Sache gegen den Willen des Eigentümers ergreift.“ 5 So richtig Lange, Das kausale Element im Tatbestand der klassischen Eigentumstradition, Leipzig 1930, S. 82 und Haymann, Grenzen zwischen Betrug und Diebstahl bei der Sachübergabe im römischen Recht, BIDR 59/60 (1956), 1, 4. 6 Nicht mehr unter den Begriff des furtum fassen läßt sich mangels contrectatio dagegen die Konstellation, in der nicht rechtsgrundlos geleistet, sondern nur versprochen wird; vgl. D 47.2.76 Pomp 21 QM: Si is, qui simulabat se procuratorem

Das römische furtum als Eigentums- und Vermögensdelikt

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aber nicht jede irrtumsbedingte Verfügung und damit außer der rechtsgrundlosen Leistung insbesondere auch der Eingehungsbetrug ein Fall des furtum? Daß dies nicht die Auffassung der römischen Juristen ist, ergibt nicht nur das beredte Schweigen der Quellen zur Arglist beim Vertragsschluß. Es ist auch durch eine Aussage des Spätklassikers Ulpian belegt, der am Beginn des 3. Jahrhunderts wirkte: D 47.2.52.17 Ulp 37 ed Si Titius alienam rem vendidit et ab emptore accepit nummos, non videtur nummorum furtum fecisse.7

Bietet der wissentliche Verkauf einer fremden Sache keine Grundlage für die Annahme eines furtum am Kaufpreis,8 darf sich die Regel, der irrtumsbehaftete Wille des leistenden Eigentümers sei irrelevant, nur auf die Übergabe der Sache selbst beziehen:9 Infiziert der Irrtum auch oder allein den Abschluß eines schuldrechtlichen Vertrags, scheidet die Annahme eines furtum aus.10 Eine solche Differenzierung verdient auch in dem Fall, in dem die Leistungen der Parteien sofort ausgetauscht werden, der Abschluß des schuldrechtlichen Vertrags also mit der Übergabe zeitlich zusammenfällt, keineswegs den Vorwurf des Formalismus. Denn beim Eingehungsbetrug liegt das strafwürdige Unrecht in der vertraglichen Bindung zum Nachteil des getäuschten Kontrahenten. Der Empfang von Leistungen ist, wenn er auf vertraglicher Grundlage stattfindet, neutral. Einen selbständigen Unwertgehalt kann er nur haben, wenn er rechtsgrundlos erfolgt.11 esse, effecisset, ut vel sibi vel cui me delegavit promitterem, furti cum eo agere non possum, quoniam nullum corpus intervenisset, quod furandi animo contrectaretur. 7 „Hat Titius eine fremde Sache verkauft und vom Käufer den Kaufpreis erhalten, scheint er hieran kein furtum begangen zu haben.“ 8 An der Kaufsache begeht der Verkäufer dagegen fraglos ein furtum und verhindert so, daß sie vom Käufer ersessen werden kann; vgl. Gai inst 2.50: Vnde in rebus mobilibus non facile procedit, ut bonae fidei possessori usucapio competat, quia qui alienam rem uendidit et tradidit, furtum committit. 9 So richtig Haymann, BIDR 59/60 (1956), 40, 43, der freilich nicht den Grund für die Differenzierung aufzeigt. 10 In der römischen Frühzeit wurde die Annahme des Kaufpreises für eine nicht dem Verkäufer gehörende Sache allerdings als ein dem furtum ähnliches Delikt angesehen, das mit der auf den doppelten Preis gerichteten actio auctoritatis ähnlich wie das furtum sanktioniert wurde; vgl. Kaser, Typisierter dolus im altrömischen Recht, BIDR 65 (1962), 79, 97. 11 Anders als beim Verkauf einer fremden Sache verhält es sich, wenn eine käufereigene Sache zum Verkauf kommt. Da der Vertrag wegen des Verbots einer emptio rei suae unter diesen Umständen nichtig ist, leistet der Käufer, wenn er den Kaufpreis bezahlt, auf eine Nichtschuld; und der Verkäufer, der die Eigentumsverhältnisse kennt, begeht ein furtum; vgl. D 47.2.44.1 Pomp 19 Sab: Si rem meam quasi tuam tibi tradidero scienti meam esse, magis est furtum te facere, si lucrandi animo id feceris.

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Jan Dirk Harke

III. Kritik an der herrschenden Meinung Bedeutet es aber nicht gleichwohl eine Überspannung des furtum-Begriffs, wenn er auch den Empfang ungeschuldeter Leistungen deckt? Darf man den auf ein natürliches Geschehen zugeschnittenen Tatbestand der contrectatio invito domino mit Kategorien der Rechtsgeschäftslehre aufladen, indem man den irrtumsbehafteten Willen als ausgeschlossen betrachtet? Kritik an der Zuordnung der rechtsgrundlosen Leistung zum furtum übte schon der hochklassische Jurist Neraz,12 der am Beginn des ersten Jahrhunderts tätig war. Er befaßte sich mit dem Fall der Zahlung an einen falsus procurator, also an einen vermeintlichen Vertreter des Gläubigers, den der Schuldner zu Unrecht für empfangsberechtigt hielt: D 47.2.43.1 Ulp 41 Sab Falsus procurator furtum quidem facere videtur. sed Neratius videndum esse ait, an haec sententia cum distinctione vera sit, ut, si hac mente ei dederit nummos debitor, ut eos creditori perferret, procurator autem eos intercipiat, vera sit: nam et manent nummi debitoris, cum procurator eos non eius nomine accepit, cuius eos debitor fieri vult, et invito domino eos contrectando sine dubio furtum facit. quod si ita det debitor, ut nummi procuratoris fiant, nullo modo eum furtum facere ait voluntate domini eos accipiendo.13

Den Satz, ein falsus procurator verübe mit der wissentlichen Annahme einer Leistung ein furtum, möchte Neraz vordergründig einschränken, in Wahrheit völlig in Abrede stellen.14 Ein furtum kann der procurator für ihn allenfalls dadurch verüben, daß er die zur Erfüllung bestimmten Geldstücke, die ihm der Schuldner nicht übereignen, sondern lediglich übergeben wollte, abredewidrig nicht dem Gläubiger überbringt, sondern für sich verwendet. Habe der Schuldner dagegen schon mit der Zahlung den Übergang von Eigentum an den Geldstücken bewirken wollen, liege mangels contrec12 Daß die Frage unter den römischen Juristen nicht unumstritten war, wurde früher häufig geleugnet, kann seit Jolowicz, Digest XLVII. 2 De furtis, Cambridge 1940, S. XXVIII aber nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden. 13 „Wer als falsus procurator handelt, scheint ein furtum zu begehen. Aber Neraz sagt, es sei zu untersuchen, ob diese Meinung nicht nur in dem Fall richtig sei, daß der procurator Geld entwende, das ihm gegeben wurde, um es dem Gläubiger zu überbringen. Denn die Geldstücke bleiben hier im Eigentum des Schuldners, da der procurator sie nicht im Namen dessen angenommen hat, dem sie der Schuldner übereignen will; und der procurator begeht zweifellos ein furtum, indem er sie gegen den Willen des Eigentümers ergreift. Leistet der Schuldner dagegen so, daß das Geld zum Eigentum des procurator werden soll, begehe er, so meint Neraz, unter keinen Umständen ein furtum, weil er sie mit dem Willen des Eigentümers empfange.“ 14 Richtig Medicus, Zur Leistungsannahme durch den falsus procurator, Synteleia Arangio-Ruiz, Neapel 1964, Bd. 1, S. 214, 219 ff.; dagegen nicht überzeugend Thomas, A note on falsus procurator, St. Grosso, Turin 1968, Bd. 2, S. 409, 414 ff.

Das römische furtum als Eigentums- und Vermögensdelikt

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tatio invito domino kein furtum vor.15 Dieser Unterscheidung liegt ein dem heutigen Begriff von Diebstahl und Unterschlagung entsprechendes Verständnis des römischen Delikts zugrunde: Die freiwillige Leistung des Eigentümers schließt aus, daß ihr Empfang als solcher strafrechtlich relevant werden kann.16 Tatbestandlich kann nur der zweckfremde Einsatz einer bloß übergebenen Sache sein, deren Zueignung eine Unterschlagung bedeutet. Mit ihm wählt Neraz einen ganz neuen Anknüpfungspunkt für den Vorwurf des furtum und nimmt den unberechtigten Leistungsempfang ganz hiervon aus.17 Weniger radikal ist der Spätklassiker Papinian, der an der Wende des zweiten zum dritten Jahrhundert wirkte. Er will den falsus procurator schon wegen der Annahme einer rechtsgrundlosen Leistung haftbar machen, falls er sie dadurch provoziert hat, daß er unter dem Namen eines echten und empfangsberechtigten Vertreters des Gläubigers aufgetreten ist. Das gleiche gelte, wenn ein Schuldner an den leiste, der sich als der Erbe des Gläubigers ausgebe:18 D 47.2.81.6 Pap 12 quaest Falsus autem procurator ita demum furtum pecuniae faciet, si nomine quoque veri procuratoris, quem creditor habuit, adsumpto debitorem alienum circumvenerit. quod aeque probatur et in eo, qui sibi deberi pecuniam ut heredi Sempronii creditoris adseveravit, cum esset alius.19

Ebenso wie die herrschende Meinung unter den römischen Juristen hält also auch Papinian den Irrtum des Schuldners grundsätzlich für geeignet, die Freiwilligkeit der Leistung auszuschließen und die Annahme einer contrectatio invito domino zu begründen. Der Irrtum muß jedoch von besonderer Art sein und die Identität des Leistungsempfängers betreffen.20 Papinian 15 Unberechtigte Textkritik an dieser Aussage übt Haymann, BIDR 59/60 (1956) 14. 16 Entgegen Lange (Fn. 5), S. 88 f. kann dies nicht nur beschränkt auf die Zahlung an einen falsus procurator, sondern muß generell für die rechtsgrundlose Leistung gelten. 17 Mit einer vertieften Analyse der subjektiven Elemente hat dies entgegen Albanese, La nozione del furtum da Nerazio a Marciano, Annali del Seminario Giuridico della Università di Palermo, Bd. 25, 1956, S. 85, 88 nichts zu tun; vgl. Medicus (Fn. 14), S. 218 f. 18 Der ungerechtfertigte Verdacht einer Textveränderung, den Haymann, BIDR 59/60 (1956), 17 äußert, beruht auf der falschen Unterstellung, Papinian gehe in diesem Fall anders als bei der Zahlung an einen falsus procurator nicht von einer Identitätstäuschung aus. 19 „Ein falsus procurator begeht aber nur dann ein furtum an ihm gezahlten Geld, wenn er den Schuldner eines anderen dadurch betrogen hat, daß er unter dem Namen eines echten procurator aufgetreten ist, den der Gläubiger hat.“ 20 Vgl. Medicus (Fn. 14), S. 215.

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begnügt sich nicht mit der Fehlvorstellung eines Rechtsgrundes für die Leistung, sondern verlangt, daß der Schuldner glaubt, die Übergabe erfolge an eine ganz andere Person, als ihm tatsächlich gegenübersteht.21 Von der regelrechten Wegnahme oder eigenmächtigen Zueignung der Leistung ist diese Konstellation nicht allzu weit entfernt.22 Denn der Schuldner, der zum Opfer einer Identitätstäuschung wird, will überhaupt nicht, daß die Person, der er die Sache übergibt, diese auch empfängt.23 Dem von Papinian entschiedenen Fall24 ganz ähnlich ist eine Konstellation, mit der sich bereits der Frühklassiker Mela beschäftigt hat: 21

Daß Papinian hier lediglich einen Einzelfall entscheidet, ohne einen der Verallgemeinerung zugänglichen Gedanken zu äußern, nimmt zu Unrecht Lange (Fn. 5), S. 91 f. an. 22 Dies verkennen Lange (Fn. 5), S. 82 ff. und Medicus (Fn. 14), S. 216, der eine Interpolation des Textes annimmt. 23 Entgegen Albanese (Fn. 17), S. 93 läßt sich Neraz’ Ansicht daher auch nicht als isolierte Sondermeinung ansehen. Zu einem solchen Ergebnis könnte man nur gelangen, indem man mit Albanese a. a. O., S. 184 zu Unrecht eine Verfälschung des Papiniantextes annimmt. 24 Ihn beurteilen andere römische Juristen genauso wie Papinian: Schon der Frühklassiker Labeo hält den Weizenhändler, der von seinem Gläubiger zur Leistung an einen anderen angewiesen und dann von einem Dritten über dessen Identität getäuscht wurde, für das Opfer eines furtum; vgl. D 47.2.52.11 Ulp 36 ed: Apud Labeonem relatum est, si siliginario quis dixerit, ut quisquis nomine eius siliginem petisset, ei daret, et quidam ex transeuntibus cum audisset, petiit eius nomine et accepit: furti actionem adversus eum, qui suppetet, siliginario competere, non mihi: non enim mihi negotium, sed sibi siliginarius gessit. Ebenso entscheiden die Spätklassiker Ulpian und Paulus in dem Fall, daß ein reicher Titius als Darlehensnehmer vorgeschlagen und dann beim Vertragsschluß durch einen armen Titius ersetzt wird; vgl. D 47.2.52.21 Ulp 37 ed: Cum Titio honesto viro pecuniam credere vellem, subiecisti mihi alium Titium egenum, quasi ille esset locuples, et nummos acceptos cum eo divisisti: furti tenearis, quasi ope tua consilioque furtum factum sit: sed et Titius furti tenebitur; ferner D 47.2.67.4 Paul 7 Plaut: Si tu Titium mihi commendaveris quasi idoneum, cui crederem, et ego in Titium inquisii, deinde tu alium adducas quasi Titium, furtum facies, quia Titium esse hunc credo, scilicet si et ille qui adducitur scit: quod si nesciat, non facies furtum, nec hic qui adduxit opem tulisse potest videri cum furtum factum non sit: sed dabitur actio in factum in eum qui adduxit. (Zur vertragsrechtlichen Seite dieser Entscheidungen vgl. Harke, Si error aliquis intervenit. Irrtum im klassischen römischen Vertragsrecht, Berlin 2005, S. 123 f. Fn. 156.) Vom Fall der Identitätstäuschung unterschieden wird die Konstellation, in der jemand, um ein Darlehen zu erhalten, die eigenen Vermögensverhältnisse anders darstellt, als sie in Wirklichkeit sind. Hier liegt statt eines furtum ein Betrug vor; vgl. D 47.2.43.3 Ulp 41 Sab: Si quis nihil in persona sua mentitus est, sed verbis fraudem adhibuit, fallax est magis quam furtum facit: ut puta si dixit se locupletem, si in mercem se collocaturum quod accepit, si fideiussores idoneos daturum vel pecuniam confestim se soluturum: nam ex his omnibus magis decepit quam furtum fecit, et ideo furti non tenetur. sed quia dolo fecit, nisi sit alia adversus eum actio, de dolo dabitur. Bemerkenswert ist, daß dies auch

Das römische furtum als Eigentums- und Vermögensdelikt

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D 47.2.52.22 Ulp 37 ed Maiora quis pondera tibi commodavit, cum emeres ad pondus: furti eum venditori teneri Mela scribit: te quoque, si scisti: nam non ex voluntate venditoris accipis, cum erret in pondere.25

Hat jemand einem Käufer absichtlich falsche Gewichte geliehen, damit dieser beim Kauf nach Gewicht mehr erhält, als er bezahlen muß, begeht er dem Verkäufer gegenüber ein furtum, bei Kenntnis des Käufers in Neben-, ansonsten in mittelbarer Täterschaft.26 Wegen der Täuschung über das Gewicht der übergebenen Sachen unterliegt der Verkäufer einem Irrtum, der ebenso wie die Identitätstäuschung die Vorstellung der Übergabe selbst beeinträchtigt: Er weiß gar nicht, daß er mehr Kaufsachen übergibt, als die Gewichte ausweisen. Wären richtige Gewichte eingesetzt worden, hätte er einen Teil der Kaufsachen überhaupt nicht aus der Hand gegeben.27 Unter in dem Fall gelten soll, daß sich ein Sklave als Freier aufspielt; vgl. D 47.2.52.15 Ulp 37 ed: Servus, qui se liberum adfirmavit, ut sibi pecunia crederetur, furtum non facit: namque hic nihil amplius quam idoneum se debitorem adfirmat. idem est et in eo, qui se patrem familias finxit, cum esset filius familias, ut sibi promptius pecunia crederetur. Da ein Sklave nicht rechtsfähig ist und nur für seinen Eigentümer erwerben kann, täuscht sich der Darlehensgeber, der glaubt, an einen Freien zu zahlen, eigentlich über die von dem Geschäft betroffene Rechtsperson. Entscheidet nicht sie, sondern die Identität der Person, welche die Geldstücke tatsächlich empfängt, muß dies entgegen Haymann, BIDR 59/69 (1956), 39 nicht unbedingt daran liegen, daß auch in diesem Fall die Differenzierung zwischen schuldrechtlichem Vertrag und Geldübergabe zum Tragen kommt. Näher liegt, daß die römischen Juristen die Frage des Zurechnungssubjekts von der der Identität der Vertragsparteien geschieden haben. 25 „Hat dir jemand ein schwereres Gewicht geliehen, weil du nach Gewicht kauftest, haftet er, so schreibt Mela, dem Verkäufer mit der actio furti. Aber auch du, wenn du es wußtest. Denn du hast nicht mit Willen des Verkäufers empfangen, der über das Gewicht irrt.“ 26 Anders entscheidet der republikanische Jurist Trebaz, der die subsidiäre actio de dolo gewährt; vgl. D 4.3.18.3 Paul 11 ed: De eo qui sciens commodasset pondera, ut venditor emptori merces adpenderet, trebatius de dolo dabat actionem . . . Da diese Klage nur zum Zuge kommen kann, wenn kein Rechtsbehelf wegen eines furtum zuständig ist, muß Trebaz dessen Annahme abgelehnt haben, falls ihm nicht, wie Stein, Fault in the formation of contract in Roman and Scots Law, Edinburgh 1958, S. 97 vermutet, ein anderer Fall zur Entscheidung vorlag. Grund für diese unterschiedliche Einschätzung wird die Konstruktion der mittelbaren Täterschaft sein, derer sich Mela bedienen muß. Sie ist bei der contrectatio invito domino nicht unumstritten: Nach dem Zeugnis von D 47.2.67.4 Paul 7 Plaut (oben Fn. 24) erkennt Paulus sie bei der Identitätstäuschung überhaupt nicht an; und auch Ulpian fordert im Fall eines furtum durch Anweisung die Anwesenheit des Täters bei der Zahlung an den Anweisungsempfänger; vgl. D 47.2.43.2 Ulp 41 Sab: Si is, qui indebitum accipiebat, delegaverit solvendum, non erit furti actio, si eo absente solutum sit: ceterum si praesente, alia causa est et furtum fecit. Eine durchgängige Interpolation dieser Stellen, wie sie Haymann, BIDR 59/60 (1956), 25 f., 34 ff. annimmt, ist ausgeschlossen.

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diesen Umständen eine contrectatio invito domino anzunehmen erfordert ebenso wie bei der Identitätstäuschung keine besondere dogmatische Anstrengung28 und unterscheidet sich ganz erheblich von der bloßen Rücksicht auf den Bestand der Schuld, wie sie die herrschende Meinung unter den römischen Juristen nimmt.

IV. Der nachträgliche Wegfall des furtum als Hinweis auf die Deliktsnatur Wie läßt sich diese Rücksicht erklären, wenn doch schon namhafte Juristen wie Neraz und Papinian für einen Begriff des furtum eintreten, der sich im einen Fall gar nicht, im anderen nur geringfügig von den modernen Tatbeständen des Diebstahls und der Unterschlagung unterscheidet? Einer Antwort kommt man näher, wenn man sich dem Phänomen zuwendet, daß die Strafbarkeit wegen wissentlicher Annahme einer Nichtschuld anders als in anderen Fällen des furtum29 später wieder entfallen kann. Auslöser ist der nachträgliche Eintritt eines Rechtsgrunds: D 47.2.81.5 Pap 12 quaest Si Titius, cuius nomine pecuniam perperam falsus procurator accepit, ratum habeat, ipse quidem Titius negotiorum gestorum aget, ei vero, qui pecuniam indebitam dedit, adversus Titium erit indebiti condictio, adversus falsum procuratorem furtiva durabit: electo Titio non inique per doli exceptionem, uti praestetur ei furtiva condictio, desiderabitur. quod si pecunia fuit debita, ratum habente Titio furti actio evanescit, quia debitor liberatur.30

Hat der vermeintliche Geschäftsherr die Zahlung einer Nichtschuld an einen falsus procurator genehmigt, macht er sich diesen nach den Grundsätzen über die Geschäftsführung ohne Auftrag zur Auskehr der Leistung verbindlich. Zugleich wird er dem Leistenden selbst verpflichtet, und zwar 27

Denn die Kaufsachen werden durch das Wiegen erst individualisiert; vgl. Haymann, BIDR 59/60 (1956), 30, Stein (Fn. 26), S. 95, Horak, Rationes decidendi, Aalen 1969, S. 157 Fn. 40 gegen Jolowicz (Fn. 12), S. 77 f. 28 Richtig Stein (Fn. 26), S. 95. 29 Vgl. 47.2.66 Ulp 1 ed. aed cur: Qui ea mente alienum quid contrectavit, ut lucrifaceret, tametsi mutato consilio id domino postea reddidit, fur est: nemo enim tali peccato paenitentia sua nocens esse desinit. 30 „Hat Titius, in dessen Namen ein falsus procurator irrtümlich geleistetes Geld empfangen hat, die Zahlung genehmigt, kann er selbst die Klage wegen Geschäftsführung ohne Auftrag erheben; ihm aber, der den ungeschuldeten Geldbetrag gezahlt hat, steht gegen Titius die Leistungskondiktion zu; und gegen den falsus procurator behält er die condictio furtiva. Ist die Klage gegen Titius gewählt, wird nicht zu Unrecht mit Hilfe der Arglisteinrede verlangt, daß die condictio furtiva abgetreten wird. War der Betrag dagegen geschuldet, erlischt mit der Genehmigung des Titius die actio furti, weil der Schuldner befreit wird.“

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aus einer Leistungskondiktion, die zusätzlich zu einer aus dem furtum entsprungenen Kondiktion gegen den falsus procurator gewährt wird.31 Anders verhält es sich, wenn der vom falsus procurator angenommenen Leistung eine Verpflichtung gegenüber dem scheinbar Vertretenen zugrundeliegt. Mit der Genehmigung der Leistung ist nicht nur der Leistende befreit, sondern auch die Strafbarkeit des falsus procurator wegen seines furtum entfallen.32 Dieser Wegfall der Strafbarkeit wäre gar nicht einzusehen, wäre das römische furtum wie der moderne Diebstahl und die heutige Unterschlagung ein reines Eigentumsdelikt und ganz und gar auf die Verletzung fremder Sachinhaberschaft zugeschnitten. Sie ist durch den nachträglichen Eintritt eines Rechtsgrundes für die Leistung nämlich in keiner Weise aus der Welt geschafft und harrt ihrer Sanktion völlig unabhängig davon, ob der Leistende im Ergebnis einen Vermögensschaden erlitten hat oder nicht. Mag er auch nach der Genehmigung des Gläubigers so stehen, als ob er von vornherein auf eine bestehende Schuld an den Empfangsberechtigten geleistet hätte, bestand diese Lage bei der Begehung der Tat doch noch nicht. Entfällt seine Strafbarkeit gleichwohl mit dem nachträglichen Eintritt eines Rechtsgrunds für die anfangs grundlose Leistung, bedeutet dies, daß hier statt der Sach- die Vermögenszuordnung entscheidend, das römische furtum im Gegensatz zu seinen heutigen Nachfolgern also kein reines Eigentums-, sondern ein Vermögensdelikt ist.

V. Tatbestand und Aktivlegitimation zur Bußklage Wie kann das furtum aber kein reines Eigentumsdelikt sein, wenn sein Tatbestand die contrectatio invito domino, die Sachergreifung wider den Eigentümerwillen, ist? In einem System der Privatstrafe, wie es die römische Strafrechtspflege zunächst schlechthin, später jedenfalls die Dogmatik des furtum beherrscht, entscheidet über Rechtsnatur und Schutzgut einer strafrechtlichen Verbotsnorm nicht allein ihr Tatbestand, sondern auch die Zuweisung der Rechtsfolgen: Von einem reinen Eigentumsdelikt läßt sich nur dann sprechen, wenn der auf die Eigentumsverletzung zugeschnittene Tatbestand auch ein exklusives Verfolgungsrecht für den Eigentümer zeitigt. Dies ist beim römischen furtum nicht der Fall. Zwar ist an seine Begehung die Haftung mit einer Eingriffskondiktion geknüpft, die nur dem Eigen31 Die Diskrepanz zur Aussage von D 12.4.14 Paul 3 Sab wird auf eine Klassikerkontroverse zurückzuführen sein; vgl. Pika, Ex causa furtiva condicere im klassischen römischen Recht, 1988, S. 61. 32 Einen unberechtigten Verdacht der Textverfälschung haben Albanese (Fn. 17), S. 182 f. und Haymann, BIDR 59/60 (1956), 21.

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tümer der Sache zusteht.33 Diese Klage ist jedoch rein sachverfolgend und ohne Strafzweck. Die Bestrafung des fur erfolgt mit Hilfe actio furti, die bei manifester Tat auf eine Buße in Höhe des Vierfachen, ansonsten auf das Zweifache des Sachwertes gerichtet ist. Sie steht keineswegs nur dem Eigentümer der entwendeten Sache zu. Um zu gewährleisten, daß eine private Verfolgung der Tat stets stattfindet, ist aktivlegitimiert vielmehr der, in dessen Interesse es liegt, daß das furtum unterblieben wäre: Gai 3.203 Furti autem actio ei conpetit, cuius interest rem salvam esse, licet dominus non sit. itaque nec domino aliter conpetit, quam si eius intersit rem non perire.34

Dies ist regelmäßig, aber keineswegs zwingend der Eigentümer: Ist die Sache bei einem Werkunternehmer gestohlen worden, der dem Eigentümer custodia schuldet und daher auch für niederen Zufall einzustehen hat, ist er und nicht etwa der Eigentümer befugt, vom Delinquenten die Buße einzufordern.35 Dem Besteller, der mit seinem Vertragspartner ja schon einen Schuldner hat, fehlt nämlich das Interesse, den Diebstahl zu verfolgen. Aus dem gleichen Grund wird aus dem furtum einer verliehenen Sache nicht der Verleiher, sondern allein der Entleiher berechtigt.36 Aufgrund seiner ver33

D 13.1.1 Ulp 18 Sab. „Die actio furti steht dem zu, in dessen Interesse es liegt, daß die Sache unberührt bleibt, auch wenn es nicht der Eigentümer ist. Daher steht sie auch dem Eigentümer nur dann zu, wenn es in seinem Interesse liegt, daß sie nicht abhanden kommt.“ Vgl. auch D 47.2.10 Ulp 29 Sab: Cuius interfuit non subripi, is actionem furti habet. Daß die Aktivlegitimation von jeher an das Interesse angeknüpft wurde, zeigt die Auseinandersetzung zwischen den republikanischen Juristen Quintus Mucius und Servius über die Frage, ob auch ein Dieb zur actio furti zugelassen sein könne; vgl. D 47.2.77.1 Pomp 38 QM: Si quis alteri furtum fecerit et id quod subripuit alius ab eo subripuit, cum posteriore fure dominus eius rei furti agere potest, fur prior non potest, ideo quod domini interfuit, non prioris furis, ut id quod subreptum est salvum esset. haec Quintus Mucius refert et vera sunt: nam licet intersit furis rem salvam esse, quia condictione tenetur, tamen cum eo is cuius interest furti habet actionem, si honesta ex causa interest. nec utimur Servii sententia, qui putabat, si rei subreptae dominus nemo exstaret nec exstaturus esset, furem habere furti actionem: non magis enim tunc eius esse intellegitur, qui lucrum facturus sit. dominus igitur habebit cum utroque furti actionem, ita ut, si cum altero furti actionem inchoat, adversus alterum nihilo minus duret: sed et condictionem, quia ex diversis factis tenentur. Wäre es ursprünglich auf das Eigentum an der entwendeten Sache angekommen, hätte sich die Frage nach einer Aktivlegitimation des Diebs überhaupt nicht stellen können. 35 Gai 3.205: Item si fullo polienda curandaue aut sarcinator sarcienda uestimenta mercede certa acceperit eaque furto amiserit, ipse furti habet actionem, non dominus, quia domini nihil interest ea non periisse, cum iudicio locati a fullone aut sarcinatore suum consequi possit, si modo is fullo aut sarcinator rei praestandae sufficiat; nam si soluendo non est, tunc quia ab eo dominus suum consequi non potest, ipsi furti actio conpetit, quia hoc casu ipsius interest rem saluam esse. 34

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traglichen Verpflichtung für custodia hat nämlich er und nicht der Verleiher den durch die Tat eingetretenen Schaden zu tragen.37 Etwas anderes gilt nur, wenn der vertraglich zur custodia Verpflichtete insolvent, die gegen ihn zuständige Forderung uneinbringlich ist. Da der Eigentümer in diesem Fall ein eigenes Interesse an der Verfolgung des Diebstahls hat, steht ihm ausnahmsweise die actio furti zu.38 Entscheidet über die Aktivlegitimation zur Bußklage der Eintritt des Vermögensschadens, nimmt es nicht wunder, daß dieser auch den Anwendungsbereich der Sanktion bestimmt, indem er die Auslegung des Tatbestands steuert. Wäre das furtum ein reines Eigentumsdelikt, müßte man den Eigentümerwillen, welcher der Sachergreifung bei der contrectatio invito domino widerstrebt, nur auf den Wechsel der Sachherrschaft beziehen. Ein Irrtum über den Bestand eines Schuldverhältnisses wäre dann von vornherein irrelevant. Beachtlich könnten allenfalls die von Papinian und Mela behandelten Fehlvorstellungen über die Identität des Vertragspartners oder der übergebenen Sache sein, weil sie das Bewußtsein der Übergabe schlechthin ausschließen. Anders verhält es sich, wenn das furtum statt des Eigentümerrechts über die Sache das Vermögen im ganzen schützt. Der Eigentümerwille, der einer Sachübernahme durch den fur entgegensteht, läßt sich dann von der Sachherrschaft ablösen und auf die Vermögensfolgen beziehen: Auch wenn der Eigentümer mit dem Wechsel der Sachherrschaft einverstanden ist, kann dieser doch der Wille entgegenstehen, zur Erhaltung des eigenen Vermögens nichts ohne Rechtsgrund aus der Hand zu geben. Dieser Wille ist bei der Leistung auf eine bloß vermeintliche Schuld ausgeschlossen und verdient wegen des vermögensschützenden Charakters des römi36 Gai 3.206: Quae de fullone aut sarcinatore diximus, eadem transferemus et ad eum, cui rem commodauimus. nam ut illi mercedem capiendo custodiam praestant, ita hic quoque utendi commodum percipiendo similiter necesse habet custodiam praestare. 37 Auch der Verkäufer einer Sache, die vor Übereignung an den Käufer gestohlen wurde, war, obwohl noch ihr Eigentümer, zur actio furti doch bloß deshalb zugelassen, weil er dem Käufer ebenfalls für custodia und also auch für den niederen Zufall des Diebstahls einzustehen hatte; vgl. D 47.2.14pr. Ulp 29 Sab: Eum qui emit, si non tradita est ei res, furti actionem non habere, sed adhuc venditoris esse hanc actionem celsus scripsit. mandare eum plane oportebit emptori furti actionem et condictionem et vindicationem, et si quid ex his actionibus fuerit consecutus, id praestare eum emptori oportebit: quae sententia vera est, et ita et iulianus. et sane periculum rei ad emptorem pertinet, dummodo custodiam venditor ante traditionem praestet. 38 Vgl. D 47.2.12pr. Ulp 29 Sab: Itaque fullo, qui curanda poliendave vestimenta accepit, semper agit: praestare enim custodiam debet. si autem solvendo non est, ad dominum actio redit: nam qui non habet quod perdat, eius periculo nihil est. Ferner D 47.2.52.9 Ulp 37 ed. Indirekt ergibt sich die Ausnahme auch durch die Einschränkung am Ende von D 47.2.14.17 Ulp 29 Sab.

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schen furtum Beachtung. Seine Erstreckung auf den rechtsgrundlosen Leistungsempfang fördert damit nur zutage, was seine Natur bestimmt, nämlich die Kreuzung eines eigentumsschützenden Tatbestands mit einer vermögensschützenden Sanktion.39

39 Man kann daher entgegen Medicus (Fn. 14), S. 221 nicht von einer Ausweitung des furtum-Tatbestands und entgegen Rabel, Grundzüge des römischen Privatrechts, 2. Aufl. Darmstadt 1955, S. 96 und Lange (Fn. 5), S. 82 auch nicht von einer Entwicklung des furtum zum Vermögensdelikt sprechen. Die Zwitterstellung ist von vornherein angelegt.

Der Strafgedanke im frühen Mittelalter Von Jürgen Weitzel, Würzburg

I. Die Strafe als Neuerung im Gefüge des Unrechtsausgleichs 1. Der Quellenbefund: Normenkonkurrenzen Die wegen einer Missetat gegen den Täter gerichteten Maßnahmen können nach ihrer Art – Geldleistung, Prügel, Verstümmelung, Tötung, Gefängnis – und je nach den Personen, die sie ausüben – das Opfer der Tat, seine Verwandtschaft, Vertreter einer Gemeinschaft, des Staates, der Kirche – ganz unterschiedliche sein. Für das frühe Mittelalter, die Zeit etwa zwischen 500 und 900, ergibt sich der Befund, dass in den so genannten Volksrechten, leges barbarorum, den Rechtsaufzeichnungen der germanischen Völker, Missetaten auch der schwersten Art – Tötungen, Diebstahl, Raub, angebliche Menschenfresserei, Brandstiftung – mit einer an den Geschädigten beziehungsweise seine Sippe zu erbringenden Geldleistung, der so genannten compositio, zu deutsch Sühne – oder auch Bußleistung, sanktioniert werden.1 Dabei ist die compositio das Ergebnis eines Sühnevergleichs zwischen den beteiligten Parteien, der auch aus gerichtlichen Verhandlungen hervorgehen konnte, was aber seinen Charakter in jener Zeit nicht entscheidend veränderte.2 Hatte die öffentliche Gewalt, der König oder Herzog und ihre Amtsträger den Frieden vermittelt, so stand ihnen ein Teilbetrag, das so genannte Friedensgeld ( fredus), zu. Die in den Leges niedergeschriebenen Kompositionen prägten die Sanktionierung von Missetaten weit über das frühe Mittelalter hinaus, stellten jedenfalls nördlich der Alpen während des gesamten Mittelalters die Grundform des Unrechtsausgleichs. Es gab und gibt deshalb wohl auch noch Rechtshistoriker, die der Auffassung sind, es habe im frühen Mittelalter ein „eigentliches Strafrecht“ gar nicht gegeben, das Bußensystem sei „praktisch unerschüttert“ geblieben, habe seine 1

Hermann Nehlsen, Buße (weltliches Recht), in: Lexikon des Mittelalters (LexMa) II, Sp. 1144–1149. 2 Zum Charakter des frühma. Urteils im Kompositionenverfahren vgl. Jürgen Weitzel, Gerichtsverfahren (germ. und dt. Recht), in: LexMa IV, Sp. 1333–1335; ders., Gerichtsverfahren, in: Reallexikon der german. Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 11, S. 153–171.

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Prädominanz gewahrt, Formen peinlicher Strafen seien „eher am Rande“ zu beobachten.3 Immerhin wird mit solchen Formulierungen anerkannt, dass es neben den Sühneleistungen zwischen den Sippen andere Sanktionsformen, nämlich auf körperliche Pein gerichtete, gab, wenn man sich auch (noch) gegen die Qualifizierung dieser Normen als „Strafrecht“ sträubt. Die peinlich sanktionierenden Normen erscheinen gegenüber den Volksrechten prinzipiell als Neuerungen aus königlichem Ordnungswillen. Bei den Burgundern und den Langobarden sowie den ohnehin rechtlich weitgehend romanisierten Westgoten wurden sie als Novellen in die Volksrechte eingefügt.4 Bei den Franken führten sie als königliche Edikte, Präzepte, Dekrete und Kapitularien prinzipiell ein Eigenleben. Es stand also über Jahrhunderte hin peinlich sanktionierendes Königs- oder Amtsrecht neben dem auf Sühneausgleich gerichteten Volksrecht. Und dies in weitem Umfange wegen derselben Missetaten oder Verbrechen (crimen). Schon die Könige der ersten fränkischen Dynastie, die Merowinger, bedrohten mit dem Tode Amtswalter, die den dekretierten königlichen Willen missachteten, den Missbrauch der Grafenstellung bei gerichtlicher Pfändung, das Dulden von Zauberei im Gerichtsverfahren (596), die bestechliche Rechtspflege durch Richter, den Richter, der einen bereits festgesetzten Räuber entkommen ließ, die gewaltsame Befreiung eines Diebes aus den Händen des Richters, das Abnehmen eines noch lebenden Gehenkten vom Galgen, die Anfechtung einer Königsurkunde. Ferner: Räuber und Diebe; den Frauenräuber und die einwilligende, geraubte Braut (596), die freie Frau, die sich auf Dauer mit einem Sklaven verbindet; den, der die Stiefmutter zum Weibe nimmt (596).5 Nach Rechtsgewohnheit wurden vielgestaltige politische Delikte wie Verrat und Aufruhr mit dem Tode bestraft.6 Die Decretio des Königs Childebert II. 3 Jürgen Weitzel, Vorverständnisse und Eckpunkte in der Diskussion um ein frühmittelalterlich-fränkisches Strafrecht, in: Festschrift für Gerd Kleinheyer zum 70. Geb., hrsg. von Franz Dorn und Jan Schröder, Heidelberg 2001, S. 541–567, 561 ff. 4 Vgl. etwa Clausdieter Schott, Lex Burgundionum Titel 52 – Der AunegildSkandal, in: Alles was Recht war . . ., Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand, hrsg. von Hans Höfinghoff u. a., Essen 1996, S. 25–36; Leges Liutprandi (733) Tit. 134, 135 bei Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 1 (bis 1250), 11. Aufl., Opladen 1999, S. 35–37. 5 Hermann Nehlsen, Entstehung des öffentlichen Strafrechts bei den germanischen Stämmen, in: Gerichtslauben-Vorträge. Freiburger Festkolloquium für Hans Thieme, hrsg. von K. Kroeschell, Sigmaringen 1983, S. 3–16; ders., Reaktionsformen der Gesellschaft auf Verletzung und Gefährdung von Gemeinschaftsinteressen in Spätantike und frühem Mittelalter bei den germanischen Stämmen, in: www.lehrstuhlnehlsen.de/Materialien/Veröffentlichungen; Jürgen Weitzel, Strafe und Strafverfahren in der Merowingerzeit, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abteilung 111 (1994), S. 66–147, 89 f.

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vom Jahre 596 bedroht schließlich den, der sine causa (= ohne Fehdegrund) einen anderen erschlägt, mit der Todesstrafe. Keiner seiner Verwandten solle es wagen, ihn bei der Zahlung einer etwa vereinbarten Totschlagssühne zu unterstützen. Denn es sei gerecht, dass der zu sterben lerne, der zu töten wisse. Die Durchsetzbarkeit solcher Strafdrohungen ist ebenso wenig wie die detaillierte Begründung des Ausschlusses der Kompositionen/Sühneleistungen aus dem Begriff der Strafe unser heutiges Thema.7 Immerhin aber können Geldleistungen Sühneleistungen oder aber Geldstrafen sein. Und es entscheidet nicht nur der Umstand, an wen gezahlt wird, darüber, ob nun das eine oder das andere vorliegt. Freilich könnte ich mich auf den offensichtlichen Unterschied zwischen einer Geldleistung einerseits und dem Erdulden einer Verstümmelungs- oder der Todesstrafe andererseits zurückziehen und meinen Strafbegriff auf der Suche nach dem frühmittelalterlichen „Strafgedanken“ einfach auf die peinlichen Sanktionen begrenzen. Das wäre allerdings ein Ausweichen vor der grundsätzlichen Frage, was denn eigentlich eine „Strafe“ im Gegensatz zu anderen Sanktionsebenen und -formen ist, – und dies wiederum wäre im Hinblick auf die nachfolgenden Referate bis einschließlich dessen zur Carolina kein sonderlich förderlicher Beitrag zur Gesamtfragestellung der Vorlesungsreihe. 2. Der Begriff der Strafe Ich wende mich also, um Kürze bemüht, der Klärung des Begriffs der Strafe in historischer Perspektive zu. Dem Rechtshistoriker gibt nicht selten die Sprachgeschichte erste Aufschlüsse. Die Wörter „Strafe“ und „strafen“ treten erst um 1200 in Erscheinung.8 Über Vorläufer und Entstehung dieser Begrifflichkeit ist nichts bekannt. Während für Sühneleistungen althochdeutsch suona, suonen und ähnliche Wörter überliefert sind, konnte bislang kein althochdeutsches oder fränkisches, langobardisches, burgundisches 6 Jürgen Weitzel, Das Majestätsverbrechen zwischen römischer Spätantike und fränkischem Mittelalter, in: ders. (Hrsg.), Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, Köln 2002, S. 47–83. 7 Zur begrifflichen Seite vgl. Jürgen Weitzel, Begriff und Gegenstand des frühmittelalterlichen Sanktionenrechts, in: Recht als Erbe und Aufgabe. Festschrift für Heinz Holzhauer, hrsg. von Stefan Chr. Saar u. a., Berlin 2005, S. 11–18. 8 Hierzu und zum Nachfolgenden vgl. Klaus von See, Strafe im Altnordischen. Eine wortgeschichtliche Untersuchung (1979), jetzt in: ders., Königtum und Staat im skandinavischen Mittelalter, Heidelberg 2002, S. 135–151; Heinz Holzhauer, Das neue Bild vom alten Strafrecht, in: Rechtstheorie 32 (2001), S. 53–63; Christian Gellinek, Was heißt Strafen?, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abteilung 118 (2001), S. 385 f.; Karl Frederik Freudenthal, Arnulfingisch-karolingische Rechtswörter, Göteborg 1949.

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Wort mit dem Sinn von „strafen“ gefunden werden. Die Informationen über peinliche Strafen im frühen Mittelalter sind alle in lateinischer Sprache auf uns gekommen. Die einschlägigen Wörter sind dort insbesondere poena und supplicium. Außerhalb des Rahmens des römischen Strafrechts und in einem weithin veränderten kulturellen Umfeld kann ihnen freilich nur eine begrenzte und unsichere begriffliche Schärfe zugesprochen werden. Die Philologen beschreiben den Inhalt der um 1200 auftretenden „strafen, Strafe“ mit „extra laut schelten“, „mehr als schelten“ und „peinlich schelten“ im Gegensatz zu „ausgleichend schelten“. Gemeint ist also eine harsche und scharfe Reaktion auf Unrecht. Es handelt sich danach um eine neu gewonnene Sinnzuweisung an sanktionierende Verfahren, die das ältere Tätigkeitswort für schelten, „refzen“, verdrängte. In der Sache lässt sich das gut mit den im Rahmen der Landfrieden aufkommenden Blutstrafen verbinden.9 Die skandinavischen Sprachen rezipierten dann seit dem 16. Jahrhundert die deutschen Wörter „strafen, Strafe“ unter Verdrängung älterer, doch ungefestigter Bezeichnungen, darunter auch refsa, für Strafe. Klaus von See, der Frankfurter Germanist und Skandinavist sieht das Neue an der „Strafe“ in der unpersönlichen Affektlosigkeit, mit der die Sanktion vollzogen werden soll, und in dem „zwingende(n), gesetzlich vorgeschriebene(n) Kausalnexus von Verursachung und Folge“. So heißt es in einem schwedischen Königsspiegel im 13. Jahrhundert sinngemäß: Der König soll nicht bei sich denken, er töte den Verurteilten aus eigener Grausamkeit oder aus Zorn oder aus Hass gegen den, der sterben muss. Vielmehr tötet er ihn um der gerechten Strafe willen und aus Liebe zu denen, die leben. Und das dänische Jyske Lov von 1241 argumentiert zugunsten des Amtmanns, der den Dieb „um des Rechts und der Königsmacht willen“ hängen lasse, im Gegensatz zum bestohlenen Bauern, der dies aus Rache tue (II, 87). Zu den nordischen Quellen und ihrer Interpretation könnte passen, was Franz Beyerle für die fränkische Zeit zu erwägen gab, dass nämlich gerade die Emotionslosigkeit der von den Führungsschichten aus rationalem Zweckdenken eingeführten gerichtlichen Tötung beim einfachen Volk magische Vorstellungen vom Sinn dieses Vorgangs, insbesondere die eines Abwehrzaubers, habe aufkommen lassen.10 Was nun den Rechtsbegriff der Strafe angeht, so handelt es sich um ein Übel, das wegen der Verletzung des Rechts von einer Obrigkeit ( public 9 Zu den Landfrieden vgl. Elmar Wadle, Landfrieden, Strafe, Recht. Zwölf Studien zum Mittelalter, Berlin 2001; Arno Buschmann/Elmar Wadle (Hrsg.), Landfrieden. Anspruch und Wirklichkeit, Paderborn 2002. 10 Franz Beyerle, Besprechung von Bernhard Rehfeldt, Todesstrafen und Bekehrungsgeschichte. Zur Rechts- und Religionsgeschichte der germanischen Hinrichtungsgebräuche, Berlin 1942, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abteilung 69 (1952), S. 426–438.

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authority) gegen den Täter verhängt wird. Das heißt, Strafe gibt es nur auf dem Boden eines rechtlichen Unterwerfungsverhältnisses.11 Dabei muss die Obrigkeit nicht notwendigerweise als Staat qualifiziert werden (können), es genügt vielmehr jeglicher Rechtsverband, in dem ein Übergeordneter dessen Strafanspruch wahrnimmt. Es kann also auch der Hausvater in der Familie, der Kirchenobere in der Kirche „strafen“. Der Rache-, Genugtuungs- und Ersatzanspruch unter gleichgestellten Sippen bringt hingegen Strafen nicht hervor. Diese Ansprüche liegen im Mittelalter vielmehr in Konkurrenz mit dem obrigkeitlichen Strafanspruch, der folglich – anders als im modernen Staat mit seinem Gewaltmonopol – nicht auf Ausschließlichkeit gerichtet sein kann. Schließlich wird man, je mehr die Strafe zur Rechtsstrafe wird, fordern müssen, dass das Übel unter Beachtung eines Minimums an Verfahrensregeln verhängt wird. In der Sache kann das Übel dann vieles treffen: Leben, körperliche Unversehrtheit, Ehre, Freiheit, Status, Geld, Vermögen, Verlust der Heimat.

II. Traditionen und Träger des Strafgedankens Wo überall finden wir nun im frühen Mittelalter den vorlaufend näher beschriebenen Strafgedanken? Wo ist er und warum stärker oder schwächer ausgeprägt? Die Kultur – auch die Rechtskultur – des Mittelalters entsteht bekanntlich aus dem Verschmelzen dreier Traditionen und Kräfte: der germanischen, der römischen und der christlichen. Es liegt folglich nahe, nach deren jeweiligem Beitrag zum Strafgedanken im frühen Mittelalter zu fragen. 1. Germanisches Was die Germanen angeht, vertraten viele Rechtshistoriker des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Auffassung, es habe vorchristlich ein System germanischer Todesstrafen gegeben. Der Täter unsühnbarer Verbrechen – als solche galten besonders verwerfliche so genannte Neidingswerke und die Verletzung der Heiligtümer – sei einer öffentlichen Strafe zugeführt worden, indem man ihn in einem Kultakt der jeweils durch die Tat verletzten Gottheit geopfert habe, so genannte Sakralstrafentheorie. Andere Strafen hätten sich nach und nach als „Abspaltungen“ von einer Friedlosigkeit, in die der Täter gewöhnlich durch die Tat selbst geraten sei, ausgebildet. So ging man ganz allgemein davon aus, dass bei den heid11 Johannes Nagler, Die Strafe. Eine juristisch-empirische Untersuchung, Leipzig 1918, S. 1 ff., 93; Jean-Marie Carbasse, La peine en droit français des origines au XVIIe siècle (= Recueils de la Société Jean Bodin LVI), Brüssel 1991, S. 157–172, 158.

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nischen Germanen ein System von Todes- und Körperstrafen geherrscht habe.12 Man stützte diese Lehren mit einem kräftigen Willen zur Konstruktion und dem unerschütterlichen Glauben an zeitlose Prinzipien germanischen Rechtsdenkens auf einige knappe Äußerungen antiker Schriftsteller, auf die Berichte christlicher Missionare, hauptsächlich aber auf hoch- und spätmittelalterliche skandinavische Quellen, wobei man deren christlichen Einschlag prinzipiell verkannte. Das Christentum habe dann die germanischen Todesstrafen zurückgedrängt und in einer „Übergangszeit“ den Kompositionensystemen der Volksrechte zum Durchbruch und zur Vorherrschaft verholfen. Heute werden diese Lehren kaum noch vertreten. Es herrscht der an allgemeinen ethnologischen Befunden ausgerichtete Blick auf die germanischen Stämme und Völker vor.13 Diese befanden sich während ihrer Wanderungen und zunächst auch noch beim Sesshaftwerden auf (ehemals) römischem Boden im Übergang zur Kephalität, das heißt prinzipiell noch segmentär gegliederte Gesellschaften formten allmählich in Häuptlingen, Herzögen, Klein- und dann Großkönigen erste Stufen der Kephalität, also einer über den Familienverbänden stehenden Zentralgewalt aus. Es bildete sich also keineswegs alsbald und überall ein den gesamten Stamm, das nicht selten – aus Anlass innerer Streitigkeiten oder verheerender militärischer Niederlagen – je neu gebildete „Volk“ übergreifendes und dauerhaft etabliertes Großkönigtum heraus. Die Franken kannten noch 150 Jahre nach ihrem Sesshaftwerden nur Kleinkönige, also „Herrscher“ über Teilstämme. Alemannen und Bayern, Sachsen und Friesen kannten prinzipiell überhaupt keine Könige. Militärische Führer wurden oft auf Zeit bestellt. Und ihre Befugnisse waren auf die Bedürfnisse des Kriegszuges beschränkt. Auch in derart minimal organisierten Gesellschaften gibt es Strafen, gerade auch Todesstrafen: kraft militärischer Kommandogewalt, auch anlässlich von Volksund Heeresversammlungen kann man sie sich vorstellen als Sanktionen gegen Verräter, Überläufer und feige Heeres- oder Schlachtenflüchtlinge. Davon berichtet Tacitus in seiner „Germania“, cap. XII. Innersegmentär strafte der Hausvater. Im Übrigen aber sind Tötungen, die sich als Reaktion auf eine Missetat darstellen, mangels Ausbildung und Organisation einer öffentlichen Gewalt Rache- und Fehdehandlungen. Nicht selten handelte es sich 12

Karl von Amira, Die germanischen Todesstrafen, München 1922; Heinrich Brunner, Abspaltungen von der Friedlosigkeit, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abteilung 11 (1890), S. 62–100; Karl Siegfried Bader, Zum Unrechtsausgleich und zur Strafe im Frühmittelalter, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, German. Abteilung 112 (1995), S. 1–63, 28 ff., 36 ff. 13 Vgl. insb. Holzhauer (wie Fn. 8); ders., Zum Strafgedanken im frühen Mittelalter, in: Überlieferung, Bewahrung und Gestaltung in der rechtsgeschichtlichen Forschung, hrsg. von Stephan Buchholz u. a., Paderborn 1993, S. 179–192.

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dabei um Spontanhandlungen gegen den auf frischer Tat ertappten oder auf der Flucht gestellten Täter. Die zunehmende Verrechtlichung dieser Situation bezeichnet man als Handhaftverfahren, das jedoch seine Herkunft aus der spontan geübten Rache nicht verleugnen kann.14 Strafen waren also zu Beginn des frühen Mittelalters bei den germanischen Völkern nur punktuell und situativ bekannt. Von einer beständig, großflächig oder gar organisiert geübten Strafgewalt kann aufgrund der Schwäche der öffentlichen Gewalt nicht die Rede sein. Dem entspricht der Befund der Volksrechte, die sich im Wesentlichen als breit entfaltete Kompositionensysteme darstellen. Diese entstanden also nicht aufgrund der Christianisierung der Germanen, sondern entstammten deren akephaler, langwährender Tradition. Es galt auch kein „System germanischer Todesstrafen“ zu verdrängen, da bei den Germanen Todesstrafen nur punktuell und okkasionell geübt wurden. Wie wenig die germanische Tradition auf Strafen ausgerichtet und zur Ausbildung eines allgemein geübten Strafrechts tauglich war, soll noch kurz am Rechtsinstitut des Zeugen erläutert werden. Eine Strafverfolgung ohne gerichtliche Verwertung der Aussagen von Zeugen ist kaum denkbar. Gleichwohl kennen die germanischen Volksrechte und das volksrechtliche Verfahren den Tat- oder Überführungszeugen nicht.15 Offenbar passte eine Zufallszeugenschaft nicht in das von Blutrache und Sippenantagonismen geprägte Bild, das sich die Menschen von der Unrechtsbewältigung machten. Die germanische Tradition bot damit nur im Handhaftverfahren einen Ansatzpunkt zur weiteren Entwicklung von (Blut-)Strafen. Nur gegen den handhaften Täter konnte eine Art Überführungsbeweis geführt werden. Jedem anderen Beklagten gestand das Recht den Entlastungsbeweis, meist mittels Unschuldseids, unterstützt von Eideshelfern, zu. Zum Strafgedanken ist ferner ein ständischer Aspekt zu berücksichtigen. Der freie Mann galt in der germanischen Sippengesellschaft als körperlich unantastbar. Es gab außerhalb der bereits aufgezeigten engen Grenzen keinerlei Rechtfertigung, auch nicht die einer irgendwie gearteten öffentlichen Gewalt, ihn zu binden, sonstwie seiner Freiheit zu berauben, ihn auszupeitschen, zu verstümmeln oder zu töten. Vielmehr konnte er das von ihm begangene Unrecht, sofern sich die verletzte Sippe ihre Rache abkaufen ließ, durch ausgleichende Geld- und Vermögensleistungen an diese sühnen. Auch 14

Dieter Werkmüller, Handhafte Tat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) I, Sp. 1965–1973; Heinz Holzhauer, Handhafte Tat, in: LexMa IV, Sp. 1902 f. 15 Jürgen Weitzel, Zeuge, in: Reallexikon der german. Altertumskunde, 2. Aufl., Band 32 (im Druck); breit angelegt ist Luca Loschiavo, Figure di testimoni e modelli processuali tra antichità e primo medioevo, Mailand 2004.

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als peinliche Strafen allmählich Eingang fanden, blieben sie für Freie oft durch Geldleistungen ablösbar, eine ständisch gebundene Betrachtungsweise, die bis in das 16. Jahrhundert hinein beobachtet werden kann. Der Strafgedanke konnte sich leichter gegenüber den Sklaven durchsetzen, da diese herkömmlich der Strafgewalt ihres Herrn, des Hausherrn, unterlagen. Seine Strafgewalt schloss intern alle Formen körperlicher Züchtigung bis hin zur Tötung ein, während der Herr selbst wegen der Taten des Sklaven nach außen hin ursprünglich nach Kompositionenrecht haftete. Als dies jedoch für die Herren zu teuer wurde, als der Strafgedanke allmählich auch in der öffentlichen Sphäre stärker Platz griff, sahen sich in erster Linie die Sklaven und Unfreien der Ermittlungsfolter und körperlichen Strafen ausgesetzt.16 Wer nicht mit Geld zahlen konnte, der musste dies mit seinem Rücken oder mit seinem Leben tun. Daran, dass in erster Linie Unfreie und zahlungsunfähige Freie die peinliche Strafe erlitten, besteht kein Zweifel. Umstritten ist jedoch, ob entwicklungsgeschichtlich gesehen dem Sklavenstrafrecht oder aber der Durchsetzung des Strafgedankens auch und gerade gegenüber Freien, die ja die politisch maßgebliche Bevölkerungsschicht dieser Jahrhunderte stellten, größere Bedeutung beizumessen ist.17 Eine letzte in die Erörterung des Strafgedankens bei den Germanen einzubeziehende Kraft ist ihre Religion. Man kann sie nicht mit dem Argument übergehen, die germanischen Völker seien im Zuge der Völkerwanderung und des frühen Mittelalters ja Christen geworden. Es könnten doch, bei entsprechender Prägung der heidnischen Religion, Antriebskräfte zur Ausbildung von Strafen in christlicher Zeit fortgewirkt haben, so wie heidnische Vorstellungen generell fortwirkten. Allerdings gibt es keine Anhaltspunkte für eine relevante Nähe der germanischen Religion und ihrer Götter zum Recht allgemein und zu Strafen insbesondere. Bei den Römern, den Juden und in weiteren Kulturen ist eine solche Beziehung weit prägnanter gegeben. Dass man – angeblich – bestimmte germanische Hinrichtungsformen bestimmten Göttern zuordnen kann und dass möglicherweise in früher Zeit die Thingversammlung durch ein priesterliches Friedensgebot eröffnet wurde, begründet keine Nähe der germanischen Religion zum Strafgedanken.18 Es sind also in der germanischen Tradition zwar, neben Rache und Sühne, einige kleine Inseln des Strafens auszumachen, doch weder im welt16 Hermann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter, I: Ostgoten, Westgoten, Franken, Langobarden, Göttingen 1972. 17 Gustav Radbruch, Elegantiae iuris criminalis. Sieben Studien zur Geschichte des Strafrechts. Der Ursprung des Strafrechts aus dem Stande der Unfreien, 1938; Weitzel (wie Fn. 5), S. 82 mit Anm. 64. 18 Vgl. §§ 41 (Gesittung), 42–45 (Religion) und 47–50 (Recht) des Artikels „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“, in: Reallexikon der german. Altertumskunde, Bd. 11, S. 374–408.

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lichen noch im religiösen Bereich Kräfte, auf die die starke Ausweitung des Strafrechts im frühen Mittelalter zurückgeführt werden könnte. 2. Römisches Das römische Strafrecht der Spätantike – in unserem Zusammenhang interessiert nur dieses – weist ausgesprochen harte, ja brutale Züge auf.19 Man kannte noch die überkommene „Privatstrafe“, die z. B. bei Diebstahl eine in Höhe des Doppelten oder des Vierfachen des Wertes der gestohlenen Sache an den Verletzten zu erbringende Geldstrafe vorsah. Jedoch griff die römische „Privatstrafe“ kraft Gesetzes, meinte einen historisch gewachsenen Bestand wesentlich staatlich verwalteten Strafrechts. Nur die Einleitung des Verfahrens und der Empfänger der Geldstrafe waren in der Spätantike noch „privat“. Aus der unterschiedlichen Einbettung folgt, dass die römische „Privatstrafe“ unter dem Gesichtspunkt des Strafgedankens nichts mit der germanischen Sühneleistung zu tun hat.20 Man kannte die „Privatstrafe“ noch, denn sie hatte seit Sulla, Cäsar und Augustus zunehmend an Boden verloren gegen die öffentliche Kriminalstrafe. Diese sanktionierte mit Verbannung, Aufenthaltsverbot, Berufsverbot, Geldstrafen, Vermögenseinziehung und – meistens – peinlichen Strafen. Der Strafgedanke war also voll entfaltet. Eine besondere Färbung, nämlich die eines Polizeistrafrechts, nahm er gegen Niedrigstehende, Unfreie, abhängig Beschäftigte und Vermögenslose an. Die in ihren Ursprüngen außerordentliche Polizeijustiz wurde von manchen Kaisern persönlich, in Rom generell von den Präfekten, in den Provinzen von kaiserlichen Statthaltern, Prokonsuln und Polizeichefs geübt. Sie konnten peinliche Strafen bis hin zur Kreuzigung verhängen. Geißelung, Stockhiebe und andere Formen der Folter waren üblich. Als die römische Welt im 4. Jahrhundert zunehmend außer Kontrolle geriet, liefen regelrechte Verfolgungswellen über das Land, meist ausgelöst von kaiserlichen Edikten und ausgenutzt von Teilen des Vorfolgungsapparates zur politischen Profilierung und zur Vernichtung des politischen oder privaten Gegners, von Teilen der Bevölkerung zur Selbstbereicherung durch den Anzeigelohn und Teilhabe an den eingezogenen Vermögenswerten.21 Höchstpreisedikte, Manichäer- und Christenverfolgungsedikte, Kampagnen gegen das Räuberunwesen, gegen flüchtige Sklaven, gegen die Entführung zur Heirat, dann in Umkehrung der Stoßrichtung gegen Anzeiger, 19 Detlef Liebs, Öffentliches und Privatstrafrecht in der römischen Kaiserzeit, in: Hoheitliches Strafen (wie Fn. 6), S. 11–25; Jean-Marie Carbasse, Introduction historique au droit pénal, Paris 1990, S. 55. 20 Deshalb ist es verwirrend und unrichtig, Sühneleistungen als „Privatstrafe“ zu bezeichnen. 21 Vgl. Weitzel, Majestätsverbrechen (wie Fn. 6), S. 48 m. w. Hinweisen.

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gegen Ketzer und immer wieder Prozesswellen wegen Majestätsverbrechen, also politisch-kultischen Vergehen aller nur denkbaren Art, ermächtigten großzügig zur Folter, zu qualifizierten Todesstrafen, zu grausamen Verstümmelungen. Bei alledem standen, wie insbesondere der Freiburger Romanist Detlef Liebs aufgezeigt hat, die christlich gewordenen Kaiser ihren heidnischen Vorgängern an Brutalität keineswegs nach. „Unter den ersten christlichen Kaisern schritt die legislatorische Kriminalisierung des Lebens mit Riesenschritten voran, etliche sechzig todeswürdige Verbrechen gab es am Ende der Regierung Konstantins (325–337), etwa doppelt so viele wie am Anfang.“22 Ein weiteres Zeichen des Strafrechts der ausgehenden Antike ist der partielle Rückzug des Staates aus der Sozialkontrolle. Der Staat legalisierte das Strafen sozial mächtiger Gruppen, etwa der Großgrundbesitzer gegenüber ihren Pächtern, oder von Militärbefehlshabern gegenüber der Zivilbevölkerung. Da es gänzlich unstreitig ist, dass die germanischen Großkönige ihre Machtsteigerung entscheidend dem römischen Vorbild und den von ihnen übernommenen sächlichen wie ideellen Mitteln der römischen Kaiser verdanken, lässt sich relativ leicht und doch eindrucksvoll aufzeigen, was sie in strafrechtlicher Hinsicht von diesen ererbt haben. Zu nennen ist hier zuerst eine verstärkte Bereitschaft, bislang formlos geübte Rache in ein regelgeleitetes Verfahren zu überführen und so im Rechtssinne zu strafen.23 Die Umgestaltung und Ausbreitung zunächst der Blutstrafen im Rahmen der Ausbildung einer Zentralgewalt ist also gekoppelt an die Übernahme und Nachahmung eines Grundbestandes prozessualer Regeln aus dem römischen Kriminalverfahren. Man wird hierbei nördlich der Alpen zuerst an das Vorbild der Militär- und der Provinzialgerichtsbarkeit denken müssen. Verfolgung und Verhaftung der Täter durch Amtspersonen, gegenüber Räubern durch Organisation der Hundertschaft, Binden der Täter, Hinrichtung der niedrigen Personen vor Ort, Verbringung der höhergestellten zum König, Untersuchungshaft, Ermittlungen aller Art, insbesondere aber die Ermittlungsfolter, sind solche nach antikem Vorbild übernommene Verfahrenselemente. Auch in der Sache begegnet viel Bekanntes: die vielfache und frühzeitige Androhung der Todesstrafe gegenüber untreuen Amtspersonen, die Fortsetzung des Kampfes gegen das Räuberunwesen, die Bestrafung von Münz- und Urkundenfälschung, die kräftige Ausbildung eines blutigen Sklavenstrafrechts.24 Im Zentrum aber steht die Ausformung eines politi22

Liebs (wie Fn. 19), S. 19. Weitzel, Strafe und Strafverfahren (wie Fn. 5), S. 137–143. 24 Nehlsen (wie Fn. 16), S. 140 ff., 220 ff., 319 ff., 376 ff.; Weitzel, Strafe und Strafverfahren (wie Fn. 5), passim. 23

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schen Strafrechts grundsätzlich nach dem Vorbild des römischen Majestätsverbrechens, doch eben mit charakteristischen Einschränkungen und einer zunehmenden Aufladung der Majestäts- und Untreuevorstellung durch christliches Gedankengut. Das kann aus Zeitgründen hier nicht näher ausgeführt werden. Deshalb nur Folgendes. Den Germanen war eine auf die Person eines politischen Führers bezogene Majestätsvorstellung offenbar wenig zugänglich. Das antike Majestätskonzept war auf ihre Könige nicht einfach übertragbar. Meist zerlegten sie das spätestens seit der Lex Quisquis des Kaisers Arcadius aus dem Jahre 397 ins Monströse ausgewachsene Generalverbrechen in mehrere Tatbestände, schränkten dabei den Anwendungsbereich ein und schafften Subtilitäten wie Strafbarkeit des Gedankens, Erstreckung der Strafe auf die Söhne des Täters, Verweigerung der Bestattung, Trauerverbot und Zwangsscheidung ab.25 3. Christliches Im Christentum, der dritten der hier zu behandelnden Kräfte, wirken hinsichtlich des Strafgedankens drei Traditionen, die im frühen Mittelalter nicht miteinander zum Ausgleich gebracht werden konnten. Es handelt sich erstens um das im Neuen Testament niedergelegte Liebesgebot, demzufolge dem Angreifer die Wange zum zweiten Schlag darzubieten ist, zweitens um das Talionsprinzip des Alten Testaments, Auge um Auge, Zahn um Zahn (Matth. 5, 38, 39), mit einem auf religiöser Grundlage höchst verbindlichen Strafgedanken, dem Zufallszeugenschaft, öffentliche Anklageerhebung vor den Priestern oder vor Richtern und Ältesten und die Todesstrafe geläufig sind.26 Und schließlich kommt das antike weltliche Erbe hinzu, das das seit Kaiser Konstantin zur Staatskirche gewordene Christentum in sich aufgenommen oder als weltliches Handeln gebilligt und gerechtfertigt hatte. Die Christen kannten ursprünglich nur die brüderliche Ermahnung im Geheimen, die Rüge durch die Gemeindeältesten und bei fortbestehender Widersetzlichkeit den Ausschluss aus der Gemeinde. Der staatlichen Todesstrafe standen sie unter Hinweis auf das Tötungsverbot des Dekalogs und weitere Aussagen des Alten wie des Neuen Testaments (Hesekiel 33, 11; Johannes 8, 11) ablehnend gegenüber. Noch der Kirchenvater Laktanz (~ 250–320) vertrat die Ansicht, dass eine gerichtliche An25 Weitzel, Majestätsverbrechen (wie Fn. 6), S. 73–83; Gerhard Dilcher, Fehde, Unrechtsausgleich und Strafe im älteren langobardischen Recht, in: Hoheitliches Strafen (wie Fn. 6), S. 27–45, 44. 26 Wolfgang Preiser, Vergeltung und Sühne im altisraelitischen Strafrecht, in: Festschrift für Eberhard Schmidt, hrsg. von Paul Bockelmann und Wilhelm Gallas, Göttingen 1961, S. 7–38; Loschiavo (wie Fn. 15), S. 39–74; David Daube, Collected Works, Volume One: Talmudic Law, hrsg. von C. M. Carmichael, Berkeley 1992.

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klage wegen eines Kapitalverbrechens sündhaft sei. Auch Ambrosius von Mailand (~ 340–397) hielt daran vornehmlich mit dem Argument fest, dass die Todesstrafe dem Sünder die Hoffnung auf Besserung durch Buße nehme. Ein Argument, das noch oft gebraucht werden sollte, dem man aber auch – als ein Mönch seinen Abt tötete – die Ansicht entgegenstellte, erst der Vollzug der weltlichen Strafe eröffne dem Täter – im Jenseits – den Zugang zur vollen Gnade. Nach dem Jahre 400 gewann schließlich die Auffassung der Kirchenväter Hieronymus (~ 347–420) und Augustinus (354–430) vom Recht, ja der Pflicht des Staates und seiner Beamten, gegen Verbrecher die Todesstrafe zu verhängen und zu vollstrecken, an Boden.27 Zudem überlieferte Isidor von Sevilla (um 600) in seinen Etymologien dem Mittelalter den gesamten Schatz der römischen Verbrechens- und Strafformen.28 Ein einheitliches Verständnis der Todessstrafe bildete sich in der Kirche jedoch nicht aus, so dass es sowohl in der späten Kaiserzeit als auch im Frankenreich anlässlich der Vollstreckung von Todes- und Freiheitsstrafen immer wieder zu – gelegentlich sogar gewalttätigen – Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Amtsträgern und Geistlichen oder Mönchen kam. Die „Gefangenenbefreiung“ und die Errettung des bereits Gehenkten sind Topoi der merowingischen Heiligengeschichten.29 Rechtlich ging es um ein Interzessionsrecht der Kirche zugunsten – nach ihrer Ansicht – zu hart bestrafter Täter und um das kirchliche Asylrecht. Als zu hart galt vielen Geistlichen wohl die Todesstrafe für handhafte und den niederen Schichten des Volkes angehörende Diebe. Seit Papst Gregor dem Großen (590–604) hat dann zumindest die hohe Geistlichkeit ihren Frieden mit den weltlicherseits vollzogenen Todes- und Verstümmelungsstrafen gemacht. Im Kapitular von Heristal stimmten im Jahre 779 die Bischöfe einem Strafenkatalog zu, der beim erstmaligen Diebstahl Blendung, beim zweiten Diebstahl Abschneiden der Nase, beim dritten schließlich, falls der Dieb die Sühneleistung nicht erbringen konnte, die Hinrichtung vorsah. Dieses Kapitular versagte zudem verurteilten Verbrechern, die in eine Kirche geflohen waren, ein Kapitular von 803 jedem Asylsuchenden den Schutz vor der Todesstrafe.30 27 Berthold Altaner, Patrologie, 6. Aufl., Freiburg 1960, S. 163–166, 339–351, 354–365, 374–413; Alexander Ignor, Aurelius Augustinus, in: Klaus Adomeit, Antike Denker über den Staat, Heidelberg 1982, S. 169–203; Gustav Gottschalk, Über den Einfluß des römischen Rechts auf das kanonische Recht, Ndr. der Ausgabe Mannheim 1855, Aalen 1997, S. 146–183. 28 Isidori hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum, Libri XX, hrsg. von W. M. Lindsay, 2 Bde., Oxford 1957, lib. V, 26 und 27. 29 Friedrich Lotter, Heiliger und Gehenkter. Zur Todesstrafe in hagiographischen Episodenerzähungen des Mittelalters, in: Ecclesia et Regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter, Festschrift für Franz-Josef Schmale, hrsg. von D. Berg und H.-W. Goetz, Bochum 1989, S. 1–20.

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Auch innerhalb der Kirche verschärfte sich das Sanktionswesen. Zunächst auf Zurechtbringung in brüderlichem Geiste und auf Buße in Erkenntnis der eigenen Fehlsamkeit und in Reue angelegt, wird heute die für das Kirchenrecht oft säuberlich unternommene Scheidung von Buße – für das forum internum – und Strafe in Frage gestellt. Sie sei „insofern unangemessen . . ., als bereits im frühmittelalterlichen Pönitentialwesen die Buße zugleich auch Strafzwecken diente und die Kirchenstrafe vice versa immer auch Buße war“.31 Jedenfalls verhängten und vollzogen Kirchenobere und Kirchengerichte neben den korrigierenden Bußen und ausschließenden oder degradierenden Kirchenstrafen auch Freiheitsstrafen durch Einschließung in einer Klosterzelle32 und wegen hartnäckiger Unbotmäßigkeit immer wieder gravierende Prügelstrafen. Hier ist antik-römisches Erbe mit den Händen zu greifen. Kirchliche Organe verhängten weder Todes- noch Verstümmelungsstrafen noch beteiligten sich Kleriker an deren Vollstreckung. Allerdings gab es in merowingischer Zeit eine ganze Reihe wehrhafter Bischöfe, die wie Laien an Kriegszügen, also auch am Töten, teilhatten. Ferner sei der Ausspruch jenes rheinischen Bischofs etwa zur Hälfte des 8. Jahrhunderts in Erinnerung gerufen, der da lautete, er sehe nicht ein, dass ihn sein Amt daran hindere, am Mörder seines Vaters Blutrache zu üben.33 Die Kirche konnte sich zur Verhängung von peinlichen Strafen im frühen Mittelalter allenthalben auf die weltliche Macht verlassen. Die Verbindung zwischen Kirche und Staat, Bischöfen und Königtum war in allen regna sehr eng. Das Königsbild der fränkischen Zeit wurde weithin vom Vorbild der Könige des Alten Testaments bestimmt. Es fragt sich folglich, welchen Beitrag die Kirche und der Schutz ihrer Lehren zur Ausbreitung des Strafgedankens in dieser Zeit geleistet haben. Im Gegensatz zu früher wird dieser Beitrag heute als sehr erheblich angesehen. Insbesondere hat der Münchner Rechtshistoriker Hermann Nehlsen von einem „hocheffektiven 30 Harald Siems, Zur Entwicklung des Kirchenasyls zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Libertas. Grundrechtliche und rechtsstaatliche Gewährungen in Antike und Gegenwart. Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, 1991, S. 187–208. 31 Günter Jerouschek, Literaturbericht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 113 (2001), S. 369 mit Hinweis auf Daniela Müllers Vortrag zur prozessualen Formierung der ursprünglich brüderlichen denunciatio im kanonischen Recht des 13. Jahrhunderts auf dem Rechtshistorikertag 2000 in Jena. 32 Konstantin Lehmann, Die Entstehung der Freiheitsstrafe in den Klöstern des hl. Pachomius, in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kan. Abteilung 68 (1951), S. 1–94; Religiöse Devianz. Untersuchungen zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichung im westlichen und östlichen Mittelalter, hrsg. von Dieter Simon, Frankfurt a. M. 1990. 33 Weitzel, Strafe und Strafverfahren (wie Fn. 5), S. 93 f.

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Sprengstoff in Gestalt von durch das Christentum vermittelten Rechtsvorstellungen“ gesprochen, mittels dessen „das Bollwerk des Kompositionensystems angegriffen“ worden sei.34 Es geht darum, dass christliche Lehren, meist solche, deren Grundlagen im Alten Testament zu finden sind, eine plötzlich eintretende außerordentliche Erweiterung von Gemeinschaftsinteressen zur Folge hatten. Viele Lebenssachverhalte, die es vor der Christianisierung gar nicht gegeben hatte, oder die bislang nur Hausstrafen als innersegmentäre und Sühneleistungen als intersegmentäre Sanktionen hervorgebracht hatten, drängten nun zu peinlicher Bestrafung. Und dies zum einen angetrieben durch die Androhung schwerster Gottesstrafen gegenüber einer Gemeinschaft, die sich „einer Verfolgung dieser Täter verweigerte“, zum anderen aber, so muss ich ergänzen, auch angetrieben durch die Erfahrungen, die die Kirche mit dem Schutz ihrer Lehren durch Blutstrafen in der Antike gemacht hatte. Als solche Straftatbestände, die im Wechselspiel von Hof- und Bischofsversammlungen formuliert wurden, sind heute erkannt: die breite Inzestgesetzgebung schon der frühen Merowingerzeit,35 der Frauenraub, die Sonntagsschändung, der Grabraub36, die Abtreibung37, Formen des Konkubinats, Verlöbnisbruch; die verschärfte Verfolgung und die Androhung von Blutstrafen oder Versklavung bei Ehebruch, Verwandtenmord, einigen Fällen von Unzucht. Auch die zum Schutz der christlichen Religion ergangenen Strafnormen38 unterschieden nicht selten zwischen freien und unfreien Tätern. Die Lex Baiuvariorum aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts – eine Lex, die nur wenige Blutstrafen kennt – enthält zumindest zwei einschlägige Stellen. Der wohl von Klerikern verfasste Text belegt die hartnäckig fortgesetzte Sonntagsschändung bei freien Tätern mit Versklavung, bei Sklaven mit dem Verlust der rechten Hand (7, 4). Wenn ein Freier aus Hass heimlicherweise zur Nachtzeit Kirchengut niederbrennt, kann er diese Tat mit hohen Geldbußen sühnen. Tut es aber ein Sklave, „so nehme man ihm seine Hände und seine Augen, und man wird nicht mehr sehen, dass er Übles tut“ (1, 6). Dass das Strafrecht dieser Epoche generell gesehen repressiv war und auf Abschreckung setzte, muss 34

Nehlsen, Reaktionsformen (wie Fn. 5), S. 13. Paul Mikat, Die Inzestgesetzgebung der merowingisch-fränkischen Konzilien (511–626/27), Paderborn 1994. 36 Hermann Nehlsen, Der Grabfrevel in den germanischen Rechtsaufzeichnungen. Zugleich ein Beitrag zur Diskussion um Todesstrafe und Friedlosigkeit bei den Germanen, in: Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtl. Zeit, hrsg. von H. Jankuhn u. a., Göttingen 1978, S. 107–168. 37 Günter Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn. Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots, Stuttgart 1988. 38 Sie wurden ganz nüchtern und differenziert konzipiert und eingesetzt: vgl. Hans Martin Weikmann, Hoheitliche Strafbestimmungen als Instrument fränkischer Eroberungs- und Missionspolitik, in: Hoheitliches Strafen (wie Fn. 6), S. 153–174. 35

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ich danach wohl nicht mehr betonen. Es bestand aber in weitem Umfang die Möglichkeit, die peinliche Strafe durch eine Geldbuße oder Geldstrafe abzulösen. Und gelegentlich differenzieren bei näherem Hinschauen selbst die Normen des peinlichen Rechts Strafbarkeit und Strafmaß nach Motiven, Absichten, Kenntnissen und Notlagen der Täter. So etwa im Beispiel der lange Zeit als lex crudelissima verschrienen Capitulatio de partibus Saxoniae 782/785.39

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Wie Fn. 38.

Rache und Strafe, Sühne und Kirchenbuße Sanktionen für Unrecht an der Schwelle zur Neuzeit Von Dietmar Willoweit, Würzburg

I. Bilder „mittelalterlichen Strafrechts“ Die moderne Gesellschaft läßt sich bis heute von einem blutigen Szenarium faszinieren, das mit Geköpften und Gehängten, Geräderten und Gevierteilten, Verstümmelten, Gebrandmarkten und Gefolterten seit dem späten Mittelalter auf vielen Abbildungen überliefert ist und für Horrorfilme und andere Inszenierungen perverser oder auch nur gruselerregender Aktivitäten willkommene Anregungen bietet. Kaum jemand stellt die Frage, welche Funktion jenen Darstellungen einst zukam, ob und in welchem Maße sie historische Realitäten widerspiegeln oder ob sie nicht eher als rechtspolitische Propaganda der damaligen Obrigkeiten zu verstehen sind, die mit drastischen Bildern einfache Menschen, überwiegend Analphabeten, von kriminellem Verhalten abzuschrecken versuchte.1 Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 zum Beispiel, die sogenannte Carolina, hat sogleich nach ihrer Verabschiedung eine Mainzer Druckerei mit einem Kupferstich auf dem Titelblatt verbreitet, der folgendes Bild zeigt: eine aufrecht stehende, ausgehöhlte Ochsenhaut, unter der ein Feuer brennt, ist mit einer siedenden Flüssigkeit gefüllt, in der ein Mensch, dessen Kopf am Rücken des Ochsen herausschaut, abgekocht wird.2 Dergleichen dürfte schon technisch kaum realisierbar gewesen sein. Doch irgend jemand hielt ein solches Bild, das die Grausamkeit aller bekannten Hinrichtungsarten vielleicht noch übertreffen wollte, für gut geeignet, das kaiserliche Gesetzbuch im Volke einzuführen, offensichtlich im Sinne der Generalprävention. Aus Bildern dieser Art haben sich Stereotypen geformt, die auch die Wissenschaft in ihren Bann zog. Seit dem frühen 20. Jahrhundert setzte sich die Überzeugung 1

Vgl. das Bildmaterial bei Wolfgang Schild, Alte Gerichtsbarkeit. Vom Gottesurteil bis zum Beginn der modernen Rechtsprechung, München 1980, aber auch die Interpretationen S. 65 ff., 93 ff., 103 ff. 2 Deß allerdurchleuchtigsten großmechtigsten unüberwindtlichsten Keyser Karls des fünfften unnd des heyligen Romischen Reichs peinlich gerichts ordnung, Mainz 1533.

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durch, die Schaffung eines öffentlichen, das heißt von Amts wegen und konsequent durchgesetzten Strafrechts sei die eigentliche Leistung des mittelalterlichen Staates gewesen.3 Daß dieser sich brutaler Sanktionen bediente, war der „Finsternis“ des Mittelalters geschuldet, konnte an der potentiellen Fortschrittlichkeit des nun entstehenden Strafrechts im Rahmen des Staatsbildungsprozesses aber nichts ändern. Die moderne Forschung hat in den letzten zwei Jahrzehnten dieses Geschichtsbild zunehmend in Frage gestellt. Natürlich bleibt es richtig, daß am Ende einer längeren Entwicklung die Obrigkeiten das Legalitätsprinzip mit dem zugehörigen Verfolgungszwang durchsetzen und das Strafrecht dann als ein für jedermann geltendes Sanktionensystem die äußersten Grenzen gesellschaftlich noch akzeptierten Verhaltens markiert. Aber bis es in Europa wirklich gelang, öffentliches Strafrecht in diesem Sinne zu etablieren, war das 17. Jahrhundert erreicht.4 Erst um 1600 geht für strafrechtsgeschichtliche Fragestellungen das Mittelalter zu Ende. Davor liegt ein halbes Jahrtausend mit ganz anders gearteten Verhältnissen. Seitdem im 12. Jahrhundert erstmals in Landfrieden, in Rechtsbüchern und anderen Rechtsquellen peinliche Strafen, also solche, die Leib und Leben betreffen, in den Vordergrund treten, können sie noch lange Zeit andere Formen der Sanktion, zum Beispiel die compositio als vermögenswerte Ausgleichsleistung, nicht verdrängen.5 Ein so langer Zeitraum aber läßt sich nicht als eine Zeit des 3

Ernst Mayer, Deutsche und französische Verfassungsgeschichte vom 9. bis zum 14. Jahrhundert, Bd. 1, Leipzig 1899, S. 139; Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalter, Bd. 1, Weimar 1920, S. 2 ff.; Hans Hirsch, Die hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter (1922), 2. Aufl., Darmstadt 1958, S. 150 ff. 4 Deshalb ist es verfehlt, Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der mittelalterlichen Gesellschaft als eine Epoche der „Strafrechtsgeschichte“ in das Korsett einer juristischen Systematik nach dem Vorbild des Reichsstrafgesetzbuches zu pressen, wie dies His (Fn. 3) überwiegend und ähnlich viele lokale Studien noch konsequenter tun. Vgl. exemplarisch zu dieser Methodenfrage auch unten die in Fn. 11 aufgeführte Literatur. Zum modernen Forschungsstand: James A. Sharpe, Criminal Law as an Instrument of Conflict Control in Late Medieval and Early Modern England. Towards a Long Term Context, in: Dietmar Willoweit (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts. Bestandaufnahme eines europäischen Forschungsproblems (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Symposien und Sythesen 1), Köln 1999, S. 121–134; Xavier Rousseaux, From Case to Crime. Homicide Regulation in Medieval and Modern Europe, ebda. S. 143–175, 154 ff.; Dietmar Willoweit, Die Expansion des Strafrechts in Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Hans Schlosser/Rolf Sprandel/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Herrschaftliches Strafen seit dem Hochmittelalter. Formen und Entwicklungsstufen, Köln 2002, S. 331–354. 5 Vgl. dazu die Pilotstudie von Peter Schuster, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz, Paderborn 2000. In den wenigen „Großstädten“ des ausgehenden Mittelalters dürfte die konsequente Verfolgung von Delinquenten aller Art weiter fortgeschritten gewesen sein, vgl. z. B. Andrea Bendlage

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Übergangs – zwischen dem Kompositionensystem der fränkischen Zeit und der Durchsetzung des frühmodernen Strafrechts – abtun. Es handelt sich um eine Epoche mit durchaus eigentümlichem Charakter, weil das gesellschaftliche Leben noch recht vitale archaische Strukturen prägen, die aber allmählich von obrigkeitlichen Elementen durchdrungen und überlagert werden. Der entstehende Staat in seinen rudimentärsten Formen ist selbst noch Teil der sozialen Verhältnisse, er steht nicht über ihnen. Das ist gleichsam der makrohistorische Grund für die unübersichtliche Vielfalt, um nicht zu sagen Wirrnis des spätmittelalterlichen Sanktionenwesens. Dennoch ist zu vermuten, daß sich hinter der Fülle der einzelnen Erscheinungen auch gemeinsame Grundgedanken verbergen, weil die geschichtlichen Zeugnisse Übereinstimmungen zeigen. Auch die Menschen jener Zeit gehörten verschiedenen kommunikativen Netzwerken an, die Verhaltensweisen und Ideen transportierten. Solche Grundgedanken zu ermitteln, ist das Ziel der folgenden Beobachtungen und Überlegungen. Dafür ist es notwendig, das Spektrum der spätmittelalterlichen Unrechtsfolgen zu ermitteln und in ihrem gegenseitigen Verhältnis zu gewichten.

II. Zur Quellenlage Die angedeutete Aufgabe ist mit den prominentesten Rechtsquellen von landesweiter Bedeutung – kaiserlichen Landfrieden, Sachsenspiegel, Schwabenspiegel und ähnlichen Texten – allein nicht zu lösen. Sie fixieren für ihre Zeit gewiß wichtige rechtspolitische Positionen und Erkenntnisse. Über ihre Umsetzung in die von uns gern so genannte Rechtswirklichkeit wissen wir aber oft nur wenig. Mittelalterliche „Rechtsanwender“ – wenn man so überhaupt reden darf – zitieren nur selten schriftliche Rechtsquellen. Was sich in der gesellschaftlichen Realität tatsächlich abgespielt hat, kann nur lokalen Quellen entnommen werden. Auch auf dieser Ebene ist nochmals zwischen normativen Rechtstexten – Stadtrechten, Statuten, Weistümern, herrschaftlichen Geboten usw. – und Berichten über einzelne Vorgänge in Gerichtsprotokollen, Urteilen, Urkunden oder Chroniken zu unterscheiden. Erstere, die Normen also, das heißt abstrakt und generell formulierte Tatbestände und Rechtsfolgen, können zwar toter Buchstabe geblieben sein. Die und Ulrich Henselmeyer, Zur Monopolisierung des Strafrechts. Gesellschaftliche Relevanz und Reichweite obrigkeitlicher Normen in der Reichsstadt Nürnberg im 15. und 16. Jahrhundert, in: Hans Schlosser u. a. (Fn. 4), S. 311–329; Gerd Schwerhoff, Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn 1991. – Einen knappen, aber modernen Überblick zu den hierher gehörenden Fragen der mittelalterlichen Rechtsordnung geben Hinrich Rüping und Günter Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl., München 2002.

