Lessings "Emilia Galotti": Die Figuren des Dramas im Spannungsfeld von Moral und Politik 9783110912302, 9783484320437


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German Pages 114 [116] Year 1988

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Table of contents :
Einleitung
I. Vom »Henzi« zur »Emilia«
II. Vom Typ zum Individuum
III. Das Figurenensemble
Die Handlung
Höfische Gestalten
Die Privatpersonen
Orsina
»Spartakus«
IV. Höfische, private oder bürgerliche Gestalten
V. Ästhetische Aspekte
Traditionelle Typen und Figuren
Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels
Plauderei: die Rezeption von seiten des Hofes
Der Bürger als tragischer Held
Die Textlogik
VI. Politisches Theater
Nachwort
Bibliographie
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Lessings "Emilia Galotti": Die Figuren des Dramas im Spannungsfeld von Moral und Politik
 9783110912302, 9783484320437

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 43

Simonetta Sanna

Lessings »Emilia Galotti« Die Figuren des Dramas im Spannungsfeld von Moral und Politik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Publiziert mit Unterstützung des Consiglio Nazionale delle Ricerche der Republik Italien.

Für Hernán und Matías

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Sanna, Simonetta: Lessings »Emilia Galotti« : d. Figuren d. Dramas im Spannungsfeld von Moral u. Politik / Simonetta Sanna. - Tübingen : Niemeyer, 1988. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 43) NE: GT ISBN 3-484-32043-5

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Bernhard Walter, Lustnau Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen

Inhalt

Einleitung

ι

I. V o m »Henzi« z u r »Emilia«

7

II. V o m T y p z u m Individuum

19

III. D a s Figurenensemble

27

Die Handlung

28

Höfische Gestalten

30

Die Privatpersonen

36

Orsina

42

»Spartakus«

46

I V . H ö f i s c h e , private oder bürgerliche Gestalten

49

V . Ästhetische A s p e k t e

61

Traditionelle Typen und Figuren

61

Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels

64

Plauderei: die Rezeption von Seiten des Hofes

68

Der Bürger als tragischer Held

71

Die Textlogik

73

V I . Politisches Theater

81

Nachwort

89

Bibliographie

101

V

Werde ich verstanden: so bin ich gerechtfertiget. Werde ich nicht verstanden: so habe ich nicht geschrieben.

G.E. Lessing (1778)

Einleitung

Gotthold Ephraim Lessing, »der verschlossenste unserer klassischen Dichter« — eine Bemerkung von Wolfgang Heise (1982: 63), die auf den Dichter selbst wie auf die Versuche seiner Werkaneignung gleichermaßen zuzutreffen scheint. In der theoretischen wie praktischen Umsetzung von Lessings Werk sei hier nur auf folgende Disproportion hingewiesen: In den zwei Bänden der Konferenz Halle 1979 behandelt nur eine Studie Minna von Bamhelm, rend sechs Studien Emilia

Galotti

wäh-

1

gewidmet sind. Weiterhin: Peter Weber

(1980) macht in seinem Vortrag auf die problematische Beziehung der Theater der D D R zu diesem Stück aufmerksam, welches sich auf den Bühnen der B R D hingegen großer Beliebtheit erfreut. Während der Theatersaison 1960/61 wird die Emilia

dort 404 mal aufgeführt, und Fritz Kortner bringt 1970 in

Wien eine vielbesprochene Neuinszenierung heraus (der 1979 die stärker politisierte von Adolf Dresen folgt); die Theater der D D R aber führen das Stück von 1969 bis 1974 insgesamt nur viermal auf. 1 1

1

Vgl. dazu Steinmetz (1972: 26), der hervorhebt: »Keine Tragödie des 18. Jahrhunderts hat ihren Interpreten so viel Kopfzerbrechen und Schwierigkeiten bereitet wie Lessings Emilia Galotti. Bis heute ist auf die Frage >Warum stirbt Emilia Galotti?< keine allgemein befriedigende Antwort gefunden worden.« Zur theoretischen wie bühnenpraktischen Rezeption vgl. Kertscher (1978), Diedrichsen/Rudin (1980) und Stadelmaier (1980). Kertscher meint, »daß gerade dieses Drama erstmals (...) unverhüllt die Konfrontation der damaligen Klassengegner in Deutschland darzustellen suchte: Grund genug also für unsere Bühnen, gerade an diesem Stück die antifeudale Haltung Lessings (...) zu verdeutlichen. Im wesentlichen sind es wohl zwei Gründe, die unsere Regisseure von einer Inszenierung der Emilia Galotti abhalten: 1. Es fehlt eine umfassende marxistische literaturwissenschaftliche Analyse des Stückes. 2. Regisseure — und offenbar auch Literaturwissenschaftler — finden keinen Zugang zum Text, der vor allem durch die Anlage des Schlusses sehr erschwert wird.« (S. 103) Bezweifeln läßt sich allerdings, ob Lessings antifeudale Haltung »Grund genug« sein kann, das Interesse von Regisseuren und einem zeitgenössischen Theaterpublikum zu erwecken, vor allem wenn eine Schwarz-Weiß-Malerei der Gestalten anregende Themen wie das Spannungsfeld zwischen Typ und individuellem Charakter gleichsam einebnet. In der B R D bietet hingegen gerade die Vielschichtigkeit des Textes Anlaß zu immer neuen Lektüren, die ihn abwechselnd in der Verfremdung des Psychodramas als Emblem von Schuld und Sühne innerhalb der bürgerlichen Familie (F. Dürrenmatt) und als Tragödie der negierten Sinnlichkeit und deren Folgen (F. Kortner) erscheinen lassen. Die Empörung Peter Webers (1980:

I

Bühnenpraxis und Literaturkritik reagieren damit im Grunde auf zwei Faktoren, die die Rezeption der Emilia Gaietti belasten: zum einen gibt die tragische Lösung des Konflikts Anlaß zu irritierter Abweisung; zum anderen bleibt die Motivation des Konflikts zumeist weitgehend im Dunkeln. Seit den ersten Aufführungen 1772 sind von Seiten des Publikums wie der Rezensenten schwerwiegende Vorbehalte gegenüber dem Tod Emilias nicht zu überhören.3 Die Kritik versucht zum einen, die scheinbar nicht gelungene Konzeption des Stücks aus textfremden Gründen zu erklären: Lessing sei entweder nicht zum tragischen Dichter geboren — »Wie das sehr verbreitete Unbehagen an den Schlüssen seiner Trauerspiele zeigt, war offenbar die Konfliktform der Komödie die Lessing gemäßere«, schreibt Klaus-Detlef Müller (1972: 54) — oder ihm sei eben diese Tragödie mißglückt.4 Eine andere Linie der Kritik orientiert sich textintern und untersucht die Motivation des Konflikts. Sie bezieht sich auf die Geschehnisse in den beiden Handlungsräumen: bei Hof oder in der Familie. Zumeist wird die Intrige, die Appianis Mord und Emilias Tötung von Seiten des Vaters verursacht, dem Prinzen und Marinelli zugeschrieben — dabei das Maß an Schuld beider aber durchaus unterschiedlich bewertet. Diese Darstellung — in ihrer Unzulänglichkeit bald offenkundig — rückt daraufhin alternative Motivationen in der Familiensphäre ins Blickfeld. Der Goetheschen Auffassung folgend wird bis hin zu Fritz Kortner behauptet, Emilia sei insgeheim in den Prinzen verliebt, so daß sie um diese Schuld zu sühnen, den Vater zur Tötung ihrer selbst überrede.5 171—72) über dergleichen Inszenierungen und insbesondere über diejenige von F. Kortner läßt sich indessen schwerlich teilen. Gewiß, Kortner reduziert die politischen Implikationen des Stücks vor allem in Richtung auf Lessings antifeudale Haltung. Doch was soll man von jenen politischen Deutungen halten, die idealistisch geprägt durch Emilias Tod die neue Freiheit des Bürgers verwirklicht sehen? Nur eine Neuwertung von Orsinas Rolle im Trauerspei ließe es zu, nicht nur Lessings antiabsolutistische Haltung, sondern auch die gewonnene kritische Distanz zu den bürgerlichen Privatpersonen im Werke selbst zu positionieren und beide zugleich sowohl in eine psychologisch-individuelle wie in eine politische Dimension zu integrieren. Vgl. dazu Braun (1969), Steinmetz (1969), Dvoretzky ( 1 9 7 1 - 7 2 ) , Ritter (1980), Henning (1980; 1981), a. auch Staitscheva (1980). In der zeitgenössischen Kritik vgl. v.a. die Positionen von J . J . Engel (Braun, 1969 II: 4 5 - 6 1 ) und J.J. Bodmer (Dvoretzky, 1971—72: 4 9 - j i ) . Ausgehend von natürlichem Menschenverstand und intuitiver Psychologie, melden beide Autoren Zweifel an Lessings Tragödienschluß an, die nur allzu berechtigt wären, falls die Gleichsetzung Autor — Privatpersonen wirklich bestünde. Zu den Parodien und Nachahmungen von Emilia Galotti s. Seifert (1973: 60J-06). Wie Johann Georg Sulzer beweist, vertreten schon die Zeitgenossen diese These (in Dvoretzky, 1971—72: 9). Riemers Mitteilungen über Goethe, 4. März 1812. Berlin: 1841, II: 663. Vgl. dazu auch Sàito (1975: jo—72). Zu Kortners Inszenierung s. Nagel (1970).

2

Andere Interpretationen greifen Äußerungen von Dilthey (1906), Eloesser (1898), Brüggemann (1926), von Wiese (1931) wieder auf, die in Odoardos Verhalten ein Übermaß an Respekt und Unterwerfung unter die politisch-religiöse Autorität des Prinzen zu spüren vermeinten, woraus Emilias Tragödie resultiere/ In der Betrachtung Orsinas bleibt bis heute Herder derjenige, der die an Weitsicht und Verstehen profilierteste Interpretation erbrachte.7 Ansonsten wird die Gräfin als dämonische Gestalt begriffen, als lasterhafte Person in die höfische Sphäre integriert. Insgesamt ist keine Untersuchung nachweisbar, die, statt einzelne Komponenten zu analysieren, der mehrsträngigen, komplizierten Gesamtanlage des Konflikts nachgeht. Ein Seitenblick: Teilheims Drama und Minnas witziger Übermut haben die Rezeption und Popularität von Minna von Barnhelm begünstigt, so wie die märchenhaften Züge Nathans Erfolg. 8 Dagegen ist das Verhältnis Text-Rezipient bei Emilia Gaietti stets widersprüchlich geblieben. Da aber das Trauerspiel kein Element enthält, das eine unmittelbare Identifikation erlaubt, erscheint gerade in ihm das Hauptcharakteristikum von Lessings Handschrift: die Intentionalität möglichst komplexer Wirkungen. 1772 schreibt Goethe zur gerade erschienenen Emilia an Herder: »Es ist alles nur gedacht. Das ärgert mich genug.«9 Dieses negative Urteil wird in der Folgezeit durch Friedrich Schlegel radikalisiert, der Emilia als »ein großes Exempel der dramatischen Algebra« wertet.10 Zwar mit Differenzen, ermangelt es dem Trauerspiel für den »Stürmer und Dränger« wie für den Romantiker an Gemüt. Ein Zuviel an konsequenter Logik, eine zu mechanische Disposition 6

So auch Kommerell (1970), Hillen (1970), Seeba (1973), Grimm (1977), NeuhausKoch (1977), P. Müller (1981), die sich auch kritisch zu Odoardos Tugendstrenge äußern. Vgl. S. 37, A n m . 2 3 .

7

Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität. Dritte

Sammlung

(Brief 37), in J . G . Herder, Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, B d . X V I I , Reprogr. Nachdruck d. Ausgabe Berlin 1881, Hildesheim Olms, 1967: 182—88; und Adrastea, Bd. X X I I I , S. 375—76 ders. Ausgabe. N u r Grimm ( 1 9 7 7 : 1 7 7 ) weist hin auf eine weiterführende Deutung, ohne sie jedoch auszuführen: »Es liegt nahe, daß Lessing trotz möglicher Verschlüsselungs- und Verschleierungstendenzen ein Signal, einen Hinweis auf seine politische und soziale Intention gab. Die Gestalt der Gräfin Orsina ließe sich immerhin in dieser Richtung interpretieren.« In der neueren Forschung vgl. insb. Janz (1979). 8

Vgl. z.B. August Wilhelm Schlegels Vergleich zwischen Minna und Emilia in den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur 1809—11, Bd. 2, hg. v. G . V. A m o retti, Bonn, Leipzig, 1923: 2 9 1 L

9 10

Weimarer Ausgabe IV, Bd. 2: 19. Über Lessing, in F. Schlegel, Kritische Schriften, hg. v. W. Rasch, München: 1964 2 : 346f. Zum Verhältnis F. Schlegel — Lessing vgl. Strohschneider-Kohrs

(1981:

13-27)· 3

der Handlung — dies scheinen Mängel, auf die bis heute die Interpretationen gelegentlich hinweisen. Jürgen Schröder (1972: 209) spricht von der dialogischen Psycho-Logik der Emilia, die die Gestalten im Niemandsland zwischen »Psychologie und Nachahmung, verstehende(r) und normative(r) Poetik« ansiedelt, und Klaus-Detlef Müller (1972: 49) ist der Auffassung, Lessings Phantasie bewege sich in den Bahnen dramaturgischer Gesetze, bleibe den Normen der commedia dell'arte verhaftet. Die literarpolitischen Interpretationen bringen die vom logischen Prinzip getragene Handlung mit den historisch-sozialen Bestrebungen in Zusammenhang. Von Lessings Zeitgenossen bis in unsere Tage aber war diese Interpretationslinie nicht fähig, den politisch-sozialen Gehalt des Lessingschen Textes im Drama tatsächlich zu orten, d.h. aus dessen interner Kausalität abzuleiten. Nicolai (1772) verstand seinerzeit diese Konfiguration als »lebhafte Schilderung des Charakters schlechter Prinzen, und zugleich eine treffende Satire auf dieselben.«11 Die gezielt sozial-politische Rezeption des Werkes begann nach der Französischen Revolution, zunächst bei Herder (1794/1801), setzte sich fort bei Heine (1833) und fand ihre Thematisierung bei Franz Mehring (1891/2). »Den einzigen wunden Fleck des Trauerspiels« bildet nach Mehring die fehlende Sühne der Schuld des Prinzen. Diese wird nicht dem schöpferischen Vermögen Lessings, ausgedrückt im Text, angelastet, sondern der Unreife des deutschen Bürgertums; ganz anders hingegen Paul Rilla (1958: 277), der im Nichtvollzug der Sühne einen revolutionären Stimulus des Werkes erblickt: »Indem Lessing zeigte, was unter dem fürstlichen Despotismus einzig möglich war, (...) weckte er in den Zuschauern das Gefühl für die >Unmöglichkeit< des despotischen Regimes (...): das ist der revolutionäre Schritt, der zu der Erkenntnis führt, daß Verhältnisse, die nicht sein sollen, geändert werden müssen.« Gleichnischarakter besitzt Odoardos Tat auch für Werner Rieck (1967) und Joachim Müller (1955: 54): »Wie der plebejische Vater einst durch die Tötung der Tochter in den plebejischen Massen eine revolutionäre Bewegung auslöst, so soll Odoardos, des Vaters der Emilia, Tat die deutschen Bürger in Wallung bringen.« Darstellungen dieser Art ließen sich ergänzen; sie verkennen nicht die Grundrichtung des Lessingschen Denkens, vernachlässigen aber die differenzierte Konfliktanlage der Tragödie, verengen und überziehen deren Implikationen und bleiben insofern unzureichend.11 11

12

In: Gotthold Ephraim Lessing, Gesammelte Werke, hg. v. Paul Rilla. Berlin: Aufbau-Verlag, 1954—58, B d . I X : 521, fortan mit der Sigle R, Band- und Seitenzahl vermerkt. Vgl. Lützeler (1971, 1976).

4

Mit wie vielen ungelösten Problemen sich bis heute eine Lektüre der Emilia Gaietti in politischem Sinne konfrontiert sieht, beweist die Interpretation Peter Webers (1980). Da Lessings Theater durch die Erziehung des Individuums eine neue Geselligkeit anstrebt, beruht nach Weber die bürgerliche, antihöfische Moralität auch in Emilia auf einer Festigung des Charakters, die hier mittels der Aktualisierung antiker Ideale erreicht wird (Virginia-Motiv). O d o a r d o und Emilia fänden so den Weg, einen eigenen Willen zu bekunden, doch führe der asketische Heroismus nur zu Emilias Tod und sei nicht imstande, die Verhältnisse zu verändern. Das aber erklärt Odoardos Berufung auf Gott, mittels derer Lessing auf geschichtsphilosophischer Ebene eine Problematik löst, ohne sie in Handlung umsetzen zu können. 1 3 Weber schreibt, wie die Mehrheit der Interpreten überhaupt, den höfischen Figuren die Verantwortung f ü r die Tragödie zu; die bürgerlichen Gestalten aber versteht er als die Stimme Lessings, d. h. er hält an der Vorstellung von der Identifikation zwischen dem Dichter und seinen Helden fest. O d o a r d o bringe einen bürgerlich-antihöfischen Willen zum Ausdruck, doch sei Emilia die eigentliche Heldin des Dramas. Ähnlich Nello Sàito (1975: 48): Er sieht in Emilia eine »Heldin der Tugend«, Stimme des »leidenschaftlichen Protestes gegen die Gewalt«, den das Trauerspiel ausdrücke. Günter Mieth (1980: 222—23) sieht Emilia im Laufe der Handlung wachsen, wobei sie, anfangs Objekt der Intrige, »ein bürgerlich-selbstbewußtes, handlungsfähiges Subjekt« wird und meint, daß Emilia »den Sprung aus dem Reich (feudaler) N o t wendigkeit in das Reich (bürgerlicher) Freiheit« wage. In diesem Sinne sei auch Emilia die legitime Titelheldin des Trauerspiels, die Personifizierung der bürgerlichen Weltsicht des Autors. Soweit eine Überschau zu den £m»7¿í-Interpretationen. Von Seiten Lessings selbst sind diese nicht unbedingt erleichtert worden, namentlich im H i n blick auf eine sozial-politische Durchdringung des Werkes: Hingewiesen sei nur auf die wiederholte Behauptung des Dichters, er habe die Geschichte der 13

So auch Rieck (1966: 334), der Bodmers Odoardo Gaietti (1778) mit Lessings Emilia vergleichend schreibt: »Bodmers Standpunkt (...) ist insofern interessant, als er in seiner Forderung nach einer gesellschaftlich aktiveren Konfliktlösung eine Position überwunden hat, die in der Emilia Galotti noch starke moralisch-ethische Züge trägt und sich in den Grenzen des Aufklärungsdenkens bewegt (...) die eigentliche Lösung wird einer höheren Gewalt überantwortet und macht somit deutlich, welche weltanschaulichen und geschichtsphilosophischen Grenzen selbst die progressivsten bürgerlichen Denker des 18. Jahrhunderts nicht zu sprengen vermochten.« Von der üblichen Identifikation zwischen der Position Lessings und der der Privatpersonen ausgehend, muß Rieck zu irrtümlichen Schlüssen gelangen; er findet in Lessings Trauerspiel Widersprüche, die ihm sogar die banale Parodie Bodmers in diesem Zusammenhang interessant werden lassen.

