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German Pages 246 [250] Year 2010
David Gardner Letzte Chance
Für Samia
DAVID GARDNER
Letzte Chance Der Nahe und Mittlere Osten am Scheideweg Aus dem Englischen von Eva Dempewolf und Regina Schneider
Die englische Originalausgabe erschien 2009 bei I. B. Tauris & Co Ltd, London / New York unter dem Titel Last Chance. The Middle East in the Balance. © 2009 D. Gardner
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © der deutschen Ausgabe 2010 by Primus Verlag, Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt Einbandmotiv: © iStockphoto.com/Mark Evans (Sanduhr) / Alexander Hafemann (Wüstenszene), Montage: e-Digital Design Gestaltung und Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Printed in Germany www.primusverlag.de ISBN 978-3-89678-829-0
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
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Zur Einleitung
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I
Der arabische Politdschungel
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II
Der Despot in seinem Labyrinth
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III Das Janusgesicht der islamischen Erneuerung
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IV Die Zeit der Schia
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V
Arabia Infelix
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VI Freibrief für Politmorde
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VII Der israelisch-palästinensische Konflikt
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VII Pax Arabica: Der Nahe und Mittlere Osten und der Westen
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Dank
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Anmerkungen
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Register
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Als Barack Obama Israel kundtat, dass „zu einer guten Freundschaft gehört, dass man ehrlich zueinander ist“, dürfte den politischen Eliten des Landes gedämmert haben, dass die Jahrzehnte doppeldeutiger Botschaften hinsichtlich der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern womöglich vorbei waren. Und als der US-Präsident später gar hinzufügte, die Israelis müssten „anerkennen, dass das Existenzrecht Palästinas genauso wenig verwehrt werden kann wie das Existenzrecht Israels“, dürften die letzten Zweifel verflogen sein. Oder etwa nicht? Mit seiner Rede an die islamische Welt im Auditorium der Universität von Kairo am 4. Juni 2009 – wo er mit stehenden Ovationen empfangen und unter donnerndem Applaus verabschiedet wurde – läutete Obama einen neuen Dialog innerhalb des Nahen und Mittleren Ostens sowie über diese Region ein. Obama wiederholte öffentlich, was er dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu kurz zuvor bereits in privatem Rahmen in Washington gesagt hatte: „Die Vereinigten Staaten betrachten den fortgesetzten Bau israelischer Siedlungen nicht als legitim.“ Kann man das noch klarer ausdrücken? Sein impliziter Vergleich der „unerträglichen“ Situation der Palästinenser unter israelischer „Besatzung“ mit derjenigen afrikanischer Sklaven in Amerika und mit der Lage südafrikanischer Schwarzer während der Apartheid signalisierte der nationalistischen Rechten in Israel und der Likud-Lobby in Washington, dass sie es nun mit jemandem zu tun hatten, dem die Sache ernst war. Derart klare Worte waren bislang, wenn überhaupt, nur selten aus dem Mund eines führenden amerikanischen Politikers zu vernehmen. Eine solche Sprache forderte jeden dazu auf, genau zu beobachten, wer in diesem öffentlichen Kräftemessen als Erster blinzeln würde. Die Krise zwischen Israel und den Vereinigten Staaten, ausgelöst durch Netanjahus ostentative Weigerung, den Siedlungsbau im besetzten arabischen Ostjerusalem zu stoppen, während Washington sich um Wiederbelebung der erstarrten Friedensgespräche mit den Palästinensern bemühte, war eine entscheidende Krise. Wollte Präsident Obama seine Ambitionen für die Region nicht aufgeben, musste er sich hier durchsetzen. Bei der Pattsituation zwischen Netanjahu und Obama 2009 war es der USPräsident, der sozusagen zuerst blinzelte. In der zweiten Runde, im Frühjahr 2010, wartete die Regierung Netanjahu auf die Ankunft von US-Vizepräsident
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Joe Biden, um weitere Bautätigkeiten in Ostjerusalem anzukündigen. Anstatt einen neuen Ton in neuen Gesprächen anzuschlagen, erhielt der Vizepräsident einen Schlag ins Gesicht. Und Herr Netanjahu reiste nach Washington, um großtuerisch zu verkünden, Jerusalem sei keine Siedlung. Obama kann und darf das nicht durchgehen lassen: Es geht um die Zukunft Israels und um die nationalen Interessen der USA. Von den Rechten der Palästinenser ganz zu schweigen. Mag sein, dass die Chance, den israelisch-palästinensischen Konflikt auf friedlichem Wege zu lösen, vorüber ist. Dass eine Zweistaatenlösung – mit einem unabhängigen Palästina im Gebiet des Westjordanlands und Gazas mit Ostjerusalem als Hauptstadt – nicht mehr machbar ist, weil die israelische Siedlungspolitik die besetzten Gebiete inzwischen kantonisiert hat. Trotzdem gibt es keine logische politische Alternative. Denn wenn diese Möglichkeit ein für allemal vom Tisch ist, bleibt nur ein unberechenbarer Einzelstaat zwischen Jordan und Mittelmeer. Ein Staat mit zwei Klassen von Bürgern. Ein Staat, in dem der arabische Bevölkerungsanteil früher oder später den Juden zahlenmäßig überlegen sein und einen Anti-Apartheids-Kampf um Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit anzetteln wird. Wie die früheren Ministerpräsidenten Ehud Olmert und Ehud Barak (heute Verteidigungsminister) bemerkt haben, wird dies zum graduellen Verlust der hart erkämpften Legitimität Israels führen. Die Art und Weise, in der die Regierung Netanjahu ihren Zangengriff um Ostjerusalem verstärkt und es vom Westjordanland abschneidet, ist nicht minder gefährlich. Die Stadt Jerusalem ist Juden, Christen und Muslimen heilig, und alle drei Religionen sind traditionell tief in ihr verwurzelt. Ein Konflikt, der sich auf der Basis einer Landverteilung regeln lassen sollte, ist auf dem besten Wege, sich in einen massiven Glaubenskrieg zu verwandeln. Ändert sich daran nichts, wird es irgendwann keinem arabischen Staat und kaum einem muslimischen Staat mehr möglich sein, sich mit Israel auszusöhnen und dessen legitime nationale Rechte in Palästina anzuerkennen. Die Abkommen mit Ägypten und Jordanien, denen Israel einen kalten Frieden verdankt, werden praktisch hinfällig. Der Weg in die Zukunft, den die Arabische Liga und 57 Mitglieder der Organisation der Islamischen Konferenz vorgeschlagen haben – und den die Hamas mit dem Mekka-Abkommen von 2007 gebilligt hat – wird unwiderruflich blockiert. Schwer vorstellbar, wie all dies zu einer langfristigen Sicherheit Israels beitragen soll. Aus amerikanischer Sicht durchkreuzt Benjamin Netanjahus gefährlicher Nationalismus zudem die Pläne, die Barack Obama für die Region im Auge hat: nämlich eine merkliche Entspannung der Beziehungen zwischen dem Westen und dem Islam. Hinzu kommt, dass das US-Militär inzwischen die Uneinsichtigkeit Israels mitverantwortlich macht für die Tatsache, dass im Irak, in Afghanistan und in Pakistan das Leben amerikanischer Staatsbürger aufs Spiel gesetzt wird. So jedenfalls die Schlussfolgerung eines Teams, das General David Petra-
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eus, Kommandeur der US-Streitkräfte in der Region, durch den Nahen und Mittleren Osten sandte und das zu dem Fazit gelangte, die offenkundige Schwäche Washingtons gegenüber Israel mache die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten zunichte. Dabei ist der israelisch-palästinensische Konflikt ganz offensichtlich nur ein Faktor. Nicht minder diskreditierend wirkt sich die Tatsache aus, dass die USA und der Westen quer durch die Region die „starken Männer“ unter den arabischen Machthaberm stützen, in der (weitgehend illusorischen) Annahme, dies würde zumindest kurzfristig Stabilität garantieren – das Hauptthema dieses Buches. Schon ein ernst gemeinter und überzeugender Versuch der Vereinigten Staaten, den israelisch-palästinensischen Konflikt zu lösen, würde die Spielregeln in der Region deutlich verändern. Ein echter Frieden freilich könnte noch weit mehr bewegen. Selbst die Osloer Friedensverhandlungen der 1990er-Jahre, so mangelhaft sie waren, ließen die Zahl der Länder, mit denen Israel diplomatische Beziehungen pflegte, von 85 auf 161, das heißt fast das Doppelte ansteigen. Frieden würde die arabischen Despoten des Alibis berauben, das ihnen als Rechtfertigung für einen dauerhaften Ausnahmezustand und die Monopolisierung von Macht und Ressourcen dient. Die Obama-Adminstration hat deutlich zu verstehen gegeben, dass sie sich der Sicherheit Israels bedingungslos verpflichtet sieht. Ebenso deutlich versucht sie nun klarzumachen, dass die fortgesetzte Errichtung von Siedlungen auf besetztem arabischen Land ein Sicherheitsrisiko darstellt – für Israel, für die Vereinigten Staaten und für die gesamte Region – und dass die Regierung Netanjahu Amerika nicht länger dazu benutzen kann, diese Politik fortzusetzen. Im Juni 2010 verweigerten die USA ihr Veto im UN-Sicherheitsrat, um eine (milde) Verurteilung des israelischen Angriffs auf eine unter türkischer Flagge laufende Hilfsflotte für Gaza (die mit der Erschießung von neun türkischen Staatsbürgern endete) zu verhindern. Immerhin 29-mal hat Washington sein Veto eingelegt, um Israel vor einer Ächtung seiner Politk in den besetzten Gebieten zu schützen, und elfmal, um Kritik an Israels Vorgehen im Libanon abzuwehren. Allein die Vorstellung, die Vereinigten Staaten könnten ihr Verhalten im Sicherheitsrat ändern, entfacht jedes Mal eine politische Debatte in Israel, wo die Wähler seit jeher politische Führer abstrafen, die die hochwichtige Allianz mit den USA aufs Spiel setzen. Doch während Obama sich zurückhält, entsteht ein gefährliches Vakuum. Dies ist einer der Gründe, warum die Türkei, die sowohl Nato-Mitglied ist als auch den Vorsitz in der Organisation der Islamischen Konferenz innehat, eine aktivistische Regionalpolitik verfolgt. Aus Sicht der Türken sind Israels aggressive Unnachgiebigkeit und der Stillstand hinsichtlich des iranischen Nuklearprogramms zwei potenziell tödliche Trigger. Daher die Bemühungen Ankaras, zwischen Israel und Syrien und zwischen Israel und den Palästinensern (inklusive der Hamas) zu vermitteln, sowie der Vorschlag der Türkei und Brasiliens im
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Mai 2010, den Iran dazu zu bewegen, sein schwachangereichertes Uran im Ausland zu lagern. Dieser scheiterte an einer von den USA angeführten vierten Runde von Sanktionen gegen den Iran im Sicherheitsrat im Juni. Doch die Rückgratlosigkeit der Vereinigten Staaten gegenüber Israel ist der regionalen Sicherheit gewiss nicht dienlich. Wie Ehud Barak im April 2010 in Washington sagte, sind Amerika und Europa daran gewöhnt, von Atommächten umgeben zu sein. „Deshalb verändert aus ihrer Sicht [ein über Nuklearwaffen verfügender Iran] die weltpolitische Bühne nicht sonderlich stark.“ Für Israel dagegen sei es eine „wichtige Trendwende in der politischen Ordnung der gesamten Region“. Anschließend gab er zu bedenken, dass zwischen den Regierungen Obama und Netanjahu wesentliche Unterschiede bestünden – hinsichtlich Perspektive, hinsichtlich Beurteilung der Lage, hinsichtlich des Zeitrahmens und hinsichtlich Leistungsvermögen –, doch er „denke nicht, dass es nötig [sei], in dieser Hinsicht Koordinierungsmaßnahmen zu ergreifen; dies sollte klar sein“. Die daraus mögliche Schlussfolgerung macht Gänsehaut. Israel scheint gewillt, militärisch gegen den Iran vorzugehen und eine Kette von Repressalien in Kauf zu nehmen, die sich von Ostafghanistan bis zur Straße von Hormus zieht, von der Westküste des Golfs bis hinein in den Irak und quer über die Levante, Israel natürlich inbegriffen. Doch die Frage, wie hinsichtlich des Iran zu verfahren sei, ist nur Teil eines explosiven regionalen Patts, ein Pulverfass, von dem es nicht so aussieht, als würde es lange dauern, bis es hochgeht – und zwar ganz unabhängig davon, was die Hauptakteure eigentlich erreichen wollen. Wie bereits erwähnt, droht der sich verstärkende Zangengriff Israels auf die heilige Stadt Jerusalem einen Streit, der sich durch Landverteilung regeln ließe, eskalieren und in einen Glaubenskrieg ausarten zu lassen. Im Libanon und in Israel wird bereits offen über eine Neuauflage des Sommerkriegs von 2006 gesprochen, und dieses Mal in anderen Dimensionen. Die Iraker haben bei den letzten Wahlen erneut auf ihre Zukunft gesetzt, während die irakischen Führer offensichtlich noch nicht entschieden haben, ob es überhaupt eine gemeinsame Zukunft geben soll. Ein durchschnittliches Jahr im Nahen und Mittleren Osten also? Vielleicht. Jedenfalls ein Jahr, in dem, nachdem die Wahl Barack Obamas in der gesamten Region so große Hoffnungen geweckt hatte, die Tatsache, dass rein gar nichts erreicht wurde, die ohnehin gereizte Stimmung noch weiter angeheizt hat. David Gardner, im Juni 2010
Zur Einleitung
Amerikas Ansehen in der Welt wiederherzustellen, ihm insbesondere in der arabisch-islamischen Welt politische Legitimation zu verschaffen, wird ein langer, harter Kampf und ist sicher nicht die leichteste der vielen dringenden und schwierigen Aufgaben, die Barack Obama in seiner historischen Präsidentschaft erwarten. Wie Umfrageergebnisse wiederholt bestätigen, genießen die USA (sowie die westliche Welt im Allgemeinen) unter Arabern und Muslimen (tragischerweise auch unter den pro-westlich gesinnten) keinerlei moralisches Ansehen mehr. Den USA bietet sich heute die wahrscheinlich letzte Chance, ihren Rang als oberster „Hüter“ einer Weltordnung zurückzugewinnen, die auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gegründet ist. Dass er dies klar erkannt hat, machte Präsident Obama bereits vor seinem Amtsantritt deutlich. In seiner Siegesrede in Chicago sagte er vor einer riesigen Menschenmenge: „Denen, die die Welt in den Abgrund stürzen wollen, sage ich: Wir werden euch besiegen. Denen, die Frieden und Sicherheit suchen, sage ich: Wir unterstützen euch. Und all denen, die sich gefragt haben, ob Amerikas Signalfeuer immer noch leuchtet, denen sage ich: Heute Nacht haben wir einmal mehr bewiesen, dass die eigentliche Stärke unserer Nation nicht von der Macht unserer Waffen oder unserem Reichtum abhängt, sondern von der andauernden Kraft unserer Ideale: Demokratie, Freiheit, Entfaltungsmöglichkeiten und nicht enden wollende Hoffnung.“ Die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika hat Obama in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens zum großen Hoffnungsträger gemacht. Er hat „harte, diplomatische Initiativen“ versprochen, ein Ende der Stümpereien und des gegenseitigen Misstrauens, die acht Jahre lang die katastrophale, verfehlte Politik George Bushs in der Region kennzeichneten. Doch wenn sich dieses Versprechen nicht rasch in einen politischen Wandel umsetzen lässt, wird es nicht mehr sein als Schall und Rauch. Die westliche Welt muss klare Signale ihrer Absichten senden. Das heißt, die USA müssen im Nahostkonflikt eine unparteiische, aber durchsetzungsfähige Vermittlungspolitik verfolgen, die auf Sicherheit für Israel und Gerechtigkeit für Palästina zielt; die USA und Europa müssen sich um umfassende Absprachen mit dem Iran bemühen, die nicht nur den Nachbarländern des Iran Sicherheit bieten, sondern Teheran selbst ein Interesse an der Stabilität der Region; und
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schließlich muss es einen organisierten und friedlichen Rückzug aus dem Irak geben, der das Ende der amerikanischen Besatzung markiert und den Irakern deutlich vor Augen führt, dass es unerlässlich ist, in grundlegenden Fragen für eine gemeinsame Zukunft übereinzukommen. Nicht von ungefähr machte die Wahl Obamas die politischen Führer in Israel, dem Iran und Irak nervös. Inzwischen dürfte auch klar sein, dass es eine Verbindung gibt zwischen den genannten politischen Schritten. Nicht nur, dass Stabilität im Irak ohne den Iran kaum möglich sein wird; vielmehr hat die Invasion des Irak und der damit verbundene Umsturz der alten sunnitischen Ordnung die Macht der iranischen Schiiten derart gestärkt, dass in der ganzen Region heute kaum ein Problem mehr ohne die Unterstützung von Teheran lösbar ist oder zumindest beigelegt werden kann – sei es in Palästina, im Libanon, in Afghanistan oder im Irak. Doch selbst wenn alle guten Vorsätze umgesetzt werden, wird der Westen damit den Vormarsch der extremen Dschihadisten begünstigen, sofern er weiterhin den Autoritarismus in der Region stützt. Aus eben diesem Grund wird Despotie in diesem Buch ein großes Thema sein. Es geht um die besonderen Formen der arabischen Autokratie, die nicht nur das politische Scheitern der Völker im arabischen Raum herbeigeführt, sondern auch bewirkt haben, dass sie in nahezu allen entwicklungsrelevanten Belangen weit abgeschlagen sind. Und es geht darum, inwiefern die westlichen Mächte, allen voran die USA, diese Tyrannei unterstützt und gefördert haben. Falls es den arabischen Ländern sowie weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens nicht gelingt, aus dieser Falle herauszufinden – so die zentrale These dieses Buches –, werden die Menschen dort über Generationen hinweg zu einem trostlosen Leben voller Verzweiflung, Demütigung und Zorn verdammt sein, was wiederum Öl gießen wird in das ohnehin bereits lodernde Feuer in einer Region, die als das gefährlichste Pulverfass der Welt gilt. Die Förderung autoritärer Systeme und die Duldung von Korruption in der Region erzeugen weniger eine Sicherung der Stabilität als vielmehr Extremismus und – in extremis – gescheiterte Staaten. Jeder Schuss, der im Nahen und Mittleren Osten abgefeuert wird, findet einen weltweiten Widerhall. Die dortigen Krisen sind längst keine regionale Angelegenheit mehr, sofern sie das überhaupt je waren. Und das nicht nur, weil die Region auf knapp zwei Dritteln der weltweit belegten Erdölvorräte sitzt, oder wegen ihrer strategischen geopolitischen Position. Jeder Konflikt im Nahen und Mittleren Osten macht sich binnen Minuten auf dem weltweiten Erdölmarkt bemerkbar. Und aus der Erfahrung heraus fürchten wir auch die Nebeneffekte, die mittlerweile in großen wie in kleinen Wellen kommen, und zwar keineswegs nur regional, sondern auch international. Das irrwitzige Kriegsabenteuer der Invasion und Okkupation des Irak beispielsweise hat nicht nur die Macht und den Einfluss des Iran enorm gesteigert, es hat auch den seit Langem schwelenden Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen entladen, von der Levante bis zum Golf und weiter bis
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zum Indischen Subkontinent. Zudem hat es einen blinden, anti-westlichen Fanatismus und messianischen Dschihadismus geschürt, der sich mit Osama bin Laden verbindet. Wir haben es heute mit einer breit gefächerten Krise zwischen der westlichen und islamischen Welt zu tun, in deren Zentrum die arabische Welt steht. Und das nicht (bei allem Respekt gegenüber Samuel Huntington, Bernard Lewis und einer ganzen Reihe gemäßigter islamophober Kommentatoren), weil es einen immanenten Konflikt zwischen Christen und Muslimen gibt. Nein, der Grund liegt darin, dass die große Mehrheit der Muslime der festen Überzeugung ist, dass der Westen an einem Krieg gegen den Islam beteiligt ist und nur darauf aus, ihnen die Freiheiten zu verwehren, die er für sich selbst beansprucht. Und dass sich sein Interesse an einer Stabilität ohnehin nur auf regionale Machthaber, auf die Sicherheit Israels und billiges Öl bezieht. Im Kern dieser Krise geht es nicht nur um ungelöste Konflikte (in Israel/Palästina, Irak, Iran, Libanon/Syrien, Afghanistan/Pakistan und peripher auch in Tschetschenien, Kaschmir oder Xinjiang), in denen der Westen eine Position eingenommen hat, die als feindselig wahrgenommen wird, es geht auch um die Seuche der Tyrannei, die eine „Arabische Ausnahmestellung“ geschaffen hat. Während die Demokratie (wie auch immer) in den vergangenen dreißig Jahren so ziemlich jede andere Region der Welt erfasst hat – von Lateinamerika bis nach Mittel- und Osteuropa, vom südöstlichen Asien bis hinein nach Schwarzafrika –, blieben die arabischen Länder davon unberührt. Der Westen hat durch seine Interventionen einen ganzen Kulturkreis gegen sich aufgebracht. In keiner anderen Region der Welt – nicht einmal in China – tritt der Westen mit einer derart tödlichen, herablassenden Arroganz und Respektlosigkeit die Rechte der dort beheimateten Menschen mit Füßen. Die Autokratien, die bis heute westliche Unterstützung erfahren, unterscheiden sich zwar von Land zu Land, basieren im Grunde aber auf dem immer gleichen Fundament: auf einem Machtmonopol, das gestützt ist auf die Armee als das Rückgrat des Staates, und im Innern auf den Mukhabarat, den allgegenwärtigen Staatssicherheitsdienst, der den Machthaber an der Macht und das Volk in politischen Fesseln hält. Im Grunde lenkt der Mukhabarat den Informationsfluss zwischen Herrscher und Volk und kann damit beide umso besser manipulieren. Wie wir noch sehen werden, ist die Macht der Autokraten stark eingeschränkt, und zwar so weit, dass sie Gefangene ihrer eigenen Prätorianer sind – ein Phänomen, das den römischen Kaisern von einst wohlbekannt war und auch den islamischen Sultanen von heute. In offen theokratischen Regimen, sei es in befreundeten Staaten wie Saudi-Arabien oder in feindlichen wie dem Irak, geht die Macht zudem von den geistlichen Führern aus, was an sich nichts Ungewöhnliches ist. Die arabischen Regime haben politische Aktivitäten quer durch alle Bereiche derart unterdrückt, dass sie ihren Gegnern keinen anderen Sammelpunkt gelas-
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sen haben als die Moscheen, was wiederum einer der ausschlaggebenden Faktoren für die brachiale Wiedergeburt der islamischen Erweckungsbewegung war. Ein weiterer war der Untergang legitimierter arabischer Herrscher, was ich in den ersten drei Kapiteln des Buches näher beleuchten werde. Nichtsdestoweniger war der Rückzug in den Islam, wie viele arabische und muslimische Autoren herausgestellt haben, für viele Menschen nicht die erste Wahl. Vielmehr haben Despotie und Intervention – und nicht zuletzt der Westen, der beides aktiv begünstigt und die stetig schwindende Schar der Liberalen in der Region übergangen hat – ihnen keine andere Wahl gelassen. Aber gerade weil der Islam für die Gesellschaft fortan so ziemlich die einzige Möglichkeit war, sich neu zu finden, sahen sich die Machthaber der Region mehr oder weniger in eine Abhängigkeit von den geistlichen Führern gezwungen. Diese „Verbindung“ sollte ihnen Legitimität geben und ermöglichen, die Islamisten (aus dem konservativen Spektrum) auszustechen. Dadurch wird jedoch in Ländern wie Ägypten auch eine schleichende Theokratie begünstigt, die, wie Strategen der Muslimbruderschaft längst erkannt haben, ebenfalls eine Form der Macht ist. Der Westen erscheint oft blind für die Folgen seiner Günstlingspolitik. Westliche Staatsführer verschließen sich dem Gedanken, mit den Islamisten zu verhandeln, auch wenn diese trotz und entgegen allen Erwartungen Wahlerfolge feiern wie in Palästina, dem Irak, Libanon und in gewissem Maße auch in Ägypten. Hinzu kommt, dass diejenigen, die für Demokratie in der Region eintreten, dies meist in dem irrigen Glauben tun, damit würde Stabilität einkehren. Aber das ist nicht gesagt, vor allem nicht, wenn der Westen sowie dessen befreundeter Staat Israel durch politische Stümpereien und selektives militärisches Vorgehen weiterhin für Chaos und Unruhe sorgen, was in den Augen der Araber und Muslime die noch unter der Bush-Administration verkündete Freiheitsagenda schwer in Misskredit gebracht hat. In der Tat könnte Demokratisierung letztlich den Beginn einer langen, politisch autoritären Periode markieren, die der Stabilität nur abträglich sein kann. Für mich jedenfalls steht fest, dass die einzig realistische Chance für den Westen darin besteht, das Recht der Araber auf Selbstbestimmung zu fördern oder es zumindest nicht aktiv zu behindern – ein Modell, das vermutlich sehr stark beeinflusst werden wird vom Islamismus. Die von Bush ausgerufene Freiheitsagenda, vom liberalen Internationalismus von dessen ehemaligem britischen Gefolgsmann Tony Blair ganz zu schweigen, wurde durch undurchsichtige Machenschaften und den naiven Glauben an die Effizienz der Militärmacht diskreditiert. Doch darf dies die durchschlagende Einsicht nicht schmälern, die dem Westen von al-Qaida am 11. September 2001 und durch nachfolgende Anschläge so gewaltsam beigebracht wurde: Nämlich, dass eine Tyrannei, die vom Westen geduldet wird, nicht nur Terrorismus und Instabilität sowie eine Bevormundung der Politik und des öffentlichen Lebens bedingen kann, sondern auch den Fortschritt hemmt.
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Leider hat diese Einsicht nicht zu einem fundamentalen Wandel der Politik geführt, die noch immer Gefahr läuft, sich in einem seichten Realismus zu ergehen – trotz der Amtszeit von Barack Obama. Und das ist ein weiterer Grund für den schlechten Ruf, für den Mangel an moralischer Autorität und politischem Einfluss des Westens. Die USA und Europa müssen aufhören, arabische Despoten zu unterstützen, sie müssen aufhören, die Diktatur in Ägypten oder die Monarchie in Saudi-Arabien kritiklos mitzutragen, und sie müssen Wege finden, die arabischen Gesellschaften für das zu öffnen, was diese am Westen nach wie vor attraktiv finden. In der Praxis hieße dies, alle Möglichkeiten zu nutzen, zivilgesellschaftliche Modelle zu favorisieren, wie beispielsweise die Förderung des Bildungswesens, das Recht auf Bildung für Frauen oder den Aufbau funktionierender Institutionen für eine auf einer rechtsstaatlichen Ordnung basierende Gesellschaft, die radikale Ausrichtung hin zu einer Demokratie und deren Verteidigungsapparat. Sie müssen aufhören, die ägyptische Armee zu finanzieren, und jegliche Unterstützung gewaltsamer Anschläge Israels auf benachbarte Staaten einstellen. Die Unterstützung demokratischer Werte ist der Kern dessen, was Joseph Nye in seinem Buch The Paradox of American Power als soft power bezeichnet, als ein Konzept der „weichen Macht“: „andere dazu zu bringen, das zu wollen, was man selbst will“, anstatt sie mit militärischer und wirtschaftlicher Macht dazu zu zwingen. Alles andere als das Konzept der soft power signalisiere Arabern und Muslimen, man verweigere ihnen die Demokratie, sollten sie die Islamisten unterstützen, gerade so wie viele lateinamerikanische, asiatische und afrikanische Staaten sich westliche Diktatoren gefallen lassen mussten, wenn sie – tatsächlich oder nur vermeintlich – die Kommunisten unterstützten. Demokratie als Basis einer guten Regierung ist von unschätzbarem Wert, wie eine Reihe arabischer Entwicklungsberichte im Rahmen des UN-Entwicklungsprogramms aus dem Jahr 2002 zeigt. Es gibt zwar keinen ursächlichen Zusammenhang und Beleg dafür, dass sich eine Demokratie in hohen Wirtschafts- und Einkommensraten niederschlägt. Deutlich wird jedoch, dass in einer Demokratie Kriege und Bürgerkonflikte eher vermieden werden, vor allem aber, dass der Aufbau von Institutionen und Rechtsgrundsätzen – das Stützwerk der Demokratie – große entwicklungsrelevante Fortschritte mit sich bringt, staatliche Stabilität inbegriffen. Und genau hierauf sollten sich alle Anstrengungen des Westens konzentrieren. Natürlich müssen die Menschen die Demokratie wollen, damit sie überhaupt eine Chance hat. Aufgabe des Westens wird es sein, die Menschen zu öffnen für das, „was wir wollen“. Und das ist bislang nicht geschehen. In diesem Buch werde ich die Aspekte der arabischen politischen Ordnung untersuchen, die das fortdauernde Scheitern der arabischen Länder meiner Ansicht nach am besten erklären und illustrieren – sei es die Unfähigkeit, den Menschen Fortschritt und Bildung zu bringen oder arabischen Boden zurückzugewinnen und damit den Arabern eine geachtete Stimme in der Welt zu verschaf-
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fen. Es gibt kein Modell mit Erfolgsgarantie, und ich habe nicht die Absicht, die ganz unterschiedlichen Erfahrungen so zurechtzubiegen, dass es eines ergibt. Die jüngste Geschichte der Region zeugt von ständigen Drehungen und Wendungen im Strom der Macht, von einem ständigen Auf und Ab. Der Kontext mag in Kairo, Beirut und Riad ein jeweils anderer sein, die Notwendigkeit eines politischen Wandels jedoch ist allen gemein. Ich will versuchen, die charakteristischen Besonderheiten der einzelnen Regime sowie die Erfahrungswelt des Iran, Pakistans oder auch der Türkei, mit der sie beispielhaft verglichen werden können, zu berücksichtigen. Ich werde die Aspekte herausgreifen, die im politischen Verhalten und Zusammenspiel mit dem Westen letztlich nicht mehr bewirkt haben als den Fortbestand der Regime und ein Anwachsen des angestauten Volkszorns ob fremdländischer Interventionen. Dabei scheint mir die Despotie das größte strukturelle Hindernis auf dem Weg zu Reformen – und dass westliche Politik nichts dazu tut, die Stabilität zu stärken. Genau das muss sich ändern. Es geht nicht um die Frage eines „Regimewechsels“ oder darum, die bestehende Ordnung aktiv zu destabilisieren. Anstatt autoritäre Systeme aus kurzfristigem Profitstreben heraus finanziell zu stützen, muss die westliche Politik Mittel und Wege finden, jene Elemente in der arabisch-islamischen Gesellschaft zu beleben und zu fördern, die dafür ein Ersatz sein könnten. Strategisches Denken muss politische Parolen ersetzen. Auf den ersten Blick markige und rhetorisch schlagkräftige Politslogans wie „Kurs halten“ sind bloße Vernebelung: Die Titanic hielt Kurs, Lemminge halten Kurs. Der „Kurs“ ist es, der dringend einer Neuausrichtung bedarf. Ein weiteres beklagenswertes Beispiel ist das schludrige Vorgehen beim „Globalen Anti-Terror-Krieg“, das es Moskau, Delhi und Peking überdies ermöglicht hat, regionale Konflikte, in die Muslime in Tschetschenien, Kaschmir und Xinjiang verwickelt sind, neu einzustufen. Beispielsweise war Kaschmir nach dem Terroranschlag im November 2008 auf Mumbai kein rein regionaler Konfliktherd mehr mit potenziell lenkbaren Missständen. Vielmehr war die Region auf einer breiteren Basis verquickt und mit dem internationalen Dschihadismus konfrontiert. Es gibt einen eindeutig identifizierbaren Feind – den internationalen Dschihadismus –, den es zu isolieren gilt, bevor er weiter in das gesellschaftliche und kulturelle muslimische Leben vordringt. Osama bin Laden hat uns, wie ich behaupten möchte, wenigstens einen „Gefallen“ getan, insofern er einen fast ein Jahrhundert währenden Status quo zerschlagen hat: Seit dem 11. September ist es politisch nicht mehr vertretbar, westliche Unternehmungen im Nahen und Mittleren Osten auf die Netzwerke arabischer Machthaber und die bedingungslose Unterstützung Israels zu gründen. Fast die gesamte arabische Welt durchläuft derzeit einen historischen Tiefpunkt, an dem der Westen ansetzen muss. Die USA und ihre Verbündeten, sei es durch aktives oder passives Mitwirken, betreiben politische Strategien, die
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1,2 Milliarden Muslime weiterhin verprellen, und das zu einer Zeit, da sie sich selbst gewaltigen strategischen Herausforderungen stellen müssen; etwa dem Aufstieg Chinas, dem Wiedererwachen des russischen Nationalismus oder dem drohenden Klimawandel und der Sicherung der Energieversorgung (von der Krise, die sich zur schwersten Finanzkrise entwickelt hat, die es in den vergangenen knapp einhundert Jahren gab, gar nicht zu reden). Die USA müssen ihre Legitimität und moralische Autorität in der arabisch-islamischen Welt wiedererlangen. Doch das erreichen sie nicht durch die Unterstützung von Tyrannen, durch wahllose Kriege oder Komplizenschaft beim Landraub durch Israel. Der Westen muss klare Signale senden: Die USA müssen eine unparteiische Vermittlungspolitik im Nahostkonflikt verfolgen, die am Ende den Israelis Sicherheit und den Palästinensern Gerechtigkeit bringt. Die USA und Europa müssen die tief sitzenden Feindseligkeiten der Vergangenheit begraben und umfassende Absprachen mit dem Iran erzielen. Und es muss einen organisierten und friedlichen Rückzug aus dem Irak geben, der die amerikanische Besatzung beendet. Anlass zur Hoffnung gibt es reichlich. Die Türkei z. B. hat gezeigt, dass sich ein politischer Islam durchaus entwickeln kann. Die dort regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) wurde als Nachfolgepartei aus den Trümmern zweier gescheiterter islamischer Parteien neu gebildet und hat sich zu einer Art muslimischem Pendant der christdemokratischen Parteien entwickelt, die in der arabisch-islamischen Welt weithin Bewunderung erfährt, und zwar nicht als Modell an sich, sondern weil sie funktioniert. Erfolg verkauft sich! Der Islamismus im arabischen Kerngebiet hingegen wird sich eher so entwickeln, dass er mit staatlichen Institutionen und einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit vereinbar ist. Und dies umso mehr, wenn die US-Regierung zusammen mit ihren Verbündeten die Vorgehensweisen in den Mittel- und Nahostregionen neu überdenkt. Im Zuge dessen sollten auch die US-Beziehungen zur arabischen Welt überprüft werden, was einen weiteren Nachteil dessen offenbart, was ich den „Arabischen Ausnahmezustand“ nenne. Im Gegensatz zum Umgang mit fast allen anderen Ländern unterhält Washington keinerlei institutionelle Beziehungen zu arabischen Ländern (und deren Anrainern). Es verkehrt bevorzugt mit arabischen Machthabern und Regimen – nicht selten in Form von „Währungen“ wie Öl oder Waffen. Dies gilt auch für nicht-arabische Teile der Region, wo es Beziehungen gab zum Schah im Iran oder zu General Pervez Musharraf in Pakistan, mit absehbaren, mehr oder weniger chaotischen Folgen nach dem Sturz der Machthaber. Die fatale Attraktion, die der Westen für autoritäre Machthaber hat, ist weder attraktiv noch (außer vielleicht vorübergehend) erfolgreich. Wer sich nach dem politischen Status quo ante sehnt, der existierte, bevor Bush beschloss, die Region auf seine ganz eigene destruktive und inkompetente Art und Weise zu erschüttern, der sollte sich zwei Dinge bewusst machen: Es gibt diesen Status nicht
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mehr; er war zu einer Maschinerie geworden, die im besten Fall zu einem Stillstand, im schlimmsten zu einem totalen Scheitern geführt hat. Amerikafreundliche Autokratien aber, die ähnlich bedeutsam sind wie Ägypten oder Pakistan, nehmen ein Scheitern als Staat lässig in Kauf. Den Nahen und Mittleren Osten so weitermachen zu lassen in dem Glauben, es sei schlicht besser, zeitweilige Krisen irgendwie zu deichseln, ist keine politische Option. Es ist ein Risiko, das viel zu hoch ist. Wie gesagt: Wenn wir im Westen die Tyrannei weiterhin stillschweigend dulden, begünstigen wir damit letztlich die Dschihadisten. Und wir verurteilen den Nahen und Mittleren Osten damit zu Gewalt, Stagnation und einem möglichen Scheitern, wofür wir ebenfalls einen hohen Preis zahlen werden. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, das Ruder herumzureißen. Wir müssen anfangen – sofort.
I Der arabische Politdschungel
Kaum jemand würde den Film Der König der Löwen für politisch kontrovers halten. Anders die Funktionäre der hydraköpfigen Geheimdienste in der arabischen Welt. Warum dem so ist, das wissen die Produzenten der libanesischen Filmgesellschaft, die Walt Disneys Dschungeloper für das arabische Publikum bearbeiteten. Zunächst einmal war es den Synchronsprechern verboten, die beiden zentralen Begriffe der Geschichte in den Mund zu nehmen – „Löwe“ und „König“. In den Augen der Zensoren des Mukhabarat (so der allgemeine arabische Begriff für Geheimdienste) kommt jegliche Verwendung der Begriffe für „Löwe“ und „König“ – assad und malik – einer „Majestätsbeleidigung“ gleich. Assad ist zudem der Name des derzeitigen syrischen Präsidenten, Baschar al-Assad, sowie der Name seines Vaters und früheren Präsidenten, Hafez al-Assad. Hinzu kommt, dass sich neben dieser syrisch republikanischen Dynastie auch anerkannte Könige in Saudi-Arabien, Jordanien und Marokko dadurch beschimpft und beleidigt fühlen könnten. Deren Namen oder Titel auf Tiere zu übertragen, so die Produzenten, hätte garantiert ein Verbot des Films zur Folge gehabt. Es sei ihnen jedoch gelungen, dieses politisch-semantische Minenfeld zu umgehen. König Fahd, der verstorbene König von Saudi-Arabien, stellte sie mit seinem Namen, der übersetzt „Panther“ bedeutet, gar vor eine doppelte Herausforderung. Da dieses Wort ebenfalls unter das Verbot fiel, wich man auf daba’a aus, eine annehmbare Alternative, denn das Wort kann einigen Wörterbüchern zufolge auch Hyäne bedeuten („Der rosarote Panther“ = „Die rosarote Hyäne“?). „Wir sind gezwungen, all diese Namen zu ändern oder ein halbwegs passendes Synonym zu finden“, sagte einer der Synchronproduzenten – etwa „Herrscher des Waldes“ für „König der Löwen“. Ein namhafter arabischer Journalist bemerkte hierzu: „Wörter machen diesen Leuten Angst, fast so sehr wie Gedanken und Ideen.“ Disneys Tierbuch scheint für die ‚Herren des arabischen Politdschungels‘ voller Schrecken zu sein. Wäre dieser Aufstand um den Begriff beim König der Löwen oder beim Rosaroten Panther nur Ausdruck lokaler Empfindlichkeiten, wäre das Ganze eine allenfalls bunte, aber kaum überraschende Geschichte. Was Wunder, dass die buchstäbliche Wortmacht der arabischen Sprache bereits staatspolizeilichen Argwohn erregt in einer Region, wo Autokraten die politische Prägeinstanz sind.
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Im globalen Rahmen sind diese politischen Kulturen und das repressive Gebaren nach den Angriffen vom 11. September 2001 auf New York und Washington sowie die nachfolgenden Anschläge von Dschihadisten alles andere als unbedeutend. Die Frage, wie die arabischen Länder regiert werden (insbesondere SaudiArabien und Ägypten, die beiden engsten Verbündeten Washingtons im arabischen Raum, aus denen die meisten Selbstmordattentäter vom 11. September sowie ihr angeblicher Terrorführer stammen), ist nicht mehr nur auf lokaler oder regionaler Ebene von Belang, sondern weltweit zu einem brisanten innen- und außenpolitischen Thema geworden. Anders gesagt: Die unglaubliche Dreistigkeit und brutale Realpolitik der Anschläge vom 11. September haben es für die USA, den Westen und ihre arabische Klientel unmöglich gemacht, die autoritären Strukturen zu ignorieren, die letztlich blinden Zorn gegen sie geschürt haben. Osama bin Laden hat damit sozusagen eine nahezu hundert Jahre währende politische Praxis ausgehebelt. Die westliche Duldung und Unterstützung von sunnitischen arabischen Machthabern in aus den Trümmern des Osmanischen Reiches künstlich geschaffenen Staaten ist für Araber und Muslime längst zu einem ebenso großen Affront geworden wie die westliche pro-israelische Tendenz im endlosen Kampf um die Aufteilung Palästinas. Die politischen Strategie des Westens, die auf Stabilität zielte, auf billiges Öl und scheinbare Sicherheit für Israel, ging letztlich nicht auf, sondern hat nachgerade den islamistischen Terror befeuert. Eine verknöcherte politische Ordnung – ausnahmslos unfähig, ihre Wirtschaft aus der Stagnation zu führen oder der Mehrheit ihrer Bürger eine halbwegs vernünftige Lebensgrundlage zu bieten – ist somit zum gefährlichen Katalysator eines globalisierten islamistischen Terrors à la bin Laden und al-Qaida geworden. Aufgebracht durch Unterdrückung und gedemütigt durch Rückständigkeit, musste die junge arabische Generation (zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre) zusehen, wie der demokratische Wandel Lateinamerika, Osteuropa und weite Teile Asiens und Afrikas erfasste, an ihnen selbst aber vorüberging. So entstand eine „arabische Ausnahme“, vor der die westliche Welt bewusst die Augen verschließt. Was die USA sowie einige ihrer Verbündeten langsam zu begreifen beginnen, sind vor allem zwei Dinge: Zum einen ist der Autoritarismus vieler arabischer Regime der Bodensatz in der politischen Alchimie des islamistischen Terrors; zum anderen ist die westliche Duldung der arabischen Despotien eine nicht minder bedeutsame Komponente. Den neuen politischen Realismus der USA legte Condoleezza Rice, Außenministerin der Vereinigten Staaten in der zweiten Amtsperiode von Präsident George W. Bush, in einer Rede in Kairo im Juni 2005 deutlich dar. Die USA, so sagte sie, hätten sechzig Jahre lang nach Stabilität im Nahen und Mittleren Osten gestrebt, was auf Kosten der Demokratie gegangen sei und am Ende weder das eine noch das andere erreicht habe. Doch die USA hätten ihre Lektion gelernt.
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Von nun an würde sich ihr Land mit all jenen verbünden, die Freiheit als unverzichtbare Plattform für Stabilität, Wohlstand und Sicherheit erachteten. Knapp zwei Jahre zuvor, im November 2003, hatte Präsident Bush in einer Rede in Washington vor Vertretern der National Endowment for Democracy (NED), einer 1983 gegründeten Organisation zur Beförderung der Demokratie, die „herablassende Haltung“ angeprangert, die suggeriere, Araber und Muslime seien untauglich für die Demokratie. Er verpflichtete Amerika zu einem „Generationenkampf“ für die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Osten, ganz so wie frühere Generationen einst den Kalten Krieg bekämpft hatten. Rice wie Bush hielten gewichtige Grundsatzreden. Sie vermittelten die Überzeugung, dass Despotie als Staatsform erprobt und gescheitert sei. Was bis heute jedoch fehlt, sind konkrete Handlungen, die glaubhaft demonstrieren, dass die USA – die im politischen Morast eines Irak feststecken, den sie für den Hebelarm hielten, um im „Großraum Mittlerer Osten“ etwas zu bewegen – bereit sind, auch die Risiken zu übernehmen, die der unweigerlich chaotische Prozess einer Demokratisierung mit sich bringen wird. Diejenigen, die die arabische Welt nach amerikanischem Muster neu erschaffen wollten, schienen zudem alles mitzubringen außer einer profunden Kenntnis der Länder, die sie ins Visier genommen hatten. Einige, wie Condoleezza Rice, gingen gar mit einer Mentalität wie zu Zeiten des Kalten Kriegs an dieses Vorhaben heran. Andere, wie die Neokonservativen, die zuvor die politische Rechtfertigung für den Krieg gegen den Irak geliefert hatten, betrieben Geopolitik im arabischen Raum wie einen gezielten Wurf beim Kegeln: Trifft man den vordersten Kegel (in diesem Fall den Irak) nur hart genug, dann werden auch die restlichen fallen. Nicht ein erfahrener Experte der Region wurde in den Kreis der Entscheidungsträger eingeladen. Paul Bremer, der zweite Zivilverwalter für den Irak, hatte bezeichnenderweise nur eine spöttische Bemerkung für einen altgedienten Funktionär des US-Geheimdienstes CIA in Bagdad übrig: „Über die Geschichte, ja, da wisst ihr Bescheid. Wir aber machen Geschichte. Wir gestalten die Zukunft.“1 Drei Merkmale kennzeichnen die arabischen Regierungssysteme: Zum einen ist jedes arabische Land mehr oder weniger autoritär – egal, ob es republikanisch, royalistisch, absolutistisch oder ein(e) quasi-konstitutionelle(s) Monarchie/Emirat ist; egal, ob es Wahlen zulässt oder nicht, ob es säkularisiert oder erklärtermaßen religiös geführt ist. Gewiss, in den Monarchien am Golf (in Bahrain, Qatar, Kuwait und im Oman) sowie in Marokko wurden bereits erste zaghafte Schritte in Richtung Demokratie unternommen. Auch der Libanon ist mit seiner „Zedernrevolution“ und dem proportional konfessionell orientierten politischen Quotensystem (d. h. konfessionelle Parität der Sitze im Parlament) bis heute zwar eine große, wenngleich nur teilweise Ausnahme, bleibt aber in seinem eigenen Provinzialismus und der festgefahrenen religiösen Konfliktsituation, die die Region nach dem Irakkrieg
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ergriffen hat, gefangen. Ägypten und sogar Saudi-Arabien haben jüngst den demokratischen Kniefall geprobt. In Jordanien, im Jemen sowie in Algerien und Tunesien übt man sich seit nahezu zwei Jahrzehnten in manipulierten Wahlen. Das New Yorker Freedom House, eine Forschungseinrichtung zur Förderung der politischen und bürgerlichen Freiheit weltweit, ließ in seinem jährlichen Report Freedom in the World im Dezember 2001 verlauten, die islamischen und arabischen Nationen hätten sich in Sachen Demokratie vom Rest der Welt entfernt. In einer überzeugenden frühen Reaktion auf den 11. September suchte Freedom House die Situation zu verdeutlichen: „Seit Anfang der 1970er-Jahre, als die dritte große Demokratisierungswelle begann, hat die islamische Welt, insbesondere deren arabischer Kern, wenig Verbesserungen hinsichtlich politischer Offenheit, Achtung der Menschenrechte und Transparenz erfahren“, heißt es in diesem Bericht, der den Irak, Libyen, Saudi-Arabien, den Sudan und Syrien zu den zehn Ländern mit der geringsten politischen Freiheit weltweit zählt. In den drei Jahrzehnten, die das Ende des Kalten Kriegs sowie den Fall der Diktaturen von Bukarest bis Buenos Aires sahen, blieb die arabische Welt in Tyrannei gefangen. In der post-kommunistischen Ära gibt es aber auch keine andere Region in der Welt – nicht einmal China –, die vom Westen mit derart wenig Rücksicht auf die politischen Rechte und die Menschenrechte der Bürger behandelt wird. Das zweite kennzeichnende Merkmal moderner arabischer Regime besteht darin, dass die autoritären Machthaber von den Militärs an der Macht gehalten werden, vor allem vom staatlichen Geheimdienst – dem allgegenwärtigen Mukhabarat – als einflussreichster politischer Komponente. Das Militär ist derart allumfassend, dass Länder, die ansonsten so verschieden sind wie Saudi-Arabien und Saddam Husseins Irak, eines gemein haben, nämlich zwei Armeen: die normalen Streitkräfte und eine Garde zum Schutz der Herrscherfamilie (die Nationalgarde in Saudi-Arabien, die Republikanische Garde im Irak). In Saudi-Arabien wie im Irak besteht diese Garde aus Stammesmilizen. Auch in Jordanien und Syrien, wo die Strukturen gleichermaßen verschieden sind, stützen tribal- und sippenorientierte Strukturen die Staatsmacht. Doch dieses stammesbasierte Netzwerk ist nutzlos, wenn es nicht geknüpft ist an das eigentliche Machtrückgrat der Staatssicherheitsorgane und Militärkräfte. Darüber hinaus verfügen alle arabischen Länder über eine Fülle von Sicherheitsdiensten, von denen einige nur dazu dienen, die anderen in Schach zu halten. Syrien kommt mit sechs aus, eine vergleichsweise geringe Zahl, während die Palästinenser unter Jassir Arafat ein ganzes Dutzend Sicherheits- und Geheimdienste unterhielten, und das sogar ohne eigenen Staat. Die große Zahl der Geheimdienste mag eine angemessene Reaktion darauf sein, dass auch die Vereinigten Staaten immerhin 16 Geheimdienstbehörden haben. Allerdings verfolgen diese nicht die primäre Absicht, ein einzelnes Staatsoberhaupt oder eine Sippe an der Macht zu halten.
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Das dritte kennzeichnende Merkmal und wohl des Pudels Kern ist die Tatsache, dass die meisten arabischen Machthaber ein Legitimationsproblem haben – ein Problem, das in den vergangenen drei Jahrzehnten gewachsen ist, insbesondere nach der katastrophalen Niederlage der Araber durch die Israeli im Sechstagekrieg von 1967. Ein solcher Mangel an Legitimität hat ernsthafte Konsequenzen in der arabischen Welt, wo Herrscher nie zuvor abgewählt werden konnten, sondern entweder in Amt und Würden das Zeitliche segneten oder einem Attentat zum Opfer fielen. Diese Krise der Legitimität wird im Folgenden näher beleuchtet. Langfristige Gewinner werden wohl die islamistischen Erneuerer sein, die in das Legitimitäts-Vakuum vorstießen, die Fahnen des panarabischen Nationalismus aufzogen und ihre chaotische Ideologie als Befreiungstheologie verkauften. Wie dieses Buch zeigen wird, besteht eine der größten politischen Herausforderungen für die USA und Europa heute darin, die unversöhnlichen Dschihadisten und bedingungslosen Anhänger bin Ladens von den islamistischen Bewegungen zu trennen, die in ihren Gesellschaften fest verankert sind und im Spiel der Demokratie auf dem globalen Marktplatz der Ideen mitwirken wollen. Gelingt es nicht, Letztere einzubinden, und zwar zu klar demokratischen Bedingungen, gibt es keinen gangbaren Weg in die Zukunft. Sie dürfen und können nicht ausgegrenzt werden. Die Förderung der Freiheit sowie die Umsetzung einer gerechteren Politik im Israel-Palästina-Konflikt, die auf die Sicherung der Rechte sowohl für Palästinenser als auch für Israelis zielt, wird darüber entscheiden, wohin es die breite Masse der Muslime zieht – ob zu den Anhängern bin Ladens und deren Dschihad gegen den Westen oder zu Rechtsstaatlichkeit und der Entwicklung von Zivilgesellschaften. Ausgangspunkt jeder neuerlichen Überprüfung der Politik muss die mittlerweile unabweisbare und in allen Umfragen belegte Tatsache sein, dass Amerikas Ansehen in der islamischen und arabischen Welt auf dem Tiefpunkt ist, und zwar bei vermeintlichen Freunden ebenso wie bei scheinbaren Feinden. Die Idee, die die Regierung Bush und deren Anheizer nach dem 11. September erfolgreich verkauften, war die: Die Gotteskrieger im Namen Allahs ‚hassen uns wegen unserer Freiheiten‘ und verabscheuen uns wegen unserer Werte – sie hassen uns für das, was wir sind und was wir denken, weit mehr als für das, was wir tun. Erinnern wir uns nur an all die Titelblätter und reißerischen Aufmacher der Zeitungen und Magazine, die nach dem 11. September fast wörtlich dieselbe Schlagzeile brachten: „Warum hassen sie uns so sehr?“ Aus den Antworten sprach ein Körnchen Wahrheit im schieren Falsch der tödlichen Herablassung, das sich unterm Strich wie folgt formulieren ließe: ,Sie hassen uns wegen unserer Freiheiten; nur schien es uns politisch und wirtschaftlich praktischer und bequemer, Tyrannen zu unterstützen, die ihnen ihre Freiheiten verwehren.‘ Der derzeit in weiten Teilen der islamischen Welt stattfindende Kampf ist letztlich ein Krieg der Ideen, in dem es keine abträglichere Vorstellung gibt als die zu behaupten,
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Muslime und Araber hätten kein Interesse an Freiheit. Wenn wir uns davon nicht lösen, wird der Radikalislamismus diesen Krieg gewinnen. Die eigennützigen Trugschlüsse dieser ,Sie hassen uns wegen unserer Freiheiten‘-Politmaschinerie werden in einer Reihe von Büchern thematisiert. So etwa in einem zuerst anonym erschienenen Band mit dem Titel Imperial Hubris (2004) von Michael Scheuer, einem früheren Mitarbeiter des CIA, das Osama bin Laden in den Mittelpunkt stellt. Oder in Resurrecting Empire (2004), das aus der Feder des palästinensisch-amerikanischen Historikers Rashid Khalidi stammt. Wie viele andere legen sie überzeugend dar, dass sich die Feindseligkeit der Araber und Muslime an der Politik der USA und ihrer Verbündeten entzündet hat. Im September 2004 erfolgte eine umfassende Bestätigung dieses Befunds von ungewöhnlicher Seite, nämlich dem Defense Science Board (DSB), einer bundesstaatlichen Kommission von Akademikern und Strategen, die das US-Verteidigungsministerium berät. Das DSB befand, „Amerikas Überzeugungskraft [stecke] tief in der Krise“, und zwar nicht zuletzt – so liest man zwischen den Zeilen – wegen der unsympathischen Mischung aus Willkür, Inkompetenz und Affinität zur Anwendung von Gewalt, die die Bush-Administration „auszeichne“. Worauf es ankomme, so der Bericht, sei Glaubwürdigkeit, und „die ist schlicht nicht zu finden – die USA haben heute keinerlei funktionierende Kommunikationswege in die Welt der Muslime und des Islam“. Die vom DSB ausgewerteten Umfragen sprechen für sich: In der arabisch-muslimischen Welt bewegt sich die Unterstützung für die Politik der USA im einstelligen Prozentbereich (in Ägypten etwa wird sie zu 98 Prozent, in Saudi-Arabien zu 94 Prozent als „untragbar“ bewertet). Auch in späteren Umfragen, durchgeführt von der Zogby International Group und dem Pew Global Attitudes Project, war eine Unterstützung für die Politik der USA so gut wie nicht feststellbar. Gleichwohl ergaben die Umfragen des DSB, dass die große Mehrheit der Muslime Werte wie Freiheit und Demokratie sehr wohl befürwortet und westliche Wissenschaften und Bildung sowie westliche Produkte und amerikanische Filme schätzt. „Mit anderen Worten – sie hassen uns nicht wegen unserer Werte, sondern wegen unserer Politik“, so das DSB, das im Weiteren Umfragen anführt, die zeigen, dass der Hass auf die Politik eine derart zerstörerische Wirkkraft entfaltet, dass die Attraktion westlicher Werte langsam, aber sicher davon überschattet wird – ein Signal (wenn es überhaupt je eines gegeben hat), dass dem Westen die Zeit davonläuft, wenn er seinen Kurs noch ändern will. Was also ist zu tun? Im Irak sind Staat und Gesellschaft unter der US-geführten Besatzung auseinandergebrochen, die ihre unverhältnismäßige Feuerkraft gegen einen schwer fassbaren und langfristig kaum identifizierbaren Feind einsetzt und damit unzählige Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert hat. Unfähig, einen von einer Minderheit der Minderheit der Sunniten angezettelten Aufruhr unter Kontrolle zu bringen, begingen die Besatzer einen Fehler nach dem anderen, reihten nahtlos ein Fehlurteil an das nächste. Ihr Riesengetöse, ihre Stümpereien sowie Ei-
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gentore am laufenden Band schienen eine strategische Katastrophe anzurichten – einen „Balkan“ im Wüstensand. Die arabische Öffentlichkeit beobachtete voll Angst und Sorge, wie ein ethnokonfessioneller Bürgerkrieg den Irak ergriff und damit die Drohkulisse eines breiteren konfessionellen Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten eröffnete, welcher auch die Nachbarstaaten des Irak in seinen Sog ziehen konnte: den schiitischen Iran auf der einen und die sunnitisch arabischen Herrscher auf der anderen Seite – allesamt geeint in Furcht vor dem Machtgewinn der schiitischen Mehrheit im Irak. Derweil schien sich die amerikanische (und britische) Unterstützung für Israel noch zu verfestigen, während Israel selbst ungehindert die Schlinge um das ungleich schwächere Palästina und das besetzte Westjordanland immer fester zuzog, und zwar trotz des israelischen Rückzugs aus dem Gazastreifen im Sommer 2005. An beiden Schauplätzen, von Muslimen rund um die Welt über das relativ neue Medium des arabischen Satellitenfernsehens mit Argusaugen beobachtet, sind die Ereignisse vom April des Jahres 2004 möglicherweise als ein Wendepunkt zu sehen. Damals nämlich verfolgten Araber und Muslime von Fez bis Rawalpindi fassungslos, wie US-Truppen die Stadt Falludscha westlich von Bagdad im EuphratTal zerstörten und israelische Truppen die Palästinenserstadt Rafah im Süden des Gazastreifens in Schutt und Asche legten. Trotz hoher Medienbeschränkungen waren beide Infernos auf den Mattscheiben streckenweise gleichzeitig zu verfolgen. Dies schweißte die arabische Welt so eng zusammen wie seit den goldenen Tagen der islamischen Staatenorganisation nicht mehr (der Gründung der Organisation der Islamischen Konferenz, OIC, 1969), die von den heutigen islamistischen Erneuerern viel gerühmt wird, auch wenn sie an dunklere Zeiten erinnert: „Das ist, als sähe man die Kreuzzüge live im Fernsehen“, war ein viel gehörter Kommentar. Inmitten dieses Geschehens, am 14. April 2004, übermittelte Präsident Bush dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, einem vehementen Verteidiger der israelischen Siedlungen in den Palästinensergebieten, ein Schreiben, in dem er Israels Anspruch auf die Siedlungen in der Westbank bestätigte. Auch der britische Premier Tony Blair schien diese neue, einseitige und unrechtmäßige Politik zu befürworten, die gleich mehrere Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates und der Vierten Genfer Konvention mit Füßen trat. Aus Sicht der Arabaer eine Neuauflage der Balfour-Deklaration von 1917, in der Großbritannien sich mit einer „nationalen Heimstatt“ des jüdischen Volkes in Palästina erstmals einverstanden erklärt hatte. Zu alledem kam der Skandal um den Gefangenenmissbrauch im irakischen Abu Ghraib, der unabsehbaren Schaden anrichtete. Immer schlimmere Missstände (gipfelnd in grausamen Folterszenen) wurden aufgedeckt, wie sie sich auch in anderen von der US-Armee geführten Gefangenenlagern abspielten: im kubanischen Guantánamo, im Militärgefängnis Bagram in Afghanistan und in
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vielen weiteren inoffiziellen Lagern quer durch Zentralasien, den Mittleren Osten und Osteuropa, in denen mutmaßliche Mitglieder des sogenannten globalen Terrornetzwerks inhaftiert waren.2 Bald wurde klar, dass die amerikanische Begründung für den Irakkrieg – Saddam Husseins angeblicher Besitz von Massenvernichtungswaffen sowie die immer wieder behauptete Verbindung zwischen Bagdad und al-Qaida – weder Hand noch Fuß hatte. Nicht eine der nahezu dreißig Behauptungen über den Irak vor dem UN-Sicherheitsrat, die der damalige US-Außenminister Colin Powell im Februar 2003 aufstellte, hat sich je bewahrheitet. Die meisten Araber hielten die US-Politik weniger für die von Präsident Bush im November 2003 ausgerufene „Vorwärtsstrategie für Freiheit im Nahen Osten“ als vielmehr für einen amerikanischen Vorstoß, um sich langfristig die Stützpunkte in der Region zu sichern, die den Westen traditionell mit billigem Öl versorgen. Die von der Regierung Bush viel gepriesene Greater-Middle-East-Initiative (GMEI) zur Demokratisierung der arabischen Region erscheint in diesem Licht eher rhetorisch und greift in der konkreten Handlung verdächtig kurz, so wie nach dem Ersten Weltkrieg, als Frankreich und Großbritannien sich in einem Doppelspiel den Nahen Osten aufteilten. Es nützte auch nichts, dass dieses Partnerschaftsprogramm (die GMEI wurde 2002 in Middle East Partnership Initiative, MEPI, umbenannt) ein regionales Verbindungsbüro in Tunesien eröffnete, dem wohl effizientesten Polizeistaat der Region, in dem Staatschef Zine El Abidine Ben Ali im Oktober 2009 zum wiederholten Mal das Wunder einer nahezu einstimmigen „Wiederwahl“ gelang. Wie ein führender arabischer Verleger in Beirut damals bemerkte, war 1989 nicht nur das Jahr, in dem Berlin den Fall der Mauer erlebte und eine neue demokratische Welle Ost- und Mitteleuropa erfasste, sondern auch das Jahr des Abkommens von Taif, das den libanesischen Bürgerkrieg (1975–90) beendete – und danach von Syrien als Rechtfertigung für den schleichenden „Anschluss“ des Libanon angeführt wurde. „Es scheint, dass in unserem Teil der Welt“, sagte er, „West-Berlin von Ost-Berlin übernommen wurde.“ Eine Zeit lang schien es, als würde sich das ändern. Immerhin gab es 2005 erste vage Anzeichen für die Annahme, die Demokratie könne in der Region doch noch Tritt fassen. Das Paradoxe dabei war, dass es eine Person gab, die dafür sorgte, dass dies unterminiert wurde: Osama bin Laden. Seine Terrortaten machten es fortan unmöglich zu ignorieren, wie das heimliche Einverständnis des Westens mit den Tyrannen im Nahen und Mittleren Osten, die sich offenbar sowohl der Freiheit als auch dem Islam versperrten, eine Brutstätte des islamistischen Terrors geschaffen hatte. Und die Reaktionen der US-amerikanischen Regierung auf den 11. September förderten dies noch – wenngleich in einer Weise, die die BushAdministration allen lobenswerten Erklärungen zum Trotz, die Freiheit in der arabisch-islamischen Welt vorantreiben zu wollen, offensichtlich nicht wirklich durchdacht hatte.
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Bei der vorhergehenden Invasion in Afghanistan hingegen hatte Osama bin Laden sich verkalkuliert – sie sollte eine überzogene Reaktion auslösen, einen Angriff auf den Islam, der seinerseits Muslime weltweit zum Aufstand gegen den Westen und seine Verbündete anstacheln würde (siehe Kapitel III und IV). Ein Jahr nach Bushs Krieg im Irak rief bin Ladens Chefstratege Ayman al-Zawahiri alle Muslime dazu auf, Allah dafür zu danken, dass die USA in den Irak gekommen waren, da dies den tödlichen Rächerkult der Anhänger Osama bin Ladens verstärkt habe (wie Kritiker der Kriegspolitik im Irak, einschließlich meiner Person, wiederholt vorausgesagt hatten). Zawahiri zufolge würden die USA und ihre schwindenden Verbündeten so oder so verlieren, egal, ob sie die Stellung hielten oder abzögen – eine Logik, der man sich kaum verschließen kann. Und ein ganz reales Dilemma dazu. Alles, was nach einem erzwungenen oder politisch motivierten Abzug aussähe, würden die Dschihadisten als Sieg für sich verbuchen, und zwar in einer Reihe mit dem Sieg über die sowjetische Besatzung von Afghanistan 1979–89. Hatte man jenen Sieg noch mithilfe der USA errungen, wäre nun die Supermacht USA freilich nicht mithilfe einer anderen Supermacht besiegt, sondern einzig und allein durch die Kraft des religiösen Fanatismus. Und die Alternative – nicht abzuziehen und die Stellung zu halten – würde die Grenzen der viel gepriesenen Supermacht erst recht offenbaren. Die US-Truppen machten sich unter der irakischen Bevölkerung nach wie vor mehr Feinde als Freunde, auch wenn Gewaltanwendungen seit 2006 eher rückläufig seien. Da die überwiegende Mehrheit der Iraker die Besatzungsmacht weiterhin mehr als Teil des Problems denn als Lösung begriffen, mehr als Besatzer denn als Befreier, böten sie den Dschihadisten ein weites Trainingsfeld für Stadtkampf und Terrorismus – ebenfalls ganz im Sinne Zawahiris. Und indem sie die zielreiche Umgebung militärisch ausrüsteten, fungierten sie zudem als Rekrutierungstrupp für den internationalen Dschihadismus. Die ultraradikalen Dschihadisten hegten überdies die begründete Hoffnung, der Bürgerkrieg, den ihre Symbolfigur, der jordanische Fanatiker Abu Musab al-Zarqawi, durch eine blutige Kampagne gegen die schiitische Mehrheit im Irak anzufachen versucht hatte, werde nicht nur entflammen, sondern sich quer durch die Levante über den östlichen Teil der arabischen Halbinsel hinaus bis zum Indischen Subkontinent fortsetzen und zu einem sunnitisch-schiitischen Konflikt ausweiten. Im Mai 2003 lösten das Pentagon und der von ihm berufene Zivilverwalter des Irak, Paul Bremer, die irakische Armee auf. Doch das Dilemma war für die Besatzer damit nicht vorbei. Es spitzte sich vielmehr rasch zu. Mit der Auflösung der Armee war nämlich nicht nur das Rückgrat des Staates gebrochen, sondern auch das nationale Hauptorgan zerstört, das bereits vor der baathistischen Regierung existiert hatte. Knapp 400 000 Soldaten, mittellos zwar, aber schwer bewaffnet und gut ausgebildet, verstärkten die Reihen des sunnitischen Widerstands und
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ließen den erklärten Plan der USA, eine neue nationale Armee wiederaufzubauen, als wahnwitzige Idee erscheinen. Stattdessen waren Amerikaner und Briten gezwungen, sich auf die neu formierte Schia-Miliz und die kurdische Peschmerga zu stützen, was wiederum den Eindruck erweckte, sie würden in einem Religionskrieg Partei ergreifen. Genau das war den glücklosen amerikanischen und französischen multinationalen Truppen 1983/84 im Libanon widerfahren, wo man sie letztlich nur als eine Miliz von vielen im Bürgerkrieg ansah. Die Aufstockung der US-amerikanischen Truppen 2007/08 half wenig, diesen Eindruck zu revidieren. Ihr meistgepriesener Erfolg – die vorübergehende Allianz mit den sunnitischen Stammestruppen gegen al-Qaida – erweiterte den ohnehin verworrenen Konflikt nur um einen weiteren Aspekt (den wir in Kapitel IV noch ausführlich beleuchten werden). Gleichzeitig hatte die Anwesenheit der weltstärksten Armee als Frontmacht im arabischen Herzland zweifellos noch andere Konsequenzen. Die Machthaber der einzelnen Länder agierten sehr viel bedachter. So ließ etwa der ägyptische Präsident Muhammad Husni Mubarak erstmals Gegenkandiaten bei der Wahl zu seiner fünften Amtsperiode im September 2005 zu, die er denn auch mit einer Mehrheit von nur 88 Prozent gewann. Dennoch blieb, wie sich zwei Monate später in den Parlamentswahlen zeigen sollte, die offiziell verbotene fundamentalistische Muslimbruderschaft die stärkste und einzige organisierte Oppositionskraft in Ägypten. Das Königreich Saudi-Arabien hielt in jenem Frühjahr seine ersten, Männern vorbehaltenen Gemeindewahlen ab. Diese bescheidenen demokratischen Entwicklungsschritte wertete die Regierung Bush als wichtige Erfolge. Mit etwas mehr Berechtigung sahen die USA die Wahlen im Januar und Dezember 2005 im Irak sowie den zivilen Aufstand gegen die syrische Oberherrschaft im Libanon im Frühjahr des gleichen Jahres als maßgebliche Zeichen dafür an, dass „die Freiheit auf dem Vormarsch“ sei. Ohne Frage zeugt es von außerordentlicher Zivilcourage, dass Millionen von Irakern allen Gefahren und Einschüchterungen zum Trotz schließlich eine Übergangsregierung und verfassunggebende Versammlung wählten. Dieser Mut eines Volkes, das unter drei verheerenden Kriegen, 13 Jahren drakonischer Reglements und drei Jahrzehnten Saddam Hussein gelitten hatte, beeindruckte die arabische Welt zutiefst, und die an das Satellitenfernsehen angeschlossenen Araber begannen sich zu fragen, ob die Iraker tatsächlich im Begriff waren, die Zukunft ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen. Washington, das nach wie vor seine stümperhafte Strategie zu rechtfertigen suchte, verwies – zu einem gewissen Grad zu Recht – darauf, dass es diese erste freie Wahl unter Saddam nie gegeben hätte, ließ aber völlig außen vor, dass sie im Grunde genommen dem beharrlichen Einsatz von Großayatollah Ali alSistani zu verdanken war, dem höchsten schiitischen Geistlichen des heutigen Irak. Er war der eigentliche Wegbereiter. Er war es, der dreimal in Folge ein Veto eingelegt hatte gegen Pläne der US-geführten Besatzungsbehörden, die Wahlen
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aufzuschieben oder ganz aufzuheben, aus Furcht vor den unabsehbaren Folgen der aufkeimenden Demokratie. Er war es, der im Hintergrund die Fäden zog. Gleiches versuchte Rafiq al-Hariri im Libanon, der als Ministerpräsident den Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg entscheidend prägte und sich am Ende aus der syrischen Allianz löste. Er fiel im Februar 2005 einem Mordanschlag zum Opfer, den syrische Geheimdienstoffiziere in Auftrag gegeben haben sollen – in einer massiven Fehleinschätzung der Folgen: Der Mord an al-Hariri war der Sprengzünder für den Ausbruch einer zivilen Intifada, die kurz darauf die regionale und internationale Isolation Syriens besiegelte. Der blanke Zorn, der sich aus gescheiterten Hoffnungen speiste und sich in den Straßen Beiruts entlud, galt jedoch der Politik Syriens, nicht der der USA. Überall in der Region zeigten Live-Übertragungen via Satellit helle Scharen von Demonstranten mit Zedernflaggen – was die Grundfeste jedweder arabischen Autokratie mehr erschütterte als eine 180-Grad-Kehrtwende im politischen Kurs der Vereinigten Staaten. Ägypten und Saudi-Arabien, die beiden tonangebenden Diktaturen im arabischen Raum und wichtigsten Verbündeten Washingtons, drängten Baschar al-Assad vehement zu einem Abzug seiner Truppen aus dem Libanon, um die Krawalle in den Straßen Beiruts schnellstmöglich zu beenden. Die arabische Welt hat feine Antennen und reagiert hochsensibel auf scheinbare Veränderungen im politischen Gefüge der Region. Auch als die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice der ägyptischen Regierung nach der Verhaftung des Oppositionellen und Vorsitzenden der al-Ghad-Partei, Ayman Nour, Anfang 2005 eine scharfe Rüge erteilte, wurde das in der arabischen Welt aufmerksam wahrgenommen, jedoch auf die unerwartete Entscheidung von Präsident Mubarak bezogen, zu den anstehenden Präsidentschaftswahlen auch andere Kandidaten zuzulassen. (Aufmerksam wahrgenommen wurde freilich auch, dass Mubarak der Forderung Washingtons nach internationalen Wahlbeobachtern eine lange Nase machte und gelassen seinem Wahlsieg entgegensah; und dass er Nour in hintertückischer Weise um seinen Sitz im Parlament brachte und ihn anschließend verhaften ließ.) Niemandem entging zudem, dass Frankreich und die USA sich im UN-Sicherheitsrat gemeinsam gegen die syrische Dominanz im Libanon stellten (aber nur allzu gut erinnerte man sich auch daran, dass Syrien sich im ersten Golfkrieg gegen den Irak auf die Seite der USA geschlagen hatte, anschließend in letztlich fruchtlose Friedensverhandlungen mit Israel trat und seine Funktion als Besatzungsmacht im Libanon seither unbehelligt festigen konnte). Die Araber begriffen den Krieg Israels gegen die Hisbollah im Libanon im Sommer 2006 daher als logische Folge des unsinnigen Irak-Abenteuers der USA: als ein Nervenversagen in Reaktion auf das um sich greifende Gespenst des schiitischen Radikalismus, das unter Führung Teherans einen weiten Bogen vom Iran über den Irak bis an die Grenzen Israels spannte.
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Aber es ging nicht nur um Israel, das wie so oft keine Nervenstärke bewies, wenn es sich von schwächeren, aber raffinierten Gegnern zu einem ungleichen Krieg herausgefordert sah. Die Tatsache, dass die USA und Großbritannien sich weigerten, Israel in diesem Libanonfeldzug, der ganze 34 Tage dauerte, an die Kandare zu nehmen, wird nie vergessen und vergeben werden. Den Versuch, die islamistische Schia-Bewegung und Schia-Miliz zu zerstören, die Washington und London (sowie sunnitisch-arabischen Hauptstädten wie Kairo und Riad) als Speerspitze des Iran in der Levante gilt, sah man als bedauernswerten, aber notwendigen Preis, um Teherans vermeintliche Ambitionen in der Region aufzuhalten. Und aus eben diesem Grund konnte Israel ungehindert zahllose Dörfer im südlichen Libanon und der östlichen Bekaa-Ebene zerstören, Beiruts südliche Stadtbezirke in Schutt und Asche legen – kurz: den ganzen schiitischen Libanon verwüsten. Die offizielle Berichterstattung las sich freilich anders. Dort war die Rede von der von Bush angestrebten „Freiheit“, die dem Terrorismus ins Auge sah, oder von Tony Blairs „Bogen des Extremismus“. Vor dem Irakkrieg hingegen gab es keinen solchen „Bogen“, lediglich einen versprengten Radikalismus und ungelöste Konflikte um das Existenzrecht Israels. Das Verhalten der USA und Großbritanniens trug dazu bei, dass sich die Konflikte dreier Staaten ineinander verflochten. Dazu gehörten der gerade im Scheitern begriffene Libanon im Norden Israels, im Süden der bereits gescheiterte Möchtegern-Staat Palästina und im Osten der ohnehin zerbrochene Staat Irak. Das Fiasko des Libanonkriegs sollte sich mit dem Fiasko im Irak fortsetzen, wo man sich benahm „… wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen“3, wie Anthony Cordesman, US-Stratege und Unterstützer der Invasion im Irak, im Jahr 2006 anmerkte. Die Politik der USA war zudem hoffnungslos widersprüchlich. Im Libanon, wo es bereits eine demokratisch gewählte Regierung gab, setzte man alles daran, die Hisbollah zu zerstören, jene radikalislamische Schiitenmiliz, die sich im Widerstand gegen die israelische Invasion zusammengeschlossen und mit dem Iran verbündet hatte und (damals) Teil der gewählten Regierung war. Im Irak hingegen wurde eine mit dem Iran verbündete radikalislamische Schiitenmiliz, die Badr-Brigaden, ein bewaffneter Arm des Obersten Islamischen Rats im Irak (Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq, SCIRI), als Teil einer gewählten Regierung von Washington unterstützt. Derartige Widersprüche schmoren für gewöhnlich eine Weile vor sich hin, bis sie dann irgendwann überkochen. Der Libanonkrieg im Sommer 2006 hat gezeigt, in welchem Ausmaß das Debakel im Irak den Prozess der Demokratisierung ins Gegenteil verkehrt und es den USA und ihren Verbündeten so gut wie unmöglich gemacht hat, eine radikale neue Freiheitsagenda in der Region zu verfolgen. In diesem Buch werden wir immer wieder auf die Grenzen stoßen, vor denen der Westen sein erklärtes Ziel der Demokratisierung hintanstellt. Drei Konsequenzen aus dem Libanonkrieg seien an dieser Stelle bereits angesprochen.
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Erstens: Washington und London hatten völlig richtig erkannt, dass ihre Duldung des israelischen Angriffs auf den Libanon der wachsenden Beunruhigung ihrer sunnitisch-arabischen Verbündeten angesichts des vermehrten Einflusses des Iran in gewisser Weise entgegenkam. Aus Kairo, Riad und Amman hatte es anfangs sogar wohlwollende Stimmen zu diesem Krieg gegeben, weil er sich gegen die Hisbollah zu richten schien, die man als Erfüllungsgehilfen des Iran ansah. Saudische Regierungsvertreter warnten davor, „rechtmäßigen Widerstand“ mit „verantwortungslosem Abenteurertum“ zu verwechseln, während die Wahhabiten des Königreichs ihren Glaubensgenossen predigten, keine Sympathie für die götzendienerischen Schiiten zu hegen. Doch Israels hemmungslose Zerstörungswut im Libanon änderte all das. Arabische Führer, so stellte sich bald heraus, fürchteten die Reaktion ihrer Bevölkerung mindestens ebenso sehr (wenn nicht gar mehr) wie den iranischen Einfluss in der Levante und am Golf. König Abdullah von Saudi-Arabien, ein enger Verbündeter der USA, der auf dem Arabischen Gipfel in Beirut 2002 die arabischen Staaten bewogen hatte, Israel im Gegenzug für die Rückgabe der im Sechstagekrieg von 1967 eroberten Gebiete ein umfassendes Friedensangebot zu unterbreiten, sagte Ende Juli 2006, zwei Wochen nach Beginn des letzten Libanonkriegs, „Geduld [könne] nicht ewig währen“. Da die Geduld der arabischen Herrscher hinsichtlich der israelischen Expansion geradezu legendär genannt werden muss, ist zu vermuten, dass er sich mit diesen Worten auf den wachsenden Zorn seines Volkes bezog. Nie war es um mehr gegangen. Wörtlich sagte er: „Wenn die Friedensoption an der israelischen Arroganz scheitert, bleibt keine andere Alternative als Krieg.“ Zweitens: Das Libanon-Fiasko, in dem Israel (nicht anders als die USA im Irak) die Grenzen seiner militärischen Macht mehr als deutlich machte, während die Hisbollah sich behauptete, kam Teheran gerade recht. Es konnte dadurch den Eindruck erwecken, der Iran sei mithilfe seiner Verbündeten durchaus in der Lage, entlang der libanesisch-israelischen Grenze ein Gleichgewicht des Schreckens (und der Abschreckung) zu schaffen. Eine wichtige Erwägung für den Fall, dass die verfahrene Situation im Atomstreit mit dem Westen in Gewalt umschlagen würde. Drittens: Der von der Hisbollah errichtete Staat im Staate Libanon war so weit gediehen, dass er den Libanon fast schon ersetzen oder zumindest mattsetzen konnte. Der monatelange Krieg hob das Ansehen der Hisbollah gefährlich und fügte gleichzeitig der pro-westlichen und (in der arabischen Welt eine Seltenheit) demokratisch gewählten Koalitionsregierung des libanesischen Ministerpräsidenten Fouad Siniora tödliche Wunden zu. Nicht nur wurde der charismatische Hisbollah-Führer Sayed Hassan Nasrallah auf der Straße als Held vom Format eines Gamal Abdel Nasser gefeiert, und zwar von Sunniten ebenso wie von Schiiten. Seine Ton- und Videobänder mit Hetztiraden verkauften sich sogar besser als die des Popidols Nancy Ajram. Die
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arabischen Regime, denen Washington die Freundschaft bekundete, konnten dies nur gebührend zur Kenntnis nehmen. Und für Freund und Feind in der Region gab es daraus nur einen Schluss: Dass die Regierung Bush Israel stets und bedingungslos den Rücken stärken würde, selbst um den Preis eines weiteren gescheiterten Staates. Wie akut die Gefahr eines solchen Scheiterns im Mai 2008 wurde, nachdem die Hisbollah Westbeirut überrannt und den Libanon aus dem innerstaatlichen Nachkriegs-Stillstand gerissen hatte, werden wir noch ausführlich erörtern. Schon vorher wurde der arabischen Öffentlichkeit jedenfalls deutlich vor Augen geführt, wie vollkommen anders die USA und die führenden europäischen Länder mit den Baathistenregimen im Irak und in Syrien verfuhren. Das Irak-Abenteuer der USA wurde in der Region als Ausbund eines amerikanischen Unilateralismus gesehen, angetrieben von einer tödlichen Mischung aus Arroganz und Ignoranz, die sowohl den Dschihadismus stärkte als auch eine konfessionelle Zeitbombe im Herzen der arabischen Welt zum Ticken brachte. Die arabische Welt war geschockt, aber weniger gelähmt als vielmehr wutentbrannt über dieses blutige Fiasko im Libanon, das auf das Konto der syrischen Besatzer ging – eine Erfahrung, die einen wichtigen und eine Zeit lang auch potenziell heilsamen Kontrast zu den Massakern im Irak bot. Der politische Wandel im Libanon, der mitunter auf Syrien selbst überzugreifen schien, resultierte weniger aus unilateralen als aus multilateralen Bestrebungen (dem von den USA und Frankreich ausgeübten Druck auf die Vereinten Nationen), weniger aus zivilen als aus militärischen Aktionen (durch Libanons zivile Intifada), und führte – deutlich sichtbar und exemplarisch – demokratische Werte in die staatliche Rechts- und Steuerungsfähigkeit ein (durch die UN-mandatierte Ermittlung, die mit ihrer Härte die syrisch-libanesischen Sicherheitsdienste entmachtete). Nach wie vor hängt die Zukunft der arabischen Welt von diesen beiden Wandlungsprozessen ab – dem verpfuschten und brutalen, streckenweise aber auch heroischen Irak-Abenteuer sowie vom Fortgang des syrisch-libanesischen Dramas. Doch ein Stück weit ist der Wandel im Libanon auch das Verdienst der USA, die ihn in der Region als Ganzes vorantrieben. Die Erfahrungen, die die Araber in den vergangenen sechzig Jahren gemacht haben, lassen sich nicht mit geistreichen Erklärungen einfach ausradieren. Eines aber haben sie daraus gelernt: Den USA geht es im Nahen und Mittleren Osten lediglich um kurzfristige regionale Stabilität und billiges Öl, weshalb sie immer nur darauf bedacht waren, den Status quo zu halten und egal welche lokalen Machthaber entsprechend zu unterstützen (auch Saddam Hussein wurde von Washington schließlich einmal als unentbehrlicher Verbündeter angesehen). Wie viel arabische Demokratie kann Amerika aushalten? Und wie viel davon ist wirklich gewollt? Demokratie gestaltet sich nirgendwo auf der Welt einfach, in der arabischen Welt aber wäre sie das reinste Chaos. Das Irak-Abenteuer beispielsweise setzte
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eine ganze Reihe tektonischer Verschiebungen im politischen Gefüge in Gang. Es hat nicht nur die schiitische Mehrheit im Irak gestärkt, sondern die Schiiten insgesamt ermutigt, die seit dem Zusammenbruch der letzten Schiitenregierung, der heterodoxen und im alten Kairo angestammten Fatimidendynastie, im Jahr 1171 quer durch die arabische Region als geschmähte Minderheit unterdrückt wurden. Wie bereits erwähnt, sieht man in Washington und Europa durchaus die panische Angst, mit der die sunnitisch-arabischen Machthaber in den befreundeten Staaten auf die gewaltsamen Verschiebungen in diesem jahrhundertealten Machtgleichgewicht reagierten. An den politischen Schauplätzen, an denen die USA, der Iran und Saudi-Arabien am meisten um Einfluss konkurrieren – im Libanon, in Palästina und im Irak –, zeigen die Wahlen schon heute, dass islamistische Parteien wie Hisbollah, Hamas und Dawa in der Wählergunst hoch im Kurs stehen. In Algerien waren die islamistischen Parteien zu Beginn der 1990er-Jahre nahe daran, die Wahlen für sich zu entscheiden, und die militärische Unterdrückung des demokratischen Experiments stürzte das Land in einen blutigen Bürgerkrieg. Dass islamistische Parteien auch anderswo gute Chancen hätten (sofern echte Wahlen gestattet wären), zeigt die Parlamentswahl vom November 2005 in Ägypten, wo die unterdrückte Muslimbruderschaft einen Teilerfolg erringen konnte. Doch die arabischen Machthaber haben das politische Spektrum praktisch zerstört und ihren Gegnern damit keinen anderen Sammelpunkt gelassen als die Moscheen. So war es unvermeidlich, dass die islamistischen Erneuerer zu einer großen politischen Kraft erstarkten. Indem sie die Islamisten von rechts zu überflügeln suchten, insbesondere durch Allianzen mit der traditionell konservativen geistlichen Führung, konnten die Machthaber ihre fundamentalistische Anhängerschaft zunehmend ausbauen (mehr dazu im folgenden Kapitel). Die USA spielen sehr gut in dieses Muster hinein. Nach der Euphorie über die ersten Wahlen im Irak beispielsweise gab es eine lange, tödliche Pause bis zur Regierungsbildung. US-Vertreter warfen den untereinander verstrittenen irakischen Politikern vor, den Elan nicht genutzt zu haben, wodurch der Aufruhr im Land neuen politischen Schub bekommen konnte. Ein teils berechtigter Vorwurf, der indes nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass aufgestörte US-Vermittler nichts unversucht ließen, schiitisch-islamistische Gruppen an der Regierungsbeteiligung zu hindern, ja sogar alle Hebel in Bewegung setzten, um die Wahlergebnisse von vornherein gegen sie zu manipulieren. Noch einmal zurück zu der Grundsatzrede, die Condoleezza Rice in Kairo hielt. Unmittelbar im Anschluss an diese Rede stellte sie auf eine Frage hin klar, dass die USA keinesfalls in einen Dialog mit der Muslimbruderschaft eintreten würden, Ägyptens einflussreichster, wenn auch verbotener islamisch-fundamentalistisch oppositioneller Kraft. Demokratische Reformen und kurzfristige Stabilität sind oft zwei paar Stiefel. Das ist fast immer und überall so, wie in jüngster Vergangenheit in Lateiname-
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rika, Osteuropa, Schwarzafrika oder im südöstlichen Asien zu sehen war. In der arabischen Welt – wo Politik sich wie eine Verschwörungstheorie ausnimmt, deren Macher zwanghaft Komplotte schmieden, wo viele Länder einem Flickenteppich aus tribalen, ethnischen und religiösen Rivalitäten gleichen, die nicht einmal die eigenen Führer immer ganz verstehen – wird dies nicht anders sein. Ich werde zeigen, dass es Risiken gibt, große Risiken. Ich werde aber auch zeigen, dass diese Risiken eingegangen und durchgestanden werden müssen, wenn die Araber wieder in die Lage kommen wollen, ihre Geschicke selbst zu lenken. Fast alle, die für eine Demokratie-Strategie in den arabischen Ländern plädieren, tun dies in dem Glauben, dass Demokratie auch Stabilität bringen wird. Doch das wird sie nicht – zumindest nicht so rasch, wie es sich die meisten westlichen Politiker vorstellen. Vielmehr wäre Demokratie der Stabilität eher abträglich, würde sie doch als Verlängerung einer trostlosen, oft engstirnigen Politik ungreifbarer Turbanträger empfunden werden. Will der Westen, dem der Makel anhaftet, die Augen vor der Tyrannei zu verschließen und die Politik in der Region zum eigenen Vorteil zu manipulieren, das Pulverfass nicht entzünden, muss er die Araber in ihrem Recht auf freie Gestaltung ihrer Zukunft unterstützen. In einem vom arabischen Nachrichtensender al-Jazeera ausgestrahlten Video erklärte Ayman al-Zawahiri im Oktober 2005: „Die Amerikaner werden es niemals zulassen, dass ein islamisches Regime in der islamischen Welt an die Macht kommt, es sei denn, ein solches Regime würde voll und ganz mit ihnen zusammenarbeiten, wie es im Irak der Fall ist.“ Das sollte zu denken geben. Aber was, wenn al-Zawahiri falsch liegt? Wenn der Westen beschließen würde, den demokratischen Willen der Araber und Muslime zu respektieren? Was würde das für die Glaubwürdigkeit der Dschihad-Bewegung bedeuten? Machen wir uns nichts vor. Jegliche Liberalisierung, jegliche politische Öffnung im arabischen Kernland der muslimischen Welt wird zwangsläufig stark von einer islamisierten Politik gefärbt sein. Und jeglicher ideologischer Wandel wird dem Westen in Struktur und Praxis fremd anmuten. Die religiös-nationalistische Identität, die sich sehr wahrscheinlich mit dem Islamismus etablieren wird, lässt sich vielleicht am ehesten, wenn auch nicht ganz, mit dem europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts vergleichen, der die Staaten letztlich zukunftsfähig machte. Während dieser ideologische Wandlungsprozess langsam ins Rollen kommt, wird die Aufgabe darin bestehen, alles daran zu setzen, faschistische Varianten, wie sie im 20. Jahrhundert Europa zu schaffen machten, zu verhindern. Theoretisch dürfte dies machbar sein. Es bedarf jedoch einer ernst gemeinten Überprüfung der Politik – nicht lediglich freiheitlich klingender Lippenbekenntnisse. Dieses Buch wird die Politik, vor allem aber ihre Macher genau unter die Lupe nehmen. Und es wird deutlich machen, inwieweit sich die Politik, die US-amerikanische wie die arabische, ändern muss, damit echte, erkennbare Fortschritte
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erzielt und selbsterfüllende Prophezeiungen über einen kulturellen Konflikt vermieden werden können. Die USA müssen unmissverständlich und glaubwürdig darlegen, dass sie (anders als ihre britischen kolonialen Vorgänger) im Irak hinsichtlich Militärstützpunkten und Ausbeutung der Ölreserven keinerlei langfristige Pläne hegen, und sie müssen einen systematischen Rückzug durchführen. Das Chaos, das sie bereits angerichtet haben, ist derart groß, dass sich daran ohne Weiteres ein neuer Bürgerkrieg entzünden könnte – ein Krieg, der insofern in der Schwebe hängt, als die USA ihr riesiges Truppenkontingent kaum halten können. Doch nur die Iraker können sich letztlich aus diesem Fiasko befreien. Allerdings bedarf es entschiedener regionaler und multinationaler Unterstützung in Richtung auf eine pluralistische Gesellschaft und parlamentarische Regierung. In Israel-Palästina ist die Sache recht simpel: Dort müssten die USA unter Mitwirkung Europas unparteiisch vermitteln. Gerechtigkeit für Palästina und Sicherheit für Israel sind durchaus erreichbar – aber nur, wenn die USA begreifen, dass es nicht in ihrem nationalen Interesse liegen kann, Israel darin zu bestärken, arabisches Land zu besetzen. Und was die Europäische Union angeht, so ist deren politische Scharade, die israelischen Besatzer und die Palästinenser gleich zu behandeln, schlichtweg Heuchelei. Die USA werden künftig zunehmend mit gewaltfreien islamistischen Bewegungen zusammenarbeiten müssen, die die erwähnte Studie des DSB ganz richtig als das neu entstehende Zentrum politischer Anziehungskraft ausgemacht hat. Aber auch die weiterhin paramilitärisch organisierten Parteien wie Hisbollah oder Hamas müssen in das politische Spiel mit einbezogen werden. Sie zu ignorieren, hätte fatale Folgen – wie die palästinensischen Parlamentswahlen 2006 gezeigt haben, bei denen man vergeblich versuchte, die Hamas zu isolieren. Die USA und ihre Verbündeten ließen kaum eine Gelegenheit aus, offen zu zeigen, dass sich ihre Begeisterung für die demokratischen Gehversuche der arabischen Länder in Grenzen hält, und sorgten damit zu Recht für Empörung. Erwartungsgemäß ging aus den irakischen Wahlen 2005 die Vereinigte Irakische Allianz, ein überwiegend schiitisches Parteienbündnis, als Sieger hervor, was die beiden von Washington favorisierten Schiiten Ahmad Chalabi und Iyad Allawi bewog, ihre jeweilige Bewerbung um den Parteienvorsitz zurückzuziehen. Als Sieger – in einem Parlament, das zu rund zwei Dritteln aus Islamisten unterschiedlicher politischer Couleur bestand – ging Muqtada al-Sadr hervor, der Mann, der 2004 mit seiner Mahdi-Armee zwei schwere Aufstände gegen die alliierten Truppen ausgelöst hatte. Eine Zeit lang schien es in der Tat so, als kämen die demokratischen Bestrebungen der USA überwiegend ihren islamistischen Feinden und deren iranischen Schirmherren zugute. Angesichts der Wahlerfolge von Hisbollah und Hamas zog sich der Westen zurück – obgleich kein Zweifel daran bestand, dass diese
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Wahlen fair gelaufen waren. In einem strategisch wichtigen Land wie Ägypten, wo der verbotenen Muslimbruderschaft trotz offizieller Einschüchterungsversuche der Durchbruch gelungen war, hatte der Westen die Demokratiedebatte nicht wirklich vorangebracht. Ganz gleich, was das Regime Husni Mubaraks tut: An der Tatsache, dass Washington die ägyptische Armee alljährlich mit 1,3 Milliarden US-Dollar unterstützt, seit das Land vor dreißig Jahren Frieden mit Israel schloss, ist nicht zu rütteln. In der Türkei stimmte das Parlament (mit einer Mehrheit der neoislamistischkonservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP, die nach den Parlamentswahlen 2002 einen neuen Horizont für die friedliche Koexistenz von Islam und Demokratie eröffnete) gegen den Aufbau einer US-Nordfront gegen den Irak und handelte sich damit prompt eine öffentliche Rüge aus Washington ein. Zudem strichen die USA dem NATO-Mitglied inmitten seiner schwersten Finanzkrise seit 1949 umgehend ein bereits zugesagtes Darlehen in Höhe von rund 24 Milliarden US-Dollar. Blicken wir nach Pakistan. Die USA und ihre Bündnispartner unterstützten und finanzierten (mit 12 Milliarden US-Dollar) die Diktatur von General Pervez Musharraf in der festen Überzeugung, nur er (und die Armee als Pakistans letzte funktionierende Institution) könne verhindern, dass sein mit Atomwaffen gerüstetes Land den Dschihadisten anheimfällt. Mullahs mit Atomwaffen – ein Schreckgespenst! Die Wirklichkeit aber zeichnet ein anderes Bild. Der Radikalislamismus bekam durch die von General Musharraf betriebene Marginalisierung der Volksparteien enormen Auftrieb, während der föderale Staat Pakistan vom Dschihadismus, von Aufständen und ethno-religiösen Konflikten auseinandergerissen wurde. Trotz alledem: Die Wahlergebnisse zeigen, dass die Islamisten allein mit dem Rückenwind ihrer Ideologie kaum über 15 bis 25 Prozent der Stimmen erreichen (in Indonesien, Malaysia, Algerien, Marokko, Jordanien und Ägypten) – es sei denn, sie haben sich das Image von Widerstandskämpfern bewahrt (wie etwa Hamas, Hisbollah oder die Sadristen im Irak). Ihre Chancen wachsen freilich, solange der Westen als heimlicher Unterstützer despotischer Regime gesehen wird, die gegen den Islam und die Freiheit gerichtet scheinen. Den „Realisten“ sollte dies zu denken geben. Die Türkei machte mit der triumphalen Wiederwahl der AKP bei den Parlamentswahlen 2007 vor, dass die Islamisten tatsächlich und dauerhaft zum Erfolg kommen können, wenn sie den Radikalismus über Bord werfen und an die neue Mitte appellieren, kurz: wenn sie zum muslimischen Äquivalent der Christdemokraten werden (der gescheiterte Versuch des säkularen Establishments 2008, die AKP durch das Verfassungsgericht aufzulösen und ihre Führer zu verbannen, entkräftet diese Tatsache nicht, sondern unterstreicht sie eher). Freiheit ist die unabdingbare Plattform für Erfolg, Wohlstand, Stabilität und Sicherheit – in der arabisch-muslimischen Welt ebenso wie anderswo.
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Die USA und Europa müssen aufhören, arabische Despoten zu unterstützen (oder die ägyptische Armee zu finanzieren) und ihr politisches Handeln klipp und klar auf die Demokratie und deren Verfechter hin ausrichten. Dabei geht es nicht darum, die bestehende Ordnung zu destabilisieren (immer ein einfaches Rezept für die Änderung eines Regierungssystems). Vielmehr geht es darum, diejenigen Elemente zu fördern, die sie am Ende vielleicht ersetzen können. Araber und Muslime sollten zumindest erwarten können, dass die USA und ihre Verbündeten nicht jene aktiv unterstützen, die ihnen die Freiheit verwehren. Die Arroganz einer ganz unverhohlen, aber selektiv eingesetzten Militärmacht hat im Nahen und Mittleren Osten nicht nur Chaos und Verwüstung angerichtet, sie hat auch die von Bush ausgerufene Freiheitsagenda enorm in Misskredit gebracht (von dem von Blair unterstützten liberalen Internationalismus gar nicht zu reden). Der Markt der politischen Ideen scheint anderen Märkten nicht ganz unähnlich: Mit kurzfristigen Reaktionen korrigiert man keine Auswüchse, man schießt nur meist über das Ziel hinaus. Genau das passiert derzeit mit dem westlichen Rückzug auf einen seichten und fadenscheinigen „Realismus“, der das Bestreben der Araber nach Demokratie rücksichtslos ausmanövriert und sie zurück auf ihren angestammten Platz der „Arabischen Ausnahmestellung“ verweist. Doch das wird schlichtweg nicht funktionieren. Gewiss, kein politischer Kurswechsel zielt auf den Vormarsch der Dschihadisten. Das wäre katastrophal. Die Dschihadisten sind bereits kurz davor, die muslimische Mehrheitsmeinung und Gesellschaft zu durchdringen. Und so wie es sich derzeit darstellt, ist die westliche Politik dabei ihr zuverlässigster Verbündeter. Der beginnende Umbruch ist nicht etwa ein regelmäßig wiederkehrendes Auf und Ab in den Beziehungen zwischen West und Ost. Wenn sich der politische Kurs nicht ändert, sind Konflikte zwischen der westlichen und der muslimischen Welt auf mindestens eine Generation hinaus vorprogrammiert. Dann wird sich über die arabisch-muslimischen Länder ein neomittelalterliches Leichentuch legen – und die gemeinsamen Werte der islamischen und westlichen Welt werden zu Staub zerfallen.