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Wahrscheinlichkeit, daß sie mit dem Rechtsleben einer Stadt, für die sie geschaffen wurden, gar nichts zu tun hatten, ist indessen sehr gering. Das Mißtrauen der Wissenschaft gegenüber der Wirklichkeitsnähe normativer Rechtsquellen ist um so unbegründeter, je enger ein solcher Text mit einem bestimmten Gericht oder Ort verbunden ist, weil er dann oft nur die dort ohnehin beobachteten Gewohnheiten widerspiegelt. Das gilt aber für lokale kirchliche Strafnormen nicht unbedingt. In welchem Umfang diese im ausgehenden Mittelalter und darüber hinaus konsequent angewendet wurden, ist eine weitgehend noch offene Frage. Unvergleichlich näher an die geschichtliche Wirklichkeit führen die Überlieferungen der zweiten Quellengruppe heran, also Protokolle, Urteile, Rechtsauskünfte zu Einzelfällen. Sie erst offenbaren etwas, was den normativen Texten nur selten anzusehen ist: die erstaunliche Flexibilität des spätmittelalterlichen Sanktionenwesens. Allerdings ist die Dichte dieser Überlieferung höchst unterschiedlich. Gerichtsverfahren wurden im späten Mittelalter und noch lange in der frühen Neuzeit mündlich abgewickelt. Die Anfertigung von Protokollen hat sich erst allmählich durchgesetzt und oft sind diese Unterlagen auch wieder verlorengegangen. Immerhin ist soviel erhalten, daß sich gewisse Gemeinsamkeiten der damaligen Rechtspraxis ermitteln lassen. Dabei empfiehlt sich eine räumliche Beschränkung, weil schon die Zeitgenossen seit dem 13. Jahrhundert einerseits vom Ius Franconicum, andererseits vom Ius Saxonicum sprachen und auch das bajuwarische Rechtsgebiet mit einem dominierenden Fürstenhaus Besonderheiten aufweist. Mein Forschungsinteresse konzentriert sich daher allein auf den großen ostfränkischen Rechtsraum, also das Gebiet vom Niederrhein bis Oberfranken und von dort zur Donau und zum Oberrhein. Die Beispiele unserer heutigen Betrachtung sind der linksrheinischen Pfalz und den Hochstiften Würzburg und Eichstätt entnommen. Vorausgeschickt sei schließlich noch der Hinweis auf einige quellenkritische Probleme, die eine Verallgemeinerung mancher Texte erschweren. Mitteilungen von Oberhöfen betreffen verständlicherweise oft besondere Fallkonstellationen, nicht die schwieriger zu fassende alltägliche Routine. Gerichtsprotokolle andererseits, die auch die durchschnittliche Kriminalität aufzeichnen, verzichten vielfach auf eine genauere Beschreibung der Sachverhalte, so daß schwer erkennbar ist, wegen welchen konkreten Vorwurfs eine Sanktion verhängt worden ist. Handelt es sich dabei um Halsgerichtsbücher, die vor allem Hinrichtungen festhalten, kann das zu fatalen Irrtümern führen, wenn zum Beispiel berichtet wird, ein Dieb sei am Galgen zu Tode gebracht worden, über seine Person, die Tatumstände, etwaige Vorstrafen aber nichts verlautet. Denn Diebstahl ist in vielen Fällen auch nur mit Geldstrafen geahndet worden. Wer also meint, eine solche Nachricht über die Hinrichtung eines Diebes bestätige nur den Satz des Sachsenspiegels,

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daß der Dieb hängen solle,6 oder sei gar als dessen „Anwendung“ zu verstehen, unterschätzt gründlich die rechtsgestaltende Kraft der örtlichen Gewohnheiten und die Ermessensspielräume der Gerichte. – Wenden wir uns nach diesen notwendigen Präliminarien nun Beispielen und Beobachtungen zu, die etwas über den Strafgedanken im späten Mittelalter aussagen.

III. Das Spektrum der Unrechtsfolgen im späten Mittelalter 1. Möglichkeiten und Grenzen einer Systematisierung Vorab sei eingeräumt, daß der moderne Strafbegriff, wonach dem Delinquenten mit der Strafe ein Übel auferlegt wird,7 gestatten würde, fast das ganze spätmittelalterliche Sanktionenwesen über einen Kamm zu scheren. Denn Übel ist so gut wie alles, was ein Unrecht zur Folge haben konnte – von der erlaubten privaten Rache bis zum individuellen kirchlichen Fastengebot. Eine derartige Systematisierung beruht aber auf gedanklichen Voraussetzungen, die in dem hier interessierenden Zeitraum nicht gegeben waren. Weder läßt sich bei den Rechtspraktikern, mit denen wir es zu tun haben, die Vorstellung eines umfassenden strafrechtlichen Systems nachweisen, in das die unterschiedlichen Übelszufügungen eingeordnet werden könnten, noch sind es überhaupt dieselben Institutionen oder Personen, die die Zufügung des Übels betreiben. Sanktionen, die Privatleute in Gestalt gewalttätiger Rachehandlungen oder mit Sühnevereinbarungen durchsetzen dürfen, sind etwas völlig anderes als Strafen der Obrigkeit. Und wieder anders wahrgenommen haben die Zeitgenossen die vom Klerus verhängten geistlichen Sanktionen, obwohl diese ganz erhebliche soziale Folgen nach sich ziehen konnten – auch und gerade im Rahmen der „Sündenzucht“ reformatorischer Kirchen.8 Um dem Strafgedanken jener Zeit näher zu kommen, ist es also notwendig, zu differenzieren. Ein erster Vorschlag lautet daher, zwischen Rache, Strafe, Sühne und Kirchenbuße zu unterscheiden. Innerhalb dieser groben Kategorien werden sich indessen weitere, grundlegende Unterscheidungen ergeben, die wieder daran zweifeln lassen, ob die Verwendung solcher Allgemeinbegriffe überhaupt gerechtfertigt war. Denn die einzelnen Formen der Sanktion können den Delinquenten höchst unter6

Ssp. II, 13. Vgl. statt aller Gerhard Köbler, Juristisches Wörterbuch, 5. Aufl. 1991, S. 338. 8 Heinz Schilling, „Geschichte der Sünde“ oder „Geschichte des Verbrechens“? Überlegungen zur Gesellschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Kirchenzucht, in: Annali dell’ Istituto Italo – Germanico da Trento 12 (1986), S. 169 ff.; Helga Schnabel-Schüle, Kirchenzucht als Verbrechensprävention, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (ZHF Beih. 16), Berlin 1994, S. 49 ff. 7

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schiedlich treffen, endgültig ausgrenzen, seine Ehre mindern oder auch nur unauffällig disziplinieren. Für all diese unterschiedlichen Sanktionsformen gibt es keinen allgemeinen Strafbegriff und kein Strafregister. Hinzu kommt, daß trotz der auch damals geläufigen Formel, der Richter solle sein Amt ohne Ansehen der Person ausüben, die Person des Täters aus moderner Sicht eine ganz entscheidende Rolle spielte. Gleichheit vor dem Richter – das ist ein uraltes Postulat, aber mit dem menschenrechtlichen Gleichheitsdenken nicht zu verwechseln. Mitbürger behandelte man anders als Fremde oder gar Landstreicher. Sozialethische Überzeugungen und rechtspolitische Vernunft unterschieden sich von heutigen Erwartungen. 2. Typen spätmittelalterlicher Sanktionen a) Rachehandlungen Es mag überraschen, wenn in dem hier präsentierten Katalog spätmittelalterlicher Sanktionen auch die individuelle, „privat“ ohne obrigkeitliche Ermächtigung ausgeübte Gewalt erscheint. Doch einfach übergehen kann man sie nicht. Es gibt verschiedene Situationen, in denen bis in das 16. Jahrhundert hinein wegen wirklichen oder behaupteten Unrechts die Betroffenen gewalttätige Aktionen in Szene setzten, oft genug auch erfolgreich, so daß die Angelegenheit in den Augen der Zeitgenossen damit erledigt war. An die zahllosen Fälle gesellschaftlich akzeptierter Fehden ist zu erinnern,9 aber auch an die nicht mehr gern gesehenen Privatpfändungen und Geiselnahmen säumiger Schuldner.10 Solche Vorgänge als „Zwangsvollstreckung“ oder „Personalarrest“ rechtsdogmatisch im Zivilprozeßrecht zu entsorgen, führt in die Irre. Es handelt sich um Reaktionen auf Unrecht, die von den Betroffenen selbst initiiert werden und hier deshalb nicht unerwähnt bleiben dürfen, weil sie als Indizien für die fortdauernde Legitimität privater Gewalt in spezifischen Situationen gewertet werden müssen. Und solche Gewalt kann als Rache für zugefügtes Unrecht auch den Charakter einer privat, also ohne obrigkeitliche Ermächtigung exekutierten „Strafe“ annehmen. Der betrogene Ehemann schritt wohl nicht selten sofort zur Tat. Im Jahre 1416 reist Clais Becker mit seiner Ehefrau von Landstuhl nach Kaiserslau9

Janine Fehn-Claus, Erste Ansätze einer Typologie der Fehdegründe, in: Horst Brunner (Hrsg.), Der Krieg im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit: Gründe, Begründungen, Bilder, Bräuche, Recht (Imagines Medii Aevi 3), S. 93–138. 10 Guido Kisch, Der deutsche Arrestprozeß. In seiner geschichtlichen Entwicklung dargestellt, Wien 1914; Hans Planitz, Grundlagen des deutschen Arrestprozesses. Ein Beitrag zur deutschen Prozeßgeschichte, Leipzig 1922.

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tern und bezieht Quartier im Hause des Goldschmieds Hans. Das Lauterer Gerichtsbuch erzählt: „Und umbe die achte stunde vor mitternacht, so waz des egenanten Clais Beckers frauwe bij einem andern manne in des vorgenanten Goltsmydes stalle. Und als daz irem elichen manne gesaget wart, da nam er sin swert und ging zu dem stalle. Und also fant er den bolen bij sime elichen wibe, die er durch staich, daz sij starp, doch verleip sie lebendig bit an den nunden dag. Und als die geschichte also beschehen waren und man yme gerne hette da von gehulffen, des quamen des burgermeisters knechte und funden den, der sine frauwe also gestoichen hette. Und zu stunt det der burgermeister den rait bijein komen und wurden sie eins, daz man in solte gefangen legen, daz der burgermeister auch also det“

Aber die Verwandten der getöteten Frau erhoben keine Klage. Daraufhin fragten die Ratsherren, wie gewöhnlich in Zweifelsfällen, bei ihren Kollegen in Speyer, was nun zu tun sei. Diese antworteten, mit der Inhaftierung des Clais Becker hätten die Lauterer recht gehandelt, um dann aber fortzufahren: „Und als die sachen ungeverlichen sin zugegangen und die frauwe irem manne untruwe habe getan, were daß bij in beschehen und were die frauwe noch am leben, so ließen sie den man geen. Were abir die frauwe doit, so sagende sie nust, dann sie befelen daz dem rade.“11

Die der Frau zugefügte schwere Körperverletzung bleibt sanktionsfrei. Das Tötungsdelikt kann der Rat in irgendeiner Weise strafen, wenn er das für richtig hält, er muß das nicht. Eine peinliche Strafe kann man sich angesichts dieser Vorgaben kaum noch vorstellen. Der Ausgang der Sache ist unbekannt. Doch eine ganz ähnlich zaghafte Reaktion der Obrigkeit in einem Parallelfall kennen wir aus Würzburg.12 Vermutlich entsprach es einer tief eingewurzelten Gewohnheit, daß der Ehemann die durch den Ehebruch seiner Frau geschehene Verletzung seiner Rechte bei handhafter Tat sofort ahnden durfte. Es gibt weitere Varianten privater Rachehandlungen, die vor Gericht Anerkennung fanden. Einem Bürger wird im Prozeß die Zeugnisfähigkeit we11

Das Lauterer Gericht und sein Speyerer Oberhof. Die Urteils- und Protokollbucheinträge des 15. Jahrhunderts, ediert und kommentiert von Martin Dolch und Michael Münch, Speyer 1996, S. 129. Zu den hier nicht weiter zu vertiefenden methodischen Problemen vergleiche man die aus diesen Texten zu gewinnenden Erkenntnisse mit der traditionellen Darstellung von Theodor Harster, Das Strafrecht der freien Reichsstadt Speyer in Theorie und Praxis (GU 61), Breslau 1900, der das – für mittelalterliche Verhältnisse anachronistische – System des Reichsstrafgesetzbuches zugrunde legt. Das schließt die Brauchbarkeit einzelner seiner Feststellungen nicht aus. 12 Die Rats-Chronik der Stadt Würzburg (XV. und XVI. Jahrhundert), eingeleitet und herausgegeben von Wilhelm Engel (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg 2), Würzburg 1950, Nr. 228.

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gen Ehrverlusts bestritten, weil er einem Knaben, der ihm ein Paar Schuhe gestohlen haben soll, die Ohren abgeschnitten habe. Diese brutale Verstümmelung war eine Form der Stigmatisierung von Dieben, wie sie auch von Gerichten angeordnet wurde. Im vorliegenden Streitfall aber erregt sich der Rat von Speyer 1461 keineswegs darüber, daß ein Privatmann selbst zum Messer gegriffen hatte, sondern er fragt, ob das mit Recht geschehen ist oder nicht: „. . . ist dann der mann, der dem knaben das ore hat abegesnytten, mit rechte nit uberwunden worden, daz er dem knaben unrecht gethan habe, so mag er wole kuntschafft geben. Ist er aber wunden, als rechte ist, daz er dem knaben unrecht gethan habe, so solte er deß halben auch nit kuntschafft geben.“13

Auch zu diesem Fall kennen wir eine ungefähre Parallele aus Würzburg, wo der Überfall eines Ritters und seiner Knechte auf das Stift St. Burkard gleichfalls zu einem Ohrenverlust, diesmal des Hirten dieses Stifts geführt hat14 – eine Fehdeaktion, zu der sich der Angreifer in einem hinterlassenen „Bekennerbrief“ wahrscheinlich aus ähnlichen Gründen für berechtigt hielt wie jener Bürger von Kaiserslautern. Noch deutlicher ausgesprochen findet sich die private „Strafgewalt“, das heißt das Recht zur Rache, im Stadtrecht von Kaiserslautern aus der Mitte des 14. und vom Anfang des 15. Jahrhunderts für gewisse Fälle, wenn es nämlich um die Züchtigung eines sogenannten „Buben“ geht – ein fester Begriff im fränkischen Sprachraum, der nichts mit dem Lebensalter zu tun hat: „Wer eynen buben, der ere noch gut nit het, strefete oder schluge, also das er nit blutrustig wurde, der ist kein buß schuldig.“15

Noch kräftiger durften die Lauterer draufhauen, wenn sie einem Mitbürger gegen irgendeinen aggressiv gewordenen Fremden zu Hilfe eilten, denn „die verbrechen alle nust, wie sere sij ynne slugen, ane zu dode.“16

b) Strafen Unter diesem Begriff sollen mit Rücksicht auf die Definitionsversuche der modernen Wissenschaft alle Rechtsfolgen zusammengefaßt werden, die als Sanktion von einer Obrigkeit einseitig angeordnet werden und Nachteile für den Delinquenten haben. Dazu gehören die Ausweisung aus der Stadt oder aus dem Lande über den Rhein oder über die Donau, vielfältige Geld13 14 15 16

Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 259. Rats-Chronik (Fn. 12), Nr. 213. Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 316. Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 145.

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strafen, die peinlichen Strafen an Leib und Leben mit Rutenstreichen, Verstümmelungen und verschiedenen Hinrichtungsformen, die Stigmatisierung durch Abschneiden der Ohren oder der Nase oder durch Brandmarken in die Backen oder in die Stirn, schließlich die Ehrenstrafen, also das Stehen am Pranger, Tragen von Schandsteinen und ähnliche Maßnahmen. Dieses abschreckende Instrumentarium dürfen wir gedanklich allerdings nicht in ein geschlossenes, also in sich stimmiges und widerspruchsfreies Sanktionensystem einordnen. Es handelt sich um obrigkeitliche Reaktionen, die gegenüber verschiedenen Tätergruppen und an verschiedenen Orten keineswegs gleichmäßig erfolgen, aber verwandte Züge aufweisen und daher als Ausdruck desselben Rechtsdenkens erkennbar sind. Beginnen wir mit zwei normativen Texten aus Würzburg und Kaiserslautern, in denen die Ausweisung als Sanktion eine zentrale Rolle spielt. Bei den etwas irreführend so genannten „Stadt- und Landfriedenssätzen“ des Würzburger Bischofs Manegold von etwa 1296 handelt es sich um die gesetzliche Regelung des innerstädtischen Friedensrechts, also um eine Art oktroiertes Ortsrecht, das außer in Würzburg in allen Städten und auch Dörfern des Hochstifts gelten soll, „ir si wenic oder vil bi ein ander“.17 Es geht also um Regelungen für die miteinander lebenden Untertanen des Bischofs, nicht um Landfriedensschutz schlechthin, der sich gewöhnlich gerade gegen Übergriffe Dritter richtet. Einige Kostproben aus diesem Text mögen genügen, um einen Eindruck von den üblichen Konfliktlösungsmechanismen in Würzburg um 1300 zu gewinnen: „. . . swer einen totslac tut arm oder riche oder sin gesinde, der sal die stat rumen in acht tagen jar unde tac uz der stat ze sine nicht naher ze kumene bi drin milen.“

Wegen einer Verwundung erfolgt die Ausweisung für ein Vierteljahr, wegen einer unblutigen Schlägerei zwei Monate, wegen lästerlicher Scheltworte einen Monat, wegen Messerzücken zwei Monate. In den letzten vier Fällen verdoppeln sich die Zeiträume, wenn die Taten nachts begangen worden waren. Doch mit der befristeten Ausweisung allein ist das Unrecht nicht abgegolten: „. . . swer verwirket daz er uz der stat varen muz um eine iegelich geschicht . . ., der sal nicht wider in kumen ern habe uns e unde der stat gebezzert . . .“18

Die Verletzung der herrschaftlichen „e“, womit wohl das vorliegende, sich selbst ausdrücklich so nennende „gesetz“ gemeint ist, zieht sowohl Strafzahlungen an den Bischof wie an die Stadt nach sich, über deren Höhe 17 Monumenta Boica, Bd. 38 (1866), Nr. 86 S. 151–158, 156; Wiederabdruck bei Hermann Hoffmann, Würzburger Polizeisätze, Würzburg 1955. 18 Mon. Boica (Fn. 17), S. 152–154.

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nichts verlautet. Außerdem ist natürlich der Verletzte zufriedenzustellen, wie der Text an mehreren Stellen zu erkennen gibt, wo davon die Rede ist, daß der Täter „deme clegere bezzerte“.19 Begegnen kann der Mitbürger der Klage grundsätzlich durch seinen Reinigungseid, eine Prozeßhandlung, die der Würzburger Text mit dem Verb „gerichten“ ausdrückt. Der Fremde hat diese Möglichkeit nur, wenn sich jemand für ihn „verwendet“ und er nicht selbdritt durch unbescholtene Männer überführt wird.20 Ganz andere Regeln gelten für die handhafte Tat, die eine der wichtigsten Fallgruppen peinlicher Bestrafung bildet und als Durchbrechung der bisher skizzierten Sanktionenordnung Bischof Manegolds schon hier einen Platz finden muß: „Swer aber an schedelichen dingen wirt ir wischet, den sal man legen in unser vesten, unde man ime sin recht tun. Ist aber daz ers hin kumet daz er nicht ir wischet wirt, mac er da fure gerichten, so sol man sin gerichte nemen.“21

„Schädliche Dinge“ sind also etwas anderes als die blutige oder unblutige Schlägerei, das Scheltwort und selbst der Totschlag, über dessen Unterscheidung vom gewiß „schädlichen“ Mord wir hier nichts erfahren. Als „schädlich“ im Sinne dieser Vorschrift sind sicher auch die sonst nicht erwähnten Delikte Diebstahl, Raub, sexuelle Nötigung und ähnliche Taten einzuordnen. Die mit der weit verbreiteten Formel „sein Recht tun“ beschriebene Rechtsfolge meint die Hinrichtung, schließt aber Milderungen keineswegs aus. Daß sich der nicht „erwischte“ Täter dagegen mit seinem Reinigungseid freischwören kann, entspricht gleichfalls einer allgemein verbreiteten Praxis. Wenige Eigentümlichkeiten des mittelalterlichen Strafwesens irritieren den modernen Beobachter so sehr, wie die unterschiedliche Rechtsfolge für sofort auf frischer Tat ergriffene Täter einerseits, für später verklagte Beschuldigte andererseits. Die grundverschiedene Prozeßsituation läßt sich wohl nur durch den in der Psyche der Zeitgenossen tief verankerten Respekt vor dem Rachebedürfnis angesichts eines gerade geschehenen Verbrechens erklären.22 Die zitierte Regelung bedenkt übrigens noch den Fall, daß ein Beklagter den Reinigungseid ablegt, danach aber dennoch dem Kläger eine „Besserung“ leistet, also die Zahlung eines Sühnegeldes. Wer sich so eines Meineides verdächtig macht, muß die Stadt für zwei Jahre verlassen. Peinliche Strafen erwähnt der Text sonst nur noch in zwei Fällen: der Gotteslästerer wird mit Ohr oder Zunge an den Pranger genagelt und wer ein Messer in 19 20 21 22

Mon. Boica (Fn. 17), S. 153. Mon. Boica (Fn. 17), S. 153. Vgl. zu den „buben“ auch S. 155. Mon. Boica (Fn. 17), S. 153. Dieter Werkmüller, Handhafte Tat, in: HRG Bd. 1, Sp. 1965 ff.

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der Hose verbirgt, verliert den Daumen.23 Die weitaus wichtigsten Sanktionen für den Täter, der seinen Mitbürger verletzt, sind also die befristete Ausweisung, Strafgelder an Herrschaft und Rat, sowie Leistungen an das Opfer beziehungsweise seine Angehörigen. Dabei liegt der Sinn der Ausweisung wohl primär darin, räumlich und zeitlich Abstand gegenüber der Tat zu gewinnen, um nicht durch die Gegenwart des Täters unerwünschte Racheaktionen des Opfers oder seiner Sippe zu provozieren. Das gilt offensichtlich für die Tötung eines Menschen, die mit einer einjährigen Exilierung kaum als gesühnt gelten konnte, aber im Prinzip sicher auch für die anderen Delikte. Daß die Maßnahme daneben auch Strafcharakter hatte, versteht sich von selbst. Im Stadtrecht von Kaiserslautern, das nur rund fünfzig Jahre jünger ist als das Gesetz Bischof Manegolds, hat die Ausweisung aus der Stadt eine weiterreichende Funktion: „Wer eyn toidt schlegt, der soll ewiglich die Stadt rumen. Darzu soll er den ratheren zu besserung sechs pfundt pfenning geben.“24

Hier hat die Stadtverweisung den Charakter einer endgültigen Verbannung und die Geldforderung das Aussehen einer Vermögensstrafe von freilich nicht sehr erheblicher Höhe. Die in diesem Stadtrecht nicht erwähnte Sühneleistung an die Angehörigen des Getöteten muß man sich daher und angesichts ihrer weiten Verbreitung hinzudenken. Geringere Delikte sind entsprechend mäßiger sanktioniert. Auf die nicht zum Tode führenden Körperverletzungen standen zwei Monate Stadtverweis und zwei Pfund Pfennig, auf Faustschläge ein Monat und ein Pfund, auf Scheltworte zwei Wochen und zehn Schillinge usw.25 1415 setzte der Rat die Strafen für Knochenbrüche auf 40 Wochen Stadtverweis und 20 Pfund Heller, für schlichte Wunden auf 20 Wochen und 10 Pfund Heller drastisch herauf.26 Die Geldstrafen müssen nicht weiter kommentiert werden. Sie begegnen in sehr unterschiedlichen Höhen in vielen dieser Quellen. Dabei deutet sich ein allmählicher Wandel des an den Richter oder an den Gerichtsherrn zu leistenden Friedensgeldes zu einer echten Kriminalstrafe an. Zu berücksichtigen ist aber die in der modernen Forschung nachgewiesene Möglichkeit, eine Stadtverweisung durch Geldzahlungen abzulösen und sogar an der Stadtmauer abzuarbeiten.27 Die Obrigkeit mag je nach Lage des Falles diese Abgeltung der eigentlich verwirkten Sanktion nicht immer akzeptiert 23

Mon. Boica (Fn. 17), S. 155, 157. Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 310. 25 Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 311. 26 Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 125. 27 Schuster (Fn. 5), S. 232 ff.; Für Speyer auch schon Harster (Fn. 11), S. 93 ff., 97. 24

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haben und sie wird einem mittellosen Totschläger in vorgerücktem Alter auch gar nicht möglich gewesen sein. Dennoch ist anzunehmen, daß gerade ein so rigoroser, wenig flexibel erscheinender Sanktionenkatalog wie der des Lauterer Stadtrechts nur eine Meßlatte präsentiert, der dem Rat im konkreten Fall bei der Verhängung einer Strafe und sonstiger Rechtsfolgen als Orientierung diente. Der Anwendungsbereich der peinlichen Strafen beschränkte sich natürlich nicht auf die Handhaftverfahren. Es fragt sich allerdings, welche Personenkreise und Fallgestaltungen von solchen Strafen als Ergebnis eines gewöhnlichen Prozesses erfaßt wurden. Zur Beantwortung dieser, vielleicht schwierigsten Frage der modernen Forschung eignen sich die folgenden Arbeitshypothesen: Erstens ist in Hinblick auf den Täter zwischen dem Mitbürger, dem Nachbarn, dem Standesgenossen einerseits und dem unbekannten oder gar als „landschädlich“ erkannten Fremden zu unterscheiden, ferner zwischen solchen Personen und Familien, die zu irgendwelchen finanziellen Leistungen in der Lage waren und gänzlich mittellosen Tätern. Zweitens ist in Hinblick auf die Taten zwischen Gewalttaten, die sich als Konflikte innerhalb einer sozialen Gruppe charakterisieren lassen, und „schädlichen“, als verbrecherisch empfundenen Delikten zu unterscheiden. Drittens können sich unterschiedliche Rechtsfolgen mit Rücksicht auf das angewandte Verfahrensrecht ergeben: ob der Beklagte nach herkömmlicher Rechtsgewohnheit den Reinigungseid leisten durfte oder mit Eideshelfern überführt werden konnte, ob Tatzeugen den Reinigungseid ausschlossen oder ob der Richter schon im Rahmen des aufkommenden Inquisitionsprozesses, auch durch Folter, ein Geständnis zu erzwingen vermochte. Je nachdem, unter welchen dieser Voraussetzungen eine Tat geschehen war, ergab sich eine größere oder geringere Wahrscheinlichkeit peinlicher Bestrafung. Für den nur in einen Konflikt verwickelten Mitbürger war sie unter den Bedingungen des traditionalen Prozeßrechts auch bei gravierenden Tatfolgen sehr unwahrscheinlich, für den landschädlichen, vermögenslosen Kriminellen dagegen so gut wie sicher. Wann aber beurteilten die Zeitgenossen eine Tat als „schädlich“, so daß auch der Mitbürger einer peinlichen Bestrafung unterworfen werden konnte? Dazu stehen aus dem Hochstift Eichstätt Vorarbeiten zur Verfügung, die zwar noch der Idee eines dogmatischen Systems des mittelalterlichen Strafrechts verhaftet sind, aber doch Einblick in nicht leicht zugängliche und einander ergänzende Quellen gewähren. Es handelt sich um eine Studie von Friedrich Merzbacher über ein Eichstätter Halsgerichtsbuch mit Einträgen aus dem 15. und 16. Jahrhundert28 und eine ältere, gründliche 28 Friedrich Merzbacher, Das „Alte Halsgerichtsbuch“ des Hochstifts Eichstätt, in: ZRG (GA) 73 (1956), S. 375–396.

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Untersuchung der Eichstätter Sühneverträge aus derselben Zeit.29 Hält man beide nebeneinander, ergibt sich die Chance, gewalttätige Konflikte und Verbrechen zu unterscheiden. Hier interessieren vorerst die am Halsgericht im 15. und in den ersten drei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts abgeurteilten Delinquenten, deren Taten und Ergreifung teils genauer, teils wortkarg mitgeteilt werden. So ist im Jahre 1421 ein Pfarrer von Abenberg in einem außerhalb von Ortschaften gelegenen Gehölz „durch ir zween beraubt worden; den hat der alt Burkhart von Seckendorff, pfleger zu Abenberg, nachgeeylt, den einen bey Katzwang erobert, ine gen Abenberg gefurt und ime den Kopf abslagen lassen . . .“30

– offenbar im Zuge eines Handhaftverfahrens. Ob diese Voraussetzung auch in den anderen peinlich bestraften Diebstahlsfällen vorlag, ist ungewiß, aber wahrscheinlich. So etwa, wenn es zum Jahre 1494 heißt, es habe „der statknecht und ettlich burger zu Ormbaur Hannsen Floken von Stopfenheim zu Mersach in den gerten gegen Guntzenhausen werts, umb diebstals willen angenommen, gein Ormbaur gefurt, daselbst bey dreien wochen gelegen und darnach an den galgen gehangen . . .“31

Die Vermutung drängt sich auf, daß auch hier die an der Festnahme beteiligten Bürger mit dem Stadtknecht dem Täter nachgeeilt sind. Das Verb „annehmen“ steht hier für „verhaften“32 und wiederholt sich in anderen Einträgen des Halsgerichtsbuches.33 Da so eine gewöhnliche Diebstahlsklage nicht eingeleitet wurde, liegt die Annahme von Handhaftverfahren nahe, wofür auch die geringe Zahl der von Merzbacher aus dieser Quelle mitgeteilten Diebstahlsfälle spricht. Daneben kommen dort qualifizierte Delikte dieser Art vor, wie der Rückfalldiebstahl oder die Ausraubung eines Opferstocks, die mit der Hinrichtung der Täter geahndet wurden.34 Aufschlußreicher für unsere Fragestellung sind die in diesem Halsgerichtsbuch aufgezeichneten Tötungsdelikte, die grausame Todesstrafen nach sich zogen. Gleich viermal in dem hier betrachteten Jahrhundert standen vor dem Eichstätter Halsgericht Ehefrauen mit ihren Liebhabern oder Helfern, die gemeinsam den Ehemann umgebracht hatten. Die Frauen wurden 29 Otto Rieder, Totschlagsühnen im Hochstift Eichstätt. Nach Beispielen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, in: Sammelblatt des Historischen Vereins Eichstätt 6 (1891), S. 1–58; 7 (1892), S. 1–37; 8 (1893), S. 1–29. 30 Merzbacher (Fn. 28), S. 380. 31 Merzbacher (Fn. 28), S. 384. 32 Deutsches Rechtswörterbuch, Bd. 1 Sp. 694. 33 Merzbacher (Fn. 28), S. 383 f. 34 Merzbacher (Fn. 28), S. 382, 384.

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dafür lebendig begraben, zum Teil auch gepfählt, die Männer gerädert.35 Enthaupten ließ das Halsgericht 1502 einen „freyhartzbub“, das ist ein Landstreicher, „der in gestalt eins Jacobbrueder gangen ist (und) ein arme petelfrauen . . . erwurgt“36

Mit dem Rad richtete das Eichstätter Halsgericht einen Täter, der inmitten eines Tanzvergnügens einen Mitbürger erstochen und danach offenbar die Flucht ergriffen hatte. Denn er war „an der statmaur außerhalb der stat Ormpaur angenomen, gen Ormpaur gefurt und doselbst mit dem rade gericht“ worden,37

eine Schilderung, die wiederum an ein Handhaftverfahren denken läßt. Der Täter floh sicher nicht ohne Grund. Denn um einen offenen Konflikt kann es sich angesichts der zahlreichen Tötungsdelikte, die unter den Totschlagsühnen zu erörtern sein werden, nicht gehandelt haben. Auch die Härte der Sanktion legt nahe, daß ein ungewöhnlich verwerfliches Verhalten abgestraft werden sollte, das man sich im Trubel argloser Tänzer leicht vorstellen kann. – Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich die – nach dem Halsgerichtsbuch – erste Hinrichtung einer Kindstöterin durch Ertränken im Jahre 1513.38 Der Anwendungsbereich der Todesstrafen beginnt sich allmählich zu erweitern. Rund zwanzig Jahre später wird in Freising die erste Hexe verbrannt.39 Ohne Nachsicht haben die Obrigkeiten im späten Mittelalter auch Verräter hingerichtet, in Eichstätt um die Wende zum 15. Jahrhundert nur mit dem Schwert, weil jemand die „Feinde“ verköstigt und beherbergt hatte,40 in Würzburg wenige Jahre später durch Vierteilung, weil im offenen Konflikt zwischen Rat und Bischof ein Bürger für den Landesherrn eingetreten war,41 in Kaiserslautern 1444 nach einer Weisung des Rats von Speier auf dieselbe Art wegen Übergabe einer Burg.42 Die Härte dieser Sanktion fällt um so mehr auf, als es sich in allen genannten Fällen um Vorgänge im Rahmen zeitlich begrenzter Fehden gehandelt hat, die jemand nur vorübergehend zum „Feind“ werden ließen, während die Strafe eine endgültige gewe35

Merzbacher (Fn. 28), S. 383, 386 f., 387. Merzbacher (Fn. 28), S. 381 f. 37 Merzbacher (Fn. 28), S. 383. 38 Merzbacher (Fn. 28), S. 386. 39 Merzbacher (Fn. 28), S. 384. 40 Merzbacher (Fn. 28), S. 381 f. 41 Dietmar Willoweit, Stadtverfassung und Gerichtswesen im mittelalterlichen Würzburg, in: Ulrich Wagner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Würzburg, Bd. 1, Stuttgart 2001, S. 233–249, 243. 42 Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 212. 36

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sen ist.43 Noch eine weitere Straftat ganz anderer Art paßt möglicherweise in diesen Zusammenhang: 1499 läßt das Eichstätter Halsgericht einen Bigamisten enthaupten,44 also auch jemand, der ein Doppelspiel treibt. Vielleicht ist es kein Zufall, daß den bisher erwähnten todeswürdigen Delikten ein Element der Täuschung oder Untreue innewohnt. Denn es findet sich bei den mörderischen Ehefrauen ebenso wie bei den Verrätern, bei dem Bigamisten und selbst beim falschen Jakobsbruder, der als wohnsitzloser Täter freilich auch in anderem Kostüm kaum Gnade gefunden hätte. Es mag aber sein, daß sich hinter der angedeuteten Gemeinsamkeit so etwas wie ein Mordmerkmal verbirgt, „Heimtücke“ in einem weiten Sinne des Wortes. Daneben war sehr wahrscheinlich die Gemeinschädlichkeit eines Verhaltens, Landfriedensbruch und Ketzerei insbesondere, ein schlagendes Argument für die Hinrichtung eines Menschen. Verstümmelungsstrafen kommen in den hier herangezogenen Quellen nur ganz am Rande vor, ausgenommen solche, die als Stigmatisierung zu verstehen sind, wie insbesondere das schon erwähnte Abschneiden der Ohren. Es hatte eine ähnliche Funktion wie das Brandmarken in die Backen und auf die Stirn. Der so Bestrafte war später als Wiederholungstäter erkennbar, was für einen Dieb meist die Hinrichtung durch den Strang zur Folge hatte.45 Aber auch begnadigte Mörder und Räuber, für die Fürbitte geleistet worden war, pflegte man in dieser Weise zu kennzeichnen und damit ihre Mitmenschen zu warnen.46 In den hier durchgesehenen Quellen kommt eine ganz ausgefallene Gaunerei vor, deren Bestrafung aber vielleicht charakteristisch ist für das gewissermaßen kriminalpolitische Denken, das wir hinter der abstoßenden Brandmarkungspraxis annehmen müssen: Die gewöhnlich auch als Wundärzte tätigen Scherer in Kaiserslautern waren verpflichtet, etwa auftretende Fälle von Aussatz dem Bürgermeister zu melden. Ein Scherer machte nun verschiedenen Leuten weis, daß sie von dieser Krankheit befallen seien und er sie daher der Stadt namhaft machen müsse, es sei denn, sie gäben ihm Geld; er wolle ihnen dann helfen, davonzukommen. Mit diesem Schwindel hatte der Mann Erfolg, bis er an einen Priester geriet, der einen Arzt zu Rate zog, sodaß die Sache aufflog. Dazu meint der Rat von Speier, man solle den Mann 43 Zum Vollzug der Vierteilung ist anzumerken, daß der Verurteilte in der Regel zunächst geköpft und erst der Leichnam zerstückelt und in vier Himmelsrichtungen aufgepflanzt wurde, so etwa die Nachricht in der vorigen Anmerkung; vgl. ferner Harster (Fn. 11), S. 71; Schild (Fn. 1), S. 206 f. 44 Merzbacher (Fn. 28), S. 382. 45 Merzbacher (Fn. 11), S. 390. 46 His (Fn. 3), S. 530 ff.; Andreas Roth, Brandmarken, in: HRG, 2. Aufl., Bd. 1, Sp. 661 f.

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„an eynem marckte an eynen birangen und halß isen stellen, eynen hut von siner getatt gefiguert und gemalet uff stellen, ime darnach in sine backen und sine stirne bornen und darnach mit ruten uß der statt slagen und uß dem lande sweren.“47

Die in schimpflicher Weise mit Rutenschlägen vollzogene Stadtverweisung steht im Mittelpunkt der empfohlenen Sanktionen, die Brandmarkung soll weitere Straftaten des Betrügers erschweren und perpetuiert zugleich seine Ausgrenzung, die Prangerstrafe mit der bildlichen Zurschaustellung des Vergehens vor der Ausweisung macht die Schande vor den bisherigen Mitbürgern publik. Zugleich dürfte diese Sanktion auch der Versuchung entgegengewirkt haben, irgendwann wieder zurückzukehren. Die Trias von Pranger, Brandmarkung und Ausweisung scheint weit verbreitet gewesen sein. Sie wird in Eichstätt noch Mitte des 16. Jahrhunderts in Fällen der Kindstötung auch Frauen auferlegt.48 Das gewöhnlich als Ehrenstrafe bezeichnete Stehen am Pranger ist in solchen Fällen nur unselbständiger Teil einer schärferen Sanktion, der Stadtverweisung. Bei weniger schwerwiegenden Vergehen entfiel die Brandmarkung. Prangerstrafe und Ausweisung ohne Brandmarkung kommen zusammen in Eichstätt im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts auch bei leichteren, aber nicht ganz harmlosen Delikten vor. So mußte eine Ehefrau diese Strafen erdulden, die ihrem Mann – wohl aus abergläubischen Motiven – Spinnen unter das Essen gemischt hatte, ferner ein Mann, der Brandstiftungen angekündigt hatte; beide wurden nach dem Pranger aus dem Gebiet des Hochstifts gewiesen. Gotteslästerern blieb nach dem Pranger dagegen nur die Stadt verboten.49 In derartigen Fällen mit geringerem Unrechtsgehalt ist auch bei einem Schweigen der Quellen immer die Möglichkeit einer Ablösung der Strafe durch Geldzahlung mitzudenken. Zwei Frauen, die sich 1414 in Kaiserslautern auf offener Straße geprügelt hatten, hätten eigentlich eigens dafür gemachte Schandsteine tragen müssen, und zwar am Sonntag unmittelbar vor dem Gottesdienst. Doch der Rat ließ verlauten, „Werez abir, daz sie sich des schameten, so keuffte sie sich des steyns dragens abe nit XI schilling heller.“50

Ein kurzer Hinweis auf die durchaus auch bekannte Haft mag das Spektrum der geläufigen Strafen im wesentlichen abrunden. In den Städten dienten die Türme der Ummauerung als Gefängnisse, nicht nur als Quartier für demnächst hinzurichtende Personen. Aber es sind eher geringfügige Delikte, die dort abzubüßen waren, zum Beispiel die Mißachtung des Rates oder sei47 48 49 50

Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 264 f. Merzbacher (Fn. 28), S. 392. Merzbacher (Fn. 28), S. 391. Das Lauterer Gericht (Fn. 11), S. 123.

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ner Statuten sowie die Verletzung anderer Bürgerpflichten, deretwegen ein zeitweiliger Ausschluß aus der Rechtsgemeinschaft durch Stadtverweisung nicht in Frage kommen konnte.51 c) Sühnevereinbarungen Zeitlich parallel zu den in Eichstätt verhängten Strafen wurden in derselben Stadt zwischen 1465 und etwa 1530 rund dreißig Sühnevereinbarungen wegen eines Tötungsdelikts getroffen, danach bis in die achtziger Jahre des 16. Jahrhunderts nochmals über vierzig. Die auf diese Weise im Einvernehmen der Beteiligten sanktionierten Delikte ähneln sich verblüffend. Es handelt sich um gewalttätige Konflikte, Schlägereien im Wirtshaus und auf der Kirchweih, aber auch auf den Feldern und auf öffentlichen Wegen, oft provoziert durch herausfordernde Worte, ausgeführt mit bloßen Fäusten, gerade greifbaren Gegenständen, auch mit Waffen, die man zufällig bei sich trug.52 Aus heutiger Sicht hätte man in etlichen Fällen bedingten Tötungsvorsatz, also „Inkaufnahme“ der Todesfolge, kaum ausschließen können. Aber nur sehr selten ist erkennbar, daß es sich um eine Tötung mit direktem Tötungsvorsatz gehandelt hat. Man schlug eben zu, so gut man konnte, „mit trucknen straichen“, aber auch mit Messern und Spießen, oder drückte „unwissend“ seine „Handbuchsen“ los. Die Opfer verstarben meist erst Stunden oder Tage später. Nach heutigem Verständnis handelt es sich wohl überwiegend um Körperverletzungen mit Todesfolge. Derartige Unterscheidungen sind den Zeitgenossen mit Sicherheit fremd gewesen. Dennoch wäre es falsch, hier voreilig die Theorie vom mittelalterlichen „Erfolgsstrafrecht“ zu beschwören. Die Tat tötete den Mann in diesen Fällen eben nicht. Man würdigte gerade die subjektive Seite solcher Verhaltensweisen, nämlich Zorn, erlittene Beleidigungen und ähnliche Faktoren. Auch wer aus Rache einen derartigen Totschläger gezielt tötete, wurde zur Sühne zugelassen.53 Begreiflicherweise konnte man aber gelegentlich daran zweifeln, ob der oder die Täter Sühneleistungen erbringen durften oder auf das Schafott gehörten, wie die folgende Nachricht zeigt: „Anno decimo (1510) hat sich ein auffrur zu Nassenuels begeben, darunder Pauls Hon der Jung in kopff verwundt, der alspald vom leben zum todt komen ist, sind jr drey mit namen Jorg Hewßler der alt zu Egweil, Jorg Hewßler sein son und Hanns Humel, wirt zu Meilenhofen mit verzogner wer gestannden und also betretten worden, durch die amptknecht angenomen und jn Schloß jn fronnfest gefurt . . . und nachmalen von deß verstorbnen vatter und freundtschafft uber sy alle drey das strenng recht angerueffen, aber nachmaln durch bitt der freundtschafft vom 51 52 53

His (Fn. 3), S. 556 ff. Ausführlich dazu die Abhandlung von Rieder (Fn. 29). Rieder (Fn. 29), 6 (1891), S. 27.

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strenngen Rechten gestannden, und haben bede tayl die sach zu meinen gnedigen herren und seiner Gnaden retten gestellt, weß erkanndt werd, gegen meinen gnedigen herren und des entleypten weyb und kinder und der seel halben verwurckt zepuessen, das es dobey bleyben soll . . .“54

Obwohl Eichstätt das Inquisitionsverfahren bereits kannte,55 fand es in einem solchen Fall keine Anwendung, und auch vor den Konsequenzen der offensichtlich handhaften Ergreifung scheute man zurück. Vielmehr haben die Angehörigen des Getöteten Strafklage erhoben und sich dann zu einer Vereinbarung mit den Tätern bewegen lassen. Die Verhandlung darüber fand in Eichstätt regelmäßig vor den fürstlichen Räten statt, wie auch an anderen Orten zu dieser Zeit gewöhnlich unter den Augen der Obrigkeit. Die Sühneleistung umfaßte in erster Linie geistliche Dienstleistungen für den unvorbereitet Verstorbenen „damit der armen Seel des genanten unnsers burgers seligen ettwas zu trost und gut geschehe . . .“56

Dafür mußten ein Seelenamt und ein Hochamt gesungen und etwa ein bis drei Dutzend Messen gelesen werden.57 Der Täter mußte an diesen Gottesdiensten als Büßer teilnehmen, oft halbnackt, mit brennender Kerze und im Kreise von „Gesellen“, die man als „Bußhelfer“ bezeichnen möchte. Wahrscheinlich handelte es sich um seine Sippengenossen, die ebenso wie die Sippe des Opfers in das Bußritual einbezogen waren und am Ende unter Mithilfe des Priesters die Versöhnung besiegelten.58 Regelmäßig hatte der Täter am Ort des blutigen Geschehens ein Sühnekreuz zu errichten, damit auch Vorübergehende für das Opfer ein Gebet sprachen. Wie ernst man diese Pflicht nahm, zeigt der Fall des rächenden Totschlägers, der gleich zwei Kreuze anfertigen lassen mußte, für den von ihm selbst Getöteten und für dessen Opfer, das von seinem Totschläger ja kein Kreuz mehr erhalten konnte.59 Üblich waren auch zwei Wallfahrten, in Eichstätt stets nach Aachen und Rom, von denen der Täter jedenfalls eine persönlich auszuführen hatte, während für die andere ein Vertreter beauftragt werden konnte.60 Denn auch diese Wallfahrten begriffen die Zeitgenossen in erster Linie als gutes Werk für den Getöteten, weniger als Bußübung des Täters. Das Verständnis solcher Sanktionen mag sich aber im Laufe der Zeit verändert ha54

Rieder (Fn. 29), 6 (1891), S. 25 f. Helmut Flachenecker, Eine geistliche Stadt. Eichstätt vom 13. bis zum 16. Jahrhundert, Regensburg 1988, S. 113 ff. 56 Rieder (Fn. 29), 6 (1891), S. 45. 57 Rieder (Fn. 29), 6 (1891), S. 52 f. und die Übersicht in 7 (1892), S. 24 ff. 58 Rieder (Fn. 29), 6 (1891), S. 55 ff. 59 Rieder (Fn. 29), 7 (1892), S. 4. 60 Rieder (Fn. 29), 7 (1892), S. 6 ff. 55

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ben. Um 1530 wird es üblich, die Romfahrt durch Almosen an das Spital abzulösen.61 Alle diese Pflichten kosteten Geld: die Meßstipendien, der Werklohn für den Steinmetz, Reisekosten, natürlich auch ein Strafgeld in die Kasse der vermittelnden Obrigkeit, hier in Höhe von etwa zehn Gulden.62 Das ist nicht wenig und könnte ein fiskalisches Interesse am Abschluß von Sühneverträgen stimuliert haben. Darüber hinaus hatte der Täter Forderungen der Hinterbliebenen zu befriedigen, regelmäßig durch Erstattung der schon entstandenen Auslagen, aber auch als Ausgleich zukünftig erwachsender Nachteile. 1465 muß ein Totschläger „alle zehrung des entleibten während der Krankheit und Todbett zu Kipfenberg, desgleichen artztlon, leichleg und begrebnusgeld“

erstatten, außerdem aber in drei Raten 45 Gulden an die hinterbliebenen Kinder zahlen. 1487 erhielt auch ein Vater wegen seines erschlagenen Sohnes 30 Gulden „fur sein erlittne Cost, scheden, Samsal und Zerung“

und 1513 beträgt das Sühnegeld an die Witwe und den Vater 44 Gulden.63 In anderen Fällen waren an die Angehörigen nur Beträge um 10 oder 20 Gulden zu zahlen.64 Ob diese Unterschiede in den Vermögensverhältnissen des Täters oder der Familie des Opfers begründet waren, ist vorerst nicht sicher zu entscheiden. Wenn aber eine Witwe mit ihren Kindern einmal den ungewöhnlich hohen Betrag von 100 Gulden erhalten sollte, dann hat das sehr wahrscheinlich mit der in diesem Falle auch ungewöhnlichen Zahl von acht Gewalttätern zu tun, denen ihr Mann zum Opfer gefallen war.65 Man spürt die steuernde Hand der Obrigkeit bei der Festlegung dieser Beträge, die eher dem Leistungsvermögen der Täter angepaßt werden mußten. d) Kirchenbußen Diese Gattung von Sanktionen in den Quellen zu fassen, bereitet die größten Schwierigkeiten. Warum das so ist, haben neuere Forschungen gezeigt: In der quellenreicheren Zeit des späten Mittelalters, aus der wir also am besten auch über Kirchenbußen unterrichtet sein könnten, hatten die weltlichen Obrigkeiten die Bestrafung der zuvor von den geistlichen Gerichten zu ahndenden Delikte schon oft an sich gezogen.66 Für das Ver61 62 63 64 65

Rieder Rieder Rieder Rieder Rieder

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

29), 29), 29), 29), 29),

7 7 7 7 7

(1892), (1892), (1892), (1892), (1892),

S. S. S. S. S.

9. 18 ff. 12. 24 ff. 12.

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ständnis der Kirchenbuße als eine der möglichen Sanktionen ist also zunächst festzuhalten, daß sie nicht als eine „nur“ geistliche Maßnahme neben die weltliche Strafe getreten ist, wie dies ein moderner Mensch erwarten würde. „Staat“ und „Kirche“ stehen sich nicht getrennt gegenüber, sondern gehören beide der einen, auf die Einhaltung bestimmter Normen verpflichteten Christenheit an. Dafür zu sorgen, war Sache der Kirche ebenso wie der weltlichen Herren, die sich erst im späten Mittelalter als die endgültig maßgeblichen Gewalthaber durchsetzten. Der Umfang der von der Kirchenbuße erfaßten Deliktstatbestände war daher außerordentlich weit gespannt, weil dazu im Prinzip jedes sündhafte Verhalten gehören konnte. Eine Würzburger Synode von 1407 nimmt die Zuständigkeit der geistlichen Gerichte nicht nur für die Verletzung kirchlicher Rechte, für Unzucht, Ehe- und Familiensachen, sondern auch für Raub, Vertragsbruch und überhaupt stets in Anspruch, wenn der weltliche Richter seine Pflichten vernachlässigen sollte.67 Ein Würzburger Fragenkatalog aus dem letzten Drittel des 15. Jahrhunderts, mit dem das in den kirchlichen Sendgerichten versammelte Volk konfrontiert wurde, umfaßt auch Mord und Verrat, falsches Zeugnis und falsches Maß und Gewicht, außerdem natürlich Tatbestände fehlerhafter Lebensführung, wie Verletzung der Sonn- und Feiertagspflicht, Störung der ehelichen Gemeinschaft durch Getrenntleben, Gemeinschaft mit Juden, Zauberei und vieles andere.68 Neben den expandierenden weltlichen Gerichtszuständigkeiten verblieb den geistlichen Gerichten schließlich – mit vielen örtlichen Varianten – eine Kernzuständigkeit für die angedeuteten Fragen der Lebensführung, darüber hinaus für „Gewalttätigkeiten gegen Geistliche, Eltern oder Ehegatten, Streit und Scheltworte von Frauen untereinander, zu falschem Maß, Meineid, Ketzerei, Wucher, Ehebruch, Unzucht, Blasphemie und Hohnsprache gegen Rom und die heilige Kirche“.69 Zu den kirchlichen Sanktionen gehörten außer der Exkommunikation öffentliche Bußübungen, die Betroffene, wie gelegentliche Nachrichten zeigen, als äußerst erniedrigend empfanden: im Büßerhemd am Sonntag zur 66

Grundlegend für den modernen Forschungsstand Friederike Neumann, Von Kirchenbuße und öffentlicher Strafe. Öffentliche Sanktionsformen aus der Sendgerichtsbarkeit in städtischem und landesherrlichem Recht, in: Hans Schlosser u. a. (Fn. 4), S. 159–187. 67 Franz Xaver Himmelstein, Synodicon Herbipolense, Würzburg 1855, S. 212 ff., 218. 68 Kriegsverlust des Originals, ausführliche Inhaltsangabe bei Julius Krieg, Der Kampf der Bischöfe gegen die Archidiakone im Bistum Würzburg (Kirchenrechtliche Abhandlungen 82), Stuttgart 1914, S. 166 ff., 167, 169; vgl. a. den Katalog bei Heinrich Straub, Die geistliche Gerichtsbarkeit des Domdekans im alten Bistum Bamberg von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, München 1957, S. 145 f. 69 Neumann (Fn. 66), S. 162 m. w. Nachw.

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Zeit des Hauptgottesdienstes besonders gekennzeichnete „Schandsteine“ um die Kirche tragen oder diese mit brennender Kerze umschreiten oder sich sogar vor die Kirchentüre legen, um die Besucher über sich schreiten zu lassen, oder Rutenstreiche des Priesters erdulden oder sich strengen Fastengeboten unterwerfen. Verhängt wurden derartige Kirchenbußen vor allem für Ehebruch und für Unzuchtsdelikte, was die Peinlichkeit des öffentlichen Auftritts noch gesteigert haben dürfte. Daher überrascht es nicht, daß sich auch für solche Kirchenbußen die Ablösbarkeit durch Geldzahlungen durchsetzt, zumal die zuständigen Archidiakone dadurch ihr Einkommen verbessern konnten.70 Das führt später zu dem Vorwurf, Ehebruch, Unzucht und Wucher würden von den kirchlichen Richtern gegen Geldzahlungen geduldet.71 Städtische und territoriale Obrigkeiten zeigten daher schon vor der Reformation und erst recht danach die Tendenz, die Zügel anzuziehen und mit härteren Strafdrohungen das mißbilligte Verhalten überhaupt zu verhindern.72 Denn – das ist auch für das 16. und 17. Jahrhundert noch stets zu bedenken – individuelles Fehlverhalten erregt den Zorn Gottes, unter dem in Gestalt von Hungersnot, Seuchen und Krieg dann alle zu leiden haben. Vermutlich wird es – wenn überhaupt – nur für wenige Orte möglich sein, das Verhältnis tatsächlich verhängter weltlicher und kirchlicher Strafen quantitativ exakt zu bestimmen. Sicher dürfen wir jedoch annehmen, daß die letzteren an nicht wenigen Orten bis in das 16. Jahrhundert hinein eine Rolle spielten und im Zeichen der Reformation sogar eine Renaissance erfuhren. Wenn nicht alles täuscht, hat die kirchliche Bußpraxis lange Zeit jedenfalls den großen Bereich der innerfamiliären und häufigen sittlichen Verfehlungen vor dem härteren Zugriff der weltlichen Strafgewalt abgeschirmt. Vieles bedarf hier freilich noch der Aufklärung. Zum Beispiel, ob nicht die gerade in der Neuzeit verschärfte Bestrafung von Hexerei, Kindstötung und Ehebruch auf die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs der weltlichen Gewalt zurückzuführen ist.

IV. Rückblick Der hier unternommene Versuch, im scheinbaren Durcheinander der spätmittelalterlichen Strafpraxis Umrisse einer plausiblen Ordnung aufzufinden, die der damaligen Gedankenwelt entsprochen haben könnten, stützt sich auf eine relativ schmale Quellenbasis. Weitere solcher Studien werden notwendig sein. Da jedoch mit Kaiserslautern, Würzburg und Eichstätt drei ziem70 71 72

Neumann (Fn. 66), S. 159, 163 ff. Neumann (Fn. 66), S. 178 f. Neumann (Fn. 66), S. 172 ff., 180 ff.

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lich weit voneinander entfernte städtische Zentren so miteinander verglichen werden konnten, daß sich überschaubare Varianten und auch Gemeinsamkeiten ergaben, dürfen zugrundeliegende Rechtsüberzeugungen sehr ähnlicher Art vermutet werden. Weitere Beispiele, etwa aus dem zwischen den genannten Orten gelegenen Rhein-Main-Gebiet oder aus Mittelfranken, würden kaum ein völlig abweichendes Bild ergeben. Die Zeitgenossen dieser rhein- und ostfränkischen Großregion handelten im Umgang mit Konflikten und Verbrechen innerhalb eines weiten Rahmens möglicher rechtlicher Gestaltungen immer wieder anders, aber vielfach doch sehr ähnlich. Die von Peter Schuster für Konstanz festgestellte Flexibilität der städtischen Gerichtsbarkeit73 darf daher voraussichtlich in einem doppelten Sinne verallgemeinert werden: als Entscheidungsspielraum der Gerichte und Obrigkeiten sowohl im Einzelfall wie bei der Normierung von Entscheidungsregeln und der Respektierung örtlicher Gewohnheiten. Von einer dem modernen Strafrecht entsprechenden „Strafrechtsgeschichte“ kann man kaum sprechen. Aber verwandte Rechtsüberzeugungen über den Umgang mit Konflikt, Verbrechen und Sanktion hat es gegeben.

73

Vgl. o. Fn. 5.

„Kriminalstrafe ist öffentliche Rache“ Beobachtungen zum Strafgedanken in der juristischen Literatur der Frühen Neuzeit Von Christiane Birr, Würzburg

I. Einleitung: Gerechtigkeit und gemeiner Nutz als Zentralbegriffe frühneuzeitlicher Strafrechtspflege auß lieb der gerechtigkeyt, vnd vmb gemeynes nutz willen, sollen die Richter ein jedes Strafurteil finden, so setzt es die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, die sogenannte Carolina, fest (Art. 104).1 Die Gerichtsordnung selbst ergeht, wie die Vorrede ausführt, weil bis dato die Verbrechen offter mals wider recht und gemeynem nutz zu grossem nachtheyl allzu nachlässig verhandelt und verurteilt wurden.2 Gerechtigkeit und gemeiner Nutz sind Schlüsselbegriffe zum Verständnis nicht nur der Carolina, sondern des strafrechtlichen Denkens des 16. Jahrhunderts. Was aber bedeuten sie? Eberhard Schmidt konstatiert in seiner klassisch gewordenen „Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege“, daß seit dem 15. Jahrhundert der Gedanke der Gerechtigkeit als „Leitprinzip obrigkeitlicher Strafrechtspflege“ immer häufiger in der Literatur thematisiert und eingefordert wird.3 Den Gemeinnutz, den die Carolina der Gerechtigkeit an die Seite stellt, gibt Schmidt mit „Zweckmäßigkeit“ wieder und betont das Spannungsverhältnis, in dem Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit in der Strafrechtspflege stehen.4 Diese Passagen seines Buches basieren auf einem Vortrag, den Schmidt im Oktober 1946 im Ober1 Arthur Kaufmann (Hrsg.), Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), herausgegeben und erläutert von Gustav Radbruch (6., durchgesehene Auflage, Stuttgart 1984), S. 75: Die Richter werden angewiesen, die straff nach gelegenheyt vnd ergernuß der übelthatt, auß lieb der gerechtigkeyt, vnd vmb gemeynes nutz willen zu ordnen vnd zu machen. 2 Kaufmann (Hrsg.), Carolina (Fn. 1), Vorrede, S. 29. 3 Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege (Dritte, völlige durchgearbeitete und veränderte Auflage, Göttingen 1965), S. 112. Die Erstauflage erschien 1947. 4 Schmidt, Einführung (Fn. 3), S. 113.

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landesgericht Celle hielt und der sich allein dem Thema „Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit in Geschichte und Gegenwart der Strafrechtspflege“ widmete.5 „Polizeiliches Zweckdenken“ und Ausrichtung der Strafrechtspflege an der Nützlichkeit geißelt er als Ursachen „einer in Willkür und Roheit entarteten Strafjustiz“ des Mittelalters; erst Johann von Schwarzenberg, dem ‚Vater‘ der Carolina, sei es gelungen, den „unbedingten Primat der Gerechtigkeit vor jeder Staatsräson, vor Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit“ wiederherzustellen. Das historische Kostüm verhüllt kaum, daß Schmidt in eindringlicher Weise Erfahrungen aus seiner jüngsten Vergangenheit, aus dem Nationalsozialismus, schildert. Für ihn scheint der Gemeinnutz synonym mit dem „Volkswohl“, und sein leidenschaftliches Plädoyer für Gerechtigkeit entfaltet er vor dem Hintergrund von Urteilen, in denen über Einzelschicksal und Gerechtigkeit achtlos hinweggegangen wurde, stets unter Berufung auf das vermeintlich höhere Ziel des „Volkswohles“. Ein solches zutiefst von den deutschen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geprägtes Verständnis von Gerechtigkeit und gemeinem Nutzen kann allerdings nicht der Schlüssel sein, der uns aufschließt, was man im 16. Jahrhundert unter beidem versteht. Wie sehr ein solches modernes Vorverständnis fehl geht, zeigt vielleicht ein Bild am besten. Es gehört zu den Illustrationen einer der zahlreichen Cicero-Ausgaben des 16. Jahrhunderts. Die humanistische Rezeption antiker Schriftsteller seit dem 15. Jahrhundert führt zu einer erneuten, vertieften Cicero-Lektüre; für unser Thema ist insbesondere seine Abhandlung De Officiis („Vom rechten Handeln“) von Interesse. 1465 erscheint in Mainz die editio princeps, die erste Druckausgabe dieses Buches, in dem sich Cicero mit der Frage nach Gerechtigkeit eindringlich auseinandersetzt. Die Lektüre fasziniert viele, auch Johann von Schwarzenberg (1463/65–1528), den Hofmeister des Bischofs von Bamberg und Vorsitzenden des Bamberger Hofgerichts, der maßgeblich an der Erstellung der großen Strafgesetzbücher des 16. Jahrhunderts mitwirkt, nämlich an der Bambergischen Halsgerichtsordnung von 1507 (Bambergensis)6 und der nach ihrem Vorbild für das ganze Reich geschaffenen Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 5 Eberhard Schmidt, Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit in Geschichte und Gegenwart der Strafrechtspflege (Vortrag im Oberlandesgericht Celle am 21.10.1946), in: ders., Justitia Fundamentum Regnorum. Fünf Vorträge über Macht und Recht, Staat und Justiz (Heidelberg 1947), S. 75–98, 81. 6 Nach Josef Kohler/Willy Scheel, Die Bambergische Halsgerichtsordnung unter Heranziehung der revidierten Fassung von 1580 und der Brandenburgischen Halsgerichtsordnung zusammen mit dem sogenannten Correctorium, einer romanistischen Glosse und einer Probe der niederdeutschen Übersetzung (Halle a. S. 1902), S. LXVIII soll die Textfassung der Bambergensis allein auf von Schwarzenberg zurückgehen. Die Mitarbeit der lateinkundigen Juristen soll sich auf das Bereitstellen und Aufbereiten des literarischen Rohmaterials beschränkt haben.

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1532 (Carolina). Der fränkische Ritter von Schwarzenberg hat in seiner Jugend zwar ausgezeichnet das Kriegshandwerk gelernt, aber nie Latein. Er läßt sich von einem lateinkundigen Kaplan7 wörtliche Übersetzungen von Ciceros Text anfertigen und macht sich selbst daran, dieses Rohmaterial zu verdeutschen.8 Die Druckausgabe seiner Übertragung von De Officiis, die 1531 posthum unter dem Titel Von den tugentsamen ämptern und zügehörungen, eynes wol und rechtlebenden Menschen erscheint, ist reich mit Holzschnitten illustriert. Schwarzenberg hat sie selbst in Auftrag gegeben, um die seiner Ansicht nach wichtigsten Lehren des Buches dem Leser auch sinnbildlich vor Augen zu stellen und damit besonders einzuprägen.9 Eines der Bilder illustriert eine zentrale Textpassage, die bei Cicero lautet: nihil vero utile, quod non idem honestum, nihil honestum, quod non idem utile sit10 – „daß aber nichts nützlich sei, was nicht zugleich ehrenvoll, nichts ehrenvoll, was nicht zugleich nützlich sei“.11

In Schwarzenbergs verdeutschter Fassung lautet der Satz: Und soll sich niemand mehr mit solcher Torheit beladen, daß er etwas, das endlich nutz und gut sein möge, ohne Übung wahrer Gerechtigkeit hoffe.12

Eben diesen Gedanken hat der Illustrator ins Bild gesetzt.13 Zwei schwere Kisten, die einen wertvollen Inhalt umschließen, symbolisieren gemeinen Nutz und Gerechtigkeit (die „Ehrbarkeit“ ist Ciceros Ausdruck honestum geschuldet14). Die Kisten sind mit schweren Eisenketten untrennbar 7

Kohler/Scheel, Bambergische Halsgerichtsordnung (Fn. 6), S. LXVII nennen den Kaplan Hans Neuber als denjenigen, der im Auftrag von Schwarzenbergs die Officia übersetzt. 8 Nach Gustav Radbruch, Zur Einführung in die Carolina, in: Kaufmann (Hrsg.), Carolina (Fn. 1), S. 5–23, 8 f. hat Johann von Schwarzenberg Cicero „nicht von Wort zu Wort, sondern von Sinn zu Sinn“ übersetzt, „nicht nach Humanistenweise angezogen durch die Schönheit antiker Form, vielmehr durch den stoisch sittlichen Gehalte“. 9 Dazu auch Kohler/Scheel, Bambergische Halsgerichtsordnung (Fn. 6), S. LXIX. 10 Marcus Tullius Cicero, Vom rechten Handeln/De Officiis, herausgegeben und übersetzt von Karl Büchner (4. Auflage, Düsseldorf-Zürich 2001), 3, 34 (S. 244). 11 Cicero, Vom rechten Handeln (Fn. 10), 3, 34 (S. 245). 12 Zitiert nach Schmidt, Einführung (Fn. 3), S. 113. 13 Bildquelle: Bayerische Staatsbibliothek München, Res. 2 A Lat. a.(C66, fol. LXIIIIv. Die Bildüberschrift lautet: Das erber hängt dem nutzen an/Das solchs kein mensch geschaiden kan. Vnd wer nit diser warhait glaubt/ist frumkait oder witz beraubt. 14 Zu dem Begriff honestum vgl. Ralph Backhaus, Ethik und Recht in Cicero, de officiis 3.12.50 ff., in: Bernd-Rüdiger Kern/Elmar Wadle/Klaus-Peter Schroeder/ Christian Katzenmeier (Hrsg.), Humaniora. Medizin-Recht-Geschichte. Festschrift für Adolf Laufs zum 70. Geburtstag (Heidelberg 2006), 1 ff., 14: „Alles, was honestum ist, geht . . . aus vier Teilbereichen hervor; eine dieser Ausprägungen besteht im Beschützen der Gemeinschaft der Menschen (hominum societate tuenda), darin,

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verbunden. Vier Narren, die dicke Augenbinden tragen, mühen sich, die Kisten auseinanderzureißen, sie voneinander zu trennen. Mit Blindheit geschlagen, erkennen sie weder die Verbindung der beiden Kisten noch die Nutzlosigkeit ihres angestrengten Zerrens.15 So also will Johann von Schwarzenberg sich verstanden wissen, wenn er die Richter auffordert, ihr Urteil auß liebe der gerechtigkeit vnd vmb gemeines nutz willenn (Art. 104 CCC) zu fällen. Er erblickt in Gerechtigkeit und Gemeinnutz keinen Gegensatz. Sie sind zwar nicht identisch, gehören aber untrennbar zusammen. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Deshalb muß die Strafe zwei Herren dienen, der Gerechtigkeit ebenso gut wie dem gemeinen Nutz. Beide Elemente sind Leitprinzipien der obrigkeitlichen Strafrechtspflege.16 einem Jeden das Seine zuzuteilen (tribuendo suum cuique) sowie im Einhalten von getroffenen Abmachungen (rerum contractarum fide). Damit sind neben Güte und Freigebigkeit . . . zentrale Aspekte der Gerechtigkeit (iustitia) angesprochen.“ 15 Zur Interpretation dieses Bildes vgl. auch Elmar Geus, Mörder, Diebe, Räuber. Historische Betrachtung des deutschen Strafrechts von der Carolina bis zum Reichsstrafgesetzbuch (Berlin 2002), S. 60 ff. 16 Geus, Mörder, Diebe, Räuber (Fn. 14), S. 61.

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In den folgenden Abschnitten soll näher untersucht werden, wie man beide Elemente im 16. Jahrhundert verstand und wie man sie in der Strafrechtspflege verwirklichen wollte. Am Anfang allerdings steht ein kurzer Rückblick ins 13. Jahrhundert, auf einen Ausgangspunkt der Überlegungen zu Gerechtigkeit und Strafzweck wie auch der Entstehung des öffentlichen Strafanspruchs in der frühen Neuzeit, nämlich auf die Summa Theologica Thomas von Aquins. Danach wird in je einem eigenen Abschnitt gefragt, was die Zeitgenossen Schwarzenbergs im 16. Jahrhundert unter Gerechtigkeit und gemeinem Nutz verstanden, um schließlich in einer zusammenfassenden Betrachtung ein wenig deutlicher ihr Zusammenwirken und den Zweck der Strafen skizzieren zu können.

II. „Den Willen von der Sünde wegziehen“: Überlegungen zum Strafzweck bei Thomas von Aquin So intensiv die Diskussion um Gerechtigkeit und die Notwendigkeit von Strafen für das Gemeinwesen im 16. Jahrhundert geführt wird, betritt man doch keinesfalls gedankliches Neuland. Vielmehr knüpfen die Autoren – die protestantischen ebenso wie die katholischen – an Überlegungen an, die seit Thomas von Aquin (1224/25–1274) im Strafrechtsdenken des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Raum greifen. Thomas, der doctor angelicus der Dominikaner, beschäftigt sich in seiner Summa Theologica ausgiebig mit Fragen nach Recht und Gerechtigkeit, darunter auch mit der Frage nach dem Strafen. Für ihn beruht die Strafbarkeit eines deliktischen Verhaltens nicht allein auf der Schädigung des Opfers, sondern auch auf dem Schaden, welcher der Allgemeinheit aus der Tat erwächst. Denn das Opfer ist ein Teil der Allgemeinheit, der civitas, und weil der Teil für das Ganze da ist, muß man mit jedem Teil so umgehen, wie es für das Ganze gut ist.17 Durch die Verletzung des Opfers aber „geschieht der Gemeinschaft Unrecht, welcher der betreffende Mensch mit allen seinen Teilen angehört“.18 „Mit allen seinen Teilen“ – das meint Leben und körperliche Unversehrtheit jedes einzelnen so gut wie sein Eigentum und Vermögen. Daher geschieht der Gemeinschaft nicht nur Unrecht, wenn eines ihrer Glieder getötet oder verletzt, sondern auch, wenn es bestohlen oder betrogen wird. Gerade bei der Strafzumessung für Eigentumsdelikte spielt der Schaden für die civitas nach Thomas eine entscheidende Rolle. Häufig muß der überführte Dieb nicht nur die gestohlene Sache selbst zurückgeben, sondern ihren doppelten oder vierfachen Wert ersetzen. Das ist, auch 17 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 65,1 (Die deutsche Thomas-Ausgabe, Band 18, München-Salzburg 1953, S. 181 f.). 18 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 65,1 (Fn. 16), S. 182.

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wenn es auf den ersten Blick befremdlich scheinen mag, mit der ausgleichenden Gerechtigkeit zu vereinbaren, denn der Täter hat auch einen mehrfachen Schaden angerichtet: Der Dieb, Räuber oder Betrüger hat „nicht nur die Privatperson geschädigt, sondern den Staat, weil er die Sicherheit seines Schutzes bedroht hat“.19 Diese Verletzung der civitas, der Allgemeinheit, wird durch die Obrigkeit geahndet. Das Strafen ist für Thomas ausschließlich die Aufgabe der Fürsten, denen Gott die Sorge für das bonum commune, das gemeine Wohl, übertragen hat. Nur in ihrem Namen und auf ihre Befehlsgewalt hin dürfen Verbrecher gestraft und gegebenenfalls auch hingerichtet werden. Private Sanktionen dagegen kommen nicht in Frage.20 Auch eine etwaige Einwilligung des Opfers oder ein Verzeihen der Tat hält Thomas für unbeachtlich, denn der Einzelne kann nicht auf Rechte der Gemeinschaft verzichten. Das bonum commune gebietet die Strafverfolgung auch gegen den Willen des Verletzten, und es schränkt die Befugnis des Richters und des Fürsten ein, Gnade walten zu lassen. Denn für die Gemeinschaft ist es gut, so Thomas, „wenn die Verbrecher bestraft werden, damit sich die Leute vor den Sünden in acht nehmen“,21 also wegen der von den Strafen erhofften Generalprävention. So kann selbst der Fürst, der doch die „Vollgewalt im Staate“ hat (qui habet plenariam potestatem in republica),22 nur dann einen verurteilten Verbrecher begnadigen, „wenn er sieht, daß das dem öffentlichen Wohl nicht schädlich ist“.23 Die Strafen dagegen müssen so kalkuliert sein, daß „der Wille von der Sünde weggezogen“ wird, „weil die Strafe stärker abschreckt, als das sündhafte Beispiel anlockt“.24 Der Heilscharakter der Strafe besteht daher nicht allein in der Heilung des begangenen Übels oder der Besserung des Delinquenten, er besteht vielmehr auch in der generalpräventiven Verhütung künftiger Sünden, welche die Ruhe des Gemeinwesens, die tranquillitas civitatis, stören.25 Eben diese von Thomas formulierten Gedanken des Gemeinwohls, der Generalprävention und des fürstlichen Strafmonopols erweisen sich als zukunftsträchtig. 19

Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 61,4 (Fn. 16), S. 105. Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 64,3 (Fn. 16), S. 159. 21 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 67,4 (Fn. 16), S. 231. 22 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 67,4 (Fn. 16), S. 231. 23 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 67,4 (Fn. 16), S. 231. 24 Thomas von Aquin, Summa Theologica II-II 108,3 (Die deutsche Thomas-Ausgabe, Band 20, München-Salzburg, S. 113). 25 Frank Grunert, Theologien der Strafe. Zur Straftheorie des Thomas von Aquin und ihrer Rezeption in der spanischen Spätscholastik: das Beispiel Francisco de Vitoria, in: Hans Schlosser/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung (Köln-Weimar-Wien 1999), S. 313–332, 328. 20

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III. „Die Gerechtigkeit umfaßt alle übrigen Tugenden“: Das Ringen um Gerechtigkeit in Strafverfahren und Urteil In diesem kurzen Ausflug in die thomistische Gedankenwelt klingen bereits viele Themen an, die in Variationen im 16. Jahrhundert wieder aufgenommen werden. Im Jahr 1509 erscheint der Layenspiegel des Nördlinger Stadtschreibers Ulrich Tengler (um 1447–1511); er will den Richtern der unteren Gerichte, die in aller Regel kein Rechtsstudium absolviert haben, die Grundzüge des gelehrten Rechts nahebringen.26 Tengler betont zu Beginn seiner strafrechtlichen Abhandlungen, daß kein Privatmann das Recht habe, selbs rach zu gebrauchen, sondern allein diejenigen, welchen das weltlich schwerdt zu straff des übels von Gott verliehen wurde.27 Allein auß lieb der gerechtigkeit sollen die Strafgerichte agieren.28 Der heilige[n] Justicien, wie der Würzburger Fürstbischof Julius Echter gern formuliert,29 fühlen sich die Fürsten in besonderer Weise verpflichtet; ihr zu dienen, sind sie wegen ihres Amtes schuldig vnd geneygt.30 Ein Idealbild des Herrschers zeichnen die Fürstenspiegel, die zeitgenössische Erziehungsliteratur für künftige Regenten, und nennen die Gerechtigkeit als führende Tugend. Sie gilt als die höchste Tugend, die alle übrigen guten Eigenschaften des Herrschers in sich birgt31 – das lehrt beispielsweise auch 26 Vgl. Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext (10., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage; Heidelberg 2005), S. 77 f. 27 Ulrich Tengler, Layenspiegel Von rechtmässigen ordnungen inn Burgerlichen und Peinlichen Regimenten. Mit Additionen ursprüngklicher rechtsprüchen. Auch der Guldin Bulla/Küniglicher Reformation/Landtfriden &c. Sampt bewärungen gemeyner rechten/vnd anderm anzeygen (Newlich getruckt; Straßburg 1582) Dritter Teil, Einleitung (fol. 119r). 28 Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Einleitung (fol. 119r). 29 Die typische Einleitung zu den von ihm erlassenen Stadtgerichtsordnungen enthält die Formel, solche Ordnungen seien erforderlich, damit in vnßerem Stifft menniglichen die Heilige Justicien recht vnd gerechtigkeit gleichformig, vnd solches zum furtterlichsten widerfahre vnnd mit getheilt werde (Stadtgerichtsordnung für Karlstadt vom 4. Mai 1590: StA Würzburg, Salb. 75, fol. 160v; vgl. Christiane Birr, Konflikt und Strafgericht. Der Ausbau der Zentgerichtsbarkeit der Würzburger Fürstbischöfe zu Beginn der frühen Neuzeit [Köln-Weimar-Wien 2002] S. 100 f.). 30 Der Bamberger Bischof formuliert in der Vorrede zur 1508 in Kraft getretenen Bambergensis, er sei auss vnser Furstenlicher oberkeit das recht vnd gemeinenn nucz zu fürdernn, auch sünderlich vnser gerichte in redlich gut wesen vnd ordnung zu bringen schuldig vnd genygt: Kohler/Scheel, Bambergische Halsgerichtsordnung (Fn. 6), S. 3. 31 So bei Jacob Omphalius, der in seinem 1550 erschienenen Fürstenspiegel nicht müde wird, die hervorragende Rolle im Gemeinwesen zu betonen: „Durch nichts anderes kann die öffentliche Ruhe, der Friede und die Eintracht der Bürger bewahrt werden als durch die Pflege der Gerechtigkeit; ohne sie kann es auch kein glück-

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die von Reinhard Lorich (um 1500–1564) 1537 verfaßte Paedagogia Principum, einer der bekanntesten deutschen Fürstenspiegel.32 Der Humanist Lorich gehört zu den Professoren, die an der Universität Marburg bereits in ihrem Gründungsjahr 1527 bezeugt sind.33 Seinen Fürstenspiegel verfaßt er, als der Landgraf Philipp von Hessen zwei seiner Söhne zur Erziehung an die Universität nach Marburg schickt. Dem älteren der beiden, dem gerade fünfjährigen Wilhelm (1532–1592, ab 1567 Wilhelm IV. von Hessen Kassel), widmet Lorich sein von humanistischer Bildung getränktes Buch.34 Der erste Teil handelt von der Erziehung und erforderlichen Bildung eines künftigen Landesherrn, die politisch von hoher Bedeutung sind.35 Im zweiten Teil wendet sich Lorich an den jungen Regenten selbst, der im Begriff liches und beständiges Staatswesen geben. . . . Die Gerechtigkeit, die unter Wahrung des allgemeinen Nutzens jedem das Seine zuteilt, umfaßt nämlich alle übrigen Tugenden“: Jacob Omphalius, De officio et potestate Principis in Republica bene ac sancte gerenda, libri duo. Lib. I cap. 23 (Basilae 1550), hier zitiert nach der Auswahlübersetzung von Bernd Herda und Armin Höfer in: Hans-Otto Mühleisen/Theo Stammen/Michael Philipp (Hrsg.), Fürstenspiegel der frühen Neuzeit (Frankfurt a. M. 1997), S. 129–165, 138. Zu Omphalius’ Biographie vgl. Teichmann, Omphalius, in: ADB 24, S. 352 f.; Michael Philipp, Jacob Omphalius, De officio et potestate Principis. Basel 1550, in: Mühleisen u. a., Fürstenspiegel der frühen Neuzeit (Fn. 31), S. 116 ff. In der Tugendlehre des Fürstenspiegels Konrad Heresbachs (1496–1576) steht die Iustitia an erster Stelle (gefolgt von Clementia, Liberalitas, Fides et Veritas, Temperantia, Continentia): Michael Philipp, Konrad Heresbach, De educandis erudiendisque principum deque republica Christiane administranda. Frankfurt am Main 1592, in: Mühleisen u. a., Fürstenspiegel der frühen Neuzeit (Fn. 30), S. 172. Zu Leben und Werk Konrad Heresbachs vgl. außerdem Ennen, Heresbach, in: ADB 12, S. 103–105; Lohse, Heresbach, in: NDB 8, S. 606 f. 32 Von der 1537 in deutscher Sprache veröffentlichten Paedagogia Principum erscheint bereits ein Jahr später eine lateinische Fassung, die 1558 ins Polnische übersetzt wird. Ungefähr dreißig Jahre nach dem Tod Lorichs erscheint eine weitere, überarbeitete und vor allem sprachlich modernisierte Fassung (1595 in Frankfurt am Main): Beatrice Weber-Kuhlmann, Reinhard Lorich. Paedagogia Principum. Frankfurt am Main 1595, in: Mühleisen u. a., Fürstenspiegel der frühen Neuzeit (Fn. 30), S. 24. 33 Nach zwanzig Jahren Lehre in Marburg als Professor der bonarum literarum wechselt Lorich 1547 an die Stiftsschule in Wetzlar, wo es allerdings zu Spannungen zwischen den katholischen Stiftsherren und dem lutherischen Schulmeister kommt. Sechs Jahre später verläßt Lorich Wetzlar, er stirbt wohl im Jahr 1564 als Pfarrer in Bernbach in der Wetterau. Näheres zu Leben und Werk Lorichs bei Weber-Kuhlmann, Reinhard Lorich (Fn. 31), S. 22 ff. 34 Zu den bevorzugt zitierten Autoritäten gehören neben Erasmus von Rotterdam die antiken Klassiker wie Aristoteles, Plutarch, Seneca, Diogenes, Plato und natürlich Cicero. 35 Derhalben/dieweil Glück und Heyl eines ganzen Lands an guter Institution des Landesherren gelegen/höchlich von nöthen ist/daß ein junger Herr/mit allem fleiß/ in guter Lehr unnd Tugend geübet werde: zitiert nach Weber-Kuhlmann, Reinhard Lorich (Fn. 31), S. 25.

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ist, seine Herrschaft anzutreten, und läßt Ausführungen über Regierung und Verwaltung folgen. Zwei Kapitel der Paedagogia berühren unser Thema besonders eng, nämlich das Kapitel über die Gesetzgebung der Fürsten36 und das Kapitel Von der Gerechtigkeit großer Herren.37 Was hat Lorich über die Gesetzgebung zu sagen? Gesetze sind auß Nottuerfftigkeit/Mangel vnd Gebrechen/gerechter vnd frommer Leut erfunden vnd eyngesetzt, denn wären alle Menschen gut, bräuchte man sie nicht. Sie dienen einem friedsamen vnnd glueckseligen Leben auff dieser Erden, und die Obrigkeit soll ihre Untertanen durch Lehr/Gesatzung vnd Regel der Gerechtigkeit regieren.38 Das Gesetz ist Dienerinn der Gerechtigkeit, die Obrigkeit bzw. der Fürst aber ist nicht anderes als ein Gesatz/welches reden kan.39 Daher muß jeder Fürst die Sorge um Gerechtigkeit zu seiner wichtigsten Angelegenheit machen40 und sich dabei stets vor Augen halten, was ihm die Heilige Schrift zu diesem Thema zu sagen hat, vor allem in dem sogenannten Buch der Weisheit Salomos:41 Habt Gerechtigkeit lieb/jr Regenten 36 Von der gewaltigen Herren Gesatzung: Reinhard Lorich, Paedagogia Principum, in: Mühleisen u. a., Fürstenspiegel der frühen Neuzeit (Fn. 30), S. 30 ff., 50–54. 37 Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 35), S. 59–63. 38 Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 35), S. 50. 39 Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 35), S. 51. 40 Auch Konrad von Heresbach verlangt in seinem 1530 verfaßten Fürstenspiegel, der Fürst solle vor allen Dingen die Gerechtigkeit wahren und sich um eine faire Rechtsprechung sorgen, vgl. Philipp, Konrad Heresbach (Fn. 30), S. 172. 41 Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 35), S. 62 f. paraphrasiert offenbar aus dem Gedächtnis: Habt Gerechtigkeit lib/die jr Landt vnnd Leut regieret/Dann die Gerechtigkeit machet alle Regiment Glueckselig/vnd gibt ewig Ruhm vnnd Belohnung/Aber die Frucht der Vngerechtigkeit sind eroberung deß todes. Das sind sinngemäße Wiedergaben von Weish. 1, 1 (vgl. bei Fn. 41), Weish. 1, 15 und 16 (iustitia enim est immortalis. Impii autem manibus et verbis accersierunt illam [i. e. mortem]) sowie Prv. 16, 12 (Abominantur reges agere impie, quoniam iustitia firmatur solium). Interessant ist, daß der spätere lutherische Pastor Lorich keinen Unterschied zwischen dem nach protestantischem Verständnis apokryphen Buch der Weisheit Salomos und dem im alttestamentarischen Kanon enthaltenen Buch der Sprüche Salomos macht. Für ihn sind beide gleichermaßen die heylige Schrifft. Die 1534 in Wittenberg gedruckte erste Gesamtausgabe der von Luther übersetzten Bibel enthält die Übersetzung der apokryphen Bücher durch Justus Jonas und Philip Melanchthon; in seiner Vorrede weist Luther aber darauf hin, daß diese Bücher keine Bestandteile der Heiligen Schrift, jedoch nützlich zu lesen seien – insbesondere für die Herrschenden: Es ist viel guts dinges drinnen/vnd wol wird [wert]/das mans lese. Sonderlich aber solten es lesen die grossen Hansen/so wider jre Vnterthanen toben, denn Gott habe bekräftigt, das dis Buch an sie sey geschrieben (Martin Luther, Vorrede auff die Weisheit Salomonis, in: ders., Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe, herausgegeben

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auff Erden (Weish. 1,1)42 und: So höret nu jr Könige/vnd mercket/Lernet jr Richter auff Erden. . . . Denn Euch ist die Oberkeit gegeben vom HERRN/ vnd die Gewalt vom Höhesten/Welcher wird fragen/wie jr handelt/vnd forschen was jr ordnet? Denn jr seid seines reichs Amptleute. Aber jr füret iewer Ampt nicht fein/vnd haltet kein Recht/Vnd thut nicht nach dem/das der HERR geordnet hat. Er wird gar grewlich vnd kurtz vber euch komen/ vnd es wird gar ein scharff Gericht gehen vber die Oberherrn. Denn den Geringen widerferet gnade/Aber die Gewaltigen werden gewaltiglich gestrafft werden (Weish. 2, 2–7).43 Diese strengen Ermahnungen an Fürsten und Richter bilden einen ständigen Refrain bei allen Abhandlungen zur Gerechtigkeit, gleichermaßen in den Schriften protestantischer wie katholischer Autoren. Sie verdeutlichen ein spezifisches Gerechtigkeitsverständnis: Die heilige Justicien zu pflegen und zu wahren, ist eine persönliche, ihm von Gott auferlegte Pflicht des Fürsten. Liegt die Gerechtigkeit in seinen Landen im Argen, wird er im Jüngsten Gericht dafür zur Verantwortung gezogen, ohne die Schuld auf seine Amtleute und eingesetzten Richter abwälzen zu können: Denn was boese AmptLeute verschulden/dafür muß ihr OberHerr Rechenschafft geben, formuliert 1590 der protestantische Prediger Martin Moller in seinem Regenten-Büchlein.44 von Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke [Hamburg 1972, Lizenzausgabe: Bonn 2004], S. 1699–1702, 1700). 42 Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch (Fn. 40), S. 1703. 43 Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch (Fn. 40), S. 1709. 44 Weil Gott der Herr/E. Kaeyser. May. das Reich der Welt vertrawet hat/so sol Ewer May. nicht boese vnd Gottlose Leute zu jren Emptern gebrauchen/Denn was muthwillige boese Amptleute verwircken/dafuer muß der Rechenschafft geben/der sie auffgenomen hat. Derhalben sollen die Empter mit grossem fleiß vnd auffsehen bestellet werden: Martin Moller, Scheda Regia. Regenten Büchlein/des hochlöblichen Röm. Käysers Iustiniani Primi. In 72. Aphorismos oder Regeln gefasset/welche jm gestellet hat Agapetus, Ein Diacon der heyligen und grossen Gemeine Gottes zu Constantinopel/vmb das Jahr Christi D. XXX. Jetzung auß dem Griechischen verdeutschet/vnd mit vielen schönen Sprüchen vnd Exempeln/beyde aus heyliger Göttlicher Schrifft/vnd andern bewerten Büchern nützlich erkläret/vnd allen Gottfürchtigen Regenten zu einem täglichen Handt Büchlein fleissig zu gerichtet (Görlitz 1605), hier zitiert nach der Textauswahl bei Mühleisen u. a., Fürstenspiegel der frühen Neuzeit (Fn. 30), S. 262–297, 285. Zu Mollers Leben und Werk vgl. L. U., Moller Martin, in: ADB 22, S. 128; Robert Stupperich, Moller Martin, in: NDB 18, S. 1; Theo Stammen, Martin Moller. Scheda Regia. Regenten Büchlein des hochlöblichen Röm. Käyser Iustiniani primi. Görlitz 1605, in: Mühleisen u. a., Fürstenspiegel der frühen Neuzeit (Fn. 31), S. 252 ff. Ähnlich redet auch Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Einleitung (fol. 120r) den Fürsten ins Gewissen: Wenn sie ungeeigneten Personen das Richteramt anvertrauen und diese in ihrem Namen Recht sprechen lassen, so müssen sie sich ernsthaft fragen, Ob es gut/loblich/vnd die selben obernherrn in jrem gewissen darumb ruwig vnd entschuldigt sein können.