Í

römischen Virginia »von allem dem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant machte« und sie nur im Privaten angesiedelt.14 Konfliktanlage und Figurenkonstellation sind begründet im Gedankenkomplex der Verantwortung für Emilias Tod: Dieser aber enthält darüber hinaus den Schlüssel dafür, das Verhältnis zwischen dem Werk und der Theorie des bürgerlichen Trauerspiels Lessings zu erfassen. Nach der Hamburgischen Dramaturgie hängt im bürgerlichen Trauerspiel das Unglück der Gestalten mit einem korrigierbaren »Fehler« zusammen, dessen Auffindung und Umgehung im Leben dem Zuschauer obliegt (Lessings Deutung der megále hamartía von Aristoteles; R VI: 376—421). Die Existenz eines Zusammenhangs zwischen Lessings Theorie und poetischer Praxis annehmend, muß sich die Textanalyse darauf richten, den betreffenden »Fehler« der Privatpersonen zu ermitteln. Diese Bestrebung ist mitunter scheinbar ad absurdum geführt worden: Wer sich, wie Karl Siegfried Guthke (1965: 52) meint, mit »dem beliebten rechnerischen Herumtüfteln an der exakten Natur der hamartia Emilias« beschäftigt hat, kann feststellen, daß »die Tragödie nun gleich in allen Punkten der Theorie (...) versagt und gerade das jeweilige Gegenteil erzielt«. Eben dieser irrtümliche Befund bleibt so lange unvermeidlich, wie die Analyse von der Gleichsetzung des Autors mit seinen Dramengestalten ausgeht bzw. an dieser festhält.

14

Zu Lessings historischen Quellen vgl. J.-D. Müller (1971: 27).

6

I. Vom »Henzi« zur »Emilia« Lessings bohrender Methodik, seiner >Wortgrübelei< folgend, wird der Leser gewahr, wie das Resultat unbegreiflich bleibt ohne die Wege, die zu ihm führen. Claus Träger (1981)

Lessing arbeitete an Emilia Gaietti etwa 15 Jahre. 1756/57, mit dem Einbruch des Siebenjährigen Krieges, konzipierte er in Leipzig den Plan einer >antityrannischen Tragödie< (Das befreite Rom), deren lineare Handlung die Geschichte Lucretias und Brutus' zum Inhalt hat.1 Dem Projekt war die Beschäftigung mit drei zeitgenössischen Fassungen des Virginia-Motives, mit der des Engländers Crisp, des Spaniers Montiano und von Johann Samuel Patzke vorausgegangen.2 In nur drei Monaten aber, vom Oktober 1757 (Brief an Mendelssohn vom 22.10.57) zum Januar 1758 (Brief an Nicolai vom 21.1.58) läßt Lessing die Idee eines historisch-politischen Dramas fallen und geht zur Ausarbeitung einer ethisch-privaten Tragödie über, wobei sich die Gestalt der Lucretia zur Virginia wandelt, »eine(r) bürgerliche(n) Viriginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben.«3 In Fortsetzung des auf Seite 6 angegebenen Zitats: »... er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.« ( R I X : 157)4 Festzuhalten ist, daß diese Mitteilung Lessings an Nicolai einer ersten Phase der Stoffverarbeitung angehört, worin Emilia auffällig in die Nähe der Miss Sara Sampson (1755) rückt: Beide Trauerspiele begründen die Konfliktanlage in einer privaten Ethik. 1

2

3

4

Vgl. Bd.III: 354-59 der Ausgabe G . E . Lessing, Sämtliche Schriften, hg. v. Karl Lachmann u. Franz Munckner, Bd. 1—23. Stuttgart ( 1 - 1 1 ) , Leipzig ( 1 2 - 2 1 ) , Berlin, Leipzig (22): Göschen; Berlin, Leipzig (23): de Gruyter, fortan mit der Sigle LM, Band- und Seitenzahl vermerkt. Zu Das befreite Rom vgl. Riedel (1976: 107—12). Zu dem von Lessing übersetzten Dialog aus Crisps Virginia s. LM III: 359—60; zu Lessings Version der Virginia Montianos s. L M VI: 70—120; zur Rezension von Patzkes Trauerspiel in der Berlinischen Privilegierten Zeitung s. LM IV: 15 — 17. Zu Lessings dramatischen Fragmenten über das Virginia-Motiv vgl. Roethe (1889), über das Lucretia- und Virginia-Motiv in der französischen Literatur (aber auch in Montiano) vgl. Röttenbacher (1908) und in der Weltliteratur vgl. Galinsky (1932). Riedel (1976: i n ) hebt hervor, daß in der Bevorzugung der Geschichte der Virginia gegenüber der der Lucretia »eine Radikalisierung von Lessings >antityrannischem Denken< zum Ausdruck« kommt. Zum Schaffungsprozeß der Emilia Galotti vgl. Sàito (1975).

7

D a s Verhältnis Ich — Wirklichkeit, w i e es sich darstellt in der Minna in der Endfassung der Emilia,

und.

macht deutlich, daß das Virginia-Motiv, einge-

bunden in die sozial-politische Kausalität in den Jahren 17$ 5/58, von Lessing n o c h nicht bewältigt werden konnte. In diesem Zeitraum hatte Lessing das Verhältnis z w i s c h e n individueller Problematik und sozialen Determinanten, die Verflechtung zwischen Privatem und Ö f f e n t l i c h e m noch nicht ergründet. Folglich mußte die Darstellung der zentralen Konstellation I c h — W i r k l i c h k e i t zunächst im A n s a t z verbleiben — insofern, als Lessing, gegen absolutistische Ö f f e n t l i c h k e i t opponierend, das Ich auf den B o d e n eines abstrakten moralischen Habitus stellen und dessen Wirklichkeitsfeld mittels abstrakter, theologisch begründeter Moralität kritisch aufzuklären bestrebt sein mußte. U b e r diese doppelte A b s t r a k t i o n , die die historisch-politische Wirklichkeit z u m Paradigma abgeflacht hätte, gelangte er dann mehr u n d mehr hinaus und drang z u einer tieferen A u s l o t u n g der Kausalitäten Ich — Wirklichkeit vor, namentlich z u r Erkenntnis der mannigfaltigen E i n w i r k u n g der Realität auf die Moralität und v o n deren R ü c k w i r k u n g e n . In diesem Sinne ist eine E n t w i c k lung z u verfolgen, in der der Schaffensprozeß bis z u r endgültigen Fassung der Emilia,

seinerseits die Positionen des zurückliegenden Henzi

und begleitet v o n Sara, die Minna von Barnhelm

überwindend

als notwendige Etappe vor-

aussetzte. D a s Aufeinandertreffen v o n Immobilismus und ethischem Rigorismus auf der einen sowie skrupellosem u n d gewalttätigem H a n d e l n auf der anderen Seite, welches Emilia

1772 thematisiert, ist z u r ü c k f ü h r b a r auf die bereits 23 Jahre

früher hervortretendeKonstellation H e n z i — D ü c r e t . Patriot u n d Rebell, A l t r u ismus und Egoismus, ethischer Rigorismus und moralische Skrupellosigkeit messen einander aber nicht auf Handlungsebene, sondern in einfacher Entgegensetzung der Charaktere. D i e bühnenpraktische A u s w i r k u n g heißt z w a n g s läufig: lange oratorische Tiraden, keinerlei Interaktion. D e r A n t a g o n i s m u s w i r d nur rhetorisch umgesetzt, als verbales K l i n g e n k r e u z e n zweier K o n z e p tionen.' D a s Trauerspiel stellt nur die sprachliche Wiedergabe des Konfliktes dar; eine mutmaßliche szenische A u s f ü h r u n g w ü r d e schwerlich über die Position Gottscheds (Identifikation mit dem aufgeklärten Absolutismus) hinausreichen. 6 D i e A u f r e i h u n g der Widersprüche und K o n f l i k t m o m e n t e im Henzi

mußte

Lessing das D i l e m m a einer K o n z e p t i o n klarmachen, die den Schnittpunkt 5 6

Zum Henzi vgl. Mattenklott (1972). Vgl. z.B. folgende Äußerung Henzis: »Er [der Rat] bleibe, was er ist, wann er uns nicht mehr drücket« (R II: 540), oder die Pläne des ebenso tugendhaften Fuetters: »Den Mißbrauch ihres Amts, und nicht ihr Amt zu strafen« (ebd. S. 543).

8

zwischen Handlung und Moralität nicht erreicht, da beide Komponenten zu sehr im Abstrakten begründet sind. Seine anschließenden Werke reagieren darauf insofern, als sie nunmehr die konkrete Wirklichkeit in der privaten Sphäre bürgerlichen Charakters zu erfassen suchen.7 Von der Sara von 175 5 bis zur Emilia von 1772 können sie in dieser Perspektive als Versuche gedeutet werden, die Leerstellen des unvollendeten Henzi zum Komplex Ich — Wirklichkeit mit einer nach und nach lebendigeren Projektion der Wirklichkeit zu füllen. Etwa 6 Jahre vor der Sara, neben dem Henzi, wird die Entwicklung zu den späteren Meisterwerken mit der Darstellung des Privaten bereits in den Jugendlustspielen angezeigt. Es sind erste Belege dafür, wie Lessing den ethischen Immobilismus und die Starrheit des Typus überwindet, wie seine Gestalten an Flexibilität und Dynamik gewinnen. Zudem formiert sich die Position für eine glückliche Lösung des Dramas: Diese erweist sich nur dann als möglich, wenn sich die Tugend mit den Gegebenheiten der Wirklichkeit zu vereinbaren trachtet.8 Diese weiterweisenden Impulse der Jugendjahre finden in Miss Sara Sampson, Lessings erstem großen Werk, eine Konkretisierung innerhalb des Trauerspiels. Wie bereits bemerkt, bildet dessen Handlungsraum — im Unterschied zum Henzi — die private Sphäre. In der Handlung selbst findet sich gleich zu Beginn ein grundlegendes Indiz, welches von der Uberwindung des ethischen Rigorismus zeugt. Saras Vater, Sir William Sampson, welcher die Liebesentscheidung der Tochter im Nachhinein gutheißt und auf die väterliche Autorität verzichtet hat, erklärt: »Ich würde doch lieber von einer lasterhaften Tochter, als von keiner, geliebt sein wollen.« (R II: 10) Sara, die es wagte, »Blut und Sinne« zu haben, bekennt sich noch immer zu ihrer Liebe zu Mellefont. An-

7

Der Einakter Philotas (1759) spielt zwar in der öffentlichen Sphäre, aber nur um sie von innen heraus zu unterminieren, indem er sie vor das Gericht einer entgegengesetzten Moralauffassung zitiert. Nach Krieg, Blut und Trauer endet das Stück mit der Entscheidung des guten Königs Aridäus zugunsten der privat-familiären Sphäre: »Komm! Schaffe mir meinen Sohn! Und wenn ich ihn habe, will ich nicht mehr König sein. Glaubt ihr Menschen, daß man es nicht satt wird? — (gehen ab.)« (R II: 131). Die Opposition öffentliche/private Sphäre begreift die Opposition Gottsched/Geliert ein. Seit Gleim, der das Stück noch 1759 in Verse übertrug, ist Philotas oft als Idealisierung des Heldentums verstanden worden.

8

Vgl. dazu Klaus-Detlef Müller (1972: 36—7). Man denke auch wie in Damon, oder die wahre Freundschaft (1747) die Liebe der Probe der Freundschaft und umgekehrt die Freundschaft der Probe der Liebe unterzogen wird; ein gleiches geschieht zwischen Ehre und Geld: die vier Prinzipien werden, indem Lessing sie miteinander kollidieren läßt, sämtlich der Probe der Realität unterzogen.

9

dererseits verpflichtet sie sich zu lebenslanger Pein, um damit für die Beleidigung des Vaters einzustehen — ein Rest von abstraktem Moralismus, der im Laufe der Handlung überwunden wird. Sara findet zu einer aktiven, geselligkeitsfördernden Ethik, die der Bediente Waitwell zum Ausdruck bringt: »ich sollte meinen, Sie müßten auch daran denken, wie Sie das, was geschehen ist, wieder gut machten.« (R II: 53) In Emilia Galotti sind Vater und Tochter zu solchem Verhalten nicht fähig: Odoardo möchte lieber von keiner als von einer lasterhaften Tochter geliebt werden;' Emilia zieht ihrerseits den Tod jeglichem moralischen Risiko vor. Gestützt auf die nachfolgende Analyse, erweist sich das Zurückbleiben Odoardos und Emilias gegenüber Sir William und Sara als ein Zeichen der Distanz, die Lessing zu den zwei Gestalten der Emilia erreicht hat. Das bedeutet nicht, daß die Perspektive der Sara eine höhere wäre. Die Figuren sind ζ. T. noch von den vielseitigen konkret-sozialen Determinanten abstrahierte Charaktere. In Sara ist es Lessings Hauptsorge, die private Sphäre von den Resten einer ihr fremden Moralität zu reinigen. Gegenüber der Emilia ist Lessing mit Sara noch am Anfang. Sir William und Sara haben zwar die ethische Verfestigung überwunden und sind weitgehend als Individuen konzipiert; ihre Beziehung zu den conditions aber bleibt noch in moralischer Typik befangen. Auf dieser etwas rissigen Grundlage kann die Darstellung des Konflikts nicht die ethisch-politische Dimension aufbauen, auf deren Suche Lessing ist: Ethik und Politik sind noch getrennte Welten. So kann auch nicht der wahre Antagonist gefunden werden. Die Marwood, die Saras und, obwohl nur mittelbar, auch Mellefonts Tod verursacht, gehört der höfisch-städtischen Sphäre an, und ist folglich vor allem lasterhaft. In der Sara gestaltet Lessing nichts Geringeres als die >Unvernunft< eines Systems aber noch auf die Schablone der lasterhaften Gestalt reduziert, der es im Hinblick auf eine lebendige Entfaltung des Dramatischen an Produktivität mangelt. Die Uberwindung der moralischen Typik bleibt hier zurück hinter Lessings Einsicht in die sozial-politischen Wechselwirkungen 9

Im Kleonnis-Vrzgment (1758; in LM III: 360—71) wird die Tötung der Tochter — obwohl sie im Namen von politisch-religiösen Prinzipien erfolgt — aus der Perspektive der privaten Ethik zurückgewiesen: »PHILÄUS: Sprich: Der Tochter frommer Opfrer. Das Geboth Des deutlichen Orakels — E U P H A E S : Das Geboth Der deutlichen Natur war älter! — Ich Unglücklicher! Dem, der so wenig weis Was Vater ist, dem meinen Sohn vertraun!« (S. 370) In Emilia Galotti tötet Odoardo die Tochter im Namen derselben, nunmehr aber zu unmenschlichen Normen erstarrten Grundsätze, während Lessing aus der jetzt bezogenen Perspektive die Tat im Namen eines politischen Standpunktes verwirft, der nicht mehr mit dem aufgeklärten Reformismus Wolff-Gottschedscher Prägung zusammenfällt. - Zu Kleonnis vgl. E. Schmidt (1923 4 : 333) und Hillen (1970).

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und hinter seiner wachsenden Erkenntnis vom historischen Gewordensein dieser. In Emilia hat Lessing die personelle Kennzeichnung der systemimmanenten Gesetzlichkeiten so weit perfektioniert, daß er es sich erlauben kann, selbst den höchsten Repräsentanten der höfischen Welt nicht als Musterbeispiel des Lasters zu konzipieren: vielmehr als einen »menschlichen« Prinzen, eine komplexe, widersprüchliche Gestalt. 10 In der Sara hingegen reflektieren nur die Worte Nortons, eines Bedienten Mellefonts, die Beziehung zwischen dem Ethischen und Politischen, jedoch nur sporadisch und zudem in falscher Gewichtung. Die historisch-politische Determination der Gestalten klingt an, aber verkehrt sich in Nortons Worten sofort ins Gegenteil; er verdrängt das Politische durch das Moralische: »In der nichtswürdigsten Gesellschaft von Spielern und Landstreichern — ich nenne sie, was sie waren, und kehre mich an ihre Titel, Ritter und dergleichen, nicht — in solcher Gesellschaft brachten Sie ein Vermögen durch (...). Und Ihr strafbarer Umgang mit allen Arten von Weibsbildern, besonders der bösen Marwood —« (R II: 13). A m Ende sind die dem Drama immanenten Konflikte gelöst; der tragische Ausgang ist noch von nicht ursächlicher Notwendigkeit und wirkt insofern aufgesetzt. Ein Theatercoup ist zu bemühen: Gift und Dolch der Marwood (wie anders in der Emilia, wo Orsinas Gift und Dolch in die Konfliktanlage zwingend integriert sind). Der externe Schluß der Sara resultiert aus dem nicht im Konfliktzentrum gefaßten und auch nicht durchgehend gewahrten Kreuzungspunkt von Charakter und Geschichte. Die erste Konzeption der Emilia ij^y/tf, vom Standpunkt der Sara ausgehend, läßt zunächst auf gleiche Schwierigkeiten schließen. Ihre Anlage scheint weitgehend an Sara angelehnt: nur private Sphäre, moralische Aufschlüsselung des Konflikts, Mitleid als Endzweck. Ihren Anspruch meldet nunmehr die Frage an: Wie sind Handlung und tragische Lösung kausal zu verklammern? Auf welches Fundament sind die auseinanderstrebenden Parteien zu stellen? Einen Hinweis dazu gibt Lessings bereits zitierte Äußerung im Brief an Nicolai: »was sie [die private Geschichte] für den ganzen Staat interessant machte«. Diese Wechselbeziehung sollte in den Hamburger Jahren Lessing weit mehr gefangen nehmen als er es ehedem vermeinte. Es sind die Jahre der Minna.