II Der Despot in seinem Labyrinth
Mein gefährliches Leben (engl. Originaltitel: Uneasy Lies the Head) lautet der Titel der Autobiographie des verstorbenen König Hussein von Jordanien. Stets freundlich (und seinerseits dem abendländischen Kulturkreis nie gefährlich), war Hussein der arabische „Lieblingsdespot“ des Westens. Er überstand zahllose Verschwörungen, Putschversuche und Aufstände im eigenen Land, drei arabisch-israelische Kriege, zwei Golfkriege und einen palästinensischen Bürgerkrieg, und er entging im Laufe seiner 46-jährigen Herrschaft über das Wüstenkönigreich rund einem Dutzend Mordanschläge. Dieses Königreich hatten die Briten als Pufferstaat zwischen dem arabischen Osten und dem jüdischen Siedlungsgebiet in der Levante errichtet, und dementsprechend war es von Anfang an Übergriffen seiner Nachbarstaaten wie Israel, Irak und Saudi-Arabien ausgesetzt. Und auch der jordanische König selbst wurde immer wieder von arabisch-nationalistischen Rivalen wie Gamal Abdel Nasser in Ägypten, Hafez al-Assad in Syrien oder Jassir Arafat von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) angegriffen. Der haschemitische Monarch Hussein, ein direkter Nachfahre des Propheten Mohammed und der Scharifen von Mekka, die die arabische Revolte gegen das Osmanische Reich angezettelt hatten, war stets von der Legitimität seiner Herrschaft überzeugt und strahlte dies auch aus. Um an der Macht zu bleiben, war er, wenngleich der weltoffenste aller arabischen Alleinherrscher, dennoch auf das Militär und seine allgegenwärtige Geheimpolizei, den Mukhabarat, angewiesen. Auch für den liberal gesinnten, charismatischen König war die Armee die wichtigste Institution im Land. Diese Tatsache schmälert nicht automatisch den Wert seiner oft liberalen politischen Gesinnung. Er verfügte über Fähigkeiten, die für das politische Überleben im Nahen und Mittleren Osten unabdingbar sind: einen kühlen Kopf, stoische Ruhe und Nerven wie Drahtseile, die Wandelbarkeit eines Chamäleons und die (durchaus berechnende) Großzügigkeit eines Stammespatriarchen sowie die schonungslose Härte eines Militärkommandanten. Alles Genannte zeigt nur, dass sich selbst ein Veränderungen gegenüber aufgeschlossener Führer, ein königlicher Populist, der das Wort „Demokratie“ in den Mund nehmen konnte, ohne das Gesicht zu verziehen, ein Monarch, der bereit war, (zumindest etwas) von seiner Macht mit den Islamisten zu teilen, letztlich nicht grundlegend von anderen Machthabern unterschied.
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Auf dem Totenbett bestimmte der König nicht etwa seinen belesenen Bruder Hassan zu seinem Nachfolger, der 34 Jahre lang sein engster Vertrauter gewesen war. Er übergab das Szepter vielmehr an seinen Sohn Abdullah, den jungen Befehlshaber der jordanischen Elitetruppen und Absolvent der britischen Militärakademie Sandhurst, der als Generalmajor zwischen Armee und Geheimdiensten stand. Trotz der dynastischen Intrigen (fast fühlt man sich an ein Stück von Shakespeare erinnert), die sich während der letzten Krankheit des Königs im Palast entspannen, wobei Husseins und Hassans Gemahlinnen nichts unversucht ließen, den Thronanspruch ihres jeweiligen Sohnes (der zu jener Zeit noch im Teenageralter befindlichen Prinzen Hamza und Rashid) durchzusetzen, war es die traurige Realität der arabischen Politik, die letztlich den Ausschlag für seine Entscheidung gab.1 In einem zornigen Brief – der ungewöhnlicherweise veröffentlicht wurde – beschuldigte König Hussein seinen Bruder, die Herrscherposition benutzt zu haben, um sich in militärische Angelegenheiten einzumischen. Dabei hatte der in Oxford ausgebildete Prinz Hassan mit der Armee ebenso wenig zu schaffen gehabt wie mit den gewöhnlichen Bürgern Jordaniens, die von dem missliebigen Frieden mit Israel enttäuscht waren, der ihnen nicht den vom König – wohl vorschnell – versprochenen besseren Lebensstandard brachte. In dem von ihm gewählten Nachfolger, der politisch zwar unerfahren, aber ein Vollblut-General war, sah Hussein einen sehr viel geeigneteren Lotsen, um das Land durch die bewegten Wasser der Zukunft zu steuern. Wenn die Monarchie die bestimmende Staatsform Jordaniens ist, hängt das Fortbestehen des Landes von seiner Armee ab. Es ist eine Stammesarmee, bestehend aus Bewohnern des Westjordanlands (sprich einheimischen Jordaniern), und das in einem Land, wo gut zwei Drittel der Bevölkerung ursprünglich Palästinenser sind, die nach der Staatsgründung Israels 1948 und der israelischen Besetzung der Westbank und Ostjerusalems 1967 in das heutige Jordanien übersiedelten. Diese Armee aus beduinischen Loyalisten bildet das Fundament der haschemitischen Herrschaft. Die Armee hat ihren Ursprung in der Arabischen Legion (al-Jaish al-Arabi), die von den Briten im Jahr 1920 ins Leben gerufen wurde, um das damalige Emirat Transjordanien gegen die marodierenden saudischen Wahhabiten zu verteidigen, und formte sich dann in einem dreißigjährigen Dschihad. Für den jungen König Hussein, der mit 17 Jahren den Thron bestieg, wurde sie zu einem wichtigen Mittel, die politisch unsichere Lage des Landes in den Griff zu bekommen. Endgültig festigen konnte Hussein seine Machtposition aber erst 1956, als er die Arabische Legion „arabisierte“, indem er schwelende nationalistische Tendenzen innerhalb des Offizierskorps dadurch ausmerzte, dass er den legendären Oberbefehlshaber der Armee John Bagot Glubb (genannt Glubb Pascha) sowie sämtliche britischen Generäle entließ. „Husseins Grund dafür, Glubb zu entlas-
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sen, war seine Furcht, von der nationalistischen Bewegung überrannt zu werden, wenn er sich nicht selbst an ihre Spitze stellte“, schreibt Avi Shlaim in seiner brillanten Biographie des Königs. Und weiter: „Die Arabische Legion war die stärkste nationalistische Einrichtung in Jordanien, doch sie stand unter Führung altgedienter Offiziere, die ihre Loyalität gegenüber Großbritannien nicht aufgeben konnten.“2 Von diesem wagemutigen Schritt in jungen Jahren – Hussein war damals gerade 21 – gegen die britische Kolonialmacht bis zu der auf dem Totenbett getroffenenen Entscheidung, seinen Bruder Hassan von der Thronfolge auszuschließen, waren solche Aktionen kennzeichnend für Husseins Herrschaft: ein geschickter Autoritarismus, der letztlich von seiner Armee getragen wurde. Obgleich sichtlich erbost über die Palastintrigen in Amman, die er aus den USA verfolgte, wo er sich einer Krebsbehandlung unterzog, war König Husseins Entscheidung hinsichtlich seiner Nachfolge rein strategisches Kalkül. Er hatte auf einen regionalen Frieden gesetzt, in dem sich Jordanien, gemeinsam mit Israel und den Palästinensern, zu einem florierenden Wirtschaftsstaat mit gesunder Mittelschicht entwickeln würde. Doch diese Rechnung ging nicht auf, und auch der Friedensprozess geriet ins Stocken. Hauptgründe waren die Ermordung des israelischen Premierministers und Friedensarchitekten Jitzchak Rabin 1995 durch einen jüdischen Fanatiker, die nachfolgende Wahl Benjamin Netanjahus zum Ministerpräsidenten – an der Spitze einer hochgradig nationalistisch orientierten Regierung – sowie eine überwältigende Ablehnung des Friedensvertrags mit Israel von 1994 im eigenen Land. Mit am unglücklichsten über den Vertrag waren die einheimischen Jordanier, weniger die palästinensische Mehrheit, die den Haschemiten gemeinhin als das größte inländische Sicherheitsrisiko galt. Prinz Abdullah, der an der Spitze seiner Elitetruppen 1996 die Brotaufstände im loyalistischen Süden des Landes unterdrückt hatte, war eher zuzutrauen, die Probleme energisch anzupacken, als dem bedächtigen Prinz Hassan. Wie ein jordanischer Historiker formulierte, erkannte König Hussein schon sehr früh „die Besonderheiten seiner eigenen Vorzüge und Verpflichtungen“ und „achtete stets darauf, nur innerhalb seiner Grenzen zu operieren“.3 1989 hatte Hussein – abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel 1962/63 – die ersten jordanischen Parlamentswahlen seit 1957 abgehalten; damals war jeder Anschein von Demokratie aufgegeben worden, als der junge König mit seiner Beduinenarmee Nasseristische Unruhen sowie eine Reihe von Putschversuchen niederschlug. Damit ging er ein sorgfältig kalkuliertes Risiko ein. Gewinner dieses Experiments einer gelenkten Demokratie waren die Islamisten, die sich vorwiegend innerhalb des jordanischen Ablegers der pan-islamistischen Muslimischen Bruderschaft (al-Ikhwan al-Muslimeen) sammelten, der später formell die Bezeichnung Islamische Aktionsfront (IAF) erhielt. Mit 34 von 80 Sitzen stellten die Islamisten den größten und einzigen ideologisch zusammen-
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hängenden Block. 1990/91 ging der König noch einen Schritt weiter und holte vier Muslimbrüder in das Kabinett. Doch zunächst verpflichtete er die Führerschaft der Islamisten mittels einer Nationalcharta zum konstitutionellen Konsens. Mit dieser Nationalcharta war der Kurs in Richtung gelenkte Demokratie abgesteckt. Darüber hinaus stellte sie den Islam als nur eine Quelle politischer Legitimität neben die Rechtsansprüche des jordanischen Patriotismus und arabischen Nationalismus sowie universelle Werte.4 Bis heute gilt die Jordanische Nationalcharta, die den Entwicklungen anderswo in der Region entgegenlief, als eines der wichtigsten politischen Dokumente der modernen arabischen Welt. Ein paar Beispiele dazu: 1982 brach in der syrischen Stadt Hama ein Aufruhr der Muslimischen Bruderschaft aus, woraufhin das dortige Militär die halbe Stadt niederwalzte und schätzungsweise 20 000 Menschen tötete. In Ägypten, wo die Bruderschaft 1928 gegründet worden war, schlugen die Militärs kurz darauf einen radikalislamischen Aufstand nieder und nutzten diesen fortan als Vorwand für ihr weiteres brutales und rigoroses Vorgehen gegen die (in Ägypten illegale) Bruderschaft. Jordanien hingegen agierte nach der Devise, dass die breite Masse der Islamisten eine politische Kraft sei, an der man nicht vorbeikomme und die es deshalb in das demokratische Rahmenwerk einzubinden gelte. König Hussein selbst sah seine demokratischen Ambitionen stets eng an die tribalen und militärischen Wurzeln seiner Herrschaft geknüpft. Seine freundschaftliche Beziehung zur Bruderschaft geht auf die 1950er-Jahre zurück, als er aus verschiedenen Gründen eine Gegenkraft zur Nasseristischen Linken brauchte. Während alle sonstigen politischen Aktivitäten ab 1957 ausgesetzt wurden, erhielt die Bruderschaft, deren Führungsschicht sich traditionell aus angesehenen Familien aus dem Ostjordanland rekrutiert, einen Rechtsstatus knapp unterhalb einer politischen Partei, was ihr für drei Jahrzehnte ein informelles politisches Monopol sicherte. 1990/91 erlebte Jordanien eine Phase internationaler und regionaler Isolation. In dieser Situation traf der König eine strategische Entscheidung, die vor allem bei der Bevölkerung großen Anklang fand: Er verweigerte der US-geführten und arabisch-unterstützten Koalition im ersten Golfkrieg seine Hilfe, Saddam Hussein gewaltsam aus Kuwait zu vertreiben. Dafür zahlte er freilich einen hohen Preis. Um das System zu stabilisieren, unterstützte König Hussein die Bruderschaft. Als diese und die IAF jedoch begannen, eine eigene, vom Palast unabhängige Agenda zu verfolgen, änderte er kurzerhand die Spielregeln und erließ neue Wahlgesetze, um auch künftig die Mehrheit der beduinischen Loyalisten und Stammesfürsten im Parlament zu garantieren. Und als der Frieden mit Israel auf zunehmend mehr Unmut stieß, ruderte der König mit seinen demokratischen Reformen wieder zurück und beschränkte den politischen Wandel auf jährliche, aber weitgehend bedeutungslose Regierungswechsel (in 46 Jahren gab es 56 Ministerpräsidenten).
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Dieses Vorgehen führte zu umfangreichen Veränderungen im Land. Das Verhalten König Husseins – sei es aufgrund mangelnder Nervenstärke oder purem Machterhaltungstrieb – machte die Chance zunichte, neue Formen der (demokratischen) Legitimität zu entwickeln. So sehr König Hussein seinen politischen Opportunismus den anderen arabischen Herrschern auch als Modell anpries, konnten diese doch hinlänglich erkennen, was er damit bezwecken wollte. Im Grunde spielte er kein anderes Spiel als die deutlich weniger „milden“ Despoten der Region. *** Wie in Kapitel I erwähnt, gibt es drei Merkmale, die die arabischen Regierungssysteme kennzeichnen: Sie alle sind autokratisch geführt, sie basieren auf der Macht des Militärs und des Mukhabarat, und ihre Führer befinden sich in einer Legitimitätskrise. Selbst ein Regent wie König Hussein, der scheinbar alle politische und religiöse Legitimität besaß, konnte oder wollte seine Macht nicht allein darauf bauen, und auf ein demokratisches Lotteriespiel schon gleich gar nicht. Er ging auf Nummer sicher und setzte auf die Armee. Von einer solchen Legitimitätskrise sind alle arabischen Herrscher betroffen, manche mehr, manche weniger – sie ist der Kern des Dramas in der arabischen Region: ideologisch, politisch und religiös. In ideologischer Hinsicht entstand ein Vakuum, da Programme wie der Panarabische Nationalismus (unter Nasser in Ägypten, in den Baath-Parteien in Syrien und dem Irak oder in der „Nationalen Befreiungsfront“, FLN, der algerischen Einheitspartei) und der „Arabische Sozialismus“ (Staatskapitalismus mit sozialistischem Duktus und einigen Landreformen) es nicht schafften, den wirtschaftlichen Fortschritt oder die Rechte der Araber in Palästina voranzubringen. Der Panarabische Nationalismus, das sollten wir uns an dieser Stelle ins Gedächtnis rufen, erlangte in den rund drei Jahrzehnten zwischen Zweitem Weltkrieg und dem arabisch-israelischen Krieg 1967 in der gesamten arabischen Welt politische Vorrangstellung. Viele seiner Theoretiker und etliche seiner Führer – wie Michel Aflaq, syrischer Mitbegründer der Baath-Partei (Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung) – waren Christen, die Missionarsschulen und westliche Universitäten besucht hatten. Zwei prominente PLO-Führer, George Habash und Nayef Hawatmeh, waren Christen. Und auch George Antonius, der erste arabische Historiker des arabischen Nationalismus und Autor des bahnbrechenden Werkes The Arab Awakening (1938), war Christ. Der Westen – wir befinden uns im Kalten Krieg! – sah im Panarabismus ein nützliches Gegengewicht zum Einfluss des Kommunismus, der im Irak (dort vor allem bei den Schiiten) große Bedeutung hatte und zeitweise auch in Syrien und Ägypten eine gewichtige Rolle spielte. In geringerem Maße galt dies auch für das Jordanien König Husseins, wo man es für vorteilhaft erachtete, ihn zu einer Be-
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drohung für die gesamte Region aufzubauschen. Gleichzeitig wurde der Panarabismus von islamischen Erneuerern als ausländischer Versuch begriffen, in Nachahmung westlicher Aufklärungstradition und europäischer Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts die islamische Identität zu unterminieren. Die Islamistische Dawa-Bewegung im Irak etwa wurde teils als Reaktion auf den Kommunismus gesehen, teils als Replik auf den säkularen republikanischen Nationalismus. Die panarabischen ‚Revolutionen‘ in Ägypten, Syrien und dem Irak (in Wirklichkeit Putschversuche, die von gelenkten sozialen Unruhen begleitet wurden) reichten freilich aus, um diese Länder von ihren Eliten zu befreien und die Entstehung einer nationalen Bourgeoisie und deren normale Begleiterscheinung, die bourgeoise Demokratie, im Keim zu ersticken. An ihre Stelle trat vorrangig die Armee. Diese neuen, angeblich ur-islamischen panarabischen Ideologien und ihre visionären Führer traten mit dem Anspruch auf, die Araber ein für allemal aus der Kolonialherrschaft zu befreien und sie zu befähigen, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Ihren Höhepunkt erreichten sie mit der Suezkrise 1956, als Großbritannien und Frankreich in Reaktion auf Nassers Verstaatlichung des Suezkanals nach geheimen Absprachen mit Israel ägyptisches Staatsgebiet besetzten, auf massiven Druck der USA hin jedoch wieder abziehen mussten. Für einen kurzen Moment schien es, als hätte ein selbstbestimmter, moderner und republikanischer Nationalismus die arabische Welt erfasst; ein kolonialer Vorstoß der Europäer in die Region war erfolgreich abgewehrt, und zwar in Abstimmung, wenn nicht gar in Allianz mit den USA. Was folgte, waren zehn Jahre großer Worte und politischer Improvisationen, in denen arabische Führer immer wieder aneinandergerieten, ihre Völker gegeneinander aufstachelten, wobei die Konflikte sich im Rahmen des Kalten Kriegs zwischen dem Westen und der Sowjetunion hochschaukelten. Und letzlich fackelte das panarabische Gebäude in der vernichtenden Niederlage des Sechstagekriegs mit Israel 1967 buchstäblich ab. Der Panarabismus, der nationale Agenden und den Machtwillen der islamisch verwurzelten neuen Eliten verschleierte, erwies sich als ein grausames Blendwerk.5 Die Araber, für die ihre riesigen Erdölvorkommen Fluch und Segen zugleich sind, sehen sich permanenten Einmischungen von außen – sowie wiederholten Niederlagen vonseiten der Israelis – ausgesetzt, denen sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Rückständigkeit kaum etwas entgegenhalten können. Die Arabische Liga hat es nicht geschafft, echten Zusammenhalt, eine konstruktive und souveräne Identität zu fördern oder den Arabern eine geachtete Stimme auf der weltpolitischen Bühne zu verleihen. Überdies gibt es keinen Führer, der über die moralische Autorität verfügte, für alle Araber zu sprechen. Die groteske Inszenierung Saddam Husseins, der sich in den 1980er- und 1990erJahren als „Schwert der Araber“ stilisierte, eine direkte Abstammungslinie zum Propheten Mohammed konstruierte und sich zum Erben Saladins und Nebu-
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kadnezars, der Eroberer von Jerusalem, erklärte, zeigt die Bodenlosigkeit dieses Vakuums, dieses politischen Nichts. Anfangs sah es ganz danach aus, als könnten die feudalen Monarchien am Golf, in Jordanien und Marokko von der Hohlheit der Nassers und Saddams profitieren. Langfristigere Gewinner dürften jedoch die islamistischen Erneuerer sein, die in dieses Vakuum vorstießen, die gefallenen Banner des Nationalismus aufgriffen und ihre eigene amorphe Ideologie als Befreiungstheologie verkauften. Paradoxon dieser Legitimationskrise ist, dass die Islamisten dabei von eben jenen arabischen Regimes Unterstützung erfuhren, die sie rigoros unterdrückten. Warum? Weil die vom Westen gehätschelten arabischen Herrscher es zumeist versäumten, Einrichtungen aufzubauen, die erfolgreiche moderne Gesellschaften zum Leben brauchen, und weil sie die Bürger nicht mit einbezogen. Damit leisteten sie dem Sirenengesang der Fundamentalisten Vorschub. Der Slogan der Muslimbruderschaft bringt es auf den Punkt: „Der Islam ist die Lösung“. Überdies war die Unterdrückung sämtlicher Oppositionsgruppen quer durch das politische Spektrum derart radikal, dass ihren Gegnern nur Moscheen als Rückzugs- und Versammlungsorte blieben. Ägypten beispielsweise konnte zwar in den 1990er-Jahren einen islamistischen Aufstand niederschlagen, gleichzeitig jedoch entstanden bis Mitte des gleichen Jahrzehnts schätzungsweise 40 000 nicht genehmigte Moscheen.6 Gewiss, kein arabischer Führer kann im Kommunikationszeitalter die öffentliche Meinung ignorieren. Aber es stimmt auch, dass die Art und Weise, in der die arabischen Machthaber die politische Mehrheitsmeinung unterbanden, den gewaltbereiten Strömungen Auftrieb gab, die, durch die Moscheen kanalisiert, den Islamisten letztlich das Monopol auf abweichende Meinungen verliehen. Ein Minister aus Bahrain formulierte es mit Bezug auf die muslimischen Gebetszeiten so: „Keine andere Partei hat die Möglichkeit, mit den Massen derart in Berührung zu kommen – fünfmal am Tag, Tag für Tag, Jahr für Jahr.“7 Hinzu kommt, dass arabische Herrscher durch opportunistische Allianzen mit Islamisten den politisch-religiösen Extremismus unterstützten – ein Problem, das man seit einem guten halben Jahrhundert im gesamten Nahen und Mittleren Osten findet. In den 1970er-Jahren benutzte Anwar as-Sadat, der 1981 von Islamisten aus seiner eigenen Armee ermordet wurde und im Westen und Israel als Musterbeispiel arabischer Mäßigung galt, die Islamisten (darunter die damals noch in den Kinderschuhen steckende militante ägyptisch-islamistische Bewegung al-Dschamaa al-Islamiyya, die später die Aufstände der 1990er-Jahre anzetteln sollte) dazu, Linke und Nasseristen an den Universitäten des Landes auszumerzen. Auch König Hussein paktierte, wie erwähnt, schon in den 1950ern mit der Muslimbruderschaft, um die Nasseristen in Schach zu halten. Und Israel, das viele der politischen Gewohnheiten seiner arabischen Nachbarn übernommen hat, verfuhr nicht anders und erteilte in den 1980er-Jahren der Muslimbruderschaft in den
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besetzten Gebieten einen Freibrief, um ein Erstarken von Jassir Arafats PLO zu vereiteln. Eine kurzsichtige Politik freilich, wie sich bald herausstellte, da die Palästinensische Bruderschaft die Hamas ins Leben rief, bis heute Israels unerbittlichster Feind.8 Die saudische Herrscherfamilie, die jegliche islamistische (oder anderweitige) Anfechtung ihres Machtmonopols rigoros unterdrückt, versucht seit fast vierzig Jahren, außerhalb des Landes Einfluss und innerhalb des Landes Legitimation zu gewinnen, indem sie Moscheen und Einrichtungen der Wahhabiten finanziert. Allein während der Herrschaft König Fahds, so ließ Riad verlauten, habe man 1359 Moscheen im Ausland gegründet, dazu 202 Hochschulen, 210 islamische Zentren und mehr als 200 Schulen. Die Saudis unterstützten auch islamistische Gruppierungen (darunter die Muslimbruderschaft) quer durch die muslimische und die westliche Welt. So wurde der Anschlag auf die Große Moschee in Mekka 1979 (der zu einer blutigen Belagerung führte, die das gesamte Königreich und die Dynastie al-Saud tief erschütterte) von religiösen Extremisten ausgeführt, die unter dem Einfluss der Muslimbruderschaft standen.9 Etwas weiter entfernt paktierte die Regierung Tansu Cillers, die Anfang der 1990er-Jahre als Ministerpräsidentin einer selbstsicheren und weltlich orientierten Türkei zum Liebling des Westens avancierte, mit islamistischen Paramilitärs im erbitterten Kampf gegen kurdische Separatisten im Südosten des Landes – ein Zweckbündnis, das sich später, im November 2003, mit den Al-Qaida-Bombenanschlägen in Istanbul rächen sollte. In Pakistan investierten Militärkommandanten, selbst die liberalen unter ihnen, aus zwingenden taktischen Gründen in den Dschihadismus. Militante islamistische Truppen, die selten mehr als ein paar tausend Köpfe zählten und die Selbstbestimmung Kaschmirs forderten, schafften es gar, eine 500 000 Mann starke indische Armee im Tal von Kaschmir festzunageln, die zuvor pakistanische Truppen geschlagen hatte. In Afghanistan und entlang der pakistanischen Grenze führten die gleichen dschihadistischen Netzwerke bis zu den Taliban in Afghanistan – ein Gebiet, das viele pakistanische Generäle für unabdingbar erachten, um „strategische Tiefe“ gegenüber Indien zu erlangen. Das folgenschwerste Beispiel des Schmusekurses mit dem Fundamentalismus war natürlich die Unterstützung (u. a. durch Waffenlieferungen) des Dschihads gegen die Sowjetunion in den Jahren 1979–89 durch die USA. Saudi-Arabien steuerte Freiwillige bei, Pakistan die Logistik. Washington zögerte nicht, seine im Kalten Krieg begründeten Ziele unter dem Deckmäntelchen des Heiligen Kriegs der Mudschaheddin fortzusetzen. Ergebnis dieses Abenteuers waren jene Zehntausende kampferprobten „arabisch-afghanischen“ Freiwilligen – viele von Osama bin Laden rekrutiert –, die heute weltweit als al-Qaida bekannt sind: eine überall und nirgends ansässige Internationale von Gotteskriegern, für die zum großen Teil die USA mitverantwortlich sind.10
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Auch das ist freilich nicht wirklich neu. Als Großbritannien und die USA die nationalistische Regierung Mohammad Mossadeghs im Iran 1953 erfolgreich stürzten und den Schah wiedereinsetzten, holte die CIA mehrere Ayatollahs aus der heiligen Stadt Qom, um in einem gemeinsamen Dschihad gegen den gottlosen Kommunismus anzutreten. Der Rest ist Geschichte. Nach dem Triumph der Ayatollahs in Teheran 1979 wandten sich der Westen und seine arabischen Verbündeten dem mächtigsten aller Machthaber, Saddam Hussein, zu und boten ihm finanzielle und militärische Unterstützung für seinen Krieg gegen den Iran 1980–88 an. Saddam sah sich damit in seinen Unternehmungen bestärkt, marschierte in Kuwait ein und bedrohte Saudi-Arabien. Der Weg des Opportunismus im Nahen und Mittleren Osten hat sich nicht immer als ein glücklicher erwiesen. Vielleicht nicht weniger heimtückisch im sozialen und politischen Kontext der arabischen Welt ist eine andere Form von Opportunismus, die von den Machthabern der Region praktiziert wird. Sie hängen ihr Fähnchen in den Wind, indem sie landesübliche, selten jedoch glaubwürdige Frömmigkeitsbezeugungen zur Schau stellen. Die Häufigkeit, mit der beispielsweise Bilder des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak samt Gefolge und des jordanischen Königs Abdullah samt Familie auf Pilgerreise in Mekka erscheinen, hat neue Maßstäbe gesetzt. Sich gemäß islamischer Vorschriften zu kleiden und körperlich zu reinigen ist die Regel geworden, und islamische Fernsehprediger sind die neuen Medienstars. Vorbei die Tage, als Mubarak den Abriss eines Minaretts anordnen konnte, weil dieses die Sicht auf die Pyramiden von Gizeh versperrte. Der „Pharao“ musste lernen, sich dem Großscheich der Al-Azhar-Universität zu beugen. Denn auf solche geistlichen Führer verlassen sich die arabischen Herrscher von heute, um den Islamisten den Rang abzulaufen – und zwar von rechts. Ein rundes Bild ergibt dies freilich nicht. So sprach sich beispielsweise der im März 2010 verstorbene, sunnitische Großscheich von al-Azhar, der ehemalige Großmufti Muhammad Sayyid Tantawi, sehr entschieden gegen die vorislamische afrikanische Sitte der Beschneidung von Frauen aus, stellte sich öffentlich hinter das staatlich verordnete (und weithin ignorierte) Schleierverbot an Mädchengrundschulen und schrieb eine ausführliche Abhandlung darüber, wie der Islam von Anfang an die Familienplanung unterstützt habe. Andererseits legt die Leitung der tausend Jahre alten Al-Azhar-Universität – einst ein Fanal der Toleranz in der Region – und insbesondere die wahabitische Geistlichkeit Saudi-Arabiens den Koran weit konservativer aus als die Fundamentalisten; sie verbannen Bücher und Filme, verbieten den Umgang mit Nichtgläubigen und schreiben soziale Verhaltensweisen, insbesondere hinsichtlich des Kontakts zwischen den Geschlechtern, bis ins kleinste Detail vor. In ihrer zunehmend verzweifelten Suche nach einem Hauch von Legitimität mehren viele moderne arabische Herrscher die Anhängerschaft einiger besonders engstirnigen Tendenzen des Islamismus sogar. Bestenfalls begünstigen sie
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damit eine schleichende Theokratie und ersticken das Aufkommen einer selbstbewussten bürgerlichen Gesellschaft, die in vielen arabischen Ländern um Längen zurückliegt. Schlimmstenfalls bestärken sie damit den Dschihadismus. *** Nach den Anschlägen des 11. September 2001 vertrat eine überraschende Vielzahl von Kommentatoren die These, der militante Islamismus habe seine Wurzeln in wirtschaftlichen Missständen und Entbehrungen. Als Gegenmittel zu diesem fast schon allgemein anerkannten Grundsatz galt: „Bauen wir die Mittelschicht auf, dann haben wir auch ein paar Liberale, mit denen wir den Liberalismus praktizieren können.“11 Dabei ist es weniger die Wirtschaft, die es anzusprechen gilt, als vielmehr die Politik der arabischen Welt. Gewiss, es gibt gewaltige sozio-ökonomische Probleme. Demographisch etwa haben die arabischen Länder mit der destabilisierenden Wirkung eines „jungen Bauches“ zu kämpfen – grob gerechnet sind zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der Bevölkerung unter 25 Jahre alt und haben wenig oder gar keine Aussicht auf einen angemessenen Arbeitsplatz. Analysten der Weltbank schätzten 2003, dass die arabische Wirtschaft bis zum Jahr 2020 rund einhundert Millionen neue Arbeitsplätze schaffen müsste, um die nachrückende Generation in Arbeit zu bringen. Natürlich brauchen die arabischen Länder ein besseres wirtschaftliches Management und transparentere Führungen. Natürlich brauchen sie dringend eine moderne Infrastruktur. Natürlich müssen größere Summen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen investiert werden. Und natürlich braucht es eine Revision des Bildungswesens, um kritisches, freies Denken und Problemlösungskompetenzen zu fördern. Dennoch: Die Vorstellung, dass sich alles andere schon fügen wird, wenn die Wirtschaft erst einmal läuft, ist deterministisch, wenn nicht gar blinde Schönfärberei. Einerseits werden Organisationen wie al-Qaida und deren ägyptischer Verbündeter, der Dschihad, sowie die Muslimbruderschaft von der Mittelschicht entstammenden, bisweilen sehr reichen Einzelpersonen geführt und setzen sich zum größten Teil auch aus solchen zusammen. Viele der Flugzeugentführer des 11. September kamen aus privilegierten Verhältnissen, und neuere Studien über Selbstmordattentäter betonen deren gewöhnlich sehr hohen Bildungsstand. Die Islamisten schlichtweg als die „Verdammten dieser Erde“ zu sehen, als ein Problem, das man durch ausgefeilte wirtschaftliche Entwicklungsstrategien wieder loswürde, wäre falsch. Doch das „wirtschaftliche Argument“ ist noch in vielen weiteren Hinsichten brüchig. So liefert es nicht nur den arabischen Gewaltherrschern das perfekte Alibi, politische Freiheiten bis in alle Ewigkeit aufzuschieben. Es gibt auch, wie wir im Verlauf dieses Buches noch sehen werden, so gut wie keinerlei Anzei-
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chen dafür, dass wirtschaftliche Reformen in Staaten, die mehr oder minder von sich selbst erhaltenden nationalen Sicherheitskadern geführt werden, überhaupt funktionieren können. Das Argument ist in erster Linie deshalb brüchig und irreführend, weil der schwelende und sich immer wieder entladende islamistische Zorn eine hochexplosive Mischung aus Erniedrigung und politischer Verzweiflung ist. Politischer Verzweiflung über fünf Hauptpunkte: – Verzweiflung darüber, wie deutlich die islamische Welt – einst die führende Zivilisation sowie langjährige Weltmacht und Schöpferin großer Reiche – gegenüber dem Westen den Kürzeren gezogen hat. – Verzweiflung über das Vermächtnis der europäischen Kolonialherren, die die arabische Welt in oft künstliche Staaten zerstückelt haben (Palästina etwa, das in den Augen vieler Araber und Islamisten von „modernen Kreuzrittern“ besetzt gehalten wird). – Verzweiflung über die Unfähigkeit panarabischer Nationalisten, ihre berauschende Rhetorik mit Taten und Erfolgen zu unterfüttern (schnell vergessen ist heute, wie Nasser einst mit propagandistischem Elan über die „Stimme der Araber“, den damals wichtigsten Rundfunksender in Kairo, die arabische Welt in seinen Bann zog). – Verzweiflung über die Unterstützung tyrannischer arabischer Herrscher durch die USA und westeuropäische Staaten – ein besonders schlimmer Verrat in den Augen all jener, die die Kultur und die politischen Errungenschaften Großbritanniens, Frankreichs und Amerikas bewundert hatten. – Verzweiflung über die Doppelmoral Washingtons, d. h. dessen scheinbar bedingungs- und vorbehaltlose Unterstützung Israels (was viel schwerer ins Gewicht fällt als die leeren Ausflüchte Europas). Dass das israelisch-amerikanische Verhältnis hier als letzter Punkt angeführt ist, heißt nicht, dass es letztrangig wäre. Die Wunde der Araber ist noch immer frisch. Über Satellitenfernsehen verfolgen sie seit mehr als einem Jahrzehnt tagtäglich die Belagerung palästinensischer Städte, Dörfer und Flüchtlingscamps durch die Israelis, die unter Einsatz schwerer Waffen eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung fordern (darunter auch viele Kinder); tagtäglich erleben sie den Abriss palästinensischer Häuser, die Zerstörung angestammter palästinensischer Landstriche durch unrechtmäßige jüdische Siedlungen, durch den Bau von Umgehungsstraßen für die Siedler, durch die Errichtung sogenannter Sicherheitsmauern und Pufferzonen oder gar die regelrechte Erosion palästinensischer Plantagen und Ackerländer durch Vernichtung von Getreide und Bäumen und Abtragung des Oberbodens. Ja, die arabische Wunde ist noch weit offen. Und die US-Regierung streut allem Anschein nach weiter Salz hinein, indem sie ein Ende der palästinensischen Gewalt fordert anstatt ein Ende der israelischen Besatzung, die Erstere ja verursacht.
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Stellt sich die Frage, inwieweit die anderen Missstände überhaupt weiterhin existieren würden, sollte der israelisch-palästinensische Konflikt – durch ein Wunder staatsmännischer Führungskunst – plötzlich gelöst sein. Das ist die Frage, die die Araber sich selbst stellen müssen. Das ist die Frage, mit der sich jedwede ernstgemeinte Politik im Nahen und Mittleren Osten auseinandersetzen muss. Es steht außer Zweifel und ist durch zahlreiche Umfragen belegt, dass ein aufrichtiger, unparteiischer politischer Kurs der USA und ihrer Bündnispartner, der auf Gerechtigkeit für Palästina verbunden mit Sicherheit für Israel zielt, das Ansehen der USA in der arabischen und muslimischen Welt langfristig wiederherstellen könnte. Ebenso steht außer Zweifel, dass die Ursache des Widerstands islamistischer Gruppen wie der Hamas im Westjordanland und im Gazastreifen oder der Hisbollah im Libanon in der israelischen Besatzung arabischer Gebiete zu suchen ist. „Als wir in den Libanon eindrangen“, sagte der ehemalige israelische Premier Ehud Barak, „gab es keine Hisbollah.“ Jitzchak Rabin, der ermordete Ministerpräsident Israels, formulierte in ähnlicher Weise, dass beim israelischen Einmarsch in den Libanon 1982 „der Flaschengeist aus der Flasche entwich“. Obwohl die wesentlichen Bestandteile der Hamas bereits in den islamistischen sozialen und religiösen Einrichtungen präsent waren, entstand sie erst 1987, als sich der Zorn der Palästinenser nach zwanzig Jahren israelischer Besatzung im Westjordanland, im arabischen Ostjerusalem und dem Gazastreifen entlud – in einer blutigen Intifada, wie sie weder die Palästinenser selbst noch die Fatah vorgehabt hatten. Israel war der Akteur, die Palästinenser reagierten nur darauf. Der Kontakt zwischen der (sunnitischen) Hamas und der (schiitischen) Hisbollah, die heute von Israel im Nachhinein als Teil eines iranischen Großplans dargestellt wird, ergab sich als Folge davon, dass Israel Ende 1992 rund 450 Intifada-Aktivisten an die Grenze zum Libanon deportierte, der, wie ein israelischer Amtsträger mit Bedauern ausdrückte, zu einer „Hisbollah-Universität“ wurde. Osama bin Laden und seine Anhänger jedoch, die von einigen arabischen Berichterstattern als „universelle Islamisten“ bezeichnet werden, haben seit jeher eine politische Agenda, die sich von der Sache der Palästinenser ganz wesentlich unterscheidet. Solange die Dschihadisten darauf setzen können, dass die USA ihre diktatorischen arabischen Verbündeten (das saudische Königshaus etwa oder Präsident Mubarak) unterstützen und grobe strategische Schnitzer (wie die Invasion des Irak) begehen, weist alles darauf hin, dass sie vorwiegend hohle Phrasen dreschen. Das ungeheuerliche Vorhaben der Terrorgruppen um bin Laden, einen Zusammenprall der Kulturen heraufzubeschwören, mag in den Augen des Westens durchaus ‚böse‘ erscheinen. Gänzlich absurd ist es nicht. Um Einblick in die Gedankenwelt der Muslime zu erhalten, führte das Gallup Center für Islamstudien kurz nach dem 11. September, als das Mitgefühl für die
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USA auf dem Höhepunkt war, eine große Umfrage durch: Befragt wurden rund 50 000 Menschen in neun islamischen Ländern, fünf davon in der arabischen Welt. Heraus kam, dass zwei von drei Befragten den USA feindselig gegenüberstanden, ein Zahlenverhältnis, das im verbündeten Saudi-Arabien und Ägypten auf vier von fünf anstieg. Seither ist die US-amerikanische Unterstützung in diesen Ländern (wie im letzten Kapitel dargelegt) entweder in den Untergrund verschwunden oder statistisch so gut wie nicht mehr feststellbar. Die Eigenarten der arabischen Autokratie spielen hierbei natürlich eine Rolle. Die autokratischen Machthaber, die ihre Herrschaftsgrundlage keineswegs infrage gestellt sehen wollen, trennen inzwischen klar zwischen Kritik und Höflichkeitsfloskeln. Regierungsamtliche Zeitungen (wobei es kaum andere, sprich unabhängige, gibt) ergehen sich in anti-westlichen Hetztiraden, desgleichen die Moscheen, das „Massenmedium“, das am weitesten in die zunehmend frommen Gesellschaften hineinreicht. Auf dieselbe Art und Weise, in der diese Herrscher sich mittels der reaktionären Geistlichkeit einen Anstrich von Legimitität zu geben suchen, vertuschen sie die Kritik ihrer Blätter mit scheinbarer Unabhängigkeit – eine Taktik, die eine Alternative zu jedwedem ernstzunehmenden demokratischen Denken aufzeigt und gleichzeitig als populistischer Köder einem kontrollierten ‚Dampfablassen‘ dient. Um nur ein Beispiel anzuführen: Die ägyptische Zeitung Al Ahram beschuldigte die US-Luftwaffe wiederholt, über Afghanistan genetisch veränderte Nahrungsmittel abgeworfen zu haben, und zwar sowohl im Winter 2001/02 als auch im Afghanistankrieg, um die afghanische Bevölkerung zu vergiften. Al Ahram ist die größte Zeitung in Ägypten, dem wichtigsten Verbündeten der USA in der Region. Ihr Herausgeber ist ein enger Vertrauter des Präsidenten Husni Mubarak. Weder die Regierung noch die Zeitung hatten sich ernsthaft mit dem Afghanistankrieg auseinandergesetzt, seit das Land zu einem Rückzugsgebiet nicht nur der Drahtzieher der Anschläge des 11. September, sondern auch der des versuchten Mordanschlags auf Mubarak in Addis Abeba wurde. Eine weitere Form der Lizensierung antidemokratischer Kritik (und ein scheinbar sicheres Ventil für öffentliche Missbilligung) besteht darin, das offizielle Zeitungs- und Rundfunkwesen darin zu bestärken, zum Angriff gegen Israel zu blasen. Ein Großteil davon ist vollkommen berechtigte Kritik an den militaristischen Taktiken Israels und dessen Besetzung der arabischen Gebiete. Ein anderer Teil jedoch predigt einen bösartigen und ansteckenden Antisemitismus, den wenige arabische Machthaber stillschweigend dulden, noch weniger jedoch öffentlich verurteilen würden.12 Der ungelöste Konflikt mit Israel ist eine der vielen Krücken, auf die sich arabische Machthaber stützen, um ihr unrechtmäßiges und gesetzwidriges Verhalten zu rechtfertigen. Angesichts der heillosen Wirren der Politik im Nahen und Mittleren Osten wäre es vielleicht zu viel erwartet, dass ein arabischer Herrscher von sich aus uneigennützig für die Rechte der Palästinenser eintritt und diese
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nicht zum eigenen Vorteil nutzt. Dabei käme vielen arabischen Machtträgern ein Patt oder Stillstand im israelisch-palästinensischen Konflikt durchaus gelegen. Auch wenn heute kein arabisches Land mehr die offene Konfrontation mit Israel erwägt, liegt es in der Natur der Sache, dass in der gesamten Region ständige Alarmbereitschaft herrscht. Das ist militärisch gesehen Unsinn, rechtfertigt aber eine strenge politische Kontrolle. Es ist ein angeschlagener Panarabismus, der freilich dazu taugt, Gegner zu erpressen und Kritiker als Verräter darzustellen – die Art von Patriotismus, die der englische Gelehrte Samuel Johnson bereits im 18. Jahrhundert als „letzten Schutz eines Schurken“ beschrieb.13 Sollen wir also annehmen, dass diesen autokratischen Herrschern mehr oder weniger bewusst ist, dass es ihnen an Legitimität mangelt? Und ist es dieses Wissen – und Angst –, was sie dazu treibt, konstant die öffentliche Meinung zu manipulieren und zu dirigieren? Ist das der Grund, warum arabische Machthaber geradezu zwanghaft fast einstimmige Wahlergebnisse fabrizieren (bei Volksentscheiden und parlamentarischen Abstimmungen erreichen sie gewöhnlich 95 bis 99 Prozent) – eine Art Tribut des Lasters an die Tugend? *** Im arabischen nationalen Sicherheitsstaat wird von der Bevölkerung vor allem eines verlangt – Ruhe geben. Anders als in einem ideologisch ausgerichteten, faschistischen oder kommunistischen Staat stellen arabische Autokratien – mit Ausnahme Saudi-Arabiens, das wir in Kapitel V betrachten werden – wenig Forderungen an den Durchschnittsbürger. Er soll sich nur aus politischen Dingen heraushalten. Der äußere Schein könnte freilich auch das Gegenteil vermuten lassen: eine politische Kultur, die von Übertreibung, einer übertrieben blumigbildhaften Sprache und den jeweiligen Machthaber ekstatisch verherrlichenden Inszenierungen lebt, die satte Mehrheiten an den Wahlurnen erbringt und sich in höfischer Speichelleckerei ergeht. All das kann natürlich leicht missverstanden werden als eine Form von Totalitarismus. Doch gerade in der arabischen Welt darf man die äußere Form nicht mit dem Inhalt verwechseln. Arabische Machthaber verlangen den Anschein absoluter Macht. Was der Einzelne denkt, interessiert nicht – solange insgesamt Ruhe herrscht. Genauso wichtig – und ganz anders als in anderen, bekannteren Formen von Militärherrschaft (beispielsweise in Mittel- und Südamerika) – ist, dass der Geheimdienst und nicht die reguläre Armee das Sagen hat. Besonders deutlich wird das bei Ländern wie Jordanien und Syrien, wo der junge König Abdullah und sein scheinbar republikanisches Pendant, der syrische Präsident Baschar al-Assad, das Szepter in einer Zeit übersteigerter Hoffnungen auf Freiheit und Wandel übernahmen. In beiden Ländern wurden die Zügel merklich straffer angezogen. Die Geheimdienste bestimmen den Kurs. In älteren arabischen Regimes ist das zwar nicht anders, meist jedoch weniger offensicht-
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lich. Wie ein erfahrener Islamforscher mit Bezug auf alle arabischen Autokratien formulierte: „Der Mukhabarat lenkt den Informationsfluss zwischen Regierung und Regierten, um beide Seiten besser manipulieren zu können.“ Dies gilt sogar für Ägypten, das Land, auf das arabische wie westliche Politiker hinsichtlich Reformen große Hoffnung gesetzt hatten. Günstigstenfalls lässt sich sagen, dass Ägypten, das auf fünftausend Jahre Zentralismus und autoritäre Herrschaft zurückblickt, zwar Zeichen des Wandels erkennen lässt, aber nichts, was auf echte Erneuerung hindeutet. Die Regierung Präsident Husni Mubaraks, der Ende 2005 seine fünfte sechsjährige Amtsperiode antrat, duldet keinerlei Anfechtungen. 2001 und dann noch einmal 2002, um nur ein Beispiel zu nennen, verurteilte Ägypten den liberalen Sozialwissenschaftler und Menschenrechtler Saad Eddin Ibrahim zu mehrjährigen Haftstrafen. Man warf ihm vor, illegal Gelder von der Europäischen Union für das von ihm gegründete Ibn-Khaldun-Zentrum für demokratische Reformen und Entwicklungsstudien angenommen zu haben – und das, wo die Regierung pro Jahr durchschnittlich drei Milliarden US-Dollar soziale und wirtschaftliche Hilfe aus dem Westen bezieht, darunter 1,3 Milliarden US-Dollar Militärhilfe pro Jahr aus den USA. Sein wahres Vergehen bestand darin, den Wahlbetrug des Regimes zu untersuchen, auf die gefährliche Lage der Minderheit der koptischen Christen im Land hinzuweisen sowie – welche Dreistigkeit! – zu behaupten, Mubarak ebne seinem Sohn Gamal den Weg zum Präsidentenamt. Ist Ägypten also letztlich anders als das baathistische Syrien, wo zur gleichen Zeit zwei Parlamentsmitglieder vor Gericht standen, weil sie versucht hatten, „die Verfassung zu ändern“ –, die doch gerade erst geändert worden war, um nach dem Tod Hafez al-Assads im Jahr 2000 dessen Sohn Baschar zum Präsidenten wählen zu können, obwohl er nicht das dafür nötige Alter besaß? In der politischen Arena der arabischen Welt sind derlei Machenschaften fast die Norm. Sehr viel aufschlussreicher sind Beispiele aus dem politischen Tagesgeschäft, die sich reichlich finden. Betrachten wir nur einmal die Versuche, die Ägypten im Laufe des vergangenen Jahrzehnts unternommen hat, um mit Investitionsanreizen eine Formel für ein hohes, auf Export orientiertes Wirtschaftswachstum zu finden. Dann wird klar, warum die Vorstellung, dass wirtschaftliche Reformen auch politische Reformen in Gang bringen – wovon westliche wie auch arabische Regierungen ohne Weiteres ausgehen –, für den arabischen Kontext schlichtweg falsch ist. Ein Kernstück der ägyptischen Anstrengungen, die Wirtschaft des Landes zu öffnen, das fähige Technokraten und Juristen mit aller Sorgfalt und Umsicht im Laufe von mehr als achtzehn Monaten ausgearbeitet hatten, brachte einen scheinbar beachtlichen Durchbruch. Ägyptens verworrenes Unternehmensrecht, an dem offenbar seit Napoleons Zeiten am Nil kein Deut geändert worden war, wurde dahingehend novelliert, dass junge Unternehmen automatisch registriert
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würden, sofern die neu eingerichtete Unternehmensbehörde nicht binnen zehn Tagen begründeten Einspruch erhob. Diese Neuerung, von Präsident Mubarak höchstpersönlich angeordnet, wurde nie umgesetzt. Warum? Weil sie eine Gefahr für die freie Verfügungsgewalt des Mukhabarat bedeutet hätte, der seinerseits Mubarak an der Macht hält. Für den Mukhabarat spielten die offensichtlichen Vorteile der Reform keine Rolle. Wie einer der Beteiligten damals bemerkte: „Alle Versuche, Reformen anzustrengen, werden von einem versteckten Auge der Staatssicherheit verfolgt. Dabei geht es nicht darum, jemand Bestimmten zu belangen, sondern darum, die Machtposition der Sicherheitsleute zu erhalten. Das ist die Realität.“14 Noch einmal: Den wirtschaftlichen Reformschritt vor dem politischen zu tun, führt nicht auf den Weg der Reform, sondern in eine Sackgasse. Politische Reformen sind der Schlüssel zu jeder echten Reform in der arabischen Welt. Oder anders gesagt: Es sind nicht nur die geistlichen Dunkelmänner von Al-Azhar, denen der Pharao sich beugen muss; der moderne arabische Despot ist der Gefangene seiner eigenen Leibgarde. Mubarak ist kein Narr. Er hält seine Position nicht zufällig. Er weiß mit Sicherheit, was in der Offiziersmesse gespielt wird, was führende Unternehmer wollen, welcher Stamm oder Clan in welchem Dorf an der Spitze steht, welche geistlichen Führer es zu beschwichtigen gilt, wie viel diese oder jene oppositionelle Stimme im Parlament oder in der Presse kosten würde und was die USRegierung von ihm hören will. Doch nur in den seltensten Fällen wird er wissen, welche Informationen ihm seine eigenen Staatssicherheitsdienste vorenthalten, und er wird nicht immer erkennen können, ob man ihm nicht getürkte Informationen zuspielt, die anderen Interessen dienen. Von dem Kalif der Abbasiden, Harun al-Rashid, der im Persien des 8. Jahrhunderts lebte, heißt es, er habe sich verkleidet unter das Volk von Bagdad gemischt, um herauszufinden, was seine Untertanen bewegte. Der moderne Pharao Mubarak verbringt viel Zeit mit ehemaligen Kameraden aus seinen Tagen als Oberbefehlshaber der Luftwaffe oder im Badeort Scharm el-Scheich, wo seine Familie über riesigen Landbesitz verfügt. Sehen wir uns weitere Beispiele an. In mancherlei Hinsicht ist ein Despotismus wie in Ägypten viel zu unflexibel, um im politischen Stellwerk der Moderne die Weichen und Signale auf Grün zu schalten. Einige Fälle aus jüngster Zeit: Von Immobilienhaien hochgezogene Wohnblocks stürzen ein; Fähren kentern und Flugzeuge stürzen ab; ein Parlamentsgebäude brennt nieder; durch Schwarzbauten verursachte Erdrutsche begraben ganze Siedlungen unter sich. Selten wurde jemand für diese nachbiblischen Plagen Ägyptens zur Rechenschaft gezogen. Doch auch der verscheierte Despotismus des modernen Pharao begeht mit schöner Regelmäßigkeit strategische Fehler. Im Jahr 1994, als der islamistische Aufruhr in Ägypten spürbar wurde, veröffentlichte die Nachrichtenagentur Reuters eine Reihe von Berichten, aus denen
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hervorging, dass das riesige Kairoer Armenviertel Imbaba faktisch zu einem Staat-im-Staate für die militante ägyptische islamistische Bewegung al-Dschamaa al-Islamiyya geworden war. Doch nichts davon drang zu Mubarak durch, bis ein besorgter Berater ihm auf dem Rückflug von einem Staatsbesuch in Fernost Kopien der Artikel in die Hand drückte. Mubarak sprang auf, lief in den hinteren Teil des Flugzeugs, wo seine Sicherheitschefs saßen, schwenkte mit den Zeitungsberichten und rief: „Stimmt das? Gibt es so etwas bei uns?“ Es spricht Bände, dass wenige Tage später eine Streitkraft von fast 25 000 Mann Imbaba stürmte. Acht Tage erbitterter Kämpfe folgten. Ja, es hatte gestimmt. Es gab so etwas in Ägypten. Allerdings musste der Pharao durch Zufall davon erfahren.15 Die Reform der ägyptischen Wirtschaft kam vor allem deshalb in Gang, weil Modernisierer um Youssef Boutros-Ghali, den späteren Reformstrategen, im Beisein des Präsidenten immer wieder entsprechende Anspielungen machten. Einmal, es war Ende 1995, stürmte Mubarak in eine Kabinettssitzung und verlangte zu wissen, warum ausländische Investoren in jenem Jahr vierzig Milliarden US-Dollar nach Indonesien gepumpt hatten – das Hundertfache der vierhundert Millionen US-Dollar, die Ägypten als Direktkapital aus dem Ausland zugeflossen waren. Diese Zahlen waren aufgerundet – Übertreibung macht bekanntlich anschaulich. Ein Regierungswechsel folgte. Die neue Regierung unter Ministerpräsident Kamal el-Ganzour erhielt von Mubarak die Anweisung, die Abhängigkeit von ausländischen Hilfsgeldern und Geldsendungen von im Ausland arbeitenden Ägyptern durch Auslandsinvestments und Devisen aus Exportgeschäften zu ersetzen. Tatsächlich kam die Wirtschaftsreform eine Zeit lang gut voran. Begrenzte Privatisierung ließ innerstaatliche Investitionen rasant ansteigen. Das Pro-KopfEinkommen stieg (es verdoppelte sich in fünf Jahren auf fast 1500 US-Dollar), gleichzeitig aber klaffte die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinander. Hatten 1980 noch 39 Prozent der Ägypter unterhalb der Armutsgrenze gelebt, waren es Ende des 20. Jahrhunderts 43 Prozent. Diese Kluft hat sich mittlerweile noch vertieft, zumal der Anstieg der internationalen Treibstoff- und Lebensmittelpreise das Schreckgespenst Hunger real werden ließ. Bei näherer Betrachtung gelangt man zu der Ansicht, dass es sich hier eher um Abwandlungen handelt als um echten Wandel. Bürokratien widersetzen sich naturgemäß jeder Veränderung. Ägypten bildet da keine Ausnahme. Fast ein halbes Jahrhundert lang hatte der riesige, schlecht bezahlte Beamtenapparat die Aufgabe gehabt, die Preise niedrig zu halten, Arbeitsplätze auf Lebenszeit zu bieten sowie Ersatzwaren für Importe zu organisieren. Jedes Abweichen von diesem Kurs war mit dem Risiko politischer Instabilität verbunden. Die blutigen Brotaufstände in Ägypten 1977 – den bereits erwähnten jordanischen Brotaufständen 1996 ähnlich – hatten die Psyche des Regimes schwer angekratzt. Allerdings
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liegen die Ursachen im Fall Ägypten tiefer. Die wirtschaftliche Reform veränderte die Natur der Macht im Land nicht, und trotz anderslautender Behauptungen ebnete sie auch nicht den Weg in Richtung demokratischer Wandel. Aber immerhin gab sie deutlichen Einblick in das Mächteverhältnis des Landes. Nicht das geringste der Probleme, über die Ägyptens Reformer debattierten, war die Frage, ob das Land überhaupt fähig sein würde, echte Unternehmer hervorzubringen, da dieser Stand dank der Eigenheiten des Systems bis dato recht profitabel gelebt hatte. Youssef Boutros-Ghali beispielsweise vertrat die Ansicht, dass die meisten den Übergang zum offenen Wettbewerb nicht bewerkstelligen könnten; sie sollten sich, so seine Meinung, „zurücklehnen und diejenigen finanzieren, die das können.“16 Das setzte einen klaren, zukunftsorientierten politischen Weg voraus, den es natürlich nicht geben würde. Reformer mit westlichem Bildungshintergrund wie Youssef Boutros-Ghali gaben sich alle Mühe, einen Wandel herbeizuführen. Doch einige verkannten die Natur des Regimes und verwechselten Wirtschaftswandel mit einer Neuordnung der Eliten. Eine Bewährungsprobe kam, als das Regime den Verkauf der vier großen Handelsbanken und der staatlichen Versicherungsunternehmen vereitelte. Sorge über etwaigen Wettbewerb von außen spielte bei dieser Entscheidung sicher mit hinein. Der Hauptgrund war indes, dass die staatlichen Banken Kredite aufgrund politischer Verbindungen vergaben, nicht auf der Basis objektiver Projektanalysen. Doch anstatt sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, erweiterte das Regime lieber die Riege der Insider. Geschäftsleute, die durch die Reform und internationale Aufmerksamkeit zuversichtlich gestimmt waren, wurden in neu geschaffene Gremien berufen. Nicht weniger als 45 Unternehmer zogen nach den massiv manipulierten Wahlen von 1995 ins Parlament ein (in dem Mubaraks Nationaldemokratische Partei 94 Prozent der Sitze erhielt). Obwohl viele von ihnen in die Politik gingen, weil sie sich dadurch Regierungsaufträge und staatliche Unterstützung erhofften, markierte das Ergebnis den Beginn einer Allianz zwischen Unternehmertum und Militär. Das militärische Rückgrat des Regimes trat mit der Ausbreitung des privaten Unternehmertums, in dem pensionierte Regierungsbeamte häufig Vorstandsposten bekleideten, nur noch deutlicher hervor. Anwar al-Sadats Infitah-Politik, die Politik einer halbherzigen ‚Öffnung‘ zu freiem Handel und Kapitalismus, die auf den arabisch-israelischen Krieg von 1973 folgte, platzierte häufig hochrangige Regierungsbeamte an der Spitze lukrativer Wirtschaftszweige. Das Regime war in der Tat dabei, seinen Einflussbereich auszuweiten. Im Grunde machte es jedoch nichts weiter, als Armee und Geheimdienste privatwirtschaftlich aufzurüsten und das Ganze als Reform zu verkaufen – eine Missachtung jedweder staatlichen Einrichtungen, von demokratischen Reformen gar nicht zu reden. Mubaraks Versuch, das Fundament seines Regimes auszubauen,
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stempelte Ägyptens altgediente Kapitalisten zu einem Pendant der Stammeshonoratioren in der Regierung des jordanischen Königs Hussein. Er war in jedem Fall Teil seiner Strategie, den Aufstieg seines Sohnes Gamal, eines Bankiers, in der Politik zu legitimieren. Vorwürfe und Kritiken ließen Mubarak kalt. „Wenn ihr eine gepflasterte Straße von hier nach Hurghada [am Roten Meer] wollt“, so sagte er, „lässt sich das in ebenen Gegenden sehr rasch bewerkstelligen. Aber wenn es hügelig wird, muss ich das Tempo drosseln – denn wenn ich dort schlampe, ist die ganze Straße unbenutzbar.“ Und er beklagte, dass jene, „die in Amerika und Europa sitzen, die Realität hier nicht verstehen können“.17 All das gefährdete nicht nur den wirtschaftlichen Reformprozess und wirkte wie eine träge Form von Vettern-Kapitalismus, sondern machte es unwahrscheinlich bis unmöglich, den Reformprozess überhaupt zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Dies wiederum lag teils daran, dass der nationale Sicherheitsstaat die alles beherrschende Sorge um die Stabilität (die, wie wir gesehen haben, einzig die Privilegien der Geheimdienste sichern sollte) in die Reformdebatte einbrachte, was diese naturgemäß stark verzerrte. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Ägyptens Devisenreserven. Als Ergebnis der anfänglichen Erfolge der Reform, insbesondere hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung, wurden die Hartwährungsreserven von praktisch Null auf über zwanzig Milliarden US-Dollar hochgefahren. Um Präsident Mubarak den Eindruck zu vermitteln, seine Politik sei erfolgreich, legte ihm das Reformlager wiederholt gesunde Reserven als Beweis vor. Das erwies sich freilich als überaus unglücklich. Aus Ministerkreisen ist bekannt, dass Mubarak, dessen Miene für gewöhnlich trüb wurde, wenn es um die Mechanismen der Wirtschaftsreform ging, sofort leuchtende Augen bekam, wenn die Rede auf die Reserven kam. „Wie geht es meinen zwanzig Milliarden Dollar?“ wurde bald zum einzigen Thema bei seinen Treffen mit den Reformern. Das eigentliche Ziel und Zweck dieser Reserven – feste Wechselkurse und Sicherheit für den Außenhandel – geriet völlig ins Abseits. Mubaraks strikte Weigerung, „seine“ zwanzig Milliarden Dollar auch nur einen Cent unter diese Prestigemarke rutschen zu lassen, führte zu einer der absurdesten und unnötigsten Devaluationskrisen unserer Zeit. Dass es im Jahr 2000 zu einer künstlichen Dollarknappheit kam, lag nicht etwa daran, dass sich die grundlegende wirtschaftliche Position Ägyptens gewandelt hätte, sondern dass Mubarak hortete, was er als sein persönliches Sparschwein zu betrachten schien. Möglicherweise dachte Mubarak, dass diese, ihm ein wenig fremden Menschen mit ihren Doktortiteln von westlichen Universitäten endlich gescheit geworden und in die Riege der Insider eingetreten wären. Doch sie waren nicht völlig blind. Schließlich befanden sie sich in einer Position, die es ihnen ermöglichte, darauf zu achten, dass kein frisches Blut in ein System eindrang, das auf der Macht
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von Einzelpersonen basierte, die ausschließlich dem Präsidenten verantwortlich waren, der seinerseits abhängig war von den Geheimdiensten. „Im Austausch gegen ein pseudoparlamentarisches System haben wir sämtliche Ebenen einer echten Demokratie beseitigt, einschließlich gewählter Bürgermeister, der Wahlen in Gewerkschaften und in Berufsverbänden für etwa Ärzte, Juristen oder Ingenieure, die einmal echte Triebkräfte waren“, sagte einer der Reformer. „Dies ist die wohl schlimmste Zeit, die ägyptische Demokraten in den vergangenen vierzig bis fünfzig Jahren erlebt haben.“ *** Die beschriebenen strukturellen Hindernisse, die einem freien Informationsfluss im arabischen nationalen Sicherheitsstaat im Wege stehen, sind freilich nicht die ganze Geschichte. Hinzu kommt der Aspekt despotischen Starrsinns, der auf allen Ebenen zielsicher zum Scheitern führt – außer im Hinblick auf Machterhalt. Kein Fall zeigt dies besser als der des verstorbenen Jassir Arafat. Er ist schon deshalb ein besonders gutes Beispiel, weil es ihm nie gelang, mehr als einen Proto-Staat zu errichten. Nie gab es mehr als ein halbfertiges Labyrinth, in dem er sich verirren musste. Sein Erfolg: Arafat gelang es, die Palästinenser als eine politische Macht zu etablieren, an der im Nahen und Mittleren Osten künftig keiner mehr vorbeikam. Beileibe kein geringer Erfolg. Doch auf der Höhe seiner Macht hatte er volle Kontrolle über gerade einmal knapp drei Prozent des Westjordanlands, dazu die administrative Kontrolle über weitere 25 Prozent in Enklaven, die Israels fortdauernde Besatzung willkürlich abschnüren konnte. Auch auf diplomatischer Ebene konnten Arafat und die PLO wenig bewegen, sofern die USA nicht bereit waren, Israel unter Druck zu setzen und zu zwingen, seinen Verpflichtungen aus den Osloer Abkommen von 1993–95 nachzukommen. Dennoch: So schwierig Arafats Position damit war, sein Machthunger, sein von Improvisation geprägter Verhandlungsstil und seine Unfähigkeit, Taktik mit Strategie zu verbinden, sowie seine Geringschätzung der Details, des „Kleingeschriebenen“, taten ein Übriges, ihn letztlich zum Verlierer zu machen. Der verstorbene palästinensisch-amerikanische Literaturtheoretiker Edward Said, einer der schärfsten Kritiker Arafats, der das Osloer Abkommen von Anfang an als nicht umsetzbar und für derart einseitig hielt, dass es einer Kapitulation der Palästinenser gleichkäme, stellte die politische, fachliche und sprachliche Qualifikation der palästinensischen Friedensunterhändler stets infrage. „Sie hatten nicht einmal eine Übersetzung“ aus dem Englischen, der Sprache, in der sie holprig über die ursprüngliche Grundsatzerklärung verhandelten. „Die einzigen Landkarten, die dort vorlagen, waren israelische“, wetterte er. Nicht lange, nachdem Arafat eine Sammlung seiner Aufsätze verboten hatte, sagte Said, der PLO-Führer sei derart eingenommen von seinem Titel als Präsident,
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dass er darüber versäume, sich genau anzuschauen, worüber er eigentlich die Führung bekommen würde. „Die riefen in der ganzen Weltgeschichte an, sagten: ‚Hallo Jack‘ oder ‚Hallo Khaled‘, und fragten: ,Was bedeutet eigentlich Autonomie?‘ Arafat brauchte ein volles Jahr, um zu begreifen, dass er gar keinen Staat hatte. Er besaß keinerlei echten Realitätssinn, dafür aber einen unglaublichen Überlebensinstinkt.“ Details kümmerten Arafat wenig, meinte Said aus langer Erfahrung heraus, weil er immer dachte, „irgendwer – für gewöhnlich die USA – wird es schon richten“.18 Arafats Grundhaltung, und darin sind sich Bewunderer wie Kritiker weitgehend einig, war im Grunde antidemokratisch. Wie besessen hielt er alle Macht in eigenen Händen, und zwar von den frühesten Anfängen der PLO an. Und sein Taktieren im Labyrinth der arabischen Politik verstärkte seine Ambitionen mit der Zeit noch. All dies kennzeichnete sein bisweilen fast dilettantisches Herangehen an die Verhandlungen mit Israel. Seine „Teile-und-herrsche“-Politik veranlasste Arafat etwa, in den verschiedenen Phasen des Friedensprozesses immer neue Verhandlungsteams ins Rennen zu schicken – mitunter sogar gleichzeitig. Dies erklärt eine Reihe von Kuriositäten. So glaubte beispielsweise Israel lange, Ägypten sei verantwortlich für Arafats Widerwillen, sich letztlich auf die israelischen Bedingungen einzulassen. Israelische Beamte bemerkten, durchaus richtig, dass das Rückgrat des PLO-Führers nach seinen regelmäßigen Beratungen in Kairo sichtlich steif wurde. Doch das lag daran, dass Ägyptens Experten Arafat mit dem Gesamtbild der Region konfrontierten und mittels Landkarten veranschaulichten, was seine eigenen Leute ihm nur bruchstückhaft vermitteln konnten. Und was der Palästinenserführer bei solchen Gelegenheiten erfuhr, gefiel ihm selten. Ganz im Stil eines arabischen Proto-Despoten unterdrückte Arafat bewusst die Entwicklung potenzieller Konkurrenzorgane, etwa des gewählten Palästinensischen Legislativrats, der zu seinem Leidwesen zwei Hauptunterhändler stellte. Verhängnisvollerweise hatte er zudem die Angewohnheit, in kritischen Momenten die Verhandlungen ganz an sich zu reißen und jene außen vor zu lassen, die die vorhergehenden Einzelschritte ausgehandelt hatten. Wäre dies das Tun eines Führers gewesen, der seine politische Autorität nutzt, um den entscheidenden Kompromiss zu erzielen, es wäre ein Werk staatsmännischer Größe. So aber, in den Händen eines eitlen Arafat, endete es allzu häufig in einer Katastrophe. Und Israels gewiefte Unterhändler wussten dies auszunutzen. Ein altgedienter Beamter des Militärgeheimdienstes und späterer führender israelischer Diplomat, der den Osloer Verhandlungen von Anfang bis Ende beigewohnt hatte, erzählte mir, die vorrangige Taktik seiner Leute sei sehr simpel gewesen: Schaut, dass ihr Arafat allein kriegt. Und zwei palästinensische Unterhändler berichteten mir, dass sie dies wussten. Doch sie hatten keinerlei Möglichkeiten einzuschreiten, als Arafat bei Abschluss des Osloer Interimsabkommens zur demokratischen Selbstbestimmung im August 1995 seinen Karto-
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graphen Khalil Toufagji eigenmächtig entließ. Die Israelis brachten postwendend ihren Kartographen und ihre Karten ins Spiel. Palästinensischen Unterhändlern zufolge unterzeichnete Arafat daraufhin eine von Israel entworfene Karte, deren Inhalt im Wesentlichen dem entsprach, was die Palästinenser Master Plan und die Israelis Military Order Number 50 nennen. Die Karte zeigt ein Netzwerk von Straßen, die Israels wachsende Siedlungen verbinden und dabei das arabische Territorium (sowohl in als auch um das besetzte Ostjerusalem und die wichtigsten Städte im Westjordanland) zerschneiden und in teils winzige Segmente teilen. Die Landkarte stammte aus dem Jahr 1982 und war das Werk Ariel Sharons, des Erz-Falken und Helden der israelischen Siedler, der damals das Amt des Verteidigungsministers bekleidete. Arafat war offenkundig nicht klar, welche Bedeutung den sogenannten Umgehungsstraßen zukam. Geoffrey Aronson von der Washingtoner Foundation for Middle East Peace bemerkte damals, anders als die Israelis zeige die palästinensische Führung „so gut wie kein Interesse an oder persönlicher Vertrautheit mit der Situation vor Ort“, d. h. im Westjordanland. In der Augustausgabe 1998 des Report on Israeli Settlement in the Occupied Territories schreibt Aronson: Während Sharon (damals Netanjahus Chefunterhändler in Palästinenserangelegenheiten) „sehr bewandert“ war und „detaillierte Kenntnis des Landes“ für wichtig erachtete, ließ „Arafat sich nur gelegentlich über die israelische Siedlungspolitik informieren, und wenn er die Karten betrachtet, aus denen die Dimensionen des Vorhabens hervorgehen, wirkt er im Allgemeinen bass erstaunt.“ Sämtliche Karten von Israel sind eingehend untersucht und weithin bekannt. Sie haben sich seit dreißig Jahren nicht verändert.
III Das Janusgesicht der islamischen Erneuerung
Im Koran, dem Heiligen Buch des Islam, gibt es in der 13. Sure einen berühmten Vers, der der christlichen Vorstellung vom freien Willen nahe kommt: „Gott ändert die Verhältnisse eines Volkes nicht, bis es selbst sie ändert.“ (Der Koran, übs. von H. Zirker, 2. Aufl. Darmstadt 2007, S. 156) Wie in vielen Schriften aller religiösen Traditionen schwingt die Bedeutung dieser Worte zwischen wörtlich und übertragen. Die Mischung aus konkreter Deutung und Unausdeutbarkeit spiegelt die Doppelsinnigkeit des islamischen Konzepts des Dschihad wider. Doch was ist dem Sinn nach gemeint? Schlicht der freie Wille oder eine Art nietzscheanischer Wille zur Macht? Der Wille, die eigene Schwäche zu besiegen, oder der Wille, den Feind zu vernichten? Eine Botschaft der Reform oder eine Botschaft der Revolution? Dass dieser Vers aus dem Koran zu den Lieblingsstellen moderner Strategen der islamischen Erneuerung gehört, nimmt kaum Wunder, wo viele Anhänger es als die „uranfängliche Notwendigkeit“ erachten, „zu den Wurzeln des Islam zurückzukehren“, gereinigt von allen fremden Anlagerungen – wenn nötig durch Anwendung von Gewalt.1 Osama bin Laden, der Mann, der das Phänomen des modernen Dschihadismus wie kein anderer verkörpert, hält sich wenig auf mit den Zweifeln und Auslegungen der Islamgelehrten. Er hat am 11. September 2001 apokalyptische Bilder der Zerstörung in das Gedächtnis der Welt gebrannt. Nicht minder aufrüttelnd war sein erklärtes Ziel: ein „Zusammenprall der Kulturen“, der zu Aufständen quer durch alle islamischen Länder führen sollte. Die Statements und Losungen, die bin Laden & Co. seit den Anschlägen vom 11. September ausgegeben haben, lesen sich selten wie ein deutlich klares, geschweige denn durchführbares Programm. Die zorngebeizten Formulierungen scheinen eine Mischung aus Blutgier und blindem Fanatismus, die aus westlicher Sicht über eine befremdliche Randerscheinung kaum hinausgehen kann. Doch damit würde man bin Laden und seinesgleichen in ihren Zielen und der Raffinesse ihrer Taktiken unterschätzen. Stunden, bevor die USA und ihre Verbündeten im Oktober 2001 damit begannen, die Bollwerke der al-Qaida und der Taliban in Afghanistan zu bombardieren, ließ bin Laden mittels einer Tonbandbotschaft über den Nachrichtensender al-Jazeera verlauten: Die Zeit sei reif für einen weltweiten Aufstand der Muslime, um ihre Rechte und ihren früheren Ruhm wiederzuerlangen.
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„Die Welt ist in zwei Lager geteilt“, sagte bin Laden, „in das Lager der Gläubigen und das der Ungläubigen.“ Es sei an der Zeit, dass „jeder Muslim sich erhebt, um seine muslimischen Brüder zu verteidigen und diesen Akt der Aggression auszulöschen.“ Doch auch wenn der „Akt der Aggression“ unmittelbar bevorstand – zum Zeitpunkt der Tonbandaufzeichnung mit dem Aufruf an die muslimischen Massen, in dem bin Laden sich zum Helden und Verteidiger des islamischen Glaubens und islamischer Kultur stilisierte, hatte noch kein derartiger Akt stattgefunden. Seine Präventivhandlung, bevor die Vereinigten Staaten auch nur die Chance zu einem Vergeltungsschlag für den 11. September hatten, bestand darin, seine Taktik zu offenbaren. Alles an den Anschlägen auf New York und Washington – das schiere Ausmaß, die Unverfrorenheit, die Tatsache, dass er Zivilisten als Zielscheibe benutzte, sowie die weltweite Wirkung – deutet darauf hin , dass er fest mit Vergeltungsmaßnahmen der USA rechnete, die ähnlich willkürlich, unbarmherzig und für alle Welt sichtbar ausfallen würden. Es ist ein bekannter und bewährter Mechanismus: die terroristische Dynamik von Aktion und Reaktion, gefolgt von einer – wie der Anstifter bin Laden hoffte – Gegenreaktion noch weit größeren Ausmaßes, was in diesem Fall hieß: Muslime gegen den Rest der Welt. Nach dem Bombenanschlag auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam durch das Terrornetzwerk al-Qaida antwortete bin Laden 1998 auf die Frage eines amerikanischen Journalisten: „Wie gesagt, jede Aktion ruft eine ähnliche Reaktion hervor.“ Ideologisch kommt dies am ehesten der Dialektik der Anarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert nahe oder gar der Taktik von Aufrührern wie dem Revolutionär Louis-Auguste Blanqui oder gewaltverherrlichenden Mystikern wie Georges Sorel, der später Mussolini stark beeinflussen sollte. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, die Dschihadisten hätten das Dritte Newton’sche Gesetz aufgegriffen, das Wechselwirkungsprinzip von actio und reactio.2 Auf das 20. Jahrhundert übertragen, wird klar, dass die militanten Dschihadisten fest an die These vom „Zusammenprall der Kulturen“ zwischen Islam und dem Westen glauben, ein mehr als tausend Jahre altes Vorurteil, das der 2008 verstorbene Politologe (und Berater der Regierung Bush) Samuel Huntington gegen Ende des Kalten Krieges zu neuem Leben erweckte – neun Jahrhunderte, nachdem Papst Urban II. zum Ersten Kreuzzug aufgerufen hatte. Eben einen solchen globalen Zusammenprall suchten und suchen die Dschihadisten herbeizuführen. Sie scheinen darin den Weg zur Wiederherstellung jener machtvollen und einflussreichen Position zu sehen, die der Islam bis Ende des 18. Jahrhunderts innehatte. Der Gedanke ist einfach genug: Es geht darum, den Verfall der amerikanischen Glaubwürdigkeit im Meinungsbild der Araber und Muslime zu nutzen und immer wieder Aktionen zu starten, die unverhältnismäße Reaktionen vonseiten der USA provozieren, die wiederum die Animositäten in der gesamten arabischen Welt steigern und letztlich in offene Feindschaft und
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Gewalttaten ummünzen. Um dieses Ziel zu erreichen sind die Dschihadisten darauf angewiesen, dass die USA und der Westen den Köder schlucken. Vor dem 11. September hatte sich im Nahen und Mittleren Osten ein Unwohlsein breitgemacht, das vorwiegend mit der damals schon Jahre währenden Intifada, dem zweiten Palästinenseraufstand gegen die israelische Besatzung des Westjordanlands und Gazastreifens in Zusammenhang gebracht wurde. Die neue US-Regierung unter George W. Bush hatte sich, teils als Reaktion auf das Unvermögen des Amtsvorgängers Bill Clinton, beim Gipfel von Camp David ein „Land für Frieden“-Abkommen zu erreichen, für eine Nichteinmischungspolitik entschieden, wodurch der Konflikt weiter schwelte. Dies wurde weithin als Carte blanche für ein Israel interpretiert, das inzwischen von Ariel Sharon regiert wurde (in den Augen der meisten Araber ein Serienkriegsverbrecher) und von den USA zur Verfügung gestellte Flugzeuge und Kampfhubschrauber dazu verwandte, palästinensische Städte und Flüchtlingslager in Schutt und Asche zu legen und die im Aufbau begriffenen Einrichtungen von Jassir Arafats Palästinenserbehörde zu zerstören. Die mit den USA verbündeten arabischen Staaten, insbesondere Ägypten und Saudi-Arabien, warnten Washington eindringlich vor einer solchen Politik, die unkontrollierbaren Hass in ihren Ländern entfachen würde. Doch weder dies noch der schwelende Groll angesichts der Leiden der irakischen Zivilbevölkerung nach einem Jahrzehnt der gegen Saddam Hussein gerichteten Sanktionen erklärt den 11. September. Zum einen legen die Indizien mit bezwingender Logik nahe, dass die Angriffe auf die Twin Towers und das Pentagon schon Jahre in Planung gewesen waren. Man erinnere sich nur an die Bemerkung, die bin Ladens ägyptischer Stellvertreter Ayman al-Zawahiri unmittelbar nach den amerikanischen Angriffen auf Afghanistan 1998 (ihrerseits Vergeltungsschläge für die Bombardierung zweier US-Botschaften in Ostafrika im August des gleichen Jahres) einem Journalisten gegenüber fallen ließ: „Der Krieg hat gerade erst begonnen. Die Amerikaner sollten die Antwort abwarten.“ Zum zweiten ist heute klar, dass bin Ladens diffuses internationales Netzwerk bereits weitere Anschläge als „Reaktion“ auf die Aktion geplant hatte, die eben jene vergelten sollte. Aktion-Reaktion-Aktion. Zum dritten hatte man vor dem 11. September innerhalb des Nahen und Mittleren Ostens allenfalls mit einer Reaktion vereinzelter Gruppen gerechnet, die den USA die Unterstützung Israels mit Terroraktionen massiv heimzahlen wollten. Dieses Muster war bekannt. Nach dem Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon 1982 und Ariel Sharons blutiger Belagerung Westbeiruts vertrieb die schiitische Hisbollah zunächst die US-Truppen mittels Bombardierungen aus Beirut und drängte anschließend die Israelis zurück in den südlichen Libanon, aus dem sie aufgrund wachsender Opferzahlen im Jahr 2000 schließlich den Rückzug antraten.
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Hier jedoch lagen die Dinge anders. Hier hieß es „unser Dschihad gegen euren Kreuzzug“, und zwar lange bevor Bush den (später widerrufenenen) Ausdruck „neuer Kreuzzug“ gebrauchte und allen Ländern der Erde unmissverständlich erklärte: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Hätte man bin Laden von Anfang an richtig zugehört, wäre die globale Zielsetzung der saudischen Dschihadisten vermutlich nicht derart unterschätzt worden. Gewiss, der Dschihad, den er 1998 erklärte, zielte zunächst scheinbar nur auf die Vertreibung der US-Truppen aus der Arabischen Halbinsel, dem Land des Propheten und der Geburtsstätte des Islam, in das sie nach Saddam Husseins Invasion in Kuwait 1990 eingefallen waren. Im Februar 1998 lud bin Laden Zeitungs- und Fernsehreporter in sein Trainingslager nach Khost, keine zweihundert Kilometer von der Stelle entfernt, wo er und seine arabischen Freiwilligen 1987 einer massiv überlegenen sowjetischen Kampftruppe Einhalt geboten hatten. Diese Schlacht von Jaji hatte seinen Ruf als Gotteskrieger mitbegründet.3 1998 verkündete bin Laden die Gründung der Internationalen Front für einen Dschihad gegen die Juden und „Kreuzritter“, indem er seine „afghanischen Araber“ (Veteranen des Krieges 1979–89 gegen die sowjetische Besatzung Afghanistans) mit Radikalislamisten aus Ägypten, Pakistan, Bangladesch und Kaschmir zusammenschloss. Als zentrale Beschwerde formulierte er dabei einmal mehr die US-Besetzung der Arabischen Halbinsel, des „heiligsten Landes des Islam“. Die Geschichte von bin Ladens hochtrabendem (und abgelehntem) Angebot an die saudische Führung im Anschluss an die irakische Invasion in Kuwait – dass er und seine afghanischen Kriegsveteranen das Königreich gegen Saddam verteidigen würden, solange das saudische Königshaus die ungläubigen amerikanischen Kreuzzügler von der arabischen Halbinsel fernhielt – ist hinlänglich bekannt. Bekannt ist auch, welch tiefe emotionale Bedeutung es für Osama hatte, dass es das Bauunternehmen seiner Familie gewesen war, das (dank der engen Beziehungen zwischen seinem Vater, Muhammad bin Laden, und König Abd al-Aziz ibn Saud, dem Gründer des modernen Königreichs Saudi-Arabien) die Heiligen Stätten und Großen Moscheen von Mekka und Medina wiederaufgebaut hatte. Vor diesem Hintergrund wird auch seine – auf den ersten Blick überspannt anmutende – Absicht erklärbar, die beiden heiligsten Stätten auf der Arabischen Halbinsel von allem ungläubigen Makel zu reinigen und das arabische Ostjerusalem und damit den dritten heiligen Schrein des Islam, die al-Aqsa-Moschee in der Jerusalemer Altstadt, von den israelischen Besatzern zu befreien. Sein wiederholter Aufruf an alle Muslime: „Tötet und bekämpft alle Amerikaner und ihre Verbündeten“, bis die US-amerikanischen Streitkräfte „geschlagen und unfähig, jeglichen muslimischen Boden ... verlassen“, klang schaurig, ist zumindest teilweise aber sicher auch der arabischen Tradition einer blumigen, Aufmerksamkeit heischenden Rhetorik geschuldet. Nach den Bombenanschlägen
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auf die amerikanischen Botschaften in Nairobi und Daressalam kam freilich eine umfassendere und ambitioniertere Botschaft zum Ausdruck. Hier scheint ein komplexes Wechselspiel zwischen bin Laden und al-Zawahiri im Gange. Der Ägypter war einer der Gründer des al-Dschihad, jener Organisation, die 1981 Anwar as-Sadat 1981 ermordet hatte. Al-Dschihad begann als kleine Aktivistengruppe, die sich, dem Muster panarabischer nationalistischer Organisationen gemäß, auf Militärkader stützte. Die wichtigste Information über alDschihad ist jedoch, dass er scheiterte. Sämtliche Versuche seitens arabischer Islamisten, in den 1990er-Jahren nationale Aufstände anzustoßen, scheiterten. Veteranen aus dem afghanischen Dschihad kehrten dazu zurück, Aufstände in Algerien, Ägypten und Saudi-Arabien anzuführen. Sie schätzten die Belastbarkeit der nationalen Sicherheitsstaaten der Region falsch ein und unterschätzten, wie leicht die Machthaber, die sie zu stürzen intendierten, ihre westlichen Unterstützer (denen sie, verglichen mit den Theokraten, als das kleinere Übel erschienen) dazu bringen konnten, ihnen praktisch uneingeschränkte Rückendeckung zu gewähren. Und für Ägypten, wo alDschihad und das diffuse Netzwerk der militanten al-Dschamaa al-Islamiyya massiven Repressionen ausgesetzt waren, galt dies ganz besonders. Diese Rückschläge lösten zunächst bei den arabischen Afghanen und ihren neuen Verbündeten die Debatte aus, ob man Taktiken übernehmen sollte, die denen der Muslimbruderschaft ähnelten – was in Richtung schleichende Theokratie gehen und ihren Einflussbereich innerhalb der Gesellschaft deutlich erweitern würde –, oder ob man weiter auf dem Pfad der Gewalt bleiben sollte. Langer Marsch oder Putsch? Al-Zawahiri – anders als der auffallend hochgewachsene bin Laden von kleiner, gedrungener Gestalt – schien infolge dieser nationalen Rückschläge nun der Ansicht zu sein, die Dschihadisten als die schwächere Partei sollten, ähnlich wie beim Judo, die Stärke des Gegners gegen ihn selbst richten und so für sich nutzen. Kern der Idee war, gegen die Vereinigten Staaten vorzugehen, die absolute „Über-Macht“, mit der nach dem Kalten Krieg so gut wie alle Länder eine Hassliebe verband und die die gesamte arabische und muslimische Welt mittlerweile zutiefst verabscheute. Wenn die Dschihadisten den Despoten in Kairo, Algerien oder Riad schon keine Macht entreißen können, dann mussten sie deren ausländische Unterstützer angreifen, und zwar in einem Ausmaß, das diese zu Überreaktionen provozierte. In einem Ausmaß, das die Massen aufwiegelte und die Grundfesten dieser autoritären Machthaber derart erschütterte, dass sie letztlich fielen. Taktisch war die Zeit reif, den ‚fernen Feind‘ zu schlagen. Wie al-Zawahiri in einer dschihadistischen Kriegsfibel schrieb, aus der die arabische Presse kurz nach dem 11. September Auszüge veröffentlichte, würden die Amerikaner, sofern die Provokation nur groß genug war, mit aller Wahrscheinlichkeit mit groß angelegten Vergeltungsschlägen reagieren, „persönlich den Kampf gegen die Muslime auf-
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nehmen“ und damit den Boden für einen „klaren Dschihad gegen die Ungläubigen“ bereiten. Aktion-Reaktion-Aktion.4 „Jeder Muslim muss sich erheben, um seine Religion zu verteidigen“, sagte bin Laden in jener ersten al-Jazeera-Botschaft nach dem 11. September: „Der Wind des Gottvertrauens bläst, und der Wind des Wandels bläst, um das Böse von der Halbinsel Mohammeds zu vertreiben. Friede sei mit ihm.“ Al-Zawahiris Pläne schienen sich mit bin Ladens wachsender Überzeugung zu überschneiden, dass die ungläubigen Supermächte letztlich Papiertiger waren. Nachdem die Bombardierungen der amerikanischen Botschaften in Afrika eine zwar heftige, aber weitgehend wirkungslose Reaktion der USA hervorgerufen hatten, erinnerte bin Laden daran, wie die afghanischen Mudschaheddin, unterstützt von zehntausenden arabischer Freiwilliger, der Sowjetunion in Afghanistan eine demütigende Niederlage beigebracht hatten: „Dies ist eine Lektion, die jeder lernen sollte. Die Sowjetunion fiel in der letzten Woche des Jahres 1979 in Afghanistan ein, und mit Allahs Hilfe lag ihre Flagge wenige Jahre später am Boden, auf den Müll geworfen, und nichts war mehr übrig von der Sowjetunion.“ Dieser Sieg „befreite die Köpfe der Muslime vom Mythos der Supermächte“, formulierte es bin Laden. „Ich bin überzeugt, dass die Muslime der Legende dieser sogenannten Supermacht, die Amerika heißt, ein Ende setzen werden“, sagte er und merkte hämisch an, wie die amerikanischen Truppen 1993 Somalia „eilenden Fußes verlassen“ hätten, nachdem seine arabisch-afghanischen Truppen (so behauptete er) achtzehn US-Ranger getötet hatten. Wie erwähnt, ist der Sieg der Mudschaheddin über die Sowjetunion in Afghanistan in den 1980er-Jahren zu einem Gutteil der Unterstützung Saudi Arabiens, Pakistans und vor allem der USA zuzuschreiben, die ihre Ziele aus dem Kalten Krieg nun unter dem Deckmäntelchen des Heiligen Kriegs verfolgten. Was die entscheidende Wendung herbeiführte, war Washingtons Entscheidung, die Mudschaheddin mit Stinger-Boden-Luft-Raketen auszurüsten, die den sowjetischen Kampfhubschraubern den Garaus machten, was Moskau seinen wichtigsten strategischen Vorteil kostete: die Lufthoheit. In den Augen der Islamisten in aller Welt, insbesondere der freiwilligen arabischen Afghanen, die von Washingtons Kooperation mit den Dschihadisten profitierten und von denen viele von bin Laden rekrutiert und geschult worden waren, stellte sich dies freilich anders dar. Trunken vom Sieg über eine Supermacht, betrachteten die Radikalislamisten Afghanistan als den psychologischen Durchbruch schlechthin – als Vorboten eines neuen islamischen Zeitalters. Sie schlossen daraus, dass religiöser Eifer, verbunden mit modernen Kriegstechniken und Waffen, letztlich alles besiegen konnte. So wie die arabische Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 (als Katalysator für den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus zu einer Befreiungstheologie und das unwiderrufliche In-Miskredit-Bringen des säkularen panarabischen
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Nationalismus) nicht überbewertet werden kann, so fatal wäre es, und zwar bis heute, die Bedeutung zu unterschätzen, die der Sieg über die Sowjets in Afghanistan für die Islamisten und viele andere Muslime hatte. Nach islamistischer Lesart gewannen die Israelis den Krieg von 1967 sowie die nachfolgenden Kämpfe nur deshalb, weil sie die quasi-religiöse Motivation des Zionismus geschickt mit modernen Technologien zu verbinden wussten. Ein eindeutig und aus vielen Gründen völlig unzureichendes Verständnis des israelischen „Erfolgsrezepts“. Es übergeht die säkularen Wurzeln des Zionismus. Es lässt demokratische Aspekte und die damit verbundene Legitimation der entsprechenden Einrichtungen außer Acht. Die wichtigste dieser Einrichtungen dürfte Israels Bürgerwehr sein, zu der es kein arabisches Pendant gibt; dort ist die Armee ein Instrument zur Machtergreifung und zum Machterhalt, sie dient nicht der Verteidigung des Landes. Überdies platziert diese Sichtweise Wissenschaft und Technik außerhalb des sozio-ökonomischen und liberalpolitischen Kontextes, der Innovationen und wissenschaftlichen Fortschritt fördert und befruchtet; sie werden etwas, das man importiert. Zur Moderne gehört mehr als nur Stinger-Flugabwehrraketen. Im Radikalislamismus und seinen gewalttätigen Ausdrucksformen wie dem Dschihad gibt es keinen Platz für Demokratie und die Organe, die sie kreiert und legitimiert. In diesem Sinne sind die Dschihadisten, wie bereits erwähnt, ein Spiegelbild der Despoten, die sie zu bekämpfen suchen. Doch das darf uns nicht dazu verleiten, die Bedeutung des afghanischen Dschihad zu unterschätzen. Für Abermillionen von Muslimen, für die Afghanistan einst ein fernes, unbekanntes Land war, war der Sieg gegen die Sowjets (mehr noch als die iranische Revolution 1979, die, zum Schrecken der Sunniten, im Kern schiitisch war) ein Beweis dafür, dass sich das Blatt zu ihren Gunsten wendete: dass religiöse Inbrunst und westliche Raketentechnik eine Weltmacht zu Boden bringen können. Das ist die Quintessenz von Osama bin Ladens Überzeugung. Wie er drei Jahre vor dem 11. September 2001 sagte: „Es ist unsere Pflicht, die Menschen ans Licht zu führen.“ *** Damit haben wir aber keine Antwort auf die Frage, woher bin Ladens Verachtung für andere Religionen rührt – der abgrundtiefe Hass auf die jüdischen „Wucherer“, auf die Kreuzzügler (die Nazarener) und die schiitischen Rafadah, der hinter dem gegenwärtigen Dschihadismus steckt. Der Islam an sich sanktioniert diese Einstellung nicht. Der muslimische Glaube verlangt nicht nur Achtung für die Ahl al-Kitab, die „Leute des Buches“ (womit die sogenannten Buchreligionen gemeint sind, im Islam diejenigen Religionen, die in einer gemeinsamen prophetischen Abstammungslinie auf Abraham zurückgehen: das monotheistische Judentum, das Christentum und die
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muslimischen Religionen), sondern verehrt insbesondere auch Jesus Christus als einen Propheten.5 Die Geschichte der muslimischen Eroberung der Stadt Jerusalem im Jahr 638 ist bekannt. Der Kalif Umar ibn al-Khattab war der zweite der Raschidun oder „rechtgeleiteten“ Kalifen des Islam. Er verkündete per Erlass das Recht für alle nichtmuslimischen Religionsgruppen, ihren Glauben in ihren heiligen Stätten frei ausüben zu können, säuberte die alten jüdischen Tempelruinen (die unter christlicher Herrschaft als Müllhalden gedient hatten), nahm rituelle Reinigungen vor und erlaubte Juden die Ansiedelung in der Altstadt, aus der sie von der Byzantinern verbannt worden waren. Mit diesen historisch belegten pluralistischen Grundprinzipien ist der Islam unzweifelhaft eine integrative Religion. Woher also kommt bin Ladens dualistische Weltsicht, in der Gut gegen Böse kämpft? Offensichtlich folgt sie nicht der islamischen Anschauung im formalen Sinne, wonach die Wirklichkeit aus vielen selbstständigen religiösen (oder pluralistischen) Prinzipien besteht, sondern hat ihre Wurzeln in einem Gefühl des Niedergangs des Islam. In seiner ersten Rundfunkbotschaft nach dem 11. September sprach bin Laden denn auch von „achtzig Jahren der Demütigung unserer islamischen Nation“ und datiert den Beginn dieses Niedergangs auf den Zusammenbruch des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg und das Ende des muslimischen Kalifats. Doch dieses Gefühl eines Niedergangs bestand schon lange bevor es seine heutige, todbringende Form annahm. Der Islam war einst eine Religion des Erfolgs – des außerordentlichen Erfolgs, wie uns die englische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong eindrücklich erinnert.6 Ausgehend von Arabien im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, war der Islam von Spanien bis Indien und darüber hinaus die überragende Kultur, und zwar über viele Epochen hinweg. Eine Kultur, die beispielsweise Europa, das sich damals im „finsteren“ Mittelalter befand, wichtige Schätze hellenistischen Gedankenguts bewahrte und die auch selbst wesentliche neue Erkenntnisse beisteuerte, insbesondere auf den Gebieten der Mathematik und der Medizin. Doch nachfolgende Rückschläge erweckten das Gefühl, das irgendetwas massiv schiefging – nicht was Gottes Botschaft durch den Propheten an sich betraf, sondern in der Art und Weise, wie Muslime (Machthaber und Untertanen gleichermaßen) diese Botschaft auslegten und sie befolgten. Dieses Gefühl steigerte sich ins Unermessliche, da es in der islamischen Philosophie und Theologie keine feste Unterscheidung gibt zwischen Religion und Staat. Wie in anderen Religionen herrschte auch im Islam von Anbeginn an ein erbitterter Machtkampf zwischen rivalisierenden Dynastien und Traditionen und, daraus resultierend, der Kampf um Legitimität. Drei der ersten vier Kalifen – in der sunnitischen Tradition die Raschidun oder „Rechtgeleiteten“ – wurden ermordet. Später schlossen sich Schriftgelehrte, Rechtsgelehrte und Theologen zusammen und traten eine Welle konkurrierender Legitimationsansprüche los. Viele
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„klassische“ islamische Denker wie der Perser Ibn Sina (11. Jahrhundert) oder der große spanisch-arabische Philosoph Ibn Ruschd (12. Jahrhundert) – in Europa besser bekannt als Avicenna und Averroes – brachten philosophische Fragestellungen in die konkurrierenden Ansprüche von religiöser Reinheit und weltlicher Macht ein und setzten sich mit frühen Sichtweisen des islamischen Niedergangs auseinander. Dieser Niedergang war freilich relativ. Die westliche Behauptung, im Islam habe es keine Reformation, keine Renaissance und demnach auch keine Aufklärung gegeben, ist unangemessen und Teil der europäisch zentrierten Geschichtsschreibung. Erst spät in diesem – keineswegs linearen – Prozess entstanden in Europa Städte von vergleichbarer Größe, Pracht und Kultiviertheit wie Kairo (außer natürlich in Al-Andalus, den damals muslimisch beherrschten Teilen der Iberischen Halbinsel). Selbst nachdem Bagdad, eine der wichtigsten Städte der islamischen Welt, 1258 von den Mongolen gebrandschatzt worden war und die jahrhundertelange abbasidische Kultur endete, gelang es Muslimen (die allerdings keine Araber waren) im 16. Jahrhundert, drei neue mächtige Reiche zu gründen – das Osmanische Reich, das Mogulreich und das Safawidische Reich. Der islamische Einfluss folgte den muslimischen Handelsrouten nordwärts bis Russland, südwärts bis nach Afrika und ostwärts in Richtung China. Ein Großteil der europäischen Geschichtsschreibung verschweigt zudem, in welchem Umfang die ,Wiedergeburt‘ der griechischen und römischen Antike im Europa der Renaissance auf dem universellen kulturellen Erbe basierte, das der Islam bewahrt und über Al-Andalus weiterverbreitet hatte. Nur wenige westliche Gelehrte würdigen auch, in welch hohem Maße Europa seine Identität im Gegensatz zu und im Wettstreit mit dem Islam zurückgewann, insbesondere nach der Eingliederung des Byzantinischen oder Oströmischen Reiches (einer damaligen rivalisierenden Supermacht) mit dem Fall von Konstantinopel 1453.7 Allen Gräueln und aller Bigotterie der damaligen Zeit zum Trotz ließ sich der Islam nie in die Glaubenskriege verwickeln, die ganz Europa erschütterten, nie in die Verfolgung großer Geister wie Kopernikus und Galileo durch die römischkatholische Inquisition oder in die Kollektivneurosen der Hexenverbrennungen und die Judenpogrome. Antisemitismus ist historisch gesehen ein christliches Phänomen; in muslimischen Ländern, wohin die Juden häufig vor den Christen flohen, konnte ihre Kultur unter klar definierten und verpflichtenden „Toleranzprotokollen“ gedeihen.8 Doch schon relativ früh begann der Islam, der gemäß seiner Lehrmeinung stets um den Aufbau einer gerechten Gesellschaft und den Erhalt der Umma (der weltweiten Gemeinschaft aller Muslime) bemüht war, Ansätze all dessen abzuwehren, was in den Augen seiner Geistlichkeit als abweichende philosophische und theologische Meinung galt. In dieser Tendenz sehen viele westliche und muslimische Historiker den Grund für das Erlöschen von Wissbegierde und Innovationsgeist.