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Jeder Fürst soll der Gerechtigkeit dienen – aber wie? Gerechtigkeit bedeutet, jedem das Seine zuzuteilen – aber wie setzt man diese Regel in Strafsachen um? Einerseits verpflichtet der Dienst an der Gerechtigkeit dazu, ein ordentliches Gerichtswesen einzurichten und aufrechtzuerhalten. Sein Bestreben sei es gewesen, sünderlich vnser gerichte in redlich gut wesen vnd ordnung zu bringen, schreibt der Bischof von Bamberg 1508 in der Vorrede der Bambergensis.45 Daneben sind es vor allem zwei Punkte des Strafverfahrens, an denen die Autoren des 16. Jahrhunderts die Gerechtigkeit verwirklicht sehen wollen: bei der Verfahrenseinleitung und bei der Strafzumessung. Es ist kein Zufall, daß allmählich der alte Grundsatz „Wo kein Kläger, da kein Richter“ in den Hintergrund gedrängt und durch die Einleitung des Strafverfahrens von Amts wegen ersetzt wird.46 Gustav Radbruch rühmt der Carolina nach, in ihr habe man erkannt, „daß Verbrechensverfolgung Staatsaufgabe, nicht Privatangelegenheit des Verletzten ist“, und diese Erkenntnis für die Folgezeit maßgeblich gemacht.47 Der Grund für die Forcierung des Verfahrens von Amts wegen liegt in dem Gerechtigkeitsverständnis der Zeit: Möglichst jede Missetat muß vor Gericht kommen, verhandelt und abgeurteilt werden. Um noch einmal die Paedagogia Principum Reinhard Lorichs zu zitieren: Lorich erteilt dem traditionellen Buß- und Kompositionswesen eine deutliche Absage, denn es leiste dem freuentlichen Mißbrauch Vorschub.48 Vielmehr verlange die Gerechtigkeit, daß Gesetzübertreter jeden Standes gleich behandelt würden. Der Fürst soll zusehen/daß gute Gesatzung und Ordnung in gleichem gewicht von allen/Reich vnd Arm/gehalten/nicht die Kleinen all/so vbertretten/vnd gestrafft/den Grossen aber/ durch die Finger gesehen/vnd Gnad Junckern geheissen werden/Denn sehr ungleich ist es/daß die kleinen Fliegen vnd Mucken in den Stricken der Ge45

Kohler/Scheel, Bambergische Halsgerichtsordnung (Fn. 6), S. 3. Vgl. Bambergensis Art. 10–16 über das Annemen der vbeltheter von Ampts wegen (Kohler/Scheel, Bambergische Halsgerichtsordnung [Fn. 6], S. 7 ff.); Carolina Art. 6–10 über das Annemen der angegeben übelthetter von der oberkeyt vnnd ampts wegen (Kaufmann [Hrsg.], Carolina [Fn. 1], S. 33 ff.). 47 Radbruch, Zur Einführung in die Carolina (Fn. 8), S. 17. 48 In bester humanistischer Manier wählt Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 35), S. 52 sein Beispiel allerdings nicht aus der eigenen traditionellen Rechtspflege, sondern aus Gellius „Attischen Nächten“: Also vorzeiten als ein Gesatz außgangen/ daß/welcher den andern schluege/oder beleydigt/ein summa Gelts geben solt/vnd darduch ledig erkannt werden/War ein gewaltiger reicher Schalck/L. Neracius, vorhanden/welcher grosse Lust hatte/einen mit der flachen Handt an Halß zuschlagen/ Wenn er nun jemand so freuentlich geschlagen vnd beleydigt/hatte er einen Knecht nachtretten mit einem Beuttel voll Gelts/vnd ließ gleich nach erforderung der Gesatzung die summa Gelts liffern/dem/welcher er schlagen hat/Darmit/dieweil auß gemeldtem Gesatz Freffel vnnd Mutwille entstunde/dem freuentlichen Mißbrauch vorkommen ward. 46

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satzung gefangen/Aber die grossen Weinschroeter [d.h. Hirschkäfer] durchbrechen.49 Dementsprechend muß der Fürst stets darauf achten, daß nicht die Missetaten durch vngerechte Nachlaessigkeit/vngestrafft davon kommen, denn solches strebet wider die Regel der Gerechtigkeit.50 Die Betonung liegt darauf, daß alle Übeltäter (Große wie Kleine, Reiche wie Arme) von der Strafgerichtsbarkeit erfaßt und abgeurteilt werden sollen. Der Kölner Jurist Jacob Omphalius, der im Jahr 1550 ebenfalls einen Fürstenspiegel verfaßt, schreibt: „Und nirgends entgalten sich alle Teile der Gerechtigkeit mehr als dort, wo alles durch Rechtsgleichheit genau bestimmt wird.“51 Rechtsgleichheit bedeutet freilich nicht, daß in jeder Hinsicht gleiches Recht für alle gelten soll. Damit wären wir beim zweiten Brennpunkt der Gerechtigkeit, der Strafzumessung. Die Strafe muß der Missetat genau entsprechen, so lautet die einstimmig erhobene Forderung an den Richter.52 Er darf weder eine härtere noch eine leichtere Strafe verhängen, als der jeweilige Fall verlangt. Die Vergeltung soll der Missetat gleichwertig sein und von ihr gleichsam umfaßt werden.53 Entscheidende Kriterien sind Person und Stand des Täters wie des Opfers sowie der Hergang der Tat. Strafmindernd wirken sich aus: das Begehen eines Deliktes aus Unwissenheit oder Unvorsichtigkeit, aus Zufall oder in der Trunkenheit, im Zorn und in phrenetica passione. Außerdem wird milder bestraft, wer in Notwehr handelt 49

Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 35), S. 52. Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 35), S. 59. 51 Omphalius, De officio et potestate Principis (Fn. 30), S. 140. 52 Gestützt wird diese Forderung durch die Allegierung von Dig. 48.19.11.pr. (Respiciendum est iudicanti, ne quid aut durius aut remissius constituatur, quam causa deposcit: nec enim aut severitatis aut clementiae gloria affectanda est, sed perpenso iudicio, prout quaeque res expostulat, statuendum est. plane in levioribus causis proniores ad lenitatem iudices esse debent, in gravioribus poenis severitatem legum cum aliquo temperamento benignitatis subsequi.) und Dig. 48.19.13 (Hodie licet ei, qui extra ordinem de crimine cognoscit, quam vult sententiam ferre, vel graviorem vel leviorem, ita tamen ut in utroque modo rationem non excedat.), so z. B. bei Justin Gobler (1504–1567), Augustissimi Imperatoris Caroli Quinti de Capitalibus Iudiciis Constitutio, Germanice primum euulgata, nuncque . . . in Latinum uersa, & aequo Commentario aucta (Basileae 1543; Nachdruck: Aalen 2000) Auctarium ad art. 104 (S. 85). 53 Josse de Damhouder, Sententiae Selectae pertinentes ad Materiam Praxis Rerum Criminalium et Aliarum Partisum iuris Scientiarumque (Antverpiae 1601; Neudruck: Aalen 1978), S. 149. Bei den Sentenzen, die erstmals 1601 als Anhang zur Praxis Rerum Criminalium gedruckt werden, handelt es sich nicht um eine Ergänzung dieses Werkes, sondern um ein alphabetisches Repertorium aller Texte juristischer und nicht-juristischer Traktate, die Damhouder zur eigenen Benutzung zwischen 1539 und 1544 gesammelt hatte: Jos Monballyu/Rik Opsommer, Damhouder, Joos de, 12. Juli 2000, in: Gudrun Gersmann/Jürgen-Michael Schmidt/Margarete Wittke, Lexikon zur Geschichte der europäischen Hexenverfolgung (Ein Server für die Frühe Neuzeit) . 50

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oder von einem anderen zu seiner Missetat verleitet wurde.54 Kurz gesagt: Immer dann, wenn die Tat nicht mit Vorbedacht oder Absicht begangen wurde, soll der Richter von der im Gesetz vorgesehenen Strafe zu Gunsten des Angeklagten abweichen.55 Niemand darf über sein Verbrechen hinaus bestraft werden.56 Dabei ist allen Autoren klar, wie schwierig eine solche vollkommen gerechte Strafzumessung in der Praxis zu bewerkstelligen ist. Daher entspricht der Freiheit des Richters in der Strafzumessung eine große Verantwortung. Ein Fehlurteil hat nicht nur schlimme Folgen für den Verurteilten. Auch der Richter selbst bringt sich mit seiner Tätigkeit ständig in Gefahr, und auf dem Spiel steht nichts Geringeres als sein ewiges Seelenheil. Alle Fürsten und ihre Richter müssen stets mit guter rechtmässiger ordnung vorgehen,57 schreibt Ulrich Tengler in seinem Layenspiegel. Denn sie alle werden beim Jüngsten Gericht Rechenschaft über ihre Urteile beziehungsweise die in ihrem Namen gefällten Urteile ablegen müssen und sich kaum für Fehlurteile rechtfertigen können. Tengler führt seinen Adressaten eindringlich vor Augen, wie schwer die Verantwortung ist, die auf ihnen lastet: Deßhalben ainer jeden obernhandt die mit hohen gerichten gefreyt/auch den malefitz Richtern so den bann über das blut zu richten empfahen/deßgleich den urtailern die erwälet vnd verordnet werden vrtail drinn zu schopffen/vnd mit zu handeln/wol gebürn will dest gewißlicher vnd mit höchster sorgfeltigkeit vast fürsichtigklich vnd nach rath über des menschen blut zu richten vnd vrtailen/geflissen vnd bedacht sein/das dem allmechtigen Gott am jüngsten gericht/auch im zeyt darumb schwärlich antwurt vnd rechnung zu geben ist/wer ainen vnschuldigen menschen den der allmechtig Gott nach seiner bildung erschaffen/vnd durch das bitter leiden vnd sterben seines aingebornen suns vnsers herrn Jesu Christi erlöset hat/ vnrechtlich vom leben zum tod verurtailen/richten oder am leib straffen zu lassen/den er nit mer lebendig machen/vnd mag im zeit nit liederlich abgelegt werden.58 Findet der Richter nicht die eine, der Tat angemessene Strafe, urteilt er also zu milde oder zu streng, begeht er eine Sünde. Unter den Juristen ist umstritten, was man den Richtern raten soll und ob es empfehlenswerter ist, im Zweifel zur Milde oder zur Strenge zu neigen. Tengler rät den Richtern 54 Jodocus Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Antverpiae 1601; Neudruck: Aalen 1978) cap. 55 no. 4 (S. 103); so bereits Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Von peen vnd straffen (fol. 133v), Vmb fridbiff/ayd/oder geleübd brechen, Nota (fol. 142v f.). 55 Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 53) cap. 55 no. 4 (S. 103): Si nulla premeditatione, nullo studio crimen fuisset excogitatum. 56 Damhouder, Sententiae Selectae (Fn. 52), S. 149. 57 Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Einleitung (fol. 119r). 58 Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Einleitung (fol. 120r).

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zur Vorsicht, also zur Milde. Auch wenn der weltlichen Gerechtigkeit der eine oder andere Missetäter entkomme, so gäbe es doch noch das göttliche Gericht, vor dem jeder ohne Ausnahme sich für seine Taten verantworten müsse. Deshalb und weil ein Fehlurteil irreparable Schäden anrichten kann, soll der weltliche Richter im Zweifelsfall sich mit Strafen zurückhalten und nicht sein eigenes Seelenheil durch übermäßige Strenge in Gefahr bringen.59 Auch andere, wie zum Beispiel Justin Gobler (1504–1567), raten dem Richter zur Milde und wissen einschlägige Passagen aus dem römischen Recht zu zitieren.60 Josse de Damhouder (1507–1581), einer der einflußreichsten Strafrechtler des 16. Jahrhunderts,61 plädiert dagegen für Strenge. Zwar weiß auch er, daß dem Richter Milde immer wohl ansteht.62 In leichteren Fällen solle der Richter eine leichtere Strafe verhängen und in unklaren Fällen, in denen an der Täterschaft des Angeklagten Zweifel bestehen, diesen nicht verurteilen, sondern lieber freisprechen.63 Allerdings dürfe der Richter „auf keinen Fall milder als das Gesetz sein“, und wenn das Gesetz eine Strafe anordne, die dem Richter im konkreten Fall übertrieben hart erscheine, dann solle er im Zweifel das Gesetz gelten lassen und in seiner ganzen Schärfe anwenden, als es zugunsten des Täters abzumildern.64 59 Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Vom Götlichen gericht (fol. 145r): Darauß zuuersteen/das eynem zeitlichen richter nit gebürlich/er auch nit schuldig vmb alles übel zurichten/sonder besser vnd leidenlicher eynen schuldigen (des übelthat nit lauter/offenbar/noch bewisen ist) vngestrafft zuentledigen/vnd Göttlicher straff vorbehalten/weder sich selbs dem Göttlichen gericht in wagknüs zubegeben. Ebenso Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Ermanung an die richter/vnd Vrteyler (fol. 145v): Darumb sol eyn yeder Richter das aller grausamlichkst gericht Gottes wol bedencken/vnd vor augen haben/das ob jm ist der zornige Richter. 60 Gobler, Carolina-Kommentar (Fn. 51), Auctarium ad art. 104 (S. 85) allegiert Dig. 48.19.42 (Interpretatione legum poenae molliendae sunt potius quam asperandae) und Dig. 48.19.32 a. E. (si utriusque legis crimina obiecta sunt, mitior lex, id est privatorum, erit sequenda). 61 Zu Leben und Werk Damhouders: Monballyu/Opsommer, Damhouder, Joos de (Fn. 52). 62 Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 53), cap. 55 no. 6 (S. 103): Iudicem semper commendat clementia. 63 Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 53), cap. 55 no. 7 (S. 103). 64 Damhouder, Sententiae Selectae (Fn. 52), S. 149: Nec iudex debet esse mitior lege . . . & dicimus quod mitius agitur cum lege, quam cum homine. Ähnlich argumentiert auch Georgius Remus (1561–1625), Nemesis Karulina Karuli V. (Herbornae Nassoviorum 1594; Neudruck: Aalen 2000), Art. 104 lit. a (S. 95): Wenn das Gesetz für eine Missetat eine bestimmte Strafe vorschreibt, darf der Richter nicht von dieser abweichen. Eine eigene Strafe darf er nur dann finden, wenn entweder die Strafe im Gesetz nicht ausdrücklich vorgeschrieben ist oder das Gesetz ihm einen Ermessensspielraum einräumt. Nicolaus Vigelius (1529–1600), Constitutiones Carolinae Publicorum Iudiciorum (Basileae 1603; Neudruck: Aalen 2000), cap. 2 q. 5 regula 1

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IV. „Die Bestrafung des einen jagt vielen Angst ein“: Der gemeine Nutzen und die Prävention von Straftaten Mit dieser letzten Bemerkung haben wir uns bereits vom Feld der Gerechtigkeit auf das Feld des gemeinen Nutzens begeben, denn die Strenge, für die Damhouder plädiert, ist kein Selbstzweck, sondern hat dem Gemeinwesen zu dienen. Der gemeine Nutz, der für Johann von Schwarzenberg von der Gerechtigkeit nicht zu trennen ist, soll sich in erster Linie aus der generalpräventiven Wirkung ergeben, die man sich von einer funktionierenden Strafjustiz verspricht. Im römischen Recht hat man Sätze gefunden, nach denen es im Interesse des Staates, der respublica, liege, daß Verbrechen bestraft werden und nicht ungeahndet bleiben,65 daß dem Staat daran gelegen ist, sein Gebiet von Übeltätern zu „reinigen“, damit Ruhe im Leben seiner Bürger einkehrt.66 Diese Sätze werden oft zitiert, von den lateinisch schreibenden Gelehrten ebenso67 wie eingedeutscht im Layenspiegel Ulrich Tenglers.68 Denn, so heißt es, wenn man Missetaten weder verfolgen noch bestrafen würde, nähmen die Verbrechen überhand: Können Missetäter unbehelligt von ihren Taten profitieren, liegt in ihrem schlechten Vorbild ein Anreiz für andere, bislang ehrliche Menschen, es ihnen nachzutun.69 (S. 43) versteht diese Bindung an die im Gesetz festgesetzte Strafe vor allem als einen Schutz des Missetäters vor einer noch härteren, vom Richter ersonnenen Strafe: Si poena lege sit definita, hanc iudex sequi debet, nec duriorem irrogare. 65 Die sehr häufig gebrauchte Wendung [ut] ne maleficia maneant impunita ist ein Zitat aus Dig. 9.2.51.2 (. . . cum neque impunita malaficia esse oporteat . . .). Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 53), Prooemium no. 1 (S. 2) zitiert in diesem Zusammenhang auch Baldus acutissimus, der geschrieben habe, publicae disciplinae fauorem dictare ac suadere, ut maleficia puniantur. 66 Solche Aussagen beruhen auf Dig. 1.18.13.pr. (Congruit bono et gravi praesidi curare, ut pacata atque quieta provincia sit quam regit. quod non difficile obtinebit, si sollecite agat, ut malis hominibus provincia careat eosque conquirat: nam et sacrilegos latrones plagiarios fures conquirere debet et prout quisque deliquerit in eum animadvertere, receptoresque eorum coercere, sine quibus latro diutius latere non potest) und auf Cod. 3.27.2 (ein Reskript der Kaiser Arcadius Honorius und Theodosius aus dem Jahr 403: Opprimendorum desertorum facultatem provicialibus iure permittimus. qui si resistere ausi fuerint, in his velox ubicumque iubemus esse supplicium. cuncti etenim adversus latrones publicos desertoresque militiae ius sibi sciant pro quiete communi exercendae publicae ultionis indultum). 67 Bspw. von Gobler, Carolina-Kommentar (Fn. 51), Auctarium ad art. 104 (S. 84); Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 53), Prooemium no. 1 (S. 2). 68 Es ist, so Tengler, Layenspiegel (Fn. 26) Dritter Teil, Einleitung (fol. 119v), der gmain nutz notdürfftig/das übel nit vngestrafft zu lassen, und jede gerichtlich oberkait sei verpflichtet, ihre gegend vnd prouintz vor den übelthätigen zu rainigen. Woher die Sätze stammen, gibt Tengler nicht an, wie der Layenspiegel sich – gemäß dem Adressatenkreis – ohnehin ohne gelehrtes Allegationenbeiwerk präsentiert.

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Eine zu nachlässige Gerichtspraxis birgt also Gefahren, während eine gebührend strenge Praxis die Allgemeinheit schützt. Eine solchen Ansprüchen gemäß eingerichtete und ausgeübte Strafgerichtsbarkeit erzielt nach zeitgenössischen Vorstellungen ihre generalpräventive Wirkung auf zweierlei Weise: Erstens muß jede Missetat vor Gericht kommen, verhandelt und bestraft werden; niemand soll sich darauf verlassen können, daß er sich durch Zahlung einer (privaten) Buße vom Kriminalprozeß freikaufen kann.70 Wenn jedermann klar vor Augen stehe, daß seine Missetaten ihn als Angeklagten vor Gericht führen, dann, so hofft man, werde das zu größerer Besonnenheit und einem Rückgang der Missetaten führen. In diesem Punkt berührt sich der gemeine Nutz mit der Gerechtigkeit, denn diese fordert, dem freuentlichen Mißbrauch71 des Kompositionswesens ein Ende zu machen.72 69 Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 53), Prooemium no. 7 (S. 2): Quod sit, si crimina non puniantur: facilitas enim veniae incentium tribuit delinquendi. Das ist ein Zitat aus X 3.1.13, einem Kanon des unter Papst Innozenz III. gehaltenen Vierten Laterankonzils von 1215. Ursprünglich ging es um das Leben der Kleriker: Wer nicht sexuell enthaltsam lebt, soll hart bestraft werden, damit nicht auch andere seinem schlechten Beispiel folgen. Das Konzil setzt in c. 14 fest: Ut clericorum mores et actus in melius reformentur, continenter et caste vivere studeant universi, praesertim inventes, maxime illo, propter quod venit ira Dei in filios diffidentiae, quatenus in conspectu omnipotentis Dei puro corde ac mundo corpore valeant ministrare. Ne vero facilitas veniae incentivum tribuat delinquendi, statuimus, ut, qui comprehensi fuerint incontinentiae vitio laborare, prout magis aut minus peccaverint, puniantur secundum canonicas sanctiones, quas efficiacius et districtius praecipimus obervari, ut quos divinus timor a malo non revocat temporalis saltem poea cohibeat a peccato [= X 3.1.13], nämlich: „Damit der Lebenswandel der Kleriker sich zum Besseren wendet, sollen sie alle, zumal als Angehörige der höheren Stufen des Ordo, um ein sexuell enthaltsames Leben bemüht sein. Hüten sollen sie sich vor jedem Laster der Begierde, am meisten vor jenem um dessentwillen der Zorn Gottes vom Himmel über die Söhne des Unglaubens kommt [Eph. 5, 6], damit sie vor dem Angesicht des allmächtigen Gottes lauteren Herzens und reinen Leibes ihren Dienst zu tun vermögen. Damit eine nachsichtige Vergebungspraxis keinen Anreiz zur Sünde biete, bestimmen wir: Alle, die nachweislich vom Laster der Unenthaltsamkeit befallen sind, werden je nach Größe der Sünde gemäß den kanonischen Bestimmungen bestraft, die nach unserer Vorschrift mit mehr Nachdruck und Strenge angewendet werden müssen“: Text und Übersetzung nach Josef Wohlmuth (Hrsg.), Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band 2: Konzilien des Mittelalters. Vom Ersten Laterankonzil (1123) bis zum Fünften Laterankonzil (1512–1517). (Paderborn-München-Wien-Zürich 2000), S. 242 (alle Hervorhebungen von mir). 70 Omphalius, De officio et potestate Principis (Fn. 31), S. 142 fordert, daß der Fürst jeden „Kriminalfall durch die Strenge seiner Entscheidung“ einem gerechten Ausgang zuführt, denn „Es ist nämlich im Interesse des Staates, daß Verbrechen nicht unbestraft bleiben [Dig. 9.2.51.2, vgl. oben Fn. 54]. Diese Strenge der Rechtsprechung, die mit der öffentlichen Disziplin verbunden ist, nützt sehr.“ 71 Lorich, Paedagogia Principum (Fn. 36), S. 52. 72 Vgl. dazu oben bei Fn. 48.

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Zweitens nimmt man an, die verhängten Strafen selbst trügen zur Generalprävention von Missetaten bei. Der Nördlinger Stadtschreiber Tengler notiert in seinem Layenspiegel, der Richter solle bei der Verhängung von Strafen auch daran denken, das die peen ander menigklich ain ebenbild vnd forcht sey73, anders ausgedrückt, „die Bestrafung des einen jagt vielen Angst ein“ (poena unius est metus multorum).74 Auch an dieser Stelle verdeutscht Tengler einen Satz des römischen Rechts,75 der zu den zentralen und häufig zitierten Maximen der Strafüberlegungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit gehört. Aus ihm folgert Josse de Damhouder76 in seiner Praxis Rerum Criminalium von 1554, man dürfe einem verurteilten Verbrecher die Strafe nicht leichtfertig erlassen, sonst sei die Wirkung der öffentlichen Abschreckung dahin.77 Bestätigung für seine Ansicht findet Damhouder sowohl bei Plato als auch im Kirchenrecht. Dem Kirchenrecht will er die Vorstellung entnehmen, Gott gerate in Zorn, wenn die Obrigkeit im Strafen der Missetäter nachlässig sei.78 So sei es nicht Grausamkeit, 73 Tengler, Layenspiegel (Fn. 27) Dritter Teil, Vmb fridbriff/ayd/oder geleübd brechen, Nota (fol. 142v f.). Das gilt nach Tengler vor allem für die Verhängung sogenannter außerordentlicher Strafen (poenae extraordinariae), die nicht im Gesetz festgelegt, sondern ins richterliche Ermessen gestellt sind. 74 Damhouder, Sententiae Selectae (Fn. 53), S. 150. 75 Cod. 9.27.1 (Reskript der Kaiser Gratian Valentian und Theodosius aus dem Jahr 382: Ut unius poena metus possit esse multorum, ducem qui male egit ad provinciam quam nudaverat cum custodia competenti ire praecipimus, ut non solum, quod eius non dicam domesticus, sed manipularius et minister accepit, erum etiam quod ipse a provincialibus nostris rapuit aut sustulit, in quadruplum invitus exsolvat). 76 Zu Leben und Werk Damhouders: Monballyu/Opsommer, Damhouder, Joos de (Fn. 53). 77 Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 54) Prooemium no. 4 (S. 2). 78 Damhouder zitiert an dieser Stelle: (1) C.23 1.4 c.38, einen Ausschnitt aus einem Brief Augustinus’ an Donatus, in dem um die Frage gehandelt wird, ob Donatisten auch gegen ihren Willen zur (katholischen) Orthodoxie zurückgezwungen werden dürfen. Donatus hatte sich gegen solche Praktiken mit dem Argument verwahrt, Gott habe allen, Donatisten wie Katholiken, einen freien Willen gegeben und deshalb dürfe niemand zum (möglicherweise) Guten gezwungen werden. Augustinus hält mit einigen Beispielen aus dem Alten Testament dagegen, daß diejenigen, denen Gott Leitungsgewalt anvertraut habe, sehr wohl das Schlechte verbieten und zum Guten zwingen dürften; (2) X 5.7.9 (Dekretale Lucius’ III. [1181–1185]); (3) X 5.7.10 (Dekretale Innozenz’ III. von 1199 [1198–1216]). Die beiden päpstlichen Dekretalen befassen sich mit Fragen der Bestrafung von Häretikern. Allerdings ist von einer Strafe Gottes für die im Strafen nachlässige Obrigkeit o. ä. in den Texten nicht die Rede; Innozenz III. weist allein darauf hin, daß man die harten Strafen, zu denen die Einziehung des gesamten Vermögens gehört, nicht aus Mitleid mit den rechtgläubigen Kindern verurteilter Häretiker mildern dürfe, denn in vielen Fällen würden auch nach Gottes Gericht die Kinder für die Sünden ihrer Väter an zeitlichen Gütern gestraft.

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Verbrechen um Gottes willen zu bestrafen, sondern Frömmigkeit (Non est crudelitas crimina pro Deo punire, sed pietas). Der Satz stammt von dem Kirchenvater Hieronymus (347–420),79 Ludwig der Heilige, König von Frankreich (1214–1270), soll ihn sich zu eigen gemacht haben, und schließlich wird er im 17. Jahrhundert zum Leitmotiv des berühmtesten deutschen Strafrechtlers, Benedict Carpzov (1595–1666). Allerdings kann eine Strafe nur dann ein solches Werk der Frömmigkeit sein, wenn sie der Richter weder aus Zorn, noch zur Befriedigung einer privaten Rache verhängt (non rancore, non priuata vindicta).80 In Platos „Staat“ (Politeia) liest Damhouder zudem: Schwere Strafen zu verhängen bedeute, das Übel zu verhindern. Denn weil Strafe die übrigen Bewohner eines Staats vorsichtiger und rechtsliebender mache, sei sie das Heilmittel für die Krankheit des Verbrechens.81

V. Schluß Plato und sein Ruf nach schweren Strafen öffnen die Tür ins 17. Jahrhundert. In ihm betont man in der strafrechtlichen Literatur immer stärker die Strenge des Richters, wobei sich die Entwicklung vollzieht vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges und der durch Krieg, Brutalität, Seuchen und Mißernten in weiten Kreisen der Bevölkerung angeheizten Endzeitstimmung. Benedict Carpzov rückt die Generalprävention durch grauenerregende Strafen in den Vordergrund der Strafzwecklehre. Er bezeichnet das Anliegen der Generalprävention als deterrare, abschrecken, ein Wort, das man in den Schriften des 16. Jahrhunderts noch selten findet.82 Nach seiner 79 C.23 q.8 c.13 (Hieronymus an Riparius): . . . Non est crudelitas pro Deo crimina punire, sed pietas. . . . Dieser Satz dient im Decretum Gratiani auch als Rubrik für das gesamte Kapitel. 80 Damhouder, Sententiae Selectae (Fn. 53), S. 150 f. 81 Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 54) Prooemium no. 5 (S. 2): Quam autem utilis, imo necessaria sit in delinquentes ea iustitiae pars, quae vindicatio a Philosophis appellatur, quam & animadversionem vocare licebit, docet diuinus ille Plato in lib. de Republica, cum ait: Dare poenas maximi mali euitatio est: facit enim alibi prudentiores & iustiores & medicina quaedam iniquitatis, ipsum est iudicium. Diese Früchte der humanistischen Plato-Lektüre sind allerdings vor dem Hintergrund der gängigen Strafpraxis zu sehen, in der Todes- und schwere Verstümmelungsstrafen nicht eben häufig verhängt und noch seltener tatsächlich vollstreckt wurden, vgl. bspw. Christian Carius, Buße, Bußenstrafrecht und peinliches Strafrecht im spätmittelalterlichen Stadtrecht, in: Günter Jerouschek/Hinrich Rüping (Hrsg.), „Auss liebe der gerechtigkeit vnd umb gemeines nutz willenn“. Historische Beiträge zur Strafverfolgung (Tübingen 2000), S. 83–111, 98 ff. 82 Etwa bei Gobler, Carolina-Kommentar (Fn. 52) Auctarium ad art. 104 (S. 85): Die Missetäter sind so zu bestrafen, daß ihr Anblick und ihr Beispiel andere davon abschrecken, Straftaten zu begehen (. . . ut conspectu exemploque deterreantur alii ab iisdem facinoribus); dieser Halbsatz ist ein nahezu wörtliches Zitat aus Dig.

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Ansicht soll möglich sein, was man im 16. Jahrhundert vehement als Ungerechtigkeit abgelehnt hätte: eine Tat schwerer zu bestrafen, als es im konkreten Fall angebracht ist, allein im Hinblick auf die abschreckende Wirkung der schwereren Strafe.83 Die gewünschte abschreckende Wirkung erreicht man allerdings nur mit öffentlichen Hinrichtungen und gegebenenfalls der Zurschaustellung der Leichname84 – die Bühne für das „Theater des Schreckens“ wird im 17. Jahrhundert aufgeschlagen. Warum wird gestraft? Bei der Frage nach dem Strafzweck konkurrieren in der frühen Neuzeit zwei Prinzipien: quia peccatum est versus ne peccetur,85 man straft, weil gesündigt wurde (der Aspekt der Vergeltung) oder damit nicht gesündigt werde (der präventive Aspekt). Beide Prinzipien haben ihren Platz in der Strafrechtspflege des 16. Jahrhunderts: quia peccatum est, weil eine Missetat begangen wurde, verfolgt die Obrigkeit den Täter und stellt ihn vor Gericht. Das verlangt die Gerechtigkeit. Je näher das 17. Jahrhundert rückt, desto stärker betont man den Topos der göttlichen Rache, die es durch die weltliche Strafverfolgung abzuwenden gilt.86 Gestraft dagegen wird ne peccetur, damit nicht mehr gesündigt werde. Josse de Damhouder betont 1554 in seiner Praxis Rerum Criminalia ausdrücklich: Man muß die Verbrechen bestrafen, aber nicht etwa, weil sie begangen wurden, denn man kann sie ohnehin nicht mehr ungeschehen machen, sondern damit nicht weiterhin ähnliche Verbrechen begangen werden, also nicht ein erfolgreicher Verbrecher als Beispiel für andere diene, die dann ebenfalls auf die schiefe Bahn geraten.87 48.19.28.15 (Schilderung des römischen Juristen Callistratus, wie berühmte Räuber in der Gegend, in welcher sie ihr Unwesen getrieben haben, öffentlich aufgehängt wurden, um andere davon abzuschrecken, ähnliche Räubereien fortzusetzen). 83 Benedict Carpzov, Practica Nova Imperialis Saxonicae Rerum Criminalium (Wittebergae 1670), p.3 q.101 n.17. Auch Carpzov beruft sich in diesem Zusammenhang auf Platos „Staat“. 84 Carpzov, Practica Nova (Fn. 83), p.3 q.101 n.19. 85 Helga Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen im Territorialstaat. Bedingungen und Auswirkungen des Systems strafrechtlicher Sanktionen im frühneuzeitlichen Württemberg (Köln-Weimar-Wien 1997), S. 124. 86 So etwa Damhouder, Sententiae Selectae (Fn. 53), S. 150 f. Vgl. dazu auch Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen (Fn. 85), S. 125. 87 Damhouder, Praxis Rerum Criminalium (Fn. 54) Prooemium no. 6 (S. 2): Castigare noxam oportet, non ob praeteritum delictum, cum id corrigi nequeat, sed ne iterum peccet: tum ne ipsius exemplo caeteri quoque peccent. Das Augenmerk der juristischen Autoren liegt durchweg auf der Generalprävention. Nur selten wird die „Besserung des Täters“ selbst als Strafziel genannt; eine Stütze für diese Funktion der Strafe finden die gelehrten Autoren in Dig. 48.19.20 (Si poena alicui irrogatur, receptum est commenticio iure, ne ad heredes transeat. cuius rei illa ratio videtur, quod poena constituitur in emendationem hominum: quae mortuo eo, in quem constitui videtur, desinit), zitiert bei Gobler, Carolina-Kommentar (Fn. 52) Auctarium

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Einig ist man sich, daß das Strafen allein der Obrigkeit zukommt, so wie der Apostel Paulus an die Römer geschrieben habe (Röm. 13,4): Die Obrigkeit ist Gottes Dienerin/dir zu gut. Thustu aber böses/so fürchte dich/Denn sie tregt das Schwert nicht vmb sonst/Sie ist Gottes Dienerin/eine Racherin zur straffe vber den der böses thut.88 Die Obrigkeit tritt auf als vindex, als gottgesandter Rächer. Ihre Strafe ist die vindicta publica, eine öffentliche Rache für ein Vergehen, das nicht nur die Rechtsgüter des Opfers, sondern auch die Allgemeinheit bedroht. Zu strafen heißt, Gerechtigkeit zu üben, und die Sorge um die Gerechtigkeit ist in der frühen Neuzeit für die Obrigkeit Pflicht und Privileg zugleich.

ad art. 104 (S. 84). Die Richter in ihrer praktischen Arbeit berücksichtigen dagegen bei der Festsetzung der Strafe ohnehin auch spezialpräventive Aspekte. Zu dem insofern „durch und durch pragmatischen“ Handeln der Württemberger Richter im 17. Jahrhundert vgl. Schnabel-Schüle, Überwachen und Strafen (Fn. 85), S. 124. 88 Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch (Fn. 41), S. 2290.

Die Carolina – Antwort auf ein „Feindstrafrecht“? Von Günter Jerouschek, Jena

I. Ein Rätsel und seine Lösung An den Anfang möchte ich ein in Gedichtform gekleidetes Rätsel stellen. Heute würde es allenfalls noch einem Rechtshistoriker gelingen, diese sogenannte Scharade zu lösen. Johann Peter Hebel, der alemannische Volksdichter, scheint es aber 1810, als er sie dem Verleger Cotta zur Veröffentlichung im „Morgenblatt“ zusandte, auch einem breiteren Publikum zugetraut zu haben. Ich gebe es in der von der Handschrift etwas abweichenden veröffentlichten Fassung wieder:1 „Ratet aus, ratet ein! Wie heißt des Kaisers Töchterlein? Wie heißt das grausame Mädchen? Einst spann es am blutigen Rädchen, einst schürt’ es hell die Flammen an zum Menschenbraten lobesam; dann zeichnet es rote Stickerei auf Judenhaut zu guter Frist; anjetzt es eine alte Jungfer ist, und doch sind ihm noch Männer treu.“

Was sich hinter „des Kaisers Töchterlein“ verbarg und zu erraten war, war, in hiesigem Themenzusammenhang wenig überraschend, die Carolina, die „Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.“ von 1532. Eine alte Jungfer war sie damals in der Tat, stolze 278 Jahre alt! Auch daß ihr „noch Männer treu“ wären, stimmt ja irgendwie, denn als Hebel die Zeilen zu Papier brachte, hatte die große partikularrechtliche Kodifikationsbewegung in den deutschen Territorien noch nicht eingesetzt, und die Carolina blieb, wie dies Hellmuth von Weber bezeichnete, „die Klammer, die die weitere Ent1 Johann Peter Hebel, Alemannische Gedichte, Hochdeutsche Gedichte, Rätsel, hrsg. von Wilhelm Zentner, Karlsruhe 1972, S. 404 (Nr. 27). Die eingesandte Originalfassung lautet: „Ratet aus, ratet ein! Wie heißt des Kaisers Töchterlein? Wie heißt das grausame Mädchen? Es spinnt am blutigen Rädchen. Es bläst die hellen Flammen an und bratet Menschen lobesam. Es zeichnet rote Stickerei auf Judenhaut zu guter Frist! Noch sind ihm ernste Männer treu, ob’s gleich jetzt eine alte Jungfer ist.“, ebd., S. 454.

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wicklung des Strafrechts in Deutschland zusammenhielt.“2 Insoweit konnten sich Männer – angespielt wurde auf die ‚Kriminalisten‘, wie man die Strafrechtler damals nannte – ihr noch durchaus angetraut fühlen. Freilich mußte sie im Laufe ihres langen Lebens auch viel Schelte, ja Häme ertragen, was heute irritieren mag.3 Württemberg etwa wurde vorgehalten, das Herzogtum und nachmalige Königreich hätte es bis 1838 zu keinem eigenen StGB gebracht,4 nachdem der Herzog 1551 die Carolina für verbindlich erklärt hatte. Für heutige Verhältnisse ist das ein kaum mehr vorstellbares Haltbarkeitsdatum für Gesetze! Ein Grund hierfür lag sicher auch darin, daß sie zu einer Institution des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation geworden war, und so manches Territorium bis zum Ende des Reichs 1806 vor einer Reform der Strafjustiz gerade deshalb zurückschreckte, weil man besorgte, dadurch den Reichsgedanken zu beschädigen.5

II. Folter und peinliche Strafen Was die Carolina anbelangt, so waren es vor allem zwei ihrer essentialia, die den Nachgeborenen so empörend erschienen: Einmal die Folter, die sich hinter dem in der Carolina gebräuchlichen Euphemismus „peinliche Frage“ verbirgt, und dann die von ihr bereit gehaltenen regulären Strafen, die sogenannten Poenae ordinariae wie Rädern, Verbrennen, Hängen, Ertränken oder Pfählen und Körperstrafen wie das Abhacken der Schwurfinger oder der Zunge. Die einfache Schwertstrafe wirkt da noch human. Die Folter selbst war eher kärglich geregelt. Sie wird zur Geständniserzwingung vorausgesetzt, und lediglich in Art. 566 wird das Maß ihrer Anwendung in das Ermessen eines guten vernünftigen Richters gestellt. Allerdings war der Carolina alles umfänglich zu regeln gar nicht angelegen, das 2 Hellmuth von Weber, Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., in: ZRG GA 77 (1960), S. 288. 3 Vergleichbare Invektiven richteten sich auch gegen den vom 17. bis ins 18. Jahrhundert hinein führenden Kriminalisten Benedict Carpzov, wenn sich aufgeklärte Strafrechtler wie Karl Ferdinand Hommel über seine grausamen Lehrsätze ereiferten. 4 Rudolf Ritter, Die Behandlung der schädlichen Leute in der Carolina, Breslau 1930, S. 93. 5 Für Kurmainz vgl. etwa Karl Härter, Kontinuität und Reform der Strafjustiz, in: Reich und Nation? Mitteleuropa 1780–1815, hrsg. von H. Duchhardt und A. Kunz, 1998, S. 219 ff., hier S. 221 f. 6 Verweise und Zitate beziehen sich auf die Reclam-Ausgabe die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. (Carolina), hrsg. von Friedrich-Christian Schroeder, Stuttgart 2000. Hierzu vgl. die Bspr. von Günter Jerouschek, in: JZ 20/2001, S. 1023–1024.

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blieb den Gemeinrechtlern vorbehalten, namentlich im Wege der Ratsuche. Außerdem hatte sie in der sogenannten „salvatorischen“ Klausel am Ende der Vorrede die Möglichkeit territorialrechtlicher Modifikationen ausdrücklich einräumen müssen, und Kursachsen regelte beispielsweise per Gesetz, daß die Folter höchstens drei Mal angewandt werden dürfe.7 Laut der Carolina waren es aber immerhin nicht mehr die Scharfrichter, die die Weichen in diesem neuralgischen Verfahrensstadium stellten oder über die anzuwendenden Strafen bestimmten.

III. Indizien Wichtiger war freilich noch das vorausgehende Stadium, in dem sich die Frage nach dem Ob der Folter stellte, und hierauf wiederum richtete die Carolina ihr Hauptaugenmerk. Ein ausgefeiltes Indizienrecht, zunächst allgemein, dann deliktsspezifisch, gibt den Richtern – von denen die Carolina nicht annimmt, daß sie gelernte Juristen wären – Regeln, oft mit beispielhaften Sachverhalten versehen, an die Hand, mit deren Hilfe sie die Verdachtsmomente gewichten sollten. Von dieser Abwägung der Indizien hing es ab, ob überhaupt ein Verfahren gegen einen Verdächtigen einzuleiten – Spezialinquisition – und sodann, ob die Folter indiziert wäre. Art. 19 hält sogar eine Legaldefinition bereit, um auf dem gemeinrechtlichen Tummelplatz, auf dem sich seit mehr als drei Jahrhunderten die unterschiedlichsten Definitionen für Indizien, Suspicionen und Präsumtionen versammelten, für Ordnung zu sorgen: „Item wo wir nachmals redlich anzeygen melden, da wöllen wir alwegen, redlich warzeichen, argkwon, verdacht, vnd vermutung auch gemeynt haben, vnd damit die überigen wörter abschneiden.“ Wie heute nicht anders, ging auch die Carolina nicht davon aus, man könnte die einschlägigen Indizien abschließend regeln, und so gab sie in Art. 24 dem Richter auf, für nicht angeführte Fallkonstellationen anhand der angeführten „gleichnuß“ zu nehmen, „wann nit möglich ist, alle argkwönige vnnd verdechtliche Felle vnd umbstende zubeschreiben.“ Sozusagen vor die Klammer gezogen wurden sodann allgemeine Indizien, die für alle Delikte gelten sollten, bevor ab Art. 27 die für die Anwendung der Tortur hinlängliche Indizienschwere geregelt wurde. Dabei war der Carolina durchaus bewußt, daß ein ermittelnder Richter neben be- auch entlastende Indizien zu gewärtigen hätte. Ausweislich von Art. 28 gewinnt man aber den Eindruck, als faßte die Carolina den Verdacht als eine Art widerleglicher Vermutung auf: Denn hiernach war der Richter gehalten, die eruierten Verdachtsindizien mit den vom Verdächtigen 7 Manfred Wilde, Die Zauberei- und Hexenprozesse in Kursachsen, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 45.

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vorgebrachten Entschuldigungsgründen ins Verhältnis zu setzen. Nur wenn erstere überwögen, sollte man zur Tortur schreiten dürfen. Im umgekehrten Fall war der Weg zur Tortur verschlossen, und im Zweifel sollte rechtsverständiger Rat gesucht werden. Sich um entlastende Indizien zu kümmern war also weniger Sache des Richters, als vielmehr die des in Verdacht Geratenen. Fremd war der Carolina damit auch der Satz in dubio pro reo, wenn sich be- und entlastende Indizien lediglich die Waage halten mußten, um für die Zuerkennung der Folter zu genügen, aber immerhin bildete für Friedrich Spee von Langenfeld diese gemeinrechtliche Abwägungsvorgabe ein Jahrhundert später den Ausgangspunkt, auch bei schwächeren Entlastungsindizien und geringeren Zweifeln an der Täterschaft für den Ausschluß der Tortur zu plädieren.8 Vielleicht konnte erst ein Nichtjurist wie Spee, der in seinem jesuitischen Grundstudium aber mit rechtstheologischer Denkungsart vertraut gemacht worden war, in der überkommenen Indiziendogmatik aber nicht so gefangen war wie ein gelernter Gemeinrechtler, das Abwägungsgebot dahingehend radikalisieren, daß jedes Entlastungsindiz, das Zweifel an der Täterschaft oder Schuld des Verdächtigen weckte, den Ausschlag gegen die Geständniserzwingung zu geben vermochte. Und womöglich hatte die nicht selten abenteuerliche Verdachtsschöpfung in Hexensachen wenigstens ein Gutes, daß sie nämlich dem hellsichtigen Jesuiten die Augen für einen grundlegenden Webfehler des gemeinen Strafprozesses öffnete. Denn die scheinbar gleichgewichtige Austarierung von Be- und Entlastungsindizien paßte nicht zum Inquisitionsprozeß, in dem Obrigkeit und später der Staat dem Rechtsbrecher den Prozeß machten. Die Strafverfolgung war längst keine Privatsache mehr, seit sie, ausgehend vom Grundsatz „ne crimina remaneant impunita“,9 dem höheren Interesse des Gemeinwohls diente, wie auch die Strafe eine metaphysische Dimension gewann.10

IV. Mord und Totschlag Lassen Sie mich kurz einige Beispiele für die indizienrechtliche Konzeption der Carolina geben. Überschrieben ist der Abschnitt vor Art. 33 mit „Von anzeygung: so sich auff sonderlich missethatten ziehen, vnd ist eyn jeder Artickel, zu redlicher anzeygung der selben missethat gnugsam, vnd darauff peinlich zu fragen“. Die Delikte, zu denen die Carolina die ein8 Hierzu vgl. Günter Jerouschek, Friedrich v. Spee als Justizkritiker, in: ZStW 108 (1996), S. 243–265, hier S. 257 f. 9 Günter Jerouschek, „Ne crimina remaneant impunita“, in: ZRG KA 2003, S. 323–337. 10 Harald Maihold, Strafe für fremde Schuld, Köln/Weimar/Wien 2005.

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schlägigen Verdachtsindizien anführt, beginnen mit dem Mord. Lediglich aus der Überschrift zu Art. 33 erhellt, daß sich für die Carolina der Mord vom Totschlag durch die heimliche Begehung unterscheidet. Das läßt sich sowohl mit dem Begriff der Meintat wie auch mit der prämeditierten Tötung aus Vorbedacht vereinbaren. Auf Folter sei z. B. dann zu erkennen, wenn der Verdächtige zur Tatzeit mit blutbespritzten Kleidern oder Waffen – ein altes gemeinrechtliches Beispiel – gesehen worden sei, oder der Verdächtige Hab und Gut des Getöteten an sich genommen, verkauft oder sonst wie weitergereicht habe oder noch im Besitze desselben sei. Konnte der Verdächtige keine glaubwürdigen Entlastungsindizien hierfür anführen, womit er vor der Folter zu hören sei, so sollte er der Folter unterzogen werden. Totschläge ereigneten sich demgegenüber vor allem in der Öffentlichkeit, und Art. 34 setzte sich mit der Frage auseinander, wie bei Schlägereien und sonstigem Aufruhr zu verfahren sei, wenn zwar jemand zu Tode käme, es aber niemand gewesen sein wollte. Freilich läßt diese Kontrastierung von Mord und Totschlag insoweit Fragen offen, als es ja auch Tötungen gab, die weder heimlich oder mit Vorbedacht noch in aller Öffentlichkeit erfolgten. Hierzu äußerte sich die Carolina nicht ausdrücklich, jedoch implizit, und das sogar dogmatisch ziemlich subtil. Denn im Zuge der Entwurfsredaktionen wurde die Frage aufgeworfen, ob, wenn man für den Mord den bösen Vorsatz voraussetzte, der Totschlag dann „unvorsetzlich“ begangen werde.11 Auch aus heutiger Sicht zu Recht setzte sich die Auffassung durch, die das Unterscheidungskriterium zwischen Mord und Totschlag keineswegs als Frage des Vorsatzes auffaßte, sondern den Totschlag als Affekttat begriff. Erfolgte die Tötung sozusagen „in der Hitze des Gefechtes“, dann blieb die Tötung zwar vorsätzlich, war aber lediglich mit der milderen Schwertstrafe zu ahnden. Folgerichtig wurde das zwischenzeitlich eingefügte „unvorsetzlich“ wieder gestrichen. Die Carolina kannte also sehr wohl einen Unterschied zwischen vorbedachtem – in Art. 137 spricht sie von „mutwillig“ – und schlichtem Vorsatz. Die verbreiteten Tötungen im Verlaufe von eskalierenden Ehrhändeln und Provokationen waren so beim Totschlag unterzubringen.12 11

Heinrich Zoepfl, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. nebst der Bamberger und der Brandenburger Halsgerichsordnung, Leipzig/Heidelberg 1883, S. VII. 12 Ebd., S. VIII. Offenbar wurde dem Protokollführer während der diesbezüglichen Beratungen von Art. 137 CCC etwas langweilig, denn ad marginem finden sich Bäumchen und Rädchen gemalt, ebd. Art. 250 CCB, der Vorsatz mit Vorbedacht gleichsetzte, wurde nicht übernommen; Elmar Geus, Mörder, Diebe, Räuber, Berlin 2002, S. 66.

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Die Strafen für Mord und Totschlag finden sich nicht am Beginn des Strafenkatalogs, sondern vielmehr am Ende, nämlich im Anschluß an Art. 136, der die strafrechtliche Tierhalterhaftung regelt.13 Das Rädern auf Mord und die Schwertstrafe auf Totschlag standen laut der Überschrift ausdrücklich unter dem Vorbehalt, daß die Täter über keine hinlängliche Entschuldigung verfügten. Lag eine solche Entschuldigung vor, dann sollten die Täter gem. Art. 138 „von peinlicher vnd burgerlicher straff entschuldigt“ sein. Ich glaube, man geht nicht fehl, wenn man in dieser bürgerlichen Strafe die überkommene Bußenstrafe sieht, die bei einer Tötung aus einer an die Obrigkeit zu entrichtenden Geldstrafe und der an die Opferseite auszukehrende Geldbuße, dem Wergeld, bestand. Die Bambergensis, das Vorbild der Carolina, verfügte in Art. 271 darüber hinaus, ein Totschläger, der sich nach einem Jahr „zu buss vnd besserung erpeut“14, könne obrigkeitlich freies Geleit gewährt bekommen, und das auch ohne Einwilligung der Verwandtschaft des Entleibten. Und im folgenden Artikel wird den Richtern aufgegeben, Geldbußen in peinlichen Sachen nur mit Einwilligung der Regierung zu verhängen.15 Den Vorrang genoß zum Zwecke der Ausrottung der Verbrechen und der Beförderung des Friedens und Gemeinnutzes aber die peinliche Strafe. Daß die Versühnung in praxi dem obrigkeitlichen Strafanspruch zuwiderlief, ersieht man auch daraus, daß in Worms eine solche den Parteien vor der Aburteilung durch das Ratsgericht untersagt war.16 Liest man hingegen in der Carolina, so sahen sich Strafen „zu buß vnd besserung“ auf Notwehrüberschreitungen beschränkt,17 und man könnte meinen, derlei überkommene Versühnungsanstalten seien obsolet gewesen. Dies war beileibe nicht der Fall.18 Der Hauptfall dessen, was die Carolina unter einer Entschuldigung des Totschlags verstand, war die Notwehr. Vergegenwärtigt man sich einmal die Regelungen der Notwehr in spätmittelalterlichen Rechtsbüchern und Landfrieden, so wird deutlich, daß das zentrale Problem bereits hier darin lag, wie die Berufung auf Notwehr gehandhabt werden sollte, wenn es kei13 Extraordinär sollte danach der Tierhalter bestraft werden, dessen Tier einen Dritten geschädigt oder entleibt hätte, obwohl dies zu besorgen war. 14 Zoepfl (Fn. 11), S. 182. 15 Ebd. 16 Josef Kohler/Carl Koehne, Wormser Recht und Wormser Reformation, I. älteres Wormser Recht, Halle/Saale 1915, S. 37. 17 Art. 142 CCC. 18 Vgl. bereits Julius Friedrich Malblank, Geschichte der Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von ihrer Entstehung und ihren weiteren Schicksalen bis auf unsere Zeit, Nürnberg 1783 (Nachdruck Aalen 1998), S. 12 f.; Andreas Blauert, Sühnen und Strafen im sächsischen Freiberg vom 15.–17. Jahrhundert, in: Rudolf Schlögl (Hrsg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 163–179.

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ne Zeugen gab. Von der Eideshilfe im Brünner Schöffenbuch19 bis hin zur bloßen Wergeldbuße, doch ohne peinliche Strafe, im Sachsenspiegel20 reicht die Palette an Lösungsmöglichkeiten. Demgegenüber fallen die die Notwehr traktierenden Artikel in der Carolina bei weitem umfänglicher aus, ein Indiz dafür, daß die Berufung auf Notwehr ein regelungsbedürftiges Gravamen darstellte. Wie auch in den spätmittelalterlichen Rechtstexten finden sich auch in der Carolina beispielhafte Sachverhaltskonstellationen zuhauf, der Grundtenor ist jedoch in Artikel 141 festgelegt, demzufolge derjenige, der sich „eyner gethaner notweer berümbt“, die Notwehrvoraussetzungen beweisen müsse. Mißlingt der Beweis, wird er für schuldig gehalten. Das Problem lag mithin nicht im Grundsatz, daß der tötende Notwehrer „darum niemants nit schuldig“ sei, sondern im prozessualen Nachweis. Die Fallbeispiele selbst leuchten auch heute noch unmittelbar ein und könnten unschwer auf den akademischen Unterricht hin abgewandelt werden. Ein weiteres Problem, das die frühneuzeitliche Gemeinrechtswissenschaft umtrieb, findet sich auch in der Carolina: Bei der eigentlichen Notwehr ist immer nur von der Bedrohung von Leib und Leben des Notwehrers die Rede, die Sachwehr bleibt unerwähnt. Bei der Nothilfe gemäß Artikel 150 hingegen erscheint auch des Dritten Gut als nothilfefähig. Während der Gesetzesredaktion hat man an dieser scheinbaren Ungereimtheit keinen Anstoß genommen. Ich komme darauf zurück.

V. Zauberei Als weiteres Beispiel für die indizienrechtliche Regelung des Verdachts möchte ich nunmehr auf die Zauberei zu sprechen kommen. Hinlängliche Indizien waren für Artikel 44 CCC einmal, wenn jemand sich als Zaubereilehrer andiente oder jemand einem Dritten drohte, ihn zu verzaubern und diesem das Angedrohte widerfuhr, oder wenn jemand mit Zauberern und Zauberinnen Gemeinschaft pflegte oder mit zaubereiträchtigen Dingen, Gebärden, Worten oder Handlungsweisen umging, und wenn diese Person auch noch der Zauberei berüchtigt war, dann sollte die Folter angewandt werden können. Vom berüchtigten Hexensabbat, der später für die notorischen Prozeßlawinen sorgte, ist hier nicht die Rede. Art. 109, der als „Straff der zauberey“ den Scheiterhaufen vorsah, hatte den Hexensabbat ebensowenig im Blick, denn er behielt die Feuerstrafe dem Schadenszauber vor, während Zauberei ohne angerichteten Schaden extraordinär auf rechtsverständigen Rat hin abgeurteilt werden sollte. 19

Brünner Schöffenbuch § 367, nach Wolfgang Sellert/Hinrich Rüping, Studienund Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1 (Wolfgang Sellert), Aalen 1989, S. 139. 20 Ssp. II 14 § 1, ebd., S. 137.

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Bei genauerem Hinsehen ist diese Fixierung auf Schadenszauber aber gar nicht so überraschend, wie es zunächst den Anschein hat. Denn die prominentesten deutschen Dämonologen, der Abt Johannes Nider O. P. und sein Ordensbruder Heinrich Kramer, der Inquisitor und Autor des Hexenhammers, hatten den Schwerpunkt ihres Verfolgungskonstrukts auf den Schadenszauber gelegt. Zwar kannten beide den im frankophonen Bereich dominierenden Hexensabbat, ohne ihm aber eine maßgebliche Rolle zuzumessen.21 Diese erhielt er erst im Zuge der ersten großen Verfolgungswelle nach 1561. Insofern verwundert es also nicht, wenn Bambergensis und, in ihrem Gefolge, auch die Carolina sich am Hexenhammer orientierten und den Schadenszauber als Deliktsschwerpunkt hervorkehrten. Wenn später der Hexensabbat als Deliktskonstituens hinzutreten sollte, so bildete die Carolina – leider – kein Hindernis. Artikel 105 erklärte für nicht geregelte Fälle, die Richter sollten sich beraten, wie man hier „diser vnser ordnung am gemessigsten“ vorgehe und urteile. Mit anderen Worten sah die Carolina hierfür ein Analogiegebot vor, und die Feuerstrafe auf Hexerei entsprach diesem durchaus. Bejahten Juristen eine solche Analogie, dann half auch Artikel 104 nicht mehr, der eine peinliche Strafe ausschloß, wenn die Carolina eine solche nicht vorsah. Gäbe es Artikel 105 nicht, so würde man hierin ein Analogieverbot ohne wenn und aber sehen.

VI. Diebstähle Ähnlich ausführlich wie die Notwehr sieht sich in der Carolina auch der Diebstahl geregelt, ein Anhaltspunkt dafür, daß dieser die frühneuzeitliche ‚Kriminalstatistik‘ angeführt haben dürfte. Eine Definition dessen, was ein Diebstahl sei, sucht man vergebens. Offenbar durften die Redaktoren darauf vertrauen, daß jedermann wisse, was ein Diebstahl sei. Allerdings finden sich am Ende des Diebstahlskapitels Artikel, die die Entwendung bestimmter Sachen einem Diebstahl gleich erachteten. Damit gaben die Redaktoren zu erkennen, daß sie diese Taten nicht dem Diebstahl im strengen Sinn zurechneten. Gesondert aufgeführt wurde die Wegnahme von Feldfrüchten (Art. 167) und Fischen (Art. 169) sowie das Schlagen und Stehlen von Holz (Art. 168). Betroffen waren also allesamt Sachen, die sich nicht im häuslichen Gewahrsam befanden, sondern an denen der Gewahrsam – in heutiger Terminologie – „gelockert“ war. Artikel 170 behandelte auch Mißbräuche, die wir heute unter Untreue und veruntreuende Unterschlagung subsumieren, analog dem Diebstahl. 21 Hierzu vgl. Günter Jerouschek, Heinrich Kramer. Zur Psychologie des Hexenjägers, in: Günther Mensching (Hrsg.), Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter, Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover 2002, Würzburg 2003, S. 113–137.

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Dabei war der Carolina eine tatbestandliche Definitionstechnik keineswegs fremd. Bereits Artikel 171, den straferschwerten Diebstahl heiliger und geweihter Sachen betreffend, listet akribisch auf, wann eine solche Erschwerung Platz greife, nämlich in dreierlei Weise: Einmal, wenn jemand Heiliges oder Geweihtes an geweihter Stätte stehle, dann, wenn jemand Geweihtes an ungeweihter Stätte stehle und zum dritten, wenn jemand Ungeweihtes an geweihter Stätte stehle. Gemäß Artikel 172 CCC war hier der schlimmste Fall derjenige des Diebstahls einer Monstranz samt Hostie, worauf die Feuerstrafe stand. Ähnlich setzt Artikel 111 genau auseinander, welche Merkmale vorliegen mußten, um den Tatbestand der Münzfälschung zu erfüllen: Das Schlagen mit fremdem Namen, das Zusetzen unrechter Metalle und die Gewichtsverringerung. Läßt man das Diebstahlskapitel Revue passieren, so präsentiert es sich in einer in sich schlüssigen Systematik. Unterschieden werden der heimliche Diebstahl unter 5 Gulden und der öffentliche Diebstahl. „Öffentlich“ meinte dabei gemäß Artikel 158 nicht das Stehlen in der Öffentlichkeit, sondern das lautstark-tumultuöse Betreffen des Diebs durch Dritte vor der Bergung des Stehlgutes. Dies wirkte straferschwerend, und der Dieb wurde an den Pranger gestellt. Beim einfachen „allerschlechtesten“, zunächst verborgen gebliebenen Diebstahl hatte es mit dem „zwispil“ sein Bewenden, freilich unter der Voraussetzung, daß es sich um eine Ersttat und eine solche, bei der nicht „gebrochen oder gestiegen“ wurde, handelte. Die Tat selbst war auch beim öffentlichen Diebstahl heimlich.22 Einbruchs- und Einsteigediebstahl wurden straferschwerend behandelt. Eingehend geregelt wurden Ersatzstrafen im Uneinbringlichkeitsfall, Straferschwerungen im Rückfall, der Diebstahl über 5 Gulden, der Diebstahl mit Waffen, der durch jugendliche Diebe, wo „die boßheyt das alter erfüllen möcht“, Familiendiebstahl, bei dem nicht inquisitorisch vorzugehen war, sowie der Mundraub. Ein Diebstahl unter Mitführung von Waffen wurde wegen der Nötigungs- und Verletzungsträchtigkeit beim männlichen Täter mit dem Strang, bei der Täterin mit dem Ertränken bestraft. In Artikel 163 wurde sogar auf die Konkurrenzenfrage eingegangen, wenn mehrere Erschwerungsgründe vorlägen. Hier war die Strafe nach dem schwersten Fall zu bemessen. Zwar machte Artikel 159 CCC beim Einbruchs-, Einsteige- oder Diebstahl mit Waffen keinen Unterschied, ob die Tat bei Tag oder Nacht verübt wurde, jedoch entschuldigte Artikel 150 das Erschlagen eines nächtlichen Eindringlings, unabhängig davon, was dieser im Schilde führte. Schon diese Regelung entschärfte die oben angeführte Frage der Sachwehr beträchtlich: 22 Anders Harald Siems, Die Lehre von der Heimlichkeit des Diebstahls, in: Jürgen Weitzel (Hrsg.), Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 85–152, hier S. 133.

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Die Tat war lediglich nicht der Notwehr subsumiert, galt aber trotzdem für entschuldigt. Der Notwehrer war übrigens auch nicht gehalten, den Erstschlag des Eindringlings abzuwarten und konnte ihm seinerseits zuvor kommen, worauf noch der BGH in einer Grundsatzentscheidung zur Gegenwärtigkeit des Angriffs im Rahmen von § 32 StGB zurückkommt.23

VII. Accusatio, Inquisitio, Urfehde Wenn behauptet wird, die Carolina hätte beim Scheitern des Überführungsbeweises nur den Freispruch gekannt, so ist dies nicht richtig. Richtig ist daran nur so viel, daß die CCC sich darüber nicht ausläßt und eigentlich nur so viel feststeht, daß eine Verurteilung zur Poena ordinaria ausgeschlossen war. Wer hieraus aber auf die alleinmögliche Alternative des Freispruchs schließen möchte, meint es zu gut mit der Carolina, denn sie kennt das Institut, das für diesen Fall einschlägig war: Die Urfehde. Zwar werden Landesverweisung und Urfehde auch dem oben erwähnten öffentlichen Dieb auferlegt, doch Artikel 20 zeigt, daß die Carolina die Urfehde auch in ihrer Funktion als Besiegelung einer gescheiterten Überführung kennt. Wurde der Verdächtigte gefänglich eingezogen und gegebenenfalls auch peinlich befragt, so schied, wenigstens grundsätzlich, eine Verurteilung zu einer peinlichen Strafe dann aus, wenn ein Geständnis nicht erlangt werden konnte. Für diesen Fall mußte der Verdächtige einen Rache- und Appellationsverzicht beschwören, zumeist in Verbindung mit einem Landesverweis auf Zeit oder auf Dauer. Waren die torturerheblichen Indizien zuvor gegeben, so wirkte dies für die Zuerkennung der Marter gemäß Artikel 61 entschuldigend, wenn nicht, so machte sich der Richter strafbar. Gemäß Artikel 20 sollte für diesen Fall dem widerrechtlich auf die Folter erkennenden Richter auch „keyn vrphede helffen“, wenn der Gepeinigte seine gekränkte Ehre und Schadensersatz einklagen wollte. Hinter der Urfehde verbirgt sich mithin die sogenannte Verdachtsstrafe, wie der extraordinär verhängte Landesverweis in Verbindung mit der beschworenen Urfehde in späteren Zeiten genannt wurde. Der despektierlich gemeinte Begriff wird freilich regelmäßig anachronistisch gebraucht und rekurriert auf das heutige Verdachtsverständnis, von dem das damalige beträchtlich abwich. Denn die Carolina folgte, Langbein24 zum Trotz, der gesetzlichen Beweistheorie, derzufolge eine Verurteilung zur Poena ordinaria nur beim Vorliegen einer Mindestmenge an Beweisen erfolgen konnte. In der Carolina wie auch sonst im gemeinen Recht war dies das Zeugnis von 23

BGH NJW 1973, S. 255. John H. Langbein, Torture and the Law of Proof. Europe and England in the Ancien Regime, Chicago/London 1977, S. 47 f. 24

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wenigstens zwei Wissenszeugen oder, wenn zwar starke Indizien für die Täterschaft vorhanden waren, nicht jedoch zwei Wissenszeugen, zusätzlich das im Zweifel zu erfolternde Geständnis. Mit anderen Worten konnte bei nur einem Wissenszeugen und sonstigen starken Indizien nicht ohne weiteres verurteilt werden. Ob nun bei ausbleibendem Geständnis auf jeden Fall und unabhängig von der sonstigen Beweislage gefoltert werden mußte, wie Schroeder meint,25 oder konnte, hängt davon ab, wie sich die beiden Prozeßformen, die die Carolina kennt, zueinander verhalten. Als Processus ordinarius, den ordentlichen oder „normalen“ Prozeß, sehen das gemeine Recht und nach ihm auch Artikel 11 CCC den sogenannten Akkusationsprozeß an. Hier gab es einen Kläger, der gegen einen Dritten vor Gericht eine Strafklage anstrengte und diese auch zu betreiben hatte. Er hatte die Beweise zu erheben und konnte gegebenenfalls auf die Folter antragen. Das Verfahren war auf Gegenseitigkeit hin angelegt, und der Kläger mußte Kaution erlegen, Bürgen stellen, oder sich auch, wurde der Beklagte in Untersuchungshaft genommen, seinerseits in Haft begeben. Scheiterte die Klage und hatte der Kläger diese fahrlässig erhoben, so drohte ihm gem. Art. 61 eine extraordinäre Strafe, vorsätzlich falsche Zeugen traf gem. Art. 68 die Talionsstrafe, nämlich die, die sie dem von ihm zu Unrecht Beklagten zugedacht hatten. In den Formen des Anklageverfahrens vollzog sich das Procedere grundsätzlich auch, wenn ein Kläger von Amts wegen auftrat.26 Dies war namentlich dann der Fall, wenn es sich um Delikte handelte, die, wie etwa Gotteslästerung, keinen privaten Verletzten kannten. Diese Klage von Amts wegen als Vorform eines Verfahrens von Amts wegen erübrigte sich freilich durch die zweite, von der Carolina genannte Prozeßform, die Artikel 6 dem Akkusationsprozeß beigesellte. Es war dies der Inquisitionsprozeß, der sich mit „Annahme von Amts wegen“ überschrieben findet. Hier wurde der Prozeß von Anfang an von der Obrigkeit betrieben, deren Richter ermittelten, Beweise erhoben, auf die Tortur erkannten und das Strafurteil sprachen. Die Strafe ließ die Obrigkeit sodann durch den Nachrichter vollstrekken. Den beschwerlichen Klägerhaftungen unterlagen die obrigkeitlichen Richter nicht, und sie trugen auch, von obigem Fall einmal abgesehen, kein Prozeßrisiko. Bezüglich des Modus procedendi erklärte Artikel 9 CCC die Vorschriften für den Anklageprozeß auch auf den Inquisitionsprozeß für entsprechend anwendbar, doch ist nicht zu verkennen, daß der Inquisi25 Schroeder (Fn. 6), S. 210. Wie hier Elmar Wadle, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reiches (1532), in: Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, Band 98, S. 73. 26 Carl Güterbock, Zur Reaktion der Bambergensis, Textkritische Untersuchungen, Königsberg 1910, S. 9.

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tionsprozeß viel formloser und schlagkräftiger als sein umständlicher Widerpart war. Für den Anklageprozeß sah nun Artikel 69 vor, daß bei verurteilungshinlänglichem Beweis mit zwei Wissenszeugen das Geständnis des Angeklagten zwar wünschenswert, aber für eine Verurteilung entbehrlich war. Damit erübrigte sich die Folter. Artikel 62 allerdings wollte den Ankläger zur Beweisung erst dann zulassen, wenn der Beklagte nicht bekennen wollte. Obwohl eigentlich mit Rücksicht auf Artikel 69 CCC hätte klar sein müssen, daß sich Artikel 62 nur auf Beweislagen unterhalb des Überführungsbeweises mit zwei Wissenszeugen beziehen konnte, zogen es viele Obrigkeiten vor, trotz eigentlich zureichender Beweisung noch zu foltern, wenn der Täter sich nicht zu einem Geständnis herbeiließ. Ohne Risiko war das nicht, denn diese Obrigkeiten verspielten damit die Möglichkeit, auch ohne Geständnis zur Poena ordinaria zu verurteilen. Was sich an dieser Praxis aber zeigt, ist der Rang des Geständnisses als „Regina probationum“ in der gemeinrechtlichen Beweismittelhierarchie. Wahrscheinlich wirkt hier auch noch der vorcarolinisch verbreitete Geständnisprozeß27 nach, bei dem das Geständnis die fehlenden Indizien ersetzte und wogegen CCB und CCC angetreten waren. Es kann keinen Zweifel leiden, daß die Folter den hohen Beweisanforderungen des gemeinen Strafprozesses geschuldet war. Wenn nach heutigem Beweisverständnis, das auf die richterliche Überzeugung nach freier Beweiswürdigung rekurriert, eine Beweislage mit einem Augenzeugen und sonstigen Indizien einer Verurteilung nicht entgegenstehen würde, so begründete dieselbe Beweislage nach gemeinrechtlichem Verständnis eben lediglich einen Verdacht. Die Verdachtsstrafe war also eine solche aufgrund so gewichtiger Indizien, angesichts derer wir, um mit Gustav Radbruch zu sprechen,28 heute ohne weiteres verurteilen würden. Der Verdacht von damals ist also die Verurteilungsgrundlage von heute, und der mit dem Verdikt vom Rückfall in die Verdachtsstrafe bemühte Vergleich hinkt.

VIII. Eine Supplik und ihre Folgen Wenn wir uns nunmehr der Frage zuwenden, wem und welchen Anlässen sich der Erlaß der Carolina eigentlich verdankte, so verweist schon die zeit27 Winfried Trusen, Strafprozeß und Rezeption, in: Peter Landau, Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitio Criminalis Carolina, Frankfurt a. M., S. 29–118, hier S. 85 nach Hans Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte, 6. Aufl. 1962, S. 173. 28 Gustav Radbruch, Zur Einführung in die Carolina, in: Gustav Radbruch, Arthur Kaufmann, Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 (Carolina), Stuttgart, 4. Aufl. 1975, S. 17 f.

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liche Koinzidenz auf die Errichtung des Reichskammergerichts im Jahre 1495. Denn nur ein oberstes Rechtsprechungsorgan im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation konnte landesherrliche und städtische Gerichte überhaupt zur Räson rufen, nachdem im selben Jahr auch der sogenannte Ewige Landfriede erlassen worden war. Wohl noch im Spätjahr 1496, spätestens aber Anfang 1497 wandte sich das Reichskammergericht von Frankfurt aus an den zu Lindau tagenden Reichstag, der sich vom 03.02.1497 an mit dem Erlaß einer Kammergerichts-Ordnung befaßte.29 Unter den von den Richtern und Beisitzern des Kammergerichts angeführten Gravamina befand sich auch die folgende Eingabe: „Item, so täglich wider ff., RSt. und ander oberkeit in clags wise einem gericht anbracht würt, das sie lüte unverschuldet, one recht und redelich ursach zum tode verurteylen und richten lossen haben sollen und durch die fründe recht wider dieselben begert, als dan in einer supplicacion hiebey gelegt sich ouch begeben hat, ist bescheyds not, wie es in demselben am KG. gehalten werden solt.“30

In Lindau wurde die Beratung hierüber auf den folgenden Reichstag zu Freiburg i. Br. 1498 vertagt und dort der folgende und folgenreiche Beschluß gefaßt: „Auf den artikel das viele zum tode one recht und unverschuldet verurtheilt worden, also lautend: Item so teglich wider Fürsten etc. – wirdet es not sein, deshalb ein gemein reformation und ordnung fürzunehmen wie man in criminalibus procedirn sol, und sol ein yeder hiezwischen nechster versammlung daheym davon ratschlagen und seinen ratschlag auf die nechste Versammlung bringen davon entlich zue beschließen.“31 Aufgegriffen wurde der Beschluß zwei Jahre später auf dem Reichstag zu Augsburg im Jahre 1500, der sich wiederum auf die Eingabe des Reichskammergerichts rückbezieht.32 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang, um was für eine Beschwerde es sich eigentlich gehandelt hatte, die das Kammergericht zu seiner Eingabe, unter deren Kürzel „item so teglich wieder fürsten etc.“ das Strafrechtsreform-Projekt künftig firmieren sollte, bewogen hatte. Zwar schreibt das Kammergericht, die „supplicacion“ sei beigelegt, doch sucht man sie in der einschlägigen Literatur zur Carolina vergebens, so bei Malblank33, dem frühesten Historisierer der Carolina, oder bei Güterbock34, bei Trusen und Wadle35, in der neuen und leserfreundlich kommentierten Re29 Deutsche Reichsgerichtsakten mittlere Reihe, Bd. VI, bearbeitet von Helmut Gollwitzer, Göttingen 1979, S. 310. 30 Ebd., S. 311. 31 Schroeder (Fn. 6), S. 132. 32 Ebd. 33 Malblank (Fn. 18). 34 Carl Güterbock, Die Entstehungsgeschichte der Carolina aufgrund archivalischer Forschungen und neu aufgefundener Entwürfe, Würzburg 1876, S. 18.

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clam-Ausgabe der Carolina von Friedrich-Christian Schroeder36 oder auch in der älteren Reichspublizistik37. Nachdem ich mich schon auf eine beschwerliche Archivrecherche eingestellt hatte, wurde ich endlich bei den Reichstagsakten doch noch fündig. Nachdem die Supplik vom Reichskammergericht als beispielhaft für die Gebrechen der seinerzeitigen Strafjustiz bezeichnet worden war, möchte ich sie im Wortlaut anführen: „Die suplicacion, davon obgemelt wirdt: Wolgeporner g. h., ich arme fraue bringe für, das bürger und rait zu Northuyssen Hermer Elyger verbrant und vom leben zu tode bracht, darumb das er sol falsch brieve geschriben und gemacht haben, wiewoil das lantroichtig ist und war, das er eyn luter leye waß und wider schreiben noch lesen konde, und meyn gedachten sone gewalt und unrecht getoin wider die gulden bullen, den 10jarigen fryden und die kgl. reformacion. des ich zusprach zu ine habe und ich ine der halben ggf. und hh. zumalen kerunge zu toin vorschriben und erclagt, mir ganz unfruchtbar und mich arme frauen umb all myn guit bracht und so groß gewalt getoin, das ich lieber tusent gulden verließen wollte, so ich die gehabt hette, dan solich groß gewalt dulden. und, nochdem sie, die gedachten von NOrthuyssen, dem hl. rich un mittel underworfen sint, und keynen andern richter wyß dan das loblich KG., wider die gemelten bürger und raide Northuyßen zu erkennen und mir entlichs rechts verhelfen. Margareta Eylgern“ (Elygern).38 Das Ratsgericht der Reichsstadt Nordhausen in Thüringen hatte mithin einen Analphabeten wegen Urkundenfälschung zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und hinrichten lassen, und die Mutter begehrte, durch fruchtloses Prozessieren in den Ruin getrieben, ihr Recht. Ob es sich bei der angeklagten Tat um die Verfertigung sogenannter „Schmähschriften“, wie sie in Artikel 110 CCC unter Strafdrohung gestellt werden, handelte, ist nicht zu sagen und spielt für den angeprangerten Rechtsbruch auch keine Rolle. Margarethe Eylgern begehrte also genau die Kompensation, von der Artikel 20 CCC ausgeht! Bemerkenswert ist auch die Rechtskundigkeit, die aus dem Beschwerdeschreiben spricht, und man möchte meinen, ein Notar hätte der Frau die Feder geführt. Ein eklatanter „Justizmord“ aus Nordhausen hatte also den Anstoß zum Erlaß der Carolina gegeben, ein Vorgang, wie er laut dem Reichskammergericht aber an der Tagesordnung war. 35

Trusen (Fn. 27), S. 85; Wadle (Fn. 25). Schroeder (Fn. 6), S. 132. 37 Johann Christian Lünig, Des Teutschen Reichs-Archiv, Partis Generalis Continuatio I, Leipzig 1713, S. 202. 38 Wie Fn. 29. 36

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IX. Die „Mater Carolinae“ Daß die CCC nach einer langen und schweren Geburt doch noch zustande kam, verdankt sich einer glücklichen Hand in der Reichsversammlung – vielleicht der Schwarzenbergs oder der Rotenhans39 –, die 1521 die damals modernste Peinliche Gerichtsordnung für das Fürstbistum Bamberg zur Grundlage der weiteren Entwurfsredaktion machte. Carolina und Bambergensis sind über weite Strecken nicht nur sachlich, sondern auch im Wortlaut identisch, und zu Recht firmiert die Bambergensis unter dem Titel „Mater carolinae“. So hatte beispielsweise Kursachsen schon bald nach Erlaß der Bambergensis im Jahre 1507 seine Kriminalrechts-Reformgesetzgebung an der Bambergensis ausgerichtet40 und brauchte so auch nach Erlaß der Carolina an seinem Recht nichts Grundlegendes zu ändern. Im Gegenteil ermöglichte die sogenannte Salvatorische Klausel, die auch auf Betreiben Kursachsens in die Carolina aufgenommen worden war, dem kursächsischen Recht Reformlegislativen von europäischer Tragweite. Die Carolina richtete sich also gegen ausgangs des 15. Jahrhunderts notorische Mißbräuche im Strafverfahren, und nicht von ungefähr besorgte der Ulmer Vertreter beim Städtetag zu Esslingen, das Reformvorhaben sei „zu nichts fürständiger als alle Übelthaten zu harzen und zu pflanzen“41. Der Frankfurter Deputierte wiederum sah in der Strafrechtsreform ein direkt gegen die Reichsstädte gerichtetes Unternehmen. Daran ist sicher so viel richtig, daß Bambergensis und Carolina dem peinlich Beklagten in erheblich größerem Umfang rechtliches Gehör schenkten als zuvor. Mit Verdächtigen kurzen Prozeß zu machen, war, folgte man den prozessualen Vorgaben, nicht mehr gut möglich. Die Strafen waren zwar nach heutigem Empfinden grausam, aber auch nicht grausamer als die seinerzeit geübte Strafpraxis. Aus heutiger Sicht gelinder war sicher das allenthalben gepflogene Bußenstrafrecht, doch erschien gerade dieses Bambergensis und Carolina als mit Gerechtigkeit und Gemeinnutz nicht vereinbar.42 Nach dem Strafverständnis der neuen Rechte schreckte es nicht ab und verfehlte damit seinen Zweck. Wie war nun die Strafverfolgung beschaffen, angesichts derer der Freiburger Reichstag von 1498 es für nötig erachtete, „ein gemein reformation und ordnung fürzunehmen wie man in criminalibus procedirn sol“? 39 Trusen (Fn. 27), S. 107 f. Schwarzenbergs Mitarbeit am Wormser Reichstag ist nur zu vermuten, nicht aber zu belegen, vgl. Geus (Fn. 12), S. 47. 40 Wilde (Fn. 7), S. 24 f. 41 Schroeder (Fn. 6), S. 135. Harzen meint ‚Baumwunden mit Harz verschließen‘. 42 Art. 272 CCB, Zoepfl (Fn. 11), S. 182.

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X. CCC als Antwort auf ein „Feindstrafrecht“ Seit dem 13. Jahrhundert zeichnen sich in Städten und Territorien Anstrengungen ab, die Beweisregeln des sogenannten altdeutschen Rechtsganges zu modifizieren und gegebenenfalls zu ersetzen.43 Insbesondere der Reinigungseid paßte nicht mehr in die Gesellschaft des späten Mittelalters. War es den Gottes- und Landfrieden ganz vordringlich noch um eine Eindämmung und rechtliche Einhegung der Fehde zu tun, die vermehrt als „licentia rapinorum“44, Freibrief zum Rauben, mißbraucht wurde, so findet sich davon in der Carolina kaum mehr etwas. Artikel 129 erlaubte sie mit Bewilligung des Königs und zur Selbstverteidigung gegen Feinde und aus sonstigen rechtlich anerkannten Gründen, Artikel 154 der Bambergensis gegen Friedbrüchige45. Eine ernsthafte Bedrohung für den Frieden wie ehedem stellte sie aber offenbar nicht mehr dar. Die neben der Fehde zweite Stoßrichtung der Frieden richtete sich gegen die sogenannten landschädlichen Leute. Strafverfolgungsrechtliche Vorkehrungen gegen den „terre dampnosus“46 wurden unter Friedrich II. im Statutum in favorem prinzipum 1232 getroffen, desgleichen gegen die „nocivi terrae“47 im Schlußartikel des sogenannten Mainzer Reichslandfriedens von 1235. Ob der „schädliche Mann“ ganz allgemein den Verbrecher bezeichnete oder sich dahinter eine spezifische Form der Kriminalität verbarg, ist seit alters streitig.48 Vergegenwärtigen wir uns die Quellen, so wird man dafürhalten dürfen, daß die schädlichen Leute zwar über keine scharf abgrenzbare Kontur verfügten, aber trotzdem eine bestimmte gesellschaftliche Gruppierung kennzeichnen sollten. Im Landfrieden wurde untersagt, „untedig schedeliche man“49 zu schirmen, wer sich vor Gericht nicht verantwortete, sollte ebenfalls für schädlich gelten, waffenführende Leute, die nicht in entsprechendem Dienst standen, sollten entweder in einen Herrendienst treten oder die Waffen ablegen, ansonsten sie gleichfalls für schädlich gel43 Wolfgang Schünke, Die Folter im deutschen Strafverfahren des 13. bis 16. Jahrhunderts, Jur. Diss. Münster 1952, S. 18, 159 f. 44 Elmar Wadle, Landfrieden, Strafe, Recht, Berlin 2001, S. 55. Desgleichen Otto von Zallinger, Der Kampf um den Landfrieden in Deutschland während des Mittelalters, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, IV. Ergänzungsband, Innsbruck 1893, S. 447 für das Jahr 920. 45 Zoepfl (Fn. 11), S. 27 f. 46 Otto von Zallinger, Das Verfahren gegen die landschädlichen Leute in Süddeutschland, Innsbruck 1895, S. 262. 47 Ebd. 48 Zur Kontroverse zwischen Zallinger und Zoepfl, Brunner, Knapp vgl. Ritter (Fn. 4), S. 8; auch Alfons Vogt, die Anfänge des Inquisitionsprozesses in Frankfurt am Main, in: ZRG GA 68 (1951), S. 266. 49 Vogt (Fn. 48), S. 262.

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ten sollten.50 „Spillude und lecker“51 konnten körperlich gezüchtigt werden, ohne daß ein Frevel, d.h. eine nach Stadtrecht ahndbare Tat vorlag. König Wenzel wies die Reichsstadt Frankfurt 1389 an, im nahen Bommersheim ein notorisches Verbrechernest auszuräuchern, überterritoriale Fahndungstrupps sollten Razzien veranstalten,52 wie auch oberitalienische Städte kriminelle Banden kannten, die „magis credantur vivere de raptu quam de proprio“, mehr vom Geraubtem als vom Eigenen zu leben schienen.53 Sie konnten umstandslos gefoltert werden. Noch 1512 wurde auf dem Trierer Reichstag beschwörend der „Unfried“ beklagt, der Wasser- und Landstraßen unsicher machte.54 König Rudolf ließ 1290 sechsundsechzig befestigte Unterschlüpfe schleifen,55 ein Hinweis darauf, daß auch zu Raubrittern herabgesunkene Adelige für schädlich erklärt werden konnten. Das Gros machten sie aber kaum aus, zu zahlreich sind die Hinweise auf gewerbsmäßige Diebes- und Räuberbanden und herumvagierende Gelegenheitskriminelle. Mit dem überkommenen volksgerichtlichen Verfahren mit Eideshilfe, Reinigungseid und Bußversühnungen war diesem Verbrechertum nicht beizukommen. Wollte man nun keinen schieren Krieg führen, sondern von Rechts wegen vorgehen, so mußte man Verklagungen erleichtern, den Reinigungseid verlegen und peinlich bestrafen. Modifiziert wurde das herkömmliche Übersiebnen nach Gefangennahme vor Gericht. Beispielhaft ist hier das Münchner Stadtrecht von 1347, das den Reinigungseid mit zwei Helfern dann verlegte, wenn ein Verleumdeter mit „siben Zeugen, die ez warz wizzent“56 überzeugt wurde. Er sollte sich mit Hilfe seiner Helfershelfer nicht länger freischwören können. Bei offenen Räubern und vermährten Übeltätern sollte der Schwur von sieben ehrlichen Männern, „daz sie wol vernomen haben an den steten, da die leut zu ainander chöment, daz er dem land als schedlich sey, daz man durch recht dem land über in richten soll“57, genügen, denn oft würden solche Leute aufgegriffen, ohne daß sie aber in handhafter Tat betroffen würden, womit man nichts auf sie zu schieben habe. Gegenüber dieser Überführung mit Zeugnis vom Hörensagen wirkt die Rechtsweisung König Heinrichs von Böhmen von 1312 für Tirol noch recht archaisch, ein Klagewilliger sollte sein wahres Wissen darum, daß 50

Zallinger (Fn. 44), S. 72. Kohler, Koehne (Fn. 16), S. 38. 52 Vogt (Fn. 48), S. 264, 267. 53 Hinrich Rüping, Günter Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. 2002, S. 20 (Rn. 43). 54 Güterbock (Fn. 26), S. 23 f. 55 Zallinger (Fn. 46), S. 5. 56 Ebd., S. 118. 57 Ebd. 51

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der oder die Gefangenen schädlich seien, mit zwei auf den Kopf des Beschuldigten gelegten Fingern beschwören, und sechs Eideshelfer sollten ihre Hände auf des Klägers Arm legen und beschwören, „daz der eit reyne sei und nicht mains.“58 Seit dem frühen 14. Jahrhundert erlangten Städte beim König Folterprivilegien59, Reichsstädte Leumundsprivilegien60. 1320 erlaubte König Ludwig IV. Nürnberg, Schädliche zu richten, wenn der Leumund so schwer sei, daß man besser über ihren Leib richte, als daß man es lasse.61 Gelangte der Rat zur Auffassung, der Verdächtige sei „besser todt denn lebendig“62, dann sollte man auf die peinliche Strafe erkennen können. Auch die Möglichkeit, Mehrheitsurteile zu fällen und dieses bei „beschlossener Tür“63 zu tun, stellte Überführungserleichterungen dar, wobei letzteres die Richter vor Racheaktionen der Verwandtschaft des Verurteilten schützen sollte. Wie hieraus erhellt, tut man gut daran, derlei Maßnahmen im Zusammenhang zu sehen, wie ja auch versucht wurde, das Übersiebnen mit dem Leumundsverfahren zu verbinden. Auch sind Bemühungen nicht zu verkennen, möglichst die wahren Täter zu richten. Auf der anderen Seite war es häufig schwer, sieben Leute beizubringen, sei es als Zeugen vom Hörensagen oder Eideshelfer, um das Verfahren in Gang zu bringen. Das schlichte Verfahren auf Leumund wiederum basierte auf einer allzu freien richterlichen Beweiswürdigung und konnte schlimmstenfalls in schrankenlose Willkür ausarten. Artikel 273 der Bambergensis wollte dementsprechend das Besiebnen und andere Mißbräuche abgeschafft wissen.64 Zu leicht konnten auch mißliebige Unschuldige, unbescholtene Bürger Opfer dieses gegen die Landschädlichen gerichteten „Feindstrafrechts“ werden und wurden es auch,65 das von den durch die Gemeinrechtswissenschaft entwickelten Kautelen unangefochten blieb. Daran änderte sich auch nichts, als man seit dem 14. Jahrhundert vermehrt dazu überging, einen Ausweg aus kaum praktikablen Förmlichkeiten und willkürträchtiger Regellosigkeit im – im Zweifel erfolterten – Geständnis des Berüchtigten zu suchen. Einen Eindruck von der zeitgenössischen 58

Ebd., S. 149. Günter Jerouschek, Die Herausbildung des peinlichen Inquisitionsprozesses im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Paul Néve/Chris Coppens (Hrsg.), Vorträge gehalten auf dem 28. Deutschen Rechtshistorikertag Nijmegen 1992, S. 95–126, hier S. 123. 60 Jerouschek (Fn. 59), S. 123; Zallinger (Fn. 46), S. 220. 61 Zallinger (Fn. 46), S. 210. 62 Ebd., auch Malblank (Fn. 18), S. 65. 63 Zallinger (Fn. 46), S. 210; Jerouschek (Fn. 53), S. 33 (Rn. 74). 64 Zoepfl (Fn. 11), S. 182. 65 Schünke (Fn. 43), S. 36, 53. 59

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Strafrechtspraxis vermittelt auch ein bambergischer Vorgang. Wenige Jahre vor Erlaß der Bambergensis, 1503, hatte hier der Rat einem hohenzollernschen Amtmann einen recht brüsken Verweis dafür erteilt, daß er schädliche Buben ausweise, ohne sie zuvor der Folter zu unterziehen.66 Umgekehrt beschwerten sich 1452 fünf Fürsten beim Bamberger Fürstbischof, ihre Untertanen würden im Bambergischen ohne viel Federlesens auf die Folter gespannt.67 In der Tat scheint man mit der Folter schon früh recht locker umgegangen zu sein. Kaiser Karl IV. schildert in seiner Selbstbiographie ein zur Selbststilisierung dienendes Exempel: Von seinem Vater nach Reichsitalien gerufen, machte der nachmalige böhmische König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Quartier in Pavia. Da er zu Ostern beim Hochamt kommunizieren wollte, verzichtete er auf das Frühstück. Nach der Rückkehr von der Messe stellte sich heraus, daß etliche aus seinem Gefolge, die zuvor gefrühstückt hatten, erkrankt waren. Karl aber – sein Taufname war übrigens Wenzel – wurde eines hübschen und gewandten Jünglings gewahr, der vor einem Tisch auf- und abging und sich stumm stellte. Karl schöpfte Verdacht, ließ ihn gefangennehmen, und „post multa tormenta tercia die locutus est et confessus fuit, quod ipse in coquina cibariis toxicum immiserat“68, nach vielen Foltern redete er am dritten Tag und gestand, daß er in der Küche Gift in die Speisen gemischt habe, auf Befehl und Betreiben Luchino – die unzuverlässige Übersetzung hat Azzo!69 – Viscontis von Mailand, Karls letztlich siegreichem Gegner. Und wenn Schünkes Resümee stimmt, dann ist im 15. Jahrhundert substistenzloses Gesindel schon prophylaktisch aufgebracht und gefoltert worden.70 Grund genug für Beschwerden scheint es also durchaus gegeben zu haben, wie ja auch der vom Kammergericht zum Beispiel genommene Nordhäuser Justizskandal zeigt. Diese außer Kontrolle geratende Strafverfolgung zu reglementieren und in eine rechtliche Form zu gießen, war das Anliegen der Carolina. Bambergensis und Carolina waren so mehr Grundstein für eine neue Epoche des Strafrechts als Schlußstein einer älteren Entwicklung. Gelungen ist es ihr aber nur halbwegs. Denn ohne das zu Beweiszwecken erfolterte Geständnis hätte es die Hexenprozesse nicht gegeben, wie dies gerade das Beispiel des Fürstbistums Bamberg schauerlich vor Augen führt.71 Doch hätte es diese ohne 66

Ebd., S. 38. Ebd. 68 Vita Caroli Quarti, Hanau 1979, S. 36. 69 Ebd. 70 Schünke (Fn. 43), S. 21, 38. 71 Britta Gehm, Die Hexenverfolgung im Hochstift Bamberg und das Eingreifen des Reichshofrates zu ihrer Beendigung, Hildesheim 2000. 67

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die Carolina mit größter Wahrscheinlichkeit in noch dramatischerem Ausmaß gegeben. Dies ist freilich zugegebenermaßen ein schwacher Trost.