IO

Vgl. in Lessings Brief an Ebert vom 7. Mai 1770 seinen ersten Eindruck über den Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig: »Schade, daß der Erbprinz Prinz ist, und in diese Klasse nicht so recht paßt.« (R IX: 358) Vgl. die Interpretation dieses Passus' bei Rilla (1958: 263-70) und Hildebrandt (1982:

344-4$)· II

Auf Beziehungen zwischen Emilia Gaietti und dem anderen Trauerspiel Miss Sara Sampson11 ist die Lessing-Forschung mehrfach eingegangen, hingegen kaum auf die grundlegende Verbindung zu seinem bedeutendsten Lustspiel.11 Gründe dafür liegen neben dem augenfälligen Genreunterschied in der jeweils anders gelagerten, in jedem Fall aber von ungelösten Problemen zeugenden Deutungsgeschichte. Die hier dargestellten Forschungsstandpunkte machen das Auffinden korrespondierender Inhaltsmomente zwischen der Emilia und der Minna nicht unbedingt leichter. Indessen ist die Gleichzeitigkeit bei der Weiterführung der Emilia und der Endabfassung der Minna durchaus kein Zufall: Hier auf der tragischen, dort auf der komischen Gestaltungsebene wird — vollständig in deren jeweilige Spezifik integriert — im Grunde die gleiche Problematik behandelt. Sie ergibt sich aus Lessings immer tiefer dringender und weiter ausgreifender Reflexion über die Verhältnisse seiner Zeit in Deutschland. Die beiden nur anscheinend so weit voneinander entfernten Texte verkörpern insofern zwei dramatisch unterschiedliche Auslegungsformen ein und desselben ideologischen Gesamtkomplexes. Minna von Barnhelm gibt mit der Haupthandlung der komisch-utopischen Dimension den Vorzug, wogegen die tragisch-realistische Dimension, deren Träger die Nebengestalten Franziska und Werner sind, im Hintergrund verbleibt. Im Gegensatz dazu stellt Emilia Galotti die letztere in den Vordergrund. Nicht berührt von jedwedem Formalismus ergibt sich mithin die Genrewahl aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: Die Komödie gewährt der Utopie Raum, die Tragödie den ungelösten Widersprüchen der Wirklichkeit. 11

Vgl. insb. Briegleb (1965), Hillen (1970) und Barner (1973). Wie Hillen (S. 120) hervorhebt, verleiht Sara in den ersten Akten des Trauerspiels Gott die Gestalt eines strengen Richters mit alttestamentarischen Zügen, dem Waitwell seinen Glauben an die Barmherzigkeit entgegensetzt. Auch in diesem Sinne ähneln die Privatpersonen von Emilia Galotti denen von Miss Sara Sampson, vor allem Sara bis zu III/3 und Sir William in der Vorgeschichte, bevor die Gestalten sich einer verständnisvolleren und menschlicheren ethischen Anschauung zuwenden.

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Vgl. z.B. Walzel (1927). — Meines Erachtens besteht zwischen Miss Sara Sampson und der Emilia von 57/58 eine Beziehung analog der zwischen Minna von Bamhelm und der Endfassung der Emilia (1772). Die beiden ersten Stücke gestalten eine ähnliche Thematik auf ethisch-privater Grundlage: die Gestalten der Sara überwinden die ethische Starrheit, die der Emilia vermögen es nicht. Die beiden letzten Werke gestalten die Problematik innerhalb eines ethisch-politischen sujet·. Minna entwirft eine gelungene ethisch-politische Abgrenzung vom H o f , Emilia das Mißlingen dieser Absicht. Auf folgende Analogien und Differenzen sei noch hingewiesen: 1) Miss Sara Sampson : Reise vom Land in die Stadt — mißlungene Rückkehr aufs Land — Tod der Hauptgestalten in der Stadt; 2) Minna von Barnhelm: Reise vom Land in die Stadt - gelungene Rückkehr aufs Land — Heirat der Hauptgestalten; 3) Emilia Galotti: zwiespältige Stellung zwischen Stadt und Land - mißlungene Abreise aufs Land - Tod der Hauptgestalten.

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Daraus leitet sich folgerichtig die Frage ab: Inwiefern bereitet sich in der Nebenhandlung Franziska-Werner gleichsam das tragische Schicksal Emilias vor? Die Lessing-Forschung hat ausnahmslos das Kammermädchen Franziska und den Wachtmeister Werner als Akteure einer Parallelhandlung gedeutet, die nach tradierten Modellen, auf sozial niedrigerer Ebene, weniger problembelastet und mit leichterem Kolorit, die Liebeshandlung der Hauptgestalten doppelt. Tatsächlich aber konzipiert Lessing Franziska und Werner als Gegenhelden, deren geistigen Fähigkeiten und emotionellen Anlagen Grenzen gesetzt sind; sie erbringen in der Komödie eine kontrastierende Gegenhandlung.13 Eben diese Konstellation macht Minna von Barnhelm so ergiebig. Das überkommene Modell der Nebenhandlung wird von Lessing zur Gegenhandlung umfunktioniert — ein Novum, das ihn befähigt, den vielschichtigen Problemkomplex anzugehen und im Lustspiel umzusetzen. Mit den Haupthelden allein ist diesem Anspruch nicht zu genügen; Franziska und Werner aber bilden nicht schlechthin die plebejisierte »Verdopplung« von Minna und Teilheim. Sie belegen im Gegenteil die nur zu Hälfte erreichte Emanzipation sowohl in ihrem Selbstverständnis wie in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit. Die ethisch-politische Alternative einer bürgerlichen Geselligkeit realisiert sich in der Handlung nur in den von Minna und Teilheim vertretenen Positionen, vornehmlich in der sozialen Distanzierung von der höfischen Sphäre. Diese Entwicklung können Franziska und Paul Werner hingegen nur halb vollziehen: Sie lösen sich von der höfischen Öffentlichkeit nur privat-ethisch, nicht aber sozial-politisch. Sowohl jeder für sich14 als auch in ihrem Dasein als Paar äußern sie zwangsläufig Züge der Zerrissenheit: Sie schwanken zwischen ethischem Rigorismus und Parteinahme für das Landleben einerseits (Franziska) sowie Anfälligkeit gegenüber höfischen Wertvorstellungen andererseits (Werner). (Diese Konstellation wird ebenfalls die Familie Galotti kennzeichnen!) Auf einem relativ selbständigen Empfinden beruht das Handeln Franziskas, dem Wachtmeister Werner obliegen demgegenüber die öffentlichen Entscheidungen, d.h. nur zu zweit, als Paar, bilden sie ein vollständiges Individuum. In Zukunft werden sie entweder Nutznießer oder Opfer eines vom Hof bestimmten Schicksals sein. — Werner möchte Franziska heiraten, ohne jedoch zu erkennen, daß er wie Teilheim dann auch seinen Abschied vom königlichen Militär13 14

Z u Interpretation und Forschungsgeschichte vgl. Sanna (1983: 89—131). Franziska verfügt über eigene Augen nur innerhalb der privaten Welt, Paul Werner besitzt Ohren nur innerhalb der öffentlichen Sphäre. Vgl. dazu Sanna (1983: 206—10).

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dienst nehmen müßte. Statt dessen verbleibt er im Bann einer falschen Faszination, so daß seiner künftigen Frau die Alternative droht, »über zehn Jahr (...) Frau Generalin, oder Witwe« zu sein (R II: 236). Innerhalb des Lustspiels verkörpern Kammermädchen und Wachtmeister eine Perspektive des Bürgers, die Lessing bereits von den Fabeln an gelegentlich mit dem Bild des Schafs kennzeichnete.15 Ungleich ist das Schicksal der Hauptgestalten. Die vorliegende Interpretation begreift Minna als gleichermaßen optimale und optimistische Formulierung von Lessings Utopie, als eine Gestalt nach Maßgabe einer neuen Bühne. Ihre Durchsetzungskraft und ihr Aktivismus, die sogleich ins Auge stechen, sind nur Teil eines weit mehr artikulierten Figurenensembles, welches Tiefsicht des Herzens und starke Leidenschaften (nicht mehr nur die milden der Empfindsamkeit)16 mit einer Vernunft zu verbinden weiß, die neuartige soziale Perspektiven aufzuzeigen vermag. Minna lenkt Teilheims Wandlungsprozeß mit Grazie und Witz, mit wachen Sinnen die Sachlage erfassend, irrend und doch fähig, aus den Fehlern zu lernen. Der Major wird seinerseits befähigt, seine Individualität zu entfalten und eine neue politisch-soziale Entscheidung zu treffen. Tellheims Wandlung, die Minnas Werk ist, beinhaltet in diesem Sinne weit mehr als nur die allgemeine Konversion von der Ehre zur Liebe oder eine nur politische Entscheidung: Sie impliziert das schwierige Werden eines emanzipierten Subjekts, das sich im Verlauf einer vielschichtigen Handlung mit der Integration von Ich und Wirklichkeit, Sinnen (Hören und Sehen) und Sprache, Eros und Logos verwirklicht. Was sich auf diese Weise auf der Bühne vollzieht, ist eine mehrsträngige Entwicklung zu einem eigenen Ich, in deren Verlauf der Major das Bewußtsein seiner selbst und der Wirklichkeit erlangt, eine dynamische Synthese von Leidenschaften, Wünschen, Vernunft und Geselligkeit. Der Abbau der intellektuellen und emotionalen Starrheit, die der Kodex der Ehre mit sich gebracht hatte, und die Entscheidung für eine alternative Geselligkeit in ihrer ethischen wie politischen Dimension sind die Konsequenzen dieses Prozesses.'7 Die Phasen der politischen Emanzipation Tellheims gehen mit den Phasen der individuellen Emanzipation Hand in Hand. Die verinnerlichte Problemsituation wird mittels zweier Isotopien gestaltet, die das »Theater der Seele« auf 15

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Zu dem Bürger als Schaf (und als Scherer) in Lessings Fabeln vgl. Bauer (1973), in Minna von Barnhelm vgl. Sanna (1983: 89—131, 147-50). Vgl. Rasch (1936), Mittner (1962), Kluckhohn (1966), v. a. Sauder (1974,1980). Auch Sanna (1983: 1 0 - 1 1 , 2 3 1 - 3 5 ) . Zu Tellheims Wandlungsprozeß vgl. Sanna (1983: 1 6 - 7 9 , 1 2 1 ~l(>> 2 4 6 - 54).

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die Bühne projizieren. Den anfänglichen Widerstand überwindend, erlangt Teilheim — ablesbar an der Isotopie der Modalverben — zuerst ein positives Wollen, wird im weiteren fähig, dieses auf der Ebene des Könnens zu behaupten und versteht im weiteren dessen Zusammenhänge mit den allgemeinen Normen des Müssens.1* Die Isotopie des Sehens und Hörens macht deutlich, wie Teilheim sich von seinem anfangs nur dem Außen verhafteten Blick, der mit den Augen der Welt eins ist, distanziert und die Fähigkeit mit eigenen Augen zu sehen erlangt — wobei dieses Vermögen zunächst in der Kurzsicht des Mitleids verbleibt. Später erwirbt er mit der Anerkennung der starken Leidenschaften des Herzens die Tiefsicht, am Ende zudem die Vernunft, indem er ein für ihn neuartiges Hören lernt. 19 Die Darstellung der Zeitverhältnisse übersteigt in Minna von Barnhelm bei weitem das Feld der »gehässigen Spannungen« zwischen Sachsen und Preußen und jeglichen Pro- oder Antifriderizianismus. Sie determiniert das gesamte Figurenensemble, die Nebenfiguren Riccaut und den Wirt einbegriffen. 20 Dem Anschein nach faßt der Wirt alle Merkmale seines Typs zusammen: Er ist gesprächig, geldgierig und neugierig. Auf andere Weise Riccaut, Söldneroffizier ohne Geld, der, dem äußeren Schein verhaftet, gleichsam den Typ des Deklassierten verkörpert. In die erstere tradierte Figur aber stellt Lessing einen gefährlichen und hinterlistigen Scherer — neben dem Schaf das zweite Modell des Bürgers, das Lessing in Minna gestaltet.21 Der Scherer ist bereit, ein jegliches Hindernis zwischen sich und dem Objekt seiner Begier beiseite zu drängen. Die andere Figur, den Chevalier Riccaut, nützt er dazu, das Gespenst der Ehre, leer, diffus flackernd, auf der Bühne als Person zu fassen. Von den tradierten Typen bleibt bei Lessing nur die Hülle: Der »Wirt« übernimmt die Satire der Gefährlichkeit des dem Utilitarismus verhafteten Geldbürgers, der sich keiner eigenen Werte bewußt ist; der »Chevalier« die Satire des untergehenden Feudalismus. Minna und Teilheim indessen sind Individuen im vollen Sinne des Wortes : autonom, flexibel, bewußt und insofern exzeptionell. Sie sind fähig, einen ebenso außergewöhnlichen Antagonisten wie Friedrich II. zu besiegen: Minna, indem es ihr gelingt, »dem Könige einen Offizier wegzukapern« (R II: 159), Teilheim, indem er des Königs Sendschreiben, die Reintegration in die 18

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2

°

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Vgl. dazu Sanna (1983: 152—65). Die Isotopie der Modalverben in Lessings Werk ist, soweit mir bekannt, nicht bemerkt worden. Labroisse (1972) streift sie in Emilia Gaietti, ohne weitgreifende Resultate zu erzielen. Vgl. Sanna (1983: 181 —92), auch zur Auseinandersetzung mit der Interpretation von Schröder (1969). Vgl. Sanna (1983: 141-50). Vgl. S. 14, Anm. 15. r

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höfische Welt, die ihm sein »wohlaffektionierter König« (R II: 225) in eigener Person anträgt, zurückweist. Nicht umsonst haben sie auf ihrer Seite einen herausragenden Alliierten wie Bruchsall-Lessing, Personifizierung der alternativen ethisch-politischen Werte des bürgerlichen Sezessionismus, Garant der utopischen Perspektive des Textes. 11 Nachdem der Prozeß beendet ist, in dem Tellheim unter der Führung Minnas und der Schirmherrschaft Bruchsalls ein komplexes Individuum wurde, Tellheim mithin in der Lage ist, sich politisch antihöfisch zu entscheiden, reisen die Hauptgestalten ab in die Sphäre der Sezession, auf das Land. Der nachfolgende Schlußauftritt entwirft die problematische Perspektive der Nebengestalten, die eine tragische Alternative nicht ausschließt. Für die Hauptgestalten schließt die Handlung mit den erreichten Zielen, doch ihre Zukunft wird szenisch nicht umgesetzt, sondern auf einen utopischen Horizont projiziert, der sich vor ihnen eröffnet. Man stelle sich einmal ähnliche, weniger exzeptionelle Verhältnisse vor: Nicht Preußen und Sachsen, sondern nur eines der vielen peripheren Fleckchen Deutschlands; nicht den großen König, sondern einen der vielen Duodezfürsten; zudem die bürgerlichen Personen nicht von ungewöhnlicher Statur und Individualität, sondern als »gewöhnliche« Gestalten, von durchschnittlichem Bewußtsein ihrer selbst und der Wirklichkeit. Vor allem stelle man sich vor, diese Figuren hätten vor, irgendwohin aufs Land abzureisen, ohne die Erlaubnis des lokalen Machthabers einzuholen. Anders erwogen: Was bleibt von der deutschen Wirklichkeit, wenn die Utopie entfällt? Oder auch: Ist die sezessionistische Lösung faktisch realisierbar, ja »realistisch«?13 Lessings Antwort ist eine Tragödie, Emilia Gaietti. Ähnliche Fragen müssen vor Lessing aufgekommen sein und ihm den Weg zur Beendigung der Emilia deutlicher angezeigt haben. Sie zielten auf Verhältnisse, die für das Deutschland dieser Jahrzehnte so charakteristisch waren, daß der Dichter deren Darstellung unbedingt in ein anderes Land und eine andere Zeit verwei" 23

Vgl. Sanna (1983: 7 7 - 7 9 , 2I9Í.). Mattenklott/Peitsch (1976 2 : 177, Anm. 21) setzen sich mit dem von Weber (1976 1 ) verwendeten Terminus des Sezessionismus auseinander und heben u.a. die Ungewißheit der Datierung hervor. Die hier vorgeschlagene Interpretation der Emilia Galotti könnte dazu beitragen, den Zeitpunkt festzulegen, da die sezessionistische Entscheidung in Lessings Werk an Interesse verliert: es sind die Jahre der Endfassung der Emilia (1771—72), in denen Lessing die Notwendigkeit einer direkt politischen Opposition und die Schwierigkeiten ihrer Realisierung in Deutschland reflektiert: In Minna also die Forderung eines sowohl ethischen (wie in Sara und Philotas) wie politischen Sezessionismus, in Emilia das Ende dieser Konzeption und die Forderung eines politischen Programms.

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sen mußte, um mit diesen Fragen der Herzoginmutter, immerhin einer Schwester des großen Königs, aufzuwarten. 2 4

24

In Gotha, Sitz der ersten deutschen Hofbühne, wurde Emilia Galotti nicht gespielt. Zu den Aufführungen vgl. Schulz (1977). - Man vergleiche Lessings Brief an Voss vom 24.10.1771, in dem er berichtet, Emilia solle zum Geburtstag der Herzogin aufgeführt werden, welche »so oft sie mich noch gesehen, um eine neue Tragödie gequält hat«, mit demjenigen Brief, den er ca. i j Jahre zuvor an Ramler schrieb, nachdem der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges seiner Reise mit dem Leipziger Kaufmann Winkler ein jähes Ende gesetzt hatte: »Ich und der König von Preußen werden eine gewaltige Rechnung mit einander bekommen! Ich warte nur auf den Frieden, um sie auf eine oder die andere Weise mit ihm abzutun.« ( R I X : 47} u. 128) Ergebnis von Krieg und Frieden wurde Minna von Barnbelm. Vgl. auch die Meinung Friedrichs II. zur Emilia: »Ich würde ihn [Lessing] schätzen, wenn er nicht die Emilia Galotti geschrieben hätte, ein Stück, in welchem der Prinz ein Dummkopf sei, der Kammerherr ein Meuchelmörder, die Gräfin eine Furie, die Mutter eine Schwätzerin, die Tochter beschränkt und der Vater extravagant.« (Dvoretzky, 1 9 7 1 - 7 2 : 129).

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II. Vom Typ zum Individuum

Noch 1772 bestätigt Lessing dem Bruder Karl Gotthelf die nur private Konzeption des »Sujets Emilia«, von dem er in dem Brief an Nicolai von 1758 gesprochen hatte. Noch immer handelt es sich um eine »modernisierte, von allem Staatsinteresse befreiete Virginia« (R IX: 502). Doch gleicht die Formulierung nur dem Anschein nach der von vor 14 Jahren. Die Übereinstimmung der Behauptungen in den Briefen von 1758 und 1772 scheint eine apolitische Interpretation nahezulegen und zu rechtfertigen. Das Private, dem Politischen entgegengesetzt, setzt letzteres außer Betracht.1 Ernest L. Stahl (1958: 103) schreibt in seiner Emilia-Analyse: »Man hat immer wieder vergeblich versucht, Lessings Bürgerdramen als Kundgebung einer neu erwachten sozialen Gesinnung zu würdigen«, währenddessen sie »im Grunde immer vertiefte Familiendramen sind«. Auch Jürgen Schröder (1972: 204) interpretiert Emilia ausgehend von einem »bewußten Verzicht auf die politischen Bezüge« von Seiten Lessings. Auf der Gegenseite behaupten sich trotz dieser Briefe die Versuche einer politischen Deutung der Emilia, gleichwohl in Vereinfachungen und Widersprüchen befangen. Das ist von Franz Mehring (1891—2) bis Peter Weber (1980: 168) der Fall, der Odoardos Schlußworte als »Möglichkeit, die Handlung in geschichtsphilosophischer Gewißheit vom Fortschritt zur Humanität ausldingen zu lassen« deutet. Im Kontext der neuen Phase der Ausarbeitung der Emilia Gaietti, im Lichte der Entwicklung von Lessings Konzeption muß die Beziehung zwischen Privatem und Politischem — auf die der Brief von 1772 anspielt und die im Text selbst dargestellt ist — anders beurteilt werden. Denn zu dieser Zeit entspricht die nur private Konzeption der Handlung der spezifischen sozialen Perspektive Lessings. Hatte er in Minna von Barnhelm die Verflechtung zwischen privaten und politisch-sozialen Entscheidungen im Positiven begründet, so ist derselbe Zusammenhang in Emilia Gaietti in negative Koordinaten gestellt. 1

Vgl. Wierlacher (1968), der den bürgerlichen Helden als Privatperson und das bürgerliche Trauerspiel als tragédie domestique deutet (S. 77). So auch Reh (1981: 231), der von der »Entpolitisierung und Psychologisierung des Stoffes« spricht.

i?