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Ende des 18. Jahrhunderts, als Europa Glaube und Vernunft wieder auf eine Linie gebracht zu haben schien, war die islamische Welt weit zurückgefallen; und in eben diese Zeit fiel die Konfrontation mit dem europäischen Expansionismus, eine Begegnung, die gewöhnlich an dem Einfall Napoleons 1789 in Ägypten festgemacht wird. Historiker liefern uns eine Fülle von Gründen für den Niedergang des Islam: von den Zerstörungen durch die Mongolen im 13. Jahrhundert bis hin zu den Plünderungen durch die Europäer im Zuge der Kolonialkriege des 19. und 20. Jahrhunderts; von der paranoiden Gepflogenheit muslimischer Herrscher, Söldner aus dem Ausland zu rekrutieren, bis hin zu ihrer Unfähigkeit, mit Europa Schritt zu halten, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaften, sondern merkwürdigerweise selbst in puncto Nautik und Seekriegsführung. Im Mittelmeer erlitten arabischen Flotten schwere Niederlagen und verloren nach der Seeschlacht von Lepanto 1572 die Oberhoheit über das Arabische Meer und den Indischen Ozean. Zweimal wurden die Araber vor den Toren Wiens (1529 und 1683) und später bei ihrem Vorstoß in den Atlantik aufgehalten. Neue dynamische Reiche überholten sie in jeder Hinsicht. Weitere Gründe für den ‚Niedergang‘ sind möglicherweise auch darin zu suchen, dass die Kaufleute und Grundbesitzer der arabischen Welt sich gern an Ausländern ausrichteten oder es versäumten, den Schritt von bloßem Handel und traditioneller Landbewirtschaftung hin zu Agrar- und Industriewirtschaft zu tun (weder im einen noch im anderen Fall erfüllten sie die historischen politischen Voraussetzungen des aufsteigenden Bürgertums, wie es in anderen Regionen der Fall war, die sich dadurch nach und nach vom absolutistischen Herrschaftsmodell lösten). Eine weitere These, die bislang allerdings wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, sieht den Grund für den Niedergang des Islam in der anhaltenden und in keinster Weise gelösten Spannung zwischen dem Anspruch auf universelle Loyalität der Umma, der panislamischen Glaubensgemeinschaft der Muslime, und den Ansprüchen auf nationale und/oder ethno-linguistische Loyalität. Wie bereits erwähnt: Ich bin sicher, dass es gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Islamismus (bzw. der islamischen Erneuerungsbewegung) und dem Phänomen des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts gibt. Beide Bewegungen begannen als eine Art erzwungener Aufbruch in die Zukunft – eine physische wie metaphysische Flucht nach vorn oder kollektiver Sprung aus dem Dunkel –, um dann überaus finstere und zerstörerische Umwege zu nehmen. Alle vorgetragenen Gründe für den Niedergang des Islam sind auf ihre Art schlüssig, doch was uns hier interessiert, ist die Wahrnehmung des Niedergangs. Natürlich zeigte die islamische Welt in den vergangenen zwei Jahrhunderten dem Westen gegenüber eine zutiefst ambivalente Haltung. Einerseits verachtet sie ihn als gierig und korrupt, bewundert ihn andererseits aber für seine kulturellen, technischen und militärischen Errungenschaften.
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Es ist wichtig zu erkennen, dass die starke Rückbesinnung auf den Islam keine spontane Wahl war. Die islamistische Erneuerungsbewegung kam erst in Gang, als eine Politik der balance of power und die daraus resultierende westliche Unterstützung tyrannischer Machthaber (es ging um Stabilitätssicherung und billiges Öl!) nationalistische und demokratische Modernisierungsversuche vereitelten. Als europäische Mächte im 19. und frühen 20. Jahrhundert in arabisches und muslimisches Hoheitsgebiet vordrangen – sie nahmen Algerien, Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien und den Libanon ein und reduzierten das Osmanische Reich erst flächenmäßig drastisch und bedrohten schließlich gar dessen Kernland –, verdrängte die Frage des blanken Überlebens bei vielen Muslimen offenbar die Frage nach einer Modernisierung der arabischen Welt (von Demokratisierung gar nicht zu reden). Dabei mangelte es der islamischen Philosophie nicht an „modernen“ Denkern, die versuchten, sich mit dem westlichen Erfolg auseinanderzusetzen und das Geflecht des Aberglaubens in den Köpfen vieler Muslime zu klären. Allerdings richteten sie den Blick nicht nur nach vorn, sondern auch zurück zu den Anfängen ihres Glaubens und proklamierten eine „Rückkehr zu den Wurzeln des Islam“. Selbst Mustafa Kemal Atatürk, Gründer und Erzsäkularisierer der modernen Türkei, sprach davon, dass man den Islam „säubern“ müsse von den Anlagerungen der Jahrhunderte. Jamal al-Din al-Afghani (1839–97), der trotz seines Namens Perser und höchstwahrscheinlich Schiite war und in Nadschaf (einer der heiligen Städte des schiitischen Islam, wo die Überlieferungen des Ibn Sina lebendig gehalten wurden) Philosophie studierte, steht für ein Zusammenfließen islamischer Reformen und nationalistischer Behauptung, die im Laufe des folgenden Jahrhunderts in nahezu jede politische Strömung der Region Eingang finden sollten. Wie der große Historiker Albert Hourani hervorhebt, erfuhr der Islam durch al-Afghani eine radikale und neue Gewichtung als Kultur, weniger als Religion, doch „nur durch eine Rückkehr zum Islam kann die Stärke und die Kultur der Muslime wiederhergestellt werden“.9 Der Islam müsste sich auf seine wissenschaftlichen Wurzeln zurückbesinnen und die neuen Früchte ernten, die in Europa an ursprünglich von Muslimen gepflanzten Bäumen gereift waren. Natürlich wäre dazu obendrein ein islamischer Martin Luther nötig, der die Ställe ausmistet. Doch mit der Einheit der Umma könnte der Islam erneut eine universelle Mission in der Welt erlangen, da er, wie jeder, der sich damit beschäftige, sehen könne, tolerant sei, rational und in Einklang mit den Prinzipien stehe, die die Wissenschaft im Laufe der Zeiten ans Tageslicht gebracht hätte, und zwar nicht zuletzt dank der großen muslimischen Wissenschaftler, die nicht nur ihre eigene Kultur geziert, sondern auch die Kultur der westlichen Welt gerettet hätten.10 Unter Afghanis Schülern jedoch begannen sich der zentrale Reformgedanke und das Wesen des Universalismus langsam zu wandeln. Mohammed Abduh
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(1849–1905), einem ägyptischen Gelehrten, der an der Al-Azhar-Universität in Kairo lehrte und 1899 Großmufti von Ägypten wurde, ging es vor allem darum zu zeigen, dass der Weg in die Moderne in den Wurzeln des Islam zu finden sei. Abduh gab den anfänglichen islamischen Puritanismus auf und las, unter Afghanis Einfluss, die philosophischen Werke Ibn Sinas. Was seine von Europa beeinflussten Landsleute und die noch weit stärker westlich orientierten Libanesen anging, die die florierende neue Medienlandschaft in der Region bestimmten, so war er der Meinung, dass sie das ohnehin sehr oberflächliche Wissen über islamische Kultur und Philosophie vollends verwestlicht hätten. Seiner Überzeugung nach konnten sich durchaus moderne Konzepte aus dem traditionellen islamischen Gedankengut entwickeln, vorausgesetzt dieses würde richtig verstanden und angewendet. So würden die Muslime das Prinzip der maslaha (wonach ein Rechtsgelehrter oder Richter aus rivalisierenden Thesen die für das zeitgemäße Gemeinwohl günstigste wählen könne) als modernere Vorstellung von öffentlichem Wohlergehen akzeptieren können. Und sie würden die ijma (ein Mittelding zwischen der Meinung der Gelehrten und der des Volkes) als öffentliche Meinung anerkennen. Vor allem jedoch könnten sie, und zwar authentisch, ihre eigene Tradition der Mitbestimmung in Form der shura (sūrā heißt wörtlich Beratung, meint hier eine Art Rat im Sinne einer beratenden Körperschaft) praktisch anwenden. Abduhs Versuch, den Islam auf den Weg der Moderne zu bringen, verlangte zum einen eine Neuinterpretation und Vereinheitlichung des islamischen Rechtswesens, zum anderen aber auch die Offenlegung der wahren Bedeutung alter Regeln und Praktiken. In beiden Fällen war eine Integration des idschtihad (unabhängige, aber akademisch sanktionierte Rechtsprechung) nötig, um den Gegebenheiten der Moderne begegnen zu können, die man in der Frühzeit des Islam nicht hatte vorhersehen können.11 Bei Raschid Rida (1865–1935), einem syrischen Schüler Afghanis und Abduhs, blieben die Themen in etwa dieselben – Kampf für einen dynamischen Islam und die Ausübung des idschtihad –, wobei er den Schwerpunkt auf die „Rückkehr zu den Wurzeln des Islam“ legt. Das technische Rüstzeug der Moderne, so seine Argumentation, erstehe aus den richtigen moralischen Gepflogenheiten und intellektuellen Prinzipien. Richtig verstanden, würde die Lehre des Islam zum Erfolg in dieser und der nächsten Welt führen: „Solange sie wahrhaft islamisch war, war die islamische Umma das Herz der Zivilisation der Welt.“ In Ridas Periodikum al-Manar („Der Leuchtturm“), das großen Einfluss sowohl auf die islamische Erneuerung als auch auf den panarabischen Nationalismus hatte, „umfasst der wahre Islam zwei Dinge: Es gilt zum einen die Akzeptanz der Einheit Gottes und zum anderen, in Staatsangelegenheiten, der Rat der shura; despotische Herrscher haben versucht, die Muslime Zweiteres vergessen zu machen, indem sie sie ermunterten, Ersteres abzuschaffen“.12
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Rida pflegte eine kulturelle Tradition, die zwar selbstkritisch, aber noch intakt war. Obwohl er, wie seine Vordenker, aus den islamischen Traditionen überlieferte Handlungsweisen und Normen aufgriff, die demokratischen Prinzipien und modernen Einrichtungen ähnlich waren, neigte er gleichzeitig dazu, den Blick zurückzuwenden auf die salafiyya (die frommen Vorboten oder Altvorderen), eine frühislamische Strömung. Albert Hourani zufolge gehörte Rida „zu der letzten Generation jener, die umfassend und modern gebildet sein mochten und dennoch in einer autarken islamischen Gedankenwelt lebten“.13 Diese Art von Fokussierung führte rasch zu der Auffassung, dass der Niedergang daraus resultierte, dass man sich Philosophie, Mutmaßungen und Mystizismen ergeben habe und nicht mehr Gott – wie es der ureigentlichen Bedeutung des Wortes Islam entspräche. In anderen Worten: Sämtliche Entwicklungen nach der Salafi-Zeit und der nachfolgenden Gründung der vier orthodoxen Schulen der sunnitischen Rechtslehre waren zutiefst suspekt. Und noch fragwürdiger war alles, was mit den zumeist sunnitisch-sufistischen Normen und dem Schiismus einherging. Rida selbst wandte sich mit der Zeit dem Wahhabismus zu (der überaus sittenstrengen saudischen Reformbewegung, derzufolge die Schia andere Götter und Götzendienst in den Islam eingeführt hatte) und argumentierte, die ‚Märchen‘ des Schiismus seien von jüdischen Konvertiten in den Islam eingeschleust worden. Er sehnte zudem einen neuen Kalifen herbei – mit Eigenschaften freilich, die paradoxerweise eher schiitisch anmuten als sunnitisch.14 Gleichwohl hatte die Botschaft von Reformern wie Jamal al-Din al-Afghani ihren Reiz. Sie verband den Ruf zu den Waffen gegen den Westen mit dem Ruf nach einem reformierten Islam, der sich westliche Errungenschaften zu eigen macht, um dem Islam zu einer neuen triumphalen weltumspannenden Kultur zu verhelfen. Dieses Bild begann sich unter al-Afghanis Nachfolgern indes auf subtile Weise zu wandeln. Sie brachten nicht nur nationalistisches Gedankengut ein, sondern befürworteten auch eine defensive moderne islamische Erneuerungsbewegung, die anfänglich von Organisationen wie der Muslimbruderschaft angeführt wurde. Edward Mortimer, Direktor für politische Kommunikation im Büro des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, drückt dies wie folgt aus: „Die Betonung lag nun weniger auf der Säuberung [des Islam] vom mittelalterlichen sufistischen Irrglauben oder den scholastischen Rechtslehren als vielmehr auf der Säuberung von neuen Irrlehren, von westlichen säkularen Ideen, die sich unter dem Deckmantel des Modernismus eingeschlichen hatten; weniger darauf, die Ursprünge westlicher Stärke in den Islam einzuführen (oder für ihn zurückzugewinnen) als vielmehr darauf, den Islam von der entarteten Saat westlicher Einflüsse zu befreien.“ Dieser Prozess war mit Raschid Rida bei Weitem nicht zum Abschluss gekommen. Doch, wie Mortimer überaus scharf beobachtet, hat „er den Blick in beide Richtungen gewendet und personifiziert damit den Übergang von den moder-
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nistischen Reformbewegungen des späten 19. Jahrhunderts zur traditionsorientierten Erneuerungsbewegung von heute.“15 Ein solch janusgesichtiger Modernismus machte den Weg frei für die islamische Erneuerungsbewegung unseres Jahrhunderts, insbesondere nachdem der Nationalismus gescheitert war und die arabische Welt sich immer wieder in Sackgassen verlief, indem sie den, wie bin Laden es nennt, „irdischen Fahnen“ folgte. Die Fundamentalisten um bin Laden korrumpieren das religiöse Konzept der Umma mit Ideen, die faschistische und rassistische Züge tragen und an Begriffe wie Volk und Rasse samt dem damit verbundenen Primat über jegliche Menschenrechte erinnern. Es ist leicht zu sehen, wie Denker wie Rida ihre Schüler auf einen falschen Pfad locken können, der zu einem Islamismus führt, der seinerseits nicht Männer des Geistes, sondern (wie im Faschismus) Männer der Tat verherrlicht – und die Faszination begreifen zu können, die diese auf gewöhnliche Konservative ausüben. Eine neue Studie über den Faschismus bringt dies sehr schön auf den Punkt: „Krieg ist unabdingbare Voraussetzung für den Erhalt des faschistischen Muskeltonus.“ Man muss nur „Krieg“ durch „Dschihad“ und „faschistisch“ durch „islamistisch“ ersetzen und erkennt sogleich ein wesentliches Movens des Gotteskriegers von heute.16 *** Die Debatte um den Islam und die Moderne, die vor, während und bis kurz nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches stattfand, ist heute, fast ein Jahrhundert später, unter ähnlichen Voraussetzungen erneut entbrannt. Doch es gibt zwei wichtige Unterschiede. Erstens setzen wenige Muslime Hoffnungen auf demokratische Westmächte (im Wesentlichen die USA, Großbritannien und Frankreich), die jene Herrscher unterstützen, die sie unterdrücken, obwohl sie nach wie vor „westliche“ Werte, Wissenschaften und kulturelle Errungenschaften bewundern (vgl. Kapitel I). Zweitens hat der Westen noch keine Antwort auf diese neue islamistische Weltsicht gefunden, die über eine sonderbare Mischung aus Pessimismus und arroganter Selbstgefälligkeit hinausginge. Diese Selbstgefälligkeit gründet zu einem nicht unwesentlichen Teil in der Überzeugung, dass der Westen die meisten Fragen hinsichtlich Religion, Kultur und Modernität gelöst habe. Daraus folgt, dass ein „Zusammenprall“ mit Kulturen, denen das nicht gelungen ist (vornehmlich in der islamischen Welt), unvermeidbar ist. Ein Stück weit zeigt sich dies auch in dem Trend, Politik bei Themen wie Immigration und Integration von Immigranten – von denen fast alle westlichen Länder betroffen sind – im Stil eines populistischen Boulevardblatts zu machen. Doch das ist eine Art verzerrtes Spiegelbild dessen, was Osama bin Laden und seine Anhänger glauben. Gewiss, der Westen muss an seine eigene Vergangenheit erinnert werden. Wir müssen historisches Gedächtnistraining betreiben, und
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zwar ganz bewusst, bevor es zu spät ist. Ein Stückchen Demut anstatt ebenso salbungsvoller wie scheinheiliger Phrasen über den Islam als eine „Religion des Friedens“ könnte ein guter Einstieg sein. Nach westlichem Selbstverständnis kamen die Religionskriege mit dem Westfälischen Frieden von 1648 zum Abschluss, der den Dreißigjährigen Krieg beendete und als Geburtsstunde des modernen Nationalstaats gilt, als einer der wesentlichen Bausteine der Moderne sowie politischer Systeme, die auf dem Begriff der Souveränität gründen. Seither, so scheint sich dieser kanonische Blickwinkel zu lesen, ging es im Krieg und in der Diplomatie nicht mehr um Religion, sondern um nationale Interessen oder Ideologien; Kirche und Staat trennten sich allmählich und machten schlussendlich einer Regierung der Volksvertreter Platz. Das stimmt allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Kaum jemals gab es auch nach dem Westfälischen Frieden einen Konflikt, in dem Religion keine Rolle gespielt hätte, und zwar im Westen ebenso wie anderswo. Würden wir unsere Geschichte objektiver betrachten, dann würden wir beispielsweise entdecken, dass in der Debatte um die Sklaverei die Bibel für beide Seiten Argumente liefern musste. Oder dass es in der katholischen Kirche ein kanonisches Zinsverbot gab (haram in der muslimischen Rechtgläubigkeit), das sich bis ins 19. Jahrhundert hinein hielt. Greifen wir ein paar konkrete Beispiele aus dem vergangenen Jahrhundert heraus, das in der Tat ein Jahrhundert der ideologischen Konflikte war, aber nicht nur. Es war das Jahrhundert des Kalten Krieges, in dem der Westen (und zwar keineswegs nur oder primär die USA) im Wettstreit mit dem ‚gottlosen Kommunismus‘ – zumindest rhetorisch – eine religiöse Identität zu erlangen suchte. Die Christdemokratie etwa, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen Großteil Westeuropas sowie Teile Lateinamerikas beherrschte, konnte im Kampf gegen ihr Feindbild Kommunismus auf die Unterstützung der römisch-katholischen Kirche zählen. Auch die Faschisten spannten Gott für ihre Zwecke ein. So betitelte General Francisco Franco den Staatsstreich, den rechte Militärs unter seiner Führung gegen die demokratisch gewählte republikanische Regierung Spaniens durchgeführt hatten, als Kreuzzug, während seine offizielle Propaganda ihn in den höchsten christlichen Tönen als „Wächter des Abendlands“ pries. Das Hakenkreuz (Swastika) hat seinen Ursprung in vorchristlicher Zeit, doch prangten an den Gürtelschnallen einiger Nazi-Einheiten auch christliche Kreuze. Auch die Militärjuntas, die Süd- und Mittelamerika ab den 1970er-Jahren drangsalierten und Faschisten und Antisemiten Unterschlupf boten, schwenkten regelmäßig christliche Banner, um ihre Taten zu rechtfertigen. Damit nicht genug. Bekanntlich nutzte sogar Stalin während des Zweiten Weltkriegs die orthodoxe Kirche, um das Volk zu mobilisieren (ebenso wie der Baathist Saddam Hussein gegen Ende seiner Herrschaft die Moscheen zu vereinnahmen suchte).
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Und auch bei neueren nationalen und territorialen Konflikten schwingen oft deutlich religiöse Untertöne mit. Die Teilung Indiens 1949 z. B. war in gewisser Hinsicht ein Konflikt zwischen Hindus und Muslimen. Der anhaltende, wenn auch inzwischen abgeschwächte Streit zwischen Indien und Pakistan um Kaschmir wurde potenziell tödlicher, und zwar nicht nur, weil beide Seiten über Atomwaffen verfügen, sondern weil die religiöse Rechte in beiden Ländern erstarkte. Oder nehmen wir den israelisch-palästinensischen Konflikt selbst. Er ist, natürlich, territorialer und nationaler Natur. Gleichzeitig aber ist er auch – insbesondere nach der Eroberung der Jerusalemer Altstadt durch Israel im Sechstagekrieg 1967 – ein Kampf zwischen Muslimen und Juden um heiliges Land. Selbst Europa ist nicht dagegen gefeit. Das Ende des Kalten Krieges hat nicht nur die Sowjetunion und ihre Pufferstaaten „auftauen“ lassen, es hat auch alte Konflikte mit religiöser Färbung wiederbelebt: in Bosnien ebenso wie in Tschetschenien und im Kosovo. Auch die Auflösung Jugoslawiens ist in dieser Hinsicht ein aufschlussreiches Lehrstück. Westeuropa hatte seinen Atavismus augenscheinlich überwunden und fügte sich in schöner Eintracht zur Europäischen Union. Herablassend blickte man auf die ehemaligen Oststaatler, die allem Anschein nach die Geschichte genau dort weiterspannen, wo die stalinistische Eiszeit sie unterbrochen hatte. Schon wenige Wochen später zeigten die Weststaatler jedoch deutliche Neigungen hin zu ihren ehemaligen Verbündeten: Deutschland gen Kroatien, Frankreich gen Serbien und so fort. Die heutigen Europäer sind bei Weitem nicht so fest in ihrer säkularen Einstellung, wie sie es zu sein glauben. Die aktuelle Debatte über die Erweiterung der EU dreht sich im Kern darum, ob Europa die Türkei, die bei aller Säkularität doch ein Staat mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung ist, in die Union aufnehmen kann oder nicht. Gleichzeitig hat die EU bereits eine Art von Kulturkrieg eingeführt, insbesondere durch die Aufnahme erzkatholischer Länder wie Polen, dessen politische Parteien strittige Themen wie Scheidung oder Abtreibung, die ihre Partnerländer bereits als weitgehend erledigt betrachten, noch einmal ganz von vorn aufrollen möchten. Und als Polen, Österreicher und andere obendrein auf einem Gottes-Bezug in der Präambel einer möglichen künftigen europäischen Verfassung bestanden, fiel der Großteil Europas zurück in seine gewohnte Selbstgefälligkeit; was folgte, war weniger eine Debatte als kollektiver Spott. Mittlerweile befassen sich Franzosen und in gewissem Maße auch Deutsche und Engländer mit der Frage, ob es richtig ist, dass muslimische Mädchen den Hidschab (Ganzkörperschleier) tragen. Seit der Aufklärung beschäftigt europäische Denker die Frage, was den Glauben an Gott ersetzen könnte. Blaise Pascal vermutete eine gottesförmige Leere. Ernst Bloch verwies auf den fatalen marxistischen Fehler, die Seele nicht zu berücksichtigen. George Orwell, ein militanter Atheist, gelangte nichtsdestoweniger zu der Einsicht, dass ein Rückgang der Gläubigkeit der Masse eine gefährliche Lücke hinterlassen würde und dass „das Hauptproblem unserer Zeit ... der
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Verfall des Glaubens an die persönliche Unsterblichkeit“ sei. Und der streitbare Schriftsteller Norman Mailer stellte fest, man könne keine Lebensweise auf nur einem Teil der menschlichen Seele aufbauen. Kurz: Den Stellenwert von Glaubensfragen als rein muslimisches Anliegen zu sehen, wäre fatal. In den USA hat der christliche Fundamentalismus inzwischen beträchtlichen Einfluss gewonnen – bis hin zu dem Punkt, dass einige Wissenschaftler schon das Vermächtnis der Aufklärung bedroht sehen. Das geht natürlich weit über den Rahmen dieses Buches hinaus, doch es sind Beispiele, die der islamischen Welt nicht entgehen. Rund sechs Monate nach der Eroberung Bagdads durch US-Truppen beispielsweise erklärte Generalleutnant William Boykin, Stellvertretender Unterstaatssekretär des US-Verteidigungsministeriums und verantwortlich für die Verfolgung bin Ladens, der „Krieg gegen den Terror“ sei ein Kampf gegen den Satan und dass die Amerikaner verhasst seien, „weil wir eine Nation von Gläubigen sind … eine christliche Nation“. Die Worte eines Mannes, der glaubt, George W. Bush sei durch Gott zum Präsidenten bestimmt und das Gesetz der Bibel (des Alten Testaments) solle das internationale Recht ersetzen.17 Präsident Bushs eigene Sprache triefte vor Religiosität. Verbunden mit seinem beharrlichen Drängen, die Welt aufzuteilen in „die, die für uns sind, und die, die gegen uns sind“, erweckte dies den Eindruck, er habe vor, den Westen in einen modernen Kreuzzug zu führen. Das war natürlich genau das, was Osama bin Laden und seine Anhänger wollten. Wie bereits erwähnt, ist es ihr Ziel, einen Dschihad gegen diesen vermeintlichen Kreuzzug zu beginnen. Und in der Tat ist der moderne Dschihadist durchaus so etwas wie das Spiegelbild des mittelalterlichen Kreuzritters. Nun könnte man die Kreuzzüge als einen kollektiven Versuch betrachten, Europa aus dem finsteren Mittelalter herauszuheben, indem man eine religiöse Identität schuf – auch wenn dies den Massenmord an Juden und Muslimen (ganz abgesehen von andersgläubigen Christen, meist aus dem Osten) bedeutete. Wenig unterscheidet dies von manch zeitgenössischen Dschihadisten, die ihre Mission darin sehen, die islamische Welt aus der jahiliyyah (dem Zustand der Unwissenheit und des geistigen Dunkel im vorislamischen Arabien) zu heben, indem sie auch Morde an Christen und Juden (ganz abgesehen von andersgläubigen Muslimen, meist Schiiten) begehen. Wie hat bin Laden noch gleich gesagt? „Es ist unsere Pflicht, die Menschen ans Licht zu führen.“ Das ist letztlich nur eine Reaktion auf das weit verbreitete Gefühl von Versagen und Krise in der islamischen Welt (vor allem im arabischen Kernland) – eine, die ein gewalttätiges Klagelied um verlorene Größe anstimmt. Sehr viele Muslime scheinen das Verhältnis von Religion und moderner Gesellschaft jedoch als ebenso vertrackt und ambivalent zu sehen wie der Großteil der restlichen Welt. Die Aufgabe der Politik im 21. Jahrhundert besteht vor allem darin, dafür zu sorgen, dass diese Muslime nicht in die Arme der Dschihadisten getrieben wer-
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den – dass, mit anderen Worten, der Westen nicht bin Ladens Köder schluckt. Keine leichte Aufgabe. Wie wir bereits gesehen haben, könnte das moralische Ansehen des Westens in der islamischen und arabischen Welt kaum geringer sein. Umfragen zeigen, dass immer mehr Menschen sich in erster Linie als Muslime begreifen und erst in zweiter als Marokkaner, Saudis oder Pakistanis – eine Identitätsverschiebung, die die islamistischen Extremisten sehr gut auszunutzen wissen.18 Sie bauen auf eine Doktrin, die dem gesamten Islam gemeinsam ist: das Bestreben, eine gerechte Gesellschaft zu errichten und die Einheit der Umma zu bewahren. Das ist, wie wir gesehen haben, eine schon an sich verlockende Kombination, selbst ohne den Funken religiösen Glaubens. Fügt man sie der langen Liste alter und neuer muslimischer Kümmernisse hinzu, dem Gefühl, eine Religion im Belagerungszustand zu sein, und dem Lamento um verlorene Größe, dann steht am Ende eine Befreiungstheologie – aussichtslos zwar, aber nichtsdestoweniger eindrucksvoll. Angesichts dessen tut der Westen nicht gut daran, die eigene verworrene und nach wie vor im Wandel begriffene Geschichte auszublenden oder sich in demokratischem Triumphgebaren zu gefallen, während man aus politischer und wirtschaftlicher Bequemlichkeit heraus gleichzeitig autoritäre Systeme unterstützt. Es ist auch wenig sinnvoll, endlos herunterzubeten, dass alle großen Religionen grundlegende Werte gemeinsam haben, solange dies nicht in eine Politik umgesetzt wird, der alle Seiten zugestehen, dass sie jene gemeinsamen Werte auch tatsächlich verkörpert. Das Ganze läuft auf einen Wandel in der Politik hinaus. Eine Politik, die das kompromisslose Streben nach einer gerechten Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt ebenso einschließt wie das Ende der Unterstützung für arabische (und andere islamische) Despoten, die ihrem Volk die Freiheit verwehren. Das wird riskant, und es wird unschön. Aber es wird schwerlich riskanter und unschöner werden als der einzige konkrete Schritt, den die USA und eine kleine Gruppe von Verbündeten mit der grundlosen Invasion in den Irak bereits getan haben. Mit einem politischen Wandel, wie oben skizziert, hätte man die nötige Legitimität sowie Verbündete in der arabischen Welt gewinnen können, al-Qaida & Co. zu zerschlagen, die bis heute die akuteste Gefahr für den Westen – und für die islamische Welt. Aber nein: Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, entschied sich die Regierung Bush, im Bund mit Tony Blair, diese Gefahr noch zu verstärken, nicht zu bekämpfen.19
IV Die Zeit der Schia
Wenn dereinst Historiker die Gründe für das Scheitern amerikanischer Politik im Irak unter die Lupe nehmen, werden sie selbstverständlich die Memoiren und Memoranda, die Protokolle und Notizen all derer sichten, die für diese Politik verantwortlich zeichneten, und dabei offizielle Verlautbarungen mit deren Umsetzung vergleichen und ambitionierte Zielsetzungen mit Resultaten. Zweifellos werden sie sich an der Selbstherrlichkeit eines L. Paul Bremer III ergötzen, des US-Vizekönigs, dessen Auflösung der irakischen Armee und willkürliche Säuberungsaktion von Saddam Husseins Baath-Partei im Jahr 2003 zwischen 350 000 und 400 000 bewaffnete und geschulte Männer auf einen Schlag brotlos und bitter machte und in die Arme der sich damals formenden sunnitischen Aufstandsbewegung trieb – dessen Memoiren ihn jedoch als Retter Mesopotamiens, als Kriegshelden vom Format eines MacArthur zeichnen.1 Sie werden die Überheblichkeit und Schwäche eines Donald Rumsfeld bestaunen, Verteidigungsminister und Proklamator bekannter Unbekannter, der den Abstieg in die Anarchie und die Plünderungen in den Stunden nach dem Fall Bagdads am 9. April 2003 (als der Irak nach Meinung vieler, die dabei waren, dem westlichen Ethos verlorenging) lapidar mit den Worten kommentierte: „Sowas kommt vor.“ Sehr erleichert werden ihre Forschungsanstrengungen jedoch durch die Gewissenhaftigkeit des Government Accountability Office (GAO) werden, eines überparteilichen Untersuchungsorgans des Kongresses der Vereinigten Staaten, das sich seit Kriegsbeginn in mehr als 140 Audits bemüht, die bodenlose Inkompetenz des vorsätzlich verfälscht dargestellten „irakischen Abenteuers“ der Regierung Bush ans Licht zu bringen. So berichtete das GAO beispielsweise Ende Juli 2007, dass das Pentagon keine Erklärung für den Verbleib von 110 000 AK47-Sturmgewehren und 80 000 Pistolen habe, die den vermeintlich wiedereingesetzten irakischen Sicherheitskräften übergeben worden sein sollten – was die ohnehin bereits wohlbegründete Vermutung stützte, irakische Aufständische benutzten von den USA zur Verfügung gestellte Waffen, um US-amerikanische und britische Truppen anzugreifen.2 Solch eine Entdeckung könnte als Ursache aller bekannten Unbekannten eingestuft werden, hätte das GAO nicht im März desselben Jahres zudem einen schlichtweg vernichtenden Bericht über die Unfähigkeit der britisch-amerikanischen Koalition veröffentlicht, jede Menge Waffenhalden zu sichern, die die
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irakische Armee nach der Invasion im März 2003 zurückgelassen hatte – und die es bis Oktober 2006 noch immer nicht geschafft hatte, dieses Pulverfass zu versiegeln, das die täglichen Gemetzel in den ethnokonfessionellen Kämpfen am Laufen hielt, die ihrerseits den Irak in ein Leichenhaus verwandelten und einen konstanten Blutzoll auch unter US-Amerikanern forderten.3 Dieses Massaker geht weiter – wenngleich gebremst durch die Aufstockung der US-amerikanischen Truppen im Irak in den Jahren 2007 und 2008, durch die der Höchststand von 162 000 Mann erreicht wurde. Gleichwohl sank die Anzahl der Toten auf beiden Seiten, bei den Irakern ebenso wie bei den Besatzungsmächten, auf rund ein Drittel gegenüber der Zeit davor, wobei die Gründe für diesen Rückgang ausnahmslos zeitlich begrenzt waren – angefangen mit der hohen Unwahrscheinlichkeit, dass US-Regierung, Abgeordnete und Bürger diesen Level an militärischem Einsatz über längere Zeit hinweg durchhalten konnten oder auch nur wollten. Die Truppenaufstockung wirkte jedenfalls eher wie ein letztes Aufbäumen. Nach mehr als fünf Jahren Krieg war schwer vorstellbar, dass mehr Truppen allein Ordnung in einen Irak bringen könnten, der von Tyrannei und Krieg massivst traumatisiert und anschließend durch Invasion und Okkupation gebrochen worden war. Ein schon vorher ethnisch und konfessionell bunt zusammengestückeltes Flickwerk war blutig in Stücke gerissen worden, ein Morast von Grausamkeiten entstanden, vergleichbar einer Mischung aus Libanon, Algerien und Afghanistan zur Zeit des schlimmsten Blutvergießens. Von den Invasoren triumphierend als demokratisches Leuchtfeuer der gesamten Region gepriesen, hatte der Irak einen Zustand völligen sozialen Zusammenbruchs erreicht, als die ethnischen Säuberungen sich wie Säure durch Städte und Dörfer, Viertel und Straßen fraßen. Der Peiniger Saddam Hussein mochte Vergangenheit sein. Doch Dutzende kleiner Saddams waren an seine Stelle getreten.4 Glaubwürdigen Schätzungen zufolge haben Hunderttausende den Tod gefunden, auch wenn genaue Zahlen wohl nie bekannt werden dürften. Ein Massenexodus von Lehrern und Ärzten, Beamten und Unternehmern hat die Zukunft des Irak ausbluten lassen. Mitte 2008 hatte, so der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, der Aufruhr fast fünf Millionen Iraker, das heißt knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung, heimatlos werden lassen, 2,2 Millionen waren ins Ausland emigriert. Anstatt dem Irak und den Arabern Freiheit zu bringen, hatte die Invasion von 2003 Iraker quer über den Nahen und Mittleren Osten verstreut – und zugleich Verhältnisse geschaffen, die den von den Dschihadisten des al-Qaida-Chefstrategen Aiman al-Zawahiri vorangetriebenen Straßenkämpfen optimal Vorschub leisteten. Aus politischer Sicht brauchbare Institutionen entstanden nicht. Ministerien fielen sektischen Separatisten anheim oder wurden zu Parteibastionen. Das Innenministerium etwa, vorgeblich verantwortlich für die innere Sicherheit, mutierte einer Untersuchung zufolge zu einer Versammlung sich befehdender
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Warlords und Hauptquartier von deren Todesschwadronen, die auf jeder einzelnen der elf Etagen im Sitz des Ministeriums in einander bekämpfende Fraktionen zerfielen, wobei der siebte Stock zwischen den bewaffneten Flügeln zweier mit den USA verbündeten Gruppen aufgeteilt war.5 Schaut man genauer hin, erkennt man zwei auf den ersten Blick nicht negative Nebenprodukte der US-Invasion: zum einen den Machtgewinn der schiitischen Mehrheit im Irak, der dieser Konfession einer Minderheit innerhalb des Islam, Rechte gab, die ihr jahrhundertelang vorenthalten worden waren. Zum zweiten die Auflösung eines verknöcherten sunnitisch-arabischen Systems, das auf einer tödlichen Mischung aus Despotismus, wirtschaftlichem Scheitern und sozialer Ungleichheit basierte, die dem Extremismus Tür und Tor öffnete. Doch auch mehr als fünf Jahre später zeigten die Schia-Politiker kaum Bereitschaft, die Interessen des Staates über die ihrer Konfession zu stellen oder etwas anders zu tun als den „Tyrannensitz“ einzunehmen, auf den sie ihrer Ansicht nach nunmehr rechtmäßig Anspruch hatten. Weiterhin führten der vom sunnitischen Dschihad unterstützte Gegenschlag und die innerschiitischen Beutekämpfe dazu, dass die schiitische Bevölkerung weniger ihr Erbe an- als in einen neuen Teufelskreis eintrat. Die schiitische Regierung unter Nuri al-Maliki verfolgte die beschränkten Interessen seiner Fraktion, der Dawa-Partei, und von deren Bündnispartnern, dem Obersten Islamischen Rat im Irak, der mächtigsten, gleichwohl aber nicht populärsten Schia-Gruppierung. Der Punkt, den der Irak Mitte 2008 erreicht hatte, macht es schwer zu glauben, dass jegliche Art von Politik – von maßvollen erkennbaren politischen Fortschritten oder gar nationaler Versöhnung erst gar nicht zu reden – zum Erfolg führen könnte, was immer man inzwischen darunter verstehen mag. Der Irak war nicht einfach in drei große Teile gespalten: einen schiitischen Süden, eine sunnitische Mitte und einen kurdischen Norden, wie es vorrangig außenstehende Befürworter einer sogenannten soft partition oder „weichen Teilung“ gern darstellten. Er war zu einem blutigen Flickwerk geworden. Dennoch gab es auch hoffnungsvolle Stimmen, wiederum vorwiegend von außerhalb des Irak, und es gab ein neues Gesicht: General David Petraeus. Der USAmerikaner, ein Post-Vietnam-Student mit Doktortitel der Universität Princeton und großem PR-Talent, war mit Lob überhäuft worden – als Kommandant der 101. US-Luftlandedivision 2003/04 sowie insbesondere wegen seiner Heartsand-minds-Kampagne im Norden, die Experten sowie US-amerikanische und britische Journalisten als Musterbeispiel dafür priesen, was auch im restlichen Irak hätte passieren sollen, als die sunnitischen Aufständischen an Stärke gewannen und schiitische Fundamentalisten unter Muqtada al-Sadr zweimal den Aufstand gegen die Besatzer probten. Nach seinem Abzug aus dem Norden liefen jedoch zwei Drittel der Sicherheitskräfte in Mosul zu den Aufständischen über, und der Rest ging mit wehenden Fahnen unter. Zudem schienen seine Truppen nicht erkannt zu haben,
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das der al-Qaida nahestehende Dschihadisten, darunter mehrere saudische Wahhabiten, bereits vor Kriegsbeginn in und um Mosul einen Brückenkopf errichtet hatten. Und just zu der Zeit, in der Petraeus als Ausbildungsleiter der irakischen Armee fungierte – was außerhalb der umfirmierten Miliz und der kurdischen Perschmerga kaum bekannt war – vrschwanden die vom GAO als verschollen gemeldeten Kalaschnikows.6 Kaum fünf Jahre nach Beginn des Schlamassels jedoch hatten die US-Kommandanten plötzlich wenig Probleme, die Hand Teherans in praktisch jedem Winkel zu erkennen. Diese gewöhnlich unbewiesene Schuldzuweisung an die iranischen Truppen und Handlungsträger war eine massive Vertuschung und ein fadenscheiniges Argument. In der gesamten Irak-Thematik sind offenbar ständige Neuformulierungen angesagt. Erstens war die Auflehnung, die nach 2003 ihren Anfang nahm, in allererster Linie sunnitisch und irakisch und formte sich um eine neue Generation von Dschihadisten, die erst durch die angloamerikanische Invasion zu solchen geworden waren. Zweitens kamen die beteiligten ausländischen Kämpfer – insbesondere die Selbstmordbomber – vorwiegend aus dem US-freundlichen, sunnitischen Saudi-Arabien und nicht aus dem schiitischen Iran. Und drittens wurden die tödlichen Straßenbomben, die Hohlladungen beinhalteten, die US-Geheimdienstler so aussehen ließen, als seien sie iranischer Herkunft, zum größten Teil von Ingenieuren gebaut, die ihre Ausbildung in der irakischen Armee genossen hatten – und dazu hochexplosive Stoffe aus eben jenen Waffenhalden verwendeten, die die Besatzungstruppen nachlässigerweise ungesichert zurückgelassen hatten. Zweifellos hat der Iran im Irak auf viele Pferde gesetzt – möglicherweise sogar auf sämtliche Pferde der Schia. Doch hätte er das, was von dem Land übrig ist, für die US unregierbar machen wollen, hätte er es mit Sicherheit tun können. Bisher hat er es nicht getan. In seinem eigenen Interesse gibt der Iran vielmehr einem stabilen, verbündeten und schwachen Irak den Vorzug; wäre dem nicht so, wäre die Stellung der USA längst unhaltbar geworden. Nackte Tatsache ist, dass die wichtigsten Klienten Teherans im Irak genau dieselben waren und sind wie die der Vereinigten Staaten: Malikis Dawa-Partei und der Oberste Islamische Rat im Irak unter Führung von Abdelaziz al-Hakim. Die Mullahs in Teheran und die Iranische Revolutionsgarde pflegten eine neue und eher zögliche Beziehung zu dem unberechenbaren Muqtada al-Sadr und seiner Mahdi-Armee, deren irakische und arabische Ablehnung alles andere als Musik für persische Ohren ist. Jedenfalls hielt al-Sadr seine Truppen während der US-amerikanischen Truppenaufstockung 2007/2008 bezeichnenderweise weitestgehend zurück. Gefangen zwischen der Notwendigkeit, den sunnitischen Dschihadismus zu zerschlagen, den der Irakkrieg verlagert und über die gesamte Region verbreitet hatte, und der Angst vor schiitischem Radikalismus sowie der Einmischung
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eines gestärkten Iran, begannen die US-Truppen, sunnitische Aufständische, die sich im West- und Zentralirak gegen al-Qaida gewandt hatten, finanziell zu unterstützen und militärisch aufzurüsten. Doch dieser Rückgriff auf mehr als 90 000 Milizen – die sogenannte al-Sahwa oder „das Erwachen“ und ehemalige Aufständische, die sich nunmehr als „Söhne des Irak“ bezeichnen – könnte sehr rasch umschlagen. Er passt in das US-amerikanische Muster, sich auf „starke Männer“ zu stützen, wobei in diesem Fall der einzige Unterschied in ihrer Anzahl bestand. Und er setzte ein Gerangel um Unterstützung in Gang, das zu Auseinandersetzungen zwischen Sunniten (jenseits des Kampfes gegen al-Qaida) und dem Versuch führte, auf sunnitischem Gebiet einen islamistischen Kleinstaat einzurichten. Für die Mehrheit der Sunniten, die keinerlei Interesse an einem Emirat à la bin Laden, geschweige denn an einem neuen Kalifat im Irak haben, bedeutete dieser amerikanische Schwenk in ihre Richtung – verbunden mit der militärischen Rekonfiguration – den größten Machtzuwachs seit dem Sturz von Saddam Husseins Regime. In Ermangelung dessen, was sie als ihren rechtmäßigen Anteil an der Macht betrachteten – das heißt: die Oberhand im modernen Irak –, und sofern sie sich nicht der schiitischen Übermacht fügten, konnte alSahwa seine Waffen leicht gegen die Okkupation, gegen die bestehende oder eine künftige irakische Regierung richten. Im Herbst 2008 wurden Pattsituationen zwischen sunnitischen Milizen und der Regierung Maliki – die von den USA den Auftrag erhalten hatte, Erstere zu finanzieren, die sie stattdessen jedoch drangsalierte und verhaftete – zunehmend häufiger. Kommandanten mit historischem Bewusstsein würden die sunnitischen Milizen indes sicherlich nicht zu „Kit Carson Scounts“ (so die Bezeichnung für in Gefangenschaft geratene Vietkong, die die US-Streitkräfte umgedreht hatten und dann, freilich mit geringem Erfolg, gegen den vietnamesischen Feind einsetzten) hochstilisieren oder nach der sogenannten Ölfleckstrategie die Teile des Irak von Grund auf neu zusammenwachsen lassen – wie es die Franzosen in Vietnam mit les taches d‘huile versucht hatten und gescheitert waren.7 Zweitens erschien die Entscheidung Muqtada al-Sadrs, seine Mahdi-Truppen außen vor zu halten, keineswegs endgültig. Vielmehr sah es danach aus, als handele es sich hierbei um einen weiteren in einer langen Reihe taktischer Rückzüge und ursprünglich um eine Reaktion auf Schia-Greueltaten bei Kämpfen zwischen den Sadriun und der Badr-Brigade, dem bewaffneten Arm des Obersten Islamischen Rats im Irak al-Sadr, in Nadschaf und Kerbala im August 2007. Obendrein geriet Muqtada al-Sadr unter massiven Druck, die Waffenruhe zu brechen, da die USA versuchten, ihren offensichtlichen Erfolg mit dem Sunnitischen Erwachen zu wiederholen, um die schiitischen Stammesabgaben anzuheben und damit die sadristischen Kader zu treffen, während die Regierung Maliki unter dem Vorwand, Milizenherrschaft in Basra sowie in anderen Teilen des Südens zu unterdrücken, bevorzugt ihre eigenen Gegner aus dem al-Sadr-Lager angriff und sie von künftigen Wahlen auszuschließen drohte, sollten sie nicht
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die Mahdi-Armee auflösen. Al-Sadr stand vor einem politischen Dilemma, analog in etwa dem der Hisbollah im Libanon: eine nationale Bewegung innerhalb des politischen Mainstream zu werden und nach demokratischen Regeln zu agieren oder aber sich im Widerstand als islamistischer Vorreiter zu profilieren. Drittens hatte der Iran ein gewisses Maß an Kooperation zur Stabilisierung des Irak angeboten. Man hatte sich mit Vertretern der USA (sowie an den Irak angrenzender Staaten) getroffen, wobei freilich beide Seiten mehr Zeit damit verbrachten, einander Beschwerdelitaneien vorzutragen, als gemeinsam Pläne zum Wiederaufbau des Irak zu diskutieren. Es waren iranische Beamte, die der weiteren Ausbreitung der Kämpfe im schiitischen Kernland Einhalt geboten, nachdem sich Malikis Truppen im Frühjahr 2008 in Basra in die improvisierte Operation Charge of the Knights hatten verwickeln lassen.8 Freilich hatte die Kooperation Teherans im Irak immer ihren Preis: die Anerkennung des Iran durch die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten als regionale Macht mit eigenen Sicherheitsinteressen. Die Bush-Administration ging darauf nicht ein, und angesichts über drei Jahrzehnte andauernder, tief sitzender Feindseligkeiten und gegenseitigen Misstrauens der beiden Seiten sowie Washingtons uneingeschränkter Unterstützung für ein Israel, das im Iran die größte Bedrohung seiner nationalen Hegemonie sah, war fraglich, ob eine künftige US-Regierung dazu in der Lage sein würde. Bisher ist und bleibt die Islamische Republik Iran der einzige große Gewinner dieses Krieges. Viertens war ein – wenngleich grausiger – Grund für den Rückgang der Gewalt, dass die ethnokonfessionellen Säuberungen in Bagdad und dem irakischen Kernland weitgehend abgeschlossen waren. Der gezielte Bombenanschlag Abu Musab al-Zarqawis und seiner lokalen al-Qaida-Verbündeten gegen die Schia, dem am 22. Februar 2006 der al-Askari-Schrein in Samarra zum Opfer fiel, wurde zum Auslöser zwei Jahre andauernder Grausamkeiten, die das Ihre dazu beitrugen. Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, die taktischen Einzelheiten dieses Vorfalls im Gedächtnis zu behalten, da Ähnliches jederzeit wieder passieren kann. Zu jener Zeit hatten Mainstream-Aufständische – Nationalisten, NeoBaathisten sowie Verfechter tribaler oder sunnitischer Vorherrschaft – gegen al-Zarqawi und seine Anhänger aufbegehrt. Wenn auch nur die Hälfte der Berichte über Feuergefechte zwischen aufständischen Gruppierungen und Dschihadisten der Wahrheit entspricht, hatte al-Qaida allen Grund zur Bestürzung. Die Reaktion war ebenso absehbar wie klassisch. Mit der Zerstörung eines der Schia besonders bedeutsamen Heiligtums zielten sie darauf ab, einen endgültigen Keil zwischen Schiiten und Sunniten zu treiben und den Irak unwiderruflich zu spalten. Dieser Argumentationskette folgend, hieß es für die Sunniten: entweder eng zusammenrücken oder einzeln unterzugehen. In der jüngeren Vergangenheit haben sich alle Seiten im libanesischen Bürgerkrieg sowie in den bewaffneten Konflikten des ehemaligen Jugoslawien dieser Taktik bedient. Sie funktioniert.
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Die Schia hatte bis dato Provokationen widerstanden Anschlägen auf ihre Führer, ihre Pilger und Märkte und schließlich sogar die Zerstörung ihrer Moscheen. Doch die Bedeutung des goldüberkuppelten al-Askari-Schreins kann nicht überbewertet werden. Er beherbergte die Grabmale des zehnten und elften schiitischen Imam, direkter Nachfahren des Propheten Mohammed und Großvater bzw. Vater des zwölften und letzten „verborgenen Imam“, der um 939 verschwand und dem schiitischen Glauben zufolge weiterlebt, bis er am Ende aller Zeit als Mahdi oder Messias zurückkehren wird. Dieser Angriff richtete sich gegen die Schia in ihrer ureigenen Identität und war, in geradezu wörtlichem Sinne, apokalyptisch. Und apokalyptisch waren auch seine Auswirkungen. Obwohl diese Anschläge abklangen, könnten sie doch jederzeit wieder aufflammen, insbesondere dann, wenn eine größere Zahl von Flüchtlingen – darunter überproportional viele Sunniten – zurückkehren sollte. Eine weitere Greueltat vergleichbaren Ausmaßes, etwa die Ermordung des Großajatollah Ali alSistani, des bedeutendsten schiitischen Geistlichen, könnte diesen Teufelskreis erneut in Gang setzen. Sektenkriegern ist dieses Rezept vertraut. Es ist mehrfach erprobt und hat sich bewährt.9 Fünftens und letztens belastet die beträchtliche Anzahl der US-Soldaten im Irak das US-Militär über Gebühr und ist von Truppenreserven wie der National Guard abhängig und daher zeitlich befristet. Man mag hinzufügen, dass sie nicht die einzigen Truppen in der Region sind. Auch verschiedene Nachbarn des Irak lassen immer wieder erkennen, dass sie abwägen, ob möglicherweise der passende Moment gekommen ist, im Irak einzugreifen, um ihre eigenen Interessen zu vertreten: der Iran hinter der Schia, Saudi-Arabien und Jordanien zur Verteidigung der Sunniten, und die Türkei, die die Kurden daran hindern will, ihre Unabhängigkeit zu etablieren. Zudem könnte die öffentliche Meinung, vor allem in den Vereinigten Staaten, mit dem drastischen Rückgang der Medienberichterstattung in Zusammenhang stehen. Das Pew Project for Excellence in Journalism und, unabhängig davon, die Associated Press verzeichneten zwischen 2007 und 2008 hinsichtlich der Berichterstattung über den Irak einen Rückgang auf zehn Prozent, und zwar sowohl im Fernsehen als auch auf den Titelseiten der Printmedien. Einzige Ausnahme war eine Spitze im September 2007, die mit dem optimistischen Bericht des Generals Petraeus vor dem Kongress über die Truppenaufstockung zusammenfiel.10 Der Rückblick des GAO vom Juni 2008 über den nunmehr 18-monatigen New Way Forward in Iraq trennte penibel zwischen dem unbestrittenen, wenngleich befristeten Zuwachs an Sicherheit und dem gleichermaßen offensichtlichen Fehlen einer erfolgversprechenden Strategie zur Wiederherstellung einer festen Ordnung im Land. Er kam zu dem Schluss – ganz im Gegensatz zu einem regelrecht siegestrunkenen Schriftstück, das das Pentagon praktisch zeitgleich veröffentlichte und das weiterhin auf der Einmischung des Iran im Irak herumritt –, dass die Erfolge wenig mehr als ein Kartenhaus seien, das jeden Augenblick einstür-
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zen könne. Die Momentaufnahmen der beiden konträren Berichte über den Irak scheinen zwei gänzlich unterschiedliche Länder zum Inhalt zu haben. Während das Pentagon beispielsweise siebzig Prozent der irakischen Truppen eigenständige Einsatzbereitschaft bescheinigte, gestand das GAO dies gerade einmal zehn Prozent der Einheiten zu, von denen zudem nur wenige in der Lage seien, gänzlich ohne Unterstützung durch das US-Militär zu handeln. Der Überwachungsbeauftragte des Kongress’ machte die optimistische Darstellung des Wiederaufbaus, die die Regierung geboten hatte, weitgehend zunichte, indem er darauf hinwies, dass die zentralen irakischen Ministerien, darunter die für nationale Sicherheit zuständigen, nicht mehr als zwölf Prozent ihres Budgets hatten ausgeben können. Ein Folgebericht vom August 2008 enthüllte, dass der Irak kurz davor war, einen Budgetüberschuss in Höhe von 79 Milliarden US-Dollar anzuhäufen, weil er (ebenso wie die Besatzungsmächte) institutionell nicht in der Lage war, Investitionen zum Wiederaufbau zu tätigen. Auch politisch hatte sich in Hinblick auf die nationale Versöhnung absolut nichts bewegt. Das Gesetz, das das pauschale De-Baathifizierungs-Dekret Paul Bremers hatte aufheben und die große Zahl der Staatsbeamten amnestieren sollen, deren Tätigkeit unter Saddam den Eintritt in die Baath-Partei erfordert hatte, hatte nicht dazu geführt, dass auch nur ein einziger „geläuterter“ Iraker wieder in den öffentlichen Dienst aufgenommen wurde. Nach wie vor gab es kein Programm zur Verteilung der durch Erdölförderung erzielten Gelder. Auch hinsichtlich der Machtverteilung zwischen Provinzen, Regionen und der Föderation (darunter die Frage des ölreichen, zwischen Kurden und Arabern heftig umstrittenen Kirkuk) war keinerlei Fortschritt zu erkennen, und für die im Herbst 2008 anstehenden Provinzwahlen, die schließlich auf 2009 verschoben wurden, zeichnete sich kein klarer Weg ab. Dabei waren all diese Punkte wesentliche Elemente des ersehnten „Rezepts“ zur Beschwichtigung der Sunniten, die durch verschiedene US-amerikanische Initiativen und unzureichend koordinierte Agenturen ins Werk gesetzt werden sollten.11 Präsident Bushs Beteuerung am fünften Jahrestag des Krieges, die USA stünden kurz vor einem „wichtigen strategischen Sieg“ im Irak, war reine Phantasterei. Die Wahrheit war: Es gab keine Strategie. Strategisch gesehen ist der Irak ein einziges Desaster. Zwei der wichtigsten (wenn auch unausgesprochenen) Kriegsziele laufen hier gegeneinander: durch unübersehbare Demonstration der amerikanischen Militärgewalt alle Gegner der US-Interessen abzuschrecken und durch die Eroberung Bagdads eine Hegemonie in der Golfregion zu errichten sowie die Mittel bereitzustellen, den gesamten Nahen und Mittleren Osten nach dem amerikanischen (Vor-)Bild von Demokratie umzugestalten. Was diese fünf Jahre stattdessen gezeigt haben, ist die größtmögliche Demonstration der Grenzen der Macht der Vereinigten Staaten – live zu beobachten im Satellitenfernsehen überall in der arabischen und muslimischen Welt, eine mo-
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derne Version der Kreuzzüge –, was dem Ruf der USA (und einer kleinen Zahl von Verbündeten unter Führung von Tony Blair ) unabsehbaren Schaden zugefügt hat, und zwar hinsichtlich staatsmännischer Kompetenz ebenso wie in puncto Machtdemonstration. Und obendrein hat diese letzte, unheilvolle Intervention für viele Araber und Muslime das Konzept von Demokratie im Trümmerfeld des Irak begraben. Dadurch dass sie die sunnitisch-arabische Ordnung im Irak stürzten, zum ersten Mal in mehr als tausend Jahren eine schiitische Regierung in einem arabischen Kernland installierten und damit die Machtposition des schiitisch-isalmischen Iran immens stärkten, haben die USA und ihre Gehilfen im Nahen und Mittleren Osten Kräfte freigesetzt, die bislang niemand zu kontrollieren vermag. *** Als Saddam Hussein 1979 die Macht im Irak ergriff, bestand sein erster Schachzug zur Konsolidierung seiner Herrschaft darin, ein syrisches Komplott aufzudecken. Dies versetzte ihn und einige seiner Anhänger in der Baath-Partei in die Lage, öffentlich 22 Gegner hinrichten zu lassen, und ebnete den Weg zu einem klaren Bruch mit der konkurrierenden baathistischen Regierung in Damaskus. Ein Jahr später marschierte er im Iran ein – der Beginn eines achtjährigen Krieges gegen das aufkommende islamische Revolutionsregime, der schätzungsweise eine Million Menschenleben kostete. Und als der irakische Diktator 1990 Kuwait überfiel, banden Ägypten und Syrien die Araber in eine von den USA angeführte Koalition ein, um ihn zurückzuschlagen. Im Frühjahr 1998 jedoch, als die USA und Großbritannien scheinbar kurz davor standen, den Irak wegen Behinderung der US-Waffeninspektoren massiv zu bombardieren, waren es Syrien, der Iran und Ägypten, die ihre Stimme am lautesten gegen einen Militärschlag erhoben. Saddams Minister wurden in Damaskus, Teheran und Kairo empfangen. Selbst Saudi-Arabien, Startrampe der Allierten im Golfkrieg von 1991, das Saddam mit Scudraketen beschossen hatte, war so unglücklich über die Aussicht eines neuerlichen Angriffs auf den Irak, dass es den USA die Nutzung seiner Stützpunkte verweigerte. Und die Vorhut der pro-irakischen Demonstrationen, die von der Türkei bis nach Jordanien ausbrachen, bildeten ausgerechnet die Islamisten, denen die pan-arabische nationalistische Ideologie der Baath schon immer ein Dorn im Auge war. Hatten die arabischen Fürsten – nicht umsonst berühmt für ihre ideologischen und religiösen Streitereien, ihre üblen persönlichen Animositäten und ihren Konkurrenzkampf um die Vormachtstellung in der Region – ihre Feindschaft begraben? Waren sie alle von der Vision beseelt, ihren intriganten Bruderstreit beizulegen? Schwerlich. Nein, sie reagierten vielmehr im Kollektiv mit einem gesunden Selbsterhaltungstrieb. Die Neuordnung, die damals in der gesamten arabischen Welt (in-
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klusive dem Iran) vonstatten ging, war eine Reaktion auf die gescheiterte und unglaubwürdige US-Politik in der Region und auf die Angst – insbesondere unter den US-Verbündeten wie Ägypten und Saudi-Arabien –, dass die groben Fehler und die Arglist der Amerikaner zur Unterminierung ihrer eigenen Regierungen führen könnten. Das westliche Vertrauen, die Probleme der Region mit Militärgewalt lösen zu können, hatte sich lange vor dem groß angelegten Einmarsch in den Irak als hinfällig erwiesen. Nach dem Golfkrieg und infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, die Frontstaaten wie Syrien – speziell im Kampf gegen Israel – unterstützt hatte, glaubten die Menschen im Nahen und Mittleren Osten, die siegreichen USA würden, in ihrem ureigenen Interesse, eine arabisch-israelische Vereinbarung ausarbeiten. Man glaubte, Washington würde seinen Einfluss auf Israel – das es mithilfe diverser Schmeicheleien dazu gebracht hatte, sich trotz Saddams provokanter Beschießung israelischer Städte mit Scudraketen aus dem Golfkonflikt herauszuhalten – dazu nutzen, die Rückgabe besetzter arabischer Gebiete und die Errichtung eines Palästinenserstaates zu sichern, als Gegenleistung für die Anerkennungs Israels durch die Araber. Und so schien es zunächst auch. Doch trotz der von den USA einberufenen Konferenz von Madrid im Jahr 1991 und den Osloer Abkommen der Jahre 1993–95 zwischen Israel und den Palästinensern sowie dem Friedensvertrag mit Jordanien geschah nichts in dieser Richtung. Israel behielt seine besetzten Gebiete im Westjordanland, im Gazastreifen und im arabischen Ostjerusalem, räumte weder die syrischen Golanhöhen noch seine Enklave im Südlibanon (zwölf Prozent des libanesischen Staatsgebietes). Nach der Ermordung Jitzchak Rabins kam in Israel Benjamin Netanjahu an die Macht, als Führer einer rechtsgerichteten Koalition, die u. a. die jüdische Besiedelung Ostjerusalems – wo sich die nach Mekka und Medina bedeutendsten Heiligtümer des Islam befinden – vorantrieb, um das Herz eines möglichen künftigen Palästinenserstaates von dessen Hinterland im Westjordanland zu trennen.12 Die US-Regierung Bill Clintons schien entweder nicht in der Lage oder nicht willens, Israel dazu zu bringen, seinen internationalen Verpflichtungen nachzukommen. Sie verstärkte die Problematik vielmehr noch durch ihre Dual-containment-Strategie gegenüber dem islamistischen Iran und dem Irak Saddam Husseins. Dies war eine eklatante Fehlentscheidung hinsichtlich der Isolation des Iran, der mit Europa kokettierte und sich von Russland umwerben ließ. Und es förderte das Prestige Saddam Husseins in der arabischen Welt. Weder die drakonischen UN-Sanktionen, die verheerenden Auswirkungen auf Lebensstandard, Gesundheits- und Bildungswesen der gewöhnlichen Iraker hatten und gleichzeitig durch Schmuggel, Korruption, Schwarzhandel u. Ä. die Machthaber stärkten, noch eine Folge militärischer Fehlschläge hatten ihn auch nur im geringsten geschwächt. In zwei Jahrzehnten schaffte Saddam es, das Durchschnittseinkommen der Iraker vom Standard eines durchschnittlichen EU-Mitglieds wie Grie-
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chenland auf das Niveau eines Entwicklungslandes wie Mali zu drücken. Dennoch gab ein Großteil seines Volkes nicht ihm die Schuld dafür, sondern den Vereinigten Staaten und anderen westlichen Demokratien. Angesichts dieser Umstände und erzürnt über das Scheitern des Friedensprozesses, begannen arabische Machthaber, die „Normalisierung“ ihres Verhältnisses zu Israel zunehmend zu reduzieren. Im Herbst 1997 hatten sie einen von den USA gesponserten Wirtschaftsgipfel in Doha boykottiert – den vierten in einer Reihe, der den ins Stocken geratenen Friedensprozess stützen sollte – und sich stattdessen bei einem islamischen Gipfel unter iranischer Führung in Teheran eingefunden: Iraks erster internationaler Auftritt seit dem Golfkrieg. Neue Koalitionen entstanden. Syrien versöhnte sich mit dem Irak, und der Irak war dabei, seine Beziehungen mit dem Iran zu verbessern. Am vielleicht überraschendsten war die allgemeine Annäherung der Araber an Teheran. Zbigniew Brzezinski, Nationaler Sicherheitsberater unter Präsident Jimmy Carter, fasste die Situation nach einem US-Patt mit dem Irak im November 1997 zusammen. „Unsere Politik des dual containment mit dem Ziel, zwei Länder zu isolieren, war ein durchschlagender Erfolg“, sagte er. „Das Problem dabei ist nur, dass diese beiden Länder die Vereinigten Staaten und Israel sind.“13 Wenngleich dieser Prozess der Neuordnung auf schwachen Füßen stand, sah es damals doch sehr danach aus, als seien die Araber zu dem Schluss gekommen, sie müssten eine eigene Allianz zustandebringen, und zwar am besten mit einem gesunden Abstand zu den USA und feindlich gegenüber Israel. Dies war massive Verschwendung des politischen Kapitals, das Amerika seit dem Golfkrieg angehäuft hatte, und Saddam Hussein, kein großer Kenner der Geopolitik, aber trotz alledem gerissen, beabsichtigte, größtmöglichen Nutzen daraus zu ziehen.14 Eine Beduinenfabel, die Kronprinz Abdullah, Thronfolger des kränklichen König Fahd und damals bereits De-facto-Herrscher Saudi-Arabiens, Madeleine Albright erzählt haben soll, illustriert die Stimmung: Ein Schafzüchter, so die Geschichte, aus dessen Herde ein Wolf alle drei oder vier Tage ein Lamm stahl, ließ sich von einem Freund dazu überreden, ihm zwanzig scharfe Wachhunde abzukaufen, die den Räuber in Schach halten sollten. Binnen Kurzem stellte er jedoch fest, dass er jeden Tag drei oder vier Lämmer schlachten musste, um die Wachhunde zu füttern. Nach einer längeren Kunstpause soll Abdullah folgendermaßen fortgefahren sein: „An diesem Punkt entschied sich der Besitzer der Herde, sich von den Wachhunden zu trennen, und für eine Koexistenz mit dem Wolf, da diese Lösung weniger verlustreich – und möglicherweise auch weniger gefährlich war.“ *** Saddam erkannte den richtigen Moment, um aus seiner Post-GolfkriegsQuarantäne auszubrechen. Nomen est omen: Saddam bedeutet auf Arabisch
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„Der, der auf Konfrontationskurs geht“ oder „Der, der zum Schlag ausholt“. Und diesem Namen war er fast immer gerecht geworden. Saddam Hussein kam 1937 in einer ungebildeten Brigantenfamilie zur Welt, wo ihn sein Stiefvater (ein Nazi-Sympathisant) schon früh zu Diebstählen zwang. In dem turbulenten Jahrzehnt nach dem Sturz der haschemitischen Monarchie in Bagdad 1958 schoss er sich seinen Weg in die oberen Ränge der pan-arabischen nationalistischen Baath-Partei, die zur Zeit ihrer Machtergreifung 1968 von machtgierigen Offizieren geleitet wurde. 1979 übernahm er den Parteivorsitz und konsolidierte seine Position mittels Gefolgsleuten aus seiner Heimatstadt Tikrit. Das nördlich von Bagdad gelegene Tikrit, das der bedeutende britische Historiker Edward Gibbon (1737–94) als „uneinnehmbare Festung unabhängiger Araber“ beschrieben hatte, war auch der Geburtsort Saladins, des muslimischen Sultans, der Jerusalem von den Kreuzrittern befreite. Vergleichbaren Heldenruhm wollte der irakische Diktator für sich beanspruchen, und nachdem sich Ägypten 1979 mit dem Friedensvertrag von Camp David der Konfrontation mit Israel entzogen hatte, ging sein Bestreben dahin, die sozusagen frei gewordene Stelle zu besetzen. Der von ihm selbst initiierte Personenkult und seine Hochstapelei kannten keine Grenzen. Das neue „Schwert der Araber“ ernannte sich selbst zu einem Nachfahren des Propheten Mohammed und zum Nachfolger des babylonischen Königs Nebukadnezar, der 587 Jerusalem zerstört hatte. Doch obwohl er ständig Krieg gegen sein eigenes Volk führte, gegen die Kurden, die Perser, seine ehemaligen Förderer, die Syrer (über Erfüllungsgehilfen im Libanon) und natürlich gegen die angloamerikanische Koalition kämpfte, erschien es lediglich ein prahlerischer nachträglicher Einfall, als er mitten im Golfkrieg symbolische Raketensalven in Richtung Israel abschießen ließ. Auf dem Höhepunkt seiner Macht, im Kampf gegen den Iran und von den Arabern der Golfregion ebenso umworben wie vom Westen als Puffer gegen die islamistische Revolution Khomeinis, erwarb er sich in der Region in der Tat eine gewisse Glaubwürdigkeit als arabischer Held – ein Ruf, der es seinen Förderern leicht machte, über den von ihm angeordneten Einsatz chemischer Waffen gegen die Kurden im Nordirak und gegen die Iraner auf der Halbinsel Fao großzügig hinwegzusehen. In einem der seltenen Interviews aus der Zeit kurz vor dem Einmarsch in den Iran 1980 sagte er: „Ich tendiere immer dazu, zwischen ... kalkulierter Kühnheit und echtem Risiko zu unterscheiden.“ Solange er die Zügel der Macht innerhalb des Irak immer weiter anziehen konnte, konnten ihn nicht einmal Niederlagen auf dem Schlachtfeld davon überzeugen, dass sein kriegslustiges Gebaren alles andere war als kalkulierte Kühnheit.15 Der spürbare Zerfall der Golfkriegskoalition wurde von Wirren im UN-Sicherheitsrat begleitet, wo die USA und Großbritannien im Oktober 1997 eine leichte Verschärfung der Sanktionen befürworteten, nachdem Bagdad begonnen hatte,
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die UN-Waffenkontrolleure systematisch zu behindern. Frankreich, Russland und China blockierten diese Verschärfung. Sie waren verärgert über Waschingtons Dual-containment-Politik, die UN-Sanktionen gegen den Irak mit unilateralen US-Sanktionen gegen den Iran in einen Topf warf, um den USA eine gesetzliche Handhabe zu geben, europäische Firmen für Investitionen im Iran abzustrafen. Saddam erkannte seine Chance und warf sämtliche amerikanischen Inspektoren hinaus. Als US-amerikanische Flugzeugträger im Golf kreuzten, klang die Krise ab, allerdings nur, um im Februar 1998 erneut auszubrechen. Und dieses Mal ließen die im Golf stationierten angloamerikanischen Truppen die Alarmglocken durch die ganz Region schrillen. Nachdem er sich mit vierzehn arabischen Fürsten beraten hatte, sprach Husni Mubarak mit Madeleine Albright, schickte vier besorgte Nachrichten an Saddam und sagte: „Wir stehen vor einem verdammt großen Problem“, wenn die Luftangriffe nicht aufhören. Worum es ging, so seine dringliche Botschaft, sei „nicht, was die Staatsoberhäupter denken. Der Knackpunkt ist, wie die öffentliche Meinung in unseren Ländern ist. Sie werden nicht einen einzigen [arabischen] Führer finden, der öffentlich kundtut: ,Wir unterstützen die Luftangriffe.‘“ Mubarak war der Ansicht, Saddam habe – mit gutem Grund – einen Stimmungsumschwung in der arabischen und islamischen Welt zu seinen Gunsten gespürt: „Wir haben nicht mehr 1991 – ich kann mich nicht gegen die gesamte öffentliche Meinung stellen.“ Washington hatte Sanktionen gegen Libyen, den Iran und Sudan verhängt, aber „nichts für den Friedensprozess im Nahen Osten getan. Das sagen die Leute. Und dann sehen sie, dass die USA einen Angriff auf den Irak vorbereiten“, weil der sich weigere, all seine Waffen abzuliefern, während „die Israelis gleichzeitig Massenvernichtungswaffen besitzen und sie dazu rein gar nichts sagen.“ Der Westen „versteht die Denkweise der Menschen in diesem Teil der Welt nicht: Es gibt Extremisten, die nur darauf warten, endlich zuzuschlagen.“16 So eigennützig einiges davon gewesen sein mag – es spiegelte die echte Angst vor den Auswirkungen der US-Intervention in der Region und schuf die Voraussetzungen für Kofi Annan, damals UN-Generalsekretär, einen Fünf-vor-zwölfVergleich mit Bagdad durchzuziehen, der ihn zum Helden des Nahen Ostens machte. Es lenkte die Aufmerksamkeit aber auch darauf, dass das Problem nicht länger darin bestand, den Irak isoliert anzugehen. Die Unfähigkeit der USA, den Friedensprozess im Nahen Osten voranzubringen und Washingtons Zusammenwürfeln von UN-Sanktionen gegen den Irak mit seinen eigenen Sanktionen gegen den Iran ermöglichte es Saddam, gestärkt aus der Krise hervorzugehen und nicht mehr das Bild des (schurkischen) regionalen Außenseiters abzugeben, der er war. Die Lage hatte sich verändert, die Karten waren neu gemischt. Washington und seine Verbündeten mussten sich dadurch wieder Glaubwürdig-
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keit verschaffen, dass sie sich mit den verzahnten Problemen der Region als Ganzes beschäftigten. Im November 1998, zum dritten Mal innerhalb eines Jahres, setzte eine neuerliche Konfrontation mit Saddam eine weitere Runde Wutgeheul und Melodramatik in Gang. Diese spezielle Runde des cheat and retreat, wie es die Amerikaner nannten, endete damit, dass alliierte Bomber den Luftraum besetzten und buchstäblich nur Sekunden von ihren Zielen entfernt zurückgerufen wurden. Im darauffolgenden Monat dann standen sich beide Seiten in der Operation Desert Fox gegenüber. Nachdem sie ihre Truppen dreimal in einem Jahr hatten aufmarschieren lassen, um sie kurz darauf wieder zurückzupfeifen, stand nicht nur die Glaubwürdigkeit der USA (und Großbritanniens) auf dem Spiel, der Geduldsfaden war auch am Zerreißen. Was freilich nicht hieß, dass man nun eine klarere Strategie gehabt hätte. Die Position der USA und Großbritanniens war scheinbar simpel: Es galt, den Irak daran zu hindern, nichtkonventionelle Waffen herzustellen oder einzusetzen. Was dabei außen vor blieb, war die Erklärung, wie dies aus der Luft geschehen könne, insbesondere da die Krise nicht zuletzt daraus resultierte, dass man Bagdad unterstellte, chemische und biologische Waffen vor den Inspektoren auf dem Boden (!) zu verstecken. Dazu kam, dass zu diesem Zeitpunkt die Inspektionen der Jahre 1991–98 einen ungleich größeren Teil des irakischen Waffenarsenals zutage gefördert hatten als vierzigtägige Bombardierungen während des Golfkriegs oder die Cruisemissiles hatten zerstören können, die 1993 und 1996 auf den Irak abgefeuert worden waren. Dennoch bestand ein wesentlicher Unterschied: Saddam war seiner Absprache mit Kofi Annan, den Inspektoren „uneingeschränkten Zugang“ zu gewähren, nicht nachgekommen, verhinderte weitere Suchaktionen und Überwachungen. Dies ließ das ohnehin schon immer etwas fadenscheinige diplomatische Engagement der Araber weiter zurückgehen. Saddam hatte einmal mehr sein Blatt überreizt. Doch während die Geschosse der Alliierten und das Feuer irakischer Luftabwehrraketen zum x-ten Mal den nächtlichen Himmel über Bagdad erhellten, versuchten Washington und London weiterhin, den Eindruck zu vermitteln, ihre Strategie gegen den irakischen Despoten sei mehr als bloße Schüsse ins Dunkel. Zu Beginn der Operation wandte sich Präsident Clinton am 16. Dezember in einer Fernsehansprache an das amerikanische Volk: „Wenn Saddam die Waffeninspektionen behindern kann und wir ihm das durchgehen lassen, könnte er zu dem Schluss kommen, dass die Internationale Gemeinschaft unter Führung der Vereinigten Staaten ihren Biss verloren hat.“ Das stimmt. Doch davon abgesehen, dass man jeder Form von Widerstand im Sicherheitsrat entschieden entgegentrat – welche Glaubwürdigkeit hatte die angloamerikanische Irakpolitik überhaupt noch? Luftangriffe hatten, wie wir gesehen haben, rein illusorische Erfolgsaussichten. Das Vertrauen der USA in ihre Truppen als eines von zwei sicher geglaubten
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Standbeinen in der Region (das zweite war das Vertrauen in Machthaber, die Saddam als regionale Bedrohung aufgebauscht hatten) schien wirkungslos. Während der gesamten Zeit dieser Krise machten amerikanische und britische Stellen nicht nur klar, dass eine Aufhebung der Sanktionen, solange Saddam an der Macht war, schlichtweg außer Frage stand. Sie schienen die Zeit gegen Ende des Golfkriegs zurückzuwünschen, als Bagdad, und Saddam, von ihrer Gnade abhängig waren. Gleichwohl sahen sie tatenlos zu, als die Kurden im Norden sich erhoben und sich eine vom Militär angeführte Rebellion im Süden zu einer schiitischen Revolte auswuchs, die Saddam blutig beendete. Bald darauf sollte der Tyrann im ganzen Land Zwietracht säen, die im Februar 1999 in der Ermordung Mohammed Sadeq al-Sadrs, Muqtadas Vater, gipfelte. Die (damals breite) Allianz ließ die Gelegenheit, Saddam zu stürzen, ungenutzt verstreichen, aus Furcht, der Irak würde zerfallen und die gesamte Region destabilisieren. Innerhalb des Irak betrachtete man die Entscheidung, sich nicht in den Kurden- und den Schiitenaufstand einzumischen, als unerklärlichen Verrat. Außerhalb des Landes wurde der Wunsch, den irakischen Führer von hinten zu sehen, zum einen durch die Furcht gedämpft, es könne Schlimmeres nachkommen, zum anderen durch die Annahme, sein Regime sei schlichtweg zu mächtig, um von seinen Gegnern gestürzt werden zu können.17 Doch die Politik der Amerikaner und Briten war dabei, sich zu verändern. Ende 1998 unterzeichnete Präsident Clinton den Iraq Liberation Act, ein entschiedener, wenngleich illusorischer Zug in Richtung auf einen Regimewechsel, der Finanzmittel für die großenteils im Ausland residierende irakische Opposition bereitstellte. Dies war insofern keine wirklich neue Strategie, als die USA über die CIA bereits früher den Irakischen Nationalkongress (INC), eine Dachorganisation unter Führung von Ahmad Chalabi im kurdischen „sicheren Hafen“ im Nordirak, finanziert und anderweitig unterstützt hatte. Das Ganze endete in einer verheerenden Niederlage, nachdem Masud Barzanis Demokratische Partei Kurdistans (DPK) sich mit Saddam gegen Jalal Talabnis rivalisierende Patriotische Union Kurdistans (PUK) verbündete, die logistische Unterstützung vom Iran erhielt. Washingtons Bündnispartner zerfielen in ein blutiges Durcheinander, und auch die letztlich wirkungslosen Cruisemissile-Angriffe jener Zeit trugen nicht dazu bei, das Ausmaß des Desasters zu reduzieren. Neuerliches Hofieren der irakischen Opposition änderte nichts daran, dass in Washington kaum noch jemand an einen Zusammenhalt der – nach Zählung des Außenministeriums – 73 Gruppierungen glaubte, von denen viele sich gegenseiten befehdeten und kaum eine Chance hatten, Saddams brutale Gewaltherrschaft zu überleben. Wenn dieser bunt zusammengewürftelte Haufen innerhalb des politischen Systems Amerikas jener Zeit überhaupt Anerkennung erfuhr, dann nur als internationale Lobbyisten, was ihnen den abfälligen Spitznamen „Frequent Flyers Group“ eintrug.
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Nichtsdestoweniger hatte sich nach Desert Fox auch der Sprachstil deutlich gewandelt. Clinton informierte Amerika: „Tatsache ist: Solange Saddam an der Macht ist, sind das Wohlergehen seines Volkes, der Frieden in der Region und die Sicherheit der gesamten Welt in Gefahr. Der beste Weg, diese Bedrohung ein für alle Mal auszuschalten, ist eine neue irakische Regierung – eine Regierung, die mit ihren Nachbarn in Frieden leben möchte, eine Regierung, die die Rechte ihres Volkes respektiert.“ Tony Blair pflichtete dieser Stellungnahme gleich am folgenden Tag artig bei: „Wir freuen uns auf den Tag, an dem der Irak die Regierung hat, die er verdient.“ Militärs beider Länder verloren indes keine Zeit, diese Aussagen zu relativieren, indem sie darauf hinwiesen, dass, wolle man eine reelle Chance, Saddam zu töten, gefangenzunehmen oder zu entfernen, „viele Tausend Mann nötig“ wären (so der britische Generalstabchef General Sir Charles Guthrie). Dennoch bestand zumindest die vage Hoffnung, dass Desert Fox das Regime ernsthaft unterminieren oder sogar zum Zusammenbruch bringen könne. „Wenn die Wende kommt, kommt sie oft plötzlich und unerwartet“, sinnierte Clintons Sicherheitsberater Sandy Berger: „Eine Wende im Irak wird kommen. Zeitpunkt und Art und Weise können wir zwar beeinflussen, aber nicht vorhersagen.“ Diese Denkweise wird bei jenen, die später Bushs Strategie gegenüber dem Irak betrachten, gewiss Widerhall finden. In diesem Fall war es wohl einfach ein Rollenlassen der Würfel: Triff den Irak nur massiv genug, und wer weiß – irgendwas könnte sich daraus entwickeln.18 *** Als George W. Bush ins Weiße Haus einzog, war die Vorstellung, ein Regierungswechsel könne eine Wende für das nach wie vor ungelöste Problem Saddam Hussein bringen, weit verbreitet. Das Thema wurde, und zwar schon seit Clintons zweiter Amtszeit, in aller Öffentlichkeit debattiert. Tatsächlich stand es bereits in einer der ersten Kabinettssitzungen der Bush-Administration auf der Agenda, doch Zugkraft erlangte es scheinbar erst nach den al-Qaida-Anschlägen vom 11. September 2001. Die erste Reaktion der USA auf jene Terroranschläge war bedächtig, von vielen Seiten gutgeheißen und offensichtlich gerechtfertigt. Wie ich in Kapitel III ausgeführt habe, hoffte Osama bin Laden eindeutig auf eine unangemessene Reaktion vonseiten der USA, die die Muslime dazu bringen würde, sich gegen den Westen und die mit dem Westen verbündeten Regierungen der islamischen Welt zu erheben. Doch die betonte Ruhe, mit der die USA und ihre Partner die Taliban aus den Städten und al-Qaida in die gesetzlosen Grenzgebiete Pakistans trieben und mit internationaler politischer und finanzieller Unterstützung die neue Regierung unter Hamid Karzai installierten, hinterließ im verwundeten Amerika das
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Gefühl tiefster Unzufriedenheit. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld beklagte, es gäbe zu wenig „lohnende“ Angriffsziele in Afghanistan. Seine wichtigsten Berater, darunter Paul Wolfowitz und Douglas Feith, schienen praktisch von dem Augenblick an, als die dschihadgesteuerten Flugzeuge in die Twin Towers rasten, entschlossen, dass das Angriffsziel Irak heißen müsse. So hatte beispielsweise Wolfowitz, inzwischen Rumsfelds Stellvertreter, 1992 im Pentagon eine kühne Strategie vorgestellt, Defense Planning Guidance genannt, derzufolge Amerika sofort präventiv handeln und entschieden durchgreifen sollte, sobald irgendeine andere Nation – sei es Feind oder Freund – zu einer ähnlich machtvollen Position aufzusteigen und damit zur echten Konkurrenz zu werden drohte. Dies bedeutete auch, dass jedes Aufkommen einer feindlichen Macht, die eine regionale oder globale Bedrohung der US-amerikanischen Vormachtstellung darstellen könnte, rechtzeitig verhindert werden musste. Im Nahen und Mittleren Osten hieß dies, dass die Vereinigten Staaten „die beherrschende Fremdmacht in der Region bleiben und den Zugang der USA und anderer westlicher Staaten zu den Erdölvorkommen der Region bewahren“ mussten.19 1996 entwarf Richard Perle, der unter Reagan im Pentagon gearbeitet hatte und unter George W. Bush Vorsitzender des Defense Policy Board gewesen war, zusammen mit Douglas Faith ein Strategiepapier für Benjamin Netanjahu, in dem er ihn aufforderte, die Osloer Verträge mit den Palästinensern zu zerreißen und am Sturz Saddam Husseins im Irak mitzuwirken. 1998 forderten beide Männer im Rahmen der neokonservativen Denkfabrik Project for a New American Century (PNAC) Clinton zum militärischen Sturz Saddam Husseins auf. Die Unterzeichnenden dieser Petition lesen sich wie ein Who‘s who der späteren neokonservativen Propagandisten für einen Krieg im Irak.20 Nach den Anschlägen des 11. September – mit Rumsfeld im Pentagon (ganz erpicht auf einen neuen Krieg), Cheney als mächtigem Vizepräsidenten und Bush im Weißen Haus (seinerseits entschlossen, als wartime president in die Geschichte einzugehen) – hätte dieses Gedankengut kein dankbareres Publikum finden können. Im Juni 2002 erklärte Bush in einer Rede vor den Absolventen der Militärakademie in West Point das bisherige Konzept der Politik von Abschreckung und Eindämmung für überholt: „Wir müssen die Schlacht zum Feind bringen, seine Pläne durchkreuzen und den schlimmsten Bedrohungen begegnen, bevor sie auftreten.“ Die Bush-Doktrin war geboren.21 Ich möchte an dieser Stelle nicht die hinreichend dokumentierte Geschichte wiederholen, wie die Regierungen Bush und Blair in den Jahren 2002 und 2003 aus oftmals fragwürdigen Informationen ein Lügengebäude errichteten, das einen Krieg rechtfertigen sollte, der bereits im Frühjahr 2002 praktisch beschlossene Sache war, wobei die Bedrohung durch irakische Waffen hemmungslos aufgebauscht und auf eine Verbindung zwischen Saddam und al-Qaida gepocht wurde, für die es nicht den geringsten Beweis gab.
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Meine persönliche Meinung vor dem Krieg war: dass Saddams Massenvernichtungswaffen-Arsenal sich auf Restbestände chemischer und biologischer Waffen beschränkte; dass er zwar chemische Waffen gegen die Kurden und den Iran eingesetzt hatte, im Golfkrieg und danach aber nicht nur darauf verzichtete, solche Waffen zu verwenden, sondern zeitweise sogar darauf verzichtete, mit konventionellen Waffen zu drohen; dass die Ansicht, er habe Unteraufträge an Dschihadisten vergeben, erfunden und erlogen war, wenngleich sich das geändert haben könnte, nachdem die USA mit seiner Ermordung gedroht hatten; dass bin Ladens an Faschismus grenzende Ideologie die größte Bedrohung für alle liberalen Werte und die internationale Sicherheit darstellte und nicht Saddam Hussein; und dass die Vereinigten Staaten, indem sie ein falsches Ziel verfolgten, sich selbst immer weiter von der Legitmitiät entfernten, die in der arabischen und muslimischen Welt nötig gewesen wäre, um al-Qaida zu zerschlagen. Kurz: dass ein Angriff auf den Irak zu einer Ausweitung des Konflikts führen würde, nicht zu einer Lösung.22 Hier jedoch geht es mir in erster Linie um die Darstellung dessen, was ich damals für die Hauptgründe hinter dieser hoffnungslos missverstandenen Politik hielt und heute verstärkt halte. Erstens schienen die USA fest entschlossen, eine derart überwältigende Zurschaustellung militärischer Macht aufzubieten, dass sie ihre Gegner einschüchtern und alle bis auf die entschlossensten und beherztesten abschrecken würde. Es könnte zudem ein Versuch gewesen sein, das Gefühl der Verwundbarkeit zu tilgen, das in Amerika nach dem 11. September weit verbreitet war. Im dritten Band seiner Chronik über Bush at War mit dem Titel State of Denial berichtet Bob Woodward von einer Unterhaltung zwischen Bushs wichtigstem Redenschreiber Michael Gerson und Henry Kissinger. Gefragt, warum er den Krieg gegen den Irak unterstütze, antwortete der ehemalige Außenminister: „Weil Afghanistan nicht ausreichte ... in der Auseinandersetzung mit den Radikalislamisten“, sagte er. „Sie wollen uns erniedrigen. Und wir müssen sie erniedrigen.“23 Während der Glaube an die Effizienz der amerikanischen Streitmächte zweifellos eine Rolle spielte, bestand ein weiterer Grund für die Entscheidung, den Irak als Vorführmodell zu verwenden, ganz einfach darin, dass dies machbar war. Woodward erwähnt auch einen von Wolfowitz in Auftrag gegebenen Bericht mit dem Fazit, dass zwar die meisten der Hijacker des 11. September aus Ägypten und Saudi-Arabien stammten und diese Länder damit eine Schlüsselrolle spielten, die dortigen Probleme jedoch „extrem hartnäckig“ wären und der Umgang mit dem Iran „ähnlich schwierig“ anmute. Saddam Hussein erschien dagegen vergleichsweise schwach und angreifbar. Wenngleich dies jeden unparteiischen Strategen zu dem Schluss hätte kommen lassen, dass Eindämmung (containment) im Irak daher wirken müsse, folgerte Washington, dass alles Machbare auch in die Tat umgesetzt werden müsse: „Wir zogen daraus den Schluss, dass
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eine Konfrontation mit Saddam unvermeidbar sei. Er war eine aufziehende Gefahr – eine höchst bedrohliche und unabwendbare Gefahr. Wir stimmten darin überein, dass Saddam von der Bühne verschwinden müsse, bevor das Problem zur Spache kam.“ In anderen Worten: Anstatt die wahren Ursachen der Dschihadproblematik anzugehen, wollten die Strategen der Regierung einen Regimewechsel im schwächsten Glied der arabischen Machtkette als Hebel für einen Wandel in der gesamten Region ansetzen.24 An keinem einzigen Punkt dieser exemplarischer Demonstration amerikanischer Machtentfaltung fühlte sich irgendjemand berufen zu erklären, wie dies bin Laden und seinesgleichen einen spürbaren Schlag versetzen sollte. Ganz abgesehen von den in keinster Weise überzeugenden Versuchen, das mehr als unwahrscheinliche Paar Saddam und bin Laden in einen Topf zu werfen, erweckte es in weiten Teilen der Welt – und in der gesamten islamischen Welt – den Eindruck, Washington sei, frustriert durch das Fehlen einer Möglichkeit, der Bedrohung durch al-Qaida rasch Herr zu werden, nichtsdestoweniger entschlossen, seine beispiellose Macht vor aller Augen in einem konventionellen Krieg zu demonstrieren. Der zweite wichtige Grund der Kriegstreiber stand in Zusammenhang mit dem Wunsch, die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten und insbesondere in der Golfregion zurückzugewinnen. Man mag unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob es bei dem Krieg um Erdöl ging – um den Zugang zu den irakischen Ölvorkommen, den immerhin drittgrößten der Welt. Ich persönlich war von Anfang an der Ansicht, dass das Thema Öl bei dieser Strategie eine ausgesprochen wichtige Rolle spielte. Den größten Teil des letzten Jahrhunderts hatte der Golf stets unter Kontrolle einer auswärtigen Macht oder deren vor Ort befindlichem Stellvertreter gestanden. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts war es Großbritannien gewesen, gefolgt vom Schah nach dem angloamerikanisch initiierten Putsch von 1953 gegen Mohammad Mossadegh, nachdem dieser die iranischen Ölvorkommen verstaatlicht hatte. Dann, nach dem Sturz des Schah, fiel es Saddam Hussein zu, als De-facto-Wachmann und von den USA unterstütztes Bollwerk gegen den islamistischen Iran zu fungieren. Das Jahrzehnt nach dem Golfkrieg und Saddams Vertreibung aus Kuwait bildete eine Ausnahme. Daraufhin war eine zufriedenstellende Kontrolle des Golfs nicht mehr möglich: ein unvorhersehbar agierendes Bagdad, das, wenngleich geschlagen, keine Ruhe gab und konstante Interventionen vonseiten der USA verlangte.Von hier zu der Schlussfolgerung, dass die Kontrolle Bagdads nicht nur die Position der Golfregion klären, sondern den gesamten Nahen und Mittleren Osten nach Amerikas Vorstellung von Demokratie umgestalten würde – die verführerische Vorstellung, dass die Tyrannen der Region nun wie Kegel fallen würden – schien den Neokonservativen in Washington nur ein kleiner Schritt. Der dritte Grund, den man nicht als Phantasterei abtun konnte, war die ernsthafte Sorge um die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die Überzeu-
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gung – gestützt durch seine Behinderung der UN-Waffeninspektoren –, dass Saddam Hussein nach wie vor versuche, solche Waffen zu entwickeln, und dass diese in die Hand von Terroristen fallen könnten, war das am häufigsten und am lautesten verkündete Ziel der US-amerikanischen (und britischen) Politik. Allein der Gedanke, dass irgendeine Dschihadgruppierung weltweit derartige Waffen in ihren Besitz bringen und einsetzen könnte, war offenbar erschreckend genug, um praktisch jede Präventivmaßnahme gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Wie gesagt, war ich vor dem Krieg überzeugt, das MassenvernichtungswaffenArsenal des Irak beschränke sich auf Restbestände chemischer und biologischer Waffen, und dass weder die USA noch Großbritannien in der Lage seien, stichhaltige Beweise zu finden, die das Gegenteil bezeugten. Heute wissen wir, dass derartige Informationen fehlerhaft, tendenziös, politisch missbraucht und, in gewisser Weise, fingiert waren und von irakischen Exilanten vom Stil eines Ahmad Chalabi dem Pentagon und ausgewählten Propagandakanälen zugetragen wurden. Wir wissen heute, dass nicht eine der nahezu dreißig Erklärungen über Massenvernichtungswaffen, die Außenminister Colin Powell im Februar 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat abgab, der Wahrheit entsprach. Wir wissen heute, dass es im Irak keine Massenvernichtungswaffen gab.25 Dies war fast jedem bekannt – mit Ausnahme von Präsident Bush wohlgemerkt, der in seiner ersten Rede zur Lage der Nation nach der Invasion weiterhin behauptete, Waffeninspektoren hätten „Dutzende von Aktivitäten entdeckt, die auf ein Massenvernichtungswaffenprogramm“ hinwiesen –Paradebeispiel für eine Behauptung, die sich auf keinerlei Fakten stützt.26 Nichtsdestoweniger, das sei nochmals betont, war das Schreckgespenst einer Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen im Grunde keineswegs abwegig. Doch aus eben diesem Grund wirkt die Entschlossenheit, den Irak als Nukleus dafür anzusehen, so wenig überzeugend – und zwar schon vor der Invasion, nicht erst im Nachhinein. Die unglaubliche Leichtfertigkeit, mit der die Bush-Administration mit echten Bedrohungen durch Kernwaffen umging, wurde durch ihre Jagd auf Phantomwaffen im Irak erst richtig offensichtlich. Pakistan beispielsweise verfügte bereits über Kernwaffen und eine etablierte Dschihadbewegung, die von der Militärregierung gewissermaßen approbiert war – während der Irak keines von beiden hatte. Außerdem gab es Gründe zu der Annahme, dass Pakistan in ein nukleares Aufrüstungsprogramm involviert war, was später mit der Aufdeckung des von Abdul Kadir Kahn, dem Vater des pakistanischen Atomwaffenprogramms, geleiteten Schmuggelnetzwerks im Januar 2004 ans Licht kam. Und bereits im Juni 2001 hatte der stellvertretende US-Außenminister Richard Armitage Bedenken geäußert, dass Nordkorea von Pakistan Nuklearwaffen beziehen könne.27 Obendrein brachte die Regierung Bush Pakistan durch den Abschluss eines Atomwaffenabkommens mit dessen Erzfeind Indien gegen sich auf. Die USA arbeiteten mit Indien an dessen Kernwaffenprogramm zusammen, obwohl Neu
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Delhi sich nach wie vor weigerte, den Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen – den bei allen Schwächen bislang erfolgversprechendsten Versuch gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen –, und weder zusagte, seine Waffenproduktion einzuschränken noch den Export entsprechender Technologie verstärkten Kontrollen zu unterziehen. Hierbei geht es nicht um Theorien. Indien und Pakistan, die seit der Abspaltung vom indischen Subkontinent 1947 drei heftige Kriege ausfochten, standen zweimal, im Januar und Ende Mai 2002, kurz vor einem neuen Krieg, mit massivem atomaren Säbelrasseln auf beiden Seiten. Dieses unverantwortliche Abkommen zeigte – nicht zuletzt dem Iran –, dass es ganz leicht war, dem Atomwaffen-Club beizutreten: einfach gegen die Gesetze verstoßen und mitmachen. Nordkorea verkörperte eine noch deutlichere Bedrohung. Es war bekannt, dass man dort nicht nur die Anreicherung von Uran, sondern auch die Wiederaufbereitung von Plutonium betrieb, die beiden Wege zur Herstellung von Atomwaffen. Trotz alledem beendete Bush 2002 das einzige Programm, das die USA als Vorbeugung entwickelt hatten: das Agreed Framework, eine Rahmenvereinbarung, die die Clinton-Administration 1993/94 mit großer Sorgfalt ausgearbeitet hatte. Die Verhandlungen begannen freilich erst, nachdem Clinton unzweideutig mit einem Militärschlag gedroht hatte, sollten die Koreaner sich weigern, diese Versuche einzustellen und sich mit ihnen an einen Tisch zu setzen – ein weiterer Beleg dafür, dass die von Bushs Team so gering geschätzte Politik der Abschreckung und Eindämmung sehr wohl funktionieren konnte. Das Agreed Framework unterstrich die Bindung Pjöngjangs an den Atomwaffensperrvertrag, regelte die Zulassung von Inspektoren und verlangte die Einstellung des koreanischen Atomwaffenprogramms; im Gegenzug erfolgte die Zusage auf Treibstoffversorgung, zwei Leichtwasserreaktoren zur Stromerzeugung und die Zusicherung der USA, keine Truppen zu entsenden. Bushs Widerruf des Abkommens führte dazu, dass Nordkorea – ein Land, dessen praktisch einzige Möglichkeit, an harte Währung zu kommen, im Waffenhandel bestand – sein Raketenprogramm wieder aufnahm. Washingtons theatralisches Muskelspiel – wobei Bush Pjöngjang in die „Achse des Bösen“ einreihte und Schmähreden über den „Zwergen“-Diktator Kim Jong-il hielt – führte letztlich dazu, dass man unter Vermittlung Chinas eine neue Rahmenvereinbarung schloss – freilich erst, nachdem Nordkorea eine eigene primitive Bombe gebaut hatte.28 Das vielleicht beste Beispiel dafür, dass die Regierung Bush in ihrem Umgang mit dem Irak und auch anderswo sich nicht für die Nichtverbreitung (non-proliferation) einsetzte, war ihre spürbare Geringschätzung des außergewöhnlichen Plans, den die Senatoren Richard Lugar und Sam Nunn initiierten und der 1992 vom Kongress verabschiedet wurde. Das Nunn-Lugar Cooperative Threat Reduction Program, das die Vernichtung nuklearer Sprengwaffen und die Sicherstellung angereicherten Urans und Plutoniums auf dem gesamten Gebiet
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der ehemaligen Sowjetunion zum Inhalt hatte, wurde von den USA finanziert und erfolgte in enger Kooperation mit Moskau. Sein Erfolg ist unanfechtbar. Zur Zeit von Bushs Amtsantritt waren bereits Tausende potenzieller Massenvernichtungswaffen sichergestellt oder zerstört worden, die im Zuge der Auflösung der Sowjetunion leicht in die falschen Hände hätten geraten können. Die Erfolgsbilanz nach fünfzehn Jahren: Vernichtung oder Unbrauchbarmachung von 7300 nuklearen Sprengköpfen, rund 700 Interkontinentalraketen und 900 atomaren Luft-Boden-Raketen sowie mehr als 500 Tonnen spaltbaren Materials. Dieses Unterfangen zur Aufspürung und Außerbetriebsetzung realer Massenvernichtungswaffen, die eine reale Bedrohung darstellten, wurde mit Recht als Amerikas beste Investition für den Frieden und die Internationale Sicherheit seit dem Marshallplan bezeichnet. Dennoch beschnitten Bush, Cheney und Rumsfeld die finanziellen Mittel dafür – die sich insgesamt auf weniger beliefen als zwei Monate Besatzung des Irak kosteten. Aus all diesen Gründen ist schwer vorstellbar, dass der Irak jemals kurz davor war, „schurkische“ Waffen einzusetzen. Amerika ging es darum, der Welt seine konkurrenzlose militärische Macht zu demonstrieren und den Amerikanern und der Welt nach dem Trauma vom 11. September zu zeigen, dass den USA nichts und niemand gefährlich werden könne. Der Irak lieferte lediglich die optimale Bühne für diese Selbstdarstellung. Bush fiel in den Irak ein ganz einfach deshalb, weil er dazu in der Lage war. Traurig für den Irak, für den Nahen und Mittleren Osten sowie natürlich für die USA und ihre Verbündeten, dass er dies tun konnte, ohne sich um mögliche Konsequenzen zu scheren. *** Von den jubelnden Massen, die laut dem Pentagon nahestehenden irakischen Exilanten die angloamerikanischen Truppen als Befreier begrüßen würden, war weit und breit nichts zu sehen, als die US-amerikanischen und britischen Invasionstruppen durch den Südirak gen Bagdad marschierten. Vielmehr leisteten ihnen Saddams paramilitärische Fedayeen heftigen Widerstand. Bagdad fiel am 9. April 2003, und auf zahllosen Fotos ist festgehalten, wie die riesige Bronzestatue des Diktators am Firdos (Paradies-)Platz vom Sockel gestürzt und der abgetrennte Kopf durch die Straßen der Hauptstadt geschleift wurde – grandios choreographiert von den amerikanischen PsyOps-Teams für Psychologische Kriegsführung. Die Berichte derjenigen Iraker, die sich kaum eine Woche nach dem Fall Bagdads tatsächlich auf den Straßen im Süden einstellten, haben mit den spannenden Abenteuergeschichten, wie Ahmad Chalabi und seine Freunde sie zum Besten gaben, so gut wie nichts gemein. Diese realen Iraker erschienen in Grüppchen und Gruppen, zu Dutzenden und Hunderten, dann zu Tausenden und Zehntausenden, und schließlich waren es über eine Million. Sie drängten zu der
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Pilgerstadt Kerbala im Südirak, viele barfuß und blutüberströmt, mit blutenden Köpfen und Peitschenspuren auf dem Rücken von selbstzugefügten Verletzungen und Geißelungen. Es waren schiitische Muslime, die auf ihre Weise den Sturz ihres Peinigers Saddam feierten. Ein höchst beunruhigender Anblick. Dieser „Marsch auf Kerbala“, der die verblüfften Besatzer begrüßte, war in erster Linie eine Welle emotionsgeladener Religiosität, eine Art kollektiver Verklärung. In den zurückliegenden drei Jahrzehnten hatte die Baath-Partei die Schiiten in den Untergrund gedrängt. Anders als in den meisten arabischen Ländern bilden die sunnitischen Muslime, aus deren Reihen sich die Baath-Partei rekrutierte, im Irak eine Minderheit. Saddams Regierung war sich der politisch-religiösen Stärke der „Andersgläubigen“ indes zu Recht bewusst und hatte sie streng überwacht. Die Pilger taten rituell Buße für den Verrat, den ihre Gemeinde im 7. Jahrhundert an dem Imam Hussein geübt hatte – dem Enkel des Propheten Mohammed und einem bekannten Märtyrer des schiitischen Heiligenkanons. Sein Bildnis und schwarze Fahnen begleiteten dieses islamische Passionsspiel. Gleichzeitig war die Menschenmasse ein Anzeichen dafür, dass die irakischen Schiiten vorhatten, nach einem Jahrhundert des Kampfes als unterdrückte Mehrheit ihren politischen Anspruch geltend zu machen. Aus dem fernen Beirut beobachtete Scheich Hassan Nasrallah, Führer der der radikalen libanesischen schiitischen Islamismusbewegung, und die Kerbala-Pilger als „inspiriert vom revolutionären Geist des Imam Hussein“. Den Amerikanern, die in Washington Weltpolitik machten und in Bagdad eine Übergangsregierung installierten – und die, sofern sie überhaupt den Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten begriffen, dazu neigten, schiitische Politiker als eine nicht klar definierte Gruppe turbantragender Männer anzusehen, die den Theokraten in Teheran verpflichtet waren –, erschien all dies außerordentlich fremd und bedrohlich. Es dauerte nicht lange, bis Donald Rumsfeld die Warnung aussprach, die USA würden niemandem erlauben, „den Irak nach dem Bild des Iran umzugestalten“. Andererseits machten gerade solche Statements deutlich, wie wenig man über den Irak im Allgemeinen und die Schiiten – rund sechzig Prozent der 26 Millionen Einwohner – im Besonderen wusste. Nach dem Golfkrieg von 1991 hatten US-Spionagesatelliten und Aufklärungsflugzeuge der Alliierten mehr als zehn Jahre lang tagtäglich praktisch jede Bewegung im Irak verfolgt. Doch was das irakische Volk anging, so hatte Washington sein Wissen auf das beschränkt, was man von den unverhältnismäßig weltlich orientierten und betuchten Exilanten zu hören bereit war, die sich im Dunstkreis der Regierung Bush aufhielten. Insofern hatten die Truppen, die die US-Verantwortlichen in den Kampf schickten, das Bild eines Landes, das dem Irak in vielerlei Hinsicht entsprach – jedoch nichts über die Hoffnungen und Ängste von dessen Bevölkerung verriet, und über die der Schiiten schon gar nicht. Kein Wunder also, dass die angloamerikanische Allianz mehr als überrascht war, dass sich die Schia keineswegs gegen Saddam erhob, als ihre Truppen in
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Richtung Bagdad durch ihr Kernland stürmten. Unqualifizierte Ergüsse der Propagandamaschinerie der Alliierten taten das Ihre, die Schiiten weiter aufzuwiegeln. Doch irgendwann fiel der Groschen. Nach dem ersten Golfkrieg hatte die Regierung George H. W. Bushs leichtsinnig einen Schia-Aufstand ausgelöst, angestoßen von verbitterten, aus Kuwait flüchtenden irakischen Truppen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt den gesamten Süden kontrollierten. In Verbindung mit einem gleichzeitigen Kurdenaufstand im Norden rückte der Sturz Saddams in greifbare Nähe: Auf dem Höhepunkt hatte das Regime die Kontrolle über vierzehn der achtzehn Provinzen des Irak verloren, und am Ende verfügte Saddams Armee gerade noch über genügend Munition für zwei Tage Kampfhandlungen. Während alliierte Flieger über dem Land kreisten, zerschlug Saddam die Intifada und metztelte dabei Zehntausende nieder – und die USA rührten keinen Finger.29 „Das Volk konnte – und kann – nicht vergessen, was passiert ist“, sagte Scheich Ali al-Rubai, Stellvertreter des Goßajatollah Mohammed Ischa Fajadh, eines hochrangigen Geistlichen des Irak, mit Bezug auf das, was die Schia als angloamerikanischen Verrat ansah – nicht auf Saddams blutige Vergeltungsmaßnahmen. Er sprach knapp drei Monate nach dem Fall Bagdads in der Pilgerstadt Nadschaf, unweit von der Stelle, wo bis heute Tausende Leichen aus Massengräbern geborgen werden. „Nur wenn die Amerikaner heute ihre Versprechen halten, könnte das in Vergessenheit geraten.“ Sayyed Riad al-Hakim, der Sohn und Sprecher eines anderen Großajatollahs, Mohammed Saed al-Hakim, pflichtete dem bei: „Die Menschen haben [Tony] Blairs Behauptung gehört, dass es ,dieses Mal echt‘ ist“, sagte er. „Aber die Masse fragt uns, wie es um die Wahrhaftigkeit amerikanischer Versprechen bestellt ist.“30 Während Washington und London mit der Zeit begriffen, dass die Schia noch immer im Trauma ihres Verrats gefangen war, schienen sie doch erstaunt über die Geschwindigkeit, mit der schiitische Geistliche und politisch-religiöse Führer der unterschiedlichsten Couleur ihre Autorität unter den Irakern etablierten. Von den Städten im Süden bis zu den Slumgebieten Bagdads trat die Schia-Führungsschicht, die die grausamen „Säuberungen“ des Tyrannen überlebt hatte, in das Vakuum, das der Zusammenbruch von Saddams Regime hinterlassen hatte, und bot nicht nur Sozialhilfe und Grundversorgung, sondern auch jenen Anschein öffentlicher Ordnung, die die Besatzer offensichtlich nicht in der Lage waren herzustellen. Diese religiöse Obrigkeit fungierte als eine Art Kontrollinstanz. Die unverkennbare Konzentration schiitischer Stärke verbunden mit der Unruhe, die die Briten und Amerikaner angesichts dessen zur Schau stellten, zeigte, was für ein außerordentliches Hasardspiel das ganze Irak-Unterfangen war. Ungeachtet der hitzigen Debatte darüber, ob dieses Abenteuer dem Irak einen Anstoß in Richtung Demokratie geben oder das Land in die Anarchie zurückfallen lassen würde – eines stand fest: Die neuen Machthaber im Irak hatten das Kräftegleichgewicht in der Region verändert.