XI. Zur Autorschaft Schwarzenbergs Lassen Sie mich am Schluß noch kurz auf den seit Trusens Abhandlung wieder aufgeflammten Streit um die Verfasserschaft an der Bambergensis und damit auch an der Carolina eingehen. Zweifel an der Verfasserschaft Schwarzenbergs wurden bereits Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts immer wieder vorgebracht, doch eher verhalten, um das „Genie“ Schwarzenbergs nicht anzutasten. Eine heldensüchtige Zeit wollte vermeiden, daß auf den großen Deutschen Schwarzenberg auch nur der leiseste Schatten fiele. Der praktisch einzige Hinweis auf Schwarzenberg als Verfasser stammt aus der Vorrede des postumen Herausgebers seiner OfficienÜbersetzung, wobei seine staatsmännische Leistung als politisch führender Kopf der Reformbewegung nach wie vor so gut wie unbestritten ist. Nachdem im vergangenen Jahrhundert vornehmlich Güterbock72 Vorbehalte gegen die Stilisierung Schwarzenbergs zum alleinigen Autor der Bambergensis angemeldet hatte und dafür auch gute Argumente, betreffend vor allem den Sprachgebrauch und die fehlenden juristischen Vorkenntnisse73, beizubringen vermochte, griff Trusen darauf zurück und bezog auch den verfassungsrechtlichen Kontext des Fürstbistums Bamberg ein, der einer Alleinverfasserschaft Schwarzenbergs vollends widerriet. Manchmal gerät freilich seine kritische Auseinandersetzung mit der Monographie Scheels74, der als Historiker der nachmaligen communis opinio von der Alleinverfasserschaft Schwarzenberg entscheidend Vorschub geleistet hatte, zu polemisch, so etwa wenn er sich immer wieder über die „Zettel“75 mokiert, auf denen juristisch versierte Kollegen Schwarzenbergs zugearbeitet hätten, ohne daß es den geringsten Anhaltspunkt für eine solche Freundeshilfe auf Pergament gäbe. Wurde schon aus rein sprachlicher Sicht moniert, daß die in der Bambergensis enthaltenen Fremdwörter und juristischen Termini technici unmöglich aus der Feder Schwarzenbergs stammen könnten,76 so spricht endlich gegen die Verfasserschaft auch der völlig andersartige Stil, in dem Schwarzenberg seine sonstigen, humanistisch inspi72

Güterbock (Fn. 26). Befremdlicherweise figuriert Schwarzenberg in einer gelehrten Rezension als einer der „führenden Juristen der Zeit“, vgl. Hermut Löhr, Bspr. von Volker Mantey, „Zwei Schwerter – zwei Reiche“, Tübingen 2005, in: FAZ vom 02.11.2005, S. 40. 74 Willy Scheel, Johann Freiherr zu Schwarzenberg, Halle/Saale 1905. 75 Trusen (Fn. 27), S. 104 f., 93 f., hier die Insinuierung, Scheel habe seine eigene Zuarbeit für Kohler auf Schwarzenberg übertragen. 76 Güterbock (Fn. 26), S. 3 f., 94. 73

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rierten Werke verfaßt hat. Dazu paßt der durchweg altertümelnde Sprachduktus, in dem Bambergensis und Carolina gehalten sind, nun überhaupt nicht, und ich habe hierin, anders als Schroeder77, weniger einen Hinweis auf die Bandbreite von Schwarzenbergs Sprachvermögen gesehen als vielmehr ein weiteres Argument, die Verfasserschaft Schwarzenbergs einmal mehr zu hinterfragen.78 Ich denke, wir sollten uns von der Legende, Schwarzenberg habe die Bambergensis verfaßt und sei so auch für die Carolina federführend geworden, verabschieden.

77 78

Schroeder (Fn. 6), S. 145: „bewußt altertümliche Sprache“. Jerouschek (Fn. 6).

Feuerbachs Lehre von der Funktionstüchtigkeit des gesetzlichen Strafens Von Wolfgang Naucke, Frankfurt a. M.

I. Einleitung Mit meinem Bericht über Johann Paul Anselm Feuerbachs strafrechtliche Lehren ist diese Ringvorlesung über die Geschichte des Strafgedankens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert angekommen. Feuerbachs berühmte epochemachende Bücher sind die „Revision“ der Grundbegriffe des Kriminalrechts in 2 Bänden 1799/18001 und das „Lehrbuch“ des Kriminalrechts, 18012. Diese Bücher formen die moderne juristische Welt des gesetzlichen Strafens in Theorie und Praxis.3 Vielleicht reizt es das Interesse an Feuerbach und seinen Lehren, wenn ich notiere, daß der Autor, 1775 geboren, beim Erscheinen jener Texte gerade das 25./26. Lebensjahr erreicht hatte und schon ein bekannter wissenschaftlicher Schriftsteller war. Die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist für das Strafrecht eine umwälzende Zeit. Das moderne Strafrecht gewinnt Profil. Dieses Strafrecht will sein: säkular (also weltlich, nicht mehr religiös begründet), rational, gesetzlich und human.4 Ich versuche, Feuerbachs Beitrag zu dieser Modernität zu würdigen. Mit „würdigen“ meine ich: darstellen und mit Distanz inter1 Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil 1 1799, Teil 2 1800 (Nachdruck 1966). 2 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 1. Aufl., 1801, 14. (letzte) Aufl., 1847. 3 Eine Gesamtdarstellung der schwankenden Feuerbach-Rezeption seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts fehlt freilich. Grunddaten bei: Lüderssen, Einleitung zu: Paul Johann Anselm Feuerbach und Carl Joseph Anton Mittermaier, Theorie der Erfahrung in der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, 1968, S. 8 ff., Naucke, Paul Johann Anselm Feuerbach. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstags am 14. November 1975, ZStW 87 (1975), S. 871 ff. und Helga Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, 1984. Zahlreiche Beiträge zur Wirkungsgeschichte Feuerbachs in: Gedenkkonferenz für den Juristen P. J. A. Feuerbach, Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 4/1984, und in: Gröschner und Haney (Hrsg.), Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1775–1833) für die Gegenwart, ARSP-Beiheft 87, 2003.

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pretieren. Bei Feuerbach zeigen sich die Stärken und die Schwächen des modernen Strafrechts.

II. Johann Paul Anselm Feuerbach Aber zuvor noch einige Worte zur Person J. P. A. Feuerbachs. Die Person Feuerbachs läßt sich von seinen strafrechtlichen Lehren kaum trennen.5 Johann Paul Anselm Feuerbach wird 1775 in Hainichen geboren. Das Dörfchen Hainichen in den Thüringer Bergen bei Jena ist ein auffälliger Geburtsort für einen künftig weltberühmten Strafrechtler.6 Nach Hainichen hatte sich seine unverheiratete Mutter, die Jenenser Bürgerstochter Sophia Krause, zurückgezogen. Johann Paul Anselm Feuerbach wird 1775 als uneheliches Kind geboren. Sein Vater ist der 20jährige Jenenser Jurastudent Feuerbach aus Frankfurt a. M., der nach der Geburt des Sohnes Sophia Krause heiratet und später mit der Familie in seine Heimatstadt Frankfurt a. M. zurückkehrt. Johann Paul Anselm Feuerbach stirbt 1833 in Frankfurt a. M.,7 57 Jahre alt, wissenschaftlich hoch geehrt, zum Ritter von Feuerbach geadelt, Präsident eines Appellationsgerichts, Bayerischer Wirklicher Staatsrat und Träger vieler Orden. Übrigens: der Philosoph Ludwig Feuerbach ist sein Sohn, der Maler Anselm Feuerbach sein Enkel. Johann Paul Anselm Feuerbachs Leben zwischen Hainichen 1775 und Frankfurt a. M. 1833 ist verfaßt in drei Berufsepochen, die immer neues 4 Übersichten: E. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1965, §§ 203 ff.; Rüping/Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl., 2002, S. 150 ff.; Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846, 2002, S. 175 ff.; Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, 2002, S. 80 f. 5 Vgl. vor allem: Paul Johann Anselm von Feuerbach, Biographischer Nachlaß, veröffentlicht von seinem Sohn Ludwig Feuerbach, 2. Ausgabe 1853 (Neudruck 1973); s. auch Kipper, Johann Paul Anselm Feuerbach. Sein Leben als Denker, Gesetzgeber und Richter, 1969; Kräupl und Maultsch, in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 78 ff. und 91 ff. Wichtig für den späten Feuerbach: Küper, Das Verbrechen am Seelenleben, Feuerbach und der Fall Kaspar Hauser, 1991, S. 12 ff. 6 Am Ortseingang von Hainichen ist 1983 zum 150. Todestag Feuerbachs ein Gedenkstein eingerichtet worden. Neben den Lebensdaten trägt er die Aufschrift: „Humanistischer Rechtsgelehrter, Gesetzgeber, Richter“. 7 Feuerbach ist im alten Teil des Frankfurter Hauptfriedhofs begraben. Auf der Grabplatte steht: „Johann Paul Anselm von Feuerbach geb den XIV Nov MDCCLXXV gest den XXIX Maj MDCCCXXXIII insigne moestis praesidium reis et consulenti curiae“

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Material für das rechtswissenschaftliche und gesetzgeberische Werk liefern.8 Feuerbach flieht nach einem heftigen Familienstreit 1792 von Frankfurt zu den Verwandten nach Jena, ein Glücksfall für die Strafrechtsgeschichte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist Jena ein Zentrum für die Auseinandersetzung mit der kantischen Philosophie. Feuerbach wird mit 17 Jahren Student der Philosophie und liest Kant so intensiv, daß er einem Freund mitteilen kann: „der Kant’sche Geist“ hat mich „genährt“9. Die Veröffentlichungsliste beginnt mit philosophischen Abhandlungen, z. B. über den Begriff der Natur.10 1796 wird Feuerbach Student der Rechte. Zwar, wörtlich: „Die Jurisprudenz war mir von meiner frühesten Jugend an in der Seele zuwider“, aber er braucht, wieder seine eigene Formulierung, ein Fach, „das schneller als die Philosophie Amt und Einnahme bringe“.11 Seine spätere Frau, Wilhelmine Tröster, erwartet ein Kind von ihm. Feuerbach gewinnt in Jena schnell Ansehen.12 Er promoviert in Philosophie und Jurisprudenz, publiziert fleißig, beginnt 1799 die juristische Lehrtätigkeit und wird Mitglied des Jenaer Schöppenstuhls13. Der Schöppenstuhl war ein Gericht, das nach den Regeln des damaligen Prozeßrechts aus Mitgliedern einer juristischen Fakultät bestand und für Instanzgerichte Rechtsgutachten erstattete, in Strafsachen etwa über die Zulässigkeit der Folter oder der Todesstrafe. Feuerbach geht 1801 als Professor nach Kiel, schimpft alsbald über die holsteinischen Studenten: „Die viele Grütze und das häufige fette Rindfleisch muß sich endlich auch den Köpfen mitteilen“14, eine Formulierung, die typisch 8 Informative Gliederung dieser Epochen: Haney, Lebensdaten von P. J. A. Feuerbach, in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 204 ff.; ausführlich: Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben, 1934 (= Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 6 1997, bearbeitet von Haney, S. 27 ff.). Knapp und lehrreich: Blau, Paul Johann Anselm Feuerbach, 1948. Für die dritte Epoche s. besonders: Küper (Fn. 5). 9 Paul Johann Anselm von Feuerbach (Fn. 5), 1. Band, S. 51. 10 Genaue Liste der Veröffentlichungen Feuerbachs von Haney, in: Feuerbach, Naturrecht und positives Recht, ausgewählte Texte von Paul Johann Anselm Feuerbach, herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Gerhard Haney, 1993, S. 371 ff.; erweiterte Fassung von Haney, in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 209 ff. 11 Paul Johann Anselm von Feuerbach (Fn. 5), 2. Band, S. 137 f. 12 S. Wolfgang Müller, Paul Johann Anselm Feuerbach. Leben und Wirken in Jena (1792–1802), in: Gedenkkonferenz für den Juristen P. J. A. Feuerbach (Fn. 3), S. 441 ff. Die Universität Jena hat 1983 am Fürstengraben eine von Karl-Heinz Appelt geschaffene Feuerbach-Büste aufstellen lassen. Auf dem Sockel steht: „Paul Johann Anselm Feuerbach Jurist 1775–1833“. 13 Feuerbachs Tätigkeit am Jenaer Schöppenstuhl ist beschrieben von: Kipper (Fn. 5), S. 32 ff. 14 Das Zitat ist übernommen von Radbruch (Fn. 8, Gesamtausgabe), S. 94.

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ist für Feuerbachs hochgespannte Aggressivität im Denken, Schreiben und Handeln. Feuerbach veröffentlicht in Kiel zu zivil- und strafrechtlichen Fragen und wird wieder Richter des Schöppenstuhls.15 1804 geht Feuerbach an die Universität Landshut, Vorgängerin der Universität München. Bei den Studenten hat er großen Erfolg. Mit den Kollegen gibt es schwere Zerwürfnisse. Feuerbach berichtet: „Die Verhältnisse der Professoren sind Verhältnisse von Teufeln“16. Von der Universität Landshut wird er 1805 in das – nach heutigem Sprachgebrauch – Justizministerium in München berufen. Damit endet nach nur sechs Jahren Feuerbachs brillante, mit richterlicher Tätigkeit durchsetzte Universitätslaufbahn; er ist 30 Jahre alt. Im Münchener Justizministerium arbeitet Feuerbach als – wieder nach heutigem Sprachgebrauch – maßgebender Gesetzgebungsreferent. Seine Zuständigkeiten sind vielfältig: Strafrecht, Prozeßrecht, Zivilrecht, Gnadenrecht. Berühmt aus dieser Zuständigkeit wird das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813. Feuerbach hat es nach seinen Prinzipien entworfen. Es gilt als beispielhaft modern, weil es eine strikte rationale Gesetzlichkeit praktisch ausführt.17 Die glanzvolle Zeit als einflußreicher Justizbeamter endet 1814, nach 9 Jahren, als Folge heftiger persönlicher und sachlicher Auseinandersetzungen im Ministerium. Es beginnt die dritte und längste Berufsepoche als hoher Richter in Bamberg und Ansbach von 1814 bis zu seinem Tod 1833.

III. Feuerbachs psychologische Zwangstheorie 1. „Keine Strafe ohne Gesetz“ § 1 StGB heutiger Fassung formuliert den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“. Der gleiche Grundsatz findet sich – nur eine Auswahl – in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (Art. 11), im Grundge15

Bericht über diese Tätigkeit mit vielen Einzelheiten bei Kipper (Fn. 5), S. 37 ff. Paul Johann Anselm von Feuerbach (Fn. 5), 1. Band, S. 95. 17 Die im Anschluß an Radbruch häufig wiederholte Kennzeichnung des BayrStGB v. 1813 als „groß, bahnbrechend und vorbildlich, vor allem durch seine Form, durch seine Gesetzessprache und Gesetzestechnik“ (Fn. 8, Gesamtausgabe, S. 123; übernommen von E. Schmidt [Fn. 4], § 248) bedarf der Überprüfung. Man braucht Geduld und lange Einarbeitung, um das Gesetzbuch überblicken und in seinen Einzelheiten verstehen zu können. Die vielgelobte „Form“ (s. das Zitat von Radbruch oben, weiter Kipper [Fn. 5], S. 67) ist schwach. Die Tendenz, alles bis ins Kleinste zu regeln, herrscht vor. Viele Bestimmungen sind Lehrbuch- oder Kommentartexte. Das preußische ALR von 1794, mit dem das BayrStGB v. 1813 zu seinem Ruhme verglichen wird (E. Schmidt [Fn. 4], § 261; Kipper [Fn. 5], S. 67) ist besser verstehbar als das BayrStGB von 1813. Die Entwicklung der Gesetzestechnik vom ALR 1794 zum BayrStGB 1813 muß erst noch interpretiert werden. 16

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setz von 1949 (Art. 103 II), in der Verfassung des Landes Hessen von 1946 (Art. 21) als Beispiel für eine deutsche Landesverfassung, in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte von 1950 (Art. 7), im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (Art. 15) und im Entwurf einer Verfassung für Europa von 2003 (Teil II Titel VI Art. II – 49). Die Gesetzlichkeit des Strafens ist festes Gesetz. Als Quelle dieses Prinzips gilt Feuerbachs Lehre von der notwendigen Gesetzlichkeit des Strafens. Die konzentrierteste Fassung hat Feuerbach im Lehrbuch des Strafrechts 1801 gefunden. Wörtlich: „. . . Jede Zufügung einer Strafe setzt ein Strafgesetz voraus. (Nulla poena sine lege) . . .“18

Der Gedanke ist nicht neu. Feuerbach übernimmt ihn aus der aufklärerischen Debatte über ein rationales gesetzliches Strafrecht des 18. Jahrhunderts. Aber Feuerbach entfaltet diesen Gedanken mit einer Genauigkeit und einer Härte wie keiner vor ihm. Den Grundriß von Feuerbachs Argumentationsgebäude will ich skizzieren. Eine Vorbemerkung: die Gesetzlichkeit des Strafens wird heute allgemein und formelhaft als rechtsstaatliches Prinzip angesehen, das den Bürger gegen willkürliches Strafen schützt. Aber das ist nicht Feuerbach. Die Sache mit dem Schutz des Bürgers durch das Gesetz ist heikler – gerade wegen Feuerbachs Lehre. 2. Begründung der strafrechtlichen Gesetzlichkeit Fragt man heute einen Strafrechtler, wie die Forderung nach Gesetzlichkeit des Strafens zu begründen ist, erhält man die einfache Antwort: die Verfassung (Art. 103 II GG) verlangt dies. Für Feuerbach und seine Zeitgenossen ist die Antwort intellektuell ungleich schwieriger. Verfassungen, die das Prinzip der notwendigen Gesetzlichkeit des Strafens enthalten, gibt es in Deutschland noch nicht. Feuerbach beginnt strafrechtlich zu denken und zu schreiben um 1800. Ich wiederhole einige strafrechtliche Charakteristika dieser Zeit. Die Rechtstheorie um 1800 ist säkular. Eine rechtstheologische Begründung – dieses oder jenes Strafrecht entspricht Gottes Willen – ist nicht mehr möglich. Feuerbach muß und will die Gesetzlichkeit des Strafrechts weltlich, d.h. aus den Bedürfnissen der Menschen begründen. Feuerbach folgt 18 Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 3. Aufl., 1805, § 20 I. Ausführliche Interpretation dieser Stelle auf der Grundlage von Feuerbachs Erkenntnistheorie und Staatslehre: Cattaneo, Anselm Feuerbach, filosofo e giurista liberale, 1970; Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, 1962, S. 39 ff.; Arnold, Neue Fragen an den Satz „nullum crimen, nulla poena sine lege“, in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 107 ff.

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dabei den Begründungsschritten, die seit Hobbes, seit dem 16. und 17. Jahrhundert, als säkulare juristische Denkformen bekannt sind, präzisiert diese Schritte und wandelt sie ab. Als ersten Schritt konstruiert die säkulare Rechtstheorie einen sog. Naturzustand. Dieser Naturzustand ist gekennzeichnet durch Rechtlosigkeit. Jeder Mensch kann seine Macht gegen den anderen Menschen nützen. Der Mächtige setzt sich durch, muß aber seinerseits den noch Mächtigeren fürchten. Der Mensch hat ein Bedürfnis, so diese Theorie, den Naturzustand zu beenden und in einen Zustand der Sicherheit und Ordnung überzugehen. Dies gelingt durch einen Vertrag, den die Menschen untereinander schließen. Dieser Vertrag gründet den Staat. An den Staat treten die Menschen, die nun Bürger werden, ihre individuelle Macht ab. Der Staat garantiert die von den Bürgern gewünschte Sicherheit und Ordnung durch Gesetze. Der mächtige Staat kontrolliert die Einhaltung der Gesetze. In der „Revision“ 1799/1800 geht Feuerbach diese Schritte präzise nach. Der Mensch verläßt den Naturzustand durch Vertrag. Der Staat wird gegründet. Zweck des Staates ist die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung.19 Und nun entsteht bei Feuerbach die für jede säkulare Rechtsbegründung mühsame Frage, mit welchen Mitteln denn Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten seien. Bei der Suche nach einer Antwort ist Feuerbach genauer als die bisherige Lehre. Die bis dahin übliche Antwort: der Staat muß Gesetze machen und durchsetzen, reicht ihm nicht. Vielleicht, das ist Feuerbachs erste Überlegung, gibt es „physische“ Mittel zur Festigung der Sicherheit. Was Feuerbach dabei durch den Kopf geht, formuliert er sofort negativ: Der Staat „kann doch nicht alle Bürger an Ketten legen, um sie dadurch als rechtliche Bürger zu besitzen“20. Das ist nicht ironisch gemeint. Feuerbach argumentiert aus der empirischen Unmöglichkeit der physischen Sicherheitsmittel. Es bleibt offen, was zu sagen wäre, wenn ein Staat tatsächlich in die Lage käme, alle gefährlichen Bürger an Ketten zu legen, etwa an elektronische Fußfesseln oder an Datenfesseln. Die säkulare Rechtstheorie bis hierher hätte dagegen kein Argument. Elektronische Fußfesseln und Datenfesseln zielen auf die Erhöhung der Sicherheit der Bürger. Feuerbach kannte die Gefährlichkeit des Ketten-Arguments für die Freiheit des Bürgers, und er kommt darauf zurück. Er verfolgt das Problem, wie denn Sicherheit im Staat garantiert werden kann, wenn eingeräumt wird, daß physische Mittel zu absurden Ergebnissen 19 Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. XVIII ff., 1 ff.; knapper und übersichtlicher: Lehrbuch (Fn. 18), S. 11 ff. 20 Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 40.

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führen. Es blieben nur „psychische“ Mittel.21 Jetzt erst kommt die Gesetzlichkeit bei Feuerbach ins theoretische Kalkül. Für Feuerbach entsteht die Hauptgefahr für die Sicherheit des Bürgers durch Straftaten. Seine Auffassung ist, Straftaten dürften im Staat überhaupt nicht geschehen.22 Es ist für die kriminalpolitische Atmosphäre, in der das moderne Strafrecht bei Feuerbach erscheint, kennzeichnend, daß Feuerbachs Argumentation wirklich damit rechnet, einen straftatfreien Staat erzeugen und sichern zu können. Die Formulierung, es dürften im Staat „überhaupt keine“ Straftaten geschehen, ist wohlüberlegt. Feuerbach benutzt für diesen Gedanken auch die Formulierung, es dürfe im Staat „gar keine“ Straftaten geben, es sei „schlechthin notwendig“, sie zu verhindern.23 Die Machtmenge, die damit angefordert wird, ist groß und muß immer größer werden, je weniger es gelingt, Straftaten zu verhindern. In abgewandelter Form taucht also das Ketten-Motiv wieder auf, wird nur auf ein anderes staatliches Instrument übertragen. Das Mittel der Verhinderung aller Straftaten müsse ein psychisches Mittel sein. Dieses psychische Mittel müsse so wirksam sein wie das absurde physische. Könne man es dem Bürger nicht physisch unmöglich machen, straffällig zu werden, dann müsse man es dem Bürger psychisch unmöglich machen, den Plan, eine Straftat zu begehen, auszuführen.24 Dies gelinge, so überlegt Feuerbach, wenn man dem tatgeneigten Bürger so große Übel androhe, daß er – nach Abwägung der Lust an der Tat gegen die Unlust aus den Folgen der Tat – die Tat unterlasse. Das wirksamste Mittel, diese psychische Drohung auszusprechen, sei das Gesetz.25 Das Gesetz müsse freilich bestimmte Qualitäten haben. Das Gesetz müsse die Straftaten trennscharf abgrenzen, also den Bürger genau informieren; sonst wisse er nicht, was er zu unterlassen habe. Das Gesetz müsse sehr hart drohen; sonst könne die Tatgeneigtheit nicht ausgeglichen werden. Und das Gesetz müsse sicherstellen, daß die Drohung für den Fall der Tat unnachsichtig ausgeführt werde; sonst hoffe der Bürger, der Strafe zu entgehen; das mache die Drohung wirkungslos.26 Also: Das Gesetz muß genau sein, heftig drohen und die Drohung nach der Tat schnell und lückenlos ausführen. Dann wird die Sicherheit des Bürgers größer, ohne daß absolut wirkende physische Mittel eingesetzt werden 21 22 23 24 25 26

Feuerbach (Fn. 20). Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 39. Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 9. Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 13. Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 14. Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), §§ 13–16.

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müssen.27 Dies ist der Grundriß von Feuerbachs sogenannter „psychologischer Zwangstheorie“, und dies ist zugleich der Grundriß von Feuerbachs Gesetzlichkeitslehre. Feuerbach begründet damit die moderne Lehre von der Funktionstüchtigkeit des gesetzlichen Strafens im Staat. Den Ausdruck „Funktionstüchtigkeit“ des gesetzlichen Strafrechts für die Sicherheit der Bürger habe ich aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts von 1972 und 1980.28 3. Eine Zwischenbemerkung Viele wissenschaftliche Stimmen sagen, Feuerbachs Menschenbild – der rational abwägende Bürger, also auch der rational Gewinn und Verlust aus einer Straftat abwägende Täter – sei unmodern. Man brauche sich damit eigentlich nicht mehr zu beschäftigen.29 Diese Auffassung ist kriminalpolitisch fahrlässig. Die Nähe des Bundesverfassungsgerichts zu Feuerbach habe ich notiert. Die meisten Strafgesetzgeber hängen bis auf den heutigen Tag Feuerbachs psychologischer Zwangstheorie an, ob sie es nun wissen oder nicht. Die gängige Floskel, die Strafdrohungen müßten heraufgesetzt werden, um bessere Abschreckung zu erreichen, ist reiner Feuerbach. Wissenschaftlicher findet sich diese Linie in wirtschaftstheoretischen Abhandlungen. In der Wirtschaftstheorie spielt der homo oeconomicus, der rational handelnde Wirtschaftsbürger, eine nicht geringe Rolle. Es verwundert nicht, daß in professionellen KostenNutzen-Analysen des Strafrechtssystems immer wieder die modernisierte 27 Das ständige Überlegen, ob nicht physischer Zwang zur Verhinderung von Straftaten doch am zweckmäßigsten wäre, ist bei Feuerbach auffällig. Das Verhältnis von physischem und psychischem Zwang zur Verhinderung von Straftaten bleibt deswegen bei Feuerbach unklar. „Zwangsanstalten“ zur Verhinderung der einzelnen Straftat – gemeint sind offenbar Polizeimaßnahmen – erklärt Feuerbach für selbstverständlich nicht ausgeschlossen. „Physischer Zwang reicht aber nicht hin zur Verhinderung der Rechtsverletzung überhaupt“. Daher müsse neben den physischen der psychische Zwang treten. Für Feuerbach ist gelungene Prävention das Ergebnis einer Summe aus physischem und psychischem Zwang: Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), §§ 10, 11, 12. 28 BVerfGE 33 (1972), 383 und 53 (1980), 160. – Zur modernen Debatte um den Begriff vgl. Hassemer, Die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ – ein neuer Rechtsbegriff?, in: Hassemer, Freiheitliches Strafrecht, 2001, S. 129 ff. Hassemers Erörterungen haben etwas für die aktuelle Feuerbach-Debatte Typisches. Hegels Einwand gegen Feuerbach, die psychologische Zwangstheorie behandle den Bürger wie einen Hund, gegen den man den Stock erhebt, wird zitiert (S. 142), Feuerbach aber theoretisch in Frieden gelassen. 29 Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., 1990, S. 309; Lüderssen, Kriminologie, 1984, Rn. 601, 778; zusammenfassend: H.-J. Albrecht, Artikel „Generalprävention“, in: Kaiser/Kerner/Sack/Schellhoss (Hrsg.), Kleines Kriminologisches Wörterbuch, 3. Aufl., 1993, S. 157 ff.

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psychologische Zwangstheorie als zweckmäßigstes Strafrechtssystem auftaucht.30 Nur eine wissenschaftlich auftretende Fortschreibung dieser Linie findet man in manchen ganz aktuellen Stellungnahmen von Hirnforschern zum Strafproblem. Bestimmte Hirnstrukturen, wird da gesagt, neigten zur Normabweichung; entsprechend schwere Sanktionen könnten diese Neigung ausgleichen.31 Feuerbachs Lehre von der Funktionstüchtigkeit gesetzlichen Strafens ist gegenwärtig. 4. Strafgesetzlichkeit und Strafrechtsdogmatik Also setze ich die Information über Feuerbachs strafrechtliches Denkverfahren fort. An zentralen Beispielen will ich zeigen, daß die Lehre von der Funktionstüchtigkeit gesetzlichen Strafens auf jedes strafrechtliche Einzelproblem übertragen werden kann. Bei Feuerbach ergibt sich eine systematisch zusammenhängende Lösung aller strafrechtlichen Einzelprobleme aus der Gesetzlichkeitslehre und damit der Typus einer präzise arbeitenden modernen Strafrechtsdogmatik.32 Feuerbach stattet das Gesetz mit großer Wucht aus. Niemand darf am Gesetz kritteln. Das Gesetz gilt „durch sich selbst“. Überlegungen zur Zweckmäßigkeit oder Rechtmäßigkeit des Gesetzes im Einzelfall sind ausgeschlossen.33 Wörtlich: „. . . das Gesetz ist heilig . . . der Richter ist sein Diener“.34 Vom Gesetz dürfe niemals abgewichen werden. Dabei beschäftigt Feuerbach nicht, was uns heute naheliegt, das Problem der Analogie zu Lasten eines Beschuldigten. Im Gegenteil: seine ganze Sorge gilt der Neigung seiner Zeit, harte Gesetze durch richterliche Maßnahmen zu mildern. Die Warnung, richterliche Milde schwäche das Gesetz, zieht sich durch Feuerbachs ganzes Werk.35 Die Erhöhung des Gesetzes ist Feuerbach so wichtig, daß er auch die Anwendung des falschen Gesetzes verlangt; man könne durch Gnade ausgleichen.36 Und noch eine Konsequenz des harten Geset30 Übersicht über die Debatte bei: Stefan Werner, Die ökonomische Analyse des Rechts im Strafrecht: Eine modernistische Variante generalpräventiver Tendenzen?, KritV 1992, S. 433 ff., bes. 436 f. 31 W. Singer, in: Festschrift für D. Simon, 2005, S. 536: „neuronale Ausstattung . . ., die . . . zur Regelüberschreitung mehr disponiert als im Durchschnitt zu erwarten wäre“. Entsprechend schwerer müßten die Sanktionen sein. 32 Wichtig für die „kritische Einordnung“ dieses Dogmatik-Typs: Köhler, Feuerbachs Zurechnungslehre, in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 67 ff., bes. 74 ff. 33 Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 74. 34 Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. XXV. 35 Feuerbach, Revision (Fn. 1), S. XXIII ff.; Lehrbuch (Fn. 18), § 75. 36 Feuerbach, Revision (Fn. 1), S. XXVII f.

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zesbegriffs: der Gesetzgeber selbst kann kein Verbrechen begehen,37 und das Handeln auf Befehl des Gesetzgebers bleibt straflos.38 Die subjektive Zurechnung (den Fachausdruck „Schuld“ kennt Feuerbach noch nicht) ist eine Probe auf den Inhalt und die Folgen der psychologischen Zwangstheorie. Jeder Freispruch aus subjektiven Gründen belegt für Feuerbach das Versagen der gesetzlichen Drohung und schwächt diese Drohung. Solche Freisprüche müßten tunlichst vermieden werden. Feuerbach stellt folglich den Grundsatz auf, daß die subjektive Zurechenbarkeit einer Straftat bis zum Beweis des Gegenteils zu vermuten ist.39 Die dogmatische Konsequenz dieser Lehre für die verminderte Zurechnungsfähigkeit ist besonders aufschlußreich. Bei einem Täter, der vermindert zurechnungsfähig war, konnte die gesetzliche Drohung schlecht wirken. Feuerbach schließt daraus, daß dieser Täter besonders gefährlich ist. Strafmilderung bei verminderter Zurechnungsfähigkeit komme nicht in Frage. Beispiel: Ein Täter, der „durch eine böse Erziehung verderbt ist“, muß härter bestraft werden.40 Die Lehre vom Vorsatz zieht Feuerbachs Interesse an. Der vorsätzlich handelnde Täter fordert die gesetzliche Strafdrohung heraus, indem er sie mißachtet. Daraus erklärt sich Feuerbachs Bemühung, keinen Vorsatztäter unbestraft zu lassen. Feuerbach ermöglicht dies mit einer differenzierten dogmatischen Konstruktion, bei einer Straftat den Vorsatz regelmäßig zu vermuten, bis bestimmte Gründe das Fehlen des Vorsatzes als Ausnahme belegen.41 Zu dieser Konstruktion gehört die Meinung, die Kenntnis der Strafgesetze müsse bei allen mit Verstand begabten Personen „als rechtlich gewiß angenommen“ werden. Einen Verbotsirrtum kann es nicht geben, ausgenommen in Fällen von Unzurechnungsfähigkeit.42 37

Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 28. Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 32. 39 Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 90. Diese Stelle wirkt fort bis in die aktuelle studentische Fallbearbeitungstechnik. An der Stelle „Schuldfähigkeit“ werden die Bearbeiter von Übungsfällen angehalten zu schreiben: „Anhaltspunkte dafür, daß die Schuldfähigkeit . . . ausgeschlossen sein könnte, sind nicht ersichtlich“ (Wessels/ Beulke, Strafrecht, Allg. T., 35. Aufl., 2005, Rn. 894 = 365 unter c 1). Daraus folgt, daß von Schuldfähigkeit ohne weitere Überlegungen auszugehen ist, die Strafbarkeitsprüfung also fortgesetzt werden muß. Dieses einfache Verfahren, das dem Beschuldigten die Last auferlegt, Anhaltspunkte für den Ausschluß der Schuldfähigkeit von sich aus in den Prozeß einzuführen, ist Feuerbach geschuldet. 40 Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. XXII. 41 Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 60. 42 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, §§ 86, 90. Zur Interpretation der Imputationslehre Feuerbachs insgesamt vgl. Köhler, in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 67 ff., bes. 71 ff. 38

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Anders als heute erschöpft sich für Feuerbach ein wissenschaftliches Strafrechtssystem nicht im Allgemeinen und Besonderen Teil des StGBStrafrechts. Schon Feuerbachs Lehrbuch von 1801 macht klar, daß ein wissenschaftliches Strafrechtssystem Strafrechtsgeschichte, Strafrechtstheorie, materielles Strafrecht, Sanktionenrecht, prozessuales Strafrecht und Gerichtsverfassungsrecht darstellen und systematisch zusammenbringen muß. Feuerbachs Lehrbuch behandelt z. B. auch das strafprozessuale Kostenrecht, und zwar entschieden als Konsequenz der psychologischen Zwangstheorie: wer als Täter, weil er die gesetzliche Strafdrohung mißachtet hat, Kosten verschuldet, hat sie zu tragen.43 Viel weiter reichen die Konsequenzen der psychologischen Zwangstheorie im Sanktionenrecht. Die Strafdrohungen müssen hart sein, sonst wirken sie nicht.44 Beim Entwurf des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 muß der Theoretiker sich fragen, ob er seine Theorie in die Praxis übersetzen will. Und er will. Die Strafdrohungen des BayrStGB v. 1813 sind, verglichen mit der Zeittendenz zur Abmilderung von Strafen, hart und grausam.45 Ein Beispiel: Beim Raub durch bloße Drohung werden acht bis zwölf Jahre Zuchthaus, beim Raub mit Gewalt ist Zuchthaus auf unbestimmte Zeit angedroht (1. Teil, Art. 236, 238). Unbestimmte Zeit bedeutet mindestens 16 Jahre (1. Teil, Art. 11). Zuchthaus heißt Einsperrung mit Arbeitspflicht in der Strafanstalt. Die Haare werden abgeschnitten. „Eine leichte Kette geht (dem Gefangenen) von einem Fuß zum anderen, wenn nicht seine besonders bewiesene Gefährlichkeit eine stärkere Fesselung notwendig macht. Er empfängt täglich warme Speise . . . und, Krankheitsfälle ausgenommen, nie ein anderes Getränk, als Wasser“ (1. Teil, Art. 10). Eine Probe auf die psychologische Zwangstheorie ist die Haltung zur Todesstrafe. Feuerbach ist ein kompromißloser Anhänger der Todesstrafe. Ganz Theoretiker, verweist er auf Voraussetzungen und Ziele der psychologischen Zwangstheorie. Die Strafdrohung, unterstützt durch die Strafvollstreckung, erhöht die Sicherheit des Bürgers. Wenn die Drohung mit der Todesstrafe für die Abschreckung nützlich ist, darf man diese Strafe auch anwenden. Feuerbach stellt lange empirische Überlegungen an und kommt zu dem Ergebnis: Der „Gedanke: du mußt unter dem Beil des Henkers ster43 Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), §§ 647 ff. („Von den Criminalkosten“). Das Verschuldensprinzip für die Kostenregelung findet sich, ausgedehnt auf die zurechenbare Entstehung eines Tatverdachts, in § 650. 44 Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 43 ff. 45 An keiner Stelle der Strafdrohungen des BayrStGB v. 1813 findet man den häufig beschworenen „Ausgleich zwischen zweckbewußter Härte und liberaler Humanität“ (Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach, 3. Aufl., 1956, S. 87 = Radbruch – Gesamtausgabe Band 6, bearbeitet von Haney, 1997, S. 124).

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ben! . . . wird wirken, wenn noch irgend einer zu wirken im Stande ist“.46 Das Gesetz muß diese Wirkung nur ermöglichen.

IV. Feuerbachs Begrenzung der Funktionstüchtigkeit gesetzlichen Strafens 1. Feuerbachs Modernität 1820 – Feuerbachs Lehrbuch geht in die 7. Auflage, das BayrStGB v. 1813 gilt als exemplarisches Gesetzbuch47 – publiziert Hegel folgenden Einwand gegen Feuerbachs psychologische Zwangstheorie: Mit der Begründung der Strafe über das zweckmäßig drohende Gesetz sei es, „als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt“48. Dieses Urteil ist treffend, doch trifft es nicht den ganzen Feuerbach. Feuerbachs Modernität liegt nicht nur im theoretischen und praktischen Entwurf eines säkularen, gesetzlichen, funktionstüchtigen Strafrechts. Seine Modernität liegt auch im Erschrecken über die Macht und die Grausamkeit eines solchen Strafrechts. Die psychologische Zwangstheorie ist säkular, zweckmäßig und gesetzlich. Das moderne Strafrecht will aber auch human und freiheitlich sein. Feuerbach versucht den wissenschaftlichen Beweis, daß die Funktionstüchtigkeit gesetzlichen Strafens mit ihren großen Härten dem Gedanken der liberalen Humanität nicht widerstreitet. Wahrscheinlich ist es die Summe dieser beiden Modernitäten – gesetzliche Zweckmäßigkeit und zugleich liberale Humanität des Strafens –, die Feuerbachs Bedeutung in der Strafrechtsentwicklung ausmacht. 2. Kant und Feuerbach Um 1800 ist der Versuch einer solchen Summe eine theoretische Notwendigkeit. Kant ist in seinen staats- und rechtstheoretischen Schriften mit großer intellektueller Kraft gegen ein nur zweckmäßiges Strafrecht aufgetreten, 46 Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuche für die Chur-Pfalz-Bayrischen Staaten, 1804, Dritter Teil, S. 169; s. auch: Feuerbach, Der Tod ist das größte Übel und die abschreckendste Strafe, Bibliothek für die peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzkunde, 1800, Band II, S. 244 ff. (253 ff.). 47 Einzelheiten bei Radbruch, Feuerbach (Gesamtausgabe Band 6, s. Fn. 8), S. 202 ff. 48 Hegel, Philosophie des Rechts, Naturrecht und Staatswissenschaft, 1826, § 99 Zusatz.

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vor allem in der „Metaphysik der Sitten“ 1797. Zur Erinnerung: „Metaphysik“ bei Kant ist säkulare Metaphysik, Metaphysik der reinen menschlichen Vernunft, Diskussion der Reichweite dieser Vernunft, nicht Rückkehr zu irgendeiner Form der Anrufung höherer göttlicher Mächte. An Säkularität ist Kant nicht zu übertreffen. Kants kritische säkulare Philosophie bezweifelt grundsätzlich, daß ein gerechtes Strafrecht auf das Bedürfnis der Bürger, zweckmäßig gesichert zu werden, gegründet werden kann. Die Bedürfnisse nach Sicherheit seien nach Inhalt und Intensität so verschieden, daß nur willkürliche Regelungen aus solchen Bedürfnissen entstehen könnten. Das Strafrecht müsse sich von den wechselnden kriminalpolitischen Bedürfnissen von Bürgern und Herrschern unabhängig machen und auf die „reine Vernunft“, das ist eine von der aktuellen Politik unabhängige Vernunft, gegründet werden. Diese Reinheit sei nur gegeben, wenn das Strafgesetz ein kategorisch gebietendes von politischen Zwecken unabhängiges Rechtsgebiet sei. Diese Reinheit verlange, daß die Strafe den Bürger nicht zum Objekt mache, die Strafe also den Bürger nicht als Mittel zum Zwecke anderer Bürger benutze.49 Die um 1800 verbreitete Auffassung, säkulares Strafrecht werde doch ohnehin von einem Gefühl der Humanität begleitet und sei schon deshalb nicht zu kritisieren, weist Kant mit einer bis heute einprägsamen Formulierung zurück. Dieses Humanitätsgefühl sei nur die „teilnehmende Empfindelei einer affektierten Humanität“,50 also wohlfeil und zufällig. Die Aufregung unter den Theoretikern und Praktikern des säkularen funktionstüchtigen Strafrechts ist groß.51 Man kann Kant nicht einfach abtun. Seine Auffassungen sind zu genau erkenntnistheoretisch gesichert. Wenn aber Kants Auffassungen richtig sind, dann steht das Gebäude des funktionstüchtigen Strafrechts auf einem schwachen Fundament. Um 1800 beginnt eine irritierte breite Debatte, die von vornherein ein festes Ziel hat. Das funktionstüchtige Strafrecht muß gegen Kant behauptet werden. In dieser Debatte spielt Feuerbach eine herausragende Rolle. Andere Autoren versuchen es – einigermaßen verzweifelt – mit dem Argument, Kant sei nicht zu verstehen.52 Wieder andere interpretieren Kants 49 Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, Rechtslehre, II. Teil. Das öffentliche Recht, Allgemeine Anmerkung E. Einzelnachweise: Naucke, Kants Kritik der empirischen Rechtslehre, 1996; Gesamtdarstellung: Cattaneo, Dignità umana e pena nella filosofia di Kant, 1981. 50 Kant (wie Fn. 49). 51 Zur Diskussion im einzelnen s. die Belege in: Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. 136 ff. 52 Stephanie, Anmerkungen zu Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre, 1797, S. 116 ff.; Bergk, Briefe über Kants metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, S. 214 ff.

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säkulare Metaphysik des Strafrechts so lange, bis er als Anhänger eines pragmatisch-zweckmäßigen Strafens erscheint.53 Feuerbach gewinnt in dieser Debatte die Meinungsführerschaft. Er bekennt sich als Kantianer. Er nimmt für sich in Anspruch, Kant sorgfältig gelesen zu haben, so sorgfältig, daß er es nicht nötig habe, seine Meinungen lediglich mit einem einfachen „vgl. Kant“ zu begründen,54 wie es zu seiner Zeit nicht selten geschieht. Feuerbach setzt an, Kant in die psychologische Zwangstheorie zu integrieren. In der Sache mißlingt das. Doch die Dankbarkeit in Wissenschaft und Praxis hält bis heute an. Es ist die Dankbarkeit dafür, daß Feuerbach die Funktionstüchtigkeit des Strafrechts unter Berufung auf Kant gerettet, diese Funktionstüchtigkeit sogar noch kantianisch verschönt hat. Auch das ist ein wichtiges Datum in der Entwicklung des Strafgedankens. 3. Feuerbachs entleerter Kantianismus Daß Feuerbach mit dem Versuch, Kant in die Lehre von der Nützlichkeit des gesetzlichen Strafens zu überführen, gründlich scheitert, will ich an zentralen Stellen belegen. Ich registriere nur, daß Feuerbach sich häufig auf die reine unpolitische Vernunft beruft. Dies ist ein Hinweis darauf, daß die kantische Kritik an einem lediglich zweckmäßigen Strafrecht wirkt. Aber die Berufung auf die reine Vernunft ist bei Feuerbach bereits nur eine Art, philosophisch zu reden, kein erkenntnistheoretisches Argument. Überall, wo Feuerbach „reine Vernunft“ schreibt, könnte man auch praktische Vernunft oder einfach Vernünftigkeit setzen, der Sinn änderte sich nicht.55 Man bemerkt das sofort, wenn man genau auf Feuerbachs Verbrechensbegriff blickt. Dieser Begriff lebt von kantischen Formulierungen. Feuer53

Stephanie (Fn. 52), S. 117 ff.; Bergk (Fn. 52), S. 218 ff. Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. IX. 55 Beispiele: Feuerbach, Über die einzig möglichen Beweisgründe gegen das Dasein und die Gültigkeit der natürlichen Rechte, 1795 (Formulierung abgedruckt in: Haney (Hrsg.), Naturrecht und positives Recht, ausgewählte Texte von Paul Johann Anselm Feuerbach, 1993, S. 16 ff.); Feuerbach, Anti-Hobbes, 1797, S. 13; Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 178 f.; Feuerbach, Über Philosophie und Empirie in ihrem Verhältnisse zur positiven Rechtswissenschaft, Neudruck 1969, S. 76 f.; aufschlußreich: Feuerbach, Biographischer Nachlaß (Fn. 5), Band 2, S. 387 f. Der Umgang mit den Worten Vernunft und Vernünftigkeit bei Feuerbach ist insgesamt unübersichtlich, typisch für seine Zeit und für die Folgezeit. Zum Problem „Feuerbach und die reine kantische Vernunft“ vgl.: Cattaneo (Fn. 18), bes. S. 275 ff., 535 ff.; Golla, Zu Feuerbachs erkenntnistheoretischen Ansichten, in: Gedenkkonferenz für den Juristen P. J. A. Feuerbach (Fn. 3), S. 463 ff. und Haney, Philosophie bei Feuerbach in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 17 ff. 54

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bach ist begeistert von Kants Satz: „Ein Staat . . . ist die Vereinigung einer Menge Menschen unter Rechtsgesetzen“.56 Feuerbach folgert daraus für das Strafrecht, daß ein Verbrechen nur die Verletzung eines „Rechts“ sein könne.57 Der Inhalt des Begriffs des Verbrechens als Rechtsverletzung (im Gegensatz zur Güterverletzung) hat erhebliche Folgen für den Umfang des materiellen Strafrechts. Rechte haben bei Feuerbach, angelehnt an Kant, eine Nähe zum Menschen als reinem Zweck, als Zweck an sich. Es ist dies die Nähe zu den Menschenrechten.58 Diese Nähe beschränkt das Verbrechen auf geplante Taten gegen den Staat, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum. Die fahrlässigen Straftaten sind in Feuerbachs Prinzipienschriften um 1800 vernachlässigt. Der große Bereich des wechselnden Güterschutzes, der Unterlassungen und der Gefährdungen von Gütern sind bei Feuerbach dem Polizei- oder Verwaltungsrecht zur opportunen, verhältnismäßigen Sanktionierung überlassen, gehören nicht ins Strafrecht.59 Diese Enge des Verbrechensbegriffs ist ein bedeutender Punkt in Feuerbachs Strafrechtslehre und in der Entwicklung des Strafgedankens. Bei Feuerbach um 1800 wird noch einmal ein ganz begrenztes, auf die Verletzung von vorpositiven Menschenrechten reagierendes Strafrecht – ein Kernstrafrecht – begrifflich greifbar. „Noch einmal greifbar“ heißt: zum letzten Mal in der Strafrechtsgeschichte greifbar. Noch in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird der Begriff des Verbrechens als Rechtsverletzung durch den Begriff des Verbrechens als Güter- und Interessenverletzung ersetzt. Die Bestimmung dieses neuen Verbrechensbegriffs, d.h. die Bestimmung der strafrechtlich zu schützenden Güter und Interessen wird dem Willen des Gesetzgebers überlassen. Der Verbrechensbegriff wird ausdrücklich aus der vorpositiven Verankerung gelöst. Dies bedarf keiner großen begrifflichen Anstrengung, erregt kaum Aufsehen.60 56

Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, Rechtslehre, II. Teil, 1. Abschnitt, § 45. Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), §§ 8 ff. 58 Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 21 f. 59 Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), §§ 21 ff. Einzelnachweise: Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. 191 ff. („Zu Feuerbachs Straftatbegriff“), S. 203 ff. („Von Feuerbach zu Mittermaier“); weiter: Naucke, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 269 ff. („Der materielle Verbrechensbegriff im 19. Jahrhundert“). 60 Die klassische Stelle ist: Birnbaum, Über das Erfordernis einer Rechtsverletzung zum Begriff des Verbrechens, in: Archiv des Criminalrechts, Neue Folge, 1834, S. 149 ff. Genaue Einordnung dieser Stelle von: Amelung, J. M. F. Birnbaums Lehre vom strafrechtlichen „Güter“-Schutz als Übergang vom naturrechtlichen zum positiven Rechtsdenken, in: Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 349 ff.; vgl. zu dieser Entwicklung: Kubink (Fn. 4), S. 81 f.; Harzer, Europas strafrechtliche Gesetzlichkeit: Rechtsbegriff und internationale Kriminalpolitik in 57

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Die Leichtigkeit, mit der der Begriff des Verbrechens als Rechtsverletzung durch den Begriff der Güter- und Interessenverletzung nach dem Wollen des Gesetzgebers gelingt, ist wiederum ein strafrechtshistorisches Datum. Feuerbachs Anbindung des engen Verbrechensbegriffs an Kant war, trotz aller Kant-Zitate und trotz der Anrufung der reinen Vernunft, lose. Feuerbach übernimmt nur die formelhaften Ergebnisse aus Kant; er vollzieht die erkenntnistheoretischen Anstrengungen, die zu den Ergebnissen führen, nicht nach. Feuerbachs enger Verbrechensbegriff ist einer um 1800 noch geläufigen juristischen Tradition verpflichtet, der Tradition des crimen per se, der juristischen Lehre vom Verbrechen, das auch ohne Gesetz Verbrechen ist.61 Kant liefert Feuerbach nur die philosophische Einkleidung für eine bekannte ältere juristische Figur. Ein Strafrecht mit einem engen Verbrechensbegriff, ein Kernstrafrecht, ist aber an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht mehr zeitgemäß. Wissenschaft und Praxis beginnen Ausschau zu halten nach einem flexiblen, breit einsetzbaren, wechselnden politischen Bedürfnissen dienenden steuernden Strafrecht. Kants Strafrecht ist der prinzipielle Gegensatz zu diesem sich ausbildenden modernen Strafrecht. Folgt man Kant, darf das moderne Steuerungsstrafrecht sich nicht entfalten. Das moderne zweckmäßige Strafrecht, das den möglichen Täter steuert, ist aber gerade Feuerbachs Ziel. Zwar will er diese moderne strafrechtliche Zweckmäßigkeit nur dem Schutz weniger grundlegender Rechte zugute kommen lassen. Aber damit ist der kantische Ausgangspunkt – das Verbrechen als Rechtsverletzung verdient Strafe ohne zusätzliche Steuerungsabsichten – verlassen. Zwischen engem Verbrechensbegriff und moderner säkularer strafrechtlicher Zweckmäßigkeit besteht in Feuerbachs Lehre von Anfang an ein Widerspruch. Die unkantische Lehre von der Zweckmäßigkeit des gesetzlichen Strafens erweist sich als moderner und stärker. Die Erweiterung des Verbrechensbegriffs über die Verletzung prinzipieller Rechte hinaus ist nur eine folgerichtige Ergänzung der psychologischen Zwangstheorie als Prototyp einer säkularen rational-zweckmäßigen Straftheorie. Im BayrStGB v. 1813 hat Feuerbach die moderne Erweiterung des Verbrechensbegriffs selbst schon vollzogen. Der Besondere Teil dieses Strafgesetzbuchs hat keine feste Grenze. Es gibt 1813 keinen an den Menschenrechten orientierten engen Verbrechensbegriff mehr. Die einzige Bedingung für die Annahme einer Art. 7 EMRK aus deutscher Sicht, in: Grewe und Gusy (Hrsg.), Menschenrechte in der Bewährung, 2005, S. 285 ff. 61 Feuerbach, Lehrbuch (Fn. 18), § 22. Vgl. weitere Belege aus der strafrechtlichen zeitgenössischen Literatur bei: Helga Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, 1984, S. 49, 108.

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Straftat ist, daß das Gesetz ein Verhalten „Straftat“ nennt (BayrStGB 1813, 1. Teil, Art. 1). Auch dies ist ein strafrechtshistorisches Datum von einiger Tragweite. Die harten Strafdrohungen der psychologischen Zwangstheorie sind auch zu verstehen aus der Schwere der Straftaten, die verhindert werden sollen. Der Straftatbegriff wird bereits bei Feuerbach und erst recht nach ihm bis hinein in die Bagatellen ausgeweitet. Aber die Theorie der Strafe bleibt bei der Theorie der harten Drohung zur Verhinderung nunmehr auch der Bagatellen. Das Scheitern des Versuchs Feuerbachs, Kant in die psychologische Zwangstheorie zu integrieren, läßt sich an Feuerbachs Charakterisierung des Gesetzes besonders gut ablesen. Kant fordert, das Gesetz müsse ein kategorischer, kein von Tageszwecken abhängiger hypothetischer Imperativ sein.62 Das begriffliche Schicksal dieser kantischen Forderung bei Feuerbach ist bemerkenswert. Feuerbach nimmt für sich in Anspruch, ganz auf der Linie des kategorischen Imperativs der Strafgesetzlichkeit zu sein. Den Einwand, sein Konzept des Strafgesetzes sei aber getragen von der politischen Zweckmäßigkeit des Gesetzes, nimmt er hin.63 Feuerbach meint, diesem Einwand mit folgender Überlegung entgehen zu können: Die psychologische Zwangstheorie fasse das Strafgesetz trotz aller Zweckmäßigkeit eben doch als ein kategorisches auf. Denn diese Theorie fordere, daß auf die Straftat, das ist die Mißachtung der gesetzlichen Drohung, die Verhängung der Strafe folge. Die unnachgiebige Verhängung der Strafe ist in der psychologischen Zwangstheorie das zweckmäßigste Mittel, die Strafdrohung zu stärken. Die zweckmäßige Unnachgiebigkeit bei der Stärkung der zweckmäßigen gesetzlichen Drohung nennt Feuerbach unter ausdrücklicher Berufung auf Kant einen kategorischen Imperativ.64 Mit Kants Konzept einer kategorischen = zweckfreien Strafgesetzlichkeit hat das nichts zu tun. Erklären kann man sich diese Entleerung der kantischen Auffassung nur aus der Sorge, die inhaltlich wechselnde Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege könne gegen die kantische Kritik nicht bestehen. Dieses Verfahren, Kants Strafrechtskritik zu entleeren und dann die eigene Meinung mit Kant zu stützen, wird an einem noch wichtigeren Punkt der kantischen Argumentation noch sichtbarer. 62

Kant (wie Fn. 49). Feuerbach, Über die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers, 1800 (Nachdruck 1970), S. 96. 64 Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 141, 146 f. 63

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Kants Forderung, das Strafrecht müsse der reinen Vernunft genügen, dürfe nicht wechselnden politischen Zwecken dienen, führt zu der Lehre, das Strafrecht sei nur als Verwirklichung reiner Zwecke legitim. Nach Kants Meinung gibt es nur einen einzigen reinen Zweck, nämlich die Würde des Menschen. Kant formuliert den berühmten Satz: „. . . Strafe . . . kann niemals bloß als Mittel ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst, oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muß jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat; denn der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt . . .“65.

Diese Stelle spielt bei Feuerbach eine beträchtliche Rolle. Ein Zitat von Feuerbach: „Wie kann es ein Recht geben, einem Menschen bloß darum ein Übel zuzufügen, weil dieser ihm zugefügte Schmerz dem Staate nützlich ist? Dies heißt einen Menschen als eine Sache behandeln – und auch der Verbrecher ist Mensch“66.

Dann folgt, als wörtliche Übernahme gekennzeichnet, die Kant-Stelle, die ich eben zitiert habe. Feuerbach stimmt Kant emphatisch zu.67 Mit der gleichen Emphase aber argumentiert er, die Zweckmäßigkeit gesetzlichen Strafens sei im Einklang mit Kants Zweckmäßigkeitskritik. Das geht so: Zunächst nutzt Feuerbach Kants Verurteilung der Nutzung des Straftäters als Objekt, um die am Beginn des 19. Jahrhunderts verbreitete Theorie der Spezialprävention durch Strafe zu kritisieren. Die spezialpräventive Strafe, die zweckmäßige Einwirkung auf den Täter durch die Strafvollstreckung selbst, sei unkantisch, weil sie den Täter als Mittel zum Zweck nutze.68 Feuerbach unterstreicht dann, daß seine eigene Theorie zweckmäßigen Strafens eben keine Strafvollstreckungs-, sondern eine Strafandrohungstheorie sei. Die zweckmäßige Wirkung gehe von der genauen gesetzlichen Drohung aus. Die bloße Drohung aber verletze niemanden in seinen Menschenrechten. Wörtlich und sofort im Anschluß an jenes Kant-Zitat von der Ungerechtigkeit der Nutzung des Straftäters als Mittel zum Zweck: „Niemandes Rechte werden (durch die Strafdrohung) gekränkt“; das „bedarf keines Beweises“.69

Drohen also dürfe man; es geschehe ja nichts. Aber es bleibt die Tatsache, daß bei Mißachtung der Drohung, also bei einer Straftat, dem Täter 65

Kant, (wie Fn. 49). Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 48. 67 Feuerbach (s. vorige Fn.). 68 Zentrale Stelle: Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 78 ff.; ausführlicher: Feuerbach, Über die Strafe als Sicherungsmittel (Fn. 63). 69 Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 49; knapper: Feuerbach, Über die Strafe als Sicherungsmittel (Fn. 63), S. 95. 66

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zum Zwecke der Stärkung der Drohung ein schweres Übel zugefügt wird. Wenn es dramatische Argumentationssituationen in der neueren Strafrechtsgeschichte gegeben hat, dann ist dies eine. Das zweckmäßige Strafrecht steht – jedenfalls theoretisch – auf der Kippe. Feuerbachs Lösung der Situation ist schwach. Dies ist keine persönliche Schwäche, sondern eine charakteristische Schwäche modernen Strafrechtsdenkens. Feuerbach kehrt noch einmal zu Kants Satz zurück, der Täter dürfe nur bestraft werden, weil er verbrochen habe. Feuerbach nimmt für sich in Anspruch, genau diesen Satz einzuhalten. Nach der psychologischen Zwangstheorie werde die Strafe ausgelöst durch die Mißachtung der gesetzlichen Strafdrohung. Also liege der Grund der Strafe, so Feuerbachs Formulierung, allein in der Straftat. Erst durch die Straftat werde aus der Strafdrohung die Strafvollstreckung. Der Täter werde nur bestraft, weil er verbrochen habe; das sei ganz kantisch.70 Freilich gelingt dieser bereits verkürzte Kantianismus bei der Rechtfertigung der Strafvollstreckung nur durch eine auffällige weitere Verkürzung in der Kant-Wahrnehmung. Feuerbach sieht früh, daß jedenfalls die Aufgabe der Strafvollstreckung – Sicherung der Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung – schwerlich mit Kant zu vereinbaren ist. Er sucht daher nach einer zusätzlichen philosophierenden Begründung für die Rechtfertigung der Strafvollstreckung. Für den heutigen Leser überraschend verfällt er darauf, diese zusätzliche Begründung in der Einwilligung des Straftäters in seine Bestrafung zu finden. „Das Recht, eine Handlung zu bestrafen, gründet sich auf die Einwilligung des Verbrechers in das Übel, welche er durch die Tat erklärt“.71 Das Exotische dieser Vorstellung hat Feuerbach selbst gesehen, und er hat auf die heftige Kritik an dieser Vorstellung reagiert. Die Reaktion bleibt undeutlich. Einmal formuliert Feuerbach, nicht eine konkrete Einwilligung in eine konkrete Strafe habe er gemeint, sondern die „rechtlich notwendige“ Einwilligung.72 Ein anderes Mal nimmt er den Gedanken noch weiter zurück auf die „rechtliche Notwendigkeit von Seiten des Verbrechers (der Rechtspflicht), sich der Strafe zu unterziehen“.73 Die Unsicherheit in den Formulierungen zeigt die Unsicherheit in der Sache. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Genauigkeit von Feuerbachs Kantianismus ist dies aber nicht der wichtige Punkt. Feuerbach übernimmt den Grundgedanken, im säkularen Strafrecht rechtfertige sich die Bestrafung aus der Einwilligung des Straftäters in die Bestrafung, von Beccaria74. 70

Feuerbach, Revision (Fn. 1), Teil 1, S. 141, 146 ff. Feuerbach, Philosophisch-juridische Untersuchung über das Verbrechen des Hochverrats, 1798, S. 33. 72 Feuerbach, Über die Strafe als Sicherungsmittel (Fn. 63), S. 95, s. auch S. 97 ff. 73 Feuerbach, Über die Strafe als Sicherungsmittel (Fn. 63), S. 100. 71

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Und genau zu dieser Beccaria-Auffassung hatte sich Kant unmißverständlich und naheliegend geäußert. „Strafe erleidet jemand nicht, weil er sie, sondern weil er eine strafbare Handlung gewollt hat; denn es ist keine Strafe, wenn einem geschieht, was er will, und es ist unmöglich, bestraft werden zu wollen“.75 Die Stelle findet sich im Zusammenhang der Texte Kants zum Strafrecht, auf die Feuerbach sich stützt. Diese Stelle läßt er einfach weg; sie ist zu sperrig für die psychologische Zwangstheorie. Es ist leicht zu sehen, was hier geschieht. Der Täter wird bestraft, „weil er verbrochen hat“, heißt bei Kant: der Täter muß ohne Zweckmäßigkeitsrücksichten strafwürdig sein, um ihn aus Rechtsgründen bestrafen zu können. Der Satz Kants heißt bei Feuerbach: der Täter wird bestraft, weil er das zweckmäßig drohende Gesetz verletzt hat und weil er seine Strafe wegen einer – fingierten – Einwilligung auf sich zu nehmen hat. Was bei Kant Kritik eines heraufziehenden zweckmäßigen schwer kontrollierbaren Strafrechtstyps ist, wird bei Feuerbach zur philosophischen Verklärung gerade dieses Typs. Dieser Umgang mit Kant wird gelenkt von der Arbeitsmaxime, die Feuerbach 1798 so formuliert hat: „(ich) glaube es durch die Tat bewiesen zu haben, daß man mit Freiheit philosophiren könne, ohne darum den Rechten der positiven Jurisprudenz zu nahe zu treten“76. Die unerledigte Frage, ob Feuerbach ein Kantianer war, ist also keine zweckfreie akademische Frage. Diese Frage läßt sich auch nicht mit einer voraussetzungslosen akribischen Kant- bzw. Feuerbachphilologie beantworten. Zwischen Kant und Feuerbach besteht ein tiefer Graben, erkenntnistheoretisch und staatspraktisch. Kant nähert sich Staat und Strafrecht kritisch, Feuerbach bestätigend. Gesteht man sich das ein, so wird das heraufziehende Zweckstrafrecht in seiner Unbegrenzbarkeit in scharfen Konturen klar. Die Versuche, den tiefen Graben zwischen Kant und Feuerbach einzuebnen, haben ein gemeinsames Ziel, nämlich die scharfen Konturen des heraufziehenden Zweckstrafrechts abzumildern, ohne aber diese Schärfe selbst aufzugeben. Diese Versuche werden von zwei Seiten aus unternommen. Man interpretiert Feuerbachs Kant-Anspielungen und damit die präventive psychologische Zwangstheorie eben als Kantianismus.77 Oder man faßt Kant als philo74 Beccaria, Von den Verbrechen und von den Strafen 1764, Nachdruck 2004, S. 11, 48 f. 75 Kant (wie Fn. 49). Differenziert zu diesem Problem: Cattaneo, Beccaria und Kant, in: Cattaneo, Aufklärung und Strafrecht, 1998, S. 7 ff. 76 Feuerbach, Philosophisch-juridische Untersuchung über das Verbrechen des Hochverrats, 1798, S. III. 77 Aktuelles Beispiel für diese Linie: Altenhain, Die Begründung der Strafe durch Kant und Feuerbach, Gedächtnisschrift für Rolf Keller, 2002, S. 1 ff., 7, 11; zustim-

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sophischen Präventionstheoretiker78 auf, was dann Feuerbachs Kant-Zitate als Übernahme eines kantischen Präventionsdenkens erscheinen lassen muß. Beide Bemühungen, Kant und Feuerbach aneinanderzurücken, sind Distanzierungen von dem einzigartigen kritischen Denken Kants, sind Abschottungen des Zweckstrafrechts gegen die kantische Kritik.79

V. Das moderne Beispiel Feuerbach Feuerbach gelingt es, eine systematisch durchgeformte Strafrechtslehre zu formulieren. An ihrer Oberfläche ist sie streng gesetzesgebundene Zweckmäßigkeit. Das macht sie so anziehend. Die Fähigkeit dieser Lehre, auch die entfernten Winkel strafrechtlicher Begrifflichkeit zu erreichen, also Kriminalpolitik und Strafrechtsdogmatik zu verbinden, erhöht die Anziehungskraft. Und das Versprechen Feuerbachs, diese gesetzesgebundene Zweckmäßigkeit des Strafens befinde sich in Übereinstimmung mit Kants Lehre von der absoluten Geltung der Menschenwürde, macht Feuerbachs Lehre beinahe unwiderstehlich. Die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs begründet einen Typ säkularen, funktionstüchtigen, auf Gerechtigkeit pochenden Strafrechts, einen Typ, der in der Wissenschaft und in der Praxis bis in die Gegenwart wirkt. Bewahrt, verstärkt und weitergegeben wird dieser Typ am Ende des 19. Jahrhunderts durch Karl Binding und Franz v. Liszt.80 mend: Zaczyk, Zur Begründung der Gerechtigkeit menschlichen Strafens, Festschrift für Eser, 2005, S. 210 Fn. 16. Differenzierend: Haney, Philosophie bei Feuerbach, in: Gröschner und Haney (Fn. 3), S. 17 ff. 78 Mit Präzision ist diese Auffassung ausgeführt bei: Müller-Steinhauer, Autonomie und Besserung im Strafvollzug, Resozialisierung auf der Grundlage der Rechtsphilosophie Kants, 2001. Vgl. weiter: Tafani, Kant und das Strafrecht, in: Vormbaum (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte Band 6, 2005, S. 261 ff. mit vielen Belegen zu Kants Nähe zur Generalprävention. 79 Diese Tendenz, den weitreichenden Unterschied zwischen zweckmäßigem Strafen und Strafrecht einzuebnen, bestätigt Kants Verdacht von 1781: „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. . . . Gesetzgebung durch ihre Majestät (will) sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann (erregt) sie gerechten Verdacht wider sich und (kann) auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können“ (Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 1. Aufl., 1781, Ausgabe Meiner, S. 7 Anmerkung). 80 Der sog. Schulenstreit – klassische Schule Bindings gegen moderne Schule v. Liszts (s. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1965, §§ 321 ff.; Rüping/Jerouschek, Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl., 2002, Rz. 254 ff.) – sollte nicht länger so genannt werden. Die Streitpunkte zwischen Binding und v. Liszt sind derart geringfügig, daß

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Die systematische Klarheit, die praktische Brauchbarkeit und der Gerechtigkeitsanspruch von Feuerbachs Lehre sind in ihrer Summe so stark, daß die auf der Hand liegenden Schwächen nicht breit diskutiert werden. Die Hauptschwäche ist, daß die Verzahnung von wirksamer, zur Entgrenzung des Strafrechts neigender Zweckmäßigkeit und kantischer absoluter Gerechtigkeit nicht gelungen ist.81 Die Anleihen bei Kant bleiben schöner Schein.82 Aber die Gesetzlichkeit des Strafrechts, der Satz nulla poena sine lege: ist das nicht der bleibende Gewinn durch Feuerbach? Im Kern ist dies nicht so. Das Strafgesetz ist für Feuerbach und seit Feuerbach nicht absolut richtiger Ausdruck der Strafwürdigkeit, sondern nur wirksames Drohmittel, also lediglich empirisch richtig. Wer immer den Zugriff auf das Gesetz gewinnt, kann das Drohpotential des Strafgesetzes für seine Zwecke nutzen. Aber die Forderung Feuerbachs, auch das zweckmäßige Gesetz müsse genau sein: ist das nicht ein bleibender Gewinn? Auch an dieser Stelle die Bezeichnung „Streit von Schulen“ unangemessen ist. Binding und v. Liszt stimmen ohne Rest darin überein, daß – wie Feuerbach es vorgegeben hatte – das Strafrecht zweckmäßige Verbrechensbekämpfung im Staat zu sein hat. „Alle Strafe ist Zweckstrafe“ (Binding, Grundriß des Deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 7. Aufl., 1907, S. 235). „Die Strafe ist nur Mittel zum Zweck“ (v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW 3 – 1883 – S. 22). Binding und v. Liszt unterscheiden sich allein in der empirischen Frage, auf welchem Wege die beste Verbrechensbekämpfung erreicht werden kann, durch Generalprävention oder durch Spezialprävention. Die Beantwortung dieser Frage kann durch solide empirische Forschung gefördert werden, nicht durch Schulenbildung. Allein ein Streit über die staatstheoretische Frage, ob das Strafrecht der Verbrechensbekämpfung zu dienen hat oder nicht, könnte auf die Bezeichnung „Schulenstreit“ Anspruch erheben. Wichtige Argumente für eine Neubewertung des sog. Schulenstreits bei: Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 28 ff.; Helga Müller, Der Begriff der Generalprävention im 19. Jahrhundert, 1984, S. 296 ff.; Frommel, Präventionsmodelle in der deutschen Strafzweckdiskussion, 1987, S. 42 ff. und Vormbaum, ZStW 116 (2004), S. 197. 81 Ein unbedingtes, aber folgenloses Eintreten für Recht, Gesetz, Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit und Selbstbestimmung der Nation findet man nur in jenen Feuerbach-Texten, die sich von juristischer Professionalität entfernen und in einem theorielosen, glühend emotionalen Feuilleton-Stil abgefaßt sind, z. B. in: Über die Unterdrückung und Wiederbefreiung Europens, 1813, und Die Weltherrschaft, das Grab der Menschheit, 1814. An dieser Haltung wird richtig sein, daß lediglich dogmatisch, also ohne hinzutretende persönliche Gewissheit, ein begrenzendes Strafrecht nicht zu formulieren und zu verteidigen ist. 82 Feuerbach begründet damit einen strafrechtswissenschaftlichen Literaturtyp, der sich schon im 19. Jahrhundert zeigt (Nachweise: Cattaneo [Fn. 18]; Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2000, S. 131 ff.). Aktuelles Beispiel: Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004, S. 88 ff. mit willkürlich ausgewählten Kant-Zitaten; dieses Beispiel ist besonders auffällig, weil, wie bei Feuerbach, ein striktes Sicherheitsstrafrecht mit Kant-Zitaten verschönt wird.

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sollte man sich nicht zu früh beruhigt geben. Bei Feuerbach dient die Genauigkeit des Gesetzes der Verstärkung der Drohung durch das Gesetz. Die Genauigkeit des Gesetzes ist wiederum nur die empirische Voraussetzung für die abschreckende Wirkung des Gesetzes. Ganz leicht läßt sich einwenden, die Drohung mit einem harten, zugleich ungenauen Gesetz sei empirisch viel wirksamer. Der Bürger müsse dann aus Unsicherheit über die Grenze der Strafbarkeit stets Angst haben.83 Diese Abwandlung Feuerbachs ist die strafrechtliche Argumentation in Diktaturen. Gegen Feuerbachs Forderung nach genauer strafrechtlicher Gesetzgebung läßt sich auch und ohne intellektuellen Aufwand einwenden, genaues Strafrecht sei unflexibles Strafrecht. Nur eine flexible Strafrechtspflege sei jedoch eine wirksame, praktische, schnell auf sich ändernde gesellschaftliche Verhältnisse reagierende Strafrechtspflege. Mit der Floskel von der für die Gesellschaftssicherung notwendigen flexiblen Strafrechtspflege – auch dies eine Abwandlung Feuerbachs – erklärt der aktuelle Gesetzgeber jedes ungenaue Strafgesetz, z. B. die Vorschriften über die Geldwäsche (§ 261 StGB). Theoretisch fest gesicherten Widerstand braucht er nicht zu fürchten. Seit Feuerbach ist gegen das Argument, diese oder jene Art der Strafgesetzgebung, die genaue oder die ungenaue, sei für die Zeit tatsächlich zweckmäßig und funktionstüchtig, wenig auszurichten. Aber vielleicht ist die von Feuerbach kommende Gesetzlichkeit des Strafrechts selbst, mag sie immer aus politischer Zweckmäßigkeit abgeleitet sein, ein Fortschritt an sich? Es hat sich doch unter Strafjuristen die Überzeugung gebildet, daß jedenfalls ohne Gesetz nicht gestraft werden darf. Wer strafen wolle, brauche ein Gesetz. Diese Notwendigkeit, vor dem Strafen erst ein Gesetz machen zu müssen, dies jedenfalls zügele unumkehrbar den Strafwillen des Staates. Auf Feuerbach aber kann man sich für einen solchen Optimismus nicht berufen – was nicht ausschließt, daß man es doch tut. Die neuere Strafrechtsgeschichte zeigt, daß das Zügeln des staatlichen Strafwillens durch das Gesetz nicht gelingt. Für den Fall, daß der nulla poena sine lege-Satz den Strafwillen eines Staates einengt, sind – ohne Spannung zu Feuerbachs Lehren – wirksame professionelle juristische Techniken entwickelt worden: Verordnungsstrafrecht, Strafrecht auf der Grundlage von Ermächtigungsgesetzen und Organisation folgsamer uninformierter Abstimmungsmehrheiten. Ein tiefgreifendes Verordnungstrafrecht findet man in der Weimarer Republik auf der Grundlage des Art. 48 WRV;84 83

s. dazu die Überlegungen gerade zu Feuerbachs Gesetzesbegriff von Bohnert, Paul Johann Anselm Feuerbach und der Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1982, S. 12 ff. 84 Das Reichsgesetzblatt z. B. des Jahres 1931 belegt ein umfangreiches Verordnungsstrafrecht auf vielen Gebieten: neue Straftatbestände zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen werden geschaffen (RGBl I, 79), bisher unbekannte Sonder-

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ein Strafrecht, gestützt auf Ermächtigungsgesetze, bildet sich im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Dritten Reich aus;85 ein Strafrecht, entstehend aus gut organisierten Mehrheiten, ist in den parlamentarischen Demokratien verbreitet. Die modernste juristische Technik, Strafrecht durch vereinfachte, nicht parlamentarisch-gesetzliche Mechanismen entstehen zu lassen, findet sich im wachsenden europäischen Strafrecht. In diesem Gebiet haben den inhaltlich maßgebenden Einfluß juristische Handlungsformen, die vom Verwaltungsrecht, der Exekutive, kommen: Rahmenbeschlüsse, Richtlinien und Beschlüsse in der Zuständigkeit der europäischen Institutionen führen zu einem bürokratischen europäischen Strafrecht.86 Alle diese Techniken sind, wenn sie nur mehr Sicherheit versprechen, nach der psychologischen Zwangstheorie nicht verboten. Die psychologische Zwangstheorie kann auch eine das Gesetz auflösende ausufernde Interpretation nicht verhindern, wenn diese Interpretation einem kriminalpolitischen Bedürfnis zugeordnet werden kann. Feuerbach bleibt ein immer wieder zu studierendes Beispiel. Die Probleme des säkularen staatlichen Strafens schießen um 1800 in seinem Werk zusammen. Er begründet den Theorietyp des säkularen gesetzlichen zweckmäßigen Strafens. Feuerbach bemüht sich zugleich, dieses Strafen, das eine Neigung zur stetigen Ausweitung und Verhärtung hat, zu kontrollieren. Die strafgerichte werden eingesetzt (RGBl I, 537/565), Amnestien werden verfügt (RGBl I, 449/451, 493/503), um nur einige Fälle zu nennen. Die Rechtsprechung übernimmt die Denkform des Verordnungsstrafrechts ohne große Vorbehalte und integriert sie in das vorhandene gesetzliche Strafrecht; Beispiel: RGSt 56 (1922), 161 ff., 189, 419 ff. Ungeklärt ist bisher, wie sich Verordnungsstrafrecht nach einem Ermächtigungsgesetz und Verordnungsstrafrecht nach Art. 48 WRV in der Weimarer Republik zueinander verhalten. Solange das Ermächtigungsgesetz v. 8.12.1923 (RGBl I, 1179) gilt, summieren sich offenbar die Möglichkeiten, Strafrecht ohne Gesetze zu machen. Die Emminger-Verordnung v. 4.1.1924 (RGBl I, 15) ergeht nach dem Ermächtigungsgesetz von 1923; die Verordnung über die beschleunigte Aburteilung von Straftaten v. 13.1.1924 (RGBl I, 29) ergeht nach Art. 48 WRV: das Prinzip der Strafgesetzlichkeit ist weit entfernt. Die Überlegung, der Anfang der 20er Jahre und der Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts seien eben Ausnahmesituationen gewesen, ist absurd. Die Überlegung ruht auf der Annahme, strenge Strafgesetzlichkeit sei eine strafjuristische Schönwetterkategorie; gebraucht wird sie aber gerade in Ausnahmesituationen. 85 Übersicht bei: Frehse, Ermächtigungsgesetzgebung im Deutschen Reich 1914–1933, 1985; aussagekräftig für das Strafrecht: Vormbaum, Die Lex Emminger v. 4. Januar 1924, 1988, bes. S. 30 ff. 86 Beschreibung der exekutivischen Handlungsformen der europäischen Institutionen unter besonderer Berücksichtigung des Strafrechts: Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2005, S. 77 ff.; kritische Bestandsaufnahme: Braum, Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003, S. 161 ff.

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Begründung der Funktionstüchtigkeit des gesetzlichen Strafens ist Feuerbach gelungen, die Begründung der Kontrollmechanismen nicht. Feuerbachs strafrechtliche Denkweise von der Funktionstüchtigkeit des gesetzlichen Strafens her bleibt bis heute maßgebend. Auch die Schwäche von Feuerbachs Begrenzung des Strafrechts ist maßgebend geblieben. Es wäre eine schöne wissenschaftliche und didaktische Aufgabe, Feuerbachs Bemühungen um die feste Kontrolle eines zweckmäßigen Strafrechts präziser zu fassen. Gelänge dies, so gelänge ein wichtiger Beitrag zur Entwicklung des Strafgedankens.

Binding vs. v. Liszt – Klassische und moderne Strafrechtsschule Von Arnd Koch, Augsburg

I. Einführung Im Spätsommer des Jahres 1882 kam es in Ems zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Karl Binding1 und Franz v. Liszt2. Während der 1841 geborene Binding zu diesem Zeitpunkt bereits an der renommierten Leipziger Juristenfakultät lehrte, befand sich der zehn Jahre jüngere v. Liszt erst am Anfang seiner steilen akademischen Karriere. Die Begegnung der führenden Kriminalisten des Deutschen Kaiserreichs stand unter keinem guten Stern. v. Liszt notierte nach dem Zusammentreffen in sein Tagebuch: „In Ems bei Binding. Schöner, eitler Mann (. . .); mit mir nicht einverstanden. Ich halte die guten Beziehungen zwischen uns auf die Dauer nicht für haltbar“.3 v. Liszts Vorahnung sollte sich bewahrheiten. Wenig später standen sich Binding und v. Liszt als Häupter zweier rivalisierender Schulen, der klassischen und der modernen4 Strafrechtsschule, gegenüber.5 Geführt wur1 Zu Binding (1841–1920): Naucke, Rechtstheorie und Staatsverbrechen, S. V–LXXI, in: Binding/Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, 1920. Neuausgabe hrsg. von Thomas Vormbaum, 2006; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 304–310; Westphalen, Karl Binding. Materialien zur Biographie eines Strafrechtsgelehrten; HRG, 2. Aufl. 2005, Sp. 594 (A. Koch); Kleinheyer/ Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl. 1996, S. 59 ff. (J. Schröder); NDB, Bd. 2, 1955, S. 244 f. (Triepel). 2 Zu v. Liszt (1851–1919): Eb. Schmidt (Fn. 1), S. 357–386; HRG, Bd. 3, 1984, Sp. 11 ff. (Naucke); Kleinheyer/Schröder (Hrsg.) (Fn. 1), S. 248 ff. (J. Schröder); NDB, Bd. 14 (1985), S. 704 f. (Frommel). Ferner zahlreiche Aufsätze in ZStW Bd. 94 (1969), S. 543 ff. (Gedächtnisheft für Franz von Liszt zur 50. Wiederkehr seines Todestages am 21. Juni 1919) sowie in ZStW Bd. 94 (1982), S. 525 ff., 864 ff. (zum 100. Jahrestag des „Marburger Programms“). Aus Sicht der DDR Lekschas/Ewald, in: Kriminalsoziologische Bibliographie, 1982, Heft 42, S. 80 ff. 3 Zit. nach Radbruch, Elegantiae Juris Criminalis, 2. Aufl. 1950, S. 226. 4 Zeitgenossen sprachen auch von „jungdeutscher Schule“ oder „soziologischer Schule“, vgl. etwa Nagler, GS Bd. 70 (1907), S. 7 Fn. 1, 8. „Soziologisch“ deshalb, weil v. Liszt die Ursachen des Verbrechens vorrangig in sozialen Bedingungen suchte und nicht – wie Lombroso und seine Schüler – in biologischen Dispositionen.

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de die Auseinandersetzung, die als der „Schulenstreit“ in die Rechtsgeschichte eingegangen ist, mit äußerster Härte – ad rem wie ad personam. So disqualifizierte Binding v. Liszt als „Journalisten“, als „Ritter und Retter des entlehnten Gedankens“6 oder als bloßen „juristischen Mitläufer“7. v. Liszt hielt sich schadlos, indem er seinem Widersacher „naive Intoleranz“, „doktrinäre Selbstüberschätzung“8 sowie das altersbedingte Nachlassen „schöpferischer wie dialektischer Kraft“ attestierte.9 Was war der Anlass für den Austausch derartiger Verbalinjurien? Oder anders gefragt, was war der Gegenstand des „Schulenstreits“? Heute wird der „Schulenstreit“ in erster Linie als eine Kontroverse über den Zweck staatlichen Strafens verstanden.10 Die schuldausgleichende Vergeltungsstrafe der „Klassiker“ um Binding stand hiernach dem bessernden, spezialpräventiv orientierten Ansatz der „Modernen“ um v. Liszt gegenüber. Auf dieser Ebene ist der „Sieger“ des „Schulenstreits“ schnell ausgemacht. Während Bindings Vergeltungsdenken der Strafrechtsgeschichte anzugehören scheint,11 gilt v. Liszt weiterhin als Ahnherr eines fortschrittlichen, spezialpräventiv ausgerichteten Strafrechts, kurz – in den Worten Roxins – als „der bedeutendste deutsche Kriminalpolitiker“.12 Inwieweit diese Lesart dem „Schulenstreit“ und seinen Protagonisten gerecht wird, ist im Folgenden zu überprüfen. Im Wege einer „Historisierung“ des „Schulenstreits“ ist zunächst an die politischen Hintergründe der Kontroverse zu erinnern. v. Liszts Reformprogramm war keine Frucht rechtstheoretischer Überlegungen, sondern die Reaktion auf eine gesellschaftliche Umbruchsituation (II.). Sodann ist zu fragen, welche Antworten „Klassiker“ und „Moderne“ bereithielten, um neuartigen Bedrohungsszenarien zu be5 Speziell zum „Schulenstreit“ Bohnert, Zu Straftheorie und Staatsverständnis im Schulenstreit der Jahrhundertwende, 1992, passim; Dessecker, Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit, 2004, S. 57 ff.; Westphalen (Fn. 1), S. 221–324. 6 Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, 2. Aufl. 1890, S. 61 Fn. 19; beide Zitate beziehen sich auf v. Liszts Abkehr von Bindings „Normentheorie“. 7 Binding, Grundriss des Deutschen Strafrechts, 7./8. Aufl. 1913, S. 236 Fn. 2. 8 v. Liszt, ZStW Bd. 13 (1893), S. 352. 9 v. Liszt, ZStW Bd. 18 (1898), S. 230. 10 Frommel, Kriminalsoziologische Bibliographie, 1984, Heft 42, S. 37, interpretiert die Kontroverse als symbolische Auseinandersetzung um Reputation und Einfluss auf die Strafrechtsreform. Manche Zeitgenossen sahen den Kernpunkt des Streits in der Gegenüberstellung von Determinismus und Indeterminismus; so Kohler, GA Bd. 54 (1907), S. 1; diesen mit zahlreichen Nachweisen widerlegend Liepmann, ZStW Bd. 28 (1908), S. 1, 7 ff. 11 Zum wiedererwachten Interesse an Vergeltungstheorien Pawlik, Person, Subjekt, Bürger. Zur Legitimation von Strafe, 2004, passim. 12 So Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2006, § 3 Rn. 12; ähnl. Eb. Schmidt (Fn. 1), S. 364 („der große bahnbrechende Kriminalpolitiker“).

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gegnen. Bei der Gegenüberstellung der jeweiligen Positionen gilt es, freiheitlich-rechtsstaatliche sowie autoritär-repressive Potentiale beider Richtungen aufzuzeigen (III., IV.). Die hieraus gewonnenen Ergebnisse legen es abschließend nahe, die Frage nach dem „Sieger“ des „Schulenstreits“ erneut aufzuwerfen und in Teilen neu zu beantworten (V.).