Die unmittelbar politische Konzeption des Sujets steht außerhalb von Lessings Blickwinkel: Was ihn interessiert, ist eben gerade die Unmöglichkeit, das Aussichtslose einer solchen Konzeption. Es kann paradox klingen, doch hat sich die alte, 1758 Nicolai mitgeteilte Formel im Wesen nicht geändert — trotz der verschiedenen textlichen Ausführungen. Das Neue aber ist, daß Lessing diese Formel nun — nach einer Entwicklung von etwa 1 1/2 Jahrzehnten — umzusetzen versteht, d. h. Leitidee und Textualisierung in einer gereiften Weise zur Übereinstimmung zu bringen vermag. Der Aktualität — der zeitigen Aufgabe1 — entspricht die Unmöglichkeit, eine unmittelbar politische Aktion zu thematisieren, die »für den ganzen Staat interessant« wäre und den »Umsturz der ganzen Staatsverfassung« einschlösse. Zeitgemäß vor allem aber sind die Konsequenzen dieser Unmöglichkeit innerhalb der privaten Sphäre. Appiani bezeichnet die Heirat mit Emilia und den Rückzug in die väterlichen Täler, in die Sphäre von »Unschuld und Ruhe« (II/4), als das Ziel seiner Wünsche und sein »ganzes Glück« (II/10). Auch Teilheim bezeichnet die Verbindung mit Minna als sein »ganzes Glück« (V/9) und ist bereit, Minnas Wunsch entsprechend entweder im Dienst zu bleiben oder auf das Land zu ziehen. Was aber auf V/9 folgt, ist die pars construens von Minnas Lektion, die Tellheims sezessionistische Entscheidung festigt und erweitert, indem er die Fähigkeit erwirbt, diese Entscheidung auch bewußt und wirksam zu verteidigen.3 Eben dieser Fähigkeit entbehren die bürgerlichen Personen der Tragödie — Odoardo, Emilia und Appiani. Damit ist ein Kriterium gesetzt, an dem sich die grundsätzliche Trennung zwischen der ethischpolitischen Utopie {Minna) und den tragischen Grenzen der Wirklichkeit (Emilia) manifestiert. Dieser Gegensatz drückt sich in unterschiedlichen Entscheidungen aus, deren individuell-private Konsequenzen folgerichtig weiter divergieren. Ausgangspunkt dieser auseinanderstrebenden Handlungsverläufe ist das unterschiedlich entwickelte politische Bewußtsein (hier perspektivisch geöffnet, dort den Determinanten der Realität leidvoll verhaftet). In der Komödie mithin die Absage an die höfische Bindung und die Perspektive eines privaten Glücks. Vor allem aber ein nicht vergleichbares Vermögen zur Verteidigung der eigenen vitalen Interessen: selbstaufopfernder Heroismus in Emilia, sieghaftes und bewußtes Handeln in Minna. Die bürgerlichen Gestalten von Emilia Gaietti erleben von neuem Henzis Dilemma zwischen Moralismus und Tat. Ihr abstrakter Moralismus macht sie handlungsunfähig 1

3

Vgl. dazu R VII: 551—60 u. auch die wiederholten Äußerungen (Literaturbriefe, Laokoon, Hamburgische Dramaturgie) über die Notwendigkeit einer Dichtung auf der Höhe »der Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes« (R VI: 15). Vgl. Sanna (1983: 60—79).

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und hindert sie daran, die Gleichsetzung von aktiv-offensivem Verhalten und egoistischer Rache in Frage zu stellen. Wie einst Henzi, meint Odoardo noch immer: »Verdienen sie den Tod, so hat Gott seinen Blitz« {Henzi, I/2); noch immer »waffenlos« (ebd., II/1) gegen die Gewalt, die ihn bedroht, bleibt ihm nur die extreme, tragische Geste des Selbstschutzes, eine Handlung, die das höfische System fast so zu registrieren vermag, als wäre sie nicht geschehen. Wenn Lessing innerhalb der privaten Sphäre die Konsequenzen einer unzulänglichen politischen Entscheidung darstellt, die sich nur im Ethischen vermittelt, so bedingt dieser Modus zwischen Ich und Wirklichkeit auch jede einzelne Figur in der Emilia. Die Beziehung zwischen der Gestalt mit ihren habituellen Determinanten und den Grenzen ihres Handlungsvermögens läßt sich klar herauslesen. Analog dazu steht das komplexe Statut Minnas (»boshafter Engel«, V/12) in einem ursächlichen Zusammenhang mit ihrer Fähigkeit, sich mit ihrem Antagonisten zu messen und ihn zu besiegen. Die Bürger in Emilia Galotti indessen sind flat characters: Ihre psychische Struktur ist gepreßt an das Prinzipielle, ihre Innenwelt ist starr (»Engel«, »Muster«, »Beispiel«), und sie unterdrücken gleichsam die Leidenschaften wie den Höhenflug der Gedanken. Das Funktionieren dieser Personenkonzeption macht Emilias Tod erklärbar:4 Sie bleibt letztlich ein Typ, wird nicht zum komplexen Individuum. Erlaubt sei ein spekulatives Gegenbild: Es fällt schwer, sich in diesem Kontext eine Minna vorzustellen, die ebenfalls den Freitod erwägen würde (in III/3). Angesichts der Bedeutung von Emilias >Selbstmord< in der Tragödie ist es angezeigt, Lessings Bindung wie Distanz zum Sturm und Drang erneut zu durchdenken. »Erscheint Lessing hier im Schönen«, fragt Bodmer, »da Werther mit der Emilia Galotti in der Hand sich erschießt?« (Dvoretzky, 1971—2:51) 5 Goethes Briefroman fand zunächst nicht Lessings ungeteilte Sympathie: »meinen Sie nicht, daß es noch eine kleine kalte Schlußrede haben müßte? Ein paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abenteuerlichen Charakter gekommen; wie ein andrer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich dafür zu bewahren habe. Denn ein solcher dürfte die poetische Schönheit leicht für die moralische nehmen, und glauben, daß der gut gewesen sein müsse, der unsere Teilnehmung so stark beschäftiget. (...) Also, lieber Goethe, noch ein Kapitelchen zum Schlüsse; und je zynischer je besser!« (R IX: 614—ij)6 4

5 6

Sàito (1980: 7) meint zu Emilias Tod, daß »es sich nicht um eine von Odoardo vollbrachte Tötung der Tochter, sondern wie schon bei Livius um einen >Selbstmordvon allem Staatsinteresse befreit< wird«. Tatsächlich aber gehen einige Funktionen dieser Gestalten in Lessing auf Orsina über. Zu Minnas Ruhe vgl. Sanna (1983: 39—41). Trotz der gänzlichen Verfehlung von Lessings Intentionen, stellt Nolte (1968: 233) auch hierzu Fragen, die es festzuhalten gilt: »Mäßigung, Gelassenheit, Ruhe. Und das in einem Drama des Verfassers, der den stoischen Helden rundweg verworfen hatte, der die französische Tragödie wegen ihrer Einhaltung von Anstand und Zucht scharf kritisiert hatte, der die griechische Tragödie wegen ihres unmittelbaren Ausdrucks von Leidenschaft und Leid gepriesen hatte.« Vgl. dazu Staiger (1963: 25—74). Zum Medea-Modell für Marwood und Orsina vgl. Barner (1973) und Janz (1979).

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Henzi - font

Marwood •

Sara (S.W.: Vorgesch.) -»• Sir William Tellheim (1) (Friedrich II.) Riccaut

-Tellheim (3)

Tellheim (2) Franziska Werner

Just Minna Bruchsall

Hettore Gonzaga Marinelli (Ors.: Vorgesch.)

Orsina Odoardo Appiani Emilia

Claudia

I

höfische Sphäre: Dienst-Ehre-Glück.

IIa private Sphäre — dimensioniert vom ethischen Normativ: ethische Starrheit, Passivität, partielle Entwicklung, unzureichendes Bewußtsein der Wirklichkeit. IIb private Sphäre - dimensioniert von der individuellen Anfrage an das ethische Normativ: Durchbrechung der ethischen Starrheit. III private Sphäre - dimensioniert von der Durchdringung des Ethischen und Politischen, die sich in der komplexen Individualität reflektiert: Flexibilität, aktives Handeln, ethisch-politisches Bewußtsein der Wirklichkeit, Bruch mit den höfischen Bindungen, Möglichkeit, von der privaten Sphäre aus eine öffentlich-bürgerliche Sphäre zu konstituieren.

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III. Das Figurenensemble

Warum wollte und mußte Lessing die Geschichte der Emilia in eine frühere Zeit und einen anderen Raum verlegen? Warum ein Fürstentum im Italien der Renaissance und nicht im Deutschland seiner Zeit? Eine erste unmittelbare Antwort gibt die gebotene Vorsicht gegenüber der Zensur. 1 Nicht zufällig sendet er dem Herzog von Braunschweig, mit der Bitte um die Aufführungserlaubnis, nur die ersten drei Akte des Stücks. Der Entzug des gefährlichen vierten Aktes (Orsina) und die etwas tendenziöse Zusammenfassung des Sujets des Trauerspiels, die er mitteilt, bezeugen indirekt die Bewußtheit Lessings gegenüber den aufrührerischen Potenzen in seiner Emilia. So schreibt er dem Herzog: »(...) mich der Genehmigung Ewr. Durchlaucht zu versichern. Ich tue solches hiermit, ob schon das ganze Stücke noch nicht gänzlich abgedruckt ist, und ich Ewr. Durchlaucht nur die Bogen bis in den vierten Aufzug vorlegen kann. Indes werden auch schon diese hinlänglich sein, einen Begriff von dem Ganzen zu machen, welches weiter nichts als die alte römische Geschichte der Virginia in einer modernen Einkleidung sein soll.« ( R I X : 503 - 4 ) Eine zweite, drameninhärente Antwort betrifft die Textualisierungsprobleme und die Poetik des Werkes. Auf Seite 24/2j wurde als Hauptweg von Lessings Theater die Schaffung einer komplexen Individualität ausgewiesen — eine Suche, die Lessing zwang, den Zusammenhang zwischen der Darstellung der Wirklichkeit und den Problemen des realen wie utopischen Bewußtseins vielmals zu untersuchen, wobei er ihn zunehmend in seiner Totalität erfaßte. Dieser Prozeß verlangt einen flexibel eingestellten Rezipienten: vom Sympathie, Identifikation, ja Mitleid aufbringenden zum distanzierten, kritisch aktiven Zuschauer (von Miss Sara Sampson zu Minna von Barnhelm und Emilia Gaietti).1

Lessings Theater zielt darauf, den Zuschauer für ein vielfältiges Ver-

fahren der Entschlüsselung des Textes zu gewinnen. Chiffrierte Information 1

2

Brüggemann (1968: 123) meint dazu: »Ungeheuer sind die Vorwürfe, die in diesem Drama gegen die herrschenden Gewalten erhoben werden. Lessing wußte sehr wohl, weshalb er es vorzog, der Uraufführung der Emilia Galotti am 13. März 1772 fernzubleiben. Aber er brauchte nicht zu fliehen, wie der junge Schiller zehn Jahre später.« Zu Lessings List, die Wahrheit zu sagen, vgl. insb. Hoensbroeck (1976). Vgl. dazu Sanna (1983: 5 7 - 8 , Anm.91).

V

und Dechiffrierung dieser durch den Zuschauer sind integrierender Bestandteil von Lessings Wirkungsästhetik, von seiner operativen Konzeption des Theaters.3 Der Abstand in Zeit und Raum gehört in diesem Sinne zum mitzuteilenden Gehalt: Das Italien der Renaissance steht für das Deutschland von Lessings Gegenwart. Der Künstler Conti ist in den Einführungsszenen der Emilia Projektionsgestalt beider Themenkreise, »chiffrierte« Stimme des Autors und Wegweiser für die Aneignung des Dramas — an dessen Anfang gestellt, bevor die eigentliche Handlung beginnt. In dieser Position hat Conti eine ähnliche Funktion wie Graf Bruchsall in Minna von Barnhelm»Und

doch bin ich wiederum sehr zu-

frieden mit meiner Unzufriedenheit mit mir selbst«, erklärt Conti im Dialog mit dem Prinzen, »Ha! daß wir nicht unmittelbar mit den Augen malen! Auf dem langen Wege, aus dem Auge durch den Arm in den Pinsel, wie viel geht da verloren ! — Aber, wie ich sage, daß ich es weiß, was hier verloren gegangen, und wie es verloren gegangen, und warum es verloren gehen müssen: darauf bin ich ebenso stolz, und stolzer, als ich auf alles das bin, was ich nicht verloren gehen lassen. Denn aus jenem erkenne ich, mehr als aus diesem, daß ich wirklich ein großer Maler bin; daß es aber meine Hand nicht immer ist.« (I/4). Contis Worte setzen den Akzent auf das Potential des Nichtgesagten (gleichsam die >Rückseite< des Gesagten), auf die offenen Stellen, die Lessing in den Text bewußt einarbeitet. Diese Konzeption aber setzt den Rezipienten in die Position eines produktiven Mitarbeiters, der die offenen Stellen selbständig füllt, somit das Gesamtpotential des Dramas realisiert und zugleich erlebt. Dieses aber steht in direkter Beziehung zu der Orsina-Figur. Über Conti indessen vermittelt Lessing dem Text ein stolzes autoportrait eines Künstlers, eines Wahrheits- und Streitsuchers.s Conti betont außerdem die chiffrierte Poetik des Textes (was/wie/warum es verloren), die Hochachtung für Orsinas Gestalt, die Vision Emilias als »bewunderungswürdigem Gegenstand« und »Engel« und gibt so die Kategorien an, nach denen die Tragödie zu rezipieren ist.6

Die Handlung Sehr allgemein gefaßt, erscheint die Handlung in Emilia Gaietti als durchdringende und kompromißlose Analyse der Verhältnisse, in denen sich die Kollision zwischen anden régime und bürgerlichem Stand abspielt (vgl. dazu 3 4 5

Zur Rolle, die Lessing dem Rezipienten zuspricht, vgl. Claus Träger (1981: 362). Vgl. Sanna (1983: 7 7 - 7 9 , 2I9Í.). Vgl. die Vorrede zu Wie die Alten den Tod gebildet (R V: 671—73) und den vielzitier-

ten Passus aus Eine Duplik (R VIII: 27). 6

Schon Blanckenburg (1774: 332) erkannte die Relevanz der Conti-Szenen.

28

Kap. IV). Das Spiel bestreiten drei Grundkräfte: der Prinz und Marinelli, komplementär in der Darstellung des Machtsystems; die Privatpersonen Odoardo, Claudia, Appiani, Emilia; die Gräfin Orsina. Die Anfangssituation ist gegenüber der Vorgeschichte durch die Radikalisierung der privaten Entscheidungen seitens Appiani, Emilia, Odoardo charakterisiert: Der ethischen Distanzierung vom Hof entspricht der Rückzug in die väterlichen Täler Piemonts und die Heirat Appiani-Emilia. Diese Entscheidungen werden durch den Eingriff des Hofes vereitelt. Um die Wünsche des Prinzen zu verwirklichen, läßt Marinelli am Tage der Hochzeit Emilia entführen und Appiani töten. Die Reaktion auf diese Gewalttaten ist nicht die von Orsina erwogene Gegentat, sondern die durch ethischen Rigorismus und politische Ohnmacht diktierte Defensive: Die Tötung Emilias durch den Vater als einziger Weg, sich dem Willen des Prinzen zu entziehen. Der e r s t e A k t spielt in der öffentlichen Sphäre des Hofes : Er kennzeichnet den Charakter des Prinzen, indem er diesen bei den Staatsgeschäften wie in seinen privaten Neigungen vorstellt und außerdem seine Beziehung zu Marinelli beleuchtet. Der z w e i t e A k t wechselt zum familiären Bereich der bürgerlichen Gegenseite über: Er führt Odoardos ethischen Rigorismus in II/2 vor Augen, vermittelt die privaten Entschlüsse Appianis und die differenzierte Zeichnung der Eltern Emilias in II/4, den Charakter Emilias in II/6 und endet mit den Befürchtungen und den Zweifeln der Familiengruppe in II/7 und 8. Daß der Rückzug in die Familie keine Erfolgsaussichten hat, ist mit der Handlungsstruktur bereits hier deutlich vorgezeichnet. Der Hof greift in diese Sphäre ein und gefährdet sie: Seine Mittel sind Gewalt, Verführung und List. (II/3: die tödliche Falle für Appiani wird vorbereitet; W/6: die Verführung in der Kirche; II/10: Versuch, Appiani unter dem Vorwand einer diplomatischen Mission wegzuschicken.) Im d r i t t e n A k t findet nicht die geplante Hochzeit statt, sondern in krassem Gegensatz dazu der Überfall auf die Karosse, Appianis Mord und Emilias Entführung; es folgt die unmittelbare Bestürzung Claudias und ihrer Tochter über das Geschehene. Der v i e r t e A k t ist getragen von der Gestalt Orsinas.7 Ihre Handlung entwickelt sich in drei Phasen: IV/3 beinhaltet Orsinas Reflexion über den Zufall, IV/5 ihre Anklage: »der Prinz ist ein Mörder« und ihre Absicht, das Verbrechen auf dem Markt öffentlich bekanntzumachen, weiterhin in IV/7 den langen Dialog mit Odoardo und die Übergabe des Dolches. 7

Köster (1925: 188) hebt hervor, daß Lessing in seinen großen Dramen nach Plautinischem Vorbild im vierten Aufzug noch eine neue Person auftreten lasse.

29

Der f ü n f t e A k t ist in seinem Rhythmus von den drei Monologen O d o ardos bestimmt, die nochmals um die von Orsina beschworenen Alternativen kreisen. 8 Diese reflektieren sich in der seelischen Gespaltenheit Odoardos und gipfeln in dessen Entscheidung zur Flucht, die nur Emilias Dazukommen vereitelt. Diese, mit dem ethischen Rigorismus des Vaters völlig eins, wird jetzt zum aktiven Motor der Handlung: Sie ist entschieden, durch Odoardos Hand zu sterben. Ihr Tod gleicht in seinen Konsequenzen dem Stein, der ins Wasser fällt: E r zieht Marineiiis Entfernung als defensive Reaktion des Systems nach sich und bewirkt eine momentane Trübung des Prinzen, da Emilia ihm entzogen ist. Der Richter Odoardos auf dieser Erde aber wird noch immer der Prinz sein, während der göttliche Richter, auf den sich Odoardo in der letzten Szene beruft, nicht eingreift. Vielleicht schaut er zu — gleichsam spinozistisch, fast wie die Sterne in Brechts Ballade. 9 Die Berufung auf Gottes Justiz stellt alles andere als einen geschichtsphilosophischen Rechtfertigungsversuch dar; statt dessen ist sie von Lessing als markantestes Indiz f ü r die Grenzen der Privatperson intendiert.