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Es bestand wenig Zweifel, dass der Einmarsch und die Besatzung ebenso gravierende Auswirkungen auf den Nahen und Mittleren Osten haben könnten wie der Sieg Israels über die Araber im Sechstagekrieg 1967 – möglicherweise sogar wie die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Die USA waren jetzt als Macht im Golf und in der Levante offen präsent. Allerdings schienen weder Amerikaner noch Araber eine genaue Vorstellung davon zu haben, was diese Einmischung letztlich bedeutete. Doch alle waren sich darüber im Klaren, dass es das Ende des Status quo bedeutete. Die USA hatten nicht einfach eine Schurkenregierung gestürzt, sie hatten ein sunnitisches Regime im Herzen Arabiens zu Fall gebracht. Anders ausgedrückt: Indem sie der schiitischen Mehrheit im Irak den Weg an die Macht ebneten, hatten Bush und die Washingtoner Neokonservativen die fast ein Jahrtausend währende Vorherrschaft des sunnitischen Islam im Irak und in der arabischen Welt unterminiert. Ein grundlegenderer Wandel war kaum denkbar – aber stand er in irgendeiner Beziehung zu den Zielen der Invasoren? In der Tat sah es so aus, als agierten die Amerikaner im Nahen und Mittleren Osten mit geradezu sträflicher Gedankenlosigkeit. Sunnitenführer in der gesamten Region sowie Schiitenführer wussten offenbar nicht, was sie aus dem Verhalten der Amerikaner schließen sollten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Washington klar aufseiten der sunnitischen Machthaber gestanden, die den Status quo zu halten suchten. Jede Annäherung an schiitische Führer, die die Fahne sozialer Gerechtigkeit hochhielten, scheute man dagegen wie der Teufel das Weihwasser. „Amerika bekennt sich nicht einmal zu seinen eigenen Grundsätzen“, sagte Großajatollah Mohammed Hussein Fadlallah, aus Nadschaf gebürtiger geistige4r Führer der libanesischen Hisbollah (bevor er sich Anfang der 1990er-Jahre mit Teheran überwarf): „Alle seine arabischen Verbündeten sind Tyrannen, für andere hat man dort keine Verwendung.“31 Anders als so viele im Westen erinnerte sich die Schia daran, dass die USA sowie europäische und arabische Länder bereit waren, Saddam Hussein in seinem Krieg gegen den Iran 1980–88 zu unterstützen, um die schiitisch-islamistische Revolution Ajatollah Ruholla Khomeinis davon abzuhalten, in die arabische Welt vorzudringen. Nach dem Zusammenbruch der irakischen Armee im Golfkrieg von 1991 überzeugten Washingtons arabische Hauptverbündete, Ägypten und Saudi-Arabien, die USA davon, nicht in Bagdad einzumarschieren und das dortige Regime abzusetzen, indem sie auf die Notwendigkeit hinwiesen, die „territoriale Einheit des Irak“ zu erhalten. Alle beugten sich diesem Ziel, angeblich um die Errichtung eines iranischen Satellitenstaats im Südirak zu verhindern – ignorierten dabei aber die Tatsache, dass die irakische Schia bereits seit acht Jahren im Kampf gegen ihre iranischen Glaubensgenossen stand. Worum es Riad und Kairo wirklich ging, war die Zementierung der sunnitischen Vorherrschaft in der arabischen Welt; Saddam an der Macht zu lassen, nahm man dafür billigend in Kauf.
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Zudem hatten die sunnitischen Autokraten Saudi-Arabiens und Ägyptens die jeweilige amerikanische Regierung davon überzeugt, dass Demokratie in der arabischen Welt zu riskant sei; sie würde wegen des unweigerlichen Ergebnisses – one man, one vote, one time – lediglich dem Iran und dem Fundamentalismus in die Hände spielen. Dass die Schia (im Iran, im Südirak, im östlichen Saudi-Arabien und, zu einem gewissen Grad, in Kuwait) auf rund der Hälfte der weltweiten Erdölvorräte saß, dürfte ebenfalls keine geringe Rolle gespielt haben. Dennoch wurden, wie wir gesehen haben, die Anschläge des 11. September weitgehend von Saudis und Ägyptern geplant und ausgeführt. Die Schia hatte keinen Anteil an dieser Ordnung, und infolgedessen war ihre Gesinnung auch eine andere. Ob sie nun Demokraten werden würden oder nicht – nach dem Sturz Saddams witterten die schiitischen Führer eindeutig Morgenluft, und zwar keineswegs nur im Irak. Überall in der Region schien die Macht in greifbare Nähe gerückt. Einen Monat nach dem Fall Bagdads besuchte Mohammad Khatami, der Präsident des Iran, als erster Führer der Islamischen Revolution die libanesische Hauptstadt Beirut. Zehntausende säumten den Weg vom Flughafen durch die schiitischen Vorstädte zu seinem Hotel. Rund 50 000 Schiiten, die größte der siebzehn Konfessionen im Libanon, begrüßten ihn mit irakischen und iranischen Flaggen sowie Hisbollah-Fahnen. Seit dem Besuch des kurz zuvor verstorbenen Papstes Johannes Paul im Jahr 1997 hatte man nichts Vergleichbares gesehen. Khatami warnte davor, den USA oder ihren israelischen Verbündeten irgendeinen Vorwand zu geben, ihren Militäreinsatz über den Irak hinaus auszuweiten, eine – wie sich später herausstellen sollte – sehr berechtigte Warnung an die Hisbollah, ihren Kampfgeist im Zaum zu halten. In fließendem Arabisch forderte er eine „Volksregierung“ in Bagdad, nach dem Prinzip one man – one vote, und stellte die „unmoralische Fremdherrschaft“ an den Pranger. Weniger bekannt wurde, dass er Saddams Sturz als „kostbare Gelegenheit“ beschrieb – für eine Reform in der Region und für Gerechtigkeit gegenüber der Schia. Gerechtigkeit forderten auch 450 namhafte Schiiten noch in derselben Woche in Saudi-Arabien. Sie legten dem damaligen Kronprinzen Abdullah eine vierseitige Petition mit dem prägnanten Titel „Partner in der Nation“ vor – was die saudischen Schiiten nie gewesen waren. Vom ultra-sittenstrengen Wahhabitenstamm des sunnitischen Islam als Häretiker betrachtet, waren die Schiiten vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, ihrer religiösen Rechte beraubt und politisch verfolgt. Nun, so der saudisch-schiitische Autor Najib al-Khonaizi, hatte der Sturz des Regimes im Irak die schwelenden Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten im Golf und der gesamten Region zum Ausbruch kommen lassen. Manche Schiiten betrachten es als Ironie des Schicksals, dass ihnen ein neuer Horizont in der arabischen Welt nicht von den Persern eröffnet wurde, sondern von einem wahhabitischen Fanatiker, dessen Verachtung für ihre „ungläubige“ Konfession kaum geringer war als sein Hass auf die Amerikaner: Osama bin
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Laden. Der 11. September führte letztlich zu einer Reihe von Erfolgen für die Schiiten, die mit den Anschlägen nichts zu tun gehabt hatten. Sie „gewannen“ in Afghanistan durch den Fall der Taliban, die die Hazara, die schiitische Minderheit des Landes, verfolgt hatten. Sie „gewannen“ auch im Irak, durch den Sturz eines repressiven sunnitischen Regimes. Selbst der Iran, wenngleich nach wie vor Teil von Bushs „Achse des Bösen“ und unter wachsendem westlichen Druck, sein Atomprogramm zu beenden, ging als klarer Sieger hervor. Die Kriege in Afghanistan und im Irak gaben den USA in gewisser Weise die Möglichkeit, den Iran nahezu zu umzingeln. Allerdings befreiten sie Teheran auch von zwei Todfeinden – den Taliban und Saddam – und stärkten den schiitischen Einfluss in der Region. Am gleichen Tag beispielsweise, an dem Präsident Khatami in Beirut bejubelt wurde, zog Ajatollah Mohammed Baqr al-Hakim, zu jener Zeit Führer des persisch-betonten Obersten Rats für die Islamische Revolution im Irak (SCIRI), im Triumph aus seinem teheranischen Exil in die heilige Stadt Nadschaf ein. Doch der schiitische Islam ist kein einheitliches Gebilde. Schiitische Geistliche waren und sind häufig skeptischer in puncto Theologie, Philosophie und Wissenschaft als ihre sunnitischen Pendants, von denen einige in repressiver Staatsorthodoxie oder bin Ladens Fanatismus Zuflucht suchten. In beiden Ländern, Iran und Irak, gibt es zudem gewisse Hinweise darauf, dass sich, so sich die Möglichkeit bietet, geistliche ebenso wie profane Mehrheiten dagegen aussprechen, dass eine Theokratie installiert wird bzw. geistliche Führer eine verfassungsrechtliche Rolle in der Regierung spielen. Eine echte Befreiung des Irak würde insofern die historische Trennung zwischen persischer und arabischer Schia unterstreichen. So dauerte es beispielsweise nicht lange, bevor die ersten Anzeichen auftauchten, dass sich der Einfluss weg von der Hochburg der iranischen Ajatollahs, Qom, in Richtung auf Nadschaf verschob, dem neben Kerbala bedeutendsten spirituellen Zentrum der Schia (so wechselte der Oberste Rat sehr rasch vom Obersten Führer des Iran, Ajatollah Ali Khamenei, über zu Ajatollah al-Sistani). In den ersten Monaten nach dem Sturz Saddams war das neue Kräfteverhältnis noch sehr vage. Doch schon damals war absehbar, dass der Ausgang des gewagten Unterfangens, den Nahen und Mittleren Osten umzugestalten, letztlich von der Fähigkeit der USA abhängen würde, mit der Schia zusammenzuarbeiten. Sollte die Schia nämlich die Geduld verlieren und anfangen, gegen die USA zu arbeiten, würde mit allergrößter Wahrscheinlichkeit der revolutionäre Flügel an die Macht gelangen. *** Der schiitische Islam ist eine Religion, in deren Geschichte Verrat und Enteignung tief verwurzelt sind. Der Imam Ali, dessen Grab in Nadschaf die Wallfahrts-
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stadt ihre Vorrangstellung verdankt, wurde – den meisten Berichten zufolge – im Jahr 661 von einem seiner eigenen Gefolgsleute ermordet. Er war der Erste gewesen, der den islamischen Glauben annahm, der seinem Vetter, dem Propheten Mohammed, offenbart worden war. Trotzdem, und obwohl er Fatima, die Tochter des Propheten, heiratete, wurde er nach dem Tod Mohammeds hinsichtlich dessen Nachfolge dreimal übergangen, bevor er 656 der vierte Kalif – das heißt das Oberhaupt aller Muslime – wurde. Als seine Nachfolger das Kalifat an die rivalisierende Umayaden-Dynastie verloren, avancierte Ali posthum zum ersten schiitischen Imam. Sein Sohn Hussein, der Enkel des Propheten, wurde 680 in Kerbala ermordet – sein kleiner Trupp von Gefolgsleuten war in einer selbstmörderischen Auseinandersetzung zahlenmäßig weit unterlegen gewesen, was ihm den Ehrentitel „Fürst der Märtyrer“ eintrug – und von der Bevölkerung von Kufa verraten, obwohl diese ihm anfangs Unterstützung zugesichert hatte. Kerbala verwandelte das Positionsgerangel und den Wertekonflikt des frühen Islam in eine dauerhafte Spaltung, wobei die Schia – von Shi‘at Ali oder Anhänger Alis – die kleinere Gruppe bildete. Von ihrer Warte aus wurde die Führung der Gemeinschaft der Gläubigen dem Haus des Propheten von Schwindlern entrissen, denen weltliche Macht wichtiger war als der Wille Gottes. Diese Usurpationsthematik begegnet uns auch in einem Namen, den die Schiiten sich manchmal geben: Ahl al-Beit oder Volk des Hauses (des Propheten). Im 9. oder frühen 10. Jahrhundert dann, inmitten der Verfolgung durch zuerst die Umayaden, dann die Abbasiden-Dynastie mit Zentrum zuerst Damaskus und dann Bagdad, endete die gleichsam apostolische Erbfolge der schiitischen Imame. Der zwölfte Imam wurde, so die Überlieferung, etwa 873 als Kind versteckt und verschwand um das Jahr 939. Dieser „Verborgene Imam“ (Na‘ib alAmm) wird dem schiitischen Volksglauben nach am Ende aller Zeit als Mahdi oder Messias zurückkehren. Diese Doktrin, die stark an einige der damals im Nahen und Mittleren Osten weit verbreiteten christlichen und gnostischen Lehren erinnert, steht in fundamentalem Widerspruch zu der der orthodoxen Sunniten. Gleiches gilt für die mit dem Imam Hussein in Verbindung stehenden Rituale – vergleichbar der Kreuzigung im Christentum – und der gesamten schiitischen Ikonographie, die aus Sicht der Sunniten in Richtung Götzenanbetung geht. Das Trio Ali, Hussein und dessen Halbbruder Abbas mitsamt ihrer Mutter Fatima erinnert an die Dreifaltigkeit und die Heilige Familie (wenngleich alle Muslime Jesus Christus und seine Mutter Maria verehren). Jeder Christ (insbesondere jeder Katholik), der ein schiitisches Haus betritt, wird beim Anblick der religiösen Bildnisse von der Ähnlichkeit überrascht sein. Trotz dieser gefühlsgeladenen Ikonographie, den Themen Märtyrertum und Verrat, dem esoterischen Messianismus und der theoretischen Huldigung eines Imam – bei den Sunniten lediglich eine Art Vorbeter, für die Schiiten dagegen
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eine Art Priesterkönig – erscheint das schiitische Denken bisweilen „beweglicher“ als die strenge sunnitische Orthodoxie. Das mag zum Teil mit der Stellung der Schiiten als benachteiligte und zeitweise unterdrückte Minderheit zu tun haben. Lange bevor die Schia zu einer Minderheit wurde, befanden es ihre geistigen Führer für nötig, ihre Doktrin den jeweiligen Entwicklungen gemäß kontinuierlich neu zu interpretieren. Die Sunniten dagegen begannen im 10. und 11. Jahrhundert, philosophische Diskussion und theologische Interpretation als Uneinigkeit stiftend und möglicherweise ketzerisch zu diskreditieren und allen derartigen Bestrebungen entgegenzutreten. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte entwickelten sich zwei überaus unterschiedliche Denkansätze, in deren Mittelpunkt das Konzept des idschtihad stand, das in Kapitel III erläutert wurde. Dies – wörtlich als Analogieschluss, allgemeiner gefasst als eigenständiges Denken berufener Gelehrter zu übersetzen – ist das Instrument, mit dessen Hilfe die muslimischen Gelehrten oder Ulema das im Koran offenbarte Wort Gottes sowie die Taten und Reden des Propheten (Hadith) den sich wandelnden Umständen gemäß auslegen. Die sunnitischen Ulema erklärten die „Pforten des idschtihad“ (idschtihad = Anstrengung) seit rund einem Jahrtausend für geschlossen, seit die vier anerkannten Schulen der orthodoxen islamischen Rechtsprechung Gestalt annahmen (und die letzte bedeutende Schia-Dynastie, die Fatimiden, unterging). Obwohl durch dieselben Debatten gespalten, bestanden hochrangige schiitische Geistliche – bezeichnenderweise als Mujtahid bezeichnet, das sich vom gleichen arabische Wortstamm ableitet wie idschtihad – weiterhin auf der absoluten Gültigkeit des idschtihad und der Notwendigkeit wohlüberlegter eigenständiger Argumente, um den Herausforderungen der Moderne gewachsen zu sein. Aus diesem Grund sind viele von ihnen in dieselbe philosophische Tradition zu stellen wie die islamischen Erneuerer, die im letzten Kapitel betrachtet wurden (oder sogar wie die saudischen islamistischen Reformer, denen wir im nächsten Kapitel begegnen werden). Ein zweiter und tiefgreifender Unterschied ist struktureller Natur: Die sunnitischen Ulema werden, wenngleich gewiss nicht ohne moralische Autonomie, zum Großteil in den Staat integriert, der sie einberuft, finanziert und letztlich kontrolliert, während sie zugleich dem Regime Legitimität verleihen. Schiitische Mujtahids dagegen werden von Anhängern unterstützt, die sie als „Quellen der Nachahmung“ (marja‘ at-Taqlid) ansehen. Zusätzlich zur Zakat – Almosen für die Armen und Bedürftigen, zu denen alle Muslime verpflichtet sind – zahlen die Schiiten die Khums, einen Zehnt, dessen Ursprung historisch in dem Gewinnanteil liegt, der an das Haus des Propheten entrichtet wurde und der heute theoretisch für den Unterhalt seiner Nachkommen, der schwarzbeturbanten Sayyuds verwendet wird. Ihnen verdankt die schiitische Geistlichkeit eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Mithin neigen die Schiiten zur Schaffung mehrerer Zentren, die miteinander um Einfluss ringen, während die sunnitische Geistlichkeit
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im Allgemeinen homogen und konformistisch agiert. Dies führt (auch im Iran) zu ständigen lebhaften Auseinandersetzungen, bei denen es um politische Themen ebenso geht wie um religiöse. Epizentrum dieser Auseinandersetzungen ist seit dem durch den Sturz Saddams ausgelösten Aufruhr die irakische Pilgerstadt Nadschaf. *** Wer nach dem Fall Saddams durch die Straßen rund um die Grabmoschee des Imams Ali schlendert, unternimmt eine Reise in die Vergangenheit. Die alten, windschiefen Häuser, die sich über die schmalen Gassen neigen, haben sich seit dem Mittelalter kaum verändert. Esel schleppen schwere Lasten, mittellose Witwen, Alte und Kranke betteln um Almosen. Es wäre einfach, all das als normale Begleitumstände einer Gesellschaft abzutun, muten sie doch umso schmerzlicher an, als wir von einem Land sprechen, das heute mit reichen Ölvorkommen und seit Jahrtausenden mit zwei großen Flüssen gesegnet ist, dem Euphrat und dem Tigris. Doch in Nadschaf gärte es. Und ein Rundgang durch die schmalen Straßen vermittelte das Gefühl, dass nun vielleicht endlich die Zeit der Schia gekommen war. Überall hingen Fahnen und Bildnisse der schiitischen Märtyrer aus der Zeit von Saddams Terrorregime. Um die Zeitungskioske drängten sich iranische und aserische, afghanische und pakistanische Kunden ebenso wie Iraker. Auf dem Hauptplatz, gegenüber von Alis Grabmal, nach Art der Schia mit leuchtend türkisblauen und narzissengelben Kacheln geschmückt, säumte eine verwirrende Vielzahl neuer Zeitungen und Zeitschriften die Gehwege, von deren Titelblättern streng dreinblickende Männer mit Turbanen anstarrten. Ein Pulk von Mullahs bevölkerte die Straßen, drängte in die Häuser der führenden Geistlichen. In einem überfüllten Raum im Haus des Großajatollah Fayadh umringten gut dreißig Männer einen Scheich. Ein Helfer mit einem Berg zerknüllter Banknoten vor sich strich Geld ein, während sein Meister religiöse Verordnungen signierte, und teilte es aus, während der Scheich Petitionen las und Bitten um Almosen stattgab. In einem angrenzenden Zimmer erläuterte Scheich al Rubai, dass große Nachfrage nach Fatwas oder Rechtsgutachten herrsche, die die Tätigkeit für die Besatzungsmächte sanktionierten – Antragsteller waren Schiiten, die fürchteten, andernfalls als Kollaborateure gebrandmarkt zu werden. „Wenn es dem Wohl der Gemeinschaft dient“, sagte er, „ist das in Ordnung.“ Ominöser klang seine Aussage, dass die Hawza – Nadschafs oberste religiöse Instanz, die aus Fayadh (der afghanischer Herkunft ist), Großajatollah al-Hakim, Großajatollah Bashir Hussein al-Nadschafi (der in Indien geboren wurde) und Großajatollah Ali alSistani, deren aus dem Iran gebürtigen Führer, bestand – unter wachsendem Druck stehe, den Besatzern den Kampf anzusagen. „Tagtäglich wird der Hawza vorgeworfen, realitätsfern zu sein“, meinte er. „Wir stehen unter gewaltigem
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Druck.“ Von zahlreichen Kunstpausen unterbrochen, um seine Abneigung gegen „Extremismus“ zu unterstreichen, erklärte Scheich al-Rubai, die Hawza würde einen Aufstand nur dann gutheißen, wenn „islamische Körperschaften und Institutionen“ akuter Bedrohung ausgesetzt würden. Auf das Drängen von Hitzköpfen würde man nicht reagieren. In einem anderen Haus, nicht weit entfernt, äußerte sich Mohammed Bahr al-Ulum, ein reformistisch eingestellter Ajatollah, der später ein Führer des ersten (von den Besatzungsmächten eingesetzten) irakischen Regierungsrats werden sollte, konkreter zu den Gründen für die Zurückhaltung der Schia. Er zeichnete nach, wie die Schia unter den Briten – der Kolonialmacht, die in den 1920er-Jahren den Irak aus drei Fragmenten des ehemaligen Osmanischen Reichs zusammengefügt hatte – von Ämtern und dem Zugang zu staatlichen Geldern ausgeschlossen worden war, und betonte die „Dummheit“ der Schiiten, die sich gegen sie erhoben hatten. Er erzählte, wie sunnitische Stammesfürsten aus dem westlichen und zentralen Irak Gesandte gen Süden geschickt hatten, um die Schia in den Widerstand zu zwingen. Mit einem verschmitzten Blick, der an den verstorbenen Schauspieler Alec Guinness erinnerte, ließ sich der Ajatollah die Antwort des Scheichs genüsslich auf der Zunge zergehen: „Wir stehen auf eurer Seite; aber in den letzten zwanzig Jahren standen all eure jungen Männer aufseiten der Fedayeen und [Saddams] Republikanischer Garde und haben unsere jungen Männer getötet. Heute haben wir nur noch alte Männer, Frauen und Kinder. Also gebt uns weitere zwanzig Jahre, dann schließen wir uns euch an. Doch Bahr al-Ulum war kein Sektierer. „Ich möchte nie wieder irgendeine Art von Ausgrenzung erleben“, sagte er entschieden und raffte seine schwere Robe. Die Lösung, der die Hawza voll und ganz beipflichte, sei seiner Meinung nach eine demokratische Regierung auf breiter Basis, die – unter Berücksichtigung der zahlenmäßigen Mehrheit der Schia – die Rechte aller religiösen und ethnischen Gruppierungen garantieren würde, „die Rechte der Minderheiten ebenso wie die Rechte der Mehrheiten“. Wie eine große Zahl der Geistlichen von Nadschaf ging er von einer starken Beraterrolle der religiösen Führer aus, vorrangig als „Sicherheitsventil gegen Extremismus“. Die Hawza al-Sistanis hat nachdrücklich die Ansicht verworfen, dass ein khomenistischer Gottesstaat – die Wilayat al-Faqih oder Herrschaft des Obersten Richters – auf den Irak übertragbar sei. Aus Sicht der sogenannten quietistischen Schule des Schiismus weicht dies von der schiitischen Tradition und Praxis ab, die selbst im Iran in Verruf geraten und im Rückgang begriffen sind, wo einflussreiche Geistliche wie Jalaleddin Taheri und die Großajatollahs Hossein Ali Montazeri in Isfahan (einst Khomeinis designierter Nachfolger) und Youssef Sanei in Qom – die es satt hatten zuzusehen, wie ihr Glaube durch den Schmutz der Machtpolitik gezogen wurde – die religiöse Diktatur als Vorwand für eigennützige Interessen angeprangert haben, die ihrerseits im Anschluss an die Islamische
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Revolution von 1979 entstanden. Die Position al-Sistanis muss man aus führenden Repräsentanten der Hawza manchmal regelrecht herauskitzeln. Es ist jedoch klar, dass er seine politischen Eingebungen nicht aus der iranischen Islamischen Revolution von 1979 bezieht, sondern aus der Revolution von 1906. Die Geistlichkeit beteiligte sich an dieser breitgefächerten Revolte gegen den Absolutismus und die Korruption der Qajar-Dynastie, die auf ein direkt gewähltes Parlament und Rechtsstaatlichkeit abzielte. Auch wenn sie etwas neidvoll auf deren sozio-religiöse Privilegien schielen mochten – der größte Teil der Geistlichen strebte ein neues Abkommen zwischen Regierenden und Regierten an und wollte nicht selbst an die Macht. Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Nadschafi-Konzept der Marja und dem khomenistischen Modell der Wilayat alFaqih. Man mag hinzufügen, dass sich al-Sistani in der Debatte über die Stellung des Islam in der neuen irakischen Verfassung von 2005 nicht, wie damals vielfach behauptet wurde, für eine islamische Ordnung auf Basis des Scharia-Rechts aussprach. Er propagierte vielmehr, dass der Islam die Religion eines Staates sei, der allen seinen Bürgern uneingeschränkte Glaubensfreiheit garantiere. Wenngleich Artikel II besagt, dass der Islam eine „wichtige“ (in manchen Übersetzungen: „fundamentale“) Quelle der Gesetzgebung sei, kann kein Gesetz verabschiedet werden, das in Widerspruch zu den „althergebrachten Vorschriften des Islam“ steht, es kann aber auch kein Gesetz geben, das gegen die „demokratischen Prinzipien“ oder gegen die „Rechte und elementaren Freiheiten“ verstößt, die an anderer Stelle der Verfassung genannt sind. Natürlich bietet eine derartige Regelung reichlich Raum für Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, doch das ist in den meisten Verfassungen nicht anders (wofür Verfechter der amerikanischen Kultur mehr als dankbar sein sollten). Sie war keine verbindliche Vorlage für säkularen Liberalismus. Aber sie war auch kein Freibrief für einen Gottesstaat. In vielerlei Hinsicht ähnelt sie sogar der (in Kapitel II erörterten) jordanischen Nationalcharta von 1989, in der der Islam als lediglich eine von mehreren Quellen der gesetzgeberischen Legitimität aufgeführt ist. Selbst der SCIRI-Führer Mohammed Baqr al-Hakim, der weithin als Handlanger der Teheraner Konservativen angesehen wird, dessen Bewegung jedoch kurz nach der Rückkehr in den Irak ihre Loyalität von Ali Khamenei auf al-Sistani und die Hawza übertrug, nutzte schon früh die Gelegenheit, sich von einer islamischen Regierung zu distanzieren. „Wir wollen keine Diktatur, keine Einmannoder Einparteienherrschaft“, stellte er in einem Interview mit dem Spiegel im Juni 2003 (Heft 24/2003) klar. „Wir wollen keine Diktatur, keine Ein-Mann- oder EinParteien-Herrschaft. Der Irak wird ein demokratischer Staat sein, in dessen Regierung alle Gruppierungen der Gesellschaft vertreten sind. Und es wird ein Staat sein, der die Werte des Islam und aller anderen Religionen respektiert und ihnen dient.“
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Dennoch war von Anfang an klar, dass es unter der Oberfläche schiitischer Politik gärte, und noch vor Ende des Krieges kam es zur Eskalation, als Abdel Majid al-Khoei, der pro-westlich eingestellte Sohn eines ehemaligen Hawza-Führers, der gerade nach zwölf Jahren im Exil zurückgekehrt war, unweit der ImamAli-Moschee ermordet wurde. Nur wenige Geistliche waren bereit, sich öffentlich zu diesem Vorfall zu äußern. Doch er markierte den Beginn brutaler Grabenkämpfe zwischen inneren Kräften und zurückkehrenden Exilanten und zwischen irakischen Schia-Führern arabischen und persischen Ursprungs. Die meisten Finger deuteten auf Muqtada al-Sadr, an dessen verriegelter Tür der schwer verwundete al-Khoei hilfesuchend Einlass begehrt haben soll und offensichtlich abgewiesen wurde.32 Muqtada ist der Sohn eines führenden Geistlichen, Mohammed Sadeq alSadr, den Saddam 1999 ermorden ließ, und der Cousin und Schwiegersohn des 1980 hingerichteten Hawza-Führers Mohammed Baqr al-Sadr. Viele Familien schiitischer Geistlicher verloren Angehörige durch die Todesschwadronen und Henker der Baath-Partei, doch Bildnisse dieser beiden prominenten Sadr-Märtyrer – von denen keiner vor Saddam ins Exil floh – erhielten nach Kriegsende einen Ehrenplatz in Wohnungen und Büros sowie an Fenstern und Hauswänden im gesamten Südirak. Auch wurde Saddam-City, ein ständig wachsendes schiitisches Elendsviertel am Rand der Hauptstadt, nur wenige Stunden nach dem Fall Bagdads in Sadr-City umbenannt. Die Geistlichen der Hawza wiesen abschätzig darauf hin, dass der junge Muqtada kein großes Ansehen genoss. Trotzdem erhob er Anspruch auf eine zweifache Erbschaft. Baqr al-Sadr hatte, zusammen mit den Hakims, fast fünfzig Jahre zuvor die Dawa-Partei gegründet, eine zeitweise mächtige Kraft, die wiederholt durch Repressionen geschwächt wurde, aber immerhin sieben Mordanschläge auf Saddam verübte. Während der dreizehn Jahre der katastrophalen Sanktionen infolge des Golfkriegs hatte sein Vater, Sadeq al-Sadr, ein schlagkräftiges Netzwerk aus Wohlfahrt und Widerstand aufgebaut, das es, wie es der irakische Gelehrte Faleh A. Jabar ausdrückte, immerhin „fertigbrachte, die klerikale Welt von Nadschaf mit urbanen und ländlichen Stammesdomänen zusammenzubringen“.33 Nach der Invasion war es diese mit großem Machtpotenzial ausgestattete, aber noch unfertige Allianz, die Muqtada – der damals Kazem al-Haeri, einen in Qom ansässigen khomenistischen Ajatollah als seine „Quelle der Nachahmung“ und geistlichen Führer der Sadriyyun ansah – als Machtbasis und Gegengewicht zur Hazwa nutzen wollte. Allerdings führte Muqtadas ungestümes Vorgehen u. a. dazu, dass sich sowohl der Oberste Rat der Hakims als auch die Dawa der von der Hawza beeinflussten Mehrheitsmeinung anschlossen. Seinem persönlichen Referenten und Sprecher, Scheich Adnan al-Shahmani, zufolge desavouierte Muqtada das iranische Modell geistlicher Herrschaft komplett. Er wäre ein irakischer und arabischer Nationalist, und zudem sei es sowieso „unmöglich, das-
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selbe System hier zu installieren“. Darüber hinaus habe Sadr, so schwor Shahmani, „keinerlei Ambitionen, selbst in die Regierung zu kommen“. Nichts von alledem konnte jedoch verschleiern, dass in dem mörderischen Sommer nach der Invasion all diese Gruppierungen bereits angefangen hatten, um quasi dasselbe Sadr-Erbe zu kämpfen. In Schach gehalten lediglich durch wiederholte Anschläge sunnitischer Dschihadisten auf die Schiiten, dauert dieser Kampf bis heute an. *** Einen Tag, bevor er vor der Imam-Ali-Moschee in Nadschaf Opfer eines Autobombenanschlags wurde, warnte Ajatollah Baqr al-Hakim, dass jemand versuche, im Irak einen Bürgerkrieg anzuzetteln. In einem Interview mit der ägypischen Zeitung al-Ahram sagte er: „Es gibt Kreise, die einen Konflikt zwischen den Schiiten herbeiführen wollen, genauso wie es Kreise gibt, die alles daransetzen, einen innerarabischen Konflikt [im Irak] zu entfachen.“34 Die Explosion, die den SCIRI-Führer und rund hundert weitere Gläubige vor der Moschee das Leben kostete, war derart gewaltig, dass sein Sarg, der von mehreren Hunderttausend Trauernden zur letzten Ruhestätte begleitet wurde, nichts als die Uhr, den Füller und den Ehering des Ajatollah enthielt. Das Massaker ereignete sich in einem Monat, in dem Bomben unbekannter Herkunft die jordanische Botschaft zerstört, das Hauptquartier der Vereinten Nationen in die Luft gejagt (dabei kam der Sondergesandte Sergio Vieira de Mello ums Leben) und die Büros des Bagdader Polizeichefs dem Erdboden gleichgemacht hatten. Zu allen vier Anschlägen bekannte sich später Abu Musab al-Zarqawi. Sie unterminierten nicht nur die Glaubwürdigkeit der Besatzer, sondern waren auch eine deutliche Warnung an die prowestlich orientierten arabischen Regierungen, an die Verbündeten der USA, die Amerika im Irak möglicherweise unterstützen wollten, und an diejenigen Iraker, die bereit waren, mit den Besatzungsmächten zusammenzuarbeiten. Der Zermürbungskrieg hatte begonnen – und er richtete sich gegen die Schiiten ebenso wie gegen die Besatzer. Angesichts der jüngsten Geschichte des Irak und der gewaltsamen Störung des Kräftegleichgewichts durch die Invasoren war dieser Krieg unvermeidlich. Dass er derartige Ausmaße annehmen konnte, hing jedoch mit dem politischen Vakuum zusammen, das die Besatzer geschaffen hatten. Die USA waren nicht in der Lage, ihren Sieg gut zu handhaben; sie schafften es nicht, Gesetzwidrigkeiten zu verhindern, und machten den Aufständischen regelrechte Geschenke, indem sie die Armee auflösten und alle Baathisten ächteten. Die USA verhielten sich so, als glaubten sie allen Ernstes, sie könnten nach ihrem Sieg aus dem Frieden machen, was sie wollten. So plante beispielsweise Bremer ein Beratungsgremium aus handverlesenen Irakern aufzustellen, das eine neue Verfassung ausarbeiten sollte, zusammen mit Ausschüssen bestehend aus Honoratioren, aus denen eine
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irakische Übergangsregierung hervorgehen sollte. All dies zeigt, dass die Invasoren, die die Demokratie – mangels Massenvernichtungswaffen – sehr schnell zur nachträglichen Rechtfertigung für den Einmarsch erhoben, letztlich doch die Geduld verloren. Die Koalitions-Übergangsverwaltung (Coalition Provisional Authority, CPA) zögerte jedes Mal, bevor sie Irakern irgendeine Form von Kontrollfunktion übertrug, aus Furcht, die Falschen könnten ans Ruder kommen, und hielt sich stattdessen an soziopolitische Grafiken, die in keinerlei Beziehung zur blutigen Realität im Irak standen. Als beispielsweise im Juni 2003 in Nadschaf Kommunalwahlen stattfanden, annulierte die CPA die Ergebnisse. Anstatt eine Übergangsregierung auf breiter Basis zuzulassen, drückte sie dem ethnisch-sektischen Flickwerk des Landes ein Mosaik untereinander verzankter Exilantengruppen auf, die im Irak nur wenig oder überhaupt kein Ansehen genossen. Anstatt auf al-Sistanis Forderung nach einer gewählten verfassunggebenen Versammlung einzugehen, deren Mitglieder sich aus den achtzehn irakischen Provinzen rekrutierten und die den Übergang auch aus Sicht des Volkes legitimiert hätte, gaben die USA Protegés den Vorzug, bei denen abzusehen war, dass sie weithin als Verräter betrachtet werden würden. Eine an den verfassunggebenden Prozess gekoppelte rechtmäßige Übergangsregierung hätte auch breite internationale Unterstützung unter Schirmherrschaft der Vereinten Nationen gewinnen können – und hätte mit Sicherheit keine so groben Fehler gemacht wie die amerikanische „Koalition der Kompetenten“. Möglicherweise hätte die Mehrheit der Iraker die Überzeugung gewinnen können, Herren in ihrem eigenen Land zu sein, und sich an einem nationalen Projekt zu dessen Wiederaufbau beteiligt – intern wie extern legitimiert. „Amerika will nicht einräumen, dass es nicht fähig ist, die Lage zu kontrollieren und den Irak wiederaufzubauen“, sagte Akrem Zubeidi, ein Sprecher al-Sistanis, in jenem August. Mit schöner Regelmäßigkeit erhob al-Sistani Einspruch gegen jeden der unbeholfenen Schritte, die Bremer in Richtung auf eine Eigenstaatlichkeit unternahm, die sichtlich unter noch größerer amerikanischer Vormundschaft gestanden hätte. Der Großajatollah ging aus dem Ganzen als einflussreichste politische Macht des Irak hervor, ein Paradoxon angesichts der Tatsache, dass sich seiner Auslegung des Schiismus zufolge die Geistlichkeit gänzlich aus Regierungsangelegenheiten heraushalten solle. Aufgrund der Realitätsferne der Grünen Zone in Bagdad – der kaiserlichen Festung, von der aus die CPA und ihre irakischen Gehilfen den Irak vorgeblich regieren – dauerte es sehr lange, bevor die Besatzer merkten, dass einer der wichtigsten Schlüssel zur Kontrolle des Irak in Nadschaf lag – bei al-Sistani und der Hawza. Irgendwann konnten die USA die Wahlen nicht länger aufschieben. Doch als sie dann 2005 endlich stattfanden, war es zu spät. Inzwischen lag, wie Charles Tripp, der Geschichtsschreiber des Irak, aufgezeigt hat, die wirkliche Macht anderswo, nicht in den Institutionen. Washingtons Versuch, ausgesuchte Exilanten
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in neuen, den Vorstellungen der USA entsprechenden Machtformen einzusetzen, nachdem man die letzten Überreste des zentralisierten irakischen Staats gesprengt hatte, zwangen sie dazu, die lokalen Kräfte zu umwerben und in jeder Hinsicht vor Ort mit ihnen zusammenzuarbeiten. Auch den Irakern blieb nichts anderes übrig, als sich in diese kommunalen Netzwerke zurückzuziehen. Als sie die Möglichkeit zur Wahl bekamen, wählten sie lokal und nach Sekten. Sie sahen nur allzu deutlich, was um sie herum passierte, und brauchten die Sicherheit lokaler Machthaber und Milizen, nicht allein zur Abgrenzung gegen die Besatzer, sondern zum Schutz vor den Angriffen der Dschihadisten, insbesondere der al-Qaida und den takfiri-Fanatikern, die alle Schiiten und viele Sunniten, die ihre Meinung nicht teilten, als Abtrünnige ansehen, die niedergemetzelt gehören.35 Nach dem Bombenanschlag auf den al-Askari-Schrein in Samarra im Februar 2006 zeigten schiitische Todeschwadronen, dass sie ihren sunnitischen Gegenspielern hinsichtlich Massenabschlachtungen durchaus ebenbürtig waren – auch wenn es nicht zu den Zielen der Schia gehört hatte, einen Bürgerkrieg anzufangen, sondern sie vielmehr vorgehabt hatten, auf ihrer Mehrheit basierend, die Macht im Irak zu ergreifen. In dem Blutrausch der Abrechnung, die auf den Bombenanschlag folgte, verloren al-Sistani und die Hawza jedwede Kontrolle. Doch die Schwachstellen der schiitischen Politik waren schon lange vorher sichtbar geworden. Als sich zum ersten Mal in rund tausend (!) Jahren konkrete Gelegenheit bot, ihre Leute an die Staatsmacht zu bringen, gelang es den irakischen Schia-Politikern nicht, interne Querelen zu überwinden, sich nationale Interessen zu eigen zu machen und Kräfte zu mobilisieren, die eine integrative Politik betrieben. Um fair zu sein: Die schiitische Gemeinde hielt geradezu stoisch den auf die Invasion folgenden Massakern und Provokationen stand, mit denen ortsansässige Sunniten und „importierte“ Dschihadisten sie in einen Bürgerkrieg zu verwickeln suchten. Doch es muss auch gesagt werden, dass sich ihre Führung als regierungsunfähig erwies, selbst unter Berücksichtigung der engen Vorgaben einer US-Schirmherrschaft. Diese Erfahrung lässt auf eine strukturelle Schwäche der Schia-Politik schließen. Es ist nicht allein die Folge von Unterdrückung und Exil, von Enteignung und Armut, wenngleich diese Faktoren sicherlich eine Rolle spielen. Es liegt vor allem daran, dass die Schiiten all ihre Kräfte auf ihre geistlichen Führer konzentrierten und nicht auf ihre politischen Einrichtungen, die im Vergleich dazu blutarm wirken und kein Rückgrat zu haben scheinen. Unbequem für beide Seiten, für die Schia wie für die Besatzer, bildet Muqtada al-Sadr hier in gewisser Hinsicht eine Ausnahme. In dem vergeblichen Versuch, den Irak wirtschaftlich auf die Beine zu bringen, haben sich die USA durch eine lange Liste von Günstlingen gequält, von Ahmad Chalabi, dem aalglatten Verkäufer neokonservativer Träume, bis hin zu Nouri al-Maliki, der sich als Ministerpräsident in ein Netz sektischer Alpträume verstrickte, bis er völlig handlungsunfähig war. Muqtada al-Sadr gehörte, das muss
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gesagt sein, definitiv nicht zu dieser Riege. Doch ist er die Spinne im Netz, wie es die angloamerikanischen Besatzer plakativ darstellen (Newsweek titelte am 4. Dezember 2006 reißerisch: „Der gefährlichste Mann im Irak“ und zeigte Muqtada als einen dem Sarg entsteigenden Dracula)? Oder ist er die aufsteigende pan-irakische Heldengestalt, Ikone des arabischen Widerstands, wie ihn seine Anhänger kaum weniger unrealistisch zeichnen? Die Antwort ist wichtig. Denn, so paradox es anmuten mag: Es ist eben dieser Spross einer dem Westen nur schwer verständlichen politisch-religiösen Tradition, der sich bereit macht, die Macht zu ergreifen, sobald die unglückliche Besetzung des Irak vorbei ist. Wie wir gesehen haben, dauerte es nach dem Fall von Bagdad nur wenige Stunden, bevor Saddam-City zu Sadr-City wurde, festlich geschmückt, mit Fotografien von Muqtadas den Mätyrertod gestorbenem Schwiegervater und Vater, Bildnissen aufständischer Arbeiter, Studenten, Bauern und Mullahs, wie ein Sergei Eisenstein es nicht besser hätte inszenieren können. In Anbetracht der Tatsache, dass die Exilanten (von denen die Amerikaner ja ihre Kenntnisse über den Irak bezogen) überzeugt schienen, dass die von Sadrs Vater, Mohammed Sadeq alSadr (Sadr II), aufgebauten Netzwerke 1999 mit ihm gestorben waren, ist anzunehmen, dass die USA das Potenzial der wieder aufkeimenden Macht massiv unterschätzten oder sogar überhaupt nicht wahrnahmen. Zudem galt Muqtada damals bestenfalls als ungebildeter Randalierer und seine gegen die Besatzung und die Emigranten aufgestellte Mahdi-Armee als messianische Wichtigtuerei. Eine von dem angesehenen, unabhängigen Meinungsforschungsinstitut Irakisches Zentrum für Forschung und Strategische Studien (Iraqi Centre for Research and Strategic Studies, ICRSS) im Oktober 2003 durchgeführte großflächige Umfrage zeigte, dass die Iraker zwar den Amerikanern und Exilanten zutiefst misstrauten, jedoch gab gerade einmal ein Prozent der Befragten an, Muqtada zu unterstützen. Das änderte sich, als Paul Bremer seine Zeitung einstellen ließ und in Verbindung mit der Ermordung Abdel Majid al-Khoeis einen „Tot-oder-Lebendig“-Haftbefehl für Muqtada ausstellte. Ein weiteres der vielen, vielen Eigentore der Besatzer. Muqtada reagierte mit zwei militärisch hoffnungslosen, politisch aber tödlich wirksamen Aufständen im April und August 2004. Sein Rückhalt in der Bevölkerung war einer ICRSS-Meinungsumfrage im Mai desselben Jahres zufolge auf 68 Prozent nach oben geschnellt, über ihm auf der Beliebtheitsskala stand nur noch al-Sistani. In einer, wie es damals schien, geradezu übernatürlichen Apotheose war er zum Helden geworden, und zwar nicht nur für die Schiiten, sondern obendrein für eine sunnitische Minderheit, die einen tödlichen Aufstand im Zentralirak verfolgte. Trotzdem war er, gerade aufgrund seiner militärischen Schwächen und seiner hochverehrten Vorfahren, zum schlimmsten Feind geworden, den man sich in einer vom Märtyrerkult durchtränkten religiösen Tradition nur vorstellen kann. Als er während des zweiten Aufstands am Wadi al-Salaam (Tal des Friedens) in
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Nadschaf – einem riesigen Friedhof mit einem Labyrinth unterirdischer Katakomben – unter amerikanischer Belagerung stand, stellte sich die Frage, ob dies die letzte Ruhestätte des eigenwilligen Milizenführers oder nicht eher das Grab für Washingtons Pläne werden würde, den Irak auf den Weg zu einer stabilen Regierungsform zu bringen. Die angloamerikanischen Truppen waren, durchaus nachvollziehbar, der Ansicht, sie könnten seinen bunt zusammengewürftelten Haufen mühelos überrennen. Dies war eine gravierende Fehleinschätzung. Die Taktik der Sadriyyun ist weit eher politisch als militärisch orientiert und besteht aus einem raschen Wechsel aus Eskalationen und taktischen Rückzügen. Die Koalition hatte nicht die geringste Chance, sie mit rein militärischen Mitteln zu schlagen: Die MahdiFreiwilligen „siegen“ allein dadurch, dass sie sich dem Feind stellen, im Kampf gegen US-Panzer, -Raketen und -Granaten Hunderte von Märtyrern opfern. Es wäre einfacher, einen Geist zu besiegen. Muqtadas Anspruch auf das politisch-religiöse Erbe der Sadrs und der von der islamistischen Dawa-Partei im Untergrund geführte Widerstand gegen Saddam wurden von seiner eigenen Widerstandsbewegung kaschiert – sowohl gegen die Besatzer als auch die takfiiri unter Führung des irakischen Arms von al-Qaida. Zudem fällt sein mangelndes theologisches Ansehen, das bei der Hawza Anstoß erregen mag, bei denjenigen seiner Anhänger, die den Quietismus der geistlichen Hierarchie von Nadschaf misstrauisch beäugen, praktisch nicht ins Gewicht. Auch wenn die Wahlen vom Dezember 2005 eine schiitisch geführte Koalition um Malikis Dawa und dem Obersten Islamischen Rat im Irak hervorbrachten, hieß – in einem Parlament, das zu zwei Dritteln aus Islamisten zusammengesetzt war – der größte Sieger Muqtada. Wie bereits erwähnt, errichtete sein Vater, Sadr II, ein überaus mächtiges Netzwerk, das die Elendsviertel Bagdads und die schiitischen Stämme des Südens miteinander verwob. Kommenatoren der politischen Mitte tendieren dazu, diese Bewegung als eine der „Unterschicht“ abzutun, aber das geht an der Sache vorbei. Der zeitgenössische Sadrismus war, wie Patrick Cockburn aufgezeigt hat, eine Reaktion auf den Zerfall der irakischen Gesellschaft infolge der nach dem Golfkrieg verhängten Wirtschaftsblockade, die zum Untergang der besitzenden Klasse der Schia und zur Massenverelendung der Gesellschaft als Ganzes führte.36 Aus diesem Grund ist die (oftmals tödliche) Rivalität zwischen dem Obersten Rat der Hakims (und der Hawza) und der Mahdi-Armee nicht nur ein Kampf zwischen Exilanten und jenen, die im Land blieben und Saddam gegenübertraten, nicht nur zwischen Arabern und Persern oder zwischen Quietisten und Militaristen. Ja, es heißt nicht einmal Badr versus Sadr. Es ist auch ein Klassenkampf innerhalb der Schia, zwischen dem einfachen Volk unter Führung Muqtadas und den geistlichen und weltlichen Eliten Bagdads und der heiligen Städte. „Mehr als der Sektenkonflikt oder die Auseinandersetzung zwischen Anbari-
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Scheichs [der sunnitischen Sahwa] und al-Qaida, wird höchstwahrscheinlich dieser Kampf die Zukunft des Landes prägen.“37 Das riesige Netzwerk, das Muqtada von seinem Vater erbte und das sich durch die Moscheen zieht und für die Baathisten (von den Besatzern ganz zu schweigen) weitgehend unsichtbar ist, macht ihn zu Sadr III – nicht zu einem König, aber definitiv zu einem Königsmacher. Die US-Politik hat einen Randalierer zum Helden befördert. Durch wiederholtes Aufschieben und Behindern der Demokratie – so lange, bis die Situation viel zu verfahren war – hatten die Besatzer die bis dato unterschwellige revolutionäre Strömung im Schiismus erst an die Oberfläche gebracht. Doch anstatt dies einzugestehen, versuchen US-Kommandanten weiterhin, Muqtada und die Sadriyyun mit der Iranischen Revolutionsgarde zu verknüpfen. Auch dies geht am Wesentlichen vorbei. Stolz betont Sadr seine Verbindungen zur Hisbollah im Libanon, einer radikalen, disziplinierten und vor allem erfolgreichen Bewegung, nach deren Vorbild er die Mahdi-Armee gestalten will. Bei der Belagerung von Nadschaf im August 2004 verlor die Hisbollah beispielsweise 84 Mann, während Muqtada selbst die charakteristischen Gesten und Gebärden des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah imitierte – etwa den Turban von der rechten Stirnhälfte zurückzuschieben.38 Doch wie bereits angemerkt, sind Teherans wichtigste Klienten im Irak dieselben wie die Washingtons. Es sind die Badr-Brigaden des mit den USA verbündeten Obersten Rats, die von iranischen Revolutionsgardisten ausgebildet, finanziert, ausgerüstet und zeitweise auch kommandiert wurden. Es ist Teil von Muqtadas Anziehungskraft und passt zu seinem Auftreten als irakischer und arabischer Nationalist, dass er diese Konkurrenten um sein Erbe und deren Hawza-Sponsoren als Perser abtut, was auch bei einigen Sunniten gut ankommt. Das ist ein gravierender Unterschied, denn während die Hakims die Macht in Bagdad anstreben, sozusagen verdichtet auf einen erdölreichen Kleinsstaat im schiitischen Süden, will Muqtada der Schiitenführer eines vereinigten Irak werden. Mit der Macht geht freilich Verantwortung einher. Es wird die Zeit kommen, wenn Muqtada unter Beweis stellen muss, ob er bei den Sunniten tatsächlich Glaubwürdigkeit erlangen kann – oder ob er doch nur in der Mitte eines Spinnennetzes sitzt. Die Gelegenheit ist da. Die Regierung Maliki gibt längst nicht mehr vor, im Namen aller Iraker zu handeln. Es gibt kein armseligeres Beispiel dafür als die Hinrichtung Saddam Husseins Ende 2006 – eine öffentliche Lynchaktion, die dank Handykamera und Internet rund um die Welt ging – zu Beginn des islamischen Opferfestes Eid al-Adha, des wichtigsten Fests der Muslime: die infamste Beleidigung der Sunniten im Irak und in der gesamten islamischen Welt, die man sich vorstellen kann. Anstatt eines Triumphes des Rechtsstaats über die Tyrannei wurde sie zu einem Schauspiel der schlimmsten Art, konzipiert als Racheakt, um die schiitische Vorherrschaft in Szene zu setzen.
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Im Spätsommer 2008 deutete wenig darauf hin, dass die durch die Invasion angefachte Energie unter Kontrolle gebracht und nicht nur vorübergehend in Schach gehalten werden könnte; dass sie in einem gemeinsamen nationalen Projekt konstruktiv gebündelt werden könnte und sich nicht in einzelnen Gewaltaktionen äußern würde. Es ist unmöglich, einen durchgehenden Handlungsstrang oder roten Faden in den politischen Angelegenheiten des Irak auszumachen, lediglich unergründliche Nebenhandlungen, in denen Milizen und Räuberbanden – einige davon im neuen Gewand von Polizei oder irakischer Armee –, Aufständische und Dschihadisten skrupellos um die Herrschaft über ihre jeweiligen Splitter des Landes streiten. Eine neue Welle der Gewalt baute sich auf, während die Wahl Barack Obamas zum neuen US-Präsidenten die Frage eines Truppenrückzugs aufwarf. Am Ende dieses Buches werden wir die Optionen betrachten: für die Iraker und für die Amerikaner. Doch es sah nicht so aus, als gäbe es überhaupt noch eine gute Lösung. Die Invasion war von Anfang an nicht geeignet, eine solche hervorzubringen, und Möglichkeiten, die sich während der Besatzungszeit hätten auftun lassen, wurden verschenkt. Der Irak könnte ein Shell State werden, wie das post-sowjetische Afghanistan, Kriegsherren, selbsternannten lokalen Machthabern und Milizen anheimfallen und zur Brutstätte rivalisierender Taliban werden: aufseiten der Sunniten eine tödliche Mischung aus islamistischem Extremismus und irreduziblem Nationalismus; aufseiten der Schiiten eine Verschmelzung von schiitischem Puritanismus und Stammestraditionen – zwei Gespenster, die in der islamischen Welt umgehen und die Beziehungen mit dem Westen über Generationen hinweg belasten könnten. Alternativ könnte die eine Seite – die schiitische Mehrheit – den Machtkampf beenden und das Land kontrollieren. Oder – das vielleicht kleinste Übel – der Irak könnte aus dem Ganzen als lockere Konföderation hervorgehen, mit einer schwachen Zentralregierung, die sich auf bestimmte Aufgaben wie etwa die Aufteilung der Erdölvorkommen beschränkt. Um dies zu ermöglichen, müssten die USA lange genug vor Ort bleiben, um ein neuerliches Blutbad zu verhindern, sich aber früh genug zurückziehen, um den (gleichsam am Hochseil balancierenden) Fraktionsführern die Möglichkeit zu geben, (auch ohne Sicherheitsnetz) einen angemessenen Modus vivendi zu finden. Diese Lösung würde erleichtert, wenn der schiitische Iran und das sunnitische Saudi-Arabien zu einer Annäherung fänden (was durchaus im Bereich des Möglichen liegt) und wenn Washington die Vergangenheit begraben und sich um eine diplomatische Übereinkunft mit Teheran bemühen würde. Präsident Obama könnte dies bewerkstelligen – wenn er (an)erkennt, dass nicht nur zur Klärung der Irakfrage, sondern vieler Konflikte im Nahen und Mittleren Osten die Kooperation des Iran nötig ist.
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Nun war das Finale, das sich im Irak abzeichnete, beileibe nicht das einzige Trauerspiel auf der Bühne der arabischen Welt. Während das Irak-Debakel seinen Lauf nahm, stand südlich davon, in Saudi-Arabien, die Neuinszenierung eines langlebigen politischen Repertoiretheaters auf dem Programm. Kurz nach dem Fall von Bagdad setzte im saudischen Königreich eine Welle von Anschlägen durch al-Qaida-Anhänger ein, die den Sturz des saudischen Königshauses vorbereiten sollten. Doch konnte und kann die herrschende Dynastie der al-Saud, die absolutistische Monarchie, die Saudi-Arabien mit theokratischer Beflissenheit regiert, die Hüter der Geburtsstätten des Islam und Verbündeter der USA ist und auf einem Viertel der derzeit bekannten weltweiten Erdölvorkommen sitzt – konnte und kann diese Dynastie überleben? Die Antwort lautet: ja – zumindest kurzfristig. In diesem Kapitel wollen wir der Frage nachgehen, wie es längerfristig aussieht. Vorweg sei gesagt, dass die derzeitige Krise, auch wenn sie für den Moment abgewendet erscheint, sich doch gravierend von den zahlreichen Herausforderungen unterscheidet, mit denen diese außergewöhnlich trag- und leistungsfähige Dynastie seit der Errichtung des modernen saudische Staates konfrontiert war. Hier geht es weniger darum, sich einem (bislang) nicht sonderlich klug geführten Proto-Aufruhr zu stellen, als vielmehr um die künftige Richtung des saudischen Staates und die Legitimation der al-Saud. Es ist eine Herausforderung, die es nicht nur zu überleben, sondern zu meistern gilt, wenn sie nicht nur die eigene Zukunft sichern, sondern Saudi-Arabien zu einem Mittler und Garant für Stabilität und Fortschritt in der gesamten Golfregion machen wollen. Dass die Attentäter des 11. September 2001 oder des Sprengstoffanschlags auf den US-amerikanischen Zerstörer USS Cole im Hafen von Aden im Oktober 2000 überwiegend aus Saudi-Arabien kamen und dass saudische Dschihadisten immer wieder als Selbstmordattentäter bei den sunnitischen Aufständen im Irak in Erscheinung traten, hatte in den USA zu Ressentiments geführt und wurde dort weithin als Beihilfe zum islamistischen Fanatismus interpretiert. Auf Regierungsebene wurde dies noch von der Furcht übertroffen, dass das saudische Königshaus (ein prinzipiell verlässlicher Verbündeter, der für zuverlässige Öllieferungen zu im Allgemeinen vernünftigen Preisen sorgte) von binLaden’schen Kräften abgelöst werden könnte. So euphorisch sich die Regierung Bush über erste demokratische Anzeichen und einen politischen Wandel in der
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arabischen Welt äußerte – wenn es um ihren ölreichen, aber theokratischen sunnitischen Verbündeten ging, schlug sie deutlich verhaltenere Töne an. Der landläufigen Meinung zufolge (der die saudischen Herrscher keineswegs widersprachen) konnte das demokratische Experiment den Radikalislamismus nur begünstigen. Die (der männlichen Bevölkerung vorbehaltenen) kommunalen Teilwahlen im Frühjahr 2005 – bei denen die von religiösen Netzwerken unterstützten Islamisten praktisch abräumten –, dienten der Monarchie als demokratisches Aushängeschild für ihre amerikanischen Freunde. Dennoch ist das Königreich, das seinen Namen von der Dynastie der al-Saud ableitet, in Schwierigkeiten. Weniger deshalb, weil der örtliche Zweig der al-Qaida kurz nach dem Fall Bagdads 2003 seine Waffen auf Saudi-Arabien richtete. Diese Gefahr ist kurzfristig kontrollierbar. Sondern vielmehr, weil die Legitimität des Hauses al-Saud traditionell auf dem Bündnis mit dem Haus ibn Abdul Wahhab beruht. Mohammed ibn Abdul Wahhab, ein Religionsgelehrter des 18. Jahrhunderts, gab seinen Namen dem sogenannten Wahhabismus, einer strengen und dogmatischen Ausprägung des Islam, die in Saudi Arabien praktiziert wird und sich von dort aus verbreitet hat. Diese Verschmelzung von weltlicher und religiöser Macht bildet das Fundament des saudischen Staates. Das Problem besteht darin, dass auch bin Laden in wesentlichen Punkten dem Wahhabismus anhängt, während das Fortbestehen der saudischen Herrscherfamilie nicht zuletzt von ihrer mehr als sechzig Jahre währenden Allianz mit den USA abhängig ist. Das Haus al-Saud muss dieses Dilemma lösen, sonst wird die Welt nicht mehr lange gleichmütig zusehen. Es ist ein altes und tiefgreifendes Problem, das man nicht einfach hinter den modernen Fassaden des saudischen Königreichs verstecken kann. Ende 2005 schien die saudische al-Qaida weitgehend unter Kontrolle, doch zuvor hatte eine wahre Welle von Selbstmordattentaten das Königreich erschüttert. Die Anschlagsserie begann im Mai 2003, als in einem vorwiegend von westlichen Ausländern bewohnten Teil von Riad drei Autobomben gezündet wurden. Binnen eines Jahres hatte die saudische Polizei jedoch offenbar Mittel und Wege gefunden, den Kreis der Bombenleger zu zerschlagen; allein im April 2004 war es ihr nach eigenen Aussagen geglückt, fünf größere Anschläge zu vereiteln. Allerdings begannen die Dschihadisten daraufhin, kleine bewaffnete Terrorzellen zu gründen, die neue Ziele ins Visier nahmen: nicht-einheimische Manager und Arbeiter der Ölindustrie, saudische Sicherheitskräfte, Zulieferer der US-Streitkräfte, ausländische Journalisten sowie willkürlich andere Personen, die in irgendeiner Weise westlich aussahen. Der Auftakt einer islamistischen Offensive am Geburtsort des Islam reichte aus, zumindest den Anschein zu erwecken, dass das Haus al-Saud vor einem ernsten Problem stand. Umso mehr, als man erst kurz zuvor offiziell eingestanden hatte, überhaupt ein Problem zu haben.
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In den 18 Monaten zwischen dem 11. September 2001 und den Bombenanschlägen in Riad hatte das Königshaus alle Mühe, mit der Tatsache klarzukommen (die bis auf Saudi-Arabien überall als solche anerkannt war), dass 15 der 19 Luftpiraten, denen in New York und Washington nahezu 3000 Menschen zum Opfer gefallen waren, Saudis waren und dass hinter diesen ein ehemals königlicher Kaufmann namens Osama bin Laden stand. Noch ein Jahr nach dem 11. September ließ Prinz Naif bin Abdul Aziz, damals Innenminister und potenzieller Anwärter auf den saudischen Thron, gegenüber einer kuwaitischen Zeitung verlauten, der Anschlag auf das New Yorker World Trade Center sei ein zionistisches Komplott gewesen. Und auch als am 1. Mai 2004 in Yanbu al-Bahr, einem bedeutenden Hafen für petrochemische Unternehmen am Roten Meer, fünf westliche Manager getötet wurden, sagte Prinz Abdullah (damals Kronprinz und De-facto-Herrscher, da König Fahd nach einem Schlaganfall 1995 regierungsunfähig war; seit Fahds Tod im Juli 2005 König), er sei „zu 95 Prozent sicher“, dass Zionisten hinter dem Anschlag steckten. Eine andere Erklärung, so die Cui-bono-Argumentation, war praktisch undenkbar; schließlich brachten derlei Anschläge ja die internationale Meinung gegen die Muslime auf. Natürlich ist vorstellbar, dass beide Vertreter des saudischen Königreichs ernsthaft an das glaubten, was sie sagten. Sehr viel naheliegender ist jedoch, dass die al-Sauds andere mögliche Schuldige ausfindig zu machen begannen, nachdem bin Ladens al-Qaida die Zielfernrohre um 180 Grad gedreht hatte und nun auf das Herz des Königreichs richtete. Den Wendepunkt markierte der Anschlag vom 29. Mai 2004 auf al-Khobar in der Östlichen Provinz Saudi-Arabiens. Diese Region birgt die größten Erdölvorkommen weltweit und ist darüber hinaus Heimat der verfolgten schiitischen Minderheit im Land. Der Anschlag erfolgte in tödlicher Absicht. Bewaffnete Islamisten stürmten die Bürogebäude zweier ausländischer Ölkonzerne sowie ein Wohngebiet und töteten drei saudische und 19 ausländische Zivilisten sowie neun saudische Polizeibamte. Sie ermordeten ausschließlich christliche, hinduistische und buddhistische „Ungläubige“, ihre muslimischen Geiseln ließen sie frei. Genau wie in Yanbu al-Bahr einen Monat zuvor inszenierten sie das medienwirksame Spektakel, den Leichnam eines westlichen Ausländers über einen Kilometer weit durch die Straßen zu schleifen, ihn zu bespucken und dabei ihre Hassparolen auszustoßen, ohne dass jemand sie daran gehindert hätte. Obwohl saudische Spezialeinheiten das Gelände, auf dem die Geiselnehmer über vierzig Menschen gefangen hielten, umstellt hatten, gelang drei Terroristen (möglicherweise ungehindert!) die Flucht. Eine Woche später kam es in Suwaidi, einem südlichen Stadtteil Riads mit rund einer halben Million Einwohner, erneut zu einem Anschlag. Suwaidi gehört zu den ärmeren Gebieten der Stadt und gilt als Hochburg islamistischer Extremisten: hier leben allein 15 der 26 meistgesuchten Extremisten des Landes. Dies-
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mal feuerten die Terroristen auf Journalisten der BBC. Dabei wurde der Kameramann Simon Cumbers tödlich getroffen und der Korrespondent Frank Gardner schwer verletzt. Zwei Tage danach wurde ein amerikanischer Mitarbeiter der Firma Vinnell, eines privaten Militärunternehmens der USA, das die Nationalgarde Saudi-Arabiens ausbildet, vor seinem Haus in Riad niedergeschossen. In der gesamten Ausländergemeinde ging die nackte Angst um, als eine Gruppe der al-Qaida den amerikanischen Luftfahrtingenieur Paul Johnson entführte, ihn vor laufender Kamera köpfte und die Aufnahmen im Internet veröffentlichte. Die Art und Weise, in der die Terroristen in al-Khobar gezielt Nichtmuslime ausfindig gemacht und getötet hatten, verunsicherte selbst die „Gastarbeiter“ in ihren streng bewachten Wohn- und Firmenanlagen. Bis dahin hatten sie das Thema Selbstmordattentate eher gleichmütig gesehen und argumentiert, die Wahrscheinlichkeit, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, sei statistisch sehr viel höher. Doch die geradezu obszöne Hinrichtung markierte, zumal nach den grausamen Morden in al-Khobar, einen psychologischen Wendepunkt: Es konnte jeden treffen.1 Die ganze Zeit über erfüllten frohlockende Chatter den medialen Blätterwald der islamistischen Websites. Und die Angst wuchs. Obendrein machte Abdulaziz al-Muqrin, damals Anführer des al-Qaida-Netzwerks auf der Arabischen Halbinsel, mehr als klar, dass genau das ihre Taktik war – westliche Ausländer und andere „Ungläubige“ durch Angst und Schrecken aus dem Königreich zu vertreiben und den Welterdölmarkt zu destabilisieren, indem man neuralgische Punkte der saudischen Ölindustrie ins Visier nahm. Letztlich jedoch hatten all diese Anschläge nur ein Ziel: das Haus al-Saud zu stürzen, weshalb al-Muqrin zu einem Aufstand gegen die „vom Glauben abgefallene“ Monarchie aufrief.2 Zwar war und ist ein solcher Aufstand nicht in Sicht. Aber es ist den Extremisten unleugbar gelungen aufzuzeigen, dass die ansonsten so tadellos funktionierende autoritäre Regierung einen Schwachpunkt hat: das Sicherheitsnetz. Und das macht den Menschen wirklich Angst. „Wir wissen, was der saudische Bürger am meisten fürchtet“, sagte ein Berater nach dem Anschlag in al-Khobar zum damaligen Kronprinzen Abdullah. „Nichts fürchtet er mehr als das Chaos.“3 Zweifelsohne stellte sich damals das Gefühl ein, dass das ohnehin schwach artikulierte Reformprogramm der Regierung damit über den Haufen geworfen und ins Aus geraten war. Wie nahezu alle arabischen Machthaber neigt das Haus al-Saud dazu, die Frage nach der Zukunft des Landes als ein „Entweder-Oder“ zu betrachten – entweder Reform oder Stabilität – und nicht als Gabelung zwischen Reform und Putsch und letztendlich Untergang. Die Reformanhänger jedoch – stets in Gefahr, in den königlichen Kerker geworfen zu werden – fühlten sich durch die terroristische Offensive völlig unterminiert. Mohsen al-Awaji, ein islamistischer Reformführer, der in den 1990erJahren inhaftiert wurde, formuliert dies so: „Seit den Bombenanschlägen in Riad [im Mai 2003] liegen nahezu all unsere Reformforderungen auf Eis – unter den
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jetzigen Umständen wäre es von unserer Seite äußerst unklug, Druck auf die saudische Regierung auszuüben.“4 Wahre Worte. Doch die Herrscherfamilie kam letzten Endes nicht umhin, öffentlich einzugestehen, dass al-Qaida auch zu ihrem Problem geworden war. Die blutige Geiselnahme in al-Khobar war noch nicht zu Ende, als der damalige Kronprinz und heutige König Abdullah schwor, „diese verderbte und abtrünnige Gruppe“ der saudischen Gesellschaft zu vernichten. Wie ein Echo auf Präsident George W. Bushs Erklärung nach dem 11. September, „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, klang seine Verlautbarung: „All jene, die zu diesen Terroristen schweigen, betrachten wir als zu ihnen gehörig.“ Große Worte, zumal in einem Regime, in dem Mitglieder seiner eigenen Familie und geistliche Führer nicht nur die Feindseligkeit gegenüber dem Westen teilen, sondern auch gegenüber der großen Mehrheit der Muslime, die nicht dem wahhabitischen Extremismus anhängen. In logischer Konsequenz würde diese Aussage bedeuten, dass das Haus alSaud sein Verhältnis zur etablierten wahhabitischen Geistlichkeit von Grund auf neu überdenken muss – und damit natürlich auch jenen historischen Pakt, auf dem der saudische Staat basiert. *** Es ist das dritte Mal, dass das Haus Saud auf der arabischen Halbinsel einen Staat gründete. Das Rezept für diesen dritten, bis heute andauernden Versuch bestand darin, die Kampfkunst der Beduinenstämme mit religiösem Fanatismus zusammenzuspannen. Doch das ist nicht der Anfang der Geschichte. Diese beginnt vielmehr Mitte des 18. Jahrhunderts, als Scheich Mohammed ibn Saud, ein Emir aus dem Binnenhochland Nadschd, einen Wanderprediger namens Mohammed ibn Abdul Wahhab bei sich aufnahm. 1744 (anderen Quellen zufolge 1747) wurde der Bund zwischen den beiden durch die Heirat von alSauds Sohn und ibn Abdul Wahhabs Tochter besiegelt. Diese Verbindung weltlicher und religiöser Macht dauert bis zum heutigen Tage an und bildet das Fundament des saudischen Königreichs. Im Mittelpunkt steht das Gelöbnis, Chaos und Dunkelheit zu vertreiben – eine Reaktion auf die vorislamische jahiliyya, den Zustand der Unwissenheit, den Gott durch seine Offenbarung an den Propheten Mohammed zu beenden suchte – und durch menschliche und göttliche Ordnung zu ersetzen. Ob die al-Saud ursprünglich aus dem Nomadenstamm der Durra hervorgegangen oder letzte Vertreter der Bani Hanifa sind, darüber streiten Historiker bis heute. Fest steht, dass sie im 18. Jahrhundert in Oasen sesshaft waren, also Hadari, und nicht mehr Beduinen. Im Zuge dieser Sesshaftwerdung verliert sich die Einbindung in einen Stammesverbund, mit dessen Hilfe sie ihre Ziele hätten durchsetzen können. Sie mussten also ein Alternativprogramm für den Aufbau
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politischer und wirtschaftlicher Stärke entwickeln, um räuberischen Stämmen Contra bieten zu können, die von den Hadari Schutzgeldzahlungen forderten oder andernfalls ihre Siedlungen plünderten. Die offensichliche Schwäche des im Entstehen begriffenen Gemeinwesens, in anderen Worten: fehlende Stammesanbindung nach außen und Identität nach innen, machte das junge Gefüge theoretisch offen für jeden.5 Das oben beschriebene Bündnis mit ibn Abdul Wahhab verlieh den al-Saud eine vermeintliche religiöse Legitimität, mittels derer sie sich über rivalisierende Emirate zu erheben suchten. Das Erfolgsrezept des Paktes der Häuser al-Saud und ibn Abdul Wahhab setzte sich aus religiöser Reform und Dschihad zusammen – dem heiligen Krieg mit dem Ziel, die Halbinsel des Propheten Mohammed und die Geburtsstätte des Islam für die wahren Gläubigen zurückzuerobern. Abdul Wahhab vertrat die wohl strengste und dogmatischste Richtung des sunnitischen Islam, die je als Regierungsform zum Zug kam – eine, in der Politik und Religion praktisch identisch waren. Sie reicht über tausend Jahre weit zurück auf die Herrschaft der Raschidun, der ersten vier „rechtgeleiteten“ Kalifen, und auf die al-Salaf al-Salih, die frommen Vorfahren und Anhänger des Propheten, von denen sich die Bezeichnung Salafi ableitet, die die Fundamentalisten heute bevorzugt verwenden. Die wahhabitisch-saudischen Kräfte wurden als Wahhabiten bekannt, bezeichnen sich selbst aber als Muwahhidun – wörtlich übersetzt: Unitarier, um ihren extremen Monotheismus zum Ausdruck bringen. Außerdem nennen sie sich Ahl al-Tawhid, Volk der Einheit (Gottes), und betrachten jegliche Abweichung vom Monotheismus, wie sie sich in ihren Augen besonders in den religiösen Praktiken der Christen oder Schiiten zeigt, als ungläubig oder abtrünnig. Zu ihrem Hauptfeind erkoren sie das Osmanische Sultanat und verbliebene Kalifat, das sie als dekadenten Förderer der Heiligenverehrung ansahen, zumal es verhassten ‚polytheistischen‘ Religionen wie Judentum und Christentum Glaubensfreiheit gewährte und, schlimmer noch, die „götzendienerischen“ schiitischen Muslime duldete. Kurzum, dieses im strengsten Sinne des Wortes totalitäre Bekenntnis verdammte alle anderen Glaubensrichtungen als rechtswidrig und fasste dabei die Definition des Begriffs „Ungläubige“ so weit wie nur irgend möglich. Eben dadurch sanktioniert der Wahhabismus den Dschihad ohne jegliche Einschränkungen (was es den Dschihadisten und ihren Opfern so schwer begreiflich macht, dass – was die al-Saud nicht müde werden zu behaupten – al-Qaida von dieser Orthodoxie abweiche). Allerdings waren die Ansprüche dieser Glaubensrichtung im arabischen Kontext immens – ein Grund, warum Abdul Wahhab aus anderen Teilen der Halbinsel immer wieder vertrieben wurde, bevor er bei den damals weitgehend unbekannten, aber höchst ehrgeizigen al-Saud Aufnahme fand. Die Wahhabiten be-
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haupten, Arabien in einem heillosen Stammesgewirr aus Götzenverehrung und Chaos, Krieg und Plünderung, Ignoranz und Laster vorgefunden zu haben. Und daher nahmen die wahhabitisch-saudischen Truppen für sich in Anspruch, die zweite arabische Epoche des jahiliyya (Zustand der Unwissenheit) beendet zu haben. Womit sie sich freilich auf eine Stufe mit dem Propheten selbst stellten – große Töne in der Tat. Überdies konnte die Ähnlichkeit zwischen diesen arabischen Ansprüchen und den selbstrechtfertigenden Beteuerungen der europäischen Kolonialisten, andere Völker zu erobern und zu besetzen, um sie zu „erlösen“ und zu „zivilisieren“, dem Westen kaum verborgen bleiben. Insofern ist die saudisch-wahhabitische Propaganda nichts anderes als ein Spiegelbild, ein eigennütziger Mythos, um die Vormachtstellung der al-Saud und des Nadschd über eine regional und religiös vielfältige Nation zu rechtfertigen, die – wir erinnern uns – erst nach 52 (!) Schlachten im Laufe eines dreißig Jahre währenden Eroberungskrieges gewaltsam geeint wurde. Militärisch gesehen ein Unterfangen preußischen Ausmaßes – mit dem Unterschied, dass unter Tawhid letztlich nicht nur die „Einheit“ Gottes, sondern die Einheit Arabiens unter saudischer Vormacht zu verstehen war.6 Hätten die frühen Wahhabiten ihre Kämpfe auf den Nadschd und Zentralarabien beschränkt (Gebiete, an denen zur damaligen Zeit weder die Osmanen noch sonstjemand, mit Ausnahme rivalisierender Emirate, interessiert war), hätte der erste saudische Staat sehr wahrscheinlich Bestand gehabt. Stattdesssen jedoch trieben sie die Verbreitung ihres Dschihad über sechzig Jahre lang quer durch das Land voran, eroberten die heiligen Städte Mekka und Medina und marodierten sogar Teile des heutigen Irak, um 1801 die heilige schiitische Stadt Kerbala zu plündern.7 Die Hohe Pforte in Istanbul betrachtete die Wahhabiten als eine Bedrohung für die Legitimität der Osmanen – deren Verpflichtung es als Erben des Kalifats war, die Pilgerroute nach Mekka für alle Muslime der Welt offenzuhalten – sowie als Briganten und beduinische Emporkömmlinge, die in osmanischen Gebieten Chaos und Verwüstung anrichteten. Die Osmanen entsandten einen ägyptischen Vizekönig namens Ibrahim Pasha mit einem Expeditionskorps nach Arabien, wo es ihm 1818 gelang, Diriyya, die wunderschöne Hauptstadt der al-Saud, dem Erdboden gleichzumachen und damit das saudische Königreich zu begraben. Innerhalb weniger Jahrzehnte errichteten die al-Saud jedoch ein zweites Emirat, dieses Mal mit Riad als Regierungssitz. Doch blutige Konkurrenzkämpfe innerhalb der Familie sowie ihr unverminderter Eroberungs- und Missionierungsdrang führten bald zu erneuten Konflikten mit den Osmanen. Diese unterstützten den Stamm der al-Raschud bei der Machtübernahme – und die Familie al-Saud musste, erneut geschlagen, im Emirat Kuwait Asyl suchen. Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Macht der Osmanen zu schwinden. Abdul Aziz, ein Sprössling des Hauses al-Saud, sah seine Chance gekommen. Mit vierzig Gefährten nahm er 1902 den Musmak-Festungspalast in Riad ein, ver-
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trieb die al-Raschud und vereinte die zentralarabischen Stämme unter saudischer Hand. Diese heldenhafte Geschichte aus Wagemut, Kampfgeist und Sieg wurde im Laufe der Jahre immer weiter ausgeschmückt und zu einem machtvollen Gründungsmythos des dritten saudischen Königreichs. Abdul Aziz, im Westen später bekannt als König Ibn Saud, dehnte sein Reich von Riad zunächst nach Norden hin bis nach Qasim aus, dem geographischen Herz des Nadschd und Wiege des Wahhabismus. Dort fand er die Truppen für seinen Dschihad – die Ichwan oder „Brüder im Geiste“, eine Kombination aus grausamen Beduinenkriegern und wahhabitischen Missionaren, die er sich für seinen saudischen Staat dienstbar machte. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg nahm Abdul Aziz zunächst Hai’l und das nördliche Kernland der alRaschud ein (durch die Grenzziehung des Irak verschoben die Briten die Grenze seiner Expansion später weiter nach Norden) und eroberte dann die östliche Provinz Hasa von den Türken zurück. 1926 hatten die Ichwan von den Haschemiten, den letzten ernstzunehmenden Rivalen der al-Saud auf der Halbinsel, den Hejaz zurückgewonnen und die Städte Mekka und Medina eingenommen. Und nachdem es gelungen war, auch die Grenzen zum südlich gelegenen Jemen weitgehend zu sichern, rief König Abdul Aziz 1932 das Königreich Saudi-Arabien aus. Weiter zusammengehalten wurde das auf blutige Weise vereinigte Königreich durch Abdul Aziz’ geschickte Heiratspolitik. Über seine 43 Söhne verpflichtete er sich nicht nur die besiegten arabischen Adelshäuser, sondern sicherte über Blutsbande auch die Loyalität der führenden Stämme. Die fanatischen Ichwan jedoch erkannten in ihrem Dschihad, den sie weiterzuführen beabsichtigten, weder Staatsnoch Stammesgrenzen an. Der erste saudische Staat war aus einem Konflikt zwischen Oasenbewohnern und nomadischen Beduinenstämmen hervorgegangen, die keinerlei Grenzen beachteten. Nun, im dritten und endgültigen Versuch, ein Königreich zu erschaffen, war Abdul Aziz gezwungen, sich zu entscheiden zwischen einem gefestigten Staat innerhalb international anerkannter Grenzen und einer unsicheren Allianz mit den beduinischen Kämpfern, die ihm zur Macht verholfen hatten. Er zögerte nicht. Unter Einsatz moderner, von den Briten gelieferter Kriegswaffen vernichtete er die Ichwan 1929 in der Schlacht bei al-Sabala. Den religiösen Deckmantel dafür lieferte das Haus ibn Abdul Wahhab. Ibn Saud war durchaus daran gelegen, den historischen Bund der beiden Häuser zu erneuern, was er mit der Heirat einer Nachfahrin von ibn Abdul Wahhab unmittelbar nach der Eroberung Riads 1902 besiegelte. Die Bande der beiden Häuser waren dadurch gestärkt. Die geistliche Elite der Wahhabiten erhielt maßgebliche soziale Kontrollgewalt, und zwar nicht nur hinsichtlich Glaubensfragen und öffentlichem Verhalten, sondern auch über Bildungs- und Rechtswesen. Vor allem aber genoss sie die machtvolle Stellung, den saudischen Herrschern, die das Land des Propheten inzwischen nach sich selbst benannt hatten, Legitimität verliehen zu haben.
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Die politisch-religiöse Symbiose zwischen dem Haus Ibn Sauds und dem Haus al-Sheikh, wie es heute heißt, begründete den ersten modernen muslimisch-fundamentalistischen Staat der Welt. *** Auf der Rückreise von der Konferenz von Jalta empfing US-Präsident Franklin D. Roosevelt 1945 an Bord des amerikanischen Kreuzers USS Quincy, der im Suezkanal vor Anker lag, den saudischen König Abdul Aziz ibn Saud. Nachdem die Machtverhältnisse im Nachkriegseuropa geklärt waren, legte Roosevelt hier den Grundstein für die Politik im Nahen und Mittleren Osten: Die USA würden Ibn Sauds Königreich Sicherheit und Lauterkeit garantieren, während Saudi-Arabien im Gegenzug den ungestörten Zufluss an Rohöl zu vernünftigen Preisen versprach. Dieser Handel hat bis heute mehr oder weniger Bestand.8 Seit jenem historischen Treffen ist Saudi-Arabien zum weltgrößten Ölexporteur geworden. Doch während der von Ibn Saud erschaffene Staat bis zum heutigen Tage weitgehend gleichgeblieben ist, haben sich seine Bewohner mit dem Einzug der Moderne verändert. Und diese Moderne steht auf einem äußerst wackeligen Fundament. Das Ganze impliziert, man könne Technologie, Innovationen und ausgewählte Teile des Bildungssystems vom Westen kaufen, sich aber gleichzeitig gegen die Werte und die Kultur, die eben diese Fortschritte erst möglich machen, vollständig abschotten. Es ist, kurz gesagt, eine Moderne, die man importiert hat wie eine Klimaanlage: die nicht nur getrennt ist von der Kultur, die sie erzeugt hat, sondern auch in Widerspruch steht zu der Kultur, in die sie Einzug hielt – ein sicheres Rezept für eine kulturelle Schizophrenie. In Hörweite zu einer Moschee in Riad beispielsweise gab es in einem glitzernden Einkaufszentrum eine Filiale der Dessous-Kette La Senza. Bis auf die etwas protzigere Aufmachung war dort alles so, wie wir es von ähnlichen Läden bei uns kennen. Mit einem entscheidenden Unterschied: Da Frauen keinen Umgang mit Männern pflegen dürfen, die nicht ihrer eigenen Familie angehören, können sie logischerweise auch nicht in einer Dessous-Boutique arbeiten; deshalb gab es in diesem Geschäft ausschließlich männliche Verkäufer. Saudische Geschäftsfrauen, die mit wachsendem Erfolg in einem mehr oder weniger männerfreien Umfeld tätig sind, rufen immer öfter und lauter zum Boykott gegen diese Reglementierungen auf, die in der Tat wie eine Satire anmuten.9 Ähnlich absurd erscheint das Fahrverbot für Frauen. In der Praxis hat dies dazu geführt, dass über eine Million männliche Ausländer als Fahrer ins Land geholt wurden. In anderen Worten: Ein Fahrverbot, das dazu dienen soll, Frauen von Männern fernzuhalten, indem man ihre Unabhängigkeit beschränkt, verkehrt sich ins Gegenteil, indem es sie dadurch erst recht in tagtäglichen Kontakt mit fremden Männern bringt. Nur eine Gesellschaft, die an die gesellschaftlichen
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Konventionen der Sklaverei anknüpft, kann ein solches Paradoxon gutheißen. Am auffälligsten aber tritt diese Schizophrenie wohl im Bereich des Bildungswesens zutage. Auf der einen Seite besitzt Saudi-Arabien eine zum Teil hochgebildete Mittelschicht – rund eine Million hat im Ausland studiert. Seit fast zwei Generationen besuchen auch Mädchen die Schule. Zudem trifft man in Saudi-Arabien häufig auf eine intellektuelle Tiefe, die in vielen anderen arabischen Ländern selten ist, wo politischer und wirtschaftlicher Druck den Ideenfluss auf zweckdienliche Floskeln reduziert. „Die Saudis haben etwas eigentümlich Unverbrauchtes“, bemerkte ein hochrangiger Diplomat des Königreichs, „eine Unschuld, die möglicherweise aus ihrer relativen Isolation resultiert“.10 Doch der Blick in die Schulbücher, die unter der gestrengen Aufsicht der Wahhabiten verfasst wurden, ergibt ein anderes Bild. Sie bläuen dem jungen, beeinflussbaren saudischen Schüler ein, es sei seine religiöse Pflicht, alle Christen und Juden als Ungläubige zu hassen und alle Schiiten als Ketzer zu bekämpfen. In einem Religionslehrbuch für Vierzehnjährige beispielsweise heißt es, es sei „die Pflicht eines jeden Muslim, den Gläubigen stets treu und den Ungläubigen stets Feind zu sein. Eine der Pflichten, die Einheit Gottes zu verkünden, besteht darin, nichts mit den götzendienerischen und polytheistischen Feinden zu tun zu haben.“ Die Geschichtslehrbücher heben typischerweise den oben erwähnten Gründungsmythos des Landes durch das Haus al-Saud hervor und ersticken jeglichen Versuch, regionale Eigenheiten oder religiöse Vielfalt in die nationale Identität einfließen zu lassen, unter dem absolut einseitigen Blickwinkel einer saudischen Vormachtstellung.11 Der religiöse Extremismus folgt den Thesen des 1328 verstorbenen Ibn Taimiya, einem Vordenker der Wahhabiten, der muslimischen Gelehrten das uneingeschränkte Recht einräumte, ihre Herrscher zu „korrigieren“. Er predigte einen, wie wir in Kapitel III gesehen haben, un-islamischen Hass auf Nicht-Muslime und hielt es sogar für statthaft, Muslime zu töten, wenn dies der einzige Weg sei, das eigentliche Ziel – die Ungläubigen – zu treffen. Eine Geisteshaltung, die bin Laden und seine Anhänger vollauf teilen. Einige seiner Schriften, an die Abdul Wahhabs eigene Grundsatzschrift „Aufklärung der Zweifel“ anschließt, sind ganz offen Takfiri und geben den modernen Dschihadisten einen Freibrief, all ihre Gegner als „Abtrünnige“ zu verfluchen, die den Tod verdienen.12 „Es ist nicht sonderlich schwer zu verstehen, wie wir dahin kommen konnten, wo wir heute sind“, meinte ein intellektueller Reformist, was die rhetorische Frage beinhaltet, ob es überhaupt einen Unterschied gibt zwischen dem blinden religiösen Fanatismus eines Osama bin Laden und den intoleranten Ergüssen der wahhabitischen Geistlichkeit.13 Der entscheidende Unterschied besteht natürlich darin, dass das Haus alSheikh (oder Abdul Wahhab) das Haus al-Saud stützt, während al-Qaida es zu stürzen trachtet. Aber kann das gelingen? Nein – zumindest nicht kurzfristig.