II. Vorgeschichte des „Marburger Programms“ 1. Strafrechtsreform und sozialer Umbruch Als v. Liszt im Jahre 1882 sein „Marburger Programm“, das „Manifest der Modernen“, veröffentlichte, befand sich das junge Deutsche Kaiserreich in einem tief greifenden Wandlungsprozess.13 Wirtschaftlich entwickelte sich Deutschland innerhalb weniger Jahrzehnte von einem Agrarland zu einer der weltweit führenden Industrienationen. Soziale Begleiterscheinungen waren eine Bevölkerungsexplosion, eine rasant fortschreitende Verstädterung sowie das Entstehen neuer Bevölkerungsschichten, insbesondere der Industriearbeiterschaft.14 Teil der immer drängender werdenden „sozialen Frage“ war die als außerordentlich bedrohlich empfundene Kriminalitätszunahme.15 Das Massenelend, so auch v. Liszts Befund, bilde den Nährboden für das Verbrechen, die zunehmende Verrohung des deutschen Volkes sowie für Degenerationserscheinungen aller Art.16 Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das im Wesentlichen auf das preußische Strafgesetzbuch von 1851 zurückging, erschien schon wenige Jahre nach seinem Inkrafttreten als überholt, als ein Relikt aus einer anderen Zeit. Während seine Tatbestände in der Tradition Feuerbachs von mustergültiger 13

v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, ZStW Bd. 3 (1882), S. 1–47. Weitere Ausgaben: v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 1905, S. 126 ff.; v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882/1882), 2002 (mit einer Einführung von M. Köhler). Zur Bezeichnung „Marburger (Universitäts-) Programm“ Naucke, ZStW Bd. 94 (1982), S. 309 Fn. 1. 14 Übersicht bei Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 1995, S. 493 ff. 15 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1882), S. 37 ff.; übereinstimmend Oetker, ZStW Bd. 17 (1897), S. 493. Vgl. auch Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 3. Aufl. 1921, S. 239: „Wir leben in einer kranken Zeit, in einem Ausnahmezustande, und die ungeheure Verbreitung und die Verschärfung der verbrecherischen Neigungen müssen als ein hoffentlich bald wieder schwindendes Symptom dieser Zeit gewertet werden“. Aus marxistischer Sicht Jelowik, Die Geschichte der imperialistischen Strafrechtsreform in Deutschland als Ausdruck der Perspektivlosigkeit des imperialistischen Systems, 1979, S. 4 ff. Das vermeintliche Anschwellen der Kriminalität relativierend Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich, 2004, S. 89 ff.; Wehler (Fn. 14), Bd. 3, 1995, S. 521 ff. 16 v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 472.

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Exaktheit waren, wies das Gesetz hinsichtlich der Sanktionen und der Strafzumessung erhebliche Defizite auf. Für den Bereich der Kleinkriminalität mangelte es an flexiblen Reaktionsmöglichkeiten. Geldstrafen spielten eine untergeordnete Rolle, die Institute der Strafaussetzung auf Bewährung oder eines gesonderten „Jugendstrafrechts“ fehlten. Die regelmäßig, in gut 76% der Fälle verhängte Sanktion war die Freiheits- bzw. Zuchthausstrafe.17 Es dominierten kurzzeitige Freiheitsstrafen von unter drei Monaten;18 ihr Anteil bei einfachem Diebstahl lag bei ca. 90%.19 Nicht weniger lückenhaft blieben die Reaktionsmöglichkeiten des Reichsstrafgesetzbuches für bestimmte Formen der Schwerkriminalität. Sozialgefährliche Delinquenten konnten nicht länger festgehalten werden, als es die schuldangemessene Strafe erlaubte. Maßnahmen, die der heutigen Unterbringung in Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) entsprachen, blieben dem Gesetz fremd. 2. Vorläufer des „Marburger Programms“ Seit Ende der 1870er Jahre mehrten sich Stimmen, die eine grundlegende Reform des Straf- und Sanktionenrechts einforderten. Die Wege dorthin blieben freilich umstritten. v. Liszts „Marburger Programm“ nahm Anleihen bei den verschiedensten Fortschrittsideen;20 wesentliche Anregungen bezog es aus zwei viel beachteten Streitschriften, die zu gänzlich konträren Folgerungen gelangten: Auf bedingungslose Repression setzte die 1879 publizierte Schrift des Leipziger Reichsgerichtsrates Otto Mittelstädt.21 Unter dem programmatischen Titel „Gegen die Freiheitsstrafe“ konstatierte ihr Verfasser angesichts „massenhafter Verbrechenszunahme“ den „Bankrott des ganzen ausschließlich auf die Freiheitsentziehung beruhenden Systems“.22 Das Strafensystem des Reichsstrafgesetzbuches habe sich als untauglich zum Schutze der Rechtsordnung erwiesen; die Gesellschaft müsse sich nunmehr auf „einen langen Kriegszustand gegen ihre inneren Feinde“ einrichten.23 Um im „Krieg“ gegen das Verbrechen siegreich zu bleiben, plädierte Mittelstädt im 17

Kubink, Strafen und ihre Alternativen im zeitlichen Wandel, 2002, S. 103. v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 740 ff. 19 Kubink (Fn. 17), S. 110; der Prozentsatz bezieht sich auf die 1890er Jahre. 20 Hierzu Kubink (Fn. 17), S. 71; Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, 2004, S. 91. 21 Otto Mittelstädt (1834–1899); NDB, Bd. 17, 1994, S. 579 f. (Vortmann). 22 Mittelstädt, Gegen die Freiheitsstrafe. Ein Beitrag zur Kritik des heutigen Strafensystems, 1879, S. 57; ebd.: „Aus dem einstigen Medusenantlitz peinlicher Strafgewalt ist die etwas spießbürgerliche Physiognomie eines wohlwollenden Pädagogen und Menschenfreundes geworden“. 23 Mittelstädt (Fn. 22), S. 72. 18

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Ergebnis dafür, den Vergeltungsgedanken bis zum Äußersten auszureizen. Vermehrte Anwendung der Todesstrafe, „Strafknechtschaft“ bei „intensivster Steigerung der Zwangsarbeit“ und gleichzeitiger Herabsetzung der Nahrungsrationen, Prügel- und Ehrenstrafen waren seine Forderungen.24 Einen anderen Ansatz zur Behebung des Kriminalitätsproblems verfolgte der „Irrenarzt“ Emil Kraepelin, einer der Wegbereiter der modernen Psychiatrie in Deutschland.25 In seiner 1880 erschienenen Schrift „Die Abschaffung des Strafmaßes“ forderte der damals 24-jährige die Abkehr vom Vergeltungsprinzip zugunsten eines radikal spezialpräventiv ausgerichteten Strafvollzugs. Strafe bedeutete für Kraepelin nicht schuldausgleichende Vergeltung, sondern Gesellschaftsschutz.26 Als Konsequenz plädierte er für die Aufhebung des Strafmaßes. Freiheitsentziehung müsse „genauso lange, aber auch nur so lange dauern“, wie von dem Inhaftierten irgendeine Gefahr für die Gemeinschaft ausgehe.27 Die Bestimmung des Entlassungszeitpunktes oblag nach diesem Konzept nicht dem Richter, sondern – wie dies schon bei Irrenanstalten der Fall sei28 – ausschließlich dem Anstaltsleiter. Als alleiniger Beurteilungsmaßstab diente der beim Inhaftierten festgestellte Besserungserfolg.

III. Das „Marburger Programm“ – v. Liszt und die Neuausrichtung des Strafrechts 1. Das Versagen der traditionellen Strafrechtslehre In seinem „Marburger Programm“ konstatierte v. Liszt das Versagen des traditionellen Strafrechtsdenkens vor den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen. Das herrschende Dogma, wonach die Strafe genauso hoch aus24

Mittelstädt (Fn. 22), S. 63 ff. Emil Kraepelin (1856–1926), NDB, Bd. 12, 1980, S. 639 (Siefert). 26 Kraepelin, Die Abschaffung des Strafmaßes. Ein Vorschlag zur Reform der heutigen Strafrechtspflege, 1880, S. 28 f.; hierzu Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933, 2004, S. 216 ff. 27 Kraepelin (Fn. 26), S. 29; auch S. 32, 61, 78; ebenso Aschaffenburg, MSchrKrim Bd. 1 (1905), S. 1, 6 f.; ders. (Fn. 15), S. 339: „Anpassung der Strafe an die Individualität des Täters bis zur letzten Folgerung, das ist die Aufgabe, Abschaffung des Strafmaßes ist die Lösung“. Pointiert zu den Konsequenzen Oetker, ZStW Bd. 17 (1897), S. 580: „Wer ungebessert stirbt, stirbt im Kerker“. 28 Kraepelin (Fn. 26), S. 62. Praktischen Bedenken begegnete er mit einem Verweis auf psychiatrische Anstalten: „Zudem haben wir ja in der Organisation der Irrenanstalten und ihres Personals schon seit einem Jahrhundert das Muster vor uns, dem die Strafanstalten im Großen und Ganzen unbedenklich folgen können“, ebd., S. VI. 25

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fallen müsse, wie es die vergeltende Gerechtigkeit erfordere, „nicht höher und nicht geringer“,29 war für ihn bestenfalls untauglich, schlimmstenfalls kontraproduktiv, um die anschwellende Kriminalität einzudämmen. Als untauglich habe sich tatorientierte Vergeltung im Kampf gegen das sog. „Gewohnheitsverbrechertum“ erwiesen.30 Sie erlaube es, dass unverbesserliche Rückfalltäter „nach einigen Jahren gleich einem Raubtier (erneut, A. K.) auf das Publikum losgelassen werden“.31 Als kontraproduktiv erachtete v. Liszt schuldausgleichende Vergeltung dagegen im Bereich der Kleinkriminalität. Gefängnisse galten ihm als „Brutstätten des Lasters“, als „Hochschulen der Verbrechenslaufbahn“, die den bloßen Gelegenheitsverbrecher sittlich zugrunde richteten. Kurzzeitige Freiheitsstrafen seien daher im Endeffekt für die Rechtsordnung gefährlicher als die Nichtbestrafung des Täters.32 Provozierend resümierte er: „Eine Strafe, die das Verbrechen fördert: das ist die letzte und reifste Frucht der ‚vergeltenden Gerechtigkeit‘“.33 2. Zweckstrafe statt Vergeltungsstrafe a) „Unschädlichmachung“ und Besserung Für v. Liszt diente Strafe nicht der schuldausgleichenden Vergeltung, sondern dem Rechtsgüterschutz.34 Die für einen effektiven Rechtsgüterschutz notwendige Strafe war für ihn zugleich die richtige und gerechte Strafe.35 Mit der Besserung, Abschreckung und Unschädlichmachung nannte er drei unmittelbare Wirkungen der Strafe.36 Jedem dieser drei Strafzwecke ord29

So Beling, Grundzüge des Strafrechts, 2. Aufl. 1902, S. 4. Im Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum sah v. Liszt eine der dringendsten Aufgaben der Gegenwart; so v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 36. 31 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 38, in Übernahme einer Formulierung von Kraepelin (Fn. 26), S. 21. 32 v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 743. 33 v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 749; ebd., S. 742: „unsere gesamte heutige Strafrechtspflege beruht fast ausschließlich auf der kurzzeitigen Freiheitsstrafe. Daraus ergibt sich unmittelbar der weitere Schluß: wenn die kurzzeitige Freiheitsstrafe nichts taugt, ist unsere ganze heutige Strafrechtspflege nichts wert“. 34 In seinem „Marburger Programm“ glaubte v. Liszt einen evolutionären Prozess zu erkennen, der die weitere Entwicklung unaufhaltsam vorbestimmt. Im Laufe der historischen Entwicklung habe sich die Strafe unter Herrschaft des Zweckgedankens von einer blinden Reaktion in Richtung zielbewussten Rechtsgüterschutzes fortentwickelt. In dieser Entwicklung sei „die Bahn des Fortschritts vorgezeichnet“; ders., ZStW Bd. 3 (1882), S. 22. 35 v. Liszt, ZStW Bd. 2 (1883), S. 31. 36 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 34; Ansätze bereits in ders., Das Deutsche Reichsstrafrecht, 1. Aufl. 1881, S. 3 ff. 30

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nete er sodann eine bestimmte Kategorie von Verbrechern zu.37 Wirksamer und zweckmäßiger Rechtsgüterschutz erforderte demnach die Unschädlichmachung des Gewohnheitsverbrechers, die Besserung des Besserungsfähigen sowie die Abschreckung des bloßen Gelegenheits- bzw. Augenblicksverbrechers. „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen“ lautete, auf eine Kurzformel gebracht, sein kriminalpolitisches Credo.38 v. Liszt leitete, wie zu zeigen ist, aus seinem Strafverständnis und seiner Kategorisierung der verschiedenen Verbrechergruppen weit reichende kriminalpolitische und methodische Folgerungen ab. b) Die „Gesamten Strafrechtswissenschaften“ Methoden und Aufgaben der Strafrechtswissenschaft mussten sich unter v. Liszts Konzeption erheblich erweitern. Zweckmäßige, effektive Verbrechensbekämpfung setzte die genaue Kenntnis der Verbrechensursachen sowie der Wirkungen von Strafe voraus.39 Den „Klassikern“ hielt v. Liszt thematische Selbstgenügsamkeit und das Ausblenden der sozialen Wirklichkeit vor. In unfruchtbaren Kämpfen habe die Strafrechtslehre ihre Kraft zersplittert, „in rein abstrakter Gedankenarbeit befangen (. . .) nicht bemerkt, was draußen vorging“.40 Im Gegensatz dazu umfasste die von ihm propagierte „gesamte Strafrechtswissenschaft“41 gleichrangig neben der herkömmlichen Dogmatik42 die Kriminologie, verstanden als Kriminalbiologie und Kriminalsoziologie, die Kriminalpolitik sowie die Poenologie, die Lehre von den Strafwirkungen.43 Auf allen diesen Feldern müsse der Kriminalist ebenso 37 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 35: „Wenn aber Besserung, Abschreckung, Unschädlichmachung wirklich die möglichen wesentlichen Wirkungen der Strafe und damit zugleich die möglichen Formen des Rechtsgüterschutzes durch Strafe sind, so müssen (!) diesen drei Strafformen auch drei Kategorien von Verbrechen entsprechen“. Eine Einteilung in sieben Gruppen findet sich bei Aschaffenburg (Fn. 15), S. 231. 38 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 42; ders., Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 21./22. Aufl. 1919, S. 13. 39 v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 453. 40 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 46. 41 Maßgebliches Publikationsorgan der „modernen Schule“ war die im Jahre 1881 gemeinsam von Dochow und v. Liszt gegründete „Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft“. 42 Ausschließlich dogmatisch betriebener Strafrechtswissenschaft billigte v. Liszt geringen Wert zu: „Hat es einen wirklichen Wert, wenn wir (. . .) mit den Begriffen spielen oder unseren Scharfsinn an juristischen Knackmandeln prüfen wollen (. . .). Aber die Strafrechtspflege scheint mir denn doch eine andere Aufgabe zu haben, als die Befriedigung solcher Neigungen“, v. Liszt, ZStW Bd. 10 (1890), S. 56. 43 Zu den Aufgaben der Strafrechtswissenschaft v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 453 ff.; ders., ZStW Bd. 20 (1900), S. 161 ff.

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gut vertraut sein wie mit den Normen des Reichsstrafgesetzbuches.44 Darüber hinaus erfordere der Kampf gegen das Verbrechertum ein Zusammenwirken verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, wobei der Strafrechtswissenschaft nach v. Liszts Überzeugung freilich die Führung gebührte.45 c) Das kriminalpolitische Programm Um mit dem Instrument „Strafe“ einen möglichst effektiven Rechtsgüterschutz erzielen zu können, entwarf v. Liszt ein ebenso umfassendes wie vielschichtiges kriminalpolitisches Programm. Ein Programm, dessen Bewertung aufgrund seines Nebeneinanders von liberal-rechtsstaatlichen und autoritär-repressiven Inhalten, von mild-verständnisvoller und menschenverachtend-brutaler Sprache, bis in die Gegenwart vollkommen gegensätzliche Bewertungen erfährt. Während v. Liszt den einen als „unser größter Kriminalpolitiker“ gilt,46 trifft ihn von anderer Seite das Verdikt, „den totalen Niedergang der deutschen Strafrechtslehre eingeleitet (zu haben, A. K.)“.47 aa) „Besserung der Besserungsfähigen“ v. Liszts Reformforderungen hinsichtlich der „Besserungsfähigen“ gründen auf dem Gedanken der Spezialprävention. „Fortschrittlich“ und „liberal“ erscheinen aus heutiger Sicht sein Feldzug gegen kurzzeitige Freiheitsstrafen48 und deren Ersetzung durch bedingte Verurteilungen (scil. Bewährungsstrafen).49 Zu seiner liberal-rechtsstaatlichen Reformagenda zählen weiterhin das Eintreten für Geldstrafen,50 seine Forderung nach Einführung von erzieherischen Maßnahmen für straffällig gewordene Jugendliche,51 die Anhebung 44

v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 456; ebd.: „Ich vertrete mit aller mir möglichen Bestimmtheit die Ansicht, daß jeder Kriminalist eben nicht nur Jurist sein darf“. 45 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 47. Wegen dieses Führungsanspruchs wird neuerdings der professionspolitisch defensive Charakter der „modernen Schule“ akzentuiert. Ziel sei es gewesen, juristische Methoden und Kompetenzen gegenüber den Erfahrungswissenschaften – insbesondere der Psychiatrie – zu verteidigen; so Chr. Müller (Fn. 26), S. 125 f., 293. 46 Roxin, ZStW Bd. 81 (1969), S. 613; weitere Zitate bei Naucke, ZStW Bd. 94 (1982), S. 528 f., 551 ff., 560 f. 47 Strafrecht der DDR. Lehrbuch, 1988, S. 58. 48 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 41; ders., ZStW Bd. 9 (1889), S. 737 ff. (für Erhöhung der Mindestgefängnisstrafe auf 6 Wochen); ders. (Fn. 38), S. 13. 49 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1889), S. 781; ders. (Fn. 38), S. 14. 50 v. Liszt, ZStW Bd. 10 (1890), S. 52 ff., 65 ff. An die Stelle der uneinbringlichen Geldstrafe sollte Strafarbeit ohne Einsperrung treten. 51 v. Liszt (Fn. 38), S. 14.

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der Strafmündigkeitsgrenze von 12 (§ 55 RStGB) auf 14 Jahre52 sowie sein Plädoyer für einen spezialpräventiv ausgerichteten Strafvollzug.53 Aus dem Besserungsgedanken leitete v. Liszt schließlich eine seiner Kernforderungen ab, die Beseitigung der richterlichen Strafzumessung zu Gunsten „relativ unbestimmter Strafurteile“.54 Im Gegensatz zu der von Kraepelin geforderten „absoluten Unbestimmtheit“ des Strafmaßes, hatte der Richter nach seinem Konzept weiterhin die Mindest- und Höchstdauer der Freiheitsentziehung festzulegen. Innerhalb dieses Rahmens blieb es neu zu schaffenden Strafvollzugsämtern überlassen, fortlaufend den Besserungserfolg zu überprüfen und hiernach den Entlassungszeitpunkt zu bestimmen.55 bb) „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen“ Die dunkle Seite von v. Liszts utilitaristischem Strafkonzept ist der von ihm propagierte Kampf gegen das Gewohnheitsverbrechertum. Bereits seine an Mittelstädt gemahnende Sprache löst Irritationen aus. Gewohnheitsverbrecher erschienen ihm als „Krebsschaden“ und „grundsätzliche Gegner der Gesellschaftsordnung“. Darwinistisch inspiriert sprach er von sozial untauglichen Individuen, die einer künstlichen Selektion mittels Strafe bedürfen.56 Doch welche Personengruppen waren es, die als „Unverbesserliche“ der „Unschädlichmachung“ verfallen sollten? v. Liszt genügte bereits die dritte Verurteilung wegen eines Eigentums- oder Sittlichkeitsdelikts.57 Schon wiederholter Diebstahlsrückfall war hinreichend, um den Täter dauerhaft zu selektieren.58 Nach seinen aus Rückfallstatistiken abgeleiteten Berechnungen zählte nicht weniger als die Hälfte der Gefängnis52 Ebd.; für Eintreten der Strafmündigkeit mit Vollendung des 16. Lebensjahrs noch ders., ZStW Bd. 12 (1892), S. 179. 53 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 40 f. 54 v. Liszt, ZStW Bd. 9 (1889), S. 492 ff.; ders., ZStW Bd. 10 (1890), S. 52 ff.; ders. (Fn. 38), S. 17 f. 55 Das Gremium sollte sich zusammensetzen aus dem Leiter der Strafanstalt, einem Staatsanwalt, einem Untersuchungsrichter sowie zwei von der Regierung ernannten Vertrauensmännern. 56 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 34 („Selektion“); S. 36 („Krebsschaden“), S. 37 („Gegner“). Bereits Mittelstädt (Fn. 22) hatte Rückfällige als „soziale Seuche“ (S. 71) bzw. „dem körperlichen und geistigen Siechthum rettungslos verfallene Glieder der Volksgemeinschaft“ (S. 72) bezeichnet. 57 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 39. 58 Ähnlich die Satzung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung von 1889, zu deren Mitbegründern v. Liszt zählte: „Unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher hat die Strafgesetzgebung, und zwar auch dann, wenn es sich um die oftmalige Wiederholung kleinerer Vergehungen handelt, für eine möglichst lange Zeitdauer unschädlich zu machen“ (Art. I Ziff. 9), abgedruckt bei Bellmann, Die Internationale Kriminalistische Vereinigung (1889–1933), 1994, S. 216 ff. Der „Klassiker“ Nagler,

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insassen zur Kategorie der „Unverbesserlichen“59! Von heute unfassbarer Brutalität sind die Maßnahmen, die v. Liszt „Unverbesserlichen“ angedeihen lassen wollte: „Da wir köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können, so bleibt nur die Einsperrung auf Lebenszeit (bzw. auf unbestimmte Zeit)“60. Vorgesehen waren, in abermaliger Anlehnung an Mittelstädt, „Strafknechtschaft mit strengstem Arbeitszwang und möglichster Ausnutzung der Arbeitskraft“.61 Als Disziplinarmaßnahmen standen Prügelstrafe, Dunkelarrest und strengstes Fasten bereit.62 Kennzeichnend für v. Liszts Rigorismus sind Passagen aus einem Brief an Dochow, den Mitbegründer der Zeitschrift für die Gesamte Strafrechtswissenschaft: „Sicherheitshaft für Gewohnheitsverbrecher: Arbeitshaus mit militärischer Strenge ohne Federlesens und so billig wie möglich, wenn auch die Kerle zugrundegehen. Prügelstrafe unerläßlich (. . .). Der Gewohnheitsverbrecher (. . .) muß unschädlich gemacht werden, und zwar auf seine Kosten, nicht auf die unseren. Ihm Nahrung, Luft, Bewegung usw. nach rationellen Grundsätzen zumessen, ist Mißbrauch der Steuerzahler“63. cc) „Moderne Kriminalpolitik“ am Beispiel des „Hauptmanns von Köpenick“ Die kriminalpolitischen Auswirkungen der Formel „Unschädlichmachung der Unverbesserlichen, Besserung der Besserungsfähigen“ lassen sich anhand eines spektakulären Kriminalfalls aus dem Jahre 1906 verdeutlichen, des nicht erst durch Zuckmayers Bühnenstück berühmt gewordenen „Hauptmanns von Köpenick“64. v. Liszt griff das Geschehen umgehend auf, um die Überlegenheit seines Strafkonzepts darzutun. Der vermeintliche Hauptmann, der Schuster Wilhelm Voigt, so rechnete v. Liszt akribisch vor, verbrachte wegen kleinerer Delikte in seiner Jugend 6 bzw. 9 Monate im Gefängnis; „wie unendlich segensreich für ihn und die Gesellschaft diese GS Bd. 70 (1907), S. 23 Fn. 1 sprach angesichts der aufgezeigten Konsequenzen von einer drohenden „Blutjudikatur“. 59 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 38. 60 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 39. „Nur ganz ausnahmsweise“ dürfe der „Unverbesserliche“ auf Entlassung hoffen. Alle fünf Jahre könne ein Aufsichtsrat einen entsprechenden Antrag stellen. Ein positiver Entscheid der Strafkammer habe jedoch nicht die Freilassung zur Folge, sondern lediglich die Verbringung aus der „Strafknechtschaft“ des Arbeitshauses in ein Gefängnis für Besserungsfähige. 61 v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 40. 62 Ebd. 63 Brief vom 21. November 1880; zit. nach Radbruch (Fn. 3), S. 229. 64 Hierzu Helmut Schulz, in: Der neue Pitaval (hrsg. v. R. A. Stemmle), Bd. 10, Erpresser, 1966, S. 129 ff.; Ausstellungskatalog zum 90. Jahrestag der Köpenickiade am 16. Oktober 1996 (hrsg. v. Heimatmuseum Köpenick), 1996.

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15 Monate gewesen sind, das beweist die Geschichte dieser typischen Verbrechenslaufbahn“.65 Im weiteren Verlauf seines Lebens habe Voigt über 20 Jahre im Zuchthaus gesessen. Wenn er nach den Ereignissen von Köpenick in ein paar Jahren wieder frei komme, so v. Liszt, werde Voigt abermals auf die menschliche Gesellschaft losgelassen und das ganze Spiel beginne von neuem.66 Ganz anders wären und würden die Ereignisse auf Grundlage der von ihm propagierten Zweckstrafe verlaufen. Kurzzeitige Gefängnisstrafen hätten den jugendlichen Voigt nicht verdorben, vielmehr wäre er durch spezialpräventive Fürsorgemaßnahmen gebessert worden. Soweit zur milden, humanen Seite des Lisztschen Konzepts. Den nunmehr aber zum mehrfachen Rückfalltäter gewordenen Voigt erachtete v. Liszt als einen „Unverbesserlichen“, der unschädlich zu machen sei. Der „Hauptmann von Köpenick“ wäre als „sozial untaugliches Individuum“ lebenslanger „Strafknechtschaft“ verfallen. Der Fortgang der Geschichte trug freilich eher dazu bei, das Lisztsche Strafkonzept zu desavouieren. Der falsche Hauptmann befand sich nach gut zwei Jahren wieder auf freiem Fuße und verdiente seinen Lebensunterhalt ohne erneut straffällig zu werden! d) Strafe als Gesellschaftsschutz – Radikalisierung der „modernen Schule“ Die Problematik des „Marburger Programms“ liegt nicht allein in den rechtspolitischen Zielen, die v. Liszt aus seinem Konzept tatsächlich ableitete. Teile der „Modernen Schule“ gelangten auf seiner Grundlage zu radikalen Folgerungen, die v. Liszt selbst nicht teilte. So wurde aus den Reihen der „Modernen“ vereinzelt die Forderung erhoben, das tradierte Tatstrafrecht durch ein Konzept der „sozialen Verteidigung“ zu ersetzen.67 Werden die Gedanken der „Spezialprävention“ und des „effektiven Rechtsgüterschutzes“ in den Vordergrund gerückt, so ist es in der Tat begründungsbedürftig, weshalb die Strafverhängung von einer konkreten Tatbegehung abhängig bleiben soll. Wäre es nicht konsequenter, gefährliche Individuen schon vor ihrer Deliktbegehung zu inhaftieren und zu behandeln? v. Liszt hielt es nicht für indiskutabel, das Reichsstrafgesetzbuch durch einen einzigen Paragraphen zu ersetzen: „jeder gemeingefährliche Mensch ist im Interesse der Gesamtheit unschädlich zu machen“.68 Freilich war er selbst 65

v. Liszt, ZStW Bd. 27 (1907), S. 220. Ebd. 67 Zu entsprechenden Vorstößen innerhalb der IKV Bellmann (Fn. 58), S. 90 f., 94 f., 101. 68 v. Liszt, ZStW Bd. 13 (1893), S. 356; ähnlich ders., in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 80. 66

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nicht bereit, diesen Schritt zu wagen.69 Zur Begründung formulierte er seine viel zitierten Sätze: Das Strafgesetzbuch sei die „magna charta des Verbrechers“70, das Strafrecht bilde die „unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik“71. Das Strafgesetz mit seinen Tatbeständen schütze den Staatsbürger gegenüber staatlicher Allgewalt,72 es verhindere, „dass an die Stelle der individuellen Verschuldung die soziale Gefahr gesetzt wird“.73 So einsichtig v. Liszts Ablehnung einer „sozialen Verteidigung“ auch sein mag, mit seinem Ziel eines effektiven Rechtsgüterschutzes durch spezialpräventive Zweckstrafen lässt es sich schwer in Einklang bringen. Es bleibt jene von Radbruch konstatierte „auffällige Spannung zwischen einer an die Tatbestände gefesselten Strafrechtsdogmatik und einer scheinbar allein auf die Täter zugeschnittenen Kriminalpolitik“74. Andere Anhänger der „Modernen“ zogen aus dem Konzept einer täterorientierten Schutzstrafe die Konsequenz, die Unterscheidung zwischen gemeingefährlichen Geisteskranken und gleichermaßen gemeingefährlichen (weil unverbesserlichen) Gewohnheitsverbrechern aufzugeben. In einem 1896 gehaltenen Vortrag auf dem Münchener Psychologenkongress schien auch v. Liszt bereit, von der Trennung zwischen Zucht- und Irrenhaus, zwischen Verbrechen und Wahnsinn, abzurücken: „Die Unterscheidung zwischen der Sicherungsstrafe gegen unverbesserliche Verbrecher und der Verwahrung gemeingefährlicher Geisteskranker ist nicht nur praktisch im wesentlichen undurchführbar, sie ist auch grundsätzlich zu verwerfen“.75 Aufgrund der (noch) abweichenden Volksansicht sei der Gesetzgeber jedoch wider bessere wissenschaftliche Überzeugung gehalten, an der traditionellen Scheidung zwischen Verbrechen und Wahnsinn festzuhalten.76 69 v. Liszt, ZStW Bd. 13 (1893), S. 358: „Das glaube ich, das hoffe ich im Interesse der persönlichen Freiheit, die ich nicht schutzlos der ‚sozialen Hygiene‘ preisgeben mag; das habe ich auch stets auf die Gefahr hin und mit dem Erfolge öffentlich gefordert, von den Stimmführern beider Heerlager des Eklectizismus (sic) geziehen zu werden“. 70 v. Liszt, ZStW Bd. 13 (1893), S. 357; ders., (Fn. 68), S. 80; monographisch zur umstrittenen Reichweite und Bedeutung dieser Aussagen Ehret, Franz v. Liszt und das Gesetzlichkeitsprinzip, 1996; auch G. Kaiser, SchwJZ 1984, S. 332; Naucke, ZStW Bd. 94 (1982), S. 540 ff. v. Liszts Sätze bieten keinen über die Ablehnung der „sozialen Verteidigung“ hinausgehenden Schutz vor kriminalpolitischen Versuchungen. Die Normen des Strafgesetzbuchs unterliegen ihrerseits der Disposition des Gesetzgebers und damit der Kriminalpolitik. 71 v. Liszt (Fn. 68), S. 80. 72 v. Liszt, ZStW Bd. 13 (1893), S. 357. 73 v. Liszt (Fn. 38), S. 18 Fn. 13. 74 Radbruch (Fn. 3), S. 225. 75 v. Liszt, ZStW Bd. 17 (1897), S. 82. Andeutungen bereits in ders., ZStW Bd. 13 (1893), S. 343.

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Gedanklich konnte sich v. Liszt den Bruch mit dem tradierten Tatstrafrecht durchaus vorstellen, ja er schien bisweilen geradezu mit derartigen Grenzüberschreitungen zu kokettieren. Dennoch schreckte er, anders als einige seiner Mitstreiter, vor den letzten Konsequenzen eines täterorientierten Zweckstrafrechts zurück. Ob dieses Zögern rechtsstaatlich motiviert war oder lediglich aufgrund taktischer Rücksichten erfolgte, bleibt bis heute umstritten.77 Sicher aber ist, dass seine Andeutungen dazu beitrugen, den Gegenstand des „Schulenstreits“ zu verdunkeln. Während v. Liszt vorrangig für die Umsetzung konkreter rechtspolitischer Forderungen stritt, verwiesen Binding und andere „Klassiker“ auf Begründungswidersprüche sowie die unhaltbaren Folgen seines konsequent verwirklichten straftheoretischen Konzepts.78

IV. Zwischen Rechtsstaatlichkeit und Repression – Bindings Klassizismus 1. Binding im „Schulenstreit“ Binding trat erst nach v. Liszts „berühmt-berüchtigtem“79 Münchener Vortrag in den „Schulenstreit“ ein.80 „Im Namen der Deutschen Rechtswissenschaft“ protestierte er gegenüber „diesem ungeheuerlichen Ergebnis des modernen Radikalismus“81. Im Vergleich zu anderen Protagonisten der „klassischen Strafrechtsschule“, wie etwa v. Birkmeyer82, Nagler83 oder dem 76 v. Liszt, ZStW Bd. 17 (1897), S. 88. Allerdings sei der Gesetzgeber berufen, durch vorsichtig fortschreitende Gesetzgebung auf die sittlich-rechtlichen Anschauungen des Volkes einzuwirken. 77 Die Magna-Charta-Formel als bloßen Ausdruck taktischen Kalküls interpretierend Ehret (Fn. 70), S. 86; zugespitzt bereits Jelowik (Fn. 15), 39 ff. Umgekehrt glaubt Chr. Müller (Fn. 26), S. 160, 294, dass taktische Gründe v. Liszt veranlassten, den autoritären Gehalt seines Programms in den Vordergrund zu rücken, um in der wilhelminischen Gesellschaft mit seinen liberalen Forderungen Gehör zu finden. 78 Binding (Fn. 7), S. XVI; Birkmeyer, Was lässt von Liszt vom Strafrecht übrig? Eine Warnung vor der modernen Richtung im Strafrecht, 1907, S. 3 ff.; ders., Studien zu dem Hauptgrundsatz der Modernen Richtung im Strafrecht, 1909, S. 82 f.; Nagler, GS Bd. 70 (1907), S. 31: „Alle politischen Errungenschaften des letzten Jahrhunderts würden (. . .) mit einem Schlag vernichtet. Die individuellen Rechte würden der Omnipotenz der staatlichen Machthaber geopfert. Unter dem Vorwand der sozialen Wohlfahrt würden die unliebsamen Elemente geräuschlos von der Bildfläche verschwinden können“. 79 Radbruch, Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld, 1949, S. 18. 80 Zu Bindings Haltung im Schulenstreit Westphalen (Fn. 1), S. 221 ff. 81 Binding, Grundriss des Gemeinen Deutschen Strafrechts, 5. Aufl. 1897, S. 86 Fn. 1; hierzu die Replik von v. Liszt, ZStW Bd. 18 (1898), S. 230 ff. („Anmaßung“, „Ungezogenheit“). 82 Karl v. Birkmeyer (1847–1920); NDB, Bd. 2, 1955, S. 258 (Lang-Hinrichsen).

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Würzburger Strafrechtslehrer Oetker84, hielt sich Binding, was die Anzahl seiner Beiträge betrifft, auffällig zurück. Seine Stellungnahmen beschränkten sich im Wesentlichen auf Vorworte und Fußnoten. Bindings Zurückhaltung folgte aus seinem Wissenschaftsverständnis. Er betrachtete sich als Strafrechtslehrer, der nichts anderes als eben das Strafrecht lehren wolle und dürfe.85 Das Lisztsche Konzept einer gesamten Strafrechtswissenschaft erschien ihm nichts weiter als „dilettantisches Treiben“, „Scharlatanerie“86 und „Ausbrütung von Kuckuckseiern“87. Dennoch trugen seine brillantpolemischen Einwürfe dazu bei, die Inkonsequenzen und rechtsstaatlichen Defizite des Lisztschen Konzepts aufzudecken. 2. „Klassische Schule“: Rechtsstaatliches Strafrecht . . . Binding bekannte sich zu einem schuldvergeltenden Tatstrafrecht. Strafe bedeutete für ihn „Rechtsmachtbewährung“88; sie wird dem Täter von Staatswegen für einen schuldhaften Rechtsbruch auferlegt, um die Autorität des verletzten Gesetzes zu wahren.89 Ihr Maß bestimmt sich allein nach der „Schuldenergie und der Schwere des Taterfolges“90. Strafbemessung nach gesellschaftlichen Sicherungsbedürfnissen wies Binding scharf zurück.91 Treffend spottete er über die Undurchführbarkeit und Willkürlichkeit, verschiedenen Strafzwecken bestimmte Tätertypen zuordnen zu wollen.92 Tatsächlich gelang es v. Liszt und der „modernen Schule“ zu keinem Zeitpunkt, handhabbare Kriterien für die verschiedenen Tätergruppen aufzustellen.93 Selbst die Voraussetzungen einer „Unschädlichmachung“ unterlagen 83

Johannes Nagler (1876–1951), NDB, Bd. 18, 1997, S. 715 f. (Vormbaum). Friedrich Oetker (1854–1937), NDB, Bd. 19, 1999, S. 469 f. (Spendel). 85 Binding (Fn. 7), S. III. 86 Ebd. 87 Binding (Fn. 6), Bd. 2, 1. Hälfte, 2. Aufl. 1914, S. VIII: „Den rechtlichen Anschauungen werden philosophische, psychologische, ethische, wirtschaftliche, politische, sociologische, medizinische untergeschoben, und stets wird in naivster Weise von der Ausbrütung dieser Kukukseier ein ganz neuer, unendlich segensreicher Aufschwung der Rechtswissenschaft verkündet, obgleich nichts andres folgen kann, als zunächst Fälschung und Konfusion, schliesslich jedoch stets dieselbe grosse Enttäuschung“. 88 Binding (Fn. 7), S. 228. 89 Ebd. 90 Binding (Fn. 7), S. 234. 91 Binding (Fn. 7), S. XVII. 92 Binding (Fn. 7), S. 207: „humoristischer Anflug“; krit. auch Oetker, ZStW Bd. 17 (1892), S. 546; Nagler, GS Bd. 70 (1907), S. 30: „wunderlicher Mystizismus“, ebd., Fn. 1: „stark scholastische Rubrizierung der Verbrecher“. 93 Nagler, GS Bd. 70 (1907), S. 32 ff.: „Über unklare, mehr gefühlsmäßig empfundene als verstandsmäßig durchdachte Erwägungen, über schnell aufgegriffene 84

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gänzlich unbestimmten, zudem ständig wechselnden Topoi. Abgehoben wurde zunächst auf mehrfachen Rückfall, später auf die Gewerbsmäßigkeit der Begehung oder einen „festgewurzelten verbrecherischen Hang“, der bereits bei erstmaliger Deliktsbegehung zu Tage treten könne.94 Als unvereinbar mit der Idee schuldausgleichender Vergeltung erwies sich schließlich die „moderne“ Forderung nach unbestimmten Strafurteilen. Das Strafmaß erst während des Vollzugs festzulegen, erschien Binding als frivoles Spiel „mit dem Schicksal von Tausenden und Abertausenden“.95 Ganz auf dieser Linie sah Oetker den Täter einem unkontrollierten Ermessen, „dem souveränen Verstand oder Unverstand einer Verwaltungsbehörde“ ausgeliefert.96 „Haben wir“, fragte Binding rhetorisch, „deshalb nach dem Rechtsstaat gerungen, um alle Verbrecher (. . .) einer Polizeiwillkür sondergleichen auszuliefern?“97 3. . . . und autoritäre Verbrechensbekämpfung Bindings Kritik lässt die „Klassiker“ als die eigentlichen Wahrer liberalrechtsstaatlichen Gedankenguts erscheinen. Dass dieser Schluss voreilig wäre, belegen Bindings Empfehlungen zum Umgang mit „Unverbesserlichen“. Weil derartige rechtspolitische Fragen für ihn nicht zum eigentlichen Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Beschäftigung zählten, skizzierte Binding sein „Programm“ mit wenigen Sätzen. Zur Wahrung der Gesetzesautorität plädierte er für exemplarische Strafen, bis hin zur vermehrten Anwendung der Todesstrafe.98 „Limonade des Mitleids“99 gegenüber „Unverbesserlichen“ blieb ihm fremd. In seiner Entschlossenheit im Kampf gegen das Verbrechen wollte sich Binding von niemandem übertreffen lassen. Schon lange vor „allen diesen modernen Bestrebungen“ sei er für die „Unschädlichmachung dieser Sippschaft“ eingetreten.100 Im Gegensatz zur „mound hingeworfene, isoliert bearbeitete Einfälle ist man noch nicht hinausgediehen“; krit. auch v. Birkmeyer, GS Bd. 67 (1906), S. 412.; ders. (Fn. 78 [1907]), S. 12 ff. 94 Zuletzt v. Liszt (Fn. 38), S. 16. 95 Binding (Fn. 7), S. 238. 96 Oetker, ZStW Bd. 17 (1897), S. 581. 97 Binding (Fn. 7), S. 238; krit. auch Oetker, ZStW Bd. 17 (1897), S. 577; Nagler, GS Bd. 70 (1907), S. 36 f. 98 Binding (Fn. 7), S. XVII. v. Liszts Stellungnahmen zur Todesstrafe sind nicht eindeutig. Für deren Abschaffung wollte er sich nicht aussprechen; durch die Umgestaltung des Strafensystems werde die Todesstrafe jedoch überflüssig, v. Liszt, ZStW Bd. 3 (1883), S. 42; ders., ZStW Bd. 10 (1890), S. 51 f.; ders. (Fn. 38), S. 241 f. Nicht zu Unrecht konnte Binding anmerken, dass Vertreter der „Modernen“ die Frage der Todesstrafe kunstvoll umgingen, „deren Kultivierung doch ganz in ihrer Richtung, der Reinigung der Gesellschaft vor unerträglichen Plagegeistern liegt“; ders., (Fn. 7), S. XVII. 99 Binding (Fn. 7), S. XV.

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dernen Schule“ wollte Binding die dauernde Aussonderung „Unverbesserlicher“ im Rahmen des traditionellen Schuldstrafrechts verwirklichen. Als Ansatzpunkt diente ihm das im Reichsstrafgesetzbuch verankerte Institut der Rückfallstrafe. Auf wiederholte schwere Deliktsbegehung – einschließlich schweren Diebstahls und schwerer Körperverletzung – sollte künftig Todesstrafe oder lebenslange Freiheitsstrafe stehen.101 Die „Unschädlichmachung“ erfolgte somit im Rahmen schuldausgleichender Vergeltung. Lebenslange Gefängnisstrafen bei wiederholter Begehung leichterer Delikte (z. B. einfacher Vermögensdelikte, Körperverletzungen und Beleidigungen) erschienen Binding hingegen als unzulässiger Verstoß gegen den Schuldgrundsatz. Dennoch gelangte er auch hier zu ähnlichen Ergebnissen wie v. Liszt. Nichts einzuwenden hatte er nämlich, wenn sich an die schuldangemessene Strafe eine polizeiliche Nachhaft anschloss, falls nötig auf Lebenszeit.102 Wichtig war ihm allein, dass eine solche Sicherungsmaßnahme terminologisch wie gesetzestechnisch von der Strafe streng geschieden blieb.103 Standort individualpräventiver Maßnahmen war für Binding nicht das Strafrecht, sondern das Polizeirecht; ihre Anordnung oblag Polizeibehörden, nicht Richtern.104 Strafe war für Binding niemals eine Sicherungsmaßregel, sondern „etwas anderes, höheres, edleres“.105 Um der Reinheit der Strafe willen wollte Binding, wie Frisch treffend formulierte, schuldunabhängige Sanktionen dem zum damaligen Zeitpunkt rechtsstaatlich weitaus weniger abgesicherten Polizeirecht zuschlagen.106

V. Fortwirkungen – oder: Wer „siegte“ im „Schulenstreit“? 1. „Dritte Schule“ Weder v. Liszt noch Binding gelang es, ihr Konzept gesetzgeberisch durchzusetzen. Die Zukunft gehörte einer Kompromisslinie.107 Innerhalb der Strafrechtswissenschaft formierte sich eine sog. „Dritte Schule“, die auf 100

Binding (Fn. 7), S. XVIII. Binding (Fn. 7), S. XVIII; für diesen Weg der „Unschädlichmachung“ auch Oetker, ZStW Bd. 17 (1897), S. 543 Fn. 121. 102 Binding (Fn. 7), S. XVIII. 103 Binding (Fn. 7), S. XVI; ders., GS Bd. 72 (1911), S. 1, 7; ähnl. v. Birkmeyer (Fn. 78 [1907]), S. 52. 104 Binding, GS Bd. 72 (1911), S. 1, 7. 105 Binding (Fn. 7), S. XVI. 106 Frisch, ZStW Bd. 94 (1982), S. 587. 107 v. Liszt, ZStW Bd. 13 (1893), S. 367 f. deutete früh seine Bereitschaft zu einem „legislatorischen Kompromiss“ an: „Ich wäre durchaus zufrieden, wenn die 101

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der Basis des „klassischen“ schuldvergeltenden Strafrechts mehr oder weniger große Teilstücke des „modernen“ Reformprogramms übernahm.108 Dem Strafkonzept der „Klassiker“ wurde gewissermaßen die Rechtspolitik der „Modernen“ aufgepfropft. Wegbereiter einer „pragmatischen Auflösung des Schulenstreits“109 war der Zürcher Strafrechtslehrer Carl Stooss110. Sein „Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch“ aus dem Jahre 1893 sah neben schuldvergeltenden Strafen erstmals bestimmte Sicherungsmaßnahmen gegenüber gefährlichen oder behandlungsbedürftigen Tätergruppen vor.111 Hieran anknüpfend übernahmen die deutschen Reformentwürfe des frühen 20. Jahrhunderts die sog. Zweispurigkeit von schuldausgleichender Strafe und sichernder Maßregel, den heute im Strafgesetzbuch verankerten „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ (§§ 61 ff. StGB).112 Entgegen Binding gelangten somit schuldunabhängige Maßnahmen in das Strafgesetzbuch. v. Liszt dagegen musste es hinnehmen, dass sein Konzept der Sicherungsstrafen nicht übernommen wurde, dass schuldvergeltende Strafen weiterhin im Zentrum des strafrechtlichen Sanktionenspektrums standen.113 2. Grundlegung rechtsstaatlichen Strafrechts? Was bleibt vom „Schulenstreit“, welche Positionen Bindings und v. Liszts wirken fort, auf welche Ansätze kann ein rechtsstaatliches Strafrecht bis heute zurückgreifen? Zahlreiche Normierungen des geltenden Rechts haben ihren Ursprung in v. Liszts Reformagenda. Die erste legislatorische Umsetzung seiner Ideen erfolgte durch die Geldstrafengesetzgebung von von uns geforderte Umgestaltung zunächst nur bezüglich der Jugendlichen und Unverbesserlichen durchgeführt würde. Dabei soll es auf den Namen nicht ankommen, den man dem Kinde geben will. Das ist ja die liebenswürdigste Seite in dem Verhalten unsrer Gegner, daß sie zufrieden sind, wenn die altehrwürdigen Etiketten geschont werden“. 108 Vgl. Liepmann, ZStW Bd. 28 (1908), S. 1, 4; Kohler, GA Bd. 54 (1907), S. 1 ff.; zum Meinungsspektrum innerhalb der „Klassiker“ Oborniker, ZStW Bd. 36 (1917), S. 158 ff.; mit weiteren Nachweisen Frisch, ZStW Bd. 94 (1982), S. 570. 109 So Frisch, ZStW Bd. 102 (1990), S. 347. 110 Carl Stooss (1849–1934). Im Schweizer Schrifttum wird konstatiert, dass „das kriminalpolitische Denken von Stooss sozial und menschlich den vergleichbaren Erwägungen v. Liszts weit voraus war“; so G. Kaiser, SchwJZ 1984, S. 333; ähnl. Kaenel, Die kriminalpolitische Konzeption von Carl Stooss im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung von Kriminalpolitik und Straftheorien, 1981, S. 115. 111 Hierzu Frisch, ZStW Bd. 102 (1990), S. 345 ff.; Kaenel (Fn. 110), S. 97 ff. 112 Zu den unverwirklicht gebliebenen Reformentwürfen Roxin (Fn. 12), § 4 Rn. 3 ff.; Eb. Schmidt (Fn. 1), S. 394 ff., 405 ff. 113 Zur Bedeutung v. Liszts für die Einführung von Maßnahmen der Besserung und Sicherung Frisch, ZStW, Bd. 94 (1982), S. 565 ff.

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1921/1924114 und das Jugendgerichtsgesetz von 1923, der ersten Kodifikation, die sich zum Gedanken der Spezialprävention bekannte.115 Hatte die Geldstrafe zur Zeit des „Marburger Programms“ noch eine gänzlich untergeordnete Rolle gespielt, so lag ihr Anteil 1928 bereits bei nahezu 70% der Verurteilungen. Maßgeblich auf v. Liszt zurückzuführen sind weiterhin der Ausnahmecharakter kurzzeitiger Freiheitsstrafen (§ 47 StGB), die Schuldunfähigkeit von Kindern unter 14 Jahren (§ 19 StGB), weit reichende Möglichkeiten der Strafaussetzung auf Bewährung (§§ 56 ff. StGB) sowie die Festschreibung der Spezialprävention als maßgebliches Ziel des Strafvollzugs (§ 2 StVollzG). In ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen sind schließlich die wissenschaftsgeschichtlichen und methodischen Fortwirkungen des Lisztschen Reformprogramms. Sein Konzept sorgte zum einen dafür, dass sich das Strafrecht den Erfahrungswissenschaften öffnete, zum anderen bewirkte es, dass sämtliche Teilgebiete der „gesamten Strafrechtswissenschaften“ weiterhin an juristischen Fakultäten gelehrt werden. Von Binding dagegen konnten angesichts seiner selbst auferlegten thematischen Selbstbeschränkung keine wesentlichen Impulse für die Strafrechtsreform ausgehen. Sein bleibendes Verdienst ist es, die Gefahren eines konsequent spezialpräventiv ausgerichteten Strafrechts aufgezeigt zu haben. So gelten relativ oder absolut unbestimmte Strafurteile, eine der Hauptforderungen der „Modernen“, heute als „rechtsstaatswidrig“.116 Trotz zahlreicher Befürworter unter Liszt-Schülern und „Liszt-Enkeln“ fanden sie keinen Eingang in das Erwachsenenstrafrecht.117 Die Möglichkeit zur Verhängung unbestimmter Jugendstrafen (§ 19 JGG a. F.) wurde 1990 aufgehoben.118 Bindings unbedingtes Festhalten am Schuldgrundsatz war und ist alles andere als antiquiert. Unter dem Grundgesetz ist das Schuldprinzip als Verfassungsgrundsatz anerkannt (nulla poena sine culpa).119 Niemals, so der Bundesgerichtshof ganz in der Tradition Bindings, dürfe der Präventionszweck 114

Kubink (Fn. 17), S. 183 ff. Kubink (Fn. 17), S. 189. 116 Roxin, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.), Kritik und Rechtfertigung des Strafrechts, 2005, S. 179; krit. auch Jescheck/Weigend, Strafrecht. Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 24. 117 Eine Ausnahme machen §§ 20, 20a–b des von Richard Lange entworfenen sog. „Thüringer Strafgesetzbuches“ vom 1. November 1945, welches in den ersten Nachkriegsjahren das RStGB modifizierte; hierzu auch R. Lange, NJ 1947, S. 7 ff. Für unbestimmte Freiheitsstrafen gegen erwachsene Hangtäter noch Eb. Schmidt, ZStW Bd. 69 (1957), S. 394. 118 Hierzu Ostendorf, Jugendgerichtsgesetz, 6. Aufl. 2003, S. 205 f. 119 BVerfG 20, 323 (331); BVerfG 23, 127 (132); BVerfG 45, 187 (228); BVerfG 90, 145 (173); BVerfG 96, 225 (249): „Jede nach dem Strafgesetz zu verhängende Strafe setzt Schuld voraus und muss in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen“. 115

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dazu führen, die gerechte (d.h. die schuldhafte) Strafe zu überschreiten.120 Der Schuldgrundsatz dient dem Täter als Schutz vor einem Übermaß an präventiver oder repressiver Zugriffnahme seitens des Staates.121 Bei der Frage nach den Fortwirkungen des „Schulenstreits“, nach den rechtsstaatlichen Potentialen der „klassischen“ und „modernen“ Strafrechtsschule, kann es nach alledem allein um Teilkonzepte der jeweiligen „Schule“ gehen. Weder Binding noch v. Liszt lassen sich, so verlockend dies auch sein mag, als „liberale Reformer“ vereinnahmen. Gegenteilige Bestrebungen müssen durch das Ausblenden oder Herunterspielen des autoritär-repressiven Gehalts beider „Schulen“ erkauft werden.

120 121

BGHSt 20, 264 (266 f.). Jescheck/Weigend (Fn. 114), S. 24; Roxin (Fn. 12), § 3 Rn. 47.

Historische Entwicklung der Kriminalbiologie Von Klaus Laubenthal, Würzburg

I. Einleitung Die Erfassung von allgemeinen Körpermerkmalen des Menschen zum Zweck der Verbrechensbekämpfung hat eine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Tradition. Sie diente zunächst als Technik der nachträglichen Identifizierung von Straftätern. Körpermerkmale werden heute zudem präventiv erfasst. Es kommt zu einer Vermessung quantitativer Merkmale von Menschen. Solche Merkmale (z. B. Gesicht, Iris, Fingerabdrücke) halten Einzug in Passdokumente. Die moderne Biometrie verfolgt das Ziel, anhand der Vermessungsresultate eine Authentifizierung aus einem definierten Personenkreis oder eine Identifizierung aus einem undefinierten Personenkreis zu ermöglichen. Neben Augen-, Iris- oder Retinamerkmalen, Fingerlinienbildern oder Gesichtserkennung kommen als biometrische Merkmale vor allem in Betracht: Stimme und Sprachverhalten, Handschrift, Stimmprofil, Fortbewegungsverhalten, Handbiometrie bzw. Handlinienstruktur, Geruch sowie die DNA. Es wird aus einem einzelnen biometrischen Merkmal oder aus einer Kombination von biometrischen Daten auf eine bestimmte Person geschlossen. Im Bereich der Biometrie geht es jedoch nicht um die Suche nach biologischen Ursachen für kriminelles Verhalten an sich. Dies ist Gegenstand der Kriminalbiologie, wie sie vor allem seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Nordamerika (wieder) entstanden ist.1 Gesucht wird nach biologischen Faktoren, welche die Wahrscheinlichkeit des abweichenden Verhaltens eines Betroffenen erhöhen. Dabei bemüht man sich um eine multifaktorielle Herangehensweise an die Frage der Kriminogenese, neben biologischen Kriterien treten auch soziale und psychische Aspekte ins Zentrum der Betrachtungen. Selbst genetische Experimente suchen neben dem Einfluss erblicher auch nach demjenigen sozialer Momente auf die Kriminogenese und erkunden Nachweise für mögliche Interaktionen zwischen beiden Variablen.2 Es wird aktuell auch nicht nach einem Gen geforscht, das direkt kriminelle Verhaltensweisen beeinflusst. Man geht vielmehr da1 2

Dazu eingehend Hohlfeld, Moderne Kriminalbiologie, 2002, S. 75 ff. Vgl. Hohlfeld (Fn. 1), S. 80 ff.

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von aus, dass verschiedene Gene Proteine kodieren, die durch biologische Prozesse (z. B. durch den Hormon- oder Neurotransmitterhaushalt) bestimmte Auswirkungen auf das menschliche Verhalten zeigen können. Deshalb erschöpfen sich moderne kriminalbiologische Studien nicht in genetischen Tests. Sie beziehen möglichst viele verschiedene Gesichtspunkte der menschlichen Biologie ein, was sich etwa in psychophysiologischen oder neuropsychologischen Studien manifestiert. Die Kriminalbiologie stellt wie die Kriminologie insgesamt eine junge Wissenschaft dar. Zwar haben sich schon seit langem Menschen über den Ursprung und die Ausdrucksformen von Verbrechen Gedanken gemacht und Erklärungsansätze für abweichende Verhaltensweisen entwickelt. Dabei handelte es sich jedoch regelmäßig nicht um ein wissenschaftliches Vorgehen.3 Der Beginn der wissenschaftlichen Forschungen über Verbrecher und Verbrechen wird weitgehend auf das Jahr 1876 datiert, in welchem Cesare Lombroso sein Werk „L’uomo delinquente“ veröffentlichte.4 Die Kriminalbiologie war zunächst geprägt vom Konzept des Determinismus. Lombroso, Begründer des Scuola Positiva, stellte die These vom geborenen Verbrecher auf. Demgemäß versuchte die klassische Kriminalbiologie, aus quantitativen Merkmalen von Menschen auf ihre Neigungen zu Kriminalität zu schließen sowie sogar für einzelne Deliktsgruppen charakteristische Körpermerkmale zu ermitteln.

II. Lombroso und die Kriminalanthropologie Um die Aussagen von Lombroso besser verstehen zu können, wollen wir uns zunächst einen kurzen Überblick über die einschlägige Wissenschaftssituation im 19. Jahrhundert verschaffen. Eine der wesentlichen Grundlagen für die Theorie Lombrosos vom geborenen Verbrecher stellten die Forschungen von Charles Darwin und dessen Lehre von der ständigen Wandlung und Höherentwicklung der Arten dar.5 Den Erkenntnissen Darwins folgend erlangten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Biowissenschaften vermehrte Bedeutung. Es entstanden Hypothesen über die Ungleichheit der Menschen, die man als eine wissenschaftliche Tatsache präsentierte. So stellte Darwin bereits die Behauptung auf, es gebe Menschen, 3 Dazu Hering, Der Weg der Kriminologie zur selbständigen Wissenschaft, 1966, S. 32. 4 Siehe Bock, Kriminologie, 2. Aufl. 2000, S. 11 f.; Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, S. 114; Kürzinger, Kriminologie, 2. Aufl. 1996, S. 27; Mezger, Die Geschichte der Kriminologie und die kriminalbiologische Gesellschaft, Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, Bd. 6, 1952, S. 22. 5 Vgl. Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf um’s Dasein.

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die ihren primitiven Ahnen näher stünden als andere. Eine weit verbreitete Theorie verfocht zur gleichen Zeit einen kausalen Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Intelligenz. So meinte etwa der als Erfinder der physikalischen Anthropologie6 bezeichnete französische Chirurg Paul Broca: Es bestehe eine bemerkenswerte Beziehung zwischen dem Entwicklungsgrad der Intelligenz und dem Gehirnvolumen.7 Als Ergebnis seiner Studien konstatierte er: Im Allgemeinen sei das Gehirn bei reifen Erwachsenen größer als bei alten Leuten, bei Männern größer als bei Frauen, bei hervorragenden Männern größer als bei Männern mit mittelmäßiger Begabung, bei höher stehenden Rassen größer als bei minderwertigen.8 Dabei ging er von der Überlegenheit der weißen Rasse aus und stellte die schwarze Rasse an das Ende einer „rassischen Rangordnung“.9 Eine vergleichbare Ansicht vertrat auch der deutsche Anatom Karl Vogt, der das Gehirn erwachsener Schwarzer und weiblicher Weißer mit dem Gehirn männlicher weißer Kinder verglich und auf deren Stufe stellte.10 Auch der amerikanische Paläontologe E. D. Cope glaubte, verschiedene Gruppen von niederen Menschenformen identifiziert zu haben, zu denen er nichtweiße Rassen und Frauen ebenso zählte wie soziale Unterschichten innerhalb seiner Ansicht nach höher stehender Rassen.11 Die Unterschiede zwischen den Menschen wurden als erblich und als unabänderlich betrachtet. Dabei war es die Rekapitulationstheorie, die für die damaligen Wissenschaftler einen Hauptausgangspunkt für anthropometrische Argumentationen über Rangordnungen von Rassen lieferte.12 Der deutsche Zoologe Ernst Haeckel meinte, dass der Stammbaum des Lebens sich unmittelbar aus der Entwicklung des Embryos höherer Lebensformen ablesen lasse: „Die Ontogenie ist eine Recapitulation der Phylogenie.“13 Ein Lebewesen durchlaufe also in seiner eigenen Entwicklung eine Reihe von Stadien, welche erwachsene frühere Ahnen in ihrer richtigen Reihenfolge zeigten. Es erfolge eine Wiederholung der stammesgeschichtlichen Evolution. Anhand dieser Rekapitulation lasse sich dann die Stellung eines Individuums auf der Evolutionsskala ermitteln. Gewichtsbestimmungen menschlicher Ge6

Vgl. Burrell, Museum der Gehirne, 2005, S. 117. Broca, Sur le volume et la forme du cerveau suivant les individus et suivant les races, Bulletin Société d’Anthropologie, 1861, S. 188. 8 Broca (Fn. 7), S. 304. 9 Broca, Anthropologie, in: Dechambre, Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales, 1866, S. 280 ff. 10 Vogt, Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde, 1863, S. 242 f. 11 Cope, The origin of the fittest, 1887, S. 291 ff. 12 Gould, Der falsch vermessene Mensch, 1983, S. 121. 13 Haeckel, Die Welträtsel, 1899, S. 308. 7

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hirne sowie die Vermessung von Schädeln und anderen Körperteilen sollten demgemäß zeigen, auf welcher Reifungsstufe ein bestimmter Mensch stehen geblieben war. Biologen, Anthropologen, aber auch Statistiker waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemüht, einen Rassismus wissenschaftlich zu begründen, ja sogar in eine Wissenschaft zu überführen.14 Der wissenschaftliche Rassismus der damaligen Zeit stellte die Basis dar, auf der Ezechia Marco Lombroso, genannt Cesare (1835 bis 1909), Psychiater und Anthropologe in Pavia und Turin15, zunächst sein Rassemodell errichtete und auf jenes wiederum seine Lehre vom geborenen Verbrecher gründete, sein Konzept des uomo delinquente. Es waren vor allem die Werke der Phrenologen, von Darwin, der französischen Psychiatrie, von Haeckel und Broca, aus denen Lombroso sein Wissen bezog. Im Jahr 1871 erschien Lombrosos Schrift über den weißen und den farbigen Mann.16 Ausgehend von der Annahme Darwins, dass es einen gemeinsamen Ursprung aller Menschen gibt, konstatierte Lombroso: Die Gehirne der Affen unterschieden sich von denen der menschlichen Gehirne nur in ihrem Volumen. Die Affen seien der unmittelbare Ursprung des Afrikaners. Durch Migration habe sich aus der schwarzen Rasse dann zunächst die gelbe und schließlich die weiße Rasse entwickelt. Lombroso vertrat die Auffassung, die weiße Rasse stelle den Schlüssel der Evolution dar.17 Er befinde sich auf der obersten Stufe einer scala naturae. Lombroso „entdeckte“ sein Konzept des geborenen Verbrechers, als er als Gerichtsmediziner die Hirnschale eines zur damaligen Zeit in Norditalien berühmten Räubers untersuchte: „Das war nicht nur ein Gedanke, sondern eine Offenbarung. Beim Anblick dieser Hirnschale glaube ich ganz plötzlich, erleuchtet wie eine unermessliche Ebene unter einem flammenden Himmel, das Problem der Natur des Verbrechers zu schauen – ein atavistisches Wesen, das in seiner Person die wilden Instinkte der primitiven Menschheit und der niederen Tiere wieder hervorbringt. So wurden anatomisch verständlich: die enormen Kiefer, die hohen Backenknochen, die hervorstehenden Augenwülste, die einzelstehenden Handlinien, die extreme Größe der Augenhöhlen, die handförmigen oder anliegenden Ohren, die bei Verbrechern, Wilden oder Affen 14

Vgl. Stepan, The Idea of Race in Science, 1982, S. 1 ff. Zur Biographie Lombrosos siehe Kurella, Cesare Lombroso als Mensch und Forscher, 1910; Gina Lombroso-Ferrero, Weshalb mein Vater Gelehrter wurde, MschrKrim, Bd. 8, 1911/12, S. 321 ff.; Simson, Einer gegen alle, 3. Aufl. 1972, S. 312 ff.; Wolfgang, Cesare Lombroso, in: Mannheim (Hrsg.), Pioneers in Criminology, 2. Ed. 1972, S. 232. 16 Lombroso, L’uomo bianco e l’uomo di colore: Letture sull’origine e le varieta delle razze umane, 1871. 17 Lombroso (Fn. 16), 1871, S. 20. 15

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gefunden werden, die Gefühllosigkeit gegen Schmerzen, die extrem hohe Sehschärfe, die Tätowierungen, die übermäßige Trägheit, die Vorliebe für Orgien und die unwiderstehliche Begierde nach dem Bösen um seiner selbst willen, das Verlangen, nicht nur das Leben in dem Opfer auszulöschen, sondern den Körper zu verstümmeln, sein Fleisch zu zerreißen und sein Blut zu trinken.“18 Lombroso versuchte durch klinische und anthropometrische Untersuchungen von ca. 1.200 lebenden und mehr als 100 verstorbenen Straftätern nachzuweisen, dass sich der Verbrecher von anderen Menschen durch physische Anomalien unterschied, welche diesen entsprechende Anomalien der Psyche widerspiegelten. In seinem 1876 erstmals erschienenen Werk „L’uomo delinquente“ stellte er seine Theorie vom geborenen Verbrecher19 auf, die allerdings durch ihn selbst immer wieder Abänderungen erfuhr.20 Nach Lombroso war der geborene Verbrecher von Anfang an kriminell, also von Anbeginn des Lebens an organisch zu abweichenden Handlungen prädestiniert und unverbesserlich.21 Gestützt auf die Evolutionstheorie stellten Verbrecher für ihn Rückfälle der Evolution dar, Personen, bei denen die Vergangenheit wieder zum Leben erwache. Einem Trieb ausgeliefert, wie ein Affe oder Wilder zu handeln, würden sie von der zivilisieren Gesellschaft durch ihr Verhalten als kriminell eingestuft. Der geborene Verbrecher sei jedoch zu identifizieren, weil er eine eigene Spielart der menschlichen Gattung bedeutete, eine Rückartung auf einen primitiven „untermenschlichen“ Typus. Das wie eine Naturerscheinung auftretende Verbrechen bleibe erkennbar, weil – so Lombroso – die geborenen Verbrecher die anatomischen Anzeichen ihrer Affenartigkeit trügen. Zwar könne auch bei normalen Menschen kriminelles Verhalten entstehen, der geborene Verbrecher zeichne sich allerdings durch eine spezifische Anatomie aus. So beschreibt Lombroso dessen körperliche Stigmata folgendermaßen: „Die Diebe haben im Allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände; ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; der Bart spärlich, das 18

Lombroso, Introduction, in: Gina Lombroso-Ferrero (Hrsg.), Criminal Man According to the Classification of Cesare Lombroso, 1911, S. XXIV f. (Übersetzung zitiert nach Strasser, Verbrechermenschen, 1984, S. 41). 19 Den Begriff „delinquente nato“ prägte später Enrico Ferri in seinem Buch: Das Verbrechen als sociale Erscheinung. Grundzüge der Kriminal-Sociologie, 1896, S. 85 ff. 20 Ein 1902 erschienenes Werk über „Die Ursachen und die Bekämpfung des Verbrechens“ beginnt Lombroso mit dem Satz: „Jedes Verbrechen hat seinen Ursprung in einer Vielfalt von Ursachen . . .“. In der 5. Aufl. von „L’uomo delinquente“ erkennt Lombroso auch die auslösende Rolle der Umgebung und der Erziehung für die Taten der geborenen Verbrecher an. 21 Lombroso, Über den Ursprung, das Wesen und die Bestrebungen der neuen anthropologisch-kriminalistischen Schule in Italien, ZStW, Bd. 1, 1881, S. 112.

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Haar seltener dicht, die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend . . . Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick, ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang, die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich; die Lippen dünn, die Eckzähne groß . . . Im Allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig, das Haupthaar voll, der Bart spärlich, die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder vorragend, die Backenknochen breit – kurz ein mongolischer und bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.“22 In dem letzten Vergleich von atavistischen Verbrechern mit Menschen nach damaliger Ansicht niedriger Rassen ist die Rekapitulationstheorie deutlich erkennbar. Lombroso glaubte jedoch nicht nur an die Erkennbarkeit des Verbrechers anhand äußerlicher Merkmale. Vielmehr sprach er dem geborenen Verbrecher auch „somatisch-psychische Eigentümlichkeiten“23 zu. Als derartige Persönlichkeitsmerkmale beschrieb Lombroso: „In der Gemütssphäre ist zunächst die Neigung zu excessiven AffektAusbrüchen, worunter der Zorn die erste Stelle einnimmt, zu nennen. Unter den Gemütsanlagen und Leidenschaften herrschen die Eitelkeit, die Rachsucht, die Neigung zum Genusse geistiger Getränke, zum Spiel, zum geräuschvollen Lebenswandel und Festgelagen vor. Zu den ausgesprochenen Charakterzügen gehören endlich ein sorgloser Leichtsinn . . . und der Müßiggang.“24

III. Kriminalpolitische Folgerungen aus der Lehre Lombrosos Weit mehr als die einzelnen Forschungsresultate kriminalanthropologischer Studien Lombrosos bleiben bis heute seine kriminalpolitischen Zielsetzungen von Interesse und Relevanz.25 Bereits im Jahr 1875 forderte Lombroso in einer Schrift über die Strafe26 ebenso wie dann in der 2. Auflage seines Werkes „L’uomo delinquente“ von 1878 Konsequenzen auf den Gebieten des Strafrechts und des Strafvollzuges, die durch seine Entdeckung des geborenen Verbrechers erforderlich geworden seien.27 22 Lombroso, Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, Bd. I, 2. Aufl. 1894, S. 229 ff. 23 Lombroso (Fn. 16), 1881, S. 112. 24 Lombroso (Fn. 16), 1881, S. 111. 25 Dazu eingehend auch Gould (Fn. 12), S. 144 ff.; Hohlfeld (Fn. 1), S. 36 ff. 26 Lombroso, Della pena, 1875. 27 Siehe auch Lombroso (Fn. 16), 1881, S. 114 ff.

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Die Kriminalanthropologie Lombrosos untermauerte die Grundargumentation des biologischen Determinismus über die Rolle des Handelnden und seine Umwelt: Der Handelnde folgt seinem angeborenen Charakter. Lombroso lehnte als Determinist die Vorstellung vom freien Willen ab. Er stellte vielmehr die These auf, dass „. . . der Wille des Individuums die Motive seines Handelns nicht in dem Zustande seines Bewusstseins findet, sondern in den bestimmenden Bedingungen seines Organismus.“28 Um das Verbrechen zu verstehen, müsse man den Verbrecher studieren, nicht aber seine Erziehung, weder seine Bildung noch seine tatsituative Zwangslage, die ihn auf Diebstahl oder Raub gebracht haben könnte. „Die Kriminalanthropologie studiert den Delinquenten an seinem natürlichen Ort – das heißt auf dem Gebiet der Biologie und Pathologie.“ 29 Aus der Zurückweisung des freien Willens folgte konsequenterweise der Widerstand Lombrosos gegen das Schuldstrafrecht sowie gegen den Strafzweck der Vergeltung. Zweck und somit Rechtfertigung der Strafe sollten vielmehr im Schutz der Gesellschaft und in der Besserung des Verbrechers liegen.30 Er plädierte daher für die Einführung eines moralisch neutralen Systems von Strafen und Maßregeln der Sicherung. Diese sollten die Gesellschaft vor den Kriminellen bewahren und für Möglichkeiten der Besserung und Resozialisierung besserungsfähiger Straftäter sorgen.31 Lombroso stellte zwar kriminalpolitische Forderungen auf, die für seine damalige Zeit hochmodern waren, wie etwa „. . . eine raschere Ausübung der Gerechtigkeit, die Anwendung der Photographie, des Telegraphen, der Zeitungs-Annoncen zur Förderung des Aufsuchens der Verbrecher; Erhöhung der Steuern auf Alkoholika, absolutes Verbot ihres Verkaufs an Minderjährige, die Umgehung des Gefängnisses für jugendliche Individuen.“32 Andererseits gab es nach Ansicht Lombrosos für den geborenen Verbrecher aber keinerlei Besserungsmöglichkeit: „. . . wo das Verbrechen nur eine unvermeidliche Folge einer bestimmten organischen Veranlagung ist, ist es unheilbar, ist es auch durch Gefangenschaft und Unterricht nicht zu bessern . . .“ 33 Nach Auffassung Lombrosos verblieb für die geborenen Verbrecher nur die lebenslange Inhaftierung in besonderen Sicherungsanstalten34 28 Vgl. Morselli, Die philosophischen Grundlagen der Lehre Lombrosos, MschrKrim, Bd. 8, 1911/1912, S. 332. 29 Vgl. Zimmern, Criminal anthropology in Italy, Popular science Monthly 52, 1898, S. 744. 30 Vgl. Kurella, Zu Cesare Lombrosos Gedächtnis, MschrKrim, Bd. 7, 1910/1911, S. 5. 31 Vgl. Mannheim, Vergleichende Kriminologie, Bd. 1, 1974, S. 259. 32 Lombroso (Fn. 16) 1881, S. 114. 33 Lombroso, Die Ursachen und die Bekämpfung des Verbrechens, 1902, S. 218. 34 Lombroso (Fn. 16), 1881, S. 115.

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oder die Todesstrafe.35 „Der Atavismus macht uns auch die Unwirksamkeit der Strafe gegenüber den geborenen Verbrechern und die Thatsache der beständigen ziffermäsigen und periodischen Wiederkehr bestimmter Verbrechen begreiflich.“36 „Unleugbar existiert eine Art von Verbrechern, die zur Sünde geboren sind, gegen welche alle soziale Abhilfe sich nutzlos erschöpfen würde, was uns zu ihrer vollständigen Ausrottung, selbst durch den Tod zwingt . . .“ 37 Um die Gesellschaft von ihren geborenen Verbrechern zu befreien, setzte sich Lombroso allerdings im Allgemeinen für andere Mittel als die Todesstrafe ein. So sollte etwa eine frühe Isolierung der Betroffenen in einer ländlichen Umgebung ihre angeborenen Neigungen schwächen und zu einem nützlichen Leben unter enger und ständiger Aufsicht führen.38 Die Betonung des Kriteriums der Gefährlichkeit des Täters im Gegensatz zum Schuldprinzip führte für Lombroso zu einer weiteren – letztlich rechtsstaatswidrigen – Forderung. Sie betraf die sog. Prädelinquenten, die Aussonderung und Isolierung von Menschen mit Stigmata, bevor sie bereits eine Straftat begangen hatten. Diese Personen, die sich in einem „gefährlichen Zustand“ befänden, sollten bereits Maßnahmen der Besserung und Sicherung unterfallen. Hierin wurde kein Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine crimen gesehen, indem man ein solches Vorgehen als moralisch neutrale Maßnahmeregel einordnete.39 Eine zweifelhafte Konsequenz der Lehre Lombrosos war die Verwendung der von ihm ermittelten körperlichen Stigmata in zahlreichen Strafverfahren der damaligen Zeit. Lombroso selbst trat in Italien als Sachverständiger vor Strafgerichten auf. Dabei begründete seine Lehre auch in der Praxis die Gefahr, dass seine Stigmata zu wichtigen Urteilskriterien wurden.40 Hierzu schrieb sein Schüler Ferri: „Zunächst ist es klar, dass die Kenntnis der anthropologischen Faktoren des Verbrechens der Kriminalpolizei und der Justizverwaltung nette und sichere Mittel für die Aufsuchung der Schuldigen gewährt. Die Körpermessung, die Physionomik, die Tätowierungen, die psycho-physischen Verhältnisse, die Prüfung der Sensibilität, der vasomotorischen Reaktionen, des Gesichtsfeldes der Verbrecher und die Thatsache der Kriminal-Statistik werden . . . den Polizeibeamten und Untersuchungsrichtern eine wissenschaftliche Richtschnur für ihre Untersuchungen geben, die heute mehr von ihrer persönlichen Kombinationsgabe und ihrem psychologischen Scharfblick ab35 36 37 38 39 40

Lombroso (Fn. 33), 1902, S. 380. Lombroso (Fn. 33), 1902, S. 329. Lombroso (Fn. 33), 1902, S. 393. Vgl. Gould (Fn. 12), S. 149. Vgl. Mannheim (Fn. 31), S. 260. Vgl. Gould (Fn. 12), S. 145 ff.

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hängen. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Verbrechen und Vergehen wegen mangelnder oder ungenügender Beweise ungestraft bleiben, und wie viele Processe sich allein auf Indicien stützen, so erkennt man leicht, wie fruchtbar schon die erste Beziehung zwischen Kriminal-Sociologie und Strafprocess werden kann.“41

IV. Rezeption in Deutschland und nationalsozialistische Kriminalbiologie Zur Rezeption der Ideen Lombrosos im deutschsprachigen Raum soll hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden. Mit der Geschichte insbesondere der deutschen Kriminologie befassen sich mehrere in jüngerer Zeit erschienene Werke eingehend.42 In Deutschland wurden die Gedanken Lombrosos nicht lediglich übernommen, sie wurden diskutiert, kritisiert und modifiziert. So war es etwa Franz von Liszt, der den Untersuchungen und Ansätzen Lombrosos keinen Glauben schenkte: „Es gibt keinen homo delinquens . . . es gibt auch keine Verbrechergehirne. Es gibt aber auch keine Mörderschädel.“ 43 Jedoch wollte von Liszt nicht die gesamte Kriminalbiologie ablehnen, denn auch er war so weit vom posivistischen Naturalismus beeinflusst44, dass er die kausale, also naturwissenschaftliche Erklärung von abweichendem Verhalten suchte und eine Hinwendung zur Täterpersönlichkeit forderte.45 Diese Erklärung glaubte er zu finden durch das Zusammenwirken von soziologischen und biologischen Forschungen. Dabei war er allerdings überzeugt „. . . von der größeren Dignität, von der überwiegenden Bedeutung der gesellschaftlichen Faktoren . . .“ 46 Die mitteleuropäische, aber auch die nord41

Ferri (Fn. 19), S. 376 f. Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, 2002; Gadebusch Bondio, Die Rezeption der kriminalanthropologischen Theorien von Cesare Lombroso in Deutschland von 1880–1914, 1995; Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich. Geschichte einer gebrochenen Verwissenschaftlichung, 2004; Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat. Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871–1933, 2004; Uhl, Das „verbrecherische Weib“. Geschlecht, Verbrechen und Strafen im kriminologischen Diskurs 1800–1945, 2003; Wetzell, Inventing the Criminal. A History of German Criminology 1880–1945, 2000. 43 von Liszt, Kriminalpolitische Aufgaben, in: ders. (Hrsg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 1905, S. 308. 44 Dazu Schmidt E., Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 365. 45 von Liszt, Die Aufgaben und die Methode der Strafrechtswissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 290. 46 von Liszt (Fn. 45), S. 292. 42

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amerikanische kriminologische Forschung wurde dann in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich von Gustav Aschaffenburg beeinflusst. Dieser konstatierte, „dass alle Versuche Lombrosos, den geborenen Verbrecher als eine Abart des Menschen anzusehen, . . . gescheitert sind.“47 Wie sein Lehrer von Liszt sah er im Verbrechen ein Produkt von Veranlagung und Entwicklung.48 Aufschwung erlebte die kriminalbiologische Forschung im deutschsprachigen Raum in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Einen maßgeblichen Einfluss hatte hierbei Ernst Kretschmer mit seiner konstitutionsbiologischen Verbrechensauffassung.49 Kretschmer untersuchte einen Zusammenhang von Körpertyp und Legalverhalten. Dabei forschte er jedoch nicht nach einem Verbrechertypus, sondern er versuchte aufgrund einer Körperbau-Charakteranalyse eine Wahrscheinlichkeitsprognose für das künftige Legalverhalten verschiedener Körperbautypen zu geben. Zwar war die Theorie Lombrosos vom atavistischen geborenen Verbrecher an sich schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts verworfen worden. Es blieb jedoch die Auffassung fortbestehen, wonach die Erbanlage bei der Kriminogenese eine wichtige Rolle spiele. Deutschsprachige Kriminologen versuchten deshalb, die Existenz einer Anlage zum Verbrechen mit Hilfe der Sippenforschung zu beweisen. Gesucht wurde nach einer Anlage, die ihren Träger mit erhöhter Wahrscheinlichkeit zur Begehung von Straftaten prädisponiert.50 Bewiesen werden sollte dies durch die Beobachtung sog. krimineller Familien. Am bekanntesten wurde insoweit die Studie des Arztes Friedrich Stumpfl. Er verglich die Familien von 166 Leichtkriminellen mit denen von 195 Rückfallverbrechern. Er kam zu dem Ergebnis, dass nach seiner Ansicht die größere Anzahl von Straftätern in den Sippen der Rückfalltäter für das „Vorhandensein von Erbanlagen, welche als Hauptursache für eine habituelle Neigung zu antisozialem Verhalten aufzufassen sind“ 51, spräche. Aufgrund der nach seiner Interpretation entdeckten Zusammenhänge zwischen Vererbung und Kriminalität zog er den Schluss, „. . . dass rassenhygienische Maßnahmen unbedingt zu fordern sind“.52 Zur Sippenforschung trat im deutschsprachigen Raum die Zwillingsforschung. Allein in Deutschland erschienen in den Jahren zwischen 1933 und 47

Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, 3. Aufl. 1923, S. 221. Aschaffenburg (Fn. 47), S. 227. 49 Kretschmer, Körperbau und Charakter. Untersuchungen zum Konstitutionsproblem und zur Lehre von den Temperamenten, 1921. 50 Mezger, Kriminalpolitik und ihre kriminologischen Grundlagen, 3. Aufl. 1944, S. 119. 51 Stumpfl, Erbanlage und Verbrechen. Charakterologische und psychiatrische Sippenuntersuchungen, 1935, S. 284 f. 52 Stumpfl (Fn. 51), S. 277. 48

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1945 zu diesem Thema 210 Dissertationen.53 Während die Sippenforschung der Frage nachging, ob es eine vererbte kriminelle Anlage gibt, erhofften sich Zwillingsforscher eine Antwort darauf, zu welchem Teil abweichendes Verhalten vererbt wird.54 Einer der Ersten, der sich in Deutschland mit der Zwillingsmethode beschäftigte, war Johannes Lange. Er untersuchte 30 Zwillingspaare, die er mittels Daten der Kriminalbiologischen Sammelstelle Straubing in bayerischen Haftanstalten und im Deutschen Psychiatrischen Institut München ausfindig gemacht hatte, auf konkordantes bzw. diskordantes Verhalten bezüglich Kriminalität.55 Er fand unter 13 monozygoten Paaren zehn Paare, bei denen beide Zwillinge bereits straffällig geworden waren (konkordantes Verhalten) und drei Paare, bei denen jeweils nur ein Geschwisterteil strafrechtlich auffällig wurde (diskordantes Verhalten). Aus dem Vergleich mit den Resultaten hinsichtlich der dizygoten Zwillinge, bei denen sich lediglich zwei der 17 Paare konkordant verhielten, schloss Lange, dass die Erbanlagen eine ganz überwiegende Rolle unter den Verbrechensursachen spielen müssten.56 Die Resultate Langes bestätigte im Wesentlichen auch Heinrich Kranz mit seinen Zwillingsstudien.57 Die Studien von Lange, Stumpfl und Kranz stützen sich jedoch nicht nur auf sehr kleine Probandengruppen. Sie berücksichtigten auch nicht, dass die meisten Zwillinge in derselben Umgebung aufgewachsen sind. Konkordantes Verhalten ist daher nicht nur genetisch, sondern ebenso sozial erklärbar.58 Ebenso wie andere Gebiete wissenschaftlicher Forschung erfuhr auch dasjenige der Kriminalbiologie nachhaltige Einflüsse durch die nationalsozialistische Ideologie.59 Gefördert wurden insbesondere kriminalbiologische Untersuchungen, welche basierend auf einem anthropologischen Grundansatz die nationalsozialistische Vererbungs- und Rassenideologie stützen konnten.60 So wird eine enge Verbindung der Kriminalbiologie zur nationalsozialistischen Ideologie deutlich, wenn man die Definition der Kriminalbiologie von Theodor Viernstein betrachtet. Nach dieser geht es nicht mehr 53 Siehe Kuhn, Zwillingsforschung in Deutschland – dargestellt an den in den Jahren 1933–1945 angefertigten Dissertationen, 1972. 54 Mezger (Fn. 50), S. 118. 55 Lange, Verbrechen als Schicksal. Studien an kriminellen Zwillingen, 1929, S. 13. 56 Lange (Fn. 55), S. 14. 57 Kranz, Lebensschicksale krimineller Zwillinge, 1936. 58 So bereits Gruhle, Die Erforschung und Behandlung des Verbrechers in den Jahren 1938 bis 1940, Fortschritte der Neurologie, Psychiatrie und ihrer Grenzgebiete (Zs.), Bd. 14, 1942, S. 129. 59 Dazu eingehend Hohlfeld (Fn. 1), S. 56 ff. 60 Streng, Der Beitrag der Kriminologie zur Entstehung und Rechtfertigung staatlichen Unrechts im „Dritten Reich“, MschrKrim, Bd. 76, 1993, S. 164.

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allein um die Erforschung des Verbrechers, sondern auch um dessen Bestimmung als „wertvoll“ oder „unwert“: „Kriminalbiologie ist die Forschung, Typisierung und soziale und rassische Wertbestimmung der verbrecherischen Persönlichkeit nach den Erkenntnisgrundsätzen des Arztes.“61 Es wird die Bedeutung der Kriminalbiologie herausgestellt, „. . . weil sie eine wissenschaftlich begründete Behandlung gerade jener abgrenzbaren Bevölkerungsschicht an die Hand gibt, die zum Teil nicht allein sozial abträglich, sondern zugleich auch erb- und rassenwertlich schädlich ist und insoweit einer planmäßigen Ausschaltung zugeführt werden muss.“ 62 Die sog. Rassenhygiene fand in den Ergebnissen der Kriminalbiologie eine Stütze und damit fanden die kriminalpolitischen Ziele des nationalsozialistischen Regimes eine wissenschaftliche Legitimation. Der Nationalsozialismus nutzte die Kriminalbiologie nicht nur zur Legitimation von eugenischen Maßnahmen. Sie wurde mit ihrer erbbiologischen Ausrichtung und einer Tätertypenlehre auch dazu benutzt, einen Vernichtungs- und Ausgrenzungsprozess der damals sog. „Volksschädlinge“ zu begründen und durchzuführen.63 Jene nationalsozialistische Tätertypenlehre ging davon aus, dass bei einem Mehrfachtäter seine Delikte Ausdruck einer erblichen Veranlagung seien. Man strebte an, die Verbrecher entsprechend ihren Anlagen in verschiedene Tätergruppen einteilen zu können – etwa in Gewohnheitsoder Zustandsverbrecher.64 Die erforderlichen Differenzierungen sollten aufgrund erb- sowie rassenbiologischer Untersuchungen der Kriminellen getroffen werden. Gemäß der Annahme, ein großer Teil von Rückfallverbrechern bleibe unverbesserlich und daher „. . . zeitlebens anders . . . als andere Menschen . . .“ 65, entwickelte sich im Zusammenhang mit der Tätertypenlehre die Auffassung, diese Täter seien als „minderwertig“ einzuordnen. Ein derart als minderwertig abgestufter Rechtsbrecher sollte dann nur noch als Objekt betrachtet werden, dessen Behandlung sich ausschließlich nach einem Strafzweck der „Reinhaltung der Rasse“ richtete.66 Es war Cesare Lombroso gewesen, welcher der Degeneration Bedeutung für die angeborene Kriminalität zusprach. Gewohnheitsverbrecher besaßen 61 Viernstein, Die Stellung und Aufgaben der Kriminalbiologie im Hinblick auf die nationalsozialistische Gesetzgebung, Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin, Bd. 26, 1936, S. 3. 62 Viernstein, Schlussansprache, Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft, Bd. 5, 1938, S. 120. 63 Streng (Fn. 60), S. 157. 64 Vgl. Streng (Fn. 60), S. 155 f. 65 Mezger, Konstitutionelle und dynamische Verbrechensauffassung, MschrKrim, Bd. 19, 1928, S. 393. 66 Vgl. Dölling, Kriminologie im „Dritten Reich“, in: Dreier/Sellert (Hrsg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 204.

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für ihn körperliche Stigmata, Degenerationszeichen, die auf Atavismus hindeuteten. Der zum kriminellen Leben verdammte Mensch musste seiner Ansicht nach nötigenfalls getötet werden, damit man auf diese Art die Gesellschaft vor ihm schützte. Lombrosos Definition von Gewohnheitskriminalität wurde zu einer Grundlage für das verbrecherische Konzept der nationalsozialistischen sog. Endlösung der jüdischen Frage. Denn die Nationalsozialisten gingen davon aus, dass die sich in Gewohnheitskriminalität oder Irrsinn äußernde Degeneration strukturell und endgültig sei. Und es waren die Nazis, die die Angehörigen der jüdischen Bevölkerung sowohl für degeneriert als auch für Gewohnheitsverbrecher hielten.67 Damit erlangten Lombrosos Annahmen über Degeneration und Atavismus letztlich sogar Bedeutung für die von den Nationalsozialisten angestrebten und durchgeführten Genozide.