Höfische Gestalten Die Tragödie beginnt mit den Worten des Prinzen: »Klagen, nichts als Klagen!« und schließt mit seinen Worten: »Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, daß Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?« 10 Zusammengefügt ergeben die zwei Figurenreden die Kontur jener Sphäre, die vom Prinzen beherrscht wird: eines Ortes der Klagen, eines Infernos. Insofern erscheint es nur natürlich, daß der Prinz einen sachkundigen Teufel in Dienst gestellt habe. Das Unglück ist durch die Doppelung Fürst — Mensch verursacht, während Marinelli, auf den sich das verstellen

bezieht, den Komplementäraspekt des Prinzen selbst verkörpert:

dessen Teufelsbild extra personam, sein alter ego. Dieses stellt zugleich die konsequente Aktualisierung einer latenten Haltungsbereitschaft des Prinzen dar, die sich bereits in I / i als falsches Bewußtsein markiert: »Was glaubt man nicht alles?« Als das Thema zum ersten Mal anklingt, betrifft die Frage nichts Geringeres als seine Liebe zu Orsina, deren Seligkeit der Prinz noch vor einem Monat 8

9

10

Zu den Monologen vgl. Nolle (1977: 146—60), zur Klassifizierung derselben vgl. Düsel (1977). Zu Lessings philosophischen und religiösen Anschauungen vgl. Merker (1974), Claus Träger (1980, 1981), Höhle (1982). Die Isotopie der Modalverben (müssen) in der Figurenrede bezeichnet die Notwendigkeit der Verstrickung Fürst-Mensch/verstellen-Teufel.

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blindlings beteuerte. Indessen geht sie nur einer neuen Leidenschaft voraus, die diesmal zur Ursache tragischer Verwicklungen wird, in deren Verlauf sich die Gefährlichkeit der Prinz-Mensch-Verstrickung enthüllt. Die Kritik hat oft mehr oder minder einseitig befangen die »humane« Darstellung eines der Leidenschaft fähigen Prinzen betont, der mit Conti über Kunst redet, der das Verhalten der sogenannten besten Häuser kritisch apostrophiert, der, »von Menschlichkeit« geleitet, Marineiiis amoralische Handlungen korrigiert. 11 Tatsächlich, der Prinz ist kein »Monstrum«; er braucht es auch nicht zu sein. Die schmutzige Arbeit besorgt Marinelli. 12 Die Darstellung des Prinzen ist komplex, wie die Marineiiis monolithisch ist. 13 Auch in diesem Sinne sind die Gestalten komplementär. D e r Prinz ist die etwas diffuse Sonnenseite, Marinelli der Schatten ein und desselben Systems, die Entscheidungsgewalt und die Exekutive.

"

Diese Anschauung vertritt schon die zeitgenössische Kritik. Eschenburg (1772) vermeint im Prinzen, »alle Nuancen der Gutherzigkeit und eine weiche, nachgiebige Denkungsart« (Steinmetz, 1969: 82) zu sehen: Karl Gotthelf schreibt seinem Bruder, der Prinz »nimmt sich der Regierung an, er ist ein Liebhaber von Wissenschaften und Künsten, und wo seine Leidenschaften nicht ins Spiel kommen, da ist er auch gerecht und billig; er ist überdies fein, und hat allen Schein eines würdigen Fürsten«, fügt aber sodann hinzu: »aber das sind noch nicht die rechten Beweise, daß er es wirklich ist. Folglich hast Du uns an seiner moralischen Güte noch immer zweifelhaft gelassen«. Vgl. auch die Darstellung des Prinzen in Goethes Wilhelm Meister (V. Buch, 16. Kap.).

12

Somit könnte die Figur Marineiiis die Problematik einfangen, die zumindest eines der beiden Faust-Projekte Lessings gestaltet. A m Faust arbeitet Lessing schon 1755 (Brief Mendelssohns) und noch bis 1767/68; »er wartete auf Goethens Faust um s. [einen] herauszugeben« (Daunicht, 1971: 386), doch scheint das Manuskript verloren gegangen zu sein. An Therese Huber berichtet Maler Müller, daß Lessing, als er 1777 in Mannheim weilte, ihm erzählt habe, er arbeite an zwei /¿««-Projekten: »das eine, sagte er, mit Teufel, das andere ohne solchen, nur sollten in dem letzten die Ereignisse so sonderbar aufeinander folgen, daß bei jeder Szene der Zuschauer würde genötigt gewesen sein, auszurufen, das habe der Satan so gefügt.« (Daunicht, 1971 : 389) Auch die Szene II/3 des Fausts, die Lessing im ιγ. Literaturbrief (1759) veröffentlicht, beinhaltet das Thema des »Ubergang(s) vom Guten zum Bösen« (R II: 553—65). Die Anlage des Fausts erinnert so an den Zusammenhang von Zufall, Teufel und Händen, den Emilia Gaietti thematisiert. Vgl. zum Faust K . Fischer (1881), Schmidt (1923 4 : 3 5 2 - 6 7 ) , Guthke (i960), Angehrn (1968).

13

Benno von Wiese (1931: 54) meint dazu: »Aber gerade, daß der Prinz hier nicht einfach als Unmensch erscheint, macht die soziale Anklage um so stärker und gibt ihr ein von den Menschen unabhängiges, in den Verhältnissen der Stände gegründetes Gewicht. Je mehr die Innerlichkeit des Prinzen in differenzierter und verstehbarer Weise entwickelt wurde, um so notwendiger erscheinen seine abscheulichen Handlungen als ein Ergebnis der Situation. Hier mündet die Darstellung ästhetischer Innerlichkeit in der revolutionären Aufforderung, die Bedingungen zu ändern, unter denen bei solchen Menschen solche Taten entstehen.« Vgl. auch von Wiese (1948 I: 36—70) wo diese sozial-politische Deutung revoziert erscheint.

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Die Individualität des Prinzen ist beschlossen in seiner begehrlichen Physis, die immer neue Anwandlungen und Bedürfnisse durchpulsen. Wenn er sich auf das »Herz« beruft, dann in bezug auf dessen Symptome physischer Begierde, benachbart den Ansprüchen von Schlund und Bauch. 14 Er bildet quasi den Körper des Systems ohne die Funktionen des denkenden Kopfes und des handelnden Armes; letztere fallen Marinelli zu. Der Prinz personifiziert das O p t i m u m an Lustfreiheit in seinem Hofstaat — ein Sektor, der von dessen anderen Bereichen abtrennbar und für sich existenzfähig erscheint. Die relative autonome Einrichtung dieser Lebensführung aber setzt unabdingbar ein Pendant voraus: den staatsgemäß funktionierenden Kopf und handelnden Arm Marineiiis. Zwei Personen charakterisieren mithin zwei Seiten des gleichen Systems in ihrer Kausalität: der Prinz als Verkörperung von dessen Lüsten, Marinelli als Garant dieses fürstlichen Lebensprivilegs, als dessen oberster politischer Prostituierter. In 1/1 liest der Prinz »so ruhig«, ohne jede Spur persönlicher Anteilnahme, die Klagen und Bittschriften der Untertanen. Die Rota-Szene am Ende des Aktes macht dies vollends unmißverständlich. N u r ein Name bedrückt ihn, verstört ihn: E m i l i a , . . . »weg ist meine Ruhe, und alles!«15 Diese wahre Kälte wird dann mit Conti zur erzwungenen

Kälte (I/4): die Augen auf das »schö-

ne (...) Werk der Kunst« geheftet, geschmäcklert der Prinz im voraus den Besitz des »schönre(n) Meisterstück(s) der Natur« (I/5). Als Marinelli des »frühen Befehls nicht gewärtig« erscheint, hat der Prinz schon bereut, daß er ihn rufen ließ: »Ich bekam Lust, auszufahren. Der Morgen war so schön. — Aber nun ist er ja wohl verstrichen; und die Lust ist mir vergangen.« (1/6) Mit dem Verstreichen der Zeit ist diese letzte, wogende Lust16 des Prinzen verebbt 14

'' 16

Mattenklott (Lessing-Konferenz, 1980: 280—85, 365—69) wird im Laokoon der »Tendenz zur Entkörperung der Kunst« gewahr, »deren Folgegeschichte in der idealistischen Ästhetik des 19. Jahrhunderts uns Lessings Kritik der Repräsentationsästhetik - wie historisch zwingend sie immer sein mag — in durchaus zweideutigem Licht erscheinen läßt« (S. 285) Lessings poetische Praxis und v.a. Emilia Galotti bestätigen diese Tendenz nicht. Eine der Richtlinien der Figurencharakterisierung scheint im Trauerspiel gerade das komplexe Verhältnis ratio-physis zu sein, welches jede Figur auf ihre Weise variiert. Derart gestaltet das Trauerspiel verschiedene Positionen. Folgende erscheinen als problematisch: die Nur-Kopf-Gestalt (Marinelli), die Nur-Körper-Gestalt (Prinz), die ratio und physis beschränkenden Gestalten (Odoardo, Appiani, Claudia, Emilia). Nur Orsina besitzt beide in hohem Grade, doch ermangelt ihr die Möglichkeit ihrer harmonischen Vereinigung. Lessing steht zu Orsina (vgl. das Interesse und die Sorge über die Rezeption der Gestalt in seinen Briefen: R I X : 500, 546). Zu Lessings Sympathie für Orsina vgl. auch Kraft (1968: 26) und Janz (1979). Zur Analyse der Szenen I/3—7 vgl. Nolle (1977: i6if.). Vgl. zu diesem Prinz-Rokoko die vom Rokoko-Goethe eingefangene Stimmung in Wechsel (Neue Lieder) aus der Leipziger Zeit.

3*

analog zu jenem zeitlichen Wirken, das den zweiten Auftrag für Orsinas Porträt überflüssig machte: »je nun, Conti; — warum kamen Sie nicht einen Monat früher damit? — Setzen Sie weg. — Was ist das andere Stück?« (I/4) Am Morgen ist des Prinzen neuer Wunsch Emilia, am Abend — wer könnte es sagen? Marinelli fragt nach neuen Befehlen seines Gebieters, der Prinz reagiert zunächst zögernd, bekennt aber schließlich: »Ach! Marinelli, wie könnt' ich Ihnen vertrauen, was ich mir selbst kaum gestehen wollte?« (1/6) Der Minister-alter ego wird zum Mitwisser von dessen »Geheimnis«, zum mitbeteiligten Verschwörer. Das Komplementärverhältnis Prinz—Minister führt zu einer Symbolhandlung: Das Bild Emilias, bis dahin mit der Vorderseite gegen die Wand gelehnt, wird umgewandt. Das Schicksal der Privatpersonen hat geschlagen. Der Prinz hat nun genug »geschmachtet, geseufzet (...) — länger als ich gesollt hätte; aber nichts getan!« (I/7) »Liebster, bester Marinelli, denken Sie für mich«, »retten Sie mich«, lautet die Order; sie auszuführen, hat Marinelli »freie Hand«, muß »tun«, »handeln« für den Prinzen, der sich ihm übergibt, der sich ihm »in die Arme wirft« — und Marinelli wird handeln, wird tun »alles, was diesen Streich abwenden kann« (1/6). Ihre paradigmatische Erhellung erfährt diese Konstellation Prinz — Marinelli später in IV/2: Orsina erscheint unerwartet in Dosalo, der Prinz allein, ohne die Verfügbarkeit seines denkenden Kopfes und handelnden Armes, ruft ohnmächtig nach diesem: »Orsina? - Marinelli! — Orsina? — Marinelli! (...) Ah, Marinelli! So reden Sie, so antworten Sie doch!« Ein weiterer analytischer Aspekt: Emilia Galotti aktualisiert die Isotopien der Modalverben und die des Sehens und Hörens, ähnlich Minna von Barnhelm und anderen Werken Lessings, womit sich auf individueller Gestaltungsebene die Problematik des Texts widerspiegelt. 17 Innerhalb dieser Isotopien beherrscht der Prinz das Sehen (Herz—Körper) und Wollen (Bedürfnisse), Marinelli demgegenüber das Hören (Kopf—Vernunft) und Können (Ausführung). Mithin ist im Text bis in die Implikationen der genannten Grundverben die komplementäre Beziehung beider Personen zu verfolgen: Sie sind zwei Seiten einer einzigen Gestalt, von der der erste das Herz, der zweite den Kopf, der erste das Wollen, der zweite das Können darstellt, jeder für sich einseitig und unzulänglich, nur als Doppelgestalt bilden sie eine funktionsfähige Einheit. Der Komplexität des Prinzen entspricht die Darstellung Marineiiis als Automatismus, als Mechanismus, als zynischer, listiger Technokrat, der weder 17

Vgl. Sanna (1983: 181, Anm.290) und S. 15, Anm. 18. 33

Tiefendimension noch Eigenleben kennt. Wie er dem Prinzen beteuert, gehört er diesem »mit der ganzen Seele« (IV/2). Mit Zügen dieser Art belegt er im Text gleichsam die Entwicklung der Gestalt des Wirtes -Scherer aus Minna von Barnhelm. E r signifiziert die Perspektive des in das höfische System integrierten Bürgers, der seine Fähigkeiten veräußert, sein Ich völlig aufgibt und den höfischen Hierarchien opfert, de facto deren Sklave und Knecht ist. Die Perspektive des Bürgers als Scherer ist eine Interpretationslinie, die Lessing seit den Fabeln thematisiert. Die Schwalbe in der Stadt hat das Singen verlernt, der Esel hat das Recht auf Empfindungen eingebüßt, und die Landarbeiter haben die Fähigkeit zur eigenen Urteilsbildung verwirkt. In Minna von

Barnhelm

hat der Wirt, in die öffentlich-absolutistische Sphäre der Residenzstadt integriert, mit dem gleichen Preis seine Anbindung an einen alles verschlingenden Utilitarismus bezahlt, so daß er das Bild eines »hämischen, unbarmherzigen Racker(s)« (I/4) abgibt.18 Marinelli ist die pejorative Wiederaufnahme und Weiterführung des Wirts. Aus dem geldgierigen Streber und Polizeispitzel (»die Polizei will alles, alles wissen; und besonders Geheimnisse«, II/2) wird mit Marinelli ein »Kuppler«, ein »feiger, elender Mörder! ( . . . ) nichtswürdig genug, zu Befriedigung eines fremden Kitzels zu morden! — morden zu lassen!« (Claudia in III/8). Wie der Wirt, so hat auch der Minister kein Bewußtsein eigener Werte; wie jener sieht und vor allem hört er alles, bleibt aber ein »schlechter Beobachter« (IV/i); er registriert etwas, ohne dessen Sinn zu erfassen. Sein Leben als Automat wird immer wieder durch die mechanische Wiederholung von Antworten bezeugt, denen jedwede persönliche Anteilnahme abgeht: »eben die« mit dem Prinzen in 1/6 und »allerdings« zu Orsina in IV/3. Selbst die Intrige, die Marinelli inszeniert, wird als »Tanz« dargestellt, zu dem er den »Takt« schlägt, doch durchkreuzen die Empfindungen der Beteiligten sein mechanisches Taktzählen, so daß er am Ende mit dem gleichen Stock selbst Prügel bezieht. 1 ' Orsina trifft ins Schwarze, als sie in IV/5 ironisch auf Marineiiis »gutes Herz« verweist, also gerade auf dessen ärmste und dunkelste Stelle : 2 ° In II/10 täuscht Marinelli Freundschaftsgefühle für Appiani vor, in IV/1 belustigt er sich an Claudias Leid/ 1 Marinelli entgehen nicht ihm fremde bürgerliche Positionen, welche er mit Hohn bedenkt. In 1/6 belächelt er Appianis privat-familiäre Entscheidung: 18 19

10 21

Vgl. Bauer (1973: 45) und S. 14, Anm. 15. Im Gegensatz zu Marineiiis Intrige, die die Personen zum Objekt degradiert, hat Minnas Intrige die Selbständigkeit Tellheims, die volle Entfaltung seiner Individualität zum Ziel. Zur Metaphorik des Herzens vgl. Göbel (1971: 141Í·)· Zur freundschafts- und familienfeindlichen Gesinnung der höfischen Gestalten vgl. Brüggemann (1968: 190) und Wierlacher (1968: 73).

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»Er will mit seiner Gebieterin nach seinen Tälern von Piémont: — Gemsen zu jagen, auf den Alpen; und Murmeltiere abzurichten.« In III/6 und IV/i gibt er Claudias Verhalten eine Deutung nach eigenen Maßstäben: »Wenn ich die Mütter recht kenne: — so etwas von einer Schwiegermutter eines Prinzen zu sein, schmeichelt die meisten«. Er prognostiziert Odoardos Verhalten: »Geben Sie Acht, wenn er nun vor Ihnen erscheinet, wird er ganz untertänigst Eurer Durchlaucht für den gnädigen Schutz danken, den seine Familie bei diesem so traurigen Zufalle hier gefunden; wird sich, mit samt seiner Tochter, zu fernerer Gnade empfehlen; wird sie ruhig nach der Stadt bringen, und es in tiefster Unterwerfung erwarten, welchen weitern Anteil Euer Durchlaucht an seinem unglücklichen, lieben Mädchen zu nehmen geruhen wollen.« (V/i) Marinelli unterstreicht mit diesen Worten seine entpersönlichende Integrierung, wogegen der Text die bürgerlichen Positionen differenziert wiedergibt. Das Drama konfrontiert Marinelli mit der von Orsina dargestellten Position. Der Minister »denkt« für den Prinzen, denkt für das System. Doch seine Logik ist mechanisch und vermag die Tiefendimension der Wirklichkeit nicht zu fassen. Insofern sind Marineiiis Urteile unzulänglich und falsch, die Handlung bestätigt sie keineswegs und geht andere, eigene Wege. Lessing demaskiert die Grenzen von Marineiiis Verstand, indem er ihn in IV/3 und IV/5 mit dem Verstand Orsinas konfrontiert. Orsina erspürt mit ihrer Vernunft die Tiefendimension der Wirklichkeit, dringt in deren Geheimnisse ein und vermag, auch unterhalb der »Verstellungen« einen kohärenten Aktionsplan zu entwerfen (Markt und Dolch). Vor diesen Dimensionen erweist sich Marinelli als »Gehirnchen« (IV/3), das nur ordinärer, gemeiner List fähig ist. Der Vergleich mit Orsina macht die Perspektive des Texts evident: Die weitsichtige Vernunft ist nicht auf Seiten Marineiiis, mithin nicht auf seiten des Systems, für welches er »denkt«. Letzten Endes versagt seine Logik gegenüber den wirklichen Verhältnissen. Es ist eine unterlegene, geschlagene Logik. Die einzige Voraussicht, die tatsächlich eintritt (»es voraus wissen«, III/i), ist der Undank des Prinzen und die Entlassung aus dem Dienst. — Die Beziehung zwischen Prinzen und Marinelli bewegt sich zwischen zwei extremen Polen: entweder fällt der Prinz dem Minister in die Arme, oder er entledigt sich seiner. Marinelli, der im falschen Boot sitzt, fällt am Ende ins Wasser. Mit dem Paar Gonzaga—Marinelli bietet der Text eine dialektische Darstellung des Systems, dessen »teuflisch«-scAwijrzes Schaf Marinelli nur deshalb ist, weil sein Dienen den Prinzen erst wirklich zum Herrschen befähigt (wie Volker Nolle, 1977, sehr eindringlich darstellt). Der Prinz ist die konstante Basis, die Invariante des Systems, der Minister ein ersetzbares Instrument, der Arm, der die Order vollzieht, doch der abge-

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schnitten werden kann, wenn das vollbrachte Verbrechen »weder stille noch heilsam« (IV/1) für den Autraggeber ist. Auf diese Weise aber überlebt der Körper. Nicht zuletzt deshalb ist Emilia Galotti eine Tragödie.