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Saudi-Arabien ist nicht der Iran der Pahlevis, auch wenn es oberflächlich besehen Ähnlichkeiten gibt. Erstens: Die (Bluts-)Bande, die König Abdul Aziz mit führenden Stämmen knüpfte, wirken bis heute überaus stark. Das ist mit ein Grund, warum der damalige Kronprinz Abdullah, Halbbruder des verstorbenen Königs Fahd, zum Thronfolger bestimmt wurde und nicht einer seiner Rivalen aus den Reihen der sogenannten Sudairi-Sieben (Vollgeschwister des Königs, die Ibn Saud mit seiner Lieblingsfrau zeugte). Abdullah soll die Loyalität der Stämme genießen – die er sich seit 1963 nicht zuletzt durch sein Oberkommando über die saudische Nationalgarde sichert, die sich im Wesentlichen aus Beduinen rekrutiert. Zweitens: Der bevorzugte Titel des saudischen Königs lautet Chadim el Haramein, „Hüter der beiden Heiligen Städte“ (Mekka und Medina), was als modernes Äquivalent des islamischen Kalifats angesehen werden kann. Und im Gegensatz zu den neoimperialen Fantasien des iranischen Schahs verleiht dieser Titel dem saudischen König wahre Rechtmäßigkeit. Drittens: Wie bereits erwähnt, ist dies der dritte Anlauf des Hauses al-Saud, einen Staat zu errichten. Dabei hängt die Angst vor Spaltung und Chaos wie ein Damoklesschwert über ihnen. „Wann immer das Haus al-Saud zu Fall kam, war dies die Folge von Spaltungen innerhalb der Familie, und einmal lag es daran, dass wir von einer weit größeren Macht [den Osmanen] überfallen wurden“, sagte ein ranghoher Prinz: „Die Einheit [der Familie] ist daher unverzichtbar.“14 Im Laufe der letzten fünfzig Jahre haben sich die al-Saud als außerordentlich widerstandsfähig erwiesen, in akuten politische Notlagen ebenso wie gegenüber sozialen Verwerfungen der Bevölkerung. Das Land hat den plötzlichen immensen Reichtum gemeistert, der ihm aus dem Besitz eines Viertels der weltweiten Erdölvorkommen erwuchs, aber auch das sprunghafte Auf und Ab der Ölpreise. Es meistert – mehr oder weniger – den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte (inzwischen rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung) in seine geschlossene Gesellschaft, gar nicht zu reden von den Millionen von Pilgern, die Jahr für Jahr nach Mekka strömen und von denen etliche in internationalen islamistischen Gruppen organisiert sind. Obendrein hat sich das Haus al-Saud enormen politischen Herausforderungen gestellt. Es schaffte es, dem radikalen Panarabismus Gamal Abdel Nassers zu widerstehen, als dieser von Syrien bis zum Jemen alle arabischen Nationen zu erfassen schien, ein arabischer Nebenschauplatz quasi des Kalten Krieges zwischen dem Westen und der Sowjetunion. Erfolgreich widerstand es auch den Versuchen Ajatollah Khomeinis, die islamistische Revolution vom Iran auf die arabische Halbinsel zu verlagern. Die Familie überstand das Trauma der Absetzung des inkompetenten, verschwendungssüchtigen Königs Saud im Jahr 1964 und die nicht minder traumatisierende Ermordung von dessen Nachfolger, König Faisal, durch einen Neffen im Jahr 1975. Es überstand den Angriff auf die Große Moschee in Mekka durch islamistische Fanatiker 1979 – ein gewaltiger
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Schlag für den König als Hüter der Heiligen Stätten. Und es war selbstbewusst (oder, möglicherweise, ängstlich) genug, um während der Golfkrise 1990–91 über eine halbe Million ausländischer Truppen seinen heiligen Boden – die Wiege des Islam! – betreten zu lassen. „Würde man all das, was unserem Land im Laufe der Zeit widerfahren ist, durch die Brille eines Politikwissenschaftlers betrachten, käme man sicherlich nicht auf die Idee, dass es uns heute noch immer gibt“, sagte ein junger Prinz des Hauses.15 Die Zeichen stehen nicht gut für das Haus al-Saud. Seit Jahrzehnten beschwören zahllose Bücher, Pamphlete und Artikel seinen Untergang. Aber bis heute hat es die Stellung gehalten. Insofern sollte auch die augenblickliche Bedrohung für sein Fortbestehen nicht überbewertet werden. Doch die Regierung hat alle Mühe, die Sicherheitslage im Griff zu behalten; allerorten herrscht Angst, al-Qaida-Zellen könnten wichtige Erdölförderanlagen angreifen oder, wahrscheinlicher noch, einen Mordanschlag auf einen hochrangigen Prinzen verüben, in der Hoffnung, ein massives Durchgreifen zu provozieren und den Konflikt dadurch auszuweiten. „Wenn irgendjemand ein Mitglied der königlichen Familie töten will, so ist das nicht sonderlich schwierig“, sagte ein Mitglied des Hauses al-Saud. „Die Tradition verpflichtet uns, jeden, der kommen möchte, als Gast zu empfangen.“16 Eine neuere Studie zum algerischen Bürgerkrieg vor sich auf dem Schreibtisch, sagte ein saudischer Diplomat und langjähriger Berater von König Abdullah, das Regime sei sich dieser Falle sehr wohl bewusst. Die Regierung „will nicht überreagieren – wir müssen vermeiden, den Sympathisantenkreis dieser Leute auszuweiten“.17 Wie zahlreich „diese Leute“ tatsächlich sind, ist seit jeher reine Spekulation. Offiziellen Angaben zufolge schickte das Königreich rund 20 000 Freiwillige in den Dschihad gegen die Sowjetunion nach Afghanistan – von denen eine nicht unbeträchtliche Zahl von Osama bin Laden rekrutiert worden sein dürfte. Das genannte Statement stammt vom Mai 1996, nachdem im November 1995 bei einem Sprengstoffanschlag in Riad fünf amerikanische Ausbilder getötet worden waren. Anfangs blieb die Regierung bei ihrer üblichen Negierungshaltung, erhob vage Beschuldigungen gegen den Iran und/oder Irak, obwohl der Anschlag auf ein scharfes Vorgehen gegen die Radikalislamisten der al-Sahwa alIslamiya (das „islamische Erwachen“) folgte und Anwohner und Augenzeugen dazu neigten, den Anschlag eher „arabischen Afghanen“ zuzuschreiben. Tatsächlich wurden im darauffolgenden Frühjahr vier afghanische Freiwillige öffentlich geköpft, wobei die Regierung nicht müde wurde zu beteuern, die überwiegende Mehrheit ihrer Kameraden sei inzwischen wieder erfolgreich in die saudische Gesellschaft eingegliedert.18 Allerdings hatten die arabischen Afghanen innerhalb eines Jahrzehnts einer zweiten Kämpfergeneration Platz gemacht, die von al-Qaida eher inspiriert als zentral gelenkt war. „Das sind nicht die Mudschaheddin, die gegen die Sowjets in Afghanistan gekämpft haben. Das sind Leute, die sich gegen die saudische
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Gesellschaft stemmten, ehe sie das Land verließen [um in Bosnien, Tschetschenien und dem Irak zu kämpfen]“, sagte Jamal Khashoggi, ein saudischer Journalist, der damals als Berater des Prinzen Turki al-Faisal fungierte, des langjährigen Geheimdienstchefs, der später als saudischer Botschafter nach London und danach nach Washington ging.19 Abdulaziz al-Muqrin ist dafür ein typisches Beispiel. Bevor er kurz nach der Hinrichtung Paul Johnsons bei einer Schießerei ums Leben kam, hatte er für jede Menge Chaos im Königreich gesorgt und sich auf etlichen Webseiten mit der „Abschlachtung“ der „Ungläubigen und Kreuzzügler“ in al-Khobar und Yanbu gebrüstet. Dem islamistischen Reformer Mohsen al-Awajy zufolge, der damals zwischen Regierung und Aufständischen zu vermitteln suchte, hatte al-Muqrin in Bosnien gekämpft und war auch an dem (gescheiterten) Attentat auf Präsident Husni Mubarak in Addis Abeba 1995 beteiligt gewesen. Nach seiner Auslieferung an Saudi-Arabien sei al-Muqrin „unerträglichen Folterungen“ ausgesetzt gewesen, sagte Awajy. „Nach seiner Freilassung trat er als Rächer auf, nicht als mujahid. Er ist eher einfach gestrickt, ohne Verständnis für Politik. Er verfügt über die Waffen, aber nicht über den Verstand, diese Waffen kontrolliert einzusetzen. Er ist ein Mörder.“ Es sei eine „Minderheit innerhalb der Minderheit“ der islamistischen Aufständischen, fuhr Awajy fort, die glaubt, das Haus al-Saud stürzen zu können, indem sie Chaos und Anarchie entfacht und so die staatliche Unfähigkeit demonstriert, dem Land Sicherheit und Wohlstand zu bringen. Gleichwohl aber warnte er vor der tödlichen Gefahr, die von ihnen ausginge: „Sie sind entschlossen zu sterben, wollen aber so viele Menschen wie möglich mit in den Tod reißen. Erinnern wir uns nur daran: 19 Menschen reichten aus, um am 11. September das Gesicht der Welt zu verändern.“20 Viele saudische Sicherheitsexperten glaubten dennoch, dass die zweite Generation der Aufständischen kurz vor dem Einknicken war. „Sie haben nicht nur eine Menge Leute verloren, auch die Infrastruktur ist dahin – Waffen, Sprengstoff und Geld, das sie über viele Jahre angehäuft haben mussten“, so Khashoggi. „Die Bürger schützen sie nicht mehr, nehmen sie nicht mehr bei sich auf.“ Derlei Ansichten schienen von den nachfolgenden Ereignissen bestätigt zu werden. 2006 vereitelten die Sicherheitsdienste einen geplanten Großangriff auf ein Ölfeld in Abqaiq. Im Juni 2008 verkündeten die Behörden die Festnahme von 520 Terrorverdächtigen seit Jahresbeginn, die beschuldigt wurden, Bombenangriffe auf Erdölförderanlagen geplant zu haben. Ein Teil agierte wohl im Auftrag von Aiman al-Zawahiri, der Nummer zwei des Terrornetzwerks al-Qaida, ein anderer Teil bestand aus Irak-Veteranen. Insofern brachte das Königreich – das jahrzehntelang saudische Jugendliche ermuntert hatte, im Ausland für die muslimische Sache zu kämpfen – weiterhin Dschihadisten in bemerkenswert großer Zahl hervor. Saudi-Arabien bietet geradezu optimale Rahmenbedingungen, um Tausende kleiner bin Ladens und al-Muqrins zu erschaffen. Das ist sein Dilemma.
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Die Umstände könnten ungünstiger kaum sein. Die (vormals bedingungslose) amerikanische Unterstützung für das Haus al-Saud konnte nach dem 11. September nicht länger garantiert werden; zudem kommt es im US-Kongress und westlichen Medien seither immer wieder zu anti-saudischen Äußerungen und Anfeindungen gegen die saudische Politik. Dabei war gerade dieser Bund einer der Hauptgründe, warum bin Laden und seine Anhänger die saudischen Herrscher als Abtrünnige ansehen. Und er bleibt ein verlässlicher Anwerber für die Reihen der al-Qaida, zumal die saudische Öffentlichkeit, die beide Seiten für sich zu gewinnen trachten, durch die unglückliche Nahostpolitik der US-Regierung sowie durch den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg des schiitischen Iran radikalisiert wurde. Wie bereits angemerkt, lieferten die täglichen Live-Übertragungen von den Krisenherden im Irak, in Palästina und (2006) im Libanon sowie entsprechende Kommentare auf zahlreichen Websites den Saudis wie auch anderen Arabern und Muslimen reichlich Argumente dafür, dass Washington in der Tat einen Krieg gegen des Islam führte. Die saudische Diplomatie reagierte auf diese neue und gefährliche Situation, indem sie in das politische Vakuum trat, das man seitens der USA in der Region geschaffen sah. Seit 1998 und den anglo-amerikanischen Scharmützeln mit Saddam Hussein sowie der schrittweisen Hinwendung zu einer Politik, die auf einen Regimewechsel im Irak zielte (siehe hierzu Kapitel IV), begann Riad die Möglichkeiten einer Koexistenz mit seinen Nachbarn auszuloten – einschließlich dem Iran. 2002, als Ariel Sharon die Westbank gewaltsam zurückeroberte, konnte Abdullah beim Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Beirut einen umfassenden Friedensplan einbringen, der Israel die volle Anerkennung bot, sofern dieses alle 1967 besetzten Gebiete zurückgab und einen Palästinenserstaat zuließ. Ab 2004, und mit ebenso wenig Erfolg, versuchte Riad zwischen Syrien und dem Libanon sowie zwischen den innerlibanesischen Fraktionen zu vermitteln. Als die Fatah (die zentrale nationalistische Stütze der PLO) und die Hamas (die islamistische Gruppe, die 2006 die Wahlen in Palästina gewonnen hatte) aneinandergerieten, waren es die Saudis, die im Abkommen von Mekka der „nationalen Einheit“ eine Brücke zwischen den beiden Fraktionen schlugen (die allerdings schon bald wieder einstürzte, nachdem die Hamas im Juni 2007 die Kontrolle über Gaza übernahm). Im Königreich selbst (Meinungsumfragen zeigen es immer wieder) gilt die größte Sorge der Bevölkerung dem Arbeitsmarkt. Vor der Explosion der Ölpreise in den Jahren 2007 und 2008 war das Pro-Kopf-Einkommen auf rund ein Drittel dessen gefallen, was man zwanzig Jahre zuvor gekannt hatte. Fast zwei Drittel der einheimischen Bevölkerung ist unter 25, und die vom Öl dominierte Wirtschaft bietet der jungen Generation nur wenige neue Arbeitsplätze, während die königliche Familie protzig ihren Wohlstand zur Schau stellt und – ohne klare Trennlinie zwischen Privatvermögen und öffentlichen Geldern – das Staatsbudget weiterhin hemmungslos verschleudert. Die Militärausgaben beispielsweise
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liegen beim Dreifachen eines durchschnittlichen Entwicklungslandes und werden vorrangig dazu genutzt, Macht und Reichtum innerhalb der höchsten Ränge des Hauses al-Saud zu verteilen – und das sind derzeit mehr als 5000 Prinzen. Nach wie vor hallen wahhabitisch-fanatische Töne durch Moscheen und Klassenzimmer – Ideen, die Saudi-Arabien jahrzehntelang exportierte, indem es Moscheen, Schulen und religiöse Stiftungen finanziell reich bedachte. Allein während der Regierungszeit von König Fahd (vgl. Kapitel II) rühmte sich Riad, im Ausland 1359 Moscheen, 202 Colleges, 210 islamischen Zentren und mehr als 2000 Schulen errichtet zu haben. Zudem finanzierte man zeitweise pan-islamistische Bewegungen wie die Muslimbruderschaft und sponserte den Dschihad – von Afghanistan bis Bosnien. Wie in Kapitel IV erwähnt, konnten die Dschihadisten nicht zuletzt deswegen einen Stützpunkt im Irak aufbauen, weil wahhabitische Missionierer während der letzten Jahre von Saddam Husseins Herrschaft in Städten wie Mosul Brückenköpfe errichtet hatten. Zugleich erscheint die saudische Führung oft wie gelähmt –angesichts der Entscheidungen, die sie zu treffen hat, angesichts der Notwendigkeit, Konsens zwischen den innerfamililären Fraktionen zu stiften, und angesichts der ständigen Machtkämpfe innerhalb des Königshauses. Seit dem Tod König Sauds 1953 begleiten interne Rivalitäten und Patrimonialismus das Haus al-Saud und prägten den jungen Staat von Grund auf mit. Der deutsche Saudi-ArabienExperte Steffen Hertog bemerkt dazu: „Saudischer Bürokratie-Aufbau scheint oftmals weniger dem Prinzip ,form follows function‘ zu folgen als vielmehr ,form follows family‘“ – was insbesondere auf den riesigen Sudairi-Clan der al-Saud zutrifft. Saudi-Arabien ist eine absolute Monarchie geblieben, wird jedoch nicht mehr von einem absoluten Monarchen regiert.21 Regelrechte Schlachten um die Thronfolge illustrieren diese saudische Herrschermanier. Als nach König Fahds Schlaganfall im Jahr 1995 Kronprinz Abdullah die Geschäfte führte, schränkten seine (Sudairi-)Brüder seinen Handlungsspielraum stark ein. Abdullahs Anhänger leugneten dies freilich. „Ich wüsste nichts, was der Kronprinz hätte tun wollen, was er nicht auch tun konnte“, äußerte ein führender Berater mir gegenüber. Ein ehemaliger Höfling des verstorbenen König Faisal schilderte es anders. Ihm zufolge wollten die Rivalen des Kronprinzen, insbesondere die Prinzen Sultan (damals Verteidigungsminister, heute Kronprinz) und Nayef (damals Innenminister) den kranken König so lange wie möglich halten, um Abdullah auszubremsen: „In jedem normalen Land, sei es muslimisch oder christlich, wird der Herrscher abgelöst, sobald er amtsunfähig ist. Doch keiner der Brüder mochte König Fahd aus dem Amt scheiden sehen. Denn was wäre danach? Würde Prinz Abdullah Sultan zum Kronprinzen machen? Und wenn ja, würde er das Verteidigungsministerium behalten? Und wenn ja, würde er tatsächlich das Kommando über die Armee behalten? Und so weiter und so weiter ... Dies ist kein Königreich, dies ist ein großes Scheichtum.“22
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Ein saudischer Diplomat bevorzugte einen anderen Vergleich: „Das Problem der Nachfolge – und daran wird sich bei der gegenwärtigen Aufstellung so schnell auch nichts ändern – ähnelt der Gerontokratie im Politbüro der Sowjetunion nach Breschnew. Dabei bräuchten wir einen 50-jährigen, weltoffenen Prinzen. Woher der kommen soll, wann oder wie, das wissen wir nicht – aber wir brauchen ein Wunder.“ Mitte 2008 war König Abdullah, auf den sich nach wie vor die Hoffnungen der Reformbefürworter richten, 83 Jahre alt; sein designierter Nachfolger, Kronprinz Sultan, war 80. Und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass die vier führenden Fraktionen innerhalb des Hauses al-Saud bereit wären, eine Generation zu überspringen und einen Nachfolger der Generation 60-plus in Erwägung zu ziehen. Vor seiner Thronbesteigung und als Reaktion auf zahlreiche und umfangreiche Petitionen islamistischer Reformer und Liberaler, die einen Wandel forderten, setzte Abdullah im Jahr 2003 einen „nationalen Dialog“ in Gang. Obwohl dieser nur sporadisch vorankam, markierte er doch einen wahren saudischen Glasnost. Er gab Anlass zur Hoffnung auf einen offeneren Regierungsstil, striktere Kontrollen im königlichen Finanzhaushalt, mehr Rechte für Frauen und – wenngleich wohl erst in ferner Zukunft – die schrittweise Einführung von Wahlen. Abdullah zumindest schien die Bedrohung seiner Dynastie durch politische und soziale Stagnation durchaus wahrzunehmen und die Notwendigkeit einer moderneren und offeneren Gesellschaft zu erkennen. Ganz anders seine Brüder. Kaum war der nationale Dialog auf den Weg gebracht, da versammelte Prinz Nayef eine Reihe von Dissidenten in seinem Büro, wo es, einem anwesenden Reformer zufolge, hieß: „Was wir durch das Schwert gewonnen haben, werden wir durch das Schwert behalten.“ Prinz Sultan äußerte im März 2004 öffentlich, das Königreich sei nicht bereit für ein gewähltes Parlament, da die Wähler womöglich „Analphabeten“ wählen würden. Und Scheich Saleh bin Abdulaziz al-Sheikh, damals Minister für islamische Angelegenheiten und eine Säule der wahhabitischen Geistlichkeit, wies schon allein den Begriff „Reform“ scharf zurück; dieser sei von Liberalismus und Liederlichkeit geschwängert. Trotz alledem leitete Abdullah einen schrittweisen Wandel ein: Er initiierte eine Reform des Bildungssystems, in deren Rahmen Lehrbücher umgeschrieben, Lehrmethoden geändert und Lehrer überprüft werden. Er forderte die aktive Unterstützung der etablierten Geistlichkeit, um den Strom saudischer Freiwilliger in den Irak zu drosseln. Er führte Entradikalisierungsprogramme für dschihadistische Gefangene ein, die bereit sind, sich wieder in die saudische Gesellschaft zu integrieren. Und ohne sich gegen die wahhabitische Hierarchie zu stellen, schlug er versuchsweise Brücken zur Schia, berief interkonfessionelle Foren mit Christen und Juden ein (und nahm gelegentlich sogar persönlich daran teil), und er versuchte, in seinem Königreich eine pluralistischere Auffassung des Islam zu fördern.23
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Im Zuge der Vorbereitungen einer Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO (von der sich Reformer einen Impuls für Veränderung ohne ideologische Konfrontation erhoffen) begann er, die zentrale Planwirtschaft zu modernisieren und zu dezentralisieren, indem er einige Privatisierungen in die Wege leitete, vor allem aber neue Wirtschaftszonen und Zentren industrieller Entwicklung förderte, um die dringend benötigten Arbeitsplätze zu schaffen. Überdies kann das Regime auch enorme Erfolge beim Aufbau von Institutionen verbuchen (obgleich es in wichtigen Punkten einen Staat schuf, in dem die beträchtlichen Gewinne aus der Erdölförderung das Herrscherhaus von der politischen Bindung an seine Gesellschaft entheben). Angesichts eines Grundgesetzes, das die Sicherung des Lebensunterhalts der Menschen vor deren Freiheit und Bürgerrechte stellt, entstanden freilich naturgemäß schwache Bürokratien mit großen finanzwirtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber einer breiten und unproduktiven Klientel, die den Staat weithin unbeweglich machen. Dennoch gelang es dem Regime, gleichzeitig einige effiziente moderne Institutionen aufzubauen – „technokratische Enklaven“, wie es Steffen Hertog nennt. So etwa die saudi-arabische Währungsbehörde SABA, quasi eine Zentralbank, die Ibn Saud mithilfe amerikanischen (und libanesischen) Know-hows 1952 ins Leben rief, ferner SABIC, ein Petrochemie-Unternehmen von Weltrang, das 1976 teils aus staatlichen, teils aus privaten Mitteln gegründet wurde, und nicht zuletzt Saudi Aramco, die größte Erdölfördergesellschaft der Welt, die zwischen 1972 und 1980 nach und nach ihren vorwiegend amerikanischen Besitzern abgekauft wurde, sodass eine nationale Erdölfördergesellschaft entstand, die sich Kooperation statt Konfrontation auf die Fahnen geschrieben hat. Saudi Aramco ist die heute wohl bedeutendste Erdölfördergesellschaft der Welt. Und dies, obwohl Fraktionen innerhalb des Regimes immer wieder versuchten, mit Petromin eine eher klassische nationale Erdölfördergesellschaft nach vorn zu bringen.24 Es ist also nicht unrealistisch zu hoffen, dass weitere Institiutionen und Firmen dieses Kalibers entstehen, zumal angesichts des neuen Wettbewerbsklimas am Golf. Obendrein sehen Teile der saudischen Elite in Einrichtungen wie Saudi Aramco und SAMA moderne Quellen der Legitimität, die letztlich die geistliche Elite in den Schatten stellen könnten. Allerdings, wir haben es in Kapitel II am Beispiel Ägyptens gesehen, lassen sich derlei Ideen nur bis zu einem gewissen Punkt verwirklichen, bevor sie an die Grenzen der politischen Realität stoßen – in Ägypten ist das die Macht des Militärs/Mukhabarat, in Saudi-Arabien der politisch-religiöse Bund zwischen den Häusern al-Saud und ibn Abdul Wahhab. Gewiss, eine wirtschaftliche Reform ist in Ländern, die dringend einer Modernisierung bedürfen und Arbeitsplätze für ihre Bürger schaffen müssen, unabdingbar. Von daher ist es taktisch überaus geschickt, die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) zu nutzen, um beispielsweise Versicherungsunternehmen ins Land zu holen, in denen führende Geistliche einen Verstoß
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gegen den Plan Gottes sehen. All das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass das Problem im Kern politischer Natur ist, im Falle Saudi-Arabiens politischreligiöser Natur. Die al-Saud müssen die zerstörerische Macht der etablierten Geistlichkeit entschieden eindämmen und das Königreich in eine Moderne führen, in der das religiöse Erbe des Landes fortleben kann. Der Weg in die Zukunft kann nur erfolgreich sein, wenn islamistische Fortschrittsdenker eingebunden werden. Dies beinhaltet natürlich ein Risiko, das die Saudis möglicherweise nicht eingehen wollen oder können. Wie ein ranghoher Prinz – ein Modernisierer, der indes fürchtet, den islamistischen Reformern damit Tür und Tor zu öffnen – es nicht ohne eine gewisse Melancholie formulierte: „Wir Liberale sitzen [abends] bei einer Flasche Scotch, jammern und klagen; und am nächsten Morgen tun wir – nichts. Aber wenn wir nicht bald einen echten Fortschritt erzielen, und zwar wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch, dann haben wir in fünf oder zehn Jahren echte Probleme.“ Sowohl etablierte Geistlichkeit als auch al-Qaida verunglimpfen diese „WhiskyLiberalen“ zwar, doch als ihren Hauptfeind betrachten beide die islamistischen Reformer, die weitreichende Veränderungen befürworten – und dabei mit der gleichen politisch-religiösen Sprache agieren wie sie selbst. Eben das macht sie so gefährlich: Sie sprechen die Sprache der gesamten arabisch-muslimischen Welt. Diese locker verbundene Gruppe, die sich bisweilen schlicht Islahiyyan oder „Reformer“ nennt, ging teilweise aus den Reihen der früheren al-Sahwa al-Islamiyya („islamisches Erwachen“) hervor, die eine andere massive Gefahr für das Regime darstellten, da sie den gleichen Lehrreden des post-afghanischen Dschihad-Fanatismus folgten, die die Anhänger bin Ladens so radikal weiterführten. Viele saudische Islamisten, die sahen, wie die post-afghanische Euphorie jegliche Veränderungen in der arabischen Welt von Algerien bis Ägypten blockierte, besannen sich daraufhin wieder auf den wahren Kern ihrer Religion. Dies führte einerseits zu vernichtender Kritik an ibn Abdul Wahhab, vor allem aber zur Wiederentdeckung des rund ein Jahrhundert alten Gedankenguts der islamistischen Erneuerer. Zu den Anschauungen beispielsweise Mohammed Abduhs (siehe Kapitel III), den Ideen der mashala (was den modernen Vorstellungen von öffentlichem Gut oder Wohlergehen nahekommt) oder der shura (beratende Versammlung), vor allem aber denen des idschtihad (siehe Kapitel III und IV), jener undogmatischen Denkweise, die die islamische Lehre mit den Herausforderungen der Moderne verbindet. Aus der Kombination all dessen erstand in Saudi-Arabien eine in weiten Teilen neue Denkweise. Die Idee einer bürgerlichen Gesellschaft lebte wieder auf, und dieses Mal mit einer islamischen Begründung und Legitimation, die die Wahhabiten zu Recht mit Schrecken erfüllte.25 Entgegen aller Gewohnheit wurde diese Denkweise zudem in den Medien verbreitet. Auf Betreiben des damaligen Kronprinzen Abdullah entwickelte sich die 1998 gegründete Zeitung al Watan („Nation“ oder „Heimatland“) zu einer wich-
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tigen Plattform der Debatte. Eine nicht minder bedeutende Rolle spielte das Internet, in dem sich zahllose Diskussionsforen bildeten, darunter die von Mohsen al-Awajy ins Leben gerufene Muntada al-Wasatiyya (Wasatiyya = „Gemäßigte“). Dieser (noch im Embryonalstadium befindlichen) Kraft gingen drei wesentliche Neuerungen voraus. Erstens präsentieren sie kollektive Forderungen und brechen mit der Tradition individueller Petitionen vor dem majlis, dem Hof des Prinzen. Den Wendepunkt markierte 2003 die Petition „Eine Vision für die Gegenwart und Zukunft des Heimatlandes“, unterzeichnet von führenden islamistischen Reformern und Liberalen, wobei Erstere die eigentliche treibende Kraft waren und sind. Zweitens gründet das Dokument (der Pluralismus impliziert es) auf den Prinzipien der konfessionellen und politischen Vielfalt Saudi-Arabiens. Und drittens brachen Reformer, Liberale und Islamisten gleichermaßen, damit erstmalig das Tabu, sich offen gegen den Wahhabismus auszusprechen, was wiederum implizierte, dass dessen Erbe und Ideologie das tödliche Instrument ist, das Saudi-Arabien daran hindert, zu einem erfolgreichen modernen Staat aufzusteigen, den seine Bürger ohne Weiteres unterstützen würden. Insofern ist diese Petition von 2003 die saudische „Vision“ schlechthin, ein ebenso sinnvoller Weg nach vorn wie 1989 die Jordanische Nationalcharta (siehe Kapitel II) oder die nach wie vor nicht umgesetzte irakische Verfassung von 2005 (siehe Kapitel IV). Sie alle greifen zurück auf die und ziehen ihre Kraft aus den Quellen der Erneuerung von Staaten und Völkern, die islamisch – und in wichtigen Punkten auch islamistisch – sind und bleiben wollen. Dabei spielt die Sprache, so seltsam dies für westliche Ohren klingen mag, eine überaus wichtige Rolle, denn sie verleiht jenen, die sie zur Artikulation des Reformgedankens einsetzen, eine Authentizität und Legitimität, die sie vor den üblichen Vorwürfen (ausländische Einflussnahme und Infiltration) schützt. Scheich Abdulaziz al-Qassim, ehemaliger saudischer Richter und Reformer, gilt als besonders redegewaltiger Vertreter dieser Gilde. „Al-Qaida und der Klerus machen im Grunde genommen auf unterschiedliche Art und Weise genau das Gleiche – sie üben Druck aus auf das Haus al-Saud, weil es weniger strenggläubig ist, als es ihrer Ansicht nach sein sollte. Das aber lähmt die Reform“, sagt er. „Es gibt nur einen Weg aus diesem Dilemma – die Verbindung zum wahhabitischen Fanatismus zu schwächen. Und es gibt nur einen Weg nach vorn – die Legitimierung durch die Gesellschaft selbst zu gewinnen, und zwar mittels politischer Reformen, die nicht von der Billigung des Klerus abhängen. Nur wenn man die Gesellschaft in die Reform einbezieht, kann man den Klerus besiegen – das ist der einzige Weg.“26 Die Forderungen der islamistischen Reformer schließen freie Wahlen, Redeund Versammlungsfreiheit, ein unabhängiges Rechtssystem, eine gerechtere Verteilung des Reichtums sowie eine eindeutigere Außenpolitik ein, die durch offene Debatten nachvollziehbar wird – kurzum, eine konstitutionelle Monarchie, wenngleich keine „zum Anfassen“. „Wir beschränken unsere Forderungen auf
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sehr spezielle Themen und unterstreichen das Recht der al-Saud, an der Spitze zu stehen“, sagt Mohsen al-Awajy. „Sie mögen denken, das habe taktische Gründe. Tatsache aber ist, dass es keine wirkliche Alternative gibt.“ Wie wichtig es ist, dass Liberale und Islamisten gegen den Wahhabismus Stellung beziehen, kann nicht deutlich genug gesagt werden. Dabei sind, wie bereits erwähnt, die islamistischen Reformer zahlenmäßig wie ideologisch die treibende Kraft. Sie allein können glaubwürdig vermitteln, dass es hier nicht um eine Trennung von Kirche und Staat geht, sondern um eine Neudefinition der Beziehung zwischen den Häusern al-Saud und al-Sheikh. „Saudi-Arabien muss ein islamischer Staat sein, es ist die Geburtstätte des Islam. Die Frage ist nur, welchen Islams?“, sagt Jamal Khashoggi, der vor seiner Zeit in den saudischen Botschaften von London und Washington Chefredakteur der al-Watan war – und entlassen wurde, weil er Artikel veröffentlicht hatte, die das theologische Vermächtnis des Ibn Taymiyya in Frage stellten. Der jedoch, während ich diese Zeilen schreibe, abermals an der Spitze der Zeitung steht, als engagierter, aber vorsichtiger Verbindungsmann zu diesem neuen Gedankengut. „Das Bündnis sollte zwischen dem Staat und dem Islam bestehen, nicht zwischen den Häusern al-Saud und al-Sheikh“, konstatierte er, bevor er auf Betreiben von König Abdullah sein Amt als Chefredakteur zurückerhielt. Awajy, der seine Professur an der Universität verlor – und nicht zurückerhielt –, vertritt die Auffassung, dass „der Bund zwischen den beiden Häusern nicht mehr im Interesse der saudischen Bevölkerung ist. Auch wenn wir ihn in der Vergangenheit toleriert haben, so heißt das nicht, dass wir ihn auch künftig tolerieren werden. Eine echte Reform kann innerhalb der wahhabitischen Lehre nicht erfolgen.“ Seit Bestehen des saudischen Königreichs vergiftet die wahhabitische Geistlichkeit die Gesellschaft mit blindem religiösen Eifer. Und seit dem 11. September ist es praktisch unmöglich, darüber hinwegzusehen, dass ihr Gedankengut und das des Terrornetzwerks al-Qaida mehr oder weniger deckungsgleich sind. Es ist schwer vorstellbar, dass das Haus al-Saud langfristig überleben kann, ohne sich entschieden von dieser Ideologie zu distanzieren. Oder, wie es ein saudischer Reformer formuliert: „Wenn diese geistliche Elite nicht fähig ist, Lösungen anzubieten, die für die Probleme der heutigen Zeit vonnöten sind, dann liegt die Antwort auf der Hand – dann müssen wir uns nach einer anderen Elite umsehen.“
VI Freibrief für Politmorde
Samstag Nacht in Beirut, die Buddha Bar in der Stadtmitte ist brechend voll. Das riesige Nachtlokal, in dem, genau wie in seinem Pariser Namensvetter, eine sechs Meter hohe Buddhastatue prangt, ist nur eine von vielen Inkarnationen des libanesischen Hangs zu importierten Innovationen und Amüsements. Der Sohn eines maronitisch-christlichen Warlords, der während des libanesischen Bürgerkriegs 1975–90 bei einem – vermutlich von Syrien angestifteten – Bombenanschlag ums Leben kam, schiebt sich durch das dichte Gedränge zur Bar, neben sich einen Bodyguard, wie er im Buche steht: schwarzes T-Shirt, Lederjacke, dunkle Sonnenbrille und Dreitagebart. An der Bar fällt sein Blick unweigerlich auf den gigantischen Schriftzug: Johnnie Walker Whisky. „So gut wie alles in dieser Stadt findet unter den Augen von Johnnie Walker statt“, murmelt ein Stammgast. Es scheint, das alte Beirut ist zurück, hat seine alte Stellung als Spielwiese der arabischen Welt wiedergewonnen. Nach 16 Jahren schwerer bewaffneter Kämpfe zwischen nationalistischen und prowestlichen Gruppierungen, die die Stadtmitte in ein einziges Trümmerfeld verwandelt hatten, war das Zentrum wiederaufgebaut und zu neuem Leben erwacht. Zwar verunstalteten noch einige Ruinen, etwa das ehemalige Holiday Inn, die Skyline, doch insgesamt erstrahlte das Herz der Stadt in neuem Glanz: ohne Rücksicht auf Kosten restauriert, hie und da im osmanischen Stil, meist in schimmerndem Sandstein und Marmor, geprägt von zahlreichen Kirchen und Moscheen sowie Straßenzügen voller Bars, Cafés und Restaurants, durch die der süßliche Duft von Wasserpfeifen weht. Hinter diesen glänzenden Fassaden jedoch steuerte der Libanon unaufhaltsam einer Krise entgegen – hoch verschuldet (nicht zuletzt durch die immensen Kosten des Wiederaufbaus) und gefangen im Spannungsfeld einer drohenden Konfrontation zwischen den Westmächten und Syrien, das die Geschicke des Landes seit dem Krieg nicht nur dominierte, sondern bis ins kleinste Detail lenkte. Das neue, glitzernde Beirut, das sich nur widerwillig mit dem starken Einfluss der syrischen Geheimpolizei abfand, gedachte wehmutsvoll seiner goldenen Zeiten. Auch die wirtschaftliche Vormachtstellung, die die Stadt vor dem Krieg innehatte, wurde bei Weitem nicht wiedererlangt. Bis zum Beginn der Kämpfe 1975 war Beirut der Warenumschlagplatz der Region. Seit der Zeit der Phönizier, und schon früher, bildeten die Küstensiedlungen der Levante eine wichtige Handels-
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brücke zwischen Ägypten und dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Nicht umsonst hört man immer wieder, dass statt des Zedernbaums auf der Nationalflagge des modernen Libanon doch eher ein Dollarzeichen stehen sollte, denn das Land ist gleichsam zur Handelsrepublik berufen. Bevor die Stadt im Krieg versank, suchten die begnadeten Bankiers des Libanon im Westen nach lukrativen Anlagemöglichkeiten für Petrodollars, während gerissene Zwischenhändler nach westlichen Geschäftsleuten Ausschau hielten, die hochpreisige Technologie oder Waffen in den Nahen und Mittleren Osten verkaufen wollten. Klischee hin oder her – das einstige „Paris des Ostens“ war eine echte Schnittstelle zwischen Ost und West, wobei der bunte ethnische und konfessionelle Mix der libanesischen muslimischen-christlichen Kultur den Geschäften nicht abträglich war. Doch Beirut war nicht nur das Drehkreuz der Finanz- und Dienstleistungsbranche der Region, es war zudem Medien-, Verlags- und Bildungsmetropole. Die freie Denkweise der Stadt mit ihren mehr oder weniger demokratischen Gepflogenheiten zog Flüchtlinge aus den umliegenden arabischen Autokratien geradezu magnetisch an – und damit auch das wachsame Auge Israels, das eben diesen Personenkreis zu korrumpieren suchte. All das machte Beirut auch zu einem Nabel regionaler Intrigen, zu einem Horchposten ebenso wie zu einer Spielwiese der Schönen und Reichen -– angesiedelt irgendwo zwischen Bogarts Casablanca, Batistas Havanna und Noriegas Panama. In einer unterhaltsamen Hommage an die gefeierte Bar des St. George-Hotels („das Herz des Herzens des Mittleren Ostens“) hat der palästinensische Schriftsteller Said Aburish festgehalten, wie internationale Spione wie der britische Geheimdienstler Kim Philby und die CIA-Agenten Archie und Kermit Roosevelt mit örtlichen Potentaten, Ölmagnaten, Waffenhändlern und Reportern an der Bar saßen, Informationen tauschten, Komplotte schmiedeten – und Kim Philby ganz nebenbei dem Korrespondenten der New York Times die Ehefrau ausspannte. Dahin ist es für die Buddha Bar freilich noch ein weiter Weg.1 So glanzvoll das neuerstandene Beirut sich wieder präsentierte, war es doch nur ein Schatten seines früheren Selbst. Damals waren die Stadt und ihre Interessen regional und international. Nun wirkte sie, obwohl die meisten Einwohner mehrsprachig und weit gereist waren, protzig und provinziell zugleich. International war Beirut vor allem in dem Sinne, dass es Gefahr lief, in eine Sandwichposition zu geraten – zwischen dem engstirnigen, reformresistenten baathistischen Regime in Syrien auf der einen und den aggressiven Vereinigten Staaten auf der anderen Seite. Weniger amnesieanfällige Libanesen fürchteten, ihr Land könne abermals im konfessionellen Chaos versinken. ***
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Als der Libanon nach Jahren des Blutvergießens wieder zu sich kam, schienen seine Bewohner fast verwundert darüber, dass es ihr Land noch immer gab. Der Bürgerkrieg der Jahre 1975 bis 1990 hatte ganze Städte und Dörfer ausgelöscht, 145 000 Todesopfer und vermutlich rund doppelt so viele Verwundete gekostet; 17 400 Menschen waren vermisst gemeldet, 3614 Autobomben waren explodiert, und generell hatten sich die Glaubensgruppen in homogene Gemeinden zurückgezogen. Dennoch war unter den Libanesen praktisch aller Religionen der Wille spürbar, einen neuen Weg zu finden, einen Weg des gemeinsamen Miteinander. Gefunden war dieser Weg indes noch nicht.2 Einer der Gründe dafür war Syrien und dessen, wie es ein libanesischer Politiker ausdrückte, schleichender Versuch, ein Land zu „annektieren“, das kein pansyrischer, ja eigentlich kein panarabischer Nationalist jemals als eigenständiges Staatsgebilde anerkannt hatte. Ein weiterer Grund war die Korruption eines Großteils der politischen Klasse im Libanon sowie deren Annäherungsversuche an ausländische Mächte, um eigennützige konfessionelle Interessen zu stützen. Viele dieser politischen Führer und ihrer Anhänger hatten sich mit der politischen Nomenklatura Syriens verbündet, um einen Kuchen unter sich aufzuteilen, der an sich einer deutlich dynamischeren Wirtschaft und offeneren Gesellschaft hätte zugutekommen sollen. Das neue „goldene Zeitalter“ ist ein Zeitalter der Schmarotzer und Abstauber.3 Doch der Libanon war schon immer ein geopolitisches Kuriosum, was freilich auch viel mit seiner Topographie zu tun hat. In einer Region, die überreich ist an Konfessionsgruppen, die aus jahrtausendealten Glaubenskontroversen hervorgingen, bietet das Libanongebirge seit jeher eine sichere Feste für die meisten Andersgläubigen. Die maronitischen Christen, eine der römisch-katholischen Kirche verbundene Gruppierung aus dem Orontes-Tal in Syrien, flüchteten ins Libanongebirge, um byzantinischen (also christlichen) Verfolgern zu entkommen – nicht, wie später oft behauptet, aus Furcht vor muslimischer Unterdrückung. Die Drusen, deren genaue religiöse Überzeugung nur Eingeweihten bekannt ist, die sich aber wohl von der schiitischen Dynastie der Fatimiden herleiten, suchten hier Zuflucht. Zu diesen beiden ursprünglichen Religionsgemeinschaften des Libanongebirges gesellten sich später Sunniten und Schiiten, die bevorzugt den schmalen Küstenstreifen und die Täler besiedelten, im Laufe der Zeit dann auch griechisch-orthodoxe, katholische, armenische, chaldäische und syriakische Christen sowie andere mehr. Die Sunniten prosperierten unter den (sunnitischen) Osmanen, die den Libanon stellvertretend über ein Bergemirat regierten, dem nahezu auswechselbare maronitische und drusische Führer vorstanden. Die Schiiten, die ursprünglich im Gebirge wie im Tal beheimatet waren, wurden allmählich nach Süden gedrängt. Maroniten und Drusen spalteten sich immer wieder in Untergruppen auf. Das älteste bekannte Dokument, das auf die Maroniten verweist, ist eine
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päpstliche Bulle aus dem Jahr 1216, die den Unterlegenen eines Bürgerkriegs die Absolution erteilt. Die Drusen waren dafür bekannt, sich alle Türchen offenzuhalten. Mitte des 13. Jahrhunderts kämpften Truppen der drusischen Buhturiden-Dynastie auf beiden Seiten, als die Mamluken in der großen Schlacht von Ayn Jalut nahe dem See Genezareth die Mongolen aus Syrien vertrieben.4 Der entscheidende Wandel kam mit dem maronitisch-drusischen Bürgerkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts. Einem Muster folgend, das die Libanesen scheinbar verfolgt, zog dieser Konflikt auch fremde (in diesem Fall europäische) Mächte mit hinein, allen voran Frankreich, das nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet seines Völkerbundmandats in sechs Staaten aufteilte, darunter den Großlibanon. Ein vordergründig „christlicher“ Triumph, da die neue Landkarte dem „Mont Liban“ auch Gebiete und Völker nicht-christlicher Tradition zuordnete. Später würde dies den Nationalpakt von 1943 erforderlich machen, um den Libanon als unabhängiges Land zu definieren. Der Nationalpakt legte ein konfessionalistisches Proporzsystem im Parlament fest, das auf einem Zensus aus dem Jahr 1932 beruht. Dieses verschaffte den Christen eine proportionale Mehrheit und dadurch politische Überlegenheit (vor allem den Maroniten, der größten christlichen Gemeinde, die aufgrund rechnerisch gestützter Annahmen im Verhältnis 6:5 vertreten waren – was allerdings wahrscheinlich auch 1943 nicht den demographischen Realitäten entsprach). Das Ganze war ein Bluff, aber einer, der hervorragend funktionierte. Er ermöglichte es den Libanesen, ihre Heterogenität auszuleben – und davon zu profitieren –, und zwar volle drei Jahrzehnte lang. Die dunkle Seite des Libanon jedoch – die gewaltigen Ungleichheiten in der Vermögensverteilung, die Existenz einer schiitischen Unterschicht, das Fehlen eines staatlichen Gesundheits- sowie eines auch nur rudimentären Bildungssystems, die Korruption sowie die Weigerung, den Palästinensern Grundrechte zuzugestehen, und das Elend in den Flüchtlingslagern – all das ging im klirrenden Prosit der Champagnergesellschaft förmlich unter. Was dieser vielfach schöngefärbten Epoche der libanesischen Geschichte letztlich das Aus bereitete, ist ebenso umstritten wie die reich ausgeschmückte Historie, die sich jede Konfession zurechtgebastelt hat, um ihre eigene Geschichte aufzuwerten. Doch die Samen des Konflikts – sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen Konfessionsgruppen – keimten lange bevor der erste Schuss fiel. Nach Ansicht der damals herrschenden Maroniten brachte die Ankunft der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) im Libanon (die PLO musste nach dem Aufstand des „Schwarzen September“ 1970/71 Jordanien verlassen) das ohnehin empfindliche konfessionelle Gleichgewicht zugunsten der Muslime ins Kippen. Wie zuvor in Jordanien, agierte die PLO nun auch im Libanon mit der Arroganz eines Staates innerhalb des Staates und forderte Israels Rache regelrecht heraus, indem sie den Südlibanon zur Angriffsbasis ausbaute. Doch Israel hatten den Libanon schon im Visier, bevor die PLO dort ihr Hauptquartier
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aufschlug (beispielsweise sprengten israelische Kommandotruppen Ende Dezember 1968 auf dem Beiruter Flughafen mehrere Maschinen der Middle East Airlines in die Luft). Überdies hatten libanesische Muslime, insbesondere Schiiten, schon lange einen gerechteren Anteil an der Macht gefordert, und die PLO verbündete sich mit der muslimisch-drusischen Allianz auch erst, nachdem maronitische Milizen einen bewaffneten Versuch gestartet hatten, die christliche Vorherrschaft zu festigen. In diese Auseinandersetzungen mischte sich schließlich Syrien ein, damals angeführt von Hafez al-Assad, der sogenannten Sphinx von Damaskus. Mit der syrischen Intervention im Libanon wollte al-Assad verhindern, was 1976 wie eine unvermeidliche Niederlage der Christen aussah. Er wollte die Entstehung einer Palästinenserhochburg an den Grenzen Syriens im Keim ersticken, und nicht zuletzt wollte er Syrien im panarabischen Kontext neue Geltung verschaffen, während er gleichzeitig pansyrische Ziele verfolgte. Als Legitimation dazu dienten ihm die Aufforderung zur Intervention durch die (maronitisch) libanesische Regierung, die nachfolgende Bestätigung dieser Rolle durch die Arabische Liga und letztlich die resignative Meinung auf internationalem Parkett, niemand anderes sei scheinbar fähig, dem Libanon Stabilität zu verleihen. Selbst ein Diktator Hafez al-Assad hatte für den Westen seinen Verwendungszweck. Der Konflikt wanderte von den Städten in die Berge, von den Hotelkomplexen in die Flüchtlingslager und wieder zurück. Dabei war das bunte Kaleidoskop konfessioneller Allianzen in ständigem Wandel begriffen, immer wieder neue Vendetten führten zu immer wieder neuen Bündnissen. In einem tödlichen Cocktail aus Selbstgefälligkeit und Geltungsbedürfnis brachten viele Libanesen das Kunststück zustande, gleichzeitig Fanatiker und Wendehals zu sein. Die Maroniten waren besonders geschickt darin, einander regelrecht abzuschlachten; ein Merkmal dieses grausigen Bruderkriegs war die barbarische Rohheit, mit der einige dieser christlichen Dynastien vorgingen, um ganze Familien auszulöschen. In einem größeren Rahmen betrachtet, nutzten Saudis und Syrer, Iraker und Libyer, Iraner und Israelis Beirut als Bühne, auf der sie mittels Autobomben kommunizierten. Der Libanon wurde zum bevorzugten Schauplatz ihrer Stellvertreterkriege. Schon bald mischten sich auch beunruhigte Westmächte ein, allen voran die USA und Frankreich, mit dem aussichtslosen Ziel, zumindest den Anschein öffentlicher Ordnung wiederherzustellen. Und schon bald wurden die multinationalen Friedenstruppen, die von der Dynamik dieses Konflikts und seinen ganz eigenen Spielregeln keinen blassen Schimmer hatten, von allen Beteiligten als schlichtweg eine Miliz mehr angesehen. Ihre Einsatzfahrzeuge waren im Nu ausgebombt.5 Die Vorstellung von einem Staat Libanon löste sich buchstäblich in Rauch auf. Der lange Krieg sowie die Invasion Israels 1982 – als der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon Westbeirut nahezu dem Erdboden gleichmachte,
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um die PLO zu zerschlagen – spalteten das Land in Splitterbezirke. Als die Schießereien endlich zum Stillstand kamen, hielt Syrien den Großteil dieser Splitter. *** Mit einer neuen nationalen Entente sollte 1989 der Wiederaufbaus der Republik Libanon eingeleitet werden. Das Abkommen von Taif sah eine konfessionelle Umgewichtung vor, derzufolge Christen und Muslime paritätisch in einem Parlament vertreten waren, dem ein schiitischer Sprecher vorstand, und beschnitt das Präsidentenamt (das nach wie vor von einem maronitischen Christen bekleidet wurde), indem ein Teil der Exekutivgewalt auf einen sunnitisch-muslimischen Ministerpräsidenten überging. Die meisten Milizen wurden aufgelöst und teilweise zu einer neuen nationalen Armee zusammengelegt, während Syrien dem Abkommen zufolge seine Truppen innerhalb von zwei Jahren an seine Grenzen zurückziehen und danach ganz abziehen sollte. Die Realität sah anders aus. Dass Israel weiterhin zwölf Prozent des libanesischen Staatsgebiets nördlich der israelischen Grenze (die an die syrischen Golanhöhen grenzt, die Israel im Sechstagekrieg 1967 eingenommen hatte) besetzt hielt, sah Syrien als Alibi an, ebenfalls zu bleiben. Und Syriens Beteiligung am – von den USA geführten – Golfkrieg, um Saddam Husseins Truppen aus Kuwait zu vertreiben, sowie der anschließende Eintritt in letztlich fruchtlose Friedensverhandlungen mit Israel ließ die Besatzung des Libanon durch die Syrer aus dem gesamtpolitischen Blickfeld verschwinden. Insbesondere für die USA war es schlicht kein Thema. Der damalige Herr von Damaskus, Hafez al-Assad, nutzte die Gelegenheit, um die Hisbollah zur Speerspitze des Widerstands gegen die Israelis zu machen. Für Syrien stand die Befreiung des südlichen Libanon immer hinter den Angriffen der Hisbollah zurück, die Israel stets daran erinnern sollten, dass Damaskus zwar 1973 die Rückeroberung der Golanhöhen nicht geglückt war, der Kampf aber so lange weitergehen würde, bis Israel diese zurückgab.6 So wurde der Libanon einmal mehr zu einer Schachfigur in einem neuen Stellvertreterkrieg. Weder Israel noch Syrien wollten einen offenen Konflikt riskieren. Beiden Seiten war es mehr als recht, ihre Kämpfe über den Libanon auszutragen. Die Libanesen, die selbst alle Mühe hatten, die Ruinen ihrer inneren Kämpfe zu beseitigen, zahlten einen hohen Preis, darunter zwei größere israelische Angriffe in den Jahren 1993 und 1996. Die syrisch-baathistische Nomenklatura machte sich mittlerweile geschäftig daran, den Libanon nach ihren eigenen Vorstellungen wiederaufzubauen, wobei man die eigenen Interessen natürlich aufmerksam im Auge behielt. So achtete Damaskus bei der Neueinrichtung des konfessionalistischen Systems der Vorkriegszeit darauf, seine eigene Rolle als unentbehrlicher Vermittler und Bollwerk gegen einen Rückfall in bürgerkriegsähnliche Konflikte herauszuheben. Seine
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zeitweilig bis zu 40 000 Mann starke Besatzungstruppe legte sich wie ein düsterer Schatten über das Land. Das eigentliche Machtinstrument jedoch war, wie in der arabischen Welt üblich, der Mukhabarat: die eigenen Geheimdienste und deren loyale libanesischen Stellvertreter. Sie umwarben die politische Klientel sowie vormalige Warlords, die sich mühelos in die neue Machtstruktur einfügten. Dabei gingen sie nach dem Prinzip des Teile-und-Herrsche vor – um vor allem das Aufkommen jedweder gemischt-konfessionellen demokratisch nationalen Kräfte zu verhindern. Samir Franjieh, ein Oppositionsführer der linken Mitte, der einem führenden maronitischen Clan entstammt, formulierte es folgendermaßen: „Der Staat sollte auf sämtlichen Rechten für den Einzelnen und sämtlichen Sicherheiten für die [17] Religionsgemeinschaften basieren. Derzeit sieht es so aus, dass die Religionsgemeinschaften über sämtliche Rechte verfügen, ihre Führer sich jedoch aller bemächtigt haben.“ Solange Syrien diese Führer (die von seiner Zustimmung abhängig waren) manipulieren konnte, solange konnte es auch den Libanon dominieren.7 Als der Bauunternehmer und Milliardär Rafiq al-Hariri, der große Anteile an Banken und Medien besaß, 1992 die politische Bühne betrat, kam die Hoffnung auf, dass endlich ein Libanese ein nationales Konzept formulieren und damit dem Land zu neuem Aufschwung verhelfen würde. Al-Hariri, ein sunnitischer Muslim, der sein Geld in Saudi-Arabien gemacht und das Ende des Krieges mitverhandelt hatte, sollte für zehn der ersten vierzehn Nachkriegsjahre das Amt des Ministerpräsidenten bekleiden. Er trat im Oktober 2004 zurück, nachdem Syrien ihn, sein Kabinett und das Parlament gezwungen hatte, die Verfassung dahingehend zu ändern, dass der unfähige, aber fügsame Präsident Emil Lahoud weitere drei Jahre im Amt bleiben konnte. Dieser Rücktritt markierte den Auftakt einer bedeutenden politischen Krise in der modernen arabischen Welt – einer Krise, die auf ihre Art fast genauso bedeutsam war wie das blutige Irak-Drama, das östlich des Libanon seinen Lauf nahm. Sie sollte zeigen, in welchem Maße arabische Despoten – in diesem Fall die syrischen Machthaber – ihr blutiges Spiel spielen und sogar ungestraft morden konnten. *** Rafiq al-Hariri hatte große Erwartungen geweckt. Fouad Siniora, Finanzminister unter al-Hariri und sein Nachfolger, erinnerte sich an seine Ankunft in einem zerbombten Nachkriegs-Beirut, wo es keinen Strom gab, aber Gerüchte kursierten, al-Hariri hätte Schiffe im Hafen liegen, deren Starkstromaggregate die ganze Stadt erleuchten könnten. Einige Libanesen schienen den Milliardär und Philanthropen al-Hariri mit einem Aladin samt Wunderlampe zu verwechseln. Als al-Hariri das Amt übernahm, stabilisierte sich die Währung, und der Libanon galt wieder als kreditwürdig. Der Ministerpräsident brachte sein Netzwerk
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internationaler Freundschaften ein, das sich nicht auf die Golfregion beschränkte, sondern auch hochrangige europäische Politiker wie Jacques Chirac und James Wolfensohn, den Präsidenten der Weltbank, einschloss. Er verstand es hervorragend, die libanesische Diaspora – und seine eigenen Banken – zu mobilisieren, um internationale Anleihen für den Wiederaufbau des Libanon zu beschaffen. Die Wiedergeburt Beiruts war sein Werk. Während des Krieges beschränkte sich die Infrastruktur auf wenige Stromgeneratoren und darauf, dass jede Miliz ihren eigenen Hafen hatte. Von flächendeckend konnte keine Rede sein. Jetzt gab es den Plan, das Zentrum von Beirut wiederaufzubauen, und die Firma Solidere, an der al-Hariri wesentliche Anteile besaß, sollte ihn in die Tat umsetzen. Ambitioniertes Ziel war, die Stadt zur unangefochtenen Finanzhauptstadt der Region zu machen, wozu natürlich riesige Summen benötigt wurden. Politisch hatte al-Hariri Mühe, sich als primus inter pares in der nach dem TaifAbkommen bestimmten Führungs-Troika durchzusetzen, die ja nicht nur aus Präsident und Ministerpräsident bestand, sondern auch aus einem mit großen Machtbefugnissen ausgestatteten Parlamentssprecher. Dieses Amt hatte Nabih Berri inne, ehemals Vorsitzender der Amal, der schiitischen Bürgerkriegsmiliz und Syriens wichtigstem bewaffneten politischen Arm im Libanon. Al-Hariri, der interkonfessionellen Rivalitäten wenig Beachtung schenkte, zog es vor, nach Manier eines Konzernchefs zu operieren. Er wollte Dinge bewegen und zögerte nicht, die Rädchen gegebenenfalls angemessen zu schmieren. Kritischen Stimmen zufolge führte er den Libanon wie ein Großunternehmen, dessen Hauptaktionär er war. Seine Bewunderer hielten dagegen, dass er, anders als die meisten arabischen Machthaber, eigenes Geld in das Land investierte, anstatt sich freizügig aus dem Staatssäckel zu bedienen. Sein Ziel, so vertraute er mir einmal an, sei ein Libanon, der von Syrien unabhängig sei, aber mit diesem Schritt halte. Dazu hielt Hariri zwei entscheidende Trümpfe. Zum einen brauchte Syrien seine internationalen Beziehungen nicht nur, um die libanesischen Wiederaufbaupläne gut zu verkaufen, sondern auch, um die mageren diplomatischen und finanziellen Ressourcen aufzubessern. Zum anderen wurde al-Hariris Verbitterung über die politische Klasse von den meisten Libanesen geteilt, was ihm große Popularität quer durch alle Bevölkerungsschichten und religiöse Gruppierungen sicherte.8 Auf der Höhe seiner Macht jedoch machte Hariri wenig Anstalten, diese breite Gefolgschaft dazu zu nutzen, dem konfessionellen System eine neue nationale Einheit zu geben. Er baute einen Großteil des Libanon wieder auf, versäumte es aber, das Land auch politisch zu „renovieren“. Der politische Hemmschuh, so Hariri, sei Syrien, das sich von Anfang an eingemischt und nur wenig Spielraum für eigene Manöver gelassen habe. „Die Syrer haben vom ersten Tag an mitgemischt“, sagte er. „Sie haben Nabih Berri als Parlamentssprecher eingesetzt. Er vertritt ihre Interessen und hat nie aufgehört, die Regierung entsprechend zu dirigieren.“9
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Kritiker des Ministerpräsidenten formulierten es noch schärfer. Michael Moawad, Sohn des beliebten libanesischen Präsidenten Rene Moawad, der in den letzten Tagen des Bürgerkriegs 1989 bei einem mutmaßlich von Syrien angezettelten Bombenanschlag getötet wurde, sagte: „Die Syrer haben Hariri als Marketingleiter eingestellt. Er ist gut, ja das ist er. Das Problem ist nur, dass ihr System nicht mehr vermarktbar ist.“10 Obendrein war der Wiederaufbau des Libanon kein uneingeschränkter Erfolg. Er verschlang enorme Summen und riss ein riesiges Schuldenloch: 36 Milliarden US-Dollar, nahezu das Doppelte des Bruttoinlandsprodukts. Auch der lebenswichtige Zustrom an Geldern von im Ausland lebenden Libanesen, vielleicht drei- bis viermal so zahlreich wie die vier Millionen, die im Lande lebten, begann allmählich zu versiegen. Die Banken des Landes, zumeist kleinere Familienunternehmen, waren aufgrund der Staatsverschuldung satt und träge geworden, was dazu führte, dass Beirut gegenüber konkurrierenden Finanzzentren wie etwa Dubai zunehmend an Boden verlor. Der Wertpapiermarkt blieb vernachlässigbar – und dominiert von den Banken und Solidere. Entnervt von der Kontrolle durch den Mukhabarat sowie fehlende Grundinfrastruktur (wie beispielsweise Breitband-Internetverbindungen), wanderte die Medienbranche ab nach Dubai und Qatar. Selbst in Bereichen wie Bildungs- und Gesundheitswesen begann der Libanon hinter diese Golfemirate zurückzufallen, die ihre Dynamik paradoxerweise zum Teil libanesischen Emigranten verdankten. Libanons Talfahrt in den politischen Klientelismus unter syrischer Vormundschaft, die Parzellierung der Nachkriegsinstitutionen als Kriegsbeute für die Warlords sowie die Tatsache, dass Präsident, Ministerpräsident und Parlamentssprecher wie römische Triumviren um die Macht rangelten und dadurch die Regierungsgeschäfte lähmten – all das behinderte die Entwicklung des Libanon. „Was wir heute hier haben“, sagte Samir Franjieh 1998 mitten im Wiederaufbau, „ist eine Art [post-sowjetisches] Russland: Liberalismus ohne Demokratie, und am Ende haben wir ein Mafia-Land.“11 „Zwölf Jahre nach Beginn des Wiederaufbaus ist ein Teil der Infrastruktur bei Weitem nicht vollständig und längst nicht landesweit – zwar wiederhergestellt, jedoch zu einem hohen Preis“, sagte Nasser Saidi, ehemaliger Wirtschaftsminister und einflussreicher Bankier. „Es wurden kaum Anstrengungen unternommen, Institutionen aufzubauen oder aus diesem Krieg zu lernen und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Mag sein, dass es zu viele waren, um sie vor Gericht zu bringen, was aber nicht heißen kann, dass man sie für ihr Handeln auch noch belohnen und mit Macht ausstatten sollte. Dass wir ohne sie etwas Besseres hätten erreichen können, liegt auf der Hand. Es geht nicht nur um die hohe Verschuldung und so weiter. Es geht darum, dass sich niemand aktiv am politischen Leben beteiligen will.“12 Die Religionsgemeinschaften freilich hatten sich jede einen Teil des Staates gesichert. Der Rat für Entwicklung und Wiederaufbau des südlichen Libanon
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und die nationale Elektrizitätsgesellschaft beispielsweise wurden „Lehen“ der Amal Nabih Berris. Die Amal war nicht nur Syriens Lieblingskind, sondern auch Meister im Absahnen. So erhob sie beispielsweise eine Ergänzungsabgabe von bis zu 200 US-Dollar für jeden Container, der den Hafen von Beirut passierte, wo in den ersten fünfzehn Jahren nach dem Krieg jährlich Waren im Wert von über sechs Milliarden US-Dollar verschifft wurden. Dieses einträgliche Geschäft (um die 350 Millionen US-Dollar) teilte die Amal mit ihren Verbündeten in Syriens Geheimdiensten und wiederum deren Verbündeten im libanesischen Sicherheitskader. Zudem fielen noch genug Krümel von diesem reich gedeckten Tisch, um zahlreiche Auftragskiller, ehemalige Kriegsteilnehmer, in Brot und Arbeit zu halten.13 Ende 1998, zeitgleich mit General Emile Lahouds Amtsantritt als libanesischer Präsident, war al-Hariri zu dem Schluss gelangt, dass die Situation so nicht länger hinnehmbar sei. Er glaubte, von Syrien grünes Licht zu haben, um die Probleme des Landes anzugehen, deutete die Signale jedoch falsch und säte dadurch den Samen zu dem, was sich zu der syrisch-libanesischen Krise der Jahre 2004/05 entwickeln würde. *** Der Aufstieg General Emile Lahouds 1998 zum Präsidenten wurde als Chance zur politischen und nationalen Erneuerung gesehen, die dem Nachkriegslibanon bislang verwehrt geblieben war. Die Hauptverlierer des Krieges, die bis dato dominierenden christlichen Maroniten, hatten die beiden vorhergehenden Wahlen boykottiert. In nostalgischem Verlangen nach (in schlechten Ruf geratenen) Führern, die entweder tot, in Haft oder im Exil waren, wiederholten sie den Fehler der sunnitischen Muslime aus den 1920er-Jahren, indem sie sich aus einem politischen Prozess ausklinkten, den sie nicht mehr kontrollieren konnten. Die Hoffnungen, die man nun auf den maronitischen General Lahoud setzte, basierten weniger auf dessen (eher unklaren) Verdiensten als vielmehr auf der Erwartung, er würde den Maroniten das Gefühl geben, wieder eine Rolle im politischen Prozess spielen zu können. Kardinal Nasrallah Sfeir, der maronitische Patriarch, der die politische Führung seiner Gemeinschaft übernommen hatte, sah die Präsidentschafts-„Wahl“ 1998 als „Möglichkeit, das Land entweder zu erneuern oder zu zerstören“.14 Lahouds größte Errungenschaft bestand darin, eine 60 000 Mann starke Nationalarmee zu etablieren, in die die Überreste der Bürgerkriegsmilizen integriert wurden, und diese zur wohl erfolgreichsten nicht-konfessionell geprägten Institution zu machen – wobei ihre Bedeutung darin lag, Symbol der nationalen Einheit zu sein, nicht in ihrer Funktion als eine Kampftruppe (die sie nie sein würde). Al-Hariri setzte anfangs verhaltene Hoffnungen auf Lahoud. „Ich wünsche mir einen Präsidenten, dessen Programm dem meinen ähnelt, damit wir die glei-
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chen Ziele ansteuern“, sagte er. „Er muss mit mir kooperieren, wenn es einen Wandel geben soll. Ich brauche einen Partner, keinen Gefolgsmann.“ Er sagte, die Syrer hätten „erkannt, dass es so nicht weitergehen kann, und sind bereit für einen Wandel – vorausgesetzt, dieser betrifft weder die Einstellung des Libanon gegenüber Syrien noch gegenüber dem Friedensprozess“. Mit dieser Anspielung auf den Frieden im Nahen Osten schnitt er ein hochsensibles, wenn auch in gewissem Sinn rein theoretisches Thema an. Der letzte Versuch des Libanon, ohne Einschaltung Syriens einen Frieden mit Israel auszuhandeln, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen und hatte 1982 zur Ermordung des maronitischen Warlords und designierten Präsidenten Bashir Gemayel geführt. Dies zu wiederholen, würde kein libanesischer Politiker wagen. Dafür hatte Syrien gesorgt.15 Ende 1998 hatte der völlige Stillstand des Friedensprozesses Syriens bereits ins Stocken geratene Versuche, die eigene Wirtschaft neu zu strukturieren, scheitern und das Land von der offeneren und dynamischeren Wirtschaft des Libanon abhängig werden lassen. Nach Einschätzung von Beiruter Bankiers und Regierungsbeamten flossen durch syrische Gastarbeiter, Investoren und zwielichtige Geschäftemacher jährlich bis zu drei Milliarden US-Dollar nach Syrien. Der Libanon war damit Syriens „Hauptverdiener“. Al-Hariri war sich dieser Tatsache bewusst und überzeugt, dass Damaskus alles tun würde, damit der Gans, die solch goldene Eier legte, nichts zustieße. Damaskus indes war beunruhigt, seit schiitische und sunnitische Muslime (nicht wie üblich Christen) im Jahr zuvor mit anti-syrischen Krawallen für Unruhen gesorgt hatten.16 „Wir hatten eine ernste Unterredung“, so al-Hariri, mit Syriens Präsident Hafez al-Assad, Vizepräsident Abd al-Halim Chaddam und mit Ghazi Kanaan, dem militärischen Geheimdienstchef, der seit 1982 Damaskus’ Vizekönig im Libanon war. Al-Hariri war sicher, auf ihre Unterstützung rechnen zu können, um die Nachkriegsherrschaft der Warlords zu beenden, sein eigenes Kabinett zu benennen und insbesondere Nabih Berri zu verdrängen. „Berri wird auf die Nase fallen“, prophezeite al-Hariri in privatem Rahmen. „Ich habe klar und deutlich gesagt, dass ich nicht bereit bin, die Dinge so weiterlaufen zu lassen. Alle wissen, was bevorsteht, und sie können es nur verhindern, indem sie mich nicht mehr wählen.“ Was genau das war, was sie taten: al-Hariri wurde abserviert.17 Syrien hatte, wie sich herausstellte, andere Sorgen. Hafez al-Assad behauptete sich zwar als unangefochtener Herrscher des Landes, baute gesundheitlich aber immer mehr ab. Der zähe Widerstand der Hisbollah gegen die israelische Besatzung machte absehbar, dass Israel die „Sicherheitszone“ räumen würde, die, weit davon entfernt, Sicherheit zu bieten, einen politisch kostspieligen Strom israelischer Todesopfer in Leichensäcken in die Heimat schickte. Damaskus rechnete mit zunehmendem internationalen Druck, die Hisbollah im Zaum zu halten und die syrischen Truppen aus dem Libanon abzuziehen, sobald Israel den Liba-
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non verlassen hatte. Einen Aufruhr zu riskieren wäre einem vorsichtigen Mann wie Hafez al-Assad sicher voreilig erschienen. „Assad beschreitet gern sichere Wege“, sagte ein früherer US-Regierungsbeamter, der mit dem syrischen Präsidenten damals in regelmäßigem Kontakt stand.18 Seine Fehleinschätzung, Syrien betreffend, bemerkte al-Hariri sechs Monate später, „das Land [sei] in zwei Lager gespalten, ein Lahoud-Lager und ein HaririLager“, der Wiederaufbau des Libanon ins Stocken geraten und die Geheimdienste hätten freie Hand, die Richterschaft einzuschüchtern. Nichtsdestoweniger glaube er, al-Hariri, diese Situation könne unmöglich weitere sechs Monate andauern, denn, objektiv betrachtet, schädige sie Syrien nur. „Die Syrer haben keinerlei Interesse daran, dem Geschehen tatenlos zuzusehen“, sagte er.19 Tatsächlich wurde al-Hariri im November 2000 ins Amt des Ministerpräsidenten zurückberufen. Inzwischen hatten seine problematische Beziehung zu Präsident Lahoud und die politische Lähmung des Landes einen besorgniserregenden Grad erreicht. Entschärft wurde die Situation lediglich durch einen internationalen Überbrückungskredit, den al-Hariri im Herbst 2002 beschaffen konnte. Die Vertragsklauseln, die die Privatisierung öffentlicher Versorgungsbetriebe sowie einen neuen Haushaltsplan und neue Ausgabenziele beinhalteten, waren so formuliert, dass al-Hariri sich davon die leichtere Durchsetzung seiner Reformpläne erhoffte. Aber nichts geschah. Dennoch beging al-Hariri den gleichen Fehler im Sommer 2004 noch einmal. Erneut vertraute er darauf, dass Syrien ihm – im eigenen Interesse – den Auftrag zu einem reformerischen Wandel geben würde. Nur war der syrische Präsident, auf den er dieses Mal vertraute, Hafez’ Sohn Baschar al-Assad. *** Als Baschar al-Assad seinem Vater im Sommer 2000 als Präsident nachfolgte, keimte die Hoffnung auf, dass es das syrische Regime – ein typischer Sicherheitsstaat, der auf hohlen nationalistischen Parolen und einer dysfunktionalen, staatlich gelenkten Planwirtschaft basierte – möglicherweise schaffen könnte, sich selbst zu reformieren. Und es gab ihn tatsächlich, den „Frühling von Damaskus“, vorangetrieben durch die streitlustigen politischen Salons, die Baschar selbst angeregt hatte. Doch dieser Frühling währte nur kurz und endete damit, dass viele Teilnehmer verhaftet wurden. Westliche Regierungen, insbesondere Frankreich und Großbritannien, versuchten, den jungen al-Assad anzuspornen, der nach dem plötzlichen Unfalltod seines Bruders Basel völlig unerwartet an die Führungsspitze geraten war. Beide Länder sowie die Vereinigten Staaten dachten, er bräuchte Unterstützung, um sich von der alten Garde seines Vaters zu lösen. Dieses tat er schließlich auch und trennte sich von Regimeveteranen wie Chaddam und Generalstabschef Hikmat Shihabi – beide sunnitisch-muslimischer Ballast für das alawitisch dominierte Minderheitsregime, das sich hinter der
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Baath-Partei verbarg. Doch sein Ziel schien allein der kontinuierliche Machterhalt eines Familienclans, dem es weit mehr um persönliche Bereicherung als um Staatsführung ging. Gewiss, nach dem 11. September war der junge Assad für die Vereinigten Staaten von unschätzbarem Wert, da er ihnen Informationen über islamistische Aktivisten zur Verfügung stellte, die sein allgegenwärtiger Mukhabarat zusammengetragen hatte. Selbst ein Geheimpolizei-Staat, neigte Syrien zu der Meinung, alle anderen Systeme würden ebenso agieren, und nahm an, sich damit einen Freibrief beim CIA erkauft zu haben, wie es ein ehemaliger US-Regierungsbeamter formulierte.20 Trotz wiederholter Warnungen vonseiten der USA lieferten Baschars Bruder Maher al-Assad, beider Schwager Asef Shawkat und ihr Cousin Rami Makhlouf weiterhin Waffen (darunter osteuropäische Panzermaschinen und Panzertransportfahrzeuge) an Saddam Hussein, selbst als sich der Irakkrieg bereits abzuzeichnen begann. Gleichzeitig bezog Syrien irakisches Erdöl zu illegalen Sonderpreisen zwischen 14 und 20 US-Dollar pro Barrel.21 Dahinter stand Not wohl ebenso wie Gier. Syrien war lange Zeit auf „Fördergelder“ angewiesen gewesen, um seine gebrechliche Wirtschaft und den aufgeblähten Sicherheitsapparat am Laufen zu halten. Bis Ende der 1970er-Jahre hatten die ölreichen Nachbarn am Golf das Land als Frontstaat gegen Israel finanziert. In den 1980er-Jahren bekam es kostenloses Erdöl vom Iran, weil es sich während des Irak-Iran-Kriegs 1980–88 auf die Seite der Islamischen Revolution gestellt hatte, und es erhielt weiterhin Waffen von der Sowjetunion, für die nie eine Rechnung gestellt wurde. Ende der 1980er-Jahre stieß Syrien auf einige Ölquellen im eigenen Land. Inzwischen jedoch hatte es längst den Libanon als Selbstbedienungslokal entdeckt und hatte sich – durch Unterstützung der Golfkriegskoalition 1991 gegen den Irak und daraus folgend die Einbindung in die Friedensverhandlungen – einen diplomatischen Schutzschild aufgebaut. Der gesunde Menschenverstand sowie handfeste Prognosen des US-Geheimdienstes legten nahe, dass Syrien die Waffenschmuggeleien einstellen würde, sobald der Irakkrieg absehbar war. Weit gefehlt. Wie ein US-amerikanischer Regierungsbeamter kernig formulierte: „Dieser dämliche Haufen verdoppelte seine Verschiffungen sogar, um den Irak vor unserem Einmarsch bis auf den letzten Dinar zu melken. Das ist die reinste Mafiosi-Regierung“, sagte er. „Wo staatliche Interessen aufhören und persönliche Interessen anfangen, ist nur schwer auszumachen. Aber wir merken allmählich, dass Mal für Mal Mafia-Interessen die staatlichen Interessen übertrumpfen.“22 Für die Libanesen war das nichts Neues. Sie hatten seit Baschars Amtsantritt mehrfach erfahren, dass die politischen Entscheidungsträger in Damaskus (einschließlich Militärgeheimdienstchef Ghazi Kanaan, der zwanzig Jahre lang die Geschicke des Libanon wesentlich mitbestimmt hatte) wachsendes Interesse an der zunehmend korrupten Wirtschaft des Landes zeigten. „Alles eine einzige Ver-
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brecherbande“, kommentierte ein libanesischer Politiker. „Unter Hafez al-Assad betrachtete Syrien den Libanon als politisches Patrimonium, das sich auf der politischen Bühne gut gebrauchen ließ. Heute interessiert sich niemand mehr für Politik, zumindest nicht mehr, als es ein Al Capone tat.“23 Über all dem lag ein Hauch von Klassenhass – eine Art patrizische Verachtung für die Neureichen, die ihre Gewinne aus zwielichtigen Geschäften offen und protzig zur Schau stellten –, denn auch wenn der Bürgerkrieg keinen eindeutigen Ausgang haben mochte, die soziale Mobilität hatte er in Gang gebracht. „Man kann diesen Krieg als eine soziale Revolution betrachten“, sagte Samir Franjieh. „Es ging dabei nicht um wirkliche Armut, sondern um relative Armut und relativen Reichtum – es ging um gesellschaftlichen Status.“ „Das Problem ist, dass diese Leute all ihren Millionen zum Trotz nur zu gut wissen, dass es ihnen letztlich an Legitimation mangelt, und die Syrer – ihrerseits alawitische Außenseiter aus den Bergen – wissen das und machen sich einen Spaß daraus, mit diesem Gefühl der Unsicherheit zu spielen“, sagte ein Oppositionspolitiker.24 „Zwischen Syrien und dem Libanon gibt es keine normalen wirtschaftlichen Beziehungen“, beklagte Walid Jumblatt, bis dato syrienfreundliche Drusenführer, der Ende 2004 Oppositionsführer geworden war. Baschar al-Assad, so Jumblatt, habe sich aller klügeren Berater wie Chaddam oder Shihabi entledigt. „Jetzt regiert nur noch sein Clan, nackte Alawitenherrschaft, und die klammert sich an jedes noch so kleine Stückchen Libanon.“25 Ich hatte Jumblatt in Mukhtara interviewt, dem Stammsitz seiner Ahnen im Chouf-Gebirge, der nach dem Autobombenanschlag auf seinen engen Verbündeten Marwan Hamade (einen weiteren ehemaligen Wirtschaftsminister, der aus Protest gegen die von Syrien gemauschelte Verlängerung von Lahouds Amtszeit aus der Politik ausgeschieden war) im Oktober 2004 in eine regelrechte Festung umgewandelt wurde. Drei Tage nach diesem Anschlag legte al-Hariri sein Amt nieder und schickte sich an, sich mit Jumblatts Drusen und der christlichen Opposition zu verbünden. Jumblatts Vater Kamal, der in einem weiteren libanesischen Hochseilakt die Rolle des Feudalherrn mit der Führerschaft der Progressiven Sozialistischen Partei verband, hatte die muslimisch-linke Allianz in den frühen Phasen des Bürgerkriegs angeführt. Er fiel 1977 einem Attentat zum Opfer, als die syrische Armee begann, die politische Schlinge um den Libanon fester zu ziehen. Walid Jumblatt hingegen, ein gebildeter Mann, der dadurch zum Warlord wurde, blieb zunächst im syrischen Dunstkreis verhaftet. In der Realpolitik ging es um sein politisches Überleben. Nun jedoch, da er die syrisch-libanesische Konstellation als von Clans und Mafiosi geführte Polizeistaaten denunzierte, riskierte er das Schicksal seines Vaters. In jenem September 2004 beschuldigte Damaskus al-Hariri und Jumblatt, Frankreich aufgestachelt zu haben, sich mit den USA zu verbünden, indem sie
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die Resolution 1559 durch den UN-Sicherheitsrat brachten. Diese forderte Syrien auf, seine Einmischung in die libanesische Politik zu beenden, die verbliebenen 14 000 Mann aus dem Land abzuziehen und den militärischen Flügel der Hisbollah aufzulösen. Die Resolution war ein Frontalangriff auf die syrische Hegemonie im Libanon. Jumblatt sagte, er habe „[den Syrern] ursprünglich vorgeschlagen, sie könnten ihre Truppen dalassen, solange Israel noch Teile des Landes besetzt hält, dass sie aber aufhören müssten, sich in libanesische Angelegenheiten einzumischen. Aber das schaffen sie nicht. Jetzt werfen sie mir vor, mit Hariri konspiriert zu haben, um Frankreich zur [Resolution] 1559 zu drängen. Sie behaupten, Marwan Hamade hat [die Resolution] in Sardinien [Hariris Feriendomizil] verfasst.“ „Für sie bin ich offenbar Staatsfeind Nummer Eins, was uns 28 Jahre zurückgeworfen hat [in die Zeit der Ermordung seines Vaters Kamal Jumblatt, die so gut wie sicher auf das Konto der Syrer ging]. Sie führen sich auf wie Bush – Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“26 Jumblatts und Hamades eigentliches Vergehen bestand darin, eine interkonfessionelle Einheit gefördert zu haben. Drei Jahre zuvor hatte der Drusenführer in seinem Palast im Chouf-Gebirge den maronitischen Patriarchen Kardinal Nasrallah Sfeir empfangen. Es war ein historisches Versöhnungstreffen der beiden Religionsgemeinschaften, das zu einer Allianz zwischen Jumblatts parlamentarischem Block und der etablierten christlichen Opposition führte. Das allein war aus Sicht der Syrer schon eine Bedrohung. Wirkliche Furcht kam auf, als Hamade zum Verbindungsmann in der sich anbahnenden Allianz zwischen al-Hariris mächtigem sunnitischen Block und der christlichen Opposition wurde. Wie Nayla Moawad, Parlamentsmitglied und Witwe des früheren Staatspräsidenten René Moawad, der ähnliches Verhalten mit dem Tode bezahlt hatte, es ausdrückte: „Jede wie auch immer geartete Brücke zwischen den Religionsgemeinschaften ist für die Syrer ein absolutes Tabu.“27 Jumblatt selbst erklärte: „Hariri spielt hier die Schlüsselrolle, denn er ist Sunnit. Die Drusen und die Christen sind ohne die Muslime nicht stark genug. Ein bisschen Widerstand könnten wir vielleicht noch leisten, aber wir wären immer noch zu schwach.“ Al-Hariri war sich der Bedrohung aus Damaskus bewusst, sah die Machtprobe kommen, gab aber nicht viel auf die Taktik der Syrer. „Sie stecken tief im Schlamassel und wissen nicht, was tun“, sagte er. „Sie haben Frankreich in Verdacht … und schieben mir den Schwarzen Peter zu. Stellen Sie sich das vor: die Reaktion der gesamten internationalen Gemeinschaft – wie schmeichelhaft für mich.“ Aber er bestätigte auch Berichte seiner Verbündeten, wonach es am 12. August in Damaskus zu einem brisanten (gerade einmal zwölfminütigen) Treffen mit Baschar al-Assad gekommen war, eine Woche, bevor der Sicherheitsrat die Resolution 1559 verabschiedete. Der junge syrische Präsident Bashar al-Assad habe
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ihn persönlich über die Verlängerung von Lahouds Amtszeit informiert und ihn wissen lassen, er würde, falls nötig, bis aufs Blut um Beirut kämpfen. „Wir haben das Land schon einmal zerstört und können dies jederzeit wieder tun – wir werden uns nicht hinausdrängen lassen, niemals“, so Baschar wörtlich.28 *** Syriens Methoden im Libanon mochten rabiat sein. Seine Diplomatie aber war ein Fiasko. Im November 2002 gab Syrien, damals rotierendes Mitglied im UNSicherheitsrat, seine Zustimmung zur einstimmig befürworteten Resolution 1441, derzufolge Saddam Hussein die bisherigen Resolutionen des Sicherheitsrats bedingungslos zu akzeptieren und sein Land zu entwaffnen habe. Während die genaue Bedeutung der Resolution die westlichen Verbündeten schon bald spalten würde, bot sie Damaskus Gelegenheit, Brücken zu den USA zu schlagen und seine Verbindungen mit Europa zu festigen – um seinem politischen System eine weiche Landung zu garantieren. Wie wir bereits gesehen haben, glaubte Syrien sich Washingtons Gunst gesichert zu haben, indem es nach dem 11. September kooperiert und Informationen über al-Qaida-Terroristen geliefert hatte. Dem State Department zufolge lieferte der Zirkel um al-Assad jedenfalls weiterhin Waffen an Saddam und verdiente sich damit eine goldene Nase. Doch nach der Irakinvasion wendete sich das Blatt. Als sich nach dem Sturz Saddams ein sunnitischer Aufstand gegen die Besatzung abzeichnete, warf Washington Damaskus vor, Saddam-Anhängern erlaubt zu haben, auf syrischem Boden Angriffe auf US-Truppen zu planen und eine Transitroute für dschihadistische Freiwillige zur Verfügung gestellt zu haben. „Wir fürchten, dass Syrien sein Staatsgebiet Teil des irakischen Schlachtfelds werden lässt“, sagte ein hochrangiger US-Regierungsbeamter im Herbst 2005. „Das haben die Syrer entschieden. Eine unkluge Entscheidung, wie wir meinen.“ Die neokonservativen Ränkeschmieder, die Unterstützung für den Irakkrieg beschafften, dürsteten bereits seit mindestens einem Jahr nach Baschar al-Assads Blut.29 Al-Hariri glaubte damals, die syrischen Baathisten forderten das gleiche Schicksal heraus wie ihre befehdeten irakischen Vettern. „Sie sind sich einfach nicht darüber klar, woher der amerikanische Wind bläst“, sagte er. „Sie glauben, es sei wie in der Wüste – eine Fata Morgana. Dabei gehen sie den gleichen Weg wie Saddam Hussein. Der Libanon wird ihr Kuwait werden.“30 Die Art und Weise, wie Syrien damit seine Brücken zu Frankreich und Jacques Chirac abriss, kam einem unnötigen politischen und diplomatischen Vandalenakt gleich. Die Beziehung zu Frankreich war Damaskus’ einziges Fenster zur westlichen Welt, das al-Hariri einst geöffnet hatte. Doch die syrische Führung wies nicht nur die nachdrücklichen Forderungen Frankreichs zurück, sich aus dem Libanon zurückzuziehen, sie ignorierte auch alle Warnungen, die Amtszeit
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von Präsident Lahoud ein weiteres Mal zu verlängern – und sämtliche persönlichen Schreiben Chiracs an Präsident al-Assad.31 In jenem verhängnisvollen Oktober 2004 versuchte praktisch jeder, der irgendwelche Aktien in Damaskus hatte, das syrische Regime daran zu hindern, sich sehenden Auges in den Abgrund zu stürzen. Saudi-Arabien und Ägypten schalteten sich ein. Der Emir von Qatar bemühte sich zehn Tage lang, zwischen Syrien und al-Hariri zu vermitteln. Iyad Allawi, damals Premierminister der irakischen Übergangsregierung, warnte Baschar al-Assad, dass ihm die Zeit davonliefe, sein Regime zu retten. Selbst der Iran – stets mehr taktischer denn strategischer Verbündeter Syriens – versuchte al-Assad zu bewegen, sich von Lahoud zu trennen. Warum sich plötzlich alle Aufmerksamkeit auf den syrientreuen Emile Lahoud konzentrierte, war freilich rätselhaft. Baschar selbst hatte in jenem Sommer einem Abgesandten al-Hariris und einem arabischen Journalisten gegenüber verlauten lassen, es gäbe etliche Alternativen zu Lahoud, mit denen er sich arrangieren könne. Wie war es zu dieser plötzlichen Kehrtwende gekommen? Einer Darstellung zufolge hatten Baschars Bruder Maher al-Assad (Oberbefehlshaber der Republikanischen Garde) und sein Schwager Assef Shawkat (der kurze Zeit später Chef des syrischen Militärgeheimdienstes wurde) interveniert. Sie hätten Baschar erzählt, dass es natürlich auch andere syrientreue Präsidentschaftskandidaten gäbe, die Auswechslung Lahouds könne jedoch die Geschäftsinteressen des Regimes im Libanon deutlich komplizieren, wenn nicht gar völlig zunichtemachen.32 Bei dem Treffen zwischen al-Assad und al-Hariri am 26. August in Damaskus teilte der syrische Präsident dem libanesischen Ministerpräsidenten al-Hariri unmissverständlich mit: „Ich bin persönlich an dieser Angelegenheit interessiert. Es geht nicht um Emile Lahoud, sondern um Baschar al-Assad.“ Laut al-Hariris Sohn Saad sagte Baschar wörtlich: „Präsident Lahoud, das bin ich.“33 Das syrische Regime versuchte, die Folgen dieser radikalen Ansage durch geschicktes diplomatisches Taktieren wieder auszugleichen. Freilich konnte man nur ahnen, inwiefern der 11. September die internationale und regionale Politik verändert hatte. Anstatt in die Zukunft zu blicken, orientierte sich Damaskus viel eher daran, was in der Vergangenheit funktioniert hatte. Kein Wunder also, dass Syriens erste Reaktion auf den Vorwurf Frankreichs, sich im Libanon einzumischen, und auf den Vorwurf der USA, sich im Irak einzumischen, darin bestand, die Friedensgespräche mit Israel wieder aufzunehmen. Einem Vermittler zufolge gelangte die Familie Assad – unter wachsendem internationalem Druck auf Damaskus – zu dem Schluss, die Vereinigten Staaten hätten mit dem Irak ein zweites Vietnam gefunden. Natürlich gab es Parallelen, doch zeugt diese Annahme von einer völlig falschen Lesart des zunehmenden Unmuts Amerikas gegen die syrische Komplizenschaft mit den Aufständischen im Irak. Allerdings gelang Syrien das diplomatische Kunststück, Frankreich und die USA enger zu-
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sammenzuschließen. Paris und Washington hatten in dieser Angelegenheit gleiche Interessen und konnten ihre Differenzen bezüglich des Irak zunächst beiseite lassen. Wie viele seiner Amtsvorgänger war Präsident Chirac am Schicksal des Libanon sowie dem seines Freundes Rafiq al-Hariri aufrichtig interessiert. Präsident Bush hingegen interessierte sich für Syriens Einfluss auf den Irak, auf Israel und den Libanon – in dieser Reihenfolge. Gegen Ende 2004 vermuteten aufmerksame Beobachter, dass Syrien seine verbliebene 14 000 Mann starke Truppe aus dem Libanon abziehen würde – um anschließend Unruhen zu schüren und anhand dieser zu demonstrieren, wie unverzichtbar Syriens Präsenz vor Ort gewesen war. Scheich Naim Kassim, stellvertretender Generalsekretär der Hisbollah, fragte sich laut: „Sind sie [die Amerikaner] bereit für die Konsequenzen eines [syrischen] Rückzugs? Wenn sie Syrien in die Enge treiben, erweisen sie ihnen damit möglicherweise sogar einen Gefallen [mit dem Verlassen des Libanon].“34 Das unterschätzte das Ausmaß internationaler und regionaler Übereinstimmung hinsichtlich einer Beendigung der syrischen Besatzung im Libanon sowie das Ausmaß der Verärgerung in den USA und Frankreich über Syriens Verhalten. Ende 2004 sah es für das nach wie vor hoffnungsvolle Beirut und das zunehmend nervöse, aber rücksichtslose Damaskus so aus, als hätte die Syrien-imLibanon-Geschichte einen Wendepunkt erreicht. Der Beiruter Verleger Jamil Mroue formulierte es so: „Die Lage ähnelt einer riesigen Eiterbeule: Sie ist hässlich und dick geschwollen, aber erst wenn sie aufbricht, wird man wissen, ob sie gutartig oder bösartig ist. So oder so aber ist es das Ende einer Ära.“35 *** Am 14. Februar 2005 explodierte eine Autobombe mit 1000 Kilogramm TNT, als Rafiq al-Hariris Wagenkolonne das St. George Hotel in Beirut passierte. Al-Hariri war auf der Stelle tot und 22 weitere Menschen starben. Basel Fleihan, ein enger Vertrauter (und früherer Wirtschaftsminister), der einer brillanten Karriere im Ausland den Rücken gekehrt hatte, um ihn beim Wiederaufbau des Landes zu unterstützen, erlag Wochen später seinen schweren Brandverletzungen. Das Valentinstag-Massaker stellte jeden Mafiaanschlag in den Schatten. Die Libanesen vermuteten die Drahtzieher des Anschlags natürlich sofort in Syrien. Und Damaskus wiederum argumentierte wie üblich mit der cui-bonoFrage: Wer profitiert davon? Wozu das Ganze, wo der Verdacht doch ohnehin gleich auf Syrien fallen würde? Überdies waren Attentate in der gesamten Region ein beliebtes politisches Instrument, von dem vor allem Damaskus regen Gebrauch machte, zumal es meist die gewünschte Wirkung zeigte – kurzfristig wenigstens. Dieses Mal jedoch war ein Mal zu oft. Der Zorn der Libanesen kochte hoch. Die Vereinigten Staaten und Frankreich waren mit ihrer Geduld am Ende. Selbst die arabischen Machthaber, die gewöhn-
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lich nichts so leicht aus der Ruhe bringt, waren entsetzt über die brutale Dreistigkeit dieses Anschlags. Syrien erhielt eine letzte Chance, die Forderungen der Resolution 1559 zu erfüllen und sich aus dem Libanon zurückzuziehen, während auf Betreiben des französischen Präsidenten Chirac umgehend ein internationales Sondertribunal für den Libanon eingerichtet wurde (Resolution 1595), um den Mord an Rafiq al-Hariri aufzuklären. Massenproteste auf den Straßen Beiruts brachten die pro-syrische Regierung Omar Karami nach zweiwöchigen, sorgfältig mit der parlamentarischen Opposition abgestimmten Unruhen zu Fall. Syrien, von Mandanten wie Lahoud nicht über seine isolierte Lage informiert, nutzte eine Großdemonstration der Hisbollah am 8. März dazu, Omar Karami wieder ins Präsidentenamt einzusetzen. Die Hisbollah jedoch krümmte keinen Finger, um die syrische Mandatsregierung zu retten. Zum ersten Mal schwenkte die „Partei Gottes“ die libanesische Flagge – mit dem Emblem der sogenannten Zedernrevolution – sowie ihre eigenen Fahnen (mit dem militanten Logo einer Kalaschnikow). Die Spitze der Hisbollah stand in engem Kontakt mit der Opposition und bereitete sich darauf vor, in der postsyrischen Zukunft des Landes eine führende Rolle zu spielen. Eine noch größere Massenkundgebung der Opposition am 14. März 2005 ließ Baschar schließlich keine andere Wahl, als seine Truppen abzuziehen, was dann am 26. April 2005, nach 29 Jahren Besatzung, auch geschah. Die einzige Alternative für Baschar wäre ein Massenmord gewesen, via Satellitenfernsehen live übertragen in alle Welt. So beschränkten sich der syrische Geheimdienst und seine örtlichen Statthalter darauf, ihre blutige Kampagne aus Bombenanschlägen und Attentatsversuchen fortzusetzen. Nichtsdestotrotz wurde die UN-Initiative zur Aufklärung des Mordes an alHariri mit beispielhafter Entschlossenheit vorangetrieben. Mit der Resolution 1595 des UN-Sicherheitsrats wurde die United Nations International Independent Investigation Commission (UNIIIC) gegründet. Leiter war der deutsche Staatsanwalt Detlev Mehlis, der hartnäckig und mit forensischer Genauigkeit ermittelte. Im Zuge weiterer syrischer Anschläge (im Juni 2005 tötete eine Autobombe Samir Qassir, einen regierungskritischen libanesisch-palästinensischen Journalisten; im Juli 2005 entkam Elias Murr, der frühere pro-syrische Innenminister und in der oppositionsgeführten Regierung Verteidigungsminister, nur knapp einem Bombenattentat) sammelte Mehlis Beweismaterial. „Es war ein Kampf bis aufs Blut, und wir hatten die Chance, ihn zu gewinnen: Man begann, miteinander zu reden“, so ein örtlicher Beobachter.36 Eine Serie von Razzien, durchgeführt von der UNIIIC und unterstützt von den wiedererstarkten libanesischen Justizbehörden, führte zur Verhaftung von vier ehemaligen Sicherheitschefs, darunter General Jamil as-Sayyed (Kopf der Sureté Générale) und Brigadegeneral Mustafa Hamdan (Kommandant der Präsidentengarde, Lahouds Sicherheitsbrigade). Die Inhaftierung von vier Generälen aus Geheimdienstkreisen, allesamt offiziell des Mordes an einem Politiker angeklagt,
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geriet zu einem Spektakel ohnegleichen. So etwas hatte es in der arabischen Welt noch nicht gegeben. Geradezu subversiv erschien der Gedanke, dass arabische Machthaber, die so lange Zeit unantastbar erschienen waren, zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Der Mehlis-Bericht, der am 21. Oktober 2005 vorgelegt wurde, zog die Öffentlichkeit in Bann. Laut einer vertraulichen Version des Berichts – die ihren Weg in die Öffentlichkeit möglicherweise nicht zufällig fand – begannen die Vorbereitungen zu dem Mord an al-Hariri bereits zwei Wochen nach der Verabschiedung der Resolution 1559 durch den UN-Sicherheitsrat. Ein Zeuge nannte Namen von Verdächtigen: Maher al-Assad, Asef Shakwat, Jamil as-Sayyed und Mustafa Hamdan. Ein auf Band aufgenommenes Gespräch zwischen General Rustom Ghazaleh, Ghazi Kanaans Nachfolger als syrischer Vizekönig im Libanon, und einem „prominenten libanesischen Politiker“, Mr. X genannt, schien deutlich zu zeigen, wie Syriens Machthaber regelmäßig die Fäden der libanesischen Regierung zogen. In diesem Falle bot X an, al-Hariri zum Rücktritt zu zwingen.37 In derselben vertraulichen Version des Mehlis-Berichts wurde Mustafa Hamdan, Kommandeur der Präsidentengarde, durch ein Gespräch vom Oktober 2004 schwer belastet, an das sich ein Zeuge erinnerte: „Wir sind dabei, ihn auf eine lange Reise zu schicken. Bye-bye, Hariri!“38 Die UNIIIC benutzte spezielle Software-Programme, um libanesische Telefonverbindungsdaten akribisch auszuwerten. Registriert wurden u. a. 97 Anrufe von Ahmad Abdel-Al, einem Führer der islamistischen Gruppierung al-Ahbash, bei General Hamdan, vier davon in den Stunden unmittelbar nach dem Anschlag vom 14. Februar, sowie, besonders interessant, ein Anruf seines Bruders Mahmoud Abdel-Al auf Präsident Lahouds Handy nur wenige Minuten vor der Detonation der Bombe, die al-Hariris Konvoi in die Luft sprengte. Die Ermittler verfolgten auch anonyme Telefonate über Prepaid-Karten, die entlang der Fahrstrecke des Konvois geführt worden waren. Der Libanon (sowie der Rest der arabischen Welt) bestaunte diese akribische Rekonstruktion belastender Verflechtungen. Und Syrien mit seinem vorzeitlichen Technologieverständnis schien regelrecht überwältigt. In Mehlis’ Abschlussbericht heißt es: „Es besteht hinreichender Verdacht, dass die Entscheidung, den ehemaligen Premierminister Rafiq Hariri zu ermorden, nicht ohne die Genehmigung hochrangiger syrischer Sicherheitskräfte hätte getroffen werden können und der Mord selbst nicht ohne das Einverständnis ihrer libanesischen Pendants vorbereitet werden konnte.“39 Als Damaskus begriff, dass es in die Enge getrieben war, war es für eine angemessene Reaktion zu spät. Am 12. Oktober wandte sich Ghazi Kanaan, der frühere Herr des Libanon, an einen libanesischen Radiosender, um sich öffentlich gegen alle Vorwürfe zu verteidigen. Danach, so der offizielle Bericht aus Syrien, ging er in sein Büro und erschoss sich. Es war nicht das erste Mal, dass Syrien den „Selbstmord“ als einen Weg wählte, die politischen Machtkarten neu zu
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mischen. Doch falls dies ein Versuch war, mit der Beseitigung eines Informanten sowie eines potenziell Verdächtigen die Akte Hariri zu schließen, so war dieser vergebens. Am 14. Oktober erschien der syrische Geheimdienstchef (und frühere Vertraute Hafez al-Assads) Mohammed Nassif in Washington und forderte dringend einen Termin bei der Regierung Bush. Die USA hatten derweil begonnen, ihre Beziehungen zu Syrien zu überdenken, und auch Alternativen zum BascharRegime erwogen.40 Nassifs Mission wirkte wie ein Versuch, mit Washington eine Vereinbarung im „libyschen Stil“ zu treffen, wonach Damaskus glaubhafte Sündenböcke für den Mord an al-Hariri liefern und den Zustrom syrischer Dschihadisten in den Irak beenden würde. Allerdings war die Zeit noch nicht reif dafür. Man bedenke, dass auch der Handel des libyschen Staatsführers Muammar Gaddafi mit Washington sechsjähriger schrittweiser Vorbereitungen bedurft hatte. Zudem besaß Libyen eine Menge Öl. Ein arabischer Regierungsbeamter formulierte es einmal so: „Sie können Reue zeigen und sich problemlos auch von einem Mord freikaufen, vorausgesetzt, Sie haben Öl. Die Syrer aber haben nicht diese Art von Öl.“41 Die Einzelheiten des Mehlis-Berichts reichten aus, um im Sicherheitsrat eine neue Resolution zu verabschieden (1636), die Syrien aufforderte, in vollem Umfang mit einem erweiterten Ermittlungsausschuss zusammenzuarbeiten, um seine Rolle bei der Ermordung von al-Hariri sowie bei anderen Morden zu klären. Die Resolution wurde einstimmig angenommen und unter Kapitel VII in die UN-Charta aufgenommen, was bedeutet, dass sie zur Not auch gewaltsam durchgesetzt werden konnte. Hatte al-Hariri am Ende Recht gehabt mit seiner Behauptung, Baschar würde den gleichen Weg einschlagen wie Saddam? Aber der Unterschied zwischen Syrien und Irak überwiegt die Ähnlichkeiten. Obgleich Washington eine Palastrevolution in Damaskus in Erwägung gezogen hatte (eine mögliche Erklärung für den plötzlichen Abgang eines so mächtigen Mannes wie Ghazi Kanaan), verfolgte es doch anders als im Fall Irak einen multilateralen Kurs und warb um möglichst breitgefächerte Unterstützung. Entsetzt vom Blutbad im Irak und voller Furcht, die militärischen Aktionen der USA in Syrien könnten den Konflikt noch verschärfen und die Levante in einen zweiten Balkan verwandeln, verfolgte die arabische Öffentlichkeit die Mehlis-Ermittlungen mit gespannter Aufmerksamkeit. Die Geschichte war teils Verschwörung, teils Heimatepos. Ein echter Thriller, mit allem was dazugehört: Mord (an al-Hariri), erfolgreicher Aufstand (der Libanesen) gegen machtbesessene Unterdrücker (die Syrer) und große Politik (Verhaftung von vier bis dahin sakrosankten Generälen in Beirut). Mindestens ebenso bedeutsam war freilich, dass diese legale UN-Offensive möglicherweise erste rechtstaatliche Entwicklungen einleiten könnte – die nach dem Irak-Fiasko in der Region als wesentlich attraktiver empfunden wurden als jedewede Form von shock and awe. ***
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Wenn es ein einzelnes Ereignis gibt, das den Verlauf der Geschichte verändert hat, dann ist es der Sommerkrieg 2006 zwischen Israel und der Hisbollah. Er begann am 12. Juli mit dem Überfall islamistischer Guerillakämpfer auf eine israelische Grenzpatrouille, bei dem zwei israelische Soldaten als Geiseln genommen und drei weitere getötet wurden. Im nachfolgenden israelischen Vergeltungsschlag, dem 34 Tage andauernden Bombardement des Libanon, ging es freilich um weit mehr als die Befreiung zweier israelischer Geiseln. In gewisser Hinsicht ließe sich der Konflikt interpretieren als weitere Runde im Schlagabtausch zwischen Syrien und Israel, die weite Teile des Libanon seit 29 respektive 22 Jahren besetzt hielten und das Land ungeniert als Schauplatz ihrer Stellvertreterkriege gebrauchten. In dieses Bild passt auch die ungeheuerliche Drohung des israelischen Stabschefs Generalleutnant Dan Halutz „die Uhr im Libanon um zwanzig Jahre zurückzudrehen“ – was ihm mit zahlreichen Luftangriffen und Artillerie-Trommelfeuern gegen Ende des Krieges auch beinahe geglückt wäre: Hunderte von Zivilisten wurden getötet, und auch die zivile Infrastruktur, nach dem Bürgerkrieg 1975–90 mühsam wiederaufgebaut, war restlos zerstört. Doch wie wir sehen werden, wendete dieser Krieg die syrisch-libanesische Gleichung, den fragilen Prozess des politischen Wiederaufbaus, den die Zedernrevolution in Gang gesetzt hatte, ins Gegenteil – und zeichnete Syrien den Weg aus der Isolation ein Stück weit vor. Beide Seiten – die kampfbereite Hisbollah und Israel, das schwere Luftangriffe auf zivile Ziele im Libanon flog – schienen durch das diplomatische Vakuum ermutigt, das sich in der Region aufgetan hatte. Ein bislang wenig beachteter Grund hierfür war das Debakel im Irak. Während Washington den zivilen Aufstand im Libanon kurzerhand als Beweis für „die Freiheit auf dem Vormarsch“ deutete, blieb ein scharfes Vorgehen der USA gegen Syrien aus – und das, obwohl internationaler Konsens darüber bestand, das Assad-Regime für die Ermordung al-Hariris sowie ein Dutzend weiterer prominenter Syriengegner zur Rechenschaft zu ziehen. Syrien wurde gezwungen, sich aus dem Libanon zurückzuziehen, doch die Hisbollah, sein enger Verbündeter, blieb der stärkste Akteur vor Ort. Als der Hamas, der Hisbollah und den schiitischen Islamisten viele Wählerstimmen zuflossen, verlor Washington jede Hoffnung auf Demokratie in der Region. Israel registrierte dies – sowie das zunehmende Unbehagen der sunnitischen Verbündeten Washingtons (Ägypten, Saudi-Arabien und Jordanien) angesichts des Erstarkens der Schiiten – sehr genau: ein günstiger Moment, die Welt davon zu überzeugen, dass die wachsende Macht des Iran eine große Bedrohung darstellte und hinter allem, was sich in der Region bewegte, Teheran stecke. In diesem Sinne war der Sommerkrieg im Libanon eine logische Fortsetzung des Konflikts im Irak – oder, anders ausgedrückt, des „anglo-amerikanischen Nervenversagens“ angesichts der Kräfte, die man dort losgetreten hatte. Die Grenzüberfälle der Hisbollah provozierten Israel, das steht außer Zweifel. Scheich Hassan Nasrallah jedoch, Hisbollah-Führer mit normalerweise großem
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politischem Gespür, interpretierte die internationale und regionale Stimmungslage falsch – wie er nach dem Krieg auch öffentlich zugab. Zudem konnte sich keine der beiden Seiten moralisch rechtfertigten: Sowohl Israel als auch die Hisbollah nutzten Geiselnahmen und Mordanschläge als politisches Instrument und hatten bereits eine regelrechte Tradition im Gefangenenaustausch etabliert. Doch die Hisbollah war nicht nur eine Miliz. Von Anfang an, seit ihrer Gründung nach der israelischen Invasion 1982, hatte sie mit zahllosen Selbstmordanschlägen sowie einem unverwechselbaren Märtyrerkult ihre ganz eigene blutige Handschrift entwickelt und war dabei, parastaatliche Strukturen anzunehmen. Unter Nasrallah wurde die Hisbollah nicht nur zu einer erfolgreichen Widerstandsbewegung, sondern zu einer politischen und gesellschaftlichen Kraft mit kompetenten Kadern und funktionierender kommunaler Verwaltung. Ihre Parlamentsabgeordneten vertraten ihre Wähler geradezu beispielhaft, sie richteten Krankenhäuser und Schulen ein und leisteten mit dem Qard al-Hasan („guter Kredit“) 1984 Pionierarbeit auf dem Gebiet der Mikrokreditwirtschaft.41 Nach dem Abzug Israels im Jahr 2000 und Syriens 2005 aus dem Libanon konnte die Hisbollah entweder vollständig in die Rolle einer nationalen Kraft hineinwachsen oder aber zu einem Teil des Problems werden – sofern sie darauf zielte, sich zur islamistischen Avantgarde der gesamten Region zu machen. Sie beschloss, sich in beiden Rollen zu versuchen. Im Sommerkrieg schien das zunächst gut zu funktionieren, da Israel (nicht zum ersten Mal) die Gewalt maßlos überzog. Unter Ministerpräsident Ehud Olmert und Verteidigungsminister Amir Peretz – beides keine Männer des Krieges, wie sie in der israelischen Regierung gewöhnlich den Ton angaben – bemühte sich Israel offenbar, seine Abschreckungspolitik zu reaktivieren. Dabei schien in Vergessenheit geraten, dass es bis zum Einmarsch in den Libanon 1982 keine Hisbollah gegeben hatte und dass auch der letzte, 17-tägige Angriff auf den Libanon im Jahr 1996 die Hisbollah nicht hatte zerschlagen können. Im Sommerkrieg nun brachten Meldungen über israelische Militärs, die auf Zivilisten zielten und ganze Dörfer in Schutt und Asche legten, die Weltöffentlichkeit gegen das Land auf. Zwar nahmen beide Seiten, Israel und der Libanon, zivile Ziele ins Visier, doch während Israel 159 Tote – 39 Zivilisten und 120 Militärs – beklagte, sprach die Hisbollah auf libanesischer Seite von 250 „Märtyrern“ und rund 1200 zivilen Opfern. Jenseits des Atlantiks stellte die Regierung Bush – mit einsamer Unterstützung ihres britischen Gefolgsmannes Tony Blair – einmal mehr ihre diplomatische Unfähigkeit unter Beweis. In dem irrigen Glauben, die USA (und Israel) könnten mittels Bomben eine bessere Zukunft garantieren, zögerte man einen Waffenstillstand immer wieder hinaus, um Israel Zeit zu geben, die Hisbollah zu zerschlagen. Gleichzeitig versuchten Washington und London Israels unerfüllbare Kriegsziele auf diplomatischem Wege zu erreichen. US-Außenministerin
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Condoleezza Rice beteuerte ungeniert, die Welt sei dabei, „die Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens“ zu erleben. Diese – vor dem Hintergrund des Todesröchelns eines gerade erst wiedererstandenen Libanon – unbedachte Metapher sorgte für einen regelrechten Skandal in der arabischen Welt, unter der Führungselite ebenso wie im arabischen Volk, und begrub den letzten Rest von Ansehen, den die USA in der Region noch hatten. Der Angriff auf den Libanon verlieh der Hisbollah bislang ungekanntes Prestige (selbst unter den Sunniten, die die Schiiten ja traditionell als Götzendiener und die Hisbollah als Marionette des Iran betrachteten) und fügte zugleich der prowestlichen und demokratisch gewählten Regierung von Fouad Siniora tödliche Blessuren zu. Ein Erbe jenes Sommers war auch die Polarisierung, die quer durch die konfessionellen Lager ging: Erstmals seit Ende des Bürgerkriegs gaben die Libanesen alle Zurückhaltung auf und ließen ihren Vorurteilen freien Lauf. Die politische Atmosphäre verdüsterte sich merklich. Ein weiterer dunkler Punkt waren die nie ausgeräumten Verdachtsmomente gegen Syrien im Fall al-Hariri. Nachdem es ihr nicht gelungen war, das Vetorecht zu erwirken, zog sich die Hisbollah aus der Regierung zurück. Dies wurde weithin als Versuch angesehen, die Unterstützung des Libanon für das UN-Tribunal zu unterlaufen, das zur Aufklärung des Mordes an al-Hariri eingesetzt worden war. Selbst als sich mehr als ein Jahr später alle Seiten darauf einigten, Lahoud abzulösen und den Stabschef der Armee, Michel Suleiman, zum Präsidenten zu wählen, beharrten die Hisbollah und ihre Verbündeten auf einer Sperrminoritätsregelung. Im auf den Krieg folgenden Herbst mobilisierten die schiitischen Islamisten ihre Anhänger und legten Sinioras Regierung buchstäblich lahm: Sie bauten Zeltstädte in der Beiruter Innenstadt auf und brachten das öffentliche Leben zum Stillstand. Zum Zeitpunkt der Krise im Mai 2008 war das Parlament volle 18 Monate lang nicht mehr zusammengetreten, und der Libanon war seit sechs Monaten ohne Präsident. Die Polarisierung des Landes schritt fort, und die politische Führungsschicht schien keine Perspektive anbieten zu können – außer dem Selbstmord als Nation. Intrigen und Gewalt weiteten sich aus und erreichten mit einem dreimonatigen Angriff der Armee auf eine islamistische Miliz im Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Nordlibanon ihren Höhepunkt. Diese sogenannte Fatah al-Islam galt weithin als eine der al-Qaida verbundene dschihadistische Bewegung, zumal die meisten ihrer Kämpfer weder palästinensische Flüchtlinge noch Libanesen waren. Genaugenommen handelte es sich – wie bei den al-Ahbash, den mutmaßlichen Hariri-Mördern – um eine bezahlte Killertruppe mit Verbindungen zu syrischen Geheimdiensten. Die Ermordung von General François al-Hajj im Dezember jenes Jahres (er hatte den Kampf von Nahr al-Bared befehligt) ließ sich leicht als ein offener Racheakt darstellen. Doch wer auch immer die tödliche Bombe in Baabda legte – der Zone mit den wohl höchsten Sicherheitsvorkeh-
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rungen im ganzen Land – war Teil eines mächtigen Netzwerks. Im Mai 2008 deutete vieles auf einen wachsenden Einfluss der Hisbollah innerhalb der libanesischen Armee.42 Die Situation spitzte sich zu, nachdem die Regierung Siniora drohte, das geheime Telekommunikationsnetzwerk der Hisbollah zu schließen, und den schiitischen Leiter der Sicherheit am Beiruter Flughafen (einen Hisbollah-Sympathisanten) entließ. Wenngleich die Regierung keinerlei erkennbare Handhabe hatte, die angekündigten Maßnahmen durchzusetzen, sprach Hassan Nasrallah von einer Kriegserklärung. Am Morgen des 9. Mai überrannten seine Truppen zusammen mit der Amal und zusammengewürfelten pro-syrischen Gruppen Westbeirut, schlossen in Besitz von al-Hariri befindliche Medienunternehmen oder steckten sie in Brand und versetzten das sunnitische Establishment und die Regierung Siniora mit dieser vernichtenden Demonstration der Gewalt in tiefste Verunsicherung. Die Militärkommandeure, die nicht das Risiko eingehen wollten, die Truppen entlang konfessioneller Linien zu spalten, hielten sich abseits. Einige Aspekte dieser desaströsen Entwicklungen geben Rätsel auf. Warum reagierte die Hisbollah derart radikal auf Drohungen, von denen jedes Kind wusste, dass sie nicht umsetzbar waren? Die detailgenaue Planung dieses Handstreichs bewies, dass es keine spontane Reaktion auf eine Provokation war. Oder umgekehrt: Waren die Regierungsmaßnahmen ein Versuch, die Pattsituation zu durchbrechen, die Hisbollah auszuräuchern und ihren quer durch alle Gruppierungen reichenden Nimbus als Widerstandsbewegung zerstören? Nicht klarer wurde das Bild durch die Ermordung Imad Mughniyehs im Februar in Damaskus. Die Bombe, die diesen höchst undurchsichtigen und gefährlichen Hisbollahführer – 25 Jahre lang stand Mughniyeh auf der US-Liste der meistgesuchten Terroristen – tötete, explodierte in einem streng bewachten und gemeinhin als absolut sicher geltenden Teil von Damaskus. Wer immer der Täter war – und die meisten Finger deuteten auf Israel –, muss Unterstützung von höchster Ebene gehabt haben. Wie auch immer, die Hisbollah (und der Iran) verloren jegliches Vertrauen in ihre syrischen Verbündeten und verstärkten folgerichtig ihre Kontrolle über Logistik und Zugang zum Beiruter Flughafen. Immerhin machten die Ereignisse im Mai sowie der gesamte Lauf der Ereignisse seit Beginn der Auseinandersetzung mit Syrien 2004 zwei Dinge deutlich: Erstens schien die Tiefe, in die libanesische Politiker das Land zu ziehen vermochten, keine Grenzen zu kennen. Ihr Machtkampf war in fataler Weise an die alte Feindschaft zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen gekoppelt, die die Invasion der USA im Irak zum Ausbruch gebracht hatte (die libanesischen Christen hielten sich während der Kämpfe im Mai in der Zuschauerrolle). Und zweitens hatten die USA im Zuge des Kriegs 2006 eine demokratische gewählte Regierung, die ihre Fühler nach dem Westen ausstreckte, in fataler Weise unterminiert und sie als Kollaborateur Israels hingestellt, was das Land hoffnungslos spaltete. Die Regierung Bush, die sämtliche Ereignisse durch die
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Brille des „Antiterrorkriegs“ sah, und der regionale Konflikt, zu dessen Lösung Washington nicht das geringste beitrug, zogen den libanesischen und arabischen Reformern und Demokraten regelrecht den Boden unter den Füßen weg. Andere arabische Regierungen in der Region, Freund wie Feind, nahmen dies aufmerksam zur Kenntnis. Das Irak-Fiasko hatte sie zu dem Schluss kommen lassen, dass es sich bei Bush und seinen Verbündeten um gefährliche Abenteurer handelte. Jetzt sahen sie sich in ihrer Sicht bestätigt, dass die USA Israel stets bedingungslos unterstützen und sämtliche Folgen aus den Aktionen ihrer Verbündeten als unwichtig beiseiteschieben würden. Wir werden die Israel-Politik der USA im nächsten Kapitel näher beleuchten. Am 21. Mai 2008 setzte die politische Führungsschicht des Libanon (hinter verschlossenen Türen in einem Hotel in Doha und unter der Vermittlung Qatars) der Krise ein vorläufiges Ende. Michel Suleiman wurde rechtmäßig zum Präsidenten gewählt, die Maßnahmen der Regierung gegen die Hisbollah wurden zurückgenommen, und die neue Regierung räumte der Opposition eine Sperrminorität ein. Obwohl in den Augen der Libanesen unwiderruflich herabgesetzt, blieb die Hisbollah stärkste Kraft im Land. Ihre Mai-Aktionen gaben den internen Kämpfen neuen Auftrieb und könnten durchaus sunnitisch-dschihadistische Gegenschläge herausfordern. Gut möglich, dass sich die Armee bei der nächsten Krise spalten und es zu rivalisierenden Regierungen kommen wird – eine Wiederholung der extremen Gewalttätigkeiten, wie sie die letzten beiden Jahres des Bürgerkriegs 1988–90 prägten, wäre dann nicht ausgeschlossen. Die Frage, wer den Libanon regiert, wurde nur aufgeschoben. Für Syrien hingegen sah es besser aus. Die Lösung der Mai-Krise brachte das Land zurück in die Politik. Frankreich, inzwischen unter Präsident Nicolas Sarkozy, lud Baschar al-Assad (der unter Präsident Chirac persona non grata gewesen war) auf einen Regionalgipfel nach Paris ein und im Anschluss daran zu den Feierlichkeiten zum Tag der Bastille im Juli 2008. Paris (und später auch London und Berlin) lobten Damaskus für seine Unterstützung zur Lösung der Mai-Krise, die Syrien in jedem Fall zugutegekommen war. Unterdessen war al-Assad unter türkischer Vermittlung in Friedensverhandlungen mit Israel eingetreten. Die Regierung al-Assad hatte sich aus ihrer Isolierung gelöst. Doch während die syrische Autokratie gefestigt wirkte, blieben die schwache Demokratie des Libanon und seine Zukunft als Staat gefährdet.