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Dazu eingehend Mosse, Die Geschichte des Rassismus in Europa, 1990, S. 107,

Justiz und Politik Das Magdeburger Fehlurteil – Analyse eines politischen Rufmordes* Von Günter Spendel, Würzburg

I. Einleitung „Liebreiches, ehrenvolles Andenken ist alles, was wir den Toten zu geben vermögen“, hat Goethe einmal gesagt. Eines Verstorbenen wie des ersten deutschen Reichspräsidenten Friedrich Ebert zu gedenken, der mit Recht unter „Die großen Deutschen“ in dem gleichnamigen fünfbändigen Werk eingereiht worden ist,1 heißt also für uns besonders, ihm ein ehrendes und dankendes Erinnern an seine Person und sein Wirken, an seine Leistung und Bedeutung zu bewahren. Aber wir schulden diesem Manne noch mehr, und zwar im Bewusstsein der Nachwelt ihm die Genugtuung für erlittenes Unrecht zu geben, die ihm im Leben versagt geblieben ist. So ist gerade eine Gedenkfeier der Friedrich-Ebert-Stiftung zum 80. Todestag ihres Namensträgers Anlass zur Rückbesinnung auf ein einschneidendes Ereignis, das den Reichspräsidenten sehr getroffen und seinen frühen Tod mitbedingt hat. Es ist das Strafurteil des Magdeburger Amtsgerichts vom 23. Dez. 1924, das in einem Beleidigungsprozess den von dem angeklagten 25jährigen Journalisten in einem Provinzblättchen gegen Ebert erhobenen Vorwurf des Landesverrats im Ersten Weltkrieg als „wahre Tatsachenbehauptung“ anerkannt und den Täter nur wegen „Formalbeleidigung“ zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hat. Der Fall zeigt zugleich, wie Fehl- und Unrechtsentscheidungen der Justiz auch weitgehende Folgen für die Politik haben können. Im demokratisch-republikanischen Gemeinwesen, das auf dem Grundsatz der Dreiteilung der Staatsgewalt beruht, hat die Rechtsprechung als „dritte Gewalt“ – neben der Kontrolle der beiden anderen von den Politikern bestimmten Gewalten Ge* Revidierte Fassung des erstmals zu Eberts 80. Todestag gehaltenen Vortrags, s. in: Friedrich Ebert als Reichspräsident (1919–1925), hrsg. von der Friedrich-EbertStiftung, Forum Berlin, 2005, S. 59 ff. 1 Michael Freund, Friedrich Ebert, in: Die großen Deutschen, hrsg. v. Heimpel u. a., 1983 (Nachdr. d. Ullstein-Verlages), IV. Bd., S. 436 ff.

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setzgebung und Regierung mit Verwaltung – in erster Linie dem einzelnen Bürger zu seinem Recht zu verhelfen; dies gilt erst recht, wenn er ein Repräsentant des Staates, ja sogar das republikanische Staatsoberhaupt selbst ist und er gerade im Hinblick auf seine amtliche Stellung hin angegriffen wird. Ein Staatswesen ist krank und aufs höchste gefährdet, in dem die richterliche Gewalt ihre Aufgabe nicht mehr im verantwortungsvollen Zusammenwirken mit den beiden anderen staatlichen Gewalten sieht,2 sondern der Verfassung und der ihr zugrunde liegenden Politik feindlich gegenübersteht und entsprechende Entscheidungen fällt. Hierfür liefert das Magdeburger Strafurteil ein trauriges Beispiel. Daher war es von dem angesehenen Strafrechtsgelehrten Graf zu Dohna vornehm, aber fast etwas naiv gedacht, wenn er in seiner Kritik an dem von ihm abgelehnten Richterspruch glaubte, bei dessen Vertretern „irgendwelche andere als rein juristische Erwägungen“ nicht annehmen zu dürfen,3 obwohl in Wahrheit leider das Gegenteil zutraf. Das Magdeburger Strafurteil kann nicht nachdrücklich genug ins Gedächtnis gerufen werden, wenngleich diesem bedeutsamen Fall inzwischen 1989 eine ausgezeichnete Monographie gewidmet worden ist, eine von mir angeregte Würzburger Dissertation von Michael Miltenberger.4

II. Allgemeine Zeitverhältnisse Zum Hintergrund des Geschehens muss man sich folgendes vergegenwärtigen: nach dem Ersten Weltkrieg und der Gründung der ersten deutschen Republik war vor allem der Reichspräsident als demokratisches Staatsoberhaupt Gegenstand ungemein feindseliger und gehässiger Angriffe seitens monarchistischer und deutschnationaler Kreise wie auch von kommunistischer Seite, obwohl sich Ebert vorbildlich darum bemühte, die neue Staatsform zu festigen und ein über Parteiinteressen stehender Repräsentant der Republik zu sein, wie er es in der Weimarer Nationalversammlung 1919 nach seiner Wahl versprochen hatte. Um nur die Kernsätze seiner Erklärung zu wiederholen: „. . . Mit allen meinen Kräften und mit voller Hingabe werde ich mich bemühen, mein Amt gerecht und unparteiisch zu führen, niemand zuliebe und niemand zuleide. . . . Ich will und werde als der Beauftragte des ganzen deutschen Volkes handeln, nicht als Vormann einer ein2 Vgl. hierzu (von dem leicht missverstandenen Titel abgesehen) Rudolf Wassermann, Der politische Richter, 1972. 3 Graf zu Dohna, Vorsatz bei Landesverrat, in DJZ 1925, H. 2, Sp. 146, 147. 4 Miltenberger, Der Vorwurf des Landesverrats gegen Reichspräsident Friedrich Ebert. Ein Stück deutscher Justizgeschichte, 1989; s. hierzu auch Spendel, Der „Landesverrats“-Vorwurf gegen Friedrich Ebert. Ein politisch-juristisches Lehrstück, in Ztschr. „MUT“ 1992, Nr. 299, S. 19.

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zigen Partei. Ich bekenne aber auch, dass ich ein Sohn des Arbeiterstandes bin, aufgewachsen in der Gedankenwelt des Sozialismus, und dass ich weder meinen Ursprung noch meine Überzeugung jemals zu verleugnen gesonnen bin. . . . Freiheit und Recht sind Zwillingsschwestern. . . . Jede Gewaltherrschaft, von wem sie auch komme, werden wir bekämpfen bis zum äußersten.“5 Die Rechtsradikalen, die später einem berufslosen Gefreiten nachliefen, verunglimpften den gelernten Sattler und führenden Sozialisten Ebert als untragbar für das höchste Staatsamt, die Linksradikalen schmähten ihn als Verräter der Arbeiterklasse. Über ein halbes Jahrhundert nach seinem Tode wurde Friedrich Ebert noch von einem umstrittenen Autor wie Sebastian Haffner, der schon die äußere Gestalt des Reichspräsidenten hässlich, ja geradezu gehässig zeichnete, Verrat der deutschen Revolution von 1918/19 vorgeworfen.6 Der Beschimpfte hatte in weit über 100 (man spricht sogar von 173) Beleidigungsverfahren um seine Ehre zu kämpfen,7 in denen eine versagende Justiz die Täter oft mit lächerlich geringfügigen Geldstrafen davonkommen ließ. Der übelste Vorwurf war, Ebert habe im Ersten Weltkrieg ein Verbrechen des Landesverrats begangen.

III. Vorgeschichte des Falles Die Vorgeschichte des hier zu beurteilenden Falles ist folgende: Dem Reichspräsidenten, der in der deutschen Nationalversammlung von 1919 gewählt und durch verfassungsänderndes Gesetz des Reichstages vom 27. Okt. 1922 bis zum 30. Juni 1925 in seinem Amt bestätigt worden war, hatte am 12. Juni 1922 gelegentlich eines dienstlichen Besuches in München ein gewisser Dr. Emil Gansser, Mitglied der später in der NSDAP aufgegangenen „Deutschvölkischen Partei“, auf dem Bahnhofsvorplatz, also öffentlich „Landesverräter“ zugerufen. In dem von Ebert als Strafantragssteller und Nebenkläger angestrengten Beleidigungsprozess vor dem Amtsgericht München war er, mit anderen führenden Sozialdemokraten, zunächst kommissarisch, d. h. in Berlin, zu seiner Teilnahme an der Leitung des Berliner Munitionsarbeiterstreiks vom Januar 1918 eidlich als Zeuge vernommen worden. Als das Münchner Schöffengericht auf Antrag des Angeklagten Gansser die nochmalige Vernehmung des Reichspräsidenten in 5 Zit. nach Heilfron, Die deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919, 1. Bd. o. J., Hauptteil S. 92/93. 6 Vgl. Haffners Buch „Die verratene Revolution“, 1. Aufl. 1969, spätere Aufl. ab 1979 unter dem Titel „Die deutsche Revolution 1918/19“, 2002, S. 95 ff., 235 ff., 239 ff., 242 ff. 7 Brammer, Der Prozess des Reichspräsidenten, 1925, S. 5 ff.; Birkenfeld, Der Rufmord am Reichspräsidenten, in: Arch. f. SozGesch., V. Bd. (1965), S. 453 ff.; Miltenberger (Fn. 4), S. 2, Fn. 3 mit weiteren Nachweisen.

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München anordnete, nahm dieser den Strafantrag auf Rat seines Rechtsbeistandes zurück; denn der Anwalt hatte damit seinem Mandanten neue Beleidigungen, die er für die Hauptverhandlung befürchtete, ersparen wollen. Offenbar ermutigt durch die Einstellung seines Strafverfahrens veröffentlichte Gansser in der München-Augsburger Abendzeitung am 20. Febr. 1924 einen „Offenen Brief“, in dem er seinen schweren Vorwurf des Landesverrats gegen Ebert wiederholte. Diesen Brief druckte ein paar Tage später, am 23. Febr. 1924 der stellvertretende Redakteur der „Mitteldeutschen Presse“ Erwin Rothardt mit einer beleidigenden Überschrift und einem frechen Schlusssatz ab. Während sich Gansser durch Flucht ins Ausland seiner Verantwortung entzog, kam Rothardt vor das erweiterte Schöffengericht Magdeburg, das gegen ihn das anfangs schon mitgeteilte Strafurteil erließ. Die Zweideutigkeit und Anstößigkeit dieses Richterspruchs bestand darin, dass nach außen die Schmähung schärfer als sonst Beleidigungen des republikanischen Staatsoberhaupts von der Justiz bestraft werden sollte (zur Strafvollstreckung kam es wegen späterer Verfahrenseinstellung auf Grund einer Amnestie allerdings nicht), dass innerlich jedoch zumindest der Gerichtsvorsitzende voller Aversion gegen den Reichspräsidenten die für diesen sprechenden Umstände voreingenommen und kurzsichtig nicht sah oder richtiger: nicht sehen wollte und ihn mit dem Urteil bewusst bloßstellte. Denn der Beleidigte erschien nun letztlich als der eigentlich Schuldige, nicht der Beleidiger.

IV. Das Urteil Das Magdeburger Strafurteil stieß in der demokratischen Öffentlichkeit der Weimarer Republik auf scharfe Kritik. 1925 erschien ein Buch „Der Prozess des Reichspräsidenten“ mit einem Bericht von der Gerichtsverhandlung über den Januarstreik 1918 und mit der Wiedergabe der mündlichen und schriftlichen Entscheidungsgründe sowie den kritischen Stellungnahmen hierzu, darunter von den Reichsjustizministern Eugen Schiffer und Gustav Radbruch.8 Merkwürdigerweise finden sich in diesem Werk keine systematische Prüfung und umfassendere Begründung, sondern mehr spontane Äußerungen, warum die Magdeburger Entscheidung ein Fehlurteil war. In der fachwissenschaftlichen Literatur erschien, wenn ich recht sehe, ein einziger Aufsatz eines namhaften Strafrechtsgelehrten zugunsten des Reichspräsidenten, und zwar die vorstehend schon erwähnte Kritik des aus alter Preußenfamilie stammenden Professors Alexander Graf zu Dohna, der Vorsatz und Schuld Eberts nach § 89 StGB a. F. klar und bestimmt verneinte.9 8 9

Vgl. Brammer (Fn. 7). Vgl. zu Graf zu Dohna (Fn. 3).

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Dagegen hielten zwei andere Strafrechtler, Traeger und Kohlrausch, das Urteil für zutreffend10 bzw. für vertretbar11. Enthusiastisch wurde die Entscheidung von der rechtsgerichteten Presse begrüßt, die schon vorher über den Beleidigungsprozess zum Teil sehr einseitig berichtet hatte und jetzt einen passenden Grund für eine beispiellose Hetzkampagne gefunden zu haben glaubte. Man wollte damit auch die für den Sommer 1925 anstehende Reichspräsidentenwahl beeinflussen und Eberts Wiederwahl verhindern. Diese schlechte Politik hatte nun in der Justiz einen willkommenen Verbündeten gefunden. Friedrich Ebert wurde verständlicherweise durch diesen Richterspruch zutiefst verletzt. Das spricht auch aus seiner erschütternden Klage: „Der seelische Schmerz peinigt schlimmer. Sie haben mich politisch umgebracht, nun wollen Sie mich auch noch moralisch morden. Das überlebe ich nicht.“12 In der Tat haben die Magdeburger Richter eine wesentliche Mitursache für den frühen Tod Eberts gesetzt und eine Mitschuld daran auf sich geladen, hat sich doch der Gerichtsvorsitzende später in der NSZeit selbst unerhörterweise damit gebrüstet, dass er „den Kerl zur Strecke gebracht habe“13, eine für einen Richter kaum glaubliche Äußerung. So kann man im übertragenen Sinne, zugespitzt gesagt, geradezu von einem „Justizmord“ an dem Reichspräsidenten sprechen. Denn nachdem die Reichsregierung „ohne Unterschied der Parteistellung“ in einer schriftlichen Erklärung ihm ihr Vertrauen und ihre Wertschätzung ausgesprochen hatte,14 war Ebert entschlossen, weiter im Prozesswege um seine Rehabilitierung zu kämpfen. Da er sich auf das Berufungsverfahren vorbereiten und als Zeuge hierfür zur Verfügung halten wollte, hatte der Erkrankte eine dringende ärztliche Behandlung in der Klinik mehrfach verschoben. Auch suchte er den Verdacht zu vermeiden, vor der Weiterführung des Prozesses in die Krankheit zu flüchten. So unterzog er sich schließlich viel zu spät einer notwendigen Operation, starb jedoch kurz darauf am 28. Febr. 1925 an einer Bauchfellentzündung infolge einer verschleppten Blinddarment10 So Traeger, Rechtsgutachten betreffend den Prozess des Reichspräsidenten Ebert, in GerS 91. Bd. (1925). S. 435 ff. 11 So Kohlrausch nach Kroner, Müssen wir loben? in: Die Justiz, I. Bd. (1925/26), S. 313, 315; s. auch Fuchs, Professor Dr. Kohlrausch und das Magdeburger Eberturteil, in: Die Justiz I. Bd., S. 431, der in zwei Sätzen, d. h. ohne jede Prüfung und Begründung Ebert durch Staatsnothilfe als gerechtfertigt ansieht; dazu eingehend Miltenberger (Fn. 4) S. 49 ff., der dies für „problematisch“ hält (S. 56). 12 Zit. nach Freund, Friedrich Ebert, in: Die großen Deutschen IV. Bd. 1983 (Fn. 1), S. 436, 454. 13 Zit. nach Maser, Friedrich Ebert, der erste deutsche Reichspräsident. Eine politische Biographie, 1987, S. 312, Fn. 99. 14 Die Erklärung der Reichsregierung ist abgedruckt bei Brammer (Fn. 7), S. 197.

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zündung, dreieinhalb Wochen nach seinem 54. Geburtstag. Zu Eberts Tod schrieb Reichsaußenminister Gustav Stresemann in seinem Nachruf treffende und verständnisvolle Worte für die staatsmännische Leistung des Verstorbenen: „Man hat das Wort ‚national‘ in die Parteinamen eingeführt und manchmal auch in den Parteikampf. Wenn man . . . sich auf den Standpunkt stellt, dass derjenige vaterländisch ist, der sein Bestes gibt, um dem Vaterlande zu dienen, dann ist der Reichspräsident sicherlich eine durch und durch vaterländische Natur gewesen, und er hat seine Aufgabe mit einer Gewissenhaftigkeit aufgefasst, die unbestreitbar aus deutschem Wesen geboren war. . . . Liebe zum deutschen Vaterlande ist nicht ein Vorrecht einer Anschauung oder einer Partei. Es war wohl nicht ohne persönliche symbolische Bedeutung, dass er das Lied des Dichters Hoffmann von Fallersleben zum Deutschen Liede machte. Denn in seinem Wesen verkörperte sich der Dreiklang der Schlußstrophe dieses Liedes: in seinem Eintreten für Einigkeit und Recht und Freiheit.“15 Erst über sechs Jahre nach Eberts Tod fand sein Verhalten in dem Munitionsarbeiterstreik von 1918 in Berlin eine gerechte, aber zu späte richterliche Würdigung, und zwar durch das Reichsgericht16 1931 in einem neuen Beleidigungsprozess nach dem Republikschutzgesetz von 1930 gegen einen anderen Ehrabschneider, der sich zu seiner Entlastung ebenfalls auf das Magdeburger Urteil berief. In dieser höchstrichterlichen Entscheidung wurde der Vorwurf des Landesverrats gegen den verstorbenen Reichspräsidenten aus objektiven und subjektiven Gründen verneint.

V. Der Fall und seine Beurteilung Was war der nähere Sachverhalt, welcher der üblen Nachrede gegenüber Ebert zugrunde lag, und wie ist er rechtlich genauer zu beurteilen? Das sind die beiden uns beschäftigenden Fragen. Zu der ersten, der Tatfrage: Anfang 1918 brachen in größeren Städten Deutschlands unter der kriegsmüden Bevölkerung Arbeiterstreiks aus, am 28. Januar auch in Berlin ein Metall- und Munitionsarbeiterstreik, der auf seinem Höhepunkt 400 000 Personen gezählt haben soll.17 Auf Bitten und Drängen von Arbeitervertretern traten noch am späten Nachmittag des 28. Januar vom SPD-Vorstand Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Braun in die von linksradikalen Kräften dominierte Streikleitung ein, „um Schlimmeres zu verhüten“ und den Aufstand möglichst bald zu beenden. Ebert hatte am 30. Ja15 Zit. nach Krummacher/Wucher (Hrsg.), Die Weimarer Republik. Ihre Geschichte in Texten, Bildern und Dokumenten, 1965, S. 199/200. 16 RGSt. 65, S. 424, 429 ff. 17 Nach Miltenberger (Fn. 4), S. 8 a. E.

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nuar einem die Arbeiterschaft zum Aushalten auffordernden Flugblatt nicht widersprochen und am Vormittag des 31. Januar eine zum Teil mit Murren der Zuhörer aufgenommene kurze Ansprache an die Streikenden gehalten; er erkannte darin zwar die Berechtigung ihrer wirtschaftlichen Forderungen an, erinnerte aber an ihre Pflicht zur Unterstützung ihrer kämpfenden Brüder an der Front, wies auf die nicht streikenden französischen und englischen Arbeiter hin und erklärte, dass alles zur Beendigung des Krieges und Erlangung eines für Deutschland erträglichen Friedens getan werde müsse. Tatsächlich war der Streik nach fünf Tagen am 2. Februar 1918 beendet.18 Rechtlich waren damit drei Handlungsweisen Eberts zu beurteilen: Einmal der Eintritt in die Streikleitung, sodann die als stillschweigende Billigung aufgefasste Hinnahme des zum Ausharren auffordernden Flugblatts und schließlich die kurze Rede an die streikenden Arbeiter. Die in Betracht kommende Strafvorschrift war der aus der Kaiserzeit stammende § 89 StGB a. F., die sog. landesverräterische Feindbegünstigung, unter dem NSRegime 1934 als § 91b StGB ergänzt und sogar durch die Todes- oder lebenslange Zuchthausstrafe verschärft, heute aufgehoben. 1. Der objektive Tatbestand des § 89 StGB a. F. Der objektive Tatbestand dieses Delikts als das erste generelle Verbrechensmerkmal setzte in seiner damaligen Fassung voraus, dass der Täter als Deutscher während eines Krieges gegen das Deutsche Reich der Feindmacht Vorschub leistet oder der eigenen oder bundesgenossenschaftlichen Kriegsmacht Nachteil zufügt. Die vorstehend angeführten drei Verhaltensweisen Eberts waren zwar objektiv-tatbestandsmäßig i. S. d. § 89 StGB a. F., mussten aber noch zu einem bestimmten Erfolg, d. h. zu einem Vorteil für die Feindmacht oder zu einem Nachteil für die eigene Kriegsmacht geführt haben, hier zu einer fühlbaren Munitionsverknappung und Beeinträchtigung der eigenen Heeresstärke. Das Verbrechen war also ein Verletzungs-, kein Gefährdungsdelikt. Ebert hat sich zur Frage der Nachteilszufügung unbewusst auf den Conditio-sine-qua-non-Gedanken berufen, dass ohne sein Handeln, d. h. ohne die Beteiligung an dem Streik, dieser noch länger gedauert und größere Ausmaße angenommen hätte, mithin der Erfolg nicht nur der gleiche, sondern ein noch schlimmerer gewesen wäre.19 Sein Verhalten war für einen Nachteil (vorübergehenden Produktionsausfall) mitverursachend, zugleich jedoch einen längeren und schwereren Ausstand verhindernd. Seine „zwei-schneidige“ Handlungsweise war damit im End18 19

Miltenberger (Fn. 4), S. 8. Dazu Spendel (Fn. 4), S. 15 f., 19; Miltenberger (Fn. 4), S. 36 ff.

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ergebnis der eigenen Kriegsmacht nicht nachteilig, sondern förderlich. Bei seiner Ansprache an die Arbeiter wurde Ebert denn auch zugerufen, er wolle den Streik „abwürgen“20. Es ist bezeichnend für die Widersprüchlichkeit und die Ungerechtigkeit des NS-Regimes, dass seine Vertreter das Argument der Verteidigung Eberts, nur an einem Unternehmen mitgewirkt zu haben, weil ohne dieses Mitwirken nicht nur derselbe, sondern ein noch schlimmerer Erfolg eingetreten wäre, abgelehnt haben, sich dagegen nach 1945 auf solch eine Überlegung zu ihrer Entlastung für kriminelle Handlungen berufen haben.21 Statt des hier herangezogenen Conditio-sine-qua-non-Gedankens hat das Reichsgericht 22 den ähnlichen Grundsatz des Schadensausgleichs durch Vorteilsanrechnung, der „compensatio lucri cum damno“, angewandt, der z. B. bei der Ermittlung der Nachteilszufügung im Untreuetatbestand eine Rolle spielt, so bei gewissen Risikogeschäften oder bei einer eine wirtschaftliche Einheit darstellenden Vermögensverwaltung, bei der durch zunächst vermögensmindernde Teilgeschäfte ein vorteilhafteres Endgeschäft erzielt wird.23 Das RG hatte auf diesen Grundsatz des Nachteilsausgleichs bereits vor dem Ebert-Fall in einer anderen Strafsache nach § 89 StGB a. F. zurückgegriffen, und zwar in der des honorigen Lübecker Großkaufmanns und Senators Emil Possehl, dessen Name heute noch in der großen PossehlStiftung fortlebt. Dieser Geschäftsmann, der in der Kaiserzeit den Erzhandel von Skandinavien nach Norddeutschland betrieb, hatte im Ersten Weltkrieg zwei russischen Werken, deren sämtliche Aktien ihm gehörten und die Hufeisen, Hufnägel, Sensen usw. herstellten, den Bezug von Stahl aus Schweden vermittelt, weil ohne Weiterführung des Betriebes die russische Beschlagnahme der Anlagen zwecks Fabrikation von Kriegsgerät und damit wesentliche stärkere Förderung der Feindmacht gedroht hätte. Die Fortsetzung der bisherigen Fabrikarbeit verhinderte also einen größeren Vorteil für die russische Kriegswirtschaft, so dass der feindlichen Macht letztlich kein Vorschub geleistet wurde.24 Ebenso beurteilte das Reichsgericht das Verhalten eines Arbeiterführers, hier die Handlungsweise Eberts, wenn er „zunächst gewisse, den Streik fördernde Maßnahmen, die er angesichts der Überzahl der radikalen Elemente 20

Miltenberger (Fn. 4), S. 21. Zu den verschiedenen Fallgestaltungen des Conditio-sine-qua-non-Gedankens s. die früheren Abhandlungen des Verf. in: Spendel, Für Vernunft und Recht, 2004, S. 161 ff. 22 RGSt. 65, S. 430 ff. 23 RGSt. 75, S. 227, 230; BGH in NJW 1975, S. 1234, 1235. 24 RGSt. 65, S. 422, 432. Zu Emil Possehl und seinem Strafprozess s. auch Knüppel, Sicher nach vorn. Possehl-Festschrift 1997 zum 150jährigen Jubiläum, 1997, S. 74 ff. 21

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in der Streikleitung nicht verhindern kann, durchgehen lässt, um nicht von vornherein seine Ausschaltung herbeizuführen, wenn er ferner in Versammlungsreden aus taktischen Gründen auf Gedankengänge der Massen bis zu einem gewissen Grad eingeht . . ., sofern er nur . . . das Endziel im Auge behält, von der deutschen Kriegsmacht größeren Nachteil, insbesondere auch eine Ausartung der Streikbewegung in eine revolutionäre Bewegung, abzuwenden“25. Bei Gelingen seiner Bemühungen fehle es dann schon wegen des Nachteilsausgleichs am Tatbestandsmerkmal „Nachteilszufügung“. Das Magdeburger Urteil hat dagegen einseitig und parteiisch den Blick allein auf die für den Streik vorübergehend förderlichen Einzelhandlungen Eberts gerichtet und dabei seine positive Gesamtleistung und das günstige Endergebnis völlig aus den Augen verloren. Dass nach 1933 zunehmend Autoren glaubten, die Reichsgerichtsentscheidung und deren Begriffsbestimmung der „Nachteilszufügung“ unbegründet anzweifeln oder ablehnen zu müssen,26 ist bezeichnend für den unter dem NS-Regime herrschenden Geist der Anpassung und beschämend genug. Selbst Hitler, der damals als einer der Drahtzieher hinter dem Verleumder Gansser gestanden hatte, soll im Zweiten Weltkrieg das Verhalten des Reichspräsidenten als richtig eingeräumt haben, wie dessen Biograph Maser mitteilt.27 2. Das Unrecht Die Richtigkeit des Ergebnisses – im Falle Eberts schon objektiv keine landesverräterische Feindbegünstigung gegeben – bestätigen auch die Hilfserwägungen zu den drei anderen allgemeinen Deliktsmerkmalen. Wie der objektive Tatbestand ist auch das Unrecht der Tat, das zweite generelle Verbrechensmerkmal, zu verneinen, das weder vom Magdeburger Gericht noch 25 RGSt. 65, S. 431/432. Ebenso Frank, StGB-Komm., 18. Aufl. 1931, § 89 a. F. Anm. II 2; E. Schäfer/von Dohnanyi, Die Strafgesetzgebung der Jahre 1931 bis 1935 (Nachtr. zum Frank-Komm.), 1936, § 91b Anm. I u. III (S. 168/169); kein Vorsatz gegeben: Lorenz in v. Olshausens Komm., 11. Aufl. 1927, 1. Bd., § 89 a. F. Anm. 2 a. E. (and. Niethammer in der 12. Aufl. 1943 zu § 91b, s. nachfolg. Fn. 26!); Gerland, Dtsch. Reichsstrafr., 2. Aufl. 1932, S. 310 (Nr. II 1c); Rob. von Hippel, Lehrb. d. Strafr., 1932, S. 286 Anm. 1; Radbruch, Das Reichsgericht für Friedrich Ebert! in: Die Justiz, VII. Bd. (1931/32), S. 280 f. 26 So Kohlrausch nach Kroners Bericht (s. vorsteh. Fn. 11), ferner in seinem StGB-Komm. 37. (vorletzte) Aufl. 1941, § 91b Anm. 3; Schönke, StGB-Komm., 1. Aufl. 1942, § 91b Anm. II 3; Niethammer in v. Olshausens Komm., 12. Aufl., 2. Lfg. 1943, § 91b Anm. 4 (S.488/489); Parrisius im Leipz. Komm. 6. Aufl. 1944, 1. Lfg., § 91b Anm. II h (S. 630 u. 631); Schwarz, StGB-Komm. ab der 3. Aufl. 1935, § 91b Anm. 2 B (and. noch, d. h. für das RG, 1. Aufl. 1933 und 2. Aufl. 1934!). 27 Maser, Friedrich Ebert, der erste deutsche Reichspräsident. Eine politische Biographie, 1987, S. 157, 312.

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merkwürdigerweise später vom Reichsgericht geprüft worden ist.28 Das durch den großen Streik bedrohte Rechtsgut war die Kriegsmacht des Reiches. In dieser Notsituation bot sich einem verantwortungsvollen Arbeiterführer wie Ebert die Alternative an, entweder sich an dem Streik nicht zu beteiligen und den Dingen ihren unheilvollen Lauf zu lassen, d. h. zuzusehen, wie sich dieser infolge der die Arbeiter weiter aufhetzenden Parolen radikaler Elemente räumlich und zeitlich ausweitete, oder aber in die Streikleitung einzugreifen, um auf die baldmögliche Beendigung des Aufstandes hinwirken zu können. Nach den übergesetzlichen Grundsätzen der Chancenund Risikoabwägung und der „Wahl des kleineren Übels“ entschied sich der Abgeordnete Ebert richtig und erfolgreich für die zweite Möglichkeit. Seine Tat war daher nicht rechtswidrig, sondern gerechtfertigt.29 3. Der subjektive Tatbestand War bereits der objektive Tatbestand des früheren § 89 StGB nicht erfüllt, so erst recht nicht der subjektive Tatbestand als drittes generelles Deliktsmerkmal. Dieser setzte Vorsatz voraus, d.h. hier das Wissen und Wollen, der eigenen Kriegsmacht Nachteil zuzufügen. Eberts Bewusstsein und Wille zielten aber innerlich gerade auf das Gegenteil ab, auf die Abwendung eines größeren Nachteils von der Landesverteidigung. Das Magdeburger Gericht hat demgegenüber in Verkennung von Äußerungen in Judikatur und Literatur gemeint, diese Absicht schlösse als Beweggrund und Endzweck den Vorsatz der Feindbegünstigung nicht aus, da die Einzelhandlungen wie Eintritt in die Streikleitung usw. trotz Kenntnis ihrer Schädlichkeit von Ebert in Kauf genommen worden seien.30 Die beiden Fehler in dem richterlichen Gedankengang sind folgende: Einmal der falsche Ausgangspunkt, dass das AG auch unter der subjektiven Fragestellung nur auf Eberts Kenntnis von den einzelnen (für sich allein betrachtet) nachteiligen Verhaltensweisen statt auf sein Bewusstsein von einer insgesamt der eigenen Heeresmacht förderlichen Leistung abgestellt hat; zum anderen die falsche Beurteilung der Absicht im Verhältnis zum Vorsatz des § 89 StGB a. F. Wenn die Absicht als Beweggrund und geistige Vorbedingung eines Vorsatzes mit diesem „auf gleicher Linie liegt“, d. h. hier auf die baldige Streikbeendigung und damit auf die Unterstützung, nicht Benachteiligung der eigenen Kriegsmacht gerichtet ist, dann ist sie selbstverständlich beachtlich. Hätte hingegen ein Arbeiterführer mit dem Streik, in Kenntnis seiner Schädlichkeit für die eigene Heeresstärke, die Erfüllung wirtschaft28 29 30

Hierzu eingehend Miltenberger (Fn. 4), S. 49 ff. Vgl. auch Spendel (Fn. 4), S. 24. Vgl. AG Magdeburg bei Brammer (Fn. 7), S. 154.

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lich berechtigter Forderungen der Arbeiter bezweckt, so schlösse eine solche Absicht, eine derartige Motivierung nicht den Vorsatz der Feindbegünstigung aus, wie schon das Reichsgericht mit Recht die beiden verschiedenen Zielrichtungen der Absicht zum Vorsatz des früheren § 89 StGB unterschieden hat.31 Dass dem Abgeordneten Ebert bei seinem Handeln auch das (damals noch nicht als Strafbarkeitserfordernis angesehene) Unrechtsbewusstsein fehlte, ist nicht zu bezweifeln, da, wie er wusste, staatliche Stellen ähnliche Vermittlungsbemühungen von Parteivertretern und Gewerkschaftsführern bei Streiks in Rüstungsbetrieben anderer großer Städte begrüßten. 4. Die Schuld Endlich wäre auch das vierte und letzte generelle Deliktsmerkmal zu verneinen, das das Reichsgericht nur mit einem einzigen, aber höchst bedeutungsvollen Satz erwähnte. Das ist die Schuld als der Unwert der subjektiven Tatseite oder, anders gesagt, als das Unwerturteil über die Verwirklichung des subjektiven Tatbestandes, d. h. über die psychischen Elemente Tatvorsatz und Unrechtsbewusstsein so, wie das Unrecht den Unwert der objektiven Tatseite bedeutet.32 Nach dieser „normativen Schuldauffassung“ besteht somit die Schuld als Vorwerfbarkeit des Verhaltens nicht (allein) in psychischen Tatsachen wie vor allem im verbrecherischen Vorsatz, sondern in dessen negativer Bewertung als subjektiver Pflichtwidrigkeit. Bei deren Fehlen entfällt trotz Vorliegen des subjektiven Tatbestandes der Schuldvorwurf. Ebert hatte sich einem Pflichtenwiderstreit gegenübergesehen: einerseits der allgemeinen Rechtspflicht jeden Staatsbürgers, sich nicht an einer Straftat, d.h. nicht an dem der eigenen Kriegsmacht nachteiligen Streik zu beteiligen, andererseits der besonderen politisch-moralischen Pflicht auf die möglichst baldige Beendigung des Aufstandes hinzuwirken. Wenn er sich in dieser Not- und Zwangslage für die zweite Möglichkeit entschied, handelte er nicht subjektiv pflichtwidrig und muss zumindest als entschuldigt gelten.

VI. Schlussbetrachtung Die Analyse der Magdeburger Entscheidung hat somit ergeben: Friedrich Ebert hat unter verschiedenen Gesichtspunkten keine landesverräterische Feindbegünstigung i. S. d. alten § 89 StGB begangen. Das Amtsgericht hat dagegen einen politischen Rufmord an ihm nicht gesühnt, sondern diesen 31 32

RGSt. 65, S. 432/433; Frage völlig verkannt von Traeger (Fn. 10), S. 436 f. Vgl. Spendel (Fn. 4), S. 24/25: eingehend Miltenberger (Fn. 4), S. 77 ff.

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mit seinem die beleidigende Tatsachenbehauptung des Angeklagten als wahr bestätigenden Fehlurteil praktisch selbst verübt. Der Fall sollte nach wie vor die Justiz eindringlich mahnen, mit ihren Urteilen auch den Politikern den notwendigen, aber heute noch oft zu vermissenden Ehrenschutz zu gewähren.33 Denn allzu leicht wird sonst wie für den ersten Reichspräsidenten der Aphorismus der Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach traurige Wahrheit, mit dem schon Miltenberger seine einschlägige Monographie geschlossen hat: „Man kann nicht jedes Unrecht gut, wohl aber jedes Recht schlecht machen“!

33 So auch die schlagende Kritik von Schwinge (Ehrenschutz heute. Die Schutzlosigkeit der Führungskräfte, 1988) an unserer heutigen nicht zufriedenstellenden Judikatur, auf Grund deren mit ihren ungenügenden Aburteilungen von „RufmordVersuchen“ vor allem an Politikern „ein schwerer Mißstand“ offenkundig geworden ist (S. 9); die Schrift enthält ein besonderes Kapitel „Der Politiker und sein Ehrenschutz“, das auch den Ebert-Fall bringt (S. 28 ff.). Vgl. weiter Schwinge, Machtmissbrauch der Massenmedien. Die Ohnmacht des Bürgers, 1. Aufl. 1989, 2. Aufl. 1991.

Die deutsche Strafrechtsentwicklung zwischen 1945 und 1975 am Beispiel der Vorschriften über den Notstand* Von Frank Zieschang, Würzburg

I. Einleitung Die Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie unterteilt die Phase nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs in zwei Abschnitte: Einmal in den Zeitraum von 1945 bis 1975, mit dem ich mich in meinem Vortrag befasse, zum anderen in die Zeit nach 1975 bis zur Gegenwart, die Herr Hilgendorf beleuchtet. Für den unbefangenen Zuhörer mag die Einteilung der Abschnitte, wenn dort entscheidend auf das Jahr 1975 abgestellt wird, verwunderlich klingen; hätte man doch möglicherweise erwartet, dass zwar durchaus eine Unterteilung des Zeitraums nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt, hierbei jedoch nicht auf das Jahr 1975, sondern auf die Wiedervereinigung im Jahr 1990 (29. September 19901) abgestellt wird. Was rechtfertigt es also, dass man nicht in der Wiedervereinigung den maßgeblichen Unterscheidungszeitpunkt in der Strafrechtsgeschichte der Nachkriegszeit sieht, sondern in dem Jahr 1975? Zwei wesentliche Gründe sprechen dafür: (1) Zwar ist die Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands politisch zweifellos das bislang bedeutendste Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte, die dadurch im Strafrecht hervorgerufenen Änderungen sind aber begrenzt. So ist aufgrund des Einigungsvertrags vom 31. August 19902 am 3. Oktober 1990 in den neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen und in dem früheren Ostteil Berlins das Strafgesetzbuch in Kraft getreten, eine umfassende Änderung des geltenden Strafrechts der Bundes* Um einzelne Fußnoten ergänzte Fassung des Vortrags, den der Verf. am 19.01.2006 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg im Rahmen der Ringvorlesung zur Strafrechtsgeschichte und Strafrechtsphilosophie gehalten hat. Die Vortragsform ist beibehalten. 1 BGBl. II, S. 1360. 2 BGBl. II, S. 885.

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republik war aber damit nicht verbunden. Reformen brachte die Wiedervereinigung für das StGB in einem nur sehr begrenzten Umfang, nämlich vor allem in Bezug auf den Bereich des zulässigen Schwangerschaftsabbruchs. Dort hatte der Einigungsvertrag dem gesamtdeutschen Gesetzgeber den Auftrag erteilt, eine Regelung zu treffen, die sowohl den Schutz des Kindes im Mutterleib als auch die Bewältigung von Konfliktsituationen schwangerer Frauen besser gewährleistet, als dies in beiden Teilen Deutschlands bis dato der Fall war.3 Daneben ist insbesondere, wenn auch nicht auf legislatorischer Ebene, die durch die Wiedervereinigung hervorgerufene Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Todesschüssen an der deutsch-deutschen Grenze zu erwähnen sowie auf die Entscheidungen des BGH zur Rechtsbeugung durch ehemalige DDR-Richter hinzuweisen. Die Auswirkungen der Wiedervereinigung auf das Strafrecht der Bundesrepublik sind also durchaus überschaubar und nicht so einschneidend, wie man es vielleicht zunächst vermuten mag. (2) Wenn damit auch nachvollziehbar ist, warum nicht das Jahr 1990 die Strafrechtsentwicklung der Nachkriegszeit unterteilt, ist noch nicht beantwortet, weswegen denn nun das Jahr 1975 für das Strafrecht so einschneidend gewesen ist. Der Grund ist eindeutig: Er liegt darin, dass am 1. Januar 1975 das 2. Strafrechtsreformgesetz vom 4. Juli 19694 in Kraft getreten ist, welches das Herzstück der gesamten Strafrechtsreformbemühungen seit den 50er Jahren darstellt und einen ganz neuen Allgemeinen Teil geschaffen hat.

Daraus ergibt sich der Gang meiner weiteren Ausführungen. Zunächst möchte ich kurz auf die Entwicklung unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs eingehen, die vor dem Hintergrund der damals unmittelbaren nationalsozialistischen Vergangenheit von besonderer Brisanz ist. Im Anschluss daran bedarf es allgemeiner erläuternder Hinweise zu der 1953 einsetzenden Gesamtreform des Strafrechts. Schließlich werde ich im Hauptteil meines Vortrags einen ganz speziellen Bereich aus der 1975 in Kraft getretenen Reform des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs herausnehmen und mich mit der Entwicklung der Notstandsvorschriften beschäftigen. Es wäre vermessen, in der hier zur Verfügung stehenden Zeit die 1975 in Kraft getretene Reform insgesamt untersuchen und beurteilen zu wollen. Dies wäre angesichts des Umfangs der Reform und der Unterschiedlichkeit der in ihr enthaltenen Regelungen ein Unterfangen, das zu Pauschalierungen führen würde, was der damals unternommenen Reform nicht gerecht wird. So betrifft die Reform ganz verschiedenartige Aspekte, etwa den Bereich der Rechtsfolgen einerseits und das Feld der Dogmatik des Allgemeinen Teils andererseits. Für meinen heutigen Vortrag habe ich speziell die Untersuchung der Notstandsvorschriften ausgewählt, da sie auch aktuell vor dem Hintergrund ter3 Art. 31 Abs. 4 Einigungsvertrag; siehe dazu im Einzelnen Hilgendorf, in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, 2004, S. 258, 271 ff. 4 BGBl. I, S. 717.

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roristischer Gewaltakte – Stichwort 11. September 2001 – eine nicht unerhebliche Bedeutung einnehmen. Ich werde darauf am Schluss meines Vortrags zurückkommen. Zu Recht hat zudem Herr Hilgendorf in einer jüngeren Veröffentlichung darauf hingewiesen, dass der Notstand zu den spannendsten, aber auch schwierigsten Gebieten des Strafrechts gehört.5 Zunächst jedoch einige kurze Hinweise zu der Zeit unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs bis zur einsetzenden Strafrechtsreform 1953:6

II. Die Zeit nach 1945 bis 1953 Am 8. Mai 1945 kam es zur bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht und damit zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Alliierten Streitkräfte übernahmen die Hoheitsgewalt über Deutschland. Auf dem Gebiet des Strafrechts führte das dazu, dass spezifisch nationalsozialistisch beeinflusste Normen aufgehoben wurden. So untersagte man u. a., Handlungen unter Anwendung von Analogien oder unter Berufung auf das gesunde Volksempfinden zu bestrafen,7 was § 2b des Reichsstrafgesetzbuchs, der 1935 eingeführt worden war, erlaubt hatte. Keineswegs konnten jedoch in dieser Zeit der Besatzung sämtliche nationalsozialistischen Einflüsse aus dem Strafgesetzbuch entfernt werden. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland durch das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 erfolgte zunächst mit dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 19518 eine Reform der Staatsschutzdelikte, was im Verhältnis zu den Besatzungsmächten von einiger politischer Brisanz war. Durch das (Dritte) Strafrechtsreformgesetz vom 4. August 19539 wird dann bereits die erste Phase der strafrechtlichen Nachkriegsgesetzgebung abgeschlossen.10 Dieses so genannte Strafrechtsbereinigungsgesetz ist einmal deswegen bemerkenswert, weil es noch im StGB verbliebene NS-Strukturen zu beseitigen versuchte, wobei darauf hinzuweisen ist, dass auch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz bei weitem nicht sämtliche aus der nationalsozialistischen Zeit stammende Regelungen aufhob, vielmehr bis heute einige von ihnen – etwa die Regelung des Mordes, der Nötigung, der Erpressung sowie der Untreue – Geltung beanspruchen.11 Von einer umfassenden 5

Hilgendorf, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 1002, 2005, S. 107, 109. Siehe zum Folgenden im Detail Welp, in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, 2004, S. 139 ff. 7 Vgl. die Nachweise bei Welp (Fn. 6), S. 143, 145 ff. 8 BGBl. I, S. 739. 9 BGBl. I, S. 735. 10 Welp (Fn. 6), S. 163 ff. 11 Siehe dazu G. Wolf, JuS 1996, 189 ff. 6

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Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit kann also bis heute keine Rede sein. Unabhängig davon führte das Strafrechtsbereinigungsgesetz eine Anpassung an die moderne Umgangssprache durch, indem es zum Beispiel den Begriff Schießgewehr durch Feuerwaffe ersetzte und den der Frauensperson durch Frau. Für den Allgemeinen Teil ist das 3. Strafrechtsreformgesetz von Bedeutung, denn es schuf die heute in § 18 StGB enthaltene Regelung, dass dem Täter beim erfolgsqualifizierten Delikt hinsichtlich der schweren Folge zumindest ein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden müsse. Von ganz besonderem kriminalpolitischem Interesse ist das 3. Strafrechtsreformgesetz schließlich, weil es die Strafaussetzung zur Bewährung einführte und die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung neu regelte, indem ihr der Charakter eines Gnadenerweises genommen wurde.

III. Allgemeine Anmerkungen zu den Reformbemühungen zwischen 1953 bis 1975 Damit kann der erste unmittelbare Nachkriegszeitraum als abgeschlossen gelten. Ihm folgt die Phase der umfassenden Reformen des Strafrechts bis 1975. Zum näheren Verständnis sollen zunächst einige allgemeine erläuternde Anmerkungen zu dieser Reformzeit erfolgen.12 Angesichts der nicht unerheblichen Anzahl an Novellen, denen das StGB seit seiner Schaffung 1871 ausgesetzt war, und einer gewissen Reformfreudigkeit kündigte der erste Bundesminister der Justiz Thomas Dehler (FDP) bereits 1950 eine Gesamtreform des Strafrechts an. Im Jahr 1954 trat dann die so genannte Große Kommission für die Strafrechtsreform erstmals zusammen. Sie bestand aus Wissenschaftlern, Praktikern, Mitgliedern der Justizministerien sowie Abgeordneten.13 Die Kommission legte nach fünf Jahren einen Entwurf vor, der nach weiteren Modifikationen als E 1962 in den Bundestag eingebracht wurde. Verzögert durch Bundestagswahlen musste der Entwurf 1965 erneut in den Bundestag eingebracht werden.14 Dem E 1962 steht der AE 1966 gegenüber. Nach der Strafrechtslehrertagung 1965 in Freiburg im Breisgau bildete sich ein Arbeitskreis deutscher und schweizerischer Strafrechtslehrer. Der zunächst aus 14 jüngeren Strafrechtsprofessoren bestehende Arbeitskreis legte schon im Jahr 1966 zum Allgemeinen Teil des Strafrechts einen Alternativentwurf (AE) zum E 1962 vor. Er wurde 1967 in den Bundestag eingebracht. 12 Siehe dazu im Einzelnen Scheffler, in: Vormbaum/Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch, 2004, S. 174 ff. m. w. N.; ferner Busch, Die deutsche Strafrechtsreform, 2005, S. 40 ff., 45 ff. 13 Siehe Lange, ZStW 66 (1954), 167 f. 14 Siehe zu den Gründen Scheffler (Fn. 12), S. 183 ff.

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Beide Entwürfe lagen nun dem Bundestag vor. Ohne dass man einen der Entwürfe in toto umsetzte, wurden sie zur Grundlage für die Strafrechtsreform. Dabei entschied sich der Gesetzgeber angesichts des Umfangs der Materie dazu, die notwendigen Reformen in Abschnitten vorzunehmen. So betrifft das Erste Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25. Juni 196915 vor allem Modifikationen des Sanktionenrechts, und zwar insoweit, als dessen Änderung als besonders vordringlich empfunden wurde. Es trat bereits in Teilen am 1. September 1969 in Kraft, im Übrigen am 1. April 1970. Dieses Gesetz führte u. a. eine einheitliche Freiheitsstrafe ein und schaffte die anachronistische Sanktion des Verlusts der bürgerlichen Ehrenrechte ab. Herzstück der Gesamtreform ist aber das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 1969, mit dem der Allgemeine Teil des StGB vollständig neu gestaltet wurde. Es trat – vor dem Hintergrund von notwendigen Umstellungen – erst fast fünf Jahre später in Kraft, nämlich am 1. Januar 1975. Vor allem dieses 2. Gesetz zur Reform des Strafrechts macht das Jahr 1975 für die Entwicklung des Strafgesetzbuchs so entscheidend.16

IV. Die Reform der Notstandsvorschriften Nach diesen allgemeinen Informationen zur Reformentwicklung im Bereich des Strafrechts bis zum Jahr 1975 möchte ich mich nunmehr im Hauptteil meines Vortrags der durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts neu gestalteten Regelung zum Notstand widmen. Ich will insofern in mehreren Schritten vorgehen: Zunächst geht es darum, wie die Rechtslage sich vor der Reform darstellte. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, durch welchen Entwurf – E 1962 oder AE 1966 – die neue Notstandsregelung maßgeblich beeinflusst worden ist und ob mit §§ 34, 35 StGB im Vergleich zum vorherigen Rechtszustand überhaupt etwas Neues geschaffen worden ist. Schließlich ist zu erörtern, wie die durch das 2. Strafrechtsreformgesetz geformte Rechtslage im Bereich des Notstands zu bewerten ist: War es richtig, die Regelung überhaupt zu treffen, hätte man sich vielleicht besser einer Normierung enthalten sollen oder wäre es nicht möglicherweise – auch vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen – umgekehrt vorzugswürdiger gewesen, noch mehr als tatsächlich geschehen gesetzlich zu regeln? 15

BGBl. I, S. 645. Zum Dritten bis Fünften Gesetz zur Reform des Strafrechts sowie zum EGStGB siehe Busch (Fn. 12), S. 77 ff.; Scheffler (Fn. 12), S. 218 ff. 16

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1. Die Situation vor 1975 Zunächst aber zur Ausgangslage vor der Reform 1975: Das StGB a. F. kannte zwei Vorschriften über den Notstand: Nach § 54 a. F. StGB war eine strafbare Handlung nicht vorhanden, wenn die Handlung außer im Falle der Notwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Notstand zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Täters oder eines Angehörigen begangen worden ist. Neben dieser Regelung stand die Normierung des Nötigungsnotstands in § 52 a. F. StGB. Danach war eine strafbare Handlung nicht vorhanden, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib oder Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genötigt worden ist. Beide Regelungen kannte das RStGB seit 1871. Betrachtet man die Vorschriften näher, lässt sich Folgendes feststellen: Angesichts der Formulierung des § 54 a. F. StGB regelte diese Norm, obwohl dort nur davon gesprochen wird, dass eine strafbare Handlung nicht vorhanden ist, einen Entschuldigungsgrund. So erfolgt eine Beschränkung auf Gefahren für Leib oder Leben, zudem tritt Straffreiheit nur ein, wenn der Täter zum Schutz seiner selbst oder eines Angehörigen agiert. Vor dem Hintergrund dieser Beschränkung auf ganz wesentliche Rechtsgüter sowie auf den Schutz des Täters selbst oder eines Angehörigen handelt es sich um eine Konstellation, bei welcher der Gesetzgeber die Tat verzeiht und damit entschuldigt. § 54 a. F. StGB ist damit der Vorgänger des heute in § 35 StGB geregelten entschuldigenden Notstands. Was gilt nun hinsichtlich § 52 a. F. StGB? Auch bei ihm geht es um Gefahren ausschließlich für Leib oder Leben und nur in Bezug auf den Täter oder einen Angehörigen. Der Unterschied zu § 54 a. F. StGB besteht lediglich darin, dass der Täter von einem Dritten zu der Tat genötigt wird. Damit war § 52 a. F. StGB ein Spezialfall des § 54 a. F. StGB und folglich auch ein Entschuldigungsgrund. Gleichzeitig erhellt sich daraus, dass das StGB vor 1975 im Allgemeinen Teil keine gesetzliche Normierung des rechtfertigenden Notstands aufwies. Es gab lediglich im Besonderen Teil den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen gemäß § 193 StGB sowie außerhalb des Strafrechts insbesondere die Regelungen des zivilrechtlichen Notstands in § 228 BGB sowie in § 904 BGB. Wenn damit § 34 StGB im Strafgesetzbuch unmittelbar keine Vorgängerbestimmung hat, darf das aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der rechtfertigende Notstand auch schon vor 1975 eine bekannte Größe war, je-

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doch nicht gesetzlich normiert. Das Reichsgericht hatte bereits in seiner berühmten Entscheidung zum medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch vom 11. März 1927 einen später so bezeichneten rechtfertigenden übergesetzlichen Notstand anerkannt.17 Das Reichsgericht hatte u. a. ausgeführt, dass ein Eingriff in ein geringerwertiges Gut nicht rechtswidrig ist, wenn zwei Rechtsgüter so im Widerstreit stehen, dass das eine Rechtsgut nur auf Kosten des anderen gerettet werden kann. Dieser übergesetzliche Notstand setzte sich dann allgemein durch und erstarkte zu Gewohnheitsrecht.18 Gesetzlich umgesetzt wurde er jedoch nur partiell, nämlich 1935 in Bezug auf den medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch. Ich kann damit festhalten: Bis zum Jahr 1975 gab es im StGB keine allgemeine Regelung des rechtfertigenden Notstands, jedoch war dieser Rechtfertigungsgrund bereits – als Gewohnheitsrecht – allgemein anerkannt. 2. Einflussnahmen des E 1962 oder E 1966 auf die Notstandsvorschriften? Nach diesen Hinweisen zur Rechtslage vor 1975 möchte ich nunmehr darauf eingehen, durch welchen Entwurf – E 1962 oder AE 1966 – die Regelung des Notstands im 2. Strafrechtsreformgesetz maßgeblich beeinflusst ist. Insofern ist festzustellen, dass der AE 1966 sein klares Schwergewicht im kriminalpolitischen Bereich bei den Sanktionen hatte, hingegen in Bezug auf die Strafbarkeitsvoraussetzungen keine wesentlichen Neuerungen im Vergleich zum damals geltenden Rechtszustand beinhaltete.19 Dementsprechend rührt der rechtfertigende Notstand in § 34 StGB auch deutlich aus dem Entwurf 1962.20 Dort findet sich in § 39 Abs. 1 E 1962 fast wortidentisch mit dem heutigen § 34 StGB der rechtfertigende Notstand. Ebenso verhält es sich mit § 35 StGB:21 Auch diese Bestimmung lehnt sich ganz überwiegend an die Normierung des entschuldigenden Notstands in § 40 E 1962 an. Lediglich die Strafmilderung des § 35 Abs. 1 S. 2 StGB knüpft, 17

RGSt. 61, 242. Begründung zum E 1962, S. 158. 19 Vgl. Eser, Festschrift für Maihofer, 1988, S. 109, 116, 119; Scheffler (Fn. 12), S. 198. 20 Zur Entstehungsgeschichte des § 34 StGB siehe Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Band 2, S. 141 ff., Anhang Nr. 22 ff., Band 12, S. 152 ff., Anhang A Nr. 36 ff.; Begründung zum E 1962, S. 158 ff.; Protokolle V, S. 1638 ff., 1739 ff., 1792 ff., 2110 f., 2907, 3159; Bundestags-Drucks. V/4095, S. 15 f. 21 Zur Entstehungsgeschichte des § 35 StGB siehe Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Band 2, S. 141 ff., Anhang Nr. 22 ff., Band 12, S. 152 ff., Anhang A Nr. 36 ff.; Begründung zum E 1962, S. 161 f.; Protokolle V, S. 1839 ff., 2111 ff.; Bundestags-Drucks. V/4095, S. 16 f. 18

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jedoch eingeschränkt dadurch, dass das besondere Rechtsverhältnis von der Milderung ausgenommen wird, an die Vorschrift über den entschuldigenden Notstand in § 23 S. 2 AE an. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Regelungen in den §§ 34, 35 StGB entscheidend vom E 1962 geprägt sind. 3. Neuerungen und Klarstellungen durch die §§ 34, 35 StGB? An diese Feststellung möchte ich nun die Untersuchung anschließen, ob das, was Gesetz geworden ist, im Vergleich zur vorherigen Rechtslage etwas Neues darstellt, oder ob die §§ 34, 35 StGB inhaltlich nichts anderes als die – teilweise ungeschriebene – Rechtslage vor 1975 widerspiegeln. So wird zum Teil im Schrifttum davon ausgegangen, dass die Neuregelungen der Strafbarkeitsvoraussetzungen durch das 2. Strafrechtsreformgesetz im Wesentlichen nur eine Festschreibung des auch schon nach dem bisherigen Recht anerkannten Rechtszustandes seien, somit weniger prinzipiell Neues als vielmehr überwiegend ein Ausbau des bereits Vorhandenen.22 Damit verbunden ist die Erörterung, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Notstand zu normieren. a) Neuerungen im Bereich des rechtfertigenden Notstands – War es sinnvoll, eine gesetzliche Regelung im Sinne des § 34 StGB zu treffen? Betrachten wir zunächst den rechtfertigenden Notstand gemäß § 34 StGB: Liest man die Begründung des E 1962, so wird davon die Annahme, es handele sich beim rechtfertigenden Notstand um die Festschreibung der bisherigen Erkenntnisse, durchaus unterstützt. In der Begründung ist ausdrücklich ausgeführt, Ziel des Entwurfs sei es, den bisher als übergesetzlichen Notstand bezeichneten Fall gesetzlich festzulegen.23 Die begrifflichen Merkmale des rechtfertigenden Notstands seien „in Anlehnung an die gesicherten Ergebnisse der Rechtsprechung und unter Berücksichtigung der in der Wissenschaft entwickelten Grundsätze“24 umschrieben. Tatsächlich wird in Übereinstimmung mit der damaligen Rechtsprechung jedes Rechtsgut als notstandsfähig anerkannt, zudem führt der E 1962 aus, dass sich in der vorzunehmenden Abwägung die zum übergesetzlichen Notstand entwickelten Lehrmeinungen widerspiegeln.25 22 Etwa Busch (Fn. 12), S. 72; Hirsch, Gedächtnisschrift für Hilde Kaufmann, 1986, S. 131, 142, 159; Scheffler (Fn. 12), S. 216 f. m. w. N. 23 Begründung zum E 1962, S. 158. 24 Begründung zum E 1962, S. 159. 25 Begründung zum E 1962, S. 159.

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Von daher fragt sich, ob es sinnvoll war, überhaupt eine gesetzliche Regelung des rechtfertigenden Notstands einzuführen oder ob es nicht besser gewesen wäre, weiterhin diesen Rechtfertigungsgrund kraft Gewohnheitsrechts anzuwenden. So ist denn auch etwa von Gallas auf der Strafrechtslehrertagung in Münster im Jahr 1967 angemerkt worden, dass eine Formulierung, welche allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten gerecht werde wollte, sich in einer vagen Allgemeinheit erschöpfen müsste.26 Viel mehr als die Weisung, alles zu bedenken und dann die richtige Entscheidung zu treffen, könne nicht geboten werden. Durch eine Normierung entstehe eine nicht zu unterschätzende Versuchung für den Richter, bei der Beurteilung von Notstandsfällen vermeintlich sozial gebotene Entscheidungen auf Kosten des Freiheitsspielraums des Verletzten und der Autorität der Rechtsordnung zu treffen. Würde aber von der Vorschrift ein legitimer Gebrauch gemacht, so wäre ihre praktische Bedeutung keineswegs so groß, dass der Gesetzgeber eine Regelung treffen müsse. Vorzuziehen sei daher ein „behutsam gehandhabtes case-law“27. Für die damals von Gallas vertretene Ansicht, auf eine Regelung insgesamt zu verzichten, könnte zudem angeführt werden, dass die Begründung zum E 1962 ausführt, die Vorschrift über den rechtfertigenden Notstand könne angesichts der Vielzahl der möglichen Anwendungsfälle keine deutlich umrissenen Abgrenzungsmerkmale für die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands bieten, sondern müsse sich auf Richtlinien beschränken. Bedenkt man dies, mag man möglicherweise die Regelung für überflüssig halten. Berücksichtigt man weiter, dass u. a. durch die Normierung des rechtfertigenden Notstands im StGB neue Streitfragen aufgetreten sind, nämlich insbesondere das Problem, ob sich auch Hoheitsträger auf § 34 StGB berufen können, dann erscheint eventuell die gesetzliche Verankerung nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich. Dennoch halte ich es für richtig und zutreffend, dass der Gesetzgeber im Jahr 1975 eine Regelung zum rechtfertigenden Notstand in das StGB aufgenommen hat. Sämtliche dagegen erhobenen Einwände überzeugen im Ergebnis nicht. Im Einzelnen: § 34 StGB ist nicht bloß eine Festschreibung des bisherigen ungeschriebenen Rechtszustandes, sondern ein Mehr. Die Vorschrift bringt nämlich Rechtssicherheit in Bezug auf mehrere zuvor kontrovers diskutierte Fragen: (1) Indem der Gesetzestext ausdrücklich zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand unterscheidet, befürwortet der Gesetzgeber die Differenzierungstheorie, die zwar bereits herrschend, jedoch nicht unumstritten war. (2) Hinsichtlich des Notstandsprinzips folgt § 34 StGB, der darauf abstellt, ob bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das 26 27

Gallas, ZStW 80 (1968), 1, 23. Gallas, ZStW 80 (1968), 1, 24.

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beeinträchtigte wesentlich überwiegt, der Interessenabwägungstheorie. Diese wurde zwar der Sache nach bereits zuvor beim übergesetzlichen Notstand angewendet, jedoch standen dem dennoch die reine Güterabwägungstheorie sowie Zwecktheorie gegenüber.28 Zwar berücksichtigt der Gesetzestext auch vor allem Gesichtspunkte der Güterabwägung, dennoch geht aus der Fassung des Gesetzes klar hervor, dass letztendlich maßgeblicher Anknüpfungspunkt die Abwägung der Interessen ist.

Damit beinhaltet die Regelung insofern ein Mehr, als sie zwar schon der zuvor h. M. folgt, aber eine endgültige Entscheidung in vorher diskutierten Streitfragen liefert. Dagegen lässt sich auch nicht der Vorwurf erheben, der Gesetzgeber habe der Entwicklung der Wissenschaft vorgegriffen und so die weitere wissenschaftliche Diskussion um den sachgerechten Inhalt der Notstandsregelung blockiert; denn den Streit um die mit dem rechtfertigenden Notstand verbundenen Voraussetzungen kann man bereits in den sechziger Jahren als damals ausdiskutiert bezeichnen. Die maßgeblichen Aspekte waren vorgetragen. Es war daher nicht voreilig, dass sich der Gesetzgeber in § 34 StGB einer der vertretenen Ansichten angeschlossen hat. Zu einem bestimmten rechtlichen Problem sind irgendwann einmal sämtliche Argumente ausgetauscht. Zwar ist es immer denkbar, dass der ein oder andere Gesichtspunkt in einer wissenschaftlichen Diskussion unbeachtet bleibt, doch ist irgendwann der Zeitpunkt gekommen, in dem der Gesetzgeber sich entscheiden muss und ein Abwarten keinen wesentlichen Erkenntnisgewinn mehr erwarten lässt. Dieser Zeitpunkt war für den Notstand bereits in den sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts erreicht, sodass es richtig war, eine gesetzliche Normierung durchzuführen, zumal – dies sei am Rande vermerkt – eine eventuelle spätere Änderung der Vorschrift dadurch nicht ausgeschlossen ist. Auch der Einwand, dass die Notstandsvorschrift in ihren Voraussetzungen relativ allgemein gehalten sein muss, spricht nicht gegen die Normierung. So ist nicht zu übersehen, dass der Gesetzgeber dem Richter durchaus in § 34 StGB Maßstäbe an die Hand gibt: Er informiert u. a. darüber, dass ein Handeln im Notstand schon rechtfertigend wirken kann, dass sämtliche Interessen in die Abwägung einzubeziehen sind und notstandsfähig grundsätzlich sämtliche Rechtsgüter sind. Es geht also um mehr als bloße Allgemeinplätze. Das mit dem E 1962 verfolgte Ziel, im Bereich des Notstands eine Regelung zu schaffen, welche der Rechtsprechung eine feste Grundlage gewährt,29 konnte somit erreicht werden. Unbestreitbar ist die Unschärfe einiger Voraussetzungen des § 34 StGB, welche die Gefahr extensiver Auslegung der Vorschrift in sich birgt. Dem ist aber nicht – wie 28 29

Siehe im Einzelnen Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 50 ff. Begründung zum E 1962, S. 158.

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Gallas jedoch meinte – durch eine Abstinenz des Gesetzgebers in diesem Bereich zu begegnen, bei der doch die Gefahr der Verletzung der Freiheitsrechte des Einzelnen noch viel höher ist, sondern dies gebietet eine besondere Vorsicht bei der Subsumtion unter die Vorschrift. Aufgabe des Gesetzgebers ist es, zu bestimmen, welche Verhaltensweisen verboten, aber auch ausnahmsweise erlaubt sind, damit der Einzelne sein Verhalten danach ausrichten kann. Der Gesetzgeber darf diese ihm originär zufallende Aufgabe nicht auf den Richter übertragen. Dabei sollte er zwar nicht bei dogmatischen Fragen, die wissenschaftlich noch nicht hinreichend untersucht worden und damit im Fluss sind, durch eine vorweggenommene Entscheidung möglicherweise eine sachentsprechende Lösung blockieren; andererseits muss er, wenn die maßgeblichen Gesichtspunkte als zusammengetragen gelten können, die Letztentscheidung treffen. Insofern darf er sich dann nicht mehr einer Entscheidung enthalten. Es ist daher zu befürworten, dass in der Begründung zum E 1962 ausgeführt wird, der Gesetzgeber könne über die Grundsätze des rechten Handelns, wenn sich strafrechtlich geschützte Interessen und Rechtsgüter widerstreiten, nicht schweigen.30 Es war daher zutreffend, den rechtfertigenden Notstand in § 34 StGB einer Regelung zuzuführen. Zwar ist richtig, dass durch die Schaffung des § 34 StGB das Problem akut geworden ist, ob sich auch Hoheitsträger zur Rechtfertigung hoheitlichen Handelns auf diese Vorschrift berufen können.31 Durch eine gesetzliche Regelung können also auch neue Probleme entstehen, was wir erst kürzlich wieder leidvoll in massivster Form im Zusammenhang mit dem 6. Strafrechtsreformgesetz erleben mussten. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass dieses Problem weitgehend vermieden werden kann, wenn Strafrechtsreformen wissenschaftlich begleitet werden. Speziell hinsichtlich des Problems der Rechtfertigung des Hoheitsträgers ist zwar anzumerken, dass die Reform des Allgemeinen Teils 1975 wissenschaftlich begleitet worden ist. Es handelt sich aber zum einen bei dem angesprochenen Problem nicht um eine rein spezifisch strafrechtliche Frage, sondern um eine solche, die auch das sonstige öffentliche Recht berührt. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass diese Frage nicht nur bei § 34 StGB, sondern auch im Zusammenhang mit anderen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen auftaucht, also insbesondere bei § 32 StGB. Unter Berücksichtigung dieser beiden Aspekte geht es damit nicht um ein spezifisches Problem des § 34 StGB, das speziell gegen die Regelung des rechtfertigenden Notstands spricht, sondern um eine allgemeine Frage der Rechtfertigung. 30

Begründung zum E 1962, S. 158. Dazu m. w. N. Zieschang, in: Leipziger Kommentar, StGB, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 5 ff. 31

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Insgesamt war es daher richtig, dass der Gesetzgeber den rechtfertigenden Notstand einer Regelung im StGB zugeführt hat. Dabei erscheint mir im Übrigen, das bedarf in diesem Zusammenhang der Erwähnung, die Regelung des § 34 StGB auch inhaltlich weitgehend geglückt. So ist es zutreffend, dass der Gesetzgeber der Interessenabwägungstheorie gefolgt ist und nicht der reinen Güterabwägung oder der Zwecktheorie.32 Letztere stellt darauf ab, ob die Verletzung des Guts ein angemessenes Mittel ist zur Erreichung des rechtlich anerkannten Zwecks,33 vermag jedoch nicht die relevanten, der Abwägung zugrunde zu legenden Wertmaßstäbe mitzuteilen. Die reine Güterabwägungstheorie hat zwar ihre Berechtigung insofern, als das Rechtsgut Leben, soweit mehrere Menschenleben in Konflikt stehen, abwägungsfest ist. Im Übrigen vermag sie jedoch u. a. solche Fälle kaum sachgerecht zu lösen, in denen etwa ein bedeutender Sachwert auf Kosten eines Personenwerts gerettet wird, wie zum Beispiel in dem Fall, dass beim Löschen eines Brandes eine Person durchnässt wird.34 Es ist auch richtig, dass sich der Gesetzgeber für die Differenzierungstheorie entscheiden hat, also für die Unterscheidung zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand.35 Es gibt Konstellationen, in denen aus der Gefahr für ein Rechtsgut eine Duldungspflicht eines anderen resultieren kann. Beispiel: Wenn A von einem Jagdhund attackiert wird und sich in Lebensgefahr befindet, muss A das Recht haben, sofern ihm keine anderen Abwehrmittel zur Verfügung stehen, aus dem Gartenzaun des B eine Latte herauszubrechen, um den Hund damit zu töten, ohne dass B gegen das Herausreißen der Holzlatte Notwehr üben darf. Hier ergibt sich ein wesentliches Überwiegen zugunsten des A; sein Verhalten verstößt nicht gegen die Rechtsordnung und muss von B geduldet werden. Andererseits kann die Rechtsordnung dem B keine Duldungspflicht auferlegen, wenn A den B als Schutzschild gegen die Attacke des Hundes benutzt, denn dann opfert A ohne Interessenübergewicht das Rechtsgut eines anderen, was erst die Schuld betreffen kann. Nicht überzeugend erscheint mir lediglich in der Fassung des § 34 StGB die Angemessenheitsklausel des Satzes 2.36 Wenn nämlich bereits im Rahmen der Interessenabwägung sämtliche Umstände des Einzelfalls in die Betrachtung einzubeziehen sind, dann hat die Angemessenheitsklausel keinen eigenständigen Bedeutungsgehalt mehr. Von daher ist sie – entgegen der 32 33 34 35 36

Siehe dazu auch Zieschang (Fn. 31), § 34 Rn. 2. v. Liszt/Schmidt, Strafrecht AT, 26. Aufl. 1932, S. 206. Zieschang (Fn. 31), § 34 Rn. 64. Vgl. auch Zieschang (Fn. 31), § 35 Rn. 1 f. Zieschang (Fn. 31), § 34 Rn. 78 ff.; ders., Strafrecht Allg. Teil, 2005, S. 71 f.

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überwiegenden Ansicht im Schrifttum, jedoch im Einklang mit der Auffassung der Verfasser des Alternativ-Entwurfs37 – als überflüssig anzusehen. Dieser Umstand ändert aber insgesamt nichts daran, dass § 34 StGB durchaus als gelungene Bestimmung erachtet werden kann. Das rührt nicht zuletzt daraus, dass § 34 StGB unter wissenschaftlicher Begleitung entstanden ist. Eine andere, noch nicht beantwortete Frage ist, ob der Gesetzgeber nicht über § 34 StGB hinaus noch weitere Regelungen in den neuen Allgemeinen Teil hätte aufnehmen sollen. Darauf soll jedoch erst abschließend eingegangen sein, nachdem § 35 StGB gewürdigt worden ist. b) Neuerungen im Bereich des entschuldigenden Notstands – Ist die Regelung in § 35 StGB positiv zu bewerten? Auch bezüglich des entschuldigenden Notstands stellt sich die Frage, ob das 2. Strafrechtsreformgesetz nur den vorherigen Rechtszustand wiedergibt, womit die Reform auf diesem Feld jedenfalls nicht von allzu großer Bedeutung wäre, oder ob die Regelung Neues bringt. Insofern ist festzustellen: Mit § 35 StGB sind eine nicht unerhebliche Anzahl von Änderungen und Klarstellungen im Vergleich zur vorherigen Rechtslage verbunden.38 Zum einen wird ausdrücklich normiert, dass der Täter bei Vorliegen der Voraussetzungen der Vorschrift entschuldigt ist. Zwar führten auch die §§ 52, 54 a. F. StGB zur Entschuldigung, jedoch sprach der Gesetzestext lediglich davon, dass eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei, sodass § 35 StGB etwaigen Missverständnissen von vornherein richtigerweise vorbeugt. Weiterhin kennt das StGB 1975 keine ausdrückliche Regelung mehr zum Nötigungsnotstand. Diesen erachtete man neben der allgemeinen Notstandsregelung für überflüssig.39 In der Tat erscheint eine ausdrückliche Regelung des Nötigungsnotstands neben § 35 StGB ohne eigenständigen Bedeutungsgehalt. Zudem ist zu bedenken, dass im Fall der Nötigung nach umstrittener, jedoch aus meiner Sicht zutreffender Auffassung durchaus auch im Einzelfall eine Rechtfertigung nach § 34 StGB in Betracht kommen kann, wenn das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dann den Nötigungsnotstand selbstständig als Entschuldigungsgrund zu normieren, ist widersprüchlich und nicht sachgerecht. 37 Siehe Begründung des Alternativ-Entwurfs eines StGB, Allg. Teil, 2. Aufl. 1969, S. 53. 38 Zieschang (Fn. 31), § 35 vor Rn. 1. 39 Begründung zum E 1962, S. 161.

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§ 35 StGB enthält aber noch weitere Änderungen und Neuerungen im Vergleich zur alten Rechtslage. So ist neben Leib und Leben auch die Freiheit als notstandsfähiges Rechtsgut aufgenommen worden, also eine vorsichtige Erweiterung durchgeführt, wobei der Begriff der Freiheit nach richtiger restriktiver Interpretation nur die Fortbewegungsfreiheit im Sinne des § 239 StGB meint, nicht aber die allgemeine Willensbetätigungsfreiheit. Darüber hinaus führt § 35 StGB im Vergleich zur Rechtslage vor 1975 insofern eine Erweiterung durch, als nicht nur die Notstandshandlung zugunsten des Täters oder seiner Angehörigen entschuldigt sein kann, sondern auch diejenige zugunsten einer dem Täter nahe stehenden Person. Auch hier sei eine für den entschuldigenden Notstand charakteristische seelische Drucklage des Täters gegeben.40 Weiterhin stellt der entschuldigende Notstand im Gegensatz zur früheren Rechtslage ausdrücklich in § 35 Abs. 1 S. 2 StGB darauf ab, ob dem Täter zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen. Das war bereits früher ein von Rechtsprechung und Wissenschaft herangezogenes – damals ungeschriebenes – Korrektiv, das jetzt ausdrücklich erwähnt ist. Dabei ist zu beachten, dass nach § 54 a. F. StGB der Notstand unverschuldet sein musste, wohingegen bei § 35 StGB darauf abgestellt wird, ob der Täter die Gefahr verursacht hat. Neu ist zudem die grundsätzliche Strafmilderungsmöglichkeit nach § 35 Abs. 1 S. 2 Halbs. 2 StGB. Im Verhältnis zur vorherigen Rechtslage ist auch die Irrtumsregelung in § 35 Abs. 2 StGB eine Neuheit. Der dort geregelte Irrtum über das tatsächliche Vorliegen der Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands ist weder ein Tatbestands- noch ein Verbotsirrtum, sondern ein Irrtum eigener Art. Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift gleichzeitig zum Ausdruck gebracht, dass er der objektiven Notstandstheorie folgt, also im Fall des § 35 Abs. 1 StGB die Notstandslage objektiv vorliegen muss und nicht nur in der Vorstellung des Täters.41 Allein diese Übersicht zeigt mit hinreichender Deutlichkeit, dass das 2. Strafrechtsreformgesetz ebenfalls mit § 35 StGB nicht bloß bereits Vorhandenes wiederholt, sondern eine ganze Anzahl von Klarstellungen und Neuerungen enthält; das spricht für sich schon dafür, dass der Gesetzgeber gut daran getan hat, eine Neuregelung vorzunehmen. Die Vorschrift ist im Grundsatz gelungen. Zu kritisieren ist jedoch der absolute Ausschluss der fakultativen Strafmilderung für den Fall, dass der Täter mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte, denn dies erscheint zu starr und der Einzelfallgerechtigkeit abträglich. 40 41

Vgl. Begründung zum E 1962, S. 161. Zieschang (Fn. 31), § 35 Rn. 4.

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c) Zwischenergebnis Ich halte damit sowohl zu § 34 StGB als auch zu § 35 StGB fest: Die Vorschriften sind im Ganzen gelungen. Mit beiden Bestimmungen sind im Vergleich zur vorherigen Rechtslage eine nicht unerhebliche Anzahl an Neuerungen und Klarstellungen verbunden. Es war richtig, dass der Gesetzgeber 1975 diese Vorschriften in das StGB aufgenommen hat, wobei er damit die notwendige wissenschaftliche Diskussion und Entwicklung in diesem Bereich nicht blockiert hat. Insgesamt kann man die Reformentwicklung im Zusammenhang mit der Notstandsvorschrift als geglückt bezeichnen. 4. Nicht durch die Reform 1975 getroffene Regelungen aus dem Umfeld des Notstands Zum Abschluss meines Vortrags möchte ich noch auf die wichtige Frage eingehen, ob der Gesetzgeber nicht möglicherweise noch mehr im Umfeld des Notstands hätte regeln sollen. Zwei Bereiche erscheinen hierbei besonders erwägenswert: Zum einen die rechtfertigende Pflichtenkollision, zum anderen der so bezeichnete übergesetzliche entschuldigende Notstand. Beide Figuren sind durch die Reform 1975 nicht in den Gesetzestext aufgenommen worden und bis heute gesetzlich nicht verankert. a) Die rechtfertigende Pflichtenkollision Zunächst zur Pflichtenkollision: Während in der Rechtsprechung vor 1975 keine saubere Trennung zwischen rechtfertigendem Notstand und Pflichtenkollision durchgeführt worden war und Gedanken der Güter- und Pflichtenabwägung miteinander vermengt wurden,42 hat der Gesetzgeber § 34 StGB auf den echten Notstand begrenzt und die rechtfertigende Pflichtenkollision ausdrücklich ausgenommen; man wollte insofern der Rechtsprechung nicht vorgreifen.43 Bei der in den Einzelheiten umstrittenen rechtfertigenden Pflichtenkollision geht es richtigerweise um einen besonderen, von § 34 StGB zu unterscheidenden Rechtfertigungsgrund beim Unterlassungsdelikt. Es kollidieren zwei Handlungspflichten, die gleichrangig oder von unterschiedlichem Rang sein können.44 Bei Unterschiedlichkeit muss der Täter das höherrangige Gut retten, bei Gleichwertigkeit ist er bei Erfüllung einer Pflicht nach richtiger Ansicht nicht nur entschuldigt, sondern bereits gerechtfertigt: Wenn der Täter bei zwei gleichwertigen 42 43 44

Vgl. Zieschang (Fn. 31), § 34 vor Rn. 1, Rn. 5. Begründung zum E 1962, S. 159. Kühl, Strafrecht Allg. Teil, 5. Aufl. 2005, S. 571 f.

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Handlungspflichten, die er beide nicht erfüllen kann, einer Pflicht nachkommt, begeht er kein Unrecht; anderenfalls würde die Rechtsordnung Unmögliches gebieten. Zutreffend ist es, dass die rechtfertigende Pflichtenkollision nicht in § 34 StGB mit dem rechtfertigenden Notstand verquickt worden ist, denn beide Konstellationen sind vor dem Hintergrund voneinander zu unterscheiden, dass es bei der Pflichtenkollision im Fall des Konflikts gleichwertiger Pflichten nicht um das Prinzip des überwiegenden Interesses geht. Das hätte jedoch den Gesetzgeber nicht hindern sollen, eine eigenständige Regelung für die rechtfertigende Pflichtenkollision zu schaffen, um diesem schon damals diskutierten Fall durch eine Entscheidung des Gesetzgebers, die angesichts des damaligen Stands der Wissenschaft auch nicht voreilig gewesen wäre, klare Konturen zu geben. Hier hätte der Gesetzgeber etwas mutiger sein können. b) Der übergesetzliche entschuldigende Notstand Ich komme am Schluss meines Vortrags zum übergesetzlichen entschuldigenden Notstand und damit zu dem zu Beginn meiner Überlegungen erwähnten Umstand, dass die Notstandsregelungen vor dem Hintergrund terroristischer Gewaltakte aktuelle Bedeutung gewinnen können. In Anlehnung an die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 geht es um den Fall, dass ein mit Fluggästen voll besetztes Passagierflugzeug in ein Hochhaus gesteuert werden soll, in dem sich mehrere hundert Menschen aufhalten. A bringt nun das Flugzeug zur Rettung der Menschen im Hochhaus zum Absturz. Der Fall soll in Deutschland spielen, sodass Fragen des internationalen Strafanwendungsrechts außer Betracht bleiben können und A soll kein Hoheitsträger, sondern Privatmann sein. Macht sich A wegen Totschlags strafbar, wenn er das Flugzeug zum Absturz bringt, um hunderte von Menschen, die sich in dem Hochhaus befinden, zu retten? A verwirklicht den objektiven Tatbestand des § 212 StGB und handelt vorsätzlich. Die Notwehr kommt als Rechtfertigungsgrund zur Tötung der Passagiere nicht in Betracht, da von ihnen kein Angriff ausgeht. Richtigerweise kann die Tat auch nicht – wie aber zum Teil angenommen wird45 – über § 34 StGB gerechtfertigt sein, denn der absolute Lebensschutz steht einem Überwiegen zugunsten der Personen im Hochhaus entgegen, selbst 45 Eine Rechtfertigung der Tötung unter den Voraussetzungen des § 34 StGB befürworten bei „unrettbar verlorenem“ Leben etwa Erb, in: Münchener Kommentar, StGB, 2003, § 34 Rn. 117 ff.; Pawlik, Jura 2002, 26, 30 f.

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wenn die Flugzeuginsassen unrettbar verloren sein sollten.46 Eine Entschuldigung nach § 35 StGB scheitert daran, dass A nicht zu seinen Gunsten und auch nicht zugunsten eines Angehörigen oder einer ihm nahe stehenden Person handelt. In Betracht kommt damit nur der übergesetzliche entschuldigende Notstand. Dieser Entschuldigungsgrund wurde insbesondere aufgrund des so genannten Euthanasieärzte-Falls schon nach dem 2. Weltkrieg diskutiert: Ärzte wirkten an der von Hitler befohlenen Tötung einiger von ihnen ausgewählter Geisteskranker mit, um die Tötung aller Anstaltsinsassen durch andere Ärzte zu verhindern, die sie im Fall der verweigerten Mitwirkung ersetzt hätten.47 In seinen Voraussetzungen ist dieser Notstandsfall umstritten: Zwar ist man sich weitgehend einig, dass es einer nicht anders abwendbaren Gefahr für das Leben bedarf, wobei den in Gefahr Geratenen die Hinnahme der Gefahr nicht zumutbar ist; Uneinigkeit besteht aber, ob auch eine Gefahr für Leib und Freiheit genügt, der Täter das kleinere Übel gewählt haben muss und ob die Gefahr auch auf Unbeteiligte übergewälzt werden darf.48 Wenn damit auch umstritten, sind dennoch die Randbedingungen des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands bekannt. Dies war im Übrigen aufgrund entsprechender wissenschaftlicher Untersuchungen49 auch schon im Zeitpunkt der damaligen Reform der Fall. Dann aber hätte der Gesetzgeber bereits im Zusammenhang mit der 1975 in Kraft getretenen Reform die Entscheidung treffen können, welche Voraussetzungen mit diesem Entschuldigungsgrund im Einzelnen verbunden sind, ohne dass dies voreilig gewesen wäre. Er durfte solche hochbrisanten Fragen nicht unbeantwortet lassen. Dann würde auch die Entscheidung, dass A entschuldigt ist, auf eine sichere rechtliche Grundlage gestellt sein. Vielleicht hätte eine solche allgemeine Vorschrift von vornherein auch die verunglückte und inzwischen richtigerweise durch das BVerfG für verfassungswidrig erklärte50 Norm des § 14 Abs. 3 a. F. Luftsicherheitsgesetz vermieden, die einen Tabubruch darstellte und als ultima ratio den Abschuss eines Flugzeugs durch die Bundeswehr und die damit verbundene Tötung Unschuldiger legitimierte. 46 Siehe im Einzelnen dazu Zieschang (Fn. 31), § 34 Rn. 74, 74a; ders., Strafrecht Allg. Teil, S. 69; zu weiteren Legitimierungsversuchen, die im Ergebnis nicht tragen, siehe Hilgendorf, Schriften zum öffentlichen Recht, Band 1002, 2005, S. 107, 125 ff. 47 Siehe etwa Kühl, Strafrecht Allg. Teil, S. 333. 48 Siehe Zieschang, Strafrecht Allg. Teil, S. 98 f. 49 Siehe etwa Welzel, ZStW 63 (1951), 47. 50 BVerfG, Urteil vom 15.02.2006, 1 BvR 357/05.

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5. Fazit Fazit: Die seit 1975 geltende Notstandsregelung in den §§ 34, 35 StGB ist im Ganzen gelungen. Der Gesetzgeber hätte aber durchaus einen Schritt weiter gehen können, indem auch die rechtfertigende Pflichtenkollision sowie der derzeit so bezeichnete übergesetzliche entschuldigende Notstand in das StGB aufzunehmen gewesen wären. Die Reform hätte daher jedenfalls im Zusammenhang mit der hier behandelten Materie des Notstands durchaus noch weitergehen können.

Beobachtungen zur Entwicklung des deutschen Strafrechts 1975–2005* Von Eric Hilgendorf, Würzburg

I. Ausgangslage Nach Inkrafttreten der Reform des Allgemeinen Teils des Strafrechts im Jahr 1975 verlagerte sich das Schwergewicht der Reformdiskussion auf den Besonderen Teil. Das Strafrecht galt nicht mehr als modern, bisherige Reformansätze wurden als Ausdruck vergangener Epochen betrachtet, so dass – von den „Alternativprofessoren“ angetrieben – ein rechtsstaatliches und sozialstaatliches Strafrecht gefordert wurde, das dem Geist des Grundgesetzes besser entsprechen sollte. Werner Maihofer, Innenminister von 1974 bis 1978 und Strafrechtsprofessor, formulierte zwei Leitlinien für eine solche Reform: „(1) Das Strafrecht ist Magna Charta Libertatum des Bürgers“ und „(2) Das Strafrecht ist die ultima ratio der Sozialpolitik.“1 Mit diesen Leitlinien wollte er den bisherigen Mängeln des Strafrechts entgegentreten, vor allem der kriminalpolitischen Hypertrophie und dem Trend, Recht und Moral unangemessen zu vermengen. Strafrecht, so argumentierte er, sei kein beliebiges Mittel der Sozialpolitik, und durch die Beschäftigung mit Bagatellkriminalität würden die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden vom wirklichen Verbrechertum abgezogen.2 Ähnlich wie Maihofer beschrieb auch Rudolf Wiethölter in seinem Einführungsbuch zur „Rechtswissenschaft“3, einem Schlüsseltext der Rechtskritik der 60er Jahre, die zentralen Mängel des damals geltenden Strafrechts. Er forderte eine Besinnung auf die Funktion von Strafrecht in unserer Ge* Die Teile I–IV der nachfolgenden Darstellung sind eine Zusammenfassung und Fortführung von E. Hilgendorf (unter Mitarbeit von Th. Frank und B. Valerius), Die deutsche Strafrechtsentwicklung 1975–2000. Reformen im Besonderen Teil und neue Herausforderungen, in: Th. Vormbaum/J. Welp (Hrsg.), Das Strafgesetzbuch. Sammlung der Änderungsgesetze und Neubekanntmachungen. Supplementband 1: 130 Jahre Strafgesetzgebung – Eine Bilanz, 2004, S. 258–380. 1 W. Maihofer, Die Reform des Besonderen Teils des Strafrechts, in: L. Reinisch (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtsreform, 1967, S. 72–88 (74). 2 Die Reform des Besonderen Teils (Fn. 1), S. 75; vgl. auch Hilgendorf/Frank/ Valerius (vor Fn. 1), S. 262. 3 R. Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968.

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sellschaft, die nicht mehr eine von Thron und Altar zusammengehaltene bürgerliche Besitz- und Bildungsgesellschaft sei, deren Sicherung das Strafrecht im Verständnis des 19. Jahrhunderts noch diente. Als Hauptgebiete der Reform im Besonderen Teil nannte er das politische Strafrecht und das Sittenstrafrecht, insbesondere Ehebruch, künstliche Insemination, Abtreibung und einfache Homosexualität.4 Das Reformprogramm, das Maihofer und Wiethölter entwarfen, lässt sich nur vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Umschwungs verstehen, der in den frühen 60er Jahren eingesetzt hatte.5 Die meisten rechtspolitischen Forderungen jener Zeit, die sich auf den Besonderen Teil des Strafgesetzbuches bezogen, lassen sich unter den Leitbegriffen „Liberalisierung“ und „Abschaffung“ zusammenfassen: Liberalisierung des Sexualstrafrechts und des politischen Strafrechts, Lockerung oder Abschaffung der §§ 218 ff. StGB, Abschaffung des § 175 StGB. Ab Mitte der 90er Jahre traten dann zwei neue Faktoren auf den Plan, die die Strafrechtsentwicklung bis heute prägen: die Europäisierung und die Internationalisierung des Rechts.