Die Privatpersonen Wie Marinelli die Weiterentwicklung des Wirts -Scherer darstellt, so sind die Privatpersonen — Odoardo, Emilia, Appiani und Claudia — Entfaltung eines zweiten Modells des Bürgers, das, angelegt seit den Fabeln, in der Minna von Bamhelm in der Sequenz Franziska—Werner erscheint: des Bürgers als Schaf. Von Lessing einer kritischen Perspektive unterzogen, lebt in diesen Figuren die Gestaltung des Bürgers als Privatperson fort, charakterisiert einzig durch ethische Kategorien, wie sie der Empfindsamkeit eigen sind. »Schäfchen« nennt Marinelli Emilia in III/6 und »Wolf« den Prinzen. Dieses Schäfchen wird sich nicht vom Wolf fressen lassen, doch um sich ihm zu entziehen, wird es sich selbst das Leben nehmen. Odoardo und Claudia. Die gleichen Unterschiede, die das Paar Franziska Werner in der Minna kennzeichnen, liegen bei den Eltern der Emilia vor, diesmal spiegelverkehrt: Claudia erinnert an Werners Positionen, an seine Vorliebe für das Äußerliche, für die Attraktionen des Stadtlebens. Odoardo zieht indessen wie Franziska das Landleben vor; auch sein wenig flexibler und an die Typologien des Tugend-Laster-Schemas gebundener Rigorismus erinnert an das Zimmermädchen. Nach der Entführung Emilias ändert sich Claudia (»Wo waren meine Sinne (...)?«) und wird zur »Löwin, der man die Jungen geraubet« (III/8); sie paßt sich der Familienethik an und wird so mit vollem Recht eine Galotti.22 Odoardo dagegen bleibt im Verlauf der Handlung unverändert. Der Protest Claudias gegen das Verhalten des Ehemanns aber darf nicht schlechthin als Zeichen ihrer Person, als Reaktion einer »eitle(n), törichte(n) Mutter« (II/4) abgetan, sondern muß auch als Anfrage an die Position Odoardos verstanden werden, wozu Lessing den Zuschauer mit auffordert: bezüglich der »rauhen Tugend« Odoardos (II/5), seiner unmenschlichen Strenge, die ihn veranlaßt, »den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher (zu) verwechseln)« (II/6). In III/8, nach der Entführung Emilias, sieht Claudia die unbeugsame Reaktion Odoardos voraus: »Er wird den Tag ihrer Geburt verfluchen. Er wird mich verfluchen.« Derartige Bemerkungen (wie im folgenden das Ge22

Zum Figurenensemble vgl. insb. Briegleb (1965), Steinmetz (1972), Sàito (197J), R o h r s (1980).

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sprach mit Orsina) haben die Funktion, den Zusammenhang zwischen ethischer Starrheit und dem Fehlen eines aktiven politischen Verhaltens im voraus einsehbar zu machen. Der ethische Rigorismus, der die Figur gänzlich vereinnahmt, läßt f ü r nichts Raum als f ü r Inaktivität und bedingt die Unfähigkeit, sich zu verteidigen/ 3 Wie zu Marinelli, so deckt Orsina auch die Schlüsselaspekte zum Status Odoardos auf. Vor dem IV. A k t wird Odoardo von Appiani als »Muster aller männlichen Tugend« (11/7) dargestellt, und gerade Pirro warnt den Missetäter Angelo: »Nimm dich in Acht. E r ist ein Mann« (II/3). Die männliche Stärke Odoardos, von den Personen des Stücks gleichermaßen hervorgehoben, wird durch die Konfrontation mit Orsina als passive Widerstandskraft, als Heroismus des Verzichts enthüllt. In IV/7 vertraut Orsina, der die Gelegenheit verwehrt wird, den Dolch selbst zu benutzen, diesen O d o ardo an: »Ihnen wird sie nicht fehlen, diese Gelegenheit: und Sie werden sie ergreifen, die erste, die beste, — wenn Sie ein Mann sind. — Ich, ich bin nur ein Weib: aber so kam ich her! fest entschlossen!« 24 O b w o h l sich Odoardo dazu mehr als eine Gelegenheit bietet, wird er den Dolch nicht gegen den Prinzen anwenden, sondern Emilia töten. D e facto führt der Text auf der Bühne einen Rollentausch vor: Der festen Entschlossenheit Orsinas steht die Unentschlossenheit Odoardos gegenüber, die den Verlauf des gesamten V. Aktes bestimmt. 1 5 Wie oben bemerkt, ist es die Entschlossenheit Orsinas, die der Gestalt Odoardos fehlt. A b e r dieses Kriterium ist das folgerichtige Ergebnis der Komplexität der Gestalt Orsinas. Sie ist authentischer Brennpunkt des Trauerspiels, auch in diesem Sinne die positive Gegenfigur zu Odoardo. 23

Zu Odoardos Tugendstrenge und seiner Mitverantwortung an der Tragödie vgl. Steinmetz (1972: 28f.) und Seeba (1973: 95). Steinmetz vertritt die Auffassung, die Tugend sei in Emilia brüchig geworden, da sie sich nur um den Preis des Lebens und der Gefahren, die ihr von ihr selbst drohen, zu erhalten vermag: »Darin liegt das für den Optimismus der Aufklärung niederschmetternde Fazit dieser Tragödie. In ihr wird letztlich die Tugend- und Vernunftgewißheit der Aufklärung preisgegeben.« (S.31) Meines Erachtens bleibt Lessings Tugend- und Vernunftanschauung Bestandteil der Dialektik der Aufklärung, während seine Stellung zur Vernunft differenzierter erscheint: Lessing erschaut deren Grenzen, Gefahren und Windungen, ohne jedoch ihr zu abdizieren.

24

Man beachte den differenzierten Einsatz der Termini Frau/Frauenzimmer bei Lessing. Orsina nennt sich jetzt Weib, während sie in IV/3 vom Frauenzimmer, dem das Denken verboten ist, gesprochen hatte. In Minna von Barnhelm wird die Opposition Frauenzimmer!Mann-Kreatur/Mann zum tragenden Moment von Minnas Lektion in V/9, indessen Franziska von Paul Werner immer nur Frauenzimmer genannt wird, was das Kammermädchen auch ist, da sie nur innerhalb der traditionell weiblichen Bereiche existiert. Vgl. dazu Sanna (1983: 68, 99). Zum Zeiterlebnis der Gestalten vgl. Nolle (1977:

2

®

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Eine Bestätigung findet diese Darstellung in der Aufschlüsselung der Modalverben, um die die Monologe Odoardos kreisen. 16 Das Thema wird von Marinelli angerissen, der Odoardo in seinem zurückgehaltenen Zorn beobachtet: »Weiter als zum Wollen, soll er es gewiß nicht bringen.« (V/i) In seinem ersten Monolog nimmt Odoardo unterdessen Abstand von Orsina, indem er das eigene Anliegen von dem der Gräfin trennt: »Was hat die gekränkte Tugend mit der Rache des Lasters zu schaffen?« (V/2) Mit dieser Aussage enthüllt der ethische Rigorismus unmißverständlich seine Funktion im politischen Entwurf des Werkes: Er stellt sich als Hindernis vor die Aktion und verhindert nicht nur das Begreifen von Orsinas Gestalt, sondern auch das der gesellschaftlichen Umwelt. Die Verabsolutierung moralischer Integrität schließt die Aktion aus. Die Tugend ist noch immer waffenlos gegenüber einem Gegner, der seinerseits ohne Skrupel zur Waffe der Verführung, der List und der direkten Gewalt greift. Nicht zufällig folgt auf die Trennung von Orsina der Verzicht, Appiani zu rächen: Seine Sache wird Gott anvertraut. — Im zweiten Monolog unterscheidet Odoardo zwischen Wollen und Dürfen : Sein Dilemma ist ein gänzlich inneres, ethisches, dem jeglicher Bezug auf die Außenwelt, wie es sich etwa im »Können« ausdrücken würde, fehlt. In seinem letzten Monolog in V/6 befragt er noch einmal sein eigenes Wollen. Nun aber, noch weiter zurückweichend als in der Szene V/4, verläßt ihn die Kraft, sich zu sich selbst zu bekennen und seinem Inneren klaren Ausdruck zu verleihen: »Was will ich denn für sie tun? — Hab' ich das Herz, es mir zu sagen? — Da denk' ich so was: So was, was sich nur denken läßt. — Gräßlich! Fort, fort!« Wie im vorangegangenen Monolog wird auch hier jede Handlung mit Rache gleichgesetzt und Gott anvertraut. Aus der Perspektive der Modalverben stellt sich dieses ganze innere Abwägen Odoardos dar als Auflösung des Wollens, gipfelnd in der Entscheidung zur Flucht. Deren Realisierung wird verhindert durch das Erscheinen Emilias, die den Vater zum Handeln zwingt, daß er seine Hände doch gebrauche: »ODOARDO (...) (gegen den Himmel) Wer sie unschuldig in diesen Abgrund gestürzt hat, der ziehe sie wieder heraus. Was braucht er meine Hand dazu? Fort! (er will gehen, und siebt Emilien kommen) Zu spät! Ah! er will meine Hand; er will sie!« Die Hände Odoardos, nicht mehr von einem eigenen Wollen geführt, werden von dem selbstzerstörerischen Plan Emilias ergriffen. 17 Emilia wird 16 17

Vgl. S.30,Anm.8. Zur Kontrapunktik von Händen und Waffen in der Emilia vgl. Graham (1968: 37of.). In Contis Beitrag zur Problematik der Hände (I/4) sehe ich weniger eine Aktualisierung ästhetischer Fragen aus dem Laokoon als vielmehr eine Reflexion Les-

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dieses Vakuum des Wollens mit einem weltverlassenden Können und Müssen füllen, durchdrungen von dem ethischen Rigorismus Odoardos. Die Tochter wird den Vater zwingen, den Plan der eigenen Tötung zu vollstrecken. 28 Emilia — die wahre Heldin der Tragödie? Ein Anhaltspunkt diesbezüglich: Lessing schreibt an seinen Bruder: »Weil das Stück Emilia heißt, ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervorstechendsten, oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz und gar nicht.« (R I X : 497-98) Wenn die Entwicklungslinie des Lessingschen Theaters von der Konstruktion einer komplexen Gestalt geleitet ist, so übersteigt Emilia ihrerseits nicht die Grenzen des Typus, vielleicht ist sie sogar der Typ par excellence des gesamten Lessingschen Theaters. In diesem Sinn intendiert der Text für Emilia ein äußerstes Gefahrenmoment: Um den Vater dazu zu bewegen, sie zu töten, enthüllt sie ihre Verwundbarkeit bezüglich der Leidenschaften, damit andeutend, daß sie eine lebenszugewandte Persönlichkeit in sich birgt: »Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine.« (V/7) Dieses Bekenntnis impliziert keineswegs Verwirrung oder Zweifel, es stellt sich statt dessen als höchstes Moment der Entschlossenheit Emilias dar. Paradox ausgedrückt: Emilia stirbt aus Furcht, sich dem Wandel vom Typ zum Individuum zu stellen.29 Versuchen wir, die Figur Emilia zu erfassen, indem wir sie der unbestrittenen Heldin des Lessingschen Theaters — von ihm selbst als solche bestätigt —, der Minna von Barnhelm, gegenüberstellen. Emilia ist ein Gegenbild zu Minna, eine Anti-Minna, wie und mehr noch als Franziska. 30 Der siegreichen Handlung, der flexiblen Ethik, dem Bewußtsein ihrer selbst und von der Umwelt, der Ganzheit der Person, die ausgestattet ist mit aufgeschlossenen feinen Sinnen, Herz und Verstand, der Minna also, stehen die Starrheit, die negierte Ganzheit, die selbstzerstörerische Haltung, das passive Heldentum der Emilia gegenüber. sings über die Notwendigkeit, Hände zu besitzen, und eine Klage, sie auch als Waffe gebrauchen zu müssen. Lessing und Conti sind eins als Porträtisten der »Emilia«; in der Emilia nimmt Lessing Stellung zur Perspektive von Markt und Dolch ; von daher bilden Contis Überlegungen eine Vorausdeutung zum Schwerpunkt der Konfliktanlage. 28

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Die Ratlosigkeit, die Emilias Entscheidung auslöst, wird von Hildebrandt (1982: 349) auf brisante Weise wiedergegeben. Brüggemann (1968: 112—13) bezeichnet Emilia eine »vorsubjektivistische« Gestalt und vergleicht sie mit Gellerts schwedischer Gräfin. Soweit mir bekannt, stellt Brüggemann als einziger Interpret einen bewußten Bezug zwischen den Anschauungen der Empfindsamkeit und den Privatpersonen in Lessings Emilia her. Zur kontrastiven Zeichnung von Minna und Franziska vgl. Sanna (1983: 89—131, 219-39).

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Die Beziehung, die Minna an Bruchsall bindet, erscheint erneut variiert in dem Verhältnis Emilia — Odoardo. 3 ' Wenn Minna auf der Bühne siegreich die von Bruchsall (—Lessing) auf historisch-utopischer Ebene sanktionierten Werte verkörpert, so überwindet Emilia ihren eigenen Vater, indem sie sich im Ausgang der Handlung weniger als »Meisterstück« der Natur, denn als das Meisterstück Odoardos selbst enthüllt.32 — Minna ist eine relativ vollendete Gestalt vom Anfang der Handlung an, auch wenn sie sich auf der Bühne beständig flexibel zeigt. Emilia dagegen wächst im Verlauf des Geschehens; anfangs ein »albernes, furchtsames Ding« (II/6), wird sie »ruhig« und entschlossen (V/7).33 Die Wandlung der Emilia (von IV/i bis V/7) wie die der Minna (von II/8 bis III/12) hüllt sich in Schweigen. Das Wachsen Emilias aber impliziert keine Veränderung, sondern nur das Verlagern des ethischen Rigorismus auf eine heroische Ebene. Tatsächlich findet hier keine wirkliche Entwicklung statt, sondern eine tragische Überhöhung des Bildes vom Engel. 34 Ist Emilia schuldig? Eine zentrale Frage in der Geschichte der Interpretation des Trauerspiels.35 Meiner Ansicht nach ist Emilia der Liebe zum Prinzen nicht schuldig, was indessen seit Goethe bekanntlich immer wieder behauptet wird. Wenn man hier von >Schuld< sprechen kann, so von der, unbedingt unschuldig sein zu wollen. Der Text zeigt Emilia unfähig, »Blut und Sinne« mit anderem als der unbeständigen und schuldhaften Sinnlichkeit der höfischen Welt zu identifizieren. Dieses Problem — die Abweisung von Blut und Sinnen — erscheint als Konstante in der Darstellung der Figur. Die Isotopie des Sehen-Hören indiziert diese Problematik ab II/6. Während der Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche reagiert Emilia nur nach Gehör: das Verb hören wird dreimal wiederholt, während der Prinz selbst, wie sie erzählt, »an meinem Ohre« spricht. Emilia sieht nicht, schaut ihn nicht an, hält die Augen gesenkt. Um sich dem schuldvollen Gespräch mit dem Prinzen zu entziehen, erfleht sie schon jetzt vom Himmel das Geschenk, taub zu sein. 31

Bezeichnend erscheint allerdings folgende Differenz: Bruchsall ist Minnas >idealer< Vater, wogegen Odoardo Emilias realer Vater ist. Minna hat Teilheim selbst erwählt, hat ihn kennenlernen wollen, hat ihn bis nach Berlin verfolgt und hat die (ethischpolitischen) Hindernisse bewältigt, die ihrer Verbindung im Wege standen: Bruchsall trifft noch rechtzeitig ein, um das alles gutzuheißen. Emilia ähnelt im Gegenteil den Heroinen der Empfindsamkeit, »die den von den Eltern oder von den Vorgesetzten erwählten Mann heirateten« (Mittner, 1962: 82).

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Emilia findet endlich die Ruhe, die sie zum Tode befähigt: »Ruhig sein können, und ruhig sein müssen: kommt es nicht auf eins?« (V/7) Vgl. dagegen zu Minnas Ruhe Brüggemann (1968: 119) und S.24, Anm. 13.

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Z u Emilias Wandlungsprozeß vgl. Sàito (1975: 49). Vgl. dazu Graham (1968: 71). Zum Problem von Emilias Schuld vgl. insb. Weigand (1929), Werner (1929 3 ), Spitzer (1948), Stahl (1958), Steinhauer (1965), Steinmetz (1972), Sàito (197$).