VII Der israelisch-palästinensische Konflikt
Während Israel im Sommerkrieg 2006 die schiitischen Gebiete des Libanon in Schutt und Asche legte, rechtfertigten US-Präsident George Bush, seine Außenministerin Condoleezza Rice und der britische Premier Tony Blair unermüdlich ihr Zögern, einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern. Der Konflikt, so ihre wiederholte Argumentation, würde wieder aufflammen, sollte die Diplomatie das Problem nicht endlich bei den Wurzeln packen. Betrachtet man das Problem genauer, wird freilich mehr als deutlich, dass die USA und ihre Verbündeten zunehmend weniger in der Lage waren, die Wurzeln des Nahostkonflikts nicht nur zu erkennen, sondern auch anzuerkennen oder sich ihrer gar anzunehmen. Der Vorwurf, Washington & Friends würden in ihrem sehr einseitigen Umgang mit Israelis und Arabern mit zweierlei Maß messen, wird der Sache nicht wirklich gerecht. Gemessen an den nationalen Interessen – denen der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten sowie denen Israels und der Araber im Allgemeinen und der Palästinenser im Besonderen – legen sie schlichtweg die falschen Maßstäbe an. Das für sich genommen wichtigste Beispiel solch falscher Maßstäbe ist die stillschweigende Billigung der Forderungen Israels vonseiten der USA. Einerseits beharrt Israel auf der Anerkennung seines Existenzrechts durch die Araber, erklärt andererseits aber die (ganze oder teilweise) illegale Besetzung des Westjordanlands und des arabischen Ostjerusalem für rechtmäßig. Noch einmal: Israels Existenzrecht ist unabdingbar, aber das Land hat keinerlei Recht, in besetzten Gebieten Siedlungen zu errichten. Indem Israel diese beiden Dinge in einen Topf wirft, setzt es sein Existenzrecht aufs Spiel. Am klarsten kommt dies in der Forderung Israels zum Ausdruck, dass PLO und Hamas ein Israel anerkennen, das seine eigenen Grenzen niemals definitiv festgelegt hat – ja, diese seit Ausrufung des Staates schrittweise immer weiter verschiebt – und das nicht aufhört, auf palästinensischem Boden Siedlungen zu errichten. Diese Verquickung zweier gänzlich getrennter Angelegenheiten trat deutlich zutage, als die damalige israelische Premierministerin Golda Meir von König Hussein wissen wollte, ob Jordanien Israels Recht, im Westjordanland zu sein, nun anerkenne oder nicht. Das war bei einem Geheimtreffen Anfang 1974 in einem Wohnwagen an der gemeinsamen Grenze. Nach Avi Shlaim fanden in den drei Jahrzehnten zwischen 1963 und 1994 insgesamt 58 geheime Treffen
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zwischen Israel und Jordanien statt, 45 davon unter persönlicher Anwesenheit des jordanischen Königs, demjenigen arabischen Machthaber, der die größte Entschlossenheit zeigte, ein Ende des israelisch-arabischen Konflikts herbeizuführen. Nicht ein einziges Mal jedoch zog Israel einen vollständigen Rückzug aus dem Westjordanland und dem arabischen Ostjerusalem in Betracht, dessen „Kolonisierung“ mit jüdischen Siedlern von sämtlichen israelischen Regierungen seit der Eroberung im Sechstagekrieg 1967 ständig vorangetrieben wurde.1 Im Frieden mit Ägypten 1979 zeigte sich Israel (nach langem Hin und Her) bereit, aus der 1967 eroberten Halbinsel Sinai abzuziehen. Im Friedensvertrag von 1994 mit Jordanien stimmte Israel zu, das in den 1960er-Jahren vereinnahmte Ostjordanland zurückzugeben, einschließlich der im Krieg von 1967 eroberten Fläche, die größenmäßig dem Gazastreifen entsprach. Am Ende der zähen und letztlich fruchtlosen Verhandlungen mit Syrien (das Israel niemals anerkannt hat) in den Jahren 1995 bis 2000 bot Israel an, die 1967 eroberten und im Yom-Kippur-Krieg 1973 gegen einen Beinahesieg der Syrer blutig verteidigten Golanhöhen zu räumen. Israel verzichtete zudem auf seine Enklave im Südlibanon (zwölf Prozent der libanesischen Landfläche), ohne eine Gegenleistung zu verlangen, und zog sich 2000 unter Reibungsverlusten mit der Hisbollah, seinem militärisch erfolgreichsten Gegner, zurück. Zu keinem Zeitpunkt jedoch war Israel bereit, ein ausreichend großes Gebiet des Westjordanlands und Ostjerusalems an die Palästinenser zurückzugeben, um einen dauerhaften Frieden mit den Palästinensern zu besiegeln, der seinerseits einen existenzfähigen Palästinenserstaat ermöglichen würde. Natürlich gab es im Laufe dieses scheinbar endlosen Konflikts Fehler auf beiden Seiten, und die verschiedenen US-Regierungen, die nur in seltenen Fällen als aufrichtige Mittler zwischen den beiden Parteien fungierten, tragen daran eine nicht unerhebliche Mitschuld. Dem war jedoch nicht immer so. In den Anfangsjahren des Staates Israel war dessen Führung unter David Ben Gurion gegenüber den USA ebenso misstrauisch wie umgekehrt Washington gegenüber der Streitlust Israels. Israel unterhielt enge Beziehungen zu den alten Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien und verfolgte die amerikanischen Anstrengungen, Allianzen mit den postkolonialen arabischen Staaten zu schmieden (die nicht nur über Erdöl verfügten, sondern auch als mögliche Bollwerke gegen Vorstöße der Sowjetunion galten), mit großer Skepsis. Israels verlässlichster Rüstungslieferant in den 1950er- und 1960er-Jahren war Frankreich, was zweifelsohne auch wirtschaftliche Motive hatte, hauptsächlich aber daran lag, dass Frankreich in Feindschaft mit Ägypten lag, das seinerseits die FLN-Rebellen in Algeriens Unabhängigkeitskrieg unterstützte (wobei Nasser nur eine unbedeutende Rolle spielte, die Israel aber geschickt überzeichnete). So war es letztlich Frankreich, das Israel 1957 mit einem 24-Megawatt-Reaktor in Dimona die Technologie lieferte, die dem Land schließlich den strategischen
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Sprung zur Atommacht ermöglichte – und die Geopolitik einer Region veränderte, die ohnehin dabei war, sich zum gefährlichsten Pulverfass der Welt zu entwickeln. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Aggression Israels gegen seine arabischen Nachbarn, die seit Ende der 1980er-Jahre von den sogenannten Neuen Historikern dokumentiert wird – israelischen Wissenschaftlern, die das hegemoniale zionistische Geschichtsbild ihres Landes einer kritischen Revision unterziehen. Avi Shlaims Buch Hinter der Eisernen Mauer zeigt exemplarisch, wie Israel seit Ben Gurion jede Friedensgeste der Araber als falsche Beschwichtigungspolitik abtat und seine Vergeltungs- und Provokationspolitik weiter verfolgte, mit dem Ziel, die Grenzen des neuen Staates auszuweiten, die man, damals wie heute, für überaus verletzlich, wenn nicht gar für nicht verteidigbar hielt. 1953 und 1955 griff Ben Gurion mit Rückendeckung Moshe Dayans – und wie üblich unter dem Vorwand arabischer Infiltration – Jordanien, Ägypten und Syrien über die Waffenstillstandslinien von 1948/49 hinaus an. Befehligt wurden die Operationen von Ariel Sharon, einem Offizier, der sich schon früh einen Namen als Kriegstreiber gemacht hatte. Obwohl Israel im UN-Sicherheitsrat bereits unter Beschuss geraten war (nicht zuletzt vonseiten der USA), weil es versuchte, das Wasser des Jordan aus der entmilitarisierten Zone abzuleiten, machte Sharon im Oktober 1953 das jordanische Dorf Qibya dem Erdboden gleich – 45 Häuser wurden in die Luft gesprengt, 69 Zivilisten fanden den Tod, darunter viele Frauen und Kinder.2 In Ägypten plante ein israelischer Spionagering im Juli 1954 Bombenanschläge auf Kairoer Kinos, mit dem Ziel, eine Krise auszulösen, die die geplante Übereinkunft zwischen Großbritannien und Ägypten hinsichtlich des Rückzugs britischer Truppen vom Suezkanal torpedieren würde. Dennoch begannen Nasser und Moshe Sharet (der um Frieden bemühte israelische Ministerpräsident, der David Ben Gurion zwischenzeitlich abgelöst hatte), über Gesandte und einen persönlichen Briefwechsel Möglichkeiten zur Entspannung auszuloten. Doch auch diese Bemühungen wurden torpediert, als Sharon nach Ben Gurions Rückkehr als Verteidigungsminister im Februar 1955 einen Fallschirmjägerangriff auf Gaza befehligte, bei dem die ägyptische Kommandantur zerstört wurde. Im Dezember des gleichen Jahres betrieb Sharon, ohne vorhergegangene Provokation, einen vernichtenden Überraschungsangriff auf syrische Stellungen am Nordostufer des Sees Genezareth in Galiläa.3 Die Regierung Eisenhower verurteilte diese Aggression im UN-Sicherheitsrat aufs Schärfste und brach die Verhandlungen mit Israel über ein mögliches erstes amerikanisches Waffenpaket ab. Während Israel alles daran setzte, das in seinen Augen bestehende regionale Patt zu brechen, das durch den unklaren Ausgang der Kämpfe 1948/49 entstanden war, zeigen von den sogenannten Neuen Historikern ans Licht gebrachte israelische Aufzeichnungen sowie arabische Dokumente aus dem Krieg von 1967, dass Israels arabische Nachbarn
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großenteils versuchten, die Lage an den gemeinsamen Grenzen zu beruhigen und einer Infiltration durch palästinensische Flüchtlinge weitestgehend vorzubeugen. Die „Palästinenserfrage“, soweit sie zu dieser Zeit bereits existierte, wurde gemeinhin als Flüchtlingsproblem behandelt. Washington distanzierte sich zwar von der Kriegslust Israels, bezog aber nie konkret Stellung zu den politischen, geschweige denn nationalen Rechten der Palästinenser. Als Reaktion auf den Gaza-Überfall von 1955 begann jedoch Nasser, palästinensische Flüchtlinge als Freischärler (Fedajin) auszubilden und zu bewaffnen, um gegen Israel zurückzuschlagen. Unterstützung suchte er beim Sowjetblock und sicherte sich umfangreiche Waffenlieferungen aus der Tschechoslowakei. Israels Politik holte den Kalten Krieg in den Nahen Osten und zeichnete somit einen neuen und zerstörerischen Kurs für die Region vor. Gegenüber Nassers Ägypten strebte Israel nun ganz offen einen Regimewechsel an. Der Sinai-Feldzug von 1956, ein Komplott zwischen Israel, Frankreich und Großbritannien gegen Ägypten, das im Protokoll von Sèvres vom Oktober des gleichen Jahres festgehalten wurde, enthüllte die Reichweite von Ben Gurions territorialen Plänen. Genau wie Ariel Sharons Überfall auf den Libanon 1982 – oder auch die US-Invasion im Irak 2003 – war das Ganze nichts Geringeres als der Versuch, den Nahen Osten mit Gewalt neu zu ordnen. Auf dem Treffen im Pariser Vorort Sèvres vom 22. bis 24. Oktober 1956 machte Ben Gurion seine Vorstellungen deutlich: Das haschemitische Königreich Jordanien, das Israel als nicht überlebensfähigen Puffer ansah, würde aufgeteilt werden – der Irak würde das Ostjordanland übernehmen, Israel das Westjordanland. Auch der Libanon würde gemäß einem Plan, den Ben Gurion zusammen mit Moshe Dayan 1955 ausgearbeitet hatte, aufgeteilt werden, wobei Israel den Süden bis zum Litani-Fluss bekommen und jenseits des Litani einen (verbündeten) maronitisch-christlichen Staat erschaffen helfen würde. Gleichzeitig sollte an der Hauptfront (mit britisch-französischer Unterstützung) die ägyptische Armee zerstört werden. Nasser würde gestürzt und Israel daraufhin die Halbinsel Sinai und die Straße von Tiran übernehmen. Natürlich beinhaltete dieser Plan, wie Ben Gurion den verblüfften ehemaligen Kolonialmächten gestand, ein „visionäres“ Element. Das Protokoll von Sèvres selbst legte die eher begrenzten Ziele des Umgangs mit Nasser fest. Dennoch darf man Ben Gurions Vision eines unbegrenzten Expansionismus nicht ignorieren – insbesondere angesichts der israelischen Einnahme des Sinai, Gazas, der Westbank und der Golanhöhen 1967 –, zumal Israel damals in aller Welt weithin als jüdischer David im Kampf gegen einen arabischen Goliath betrachtet wurde. Israels Gründungsvater schwebte eine massive Expansion vor – bis hin zum Suezkanal und zum Roten Meer sowie bis zum Jordan und zum Litani. In seiner Siegesrede nach der Einnahme des Sinai und der Straße von Tiran sprach er gar von einem „dritten Königreich Israel“.4
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Wie wir wissen, zwang Präsident Eisenhower die Briten und Franzosen – und letztlich auch Israel – zum Rückzug und drohte Israel sogar mit dem Ausschluss aus den Vereinten Nationen, was für das Land den Verlust seiner mühsam errungenen Legitimität bedeutet hätte. In der Zukunft würde es für US-Diplomaten reichlich Arbeit in der Region geben, doch eine Überprüfung der wahren Absichten Israels sollte erst nach Ende des Kalten Krieges stattfinden. *** Da der Kalte Krieg inzwischen die gesamten internationalen Beziehungen erfasst hatte und sich im Nahen Osten replizierte (zwischen den Arabern untereinander ebenso wie zwischen ihnen und Israel), konnten die Israelis seit Präsident Kennedy und Johnson ihre Ziele in Washington und den wichtigsten westlichen Gremien weitgehend durchsetzen. Seit Kennedy wurde auch der Trend offensichtlich, dass Amerikas finanzielle Unterstützung und Waffenlieferungen an Israel die Führung in Tel Aviv in ihrem kompromisslosen Vorgehen bestärkten. Aus dem israelischen David wurde den Worten des damaligen Ministerpräsidenten Levi Eshkols zufolge ein „armer, kleiner Samson“, der auf seiner unvergleichlichen Stärke ebenso beharrte wie auf seiner einzigartigen Verletzlichkeit.5 Ich will hier nicht nochmals die vieldokumentierte Geschichte des Krieges von 1967 aufrollen. Er war ein Fiasko für die Araber. Dem in den 1950er-Jahren etablierten Muster ständiger Provokationen und Scharmützel gemäß – beispielsweise startete etwa Israel einen neuen Versuch, das Wasser des Jordan abzuleiten, während Ägypten kurzerhand die Straße von Tiran schloss – ließen sich die Araber (diesmal zusammen mit Syrien) auf ein geradezu kriminelles, unverantwortliches Machtspiel mit überdimensionierten Forderungen und Drohgebärden ein. So wurde auf dem Arabischen Gipfel in Kairo im Januar 1964 die Liquidierung des Staates Israel gefordert und eine vorgeblich vereinigte militärische Kommandostruktur aufgestellt, um diese Drohung auch in die Tat umzusetzen. Israel, das sich dadurch in seiner Existenz bedroht sah, spielte keine Spielchen. Es entschied sich für einen vernichtenden Erstschlag und zerstörte die gesamte gegnerische Luftwaffe. Ohne Deckung aus der Luft brachen die arabischen Armeen zusammen, und die israelischen Truppen unter Moshe Dayan eroberten so viel Land, wie sie konnten.6 Auf den Krieg folgte die Diplomatie. Die UN-Deklaration 242 verlangte den „Rückzug der Streitkräfte Israels aus [den] im jüngsten Konflikt besetzten Gebieten“. Die Auslassung des bestimmten Artikels – den besetzten Gebieten – ist als Triumph der britischen Verdunkelungstaktik zu werten, der das genaue Ausmaß des Rückzugs vage ließ. Die Araber mochten es als einen Rückzug Israels aus dem gesamten besetzten Gebiet interpretieren, doch Israel strebte dezidiert eine Konsolidierung seiner Kontrolle über das Westjordanland und Ostjerusalem an; diese wurden denn auch umgehend annektiert und gleichzeitig so ausge-
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weitet, dass angrenzende arabische Dörfer der Westbank gleich mit eingeschlossen waren. Das Desaster der arabischen Armeen warf die PLO und ihre Fedajin-Guerillas an die Front. Und es zwang sämtliche nachfolgenden arabischen Führer zur Aufbietung all ihrer Kräfte. Der von Ägypten (jetzt unter Anwar as-Sadat) und Syrien (jetzt unter Hafez al-Assad) begonnene Oktoberkrieg von 1973 wurde von arabischer Seite mit unterschiedlichen Zielen geführt: Syrien wollte die Golanhöhen zurückerobern und die Niederlage von 1967 umkehren; Sadats Ziel war, weit genug in den Sinai vorzustoßen, um die Ehre seiner Armee wiederherzustellen und eine Position zu erlangen, die ausreichte, um Israel zu Verhandlungen zu bewegen. Nachdem er Syrien 1973 militärisch sich selbst überließ, gelang ihm dies letztlich auch: Unter Vermittlung von US-Präsident Jimmy Carter wurde der Friedensvertrag von Camp David ausgehandelt und 1979 unterzeichnet. Doch damit ließ Sadat wiederum die Palästinenser politisch in der Luft hängen. Der inzwischen an der Macht befindliche israelische Likud-Premier Menachem Begin kannte nicht nur keine Kompromisse, er war auch scharfsinnig genug zu erkennen, dass es, wenn Ägypten als größter arabischer Staat mit der größten Armee erst einmal aus dem Spiel wäre, keine denkbare Kombination arabischer Kräfte mehr geben würde, die Israel mit konventionellen Mitteln gefährlich werden könnte. Er sah Camp David nicht als Chance für einen langfristigen Frieden, sondern benutzte es, um Israels Griff auf das Westjordanland zu festigen und verschärft gegen seine Nachbarn vorzugehen. Im Sommer 1981 zerstörte die israelische Luftwaffe den irakischen Atomreaktor Osirak nahe Bagdad, und im Sommer darauf startete Sharon eine groß angelegte Invasion im Libanon. Mittlerweile machte Menachem Begin das gesamte erweiterte Jerusalem zur Hauptstadt Israels. Bereits im Oktoberkrieg 1973 hatte Henry Kissinger, Präsident Nixons Sicherheitsberater und damals auch US-Außenminister (der den Nahostkonflikt durch die Brille des Kalten Krieges sah) in Folge vier Vorschläge Jassir Arafats abgewiesen, in denen die PLO Bereitschaft signalisierte, das Existenzrecht Israels anzuerkennen und mit Israel in Friedensverhandlungen zu treten. Ein Angebot machte die PLO im Sommer 1973 über Richard Helms, damals US-Botschafter im Iran. Ein weiteres folgte über König Hassan von Marokko, der im August ein Treffen mit Arafat zu arrangieren anbot. Ein drittes unterbreitete man über einen Mittler in Beirut vier Tage nach Kriegsbeginn, und ein viertes kam kurz nach Kriegsende am 23. Oktober. Angesichts solcher Beharrlichkeit entsandte Kissinger schließlich Vernon Walters, Vizedirektor der CIA, zu einem Treffen mit Palästinenservertretern nach Rabat, allerdings mit der ausdrücklichen Anweisung, die Gespräche im Sande verlaufen zu lassen. Aus Kissingers Sicht war die PLO „für die UN eine Flüchtlingsorganisation, für die USA und Westeuropa eine Terrorvereinigung, für die Sowjetunion eine günstige Gelegenheit und für die arabische Welt ebenso Inspiration wie Ärgernis“. Als hartgesottener Realist verdächtigte er
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Arafat, Jordanien zu einem Stützpunkt für die Rückeroberung Gesamtpalästinas ausbauen zu wollen. Er sah die Gefahr, dass die PLO sich mit der Zeit und im Laufe einer fortgesetzten Besetzung stärker etablieren würde, was die Behauptung unterlaufen könnte, ein gemäßigter Kurs würde „palästinensische Gebiete wieder zurück unter arabische Kontrolle bringen“. Doch zunächst hatte er Wichtigeres zu tun. Walters, so stellte er mit Genugtuung fest, „spielte wie vorgesehen auf Zeit“.7 Dieses „auf Zeit spielen“ zog sich über 15 Jahre hin, bis zum Beginn der ersten Intifada. Die PLO, das muss der Fairness halber gesagt werden, tendierte zu einer notorischen Wechselbadtaktik; insbesondere Arafat verkörperte eine Mehrdeutigkeit, die schwer zu greifen war. Jedenfalls brachten auch weitere handfeste Vorschläge der PLO kein Vorankommen, nicht einmal dann, als Arafat im November 1988 im Palästinensischen Nationalkongress (PNC) in Algier – einer Art palästinensischem Exilparlament – für die Anerkennung der Legitimität eines israelischen Staates eine historische Mehrheit gewann. Mit diesem Beschluss wurden sämtliche wichtigen UN-Resolutionen anerkannt, einschließlich der Sicherheitsratresolutionen 242 vom 22. November 1967 und 338 vom 22. Oktober 1973. Das Ganze lief auf eine politische Gesamtvereinbarung unter internationalem Mandat hinaus: (von Israel 1967 erobertes) Land gegen Frieden – womit die Basis für eine Zweistaatenlösung im israelisch-palästinensischen Konflikt gelegt war. Washington brauchte freilich eine ganze Weile, um zu dieser Interpretation der Resolutionen 242 und 338 zu gelangen. Während die Regierung Carter (1977–81) mit einer Art palästinensischer Selbstbestimmung im Westjordanland und in Gaza kokettierte, hielt die Reagan-Administration (1981–89) an der Überzeugung fest, dass die Rechte der Palästinenser bestenfalls auf eine wie auch immer geartete Autonomie unter Oberaufsicht Jordaniens hinauslaufen dürften. Doch diese Haltung fand nirgendwo Unterstützung: König Hussein lehnte die Rolle rundweg ab, Arafat und die PLO zogen den Gedanken nicht einmal in Erwägung, und Israel wies ohnehin alles entschieden zurück. Unter George H. W. Bush (1989–93) kam mit James Baker ein Außenminister ins Amt, der den arabisch-israelischen Konflikt so unparteiisch anging wie kaum einer vor ihm. In der unmittelbaren Folge des Golfkriegs von 1991 unternahm er den Versuch, einen Friedensprozess in Gang zu bringen und brachte in der Konferenz von Madrid alle beteiligten Länder an den Verhandlungstisch. Die Palästinenser, die sich nicht offen mit der PLO identifizieren wollten, waren in Madrid mit einer Gemeinschaftsdelegation mit Jordanien vertreten, und die Rahmenbedingungen der Konferenz waren klar formuliert: Es ging um „Land für Frieden“, basierend auf den UN-Resolutionen 242 und 338. Jitzchak Shamir, der nationalistisch orientierte israelische Ministerpräsident, lehnte die gesamte Grundlage der Konferenz ab und beharrte darauf, dass der Konflikt rein gar nichts mit Land zu tun habe, sondern einzig mit der arabischen Weigerung, Israels Legitimität
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anzuerkennen. Wieder einmal warf Israel sein Existenzrecht mit dem Recht in einen Topf, das Westjordanland und das arabische Ostjerusalem zu behalten. Doch Baker und Bush senior hielten an ihrem Standpunkt fest, und Shamir musste 1992 eine schwere Wahlniederlage gegen Jitzchak Rabin und die LabourPartei einstecken. Kurz darauf begannen parallel dazu erste Geheimverhandlungen zwischen Israel und der PLO, die zum Friedensabkommen von Oslo führten, das 1993 mit einem Meilenstein endete – der „Prinzipienerklärung über die vorübergehende Selbstverwaltung“. Erstmals erkannten die beiden Parteien einander offiziell an und zeichneten eine schrittweise Annäherung an eine palästinensische Selbstbestimmung in nicht näher ausgewiesenen Teilen der Westbank vor. Bis dato ungelöste Fragen – der endgültige Grenzverlauf Israels (und damit der künftigen Palästinensergebiete), die Zukunft Jerusalems und der jüdischen Siedlungen in besetzten Gebieten sowie das Schicksal von über fünf Millionen palästinensischen Flüchtlingen, die durch die Gründung des Staates Israel und durch den Krieg von 1967 ihre Heimat verloren haben – wurden auf spätere Verhandlungen verschoben, die stattfinden sollten, sobald ein Interimsabkommen über das Westjordanland und den Gazastreifen den Palästinensern für Teile dieser Gebiete autonome Regierungskompetenzen zugesprochen hatte. Warum die Osloer Verhandlungen (1993–95) und der Versuch der Regierung Clinton im Jahr 2000, bei einem Treffen in Camp David doch noch eine Übereinkunft zu finden, scheiterten, sowie die Gründe für das Stillschweigen der Regierung Bush zu Israels Versuchen, den Konflikt gewaltsam zu beenden und den Palästinensern die Bedingungen zu diktieren, werden wir an anderer Stelle noch näher betrachten. Hier genügt es zu unterstreichen, dass Oslo nichtsdestoweniger einen Wendepunkt markierte. Israel erkannte die PLO an. Und es erkannte auch an, dass die Palästinenser im ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina politische und (wenn auch noch genauer zu bestimmende) nationale Rechte besitzen. Die PLO ihrerseits anerkannte formell – mit Rückhalt des PNC aus der Konferenz von Algier 1988 – eine Zweistaatenlösung an, die das ehemalige Mandatsgebiet Palästina aufteilen würde. Überdies akzeptierte die PLO – zum Entsetzen Hunderttausender Palästinenserflüchtlinge –, dass die Gebiete, die man 1948 verloren hatte, für immer verloren waren. Man würde den Staat auf dem verbleibenden Gebiet errichten müssen. Zum Zeitpunkt der britischen Balfour-Deklaration 1917, die dem jüdischen Volk eine „nationale Heimstätte“ in Palästina versprach, machten Juden nicht einmal ein Zehntel der ortsansässigen arabischen Bevölkerung aus. Nach der Niederschlagung des arabischen Aufstands gegen die britische Herrschaft sowie infolge des jüdischen Einwandererstroms 1936–39 und Israels Triumph im Unabhängigkeitskrieg von 1948 (für die Palästinenser bis heute nakba, eine „Katastrophe“) besaß Israel 78 Prozent des Mandatsgebiets Palästina. Das war deut-
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lich mehr als die rund 55 Prozent des Palästinensergebiets, die der UN-Teilungsplan von 1947 vorsah, den die Araber ohne Diskussion abgelehnt hatten. Im Oslo-Abkommen akzeptierte die PLO, dass Israel alle Gebiete innerhalb seiner Grenzen von vor 1967 behielt, forderte jedoch die verbleibenden 22 Prozent, die im Sechstagekrieg eingenommen worden waren – das Westjordanland, das arabische Ostjerusalem und zusätzlich den Gazastreifen –, für seinen eigenen unabhängigen Staat. Damit wäre der Konflikt ein für allemal beigelegt. Oslo ermöglichte Jassir Arafat und der PLO die Rückkehr von Tunis nach Palästina. Tunis war die letzte Station eines langen Exils an wechselnden Orten gewesen, das sich an den Rückzug aus Beirut während der israelischen Invasion 1982 anschloss. In den Augen der meisten, wenn nicht gar aller Palästinenser sollte Oslo dem Drama und der Ungerechtigkeit von 1948 ein Ende bereiten, das Kapitel einer historischen Niederlage schließen und den Beginn einer neuen Ära einläuten. Es sollte ein historischer Kompromiss werden. Doch es kam anders. *** Das politische und diplomatische Versäumnis, nach einer Lösung dafür zu suchen, wie (oder ob überhaupt) das Heilige Land zwischen Arabern und Juden aufgeteilt werden könne, zeugt von Verantwortungslosigkeit sowohl auf westlicher als auch auf arabischer und jüdischer Seite – insbesondere gegenüber künftigen Generationen, die sich mit zunehmend brutaleren Versuchen auseinandersetzen werden müssen, das Problem ein für allemal zu lösen. Dieses Versäumnis ist umso überraschender, als eigentlich klar auf der Hand liegt, wie eine solche Einigung aussehen könnte. Die Lösung findet sich in den Rahmenbedingungen, die von US-Präsident Bill Clinton am 23. Dezember 2000 und in Dutzenden von Gesprächen zwischen israelischen und palästinensischen Unterhändlern sowie in der nachfolgenden Genfer Friedensinitiative und in der Annahme der Kernpunkte dieses Entwurfs durch die Arabische Liga auf dem Gipfel in Beirut im März 2002 festgelegt wurden. Die Beiruter Friedensinitiative forderte ein Ende des arabisch-israelischen Konflikts unter vollständiger Anerkennung Israels durch die Araber und eine Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Parteien. Im Gegenzug sollte Israel sich aus den 1967 besetzten Gebieten zurückziehen. Dies bedeutete einen Palästinenserstaat auf nahezu der gesamten besetzten Westbank und in Gaza, mit dem arabischen Ostjerusalem als Hauptsstadt sowie das, was der arabische Friedensplan vorsichtig „eine gerechte Lösung“ für die palästinensischen Flüchtlinge nennt – d. h. (für die überwältigende Mehrheit) eine angemessene Kompensation anstelle einer Rückkehr an ihre Herkunftsorte. Politisch entscheidend ist, dass dieses arabische Angebot als Rezept zur Lösung des Konflikts im Herzen des Nahen Ostens noch nie auch nur ausprobiert wurde. Oslo wies zögerlich-hoffnungsvoll in diese Richtung, indem es den Weg
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zu einer endgültigen Lösung auszuleuchten versuchte. Doch die Vereinbarungen von 1993–95 verliefen im Sand, lange bevor sie als gescheitert erklärt wurden. Schuld daran war in erster Linie Israels Überzeugung, es könne weiterhin jüdische Siedlungen auf arabischem Land errichten, ohne dass die Palästinenser in irgendeiner Weise darauf reagierten. Die größte Erweiterung dieser unrechtmäßigen Siedlungen, das ist wichtig, geschah zur Hoch-Zeit des Osloer Friedensprozesses. Unter den Labourregierungen der Jahre 1992 bis 1996, unter Führung von Jitzchak Rabin und Shimon Peres, stieg die Zahl der Siedler im Westjordanland um fünfzig Prozent an – das Vierfache der Wachstumsrate der Bevölkerung im eigentlichen Israel. Als Benjamin Netanjahu 1996 ins Amt kam, trat er mit der offen ausgesprochenen Absicht an, Oslo ein Ende zu bereiten, und witzelte, man könne wohl kaum von ihm erwarten, dass er in der Siedlungsfrage weniger tue als seine nobelpreisgekrönten Vorgänger. Das arabische Ostjerusalem, das Herz des gesamten Siedlungsunterfangens, wurde im Laufe der Zeit von vier auf enteignetem arabischem Land errichteten Siedlungen umschlossen: Giv’at Zeev nördlich der Stadt, dem riesigen Ma’ale Adumin im Osten sowie Efrat und Gush Etzion im Süden bzw. Südwesten. Jede Regierung seit Oslo hat diesen Siedlungsgürtel erweitert. Rechte wie linke Parteien nutzten Restriktionen im Häuser- und Siedlungsbau, die die natürliche Expansion der palästinensischen Bevölkerung behindern (jedwedes Bauvorhaben der Araber, gleich welcher Art, wurde gestoppt oder zerstört), und diskriminierende Niederlassungsbewilligungen dazu, um die Palästinenser zurückzudrängen und eine jüdische Mehrheit im arabischen Osten der Stadt zu etablieren – was, wie Jerusalems damaliger Oberbürgermeister Ehud Olmert konstatierte, 1996 erreicht war. Ariel Sharon verkündete stolz: „In Jerusalem haben wir Tatsachen gebaut und geschaffen, die nicht mehr geändert werden können.“8 Natürlich werden wir nie wissen, ob es anders gekommen wäre, wäre Jitzchak Rabin nicht im November 1995 von einem jüdischen Fundamentalisten ermordet worden. In Kapitel II haben wir gesehen, wie Arafat sich während der Oslo-IIGespräche von israelischen Unterhändlern übervorteilen ließ, deren Taktik vorwiegend darin bestand, den PLO-Führer von fähigen Beratern fernzuhalten. Drei Tage vor dem Mord an Rabin legten Yossi Beilin, der friedfertigste Unterhändler Israels, und Mahmoud Abbas (der spätere Nachfolger Arafats) den Entwurf für einen „endgültigen Status“ vor, der den Palästinensern gewaltig entgegenkam: Israel würde sechs Prozent des Westjordanlands, vorwiegend das Gebiet rund um Jerusalem, wo die meisten Siedler lebten, sowie die Hoheit über ganz Jerusalem behalten, wobei die Haram as-Sharif, die muslimischen heiligen Stätten, einen Sonderstatus erhalten würden. Wie es heißt, bot der Vertragsentwurf den Palästinensern die Möglichkeit, ihre Hauptstadt an einem beliebigen Ort zu errichten, sie müsse lediglich außerhalb der von Israel definierten Stadtgrenzen Jerusalems liegen.9
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Auch wenn dieser Entwurf verglichen mit allem, was Israel bislang in Erwägung gezogen hatte, einen echten Fortschritt darstellte, war es dennoch ein Handel, den Arafat wohl nicht ohne Weiteres abgenickt und der auch im palästinensischen und arabischen Volk kaum Zustimmung gefunden hätte. In jedem Fall aber entsprachen die Ideen von Beilin und Abbas, die heimlich und ohne Wissen Rabins oder Peres’ in Stockholm erörtert wurden, nicht denen des Premiers. In einem Interview nicht lange vor seinem Tod bekundete Rabin mir gegenüber sehr offen, wie er sich einen endgültigen Frieden mit der PLO vorstellte. Mit seiner rauchigen, schleppenden Stimme sagte er, die israelische Rechte habe seine Position bewusst missverstanden und falsch dargestellt: „Ich habe keineswegs die Absicht, zu den Grenzen von vor 1967 zurückzukehren.“ Er machte klar, dass Israel ein „vereintes Jerusalem ... und alles, was über das jetzige vereinte Jerusalem hinausgeht, unter israelischer Oberhoheit“ behalten würde. Zudem würde Israel auf „verteidigungsfähigen Grenzen“ bestehen und somit das Jordantal und das daran „angrenzende Land“ als Schild gegen Angriffe aus dem Osten behalten. Die Palästinenser bekämen also einen „weniger als unabhängigen“ Staat. Arafat, so Rabin, könne das Angebot annehmen oder es bleiben lassen. „Wann konnte Arafat davon träumen, dass eine israelische Regierung ihm die Kontrolle über Gaza und Jericho sowie die sechs wichtigen Städte des Westjordanlandes geben würde – und dies als Schritt auf dem Weg zu einer dauerhaften Lösung?“, fragte er. „Ohne die Politik der jetzigen israelischen Regierung hätte er die nächsten zwanzig Jahre in Tunis bleiben können, ohne irgendetwas zu bekommen. Er könnte sogenannte Botschafter überall auf der Welt haben, hätte aber keinen Fuß irgendwo in dem, was vormals das britische Mandatsgebiet Palästina war. Er könnte so tun als ob, hätte de facto aber rein gar nichts“.10 Doch die Frage, wie eine endgültige Lösung aussehen könnte, und auch die Interimsvereinbarungen von Oslo waren hinfällig, als Netanjahu bei den Wahlen vom Mai 1996 Rabins Nachfolger Peres im Amt ablöste; eine Serie verheerender Selbstmordanschläge durch die Hamas und den Islamischen Dschihad zu Beginn des Jahres hatte die öffentliche Stimmung um 180 Grad gedreht. Was den Meinungsumschwung weiter begünstigt haben mag, war die von Netanjahu geäußerte (absolut unbegründete) Behauptung, Peres plane Jerusalem zu teilen. Oslo konnte angesichts der politischen und sicherheitsrelevanten Unruhen auf beiden Seiten der israelisch-palästinensischen Trennlinie nicht standhalten. Eines der immanenten Probleme von Oslo war, dass der schrittweise Zeitplan für die Umsetzung der Vereinbarungen kontraproduktiv war, da kein Einvernehmen – nicht innerhalb und erst recht nicht zwischen den Parteien – hinsichtlich einer genauen Zielsetzung herrschte. Alles, was als Zugeständnis empfunden werden konnte, versetzte die (auf beiden Seiten zahlreichen) Extremisten in Wut, und die Tatsache, dass sich das Ganze schier endlos hinzog, lieferte ihnen reichlich Gelegenheit, immer wieder ein Veto einzulegen.
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Als Netanjahu 1996 an die Macht kam, hinkte Oslo dem Zeitplan bereits weit hinterher. Nach fünf Monaten im Amt waren – nach palästinensischer Rechnung – 49 der vereinbarten Abmachungen bereits zwischen sechs Monaten und drei Jahren überfällig, woran die Regierungen Rabin und Peres zumindest eine Teilschuld trugen. So sollten nach Oslo I beispielsweise mehr als 4000 palästinensische Gefangene freigelassen und ein palästinensischer Sicherheitskorridor zwischen Gaza und dem Westjordanland geschaffen werden. Doch während sich die Palästinenser fragten, ob Oslo lediglich ein Trick gewesen war, sie zu Gehilfen ihrer eigenen Unterdrückung zu machen, waren die Grundsätze des Osloer Friedensprozesses für Netanjahu schlichtweg kein Thema. Über den Anspruch auf das biblische Israel, Eretz Israel, hinaus glaubte Netanjahu, sein Land benötige für seine Sicherheit einen Puffer aus besetztem Land – darunter den Großteil des Westjordanlands –, um sich von seinen arabischen Nachbarn abzugrenzen. Seinen Anhängern erklärte er, er werde den Weg, den Rabin und Peres vorgezeichnet hatten, nicht weiter beschreiten. Seine Vorgänger hätten die palästinensischen und arabischen Erwartungen zu sehr in die Höhe getrieben, und er werde sie nun auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Angestachelt von Neokonservativen in Washington (siehe Kapitel IV) und lange vor dem 11. September versuchte Netanjahu, Israel im Konflikt zwischen dem Westen und der arabischen und muslimischen Welt so zu positionieren, dass es eine Sicherheitszone aus besetzten arabischen Gebieten behalten könnte. Israel werde sich „nicht selbst bis auf nicht mehr verteidigbare Grenzen einschrumpfen“, sagte er und knüpfte damit an Rabins Aussagen an. Gedanklich ging er jedoch weit über Rabin hinaus. „Land für Frieden“ müsse ersetzt werden durch „Frieden für Frieden“; die neue Verhandlungensdevise heiße Sicherheit – Sicherheit für Israel. Zwar formulierte er nie ein Angebot, doch seine Minister ließen anklingen, dass die Palästinenser niemals mehr als die halbe Westbank oder acht bis zehn Prozent des historischen Palästina bekommen würden. Historische Kompromisse würde es keine mehr geben. „Wenn es um Israels Sicherheit geht, gibt es keinen Kompromiss“, sagte er klipp und klar. „Die Palästinenser sind diejenigen, die Kompromisse eingehen müssen.“ Seine Lösung sah vor, dass Israel „Teile seiner Schutzmauer“ im Westjordanland behalten werde. „Die Palästinenser können die Gebiete haben, wo sie leben, und über ihr eigenes Leben bestimmen“ – mit einer Art überkommunaler Regierung, jedoch keinem Staat, der zu einem „Ausufern der Idee von einer grenzenlosen Selbstbestimmung“ beitrage. Die Palästinenser dürften keinen eigenen Staat erwarten.11 Allerdings lief es nicht ganz so glatt, wie Netanjahu es sich vorgestellt hatte. Aufflammende heftige Kämpfe im Westjordanland, darunter immer wieder Selbstmordattentate der Hamas, unterminierten sein Image als „Mister Sicherheit“. Die Regierung Clinton musste regelmäßig Feuerwehr spielen. Offiziell machte Netanjahu zwei Zugeständnisse: den teilweisen Rückzug aus Hebron, einem Pulverfass im Westjordanland, wo 34 jüdische Siedlerfamilien in einer
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streng bewachten Enklave inmitten von 130 000 Palästinensern lebten, und das Wye-Abkommen von 1998, das den Truppenabzug aus weiteren 13 Prozent des Westjordanlands vorsah. Beides wurde jedoch niemals umgesetzt. Netanjahus bevorzugte Taktik war, getroffene Vereinbarungen entweder ständig neu zu diskutieren oder aufzuschieben – sie von der Fähigkeit der Palästinenser abhängig zu machen, Israel ein Maß an Sicherheit zu bieten, das die israelischen Truppen selbst niemals hatten bereitstellen können –, oder, im Notfall, das Ganze zu prolongieren, indem er sie in Verhandlungen über endgültige Statusfragen ummünzte, die er nie in Angriff zu nehmen beabsichtigte. Der zweite „Bösewicht von Oslo“ war Jassir Arafat. Für Arafat ging es in Oslo ums politische Überleben: Er musste vermeiden, von der inneren Führung der Intifada an den Rand gedrängt zu werden, was hieß, dass er innerhalb Palästinas wieder Fuß fassen musste. So sehr war der PLO-Führer darauf bedacht, die Insignien einer Eigenstaatlichkeit zu erreichen, und gleichzeitig so inkompetent in jeder Form von Staatskunst, dass er letztlich belogen wurde und auch selbst sein eigenes Volk belog. Arafat war nie in der Lage, die israelische Seele zu verstehen, und er unternahm nie auch nur einen entsprechenden Versuch. Seine erste Amtshandlung nach der Rückkehr nach Palästina bestand darin, interne Kritiker seiner Vormachtstellung zu unterdrücken. Genau wie seine arabischen Amtskollegen verwendete er seine gesamte politische Energie darauf, den Aufstieg anderer Führungspersönlichkeiten im Keim zu ersticken. Um seine Position zu festigen, verließ sich darauf, dass die Amerikaner seine Forderungen gegenüber Israel geltend machen würden, während er gleichzeitig die Option des „bewaffneten Kampfes“ aufrechterhielt, um überhaupt im (gefährlichen) Spiel zu bleiben. Aus Angst, den Konsens zu riskieren, folgte er seinen Leuten öfter nach, als dass er sie anführte. Sein autoritäres Gebaren, seine Heimlichtuerei, Vettern- und Günstlingswirtschaft sowie fehlende Eloquenz hinderten ihn daran, die Palästinenser zu mobilisieren und den Prozess der Staatsgründung systematisch in Angriff zu nehmen, wie seine israelischen Gegner es so erfolgreich vorgemacht hatten. Wie gezeigt, ging es der versammelten arabischen Führungsriege – so wenig sie mit Solidaritätsbezeugungen ihren palästinensischen Brüdern gegenüber sparte – in erster Linie um die Sicherung ihrer je eigenen Position, wenn sie der Wut ihrer Bürger eine Stimme gaben. Ob formal im Frieden mit Israel (wie Ägypten oder Jordanien) oder nicht (wie Saudi-Arabien oder Syrien), hatten arabische Machthaber gelernt, die Stromschnellen des „kein Krieg, kein Frieden“ gekonnt zu durchschiffen. Die Pattsituation half ihnen, die Maßnahmen zu rechtfertigen, mit denen sie ihren Despotismus ausübten und die jeweiligen Reichtümer ihres Landes ausbeuteten. Und die USA, die einzige Macht, die über den nötigen Einfluss verfügt hätte, dieses Patt zu beenden, weigerte sich, eben dies zu tun. Auch das war nicht neu. Wie der vormalige Außenminister James Baker 1996 beklagte, erstickten wachsende Siedlungen jegliche Hoffnung auf Frieden: „Zuerst, zur Zeit Carters, haben
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wir die Siedlungen als illegal bezeichnet, dann, unter Reagan und [George H. W.] Bush als Hindernis auf dem Weg zum Frieden, und jetzt [unter Clinton] nennen wir sie gerade einmal noch ärgerlich und störend.“ Doch egal wie oft die Vereinigten Staaten im Sicherheitsrat ein Veto gegen Kritik an Israels Siedlungspolitik einlegten und wie sie semantisch zugunsten ihres Verbündeten eingriffen, so wenig konnte und kann dies die Tatsache verschleiern: Israel wird sich entscheiden müssen: Land oder Frieden.12 *** Der Gang der Dinge jedoch und vor allem der Umgang damit scheinen sich gegen eine baldige Entscheidung verschworen zu haben. Tatsächlich hat Israels Expansionspolitik das Kunststück fertiggebracht, ein Ergebnis zu verhindern. Es tut alles, um nicht über endgültige Grenzen verhandeln zu müssen, und stellt stattdessen die Palästinenser und die Welt vor vollendete Tatsachen. In Camp David gab es im Sommer 2000 einen ernstzunehmenden Versuch, eine Lösung auszuhandeln. Doch das Ganze schlug in katastrophaler Weise fehl und sollte sich für die ohnehin schon angegriffenen israelisch-palästinensischen Beziehungen sowie die gerade anlaufende Beziehung zwischen PLO und Washington als fatal erweisen. Veröffentlichte Berichte von Teilnehmern aus allen Lagern (darunter Robert Malley, Clintons Berater für israelisch-arabische Beziehungen, der israelische Außenminister Shlomo Ben-Ami und Akram Haniyeh aus der palästinensischen Delegation) unterscheiden sich zwar hinsichtlich Gewichtung und natürlich Zielsetzung, zeichnen zusammengenommen aber das nuancierte Bild einer „Tragödie von Fehlern“ – wie Malley seinen Bericht überschrieb.13 Erstens hatten Israelis und Palästinenser gänzlich unterschiedliche Anliegen. Der israelische Premier Ehud Barak musste auf die Fragilität der regierenden Koalition Rücksicht nehmen und war sich bewusst, wie sehr Rabin der öffentlichen Meinung in Israel vorgegriffen – und welchen Preis er dafür bezahlt hatte. In typischer Soldatenmanier suchte er eine sofortige, endgültige Lösung. Arafat wiederum argwöhnte angesichts der vielen uneingelösten Vereinbarungen zur Landrückgabe, er werde in eine Falle gelockt, in eine Folge ständiger Neuverhandlungen mit dem Ziel, den Palästinensern große Stücke der ihnen verbliebenen 22 Prozent des ursprünglichen Palästina zu entreißen. Camp David, das so verheißungsvoll begann und in das Präsident Clinton die letzten Monate seiner Amtszeit investierte, wurde zu einem diplomatischen Fiasko. Malley und Agha fassten es folgendermaßen zusammen: „Der Verhandlungsweg, wie ihn sich die Amerikaner vorgestellt hatten – finde eine Position nahe dem, was Israel allerhöchstens zuzugestehen bereit wäre, präsentiere diese den Palästinensern, lass dir von diesen einen Gegenvorschlag unterbreiten und gib diesen wiederum an die Israelis weiter –, lief mehr als nur einmal in die falsche
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Richtung. Das Ganze begann ohne eine realistische Untergrenze, ging ohne Gegenvorschlag weiter und endete ohne einen Abschluss.“ In der Tat eine Tragödie von Fehlern und letztlich ein bitteres Vorspiel zu den wahren Tragödien, die noch folgen sollten. Der Ausbruch der zweiten Intifada ließ nicht lange auf sich warten. Drei Monate nach dem Scheitern von Camp David im Juli 2000 brachen im September palästinensische Aufstände gegen Israel los. Doch dass dies von den Palästinensern von vornherein so geplant gewesen wäre (was viele Israelis nach wie vor glauben) oder dass Israel es absichtlich provoziert hätte (worauf viele Palästinenser beharren), ist kaum nachvollziehbar. Vielmehr hatte sich die Wut und Enttäuschung der Palästinenser über das Scheitern von Oslo zu einer Verzweiflung gesteigert, die kein Führer mehr hätte steuern können – und Arafat schon gar nicht. Dies hing nicht zuletzt mit der allgemeinen Bitternis gegenüber PLO und Fatah zusammen, der nationalen Befreiungsbewegung, die seit nahezu vier Jahrzehnten die Fahne eines Palästinenserstaates hochhält, deren Führer jedoch allzu oft zum Synonym für Korruption, Inkompetenz und brutale Missachtung von Menschenrechten und demokratischen Rechten wurden. Auf israelischer Seite verstärkte sich das Gefühl, dass die Rückgabe von Städten im Westjordanland nicht die erwartete Sicherheit und Stabilität gebracht hatte, dass Oslo sie nicht vor Selbstmordanschlägen in Einkaufszentren und Restaurants, in Bussen und auf Märkten schützen konnte. Sie waren insofern mehr als empfänglich für die Lüge, die ihnen Ehud Barak auftischte: Arafat habe in Camp David die von Israel dargereichte Hand zum Frieden ausgeschlagen. Als Ariel Sharon am 28. September 2000, abgeschirmt von Hunderten von Bereitschaftspolizisten, seinen historischen Gang zum Tempelberg unternahm, war dies zweifelsohne eine beabsichtigte Provokation. Ursache der zweiten Intifada war es jedoch gewiss nicht (ebenso wenig wie ein Unfall mit Fahrerflucht im Flüchtlingslager Jabaliya 1987 für die erste Intifada verantwortlich gemacht werden kann). Sämtliche Voraussetzungen für eine Explosion waren längst gegeben; Sharons Rolle bestand lediglich darin, ein brennendes Streichholz auf die Pulverspur zu werfen, die durch das Scheitern von Oslo gelegt war. Der zweite Palästinenseraufstand nahm seinen Anfang im Grunde in Oslo. Ein Blick auf den Werdegang Marwan Barghoutis, des jungen Fatah-Aktivisten, der zur Verkörperung der Al-Aqsa-Intifada wurde, macht dies deutlich. Barghouti war der Führer einer neuen Generation von Aktivisten, die sich im Laufe der ersten Intifada in den besetzten Gebieten und den Flüchtlingslagern herausgebildet hatte, als die historische Führung von PLO und Fatah im Exil in Beirut und später in Tunis weilte. Die islamistische Richtung, wie sie die Hamas verkörperte, war ein wichtiger Bestandteil dieses Phänomens, vor allem in Gaza, doch es war die in der Heimat aufgewachsene „Junge Garde“ der Fatah, die im Westjordanland das Sagen hatte. In der Nähe von Ramallah geboren, schloss Barghouti sich als Jugendlicher dem Kampf an und stieg in die Führungsriege
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der ersten Intifada auf. Immer wieder landete er in israelischen Gefängnissen, wo er jedoch nicht nur seine Ausbildung fortführte, sondern auch fließend Hebräisch und viele Eigenschaften der Israelis bewundern lernte, insbesondere ihr entschlossenes und demokratisches Herangehen an den Aufbau eines Staates. Als er 1994 aus dem jordanischen Exil zurückkehrte, setzte er große Hoffnungen auf Oslo, in dem er einen Weg sah, die Besatzung zu beenden und im Westjordanland und in Gaza ein unabhängiges Palästina mit demokratischen Institutionen zu erschaffen – mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Als charismatischer Mann, bekannt für seine Integrität und Offenheit sowie seinen Reformeifer, geriet er auf Kollisionskurs mit Arafat und dessen Zirkel in Tunis, die wiederholt versuchten, ihn kaltzustellen. Barghoutis Betonung einer demokratischen Legitimität als Grundlage des künftigen Staates bedrohte deren Hegemoniedenken. „In der Vergangenheit“, sagte er, „hat sich die Fatah das Recht auf Führung der palästinensischen Nationalbewegung durch den bewaffneten Einsatz ihrer Kämpfer und das Blut ihrer Märtyrer erworben. Jetzt, wo wir eine Palästinensische Nationalbehörde auf palästinensischem Boden haben, müssen wir unsere Legitimität über die demokratische Auswahl des Volkes beziehen.“ Barghouti, der, von Israel terroristischer Straftaten für schuldig befunden, inzwischen eine lebenslange Haftstrafe angetreten hatte, war wohl der hervorstechendste Brückenschläger auf palästinensischer Seite und pflegte Beziehungen zu israelischen Politikern quer durch alle politischen Lager. Doch mit Ausweitung der Besetzung sprach er sich immer schärfer gegen die israelische Siedlungspolitik und gegen die untaugliche und korrupte palästinensische Führung aus, die dem Ganzen tatenlos zusah. Anders als Arafat, der Details stets scheute, wies er darauf hin, dass Israel zwischen 1993 und 2000 – unter dem Schirm von Oslo – im Westjordanland fast ebenso viele Wohneinheiten errichtet hatte wie in den ersten 26 Jahren der Besetzung. Wir erkennen Israel an, sagte er, das Problem ist, dass Israel uns nicht anerkennt. Später, als der palästinensische Zorn überzuschäumen begann, formulierte er den berühmt gewordenen Satz: „Wir haben sieben Jahre Intifada ohne Verhandlungen probiert und dann sieben Jahre Verhandlungen ohne Intifada. Vielleicht ist es an der Zeit, beides gleichzeitig zu versuchen.“ Fünfzehn Monate nach Beginn dieser Intifada erläuterte er seine Sicht in der Washington Post. Es lohnt, aus diesem Artikel etwas ausführlicher zu zitieren, zumal er nicht nur Barghoutis Programm, sondern auch potenzielle Lösungen aufzeigt: „Der einzige Weg für Israel, Sicherheit zu gewinnen, besteht ganz einfach darin, die [damals] 35-jährige Besatzung palästinensischen Territoriums zu beenden. Die Israelis müssen sich von dem Mythos verabschieden, dass es möglich ist, gleichzeitig Frieden und Besatzung zu haben, dass eine friedliche Koexistenz zwischen Sklave und Sklavenhalter möglich ist. Der Mangel an Sicherheit für Israel entspringt dem Mangel an Freiheit für Palästina. Israel kann erst dann Sicherheit haben, wenn die Besatzung beendet ist, nicht vorher.
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Wenn Israel und der Rest der Welt diese fundamentale Wahrheit einmal verstanden haben, wird der künftige Weg klar: Beendet die Besatzung, erlaubt den Palästinensern ein Leben in Freiheit und lasst die unabhängigen und gleichberechtigten Nachbarn Israel und Palästina eine friedliche Zukunft aushandeln, mit engen wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen. Vergessen wir nicht: Wir Palästinenser haben anerkannt, dass Israel 78 Prozent des historischen Palästina einnimmt. Israel weigert sich, das Existenzrecht der Palästinenser auf den verbliebenen 22 Prozent des 1967 besetzten Landes anzuerkennen. Trotzdem müssen wir uns immer wieder anhören, wir seien nicht kompromissbereit und ließen Chancen ungenutzt verstreichen. Offen gesagt: Wir sind es leid, ständig als Sündenbock für israelische Kompromisslosigkeit herhalten zu müssen. Wir möchten nur eines erreichen: die Umsetzung internationalen Rechts.“14 Angesichts des Scheiterns von Camp David, des Ausbruchs der Intifada, der Implosion der Regierung Barak und des heraufziehenden Endes der ClintonAdministration kann man die fieberhaften Verhandlungen, die während der zweiten Jahreshälfte 2000 und bis in den Januar 2001 liefen und zu den ClintonParametern und den Gesprächen von Taba führten, nicht wirklich als „ungenutzte Chancen“ bezeichnen. Wie bereits dargelegt, sind diese Parameter und Taba der einzige realistische Rahmen, in dem der israelisch-palästinensische Konflikt friedlich beigelegt werden kann. Clintons Plan vom 23. Dezember 2000 verlangte von beiden Seiten, Gebiete aufzugeben – wenngleich natürlich bis heute keine Einigkeit darüber besteht, wer dabei genau wie viel aufzugeben hätte. Ein unabhängiger Palästinenserstaat würde auf 94 bis 97 Prozent des Westjordanlands errichtet, wobei die Palästinenser von den Israelis im Tausch für annektierte Gebiete (großteils rund um Jerusalem) Land in der Größenordnung von einem bis drei Prozent des Westjordanlands erhalten. Israel würde die fixe Idee aufgeben, das Jordantal als Ostgrenze behalten zu wollen (dort sollten stattdessen multinationale Streitkräfte einziehen). Palästina bekäme das gesamte Gazagebiet samt angrenzendem israelischem Land, damit seine stark wachsende Bevölkerung angemessenen Raum erhielte, sowie einen unabhängigen Sicherheitskorridor, der den Gazastreifen mit dem Westjordanland verbindet. Die Clinton-Parameter sahen die Teilung Jerusalems vor, um zwei Hauptstädte zu bilden, eine israelische und eine palästinensische: Yerushalayim und al-Quds. Die jüdischen Zonen der Stadt wären israelisch, die arabischen palästinensisch. Was die heiligen Stätten angeht, so hätten die Palästinenser die Oberhoheit über den Haram as-Sharif, während die Klagemauer und der alte jüdische Tempel Israel zugesprochen würden. Kühne Schritte, in der Tat. Offen allerdings blieb, ob diejenigen Zonen Ostjerusalems, die Israel besiedelt hatte, um dort eine jüdische Mehrheit zu schaffen, evakuiert und den Palästinensern zurückgegeben würden – oder ob sie unter israelischer Herrschaft verbleiben sollten, was die
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Landnahme legitimiert hätte. Dieselbe Frage erhob sich in Bezug auf die Siedlungen, die rings um Ostjerusalem errichtet worden waren. Würde Israel sie alle annektieren? Würde das künftige al-Quds folglich durch bis dato illegale Siedlungen abgeschnitten sein, von Ramallah im Norden und Bethlehem im Süden? All dies wird – sofern es überhaupt dazu kommt – noch zu regeln sein. Jerusalem bleibt jedenfalls der Kern des Konflikts. Es ist viel, viel mehr als ein Berlin, ein Belfast oder ein Beirut, viel mehr als jede andere Stadt, die historisch gespalten war oder ist, sei es durch Politik, Ideologie oder Glauben. Diese dreifach heilige Stadt, heilig den Juden, heilig den Christen und heilig den Muslimen, deren Traditionen alles durchdringen, ist auf einem hochentflammbaren Mythos erbaut. Für die Juden liegt die Geschichte, um die es hier geht, im Alten Testament begründet. Nach dem zweiten Buch Samuel machte König David diese „Festung Zions“ um 1000 v. Chr. zu seinem Regierungssitz. Psalm 37 schmückt die Bedeutung der Stadt noch aus: „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen!“ Nach jüdischer Überlieferung wurde der Erste Tempel, erbaut von Salomon, von den Babyloniern 586 v. Chr. zerstört. Der Zweite Tempel, später mit Herodes dem Großen in Verbindung gebracht, wurde nach dem jüdischen Aufstand 70 n. Chr. von den Römern vernichtet. Von ihm blieb nur die Klagemauer am Westhang des Tempelberges, die wundersamerweise auch die völlige Auslöschung des jüdischen Jerusalem (nach einem weiteren Aufstand gegen Rom) durch Kaiser Hadrian im Jahr 135 überstand. Für die Juden immer Objekt tiefster religiöser Gefühle, wurde die Klagemauer nach der Einnahme Ostjerusalems 1967 zu einem Zentrum des Nationalbewusstseins, ja der israelischen Identität, wenngleich viele Pioniere des Zionismus Jerusalem geringschätzten, weil sie es für das Symbol eines Judaismus hielten, der gegenüber seinem Volk versagt hatte. Doch die Wiedervereinigung eines wiedererstehenden Israel mit diesem Relikt einst glorreicher jüdischer Geschichte im Jahr 1967 änderte alles – selbst für säkulare Zionisten. Christen aller Konfessionen haben ihre Kirchen in der heiligen Stadt und teilen sich die Grabeskirche, wo im Jahr 327 der christlichen Ära das entdeckt wurde, was sie für das Grab Christi halten. Jerusalem wurde da freilich schon lange mit dem Leidensweg und der Kreuzigung Christi assoziiert. Die Auferstehung aus einem Grab unterhalb eines Tempels, den die Römer ihrer Göttin Aphrodite errichtet hatten, wurde zum Sinnbild des Triumphs des Christentums über das Heidentum. Und, wie Karen Armstrong schrieb, mit der Bekehrung des Oströmischen oder Byzantinischen Reichs zum Christentum wurde das Grab auch zum Symbol des christlichen Sieges über den Judaismus, was den Christen eine machtvolle neue Identität verlieh. Christen waren freilich auch verantwortlich für eines der blutigsten Kapitel in der ohnehin blutgetränkten Geschichte Jerusalems: Bei der Eroberung der Heiligen Stadt während des Ersten Kreuzzugs schlachteten sie 1099 rund 70 000 Muslime und Juden ab.
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Als Saladin Jerusalem im Jahr 117 von den marodierenden Kreuzzüglern zurückeroberte, erinnerte er den abrückenden Richard Löwenherz daran, dass es der Tempelberg gewesen war, der drittheiligste Ort des Islam, von dem aus der Prophet Mohammed nach muslimischem Glauben in seiner „Nachtreise“ zum Himmel aufgestiegen war. Der Felsendom wurde 691 fertiggestellt und steht an dem Ort, von dem aus der Prophet nach allgemeiner muslimischer Überzeugung im Jahr 620 oder 621 auf seinem Pferd Buraq zu Allah und den Propheten reiste. Er ist, wenn nicht die älteste noch bestehende Moschee, so doch zweifellos das älteste bedeutende Monument islamischer Architektur, was die emotionale wie spirituelle Bindung einer Milliarde Muslime an Jerusalem erklärt. Vor Mekka war Jerusalem die qibla, die Richtung, in die sich die Muslime beim Gebet verneigen. Wie Saladin an Richard schrieb: „Jerusalem ist unser Erbe in einem ebensolchen Maße wie Eures. Von Jerusalem aus stieg unser Prophet zum Himmel auf, und Jerusalem ist der Ort, an dem die Engel sich versammeln.“15 Diese drei tief empfundenen und tief verankerten religiösen Traditionen – das israelitische Allerheiligste, der Ort der Kreuzigung und Auferstehung Christi und der Felsendom – sind im Laufe der Jahrtausende immer wieder aufeinandergeprallt. Ich weise auf sie nicht hin, um irgendeinen Glauben über den anderen zu stellen, sondern um zu unterstreichen, dass diese Traditionen von sehr großer Bedeutung sind. Dass die überwiegende Mehrheit der US-amerikanischen Politiker Israels oft verkündetes Ziel eines auf ewig vereinten und unteilbaren Jerusalem völlig unreflektiert abnickt, ist schlichtweg unverantwortlich. Erstens wird diese Einmütigkeit in Israel keineswegs geteilt; im Land selbst erachtet man die Diskussion um eine Teilung Jerusalems im Rahmen einer eventuellen Friedensregelung für völlig legitim. Zweitens würde ein Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts (und damit auch des israelisch-arabischen Konflikts) in unerreichbare Ferne rücken, wenn man die Option einer Teilung Jerusalems von vornherein ausschließt. Und drittens könnte es einen Konflikt, der sich, auch in diesem späten Stadium, immer noch durch eine Aufteilung von Land lösen ließe, in einen tödlichen Crash politisch-religiöser Identitäten verwandeln – in einen Religionskrieg des 21. Jahrhunderts. Der 2001 verstorbene Faisal al-Husseini, der oberste Palästinenserführer Jerusalems, warnte vor den Konsequenzen, sollten Israel und seine amerikanischen Verbündeten die rivalisierenden religiösen Traditionen der heiligen Stadt auf die politische Bühne bringen. Husseini, dessen Vater Abd al-Qadir al-Husseini als Großmufti von Jerusalem vor der Existenz der PLO die Palästinenser anführte und 1948 die palästinensischen Truppen kommandierte, formulierte einen verzweifelten Appell, als israelische Bulldozer 1996 weitere Gebiete für die jüdische Besiedelung Ostjerusalems freiräumten. „Bitte bringen Sie nicht das Thema Religion aufs Tapet“, sagte er. Niemand dürfe es riskieren, islamistischen oder anderen Extremisten im Nahen Osten „neue Legitimität und Motivation“ zu ver-
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schaffen. Das Paradoxon für die Palästinenser liegt auf der Hand: Ohne Jerusalem und seine leicht entflammbaren Schichten von Religion und Mythos würden die Palästinenser kaum mehr internationale Aufmerksamkeit erlangen können als andere staatenlose Völker in der Region wie etwa die Kurden. Gleichzeitig dürften die palästinensischen Nationalisten Jerusalem nicht als Waffe einsetzen. „Die PLO hält die wichtigste Karte in der arabischen Welt, weil Jerusalem in Palästina liegt“, so Husseini. „Doch die PLO ist säkular und kann diese [religiöse Karte] nicht spielen. Entfällt ihr diese Karte, sind die einzigen, die sie aufnehmen können, islamistische Organisationen. Bitte lasst sie uns nicht aus der Hand nehmen!“16 Das zweite arabisch-israelische Minenfeld, das man freilich mit einem pragmatischen Kompass noch durchqueren könnte, betrifft das Schicksal von grob geschätzt fünf Millionen palästinensischer Flüchtlinge – ein Thema, das Verhandlungsgegnern auf beiden Seiten als Begründung dafür dient, dass eine Versöhnung in dieser tragischen Geschichte niemals möglich sein wird. Die palästinensischen Flüchtlinge der Kriege von 1948 und 1967 sowie die PLO bestehen auf einem Rückkehrrecht. Dass sie sowohl durch eine israelische Politik der „Umsiedlung“ aktiv vertrieben wurden als auch vor den Kampfhandlungen fliehen mussten, ist mittlerweile zweifelsfrei nachgewiesen: durch die zuvor erwähnten israelischen Neuen Historiker, durch den palästinensischen Historiker Nur Masalha und nicht zuletzt durch Berichte von Personen wie Jitzchak Rabin, der den Krieg von 1948 als Kommandant mitmachte und dessen Schilderung der Vertreibung von Palästinensern aus Ramla und Lydda auf Befehl David Ben Gurions in der Erstausgabe seiner Memoiren 1979 von der Zensur gestrichen worden war (jedoch noch im selben Jahr durch die New York Times an die Öffentlichkeit gelangte) und erst in einer 1996 posthum erschienenen Ausgabe wieder in den Text aufgenommen wurde. Mit der Vertreibung von rund 750 000 Palästinensern 1948 löschte Israel überdies mehr als 400 ihrer Städte und Dörfer aus.17 Der Krieg von 1967 erhöhte die Zahl der Flüchtlinge um weitere 250 000 aus dem Westjordanland. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk für Palästina (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, UNRWA) zufolge beläuft sich die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge und ihrer Nachkommen inzwischen auf 4,5 Millionen. Diese Kriegsflüchtlinge – die Shattat oder Diaspora – sind von früheren Auswanderungswellen zu unterscheiden, die im 19. Jahrhundert unter osmanischer Herrschaft einsetzten. Israel lehnt die Rückkehr auch nur eines Teils der palästinensischen Diaspora rigoros ab, weil dies das demographische Gleichgewicht des jüdischen Staats empfindlich stören würde. Der jüdische Staat wäre dann nicht mehr jüdisch. Dies ist eine ernstzunehmende Angelegenheit, die nicht ignoriert werden kann. Beginnen wir mit einigen Fakten. Erstens sind die Zahlen der UNRWA, wenngleich formal korrekt, in Wirklichkeit nicht richtig. Beispielsweise verzeichnete die UNRWA 2002 für
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den Libanon 374 000 Flüchtlinge, die sich auf zwölf Lager verteilten. Besorgt um sein empfindliches konfessionelles Gleichgewicht, verweigert der Libanon ihnen nicht nur die Staatsbürgerschaft, sondern auch das Recht auf Besitz sowie das Recht auf Arbeit in 71 einzeln aufgeführten Berufszweigen – eine Politik, die vorgeblich darauf abzielt, den Flüchtlingen ihr Rückkehrrecht zu bewahren. Als Folge hiervon haben viele Palästinenser, die dank bei der UNRWA erworbener Ausbildungen abwandern konnten, eben dieses auch getan. Die tatsächliche Zahl der im Libanon verbliebenen Palästinenser, so räumten UN-Vertreter 2002 im privaten Gespräch ein, belief sich damals auf 192 000. Dies ist besonders wichtig, weil israelische Stellen oft auf die Palästinenser im Libanon als diejenigen verweisen, die höchstwahrscheinlich das nördliche Israel überschwemmen würden, sollte Israel einem Rückkehrrecht zustimmen.18 Und zweitens: Wie viele der Flüchtlinge würden, nach 60 Jahren wohlgemerkt, tatsächlich von ihrem Rückkehrrecht Gebrauch machen? Der als seriös bekannte palästinensische Meinungsforscher Khalil Shikaki befragte im Jahr 2003 zu diesem Thema Flüchtlinge in Jordanien und im Libanon. Er wollte wissen, ob sie, wenn sie die Wahl hätten, nach Israel zurückkehren oder eine Entschädigung vorziehen würden. In Jordanien, in dem mit etwa 2,8 Millionen die meisten Flüchtlinge Aufnahme fanden und das ihnen, anders als im Libanon, die jordanische Staatsbürgerschaft anbietet, optierten gerade einmal fünf Prozent für eine Rückkehr. Im Libanon waren es 23 Prozent.19 Dies vermittelt eine ungefähre Vorstellung vom wahren Ausmaß der Rückkehrerproblematik. Zudem dürfte die Gesamtzahl der bei der UNRWA geführten Flüchtlinge – ebenso wie bei den Angaben für den Libanon – mit großer Wahrscheinlichkeit deutlich über der tatsächlichen Zahl liegen. Grund für diese Diskrepanz ist die Verpflichtung der UN-Agentur, die legalen Rechte aller Flüchtlinge, egal wo sie sich aufhalten, auf eine eventuelle Entschädigung zu sichern. Das bringt uns zum dritten Punkt: der Frage der Entschädigung. Clintons Rahmenbedingungen, so Shlomo Ben-Ami, geben den Flüchtlingen das Recht zur Rückkehr in das „historische Palästina“, jedoch „nicht explizit das Recht auf eine Rückkehr in den Staat Israel“, der die Zahl derer, die er einlässt, begrenzen könnte. Für die übrigen Flüchtlinge wären Entschädigungen in Milliardenhöhe bzw. ein Umsiedelungsprogramm vorgesehen. Wie wir gesehen haben, schlägt das Friedensangebot, auf das sich die Arabische Liga 2002 in Beirut einigte, eine Lösung vor, die ganz offensichtlich von einer finanziellen Entschädigung der Mehrheit der Flüchtlinge ausgeht.20 Offizielle Stellen in Israel bezeichnen Clintons Rahmenbedingungen und den Beiruter Friedensplan als zu nebulös, zumal er keine genauen Angaben zum Rückkehrrecht enthalte. Dies ist bestenfalls unaufrichtig. Israel hat seine Grenzen unter Kontrolle, seine äußeren ebenso wie seine inneren; es hat beispielsweise kaum Probleme damit – in offener Missachtung des internationalen Rechts –, arabische Bürger aus Jerusalem auszuschließen. Vor allem weiß man in Israel
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sehr wohl, dass dies genau der Abmachung entspricht, die es, unter Vermittlung der USA, im Jahr 2000 mit Syrien ausgehandelt hatte. Dieser Handel scheiterte, weil Israel zwar bereit war, die Golanhöhen zurückzugeben, Syrien jedoch den Zugang zum See Genezareth verweigerte. Immerhin gab es, so israelische und amerikanische Offizielle im privaten Gespräch, eine prinzipielle Einigung über ein umfassendes und internationales Finanzpaket, damals im Wert von 17 Milliarden US-Dollar, das Posten wie beispielsweise Frühwarnstationen auf dem Golan einschloss, in erster Linie jedoch die registrierten 450 000 Flüchtlinge in Syrien entschädigen sollte. Die schwierige Frage der Rückkehr ist theoretisch also sehr wohl lösbar. Israel weiß dies, denn es hatte sich bereits in diese Richtung bewegt – und der Weg steht weiterhin offen. Und er wird weiter offen bleiben, solange klar ist, dass kein palästinensischer Führer (und ganz sicher nicht Präsident Mahmoud Abbas, der Gaza an die Hamas verloren hat, nichts Konkretes in Sachen Friedensbemühungen vorweisen kann und zudem Gefahr läuft, als palästinensischer Petain gebrandmarkt zu werden) den Forderungen der Flüchtlinge über das vereinbarte Maß hinaus entgegenkommen wird. Die Kosten eines umfassenden Entschädigungspakets wurden von unterschiedlichen Stellen auf zwischen fünfzig und achtzig Milliarden US-Dollar geschätzt. Nimmt man das Syrienpaket als Maßstab, dürften es eher über hundert Milliarden sein, wahrscheinlich finanziert von den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und den Golfstaaten. Zu teuer? Das hängt von den Alternativen ab. Abgesehen von der Frage der Gerechtigkeit, der Wiedergutmachung eines nicht nur historischen, sondern sehr aktuellen Unrechts, ist die Vorstellung, dass Israel sich umringt von Dutzenden Flüchtlingslagern – und zwar nicht nur in Anrainerstaaten, sondern auch innerhalb des Westjordanlands, in Gaza und Ostjerusalem – sicher fühlen wird, reine Illusion. Bereits jetzt zeichnet sich in den Lagern ein Dschihadismus im Stil von al-Qaida ab – in Gaza, in Nahr alBared im Libanon (siehe Kapitel VI) und in Jordanien –, nicht zuletzt deshalb, weil im Rahmen des inneren Zusammenbrechens der PLO, die die Lager leitet, auch die dortigen Einrichtungen zusammenbrechen. Es liegt nicht im Interesse Israels noch in dem eines künftigen Palästinenserstaats, der arabischen Staaten oder überhaupt von irgendjemand, der Stabilität im Nahen Osten anstrebt, die Dinge so weiterlaufen zu lassen wie bisher. Lässt man dieses elende Wirrwarr weiter schwären, ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft, dann werden diese Flüchtlingslager zu neuen Brutstätten des Dschihad. Und dagegen hilft keine noch so massive israelische Schutzmauer. *** Ariel Sharons „Schutzmauer“ zwischen Palästinensern und Israelis wird von ihren Verfechtern als völlig legitime Reaktion auf die palästinensischen Selbst-
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mordattentäter angesehen. Realistischer ist jedoch, dass Sharon nach seiner Amtsübernahme im Februar 2001 das Scheitern von Camp David, die internationale Reaktion nach dem 11. September auf jedwede Art von Terrorismus und die Selbstmordanschläge palästinensischer Milizen auf israelische Zivilisten optimal für sich zu nutzen wusste. Wer argumentiert, Israels markige Reaktion unter Sharon sei nicht mehr gewesen als eine vollkommen verständliche Reaktion auf die Unverantwortlichkeit der palästinensischen Führung und die zweite Intifada, der muss erklären, warum das Land, das Sharon für die Annexion auswählte (mit Ausnahme der rund 46 Prozent des Westjordanlands, die in isolierten Kantonen innerhalb der sogenannten Sicherheitsmauer liegen), im Wesentlichen identisch ist mit der Karte, die Sharon bereits 1982 entworfen hatte (siehe Kapitel II). Und warum der Besitz des gesamten oder eines Teils des Westjordanlands und Ostjerusalems seit der Staatsgründung konstantes Thema der israelischen Politik ist. Die hemmungslose Gewalt von Sharons Rückeroberung des Westjordanlands im Jahr 2002 sowie die Zerstörung der im Entstehen begriffenen palästinensischen Institutionen war mehr als nur ein weiterer Beleg für die bekannte Brutalität des israelischen Führers. Alles daran sprach eine beredte Sprache: von der Zerstörung der Datenbanken im palästinensischen Unterrichtsministerium bis hin zur Belagerung von Arafats Amtssitz (und Festsetzung des Palästinenserpräsidenten) in Ramallah. Während Israel mit schweren Waffen dichtbesiedelte palästinensische Gebiete angriff, fasste der damalige Generalstabschef Moshe Jaalon die Strategie wie folgt zusammen: „Es muss dafür gesorgt werden, dass die Palästinenser in den tiefsten Tiefen ihres Bewusstseins begreifen, dass sie ein besiegtes Volk sind.“ Israel würde nicht nachlassen, es fordere die Kapitulation. In den drei Jahren seit Juni 2001 hatten sämtliche Palästinensergruppierungen viermal einen Waffenstillstand ausgerufen und weitgehend eingehalten, den Israel Mal um Mal ignorierte. In den insgesamt 28 Wochen dieser Waffenruhen gab es drei vergleichsweise unbedeutende palästinensische Angriffe. Im gleichen Zeitraum tötete Israel rund 350 Palästinenser und ermordete in gezielten Tötungsaktionen, 21 ihrer Führer, darunter Scheich Ahmed Jassin, den geistigen Führer der Hamas, und deren politischen Führer Abdel Azis al-Rantisi.21 Für das Lostreten dieser Gewalt hatte Sharon taktische Gründe, die auf einen langfristigen Plan zurückgingen. Anfang 2004 ließ er durchsickern, er beabsichtige, sich aus Gaza zurückzuziehen. „Ich gehe davon aus, dass es in der Zukunft in Gaza keine Juden geben wird“, sagte er. Sharons frühere Freunde unter den Siedlern nannten dies „Tod durch freundlichen Beschuss“. Dies und die vorgesehenen Grenzen des Westjordanlands verleitete israelische Kommentatoren zu der Frage, ob Sharon das Ziel eines Groß-Israel, des biblischen Traums eines Eretz Israel, wohl aufgegeben habe. Schließlich war ja er es gewesen, der 1982 die Siedlungen im Sinai geräumt hatte. Hatte sich der Krieger zum Staatsmann gewandelt? Ebenso nutzte es Sharons Plänen, als sich der Likud 2005 über dem
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Gaza-Rückzug spaltete. Er gründete daraufhin seine eigene Partei, die Kadima („Vorwärts“), die 2006 stärkste Fraktion in der Knesset wurde. Zum ersten Mal in seinem Leben trat Sharon, wie durch ein Wunder, gemäßigt auf und und überließ Netanjahu die Rolle des extremen Rechten an der Spitze des Rumpf-Likud. Der Angriff auf die Palästinenser demonstrierte den Israelis darüber hinaus, dass er sich auch unter Beschuss nicht zurückzog – anders als Ehud Barak, der 2000 nach Angriffen durch die Hisbollah aus dem Libanon zurückgewichen war (was viele Israelis als Einladung für PLO und Hamas ansahen, die zweite Intifada zu starten). Sharon war immer ein Pragmatiker. In Gaza wie im Sinai hatte Israel nie einen historischen, ideologischen oder religiösen Anspruch auf das Land erhoben, wie es dies im Westjordanland tat. Die Gaza-Siedlungen waren nicht nur moralisch nicht mehr haltbar – 7576 Siedler lebten in streng bewachten Enklaven unter 1,5 Millionen Palästinensern, nutzten jedoch vierzig Prozent eines Gebietes, das kleiner war als das deutsche Bundesland Bremen –, sondern auch rein technisch nicht länger zu halten. Die sogenannten ideologischen Siedlungen im und rund um das Jordantal waren kostenintensiv und schwierig zu schützen. Und die etwa hundert „Außenposten“ der Siedler – kaum mehr als ein paar Wohnwagen auf Hügelkuppen (zu deren Einnahme Sharon die Siedler höchstpersönlich ermutigt hatte) – waren niemals mehr als taktisch platzierte, entbehrliche Schachfiguren, die sofort nach Eröffnung des Spiels geopfert werden sollten. Um das gesamte Westjordanland zu kontrollieren, waren zudem über 500 Kontrollpunkte nötig – für ein Gebiet von nicht einmal einem Zehntel der Fläche Bayerns! Sharons Strategie basierte darauf, möglichst viel Geographie mit möglichst wenig (palästinensischer) Demographie an sich zu reißen. Politisch fügte es ihm keinen Schaden zu, dass die – bei vielen Israelis ohnehin nicht sonderlich beliebten – Siedler ihn als Verräter denunzierten, während er sich den Anschein gab, viel wegzugeben, was es ihm leichter machte, sich anderswo wieder etwas zu nehmen: im Westjordanland eben. Sharon verfolgte einen wohlkalkulierten Annektierungsplan, ohne jeglichen Bezug zu Oslo oder zu den Palästinensern. Der Gaza-Rückzug zielte explizit darauf ab, Israels strategische Kontrolle im Westjordanland zu stärken. General Jair Naveh, der das Kommando über die Operationen im Westjordanland führte, formulierte es folgendermaßen: „In Gaza gehen wir und schließen die Türen hinter uns. Wir haben nicht die Absicht, Judäa und Samaria [das Westjordanland] zu verlassen. Hier werden wir, auf die eine oder andere Weise, jahrzehnte-, ja jahrtausendelang bleiben.“22 Die Regierung Bush, ob in gutem Glauben oder aus zynischem Kalkül, fiel darauf herein. Noch während die israelischen Angriffe auf die besetzten Gebiete weitergingen, nannte Präsident Bush Sharon einen „Mann des Friedens“. Und es gab noch mehr amerikanische Lobhudelei, nachdem der israelische Premier der in internationalem Auftrag erstellten Roadmap zugestimmt hatte – einem weiteren zum Scheitern verurteilten Plan in stückweisen Lösungen und Zwischen-
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schritten nach dem Osloer Modell. Ein entscheidender Moment in Amerikas bedingungsloser Unterstützung für Israel (siehe Kapitel I) war der 14. April 2004, als Bush bei einem Treffen mit Sharon in Washington ein israelisches Dokument unterzeichnete, das das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge praktisch aufhob und Israel den Löwenanteil der Siedlungen im Westjordanland zusprach. Tony Blair erklärte zwar seine volle Unterstützung für eine Zweistaatenlösung, billigte aus praktischen Gründen jedoch diese eklatant einseitige neue Politik, die, sollte sie umgesetzt werden, eben diese Zweistaatenlösung unmöglich machen würde. Diese zweite Balfour-Deklaration wurde innerhalb weniger Wochen von zweiundfünfzig ehemaligen britischen und fünfzig ehemaligen amerikanischen Botschaftern und Gesandten in einer eher undiplomatischen Demarche heftig unter Beschuss genommen. Die wichtigsten Unterzeichner der Protestnote waren engagierte Atlantiker, die bestürzt waren angesichts der angloamerikanischen Nahostpolitik, der sie richtigerweise ein Scheitern vorhersagten. Als Washington Sharon in jenem August halb gelbes, halb grünes Licht für neue Siedlungserweiterungen gab, wurde klar, dass der israelische Schwanz mit dem amerikanischen Hund wedelte. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten keinerlei Einspruch gegen das Verhalten Israels erhoben, das klar gegen internationales Recht und gegen die Vierte Genfer Konvention verstieß, während gleichzeitig seine eigenen Truppen in Falludscha und Najef wüteten, grub den moderaten und demokratischen Positionen in der arabischen Welt das Wasser ab und ließ die (bislang Extremisten vorbehaltene) Überzeugung, der Westen führe Krieg gegen die Muslime, zur Mehrheitsmeinung werden. Hatte es noch Zweifel gegeben, dass Sharon die Absicht verfolgte, den Konflikt gewaltsam und über eine palästinensische Kapitulation zu lösen, so wurden diese spätestens im Oktober zerstreut, als Dov Weisglass, der engste Berater des Ministerpräsidenten, der israelischen Zeitung Haaretz gegenüber die Katze aus dem Sack ließ: Er, Weisglass, hatte das von Bush (und Blair) unterzeichnete Sharon-Dokument entworfen und mit Washington ausgehandelt. Aus Gaza abzurücken, so Weisglass, war ein Schachzug, um den Nahost-Friedensprozess auf unbestimmte Zeit auf Eis zu legen, an so gut wie allen israelischen Siedlungen im Westjordanland festzuhalten, den Palästinensern einen Staat zu verweigern und die Frage um die Zukunft der Flüchtlinge, den Status von Jerusalem sowie die endgültigen Grenzen Israels ad infinitum zu vertagen. Der Gaza-Plan, so Weisglass, „liefert uns alles, was wir brauchen, um erst gar keinen politischen Prozess mit den Palästinensern eingehen zu müssen“. „Wenn man den Prozess einfriert, verhindert man die Bildung eines Palästinenserstaates“, wiederholte Weisglass, wohl für den Fall, dass der Interviewer dies noch nicht begriffen haben sollte. „Das Thema Palästinenserstaat samt allem, was dazugehört, ist auf unbestimmte Zeit von unserer Agenda gestrichen.“ All dies sei von den Vereinigten Staaten abgesegnet, auch wenn diese weiterhin vorgäben, eine Verhandlungslösung gemäß der Roadmap anzustreben.