II. Entwicklungstendenzen Die Debatten über die Reform des Strafrechts im Besonderen Teil mündeten in eine Reihe von Reformen. So wurden im Untersuchungszeitraum vor allem im Bereich des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs, der Terrorismusbekämpfung, der Wirtschaftskriminalität, der Straftaten gegen die Umwelt, des Sexualstrafrechts und der organisierten Kriminalität Änderungen vorgenommen. 1998 folgte das Sechste Gesetz zur Reform des Strafrechts mit besonders zahlreichen und weit reichenden Änderungen von Strafvorschriften.6 Aus diesen Hauptetappen lassen sich in der Rückschau (teilweise widersprechende) Entwicklungstendenzen und problematische Eigenheiten der deutschen Strafrechtsentwicklung zwischen 1975 und 2005 entdecken. Seit vielen Jahren gehört der Frankfurter Strafrechtslehrer Wolfgang Naucke zu den scharfsinnigsten Beobachtern und Kritikern der deutschen Strafrechtsentwicklung. Das deutsche Strafgesetzbuch, so Nauckes Kernthese7 4

Die Reform des Besonderen Teils (Fn. 1), S. 79. Dazu E. Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, 2006, S. 187 ff., 253 ff.; zum parallel stattfindenden Aufschwung der Rechtstheorie in der Jurisprudenz E. Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie 1965–1985, 2005. 6 Eingehend zu den angesprochenen Themenbereichen Hilgendorf/Frank/Valerius (vor Fn. 1), S. 265–363. 7 Vielfältig ausbuchstabiert ist diese These in W. Naucke, Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik. Abhandlungen zum Strafrecht und zum Strafprozessrecht, 1999; ders., 5

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entferne sich vom Modell des klassisch-liberalen, am Individualrechtsschutz orientierten Strafrechts und greife in immer neue Bereiche aus, etwa in die Bereiche Umwelt, Drogen, organisierte Kriminalität, Terrorismus, HighTech-Kriminalität und Produkthaftung. Diese Beobachtung trifft in der Tat zu: Das deutsche Strafrecht zieht sich nicht zurück, sondern dehnt sich immer weiter aus, und erfasst mittlerweile Bereiche, die weit außerhalb der „klassischen“ Strafrechtstheorie liegen. Bei der Bewertung dieser Entwicklung sollte man allerdings nicht vorschnell in eine einseitig kritische Haltung verfallen und die Tugenden eines „klassisch-liberalen Strafrechts“ beschwören, das in Reinform faktisch nie existiert hat. Berücksichtigt werden muss nämlich auch, dass das Strafrecht durch viele der beklagten Änderungen heute wesentlich zeitgemäßer ist als noch vor 30 Jahren. Dies gilt vor allem in dem Sinne, dass der Stand des positiven Rechts der Entwicklung der Sozialethik, aber auch dem Stand des technischen Fortschritts z. B. in der Datenverarbeitung und der Informationsübertragung, weitgehend entspricht. Um der Gesamtentwicklung zumindest im Ansatz gerecht zu werden, soll sie im Folgenden anhand von 14 Leitbegriffen, die größtenteils zentralen Begriffen der gegenwärtigen Strafrechtskritik entsprechen, analysiert werden. 1. Änderungsinstrumentarium Die Instrumente, mit denen der Gesetzgeber traditionell die Reform des Strafrechts vorantreibt, sind a) Gesetze zu bestimmten aktuellen Problemen, die sich nur am Rande auch auf das Strafrecht auswirken b) Strafrechtsänderungsgesetze, mit denen klar definierte Einzelprobleme speziell aus dem Strafrecht behandelt werden c) Gesetze, in denen ganze wegen ihrer Wichtigkeit hervorgehobene Lebensbereiche geregelt sind und d) Strafrechtsreformgesetze, die große Bereiche des StGB flächendeckend und tief greifend verändern, z. B. das 6. StrRG von 1998. Der Gesetzgeber hat sich im Berichtszeitraum im Großen und Ganzen an diese traditionellen Kategorien gehalten. Die Zahl der einfachen Änderungsgesetze, bei denen das Strafrecht nur en passant betroffen ist, hat im Berichtszeitraum allerdings stark zugenommen. 2. Normstruktur und -umfang Der Gesetzgeber neigt zunehmend zu sehr differenzierten und entsprechend umfangreichen Normierungen. Beispiele sind § 261 StGB (GeldÜber die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts. Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte, 2000 (Juristische Zeitgeschichte, Abt. 1, Bd. 4).

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wäsche) mit seinem wiederholt erweiterten Straftatenkatalog, die umstrittenen Tatvarianten des § 263a StGB (Computerbetrug) sowie der § 152a StGB (Fälschung von Zahlungskarten). Diese Gesetzgebungstechnik, die sämtliche Einzelfälle erfassen will, erschwert die Rechtsanwendung und macht es dem Rechtsunterworfenen regelmäßig unmöglich, klar zu erkennen, was verboten ist und was nicht. Die hoch differenzierte Formulierungstechnik in diesen Normen, die die inkriminierten Tätigkeiten im Detail zu beschreiben versucht, führt zu Komplikationen bei der Erfassung neuer Tatvarianten, da das strafrechtliche Analogieverbot dem entgegensteht.8 3. Ungenaue Gesetze Gleichzeitig werden in vielen Gesetzen normative Begriffe verwendet oder andere unbestimmte Ausdrücke eingeführt, die dem Rechtsanwender beträchtliche Entscheidungsspielräume belassen. Dadurch sind Auslegungsstreitigkeiten, die die Ressourcen der Justiz belasten und Rechtsunsicherheit provozieren, vorprogrammiert. Die großen Entscheidungsspielräume der Rechtsanwender sind auch mit Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung problematisch, weil dadurch Entscheidungsmacht vom demokratisch legitimierten Parlament auf die Gerichte und die Verwaltung übertragen wird. Die Tendenz zur Verwendung ungenauer Begriffe konterkariert außerdem das unter (2.) angesprochene Bestreben, die Tathandlungen so exakt wie möglich zu umschreiben. 4. Entkriminalisierung Obwohl der Zeitgeist der später 60er und früher 70er Jahre noch von Forderungen nach einer möglichst weitgehenden Entkriminalisierung geprägt war – bisweilen wurde sogar die „Abschaffung des Strafrechts“ gefordert – hat es zwischen 1975 und 2005 nur in wenigen Teilbereichen eine echte Entkriminalisierung gegeben. Dazu gehört etwa die Streichung des § 175 StGB und die damit verbundene Abschaffung der Strafbarkeit einvernehmlicher homosexueller Handlungen mit Jugendlichen durch das 29. Strafrechtsänderungsgesetz 1994. Versuche, massenhaft verbreitete Delikte mit geringem Unrechtsgehalt wie den einfachen Ladendiebstahl oder die Fahrerflucht zu entkriminalisieren, schlugen hingegen fehl.

8 Eingehend zur Gesetzgebungstechnik der letzten Jahrzehnte U. Scheffler, Strafgesetzgebungstechnik in Deutschland und Europa, ZStW 117 (2005), S. 766–800; F. C. Schroeder, in: Vormbaum/Welp (vor Fn. 1), Die Entwicklung der Gesetzgebungstechnik, S. 381–422.

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5. Neukriminalisierung und Strafverschärfung Während im Ganzen die Entkriminalisierung zwischen 1975 und 2000 nur eine marginale Rolle spielt, treten stattdessen Tendenzen einer verstärkten Kriminalisierung auf, vor allem im Bereich des Sexualstrafrechts im Zusammenhang mit Gewalt- und vor allem Kinderpornographie. Die Liberalisierung ist hier einem sehr restriktiven Kurs gewichen. Andere wichtige Bereiche einer verstärkten Kriminalisierung sind das Umweltstrafrecht und das Wirtschaftsstrafrecht. Zu nennen sind ferner die Erhöhung der Strafrahmen für Körperverletzungsdelikte (zur Harmonisierung der Strafrahmen hätten ebenso die Strafrahmen für Vermögensdelikte gesenkt werden können); die Zunahme der Versuchsstrafbarkeiten (z. B. bei der einfachen Körperverletzung) und die Aufwertung des Wohnungseinbruchsdiebstahls zur Qualifikation im 6. StrRG. Man kann sagen, dass in der Neukriminalisierung und Strafverschärfung ein Haupttrend der Strafrechtsentwicklung der letzten 30 Jahre zu sehen ist. 6. Vorfeldkriminalisierung Parallel zur Kriminalisierung durch Schaffung neuer Strafrechtsbestimmungen ist ein immer weiteres Ausgreifen des Strafrechts in das Vorfeld der eigentlichen Rechtsgüterverletzung festzustellen. Mittel dazu sind eine zunehmende Versuchsstrafbarkeit, vor allem aber die Schaffung abstrakter Gefährdungsdelikte. Bei den abstrakten Gefährdungsdelikten muss es nicht einmal, wie bei den konkreten Gefährdungsdelikten, zu einer faktisch feststellbaren konkreten Gefahr für ein Rechtsgut gekommen sein; es reicht aus, wenn eine Tätigkeit ausgeübt wird, die der Gesetzgeber als allgemein gefährlich einstuft.9 Beispiele hierfür sind im Umweltstrafrecht die §§ 326 ff. StGB; bei den Straftaten gegen den Wettbewerb die §§ 298 f. StGB; ferner das Brandstiftungsdelikt § 306a Abs. 1 StGB. 7. Zukunftsorientierte Strafgesetzgebung Ein besonderes Merkmal der deutschen Strafgesetzgebung im Berichtszeitraum liegt darin, dass der Gesetzgeber mehrfach versucht hat, der technischen Entwicklung vorzugreifen und Handlungsweisen unter Strafe gestellt hat, die zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens technisch noch gar nicht realisierbar waren. Das eindruckvollste Beispiel hierfür ist das Embryonenschutzgesetz aus dem Jahr 1991, in dem z. B. das Klonen menschlicher Zellen sowie die Chimären- und Hybridbildung unter Ver9 J. Baumann/U. Weber/W. Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil. Lehrbuch, 11. Aufl. 2003, § 8 Rn. 42 f.

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wendung menschlicher Zellen unter Strafe gestellt wurden, also Verhaltensweisen, die Anfang der 90er Jahre noch eine Domäne der Literaturgattung science fiction bildeten. Hintergrund dieser Bemühungen ist offenbar der – nicht unproblematische – Versuch, über das Strafrecht die moralische und politische Willensbildung über die neuen biotechnischen Möglichkeiten vorzuprägen. 8. Strafrecht als Mittel der Gesellschaftsgestaltung und der ultima-ratio-Grundsatz Das Strafrecht als schärfstes Mittel des Staates hat nach traditioneller, nach wie vor gültiger Auffassung stets ultima ratio zu sein: Nur wenn alle anderen Möglichkeiten versagen, ist ein Einsatz des Strafrechts gerechtfertigt.10 Der moderne Strafgesetzgeber hat mit diesem Grundsatz gebrochen: Das Strafrecht wird nicht nur als ultima, sondern oft als prima und gelegentlich sogar als sola ratio eingesetzt. Beispiele finden sich vor allem im Wirtschaftsstrafrecht und bei der Bekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kriminalität. Zu bedenken bleibt allerdings, dass der Einsatz des Strafrechts zwar nicht immer, aber doch gelegentlich bessere Erfolge verspricht als der Einsatz anderer Mittel, insbesondere zivilrechtlicher Abwehrund Schadensansprüche. Die Androhung strafrechtlicher Folgen kann hier wesentlich wirkungsvoller sein. 9. Folgenorientierung Ein Standardvorwurf gegen die neuere Strafrechtsentwicklung lautet, das moderne Strafrecht sei in unangemessener Weise folgenorientiert.11 Gemeint ist vor allem die Abkehr von dem traditionellen Verständnis der Strafzwecke und die Hinwendung zu der Berücksichtigung empirischer Folgen in Gesetzgebung und Strafrechtsprechung. Eine derartige Entwicklung hat in der Tat stattgefunden. Es ist allerdings nicht recht einleuchtend, warum sie von vornherein negativ zu bewerten sein sollte. Immerhin gehört es zu den wesentlichen Errungenschaften des aufgeklärten Strafrechts seit Beccaria, auch die empirische Dimension der Straftat in den Blick zu nehmen und Strafe wie Strafrecht nach seinen Folgen zu beurteilen. Im Wesentlichen ist es dieser Perspektivenwechsel, der die Humanisierung des Strafrechts seit der Aufklärung herbeigeführt hat. 10

Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil (Fn. 9), § 3 Rn. 19. So z. B. W. Hassemer, Strafrechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: D. Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, 1994, S. 259–310 (276 ff.). 11

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10. Bedeutung der Tagespolitik Die angesprochenen Tendenzen lassen sich auch darauf zurückführen, dass die Tagespolitik den Gang der Strafgesetzgebung heute stärker beeinflusst als früher. Aufsehen erregende Fälle von Kindesmissbrauch, Umweltkatastrophen oder anstößiges Gebaren in der Wirtschaft führen oft zum Ruf nach dem Strafgesetzgeber, und dieser ist nur zu gern bereit, Meinungsumfragen zu seinen Gunsten zu beeinflussen, indem er ankündigt, das Strafrecht verschärfen zu wollen. Vor allem das Sexualstrafrecht kann als Prototyp eines „modernen“, an den Fieberkurven der oft künstlich erregten öffentlichen Meinung orientierten Strafrechts angesehen werden. 11. Politische Richtungen und Strafrechtshypertrophie Es wäre falsch, die skizzierten Tendenzen allein einer politischen Richtung anzulasten. Fast alle politischen Lager neigen seit Jahren weit eher zur Kriminalisierung als zur Entkriminalisierung. Nur die Schwerpunkte des Strafrechtseinsatzes unterscheiden sich. Die einen kriminalisieren vorzugsweise in Bereichen wie innere Sicherheit und Abwehr organisierter Kriminalität, die anderen in der Biotechnik, dem Umweltschutz oder der Wirtschaftskriminalität. Folge ist eine eklatante Zunahme von Zahl und Umfang der Strafrechtsnormen. Das Strafgesetzbuch von 1871, vom Nebenstrafrecht ganz zu schweigen, ist heute umfangreicher als jemals zuvor, und zahllose strafbewehrte Verbote reichen bis weit in das Vorfeld eigentlicher Rechtsgutsverletzungen. Dies führt zu Freiheitsbeschränkungen, für die allerdings außerhalb des Kreises der professionellen Beobachter des Strafrechts nur noch wenige Bürgerinnen und Bürger sensibel zu sein scheinen. 12. Opportunitätsprinzip als Mittel der Gegensteuerung Quasi als Korrektiv für die ausgreifende Kriminalisierung wird die leichte und mittlere Kriminalität heute in beträchtlichem Umfang durch Einstellung erledigt. Zwischen 1981 und 1998 stieg die Zahl der Einstellungen nach den Opportunitätsvorschriften um 161,4%. Die Einstellungen gemäß §§ 153, 153b StPO haben sogar um 260,5% zugenommen.12 Das Opportunitätsprinzip hat damit in weiten Bereichen das Legalitätsprinzip verdrängt. Dies mag in vielen Fällen der Vermeidung von Stigmatisierung und sozialer Ausgrenzung des Täters dienen und damit mittelbar der Rückfallvermeidung. Meist geben aber verfahrensökonomische Erwägungen (Entlas12 Erster Periodischer Sicherheitsbericht. Herausgegeben vom Bundesministerium des Innern und vom Bundesministerium der Justiz, 2001, S. 349.

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tung, Beschleunigung, Kostenersparnis) den Ausschlag: Der Staatsanwaltschaft fehlen die Ressourcen, um mit der umfassenden Kriminalisierung Schritt zu halten. Die Ausweitung des Opportunitätsprinzips ist rechtsstaatlich in hohem Maß bedenklich: Die Entscheidung über Strafbarkeit oder Nicht-Strafbarkeit wird in die Hände der Strafverfolgungsorgane gelegt; oft fehlen außerdem Rechtsschutzmöglichkeiten der Betroffenen. 13. Opferorientierung Nach traditioneller Vorstellung ist das Strafrecht täterorientiert. Ein staatlich organisiertes Strafrecht setzt geradezu voraus, dass das Opfer und seine Familie aus der Rolle der strafenden Instanz verdrängt werden. Seit einigen Jahren widmet die Strafrechtspolitik dem Opfer mehr Aufmerksamkeit. Der Blick auf die Opfer soll zum einen, in oft populistischer Verkürzung, höhere Strafandrohungen rechtfertigen. Des Weiteren spielt das Nachtatverhalten des Täters gegenüber dem Opfer eine immer größere Rolle bei der Strafzumessung und der strafprozessualen Einstellungspraxis. Die Möglichkeit einer „Wiedergutmachung“ ist theoretisch wie praktisch akzeptiert, wie man an der Einführung des Täter-Opfer-Ausgleichs in § 46a StGB durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28. Oktober 1994 erkennen kann. Hinzu treten stärkere Beteiligungsrechte des Opfers im Strafverfahren, etwa die durch das Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 1986 eingeführten §§ 406d ff. StPO. 14. Tendenzen zur Rekatholisierung Die Strafrechtsänderungen seit 1975 spiegeln ganz überwiegend den Willen der jeweiligen politischen Mehrheit im Parlament wider, wie es dem Demokratieprinzip entspricht. Im Bereich des Schutzes von ungeborenem Leben hat das Bundesverfassungsgericht allerdings zweimal die Sichtweise der großen christlichen Kirchen, vor allem der katholischen, gegen die Mehrheit des demokratisch legitimierten Parlaments durchgesetzt.13 Diese Katholisierung bzw. Rekatholisierung der Strafgesetzgebung wurde durch eine Gruppe besonders engagierter Parlamentarierinnen und Parlamentarier im Embryonenschutzgesetz und im Stammzellgesetz beim Strafrechtsschutz von befruchteten Eizellen und totipotenten Zellen in vitro fortgeführt. Heute vertreten gerade politische Richtungen, die sich selbst als „progressiv“ verstehen, in Fragen des Biostrafrechts teilweise Positionen, die von denen der katholischen Kirche kaum zu unterscheiden sind. 13 Allgemein zum Verhältnis von Strafrecht und Religion E. Hilgendorf, Religion, Recht und Staat, in: ders. (Hrsg.), Wissenschaft, Religion und Recht, 2006, S. 359–383 (384 ff.).

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15. Strafzwecke und das Verhältnis des Strafrechts zu anderen Rechtsgebieten Die Theorie der Strafzwecke ist nicht bloß Angelegenheit der Wissenschaft, sondern spielt auch für die Praxis der Gesetzgebung und Rechtsanwendung eine erhebliche Rolle. Zu Beginn des Berichtszeitraums dominierten spezialpräventive Hoffnungen, die dann schon in den 70er Jahren zunehmend von (positiv) generalpräventiven Vorstellungen verdrängt wurden. Insofern lässt sich das Strafrecht des Berichtszeitraums in der Tat als „Präventionsstrafrecht“ kennzeichnen. Durch seine generalpräventive Ausrichtung verändert sich die Position des Strafrechts im Kontext der anderen Rechtsgebiete. Es kommt zu einer deutlichen Annäherung an das Polizeirecht, aber auch an das Verwaltungsrecht, Sozialrecht und Schadensersatzrecht und zur Verschmelzung dieser Materien zu einem „Sicherheitsrecht“ ohne scharfe Konturen und ohne klare Leitprinzipien.14 16. Strafrecht und Kriminologie Während zu Beginn des Berichtszeitraums die Bedeutung der Kriminologie für die Strafgesetzgebung eher gering einzustufen war, scheint sich in jüngster Zeit bei den politisch Verantwortlichen ein Umdenken anzudeuten. Einen Markstein stellt der von den Bundesministerien des Inneren und der Justiz in Auftrag gegebene „Erste Periodische Sicherheitsbericht“ dar, der im Jahr 2001 erschienen ist.15 Darin wird auf der Grundlage empirischer kriminologischer Arbeit eine umfassende Bestandsaufnahme der Kriminalitätslage in Deutschland gegeben, die die Gesetzgebung in Zukunft zu berücksichtigen haben wird. Zu den Autoren gehören, neben Vertretern der beteiligten Ministerien und großer mit Kriminalstatistik befasster Behörden, führende deutsche Kriminologen. Der Sicherheitsbericht zeigt einen Weg auf, wie die Zusammenarbeit zwischen der Strafrechtswissenschaft (unter Einschluss der Kriminologie) und der Gesetzgebungspraxis in Zukunft verbessert werden könnte.

14 Hilgendorf/Frank/Valerius (vor Fn. 1), S. 380; vgl. auch die Beiträge in: Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.), Sicherheit durch Recht in Zeiten der Globalisierung, 2003. 15 Herausgeber sind das Bundesministerium des Innern und das Bundesministerium der Justiz.

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III. Neue Herausforderungen des deutschen Strafrechts 1. Flexibilisierung Einige der geschilderten Teilentwicklungen verbinden sich zu einem Trend, den man als „Flexibilisierung“ des Strafrechts und seiner rechtsstaatlichen Grundlagen bezeichnen kann.16 Traditionelle rechtsstaatliche Grundsätze wie das ultima-ratio-Prinzip, der Bestimmtheitsgrundsatz und das Legalitätsprinzip werden abgeschwächt und oft irrationalen Pönalisierungsbedürfnissen geopfert. Diese Phänomene des modernen Strafrechts lassen sich nicht dadurch bannen, dass man mehr oder weniger offen zu metaphysisch aufgeladenen „absoluten“ Strafvorstellungen zurückzukehren versucht. Stattdessen sollten die skizzierten Fehlentwicklungen durch eine stärkere Verwissenschaftlichung der Strafgesetzgebung korrigiert werden, wie sie heute mit Hilfe der empirischen Kriminologie möglich geworden ist. Als Ausgangspunkt kann die Besinnung auf den Ursprung des modernen Strafrechts dienen, die „moderne Schule“ Franz von Liszts. Die in unserem Zusammenhang wichtigsten Grundsätze lauten: Strafrecht ist Instrument des Rechtsgüterschutzes, das nicht bloß streng zweckrational, sondern wegen seiner freiheitsbedrohenden Schärfe nur als ultima ratio eingesetzt werden sollte. Strafrechtliche Regelungen müssen also geeignet und erforderlich sein, um eindeutig definierte gesellschaftliche Ziele zu erreichen. Mittels bestimmt abgefasster Straftatbestände und klarer Regeln über das Strafverfahren wird sichergestellt, dass der Beschuldigte kein bloßes Objekt der Staatsgewalt ist. 2. Strafrechtsausweitung Der Überblick über die Strafrechtsentwicklung zwischen 1975 und 2005 bringt einen deutlichen Trend zu mehr und zu schärferem Strafrecht an den Tag. Das Strafrecht zieht sich nicht zurück, sondern dehnt sich immer weiter aus. Dieser Trend zur Strafrechtsausweitung stellt für den freiheitlichen Rechtsstaat und die Freiheit der in ihm lebenden Individuen mittelfristig eine Gefahr dar, wenn er weiterhin so unreflektiert fortschreitet wie bisher. Strafrecht dient dem Rechtsgüterschutz, und es knüpft dazu nicht bloß an die Herbeiführung von Schäden an, sondern auch (und zunehmend) an den Vollzug gefährlicher (also potentiell schadensträchtiger) Handlungen. Mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt wachsen unsere Handlungsmöglichkeiten rasch an, und damit steigt auch das Gefahrenpotential 16 E. Hilgendorf, Strafrechtliche Produzentenhaftung in der „Risikogesellschaft“, 1993, S. 48 ff.

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unserer Handlungen sowie die Chance des Einzelnen, durch bestimmte Handlungen Anderen einen Schaden zuzufügen. Zudem lassen sich Güter verletzen, die früher dem menschlichen Zugriff noch weitgehend verschlossen waren, z. B. im Bereich der Umweltverschmutzung. In dieser Entwicklung spiegelt sich die Doppelgesichtigkeit jedes wissenschaftlichen Fortschritts. Es entstehen neue, legitime Schutzbedürfnisse, die als ultima ratio auch den Einsatz des Strafrechts erfordern können. Ein Teil der Strafrechtsausweitung seit 1975 lässt sich auf diese Weise erklären. Die wissenschaftliche und technische Entwicklung führt jedoch nicht bloß unmittelbar zu neuen Schädigungsmöglichkeiten und damit zum Bedürfnis nach neuen gesetzlichen Schutzbestimmungen, sondern beeinflusst mittelbar auch die Einstellungen und Werte der Gesellschaft. Dadurch verlieren Rechtsgüter an Ansehen, bis sie bloß noch einen Ausdruck von Partikularinteressen darstellen; andere Interessen rücken in den Rang von Rechtsgütern ein. Auch das Strafrecht reflektiert diesen gesellschaftlichen Wertewandel, wenn auch in der Regel mit einer beträchtlichen Zeitverzögerung. Heute sind es Techniken wie die massenhafte elektronische Post („spam“), die rasante Ausbreitung des eCommerce17 und das Ausspionieren des Internet-Verkehrs, die neue Strafbedürfnisse entstehen lassen; in Zukunft werden es möglicherweise die Bio- und die Nanotechnologie sein. Auch der dramatische Alterungsprozess der Gesellschaft wird möglicherweise neue Strafbedürfnisse erzeugen. 3. Europäisierung Ein dritter Trend, der dabei ist, das deutsche Strafrecht tief greifend zu verändern, ist die Europäisierung des Strafrechts. Die EU bzw. EG besitzt zwar keine eigene Strafgewalt, doch müssen europäischen Vorgaben für die nationalen Strafrechte, etwa in Form von Richtlinien oder Rahmenbeschlüssen, in nationales Recht umgesetzt werden. In der (vorerst gescheiterten) Europäischen Verfassung war in Art. III-172 Abs. 1 eine weit reichende Kompetenz der Union zum Erlass von Rahmengesetzen vorgesehen. Trotz der eingeschränkten Strafrechtssetzungsbefugnis der EU bzw. EG befinden sich die nationalen Strafrechte spätestens seit Beginn der 90er Jahre in einem Prozess der Europäisierung, der erst versteckt stattfand, seit einigen Jahren aber immer offener und zügiger abläuft. Der Sinn der europaweiten Harmonisierung der Strafverfolgung und des materiellen Strafrechts wird im Grundsatz kaum noch in Frage gestellt. Um17 Folge ist insbesondere eine Zunahme der Betrugsdelikte im Internet, dazu E. Hilgendorf, Betrug im Internet, in: K. Asada u. a. (Hrsg.), Das Recht vor den Herausforderungen neuer Technologien. Deutsch-japanisches Symposium in Tübingen vom 12. bis 18. Juli 2004, 2006, S. 141–161.

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stritten sind jedoch Tempo, Reichweite und Inhalte der Europäisierung. Beklagt wird vor allem das Demokratiedefizit europäischer Strafrechtsvorschriften, die nicht durch ein Parlament erlassen, sondern von Exekutivgremien, etwa der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, formuliert werden. Die europäischen Vorgaben lassen sich ferner oft nicht ohne weiteres mit der traditionell stark rechtsstaatlich orientierten deutschen Strafrechtsdogmatik vereinbaren. Viele der europäischen Vorgaben sind bemerkenswert vage; insofern verstärken sie die Trends zur Flexibilisierung des Strafrechts und zur Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes. Gerade Vertreter der Frankfurter Schule der Strafrechtswissenschaft18 haben sich deshalb sehr kritisch zu den bisherigen „Europäisierungsschüben“ im deutschen Strafrecht geäußert. Für übertriebenen Pessimismus besteht allerdings kein Anlass, solange sich das deutsche Strafrecht im zusammenwachsenden Europa noch hinreichend Gehör verschaffen kann.19 4. Weltanschauliche Pluralisierung Eine vierte Herausforderung des Strafrechts kann in der weltanschaulichen Pluralisierung der Gesellschaft gesehen werden. Das Christentum hat seine Leitbildfunktion weitgehend verloren. Ein großer Teil der Gesellschaft bezeichnet sich als religionsfrei; viele orientieren sich an nicht-christlichen Religionen. Eine besondere Herausforderung stellt der Islam dar, der sowohl hinsichtlich der Zahl seiner Anhänger als auch mit Blick auf ihre Glaubensstrenge zu einer der bedeutenden Religionsgemeinschaften in Deutschland herangewachsen ist. Das nationale Strafrecht wird damit in zunehmendem Maß auf Personen angewandt, die einer anderen Kultur oder Weltanschauung zuzuordnen sind. Im öffentlichen Recht hat die religiöse Pluralisierung bereits zu erheblichen Kontroversen geführt, von denen die Auseinandersetzung um das Tragen von Kopftüchern durch gläubige Musliminnen im öffentlichen Dienst besonderes Aufsehen erregt hat.20 18 Repräsentativ der vom Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. herausgegebene Sammelband: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995 (Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 50). 19 Dagegen hat sich die Globalisierung des Rechts, abgesehen von Teilgebieten wie dem internationalen Strafrecht (Strafanwendungsrecht), dem Internetstrafrecht und dem Völkerstrafrecht, im Strafrecht noch nicht spürbar niedergeschlagen. Allgemein zur Globalisierung des Rechts R. Voigt (Hrsg.), Globalisierung des Rechts, 2000. 20 Dazu M. Morlok, Kommentierung von Art. 4 GG Rn. 119 ff., in. H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 2004; aus einer grundsätzlichen Perspektive bereits H.-M. Pawlowski, Recht und Moral im Staat der Glaubensfreiheit. Ausgewählte rechtstheoretische Arbeiten, 1992.

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Die kulturelle und weltanschauliche Pluralisierung der Gesellschaft hat auch für das Strafrecht erhebliche Bedeutung. Wenn sich die Gesellschaft weltanschaulich pluralisiert, können staatliche Normen nur dann auf allgemeine Akzeptanz hoffen, wenn sie von den Rechtsunterworfenen nicht als Ausdruck einer einzelnen Weltanschauung betrachtet werden. Der staatliche Gesetzgeber hat deshalb in Zukunft gerade im Strafrecht mehr als bisher auf weltanschauliche Neutralität zu achten.21 Die Rekatholisierungstendenzen, die in Teilen der Gesetzgebung und auch der Rechtsdogmatik zu beobachten sind,22 lassen sich damit nicht vereinbaren. Der Aufschwung des Völkerstrafrechts seit dem Zusammenbruch des Ostblocks zeigt, dass ein kulturübergreifendes Strafrecht möglich ist. Am bedeutendsten ist in diesem Zusammenhang die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofes durch das Statut von Rom vom 17. Juli 1998, das am 30. Juni 2002 in Kraft getreten ist und vier Deliktsgruppen regelt: Völkermord (Art. 6), Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 7), Kriegsverbrechen (Art. 8) und Aggression (Art. 5 Abs. 2).

IV. Strafrecht und Gesellschaft heute Das Strafrecht ist heute in Gesellschaft, Politik und Massenmedien präsent wie niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Während 1975 noch Forderungen nach Entkriminalisierung vorherrschten, hat sich der Zeitgeist heute in Richtung auf immer mehr und immer schärfere Kriminalisierung gedreht. Für die Öffentlichkeit und große Teile der Politik scheint das Strafrecht zu einer Allzweckwaffe gegen unerwünschte Entwicklungen jedweder Art geworden zu sein. Eine oft populistisch auftretende Strafgesetzgebung reagiert mit rasch formulierten neuen Gesetzen, die unter Verletzung des ultima-ratio-Prinzips immer neue Straftatbestände schaffen, Strafrahmen verschärfen und das Strafrecht insgesamt „flexibilisieren“, damit es seinen neuen Aufgaben gewachsen ist. Eine Strafrechtspolitik, die das Strafrecht so überstrapaziert, gefährdet die Freiheitlichkeit des liberalen Rechtsstaats und kann letzten Endes das Ansehen und die Akzeptanz des Strafrechts in der Bevölkerung untergraben. Es gilt somit, zu jenen Prinzipien zurückzukehren, die zu Beginn der Modernisierung des Besonderen Teils Ende der 60er Jahre proklamiert wurden: Strafrecht stellt nur die ultima ratio einer aufgeklärten Rechtspolitik dar; es dient nicht allein der „Bekämpfung“ von Kriminellen,23 sondern ist auch, und vielleicht vor allem, Magna Charta Libertatum im freiheitlichen Rechtsstaat. 21 22

Dazu E. Hilgendorf, Religion, Recht und Staat (Fn. 13), S. 379 ff. Hilgendorf/Frank/Valerius (vor Fn. 1), S. 372.

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Überblickt man die Entwicklung des deutschen Strafrechts seit 1975 im Zusammenhang, so lassen sich zwei Großtrends erkennen: Einerseits Strafrechtsausweitung durch Neukriminalisierung und Strafverschärfung; andererseits Strafrechtsflexibilisierung durch Beseitigung klarer und verbindlicher Regeln. Die Strafrechtsausweitung dürfte vor allem mit dem erhöhten Sicherheitsbedürfnis einer älter und müde werdenden Gesellschaft zusammenhängen. Ein zweiter Faktor ist eine gewisse Staatsorientierung, man könnte auch sagen: Staatsgläubigkeit, die vom Staat die Lösung sämtlicher Gesellschafts- und Lebensprobleme erwartet, und sei es mit den Mitteln des Strafrechts. Das Bewusstsein für die freiheitsbedrohenden Folgen einer unreflektierten Strafrechtsausweitung ist weithin verloren gegangen; Bedenken werden nicht mehr ernst genommen. Eine beträchtliche Rolle spielt die mangelnde juristische Bildung der Bevölkerung und ihrer Meinungsproduzenten. Die Flexibilisierung des Strafrechts entspricht ebenfalls einem internationalen Trend, etwa bei der Festlegung von Rechtsfolgen („Diversifizierung“). Hinzu treten aber hausgemachte Faktoren, die gerade in Deutschland, wo Rechtsstaatlichkeit und Gesetzlichkeit lange Zeit noch vor der Demokratie angesiedelt wurden, auffällig sind. Formaler Gesetzlichkeit haftet seit den späten 60er Jahren der Ruf des Konservativen an; „Positivismus“ ist fast ein Schimpfwort. Dass im Recht die Form Schwester der Freiheit ist, stößt auf Unverständnis. Die Strafrechtslehre selbst hat sich seit den 60er Jahren erheblich „flexibilisiert“; man wird feststellen dürfen, dass die Auflösung der klassischen Strafrechtsdogmatik mit ihrer „scharfkantigen“ Begrifflichkeit und ihren klaren Regeln seither das Hauptgeschäft der deutschen Strafrechtswissenschaft gebildet hat. In zahllosen Doktorarbeiten und Habilitationsschriften wird mit oft großem gelehrten Aufwand die weitere Verflüssigung der traditionellen Begrifflichkeit im Strafrecht betrieben. Die Vermittlung von Grundlagenwissen über Legitimation und Grenzen des Strafrechts und die Bedeutung der Gesetzesbindung im Recht tritt zurück. Es sollte niemanden überraschen, dass die so ausgebildeten Juristen in Politik und Gesellschaft für immer neue „Flexibilisierungen“ sehr anfällig sind. Eine Rückkehr zu den rechtsstaatlichen Traditionen des deutschen Strafrechts ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Das Strafrecht wird vielmehr Teil eines umfassenden, hinsichtlich seiner Zielsetzungen wie seiner Einsatzmöglichkeiten hochgradig flexiblen „Sicherheitsrechts“, das vom Sozialrecht über das Polizeirecht bis hin zum Recht des Schadensersatzes 23 Der personalisierte Ausdruck „Bekämpfung der Kriminellen“ ist wegen seines biologistischen Einschlags ohnehin problematisch. Vorzugswürdig erscheint es, sachstatt personenorientiert von der „Bekämpfung der Kriminalität“ zu sprechen (diesen Hinweis verdanke ich Herrn Kollegen Uwe Scheffler, Frankfurt/O.).

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reicht. Die Tatsache, dass heute in Teilen des juristischen Schrifttums bis hin zu den Massenmedien ernsthaft die Kategorie eines „Feindstrafrechts“ erwogen wird, in dem grundlegende rechtsstaatliche Sicherungen über Bord geworfen werden sollen, sollte zu denken geben.24 Zu den wichtigsten Aufgaben der Strafrechtswissenschaft gehört es, das Bewusstsein dafür wach zu halten, dass ein Gewinn an (echter oder vermeintlicher) Sicherheit nur allzu oft durch einen Verlust von Freiheit erkauft wird.

V. Mögliche Ursachen der erhöhten Punitivität Strafrechtsausweitung und Strafrechtsflexibilisierung lassen sich auf ein gesamtgesellschaftliches Phänomen zurückführen, dass oft als „gesteigerte Punitivität“ bezeichnet wird. Man versteht darunter eine unreflektiert strafrechtsfreundliche Haltung, die in der Forderung nach mehr und nach härteren Strafen ihren Ausdruck findet.25 Unter den Experten herrscht Einigkeit darüber, dass eine erhöhte Zahl von Straftatbeständen und hohen Strafen den Rechtsgüterschutz keineswegs ohne weiteres verbessert. Dennoch lässt sich in vielen europäischen Staaten, zumal in Deutschland, ein Trend zu gesteigerter Punitivität feststellen. Um diesen Trend zu stoppen und wo möglich umzukehren, gilt es zunächst, seine Ursachen zu erkennen. Die folgende Übersicht formuliert dazu einige Hypothesen, die ganz überwiegend noch einer empirischen Überprüfung bedürfen. 1. Punitive Traditionen Ein erstes Ursachenbündel lässt sich möglicherweise in bestimmten punitiven Traditionen festmachen, wie sie etwa in Osteuropa früher an der Tagesordnung waren.26 Diese Traditionen und die sie tragenden Einstellungen 24 Überzeugende Kritik bei F. Saliger, Feindstrafrecht: Kritisches oder totalitäres Strafrechtskonzept?, JZ 2006, S. 756–762. Zu Recht hebt Saliger die unklare Verwendung des Konzepts „Feindstrafrecht“ hervor, der teilweise rein deskriptiv oder als wertneutrales Instrument der Analyse verwendet wird, teilweise (gerade von seinem Schöpfer Günter Jakobs) aber auch in durchaus affirmativer Absicht benutzt wurde. 25 Näher dazu die Beiträge R. Lautmann/D. Klimke/F. Sack (Hrsg.), Punitivität. 8. Beiheft des Kriminologischen Journals, 2004. 26 Besonders bemerkenswert ist dies z. B. in Polen, vgl. K. Buchara, Grundzüge des Reformvorhabens. Entwurf des polnischen Strafgesetzbuches vom Oktober 1990, in: A. Eser/G. Kaiser/E. Weigend (Hrsg.), Viertes deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie, 1991, S. 9–32; B. Stando-Kawecka, Strafrechts- und Kriminalpolitik in Polen, in: A. Eser/J. Arnold/J. Trappe (Hrsg.), Strafrechtsentwicklung in Osteuropa. Zwischen Bewältigung und neuen Herausforderungen, 2005, S. 318–330; vgl. allgemein A. Eser/G. Kaiser/E. Weigend (Hrsg.), Vom

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wirken bis heute fort, was auch damit zusammenhängen mag, dass der Rechtsstab in den Ländern Osteuropas von dem Wechsel zu einem mehr oder weniger marktwirtschaftlichen System weitgehend unberührt geblieben ist. In Deutschland lässt sich jedoch gerade keine durchgehende punitive Tradition feststellen: In den 60er und 70er Jahren traten die überwiegende Zahl der Strafrechtslehrer, aber auch die Strafrechtspolitiker sowie die Intellektuellen und die meinungsführenden Massenmedien für Entkriminalisierung und einen Rückbau des Strafrechts ein.27 Der Umschlag erfolgte erst ungefähr Mitte der 70er Jahre. Dabei berief man sich aber keineswegs auf ältere Traditionen in der Strafrechtspolitik, wie sie noch im Entwurf 196228 ihren Ausdruck gefunden hatten. Die Ausweitung des Strafrechts seit Mitte der 70er Jahre lässt sich deshalb jedenfalls für Deutschland nicht hinreichend mit älteren Traditionen erklären. 2. Der Einfluss Europas Ein Faktor, der die heute in der Strafrechtspolitik verbreitete Neigung zu mehr und härteren Strafen eher bedingt als punitive Traditionen, ist der Einfluss der europäischen Kriminalpolitik. Auf den ersten Blick scheint das Strafrecht von der Europäisierung des deutschen Rechts noch weitgehend unberührt zu sein. Doch dieser Schein trügt. Mehr und mehr wird die deutsche Strafrechtspolitik von Entscheidungen aus Brüssel mitbestimmt; ein „europäisches Strafrecht“ nimmt Gestalt an.29 Ein großes Problem dieser Entwicklung ist darin zu sehen, dass das neue europäische Strafrecht nur höchst unzureichend demokratisch legitimiert ist.30 Nicht das Europäische Parlament treibt die Entwicklung des Strafrechts in Europa voran, sondern Vertreter der Exekutive. Hinzu kommt der kaum mehr zu überschauende (und erst recht nicht mehr wirklich zu kontrollierende) Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit.31 Es entsteht ein von der Exekutive totalitären zum rechtsstaatlichen Strafrecht. Kriminalpolitische Reformtendenzen im Strafrecht osteuropäischer Länder, 1993. 27 Vgl. oben II. 4. 28 Dazu umfassend U. Scheffler, Das Reformzeitalter 1953–1975, in: Vormbaum/ Welp (vor Fn. 1), S. 174–257 (176 ff.). 29 K. Ambos, Internationales Strafrecht (Strafanwendungsrecht, Völkerstrafrecht, Europäisches Strafrecht), 2006; B. Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007; H. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 2005; vgl. auch F. Zieschang/E. Hilgendorf/K. Laubenthal (Hrsg.), Strafrecht und Kriminalität in Europa, 2003. 30 Dazu und zu anderen Problemen der Europäisierung des Strafrechts am Beispiel des Regelungsbereichs „Internetstrafrecht“ E. Hilgendorf, Tendenzen und Probleme einer Harmonisierung des Internetstrafrechts auf Europäischer Ebene, in: Ch. Schwarzenegger/O. Arter/F. S. Jörg (Hrsg.), Internet-Recht und Strafrecht, 2005, S. 257–300 (S. 286 ff.).

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erzeugtes, europaweit ausgreifendes Geflecht aus materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht. Getragen wird die Entwicklung von einer äußerst punitiven Grundhaltung der Planer und Akteure.32 Diese Tendenz färbt auch auf die nationalen Gesetzgeber ab. 3. Wirtschaft und Strafrecht Ein drittes Ursachenbündel könnte in einem Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes und seiner Strafpraxis und Straftheorie erblickt werden. Während wirtschaftlich höher entwickelte Staaten in ihrem Kriminalsystem eher Geldstrafen vorsehen können, sind, so lässt sich argumentieren, wirtschaftlich ärmere Staaten auf Freiheitsoder Körperstrafen angewiesen. Auf diese Weise ließe sich eine scharfe Sanktionspraxis mit wirtschaftlichen Gesichtspunkten erklären. Doch so plausibel diese Theorie auf den ersten Blick erscheinen mag, so steht doch eine empirische Erhärtung noch aus. Für eine Erklärung der Entwicklung in Deutschland ist der Ansatz ohnehin ungeeignet, da die ersten Tendenzen hin zu mehr und zu schärferem Strafrecht in die Mitte der 70er Jahre fallen, eine Zeit, in der von wirtschaftlichem Niedergang noch keine Rede sein konnte. Immerhin ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass in Zeiten wirtschaftlicher Probleme und ökonomischer sowie sozialer Verteilungskämpfe die Akzeptanz der Wähler für verschärfte Sanktionen und andere Ausdruckformen punitiven Denkens zunimmt. 4. Politik und „symbolisches Strafrecht“ Ein wichtiger Faktor liegt zweifellos darin, dass die Politik das Strafrecht als billiges und doch sehr symbolträchtiges Instrument der Verbrechensbekämpfung entdeckt hat.33 Das Strafrecht ist heute nicht mehr ultima, sondern prima und nicht selten sogar sola ratio des Gesetzgebers.34 Die Ein31

Überblick bei Satzger (Fn. 29), § 9. B. Schünemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, GA 151 (2004), S. 193–209 (vgl. S. 203: „Für die gegenwärtige Hektik bei der Einführung einer völlig neuen Architektur des Strafrechts in Europa gibt es keine sachlichen Gründe“). Siehe auch ders. (Hrsg.), Alternativentwurf europäische Strafverfolgung (2004) zu den ersten Ergebnissen einer Arbeitsgruppe, die sich zum Ziel gesetzt hat, rechtsstaatliche Grundlagen auch in einem europäisierten Strafrecht zu wahren und zu verteidigen. 33 Diesen Umstand hat vor allem Wolfgang Naucke seit Jahren immer wieder hervorgehoben, vgl. oben Fn. 7. 34 W. Hassemer, Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 1994, 2. Aufl. 1996, S. 8 (mit Besprechung von E. Hilgendorf, JZ 1997, S. 611). 32

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führung neuer Straftaten und die Verschärfung von Strafrahmen sind medien- und damit öffentlichkeitswirksam, kosten aber nichts. Die Gesellschaft steht in vielen Bereichen vor großen Problemen – Integrationsdefizite, grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit, sozialschädliches Verhalten im Internet – für die keine Patentlösungen in Sicht sind. Durch strafrechtliche Maßnahmen kann die Politik den Eindruck von Aktivität vermitteln, ohne offenbaren zu müssen, dass sie wirksame Methoden der Problemlösung nicht kennt.35 5. Die Rolle der Massenmedien Die hohe Punitivität in der Rechtspolitik wäre nicht entstanden ohne die Massenmedien, die das offenbar natürliche Bedürfnis der Menschen nach dem Außergewöhnlichen und Schrecklichen nur zu gerne bedienen.36 Um die Bedürfnisse der Leser zu befriedigen, entwerfen manche Massenmedien ein Bild von der Verbreitung von Mord, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und anderen Formen von Gewaltkriminalität, das der wirklichen Häufigkeit dieser Delikte nicht annähernd entspricht. Die seriösen Blätter bemühen sich kaum, diesen Eindruck zu korrigieren. Die Übertreibungen und Dramatisierungen in bestimmten Massenmedien reichen nicht selten bis an die Grenze der offenen Fehlberichterstattung heran. Besonders problematisch ist häufig die Fernsehberichterstattung.37 Ein Übermaß an Bildern verdrängt die sachliche Information.38 Auf diese Weise wird ein Bedrohungsszenario 35

W. Hoffmann-Riem, Kriminalpolitik ist Gesellschaftspolitik, 2000, S. 204. Dieses im vorliegenden Zusammenhang außerordentlich wichtige Thema kann hier leider nur gestreift werden. Einführend zu Medienpsychologie W. Faulstich, Medienpsychologie, in: ders. (Hrsg.), Grundwissen Medien, 4. Aufl. 2000, S. 77–84; zu den Folgen von Gewaltdarstellung in den Medien H. M. Kepplinger, Wirkung von Gewalt in Massenmedien, in: Fischer Lexikon Publizistik/Massenkommunikation, hrsg. von E. Noelle-Meumann/W. Schulz/J. Wilke, aktualisierte Neuauflage 2002, S. 648–658; W. Wunden, Medienwirkungen am Beispiel von Gewaltdarstellungen im Fernsehen, in: M. Karmasin (Hrsg.), Medien und Ethik, 2002, S. 77–98 (beide m. w. N.). Zur Gewaltdarstellung im Internet F. Rötzer (Hrsg.), Virtuelle Welten – reale Gewalt, 2003. 37 Es wäre näherer Untersuchung wert, ob in diesem Zusammenhang der in Deutschland Mitte der 80er Jahre vollzogene Wechsel von dem rein öffentlich-rechtlichen System hin zum dualen Rundfunksystem (Parallelität von öffentlich-rechtlichem und privatem Fernsehen) eine Rolle gespielt hat. Näher zum Wandel vom rein öffentlich-rechtlichen zum dualen Rundfunksystem R. Mathes/W. Donsbach, Rundfunk, in: Fischer Lexikon Publizistik/Massenkommunikation (Fn. 36), S. 546–596 (568 ff.). 38 Immer wieder ist sogar zu hören, Gewalt- und andere Straftäter hätten von Journalisten Geld bekommen, um vor der Kamera „mediengerecht“ zu randalieren. Allgemein zum neuen Trend der juristischen Verbildlichung E. Hilgendorf (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsvisualisierung, 2005. 36

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erzeugt, das sich in einer stark ausgeprägten Kriminalitätsfurcht niederschlägt. Die Alterung der Gesellschaft dürfte diesen Trend noch verstärken.39 Die auf diese Weise erzeugte übersteigerte Verbrechensfurcht ist ein fast idealer Nährboden für den Ruf nach mehr und härteren Strafen. 6. Einflussverlust der Experten Die Möglichkeiten, der oben II.–IV. skizzierten Entwicklung Widerstand entgegenzusetzen, haben erheblich abgenommen. Stimmen aus Politik oder Medien, die eine maßvolle Strafrechtspolitik einfordern, gelingt es kaum, sich Gehör zu verschaffen. Differenzierte Stellungnahmen sind für das Publikum weniger attraktiv als dramatische Warnungen vor einer angeblich immer weiter ansteigenden „Verbrechensflut“, verbunden mit dem Ruf nach der schnellen Einführung härterer Strafen. Die Wertschätzung der Experten aus Strafrechtsdogmatik und Kriminologie hat in der Öffentlichkeit, aber auch in der Politik abgenommen. Dies dürfte nicht zuletzt auf die Vielzahl der – echten oder vermeintlichen – Experten zurückzuführen sein. Mit nur geringer Übertreibung lässt sich feststellen, dass man heute für jede beliebige Position einen „Experten“ finden kann, der Argumente zu ihren Gunsten zu formulieren vermag. Angesichts dieser Situation nimmt die Wertschätzung des einzelnen Forschers und Wissenschaftlers und letztendlich der Wissenschaft allgemein naturgemäß ab. Ein Beispiel aus der Strafrechtspolitik mag dies belegen: Das Sechste Strafrechtsreformgesetz aus dem Jahr 1998 wurde fast ohne wissenschaftlichen Beistand konzipiert und umgesetzt – allerdings sehr zu seinem Schaden, wie die vielen Auslegungsschwierigkeiten zeigen.40 Es existieren allerdings auch Gegenbeispiele. Im ersten Periodischen Sicherheitsbericht aus dem Jahr 2001 ist es maßgeblichen Experten aus Kriminologie und Strafrechtswissenschaft gelungen, einen detaillierten Sachstandsbericht über die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung vorzulegen, der auch die Politiker erreicht hat. Der zweite Sicherheitsbericht folgte im Jahr 2006. Es bleibt zu hoffen, dass diese erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspolitik kein Einzelfall bleiben wird.

39

S. Beck, Alter – eine neue Herausforderung für das europäische Strafrecht?, in: M. Tomasek (Hrsg.), Menschenrechte im europäischen Strafrecht. Sammelband des Deutsch-Tschechischen Grundlagenseminars zum Europäischen Strafrecht, 21.–22. April 2006 in Würzburg, 2006, S. 50–67. 40 G. Arzt, Wissenschaftsbedarf nach dem 6. StrRG, ZStW 111 (1999), S. 757–784.

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7. Fehler der Juristenausbildung Die Schwäche der Experten und die Bereitwilligkeit, mit der ein großer Teil der Juristen die Abwendung vom ultima-ratio-Prinzip akzeptiert, ist teilweise auch Fehlern der Juristenausbildung geschuldet. Die philosophischen und rechtspolitischen Grundlagen des Strafrechts spielen heute in der Juristenausbildung kaum mehr eine Rolle. An fast allen Universitäten wäre es ohne Weiteres möglich, sein Examen mit Bravour zu bestehen, ohne sich im Rahmen seines Studiums auch nur ein einziges Mal mit dem Sinn der Strafe41, den philosophischen Voraussetzungen eines rechtsstaatlichen Strafrechts, den Bedingungen einer rationalen Strafrechtspolitik oder Ergebnissen der modernen Sanktionsforschung bzw. der empirischen Kriminologie auseinandergesetzt zu haben. Stattdessen werden junge Juristinnen und Juristen gezwungen, gewaltige Mengen von Detailwissen über das gerade geltende positive Recht zu memorieren. Im Mittelpunkt des Examens – und damit auch der studentischen Vorbereitung – steht die Lösung hochpathologischer Strafrechtsfälle nach fest gefügten Schemata unter Bedingungen extremer Zeitknappheit. Es liegt auf der Hand, dass den so sozialisierten Juristen jede Widerstandskraft gegen immer neue und vielfältigere Kriminalisierungen fehlt. 8. Das Schweigen der Intellektuellen und der „kritischen Öffentlichkeit“ Ein weiterer Faktor, der zur Punitivität der Strafrechtspolitik beiträgt, ist die geringe Bereitschaft der Intellektuellen und der kritischen Öffentlichkeit, sich für Entkriminalisierung und Strafrechtseinschränkung zu engagieren. Nachdem die Reformbewegung der 60er und frühen 70er Jahre mit den Reformen im Sexualstrafrecht und im politischen Strafrecht ihre wesentlichen Ziele erreicht hat, weitergehende Projekte – wie der Versuch einer „Abschaffung des Strafrechts“42 – dagegen im Sande verlaufen sind – hat die Entkriminalisierung erheblich an Attraktivität verloren. Die Stimmen, die sich für eine Abschaffung des Strafrechts einsetzten, sind verstummt. Nicht selten sind es heute gerade die sich selbst als „progressiv“ definierenden Parteien und politischen Gruppierungen, die für weitere Strafschärfungen eintreten, etwa im Zusammenhang mit dem Schutz gegen sexuelle Belästigungen, Diskriminierungen oder die verschiedenen Formen des „stalking“.43 41 E. Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe. Herausgegeben und mit einer neuen Einleitung versehen von E. Hilgendorf, 2004. 42 Vgl. etwa A. Plack, Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts, 1974. 43 E. Hilgendorf/S.-H. Hong, Cyberstalking, Kommunikation und Recht, 2003, S. 168–172. Für eine eher positive Würdigung des neuen „Stalkingparagraphen“

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9. Verschwimmen der Disziplingrenzen Die bisher genannten Faktoren gewinnen dadurch an Gewicht, dass die Konturen des Strafrechts zu verschwimmen beginnen. Das Strafrecht schickt sich an, in einem weit gefassten „Sicherheitsrecht“ aufzugehen, dass vom Polizeirecht bis hin zum Sozialrecht reicht.44 Hinzu treten mehr und mehr Querschnittsmaterien wie das Informationsstrafrecht und das Biostrafrecht. Ob diese Entwicklung auf eine Auflösung des Strafrechts hinausläuft, wie es seit der Aufklärung entwickelt wurde, bleibt abzuwarten. Die spezifisch strafrechtlichen rechtsstaatlichen Bändigungsmechanismen – vom Gesetzlichkeitsprinzip bis hin zum ultima-ratio-Grundsatz – verlieren jedenfalls an Bedeutung. Strafrecht wird mehr und mehr präventiv verstanden. Nun ist der Präventionsgedanke keineswegs von vornherein negativ zu bewerten – die Vorstellung eines general- bzw. spezialpräventiven Strafrechts gehört im Gegenteil zu den wesentlichen Errungenschaften der Aufklärung. Wird der Präventionsgedanke aber nicht rechtsstaatlich begrenzt, droht er in eine massive Freiheitsgefährdung umzuschlagen. 10. „Stimmungsdemokratie“ als integratives Erklärungsmodell Die im Vorstehenden genannten Faktoren reichen je für sich genommen nicht aus, um die Punitivität der heutigen Strafrechtspolitik hinreichend zu erfassen; in ihrer Gesamtheit lassen sie jedoch den Umriss eines m. E. tragfähigen Deutungsansatzes erkennen. Um den Schlüssel zur Erklärung der heutigen Strafrechtspolitik deutlicher herauszuarbeiten, ist es erforderlich, den Blick über die Strafrechtspolitik hinaus auf einige Grundbedingungen und Eigenheiten unseres demokratischen Systems zu richten. Theodor Geiger hat in seinem Buch „Demokratie ohne Dogma“45 schon vor über 50 Jahren ein Phänomen angesprochen, das er „Stimmungsdemokratie“ nannte. Geiger geht von der Tatsache aus, dass die Kenntnisse, über die ein demokratischer Staatsbürger verfügen muss, um die Politik mitzuverfolgen und zu gestalten, seit dem 19. Jahrhundert immer weiter zuneh238 StGB vgl. W. Mitsch, Der neue Stalking-Tatbestand im Strafgesetzbuch, NJW 2007, S. 1237–1242. 44 Hilgendorf/Frank/Valerius (vor Fn. 1), S. 380. 45 Demokratie ohne Dogma. Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit, 1963 (die erste Ausgabe dieses Werkes erschien posthum 1960 als Veröffentlichung der Universität Aarhus in den Acta Jutlandica (XXXII, 1) unter dem Titel „Die Gesellschaft zwischen Pathos und Nüchternheit“, die vierte Auflage, durchgesehen und eingeleitet von Manfred Rehbinder, erschien 1991. Im Folgenden wird nach der 1963 erschienenen ersten deutschen Auflage zitiert).

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men. Konnte früher „jeder normal begabte Mensch [. . .] durch entsprechende Belehrung in den Besitz des Wissens gelangen, das ihm ermöglichte, die Substanz demokratischer Politik leidlich zu verstehen“, so hat sich die Situation mit der „Erweiterung des staatlichen Aufgabenkreises“ gründlich gewandelt: wo sich selbst die Fachleute und Berufspolitiker uneinig sind, tappen die Durchschnittsbürger völlig im Dunkeln.46 Die staatlichen Aufgaben, von der Aufstellung des Staatsbudgets über die Wirtschaftsund Innenpolitik bis hin zu den auswärtigen Beziehungen, ist für den Bürger zu kompliziert geworden, um ernsthaft mitreden zu können: „Das Gesamtergebnis dieser Entwicklung ist, dass nicht nur die wenig geschulten ‚breiten Massen‘, sondern auch die weit überwiegende Mehrzahl der bestunterrichteten Staatsbürger wirklicher Sachkenntnis hinsichtlich der meisten Gegenstände der Politik entbehren.“47 Folge dieser Entwicklung ist, dass die Wählerinnen und Wähler nicht sachlich interessengeleitete Entscheidungen treffen, sondern „stimmungsmäßig“ reagieren. Da zur selben Zeit die Substanz der Politik nicht zuletzt durch unser zunehmendes ökonomisches und sozialwissenschaftliches Wissen versachlicht wird, müssen die Politiker sowohl sach- als auch Stimmungspolitik betreiben. Die Politik denkt dabei nicht an das rationale Individuum, sondern an „Massen“, die am besten dadurch gewonnen werden, „dass man mit hinlänglich allgemeinen Ideologien an ihre Stimmungen appelliert.“48 Der Bürger, und diesen Punkt betont Geiger besonders, begnügt sich angesichts der komplizierten Verhältnisse nun nicht damit, den Fachleuten und Berufspolitikern das Feld zu überlassen. Seine Haltung „ist nicht recht und schlecht passiv, sondern eine eigenartige Mischung von sachlicher Indolenz und Stimmungsaufruhr. Er leistet aus guten Gründen keinen positiven Beitrag zur Lösung politischer Fragen, aber viele legen sich fanatisch für irgendeine politische Doktrin ins Zeug, und fast alle sind höchst aktive politische Nörgler. [. . .] Dieses Taumeln des Mannes von der Strasse zwischen gleichgültiger Passivität, erhitzten Leidenschaftsausbrüchen und übelgelaunter, unverantwortlicher Krittelei ist der Fluch der Stimmungsdemokratie.“49 Auf diese Weise werden die Politiker, die wiedergewählt werden wollen, dazu gezwungen, Politik „für die Galerie“ zu betreiben, mit katastrophalen Folgen für die Sachpolitik: „Man kann nicht die Massen mit ideologischen Losungen betrunken machen und dann nüchterne Würdigung realpolitischer Entscheidungen von ihnen erwarten. Eben das Verfahren, durch das der Politiker sich den Auftrag der Massen sichert, hindert ihn an der Durchführung seiner Aufgabe.“50 46 47 48 49

Demokratie Demokratie Demokratie Demokratie

ohne ohne ohne ohne

Dogma Dogma Dogma Dogma

(Fn. (Fn. (Fn. (Fn.

45), 45), 45), 45),

S. S. S. S.

337. 339. 342 f. 345.

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Nimmt man hinzu, dass auch die Massenmedien zur Sicherung ihrer Auflagenhöhe dazu gezwungen sind, bei emotional aufgeladenen Themen dem „Mann (und der Frau) auf der Strasse“ jedenfalls überwiegend nach dem Mund zu reden, so wird deutlich, weshalb sich die Strafrechtspolitik dem populistischen Zugriff nicht entziehen kann. Die hohe Punitivität der aktuellen Strafrechtspolitik ergibt sich somit aus den besonderen Bedingungen der heutigen Massendemokratie. Wegen der großen Rolle, die das Fernsehen dabei spielt, spricht man statt von einer „Stimmungsdemokratie“ auch von der „Fernsehdemokratie“.51 11. Reale Gefahren – Terrorismus als Rechtfertigung punitiver Strafrechtspolitik Die Analyse wäre unvollständig, wenn sie nicht abschließend auf einen Problemkreis einginge, der möglicherweise die hohe Punitivität der gegenwärtigen Strafrechtspolitik sachlich rechtfertigen und damit den Populismusvorwurf entkräften könnte: die neue Dimension des internationalen Terrorismus, die seit den Anschlägen des 11. September 2001 sichtbar geworden ist. Die Anschläge von Madrid im Jahr 2004 und London im Jahr 2005 sowie die versuchten Anschläge auf deutsche Nahverkehrszüge im Jahr 2006 haben in der Sicherheitspolitik zum Ruf nach neuen Strafverschärfungen, Erweiterung der zulässigen Fahndungsmethoden und einer Ausdehnung der verdachtsunabhängigen Beobachtung im öffentlichen Raum52 geführt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kritik am populistischen Strafrecht obsolet geworden wäre. Im Gegenteil: Die rationale Überprüfung der Strafrechtspolitik ist heute wichtiger als jemals zuvor. Es trifft zwar zu, dass die Freiheit hinter der Sicherheit zurücktreten muss, wenn durch terroristische Gruppen die Gefahr schwerer Verletzungen oder Tötungen in großem Umfang droht. Wenn der Staat seine Bürger wirksam schützen will, muss er die dafür geeigneten und erforderlichen Mittel ergreifen können. Dabei dürfen jedoch die Leitwerte des freiheitlichen Staats nicht aus dem Blick verloren werden. Mit jeder Strafrechtsverschärfung, und jeder Ausweitung zulässiger Fahndungsmethoden geht ein Stück Freiheit verloren. Der Verlust der Freiheit kommt allmählich und fast unbemerkt. Es gilt deshalb stets zu 50

Demokratie ohne Dogma (Fn. 45), S. 346 (H. i. O). M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 5. Aufl. 2003, S. 257; vgl. auch ders., Ist Theodor Geigers Demokratietherapie realistisch?, in: ders., Abhandlungen zur Rechtssoziologie, 1995, S. 222–232; ders., Erziehung zum intellektuellen Humanismus als Staatsaufgabe, in: M. Rehbinder/M. Usteri (Hrsg.), Glück als Ziel der Rechtspolitik, 2002, S. 139–148. 52 Z. B. durch eine flächendeckende Kamerabeobachtung, wie sie derzeit von vielen Politikern gefordert wird. 51

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prüfen, ob neue punitive Maßnahmen tatsächlich die Sicherheit erhöhen oder ob sie nur in populistischer Manier politische Aktivität vorgaukeln sollen. Auch und gerade angesichts der Herausforderungen des Terrorismus muss die Kriminalpolitik sachlich und zweckrational bleiben. Politiker, die Bürgerfreiheiten einschränken wollen, sind dafür begründungspflichtig, ob die von ihnen vorgeschlagenen Maßnahmen tatsächlich die Sicherheit zu verbessern vermögen. Im Ergebnis bedeutet dies, dass die Warnung Geigers vor den Versuchungen der Stimmungsdemokratie auch im Zeitalter des Terrorismus aktuell bleibt.

VI. Ausblick: Auf dem Weg zu einem „Populismus der Strafrechtsanwendung“? Es spricht manches dafür, dass sich der Trend zu mehr und zu härterem Strafrecht weiter fortsetzen wird. Dabei erscheint eine Entwicklung besonders bedenklich: Nicht nur im Bereich der Gesetzgebung, sondern auch bei der Strafrechtsanwendung könnte der Druck auf den Rechtsstab, im Sinne der jeweiligen „öffentlichen Meinung“ zu entscheiden, zunehmen: Es droht ein „Populismus der Rechtsanwendung“, der die Unabhängigkeit der Strafverfolgung und der Gerichte und damit die Sachlichkeit und Zweckorientiertheit der Strafrechtsanwendung gefährden könnte. Provokativ formuliert könnte man von der Gefahr von „zu viel Demokratie“ in der Strafrechtspflege sprechen. Unabhängigkeit der Gerichte meint ja auch Unabhängigkeit von den wechselnden Stimmungen und Vorurteilen in der Bevölkerung. Als Staatsorganisationsprinzip ist die Demokratie unverzichtbar. Sie steht jedoch, und dies ist seit langem bekannt,53 nicht selten in einem Spannungsverhältnis zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Versteht man Rechtsstaatlichkeit als die Bändigung des Souveräns durch Gesetze und Verfahrensregeln, so dürfte im Strafrecht heute die Forderung nach „mehr Rechtsstaatlichkeit“ und „weniger Demokratie“ auf der Tagesordnung stehen. Es ist derzeit nicht erkennbar, wie man den Trend zu verstärkter Punitivität anhalten oder zumindest bremsen könnte. Um zumindest die Gefahr einer an den Fieberkurven der öffentlichen Meinung orientierten Rechtsprechung abzuwehren, bedarf es zum einen einer Bekräftigung der richterlichen Unabhängigkeit, wie sie in Art. 97 des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Richter und andere Rechtsanwender müssen auf die Gefahren populistischer Einflüsse hingewiesen und es muss ihnen im Konfliktfall der Rücken 53 E. Benda, Der soziale Rechtsstaat, in: E. Benda/W. Maihofer/H.-J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Studienausgabe, Bd. 1, 2. Aufl. 1995, § 17 Rn. 8.

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gestärkt werden. Zum anderen ist es höchste Zeit, die juristische Bildung der Bevölkerung und der Vertreter der Massenmedien zu verbessern. Es bedarf einer Aufklärung über das Strafrecht, seiner rechtsstaatlichen Grundsätze und historischen Wurzeln. Der ultima-ratio-Grundsatz, die Gesetzesbindung und das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit sollten zum selbstverständlichen Allgemeinwissen gehören. Dies wäre die angemessene Antwort auf die viel besprochene Juridifizierung unserer Alltagswelt, aber auch auf die Versuchungen einer populistischen Strafrechtspolitik, die wesentliche Errungenschaften der Strafrechtsentwicklung seit der Aufklärung zu zerstören droht.

Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht* Ein Blick in die Zukunft Von Brian Valerius, Würzburg**

I. Einleitung 1. Kulturelle Gegensätze Eine Vielzahl aktueller Themen beschäftigt derzeit die Strafrechtswissenschaft. Beispielhaft seien genannt künftige potentielle Subdisziplinen des Strafrechts wie das Kapitalmarkt- und das Biostrafrecht, die derzeit noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen. Ferner sei das Völkerstrafrecht erwähnt, dessen erste Regelungen in Deutschland in einem eigenen Völkerstrafgesetzbuch vom 26. Juni 20021 kodifiziert wurden. Ein Blick in die Zukunft, ein Blick auf neue Herausforderungen des Strafrechts kann also von vornherein nur sehr unvollständig sein und sich lediglich auf einen geringen Teilbereich richten. Dieser Teilbereich lautet heute „Kulturelle Gegensätze und nationales Strafrecht“. „Kulturell“ ist hier in einem umfassenden Sinne zu verstehen. Es geht also mitnichten um Fragen der Kultur im Sinne etwa nur der bildenden Künste, der Literatur oder der Musik. In einer sehr weiten und umfassenden Interpretation gehört vielmehr zur Kultur im Grunde alles, was der Mensch hervorgebracht hat – unabhängig davon, ob dies nun körperliche Gebilde, geistige Errungenschaften oder soziale Organisationsformen sind. Zur Kultur zählen somit nicht nur die bereits erwähnten oder auch sonstigen Formen der Kunst, sondern ebenso Wirtschaft und Wissenschaft, insbesondere aber Sprache, Geschichte, gesellschaftliche Ordnungen und Religionen. * Die vorliegende Fassung beruht auf dem Manuskript des Vortrages vom 2. Februar 2006, das um Fußnoten erweitert und auf den Stand Ende März 2006 aktualisiert wurde. Die Vortragsform wurde beibehalten. ** Der Verfasser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik (Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf) an der Universität Würzburg. 1 BGBl. I, S. 2254; in Kraft getreten am 30. Juni 2002.

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Da sich im Laufe der Jahrtausende eine Vielzahl von Sprachen, Religionen und gesellschaftlichen Wertesystemen entwickelt hat, kam es naturgemäß auch zu recht unterschiedlichen und gegensätzlichen Kulturen. Solche kulturellen Gegensätze bergen, sofern Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Wertvorstellungen gerade nicht zu den Errungenschaften einer Kultur zählen, ein enormes Konfliktpotential beim Aufeinandertreffen von Angehörigen verschiedener Kulturen und können zu erheblichen, mitunter auch gewalttätigen Auseinandersetzungen führen – wie sich dies in jüngster Vergangenheit etwa in den Unruhen in Frankreich2, den Ereignissen in Sydney3 sowie vor allem in dem weltweiten Streit um die Karikaturen des Propheten Mohammed in einer dänischen Tageszeitung4 gezeigt hat. 2. Nationales Strafrecht Kulturelle Gegensätze sind somit ein Thema von gesellschaftspolitischer Relevanz und dadurch zumindest mittelbar eine Herausforderung für das 2 Unter anderem wurden 10 000 Kraftfahrzeuge in Brand gesteckt, allein in der Nacht vom 6. auf den 7. November 2005 – bei der Spitze der Unruhen – 1 408. In Frankreich leben Millionen von Menschen aus dem nord- und schwarzafrikanischen Raum, die während der letzten Jahrzehnte immigrierten. Nicht zuletzt infolge fehlender Integration bildeten sich Einwandererviertel, die allmählich zu Ghettos verkamen. Ethnische und religiöse Spannungen, das Gefühl, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein und vom Staat vernachlässigt zu werden, führten nach dem Unfalltod zweier Jugendlicher aus Immigrantenfamilien am 27. Oktober 2005 zu der von Soziologen lange befürchteten Eskalation. 3 Berichten australischer Medien zufolge sollen am 3. Dezember 2005 Australier libanesischer Herkunft zwei Rettungsschwimmer am Strand von Cronulla in Sydney zusammengeschlagen haben. Danach wurden Einwohner Sydneys per SMS oder E-Mails dazu aufgefordert, Männer libanesischer Abstammung zu verprügeln. Daraufhin trafen sich am 11. Dezember 2005 am Strand von Cronulla rund 5 000 weiße Jugendliche, die rassistische Parolen riefen, Männer mit arabischem Aussehen jagten und auf sie einschlugen sowie sich heftige Straßenschlachten mit der Polizei lieferten. Bei den Ausschreitungen wurden mehr als 30 Männer arabischer Herkunft verletzt. Im Gegenzug kam es wiederum zu Racheaktionen überwiegend libanesischer und moslemischer Jugendlichen. 4 Eine dänische Tageszeitung veröffentlichte im September 2005 unter dem Titel „Das Gesicht Mohammeds“ zwölf Karikaturen über den Propheten des Islams. Eine der Zeichnungen zeigt etwa Mohammed mit Turban, in der sich eine Bombe mit brennender Lunte befindet. Die Karikaturen wurden in der islamischen Welt als Affront empfunden, da dort Abbildungen des Propheten Mohammeds überwiegend verboten sind. Es kam zu Demonstrationen gegen die Karikaturen, ferner zu Boykottaufrufen dänischer Waren, die sich teils auch generell auf europäische Produkte bezogen, nachdem andere europäische Zeitungen in einer Reduktion des Streits auf Pressefreiheit contra Glaubensvorstellungen des Islams die Abbildungen nachgedruckt hatten. In einzelnen Staaten wurden dänische Botschaften gestürmt, während es in Nigeria auch zu tödlich verlaufenden Übergriffen auf Christen kam.

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Recht. Wie aktuell diese Herausforderung hierzulande geworden ist, zeigt eine kurze Auflistung in den letzten Jahren ergangener Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Beispielhaft erwähnt seien die Kruzifix-Entscheidung5, bei der es um die staatlich angeordnete Anbringung des Kreuzes als Symbol des Christentums in bayerischen Klassenräumen ging, ferner die Frage der Zulässigkeit des Schächtens, also des Schlachtens von Tieren ohne Betäubung, als zwingende Voraussetzung der Beachtung religiöser Überzeugungen6, sowie die Kopftuch-Entscheidung, die über die erforderliche Eignung einer Bewerberin für eine Anstellung als Lehrerin befand, wenn sie nicht dazu bereit wäre, im Unterricht auf ihr aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch zu verzichten7. Bemerkenswert ist, dass alle diese Beispiele nicht nur in den juristischen Fachblättern ausreichend rezipiert wurden, sondern auch in den Medien auf eine ungewöhnlich hohe Resonanz stießen. Daraus lässt sich ein hohes Interesse der Öffentlichkeit an der Auseinandersetzung zwischen kulturellen Gegensätzen ablesen, gehören doch ansonsten Entscheidungen der Rechtsprechung – abgesehen von spektakulären Mordprozessen oder Streitigkeiten um und zwischen Verfassungsorganen – nur selten zu den Topmeldungen des Tages. Für die Zunahme rechtlichen Konfliktpotentials in der Gestalt kultureller Verstrickungen gibt es zahlreiche Gründe. An dieser Stelle möchte ich nur zwei Faktoren nennen, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Da wären zum einen – wie die eingangs erwähnten Unruhen in Frankreich und Sydney belegen – die Bevölkerungs- und Einwandererströme, die viele Staaten betreffen. Generell lässt sich eine Zunahme der Mobilität der Menschen und ihrer Bereitschaft zu einem Aufenthalt in einem fremden Land verzeichnen, sei es dass eine größere Flexibilität bei der Suche nach Arbeitsplätzen notwendig geworden ist, oder dass Menschen die Hoffnung hegen, in einem fremden Land ein besseres Leben führen zu können. Unabhängig von den Gründen des Einzelnen, sich in die Fremde zu begeben: Der Besuch ferner Länder sowie längerfristige Aufenthalte in fremden Kulturen sind heutzutage weitaus häufiger als noch vor wenigen Jahrzehnten. Ein weiterer wesentlicher Aspekt, der zu rechtlichem Konfliktpotential führt, ist die fortschreitende Informations- und Kommunikationstechnologie. Im angebrochenen Informationszeitalter nehmen Medien und Massenkommunikationsmittel eine zentrale Bedeutung in der Gesellschaft ein. Das 5

BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995, NJW 1995, 2477. BVerfG, Urteil vom 15. Januar 2002, NJW 2002, 663. 7 BVerfG, Urteil vom 24. September 2003, NJW 2003, 3111; vgl. dagegen BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2002, NJW 2002, 3344. 6

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Interesse der Öffentlichkeit an Neuigkeiten und Berichten aus anderen Staaten ist gewachsen, Nachrichten und Meldungen werden dank moderner Medientechnologie über den gesamten Erdball verbreitet. Spätestens seit dem Siegeszug des World Wide Web in den 1990er Jahren – mit dem ein rasanter Ausbau der anderen Kommunikationsdienste des Internets einherging, etwa der zum Alltagskommunikationsmittel avancierten E-Mail – ist es mittlerweile jeder Privatperson von zu Hause oder vom Arbeitsplatz aus möglich, Kontakte mit anderen Internetnutzern rund um den Globus herzustellen und ihre eigenen Ansichten und Meinungen zu veröffentlichen. Konflikte mit fremden Rechtsordnungen infolge kultureller Unterschiede scheinen vorprogrammiert. Auch die Empörung über die Karikaturen des Propheten Mohammeds, die in einer dänischen Tageszeitung publiziert wurden, war bedingt durch die Verbreitung der fraglichen Abbildungen in weiteren europäischen Printmedien sowie in Nachrichtengruppen und auf Websites im Internet.

II. Intranationale kulturelle Konflikte Die genannten Hintergründe lassen bereits durchscheinen, welche zwei grundsätzlichen Arten kultureller Konflikte möglich sind. Zum einen sind Fälle denkbar, in denen sich der Täter (körperlich) auf für ihn fremdes Staatsgebiet begibt und dort mit einem für ihn fremden kulturellen Wertesystem und einer fremden Rechtsordnung konfrontiert wird. Da das kulturelle Wertverständnis des Täters einerseits und die kulturellen Wertvorstellungen seines neuen Aufenthaltsortes andererseits nur selten identisch sein werden, kann es bezüglich strafrechtlicher Regelungen zu Diskrepanzen zwischen der fremden Rechtsordnung und dem Unrechtsempfinden des Täters kommen. Bei solchen „intranationalen kulturellen Konflikten“ legt der Täter also Verhaltensweisen an den Tag, deren Strafwürdigkeit die Rechtsordnung des Aufenthaltsstaates anders bewertet als der Täter selbst. Wie erheblich die Vorstellungen im Einzelfall voneinander abweichen können, zeigt exemplarisch die strafrechtliche Ahndung des Besitzes von Betäubungsmitteln. Während in den Niederlanden der Besitz so genannter soft drugs mit Gefängnisstrafe von maximal zwei Jahren geahndet wird, der Besitz geringer Mengen von Cannabis sogar faktisch straffrei ist, droht in Singapur bei einem Besitz von 500 g Cannabis die Todesstrafe. Unter Umständen kann die Diskrepanz der Wertvorstellungen sogar so weit gehen, dass der Täter seine Handlung für vollkommen unbedenklich hält, die Rechtsordnung seines Aufenthaltsstaates dagegen für strafbar erachtet. Verdeutlicht am Beispiel der rechtlichen Würdigung von Homo-

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sexualität: Während etwa in Großbritannien seit Mitte Dezember 2005 gleichgeschlechtliche Partner den Bund der Ehe eingehen können, ist die Ausübung von Homosexualität in vielen Staaten noch strafbar. So sollten etwa frisch vermählte Paare auf Flitterwochen in Tansania oder Malaysia eher verzichten.8 Weitere Beispiele für intranationale kulturelle Konflikte finden sich in der deutschen Rechtsprechung, vornehmlich in den Ehrenmord-Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Die wesentliche Frage besteht dabei darin, ob und ggf. wie die kulturellen Wertvorstellungen des Täters bei der Auslegung des Mordmerkmals „niedrige Beweggründe“ in § 211 Abs. 2 1. Gruppe StGB zu berücksichtigen seien. Der Bundesgerichtshof ist der Auffassung, zuletzt bestätigt durch Urteil vom 11. Oktober 20059, dass für die Bewertung der Beweggründe auf die Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland abzustellen sei, die kulturellen Wertvorstellungen des Täters dagegen, die etwa dem Rechtsgut Ehre einen besonders hohen Stellenwert einräumen mögen, nicht von Bedeutung seien.10 Der zeitliche Rahmen heute reicht leider nicht aus, sich ausführlich mit dieser Entscheidung auseinander zu setzen. Es sei an dieser Stelle daher lediglich bemerkt, dass diese Auslegung des § 211 StGB nicht unbedenklich erscheint, wird doch dadurch nicht mehr die Motivation des Täters, sondern seine fehlende Sozialisation herangezogen, um ihn zu lebenslanger Freiheitsstrafe zu verurteilen.11 Allerdings ist es im deutschen Strafrecht eher eine Ausnahme, dass eine Strafvorschrift solch „kulturoffene Merkmale“ enthält, die eine Berücksichtigung der kulturellen Wertvorstellungen des Täters bereits auf Tatbestandsebene ermöglichen würden. Regelmäßig werden intranationale kulturelle Konflikte somit sinnvoll nur über das Unrechtsbewusstsein zu lösen sein. Grundsätze hierzu haben Laubenthal und Baier bereits vor einigen Jahren aufgezeigt,12 so dass sich auch insoweit eine eingehende Auseinandersetzung mit dieser Fallgruppe erübrigt.

8 Tansania sieht als Höchststrafe für Homosexualität zwischen Männern eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren vor, Malaysia 20 Jahre. In Mauretanien, Sudan, Iran, Jemen, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten kann Homosexualität noch mit dem Tode bestraft werden. 9 BGH NStZ 2006, 284. 10 BGH NJW 1995, 602 (602 f.); NStZ 2002, 369 (370). 11 Vgl. NK-Neumann, StGB, 2. Aufl. 2005, § 211 Rn. 30. 12 GA 2000, 205 ff.

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III. Internationale kulturelle Konflikte 1. Distanzdelikte a) Ausgangslage Ich möchte daher sogleich zur zweiten Fallgruppe und dem Schwerpunkt meiner heutigen Ausführungen fortschreiten. So ist es für das Aufeinandertreffen kultureller Gegensätze gerade nicht notwendig, dass sich der Täter in einen fremden, von anderen Wertvorstellungen beherrschten Staat begibt. Vielmehr kann – insbesondere mithilfe traditioneller oder auch neuartiger Kommunikationsmittel – die Strafrechtsordnung eines Staates verletzt werden, ohne dass irgendeine örtliche Koinzidenz zwischen Täter und Opfer bzw. allgemein zwischen Täter und beeinträchtigtem Rechtsgut gegeben ist. Bestehen nun Differenzen zwischen den kulturellen Wertvorstellungen des Täters und dem Wertgefüge des „Empfängerstaates“, kommt es zu so genannten internationalen kulturellen Konflikten. Dass sich bei einer Tat Opfer und Täter in verschiedenen Staaten befinden, ist freilich nicht erst seit den Fortschritten der modernen Informationsund Kommunikationstechnologie möglich. Eine Konstellation, die sich bereits vor Jahrtausenden hätte zutragen können, wären etwa Konflikte zwischen Grenzposten, die sich jeweils auf ihrem eigenen Territorium befinden und sich gegenseitig beleidigen oder mit schweren Steinen oder Wurfwaffen bewerfen. Ebenso schon in lang zurückliegender Vergangenheit möglich war die grenzüberschreitende Beförderung ehrverletzender schriftlicher Äußerungen oder auch kulinarischer Geschenke, die der gutgläubige Adressat ohne Kenntnis des darin versteckten tödlichen Giftes zu sich nahm. Moderne Varianten dieser Grundfälle können uns auch heute noch begegnen. Der akustische Austausch von Nettigkeiten zwischen zwei feindlich gesinnten Personen ist durch den technischen Fortschritt mittlerweile nicht nur in Hörweite möglich, sondern kann auch im Rahmen eines Telefongesprächs oder über Voiceover IP erfolgen. Und an die Stelle der vergifteten, per Bote überbrachten Speisen von einst sind inzwischen Paketbomben und Milzbrandbriefe getreten. b) Internationales Strafrecht Bei solchen Distanzdelikten, bei denen sich Handlung des Täters einerseits und Eintritt des Erfolges andererseits an unterschiedlichen Orten, sogar in unterschiedlichen Staaten abspielen, stellt sich zunächst die Frage nach der Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts. Nach dem völkerrechtlichen

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Prinzip der Territorialität, im deutschen Strafgesetzbuch kodifiziert in § 3, erstreckt sich der Strafhoheitsanspruch eines Staates lediglich auf Taten, die auf seinem Hoheitsgebiet begangen werden.13 Begangen wird eine Tat wiederum – so das in § 9 StGB niedergelegte Ubiquitätsprinzip – sowohl am Ort der Handlung des Täters als auch am Ort des Erfolgseintritts.14 Bei den soeben vorgestellten Distanzdelikten genügt daher als Anknüpfungspunkt für die Anwendung nationalen Strafrechts, dass sich allein der Erfolgsort in dem jeweiligen Territorium befindet.15 Insbesondere wenn Handlungs- und Erfolgsort weit voneinander entfernt sind und unterschiedlichen Rechts- und Kulturkreisen angehören, können sich bestehende kulturelle Differenzen auf das Unrechtsempfinden des Täters auswirken. Solche Unterschiede werden nur selten sein, wenn der Erfolg in der Beeinträchtigung eines zentralen und allgemein anerkannten Rechtsgutes liegt. So wird der Versender einer Paketbombe regelmäßig nicht der Auffassung sein, dass sein Angriff auf die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit kein Unrecht im Aufenthaltsstaat seines Opfers darstellen könnte. Bei geringfügigeren Rechtsgütern aber können die kulturellen Unterschiede dazu führen, dass der Täter objektiv einen Straftatbestand nach der Rechtsordnung des Erfolgsortes verwirklicht, subjektiv sein Verhalten jedoch nicht als strafwürdig oder ggf. überhaupt nicht als Unrecht betrachtet. Versendet etwa ein US-Amerikaner eine ehrverletzende E-Mail an einen deutschen Adressaten, so mag er unter Umständen noch in Erwägung ziehen, wegen des Inhalts seiner Mail zivilrechtlich belangt werden zu können. Dass sein Verhalten darüber hinaus strafbar sein könnte, muss ihm wegen des ungleich höheren Stellenwerts der Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten dagegen nicht einmal in den Sinn kommen.16 Ähnlich kann ein Angehöriger eines Staates, in dem Geschäftstüchtigkeit groß geschrieben wird, bei Versendung eines zweifelhaften Werbeangebotes die Verwirklichung von Unrecht überhaupt nicht bedenken, während in dem Staat des Empfängers der Betrugstatbestand so weit gezogen sein kann, dass sich das Verhalten des Absenders darunter subsumieren ließe.17 In beiden Fällen stimmen die 13 Ambos, Internationales Strafrecht, § 3 Rn. 4; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, § 4 Rn. 5; eingehend Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, Rn. 152 ff. Der Territorialitätsgrundsatz fand bereits Anerkennung in der Lotus-Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes vom 7. September 1929, StIGHE 5, 71 (90). 14 Dazu Ambos (Fn. 13), § 1 Rn. 17; Oehler (Fn. 13), Rn. 252 ff. 15 Satzger (Fn. 13), § 5 Rn. 14. 16 Zum unterschiedlichen Gewicht der Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten von Amerika etwa Holznagel, ZUM 2000, 107 (125 ff.); ders., AfP 2002, 128 (129 f.).

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Vorstellung des Täters und die Bewertung des Erfolgsstaates über den Unrechtsgehalt des betreffenden Handelns nicht überein. c) Unrechtsbewusstsein Derartige internationale kulturelle Konflikte lassen sich im deutschen Recht vor allem im Rahmen des Unrechtsbewusstseins (§ 17 StGB) berücksichtigen. Danach muss der Täter zwar nicht um die Strafbarkeit seines Verhaltens wissen, jedoch davon ausgehen, dass sein Verhalten von der Rechtsordnung nicht mehr sanktionslos hingenommen wird.18 Fehlt dem Täter infolge anderer kultureller Wertvorstellungen eine solche Einsicht, so befindet er sich in einem Verbotsirrtum, der bei Unvermeidbarkeit zum Wegfall seiner Schuld führt. Neben der spezifischen Rechtsgutsverletzung als solcher muss sich das Unrechtsbewusstsein des Täters aber auch auf die Verletzung der spezifischen Rechtsordnung erstrecken.19 Wer sich nämlich der Berührung einer fremden Rechtsordnung nicht einmal bewusst ist, kann sich von vornherein nicht von ihr leiten lassen. Ein Verstoß gegen ihre Bestimmungen bedeutete somit nicht das Fehlen einer entsprechenden Rechtsgesinnung und ließe den für die Verhängung von Strafe erforderlichen Gesinnungsunwert vermissen.20 Wer also bei Distanzdelikten den grenzüberschreitenden Bezug seiner Handlung verkennt, befindet sich ebenso in einem Verbotsirrtum. 2. Multiterritoriale Delikte a) Ausgangslage Als erstes Zwischenergebnis kann somit festgehalten werden, dass sich internationale kulturelle Konflikte vornehmlich mit Hilfe des internationalen Strafrechts und des Unrechtsbewusstseins lösen lassen.21 Bei den klassischen Distanzdelikten, bei denen nur die Rechtsordnungen zweier Staaten betroffen sind – nämlich der Aufenthaltsort des Täters als Staat der Hand17 Zur Abgrenzung von Geschäftstüchtigkeit und kriminellem Betrug im Internet Hilgendorf, Betrug im Internet, in: Asada et al. (Hrsg.), Das Recht vor den Herausforderungen neuer Technologien, S. 141 (149 ff.). 18 Vgl. BGHSt 2, 194 (202); 45, 97 (101); Tröndle/Fischer, StGB, 53. Aufl. 2005, § 17 Rn. 3. 19 Neumann, StV 2000, 425 (426). Ausführlich zum Unrechtsbewusstsein bei grenzüberschreitenden Delikten Valerius, NStZ 2003, 341 ff. 20 Oehler (Fn. 13), Rn. 124, 592; Valerius, NStZ 2003, 341 (343). 21 Vgl. bereits Hassemer, Vielfalt und Wandel, in: Höffe, Gibt es ein interkulturelles Strafrecht?, S. 157 (160 ff.).