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So würde sich die Taubheit zur Blindheit hinzufügen. Eingedenk dessen, daß innerhalb der Isotopie Sehen-Hören die Texte Lessings die Entsprechung zwischen Blick und Herz, Gehör und Verstand darstellen, ist Emilia schon hier .ohne Sinne, verweigert sich schon an dieser Stelle dem Leben. Ebenso ist das Liebesverhältnis von Emilia mit Appiani ein Verhältnis, das auf ethischen Werten basiert: Appiani ist für Emilia ihr »guter Appiani« (II/6), während Appiani in ihr vor allem die »fromme Frau« sucht (II/7). 36 »Blut und Sinne« sind seit der Vorgeschichte die Sünde, die es mit den »strengsten Übungen der Religion« auszutreiben gilt (V/7). Diese religiösen Normen, die Emilia ständig in ihren Bann ziehen, werden schließlich heroisch verschlüsselt wieder aufgegriffen: einerseits mit dem Bild der heiligen Märtyrerin, andererseits mit dem antiken Modell der Virginia. Beides sind über-individuelle Vorbilder, denen Emilia sich aufopfert. 37 Appiani. Der Graf teilt voll und ganz die ethische Rigidität Odoardos. Uber eine bloß affektiv-individuelle Bindung mit Emilia hinaus scheint sich für Appiani in ihrer Ehe vielmehr ein ethisches Bündnis mit dem Vater zu realisieren. Am Tag der Hochzeit kehrt Appiani »ernst« und »feierlich« in das Haus der Verlobten ein: »tritt tiefsinnig, mit vor sich hingeschlagenen Augen herein, und kömmt näher, ohne sie zu erblicken; bis Emilia ihm entgegen springt« (II/7). Emilia, ihm gegenüber fröhlich bewegt, wird in diesem ihrem einzigen Moment von Spontaneität, Heiterkeit und Natürlichkeit sofort blockiert.38 Appiani sieht sie nicht und selbst, da er sie erblickt, sieht er sie, wie er sie das erste Mal gesehen, betrachtet sie »in Gedanken nie anders, als so; und sehe Sie so, auch wenn ich Sie nicht so sehe« (ebd.): Appiani sieht nicht das Individuum Emilia, die Emilia aus Fleisch und Blut, sondern er sieht ein in seinem Kopf fixiertes, starres Bild, das er sich einmal und so für immer von ihr gemacht hat. Appiani sieht Emilia nicht, Emilia hat keinen Eingang in sein Herz gefunden. Unter diesem Blickwinkel erscheint Emilia als zweifaches Opfer: als Individuum, in einer denkbaren Komplexität, kann sie weder im privaten noch 3< 37

38

Vgl. dazu Düntzer (18954: 185). Zu den religiösen Implikationen vgl. Wierlacher (1975); S. 12, Anm. 11 und S.30, Anm.9. Man vergleiche die Begegnung zwischen Emilia und Appiani mit der zwischen Minna und Teilheim in Minna von Barnhelm (II/8). In der Komödie nötigt der Überraschungseffekt den Major dazu, die im Herzen verschlossene Wahrheit seiner Liebe zu Minna zu gestehen: sodann aber gewinnt er die Starrheit zurück, der sich Minnas lebhafte Natürlichkeit entgegensetzt. Minna wird im Laufe der Handlung der Spontaneität Teilheims zum Sieg verhelfen; Emilia ist indessen gezwungen, die in II/7 geäußerte Fröhlichkeit und Ausgelassenheit zurückzunehmen und sie zu bändigen bis hin in die Starrheit des Todes.

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im höfischen Raum existieren. So gesehen erlangt die >Schuld< Emilias eine weitere Dimension. (Emilia ist nicht in den Prinzen verliebt, aber, ohne es zu wissen, wäre sie gerne verliebt.) 39 Die Heirat Emilias soll f ü r Appiani die Krönung seiner ethischen Entscheidung darstellen. Die Hochzeit soll sich im ganz privaten Rahmen vollziehen, in der Stille seines Landgutes, in »Unschuld und Ruhe« (II/4), nur mit den Eltern Emilias und ein paar Freunden. Es ist ein »Mißbündnis« (so Marinelli in 1/6), das nicht geschlossen wurde wegen Ehre und Glück in der großen Welt, sondern aus einem alternativen Entschluß, der die Abkehr vom H o f e bestärken soll. Die Triade Dienst — Ehre — Glück, von der sich Teilheim in der Minna lossagt, wird bei Appiani wiederholt aufgegriffen als Absage an Ehre und Glück und als Bewahrung eines freiwilligen

Dienstes

(II/10). Wie bei

Werner so geht auch bei Appiani die ethische Abkehr vom Hof nicht mit der politischen einher. Jedoch können die privaten Entscheidungen infolge ihrer Beschränkung auf das bloße Wollen, auf die bloße ethische Abkehr, nicht aufrechterhalten werden. Appiani wird das erste »Schaf« sein, das in die gestellte Falle geht.

Orsina Orsina verkörpert in der Emilia das dritte Modell des Bürgers, das neben dem Marineiiis und dem der Privatpersonen thematisiert wird. Es zeichnet sich aus durch ein ethisch-politisches Erfassen der Umwelt sowie durch die Hinwendung zu einer neuen bürgerlichen Öffentlichkeit. In diesem Sinn ist Orsina die historisch konkreteste Gestalt des Textes. Ihre personellen Voraussetzungen dafür sind im Entwurf der Figur angelegt. Sie ist die Reinkarnation der Minna innerhalb eines tragischen Kontextes. 40 Orsina bildet vom ersten Akt an — in Analogie zu Minna — die »Personifikation des Scharfsinns der Leidenschaft« (Kommerell 1970: 129). D e r Prinz hebt hervor, wie ihre Bücher und der Gebrauch ihres Verstands ihn von Orsina entfernt hätten; Marinelli fügt hinzu, daß Orsina, nachdem sie den Fehler begangen habe, den Prinzen »in gutem Ernste zu lieben«, nun mit ihrem »gefoltert(en) Herz(en) zu den Büchern ihre Zuflucht genommen« habe (1/6). In IV/3 ist Orsina Sprachrohr der Kritik am H o f e und der Ethik w

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Nicht um Liebe zum Prinzen handelt es sich, auch weil das Erwachen der Sinne im Hause der Grimaldi in der sinnlich gelockerten Atmosphäre, die dort herrschte, erfolgte (vgl. das Bekenntnis an den Vater in V/7). Vgl. Gerber (1965) zur dank kühner onomastischer Spekulationen hergestellten Verbindung zwischen Minna und Orsina.

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der Gleichberechtigung der Geschlechter, die Minna auf der Bühne in Handlung umsetzt und die in V/9 die Fortsetzung der Lektion an Teilheim entscheidet. 4 ' Unter den möglichen Deutungen erscheint mir die, die Orsina in den Brennpunkt des Trauerspiels stellt als dessen exzentrische Heldin, am meisten zutreffend. Orsina ist all das, was Emilia nicht fähig ist zu sein. Zu dem Zeitpunkt, da Orsina in Dosalo erscheint in IV/3, ist sie ebenso aufgebracht wie Minna in III/3 (im Bericht des Wirts): Ein Aufgewühltsein, das Orsina indessen nicht imstande ist zu unterdrücken oder zu einem inneren Gleichgewicht zurückzuführen, wie es Minna vermag. Dies bezeichnet die Distanz /Differenz zwischen den beiden Figuren, zeigt die unterschiedlichen Bedingungen an, die die Ausgeglichenheit der Minna bestimmen und die gefährdete Überspanntheit von Orsina. Gleichzeitig aber ist Orsina Sprachrohr der konkretesten Alternative, die bei Lessing aufkommt. Wenn die utopische Botschaft, verkörpert durch Minna, nach außerhalb des Bühnenraumes projiziert bzw. verlagert wird, so stellt Orsina eine öffentlich-politische Alternative auf der Bühne in Aussicht: der Entscheidung zur Abreise Minnas stehen der Marktplatz und der Dolch Orsinas gegenüber.41 Nachdem Orsina in IV/5 den Weg zum Markt benannt hat, überreicht sie in IV/7 Odoardo den Dolch, um den Prinzen zu töten, wozu sie sich eigens in Dosalo eingefunden hat, nämlich um »entschlossen« diese Tötung zu vollziehen. 43 Auch sie, so wie Emilia heute und andere Frauen gestern und morgen, nennt sich »beleidiget« und »die betrogene, verlassene Orsina«. Dieses Bekenntnis aber führt Odoardo dazu, sich von ihr zu distanzieren, Tugend und Laster, Rache und Selbstlosigkeit voneinander zu trennen. Der Text jedoch distanziert sich von Odoardo und verleiht den Worten Orsinas eine andere Bedeutung. Das Bekenntnis Orsinas kennzeichnet ex negativo die Ganzheit der Figur: Die Tat gewinnt für Orsina gleichermaßen private und politische, persönliche und allgemeine Bedeutung. Daß auch sie Opfer ist, hindert sie nicht, zur Tat zu schreiten — einer Tat, die indes nicht zur persönlichen Rache wird, 41

42 43

Zu Minnas Lektion vgl. Sanna (1983: 60-9). Vgl. auch die Darstellung von Minna und Orsina von Seiten Nicolais (Daunicht, 1971: 353). Vgl. S.i6,Anm.2 3 . »Man sieht nicht, wie sie [Orsina] hier zu dem Dolche kommt, was sie bewogen, ihn hierher zu bringen (...) Sie wußte ja von Emiliens Anwesenheit, und von des Prinzen Untreue nur wenig; welches Wenige durch das Hinfahren des Prinzen nach Dosalo gar zu nichts werden mußte, indem sie dachte, er täte es ihr zuliebe.« Soweit Jacob Mauvillon (1772; Steinmetz, 1969: 93-9), welcher keine Antwort auf die gestellten Fragen bietet, die indessen sehr berechtigt sind und aufzeigen, daß Orsinas Movens wohl nicht die Eifersucht sein kann, von der sich im ganzen Text nicht das kleinste Indiz auffinden läßt.

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nur weil auch die Täterin ein Opfer ist.44 Lessings Minna, für die sich individuelle Werte und Bedürfnisse mit sozialen Werten und Optionen ergänzen und durchdringen, verkörpert diese Ganzheit im positiven Sinn. Vergleichbar damit Goethes Egmont, der in der Geliebten zugleich das Symbol der Freiheit lieben wird. Negativ wie positiv ist es dieselbe Ganzheit, die die Personen bestimmt. Innerhalb des tragischen Handlungsraumes steht Orsina allein. Sie versucht, diese Einsamkeit zu überwinden, indem sie sich solidarisch mit Emilia zeigt und das Bündnis mit Odoardo sucht. Im Rahmen meiner Deutungshypothese erscheint es mir bedeutsam, daß Orsina sich gegen den Prinzen stellt und nicht gegen Emilia. Erinnern wir uns, daß es das Gift der Marwood war, das die Rivalin Sara tötete, während für Orsina das ihr selbst zugedachte Gift zum Zeichen wird für die Auflehnung als einsame Tat. Odoardo verweigert ihr das Bündnis. Die Umstände aber können nicht von Orsina allein verändert werden, die darunter leidet. Für diese Umstände aber gilt, »wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.« (IV/7) Aus diesen Tatsachen gewinnt die mythologische Projektion der Orsina als bacchantische Rächerin neben all den anderen verletzten Frauen ihren Sinn. Die historische Einsamkeit der Person wird aufgehoben in der mythischen Gemeinschaft der Endvision. Es ist Orsina, die das Geschehen versteht, sie ist die einzige, die es mit klaren und treffenden Worten zu benennen weiß. Wie schon Herder äußerte, »wenn sie nicht den Mund öffnet, wer soll ihn öffnen?« (Dvoretzky, 1971—72: "i) Aus ihrem — durch den Text privilegierten — Blickwinkel erscheinen Verantwortung und Schuld ganz eindeutig: »Der Prinz ist ein Mörder«, die anderen sind nur Adjutanten, »Helfershelfer des Prinzen« (IV/5). In der Szene, wo sie Odoardo über die Umstände aufklärt, benennt sie diese genauso präzis: Entführung, Meuchelmord, Höhle des Räubers (IV/7). Die Aufklärungsfunktion der Gestalt Orsina verwirklicht sich am stärksten im Gespräch mit Marinelli. Dieser Höhepunkt wird vorbereitet und eingeleitet durch zwei Aspekte einer Würdigung von Orsinas Verstand. Im ersten erklärt sie dem »Gehirnchen« Marinelli: »Ich bin selten, oder nie, mit meinem Verstände so wohl zufrieden gewesen, als eben itzt«; im zweiten: »Ich reime, 44

Während Brüggemann (1968: 114) sorgsam die egoistische Rachsucht der Marwood von den komplexen Beweggründen Orsinas trennt, bietet Hippe (1980 17 : 58) die gängige Interpretation: die Gräfin bedient sich des Dolches, »um sich an dem Verräter ihrer Liebe zu rächen«, und des Giftes, »um sich das Leben zu nehmen, das nach dem Verlust des Geliebten keinen Wert mehr für sie hat.«

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dächt' ich, doch noch ziemlich zusammen, was zusammen gehört« (IV/5). Erst nach dieser Vorbereitung weist sie in einem Schlüsselsatz das, was Marinelli hartnäckig einen »Zufall« nennt, zurück: »Ist ihnen auch das Zufall? O, Marinelli, so verstehen Sie auf die Bosheit der Menschen sich ebenso schlecht, als auf die Vorsicht«, während sie zuvor schon versichert hatte: »Ein Zufall? — Glauben Sie mir, Marinelli: das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall« (IV/3). Mit diesem Schlüsselsatz widersetzt sich Orsina — unter sehr allgemeinem, geschichtsphilosophischem Blickwinkel — zwei verschiedenen bürgerlichen Positionen:45 Marinelli, der hinter dem Zufall das hic et nunc seiner Hinterlist verbirgt46 und Odoardo, der alles der Transzendenz anvertraut. Sie bestreitet den Zufall und übergibt den Dolch einem Bürger, von dem sie nicht weiß, daß er nicht die Hände hat, sich jenen skrupellosen Händen zu widersetzen, die die Wünsche des Prinzen ausführen. Die Ausführungen Orsinas zum Zufall stehen den Träumen, dem Anrufen Gottes oder des Teufels von Seiten der anderen Figuren des Stücks entgegen, Ausdruck von deren Machtlosigkeit, von deren Nicht-Beherrschung der Gegebenheiten »unter der Sonne«.47 Häufig überlassen diese Figuren ihre Interpretation der Wirklichkeit den Träumen: so zum Beispiel Emilia in II/7, mit dem Traum von den Perlen, Appiani in II/8, Odoardo in V/2. Wiederholt ruft Odoardo Gott an, um ihm die Sache des ermordeten Appiani anzuvertrauen (V/2), die Verurteilung des Prinzen (V/5), ebenso das Schicksal Emilias (V/6); von einem Engel fühlt er sich zurückgehalten in dem einzigen Augenblick, da er bereit ist, den Dolch gegen den Prinzen zu erheben (V/5), während er sich wie der verlängerte Arm Gottes fühlt, als er Emilia tötet. Im Gegensatz hierzu wird Marinelli als diabolische Kraft gewähnt und nicht als verlängerter Arm eines Systems erkannt, das der Prinz verkörpert. Der Teufel wird von Pirro hinzugezogen (II/3) — indem er ihn in dem von Marinelli gekauften Meuchelmörder erkennt, der ausgerechnet Angelo heißt (eine ironisch45

Vgl. S.30, Anm.9. Aus einer politischen Perspektive vertritt Rieck (1967: 126) die Auffassung, die Reflexionen der Orsina über den Zufall seien »durch religiöse Denkweise geprägt« und hätten »in diesem Zusammenhang keine Bedeutung für die Handlung«; von einer religiösen Interpretation ausgehend meint R . Müller (1979: 142) hingegen, »daß jemand auf Grund göttlicher Vorsehung handelt, wenn er ein Mordwerkzeug bei sich hat und schließlich furienhaft seinen Gegner zerfleischen will, ist nicht in Einklang zu bringen mit der Harmonie des christlich-göttlichen Vorsehungsglaubens«.

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Vgl. die Aufforderung Marineiiis in V / i : »Wozu dieser traurige Seitenblick? Vorwärts! denkt der Sieger: es falle neben ihm Feind oder Freund.« Zum Ausgeliefertsein der Privatpersonen an dunkle Ahnungen, die sie zu bestimmen unfähig sind, vgl. Nolle (1977: fi^f.).

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plebejische Variante der Problematik des >humanen PrinzenGegner< kann sich der Polarität von Moral und Politik entwinden. Auch Friedrich II. von Preußen hat in sich den moralischen Menschen vom Prinzen unterschieden, den Philosophen vom Herrscher. 16 Aber wie in der Emilia verändert das wenig oder nichts an der Struktur und den Mechanismen der Macht. III) Lessing — Orsina. Die Positionen, die Lessings Rolle innerhalb der deutschen Aufklärung definieren, und die sich darstellen als Überwindung derjeni15

16

Vgl. insb. Schulte-Sasse (1975), der auf eindringliche Weise die Zeichnung des Prinzen als empfindsame Gestalt hervorhebt und sie als Kritik der politischen Illusion der literarischen Intelligenz interpretiert, die die eigenen Interessen mit denen des aufgeklärten Absolutismus vereinbaren zu können glaubte. Allerdings führt Schulte-Sasse Lessings Kritik auf die Anschauungen der Empfindsamkeit zurück, und meint, nur mit Georg Forster »und einigen tastenden Versuchen rheinischer Jakobiner« die Eroberung einer politischen Einsicht der Klassenverhältnisse realisiert zu sehen (S.70). Meines Erachtens unternimmt gerade Lessing, insbesondere in Emilia Galotti, einen der denkerisch wie politisch gewagtesten >tastenden Versuchen Vgl. Koselleck (1973: 98; 215, Anm.66; 217, Anm.72).