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Was Weisglass so offen umriss, war der Plan, den sein Chef seit mindestens zweieinhalb Jahrzehnten verfolgte. Neu daran war nur, dass die USA ihn nun abgezeichnet hatten. Es führte dazu, dass die Palästinenser samt ihrem glücklosen Präsidenten Mahmoud Abbas nicht mehr aufzeigen konnten, dass es sehr wohl Möglichkeiten gab, die Besetzung auf dem Verhandlungsweg rückgängig zu machen – das alte Dilemma, mit dem sie selbst, Israel und die USA konfrontiert sind und das sie langfristig nicht werden ignorieren können. Und es bestätigte einmal mehr, dass die einzelnen Teile des politischen Spektrums Israels weiterhin überzeugt sind, der Konflikt sei etwas, was sie untereinander zu verhandeln hätten, während Frieden, wie Jitzchak Rabin zu bedenken gegeben hat, doch etwas ist, das nicht zwischen Freunden, sondern zwischen Feinden geschlossen wird.
VIII Pax Arabica: Der Nahe und Mittlere Osten und der Westen Im Jahr 2008, dem letzten der Regierung Bush, verkam die im 19. Jahrhundert begründete amerikanische Doktrin des Manifest Destiny zu einer modernen Karikatur, die ein trauriges Bild der Supermacht zeichnete. Festgefahren in zwei Kriegen, im Irak und in Afghanistan, glänzte US-Diplomatie in der Region durch Abwesenheit. Ihre moralische Autorität war auf dem Tiefpunkt, ihre demokratische Botschaft hinfällig. Bei seinem letzten Besuch in der abgeriegelten Grünen Zone Bagdads im Dezember 2008 bot George W. Bush ein unfreiwillig komisches Bild – für seine Präsidentschaft ebenso wie für deren größtes, wenn auch bei Weitem nicht einziges Debakel: Auf einer Pressekonferenz, bei der er gemeinsam mit dem irakischen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki vor die Kameras trat, warf ein aufgebrachter irakischer Journalist einen Schuh nach ihm, begleitet von den Worten „Da – dein Abschiedskuss, du Hund!“ Bush konnte dem Geschoss ausweichen. Er verstehe das nicht, sagte er später. Dass es sich um eine unausprechliche Beleidigung gegen einen notorischen Pfuscher handelte, ging an Bush ebenso vorbei wie der geworfene Schuh. Bushs Nachfolger Barack Obama jedoch ließ in der ganzen Region neue Hoffnung wachwerden. „Wir haben die einmalige Chance, Amerikas Image neu zu definieren, in der gesamten Welt, und in der muslimischen ganz besonders“, sagte er in einem Interview, das am 10. Dezember der Chicago Tribune erschien. Eine Aufgabe, wie sie größer kaum sein könnte. Das Jahr 2008 brachte eine Reihe von Teilabkommen und erste zaghafte diplomatische Vorstöße. Doch bei allem Engagement waren die USA keineswegs in führender Position. Im Mai 2008 war es das kleine erdöl- und erdgasreiche Emirat Qatar, das eine Einigung zwischen den libanesischen Splitterparteien initiierte, um die Libanonkrise zu beenden, was die Gefahr, in einen Religionskrieg zurückzufallen, zumindest aufschob (siehe Kapitel VI). Fast zeitgleich betrat die Türkei als Friedensmittler die politische Bühne und konnte eine Annäherung zwischen Israel und Syrien erreichen. Und es waren die Saudis, die erste Kontakte zwischen der belagerten und mit dem Westen verbündeten Regierung Hamid Karzais in Kabul und gemäßigten Gruppen der afghanischen Taliban herstellten. Ägypten und Deutschland versuchten, Übereinkommen mit Hamas und Hisbollah zu vermitteln, während die diplomatischen
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Bemühungen, den Iran darin einzubinden, weiterhin von den drei großen EUStaaten –Großbritannien, Frankreich und Deutschland – angeführt wurden, unter Leitung Javier Solanas, des Hohen Vertreters für die gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik der EU. Die Vereinigten Staaten hielten sich vornehm zurück. Schließlich hatte sich die Bush-Adminstration mit aller Macht dagegen gestemmt, mit dem Iran und Syrien in Verhandlungen zu treten, ganz zu schweigen von Hamas und Hisbollah, die man ohnehin als weitgehend undifferenzierte Phalanx unter Teheraner Kommando ansah. Diese Haltung war freilich stets eher politische Attitüde denn politischer Grundsatz. Sie manifestierte sich in einem Foto, das Präsident Bush im Mai 2003 auf einem Flugzeugträger zeigt, unter der stolzen Überschrift „Mission Accomplished“ – Aufgabe erfolgreich abgeschlossen. Auf den ersten Blick wähnt man die USA hier auf dem Gipfel der Macht: Bagdad war gefallen, der Irak Saddam Husseins Geschichte. Herablassend lehnte Bush im selben Monat ein umfassendes iranisches Verhandlungspaket, den sogenannten grand bargain ab, den die Schweiz vorgelegt hatte und der vorsah, im Austausch gegen einen Stopp der Atompläne die Sicherheitsinteressen des Iran zu wahren. Der Iran, so die Meinung der Regierung Bush, suche Frieden, weil er schwach war und eingeschüchtert von der Macht, die amerikanische Streitkräfte soeben im Irak demonstriert hatten. Teheran fürchte, es könnte – als Teil von Bushs „Achse des Bösen“ – als nächstes an der Reihe sein. Doch wie wir gesehen haben, war der Einfluss der Islamischen Republik in der Region enorm gewachsen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Bushs Handlungen die Schiiten im Irak hatten erstarken lassen und ein bald tausendjähriges Gleichgewicht der Kräfte ins Wanken gebracht hatten. Was seinerseits den revolutionären Iran auf Kosten des sunnitischen Status quo ante stärkte. Sowohl während des Kriegs in Afghanistan als auch danach hatte der Iran mit den USA kooperiert, meist jedoch mit einer gewissen Distanziertheit. Auch im Irak hatte der Iran seine Unterstützung angeboten, gleichzeitig jedoch um Einfluss konkurriert. Hätte der Iran wirklich all das unternommen, was Washington ihm unterstellte, die Position der USA wäre unhaltbar geworden (vgl. Kapitel VI). Nach dem Erstarken der Schiiten im Irak kam der Iran nicht umhin, eine Beilegung der schwersten Konflikte im Nahen Osten (Irak, Palästina, Libanon) zu unterstützen oder ihr zumindest keine Steine in den Weg zu legen. Doch die gänzlich unsichere Waffenruhe mit dem Iran sowie die erwähnten Nebenabmachungen in der Region waren kaum mehr als eine Notlösung. Natürlich könnte man argumentieren, es sei doch eine positive Entwicklung, wenn lokale Kräfte sich lokaler Konflikte annehmen. Doch es geht um mehr. Es geht darum, eine Lösung für die Palästinenserfrage zu finden und ein Ende des arabisch-israelischen Konflikts zu erreichen, darum, das vom Irak angeheizte sunnitisch-schiitische Sektierertum zu mäßigen, und nicht zuletzt darum, einen Weg zu finden,
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der auch den Iran einbindet und dem gesamten Nahen und Mittleren Osten eine gewisse Stabilität verleiht. All das setzt freilich voraus, dass die USA sich auf die Kraft der Diplomatie besinnen und davon Gebrauch machen. Die Vereinigten Staaten sind die wichtigste (wenn nicht gar einzige) Macht in dieser Region, die nur darauf wartet, dass Amerika wieder zur Vernunft kommt, und die – um noch einmal Jitzchak Rabin zu zitieren – sehr wohl weiß, dass man Frieden nicht mit seinen Freunden, sondern mit seinen Feinden schließen muss. Wie ich bereits erwähnt habe: Der Nachdruck und die Vielgestaltigkeit, mit der in Israel die Debatte um die eigene Zukunft und Sicherheit geführt wird, stehen in geradezu anklagendem Gegensatz zu der engstirnigen Art und Weise, mit der man dieselbe politische Debatte in den USA führt. Israelische Führer, die mühsam darum kämpfen, in der Knesset eine Mehrheit für ihre Politik zu gewinnen, empfinden bei Besuchen im US-Kongress die dort herrschende Einvernehmlichkeit als überaus wohltuend. Nicht dass die USA ihren israelischen Verbündeten nicht mit der Offenherzigkeit eines loyalen Freundes begegnen würden. Doch die Vorstellung, der Status quo im Nahen Osten könne aufrechterhalten werden, ist illusorisch und bedeutet zudem langfristig eine Gefahr für Israel. Obendrein ist die derzeitige, von Gewalt geprägte Pattsituation nicht nur überaus destruktiv, sondern mit absoluter Sicherheit auch keine langfristige Perspektive. Außerdem wäre es ausgesprochen kurzsichtig von Israel, sich auf die Unterstützung amerikanischer Politiker zu verlassen. Da die Vereinigten Staaten ihre eigenen nationalen Interessen im Blick behalten und ihre Glaubwürdigkeit in fünfzig arabischen und islamischen Staaten sowie bei den weltweit mehr als 1,2 Milliarden Muslimen zurückgewinnen müssen, werden sie unweigerlich irgendwann das Verhalten ihrer engsten Verbündeten im Nahen Osten hinterfragen und dabei insbesondere überdenken müssen, wie der (israelische) Schwanz es immer wieder schafft, mit dem (amerikanischen) Hund zu wedeln. Der bekannte Publizist M. J. Rosenberg, der eine wöchentliche Kolumne für die Washingtoner Friedensgruppe Israel Policy Forum schreibt, bringt seine Kritik an der neokonservativen Nahostpolitik der US-Regierung mit scharfem Sarkasmus auf den Punkt: „Überlegen Sie mal: Was hat ein Politiker schon groß zu verlieren, wenn er in Fragen der Nahostpolitik mit dem Strom schwimmt? Er weiß, dass er sich nur pro Israel und gegen die Palästinenser äußern muss, schon gilt er als ,loyaler Unterstützer‘ Israels – und die Wahlkampfgelder fließen ihm üppig zu. Den Status quo zu unterstützen ist also der Weg des geringsten Widerstands. Er ist naheliegend, bequem und risikofrei. Allerdings trägt diese Einstellung auch dazu bei, die Sicherheitsprobleme Israels zu vergrößern und Amerikas strategische Position im Nahen Osten zu schwächen. Genau das aber scheint ein Großteil der proisraelischen Lobby nicht zu begreifen. Sie sind überzeugt, der Zustand insbesondere der letzten Jahre sei Israel zuträglich, wo er in Wirklichkeit doch ein einziges Desaster war.“1
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Nicht, dass andere Politiker viel besser wären. Vor dem Gründungstreffen der Mittelmeerunion in Paris im Juli 2008 holte der französische Präsident Nicolas Sarkozy den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zurück aufs internationale Parkett (vgl. Kapitel VI). Al-Assad, der in Paris als persona non grata galt, seit ihm die internationale Gemeinschaft im Oktober 2005 vorgeworfen hatte, in den Mord an dem früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri sowie in Attentatsversuche auf syrische Kontrahenten im Libanon verwickelt gewesen zu sein, bekam bei den Feierlichkeiten zum Jahrestag des Sturmes auf die Bastille einen Platz in der ersten Reihe. Der angeschlagene Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas hingegen, der für eine Politik der Verständigung mit Israel Leben und Ehre riskiert hatte, wurde auf einen Platz in den hinteren Reihen verwiesen, gleich neben dem Delegierten aus Somalia, einem weiteren gescheiterten Staat. Die Botschaft hätte klarer nicht sein können. Im November des gleichen Jahre verkündete der britische Außenminister David Miliband in Damaskus, Syrien sei ein potenzieller Garant für Stabilität in der Region. Die Freude, mit der Damaskus diese fruchtlosen Versuche für sich nutzte, Syrien aus seiner Allianz mit dem Iran zu lösen, war regelrecht spürbar. Das Ganze war nichts als eine Vermeidungstaktik, um sich nicht dem wahren Problem stellen zu müssen: dem Iran. Es besteht ein Unterschied zwischen oberflächlichem Realismus und strategischer Klarheit. Letzere erreicht man weder dadurch, dass man Israels Politik der illegalen Landnahme belohnt, noch dadurch, dass man die Augen verschließt gegenüber Syriens Versuchen, seine libanesischen Nachbarn einzuschüchtern und zu Vasallen zu machen. Demokratie als ein politisches Patentrezept zu verkaufen, dann aber vor den Konsequenzen zurückzuschrecken, sobald dies den Islamisten zum Vorteil gereichen könnte (im Irak, in Palästina, im Libanon und sogar in Ägypten), zeugt – wir haben es anhand zahlreicher Beispiele in diesem Buch gesehen – ebenfalls nicht von einer klaren Strategie. Ein typisches Beispiel westlicher Doppelmoral bot auch die Regierung Blair hinsichtlich des sogenannten Al-Yamamah-Abkommens. Die britische Strafverfolgungsbehörde für besonders schwere Betrugsdelikte (Serious Fraud Office, SFO) stellte im Dezember 2006 auf massiven Druck der Regierung hin eine Untersuchung ein, an der sie bereits zwei Jahre gearbeitet hatte: Über einen inoffiziellen Fonds, das sogenannte Al-Yamamah-Abkommen, hatte der Rüstungskonzern BAE-Systems namentlich nicht genannten Mitgliedern der saudischen Königsfamilie Schmiergeldzahlungen in Höhe von 43 Milliarden britischen Pfund für Waffengeschäfte zufließen lassen. Diese Enthüllungen, so die Sorge der britischen Regierung, könnten die britisch-saudischen Beziehungen und im weiteren Sinne die nationale Sicherheit Großbritanniens ernsthaft gefährden. Unter dem fadenscheinigen Deckmäntelchen der Moral erklärte der britische Generalstaatsanwalt Lord Goldsmith vor dem britischen Oberhaus, es sei „notwendig gewesen, die Anwendung des Gesetzes gegen die
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öffentlichen Sicherheitsinteressen abzuwägen“. Tatsächlich hatten saudische Offizielle gedroht, die Ermittlungen würden ein neuerliches Waffengeschäft über weitere vierzig Milliarden Pfund gefährden. Genau wie zwei Jahrzehnte zuvor, als es darum ging, den ursprünglichen Al-Yamamah-Vertrag unter Dach und Fach zu bringen, trafen sich die Saudis demonstrativ in Frankreich, um alternative Waffenlieferanten zu diskutieren. Und die Briten knickten ein. Dies war nicht nur ein Verstoß gegen die Regel, Exekutive und Judikative streng getrennt zu halten, es stellte eine regelrechte Einladung zu erpresserischen Machenschaften dar. Die britischen Prinzipien verantwortungsbewusster Regierungsführung und politischer Transparenz sowie die Einhaltung der Anti-Korruptionskonvention waren damit in den Wind geblasen. Ganz abgesehen von der Frage, ob es westlichen Strategiezielen oder der Verteidigung des Königreichs überhaupt dienlich sein kann, Waffen nach Saudi-Arabien zu liefern. Wie wir in Kapitel V gesehen haben, sind die saudischen Rüstungsausgaben, die in etwa das Dreifache eines durchschnittlichen Entwicklungslandes betragen, Teil eines Mechanismus’, der Reichtum und Macht innerhalb der obersten Ränge des Hauses al-Saud verteilt. Und eine aufgeblähte absolute Monarchie, die den sagenhaften öffentlichen Reichtum vergeudet, gilt nicht gerade als Garant für Stabilität. In einem brillanten Urteil (das später von den Revisionsrichtern des Oberhauses wieder aufgehoben wurde) erklärte der Oberste Gerichtshof die Einstellung der Ermittlungen für ungesetzlich. Er befand, dass Prinz Bandar bin-Sultan, früherer saudischer Botschafter in Washington und Sohn des Verteidigungsministers Kronprinz Sultan, Verbindung mit dem Büro des britischen Premierministers aufgenommen hatte, welches „versäumte zu erkennen, dass die ausgesprochene Drohung nicht schlicht den wirtschaftlichen, diplomatischen und sicherheitsrelevanten Interessen des Landes galt, sondern direkt auf dessen Rechtssystem zielte“. Und die Regierung Blair machte keinerlei Anstalten, die Saudis davon zu überzeugen, dass diese Drohung zwecklos sei, da die Gerichte die Gesetze achten und einhalten würden. Doch das ist nur die halbe Geschichte. Die Botschaft, die man im Nahen und Mittleren Osten daraus las, war verheerend. Einem ehemaligen US-Regierungsvertreter zufolge, der mit der Aufklärung internationaler Korruptionsfälle befasst gewesen war, sagte König Abdullah höchstpersönlich, er sei bestürzt über die Entscheidung der Briten, die Ermittlungen einzustellen. Er sah dadurch seine Reformbemühungen, darunter die Beschränkung des königlichen Familienanteils am öffentlichen Reichtum, förmlich torpediert. Ein trauriges Schauspiel, das der Westen dem Nahen und Mittleren Osten bietet. Dabei wird der Westen gemeinhin bewundert für seine technischen und kulturellen Errungenschaften und sogar für manche Aspekte seiner politischen Kultur. Dennoch empfindet man die westliche Umklammerung zunehmend als bedrohlich, wenn nicht gar als ausgesprochen verderblich. Wie könnte es auch anders sein, wo wir uns mit Tyrannen verbrüdern, über Landraub hinwegsehen,
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Morde ignorieren, die Korruption begünstigen – und all das im Namen von Sicherheit und Stabilität? Jede gesunde, ja jede realisierbare Politik im Umgang mit der arabischen Welt und dem weiteren Nahen und Mittleren Osten muss nicht nur ihre strategischen Ziele, sondern auch die Mittel und Wege, diese zu erreichen, neu überdenken. Der Westen (angefangen mit den USA) muss vor allem daran arbeiten, sein Ansehen wiederherzustellen: seine Integrität und Glaubwürdigkeit. Doch, und das habe ich in diesem Buch immer wieder betont, müssen auch die Araber ihren Teil leisten, den allergrößten Teil sogar, um ihre Länder zu erfolgreichen Gesellschaften zu machen. *** Im Frühjahr 2007 sprach ich mit einem führenden US-Politstrategen für den Mittleren Osten und war doch sehr überrascht, als er mir riet, nicht allzu viel auf das zu geben, was amerikanische Politiker so verlautbaren lassen: „Schauen Sie auf das, was wir tun, nicht auf das, was wir sagen.“ Eine Lektion, die die Völker des Nahen und Mittleren Ostens längst begriffen haben. Ob arabische Nationalisten, Liberale oder islamische Erneuerer – sie alle mussten aufs Schmerzlichste erfahren, dass zwischen Worten und Taten der Amerikaner Welten liegen. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg freuten sie sich über eine neue Supermacht als ein mögliches Gegengewicht zu den europäischen Kolonialmächten. Diese Erwartungen wurden nicht erfüllt, doch die Hoffnung blieb. Und gelegentlich flackerte sie auf – etwa als Eisenhower Amerikas Macht vor und während der Suezkrise 1956 nutzte, um Israels expansionistische Pläne zunichtezumachen und den englisch-französischen Kolonialismus im Nahen und Mittleren Osten endgültig zu verabschieden (vgl. Kapitel VII). Hätten die Araber die USA besser gekannt, so hätten sie freilich schon damals eine durchgehende Linie von Widersprüchen entdeckt – zwischen einer libertären und antikolonialen Verbundenheit mit den Ideen der Selbstbestimmung und der Freiheit einerseits und den Bedürfnissen einer auf Expansion bedachten Macht andererseits, die ihre Einflusssphäre etablieren und bei der balance of power mitmischen möchte, wobei sie gelegentlich auch die Rechte anderer mit Füßen tritt. Die Vereinigten Staaten – eine Republik, deren Gründungsväter die Freiheit über alles andere stellten – pflegen einen unerschütterliche Glauben an die eigene Rechtschaffenheit und Tugend. Trotz gelegentlicher Rückschläge herrscht dort zudem der unerschütterliche Glaube an die eigene militärische Stärke – und an den Auftrag, die Idee der Freiheit in die Welt hinauszutragen. Dieser Glaube an sich selbst wurde einmal mehr gestärkt durch die Rolle des großen Siegers nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Doch wie Joan Hoff in ihrer Studie über die US-Außenpolitik von Woodrow Wilson bis George W. Bush feststellte, war Amerika dabei stets „von außerordentlichem Glauben an seine ‚Rechtschaffenheit‘ und ‚militärische Stärke‘ beseelt.“2
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Diese Überzeugung einer besonderen Berufung findet sich bereits in dem berühmten Satz des puritanischen Pilgervaters John Winthrop aus dem Jahr 1630: „Denn wir müssen bedenken, dass wir wie eine [leuchtende] Stadt auf dem Hügel sein sollen, die Augen aller sind auf uns gerichtet …“ Diese vom frühen Gründergeist beseelte Erklärung wurde von Kennedy und Reagan oft zitiert und durchdringt bis heute die Rhetorik amerikanischer Politiker. So beteuerte beispielsweise auch Clintons Außenministerin Madeleine Albright: „Die Vereinigten Staaten sind gut. Wir versuchen überall unser Bestes zu tun.“3 Und George W. Bush richtete sich 2003 in seiner Rede zur Lage der Nation am Vorabend der Irak-Invasion mit folgenden Worten an alle Amerikaner: „Während unsere Nation Soldaten verlegt und Bündnisse schmiedet, damit unsere Welt sicherer wird, müssen wir auch daran denken, dass wir dazu berufen sind, als gesegnetes Land diese Welt besser zu machen.“ Hören wir auch noch einmal, was Präsident Obama bei seiner Siegeskundgebung in Chicago im November 2008 der ekstatischen Menge zurief: „An diejenigen, die diese Welt niederreißen wollen: Wir werden euch besiegen. An diejenigen, die Frieden und Sicherheit wollen: Wir unterstützen euch. Und an diejenigen, die sich gefragt haben, ob das Leuchtfeuer Amerikas noch so hell brennt: Heute Abend haben wir einmal mehr bewiesen, dass die wahre Stärke unserer Nation nicht von der Macht unserer Waffen oder dem Ausmaß unseres Wohlstands kommt, sondern von der andauernden Kraft unserer Ideale: Demokratie, Freiheit, Chancen und unablässige Hoffnung.“ Als 1823 die Monroe-Doktrin formuliert wurde, fußte sie auf dem Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker des gesamten amerikanischen Kontinents und stand damit in Gegensatz zu dem ausbeuterischen Konzept der europäischen Kolonialmächte. Doch sie konstatierte auch das Recht der Vereinigten Staaten auf ein Eingreifen für den Fall, dass die europäischen Kolonialmächte diese politischen Grundsätze ignorieren sollten – eine Art Generalvollmacht, von der die USA stets uneingeschränkt Gebrauch machten. Die Idee des Manifest Destiny – dass es Amerikas „offenkundige Bestimmung“ sei, den (amerikanischen) Kontinent zu erobern und die Menschen in eine neue Ära der Freiheit zu führen – war geboren. Diesem Expansionsgedanken getreu, vergrößerten die USA ihr Staatsgebiet westwärts bis zum Pazifik und eroberten im Krieg von 1846–48 knapp die Hälfte des damaligen Mexiko. In den Kriegen gegen Spanien nahmen sie 1898 die Philippinen und Kuba ein und starteten zwischen 1898 und 1920 verschiedene Interventionen in Mittelamerika sowie zwanzig Militäraktionen in der Karibik. Angesichts dieser Erfahrungen nimmt es kaum Wunder, dass sich die USA – ein Volk der Neubesiedler – instinktiv auf die Seite Israels und dessen territorialem Expansionsstreben stellten und wenig Verständnis für den revolutionären Nationalismus und die Selbstbestimmungsansprüche der Araber aufbringen. Dies gilt umso mehr, als sie sich längst nicht mehr nur als Großmacht der eigenen Hemisphäre sehen, sondern als Weltmacht.
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In der puritanischen Tradition verankert ist der Glaube, es gäbe einen „besonderen Auftrag“ Gottes für die Israeliten, die dort ansässigen Bewohner aus dem „gelobten Land“ zu vertreiben. Auf die USA bezogen schrieb Francis Parkmen, einer der großen amerikanischen Historiker des 19. Jahrhunderts, dass es Amerikas indianischen Ureinwohnern „bestimmt“ sei, „mit den Wellen der angloamerikanischen Macht, die nun westwärts rollten, zu verschmelzen und zu verschwinden“. Man ist versucht zu glauben, dass viele Amerikaner, die in den Stimmen der Zionisten das Streben nach einem Eretz Israel hörten – dem biblischen Land Israel vom Jordan bis zum Mittelmeer –, mit dem Hall der Bibelworte auch den ersten und letzten Refrain des patriotischen amerikanischen Liedes America the Beautiful vernahmen: „America! America! God shed His grace on thee, And crown thy good with brotherhood, from sea to shining sea.“ („Amerika! Amerika! Gott schenkte dir seine Gnade, und bekränzte deine Güte mit Bruderschaft, vom Meer zum strahlenden Meer.“ ) Die USA als eine Erlöser-Nation, auserwählt durch göttliche Vorsehung – diese Vorstellung zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Landes, und kaum ein amerikanischer Präsident hat sie je in Frage gestellt. Woodrow Wilson etwa war fest überzeugt, durch die Schaffung des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg führe nun Amerika „die Erlösung der Welt“ an. Aus dieser gemeinsamen Grundüberzeugung heraus hat im Laufe der letzten Jahrzehnte eine eher apokalyptische Denkrichtung ganz besonders an Einfluss gewonnen: ein fundamentalistischer protestantischer Evangelismus, der auf den Jüngsten Tag blickt, den Tag, an dem die Juden heimkehren in das gesamte biblische Israel und der Satan besiegt sein wird. Diese religiöse Rechte, die nicht nur in der Republikanischen Partei der USA sehr einflussreich ist, sondern beispielsweise auch bei den britischen Konservativen zunehmend an Stärke gewinnt, bietet Israel sowie jeglicher Politik, die Israels Ziele fördert (wie etwa die Invasion im Irak) bedingungslose Unterstützung an. Diese sogenannten Christlichen Zionisten interessieren sich nicht für die Juden als solche, außer als Erfüllungsgehilfen eines großen biblischen Planes, von dem wiederum die Juden ausgeschlossen sein werden (da nach christlicher Überzeugung schließlich nur erlöst wird, wer an Jesus glaubt). Und diese mächtige Lobby ist nicht die geringste der Restriktionen, unter denen die amerikanische Politik agieren muss. Die Araber ihrerseits hörten aus Amerika den Ruf nach Freiheit. Schließlich hatten sie, und das sollte der Westen stets im Gedächtnis behalten, große Hoffnungen auf das 14-Punkte-Programm gesetzt, das Präsident Wilson für das vom Ersten Weltkrieg erschütterte Europa aufstellte und mit dem für das Osmanische Reich der letzte Vorhang fiel. General James Harbord, der im Auftrag Wilsons den Nahen Osten bereiste, berichtete dem Präsidenten 1919, dass es „ohne einen Besuch im Nahen Osten einem Amerikaner unmöglich ist, sich auch nur im Entferntesten die Achtung, den Glauben und die Zuneigung vorzustellen, die un-
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serem Land in der gesamten Region entgegengebracht werden“. Grund dafür war seiner Meinung nach der „weltweite gute Ruf, den wir für unser faires Handeln genießen“.4 Doch die USA kamen den hochtrabenden Versprechungen hinsichtlich Selbstbestimmung in der Region nicht nach. Die Ergebnisse der King-Crane-Kommission von 1918, denen zufolge die palästinensischen Araber mehrheitlich gegen die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina waren, wurden erst 1922 veröffentlicht, als die Region bereits in eine Art anglo-französisches Kondominat überführt und die Balfour-Deklaration von beiden Häusern des US-Kongresses verabschiedet worden war. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte entwickelte sich, wie Douglas Little gezeigt hat, das amerikanische Bild vom Nahen und Mittleren Osten unter dem Einfluss des Magazins National Geographic und dessen klischeehafter Darstellung der Region als einer fremden, exotischen arabischen Welt und eines mutigen israelischen Pioniergeistes. Hollywoodfilme wie Der Dieb von Bagdad und Märchen aus 1001 Nacht, propagandistische Bestseller wie Leon Uris’ Roman Exodus von 1958 (mit Paul Newman in der Hauptrolle verfilmt) und dessen Fortsetzung Haddsch sowie boshafte Charakterzeichnungen von Arabern – wie sie sich in Büchern von Mark Twain (Die Arglosen im Ausland) bis James Michener (Die Quelle) finden – taten das Ihre, das Ressentiment zu verfestigen.5 Das Muster ist alt. Aischylos (dessen Stück Die Perser von 472 v. Chr. das älteste erhaltene griechische Schauspiel ist) sowie andere griechische Tragödienschreiber gewannen zahlreiche panhellenische „Oscars“, indem sie das Bild eines grausamen, effemistischen und dekadenten östlichen Despotismus zeichneten, um ihre eigene kulturelle Überlegenheit in Szene zu setzen. Die großen Tragödiendichter waren die Ersten, die Identität durch Verdammung „der Anderen“ zu gewinnen suchten.6 Diese Taktik begegnet uns in der Geschichte immer wieder. In Kapitel III habe ich dargelegt, wie Europa seine Identität durch Abgrenzung gegen den Islam ausbaute – und dabei, wie David Levering Lewis aufgezeigt hat, nicht einmal die Verfälschung historischer Tatsachen scheute. Das mittelalterliche Rolandslied etwa verwandelt das Debakel, welches Karl dem Großen 778 bei Roncesvalles widerfuhr, in einen zivilisatorischen Gründungsmythos. In Wahrheit war Karl der Große auf dem Rückzug von einem erfolglosen Beutezug über die Pyrenäen ins muslimische Spanien. Seine Nachhut, darunter der heldenhafte Bretone Roland, wurde von den Basken getötet, als Rache dafür, dass der christliche Paladin der Franken ihre (christliche) Stadt Pamplona geplündert hatte. Knapp drei Jahrhunderte später, kurz vor Ausrufung des Ersten Kreuzzugs durch Papst Urban II. im Jahr 1095, wurde jene Demütigung durch die Basken umgedeutet in einen nationenbildenden Konflikt zwischen Franken und Sarazenen, zwischen Christen und Muslimen, kurz: in einen wichtigen Mythos des Christentums.7
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Zurück in die Gegenwart. Das öffentliche Bild der Amerikaner von Arabern und Muslimen zog sich, gestützt durch Geschichten aus den Kriegen gegen Mexiko und gegen die Indianer, bis in die höchsten Regierungskreise und nährte zur Zeit des Kalten Krieges die Furcht, der Kommunismus könne den gesamten Nahen und Mittleren Osten durchdringen. Es heißt, Präsident Johnson habe Nasser als eine Mischung aus dem vietnamesischen Revolutionsführer Ho Chi Minh und dem Apachenhäuptling Geronimo angesehen. Von Johnsons Berater John Roche, der aus Texas stammte, sind die Worte überliefert: „Ich gebe zu, ich betrachte die Israelis als Texaner und Nasser als Santa Ana.“8 William Fulbright, langjähriger Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses im Senat, schrieb in seinem 1966 erschienenen Buch Die Arroganz der Macht, Amerika sei trotz seiner eigenen revolutionären Geschichte gar nicht in der Lage, Verständnis für den Aufruhr in der Dritten Welt und die Verlockungen eines revolutionären Nationalismus’ aufzubringen: „Macht neigt dazu, sich mit Tugend zu verwechseln, und eine große Nation ist besonders empfänglich für die Vorstellung, dass ihre Macht ein Beweis für die Gunst Gottes sei, die ihr eine besondere Verantwortung für andere Nationen auferlegt – die Aufgabe, andere reicher, glücklicher und vernünftiger zu machen und sie nach dem eigenen strahlenden Vorbild umzugestalten.“ Dieser Aspekt des amerikanischen Selbstbewusstseins ist – die Invasion im Irak zeigt dies besonders drastisch – in gewisser Weise ein Syllogismus: Wir Amerikaner sind gut und freiheitsliebend, unsere Absichten im Nahen und Mittleren Osten sind selbstlos und ehrenhaft. Mithin ist auch nahezu alles, was wir dort tun, gut und richtig. Doch das wird in der Region selbst völlig anders gesehen, und zwar nicht nur von den Arabern. Das Bild von der Glocke der Freiheit, die durch alle Länder des Nahen und Mittleren Ostens hallt und dortige „Abu Jeffersons“ für die Sache der Freiheit zu den Waffen ruft, mag eine erbauliche Vision sein, lässt sich jedoch mit dem Misstrauen gegenüber der amerikanischen Demokratie schwerlich in Einklang bringen. Amerikas Geschichte im Nahen und Mittleren Osten ist eine Geschichte des Widerspruchs zwischen Worten und Taten. *** Die Erfahrung dieses Widerspruchs hat auch der Iran gemacht. Nachdem die Invasion im Irak die sunnitische Ordnung auf den Kopf gestellt und den iranischen Einfluss durch den Machtzuwachs der Schiiten enorm vergrößert hat, muss der Iran – neben anderen großen nicht-arabischen Ländern wie der Türkei und Pakistan – fortan in jeden Versuch, die grundlegenden Konflikte des Nahen und Mittleren Ostens zu lösen, mit einbezogen werden. In diesem Abschnitt werden wir zwei Fragen beleuchten: Welche Rolle spielen diese Länder im Drama des Nahen Ostens? Welches Muster hinsichtlich der Beziehungen mit den USA lässt sich erkennen?
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Ob der Iran Teil der Lösung oder Teil des Problems sein wird, hängt davon ab, ob die USA und der Iran die alten Feindseligkeiten überwinden und ihre Differenzen beilegen können. Oder aber, und diese Vorstellung ist nicht abwegig, die USA drohen mit einem Schlag gegen die iranischen Atomanlagen oder Israel wird diese angreifen und die USA so mit hineinziehen. Doch das würde bedeuten zu riskieren, den Nahen und Mittleren Osten, das ohnehin gefährliche Pulverfass, in Flammen aufgehen zu lassen und eine iranische Vergeltung innerhalb und außerhalb der Region zu provozieren. Nachdem die USA das umfassende iranische Verhandlungsangebot (grand bargain) Präsident Khatamis im Mai 2003 abgelehnt hatten, trat die Bush-Administration in erste Dialoge mit dem Iran zum Thema Irak (siehe Kapitel VI). Im Sommer 2006 bot die Regierung Bush an, sich den EU-3 in direkten Gesprächen anzuschließen, knüpfte das Angebot jedoch an die absolut illusorische Bedingung, dass der Iran zuvor sämtliche Aktivitäten der Urananreicherung aussetzen müsse. Dies war der Stand der Dinge, und nichts deutete darauf hin, dass die beiden Länder ernsthaft zu Gesprächen bereit waren, von Verhandlungen ganz zu schweigen. Es gab schlichtweg zu viel böses Blut auf beiden Seiten. Die Vereinigten Staaten haben nie vergessen, wie ihre Truppen während des libanesischen Bürgerkriegs durch gezielte Bombenanschläge aus Beirut vertrieben wurden. Auch die Belagerung der US-Botschaft in Teheran nach der Revolution von 1979 sowie der verpfuschte Versuch zur Rettung der Geiseln sind keineswegs vergeben und vergessen. Ebensowenig vergessen sind die Geiselnahmen amerikanischer Bürger in Beirut und die damit verbundene Iran-Contra-Affäre, wo Geld aus Waffenlieferungen zum Freikauf US-amerikanischer Geiseln im Libanon vorgesehen war. Und auch das Fortbestehen der Hisbollah haben die Vereinigten Staaten nie akzeptiert. Der Iran seinerseits kann und will den anglo-amerikanischen Putsch gegen die gewählte nationalistische Regierung Mossadegh und die Wiedereinsetzung des Schah weder vergeben noch vergessen (und auch nicht, dass es H. Norman Schwarzkopf, der Vater des US-Kommandeurs im Golfkrieg 1991, war, der dem autoritären Schah-Regime seine Polizeitruppe zur Verfügung stellte). Wie auch immer man heute darüber denkt: Für die Mehrheit der Iraner war die Revolution von 1979 nicht nur gegen die Pahlavi-Dynastie gerichtet, sondern auch gegen deren amerikanische Förderer. Nicht vergessen ist auch das Jahr 1980, als die USA und der Westen die irakische Invasion in den Iran billigten und Saddam Hussein mit Waffen ausrüsteten, während dieser Raketen auf iranische Städte und Chemiegranaten auf iranische Truppen regnen ließ. All dies geschah lange bevor Bush 2002 in seiner „Achse des Bösen“-Rede die Mullahs für einen Regimewechsel ins Spiel brachte. All dies hat dem Stolz beider Nationen schwere Wunden beigebracht, die noch lange nicht verheilt sind. Trotz seiner stolzen persischen Vergangenheit und der im Widerstand geübten Tradition des schiitischen Islam hat der Iran im Laufe
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seiner Geschichte viele Invasionen erlitten: durch Griechen und Römer, Araber und Mongolen, durch Seldschuken und osmanische Türken. Im frühen 20. Jahrhundert dann, als er sich langsam in Richtung Moderne kämpfte, wurde der Iran zum Spielball der imperialistischen Interessen Russlands und Großbritanniens. All diese Invasionen vermochte das Land mehr oder weniger zu absorbieren. Der Einmarsch der USA jedoch war schwieriger zu verkraften, zumal das aufoktroyierte moderne westliche Denken der Weißen Revolution des Schah zu Brüchen quer durch die gesamte iranische Gesellschaft führte. Den Amerikanern machte insbesondere das Vermächtnis von Beirut schwer zu schaffen. Die vom Iran unterstützten schiitischen Kräfte – die sich später in der Hisbollah zusammenfinden würden – brachten den USA die wohl größte Demütigung seit dem Vietnamkrieg bei. Im April 1983 wurde die amerikanische Botschaft in Westbeirut durch einen Bombenangriff zerstört, ein Jahr später die Außenstelle im christlichen Ostbeirut in die Luft gejagt, was Salz in die Wunden streute, die die 444-tägige Geiselhaft von 52 Amerikanern in der Teheraner Botschaft hinterlassen hatte. Noch heftiger schmerzte der Bombenanschlag auf einen US-Stützpunkt in Beirut, bei dem im Oktober 1983 241 US-Marines und 58 französische Fallschirmjäger ums Leben kamen und der schließlich zum Abzug der amerikanischen Truppen vier Monate später führte. Zwanzig Jahre danach würde Richard Armitage, stellvertretender Außenminister in der ersten Regierung Bush, die Hisbollah als das „A-Team“ des internationalen Terrors bezeichnen – tödlicher noch als al-Qaida –, das gegenüber den Amerikanern eine Blutschuld hätte, welche die USA einzutreiben beabsichtigten.9 Doch auch die Narben des Iran aus wiederholten Invasionen und ausländischer Einmischung in innere Angelegenheiten sind noch frisch. Alle Iraner, darunter die vielen, die die regierenden Mullahs ablehnen, erinnern sich an den Einmarsch Großbritanniens und Russlands während des Zweiten Weltkriegs, um die strategisch wichtige Transiranische Eisenbahn in ihre Gewalt zu bringen und Reza Schah Pahlavi zu zwingen, 1941 zugunsten seines Sohnes Mohammad Reza Pahlavi abzudanken. Die anglo-amerikanische Verschwörung von 1953, Mohammad Mossadegh zu stürzen, weil dieser sich „erdreistete“, die Ölfelder zu verstaatlichen, ist von solcher Symbolkraft, dass die Theokraten, die heute in Teheran regieren, keine Probleme haben, deren Nachhall dazu zu benutzen, die westlichen Vorbehalte gegen das Atomprogramm des Iran als neuen Versuch darzustellen, das Land seiner Ressourcen und Technologien zu berauben – und nicht als das Bestreben, den Iran davon abzuhalten, zur Atommacht aufzusteigen. Überdies ist der Iran das einzige Land, das in jüngerer Zeit tatsächlich einem Angriff mit Massenvernichtungswaffen ausgesetzt war – chemischen Waffen des Irak, die nachweislich von westlichen Lieferanten stammten, was die Argumente des Westens über die Atompläne des Iran aus iranischer Sicht natürlich noch suspekter erscheinen lässt.
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Nichts von alledem eignet sich als Basis für Gesprächsbereitschaft, von Hoffnung auf eine Entspannung gar nicht zu reden. Doch es gab durchaus Chancen. Als Mohammad Khatami, zuvor Kultusminister und als solcher 1992 wegen „Laxheit“ zum Rücktritt gezwungen, im Mai 1997 in einem reformistischen Erdrutschsieg gewählt wurde, unterstrich er das brachliegende republikanische Potenzial der Islamischen Republik und versprach nicht nur die Aussicht auf eine Verbindung zwischen Islam und Demokratie, sondern auch auf einen versöhnlichen Neuanfang in den Beziehungen zu den USA und dem Westen. Die Theokraten, die ihre Macht und ihr dichtes Netzwerk materieller Interessen im Schatten des Krieges 1980–88 konsolidiert hatten, um die vom Westen unterstützte Invasion des Irak zurückzuschlagen, waren angesichts des klaren Wählerentscheids zugunsten von Reformen regelrecht aus der Bahn geworfen: Khatami konnte siebzig Prozent der Stimmen auf sich vereinigen, und dies bei einer Wahlbeteiligung von an die neunzig Prozent. Mehr als zwanzig Millionen Stimmen, vorwiegend von Unter-25-Jährigen (die rund zwei Drittel der iranischen Bevölkerung ausmachen) sowie von Frauen, setzten ein deutliches Zeichen. Ein Jahr später grenzte die öffentlich bekundete Sympathie für den damals 55-jährigen Geistlichen schon fast an Vergötterung. Im Mai 1998, am ersten Jahrestag seines Wahlsiegs, sah ich Zehntausende in die Teheraner Universität strömen, um zu ihn feiern. Erst nach einer guten Viertelstunde stehender Ovationen kam Khatami zu Wort. Er versprach, sich nicht davon abbringen zu lassen, eine freiere Gesellschaft zu schaffen, mit einer Regierung, die sich gesetzestreu dem Volk verpflichtete. „Wenn der Glaube in Konflikt gerät mit der Freiheit“, sagte er, „dann wird es der Glaube sein, der leidet.“ Er forderte „eine Politik, die frei ist von Zwang, die auf den Menschenrechten, der Herrschaft des Volkes sowie auf Rechtsstaatlichkeit und Toleranz basiert, verbunden mit Respekt für freies Denken, mit Respekt und Verehrung für Freiheit [als einem Wert] an sich“. Diese Worte veränderten die politische Debatte im Iran – und lösten in maßgeblichen Kreisen des Klerus dementsprechende Angst aus. Eine Analyse dieser Machtstruktur zeigte eine undurchsichtige und undurchdringliche, veränderungsresistente Festung des Islamismus. Alle wirkliche Macht ging, dieser Sichtweise zufolge, von Ajatollah Ali Khamenei aus, Nachfolger des verstorbenen Imam Ayatollah Ruholla Khomeini, des Vaters der Revolution, die die Autokratie des Schah durch die Theokratie ersetzte. Khamenei kontrollierte die Armee, die Revolutionsgarden, die Geheimdienste, das Rechts- und Gerichtswesen sowie die Außenpolitik. Zudem waren para-staatliche Organisationen wie die Bonyads (vordergründig gemeinnützige Stiftungen aus den Nachlässen des Schah und führender Monarchisten, die gemeinsam mit dem Staat rund achtzig Prozent der Wirtschaft kontrollierten und über 5000 Produkte und Dienstleistungen anboten, aber keine Neuinvestitionen oder Arbeitsplätze schufen) einzig ihm verantwortlich. Der Privatsektor wurde vom Bazaar dominiert, einer konservativen Handelsgemeinschaft mit deutlicher Abneigung gegen Unternehmer-
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tum und ebenso deutlicher Vorliebe zur Ausnutzung wirtschaftlicher Schlupflöcher. Darüber hinaus kontrollierte Khamenei auch die traditionellen Massenmedien: Rundfunk und Fernsehen sowie die Moscheen. Dennoch brachten die Kräfte der islamischen Reaktion, die später (nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2005) Mahmoud Ahmadinedschad repräsentieren sollte, kaum mehr als eine dilettantische Antwort hervor, die sich eher in willkürlichen Provokationen denn in einer echten Strategie äußerte, das Khatami-Projekt rückgängig zu machen. Und dieses Projekt war, obwohl es die Legitimität der Islamischen Republik nicht infrage stellte, demokratischer Natur. Wie es ein Mitarbeiter Khatamis seinerzeit formulierte: „Eines der wichtigsten Ziele [des Präsidenten] ist eine politische Struktur, die es dem Sieger einer Wahl auch erlaubt, die Macht zu übernehmen.“10 Khatami – der nicht nur de Tocqueville bewunderte, sondern auch Machiavelli übersetzt hatte – verlor keine Zeit, sämtliche Provinzgouverneure (die die Wahlen kontrollieren), rund zweihundert politische Funktionäre in der Zivilverwaltung und den Kommandeur der Revolutionsgarden zu entlassen. All dies wurde in der gesamten Region aufmerksam verfolgt. Scheich Hassan Nasrallah, Chef der Hisbollah, gehörte zu denen, die applaudierten. In einem persönlichen Gespräch sagte er mir, Khatami „bietet ein Modell und ein Beispiel. Es gibt viele Modelle, darunter gefährliche wie das der Taliban, die, in geheimer Absprache mit den USA, den Islam als ignorant, primitiv, frauenfeindlich und rückwärtsgerichtet darstellen. Im Iran von heute gilt ein aufgeklärter und toleranter Islam, der echt und authentisch ist und der auf den Ursprüngen des Islam basiert. Dieses Modell wird in der arabischen Welt eine schrittweise und positive Wirkung zeitigen, und zwar sowohl auf Regierungsebene als auch innerhalb der Bevölkerung.“11 Es war ein möglicher Schlüsselmoment in der Geschichte nicht nur des Iran, sondern des gesamten Nahen und Mittleren Ostens. Im Gegensatz etwa zu Michael Gorbatschow, der im Ausland mehr Bewunderung erfuhr als im eigenen Land, genoss Khatami die Unterstützung seines eigenen Volkes, musste auf internationalem Parkett aber noch Boden gewinnen. Als Erstes streckte er seine Fühler in Richtung USA aus: In einem Interview mit dem Sender CNN im Januar 1998 forderte er einen „Dialog der Kulturen ... mit dem großen amerikanischen Volk“, um die „Mauern des Misstrauens“ niederzureißen. Im Mittelpunkt seines Programms standen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Werte, die auch in der amerikanischen Geschichte eine große Rolle spielten. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde sich US-Präsident Bill Clinton darauf einlassen, ähnlich wie Richard Nixon 25 Jahre zuvor mit China. Als Clinton dann aus Anlass des Spiels USA–Iran bei der Fußballweltmeisterschaft zu einer „echten Versöhnung“ aufrief, waren die Parallelen zur „Ping-Pong-Diplomatie“ unverkennbar, die der Entspannung mit Peking vorausgegangen war. Wie wir gesehen haben, unterbreitete Khatami – allerdings bereits immens geschwächt – im
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Mai 2003 ein zweites Angebot. Doch beide Male fand der iranische Präsident kein Gehör. 2003 litten die iranischen Reformer unter der Sabotage der politisch isolierten, institutionell jedoch überaus mächtigen Religiöskonservativen, und die politische Elite des Iran debattierte angesichts der Invasion des Irak darüber, das Atomprogramm zügig voranzutreiben. Freilich trug auch Khatami selbst zu seinem Niedergang bei, indem er einer Machtstruktur nach khomeinistischen Konzept (das die Macht in die Hände nicht gewählter Geistlicher legt, die ihrerseits vom Volk gewählte Politiker überstimmen können) nicht frontal entgegentrat, sondern hoffte, Khamenei überzeugen zu können, dass sein Überleben und das der Islamischen Republik von einer Reformpolitik abhing. Sein zaghafter Reformismus unterschätzte jedoch die Entschlossenheit, mit der das Regime seine Macht und Privilegien zu verteidigen wusste. Khatami zog es vor, die öffentliche Debatte mit Ideen anstatt mit Blei anzuheizen, schaffte es nicht, seine engsten Verbündeten vor der Amtsenthebung zu schützen, scheute die Konfrontation mit dem Majlis (Parlament) über eine Verfassungsreform, zeigte bei den Studentenunruhen im Juli 1999 Flagge und vertraute zu sehr auf die wackelige Allianz mit Akbar Hashemi Rafsandschani, seinem ehrgeizigen Amtsvorgänger und Architekt der iranischen Realpolitik. Wir werden nie wissen – wenngleich es eine legitime Frage ist –, ob größeres Engagement seitens der Amerikaner und Europäer, die demokratischen Entwicklungen im Iran zu stärken, auch Khatami – und dessen Rückgrat – gestärkt hätte. Unbestritten hatte Khatami bei den Iranern, dem wohl amerikafreundlichsten Volk im gesamten Nahen und Mittleren Osten, breiteste Unterstützung. Es war eine riesige Chance – die Chance auf echten demokratischen Wandel –, die der Westen weitgehend ignorierte. So konnten Ahmadinedschad und die Reformgegner zeigen, dass Khatami das Land in eine Sackgasse geführt hatte, mitten hinein in die „Achse des Bösen“. Die Zurückweisung 2003 hatten ihren Grund nicht nur darin, dass die neokonservativen Hardliner der Regierung Bush, die sogenannten Falken unter Führung von Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, aufgrund ihres vermeintlichen Siegs im Irak in Selbstherrlichkeit schwelgten. Immerhin hatte es Washington auf diesem scheinbaren Höhepunkt der Macht vermocht, sich mit den nordkoreanischen Stalinisten an einen Tisch zu setzen, die auf ihrem Weg zur Atommacht bereits ein gutes Stück vorangekommen waren. Der politische Fahrplan des Iran – der anbot, sich mit den USA in Fragen der Atomwaffen und Terrorismus zu verständigen, die Differenzen im Irak zu bereinigen, und an einer Zweistaatenlösung im Israel-Palästina-Konflikt mitzuwirken – war sehr viel umfassender als das Abrüstungsabkommen, das Libyen und den hemmungslosen Terrorunterstützer Muammar Gaddafi vom Image eines Schurkenstaats befreit hatte. Beim Iran liegen die Ursachen tiefer.
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Wie wir in Kapitel IV gesehen haben, vermutete die Regierung Bush schon bald hinter jedem Blätterrascheln im Irak und der gesamten Region die Hand Teherans. Einiges deutet darauf, dass man die Mujahedin e-Khalq (eine im Irak stationierte paramilitärische Gruppe, die seit 1997 auf der Terroristenliste der USA steht) als Pfand gegen Teheran benutzte, und es gab Berichte, wonach Sondereinsatzkräfte der USA die arabischen, aserischen, kurdischen und belutschischen Minderheiten im Iran gegen die schiitisch-persische Mehrheit aufwiegelten. Der Iran mochte anbieten, was er wollte – nichts, so schien es, war gut genug, solange er eine Islamische Republik blieb. Auch die Haltung des Iran gibt freilich einige Rätsel auf: Sie vermischt die Opferrolle mit dem stolzen Überlegenheitsgefühl einer uralten Kultur, und sie vermischt Verletzlichkeit mit dem Anspruch einer regionalen Macht. Die Islamische Republik ist paranoid und kampfeslustig zugleich – wobei sich Präsident Ahmadinedschad vor allem in Letzterem übt, insbesondere in seinem provokanten, inzwischen gut einstudierten Ruf nach Auslöschung Israels. Doch das Selbstvertrauen des Iran ist nicht gänzlich unbegründet. Wie Afghanistan und der Irak ist der Iran von US-Streitkräften so gut wie umzingelt. Gleichzeitig ist das Land, wie wir gesehen haben, der größte Nutznießer der Irak-Invasion, zumal die US-amerikanischen Streitkräfte an beiden Kriegsschauplätzen festsitzen. Aus Sicht Teherans gaben die USA ein Zeichen, indem sie ihren damaligen Botschafter im Irak beauftragten, mit dem Iran in Sicherheitsgespräche bezüglich des Irak zu treten. Sollte der Iran tatsächlich angegriffen werden, hat der Iran darüber hinaus die Möglichkeit, über Erfüllungsgehilfen im Irak, in Afghanistan, im Libanon, in Syrien und Palästina zurückzuschlagen oder die gesamte Golfregion zu destabilisieren. Und, zumindest im Moment, hat der Iran noch weitere gute Gründe, sich selbstbewusst zu geben. Die Ölquellen sprudeln reichlich, und die Nachfrage nach Erdöl war nie größer. Der weltweite Abschwung, ausgelöst durch die Finanzkrise und Rezession in den reichen Ländern, ließ die Ölpreise Ende 2008 auf etwa ein Drittel ihrer Spitzenwerte sinken. Doch obwohl dies für Ahmadinedschad – der die Erdölvorkommen ungeniert ausbeutete, um seine populistischen Vorhaben zu finanzieren – natürlich ungünstig war, standen die mittelfristigen Aussichten für den Ölpreis doch alles andere als schlecht. Mit der Wahl Ahmadinedschads waren die Theokraten überdies auch politisch die Herren im eigenen Haus – trotz wachsenden öffentlichen Unmuts über die wirtschaftliche Inkompetenz der Regierung. Die Sanktionen, die zuerst die USA und dann die internationale Gemeinschaft dem Iran auferlegten, wirken sehr viel subtiler als das vernichtende Embargo gegen den Irak – sie betreffen Banken (und damit Handel und Investitionen), strategisch wichtige Industriezweige und prominente iranische Kader. Dennoch hat der diplomatische Belagerungszustand das Land tendenziell geeint und machen das Recht auf Technologie und Abschreckung zu einem glei-
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chermaßen kraftvollen Symbol wie seinerseits, vor mehr als einem halben Jahrhundert, die Verstaatlichung der Ölindustrie. Irans Sicherheitsbedenken sind inzwischen derart mit der Anspruchshaltung des Landes verquickt, dass jedwedes Abkommen mit den USA und dem Westen Teheran einen angemessenen Status ebenso garantieren muss wie Sicherheit. Washington mag sich ein Stück weit bewegt haben, aber bislang scheint es, als habe es sich nur gestählt für den Versuch, diplomatisch an ein Problem heranzugehen und nicht eine Regionalmacht zu konsekrieren oder sie gar als Konkurrenzhegemon zu Israel aufzubauen. Das ist der Kern des diplomatischen und strategischen Problems. *** Bevor wir zu der Politik kommen, die einen erfolgreichen Lösungsansatz für dieses und andere strategische Probleme bieten könnte, die wir im Laufe dieser unerfreulichen Bestandsaufnahme zum Nahen und Mittleren Osten betrachtet haben, möchte ich zwei weitere Länder ansprechen, die in der Region von großem Einfluss sind: zum einen die Türkei, die ein hoffnungsvolles Beispiel bietet, zum anderen Pakistan, wo es weit weniger rosig aussieht. Der US-amerikanische Einmarsch im Irak hat nicht nur umfassende Animositäten bei Arabern und Muslimen geweckt. Er hat den Bannkreis des Iran deutlich erweitert und die Türken dahingehend entfremdet, dass ihr Land inzwischen Gefahr läuft, aus dem westlichen Orbit herauszufallen. Und der Gesamttenor der US-Politik ist seit dem 11. September auf dem besten Wege, Pakistan zu einem gescheiterten Staat werden zu lassen. Pakistan bot, ich habe es in Kapitel IV angesprochen, das wohl anschaulichste Beispiel für die potenziell tödliche Kombination zweier Gefahren, die laut den Regierungen Bush und Blair angeblich im Irak bestand, nämlich der möglichen Überschneidung von atomarer Waffengewalt mit dem wachsendem Einfluss des Dschihadismus. Als ein Land von großer geostrategischer Bedeutung, am Schnittpunkt zwischen Mittlerem Osten, Zentral- und Südasien gelegen, sowie als ein Staat, den die Bush-Administration als „wichtigen Nicht-Nato-Verbündeten“ bezeichnet hat, ist Pakistan auch eine Bundesrepublik, die von einer Mischung ethnischer, tribaler und islamistischer Unruhen zerrissen zu werden droht. Zusätzlich verschärft wird die Lage durch eine kaum verschleierte Militärdiktatur, die die Vereinigten Staaten kräftig unterstützt haben. Als General Pervez Musharraf 1999 in einem unblutigen Militärputsch die Regierungsgewalt übernahm, hofften viele Pakistanis auf ein Ende der jahrzehntelangen Missregierung (durch Zivilipersonen ebenso wie durch Generäle), die das Land in den Bankrott trieb und seine Institutionen hatte zusammenbrechen lassen. Pakistans Verbündete und Widersacher waren insgeheim erleichtert, dass ein junger Atomwaffenstaat, der gerade einen begrenzten Krieg im Himalaya mit
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seinem Erzrivalen Indien ausgetragen hatte, nun fest im Griff eines offenbar modern denkenden Offiziers war: ein „Whisky-Liberaler“ in einer islamischen Republik, Bewunderer von Mustafa Kemal Atatürk, dem Vater der modernen säkularen Türkei, ebenso wie von Mohammed Ali Jinnah, dem hochverehrten Gründer des Staates Pakistan. Wie naiv diese Sichtweise war, sollte sich später noch zeigen. Zugegeben, wer Hoffnungen auf Musharraf gesetzt hatte, wurde scheinbar bestätigt, als dieser sich nach den Terroranschlägen vom 11. September hinter die USA stellte – auch wenn er angesichts des heftigen Drucks aus Washington kaum eine andere Wahl hatte. Als „Manager“ einer anfänglich zivilen Regierungsmannschaft setzte der General einige positive Veränderungen durch, beispielsweise eine Finanzreform, die Privatisierung verschiedener Wirtschaftsbereiche sowie auf dem sozialen Sektor die Stärkung der Frauenrechte. Der Preis dafür wurde 2007 mit Ausbruch der wirtschaftlichen und politischen Krise deutlich. Der General hatte die Chance, Stabilität und Demokratie auf ein neues Fundament zu stellen. Immer wieder versicherte er Besuchern im Hauptquartier der pakistanischen Armee in Rawalpindi, dass er die Demokratie wiederherstellen werde, sobald er die dafür nötigen Verantwortlichkeiten auf den Weg gebracht hätte – Verantwortlichkeiten, die den neofeudalen Eliten, die in der pakistanischen Politik das Sagen hatten, mehr als fremd waren. Während frühere Militärmachthaber das Kriegsrecht über das Zivilrecht gestellt hatten und dessen ohnehin schwache Strukturen unverändert ließen, plante Musharraf sie zu ändern. „Es geht hier nicht um marginale Korrekturen, sondern um die politische Neustrukturierung des gesamten demokratischen Systems“, sagte er. Umgeben von vergoldeten Zeremonienschwertern und antiken Miniaturen aus dem Mogulreich, die seinen Amtssitz schmückten, fuhr er fort: „Ich hätte das Kriegsrecht verhängen können, aber wenn man einen militärischen Überbau auf zivile Strukturen aufsetzt, dann bleiben die zivilen Strukturen unverändert. Und das wollte ich nicht. Besser, man reformiert den zivilen Unterbau.“12 Die Machtstrukturen hat er in der Tat verändert, aber in einer Weise, die seine Herrschaft institutionalisieren und verlängern sollte, was er offenbar dem nationalem Interesse gleichsetzte. Wie sich noch zeigen würde, zielte Musharraf langfristig auf ein Festhalten an der Macht, der zivilen wie der militärischen. Und darin hatte er, aller Demokratie zum Hohn, die volle Unterstützung der USA, die angefangen hatten, Pakistan und den General gleichzusetzen. Wie viele arabische Machthaber war Musharraf ein genialer Taktiker. Er schaffte es, Washington davon zu überzeugen, dass nur er die al-Qaida-Kader ausliefern könne, die seine Sicherheitskräfte töten oder gefangennehmen würden, dass nur er, der drei Mordanschlägen knapp entronnen war, das Land davor bewahren könne, den Dschihadisten anheimzufallen, und dass daher er an der Spitze der Armee, Pakistans letzter funktionierender Institution, bleiben müsse, um das Schreckgespenst atombewaffneter Mullahs zu bannen. Zwischen dem
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11. September 2001 und Ende 2008 haben die Vereinigten Staaten Pakistan mit Hilfsgeldern in Höhe von rund zwölf Milliarden US-Dollar unterstützt, dazu brandneue F-16 Kampfjets und vieles mehr geliefert. Husain Haqqani, dem pakistanischen Botschafter in den USA, zufolge belief sich die amerikanische Hilfe für Pakistan während der vergangenen fünfzig Jahre auf (nach heutigem Wert) insgesamt 24 Milliarden US-Dollar, wovon allein 21 Milliarden an das Militär gingen. (Doch es gab auch lange Zeiträume – meist während Zivilregierungen), in denen keinerlei Hilfsgelder flossen.13 Überdies hatte Washington stillschweigend, und so lange es ging, General Musharrafs verfassungswidrige Personalunion als Präsident und Armeechef gebilligt. Dann kam der 11. September, und Musharraf wurde offiziell zum Freund und engen Verbündeten des Westens. Doch der 11. September war auch der Tag, an dem die Bush-Administration erkennen musste, dass Despotismus Extremismus gebiert. Im Falle Pakistans haben die USA in dieser Hinsicht allerdings stets die Augen verschlossen. Innerhalb von Armee und Geheimdiensten schob Musharraf einige Generäle auf Ruheposten ab und sicherte sich gleichzeitig die Unterstützung anderer, denen er zubilligte, den Dschihad zu begünstigen – in Afghanistan (durch Hilfe für die wiederauflebenden Taliban, selbst im Kampf gegen Nato-Truppen) sowie im muslimisch dominierten zweigeteilten Kaschmir, dem ewigen Zankapfel zwischen Pakistan und Indien. Ungeachtet ihrer Konfession oder Ideologie glauben einige pakistanische Beamte, insbesondere Angehörige des militärischen Nachrichtendienstes (InterServices Intelligence, ISI) seit Langem, dass in Afghanistan „strategische Tiefe“ benötigt werde, um zu verhindern, dass Indien dort Fuß fassen könne. Im Kaschmir-Konflikt schien der Freibrief für einige tausend Dschihadis, die im Tal von kaschmir zeitweise bis zu einer halben Million feindliche Truppen aufhielten, ein genialer Erfolg asymmetrischer Kriegführung. Doch diese Taktiken, das sollte inzwischen selbst den Zauberlehrlingen klar sein, die sie praktizierten, haben den Dschihadis nolens volens ein riesiges Aufmarschgebiet beschert, das von Kaschmir bis zum Hindukusch reicht. Ganz auf den „starken Mann“ fixiert, der sie in ihrem Antiterrorkrieg unterstützen sollte, verkannten die USA, wie sehr Musharraf dem ISI und den Sicherheitsapparaten verpflichtet war, um an der Macht, um nicht zu sagen am Leben zu bleiben. General Musharrafs Ansatz in der Innenpolitik erwies sich als gleichermaßen desaströs. Seine systematische Ausgrenzung der großen Volksparteien – der Pakistanischen Volkspartei (PPP) der verstorbenen Benazir Bhutto sowie der konservativen Muslim-Liga Nawaz Sharifs (PML-N) – zwang ihn in eine Allianz mit der religiösen Rechten. Vor der manipulierten Wahl 2002, in der sie elf Prozent errangen, hatten es die islamistischen Parteien in Pakistan nie in den zweistelligen Bereich geschafft. Danach jedoch begannen sie das nationale Parkett zu erobern und das Land zu „talibanisieren“. Musharraf führte Pakistan dreißig Jahre
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zurück in die Zeit des General Mohammed Zia-ul-Haq, eines weiteren amerikanischen Günstlings, der 1977 einen Militärputsch gegen die Bhutto-Regierung anführte, sofort das Kriegsrecht ausrief und erstmals ein islamisches System unter militärischer Vorherrschaft errichtete. Wie so oft in der Region gewannen die islamistischen Splittergruppen durch die erfolgreiche Eindämmung der etablierten Parteien gewaltig an Schubkraft. 2007 entsandte George Bush seinen Außenminister Dick Cheney nach Islamabad, als sich die Hinweise verdichteten, al-Qaida hätte Kommandostrukturen und Trainingslager in pakistanischen Stammesgebieten entlang der afghanischen Grenze wiederaufgebaut, mit deren Führern Musharraf Waffenstillstand vereinbart hatte. Es war, wie nicht nur Musharraf-Loyalisten betonen, geradezu absurd, dass ausgerechnet Cheney, der sich nach dem 11. September auf die Verfolgung Saddam Husseins verlegt hatte, anstatt Osama bin Laden zu erledigen, eigens anreise, um über den internationalen Dschihadismus zu dozieren, den er und seine Politik massivst gefördert hatten. Schade auch, dass Washington sich in keiner Weise dazu äußerte, ja nicht einmal zu begreifen schien, dass das von ihm unterstützte verkappte pakistanische Militärregime die Probleme im Land sichtlich vermehrte und die Dschihadisten regelrecht förderte. Fairerweise muss darauf hingewiesen werden, dass Pakistan, vielleicht mehr als irgendein anderes Land, noch mit dem Rückschlag aus dem antisowjetischen Dschihad in Afghanistan zu kämpfen hatte, den die USA in den 1980er-Jahren in Afghanistan unterstützten und der die Politik der Region deutlich gezeichnet hat. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen, dass Pakistan als Staat an der Grenze zum Scheitern stand, als es Ende 2007 in die Krise abdriftete. Die Präsidiale Bundesrepublik war dabei, an ihren Rändern auszufransen. In den Stammesgebieten kam es trotz zeitweiliger Waffenruhen zunehmend zu Revolten. In den nordwestlichen Grenzprovinzen, wo Musharraf den Islamisten immens auf die Sprünge geholfen hatte, vereinigte sich der paschtunische Nationalismus mit dem Islamismus; pakistanische Taliban verbrüderten sich mit ihren paschtunischen Verbündeten in Afghanistan. Die gewaltsame Unterdrückung der Opposition in der rohstoffreichen, aber bitterarmen pakistanischen Provinz Belutschistan, die die Bundesgenossen der Taliban begünstigte, hatte einen neuen nationalistischen Aufruhr zur Folge. Und die Abhängigkeit von Gangster-Politikern in der Provinz Sindh, als Gegengewicht zur PPP, schürte abermals den ethnokonfessionellen Konflikt. Doch wer den Bogen überspannt, der sprengt ihn, wie Musharraf bald erfahren sollte. Wenn die Demokratie all ihre Kräfte bündelt, kann dies gewaltige Macht entfalten. Im März 2007 suspendierte Musharraf den Obersten Richter Iftikhar Chaudhry. Die bis dato träge Judikative reagierte prompt auf den Affront und wurde zum Katalysator für heftige Unmutsreaktionen der Zivilbevölkerung gegen die Diktatur, die ihrerseits die etablierten Parteien, das Parlament und die Presse mobilisierten. In den 1990er-Jahren bis zum Putsch 1999 führten
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Benazir Bhutto und Nawaz Sharif jeweils zweimal die pakistanische Regierung an. Beide erwiesen sich als korrupte und unfähige Politiker, die im Umgang mit Militär und Dschihadisten auf Zeit spielten. Doch Pakistan brauchte ihre Anhänger, um einen demokratischen Block gegen den Extremismus aufzubauen sowie die pakistanischen Institutionen neu zu stärken und die Glaubwürdigkeit ihrer Führer wiederherzustellen, damit der Aufbau des Staates neu beginnen konnte. Schließlich gerieten auch die Vereinigten Staaten zunehmend in Panik, zumal sie Unsummen in ihren pakistanischen „Generealissimo“ investiert hatten, den sie im Kampf gegen al-Qaida als unverzichtbar anzusehen begonnen hatten. Washington versuchte, eine politische Allianz zwischen Musharraf und Benazir Bhutto zu schmieden, eine interne Vereinbarung, die aus praktischen Gründen an den pakistanischen Wählern und der Zivilgesellschaft vorbeigehen sollte. Zu ihrer Verteidigung wiesen US-Offizielle auf die Brutalität hin, mit der Musharraf im Juli 2007 die von Muslimen besetzte Rote Moschee in Islamabad hatte räumen lassen. Hätte er bereits im Januar gehandelt, als die Dschihadis dem Staat den Kampf ansagten, hätte das Ganze vielleicht weniger Tote gekostet und weniger Vergeltungsschläge nach sich gezogen. Doch angesichts des dschihadistischen Angriffs schaffte Musharraf es, die Wahlen zu verschieben und sich über Strohmänner im Rumpfparlament eine zweite Amtszeit als Präsident zu sichern – in der Annahme, Benazir Bhutto, die, ihrer Korruptionsvergehen amnestiert, aus dem selbstgewählten Exil zurückkehren konnte, werde seiner Regierung bald pseudodemokratische Legitimität verleihen. Als der dschihadistische Terrorismus, den Musharrafs US-gestützte Politik durchaus förderte, weiter um sich griff und bei einem Anschlag auf den Konvoi der aus dem Exil heimkehrenden Bhutto 136 Menschen getötet wurden, verhängte Musharraf den Ausnahmezustand – ließ zahlreiche Anwälte, Menschenrechtsaktivisten und Oppositionelle verhaften und regimekritische Radio- und Fernsehsender schließen. Kurzum, das Regime fuhr harte Geschütze gegen die Bürger auf, die im Kampf gegen den Dschihadismus doch unverzichtbare Verbündete hätten sein sollen. Die Ermordung Bhuttos am 27. Dezember 2007 war ein schwerer Schlag für Washington. Sie war weltweit als eindrucksvolles Beispiel von Mut angesehen, als ein glaubwürdiges Gesicht der Moderne: eine junge, glanzvolle Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft, ausgebildet an den Universitäten von Oxford und Harvard, vertraut mit den politischen Bühnen der westlichen Welt und prowestlich orientiert – auch wenn die PPP unter ihrer strengen Führung eher einer feudalen Hierarchie als einer Volkspartei glich. Aus den nächsten Wahlen ging die PPP als eindeutiger Sieger hervor, während Musharraf eine vernichtende Niederlage einstecken musste. Neuer Führer der PPP wurde Asif Ali Zardari, Witwer der ermordeten Bhutto, wegen Korruptionsvorwürfen während seiner Zeit als Minister in den Bhutto-Regierungen auch „Mister 10 Prozent“ genannt. Nach einer kurzen und schwierigen Koalition mit
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Nawaz Sharif – während Musharraf noch das Präsidentenamt innehatte – löste Zardari den General ab, der von der Armee im August 2008 zum Rücktritt gezwungen worden war. Die Regierung Bush verfolgte die Versuche der neuen Regierung, zu einer Verständigung mit den aufständischen Gruppen zu gelangen, mit wachsender Sorge, denn vieles deutete auf Verstrickungen des ISI mit den Taliban, mit al-Qaida und kaschmirischen Dschihadisten hin. Im Sommer 2008 beschuldigte der CIA den ISI der Mittäterschaft am Bombenattentat vom 7. Juli auf die indische Botschaft in Kabul. Eine wachsende Bedrohung sah man auch darin, dass immer mehr Dschihadisten aus der weiteren Region nach Pakistan und in die schwer kontrollierbaren Stammesgebiete an der afghanischen Grenze strömten, die in etwa die gleiche Anziehungskraft ausübten wie der Irak für umherziehende Gotteskrieger, bevor die sunnitischen Stämme sich gegen al-Qaida wandten. Doch am unglücklichsten schien Washington darüber, dass man mit dem Rücktritt des Armeechefs einen scheinbar geradlinigen Verbündeten verloren hatte. Musharraf und seine Militärs haben ein Land, das infolge jahrzehntelanger Missherrschaft ohnehin auf wackeligen Beinen stand, in fataler Weise weiter destabilisiert und in ein Pulverfass verwandelt – eine Tatsache, die die US-Regierung nicht aus den Augen verlieren sollte. Tatsache ist, dass Musharraf der Talibanisierung Pakistans Vorschub leistete, indem er stur an der Macht festhielt, die Militärs nicht daran hinderte, die ohnehin knappen Ressourcen des Staates zu vereinnahmen, und es zuließ, dass der ISI den Dschihadismus in Afghanistan und Kaschmir unterstützte. Und indem das pakistanische Militär die Dschihadisten gleichzeitig, wenn auch sporadisch angriff, machte es den Staat zu einer Zielscheibe und – wie die Angriffe auf Mumbai im November 2008 zeigten – ermutigte die Dschihadisten, ihren Aktionsradius zu vergrößern und jegliche Hoffnung auf eine Entspannung zwischen Pakistan und Indien (den Grundkonflikt, aus dem sich der radikale Islamismus nährt) buchstäblich in die Luft zu jagen. Das Ganze schien wie die Neuauflage eines alten Lehrwerks über schwere strategische Fehler, die den USA in ihren Unternehmungen quer durch den Nahen und Mittleren Osten immer wieder unterlaufen sind. Ein erstklassiges Beispiel für das dürftige Engagement der Vereinigten Staaten in Sachen echter Demokratie. *** In der Türkei liegen die Dinge anders, aber auch hier steht viel auf dem Spiel. Gibt es Anfang des 21. Jahrhunderts in geopolitischer Hinsicht Wichtigeres, als den Beweis zu führen, dass Islam und Demokratie sich erfolgreich verbinden lassen? Die Türkei könnte auf dem Weg sein, diesen Beweis zu liefern, in einem Experiment, das weit über die Landesgrenzen hinaus Folgen zeigt. Natürlich sind es in erster Linie die Türken, die über Erfolg oder Misserfolg dieser gewal-
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tigen Herausforderung bestimmen. Aber ihre Partner in Europa und in der Nato müssen sich ihr ebenso stellen. Im Zentrum dieses Experiments stehen die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) und ihr Vorsitzender Recep Tayyip Erdogan, der türkische Ministerpräsident. Er hatte keinen leichten Weg. Seine bewegte Karriere scheint so gar nicht zu seinem Aussehen und Auftreten zu passen – hochgewachsen, selbstsicher, stets perfekt gekleidet –, das eher an einen Fußballmanager aus dem Mittelmeerraum erinnert als an jemanden, der sich als Mullah profilieren möchte. Dennoch verkörpert Erdogan das Bestreben der muslimischen Türkei, (irgendwann) in die bislang rein christlichen Liga der Europäischen Union aufzusteigen, ein Aufstieg, den ein ebenso breit gefächerter wie zahlenmäßig großer türkischer Fanclub anfänglich mit aller Kraft unterstützte. An der Spitze einer gerade einmal fünfzehn Monate alten AKP gelangte Erdogan im November 2002 mit einem Erdrutschsieg an die Macht – in einer Zeit, zu der die Türkei noch in ihrer schlimmsten Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg steckte, an ihrer Südgrenze drohend der Krieg im Irak aufzog und ein leidenschaftlicher Interessenabgleich mit der EU über Ankaras europäische Ambitionen ebenso in Aussicht stand wie die Möglichkeit eines Konflikts mit den türkischen Generälen und der säkularen Führungsschicht, die die neoislamistische Färbung der AKP und die Vergangenheit ihres Vorsitzenden mit einigem Misstrauen beäugten. Erdogan, in den 1990er-Jahren überaus beliebter Oberbürgermeister von Istanbul, wurde 1998 wegen „Missbrauchs der Grundrechte und -freiheiten“ zu einer Haftstrafe verurteilt, weil er aus dem fast einhundert Jahre alten Gedicht eines nationalistischen Dichters zititert hatte – angeblich einem Lieblingsautor des „Vaters des Türkei“, des Erz-Säkularisierers Kemal Atatürk –, in dem die majestätischen Minarette der Stadt als „unsere Bajonette“ bezeichnet werden. Dies geschah, nachdem die Koalition unter Führung der islamistischen Wohlfahrtspartei, deren Mitglied Erdogan damals war, nach elf Monaten von dem mächtigen Militär des Landes aus dem Amt gedrängt worden war – ohne dass die Nato-Partner auch nur im geringsten dagegen protestiert hätten. Dem Urteil zufolge (es beihaltete auch Politikverbot) hätte Erdogan bei den Parlamentswahlen 2002 eigentlich nicht antreten dürfen, doch der überragende Wahlsieg seiner AKP, die schwere Krise, in der sich die Türkei befand, und die Tatsache, dass Ankaras EU- und Nato-Verbündete Erdogan an der Spitze einer demokratischen Regierung sahen, zwang die Führungsschicht schließlich – wenn auch widerwillig – nachzugeben. Erdogans Erfolg hinsichtlich wirtschaftlicher Konsolidierung, politischer Reformen und Stabilität sowie in der Außenpolitik stärkte seine Position wesentlich. Insbesondere leitete er im Interesse einer Annäherung an die EU nach dreißig Jahren eine Wende in der Politik gegenüber der zwischen Griechen und Tür-
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ken geteilten Mittelmeerinsel Zypern ein und verhandelte die Annahme eines UN-Wiedervereinigungsplans, den die griechischen Zyprioten in einem Referendum ablehnten. Dies trug dazu bei, dass die Türkei im Dezember 2004 für Oktober 2005 Gespräche für einen EU-Beitritt vereinbaren konnte, nachdem sie mehr als vier Jahrzehnte gleichsam in Europas Warteraum gestanden hatte – ein Augenblick von historischer Bedeutung für Europa und für die Türkei. Die AKP überstand einen frühen Rückschlag, als das von ihr geführte Parlament am Vorabend des Irakkriegs den Antrag der USA ablehnte, von türkischem Boden aus in den Irak einzumarschieren. Washington reagierte darauf (wie wir in Kapitel IV gesehen haben) mit Druck auf die Generäle, die ihrerseits Druck auf die Politiker ausüben sollten, und widerrief sein Angebot für ein 24-MillionenDollar Hilfspaket, das der Türkei aus ihrer Wirtschaftskrise helfen sollte. Selbst das fiel jedoch letztlich positiv auf die neue Regierung zurück. Ein hoher EUBeamter drückte es so aus: Das Votum „zeigt, dass die USA nicht davon ausgehen können, dass sie einfach zum Telefon greifen, mit dem Militär reden, über einen Preis verhandeln und dann einen Scheck ausstellen können. Die Zeiten haben sich geändert, und das ist die Herausforderung für Erdogan.“ 2007 jedoch, als die EU-Beitrittsverhandlungen zum Stillstand kamen und die türkischen Reformen an Schwung verloren, wurde klar, dass der Konflikt mit den übermächtigen Generälen nur aufgeschoben war. Die Krise brach im April aus, nachdem die Armee – auf ihrer Webseite – ein undurchsichtiges Ultimatum gegen die Präsidentschaftskandidatur von Abdullah Gul gestellt hatte, Erdogans weltgewandtem Außenminister, das in etwa besagte, das säkulare Erbe der Türkei dürfe nicht in die Hände eines Mannes gelegt werden, der als Islamist in die Politik gegangen sei und dessen Ehefrau (wie die des Ministerpräsidenten) das islamische Kopftuch trage. Als diese konstitutionelle Krise ihren Höhepunkt erreichte und die kultivierte, weltlich orientierte Mittelschicht Großdemonstrationen zur Verteidigung eines Lebensstils veranstaltete, den sie in Gefahr sahen, berief Erdogan vorzeitige Wahlen ein. Aus diesen ging die AKP mit beträchtlichen Gewinnen hervor: 47 Prozent, bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent – ein gewaltiger Anstieg von 34 Prozent im Jahr 2002. Die Türken standen uneingeschränkt hinter der Demokratie, während die Generäle über ihre ungeschickte digitale Demarche stolperten. Das Ganze erinnerte an das, was Spanien nach Franco erlebt hatte, als nach einem fehlgeschlagenen Militärputsch 1981 die Sozialisten 1982 einen Erdrutschsieg errangen. Vor Gründung der AKP Ende 2001 hatte die Armee in vier Jahrzehnten vier Regierungen von der Macht verdrängt und vier islamistische Parteien verboten. Dieser durchschlagende Wahlerfolg zeigte, dass die Türkei sich verändert hatte, und zwar – zum Entsetzen ihrer kosmopolitischen und säkularen Eliten – unter dem Banner des Neo-Islamismus. Wie es dazu kommen konnte, ist wichtig, und zwar nicht nur für die Türkei. Drei Gründe scheinen hauptsächlich für den Erfolg der AKP verantwortlich.
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Erstens wirkt sie kompetent und tritt mit einem nationalen Projekt an. Als Erdogans Partei 2002 an die Regierung kam, war die nationalistische Rechte ein bedeutungsloser Jammerhaufen, die Linke ein verstaubtes Museumsstück und die liberale und sozialistische Mitte in eine wachsende Zahl (von Personenkult geprägter) Splitter zerfallen und vom konservativen Herzland Anatoliens ebenso abgeschnitten wie von der türkischen Durchschnittsbevölkerung, für deren Vorankommen sie praktisch nichts getan hatte. Die AKP dagegen war angesehen und demokratisch ausgerichtet. Auferstanden aus den Trümmern zweier verbotener islamistischer Parteien, freiheitlich, unterstützt von der konservativen politischen Mitte und der jungen Unternehmerschicht der Türkei, machten Erdogan und seine Freunde ihre Hausaufgaben, als sie ihr Parteiprogramm aufstellten. Sie interviewten 41 000 Personen aus allen Schichten und Landesteilen und erfuhren dadurch, dass die Bindung an Europa und eine Wirtschaft, die in ihrer schlimmsten Rezession seit 1945 steckte, an oberster Stelle für die Bevölkerung standen. Das Schlagzeilen-Thema Kopftuchfrage rangierte dagegen abgeschlagen auf Platz neun. Seither hat die AKP gute Arbeit geleistet. Wirtschaft und Stabilität wachsen ebenso rasch wie konstant, ausländische Investitionen schnellten in die Höhe, dazu kamen 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze und ein nahezu verdoppeltes ProKopf-Einkommen sowie deutliche Mehrausgaben für Bildungswesen und Infrastruktur. Und sie steht, als Teil des Versuchs der Türkei, die Aufnahmekriterien für die EU zu erfüllen, vor einer verfassungsrechtlichen Revolution: Abschaffung der Todesstrafe, Kriminalisierung von Folter, Einführung demokratischer Redeund Versammlungsfreiheit sowie Minderheitsrechte für die Kurden, mit deren Aufständischen Ankara seit zwanzig Jahren kämpft. Vor allem unterstellten all diese Reformen das Militär einer zivilen Obrigkeit, unabdingbare Voraussetzung für einen Beitritt der Türkei zur EU. Dies war möglich, so lange die Armee im EU-Projekt die Erfüllung der europäischen Berufung sah, die Atatürk für die Türkei vorhergesehen hatte, und die AKP die demokratischen Regeln Europas als Schutzschild gegen die Generäle betrachtete. Der geplante EU-Beitritt war nicht nur ein kraftvoller Motor in puncto Reform, sondern auch der Kitt des politischen Zusammenhalts. Ein zweiter Grund für den Erfolg der AKP besteht in ihrer scharfsinnigen Interpretation des sozialen Wandels des Landes. Die Partei repräsentiert heute den Weg zur Moderne für den sozialkonservativen und strenggläubigen, gleichzeitig aber dynamischen und unternehmerisch denkenden Mittelstand Zentralanatoliens, der inzwischen seinen rechtmäßigen Anteil an der Macht beansprucht, die bislang ganz in Händen einer sich selbst erhaltenden weltlichen Elite lag. Mit anderen Worten: Die Anziehungskraft der AKP besteht darin, dass sie einerseits erfolgs- und zielorientiert ist, indem sie Menschen zum sozialen Aufstieg ermutigt und ihnen die Möglichkeit eröffnet, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten, anderseits aber auch ein Sicherheitsnetz bietet,
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indem sie an den familiären und religiösen Werten und Wurzeln fest- und die Verbindung zu den dörflichen Gemeinschaften aufrechterhält, von denen viele Türken gerade einmal eine Generation entfernt sind. Aus islamistischer Sicht ist dies ein traditionelles Weltbild, das nach vorn blickt, und keine radikale Anschauung, die mit Gewalt und Wehklagen vergangenem Ruhm nachhängt. Und sie ist, und das in allererster Linie, demokratisch. Das Symbol der AKP ist eine Glühbirne mit sieben Lichtstrahlen, die für die sieben Regionen stehen. Es ist ein modernes und zugleich traditionelles Symbol, Sinnbild für eine Erleuchtung nach der Dunkelheit – ein wiederkehrendes Motiv in der orthodoxen muslimischen wie in der islamistischen Literatur, die von einem jahiliyya oder finsteren Zeitalter der Unwissenheit oder Ungläubigkeit spricht, das der Offenbarung des Korans vorausging. „Das ist etwas, was die Menschen Anatoliens verstehen“, sagt Erdogan. Er wehrt sich gegen die Bezeichnung Islamist. „Wir nehmen es nicht hin, als islamistische Partei charakterisiert zu werden“, sagt er. „Das beinhaltet zu viele Fehlinterpretationen und antidemokratische Assoziationen. Wenn man sich als Islamist bezeichnet, legt das nahe, dass man versucht, anderen eine Art jakobinische und intolerante Uniformität aufzuzwingen. Wir glauben zudem, dass Religion Privatsache ist.“ Und er fügt hinzu: „So, wie keine Rasse besser ist als irgendeine andere, so ist auch keine Religion irgendeiner anderen überlegen.“14 Viele Anhänger eines säkularen Staats in der Türkei wissen sehr wohl, dass dies nicht, wie manche behaupten, eine verdeckte Theokratie darstellt. Gewiss ist auch die AKP geschickt darin, Stellen im öffentlichen Dienst mit ihren Anhängern zu besetzen. Es geht um Ämterpatronage, nicht Scharia, eine Einstellung, die unglücklicherweise allen türkischen Parteien zueigen ist: „Wir haben gewonnen, jetzt sind wir an der Reihe.“ Doch es beinhaltet unverkennbar auch einen Hauch von Klassenhass im Widerstand der städtischen Eliten gegen die Verlagerung des Kräftegleichgewichts hin zu den Türken aus den Provinzen und vom Lande, die sich beispielsweise in spöttischen Bemerkungen über „schwarze Türken“ äußern, die über nichts anderes reden als über Familie und Fußball. Außerdem gibt es Befürchtungen hinsichtlich des säkularen Lebensstils, die, wiederum nur ein Beispiel, von örtlichen Bürgermeistern geschürt werden, die den Alkoholkonsum verbieten. Diese Ängste sind echt und müssen ernstgenommen werden. Aber sie summieren sich nicht zu einer Theokratie durch die Hintertür. Viele Anhänger der strikten Säkularisierung glauben nach wie vor, einen Anspruch auf Macht und Einfluss zu haben. Nun, da sie keine Wahlen mehr gewinnen können, verlegen sie sich darauf, Militär und Justiz aufzuhetzen. Andere sind Hüter des Schreins von Mustafa Kemal Atatürk, der, wie viele, die aus den Resten des Osmanischen Reichs eine republikanische Türkei aufbauten, ein Flüchtling war, und eine im Wesentlichen defensiv orientierte politische (und militärische) Kultur begründete.
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Als drittes Ass der AKP – und der Türkei – wäre Europa zu nennen. Die Mitgliedschaft in der EU ist – wenngleich die Verhandlungen in einer Flaute stecken – nach wie vor ein beliebtes und einheitsstiftendes Thema in der Türkei. Wie bereits erwähnt, einten das Europa-Projekt und die dazu nötigen Reformen Kemalisten und Neo-Islamisten. Das war allerdings, bevor skeptische EU-Mitglieder wie Frankreich, Deutschland und Österreich die Messlatte für einen Beitritt der Türkei höher legten. Doch trotz der Taktlosigkeiten ihrer Politiker ist Europas sanfte Macht immer noch verführerisch genug, eine durch EU-Gelübde verbundene Heirat zwischen Islam und Demokratie zu arrangieren. Anders ausgedrückt: Das moderne Wechselspiel zwischen Europa und der Türkei führt zur Entstehung der ersten Christdemokraten in der muslimischen Welt. Wie Christdemokraten in Regierungen in ganz Europa (und in Teilen Lateinamerikas) unterscheiden sich diese „Muslimdemokraten“ von der rechten Mitte – hinsichtlich Moralvorstellungen etwa oder sozialer Gerechtigkeit –, doch sie sind zumeist leicht auszumachen. Als ich Erdogan im Oktober 2002 darauf ansprach, dass dies wohl der Kern seines Vorhabens sei: eine echte demokratische Republik mit muslimischer Identität, angeführt von Muslimdemokraten, sagte er: „Wir haben eine konservative Anschauung und viele Ähnlichkeiten [mit den Christdemokraten], darunter unsere ähnliche Einstellung zu Familienthemen und traditionellen Werten.“ Freilich konnte er sich auch einen Seitenhieb – zweifellos gegen die deutschen christdemokratischen Politiker gerichtet, die damals donnerten, die Türkei sei kein europäisches Land – nicht verkneifen und fügte hinzu: „Ich mag ihre Ausländerfeindlichkeit nicht – wir sind viel internationaler.“15 Doch einige der Rückschläge bei den Beitrittsverhandlungen haben mit ungeklärten internationalen Spannungen zu tun. Der vergebliche Versuch, Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuchs angemessen zu modifizieren oder – besser noch – aufzuheben, der die „Herabwürdigung des Türkentums“ unter Strafe stellt und mithilfe dessen die fremdenfeindliche nationalistische Lobby Schriftsteller und Journalisten verfolgt, ist ein Beispiel. Ein anderes ist das Versäumnis, sich mit der Rolle zu befassen, die das im Untergang begriffene Osmanische Reich bei den Massenmorden an Armeniern ab 1915 spielte, und ein und für alle Mal festzulegen, ob es sich dabei um einen angeordneten Genozid handelte. Die Türkei wird niemals EU-Mitglied werden, solange sie nicht mit diesem Teil ihrer Geschichte aufgeräumt hat. Auch die ständigen Plänkeleien zwischen der säkularen Führungsschicht und der neuen politischen AKP-Elite müssen zu einem Ende kommen. Die Judikative hob das Verbot der AKP – sowie das Politikverbot für Erdogan, Gul und siebzig weitere hochrangige Parteimitglieder – im Sommer 2008 auf und verhängte stattdessen eine Geldstrafe, nachdem die Staatsanwaltschaft die Regierung des Versuchs beschuldigt hatte, die Scharia, das heißt das religiös legitimierte, unabänderliche Gesetz des Islam, in der Türkei zu verankern: Das beendete eine Schlacht, führte jedoch zu einem Remis und bedeutete nicht ein Ende des Kriegs.
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Der Preis des Erfolgs – für die Türkei, für den Westen und gesamte Region – bleibt sehr, sehr hoch: die ersten Christdemokraten in der muslimischen Welt, ein so ungleich besserer Wetteinsatz als die autokratischen Machthaber des Nahen und Mittleren Ostens, die, selbst wenn sie vordergründig so aufgeklärt sind wie der Schah im Iran und seine Weiße Revolution, letztlich soziale Ausgrenzung und Extremismus fördern. Auch in Erdogans Behauptung, „internationaler“ zu sein als die Christdemokraten, wird etwas davon spürbar. Ermutigt durch die AKP-Regierung, stand die religiöse Führungsschicht der Türkei 2008 kurz vor einer zeitgemäßen Neuinterpretation des Islam. Theologen der Universität von Ankara, ihrerseits bestärkt von der Diyanet, dem staatlichen Präsidium für Religionsangelegenheiten, waren dabei, den Hadith (die dem Propheten Mohammed zugeschriebenen Aussprüche und Handlungen) zu überprüfen. Dieser wurde erst zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten 632 festgeschrieben. Während der Koran den Muslimen als das Wort Gottes gilt, das dieser dem Propheten offenbarte, bildet der mündlich überlieferte Hadith die Grundlage der Mehrheit der Scharia-Gesetzgebung. Moderne Wissenschaftler glauben, dass in den Hadith zahlreiche kulturelle Traditionen und soziale Kontrollmechanismen Eingang gefunden haben – insbesondere Frauen betreffend –, die der ursprünglichen Botschaft des Islam fremd sind. Die Schule von Ankara hat sich zum Ziel gesetzt, die Hinzufügungen und Apokryphen mittels kontextueller Methoden zu eliminieren, um zu einem zeitgemäßen Islam zu gelangen. Die Türkei, das ist klar, kann dies nicht allein bewerkstelligen. Wahhabitische Fundamentalisten in Saudi-Arabien und konservative Muslime in Ägypten tun das Ihre, um die post-osmanische (und post-kalifische) Türkei als vom Säkularismus entstellt und an die Peripherie des Islam gedrängt darzustellen. Doch der Islam erfährt gerade eine Wandlung hin zu einer Art von Globalisierung. Und der Erfolg der Türkei hinsichtlich einer fortschrittlichen und erkennbar muslimischen Politik könnte seinem religiösen Modernismus einen Vorteil verschaffen. Schließlich geht es der Türkei und der AKP nicht darum, das Ganze als Musterbeispiel zu verkaufen, sondern ihm zum Erfolg zu verhelfen – weil sich Erfolg nunmal gut verkauft. Aus diesem Grund sind der Wahlsieg gegen die Generäle im Jahr 2007 und das Unentschieden gegen den versuchten Staatsstreich der Justiz im Jahr 2008 solche Meilensteine. Europa sollte darauf entsprechend reagieren und aufhören sich so zu verhalten, als stünden die Türken immer noch drohend vor den Toren Wiens. Die (vor allem in Frankreich verbreitete) Ansicht, die Türkei habe am kulturhistorischen Erbe Europas nicht partizipiert, ist nicht nur politisch abstrus, sondern historisch falsch: als hätte es kein Byzanz gegeben, kein Oströmisches Reich, keine altgriechische Wissenschaft und Philosophie (sowie arabische Mathematik und Medizin), die, übermittelt durch die Welt des Islam, Europa aus dem „finsteren“ Mittelalter holten. Die Türkei ist eingebettet in die Geschichte Europas
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und des Christentums ebenso wie in die des Islam. Ein kostbares Gut, das zu verschleudern geradezu sträflich wäre. *** Die USA und der Westen haben Gelegenheiten verschenkt, in diesen drei Ländern und in der arabischen Welt. Insbesondere das Beispiel Türkei macht deutlich, wie zwingend notwendig es ist, Islam und Demokratie auf einen Nenner zu bringen. Aufgabe des Westens ist nicht, die arabische und muslimische Welt zu „erlösen“, schon gar nicht mit militärischer Gewalt. Unsere Aufgabe ist es, den eigenen Werten und Überzeugungen treu zu bleiben und ein politisches Rahmenwerk zu erstellen, dessen oberstes Gebot die Freiheit ist. Ihre Aufgabe ist es, daraus zu machen, was sie wollen, ohne Behinderung durch unsere beinahe schon notorische Vorliebe für einen Schulterschluss mit autokratischen Machthabern. Ich hoffe, es ist mir gelungen klarzustellen, dass dies keine Abkürzung auf dem Weg zu einer Stabilität in der Region sein kann. Die Risiken sind groß, der Prozess wird langwierig, schwierig, und über weite Strecken schmutzig und von Turbulenzen begleitet sein. Doch diese Risiken, das steht fest, sind abzuwägen gegen das bereits manifeste Risiko der vollständigen Entfremdung von Arabern und Muslimen, von fast einem Fünftel der Weltbevölkerung, die in der Politik der USA und ihrer Verbündeten einen Krieg gegen den Islam sehen, der einzig das Ziel verfolgt, sie aus dem Spiel zu werfen und ihnen ihre Freiheit zu verwehren. Es macht keinen Sinn, davor die Augen zu verschließen. Wir müssen einen Weg finden, diese Risiken zu durchschiffen, wenn die Araber jemals wieder in der Lage sein sollen, das Gefühl zu haben, ihre Geschicke selbst zu lenken. Wie in Kapitel I dargelegt, brauchen die arabischen Länder natürlich ein besseres Wirtschaftsmanagement und transparentere Regierungsstrukturen. Natürlich brauchen sie dringend eine moderne Infrastruktur. Natürlich müssen sie stärker in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen investieren. Und natürlich bedarf auch das Bildungswesen einer Generalüberholung, um kritisches, unabhängiges und lösungsorientiertes Denken zu fördern. Doch ist die Vorstellung, dass sich alles andere fügen wird, wenn die Wirtschaft in Schwung kommt, geradezu naivdeterministisch oder geht sogar völlig an der Sache vorbei. Die westliche Politik sollte nicht auf Regimewechsel zielen oder, wenn wir schon dabei sind, diesen bestimmten Führer oder jene bestimmte Bewegung oder Partei unterstützen. Eine solche Einmischung wird übelgenommen und ist kontraproduktiv; wir können nicht offen Partei ergreifen, wenn wir als schädlich wahrgenommen werden. Wir müssen institutionelle Beziehungen zu den arabischen Ländern aufbauen. Unsere Vorstellungen und Werte sind nach wie vor attraktiv, auch wenn sie weithin auf Ablehnung stoßen, weil wir arroganterweise so tun, als träfen sie auf diese Länder nicht zu.