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lung sowie der Staat des Ortes, an dem der Erfolg eintritt –, führen deren Grundsätze auch regelmäßig zu billigen Ergebnissen. Nun sind aber Fallgestaltungen denkbar, in denen der Täter einen Erfolgseintritt nicht nur in einem einzigen, sondern in einer Vielzahl fremder Staaten bewirkt. Dass solche Sachverhalte heutzutage keine Ausnahmesituationen mehr darstellen, sondern vielmehr alltäglich sind, ist der zunehmenden Bedeutung der Medien und der Massenkommunikationsmittel zu verdanken. Beispielsweise sind überregionale Zeitungen und Zeitschriften inzwischen nicht mehr nur im Inland erhältlich, sondern können darin enthaltene Artikel oder Leserbriefe in mehreren Staaten veröffentlicht werden. Ebenso werden Ton- und Bildberichte sowie Live-Übertragungen im Rundfunk bei entsprechendem überstaatlichen Interesse an der jeweiligen Veranstaltung – denken Sie etwa an die alljährliche Oscar-Verleihung, die Olympischen Winter- und Sommerspiele sowie die anstehende Fußball-Weltmeisterschaft – in einer Vielzahl von Staaten ausgestrahlt. Websites im Internet schließlich sind im Regelfall ihrer freien Zugänglichkeit grundsätzlich weltweit abrufbar. Infolge der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie ist somit möglich, dass eine einzige Handlung eine Vielzahl von Rechtsordnungen zugleich berührt. Kam es bereits bei den Distanzdelikten im klassischen Sinne zu kulturell bedingten Differenzen, so potenzieren sich hier – bei „multiterritorialen Delikten“ – die kulturbedingten Kollisionsmöglichkeiten um ein Vielfaches. b) Unrechtsbewusstsein Auch solche multiterritorialen Delikte, bei denen der Täter einen Erfolgseintritt nicht nur in einem einzigen, sondern in einer Vielzahl von fremden Staaten bewirkt, ließen sich prinzipiell über die aufgezeigten Grundsätze zum Unrechtsbewusstsein lösen. Verbreitet der Täter bei einer in mehreren Staaten ausgestrahlten Live-TV-Übertragung etwa Inhalte, die nicht nach dem Recht seines Aufenthaltsortes, wohl aber nach dem Recht des Empfangsstaates strafbar sind, so kann sein Unrechtsbewusstsein fehlen, wenn der Täter sich entweder der Ausstrahlung in diesem Staat und somit des Bezugs zu dessen Rechtsordnung nicht bewusst ist oder er infolge kultureller Differenzen in seinem Verhalten keinerlei Unrecht erblickt. Anders dagegen bei Veröffentlichungen auf nicht zugangsgeschützten Websites: Hier wird sich der Täter nur schwerlich darauf berufen können, den grenzüberschreitenden Charakter seiner Handlung und somit den Bezug zur fremden Rechtsordnung verkannt zu haben, weiß er doch in der Regel um die weltweite Abrufbarkeit der von ihm veröffentlichten Inhalte. Das

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Unrechtsbewusstsein kann somit regelmäßig nur dann zum Wegfall der Schuld des Täters führen, wenn er sein Verhalten infolge anderer kultureller Anschauungen überhaupt nicht als Unrecht betrachtete. Bei Handlungen im Internet sind die Möglichkeiten des Unrechtsbewusstseins als Korrektiv daher nur begrenzt. c) Internationales Strafrecht aa) Entscheidung des Kammergerichts vom 16. März 1999 Möchte man bei multiterritorialen Delikten nicht eine Vielzahl von strafrechtlichen Vorschriften verschiedener Staaten verwirklicht sehen, bleibt somit nur der Weg über eine zurückhaltende Interpretation des internationalen Strafrechts. In den wenigen Entscheidungen der Rechtsprechung wurde dagegen mit der Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts eher großzügig verfahren. So hat das Kammergericht Berlin im Jahre 1999 das Zeigen des Hitlergrußes während eines Länderspiels der Deutschen Fußballnationalmannschaft im polnischen Zabrze für nach deutschem Recht strafbar erachtet.22 Diesem Ergebnis stand zunächst entgegen, dass es sich bei der einschlägigen Strafvorschrift des § 86a Abs. 1 Nr. 1 StGB, dem Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, um ein abstraktes Gefährdungsdelikt handelt, bei dem es nach h. M. keinen von der Tathandlung abtrennbaren Erfolg gibt.23 Die Anknüpfung an einen inländischen Erfolgsort (§ 9 Abs. 1 Var. 3 StGB) zur Begründung der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts schien damit ausgeschlossen. Das Kammergericht behalf sich jedoch mit einer Anknüpfung an den Handlungsort. Zur Begründung führte es aus, dass zur Handlung nicht nur die Tätigkeit als solche (hier: das Zeigen des Hitlergrußes) gehöre, sondern auch deren Wirkungen, sofern sie nach der tatbestandlichen Handlungsbeschreibung als deren Bestandteil zu betrachten seien. Bei dem Tatbestandsmerkmal Verwenden solle demnach auch die Wahrnehmbarkeit zur Handlung zu zählen sein.24 Der Handlungsort liegt somit an jedem Ort, an dem das betreffende Verhalten des Täters gesehen werden könne, d.h. auch in jedem deutschen Wohnzimmer, in dem gerade das betreffende Fernsehprogramm über den Bildschirm flackert. 22

KG Berlin, NJW 1999, 3500 ff. MK-StGB-Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 31; LK-Gribbohm, § 9 Rn. 20; Cornils, JZ 1999, 394 (395); Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876); Satzger, NStZ 1998, 112 (114 f.). 24 KG Berlin, NJW 1999, 3500 (3502). 23

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bb) Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12. Dezember 2000 Ein weiteres Beispiel für einen internationalen kulturellen Konflikt aus der Praxis ist der Fall Toeben, über den der Bundesgerichtshof Ende 2000 zu entscheiden hatte:25 Ein australischer Staatsangehöriger veröffentlichte auf seiner, auf einem australischen Server gespeicherten Website englischsprachige Artikel, in denen er den Holocaust leugnete und revisionistische Thesen vertrat. Da die Website frei und somit grundsätzlich weltweit zugänglich war, konnten auch Personen auf deutschem Hoheitsgebiet die betreffenden Artikel einsehen. Unstreitig würde das Verbreiten von Schriften derartigen Inhalts in Deutschland den Tatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 3 StGB erfüllen. Fraglich war allerdings, ob deutsches Strafrecht überhaupt zur Anwendung gelangen konnte. Auch hier stellte sich vor allem das Problem, dass die Volksverhetzung als – nach wohl herrschender Auffassung26 – potentielles Gefährdungsdelikt kein Erfolgsdelikt darstellt und somit eine Anknüpfung an den Erfolgsort wiederum ausgeschlossen erschien. Daher wurde auch für diese Fallkonstellation in der Literatur – mit ähnlichen Erwägungen wie denen des Kammergerichts – eine Ausdehnung des Handlungsortes diskutiert. Demnach solle der Täter nicht nur am Ort seiner physischen Präsenz, sondern etwa auch an dem Standort des Servers handeln, auf dem die fragwürdigen Inhalte gespeichert seien.27 Solchen Interpretationsversuchen ist – ebenso wie den Ausführungen des Kammergerichts – vornehmlich entgegenzuhalten, dass mit dem Verzicht auf die Anknüpfung an den physischen Aufenthaltsort des Täters ein Verlust an Bestimmtheit des Handlungsortes einhergeht.28 Etwaige neue Anknüpfungskriterien – wie etwa das Abstellen auf den Standort des die rechtswidrigen Inhalte beherbergenden Servers – wären zudem vom Zufall abhängig.29 Auch der Bundesgerichtshof stand einer solchen Ausdehnung des Handlungsortes eher kritisch gegenüber30 und schlug daher einen anderen Weg ein, um die Anwendung deutschen Strafrechts bejahen zu können. Im Wesentlichen schloss er sich dabei einer im Vordringen befindlichen Literatur25

Urteil vom 12. Dezember 2000, BGHSt 46, 212. Statt vieler BGHSt 46, 212 (218); Lackner/Kühl, StGB, 25. Aufl. 2004, § 130 Rn. 1. 27 Cornils, JZ 1999, 394 (396 f.). 28 Hilgendorf/Frank/Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, Rn. 241; Hörnle, NStZ 2001, 309 (310); Koch, GA 2002, 703 (711); Sieber, NJW 1999, 2065 (2070). 29 Hilgendorf/Frank/Valerius (Fn. 28), Rn. 240; Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (665 f.); Koch, GA 2002, 703 (711). 30 BGHSt 46, 212 (225). 26

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meinung an, wonach auch abstrakte Gefährdungsdelikte einen Erfolgsort im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB aufweisen, und zwar dort, wo sich die abstrakt gefährliche Tathandlung auswirken könne.31 Zur Begründung verweist diese Ansicht vor allem auf die Parallele zu § 13 StGB, von dem bei ähnlicher Formulierung auch abstrakte Gefährdungsdelikte erfasst sein sollen.32 Diese Argumentation übertrug der Bundesgerichtshof auf den Straftatbestand der Volksverhetzung. Demnach liege der Erfolgsort dieses Delikts überall dort, wo das betreffende Täterverhalten droht, eine Störung des öffentlichen Friedens herbeizuführen. Eine solche Eignung sprach der Bundesgerichtshof auch Äußerungen im Internet zu, da sie grundsätzlich weltweit und somit auch hierzulande abrufbar sind. Mit anderen Worten begründet allein die Abrufbarkeit volksverhetzender Online-Inhalte einen Erfolgsort in Deutschland – mit der Folge, dass deutsches Strafrecht auf alle solchen Äußerungen anwendbar ist; und zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit des Täters, unabhängig von seinem Handlungsort sowie unabhängig vom Standort des die betreffenden Inhalte beherbergenden Servers. cc) Rechtsfolgen der beiden Entscheidungen Die Konsequenzen der beiden Entscheidungen sind weit reichend. Betrachten wir zunächst das Urteil des Kammergerichts Berlin. Genügt für die Anwendbarkeit des § 86a StGB bereits die Wahrnehmbarkeit des jeweiligen Kennzeichens in der Bundesrepublik Deutschland, ggf. auch erst infolge multimedialer Verbreitung, könnte sich etwa ein US-Amerikaner strafbar machen, der seine bei eBay erstandenen Nazi-Memorabilien in eine Fernsehkamera von CNN hält – ein Sender, der auch in Deutschland frei empfangbar ist. Gleiches gilt für den italienischen Fußballspieler Paolo di Canio, der im Jahre 2005 an die Anhänger seines Fußballvereins Lazio Rom wiederholt den faschistischen Gruß richtete.33 Denn die Spiele der Serie A, dem italienischen Pendant zur deutschen Fußball-Bundesliga, werden im deutschen Fernsehen zum Teil live übertragen, sind zumindest aber 31 Heinrich, GA 1999, 72 (82); vgl. auch Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (886); SK-StGB-Hoyer, § 9 Rn. 7; Martin, ZRP 1992, 19 (20). 32 BGHSt 46, 212 (222). Zuvor bereits Heinrich, GA 1999, 72 (77 f.); Martin, ZRP 1992, 19 (19); ebenso Hecker, ZStW 115 (2003), 880 (887). 33 Paolo di Canio, Kapitän der Fußballmannschaft von Lazio Rom, feierte am 6. Januar 2005 ein von ihm beim Stadtderby gegen den AS Rom erzieltes Tor, indem er den (zu einem Großteil faschistischen) Anhängern seiner Mannschaft den so genannten, dem Hitlergruß vorausgegangenen und ihm entsprechenden, römischen Gruß zeigte. Er wurde daher von der Disziplinarkommission des italienischen Fußballverbandes FIGC (Federazione Italiana Giuoco Calcio) zur Zahlung einer Geldstrafe von 10 000 EUR verurteilt. Di Canio akzeptierte das Urteil zunächst nicht und wiederholte den römischen Gruß bei Spielen am 11. und am 17. Dezember 2005.

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in Zusammenschnitten frei empfangbar. Wie steht es schließlich um die Strafbarkeit englischer Thronfolger, die in einer Nazi-Uniform auf Faschingsbälle gehen und an sich damit rechnen müssten, dass von ihnen Photos geschossen und diese weltweit, d.h. auch in Deutschland, durch alle Zeitungen geistern werden?34 Ähnlich folgenreich ist die Toeben-Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Wenn auch auf Inhalte von ausländischen Staatsangehörigen in fremder Sprache, die auf einem ausländischen Server gespeichert sind, deutsches Strafrecht grundsätzlich für anwendbar erklärt wird, führte dies letztlich zu einer Allzuständigkeit der deutschen Justizbehörden – einer Allzuständigkeit für eine Überwachung des Internets unter Zugrundelegung deutschen Strafrechts als weltweiten Maßstab.35 Diese Aufoktroyierung deutscher Wertvorstellungen wäre eine respektlose Bevormundung anderer Staaten, die etwa rechtsextremistisches Gedankengut mit anderen Mitteln als denen des Strafrechts bekämpfen. Die Bedenken gegen diese Rechtsprechung werden noch deutlicher, wenn man sich vorstellt, dass auch andere nationale Gerichte ihr jeweiliges Strafanwendungsrecht ähnlich weit wie das Kammergericht oder der Bundesgerichtshof auslegen würden. Jedes Boulevardmagazin in Deutschland, das Photos von allenfalls leicht bekleideten Damen im Internet veröffentlichte, könnte sich etwa nach singapurischem Recht strafbar machen, wonach die Verbreitung obszöner Aufnahmen bei Strafe untersagt ist. Wer in einem Forum auf einer Website die Vaterschaft eines Ehemannes in Zweifel zieht, könnte nach iranischem Recht eine Verleumdung wegen Ehebruchs begehen und sich einer Strafe von 40 bis 80 Peitschenhieben ausgesetzt sehen. Wer sich als weibliche Person in der Öffentlichkeit, etwa in frei zugänglichen Chat-Räumen, mit Männern unterhält, riskierte eine Bestrafung nach nigerianischem Recht. Zugegeben: diese Beispiele mögen extrem sein, aber sie sind keineswegs unwahrscheinlich. Ähnlich wie der Bundesgerichtshof hat etwa der Oberstaatsanwalt von Minnesota erklärt, dass jede Übermittlung im Internet den Strafgesetzen von Minnesota unterfalle.36 Demnach würde sich jeder – weltweit – strafbar machen, der eine Abbildung der amerikanischen Flagge 34 Der englische Thronfolger Henry Charles Albert David Mountbatten-Windsor, regelmäßig nur Prinz Harry (von Wales) genannt, erschien im Januar 2005 auf einem Kostümfest in Großbritannien in einer Uniform samt Hakenkreuz-Armbinde. Photographien von seinem Auftritt wurden in der englischen Boulevard-Zeitung „The Sun“ veröffentlicht und fanden von dort aus ihren Weg auch in deutsche Medien. 35 Kritisch daher bereits statt vieler Hilgendorf/Frank/Valerius (Fn. 28), Rn. 249; Koch, GA 2002, 703 (707); Lagodny, JZ 2001, 1198 (1200). 36 Beispiel nach Bremer, Strafbare Internet-Inhalte, S. 117.

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„stars and stripes“ ins Internet stellt und dabei die Flagge mit irgendwelchen Worten oder Zeichen versieht. dd) Kritische Stellungnahme Die Auflistung dieser Beispiele zeigt zumindest, dass eine rein nationale Betrachtung multiterritorialer Delikte zu kurzsichtig ist. Bei der Interpretation des Strafanwendungsrechts sollte stets bedacht werden, dass die eigene nicht die einzige Rechtsordnung auf der Welt ist. Am Beispiel des Kommunikationsmittels Internet lässt sich dies verdeutlichen: Durch das Internet ist es jedermann heutzutage möglich, von seinem heimischen Schreibtisch aus frei zugängliche Inhalte ins Netz zu stellen, die weltweit abgerufen, also weltweit zu Datenübertragungen führen können, dadurch die Territorien fremder Staaten berühren und somit deren Strafrechtsordnungen tangieren. Dies gilt ohne Rücksicht darauf, ob die veröffentlichten Inhalte in allen, den meisten, nur wenigen oder sogar lediglich einem einzigen der derzeit 192 anerkannten Staaten strafbar sind. Nun kann nicht davon ausgegangen werden, dass sowohl das Kammergericht als auch der Bundesgerichtshof die weit reichenden Konsequenzen ihrer Rechtsprechung völlig übersehen hätten. Vielmehr hat das Kammergericht selbst ausdrücklich bemerkt, dass auf Grundlage seiner Entscheidung der Einsatz moderner Übertragungstechniken zu einer Erweiterung der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bei Delikten wie dem § 86a StGB führt.37 Es hat sich daher im Nebensatz bemüht, etwaige einschränkende Kriterien für vergleichbare Sachverhalte vorzugeben.38 Ähnlich hat der Bundesgerichtshof beiläufig erwähnt, dass die Anwendung deutschen Strafrechts eines völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunktes bedarf.39 Gleichwohl kamen die beiden genannten Entscheidungen im konkreten Einzelfall jeweils zu einer recht extensiven Auslegung des internationalen Strafrechts. Es stellt sich somit die Frage, wie diese beiden Entscheidungen 37

KG Berlin, NJW 1999, 3500 (3502). So soll es nach KG Berlin, NJW 1999, 3500 (3502), eines unmittelbaren zeitlichen Zusammenhanges bedürfen, um eine mediale Veröffentlichung noch dem Täterverhalten zuordnen zu können. Im Falle einer Wiedergabe mit deutlichem Zeitabstand – das Kammergericht selbst sieht dies nach der üblichen Zeitspanne für die mediale Berichterstattung, d.h. nach wenigen Stunden, regelmäßig nach Ablauf eines Tages als gegeben an – fehle es demnach an dem erforderlichen Handlungszusammenhang. Allerdings kann mit einem solchen Abgrenzungskriterium – ungeachtet seiner Unbestimmtheit – das eigentliche Problem multiterritorialer Delikte nicht gelöst werden: Sollen etwa bei einer Live-Sendung im Fernsehen wirklich alle Strafrechtsordnungen der zusehenden Staaten prinzipiell anwendbar sein können? 39 BGHSt 46, 212 (224); so bereits BGHSt 27, 30 (32); Heinrich, GA 1999, 72 (82). Zustimmend NK-Lemke (Fn. 11), § 9 Rn. 23. 38

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zu deuten sind und welche Relevanz ihnen für die Zukunft zukommen mag. Meines Erachtens lässt sich beiden Urteilen zwar der unbedingte Wille entnehmen, den jeweiligen Einzelfall deutschem Strafrecht zu unterwerfen, aber nicht die Bestrebung, generell eine Ausdehnung der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts für multiterritoriale Delikte zu erreichen. Insbesondere im Hinblick auf die, wenngleich zaghaften, Andeutungen möglicher Einschränkungskriterien scheint es sich bei den beiden Entscheidungen eher um politische Urteile zu halten. Man war offenbar darum bestrebt, sich nicht den Vorwurf einzuhandeln, rechtsradikales Gedankengut nicht ausreichend zu bekämpfen. So hätte es rechtspolitisch ein verheerendes Signal sein können, im Toeben-Fall nicht zu einer Verurteilung des Angeklagten zu gelangen und dadurch eventuell auch Nachahmer zu ähnlichen Aktionen zu ermutigen.40 Es bleibt also zumindest die Hoffnung, dass die genannten Urteile Einzelentscheidungen darstellen, die die Rechtsprechung in Zukunft nicht verallgemeinern wird. ee) Vorschläge für eine Begrenzung internationalen Strafrechts Auf welche Weise lässt sich nun das internationale Strafrecht bei multiterritorialen Delikten beschränken? Restlos zufrieden stellende Ansätze sind hier noch nicht vorgetragen worden. Zwar liegt nahe, bereits die praktische Notwendigkeit solcher Einschränkungsversuche zu bestreiten und darauf zu verweisen, dass die Staatsanwälte ohnehin nicht die Zeit und das Bestreben hätten, alle nach deutschen Maßstäben strafbaren Inhalte zur Anklage zu bringen. Allerdings mag die Hoffnung, dass wir – weltweit! Man denke aber an den erwähnten Oberstaatsanwalt von Minnesota – nur von umsichtigen und zurückhaltenden Staatsanwälten umgeben sind, den Praktiker vielleicht beruhigen. Dem Rechtswissenschaftler kann sie indes nicht genügen. Ein möglicher Ansatz für eine einschränkende Auslegung des internationalen Strafrechts wäre eine teleologische Reduktion des § 9 Abs. 1 StGB durch das Erfordernis einer territorialen Spezifizierung. Dies ließe sich etwa unter Rekurs auf die viel zitierte Lotus-Entscheidung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes vom 7. September 1927 damit begründen, dass die strafrechtliche Erfassung von Vorgängen im Ausland eines sinnvollen An40 Der Bundesgerichtshof ist in dieser Hinsicht ohnehin ein „gebranntes Kind“, nachdem die Aufhebung eines Urteils gegen einen lokalen NPD-Vorsitzenden infolge einer missverständlichen Pressemitteilung als Freispruch gedeutet wurde, was zu einem Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit führte. Die betreffende Entscheidung BGHSt 40, 97 ff. hob das angefochtene Urteil jedoch nur wegen unzureichender Tatsachenfeststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung zurück. Zur Reaktion der Öffentlichkeit und dem Verhalten der Medien Bertram, NJW 1994, 2002 ff.; Stegbauer, NStZ 2000, 281 (282).

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knüpfungspunktes bedürfe. Demnach würde deutsches Strafrecht nur dann zur Anwendung gelangen, wenn die Tat einen besonderen territorialen Bezug zum Inland aufweise.41 Fraglich wäre dann allerdings, mithilfe welcher Kriterien sich der territoriale Bezug hinreichend konkretisieren ließe. Auf subjektive Merkmale wie die Kenntnis des Täters kann dabei kaum abgestellt werden. Zwar kann es befremdlich erscheinen, einen Urheber von Internet-Inhalten nicht belangen zu können, wenn er von der Strafbarkeit hierzulande weiß und das strafrechtliche Gefälle bewusst zu seinen Machenschaften ausnutzt. Wäre es aber umgekehrt verständlich, wenn ein deutscher Staatsangehöriger von hier aus nach deutschem Recht völlig unbedenkliche Inhalte ins Netz stellt, sich dadurch aber nach ausländischem Recht strafbar machte, wenn er – vielleicht auch nur zufällig – von der Strafbarkeit nach ausländischem Recht wüsste? Wäre die Freiheit des Einzelnen hierzulande also mittelbar dadurch bestimmt, dass er nur das im Rahmen der hiesigen Gesetze tun und lassen dürfte, was nicht über Medien in andere, restriktivere Staaten gesendet werden könnte? Wäre dies der Fall, dann müssten Sie etwa in Zukunft darauf verzichten, von sich Bilder ins Internet zu stellen, auf denen Sie gerade ein alkoholisches Getränk zu sich nehmen, „nur“ weil in bestimmten Gemeinden in Massachusetts der öffentliche Konsum von Alkohol (vielleicht auch in der Öffentlichkeit des Internets) nach wie vor verboten ist. Ebenso müssten Sie als Vorstreiter für Demokratie und Meinungsäußerungsfreiheit darauf verzichten, im Internet Kritik gegen die chinesische Regierung und ihren Umgang mit Demokratiebestrebungen im eigenen Land zu üben, wenn Sie wüssten, dass Sie sich damit in China wegen der Verbreitung von für die nationale Sicherheit und das öffentliche Interesse schädlichen Inhalten strafbar machten. Zudem ließe sich der Rückgriff auf subjektive Merkmale nicht mit dem völkerrechtlichen Charakter des Strafanwendungsrechts vereinbaren. Aufgabe des Völkerrechts ist die Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen den Völkerrechtssubjekten, insbesondere den einzelnen anerkannten Staaten. Zu diesen Rechtsbeziehungen zählt auch die Reichweite der staatlichen Strafgewalt, sofern sie mit der Gebiets- und Personalhoheit anderer Staaten kollidieren sollte. Da die Abgrenzung der Anwendungsbereiche nationaler Strafrechtsordnungen somit das Rechtsverhältnis zwischen den einzelnen Staaten betrifft, kann es nicht zur Disposition eines Einzelnen, eines Dritten stehen.42 Auf subjektive Aspekte wie die Kenntnis oder auch die Intention des Einzelnen kann daher nicht abgestellt werden.43 Um die sich über41 Hilgendorf, NJW 1997, 1873 (1876 f.); ders., ZStW 113 (2001), 650 (668 ff.); Jeßberger, JR 2001, 432 (435); NK-Lemke (Fn. 11), § 9 Rn. 23 f.

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schneidenden Bereiche staatlicher Souveränität sinnvoll voneinander abzugrenzen, bedarf es vielmehr objektiver Kriterien für die angestrebte teleologische Reduktion, die aber noch auszuarbeiten wären. Verfolgenswert erscheint mir daher ein anderer Versuch der Einschränkung. So wäre denkbar, bei multiterritorialen Delikten nur dann nationales Strafrecht für anwendbar zu erklären, wenn die Tat am Ort der Handlung mit Strafe bedroht ist bzw. dieser keiner Strafgewalt unterliegt.44 Die Strafbarkeit am Tatort als Voraussetzung für die Anwendbarkeit nationalen Strafrechts ist dem internationalen Strafrecht nicht unbekannt. So greift insbesondere § 7 StGB auf dieses Erfordernis zurück. Auch dort dient es einer Beschränkung – der zuvor aus Gründen des passiven (Abs. 1) bzw. aktiven Personalitätsprinzips (Abs. 2) erfolgten Erweiterung – der Anwendbarkeit nationalen Strafrechts; auch dort verkörpert das Merkmal eine Form der Achtung und eine Geste der Anerkennung anderer nationaler Strafrechtsordnungen als gesetzgeberische Akte eines unabhängigen und selbstständigen Völkerrechtssubjekts. Die Übertragung eines solchen einschränkenden Merkmals auf die vorliegende Problemkonstellation der multiterritorialen Delikte erscheint also nicht fern liegend. Natürlich bedarf die Anknüpfung an die Strafbarkeit nach einer fremden Rechtsordnung einer Anpassung. Anders als in § 7 StGB kann nicht an die strafrechtliche Situation am Tatort angeknüpft werden, wenn sich dieser bei multiterritorialen Delikten gerade in verschiedenen Staaten befindet, sei es auch nur – wie etwa bei der Toeben-Entscheidung des Bundesgerichtshofs – nach vorheriger weiter Interpretation des Erfolgsortes. Demzufolge bietet sich anstelle des Tatortes der Handlungsort als maßgeblicher Anknüpfungspunkt an. Eine solche Abgrenzung wiese auch die nötige Bestimmtheit auf, sofern man der hier vertretenen, engen Auslegung des Handlungsortes folgt und die Grenze zwischen der Handlung und ihren Folgen im Strafanwendungsrecht nicht durch eine großzügige Auslegung des Handlungsortes verwischen möchte. Auf diese Weise erreichte man das, was das internationale Strafrecht mangels bisheriger Notwendigkeit entbehrt und dessen Fehlen sich nun bei multiterritorialen Delikten bemerkbar macht: eine Kollisionsregel – eine Kollisionsregel, die zum einen ein hinreichend bestimmtes Abgrenzungskriterium bietet und zugleich die notwendige völkerrechtliche Zurückhaltung an den Tag legt. 42 Vgl. Valerius, Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden in den Kommunikationsdiensten des Internet, S. 147 m. w. N. 43 Hilgendorf/Frank/Valerius (Fn. 28), Rn. 256; vgl. auch Breuer, MMR 1998, 141 (144); Hilgendorf, ZStW 113 (2001), 650 (661). 44 Im Ergebnis ebenso bereits Kienle, Internationales Strafrecht und Straftaten im Internet, S. 173 ff.

Völkerstrafrecht als Friedenshindernis? – Amnestieverbote im modernen Völkerrecht Von Winfried Bausback, Würzburg

I. Einführung in die Problemstellung Kann das Völkerstrafrecht – genauer eigentlich das völkerrechtliche Strafrecht1 – heute in einzelnen bewaffneten Konflikten zum Friedenshindernis werden? Die Fragestellung erscheint auf den ersten Blick provokant. Die Entwicklung zu einem echten völkerrechtlichen Strafrecht wird mit Recht zu den großen Errungenschaften des Völkerrechts der letzten Jahrzehnte gezählt. Verantwortungsträger für das Verbrechen des Völkermordes, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Kriegsverbrechen müssen nicht nur eine eventuelle Verfolgung durch nationale Strafgerichte fürchten; auch die Verurteilung durch ein internationales Strafgericht – wie insbesondere durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (im folgenden ICC) – erscheint zumindest möglich. Dies verdeutlicht, daß die durch die Straftatbestände geschützten Rechtsgüter – zentrale Menschenrechte und der internationale Friede – zu echten Gemeininteressen (Verpflichtungen erga omnes) der Völkerrechtsordnung geworden sind. Das menschliche Individuum ist in eine Subjektstellung (sui generis) im Völkerrecht eingerückt. Es ist heute nicht mehr nur mediatisiert durch die Staaten, nicht allein als Träger der völkerrechtlich geschützten Menschenrechte selbständiger Rechtsinhaber, sondern auch einer unmittelbaren völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit unterworfen und damit selbständiger Pflichtenträger. 1 Begrifflich ist an sich „völkerrechtliches Strafrecht“ präziser als „Völkerstrafrecht“, denn es geht dabei um eine individualstrafrechtliche Verantwortung auf völkerrechtlicher Grundlage, vgl. dazu schon D. Thürer, Vom Nürnberger Tribunal zum Jugoslawien-Tribunal und weiter zu einem Weltstrafgerichtshof?, in: Schweizer Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 1993, S. 491 ff. (504); daran anknüpfend D. Blumenwitz, Die Strafe im Völkerrecht, Zeitschrift für Politik 1997, S. 324 ff. (326). Der Terminus Völkerstrafrecht hat sich allerdings mittlerweile nahezu allgemein etabliert. Zum Begriff vgl. auch A. Bruer-Schäfer, Der Internationale Gerichtshof. Die Internationale Strafgerichtsbarkeit im Spannungsfeld von Recht und Politik, Frankfurt a. M., 2001 (zugl. Diss. Würzburg 2001), S. 22 ff. Im Folgenden sollen beide Begriffe synonym Verwendung finden.

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Bei dieser – insgesamt positiven – Entwicklung, die den Charakter des Völkerrechts in den letzten Jahrzehnten mit verändert hat, wird allerdings nicht selten übersehen, daß es damit zu einem Widerspruch zu einem alten friedensstiftenden Instrument des Völkerrechts kommt – der Amnestie als typischem Element von Friedensverträgen. Mit Verfolgungspflichten gegenüber und im Interesse der gesamten Rechtsgemeinschaft sind Staaten, die eine friedensvertragliche Regelung anstreben, eines Teils ihrer friedensvertraglichen Dispositionsfreiheit beraubt. Dies ist kein nur theoretischer Konflikt, wie sich auch am Rande des letzten Irak-Krieges zeigte: In den Wochen vor dem Ausbruch des Krieges wurde Saddam Hussein von mehreren Staaten bzw. von deren Regierungsvertretern offen2 und verdeckt der straffreie Gang ins Exil nahegelegt.3 Sogar Donald Rumsfeld, der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, wurde – in seltener Übereinstimmung mit dem damaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder4 – im Januar 2003 mit der Äußerung zitiert, er sei dafür, Saddam Hussein Straffreiheit zuzusichern, wenn dies den Weg für seinen Gang ins Exil ebnen und einen Krieg verhindern würde.5 Im Hinblick auf die eingangs skizzierten Entwicklungen des Völkerrechts in den letzten Jahren erscheint dieses Angebot straffreien Exils hoch problematisch. Saddam Hussein wurde immerhin in den letzten Jahren wiederholt und substantiiert verantwortlich gemacht für schwere Verstöße gegen das Völkerrecht, für die auch eine persönliche völkerstrafrechtliche Verantwortung in Betracht zu ziehen ist. Um an dieser Stelle nur vier der schwerwiegenden Vorwürfe zu nennen: 1. Saddam Hussein wird verantwortlich gemacht für den Einsatz von Giftgas im von 1980 bis 1988 andauernden Krieg zwischen Irak und Iran. Dieser Einsatz stellte einen klaren Verstoß dar gegen Völkergewohn2 Offen forderten die Vereinigten Arabischen Emirate durch ihren Staatschef Scheich Sajed bin Sultan el Nahjan in einem Brief an einen von der Arabischen Liga abgehaltenen Krisengipfel im ägyptischen Scham el Scheich Saddam Hussein zum Rücktritt auf und schlugen gleichzeitig eine Amnestierung seiner Person und seines Führungszirkel für den Fall vor, dass er und seine Vertrauten ins Exil gingen, vgl. Welt am Sonntag, 2. März 2003, „Arabischer Gipfel bleibt Friedenslösung für den Irak schuldig.“. 3 So sollen Saudi Arabien und Ägypten nach Berichten der internationalen Presse im Januar inoffiziell entsprechende Bemühungen ergriffen haben, vgl. Evangelos Antonaros, „Saddam Hussein soll durch Putsch gestürzt werden“, Berliner Morgenpost vom 20.01.2003. 4 Vgl. „Irak-Krise, Schröder: Exil Saddam Husseins wäre wünschenswert“, unter www.faz.net abgerufen am 30.04.2003, wonach auch der damalige Bundeskanzler Schröder eine Exillösung für Saddam Hussein befürwortete. 5 Evangelos Antonaros, „Saddam Hussein soll durch Putsch gestürzt werden“, Berliner Morgenpost vom 20.01.2003.

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heitsrecht6 und gegen das Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Krieg vom 17. Juni 1925,7 dem der Irak schon am 8. September 1931 wirksam beigetreten ist.8 Der Einsatz von Giftgas wird im übrigen auch von Art. 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshof (im folgenden Rom-Statut)9 zu den Kriegsverbrechen gezählt. 2. Unter der Führung von Saddam Hussein begann der Irak einen Angriffskrieg gegen den benachbarten Staat Kuwait, eine klare Mißachtung des universellen Gewaltverbotes, das in Art. 2 Ziff. 4 der SVN niedergelegt ist und darüber hinaus als Norm des Völkerrechts im Range von ius cogens gilt. Schon kurz nach dem Golfkrieg 1990/1991 wurde insoweit der Vorschlag gemacht, Saddam Hussein vor einem durch den UN-Sicherheitsrat einzusetzendes Straftribunal anzuklagen.10 Vorbild sollte der Nürnberger Gerichtshof sein, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges gemäß Art. 6 lit. a des IMT-Statuts und Art. II Ziff. 1 lit. a des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 auch über die Strafbarkeit von Einzelpersonen für die Begehung von Verbrechen gegen den Frieden zu entscheiden hatte.11 Für das Verbrechen der Aggression ist im übrigen auch eine Gerichtsbarkeit des ICC vorgesehen, vorbehaltlich einer noch zu vereinbarenden Definition und zu vereinbarender Bedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit, vgl. Art. 5 Abs. 2 Rom-Statut. 3. Gezielt und systematisch wurden auf Veranlassung der Regierung Saddam Husseins hin Angehörige der schiitischen Bevölkerungsgruppe im 6

Vgl. nur F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Band „Kriegsrecht“, 2. Aufl. 1969, S. 171. 7 Internationale Quelle: LNTS Bd. 94 S. 65; deutsche Quelle: RGBl. 1929 II, S. 173. 8 Vgl. BGBl. 1956 II, S. 905. 9 Internationale Quelle: UNTS Bd. 2187, S. 3 ff.; deutsche Quelle: BGBl. 2000 II, S. 1394 ff. Für Deutschland gilt das Statut entsprechend seinem Art. 126 seit dem 01.07.2002, vgl. Bek. vom 28.02.2003, BGBl. 2003 II, S. 293. 10 W. V. O’Brien, The Nuremberg Precedent and the Gulf War, 31 Virginia Journal of International Law 391 et seq. (1991); J. N. Moore, War Crimes and the Rule of Law in the Gulf Crisis, 31 Virginia Journal of International Law 403 et seq. (1991). 11 Zu dem Nürnberger Prozessen zusammenfassend aus völkerrechtlicher Sicht H.-H. Jescheck, Nuremberg Trials, in: R. Bernhardt (ed.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. III (1997), S. 747 ff. mit einer Auswahl von Hinweisen auf die nahezu unüberschaubare Literatur zu diesem Thema; ferner D. Blumenwitz (Fn. 1), Zeitschrift für Politik 1997, S. 324 ff. (331 ff.); A. Bruer-Schäfer (Fn. 1), S. 54 ff.

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Süden und der kurdischen Bevölkerungsgruppe im Norden des Landes liquidiert.12 Die Tötung von Mitgliedern einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe in der Absicht, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören, ist nicht nur vertragsrechtlich durch die UN-Völkermordkonvention verboten, der 140 Staaten – darunter der Irak – beigetreten sind, sondern auch durch entsprechende Normen des Völkergewohnheitsrecht im Range von ius cogens. Im Rahmen des Rom-Statuts ist im übrigen die Verfolgung einer identifizierbaren Gruppe oder Gemeinschaft aus politischen, rassischen, nationalen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Gründen, Gründen des Geschlechts oder anderen nach dem Völkerrecht universell als unzulässig anerkannten Gründen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert (Art. 7 lit. h Rom-Statut). 4. Glaubwürdige Berichte liegen ferner vor, daß auf Geheiß von Saddam Hussein und seinem Führungszirkel gegen Regimegegner grausame Foltermethoden angewendet wurden.13 Das Folterverbot hat im Völkerrecht nicht nur eine vertragliche Grundlage in der UN-Folterkonvention vom 10. Dezember 1984, der mittlerweile 140 Staaten angehören,14 sondern auch hier kann man vom Bestehen einer entsprechenden völkergewohnheitsrechtlichen Norm ausgehen.15 Folter wird im übrigen auch vom 12 Vgl. z. B. Tilman Zülch, Saddam Hussein – die Zahl der Opfer hat die erste Million überschritten, in: Pogrom 213 (August 2002), Irak/Saddam Hussein: Der Henker von Bagdad, herausgegeben von der Gesellschaft für bedrohte Völker, S. 2 ff., veröffentlicht unter http://www.gfbv.ch/archiv/irak.html (Stand 20.07.2006). 13 Vgl. z. B. Gesellschaft für bedrohte Völker, Chronik des Schreckens unter Saddam Hussein: Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker (zusammengestellt von Tilman Zülch), veröffentlicht unter http://www.gfbv.de/inhaltsDok.php?id =576&highlight=Chronik|des|schreckens (Stand 26.07.2006). 14 Vgl. die Übersicht über die Vertragsparteien im Fundstellenverzeichnis B zum deutschen BGBl. II, abgeschlossen zum 31.12.2005, S. 697 ff. 15 Eine Vielzahl von vertraglichen Menschenrechtspakten enthalten heute das Folterverbot, wie beispielsweise Art. 7 S. 1 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 5 Ziff. 2 S. 1 Amerikanische Menschenrechtskonvention, Art. 3 EMRK, Art. 5 S. 2 der Afrikanischen Menschenrechtscharter (Banjul Charter), Art. 3 Ziff. 1 lit. a u. lit. c, Art. 17 Abs. 4 und Art. 87 Abs. 3 des III. Genfer Abkommens über die Behandlung von Kriegsgefangenen. Eingang gefunden hat das Verbot ferner in Art. 4 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in eine Vielzahl zwar nicht rechtlich verbindlicher, aber für den Menschenrechtsschutz politisch bedeutsamen Erklärungen, wie Art. 20 S. 2 der Kairo Deklaration der Konferenz islamischer Staaten, Art. 13 lit. a i. V. m. Art. 4 der am 15.09.1994 vom Rat der Arabischen Liga angenommen, als Vertrag aber bislang mangels Ratifikationen nicht in Kraft getreten arabischen Menschenrechtscharta. Alle diese Dokumente formulieren das Verbot der Folter schrankenlos und sind damit Indizien für eine völkergewohnheitsrechtliche Verfestigung der Norm im Rang von ius cogens. Vgl. im Übrigen zur gewohnheitsrechtlichen Geltung und zum Ius-Cogens-Charakter R. Kühner, Torture, in: R. Bern-

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Rom-Statut als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angesehen, Art. 7 Abs. 1 lit. f. Angesichts der in den Berichten erhobenen Vorwürfe ist zu überlegen, ob ein „straffreies Exil“ für Saddam Hussein überhaupt mit dem geltenden Völkerrecht zu vereinbaren gewesen wäre. Zwar war eine Gerichtsbarkeit des ICC weder ratione loci (Art. 12 Abs. 2 lit. a Rom-Statut) noch ratione personae (Art. 12 Abs. 2 lit. b Rom-Statut) über Saddam Hussein eröffnet, da der Irak als Ort der Taten und als Heimatstaat Husseins nicht Mitglied des Statuts ist. Eine Strafverfolgung durch den ICC wäre überhaupt nur dann in Betracht gekommen, wenn der UN-Sicherheitsrat in Wahrnehmung seiner Kompetenzen nach Kap. VII des Satzung der Vereinten Nationen (SVN) den ICC als Ad-hoc-Tribunal in Anspruch genommen hätte, was im Rom-Statut ausdrücklich als Möglichkeit vorgesehen ist (Art. 13b RomStatut).16 Ungeachtet der Zuständigkeitseröffnung im konkreten Fall ist das Rom-Statut aber Ausdruck für eine völkerrechtliche Strafwürdigkeit und Strafbarkeit der dort aufgeführten Verbrechen, worauf insbesondere die potentielle Ad-hoc-Zuständigkeit nach Art. 13 lit. b Rom-Statut hinweist. Vor diesem Hintergrund und bei Berücksichtigung der Normen, deren Einhaltung durch die generalpräventive Wirkung des Rom-Statuts geschützt werden soll, erscheint nicht nur das Angebot straffreien Exils an Saddam Hussein völkerrechtlich hoch problematisch. Es stellt sich darüber hinaus die allgemeine Frage, ob Amnestie, d.h. die Zusicherung einer generellen Straffreiheit für Taten einer Person oder Personengruppe in einem bestimmten Zeitraum, überhaupt noch als ein Mittel zur Beendigung oder zur Vermeidung bewaffneter Konflikte im geltenden Völkerrecht zulässig erscheint. Wer darf eine solche Amnestiezusicherung ggf. geben oder weitergehend einer beschuldigten Einzelperson unter Zusicherung der Straffreiheit Zuflucht gewähren? Wem gegenüber ist eine solche Zusicherung wirksam und welchen Verpflichtungsgrad genießt sie? Das Amnestieangebot an Saddam Husseins ist auch in der jüngeren Zeit kein Einzelfall. Idi Amin, dessen Gewaltherrschaft von 1971 bis 1978 in hardt, Encyclopedia of Public International Law, Vol. IV (2000), S. 868 ff. (870); ferner M. O’Boyle, Torture and Emergency Powers Under the European Convention on Human Rights: Ireland v. United Kingdom, AJIL Vol. 71 (1977), S. 674 ff. (687 f.). 16 Nach Art. 13 lit. b kann der ICC seine Gerichtsbarkeit über die in Art. 5 bezeichneten Verbrechen ausüben, wenn eine Situation dem Ankläger durch den nach Kap. VII SVN handelnden UN-Sicherheitsrat unterbreitet wird. Das Rom-Statut eröffnet dem Sicherheitsrat insofern die Möglichkeit, sich in Situationen, die unter Art. 39 SVN fallen, des ICC als Ad-hoc-Tribunals zu bedienen, unabhängig von dessen sonstiger Zuständigkeit, vgl. z. B. H.-P. Kaul, The International Criminal Court: Jurisdiction, Trigger Mechanism and Relationship to National Jurisdiction, in: M. Politi/G. Nesi, The Rome Statute of the International Criminal Court Aldershot (u. a.) 2001, S. 59 ff. (60).

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Uganda weit mehr als 100.000 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen, lebte bis zu seinem Tod 2003 mehr als zwei Jahrzehnte in seinem saudiarabischen Exil.17 In anderen Bürgerkriegen in Afrika wurde bis in die jüngste Vergangenheit hinein versucht, durch Amnestievereinbarungen zur Beendigung des bewaffneten Konfliktes und zu einem gemeinsamen Neuanfang der beteiligten Parteien zu kommen. In Angola war im Zusammenhang mit dem Waffenstillstandsabkommen von April 2002 ein Amnestiegesetz erlassen worden; bei der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommen wies der damalige stellvertretende Generalsekretär der Vereinten Nationen als VN-Vertreter ausdrücklich darauf hin, daß insoweit eine Amnestie für Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die VN nicht anerkannt würde.18 Auch im Falle des Bürgerkrieges in Sierra Leone wurde seitens der Vereinten Nationen ausdrücklich auf die Grenzen einer Amnestierung hingewiesen; der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen lehnte eine Geltung der für die Rebellenorganisation ausgehandelten Amnestieklausel für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen ausdrücklich ab.19 Kann auf eine Strafbarkeit aus Völkerstrafrecht heute wirksam verzichtet werden, wenn dies für Friedensvereinbarungen notwendig erscheint oder gilt der Satz: „Fiat iustitia, pereat mundus“?20 17 Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen, z. B. (ohne Autor) Porträt: Idi Amin, veröffentlicht unter http://www.heute.de/ZDFheute/drucken/1,3733,2060490, 00.html (Stand 27.07.2006); ferner den Beitrag zu Idi Amin unter http://de.wiki pedia.org/wiki/Idi_Amin (Stand: 18.07.2006). 18 Vgl. S. Fandrych, Angola: auf dem Weg vom militärischen zum politischen Frieden (August 2002; Kurzbericht aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit der Friedrich Ebert Stiftung), veröffentlicht unter http://library.fes.de/pdffiles/iez/50051.pdf (Stand 27.06.2006), S. 1 f.; vgl. ferner Amnesty International Deutschland, ai Jahresbericht 2003, Angola, veröffentlicht unter http://www2. amnesty.de (Stand 27.06.2006). 19 S/Res/1315 vom 14. August 2000, Preambel Para. 5/6: „. . . Recalling that the Special Representative of the Secretary-General appended to his signature of the Lomé Agreement a statement that the United Nations holds the understanding that the amnesty provisions of the Agreement shall not apply to international crimes of genocide, crimes against humanity, war crimes and other serious violations of international humanitarian law, reaffirming the importance of compliance with international humanitarian law, and reaffirming further that persons who commit or authorize serious violations of international humanitarian law are individually responsible and accountable for those violations and that the international community will exert every effort to bring those responsible to justice in accordance with international standards of justice, fairness and due process of law, . . .“; vgl. dazu B. Broomhall, International Justice and the International Criminal Court: Between Sovereignty and the Rule of Law (Oxford 2003), S. 95. 20 Lat., eigentlich: „Es geschehe Gerechtigkeit, auch wenn die Welt darüber zugrunde geht.“ Dieses lateinische Rechtssprichwort lässt zwei Deutungen zu: Je nach Übersetzung des Begriffes mundus kann man es im Sinne eines Gerechtigkeitsfana-

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Im folgenden soll auf die Frage nach den rechtlichen Möglichkeiten einer Generalamnestie zur Beilegung oder – wie im Falle des Irak – zur Vermeidung eines bewaffneten Konflikts in drei Schritten eingegangen werden: Zunächst soll die Amnestie als anerkanntes Mittel zur Konfliktbeendigung im klassischen Völkerrecht dargestellt werden (II.). Anschließend soll die Entwicklung von Amnestieverboten, die sich aus Normen des völkerrechtlichen Strafrechts ergeben, nach 1945 aufgezeigt werden (III.). Im dritten und letzten Schritt soll schließlich untersucht werden, ob diese Amnestieverbote insbesondere im Hinblick auf völkerrechtliche Pflichtenkollisionen Einschränkungen unterliegen (IV.). Angesichts des vorgegebenen Rahmens soll dabei nicht näher eingegangen werden auf Zusammenhänge mit der spezifischen Diskussion um die Immunität von Staatsoberhäuptern und Staatsorganen, die z. B. anläßlich des Streites zwischen Belgien und Kongo vor dem IGH oder auch im Pinochet-Fall vor dem Britischen Oberhaus intensiv diskutiert wurden.

II. Amnestie als ein Kerngedanke friedensvertraglicher Regelungen im klassischen Völkerrecht Amnestie bedeutet in seiner ursprünglichen aus dem Griechischen und Lateinischen stammenden Wortbedeutung „Vergessen“ und „Vergeben“.21 Bezogen auf Taten im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bedeutet Amnestie die Zusicherung der Straffreiheit. Diese kann sich auf bestimmte Taten der begünstigten Personen oder Personengruppen im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt beziehen oder – dann kann man von einer Generalamnestie sprechen – auf alle im Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt begangenen Straftaten. Amnestieklauseln lassen sich in Friedensverträgen von den Anfängen des abendländischen Völkerrechts an nachweisen. Schon der für die europäische Geschichte so zentrale Westfälische Frieden von 1648 ordnet den übereintismus verstehen oder aber als Postulat, das Recht nicht zugunsten der Mächtigen zu relativieren. Im letzteren Sinne übersetzt Immanuel Kant den Satz in seinem Traktat „Zum Ewigen Frieden“ mit den Worten „Es herrsche Gerechtigkeit, die Schelme in der Welt mögen auch insgesamt darüber zu Grunde gehen“, vgl. Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kants gesammelte Schriften (photomechanischer Nachdruck Berlin 1968), Band 8, S. 341 ff. (378). Das Sprichwort lässt sich im Übrigen lange zurückverfolgen; schon Kaiser Ferdinand I. soll es sich als Wahlspruch ausgesucht haben; zur Verwendung des Satzes in der Geschichte vgl. die knappe Darstellung in: D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 3. Auflage, München 1983, S. 73 f. 21 Vgl. z. B. H. Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, 9. Auflage, Hannover und Leipzig 1913, S. 385.

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stimmenden Artikeln 2 der Verträge von Osnabrück und Münster eine für die eine wie die andere Seite geltende „perpetua oblivio et amnestia“ all dessen an, was in Worten, Schreiben, Greueltaten, in Gewalttaten, Feindseligkeiten, an Schäden und Kosten entstanden ist.22 Die Bedeutung dieser Bestimmung des Friedensschlusses wird plastisch, wenn man sich die Verwüstungen, die der 30jährige Krieg mit sich brachte, vor Augen führt. Deutschland verlor im 30jährigen Krieg nach historischen Darstellungen ca. ein Drittel seiner Gesamtbevölkerung. Ein noch früheres Vorbild hat dieser Artikel beispielsweise in der aus dem Jahre 1215 entstammenden Amnestieregelung des Art. 62 der Magna Charta Libertatum, die den Konflikt zwischen Johann ohne Land und dem englischen Adel beendete: „(. . .) all the ill-will, hatreds, and bitterness that have arisen between us and our men (. . .) we have completely remitted and pardoned to every one. (. . .)“.23 Die Magna Charta Libertatum beendete einen Konflikt innerhalb der englischen Monarchie; sie stellte aber auch gleichzeitig das Ergebnis einer quasi vertraglichen Beendigung einer Bürgerkriegssituation durch die Konfliktparteien dar und ist so für viele friedensvertragliche Regelungen vor dem Versailler Vertrag zum Vorbild geworden.24 Eine wechselseitig zwischen den Kriegsgegnern vereinbarte Generalamnestie findet sich beispielsweise in Art. 3 des Friedensvertrages von Nijnwegen 1678, in Art. 2 des Friedens von Utrecht 1713, in Art. 2 des Stockholmer Friedens von 1720, in Art. 2 des Friedensvertrages von Aachen 1748 und im Frieden von Paris 1763.25 In anderen Verträgen sind Amnestieregeln als Privilegierung, die auf eine Kriegspartei oder bestimmte Personengruppen begrenzt ist, enthalten.26 Begrifflich unterschieden werden im Schrifttum weiter die Amnestie im weiten Sinne, die alle Straftaten, die während und im Zusammenhang eines Krieges durch Angehörige einer der kriegführenden Mächte begangen wurden, umfaßt, und die Amnestie im engeren Sinne, die lediglich bestimmte politische Straftaten vor und während eines Krieges betrifft.27 Unabhängig aber davon, ob eine Generalamnestie für Personen aller an einem bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien oder aber nur für Angehö22 Vgl. die von K. Müller bearbeitete Textausgabe „Instrumenta Pacis Westphalicae“, 2. Aufl. Bern 1966; eine englische Übersetzung findet sich bei C. Parry (ed.), The consolidated Treaty Series, Vol. 1 (1969). 23 Zitiert bei F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Band „Kriegsrecht“, 2. Aufl. 1969, S. 69. 24 Vgl. F. Berber (Fn. 23). 25 Vgl. H. Kruse, Amnestieklausel, in: K. Strupp/H. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 1. Band (2. Auflage 1960), S. 40 ff. (40). 26 Vgl. die zusammenfassende Darstellung (Fn. 25). 27 Ebenda.

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rige einer (meist der siegreichen) Partei gelten sollte, ob es um eine Amnestie im engeren oder weiteren Sinne geht, Ziel von Amnestieregelungen war es, einen erneuten Ausbruch des Konfliktes zwischen den ehemaligen Gegnern zu verhindern, der sich ansonsten am Streit um die im beendeten Krieg begangenen Taten hätte neu entzünden können. Auch soll die Aussicht auf Straflosigkeit die persönliche Bereitschaft zur Beendigung der Kampfhandlungen fördern. Ursprünge des Amnestiegedankens gehen dabei durchaus von einer individuellen Verantwortung des einzelnen für seine Teilnahme an einem ungerechten Krieg aus. Hugo Grotius nimmt beispielsweise in seinem berühmten „de iure belli ac pacis“ eine individuelle Verantwortung für die Teilnahme an einem ungerechten Krieg an.28 Im Rahmen einer Friedensregelung aber soll es nach Grotius – gleichwohl und gleichsam automatischen – zum Erlaß bestimmter Strafen kommen: „Strafen müssen, soweit sie Könige oder Völker treffen, als erlassen gelten, weil ein Friede nicht sicher ist, wenn die Ursachen des Krieges fortbestehen.“ (3. Buch, 20. Kapitel, para. XVII.)29 Hinsichtlich der Strafen, auf die Privatpersonen einen Anspruch haben, soll dies zwar nicht gelten, aber „da die Einforderung von Strafen immer etwas Häßliches an sich hat, so genügt auch schon eine 28 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicantur Paris, 1625 (curavit B. J. A. de Kanter/van Hettinga Tromp, editionis anni 1939 quae Lugduni Batavorum in aedibus E. J. Brill emissa est, exemplar photomechanice iteratum, annotationes novas addiderunt R. Feenstra et C. E. Persenaire adiuvante E. Arps-De Wilde, Aalen 1993), 3. Buch 10. Kapitel, para. IV : „Ad restitutionem autem tenentur secundam ea quae generaliter a nobis alibi explicata sunt belli auctores, sive potestatis iure, sive consilio, de his scilicet omnibus quae bellum consequi solent: etiam de insolitis, si quid tale iusserunt, aut suaserunt, aut cum impedire possent non impedierunt. Sic et duces tenentur de his quae suo ductu facta sunt: et milites in solidum omnes qui ad actum aliquem communem, puta urbis incendium, concurrent: in actibus dividuis pro damno quisque cuius ipse causa unica, aut certe inter causas fuit.“; deutsche Übersetzung in: Hugo Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Walter Schätzel, Die Klassiker des Völkerrechts, Band I, Tübingen 1950, S. 500: „Nach den früher dargelegten Grundsätzen sind die Urheber des Krieges zum Ersatz verpflichtet, mögen sie durch Ausübung der Staatsgewalt oder durch ihren Rat dazu mitgewirkt haben, und zwar für alles, was bei dem Krieg zu geschehen pflegt; selbst für das Ungewöhnliche, wenn sie es befohlen oder empfohlen oder nicht gehindert haben, obgleich sie es konnten. Deshalb sind auch die Führer für das, was unter ihrer Führung geschehen ist, verantwortlich, und die Soldaten haften sämtlich einer für alle und alle für einen, wenn sie gemeinsam eine Tat, z. B. die Anzündung einer Stadt, begangen haben. Bei teilbaren Handlungen haftet jeder für das, was er getan oder mitgetan hat.“. 29 Hugo Grotius, zitiert nach der oben (Fn. 28) angegebenen lateinischen Textausgabe: „(. . .) Nam id ius quatenus inter ipsos reges aut populos versatur remissum ideo censeri debet, ne pax non satis pax sit si veteres ad bellum causas relinquat.“; Übersetzung im Text in Anlehnung an W. Schätzel (Fn. 28), S. 563.

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leichte dahingehende Wortwendung zu der Annahme, daß auch diese Privatstrafen erlassen sein sollen.“ (3. Buch, 20. Kapitel, para. XVIII)30 In der weiteren Entwicklung des Völkerrechts war die Amnestieklausel so verbreitet, daß eine intensive Auseinandersetzung darüber erfolgte, ob eine gegenseitige Amnestie – unabhängig vom Bestehen einer ausdrücklichen Regelung – als Inhalt eines jeden Friedensvertrages anzusehen war. Emeric de Vattel (1714–1767) beispielsweise betrachtete die Amnestie als Kern eines jeden Friedensvertrages – selbst dann, wenn keine ausdrückliche Regelung enthalten sein sollte.31 Hingegen verlangte Johann Jacob Moser (1701–1785) schon im 18. Jahrhundert eine ausdrückliche Vereinbarung als Grundlage einer Amnestieregelung.32 Heute hat sich diese Frage erledigt, ob eine Amnestie inzident Bestandteil eines jeden Friedenschlusses ist. Im geltenden Völkerrecht ist vielmehr zu überlegen, ob Amnestieregelungen überhaupt noch zulässig sind. Grund hierfür ist die Emanzipation des Individuums als Rechtssubjekt sui generis, als unmittelbarer Träger von Rechten und Pflichten in der Völkerrechtsordnung.

III. Zur Entwicklung von Amnestieverboten im Völkerrecht nach 1945 In der Ordnung des klassischen Völkerrechts, das als Rechtssubjekte allein Staaten und einige wenige Internationale Organisationen kannte, stellten Amnestieregelungen kein rechtsdogmatisches Problem dar. Der Strafanspruch stand allein Staaten zu und damit auch – fast automatisch – die Möglichkeit, auf ihr Recht zur Ausübung von Strafgewalt zu verzichten. Der eingangs schon kurz angesprochene Wandel der Völkerrechtsordnung mit dem Erstarken des Individuums zum Rechtssubjekt sui generis, der sich im wesentlichen nach 1945 vollzog, veränderte diese Lage grundlegend. Teil dieser Entwicklung ist auch die Herausbildung eines völkerrechtlichen Strafrechts. Nicht nur die Menschenrechte der eigenen Staatsangehörigen sind als eigenständige Rechte des Individuums der ausschließlichen Verfügungsgewalt des Staates entzogen. Auch die völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit seiner Hoheitsgewalt unterworfenen Menschen ist für einen Staat nicht disponibel. 30

Übersetzung nach W. Schätzel (Fn. 28), S. 563. E. de Vattel, Droit des Gens, 1758, Livre IV, Chap. II, para. 20: „. . . mais quand le Traité n’en diroit pas un mot, l’Amnistie y est nécessairement comprise, par la nature même de la Paix:“, zitiert bei F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Band „Kriegsrecht“, 2. Aufl. 1969, S. 109 Fn. 2. 32 Vgl. das Zitat bei H. Kruse, Amnestieklausel, in: K. Strupp/H. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, 1. Band (2. Auflage 1960), S. 40 ff. (41). 31

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Zwar lassen sich einzelne Ansätze für ein völkerrechtliches Strafrecht schon vor 1945 finden: Anführen läßt sich insoweit Art. 4 des Friedensvertrages von Pretoria 1902 am Ende des Burenkrieges, nach dem die burischen Generäle bestraft werden sollten. Ein weiteres bekanntes Beispiel stellt Art. 227 des Versailler Friedensvertrages dar, der nach dem Ersten Weltkrieg eine Anklage gegen den ehemaligen deutschen Kaiser wegen „schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge“ vorsah.33 Diese Beispiele weisen zwar darauf hin, daß man zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein völkerrechtliches Strafrecht für denkbar hielt.34 Die Ansätze sind aber dem damals geltenden Völkerrecht als Gesamtsystem noch fremd und werden durchaus auch kritisch als in ihrer Einseitigkeit „Rebarbarisierung“ der Friedensvertragspraxis (Berber) gesehen, als Rückfall in ein „vae victis“.35 Den entscheidenden ersten Wendepunkt hin zu einem völkerrechtlichen Strafrecht stellt der Zweite Weltkrieg mit einer ganz neuen Qualität von Verbrechen dar. Ein Zitat aus einem Urteil des Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg läßt den zugrundeliegenden Verständniswandel deutlich werden: „Crimes against international law are committed by men, not by abstract entities, and only by punishing individuals who commit such crimes can the provision of international law be enforced“.36 Die Entwicklung des Völkerstrafrechts nach Nürnberg erfolgte dann in zwei verschiedenen Abschnitten. Nach dem Internationalen Militärgerichtshöfen von Nürnberg und Tokio hatten Bemühungen zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichts lange keinen Erfolg.37 Man begnügte sich mit der Kodifikation von Normen des materiellen völkerrechtlichen Strafrechts, völkerrechtliche 33 Zu diesen Beispielen ausführlich D. Blumenwitz, Die Strafe im Völkerrecht, Zeitschrift für Politik 1997, 324 ff. (325). 34 So D. Blumenwitz (Fn. 33), S. 326. 35 F. Berber, Lehrbuch des Völkerrechts, II. Band „Kriegsrecht“, 2. Aufl. 1969, S. 110. 36 Abgedruckt bei L. Henkin/R. Crawford Pugh/O. Schachter/H. Smit, International Law, Cases and Materials, 3rd ed. 1998. 37 Schon am 9. Dezember 1948 forderte die Generalversammlung in Teil B der Res. 260 (III) vom 09.12.1948, abgedruckt in: D. J. Djonovich (ed.), United Nations Resolutions, Series I Resolutions Adopted by the General Assembly. Vol. II (1948–1949), S. 241, die International Law Commission auf, „to study the desirability and possibility of establishing an international judicial organ für the trail of persons charged with genocide or other crimes over which jurisdiction will be conferred upon that organ by international conventions“; dabei wurde ursprünglich auch die Möglichkeit der Bildung einer Strafkammer beim IGH in die Überlegungen miteinbezogen. Vgl. zur Idee eines Internationalen Strafgerichtshofes in den Vereinten Nationen z. B. B. B. Ferencz, International Criminal Court, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Vol. II (1995), S. 1123 ff.; D. Oehler, Internationales Strafrecht (2. Auflage 1983), Rn. 1066.

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Normen also, aus denen sich die Strafbarkeit eines Verhaltens ergibt. Der Vollzug dieser Normen erfolgte dabei aber durch die Verpflichtung zur Schaffung entsprechender Normen im nationalen Recht und zur Verfolgung durch nationale Gerichte. Erst Jahre später hat man sich auch auf die Einsetzung internationaler Verfolgungsinstanzen geeinigt, zunächst mit der Einrichtung von VN-Strafgerichtshöfen für das ehemalige Jugoslawien38 und für Ruanda39 und in der jüngeren Zeit durch den Internationalen Strafgerichtshof des Rom-Statuts.40 Beide Entwicklungsabschnitte führen aber zu Amnestieverboten auf der völkerrechtlichen Ebene. 1. Amnestieverbote des materiellen völkerrechtlichen Strafrechts Zu den Normen des materiellen völkerrechtlichen Strafrechts, die einer Generalamnestie entgegenstehen, gehört die Völkermordkonvention vom 9. Dezember 194841. In Art. I dieser Konvention bestätigen die Vertragsstaaten, „daß Völkermord, ob im Frieden oder Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht“ darstellt. Sie verpflichten sich gleichzeitig, zu dessen Verhütung und Bestrafung. In Ergänzung dazu sieht Art. VII dieser Konvention eine Auslieferungsverpflichtung der Vertragsstaaten „gemäß ihren geltenden Gesetzen und Verträgen“ vor. Die in der Völkermordkonvention vorgesehenen Schutzmechanismen sind zwar völlig zu Recht als unzureichend kritisiert worden;42 im Zusammenhang mit der 38 Vgl. UN Security Council S/RES/808 v. 22.02.1993 = (dt.) VN 1993, 71; darin wurde die Einsetzung eines Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien beschlossen. 39 Res. 955 (1994) vom 8. November 1994; darin beschloß der Sicherheitsrat die Schaffung eines internationalen Gerichts zur „Verfolgung der Personen, die für Völkermord und andere schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Hoheitsgebiet Ruandas zwischen dem 1. Januar 1994 und dem 31. Dezember 1994 verantwortlich sind, und der Verfolgung ruandischer Staatsangehöriger, die für während des selben Zeitraums im Hoheitsgebiet von Nachbarstaaten begangenen Völkermord und andere derartige Verstöße verantwortlich sind“. 40 Vgl. zu einer ersten Würdigung des Statuts den Beitrag des damaligen Außenministers der Bundesrepublik Deutschland, Klaus Kinkel, Der Internationale Strafgerichtshof – ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts, NJW 1998, S. 2650 f.; ferner C. Tomuschat, Die Friedenswarte 73 (1998), S. 335 ff.; zur Entwurfsphase vgl. z. B. H.-P. Kaul, VN 1997, S. 177; A. Zimmermann, ZaöRV 58 (1998), S. 47 ff. 41 Internationale Quelle: UNTS Bd. 78, S. 277; deutsche Quelle: BGBl. 1954 II, S. 730 ff. 42 Art. VI der Völkermordkonvention sieht keine Verfolgung im Rahmen des Weltrechtsprinzips vor. Kompetent zur Verfolgung von Völkermord ist nach der

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Frage der Amnestie ist aber allein entscheidend, daß eine Amnestierungsmöglichkeit in der Konvention nicht vorgesehen ist. Aus der in Art. 1 und Art. 7 Völkermordkonvention geregelten Pflicht zur Bestrafung oder Auslieferung ergibt sich somit ein Amnestieverbot.43 Im übrigen ist Völkermord auch völkergewohnheitsrechtlich als Straftatbestand anerkannt und begründet ebenfalls ein Amnestieverbot.44 Eine Generalamnestie schließen nach ihrem Wortlaut ebenfalls die vier Genfer Abkommen sowie das dazu erlassene Erste Zusatzprotokoll aus. Art. 49 der Ersten, Art. 50 der Zweiten, Art. 129 der Dritten und Art. 146 der Vierten Genfer Konvention sowie Art. 85 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen enthalten die Verpflichtung der Vertragsstaaten, schwere Verstöße gegen die Abkommen zu verfolgen – unabhängig von der Nationalität desjenigen, der die Verstöße begangen hat und ohne Einschränkung hinsichtlich des Tatorts der Verletzung.45 Am deutlichsten ist der Ausschluß einer Amnestierung im Rahmen der UN-Anti-Folterkonvention vom 10. Dezember 1984.46 Art. 5 Abs. 2 sieht eine obligatorische Gerichtsbarkeit vor, die alle Verdächtigen erfaßt, die sich in einem „der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates unterstehenden Gebiet befindet“, wenn dieser Staat die Verdächtigen nicht zur Verfolgung an einen anderen Staat ausliefert. Ein „Save Haven“ für die Täter von Folter ist somit – zumindest in den Vertragsstaaten – ausgeschlossen.

Konvention „ein zuständiges Gericht des Staates, in dessen Gebiet die Handlung begangen worden ist“ oder „das internationale Strafgericht, das für die vertragsschließenden Parteien, die seine Gerichtsbarkeit anerkannt haben, zuständig ist“; vgl. C. Tomuschat, Duty to Prosecute International Crimes Committed by Individuals, in: Festschrift für Steinberger, S. 315 ff. (329) 43 G. Hafner/Kristen Boon/Anne Rbesame/Jonathan Huston, A Response to the American View As Presented By Ruth Wedgwood, EJIL 1999, S. 108 ff.; der IGH stellte in seiner Entscheidung Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, Preliminary Objections, ICJ Reports 1996, S. 595 (616; para. 31) fest, dass die Verpflichtung eines jeden Staates Völkermord zu verhindern und zu bestrafen durch die Konvention nicht territorial eingeschränkt wird. 44 Vgl. insoweit das Gutachten des IGH, ICJ Reports 1951, S. 15 (23). 45 Vgl. dazu C. Tomuschat, Duty to Prosecute International Crimes Committed by Individuals, in: Festschrift für Steinberger, S. 315 ff. (333). 46 Internationale Quelle: UNTS Vol. 1465, S. 85; deutsche Quelle BGBl. 1990 II, S. 246.

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2. Amnestieverbote im Hinblick auf die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nach dem Rom-Statut Ein Amnestieverbot ergibt sich zudem auch aus dem Rom-Statut als Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofes, der im Jahre 2002 seine Arbeit aufnahm. Der Strafgerichtshof hat die Kompetenz zur Verfolgung von vier Kernverbrechen, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen des Angriffskrieges. Abgesehen von dem Fall, daß ihm Ländersituationen durch Resolution des UN-Sicherheitsrates überwiesen werden, ist er zuständig, wenn entweder der Staat, dessen Angehöriger der mutmaßliche Täter ist oder der Staat, in dem die Tat begangen wurde, Vertragspartei des Gerichtsstatutes ist.47 Die Frage der Amnestierung wurde im Vorfeld der Verabschiedung des Rom-Statuts intensiv diskutiert. Ein Non-Paper, das die Vereinigten Staaten im Rahmen einer Sitzung des Vorbereitungskomitees einbrachten, schlug vor, die Entscheidung einer demokratischen Regierung für eine Amnestie bei der Frage der Zulässigkeit einer Strafverfolgung zu berücksichtigen.48 Eine Gegenposition hierzu nahm beispielsweise der UN-Generalsekretär ein, der in seinem Jahresbericht 1998 erklärte, das Ziel des Internationalen Strafgerichtshof sei es, die weltweite Kultur der Straflosigkeit schwerster Verbrechen zu beenden, einer Kultur (Zitat) „in der es einfacher ist den Täter eines Mordes zu verurteilen als den Täter 100.000 Morde“.49 Das Statut – wie es letztlich in Kraft getreten ist – sieht nach seinem Wortlaut keine Möglichkeit zur Berücksichtigung einer Amnestie vor. Lediglich ein entsprechendes Ersuchen des UN-Sicherheitsrates hat gemäß Art. 16 des Statutes ein Untersuchungs- und Verfolgungsmoratorium von 12 Monaten zur Folge, das danach wiederum durch den Sicherheitsrat verlängert werden kann.50 Die Vertragsstaaten sind gemäß Art. 89 Abs. 1 S. 2 des Statuts 47

Vgl. Art. 13 lit. a und lit. c i. V. m. Art. 12 Ziff. 2 und Art. 15 des Statuts. Vgl. R. Wedgwood, The International Criminal Court: An American View, EJIL 1999, S. 93 ff. (96). 49 G. Hafner/Kristen Boon/Anne Rbesame/Jonathan Huston, A Response to the American View As Presented By Ruth Wedgwood, EJIL 1999, 108 ff. (110). 50 Eine Befreiung ihrer Staatsangehörigen von einer Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof durch Resolutionen des Sicherheitsrates erreichten die USA zweimal. S/Res./1422 (2002) vom 13.07.2002 und S/Res./1487 (2003) vom 12.06.2002 nahmen aktive oder ehemalige Verantwortliche und Personal von UN-Einsätzen von der Strafgerichtsbarkeit des ICC aus, wenn diese einem Staat angehören, der nicht Vertragspartei des Rom-Statuts war. Eine weitere Verlängerung dieser jeweils auf ein Jahr befristeten Beschlüsse im Juni 2004 konnte dann von den USA nicht mehr durchgesetzt werden; vgl. dazu: T. Stein, Die Bilateral Immunity Agreements der USA und Art. 98 Rom-Statut, in: J. Bröhmer/R. Bieber/C. Calliess/ 48

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i. V. m. Art. 88 des Statuts zur Auslieferung von Personen auf Ersuchen des Internationalen Strafgerichtshof verpflichtet, sofern sich die betreffende Person auf ihrem Staatsgebiet befindet. Diese Verpflichtung steht einer Amnestiegewährung für Taten entgegen, die unter die Jurisdiktion des Strafgerichtshofes fallen. Ein Überstellungsgesuch durch den Gerichtshof ist zwar nach Art. 98 Abs. 2 Rom-Statut dann ausgeschlossen, wenn der ersuchte Staat zu dessen Erfüllung gegen eine andere völkerrechtliche Verpflichtung verstoßen müßte; diese Ausnahme schränkt das Amnestieverbot durch das Rom-Statut allerdings nur wenig ein, zumal die Praxis der nach dem Beitritt zum Rom-Statut vereinbarten bilateraler Immunity Agreements, wie sie auf Betreiben der USA zustande gekommen sind, völkerrechtswidrig ist.51

IV. Zulässigkeit von Generalamnestien im Rahmen völkerrechtlicher Pflichtenkollisionen? Trotz dieser Amnestieverbote des materiellen Völkerstrafrechts und des Rom-Statuts bleibt die Frage, ob aus anderen Normen des Völkerrechts eine Generalamnestie als Mittel zur Beendigung eines bewaffneten Konflikts auch heute noch gerechtfertigt sein kann. Das völkerrechtliche Strafrecht ist heute ein wichtiges Instrument zum Schutz vor allem individueller Rechte in der Völkerrechtsordnung. Einigen zentralen Grundlagen des materiellen Völkerstrafrechts – insbesondere dem Verbot des Völkermordes – kommt ein herausgehobener Geltungsrang als Norm des ius cogens zu. Mit dem Inkrafttreten des Rom-Statuts52 und der Bildung des International Criminal Court ist ein weiterer entscheidender Fortschritt gelungen.53 Die Einhaltung der Verpflichtungen des materiellen Völkerstrafrechts und der Verwirklichung der rechtlich vorgesehenen Durchsetzungsmechanismen liegen im Interesse der gesamten Staatengemeinschaft – wirken also erga omnes – und sind deshalb auch nicht frei für den einzelnen Staat disponibel. C. Langenfeld/S. Weber/J. Wolf (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, Festschrift für G. Ress (2005), S. 295 ff. (297). 51 Vgl. dazu T. Stein (Fn. 50), S. 298 ff. 52 Das Statut ist im Internet eingestellt unter: http://www.un.org/icc. und abgedruckt in: Die Friedenswarte 73 (1998), S. 348 ff. 53 Vgl. zu einer ersten Würdigung des Statuts den Beitrag des damaligen Außenministers der Bundesrepublik Deutschland, Klaus Kinkel, Der Internationale Strafgerichtshof – ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts, NJW 1998, S. 2650 f.; ferner C. Tomuschat, Die Friedenswarte 73 (1998), S. 335 ff.; zur Entwurfsphase vgl. z. B. H.-P. Kaul, VN 1997, S. 177; A. Zimmermann, ZaöRV 58 (1998), S. 47 ff.

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Allerdings stehen die Normen des Völkerstrafrechts in der Völkerrechtsordnung nicht allein. Sie treten in Wechselwirkung mit Normen von vergleichbar hohem Rang. Im Rahmen eines unmittelbar bevorstehenden oder eines schon existenten bewaffneten Konflikts berechtigen das universelle Gewaltanwendungsverbot, der Schutz grundlegender individueller Menschenrechte der von Kampfhandlungen betroffenen Menschen und das Interesse an der Erhaltung und Sicherung des Weltfriedens zu konfliktvermeidenden oder beendenden Maßnahmen. Darauf, daß sich insbesondere im Rahmen von Bürgerkriegen Situationen ergeben können, in denen umfassende Amnestieklauseln einen Weg zur Konfliktbeendigung darstellen können, weist das Zweite Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen hin. Dieses regt in Art. 6 Abs. 5 eine „möglichst weitgehende Amnestie“ für diejenigen Personen an, „die am bewaffneten Konflikt teilgenommen haben oder denen aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt die Freiheit entzogen wurde, gleichviel ob sie interniert oder in Haft gehalten sind.“ Darüber hinaus sind auch im Rahmen von Kriegen zwischen zwei Staaten – gerade wenn sie länger andauern – auch heute noch Einzelsituationen denkbar, in denen eine Amnestierung der wechselseitigen Straftaten als aussichtsreichster Schritt zur Überwindung der Gewalt erscheint. In diesen Fällen tritt das völkerrechtliche Strafinteresse an der Durchsetzung der Strafnormen in Konkurrenz mit dem Streben nach Beendigung der Gewalt. Wie kann ein solcher potentieller Konflikt gelöst werden? Möglichkeiten zu einer umfassenden Amnestierung zur Wiederherstellung des Weltfriedens hat jedenfalls der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zwar stehen die Vereinten Nationen nicht außerhalb des Rechts. Eine grundsätzliche Bindung des Sicherheitsrates an die materiellen Amnestieverbote läßt sich insbesondere aus der Zielbestimmung des Art. 1 Abs. 3 2. HS SVN (Förderung der Menschenrechte und Grundfreiheiten) und aus der Zielbestimmung des dritten Absatzes der Präambel (Achtung des Völkerrechts als Ziel) ableiten. Dem Sicherheitsrat kommt allerdings auch die Hauptaufgabe zur Sicherung des Weltfriedens zu (Art. 24 SVN). Dazu besitzt er insbesondere weitreichende Handlungskompetenzen auf der Grundlage des VII. Kapitels der SVN zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Wenn aus seiner Sicht die Anordnung einer Generalamnestie zur Herstellung oder Erhaltung des Friedens notwendig erscheint, kann er in einer solchen konkreten Pflichtenkollision zu diesem Mittel greifen, auch wenn dies dazu führt, daß Verstöße gegen das Völkermordverbot, das Folterverbot oder Verstöße gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht ungesühnt bleiben. Der Sicherheitsrat hat die Kompetenz zu entscheiden, ob im konkreten Fall eine andere Norm des Völkerrechts hinter dem Interesse an der Wiederherstellung oder Erhaltung des Weltfriedens zurückstehen muß. Eine solche Amnestie würde – bei entsprechender For-

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mulierung der Resolution – im übrigen auch alle UN-Mitgliedstaaten binden und könnte nur durch eine spätere Sicherheitsratsresolution aufgehoben werden. Die Bestimmung des Art. 16 Rom-Statut, wonach auf Bitten des Sicherheitsrates die Verfolgung und Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof für 12 Monate ausgesetzt werden kann, vermag den Sicherheitsrat in seiner Kompetenz nicht einzuschränken. Die SVN geht nach ihrem Art. 103 allen anderen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten vor. Diese sind verpflichtet, einer vom Sicherheitsrat auf der Basis von Kapitel VII angeordneten dauerhaften Amnestie Folge zu leisten. Da alle Mitglieder des RomStatuts auch Mitglieder der UNO sind, ist davon auszugehen, daß die Beachtlichkeit von Resolutionen nach Kapitel VII SVN über den Anwendungsbereich des Art. 16 Rom-Statut hinaus stillschweigend mit vereinbart gilt. Ob auch Staaten sich im Interesse der Beendigung eines Krieges oder Bürgerkrieges über die materiellen Amnestieverbote oder über eine möglicherweise bestehende Bindung an das Rom-Statut hinwegsetzen dürfen, erscheint hingegen wesentlich problematischer. Hier fehlt es an einer besonderen Kompetenz, wie sie der VN-Sicherheitsrat als Hauptorgan der Vereinten Nationen innehat. Gleichwohl darf bei klarem Überwiegen der Interessen an einem effektiven Schutz elementarer Menschenrechte, die durch die Fortdauer des Konflikts gefährdet erscheinen, oder an der künftigen Einhaltung des Gewaltverbots auch eine Amnestie und/oder ggf. ein straffreies Exil durch einzelne Staaten angeboten werden. Beschränkt ist diese Ausnahme allerdings auf wenige Fälle, in denen die Generalamnestie als unbedingt notwendiges Mittel für die Überwindung eines bewaffneten Konflikts erscheint. Um insoweit auf das Eingangsbeispiel zurückzukommen: Saddam Hussein werden seit langem und substantiiert Kriegsverbrechen, Folterungen, Völkermord an Kurden und Schiiten und die Verantwortung für Angriffshandlungen vorgeworfen. Verbrechen, die in der Terminologie des Rom-Statuts (Art. 5 Abs. 1) als „most serious crimes to the international community as a whole“ gekennzeichnet sind. Saddam Hussein wurde allerdings zu keinem Zeitpunkt von der Jurisdiktionsgewalt des Internationalen Strafgerichtshofs erfaßt, dessen Zuständigkeit insoweit weder ratione loci über den Ort der Verbrechen noch ratione personnae über die Staatsangehörigkeit des Beschuldigten entsprechend Art. 12 des Statuts begründet ist. Amnestieverbote ergeben sich demnach allein aus den oben genannten materiellen Gesichtspunkten. Das zitierte Angebot der Vereinigten Staaten im Vorfeld des Konfliktes auf straffreies Exil und damit Amnestie vermag einer rechtlichen Prüfung insoweit schon deshalb nicht standzuhalten, da die USA die Vermeidung des Konflikts auf anderem Wege in der Hand hatten.

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V. Zusammenfassung Für die Durchsetzung der Menschenrechte ist die Schaffung von Normen, die zur Verfolgung von schwersten Verletzungen verpflichten und eine Amnestierung verbieten, ein großer Schritt. Die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ist ein weiterer – auch wenn die Möglichkeiten eines Internationalen Strafgerichtshofes zwangsläufig beschränkt sind. Allerdings ist es unter den Realitäten der gegenwärtigen Völkerrechtsgemeinschaft auch heute geboten, in Einzelfällen zugunsten der Verwirklichung anderer höchstrangiger Werte der Völkerrechtsordnung Ausnahmen zuzulassen. Eine Generalamnestie für einzelne Personen oder für ganze Personengruppe mag zwar auch dann dem Gerechtigkeitsempfinden zuwiderlaufen. Es vermag aber auch noch heute der Gedanken Hugo Grotius im Schlußkapitel des dritten und letzten Buches seines Werkes „De iure belli ac pacis“ im Kern zu überzeugen: „Pax ergo tuta satis haberisi potest, et malefactum et damnorum et sumtuum condonatione non male constat; (. . .).“54; in der Übersetzung von Schätzel: „Kann man also einen sicheren Frieden erlangen, so geziemt es sich, die Übeltaten und die Schädigungen und den Aufwand zu vergeben und zu vergessen; (. . .).“55 Wenn die Gewalt in Einzelfällen nicht anders zu durchbrechen ist, wenn ein blutiger Konflikt nicht anders zu einem Ende zu bringen ist, dann darf sich die Völkerrechtsgemeinschaft auch dem Gedanken der Amnestie nicht verschließen.

VI. Thesen 1. Amnestie als ein Kerngedanke friedensvertraglicher Regelungen im klassischen Völkerrecht 1. Amnestie bedeutet in seiner ursprünglichen aus dem Griechischen und Lateinischen stammenden Wortbedeutung „Vergessen“ und „Vergeben“. Bezogen auf Taten im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bedeutet Amnestie die Zusicherung der Straffreiheit. 54 Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres in quibus ius naturae et gentium item iuris publici praecipua explicantur, Paris 1625 (curavit B. J. A. de Kanter/van Hettinga Tromp, editionis anni 1939 quae Lugduni Batavorum in aedibus E. J. Brill emissa est, exemplar photomechanice iteratum, annotationes novas addiderunt R. Feenstra et C. E. Persenaire adiuvante E. Arps-De Wilde, Aalen 1993), Lib. III, Cap. XXV para. III, S. 878. 55 Hugo Grotius, Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens, ins Deutsche übersetzt und herausgegeben von Walter Schätzel, Die Klassiker des Völkerrechts, Band I, Tübingen 1950, S. 597.

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2. Amnestieklauseln lassen sich in Friedensverträgen von den Anfängen des abendländischen Völkerrechts an nachweisen, z. B. in den übereinstimmenden Artikeln 2 der Verträge des Westfälischen Friedens von 1648 („perpetua oblivio et amnestia“). 3. In vielen späteren Verträgen sind Amnestieklauseln enthalten, teils als wechselseitig zwischen den Kriegsgegnern vereinbarte Generalamnestie, teils begrenzt auf eine Kriegspartei oder eine bestimmte Personengruppen. 4. Proklamiertes Ziel der Amnestieregeln war es, einen erneuten Ausbruch des Konfliktes aus Anlaß des Streits um die im beendeten Krieg verwirklichten Taten zu verhindern und die persönliche Bereitschaft zur Beendigung der Kampfhandlungen zu fördern. 5. Nach Hugo Grotius soll es im Rahmen einer Friedensregelung gleichsam automatisch zum Erlaß bestimmter Strafen kommen: „Strafen müssen, soweit sie Könige oder Völker treffen, als erlassen gelten, weil der Friede keine Sicherheit haben würde, wenn die alten Ursachen des Krieges gültig bleiben.“ (De jure belli ac pacis, 3. Buch, 20. Kapitel, XVII., dt. Übersetzung nach W. Schätzel) 6. Im klassischen Völkerrechts war umstritten, ob eine gegenseitige Amnestie ohne Bestehen einer ausdrücklichen Regelung als regelmäßiger Inhalt eines jeden Friedensvertrages anzunehmen war.

2. Amnestieverbote im geltenden völkerrechtlichen Strafrecht 7. Angesichts der Emanzipation des Individuums als Rechtssubjekt sui generis im geltenden Völkerrecht und der Herausbildung eines völkerrechtlichen Strafrechts ist fraglich, ob Amnestieregelungen überhaupt noch zulässig sind. 8. Amnestieverbote ergeben sich aus den Normen des materiellen völkerrechtlichen Strafrechts, insbesondere – aus Art. 1 und 7 der Völkermordkonvention vom 9. Dezember 1948 und entsprechenden Normen des Völkergewohnheitsrechts, die eine grundsätzliche Pflicht zur Bestrafung oder Auslieferung vorsehen. – aus Art. 49 der Ersten, Art. 50 der Zweiten, Art. 129 der Dritten und Art. 146 der Vierten Genfer Konvention sowie Art. 85 des Ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen, die die Vertragsstaaten verpflichten, schwere Verstöße gegen die Abkommen unabhängig von

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der Nationalität des Beschuldigten und ohne Einschränkung hinsichtlich des Tatorts der Verletzung zu verfolgen. – aus Art. 5 Abs. 2 der UN-Folterkonvention vom 10. Dezember 1984, der eine obligatorische Gerichtsbarkeit der Vertragsstaaten vorsieht, die alle Verdächtigen erfaßt, die sich in einem der Hoheitsgewalt des betreffenden Staates unterstehenden Gebiet befinden. 9. Ein Amnestieverbot ergibt sich weiter aus dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofes für Taten, die unter die Jurisdiktion des Strafgerichtshofes fallen. Problematisch erscheinen insoweit die Regelungen einer Immunität für Teilnehmer an UN-Friedensmissionen aus Nichtvertragsstaaten des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes für 12 Monate entsprechend der Sicherheitsratsresolutionen 1422 (2002) und 1487 (2003) sowie die zeitlich unbeschränkte Immunitätsregelung im Rahmen der UN-Mission in Liberia (Sicherheitsratsresolution 1497 [2003]), denn damit wird die Strafgewalt des Internationalen Strafgerichtshofes ratione loci in Frage gestellt.

3. Ausnahmsweise Zulässigkeit von Generalamnestien im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Pflichtenkollisionen 10. Die Amnestieverbote des Völkerstrafrechts treten in Wechselwirkung mit völkerrechtlichen Normen von vergleichbar hohem Rang. Im Einzelfall kann das völkerrechtliche Strafinteresse an der Durchsetzung der Strafnormen zurücktreten hinter dem Bestreben zur Beendigung eines Krieges oder eines Bürgerkrieges. 11. Für Bürgerkriege regt das Zweite Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen in Art. 6 Abs. 5 ausdrücklich eine „möglichst weitgehende Amnestie“ für diejenigen Personen an, „die am bewaffneten Konflikt teilgenommen haben oder denen aus Gründen im Zusammenhang mit dem Konflikt die Freiheit entzogen wurde, gleichviel ob sie interniert oder in Haft gehalten sind.“ 12. Als Teil seiner umfassenden Handlungskompetenzen nach Kapitel VII der UNO-Charta kann der Sicherheitsrat auch Generalamnestie im Interesse an der Wiederherstellung oder Erhaltung des Weltfriedens anordnen. Dies bindet alle UN-Mitgliedstaaten und könnte nur durch eine spätere Sicherheitsratsresolution wieder aufgehoben werden. 13. Art. 16 des Statute of Rome, wonach auf Bitten des Sicherheitsrates die Verfolgung und Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof für 12 Monate ausgesetzt werden kann, vermag den Sicherheitsrat

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in seiner Kompetenz nicht einzuschränken. Nach ihrem Art. 103 genießt die UNO-Charta Vorrang. 14. Auch Staaten dürfen bei klarem Überwiegen der Interessen an einem effektiven Schutz gefährdeter elementarer Menschenrechte oder an der künftigen Einhaltung des Gewaltverbots eine Generalamnestie anbieten, wenn dies für die Überwindung eines bewaffneten Konflikts unabdingbar erscheint. Eine solche Amnestievereinbarung vermag allerdings auch nur die vertragsschließenden Staaten zu binden, nicht die Staatengemeinschaft als Ganzes.