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In voller Kenntnis der Tatsache, dass offenere politische Systeme im Nahen und Mittleren Osten, zumindest kurzfristig, einer islamisierten Politik und islamistischen Parteien den Weg ebnen, muss der Westen seinen Glauben an die Demokratie und deren Unterbau demonstrieren. Er muss durch sein Handeln zeigen, dass er den rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet ist. Er muss seine Ressourcen so kanalisieren, dass nicht die Macht von Militär- und Sicherheitseliten, sondern beispielsweise Bildung und die Emanzipation von Frauen gestärkt werden. In einem bahnbrechenden Bericht des UN-Entwicklungsprogramms aus dem Jahr 2002 über Arabien nennen die vorwiegend arabischen Autoren das Versagen in eben diesen Bereichen als Hauptursache der Rückständigkeit der arabischen Welt. Aber wird die Verfolgung dieser Ziele durch den Westen nicht auch als Einmischung verstanden? Nicht, wenn die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten ihre Legitimität und Respekt über ihren generellen politischen Kurs in der Region zurückgewinnen: vor allem in Israel/Palästina, im Irak, im Iran – und im zunehmend destruktiven Krieg in Afghanistan. Der von den USA geführte Nato-Einsatz in Afghanistan kann gegen die Taliban nicht gewinnen. Dieser Totenacker der Supermächte läuft einmal mehr Gefahr, als Staat zu scheitern und von Aufständischen überrannt zu werden, die sich mit scheinbar nie versiegenden Drogengeldern aus dem Opiumhandel finanzieren. Alle Versuche, aufständische Gruppen niederzuschlagen, scheinen zwecklos, und das nicht nur, weil die unzureichenden Truppen es nicht geschafft haben, den Taliban und ihren dschihadistischen Verbündeten mehr als einen taktischen Rückzug aufzuzwingen. Der Einsatz von Luftwaffen seitens der USA und der Nato kostete zu viele zivile Opfer. Selbst wenn sie die richtigen Ziele treffen – solche Kriege werden über allmählichen Vertrauenszuwachs in der Bevölkerung gewonnen, nicht über das Auftürmen von Leichenbergen. Um dieses Vertrauen zu gewinnen, braucht der Westen eine neue Strategie, die auf Sicherheit und Arbeitsplätze zielt und auf eine demokratische Allianz zwischen Kabul und der neuen, demokratisch gewählten pakistanischen Regierung. Es gilt, den Teufelskreis von Gesetzlosigkeit und Korruption zu durchbrechen, der jegliche Fortschritte hinsichtlich Staatenbildung im Keim erstickt. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass der Westen möglicherweise nicht in der Lage ist, die Taliban militärisch zu schlagen. Doch er sollte in der Lage sein, sichere Gebiete zu halten und zu erweitern und gleichzeitig bei der Schaffung eines funktionierenden Staats- und Gemeinwesens helfend einzugreifen: durch den Aufbau lokaler Verwaltungs- und Sicherheitsstrukturen sowie durch Förderung der Rechtsstaatlichkeit. Damit diese Wurzeln schlagen kann und attraktiv genug ist, um die Taliban einzugrenzen, braucht es eine rasche Entwicklung des Landes: nicht nur Schulen und Krankenhäuser und Bewässerungssysteme, sondern auch Straßen und Märkte für Bauern, damit diese rechtmäßig erwirtschaftete Erzeugnisse lohnend verkaufen können und der Mohnanbau schrittweise zurückgeht. Die Erfolgschancen hängen von Arbeitsplätzen ab,
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nicht nur durch Investitionen in die Infrastruktur, sondern beispielsweise auch durch die Erschließung der Rohstoffvorkommen des Landes. Das mag nicht ganz so spannend klingen wie der Globale Krieg gegen den Terror, aber nur ein sicheres Leben und Auskommen weisen den Weg in eine bessere Zukunft. In Kapitel VII habe ich dargelegt, dass ein Schlüssel zur Lösung des Konflikts zwischen Israel und Palästina längst bereitliegt. Nur hat ihn noch niemand in die Hand genommen, und solange die Expansion israelischer Siedlungen im Westjordanland anhält, schwinden die Chancen zusehends. Die zaghafte Wiederaufnahme von Friedensgesprächen im amerikanischen Annapolis im Jahr 2007 zwischen Mahmoud Abbas, dem massivst angeschlagenen Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde, und einer israelischen Regierung, die durch Betrugsvorwürfe gegen den inzwischen zurückgetretenen Premier Ehud Olmert geschwächt war, brachte keinerlei substanzielle Fortschritte; Fortschritte machten lediglich die israelische Landnahme und der arabische Zorn. Die Verständigung der beiden Parteien kam teilweise deshalb nicht voran, weil Israel, die USA und der Westen die Hamas, den großen Sieger der palästinenisischen Wahlen von 2006, auszuklammern versuchten, indem sie ihr drei Bedingungen diktierten: Anerkennung Israels, Aufgabe jeglicher Gewalt und Anerkennung aller bisherigen Abkommen zwischen Israel, der PLO und den Palästinenserbehörden. Zweifellos stellt die Hamas, als Terrororganisation, aber auch als politische und soziale Bewegung, ein echtes Problem dar. Doch sie zu boykottieren und gleichzeitig den demokratischen Prozess zu fördern, aus dem sie als triumphaler Sieger hervorging, macht keinen Sinn. Das trug dem Wunsch der Islamisten nach Legitimität und Anerkennung nicht Rechnung und wurde, völlig zurecht, als westliche Heuchelei entlarvt. Und die drei „Tests“ trugen nicht dazu bei, diesen Eindruck zu revidieren. Erstens gibt es keinen legalen oder moralischen Grund, warum die Hamas – oder überhaupt irgendjemand – einen Staat anerkennen sollte, der sich weigert, seine Grenzen zu definieren (und sie sogar täglich weiter in die palästinensischen Gebiete hinein ausdehnt). Was die Hamas letztlich anerkennen muss, ist ein Israel, und dessen Recht auf friedliche Existenz, in denjenigen Grenzen, die im Ergebnis der Verhandlungen zur Beendigung des Konflikts definiert sein werden. Tatsächlich hat die Hamas prinzipiell zugestimmt, sich gegebenenfalls an ein solches Resultat halten zu wollen. Sollte ein Palästinenserstaat auf der Gesamtfläche des 1967 von Israel besetzten Gebietes realistisch werden, würde dies mit großer Sicherheit die Unterstützung einer großen Mehrheit der Palästinenser finden. Die Hamas müsste das akzeptieren – oder sich auflösen. Zweitens weist die Hamas völlig zu Recht darauf hin, dass das Recht auf Widerstand gegen fremdländische Besatzung in der UN-Charta verankert ist. Ein Eckpfeiler internationalen Rechts ist jedoch auch, dass die Zivilbevölkerung kein Ziel sein darf – und zur Geschichte der Hamas gehören zahllose blutige Anschläge auf israelische Zivilisten. Wenn die Hamas einen Platz am Verhandlungs-
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tisch haben will, muss sie sich folglich verpflichten, derartige Angriffe einzustellen. Auf politischer Ebene müssten die Hamas und sämtliche radikalen Palästinenser zudem darüber nachdenken, wohin die Gewalt ihr Volk bislang gebracht hat: in das „Gefängnis Gaza“ und in die Palästinenserghettos des Westjordanlands. Gewaltsamer Widerstand war nötig, um die Palästinenser von Flüchtlingen zu politischen Akteuren werden zu lassen. Das mag bedauerlich sein, aber es ist eine Tatsache. Inzwischen trifft das allerdings nicht mehr zu – trotz aller Enttäuschung und Wut über das Scheitern von Oslo, das die zweite Intifada nach sich zog. Dieser Aufstand scheiterte. Militante Palästinenser nahmen die Hisbollah zum Vorbild, die Israel gewaltsam aus dem Libanon vertrieb. Doch die Israelis hatten weder emotionalen noch religiösen oder ideologischen Anspruch auf den Libanon, und die Hisbollah kämpfte, zumindest hauptsächlich, gegen militärische Gegner und nicht gegen Zivilisten. Der einzige Weg für die Palästinenser führt nicht über Gewalt – worin Israel immer überlegen sein wird –, sondern über die moralische Kraft ihrer Argumente und unbestreitbaren Rechte. Ziviler Widerstand und diplomatische Auseinandersetzungen sind die Waffen, die diese Rechte durchsetzen könnten. Drittens ist die Anerkennung aller vorherigen Abkommen gewiss nützlich, letztlich aber irrelevant. Im Zuge des Mekka-Abkommens von 2007 über eine (kurzfristige) nationale Einheitsregierung mit der Fatah erkannte die Hamas in der Tat alle Osloer Verträge der Jahre 1993–98 an und bestätigte die von Israel so verächtlich zurückgewiesene Friedensinitiative der Arabischen Liga von 2002. Freilich haben die israelischen Regierungen so viele ihrer Oslo-Zusagen gebrochen, dass schwer zu sagen ist, was sie letztlich meinen. Sehr viel sinnvoller wäre daher, den Kern früherer Vereinbarungen zu erhalten und in einen neuen Verhandlungsrahmen zu stellen, der auf eine endgültige Einigung zielt. Diese kann aber nur in einem unabhängigen Palästinenserstaat auf fast dem gesamten Westjordanland und Gaza mit Ostjerusalem als Hauptstadt bestehen. Keine Roadmaps mehr, keine vertrauensbildenden Maßnahmen mehr, keine Interimsabkommen! Es gibt nur eine Möglichkeit, das Problem in den Griff zu bekommen, und die Chance, sie umzusetzen, schwindet zusehends. Das muss das Ziel der US-amerikanischen und westlichen Politik sein, die sich voll und ganz und unmissverständlich dafür einsetzen muss, wenn es gelingen soll. Dies kann jedoch nicht der Fall sein, wenn der Westen Israel nicht daran hindert, jeden Schritt hin zu einer palästinensischen Emanzipation von vornherein abzublocken. Israel muss klargemacht werden, dass es das, was längst kein regionaler Konflikt mehr ist (sondern auf Kosten der internationalen Stabilität geht, von seiner eigenen Sicherheit gar nicht zu reden) nicht länger als Geisel benutzen kann. Das bedeutet, dass die USA und ihre Verbündeten alle ihnen zur Verfügung stehenden (Druck-)Mittel einsetzen müssen – ihr weitgehend ungenutztes Instrumentarium diplomatischer und handelspolitischer Macht, ihre wirtschaftlichen und militärischen Hilfen –, um Israel zu Kompromissen zu be-
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wegen. Dass dies kontraproduktiv sei, ist ein viel gehörter Einwand. Diese Vorgehensweise wurden selten ausprobiert. Doch die wenigen, seltenen Male, wo es geschah, zeigte sie interessante Ergebnisse. Wir müssen gar nicht zurück zu Eisenhower und Suez. 1982, nachdem der damalige Außenminister Alexander Haig Israels Einmarsch in den Libanon zumindest gelbes Licht gab, konnte Präsident Reagan Israel dazu bewegen, die Belagerung und die Luftangriffe auf Westbeirut zu beenden. 1991, nach dem ersten Irakkrieg und im Vorfeld der Konferenz von Madrid, drohte die erste Regierung Bush eine von Israel gewünschte milliardenschwere Kreditbürgschaft (für Wohnungsbaudarlehen für jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion) zurückzustellen, sofern die Regierung Shamir nicht ihre Siedlungsaktivitäten einstellte. Dies entfachte einen heftigen politischen Sturm in den USA und in Israel. Die Kreditbürgschaften wurden schließlich wieder gewährt. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass die Israelis Shamir aus dem Amt wählten, zugunsten Jitzchak Rabins, des Schirmherrn von Oslo. Die israelischen Wähler waren nicht bereit, ihre Allianz mit den USA aufs Spiel zu setzen. Das Verhalten einiger pro-israelischer „Maximalisten“, die diese Allianz innerhalb der US-Regierung angeblich verteidigten, gibt zu denken. Im Frühjahr 2006 gab es ungewöhnlich scharfe Reaktionen auf eine Studie über den Einfluss der israelischen Lobby auf die US-amerikanische Außenpolitik. Autoren der Studie waren zwei namhafte amerikanische Wissenschaftler, Stephen Walt (von der Harvard John F. Kennedy School of Government) und John Mearsheimer (von der University of Chicago). Lediglich eine britische Zeitschrift, die London Review of Books, war bereit, das Fazit der Studie (die später in Buchform erschien) zu veröffentlichen: dass die außergewöhnlich erfolgreiche Lobby Konsens darüber erzeugen konnte, dass amerikanische und israelische Interessen untrennbar und identisch sind. Die Anheizer der Pro-Israel-Lobby setzten großzügig moralische Erpressung ein (jede Kritik an der Politik Israels und deren US-amerikanischer Unterstützung sei nichts anderes als Antisemitismus), um die Debatte zu schließen, griffen Andersdenkende an und versuchten Personen wie den früheren Clinton-Berater Robert Malley durch Rufmord mundtot zu machen (siehe Kapitel VII) – eine Methode, derer sich jede auf Freiheit gebaute Gesellschaft mehr als schämen sollte. Die ehrliche, sachkundige Auseinandersetzung mit Konflikten ist nicht nur die Grundlage von Freiheit und Fortschritt, sondern Grundvoraussetzung jeder gesunden und soliden Politik. Einflussreiche Teile des US-amerikanischen Establishments (dabei jedoch keineswegs repräsentativ für die Mehrheitsmeinung amerikanischer Juden oder die Diskussion innerhalb Israels) versuchten, abweichende Meinungen zu unterdrücken oder auf die Verbreitung über nichtoffizielle Kanäle zu reduzieren. Doch diese überzogene Reaktion, das Auffahren von so schwerem Geschütz, scheint – mir zumindest – ein Zeichen von Angst. Der Angst, die demokratische Debatte nicht auf Dauer diktieren zu können.
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Wie bereits gesagt, sind Israelis oft pragmatischer als Amerikaner und Europäer (die ganz in Heuchelei und Schuld aufgehen) und einer weit breiter gefächerten Debatte hinsichtlich realpolitischer Lösungen gegenüber offen. Warum auch nicht? Schließlich ist es ihre Zukunft, die auf dem Spiel steht. So haben israelische Beamte etwa unauffällig die diplomatischen Anstrengungen unterstützt, die Marwan Barghouti von seiner Gefängniszelle aus unternahm und die zur Aushandlung zweier Feuerpausen führten: dem oben erwähnten Mekka-Abkommen von 2007 und dem sogenannten Gefangenenpapier des gleichen Jahres, das letztlich auf eine Einheitsfront zugunsten einer Zweistaatenlösung innerhalb der Grenzen von 1967 hinausläuft – und das aufgrund des Ansehens, das inhaftierte Palästinenser bei ihren Landsleuten genießen, enormes emotionales Gewicht besaß. Barghoutis Vergangenheit ist für die Israelis nicht einfach. Er mag nicht der Nelson Mandela sein, als den seine Bewunderer ihn sehen, aber israelische Funktionäre wissen, dass sie mit Führungspersönlichkeiten wie ihm – die nicht nur die Basis der Fatah, sondern auch islamistische Parteien wie die Hamas ins Boot holen können – verhandeln werden müssen, wenn sie den Konflikt jemals lösen wollen. Auch die westliche Politik kann nur auf dieser Basis agieren, wenn dieser Krisenherd ein für allemal geschlossen werden soll. Nach wie vor schaut eine Mehrheit der Israelis und Palästinenser erwartungsvoll auf die USA – und in geringerem, aber nicht zu vernachlässigendem Maße auf dessen europäische Verbündete –, damit diese ihnen den Weg aus dem Schlamassel zeigen. *** Der Irak hat keinen erkennbaren Plan, aus seiner schwierigen Lage herauszufinden. Trotz des unbestreitbaren Erfolges der massiven Truppenaufstockung, die das geradezu apokalyptische Ausmaß an Gewalt zu reduzieren vermochte, ist die Situation, wir haben es in Kapitel IV gesehen, fragil und kann wieder kippen. Die politische Aussöhnung, für die die Truppenaufstockung den nötigen Spielraum schaffen sollte, hat nicht stattgefunden. Jederzeit können sich neue Fronten bilden, etwa zwischen Arabern und Kurden im Streit um die Zukunft Kirkuks und dessen erdölreichen Umland, oder zwischen den von den Amerikanern unterstützten sunnitischen Milizen der „Söhne des Irak“ und der schiitisch dominierten Regierung in Bagdad, die diese Milizen im Herbst 2008 gefährlich provozierte. Das Auftreten der Regierung al-Maliki wirkte 2008 weniger wie neu gewonnene Zuversicht als vielmehr wie eine politisch zweckdienliche Reaktion auf die Forderungen der Sadristen Ayatollah al-Sistanis und des Iran. Die relative Befriedung Bagdads war zudem übertrieben. Frankreich gewann die Schlacht von Algier 1954–62, verlor aber Algerien. Abgesehen davon, dass es keine neue Entente zwischen Sunniten und Schiiten gab, fehlten dem Irak fast seine gesamte Mittel- und Unternehmerschicht, denn Krieg, Aufstände und ethnokonfessio-
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nelle Säuberungen hatten rund fünf Millionen Menschen ins Ausland getrieben oder im Inland verstreut. Die Ordnungskräfte rekrutierten sich im Wesentlichen aus ehemaligen Milizen, die lediglich die Uniform gewechselt hatten. Wie sollte dieses gebrochene Land je wieder zu sich selbst finden? Im schlimmsten Fall drohte der Irak zu einem „Shell-Staat“ zu werden, ähnlich wie das postsowjetische Afghanistan in Miniatur-Emirate aufgeteilt, Spielfeld für Warlords und Milizen und fruchtbarer Boden für rivalisierende TalibanGruppen: auf sunnitischer Seite eine tödliche Mischung aus Islamismus und Nationalismus, der mit dem teilweisen Rückzug von al-Qaida-Verbündeten nicht geringer geworden war; auf schiitischer Seite eine Kombination aus schiitischem Puritanismus und Stammestraditionen. Damit wären zwei Lager geschaffen, die die islamische Welt und ihre Beziehungen zum Westen über Generationen hinaus belasten würden. Alternativ könnte eine Seite – die schiitische Mehrheit – ihre internen Führungskämpfe lösen und dem Land ihren Willen aufzwingen. Oder – und das wäre das günstigste Ergebnis –, der Irak könnte zu einer losen Konföderation zusammenfinden, mit einer schwachen Zentralregierung, die sich auf bestimmte vereinbarte Aufgaben wie etwa die Aufteilung der Erdöleinnahmen beschränkt. Ende 2008 hatten Washington und Bagdad es geschafft, eine neue Vereinbarung über die Truppenstationierung (Status of Forces Agreement, SoFA) auszuhandeln, die die fortlaufende US-Militärpräsenz regelte und – ebenso wichtig – den Weg zu einem strukturierten und geordneten Abzug weisen sollte. Der vollständige Truppenabzug aus dem Irak sollte bis spätestens Ende 2011 abgeschlossen sein. Gemäß Artikel 27 war es den USA zudem nicht gestattet, den Irak als Stützpunkt für Angriffe auf andere Länder zu nutzen. Ein geordneter Abzug bedeutet, dass die USA lange genug bleiben, um ein neuerliches Blutbad zu verhindern, das Land jedoch früh genug verlassen, um den politischen Splittergruppen die Möglichkeit zu geben, zu einem eigenen Modus Vivendi zu finden. Ein solches Ergebnis würde erleichtert, wenn der schiitische Iran und das sunnitische Saudi-Arabien zu irgendeiner Form der Annäherung fänden (was möglich ist) und Washington die Vergangenheit begrübe und eine „große Lösung“ (grand bargain) mit Teheran anstreben würde (was unter Präsident Obama durchaus denkbar ist). Ausgangspunkt wäre die Anerkennung der Tatsache, dass nicht nur zur Lösung des Irak-Problems, sondern vieler Konflikte im Nahen und Mittleren Osten die Kooperation des Iran nötig ist. An dieser Stelle sei noch ein interessantes Detail aus der Zeit des irakischen SoFA erwähnt. Ich habe geschrieben, dass es praktisch unmöglich ist, Stabilität im Irak zu erreichen, ohne dass der Iran mitspielt, und verschiedene Ereignisse ließen durchaus hoffen. So stimmte das irakische Kabinett, das die SoFA im Oktober 2008 abgelehnt hatte, der nur wenig abgeänderten Vereinbarung im November 2008 zu. Natürlich gab es nach wie vor ernstzunehmende Gegenstim-
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men, insbesondere unter den Anhängern von Muqtada al-Sadr. Aber offenbar gab Abdelaziz al-Hakim, damals Vorsitzender des Islamischen Obersten Rats des Irak und einflussreichster irakischer Verbündeter des Iran, Anweisung, das Votum zu ändern. Hinter diesem Stimmungswechsel stand natürlich die Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten. Ein grand bargain zwischen den USA und ihren Alliierten und dem Iran ist für die künftige Stabilität des Nahen und Mittleren Ostens unabdingbar. Die Bedrohung durch die nuklearen Ambitionen des derzeitigen Teheraner Regimes muss darin Eingang finden. Wie erwähnt, haben die Vereinigten Staaten eine Gelegenheit, eine solche Vereinbarung abzuschließen, versäumt und eine andere abgelehnt. Dabei ist die grobe Linie klar: Sicherheit und Anerkennung für einen Iran, der aufhört, eine Bedrohung (auch nuklearer Art) für seine Nachbarn darzustellen, und der ein Mitspracherecht hat, wenn es um Stabilität und Wohlstand der gesamten Region geht. Analog zu Nordkorea, das (dank unklugen Vorgehens der Regierung Bush) inzwischen eine Atombombe hat, steht der Iran kurz davor, eigene Atomwaffen zu bauen. Noch gibt es die Chance, ihn aufzuhalten und den Kurs in Richtung Entspannung und Stabilität zu lenken. Allerdings müssen die USA ihren Einfluss geltend machen und Israel davon abhalten, den Iran unilateral anzugreifen – zumal die USA und ihre Verbündeten dann zweifellos früher oder später mit hineingezogen würden. Eine ernstzunehmende politische Strategie würde zudem aufhören, dem Hirngespinst hinterherzujagen, Syrien aus seiner taktischen Allianz mit dem Iran herauslösen zu wollen. Natürlich könnte das kurzfristig einige Vorteile bringen, doch der Preis wäre die Rehabilitation eines Despotismus, der die Menschenrechte mit Füßen tritt, in tödlicher Verstrickung mit dem Libanon bleibt und die nationalen Interessen Syriens außen vor lässt. Der westliche (zum gegenwärtigen Stand vornehmlich europäische) politische Schulterschluss mit Syrien ist ein Verrat an den Menschenrechten und den demokratischen Rechten der Syrer und Libanesen. Und er weicht der eigentlichen politischen Herausforderung aus: einer realisierbaren Einigung mit dem Iran. Noch einmal: Der Westen muss in seinem Umgang mit dem Nahen und Mittleren Osten seine Werte hochhalten, seinen Glauben an die Demokratie demonstrieren. Nur so ist eine Verbindung aus Islam und der Freiheit möglich, die sich die überwältigende Mehrheit der Muslime wünscht, die ihr jedoch nicht zuletzt deshalb verwehrt bleibt, weil wir uns ebenso arrogant wie abträglich in die inneren Angelegenheiten ihrer Länder einmischen. Manchem Leser mag es paradox erscheinen, wenn ich gleichzeitig auf ein konstruktives, vorbehaltliches Zugehen auf den politischen Islam poche. Die Voraussetzungen dafür habe ich dargelegt, darunter die Bedingungen der jordanischen Nationalcharta von 1989 (Kapitel II), der irakischen Verfassung (Kapitel IV) und die oben erwähnten Grundlagen der Debatte der Regierung Khatami im Iran. Ich bin nicht dafür, den Islamisten Privilegien einzuräumen, die dazu führen, dass ihre Mitbürger keine andere Alternative sehen und ihnen zuströmen.
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Ich plädiere nur dafür, dass wir anerkennen, dass es sie gibt, dass sie zunehmend größeres politisches Gewicht gewinnen, und dass wir jetzt Sorge tragen müssen, dass sie in angemessenem Maße einbezogen werden. In einem Land wie SaudiArabien, ich habe es in Kapitel V erwähnt, könnten sie sogar ein wichtiger Schlüssel zur Lösung sein. Letztendlich würden wir damit die islamistischen Reformer verlieren (so, wie wir die arabischen und muslimischen Liberalen verraten haben) und dem Dschihadismus Tür und Tor öffnen, der, wie ich gezeigt habe, nach wie vor alle Chancen hat, den politischen Mainstream zu infiltrieren, solange die westliche Politik ihren destruktiven Weg weitergeht. Bislang haben wir eine tödliche Mischung aus militärischer Macht und politischer Naivität eingesetzt, die das Kräftegleichgewicht in der Region auf den Kopf gestellt und gleichzeitig gezeigt hat, dass die Waffen der Demokratie dieses nicht zu verändern vermögen. Warum sollte irgendjemand unsere demokratischen Werte ernstnehmen, wenn wir selbst es nicht tun? Jeder weiß, dass arabische Tyrannen das Thema Palästina als demagogischen Schild und als Alibi nutzen. Aber was tun wir? Wir unterstützen sie und weigern uns, die Palästinenserfrage auf der Grundlage von Recht und Gesetz zu lösen, um dieses Alibi auf konstruktive Weise auszuräumen. Die Politik der Regierung Bush bestand vorwiegend darin, jedem, der ihr in der Region unlieb war, mitzuteilen: „Ergebt euch, dann reden wir.“ In Wahrheit haben wir jedoch nichts anderes getan, als uns selbst ab- und unsere Gegner aufgerüstet. Einer unserer größten Fehler bestand darin, einem ganzen Kulturkreis die Politik einer verwundeten Identiät aufzuzwingen, indem wir Tyrannei und Enteignung gewähren ließen. Identität ist, zugegebenermaßen, ein Verlangen, das wir alle teilen. Doch warum haben wir dann nicht auf jenen Aspekten der westlichen Identität bestanden, die uns allen gemeinsam sind, die universal sind, aber nicht uniform, und zu denen in allererster Linie die Freiheit zählt? Kann es sein, dass wir unseren eigenen Werten so sehr misstrauen (und ebenso den Institutionen und Methoden, in denen sie Gestalt annehmen), dass wir anderen in so fataler Weise nachgeben? Amin Maalouf, ein arabischer Christ aus dem Libanon und Autor historischer Romane, verfasste Ende der 1990er-Jahre (nach dem Blutvergießen im Libanon, auf dem Balkan und nach dem Genozid in Ruanda) einen wichtigen Aufsatz, in dem er darlegt, dass Menschen sich bevorzugt mit derjenigen ihrer vielen Zugehörigkeiten identifizieren, die sie gerade für am meisten gefährdet halten: Sprache, Nationalität, Hautfarbe, Klasse, Glaube. Der Glaube, nicht weniger als die anderen, dürfe von Menschen, die mit ihrer Erinnerung an vergangenes Leid oder verblassten Ruhm kämpfen, nicht benutzt werden, um „kollektive Verbrechen“ zu begehen. Das wäre keine Entschuldigung, argumentierte er. Der Glaube formt die Menschen, die ihm anhängen, aber auch die Menschen formen ihren Glauben. Die Beziehung ist dialektisch. Der „christliche“ Westen fand letztlich
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zur Modernität, obwohl ihn eine klerikale Reaktion in Fesseln zu halten suchte. „Das heutige Christentum ist das, was die europäischen Gesellschaften daraus gemacht haben“, in winzigen, aber wirksamen Schritten.16 Der Islam, ich habe es bereits gesagt, war jahrhundertelang eine siegreiche, stolze Kultur, seiner selbst sicher und dadurch offen und tolerant. Als er aufhörte, dynamisch und innovationsfreudig zu sein, begann er in eine Politik der verletzten Identität abzugleiten. Und im Zusammenprall mit einem selbstbewussten und expansionistischen Europa (vor allem ab dem späten 18. Jahrhundert) zogen sich Araber und Muslime keineswegs spontan auf den Islam zurück. Erst als eine Politik der balance of power und die daran anschließende westliche Unterstützung der Tyrannei im Interesse von Stabilität und billigem Öl die nationalistischen (und zuweilen liberalen) Modernisierungsbemühungen zunichte machten, kam die islamische Erweckungsbewegung auf und wandelte sich zum Islamismus. Inzwischen ist dieser zu einer Identität und zu einer politischen Devise geworden, und wir müssen damit umzugehen lernen. Die westliche Sichtweise – unser Ansatz – kann nur darin bestehen, die gemeinsamen Werte zu betonen: Alle großen Religionen haben gemeinsame Werte. Das Problem besteht darin, diese in die Politik zu übersetzen. Der politische Wandel, der nötig wäre, schließt eine gerechte Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt, die Einbeziehung des Iran und vor allem die Entscheidung ein, nicht länger Despoten zu unterstützen, sondern stattdessen anzufangen, das Bildungswesen und den institutionellen Aufbau in der Region voranzutreiben. Wir müssen alles tun, um der Demokratie die Türen zu öffnen. Und dies kann nur mit Geduld geschehen – in winzigen, aber wirksamen Schritten. *** Es gilt Entscheidungen zu treffen. Und es gibt immer zwingende Gründe für bestimmte Entscheidungen in der Schule der Realpolitik: Israel ist eine Demokratie und ein strategischer Verbündeter. In erster Linie ist Israel jedoch Zufluchtsort der Juden, die den Schrecken des Nationalsozialismus zu entkommen versuchten. Wir müssen Israel und den Juden zur Seite stehen – und zu ihren Entscheidungen, gleichgültig, ob wir ihnen zustimmen oder nicht, gleichgültig, ob wir sie für Israels Sicherheit als dienlich erachten oder nicht. Amerikanische (und deutsche) Politik können dies nicht ändern: Es gibt keine Alternative. Ägyptens despotisches Regime garantiert uns, zu einem vergleichsweise bescheidenen Preis, die unbehinderte Passage durch den Suezkanal, eine wichtige handels- und militärpolitische Lebensader des Westens. Das Regime behauptet sich im bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt, auch wenn es nicht immer schicklich erscheint und noch weniger dem Geiste Jeffersons entspricht. Die Alternative? Noch mehr Männer mit Turbanen.
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Saudi-Arabien verfügt über ein Viertel der weltweit bekannten Erdölvorkommen und hält den Schlüssel zum Golf, wo sich insgesamt etwa zwei Drittel aller Ölvorkommen der Erde befinden. Das Haus al-Saud zu umwerben, bei den Korruptionsgeschäften insgeheim mitzumachen, den Absolutismus zu ignorieren und wegzuschauen, wenn der politische Extremismus (und politische Extremisten) von dort exportiert werden, ist ein kleiner Preis für diese fette Beute. Die Alternative? Osama & Freunde. So weit so gut. Doch Entscheidungen haben Konsequenzen, insbesondere wenn die Entscheidungsträger ihre Aktivposten überschätzen und sich die Resultate schönreden. Wenn dies die Entscheidungen sind, die getroffen wurden, darf man nicht aufheulen, wenn daraus Kräfte hervorgehen, die Flugzeuge in Wolkenkratzer lenken, Ferienorte und Hotels, Botschaften und Gleisanlagen, Kirchen und Synagogen in die Luft sprengen. Und vor allem darf man sich nicht auf Platitüden wie „sie hassen uns für unsere Freiheiten“ oder „die Welt hat sich geändert“ versteifen. Die Welt hat sich nicht geändert, und zwar deshalb, weil wir uns entschieden haben, sie nicht zu ändern. Wir dürfen uns nicht beschweren, dass der Großteil der ausländischen Hilfsgelder, der überzogenen militärischen Kapazitäten und der diplomatischen Raffinesse sowie des politischen Kapitals in fortlaufende „Feuerwehreinsätze“ in einer Region fließt, die es vermeintlich irgendwie und ganz unerklärlicherweise „nicht kapiert“. Die Region kapiert es sehr wohl. Sie sieht die Entscheidung, die schleichende Landnahme Israels bedingungslos zu unterstützen, die einen wie auch immer gearteten Palästinenserstaat von vornherein ausschließt und Israel mit einer brodelnden Diaspora enteigneter Palästinenser umgibt, und sie sieht die Entscheidung, jedwede Diktatur in der Region zu unterstützen; die Narben sind allerorts deutlich sichtbar. Also kein Händeringen mehr ob der chronischen Instabilität, der Aufstände und des Terrorismus’, der Rückständigkeit und Stagnation. Wir haben die „arabische Ausnahme“ geduldet, um uns kurzfristig Vorteile zu verschaffen. Kein Araber, nicht einmal die schwindende Zahl der Freunde, die wir betrogen haben, wird dies je anders verstehen denn als einen Angriff auf den Islam und gleichzeitig einen Angriff auf die Freiheit – auf ihre Freiheit. Vor allem dürfen wir uns nicht beschweren, wenn ungerechtfertigt begonnene Kriege (Irak 2003 etc., Libanon 2006, Iran ?) damit enden, dass unsere militärische Macht erniedrigt wird. Wer das Wissen seines Feindes geringschätzt, wer strategische Bedrohungen absichtlich falsch deutet, wer glaubt, mit konventioneller Kriegführung Gegner bezwingen zu können, die Guerillataktiken anwenden, wer meint, mittels Luftangriffen am Boden befindliche Feinde vernichten zu können, der bezieht unweigerlich Prügel, gleichgültig, wie gigantisch der Schaden ist, den er anrichtet (denn die zerstörerische Kraft schlägt in jedem Fall auf den Angreifer zurück). Solange wir solche Fehler begehen, wird sich nichts ändern. Der weltweite Krieg gegen den Terror ist ein beredtes Beispiel.
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Ich habe in diesem Buch wiederholt klargemacht, dass es in erster Linie an den Arabern (und den Iranern, den Türken, den Pakistanis etc.) ist, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Dass dies nicht gänzlich unbeeinflusst von den Entscheidungen des Westens geschehen kann, versteht sich von selbst. Das Gegenteil zu behaupten, wäre schlichtweg Heuchelei. Ich behaupte nicht, dass unsere Entscheidungen leicht sind – und ihre sind es auch nicht. Und ich behaupte auch nicht, es gäbe schnelle Lösungen oder sichere Ergebnisse. Ganz im Gegenteil. Was immer geschieht, was immer wir tun oder nicht tun – der Weg in die Zukunft bleibt ungewiss und voller Gefahren. So viel ist sicher. Doch es gibt eine letzte Chance. Ob es eine vertane Chance sein wird, ist gleichfalls unsere Entscheidung.
Dank
Dieses Buch nahm seinen Anfang mit einer Vorlesung über arabische Regierungsformen, die ich im Januar 2002, wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September, an der United Nations University in Tokio hielt. Ich lebte damals als Berichterstatter in Beirut, von wo aus ich drei Jahre lang regelmäßig Artikel über die arabische Welt für die Weekend Financial Times und das Financial Times Magazine schrieb. In dieser Zeit kam die Idee zu diesem Buch wieder hoch, die 1995 bis 1999, in meiner Zeit als verantwortlicher Redakteur der Financial Times für den Nahen und Mittleren Osten, entstanden und über Jahre hinweg in meinem Kopf gewachsen war. Einen ersten Versuch, sie in Buchform zu bringen, unternahm ich im Herbst 2005 in Dubai. Doch erst im Sommer 2008 war sie so weit ausgereift, dass ich das Gefühl hatte, sie umsetzen zu können. Dass ich ein eigenes Gespür für diese einzigartige Region entwickeln konnte, habe ich einer ganzen Reihe von Menschen in den dortigen Ländern zu verdanken. Auch wenn ich von Beruf Journalist bin, habe ich nie aufgehört zu staunen über die große Bereitschaft, mit der mir vollkommen fremde Menschen ihre Zeit opfern und jede Menge Geduld aufbringen, um Ausländern wie mir die Gepflogenheiten ihrer Welt näherzubringen. Und gerade in der arabischen Welt geschieht dies häufig mit einer so wohlwollenden Großzügigkeit, wie ich es selten erlebt habe, und auf eine Weise, die nicht selten Fremde zu Freunden macht. Ich hatte das große Glück, in dieser Zeit auch viele der politischen Führer der Region zu treffen, einige von ihnen sogar mehrmals. Von allen Begegnungen und Interviews erinnere ich mich besonders an die Folgenden: an mein zweites Treffen 1995 mit dem inzwischen verstorbenen König Hussein, einem Mann von ausgesuchter Höflichkeit, der stets versucht hat, in die Zukunft zu denken; an ein Interview mit Jitzchak Rabin (kurz vor seiner Ermordung), der als altgedienter Soldat nur schwer in seine Rolle als Friedensstifter hineinfand; an mein drittes Treffen mit Hassan Nasrallah, kurz nach den al-Qaida-Anschlägen auf die US-Botschaften in Ostafrika, bei dem er den Bin-Ladismus und die Taliban vernichtend kritisierte und voraussagte, dass erst der reformistische Präsident Mohammad Khatami im Iran ein Zeichen setzen und dem Islam den Weg in die Zukunft weisen würde; und an das letzte meiner vielen Gespräche mit Rafiq al-Hariri Ende 2004, an das ich mich jedes Mal in allen Einzelheiten erinnere, wenn ich an das niederträchtige Attentat auf ihn wenige Monate später denke.
Dank
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Wo von Bedeutung, habe ich aus diesen Begegnungen zitiert. Doch wie jeder Journalist weiß, erlangt man die beste Information und Einsicht für gewöhnlich über die mittleren und höheren Führungskader eines Regimes – und über deren scharfsinnigste Gegner, die in diesem Buch namentlich selten zitiert werden. Selbst wenn sie sich offiziell äußerten, scheint es mir klug, ihnen keine kontroversen Thesen beizuordnen. Sie wissen, wer sie sind. Überaus dankbar bin ich Lionel Barber, dem Herausgeber der Financial Times (FT), sowie dem leitenden Redakteur Dan Bogler, die mir die nötige Zeit gegeben haben, um dieses Buch fertigzustellen. Den früheren Herausgebern der FT, Andrew Gowers und Richard Lambert, danke ich dafür, dass sie mich in den Nahen und Mittleren Ostens entsandt haben. John Lloyd und Graham Watts, den einstigen Herausgebern des FT Magazine, gilt mein Dank dafür, dass sie mir großzügig einen Teil ihrer Räumlichkeiten zum Schreiben zur Verfügung gestellt haben. Ein ganz besonderer Dank geht an zwei sehr liebe Freunde und Kollegen, an Robert Graham von der FT und an Phil Bennett von der Washington Post, die das Manuskript mit einem ermutigenden, aber kritischen Auge gelesen und mir nützliche Tipps gegeben haben. Ebenfalls danken möchte ich Bhavna Patel von der FT-Bibliothek für die Unterstützung bei meinen Recherchen. Mein Dank gilt auch dem Chef und Verleger Iradj Bagherzade vom Verlag I. B. Tauris, der immer an dieses Projekt geglaubt hat. Und meiner Lektorin Abigail Fielding-Smith schulde ich einen riesigen Dank für ihre unentwegte Unterstützung und unschätzbaren Ratschläge. Danke, Abbie. Ein großes Dankeschön sage ich Dr. Eugene Rogan, Direktor des Middle East Centre in Oxford, und Professor Margaret MacMillan, Leiterin des St. Antony’s College ebenfalls in Oxford, die ermöglicht haben, dass ich als außerordentliches Mitglied aufgenommen wurde, und mir ideale Arbeitsbedingungen verschafft haben, unter denen ich dieses Buch abschließen konnte. Eine herzlichere, ermunterndere und inspirierendere Aufnahme wie die von Eugene und Kollegen am MEC hätte ich mir nicht wünschen können: Danke dafür, dass ihr mir die zeitweilige Mitgliedschaft in eurer Sippe gewährt habt. Einen letzten Dank schulde ich meinem verstorbenen Vater, Terry Gardner, der mich in weiser Voraussicht (zeitweise) im Mittleren Osten, in Kuwait, Kairo und Beirut großgezogen hat. Mein größter Dank aber geht an meine Frau, Samia Nakhoul, durch deren Augen sich mir die Region erhellte und der ich danke für ihre Liebe und Ermunterung, für ihre Courage und Geduld.
Anmerkungen
I Der arabische Politdschungel 1 Interview mit dem Regierungsbeamten in Washington, 11. September 2005. 2 siehe: „CIA holds terror suspects in secret prisons“, Dana Priest, Washington Post, 2. November 2005. 3 aus einem Kommentar von Cordesman in The Washington Note, 18. März 2006.
II Der Despot in seinem Labyrinth 1 siehe: „The Chameleon King“, Roger Matthews und David Gardner, Financial Times, 8. Februar 1999. Auf einem Bankett, das Kronprinz Hassan in Diwan am 30. August 1998 ausrichtete, wurde ich selbst Zeuge des Gerangels um die bevorstehende Nachfolge. 2 Avi Shlaim, Lion of Jordan: The Life of King Hussein in War and Peace, Allen Lane 2007, S. 98. 3 Kamal Salibi, The Modern History of Jordan, I. B. Tauris 1993, S. 197–9. 4 The Jordanian National Charter (al-Mithaq al-Watani al-Urduni), Dezember 1990. Siehe: „Can Islamists be Democrats? The Case of Jordan“, Glenn E. Robinson, The Middle East Journal, vol. 51, no. 3, Sommer 1997. In einem privaten Gespräch am 14. Oktober 1995 erzählte mir König Hussein, dass er beabsichtigt hatte, einen islamistischen Ministerpräsidenten zu ernennen. Daraufhin bemerkte Marwan Qassim, damals oberster Berater am Königlichen Hof und ebenfalls anwesend, dass dies eine schlechte Idee sei und Seine Majestät dies doch wohl nicht ernst meine. Zwei Tage später, am 16. Oktober 1995, kam König Hussein in einem offiziellen Interview mit mir noch einmal darauf zurück. „Eine der größten Schwächen der arabischen Welt ist das Fehlen von Pluralismus, Demokratie und Menschenrechten“, sagte er. Die demokratische Erneuerung in Jordanien seit 1989, so fuhr er fort, sei „ein Beispiel, das funktioniert“. Und er besitze die Legitimation, diese Aufgabe zu erfüllen: „Schließlich sind wir Haschemiten.“ Noch einmal betonte er, dass die Zeit kommen würde, wenn ein Islamist das Amt des jordanischen Ministerpräsident bekleiden werde, und dann „werden alle sehen, worum es geht beim Regieren und wer zu regieren imstande ist“. Die Zeit wird nie reif sein. Siehe: „Court of the chameleon“, David Gardner und Julian Ozanne, Financial Times, 17. Oktober 1995. 5 Fouad Ajamai, The Arab Predicament, Cambridge University Press 1981, das wichtigste Werk aus arabischer Feder nach 1967, das sich mit diesem Debakel befasst. Ebenfalls beachtenswert ist Sadek al-Azm, Self-Criticism after the Defeat und The Dream Palace and the Arabs, Pantheon 1998. Beide sind bis heute gute Orientierungshilfen – ganz unabhängig von Ajamis späterer Begeisterung für die Invasion im Irak. 6 Diese Angaben beruhen auf Interviews mit zwei ägyptischen Ministern im März und April 1996, mit einem hohen Beamten des ägyptischen Innenministers im April 1996, einem Interview mit Mustafa Mashhour, oberster geistlicher Führer der Muslimbruderschaft (Kairo, 7. April 1996), Gesprächen mit ägyptischen NGOs sowie auf eigenen Recherchen. Mashhour zeigte sich überaus zuversichtlich, dass die langmütige Strategie der Bruderschaft für eine schleichende Theokratie am Ende den Sieg davontragen wird: „Sie haben die Polizei und die Armee und scheinen damit oberflächlich betrachtet die Sieger zu sein. Doch wir vermögen es, die Gesellschaft zu verändern. Und dann werden wir die Sieger sein.“
Anmerkungen 7 Bahrainischer Minister, März 1996; siehe: „Democracy out of reach“, David Gardner, Financial Times, 12. April 1996. 8 Interview mit Mahmoud Zahhar, Hamas-Führer, Gaza, 3. Februar 1995; siehe: Azzam Tamimi, Hamas: Unwritten Chapters, Hurst 2007, und Zaki Chebab, Inside Hamas, I. B. Tauris 2007. 9 Französische und syrische Quellen erzählten mir vom Einfluss der (syrischen) Muslimbruderschaft auch auf einen Bruder Osama bin Ladens, der mit LKWs des bin-Laden’schen Bauunternehmens half, die Moschee zu stürmen. Am Ende gelang es französischen und saudischen Truppen, mithilfe von Grundrissplänen des heiligen Geländes, die ebenfalls von der Baufirma bin Laden stammten, die Mahdisten aufzustöbern und die Belagerung zu beendigen; siehe: „A Modern Assassin; Osama bin Laden“, David Gardner, Financial Times, 22. August 1998. 10 Steve Coll zeichnet dieses Ereignis in seinem Werk Ghost Wars, Penguin Press 2004, eindrucksvoll nach. 11 Ich zitiere hier einen überaus kundigen und sehr gut unterrichteten US-Regierungsbeamten, der Vorsitzender dreier Botschaften in der Region war. 12 Es gibt Ausnahmen. 1998 nahm ich in Kairo an einem Empfang für Daniel Kurtzer teil, den jüdischen US-Botschafter. Osama al-Baz, Mubaraks außenpolitischer Chefstratege, hatte diesen Empfang ausgerichtet in der Absicht, dem von den Medien angestoßenen öffentlichen Raunen ein Ende zu bereiten, das um die Frage kreiste, warum Israel nun „zwei Botschafter“ in Kairo habe. 13 Eine einwandfreie Darstellung ist hier kaum möglich: Es herrscht eine erbitterte Rivalität. Jedoch erlitt der Gipfel der Arabischen Liga in Beirut 2002 einen empfindlichen Rückschlag. Es mutet fast grotesk an, denn als das umfassende Friedensangebot des saudischen Königs Abdullah an Israel bestätigt war, zogen Vertreter des libanesischen Ministerpräsidenten Emile Lahoud die Lautsprecherkabel, kaum dass PLO-Führer Arafat zum Mikrofon gegriffen hatte. 14 Zitat eines führenden Reformers im April 1998. Ich fragte ihn vier Jahre später, ob er noch der gleichen Meinung sei, was er bejahte. Anzumerken ist, dass er in die ägyptische Regierung zurückgekehrt ist, um einen letzten (Reform-)Versuch zu starten. 15 Meine Frau Samia Nakhoul war die Autorin der Imbaba-Berichte bei Reuters. Ihr Informant unterrichtete mich über Einzelheiten der Erstürmung; hinsichtlich der Belagerung bin ich einem ägyptischen Offizier zum Dank verpflichtet, der die Erstürmung anführte und am zweiten Tag schwer verwundet wurde. 16 Interview des Autors mit Youssef Boutros-Ghali, Kairo, 13. April 1997. 17 Interview des Autors mit Mubarak, Kairo, 7. Mai 1995. 18 Interview des Autors mit Edward Said, London, 18. Juni 1997; siehe: „A generation never taught to serve aces“, David Gardner, Financial Times, 9. August 1997.
III Das Janusgesicht der islamischen Erneuerung 1 „Rückkehr zu unseren Wurzeln“ bzw. zu den „Wurzeln des Islam“ – diese Formulierung hörte ich erstmals in Gaza am 3. Februar 1995 aus dem Mund des Hamas-Führers Mahmoud Zahhar. Er tröpfelte mir etwas Jasminöl auf die Hand, während er in seinem engen Büro an der islamischen Universität Anatomieklausuren korrigierte und mir die Logik hinter den Selbstmordattentaten erklärte. 2 siehe: „An eye for an eye for“, David Gardner, FT Weekend, 13./14. Oktober 2001, meine erste Analyse der Politik bin Ladens unmittelbar nach dem 11. September. Jede Menge Erklärungen von Osama bin Laden und Ayman al-Zawahiri finden sich in einem wachsenden Stapel von Aufzeichnungen beim Sender al-Jazeera sowie auf einschlägigen dschihadistischen Webseiten; die US-Regierung präsentiert eine Zusammenstellung davon auf http:// www.fas.org/irp/world/para/ubl-fbis.pdf. Zu den aufschlussreichsten Interviews vor dem 11. September gehören die von John Miller (Esquire, Februar 1999); Robert Fisk (The Inde-
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pendent, 6. Dezember 1993; 10. Juli 1996; 22. März 1997); Scott MacLeod (Time, 6. Mai 1996) und Abd al-Bari Atwan (Al-Quds al-Arabi, 23. August 1998). siehe: Steve Coll, Ghost Wars, Penguin Press 2004, S. 162–4 und 379–81. Auszüge aus dem Text von al-Zawahiri: „Knights under the Prophet’s Banner“ finden sich in den Dezemberausgaben der in London erscheinenden Tageszeitung Al-Sharq Al-Awsat. FBIS Service (Informationsservice ausländischer Nachrichten): http://fas.org/irp/world/ para/aymanhbk.html. Siehe auch: Steve Coll, Ghost Wars, insbesondere S. 382–3; Gilles Kepel, The War for Muslim Minds, Belknap Press 2004, insbesondere Kapitel 3, sowie „The Man behind bin Laden“, von Lawrence Wright, The New Yorker, 16. September 2002. Siehe auch: Lawrence Wright, The Looming Tower, Knopf 2006. siehe: Tarif Khalidi, The Muslim Jesus, Harvard University Press 2001; zufällig erschienen am Vorabend des 11. September. siehe: Karen Armstrong, Mohammed: a Biography of the Prophet, Harper 1993, und A History of God, William Heinemann/Vintage 1993. siehe hierzu das großartige Werk von David Levering, God’s Crucible: Islam and the making of Europe, 570–1215, W.W. Norton 2008. Diese Formulierung habe ich aus dem hervorragenden Aufsatz „On Identity“, Harvill 2000, von Amin Maalouf. Albert Hourani, Thought in the Liberal Age 1798–1939, Cambridge University Press 1983, S. 114–20. ibd., S. 122–24. Edward Mortimer, Faith and Power: the Politics of Islam, Faber & Faber 1982, S. 237–50; zu Abduh siehe: Albert Hourani, Thought in the Liberal Age 1798–1939, Cambridge University Press 1983, S. 139–44. Hourani (ibd.), S. 228. ibd., S. 235. Hourani (ibd.): zu Abduh S. 149; zu Rida S. 230–31, Edward Mortimer, Faith and Power: the Politics of Islam, Faber & Faber 1982, S. 245–6; siehe hierzu auch Kapitel V zum Thema Wahhabismus. Mortimer (ibd.), S. 250–15, beschreibt Hassan al-Banna, den Gründer der Muslimbruderschaft, als „völlig übereinstimmend mit den Ideen Afghanis und Abduhs, so wie von Rida und al-Manar übermittelt“ (wobei die Wendung „so wie übermittelt“ eine wichtige Modifizierung ist). Robert O. Paxoton, The Anatomy of Fascism, Allen Lane 2004, S. 155. „General casts war in religious terms“, Richard T. Cooper, Los Angeles Times, 16. Oktober 2003; „The Religious Warrior of Abu Ghraib“, Sidney Blumenthal, The Guardian, 20. Mai 2004. siehe: Pew Global Attitudes Project: 17 nations survey, 14. Juli 2005; siehe auch: „The politics of the wounded identity“, David Gardner, Financial Times, 29. Juli 2005. Damit man mich – vor dem nächsten Kapitel mit Thema Irak – nun nicht der späten Einsicht verdächtigt, will ich anmerken, dass dies das Fazit einer Kolumne war, die ich vor der Invasion geschrieben habe („War in Iraq will only hindert he war on terror“, Financial Times, 27. Januar 2003). Ich habe stets die Auffassung vertreten, dass ein Überfall auf den Irak eine neue Mischung aus arabischem Nationalismus und islamistischem Extremismus hervorbringen wird.
IV Die Zeit der Schia 1 L. Paul Bremer III und Malcolm McConnell, My Year in Iraq, Simon & Schuster 2006, ist ein Paradebeispiel der Selbstverherrlichung. Siehe meine Rezension „Diplomatic Baggage“, FT Magazine, 4./5. Februar 2006, S. 28f. 2 GAO-07-711 vom 31. Juli 2007. 3 GAO-07-639 und GAO 07-444 vom 22. März 2007. 4 „Iraq: the Politics of the Local“, Charles Tripp, Le Monde Diplomatique, Januar 2008; veröffentlicht in Open Democracy, 25. Januar 2008.
Anmerkungen 5 „A Ministry of Fiefdoms“, Ned Parker, Los Angeles Times, 30. Juli 2007. 6 zu den wahhabitischen Brückenköpfen in Mosul siehe: „Iraqi Christians fear post-Saddam Islamists“, Samia Nakhoul, Reuters, 17. März 2003. 7 siehe: „GIs forge Sunni tie in bid to squeeze militants“, Michael R. Gordon, New York Times, 6. Juli 2007; „Iraq: the Politics of the Local“,Charles Tripp, Le Monde Diplomatique. 8 siehe: „Iran helped end Iraq fighting“, Reuters, Teheran, 4. April 2008, ein Zitat von Mohsen Hakim, dem Sohn des SCIRI-Chefs. 9 US-amerikanische (und britische) Unterstützung für Israels Libanonkrieg im Sommer 2006 schürte die Wut der Schia, die daraus schloss, Washington habe die Seiten gewechselt. 10 „Whatever Happened to Iraq?“, American Journalism Review, Juni/Juli 2008. 11 GAO-08-837 vom 23. Juni 2008. 12 Interview des Autors mit Netanjahu, 11. Februar 1998, Jerusalem. 13 „Talking to Iran“, Elaine Sciolino, New York Times, 21. Dezember 1997. 14 nach Interviews des Autors mit hochrangigen ägyptischen Sicherheitsbeamten (Kairo, April 1997) und führenden Mitgliedern des iranischen Schlichtungsrats (Teheran, Mai 1998). 15 Republic of Fear, Kanan Makiya, 1998. 16 Interview des Autors mit Mubarak, Kairo, 15. Februar 1998. 17 Mubarak ibd. Nach zwei Kriegen, Sanktionen und einer unterdrückten Rebellion schien aus Mubaraks Sicht kein Nachfolger eine Verbesserung zu versprechen. „Wie kommt jemand auf die Idee zu denken, dass so jemand nicht noch gefährlicher und rachsüchtiger sein könnte?“, fragte er. 18 siehe: „Shots in the Dark“, David Gardner, Financial Times, 18. Dezember 1998. 19 Defence Planning Guidance vom 18. Februar 1992, Bericht in der New York Times, 7. März 1992; siehe auch: Fred Kaplan, Daydream Believer, Wiley 2008, S. 124f. 20 „A Clean Break: A New Strategy for Securing the Realm“, Institute for Advanced Strategic and Political Studies, Juli 1996. 21 Fred Kaplan, Daydream Believer, Wiley 2008, S. 126. 22 „War in Iraq will only hinder the war on terror“, David Gardner, Financial Times, 27. Januar 2003. 23 siehe auch: „Iraq: The War of the Imagination“, Mark Danner, New York Review of Books, 21. Dezember 2006. 24 siehe: Woodward, State of Denial und Danner (idem); auch: James Mann, Rise of the Vulcans, Viking 2004, S. 362f. 25 Später sollte Wolfowitz sagen: „Die Wahrheit ist, dass wir uns aus Gründen, die viel mit der Bürokratie der US-Regierung zu tun haben, für das Thema entschieden, auf das sich alle einigen konnten – Massenvernichtungswaffen als Kernproblem.“ Vanity Fair & Pentagon-Protokoll des Interviews mit Wolfowitz, Mai 2003. 26 „Putting the meaning of the words back together again“, David Gardner, Financial Times, 7. Februar 2004. 27 Financial Times, 1. Juni 2001. 28 Kaplan, Daydream Believer, Wiley 2008, S. 53–76. 29 Andrew Patrick Cockburn, Out of the Ashes: the resurrection of Saddam Hussein, Harper Collins 1999, S. 13–30. 30 Die Zitate der irakischen Schia-Geistlichen an dieser Stelle und im restlichen Kapitel stammen aus Interviews, die der Autor in Nadschaf, Kerbala und Bagdad im Juni und Juli 2003 führte. 31 Interview des Autors mit Fadlallah, 27. Juni 2003, Beirut. 32 Patrick Cockburn, Muqtada al-Sadr and the Fall of Iraq, Faber & Faber 2008, S. 149–158. 33 Faleh A. Jabar, The Shi’ite Movement in Iraq, Saqi 2003. 34 Al-Ahram, 29. August 2003. 35 „Iraq: the Politics of the Local“, Charles Tipp, Le Monde Diplomatique, Januar 2008; veröffentlich in Open Democracy, 25. Januar 2008. 36 Cockburn, Muqtada al-Sadr and the Fall of Iraq, Faber & Faber 2008, S. 107–144. 37 „Shi’ite Politics in Iraq: the role of the Supreme Council“, International Crisis Group, ICG Middle East Report 70: 15. November 2007.
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38 über die Verluste der Hisbollah bei der Belagerung von Nadschaf, Hisbollah-Funktionär, Beirut, Oktober 2004.
V Arabia Infelix 1 Im Mai/Juni 2004, als der Anschlag in Khobar verübt wurde, war ich zufällig für eine Reportage in Saudi-Arabien unterwegs. Siehe: „Chaos Theory“, David Gardner, FT Magazine, 31. Juli 2004, S. 16–21. 2 Muqrins Aufruf war im Mai 2004 auf der Website der al-Sawt-Dschihadisten zu lesen. 3 Interview des Autors mit einem hochrangigen saudischen Regierungsvertreter in Riad am 3. Juni 2004. 4 Interview des Autors mit Mohsen al-Awajy in Riad am 1. Juni 2004. 5 siehe: David Holden und Richard Johns, The House of Saud, Sidgwick & Jackson 1981; Madawi al-Rasheed, A History of Saudi Arabia, Cambridge University Press, 2002. Darin: „Ohne den Wahhabismus ist es sehr unwahrscheinlich, dass Diriyyah [die erste Hauptstadt unter dem Haus al-Saud] und die Führung [der al-Saud] überhaupt zu politischem Einfluss gelangt wären.“ (S. 18); Pascal Menoret, The Saudi Enigma, (Zed Books, 2005); „The ‘Imama versus the ‘Iqal: Hadari-Bedouin conflict and the formation of the Saudi state“, von Abdulaziz H. Al-Fahad, European University Institute working papers, RSC 2002/11. 6 Al-Rashheed (ibd.), S. 191–200. Auch ibn Saud musste die Vielfalt anfangs anerkennen: die Verfassung von Hijaz von 1926 basierte auf der shura. 7 Die Schiiten nahmen Rache und ermordeten den saudischen Führer Abdul Aziz in der Moschee ihrer Hauptstadt Diriyyah 1803. Dass sie heute in der irakischen Regierung eine Mehrheit bilden, mag ihnen ebenfalls Genugtuung verschaffen, wo sie einst von den Wahhabiten aus Arabien nach Mesopotamien vertrieben wurden. 8 Der Handel, den Roosevelt und Ibn Saud schlossen, geht diesem berühmten Treffen zeitam 18. Februar 1941 verabschiedet lich voraus. Der Lend Lease Act (den der hatte), ermöglichte es den USA 1943, dem nicht-kriegführenden Saudi-Arabien (Waffen-) Hilfe zu leisten. siehe: Douglas Little, American Orientalism, I. B. Tauris 2002, S. 49. 9 siehe: „Lingerie stores urged to employ female staff“, Gulf News, 27. Dezember 2005. 10 Interview in Riad am 30. Mai 2004. 11 Al-Rasheed, A History of Saudi Arabia, Cambridge University Press 2002, S. 1993–2000; eigene Recherchen. 12 siehe Kapitel III. 13 Interview des Autors mit dem saudischen Chefdiplomaten in London, Mai 2004. 14 Privates Gespräch mit dem Autor in Oxford, September 2003. 15 Interview des Autors in Riad, März 1995. 16 Persönliches Interview in Riad am 2. Juni 2004. 17 Saudischer Regierungsbeamter, Riad, 3. Juni 2004. 18 Ich war zufällig in der Nähe, als im November 1995 die Sprengstoffanschläge verübt wurden. In den knapp zwei Stunden, die verstrichen, bevor die saudische Polizei den Tatort absperrte, war von Anwohnern und aus den Reihen der der Nationalgarde klar zu hören, die Anschläge gingen auf das Konto der arabischen Afghanen. Dass ich davon in schriftlicher Form berichtete (während die saudischen Behörden und örtlichen Diplomaten den Iran und/oder Irak beschuldigten), hatte zur Folge, dass ich fast zehn Jahre lang immer wieder Visaprobleme mit Saudi-Arabien bekam. Siehe: „An uncharacteristic lapse in controlobsessed Riyadh“, David Gardner, Financial Times, 14. November 1995. 19 Interview des Autors mit Jamal Khashoggi in London, Mai 2004. 20 Interview des Autors mit Mohsen al-Awajy in Riad am 1. Juni 2004. 21 Madawi al-Rasheed, A History of Saudi Arabia, S. 106–34; „Shaping the Saudi State“, Steffen Hertog, International Journal of Middle East Studies 39, 2007. 22 Interview in Riad, 31. Mai 2004. 23 siehe beispielsweise: „The Shi’ite Question in Saudi Arabia“, International Crisis Group, Middle East Report, No. 45, 19. September 2005.
Anmerkungen 24 siehe: Steffen Hertog, „Shaping the Saudi State“; Robert Vitalis, America’s Kingdom, Stanford University Press 2006. 25 siehe: „Between Islamists and Liberals: Saudi Arabia’s new Islamo-liberal reformists“, Stephen Lacroix, Middle East Journal, Vol. 58, No. 3, Sommer 2004. 26 Interview des Autors mit Abdulaziz al-Qassim in Riad am 2. Juni 2004.
VI Freibrief für Politmorde 1 2 3 4 5
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Said K. Aburish, The St George Hotel Bar: International Intrigue in Old Beirut, Bloomsbury 1989. Zahlen aus: Zaven Kouyoumdijan, Lebanon Shot Twice, Chamas, Beirut, 2003. Interview des Autors mit Walid Jumblatt in Mukhtara am 29. Oktober 2004. Kamal Salibi, A House of Many Mansions, I. B. Tauris 1988. Bei den Bombenanschlägen wurden 241 US-Marinesoldaten und 58 französische Fallschirmjäger getötet (siehe Kapitel VIII). Für Hintergrundinformationen zum Krieg siehe: Robert Fisk, Pity the Nation, Simon & Schuster 1990, und Jonathan Randal, The Tragedy of Lebanon, Hogarth Press 1990; zuerst erschienen in den USA bei Viking 1983 unter dem Titel Going all the way: Christian Warlords, Israeli Adventurers and the War in Lebanon). Syriens Prioritäten wurden binnen weniger Stunden nach dem israelischen Rückzug aus dem Südlibanon im Jahr 2000 deutlich, als Farouk Shara, damals syrischer Außenminister, den unvollständigen Abzug Israels verkündete, da Israel noch immer die Sheba-Farms im Dreiländereck Libanon-Syrien-Israel besetzt hielt, die laut UN zu Syrien gehören. Interview des Autors mit Samir Franjieh in Beirut am 26. Oktober 2004. Interview des Autors mit Rafiq al-Hariri in London am 6. Juli 1999. Interview des Autors mit Rafiq al-Hariri in Qoreitem, Beirut, am 29. Oktober 2004. Interview des Autors mit Michael Moawad in Beirut am 30. Oktober 2004. Interview des Autors mit Samir Franjieh in Beirut am 8. September 1998. Interview des Autors mit Nasser Saidi in Beirut am 28. Oktober 2004. zur „Hafensteuer“: Interviews des Autors mit verschiedenen libanesischen Geschäftsleuten, Bankiers und Regierungsbeamten über mehrere Jahre. Interview des Autors mit Patriarch Sfeir in Dimane am 10. September 1997 Interview des Autors mit Rafiq al-Hariri in Fakha am 6. September 1998. Interviews des Autors mit Rafiq al-Hariri und Samir Franjieh in Beirut am 11. September 1997. Interview des Autors mit Rafiq al-Hariri in Fakhra am 6. September 1998. Ein weiterer Besucher von Hafez al-Assad berichtet von einem Gespräch 1999, in dem der syrische Präsident Mühe hatte, sich an den Namen Ronald Reagan zu erinnern. Interview des Autors mit Rafiq al-Hariri in London am 6. Juli 1999. Interviews des Autors mit zwei hochrangigen US-Regierungsbeamten in Washington am 6. Oktober 2005. ibd. ibd. Interview des Autors mit einem hochrangigen libanesischen Politiker in Beirut, Oktober 2004. ibd. Interview des Autors mit Walid Jumblatt in Mukhtara am 29. Oktober 2004. ibd. Interview des Autors mit Nayla Moawad in Beirut am 30. Oktober 2004. Interview des Autors mit Rafiq al-Hariri, Qoreitem, Beirut, 29. Oktober 2004. Interview des Autors mit einem Außenamtssprecher in Washington am 6. Oktober 2005. Interview des Autors mit Rafiq al-Hariri, Qoreitem, Beirut, 29. Oktober 2004. Laut französischen Beamten des Außenministeriums. Diese Schreiben enthielten zugegebenermaßen Beeinflussungsbemühungen für einen Gaslieferungsvertrag im Wert von 700 Millionen US-Dollar, der stattdessen an ein wenig bekanntes Konsortium mit Verbindungen zum Familienclan al-Assad ging. „Das ist der Rausch der Korruption“, sagte mir jemand, der mit den Einzelheiten vertraut ist.
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32 Das ist meine Interpretation, gestützt auf Gespräche mit Rafiq al-Hariri; einem Ansprechpartner und Interessensvertreter von Damaskus, Regierungsbeamten in Beirut und Washington 2004 und 2005 sowie auf die vertrauliche Version des Berichts der unabhängigen Ermittlungskommission United Nations International Independent Investigation Commission, UNIIIC, gemäß der Sicherheitsratsresolution 1595 (2005); von Detlev Mehlis, Kommissionsmitglied UNIIIC, Beirut, 19. Oktober 2005, nachfolgend als „MehlisBericht“ bezeichnet. 33 Mehlis-Bericht, 29. Oktober 2005, Paragraph 23–30. 34 Interview des Autors mit Scheich Naim Kassim in Beirut am 30. Oktober 2004. 35 Interview des Autors mit Jamil Mroue in Beirut am 26. Oktober 2004. 36 Interview des Autors mit einem libanesischen Akademiker in Dubai am 28. Oktober 2005. 37 Mehlis-Bericht, Paragraph 96 und 95. 38 Mehlis-Bericht, Paragraph 103. 39 Der Mehlis-Bericht, der erste von mehreren des UNIIIC, ist möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs. Einigen Quellen zufolge gibt es Aufnahmen über einen Zeitraum von etwa fünf Jahren mit hochbrisanten Gesprächen zwischen Beirut und Damaskus, die der UN zugespielt wurden. 40 Interviews des Autors mit Beamten des Außenministeriums und des Kongresses in Washington am 15. Oktober 2005. 41 Hochrangiger arabischer Regierungsbeamter, 24. November 2005. 42 Augustus Richard Norton, Hezbollah: A Short History, Princeton University Press 2007: die wohl beste Darstellung der Hisbollah. 43 Laut libanesischen Quellen erlangte die Hisbollah nach dem Mord an al-Hajj maßgeblichen Einfluss bei Militäroperationen (Interviews in Beirut am 17. und 19. Mai 2008).
VII Der israelisch-palästinensische Konflikt 1 Avi Shlaim, Lion of Jordan: The Life of King Hussein in War and Peace, Allen Lane 2007, S. 377– 8; 652–3. 2 zu Qibya siehe: Avi Shlaim, The Iron Wall: Israel and the Arab World, Allen Lane 2000, S. 89– 92 (dt. in zwei Bänden: Hinter der Eisernen Mauer I. Israel und sein Verhältnis zur arabischen Welt: Von der Gründung Israels bis Camp David und Hinter der Eisernen Mauer II. Israel und seine Beziehungen zur arabischen Welt: Vom Libanon bis heute, Kai Homilius Verlag 2010); zu den Beziehungen zu Frankreich siehe die Memoiren von Shimon Peres (Battling for Peace, 1995). 1953 fror Eisenhower ein 40 Millionen US-Dollar schweres Hilfspaket wegen des Jordanwasserkonflikts ein, gab dies aber erst nach dem Qibya-Massaker bekannt. 3 siehe: Avi Shlaim, The Iron Wall: Israel and the Arab World, Allen Lane 2000, S. 95–182; zur Lavon-Affäre, siehe: Dan Raviv und Yossi Melman, Every Spy a Prince, Houghton Amifflin 1990, S. 54–61. 4 siehe: Avi Shlaim, The Iron Wall: Israel and the Arab World, Allen Lane 2000, S. 95–182. 5 ibd., S. 219. 6 Nassers militärische Absichten 1967 wurden trotz der israelischen Rhetorik nicht als offensiv angesehen. Jitzchak Rabin, damaliger Generalstabschef, sagte: „Ich denke nicht, dass Nasser Krieg wollte. Die beiden Divisionen, die er in den Sinai entsandte, waren nicht stark genug für einen Angriffskrieg. Das wusste er genauso gut wie wir.“ (Le Monde, 28. Februar 1968); selbst Menachem Begin, 1967 Kabinettsmitglied, nannte den Sechstagekrieg einen Krieg der Wahl: „Im Juni 1967 hatten wir erneut die Wahl. Die ägyptische Armeekonzentrationen im Sinai ließen nicht erkennen, dass Nasser tatsächlich einen Angriff auf uns vorbereitete. Seien wir uns selbst gegenüber ehrlich. Wir haben beschlossen, ihn anzugreifen.“ (New York Times, 21. August 1982) 7 Henry Kissinger, Years of Upheaval, Little Brown & Co, Boston, 1982, S. 625–29 und 1037. 8 „Eternal Divide in the thrice Holy City“, David Gardner, Financial Times, 28. September 1996. 9 Avi Shlaim, The Iron Wall: Israel and the Arab World, Allen Lane 2000, S. 555.
Anmerkungen 10 Interview des Autors mit Jitzchak Rabin, Jerusalem, 9. August 1995; siehe: „Jerusalem and Beyond“, David Gardner, Financial Times, 10. August 1995. 11 Interview des Autors mit Benjamin Netanjahu, Jerusalem, 11. Februar 1998. 12 http://www.fmep.org/analysis/articles/statements_on_american_policy_toward_ settlements_by_us_government_officials.html 13 Mein Verständnis von Camp David basiert auf: Robert Malley und Hussein Agha, „Camp David: the Tragedy of Errors“, in: New York Review of Books, Vol. 48, No. 13, 9. August 2001; Shlomo Ben-Ami, Scars of War, Wounds of Peace, Weidenfeld & Nicolson 2005, S. 240–84; Akram Haniyeh, „The Camp David Papers“ in: Journal of Palestine Studies, Winter 2001, Vol. 30, No. 2; Gesprächen mit drei israelischen Regierungsbeamten, zwei amerikanischen Regierungsbeamten und einem palästinensischen Regierungsbeamten zwischen 2003 und 2005 sowie einem Resümee des Aufsatzes von Miguel Angel Moratins, Friedensvertreter der EU und derzeitigem spanischen Außenminister, der über den Friedensprozess Protokoll führte. 14 „Want Security? End the Occupation“, Marwan Barghouti, Washington Post, 16. Januar 2002. 15 siehe: Walid Khalidi, Islam the West and Jerusalem, Hood Books, 1996. 16 Interview des Autors mit Faisal Husseini, Jerusalem, 8. August 1996. 17 siehe: Nur Masalha, Expulsion of the Palestinians, Institiute of Palestine Studies 1992, und Land without a People, Faber & Faber 1997; Walid Khalidi, All That Remains, Institute of Palestine Studies 1992, und New York Times, 23. Oktober 1979. 18 Interview mit UN-Vertretern, Beirut, Mai 2002. 19 siehe: „The Wandering Palestinian“, The Economist, 10. Mai 2008. 20 Ben Ami, Scars of war, Wounds of Peace, Weidenfeld & Nicolson 2005, S. 270–72. 21 Sharons Taktik erinnert an die Netanjahus. Im September 1997 unternahm Israel einen Mordanschlag auf den Hamas-Führer Khaled Mesha’al in Amman, drei Tage, nachdem König Hussein Netanjahu ein Angebot der Hamas auf eine dreißigjährige Waffenruhe mit Israel unterbreitet hatte. Hussein sagte, er fühlte sich, als habe ihm jemand „ins Gesicht gespuckt“. Die Verhaftung der Mossad-Agenten, die den Anschlag verübt hatten, zwang Israel zur Freilassung von Scheich Ahmad Yasin. Siehe: Avi Shlaim, Lion of Jordan, Allen Lane 2007, S. 570–76. 22 Report on Isreali Settlement in the Occupied Territories, Vol 15, No. 6, November/Dezember 2005, Foundation for Middle East Peace, Washington.
VIII Pax Arabica – Der Nahe und Mittlere Osten und der Westen 1 2 3 4 5 6 7 8 9
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„Does ‚Pro-Israel‘ mean anything?“, M. J. Rosenberg, IPF Friday, 25. Juli 2008. Joan Hoff, A Faustian Policy, Cambridge University Press 2008. Madeleine Albright, Washington Post, 23. Oktober 1999. Douglas Little, American Orientalism, I. B. Tauris 2003, S. 17. ibd., S. 9–42. siehe: Edith Hall, Inventing the Barbarian, Oxford University Press 1989. siehe: David Levering Lewis, God’s Crucible: Islam and the making of Europe, 570–1215, W.W. Norton 2008; Kapitel XI. siehe: Douglas Little, American Orientalism, I. B. Tauris 2003. Die Schuld mag bereits eingetrieben sein. Imad Mugniye, Drahtzieher der Bombenanschläge und Geiselnahme, wurde im Februar 2008 in Damaskus ermordet (siehe Kapitel VI). Interview des Autors mit dem Berater Khatamis, Teheran, 9. Mai 1998. Interview des Autors mit Scheich Hassan Nasrallah, Bir al-Abed, Beirut, 4. September 1998. Interview des Autors mit General Pervez Musharraf, Rawalpindi, 22. Februar 2001. „Bush’s quandary shaped by Pentagon“, Edward Luce und Daniel Dombey, Financial Times, 7. November 2007.
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14 Interview des Autors mit Recep Tayyip Erdogan, Elazig und Maltaya, 23. Oktober 2002. 15 ibd. 16 Amin Maalouf, On Identity, Harvil Press 2000 (erstmals veröffentlicht unter dem Titel Les Identités Meurtrières, Bernard Grasset, Paris 1998).
Register Abbas, Mahmoud (Abu Mazen) 173f., 185, 189 Abduh, Mohammed 70f., 135, 234 Abdullah, König von Jordanien 39f., 46, 51 Abdullah, König von Saudi-Arabien 31, 88, 103, 120–122, 128–137, 194 Abu Ghraib 25, 234 „Achse des Bösen“ 98, 104, 191, 200, 204 Afghanistan 8, 10, 12,f., 25, 45, 50, 60, 62– 67, 79, 94f., 104, 117, 129, 132, 190f., 205, 208f., 211, 219, 224 Ägypten Demokratie 15, 21f., 36, 43, 57f., 70, 103, 193 Dschihad 20, 47, 63f., Jassir Arafat 38, 58, 62 Lavon-Affäre 238 Militär 15, 37, 41, 86f., 134, 167, 227, 233, 238 Muslimbruderschaft 14, 28, 33, 36, 41, 44, 47, 232 Oktoberkrieg 1973 169 Palästina 8, 14, 38, 193 staatlicher Sicherheitsdienst 22, 235 Suezkrise 43, 166, 227 USA 22 Vereinigte Staaten 20, 29, 33, 43, 50, 52, 62, 86, 95, 102f., 159 Wahlen 28, 33, 35f. Wirtschaft 37, 52, 54, 56 Ahl al-Kitab („Leute des Buches“) 66 Ahmadinedschad, Mahmoud 203–205 AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) 17, 36, 212–217 al-Afghani, Dschamal ad-Din 70, 72 al-Aqsa-Intifada 178 al-Askari-Schrein 83f., 113 al-Assad, Baschar 19, 29, 51f., 149–154, 158, 163, 193 al-Assad, Hafez 19, 38, 52, 142f., 148f., 151, 158, 169 al-Awajy, Mohsen 121, 130, 136f. Albright, Madeleine 88, 90, 196 al-Dschamaa al-Islamiyya 44, 54, 64 Algerien 22, 33, 36, 64, 70, 79, 135, 165, 223 al-Gaddafi, Muammar 158, 204
al-Haeri, Kazem 110 al-Hajj, François 161 al-Hakim, Abdelaziz 81, 225 al-Hakim, Mohammed Baqr 104, 109f. al-Hariri, Rafiq 29, 144–149, 151–159, 161f., 193, 230 al-Husseini, Faisal 182f. al-Khoei, Abdel Majid 110, 114 al-Khobar120–122, 130 Allawi, Iyad 35, 154 al-Maliki, Nouri 113, 190 al-Muqrin, Abdulaziz 121, 130 al-Jazeera 34, 60, 65 al-Qaida 14, 20, 26, 28, 45, 47, 60f., 77, 79, 81–83, 93–96, 113, 115f., 118–123, 127, 129–131, 135–137, 153, 161, 185, 201, 207, 209–211, 224, 230 al-Rubai, Ali 101, 107f. al-Sadr, Muqtada 35, 80–83, 110, 113, 225 al-Saud, Abdul Aziz (König Ibn Saud) 63, 125f., 128, 134 al-Saud, Mohammed 122 al-Sahwa al-Islamiyya („islamisches Erwachen“) 82, 129, 135 al-Shahmani, Adnan 110f. al-Sistani, Ali 28, 84, 104, 107–109, 112– 114, 223 al-Ulum, Mohammed Bahr 108 al-Yamamah-Affäre 193f. al-Zarqawi, Abu Musab 27, 83, 111 al-Zawahiri, Ayman 27, 34, 62, 64f., 79, 130 Amerika, siehe: Vereinigte Staaten Annan, Kofi 90f. Antisemitismus 50, 68, 222 Antonius, George 42 Arabische Legion (al-Jaish al-Arabi) 39f. Arabische Liga 43, 131, 142, 172, 184, 221 Arafat, Jassir 22, 38, 45, 57–59, 62, 169– 179, 186 Armitage, Richard 97, 201 Armstrong, Karen 67, 181 Aronson, Geoffrey 59 as-Sadat, Anwar 44, 55, 64, 169 Atatürk, Mustafa Kemal 70, 207, 212, 214f. Averroes 68 Avicenna 68 Baath-Partei 42, 78, 85f., 89, 100, 110, 150
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Register
Bagdad 21, 25f., 68, 76, 78, 83, 85, 89–92, 96, 99–105, 110–112, 114 Baker, James 170f., 176 Balfour-Deklaration 25, 171, 188, 198 Barak, Ehud 8, 10, 49, 177f., 187 Barghouti, Marwan 178f., 223 Barzani, Masud 92 Begin, Menachem 196 Beilin, Jossi 173f. Ben-Ami, Shlomo 177, 184 Ben Gurion, David 165–167, 183 Berri, Nabih 145, 147f. Bhutto, Benazir 208–210 bin Laden, Osama 13, 16, 20, 23f., 26f., 45, 49, 60–67, 73, 76f., 82, 93, 95f., 104, 118–120, 127, 129–131, 135, 209 Blair, Tony 14, 25, 30, 37, 77, 86, 93f., 101, 160, 164, 188, 193f., 206 Boykin, William 76 Boutros-Ghali, Youssef 54 Bremer, L. Paul 21, 27, 78, 85, 111f., 114 Brzezinski, Zbigniew 88 Buddha Bar 138f. Bush, George H. W. 101f., 170f., 177 Bush, George W. 11, 14, 17, 20f., 23–28, 30, 32, 37, 61–63, 76–78, 83, 85, 93–95, 97– 100, 104, 118, 122, 152, 155, 158, 160, 162–164, 187–191, 195f., 200f., 204– 207, 209, 211, 222, 226 Camp David Gespräche 1979 89, 169 Gespräche 2000 62, 171, 177f., 180, 186 Carter, Jimmy 88, 169f., 176 Chalabi, Ahmad 35, 92, 97, 99, 113 Cheney, Dick 94, 99, 204, 209 Christdemokraten 36, 216f. Christentum Fundamentalismus 76 Maroniten 138, 140–142, 147, 167, 171f., 175, 180, 184, 196, 203, 222 Ciller, Tansu 45 Clinton, Bill 62, 887, 91–94, 98 Cockburn, Patrick 115 Cooperative Threat Reduction Program 98 Cordesman, Anthony 30 Dawa-Partei 80f., 110, 115 Dayan, Moshe 166–168 Defense Planning Guidance 94 Defense Science Board (DSB) 24 Deutschland 75, 190f., 216
Doha 88, 163 Drusen 140f., 151f. Dschihad 23, 34, 39, 45–47, 60, 63–66, 73, 76, 80, 96f., 123–125, 129, 132, 135, 174, 185, 208–210 Dschihadismus 13, 16, 27, 32, 36, 45, 47, 60, 66, 81, 185, 206, 209–211, 226 Dual containment 87f., 90 el-Ganzour, Kamal 54 Erdogan, Racep Tayyip 212–217 Eshkol, Levi 168 Europäische Union 35 Fadlallah, Mohammed Hussein 102 Fajadh, Mohammed Ischa 101 Falludscha 25, 188 Faschismus 73, 95 Fatah al-Islam 161 Fedajin 167, 169 Fleihan, Basel 155 Felsendom 182 Franco, Francisco 74 Franjieh, Samir 144, 146, 151 Frankreich Israel 152, 165, 167 Suezkrise 43, 195 Syrien 154f., 163 Freedom House 22 Fulbright, William 199 Gaddafi, Muammar, siehe: al-Gaddafi, Muammar Gaza 8f., 25, 49, 62, 87, 131, 165–167, 170– 172, 174f., 178–180, 185–188, 221 Genfer Friedensinitiative (auch: Genfer Vereinbarung) 25, 172, 188 Gerson, Michael 95 Glubb, John Bagot 39 Golanhöhen 87, 143, 165, 167, 169, 185 Government Accountability Office (GAO) 78, 222 Greater-Middle-East-Initiative (GMEI) 26 Großbritannien Invasion im Irak 86, 91 Iran 190f., 201 Israel 30, 167 Jordanien 40 Suezkrise 43 UN-Waffeninspektoren 97 Guantánamo 25 Habash, George 42
Register Hamas 8f., 33, 35f., 45, 49, 131, 159, 164, 174f., 178, 185–187, 190f., 220f., 223 Haniyeh, Akram 177 Haram as-Sharif 173, 180 Harbord, James 197 Hariri, Rafiq, siehe: al-Hariri, Rafiq Haus al-Saud, siehe: saudische Königsfamilie Hawatmeh, Nayef 42 Hawza 107–110, 112f., 115f., Hebron 175 Helms, Richard 169 Hertog, Steffen 132, 134 Hindus 75 Hisbollah 29–36, 49, 62, 83, 102f., 116, 143, 148, 152, 155f., 159–163, 165, 187, 190f., 200f., 203, 221 Hoff, Joan 195 Hourani, Albert 70, 72 Huntington, Samuel 13, 61 Hussein, König von Jordanien 39–44, 56, 164, 170, 230 Hussein, Saddam 22, 26, 28, 41, 43, 46, 62f., 75, 78f., 82, 86–89, 93–97, 102, 116, 131f., 143, 150, 153, 191, 200, 209 Ibrahim, Saad Eddin 52 idschtihad 71, 106, 135 Indien 45, 67, 75, 97f., 207f., 211, Intifada 29, 49, 62, 101, 170, 176, 178–180, 186f., 221 Irak Erdöl 96, 116f., 150 Fall von Bagdad 114, 118 Iraqi Centre for Research and Strategic Iraq Liberation Act 92 Studies (ICRSS) 114 Konflikt, Schiiten und Sunniten 12f., 25, 30, 35, 42, 83, 92, 100f., 111, 113f., 116f., 140, 191, 223, 236 Militär 8, 10, 12, 22, 27, 35, 78f., 81, 84f., 91, 102, 117 Status of Forces Agreement 224 Sunniten 24f., 66, 82, 116, 223 Syrien 22, 28, 32, 42f., 88, 142, 150, 158 USA 8, 17, 21, 24, 27, 29, 31–33, 62, 78f., 83, 85, 88, 90, 93f., 97, 99, 104, 111, 162, 167, 205f. Wahlen 10, 35 siehe auch: Saddam Hussein Iran Erdöl 17, 96, 150 Großbritannien 190f., 201 Irak 25, 33, 81, 84, 88, 103f., 159, 200, 204, 224 Libanon 13, 30f., 49, 103, 142, 159, 225
Teheran, Belagerung der Botschaft 81, 88, 117, 191, 201 USA 9–12, 17, 29–31, 46, 83, 86, 92, 100, 102, 104, 116, 191, 200f., 205f., 225 Wahlen 30, 35, 200, 202–204 Islamische Aktionsfront (IAF) 40f. Islamisten Wahlen 30, 33, 35f., 41, 109, 115, 119, 131, 133, 136, 159, 174, 203 Irak 10, 29, 38, 87, 103, 142, 154, 197, 219, 222f. siehe auch: Dawa, Hamas, Hisbollah Israel Biblisches Israel (Eretz Israel) 175, 186, 197 Existenzrecht 7, 30, 164, 169, 171, 180 Expansion 31, 167, 173, 177, 195f., 220 Frankreich 152, 165, 167 Gebietsverhandlungen 25, 31, 45, 87, 131, 164, 168, 170–173, 180 Großbritannien 30, 167 Jordanien 8, 39, 87, 141, 165, 167, 176 Lavon-Affäre 238 Libanon 9f., 13, 29f., 31, 49, 62, 87, 141, 148, 160, 163–169, 184, 187, 331f., 237 Militär 10, 14f., 50, 59, 160, 168, 221 Palästinenser 7–9, 17, 23, 25, 35, 49f., 59, 62, 87, 164f., 167, 170–193, 220, 223, 228 Suezkrise 43, 195 USA 7–17, 29–32, 35f., 43, 48f., 57, 62, 83, 87–90, 103, 143, 150, 154f., 160, 163f., 167, 169, 177, 182, 184–189, 195f., 200, 220, 222f., 225 Jaalon, Moshe 186 Jabaliya 178 Jabar, Faleh 110 Jerusalem 7f., 10, 39, 44, 49, 59, 63, 67, 75, 87, 89, 164f., 168f., 171–174, 179, 180– 186, 188, 221 Jinnah, Mohammed Ali 207 Johnson, Lyndon B. 168, 199 Johnson, Paul 121, 130 Jordanien Demokratie 22, 159 Großbritannien 40 Mukhabarat 38, 42, 52f. Nationalcharta 41, 109, 136, 225 Palästinenserflüchtlinge 161, 167, 171f., 183–188 staatlicher Sicherheitsdienst 13, 22, 32, 53, 130 Wahlen 22, 36, 40 Jumblatt, Walid 151f.
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Register
Kahn, Abdul Kadir 97 Kalter Krieg 21f., 42f., 45, 61, 64f., 74f., 128, 167–169, 199 Karzai, Hamid 93, 190 Kaschmir 13, 16, 45, 63, 75, 208, 211 Kassim, Naim 155 Kerbala 82, 100, 104f., 124 Khalidi, Rashid 24 Khamenei, Ali 104, 109, 202–204 Khashoggi, Jamal 130, 137 Khatami, Mohammad 103f., 200, 202–204, 225, 230 Khomeini, Ruhollah 89, 102, 108, 128, 202 Kissinger, Henry 95, 169 Koalitions-Übergangsverwaltung (Coalition Provisional Authority, CPA) 112 Kreuzzüge 25, 76, 86 Kuwait 21, 41, 46, 63, 86, 96, 101, 103, 124, 143, 153, 231 Lahoud, Emile 144, 147, 149, 151, 153f., 156f., 161 Lavon-Affäre 238 Lewis, David Levering 198 Libanon Bürgerkrieg 26–29, 33, 83, 138–141, 143, 159, 161, 163, 200 Drusen 149f., 151f. Iran 13, 30f., 49, 103, 142, 159, 225 Israel 9f., 13, 29–31, 49, 62, 87, 141, 148, 160, 163–169, 184, 187, 221f., 237 Maroniten 140–142, 147 Palästinenserflüchtlinge 161, 167, 171f., 183–188 Sunniten 31, 66, 82, 140, 161 Syrien 13, 29, 32, 70, 131, 138, 140, 142–165, 168 USA 9, 12, 28–33, 87, 124, 164, 190, 200, 205 Wahlen 29, 147, 160f., 163 Wirtschaft 138f., 143f., 148, 151 Little, Douglas 198 Maalouf, Amin 226, 234 Mahdi-Armee 35, 81–84, 105, 114–116 Mailer, Norman 76 Malley, Robert 177, 222 Manifest Destiny 190, 196 Maroniten 140–142, 147 Maronitisch-drusischer Bürgerkrieg 141 Maslaha 71 Massenvernichtungswaffen 26, 90, 95–97, 112, 201 Mazen, Abu, siehe: Abbas, Mahmoud Mearsheimer, Jon 222
Mehlis-Report 156f. Meir, Golda 164 Mekka-Abkommen 8, 131, 221, 223 Miliband, David 193 Moderne 53, 66, 71, 73f., 106, 126, 135, 201, 210, 214 Mohammed (Prophet) 38, 43, 84, 89, 100, 105, 122f., 182, 217 Monroe-Doktrin 196 Mortimer, Edward 72 Mossadegh, Mohammad 46, 96, 200f. Mroue, Jamil 155, 238 Mubarak, Husni 28f., 36, 46, 49–56, 90, 130 Mughniyeh, Imad 162 Muhammad Sayyid Tantawi, Großscheich der Al-Azhar-Universität 46 Mujahedin e-Khalq 205 Mukhabarat 13, 19, 22, 38, 42, 52f., 134, 144, 146, 150 Musharraf, Pervez 17, 36, 206–211 Muslimbruderschaft 14, 28, 33, 36, 44f., 47, 64, 72, 132 Nadschaf 70, 82, 101f., 104, 107–112, 115f. Najef 188 Nasrallah, Hassan 31, 100, 116, 147, 152, 159–162, 2ß3, 230 Nasser, Gamal Abdel 31, 38, 43f., 48, 128, 166f., 199, 238 Nassif, Mohammed 158 Nationalcharta (Jordanien) 41, 109, 136, 225 Nationalismus, panarabischer 23, 42, 65f., 71 Naveh, Jair 187 Netanjahu, Benjamin 7–10, 40, 87, 94, 174– 176, 187 Nordkorea 97f., 204, 225 Nour, Ayman 29, 113, 190 Obama, Barack 7–12, 15, 117, 190, 196, 224f. Oberster Islamischer Rat im Irak (seit 2007 die Bezeichnung für den Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq, SCIRI) 30, 80, 82, 115, 236 Oktoberkrieg 169 Olmert, Ehud 8, 160, 173, 220 Operation Desert Fox (Operation Wüstenfuchs) 91 Orwell, George 75 Oslo-Abkommen 172 Osmanisches Reich 20, 38, 67f., 70, 73, 108, 125, 197, 215f.
Register Pahlavi, Reza 201 Pakistan Bhutto, Benazir 208–210 Indien 45, 75, 98, 206–208, 211 Jinnah, Mohammed Ali 207 Kaschmir 13, 45, 63, 75, 208, 211 Muslim-Liga (PML-N) 208 Pakistanische Volkspartei (PPP) 208–210 USA 8, 36, 65, 93, 206–211 Palästinenser Camp-David-Friedensvertrag 169, 177f., 186 Flüchtlinge 161, 167, 171f., 183–188 Israel 7–9, 17, 23, 25, 35, 49f., 59, 62, 87, 164f., 167, 170–193, 220, 223, 228 Jassir Arafat 22, 35, 45, 57–59, 62, 169– 179, 186 USA 7–9, 17, 22, 35, 40, 48, 87, 94, 164f., 169f., 172, 175–189 Wahlen 35, 58, 192, 220 siehe auch: Palästinensische Befreiungsorganisation, Fatah, Hisbollah Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) 38, 141 Panarabischer Nationalismus 23, 42, 65f., 71 Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP (Türkei) 17, 36, 212–217 Pascal, Blaise 75 Peres, Shimon 173, 238 Peretz, Amir 160 Perle, Richard 94 Petraeus, David 80f., 84 PML-N (Muslim-Liga Nawaz) 208 Powell, Colin 26, 97 PPP (Pakistanische Volkspartei) 208–210 Protokoll von Sèvres 167 Qatar 21, 146, 154, 163, 190 Qom 46, 104, 108, 110 Rabin, Jitzchak 40, 49, 87, 171, 173–175, 177, 183, 189, 192, 222, 230 Rafsandschani, Akbar Hashemi 204 Ramallah 178, 181, 186 Raschidun („rechtgeleitete“ Kalifen des Islam) 67, 123 Reagan, Ronald 237 Rice, Condoleezza 20f., 29, 33, 161, 164 Rida, Rashid 71–73, 234 Roadmap 187f., 221 Roosevelt, Franklin D. 126, 236 Rosenberg, M. J. 192, 239 Rumsfeld, Donald 78, 94, 99f., 204 Russland, siehe: Sowjetunion
Sadat, Anwar, siehe: as-Sadat, Anwar Sadriyyun 110, 115f. Sahwa 82, 116 Said, Edward 57f., 233 Saidi, Nasser 146, 237 Samarra 83, 113 Sarkozy, Nicolas 163, 193 Saudi-Arabien Al-Yamamah-Affäre 193f. al-Qaida 14, 20, 26, 28, 45, 47, 60f., 77, 79, 81–83, 93–96, 113, 115f., 118–123, 127, 129–131, 135–137, 153, 161, 185, 201, 207, 209–211, 224, 230 Demokratie 15, 22 Erdöl 43, 103, 118, 120, 128, 130, 134, 165, 223, 228 Militär 14, 33, 46, 115 Reform 52–57, 103, 121, 133–137 Schiiten 103, 111, 123, 159 USA 15, 20, 31, 33, 45, 50, 62, 81, 84, 86f., 95, 102, 120f., 126, 224 Wahlen 85 Wirtschaft 126f., 132, 194, 228 siehe auch: saudische Königsfamilie saudische Königsfamilie 193 Scharia 215–217 Scheuer, Michael 24 Schiiten Konflikt mit Sunniten 25, 83, 100, 102f., 105f., 113, 140, 161, 223, 236 Saudi-Arabien 103, 111, 123, 159 Schiitischer Islam 70, 100, 104f., 159, 161, 200 Todesschwadronen 80, 110 siehe auch: Hisbollah See Genezareth 141, 166, 185 Selbstmordattentäter 20, 47, 81,118f., 121, 157, 160, 174f., 178, 186 Shamir, Jitzchak 117f., 222 Sharet, Moshe 166 Sharif, Nawaz 208, 210f. Sharon, Ariel 25, 59, 62, 131, 142, 166f., 169, 173, 178, 185–188, 239 Shikaki, Khalil 184 Shlaim, Avi 40, 164, 166 Shura 71, 135, 236 Siniora, Fouad 31, 144, 161f. Sowjetunion Afghanistan 65, 129 Atomwaffen 206f. Status of Forces Agreement (SoFA; Irak) 224 Suezkrise 43, 195 Suleiman, Michel 161, 163 Sunniten Irak 24f., 66, 82, 116, 223 Libanon 31, 66, 82, 140, 161
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Register
Konflikt mit den Schiiten 25, 83, 100, 102f., 105f., 113, 140, 161, 223, 236 Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq (SCIRI), siehe: Oberster Islimischer Rat im Irak Syrien Frankreich 154f., 163 Golanhöhen 87, 143, 165, 167, 169, 185 Irak 22, 28, 32, 42f., 88, 142, 150, 158 Libanon 13, 29, 32, 70, 131, 138, 140, 142–165, 168 Muslimbruderschaft 14, 28, 33, 36, 44f., 47, 64, 72, 132 Oktoberkrieg 169 Saddam Hussein 22, 26, 28, 41, 43, 46, 62f., 75, 78f., 82, 86–89, 93–97, 102, 116, 131f., 143, 150, 153, 191, 200, 209 staatlicher Sicherheitsdienst 32 Wirtschaft 140, 145, 148–152 Tawhid 123f. Terrorismus 14, 27, 30, 186, 204, 210, 228 Todesschwadronen 80, 110 Tripp, Charles 112 Türkei Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) 17, 36, 212–217 Atatürk, Mustafa Kemal 70, 207, 212, 214f. Eintritt in die Europäische Union 211–218 Erdogan, Recep Tayyip 212–217 Umar ibn al-Khattab 67 Umma 68–71, 73, 77 United Nations International Independent Investigation Commission (UNIIIC) 156, 238 UN-Sicherheitsrat 9, 25f., 29, 89, 97, 152, 156f., 166 USA Ägypten 22 Afghanistan und Sowjetunion 65, 129 Irak 8, 17, 21, 24, 27, 29, 31–33, 62, 78f., 83, 85, 88, 90, 93f., 97, 99, 104, 111, 162, 167, 205f. Iran 9–12, 17, 29–31, 46, 83, 86, 92, 100, 102, 104, 116, 191, 200f., 205f., 225 Israel 7–17, 29–32, 35f., 43, 48f., 57, 62, 83, 87–90, 103, 143, 150, 154f., 160, 163f., 167, 169, 177, 182, 184–189, 195f., 200, 220, 222f., 225 Ansehen im Mittleren Osten 195, 198, 206 Libanon 9, 12, 28–33, 87, 124, 164, 190, 200, 205 Opfer des Terrorismus 23f., 120, 151, 160, 219
Pakistan 8, 36, 65, 93, 206–211 Palästinenser 7–9, 17, 22, 35, 40, 48, 87, 94, 164f., 169f., 172, 175–189 Saudi-Arabien 15, 20, 31, 33, 45, 50, 62, 81, 84, 86f., 95, 102, 120f., 126, 224 Suezkrise 43, 195 sunnitische Aufstände 118 Teheran, Belagerung der US-Botschaft 81, 88, 117, 191, 201 11. September 14, 16, 20, 22f., 26, 47, 49f., 60–67, 93–95, 99, 103f., 118, 120, 122, 130f., 137, 150, 153f., 175, 186, 206–209, 230 Vereinte Nationen Sanktionen 87, 90–92, 110, 205 United Nations International Independent Investigation Commission (UNIIIC) 156f., 238 UN-Sicherheitsratsresolutionen 152f., 156–158, 170 Waffeninspektoren 97 Vereinigte Staaten, siehe: USA Vereinigtes Königreich, siehe: Großbritannien Wahhab, Mohammed ibn Abdul 119, 122f., 125, 127, 134f. Wahhabismus 72, 119, 122–125, 132f., 136f., 234, 236 Wahlen Ägypten 28f., 35f., 52, 56 Iran 30, 35, 200, 202–204 Irak 10, 35 Islamisten 30, 33, 35f., 41, 109, 115, 119, 131, 133, 136, 159, 174, 203 Jordanien 22, 40 Libanon 29, 147, 160f., 163 Pakistan 208, 210 Palästinenser 35, 58, 192, 220 Saudi-Arabien 85 Walt, Stephen 222 Walters, Vernon 169f. Weisglass, Dov 188f. Westbank, siehe: Westjordanland Westjordanland 8, 25, 39, 49, 57, 59, 62, 87, 164f., 167–176, 178–180, 183, 185– 188, 220f. Winthrop, John 196 Wolfowitz, Paul 94f., 235 Woodward, Bon 245 Wye-Abkommen 176 Zardari, Asif Ali 210f. Zubeidi, Akram 112