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gen von Gottsched und Geliert, lassen sich wie folgt zusammenfassen: In der Literatur die Entwicklung einer individuellen, komplexen, widersprüchlichen Figur, die erste moderne Figur der deutschen Bühne; Ablehnung der Spaltung zwischen Öffentlichem und Privatem und die Vorlage einer ganzheitlichen Darstellung des Individuums; Absage an den ethischen Rigorismus, Bruch mit dem Tugend-Laster-Schema; Überwindung der nur moralischen Opposition gegen die bestehende Gesellschaft zugunsten der direkten Aktion, die mit einem alternativen politischen Entwurf verbunden ist. Niemand hat wie Lessing zu seiner Zeit eine derart genaue und differenzierte Darstellung des Bürgertums geliefert, aufgenommen sowohl in den Phasen seiner Entwicklung, in seinen verschiedenen Ansichten, wie auch in seinem Verhältnis zur absolutistischen Macht. Die Figur Orsinas spiegelt die neuen Perspektiven Lessings wider in Verbindung mit der Schwierigkeit ihrer Textualisierung. Den Kategorien der Epoche zufolge ist Orsina eine schier >unmögliche< Figur. Ist der Aktivismus der Minna noch verständlich (wenn ihm auch selten Sympathie entgegengebracht wurde), so entzieht sich die »Furie« Orsina jeglicher Norm. Obwohl ihr Erscheinen eher episodischen Charakter hat, setzt Orsina sich durch und verschiebt die Achse des Textes. Nur die besondere Poetik Lessings erklärt das Ubergewicht an Bedeutung, das Orsina in einem derart engen Raum zukommt. Lessing hat nicht nur den Mut, eine obskure und beunruhigende Figur in ein neues Licht zu rücken, sondern er weist ihr sogar die Funktion zu, seinen eigenen Standpunkt direkter und zentraler zu artikulieren, als es Minna tat. Minna akzeptiert die riskante Begegnung mit Riccaut und verteidigt ihre ethische Flexibilität gegen die Predigten der »Sittenrichterin« Franziska (IV/ i), die statt dessen den Spitzbuben am liebsten aufhängen würde (IV/2, 3).17 Orsina geht noch viel weiter. Sie selbst stellt den Bruch mit dem TugendLaster-Schema dar. In ihr existieren nebeneinander la femme savante und die leidenschaftliche Frau. Sie ist die Mätresse des Prinzen gewesen und hat ihn ernsthaft geliebt (das bezeugt ihr sogar der skeptische Marinelli), ist dann aber fähig, in ihrem Ex-Geliebten die Zielscheibe ihres Grolls, vor allem aber die Verkörperung des unterdrückenden Gewaltsystems zu erkennen und in einem politischen Entwurf die Grenzen der persönlichen Rache zu überwinden. Die Sezession, die Minna realisiert, hat insofern politische Bedeutung, als der Rückzug auf das Land die Ablehnung des königlichen Angebots und überhaupt der Welt, die der König repräsentiert, voraussetzt. Der Dolch und der 17

Vgl. Sanna (1983: 108-17). 59

Markt Orsinas, beides Zeichen einer aktiven politischen Rebellion, stellen die Konkretisierung und die Radikalisierung einer Zielvorstellung dar, die bereits durch Minna vertreten ist. Der Mißerfolg dieses Plans hängt nicht von Orsina ab. Dieser Mißerfolg aber wird seinerseits zum Bedeutungsträger: der kritischen Distanz Lessings gegenüber seiner eigenen Klasse und dem Prozeß ihrer Formierung. 1 8

18

Vgl. Claus Träger (1981: 342). 60

V. Ästhetische Aspekte

Traditionelle Typen und Figuren Lessing gestaltet die Vorlagen der dramatischen Tradition schöpferisch um und formt sie nach eigenem Entwurf. Unverkennbar die Beziehung zwischen Marinelli und dem Intriganten des barocken Trauerspiels — sie wird beschrieben bei Werner Kraft (1968), Jochen Schulte-Sasse (1975) und Volker Nolle (1977).1 Im Zusammenhang mit dem barocken Trauerspiel hat Walter Benjamin (1969: 94) die Merkmale des Typus präzisiert: »Der Veranstalter seiner [des Trauerspiels] Verwicklung, der Vorläufer des Ballettmeisters, ist der Intrigant (...) Der überlegene Intrigant ist ganz Verstand und Wille. Darin entspricht er einem Ideal, das Machiavelli zum ersten Mal gezeichnet hatte und das in der dichterischen und theoretischen Literatur des siebzehnten Jahrhunderts energisch ausgebildet wurde.« Ebenso hat Benjamin bemerkt, daß sich hinter der Maske des Hofnarren, die der Intrigant sich gerne aufsetzt, das Gesicht eines Teufels verbirgt. Das ist auch der Fall bei Marinelli, der zwischen Teufel (II/3, V/8) und Narr (1/6) oder Tor (III/i) hin und her schwankt. Im Theater Gottschedscher Prägung überlebt die Figur des Intriganten mit seinen traditionellen Merkmalen, besonders mit jenem, schuldig zu sein an dem unheilvollen Verlauf der Ereignisse. In Rhynsolt und Sappbira von Christian Leberecht Martini, dem ersten deutschen bürgerlichen Trauerspiel, scheint der Intrigant Rhynsolt der Alleinverantwortliche für die Verschwörung zu sein, die über Danfeld und seine Frau Sapphira hereinbricht. Hinter ihm aber wacht Karl, der gute Herrscher, der nur aus einem Ubermaß an Wohlwollen in die Falle seines Günstlings geht. Als schließlich die Intrige Rhynsolts aufgedeckt ist, stellt Karl die Gerechtigkeit wieder her. In Einklang mit dem politischen Denken Gottscheds spricht Martini den Herrscher frei und bestätigt die Notwendigkeit eines Kompromisses zwischen Bürgertum und Absolutismus. Die Zuweisung der Schuld an den Intriganten drückt das Vertrauen in die Perfektibilität und Funktionsfähigkeit des Machtsystems aus. 1

Vgl. Brüggemann (1968: 108) und Lessings Argumentation gegen den machiavelli schen Bösewicht in R V I : 154—8, 376—80.

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Mit Marinelli führt Lessing eine wichtige Neuerung bezüglich der Figur des Intriganten ein, wie aus der hier vorgeschlagenen Interpretation der Emilia Gaietti hervorgeht. Marinelli ist das ausführende Organ eines Willens, der nicht sein eigener ist, der wahre Verantwortliche der Tragödie ist der Prinz. Das ist mehr als eine simple Umkehrung: Lessing bringt das ganze Bild in Bewegung, liefert eine neuartige dialektische Darstellung des Verhältnisses Prinz — Intrigant. Die darin liegende Dynamisierung beruht auf einem neuen Komplementärverhältnis, das Lessing zwischen den beiden Figuren schafft, i) Entwurf des >humanen< Prinzen bezüglich dessen privater Seite. In Lessings Darstellung wird die >Humanität< des Prinzen nicht zu einem positiven Zug, vielmehr zu dessen Gegenteil: In einem System, wo die Bedürfnisse des Prinzen zum Gesetz werden, ist seine wechselnde Sensibilität Quelle immer neuen Übels für die Untertanen. 2) Marinelli ist die notwendige öffentliche Seite des Prinzen. Die relative Autonomie seines Handelns entlastet nicht den Prinzen, sondern bestärkt vielmehr Lessings Ansicht über die absolutistische Macht. Marinelli — politisches Exekutivorgan des Prinzen selbst — funktioniert ohne eigene Zielsetzung und ohne Individualität. In seiner Person hat dieses System konkrete und greifbare Gestalt angenommen. Durch den Entwurf Marinelli >Intrigantguter< Prinz rechnet Lessing mit den Literatur-Standards der Periode Gottsched ab und weist somit die Illusion eines aufgeklärten Absolutismus zurück. Den Gellertschen Perspektiven eines ethischen Sezessionismus aber wird mit dem Entwurf der Privatfiguren entgegengetreten. Appiani und die Galotti machen sich auf den Weg Richtung Sabionetta, erträumtes Refugium vom Hof und Realisierung individuellen Glücks: Odoardo schützt Sabionetta vor dem Zugriff des Prinzen, Appiani beabsichtigt, in Sabionetta Hochzeit mit Emilia zu halten. Aber um Sabionetta zu erreichen, ist die Kutsche gezwungen, den Weg über Dosalo zu nehmen, wo sie auf Wunsch des humanen Prinzen angehalten wird. Die Träume der Privatfiguren, auf sabbia (Sand) gebaut,1 zerbrechen an Dosalo-Do/oso,3 dem Lustschloß des Prinzen, und nicht an Guastalla, seiner offiziellen Residenz. 1

Die Phase des »tändelnden Schäfer(s)« und des »stillsten, heitersten, lachendsten Winkel(s)« ist schon in der Minna (V/9) überwunden und noch im Nathan wird sie ironisch verfremdet. Um sich der Stadt zu entziehen, ihrem »drücken, Ausmergeln, plündern, martern, würgen«, möchte sich der Derwisch »am Ganges, wo ich leicht und barfuß Den heißen Sand mit meinen Lehrern trete«, zurückziehen (I/3). Der Sand des Ganges nimmt nicht nur dem Namen nach die durch Sabionetta thematisierte Problematik wieder auf. Vgl. auch die Position des jungen Lessings in der Rezension von Guevaras De molestiis aulae et ruris laude (1751). Vgl. dazu Sanna (1983: 65, Anm. 100).

3

Vgl. Angehrn (1968: 125).

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Während für Geliert der Privatbereich Ort der Vollendung der Individualität ist und Schutzgarantie gegen höfisches Eindringen, kann er in der Emilia Gaietti weder das eine noch das andere sein. Unschuld, Tugend, Gesetz und Religion, Konnotationen der Gellertschen Figuren, haben sich zu überindividuellen Normen verfestigt, die den Handlungsraum der Gestalten einschränken und sie im abgesteckten Rahmen des Typus festhalten. Ein rein defensives Verhalten schützt überdies nicht vor dem Zugriff des Hofes. Der Privatbereich Gellerts wird dem reifen Lessing Bereich des Todes. Orsina, Sprachrohr des Lessingschen Gedankenguts im Text, aktualisiert bekanntlich das Vorbild der Medea.4 Seit der Marwood von Miss Sara Sampson zieht die Figur der Medea Lessings Interesse an, weil sich in ihr Handlungsund Moralitätsproblematik durchdringen. Aber seit der Marwood beginnt Lessing die angebliche Absolutheit des Tugend-Laster-Schemas anzugreifen, das der Medea die Rolle der Lasterhaften und Schuldigen zuweist. Der Entwurf der Marwood manifestiert auf der einen Seite Lessings Schwierigkeiten bei der Ausformung der Gegnergestalt, die den sozialen Verwicklungen des Trauerspiels angemessen sein muß. Auf der anderen Seite, auch wenn die Marwood Ursache des Unglücks der Privatfiguren ist, schreibt Lessing ihr Merkmale zu, die eine davon abweichende Interpretation suggerieren: Sie kann als Sprecherin weiblicher Emanzipation verstanden werden. Unter diesem Blickwinkel setzt Orsina als Wiederaufnahme des MedeaVorbildes dessen Richtungsänderung voraus. Den Interpretationsschlüssel für Orsina—Medea liefert Conti in I/4. Dem Prinzen, der das Porträt Orsinas für »geschmeichelt (...); ganz unendlich geschmeichelt« hält, entgegnet der Maler: »Das Original schien dieser Meinung nicht zu sein. (...) Die Kunst muß malen (...) ohne den Abfall, welchen der widerstrebende Stoff unvermeidlich macht; ohne das Verderb, mit welchem die Zeit dagegen an kämpfet.« Auch Lessing, Porträtist Orsinas, muß seine Figur aus dem harten Block des Medea-Modells zurechtmeißeln, und dabei gegen zwei Faktoren ankämpfen: gegen den Widerstand der schwierigen, spröden Thematik und gegen die Ablagerungen der Zeit, die bereits die Lektüre des Vorbildes belasten. Mit Orsina hat Lessing eine sehr moderne Medea geschaffen. Äußerst schillernd in ihrem Dämonismus, Mutter der Kraftweiber und Antizipation des Selbsthelfers des Sturm und Drang, entfernte Inspiration der Anklagen Lady Milfords an den Regenten. Aber bis heute strahlt die Figur Orsina eine doppelsinnige Faszination aus. Es ist schwer zu sagen, ob diese Doppeldeutigkeit auf der eben nicht vollständigen Emanzipation vom Medea-Vorbild 4

Vgl. insb. Grimm (1977: 165) und Janz (1979).

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beruht, oder glaubhafter noch, auf der gewollten Aktualisierung des Vorbildes, das zerlegt und umfunktioniert, auf jeden Fall aber beherrscht ist. Orsina bleibt in Lessings Werken das Moment höchster Spannung zwischen Verschleierung und Enthüllung.5

Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels Lessing hat die geplante einheitliche Ausführung seiner Theorie des bürgerlichen Trauerspiels nicht geliefert. Seine diesbezüglichen Ansichten lassen sich sowohl aus dem Briefwechsel mit Nicolai und Mendelssohn aus den Jahren 1756/57 ableiten wie aus der Hamburgischen Dramaturgie (1767). Mit dem Verhältnis dieser Normen zur Textpraxis in der Emilia Galotti haben sich zahlreiche Untersuchungen beschäftigt.6 Aber es gibt hierüber keinen Konsens. Weder dementiert die Emilia den Konzeptionsapparat noch bestätigt sie ihn als einfache Anwendungsübung: Tatsächlich entwickelt sie ihn, ebenso wie die Dramaturgie gemessen an den Angaben des Briefwechsel. Lessing geht für das bürgerliche Trauerspiel, wie überhaupt für die Definition aller anderen literarischen Genres, von einer zu erreichenden Zielsetzung aus, von einem Wirkungsmittelpunkt.7 Die Zielsetzung des Trauerspiels ist Mitleid und Furcht (wie Lessing den aristotelischen phobos deutet).8 Mitleid ist nicht Philanthropie, wohl aber aktive Empfindung (Dramaturgie,

j6.

Stück); die Furcht ist »das auf uns selbst bezogene Mitleid« (75. Stück). Beide haben die Funktion, die Selbstverteidigung anzuregen als Reaktion auf das dargestellte Unglück, und beide haben eine stark aktivistische Komponente. Um die Ursachen des Unglücks zu entschlüsseln, reichen Mitleid und Furcht als unmittelbare Gefühlsäußerungen keinesfalls aus. Zwischen diese schiebt Lessing die Vermittlung der kritischen Distanz.9 Um zu begreifen, was es zu fürchten und zu bemitleiden gilt, nötigt die komplexe Kommunikations5

6

7 8

9

Zur Dynamik von Verschleierung!Entschleierung in Minna von Barnhelm vgl. Sanna (1983: 202-205, 2 2 I — 54)· Zu Lessings Kommunikationsstrategie vgl. insb. Hoensbroeck (1976) und Claus Träger (1980, 1981). Schon Dilthey (1906: 59) meinte: »Durch jeden dieser Züge blickt eine Regel der Dramaturgie hindurch.« Vgl. auch Zeissig (1930), Nolte (1938), Rempel (1967), Wierlacher (1968), Steinmetz (1972), R. Meyer (1973), Brown (1985). Vgl. Scherpe (1968: 113 — 34). Vgl. Schadewaldt (1968) zur Interpretation von Lessings Ästhetik. Zu den dramatischen Theorien der Aufklärung vgl. Martino (1967). Vgl. den Brief an Wieland vom 2.9.1772, wo Lessing die Rezeption, die »die Wirkung eines ungewohnten betriegerischen Weines« hat, mit der vergleicht, die sich »in einer kalten nüchternen Stunde« vollzieht. Diese letzte wünscht er sich für Emilia. (R IX: 543—44).

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strategie der Emilia den Zuschauer dazu, nicht an den Figuren und den dargestellten Ereignissen haften zu bleiben. Die kritische Distanz, die Lessing zwischen den Privatfiguren und dem Publikum herstellen will, beruht im einzelnen auf vier Abläufen: i) Auf der Absurdität des Schicksals von Emilia und der Ungerechtigkeit, die Appiani und Odoardo erfahren - was den Widerstand beim Zuschauer hervorrufen soll. 2) Auf der Kommunikationsstrategie, die »Bilder und Szenen, die der Einbildung Raum und Zeit geben, auf >spitzige Zweifel zu fallen««, anwendet: »Je gewöhnlicher, »vertrauter« das Bild ist (mit Bruchsilber handeln), desto stärker ist die Wirkung auf den Verstand, die Anregung zur Kritik (Silber machen).« (Hoensbroeck, 1976: 71, 207) Diese Aufgabe fällt nicht nur den Bildern im eigentlichen Sinn zu (entblätterte Rose, Perlen-Tränen, Virginia, Heilige), sondern auch den Produktions- und Rezeptionsstandards der Kulturen Gottscheds und Gellerts. 3) Auf der Dosierung der Rührungseffekte in den Augenblicken höchster Spannung, in die Lessing Passagen mit der deutlichen Funktion der Verfremdung einführt, wie den Vergleich Odoardos zwischen Dolch und Haarnadel (V/7).10 4) Auf der Einarbeitung der ästhetischen Kategorie der Distanz zwischen Figuren und Publikum: die Bewunderung, der in der Dramaturgie die emotionale Distanz zugewiesen wird, und die so in der heroischen Tragödie die sympathetische Identifikation verhindert.11 Verbleiben wir beim vierten Punkt. In II/7 spricht Appiani (wie auch Odoardo) »mit der zärtlichesten Bewunderung« von Emilia, das heißt von der Figur, in deren Schicksal die Tragödie sich vollzieht und die von daher ihren Titel erhält. Die Bewunderung, Zeichen der Distanz für den Zuschauer, kennzeichnet den Heroismus der Figur, die Starrheit des Typus. Das Adjektiv zärtlich verlegt die Bewunderung aus dem heroisch-höfischen Bereich, in dem sie zu Hause ist, in den häuslichen Bereich der bürgerlichen Tugend. Die Bewunderung wird in den Verlauf der ganzen Handlung eingearbeitet, in direktem Bezug auf Emilia, aber auch die anderen Vertreter des Privatbereichs, damit gleichsam den Abstand zwischen Rezipienten und Bühne herIC

"

Vgl. den von einem zeitgenössischen Rezensenten erhobenen Einspruch: »Nur ein Beispiel. Am Ende des Stücks, bei der höchsten Illusion, unter den schaudervollsten Erwartungen der Entwickelung, fordert Emilia von ihrem Vater den Dolch, und er antwortet: >Es ist keine Haarnadel«. Der Rezensent wünschte den Akteur zu sehen, der diese Antwort so ausdrücken könnte, daß dadurch bei den Zuschauern der Lauf der Empfindungen nicht unterbrochen würde; beim Lesen geschieht es gewiß; er hat das Stücks selbst gelesen, hat es vorgelesen, hat es vorlesen hören, aber allemal hat diese Stelle die Illusion gehemmt und entweder Lachen bei einigen oder bei andern eine Art von Unwillen verursacht«. (Neuen Critischen Nachrichten, Greifswald; Steinmetz, 1969: 104) Hamburgische Dramaturgie, 1., 14., 30., 47. Stück u.a. auch Laokoon 1.

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stellend. So zunächst von Conti. Der Porträtmaler suggeriert in den Anfangsszenen nicht nur die Kategorien, nach denen die Figur Orsina zu rezipieren ist, sondern auch jene für Emilia, von der er behauptet, daß er »keinen bewundernswürdigem Gegenstand, als diesen« kenne, und daß sie ein »Engel« sei (1/ 4). Die Gestaltung der Emilia setzt eine Entwicklung voraus, der auf der Ebene der Rezeption die Intensivierung der Bewunderung entspricht. In der Tat entwickelt sich Emilia im Verlauf der Handlung vom Gellertschen Durchschnitts-Typus zum heroischen Typus der Märtyrertragödie. Die Linie der Epitheta, die Emilia betreffen, kennzeichnet ein Anwachsen im Verlauf des Textes, das von der gehorsamen Tochter Odoardos (II/2) zu seinem »Meisterstücke« (V/7), vom »alberne(n), furchtsame(n) Ding« (II/6) bis zur heiligen, christlichen Märtyrerin und der römischen Heldin geht (V/7).12 Diese pleonastische Sättigung des Vorbildes kann man in Beziehung setzen zu dem 1. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, wo die Märtyrertragödie als unzeitgemäß und überholt abgelehnt wird. Der zunehmende Prozeß der Verfremdung, dem Lessing Emilia unterzieht, ist ein weiterer Beweis für die Verlegung des Zentrums des Trauerspiels und bestätigt das, was er seinem Bruder in einem Brief vom 10.2.1772 schreibt: »Weil das Stück Emilia heißt, ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervorstechendsten, oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz und gar nicht.« (R IX: 497—98) Zwar ohne diesen Intensivierungsprozeß, trifft die Kategorie der Bewunderung, die mit Unveränderlichkeit, Starrheit, Exemplarität verbunden ist, auch für Odoardo und Appiani zu. »Muster aller männlichen Tugend« (II/7) wird Emilias Vater von Appiani genannt. Der Graf versucht, Odoardos würdig zu werden, indem er dessen Maximen übernimmt, »immer gut, immer edel« zu bleiben. Die kritische Distanz gegenüber den Figuren wird von Lessing auf einer anderen Ebene der Konzeption des Tragischen bekräftigt. Weiter in der Dramaturgie, im 79. Stück, erörtert er die megále hamartía von Aristoteles.15 Er behauptet, daß das Unglück der Figuren in Verbindung mit einem korrigierbaren Fehler stehen müsse. »Was haben sie getan? wodurch haben sie es sich zu12

Man vergleiche Emilia mit Minnas komplexer Zeichnung. In ihrer Selbstdarstellung in II/7 begreift sich Minna als Einheit von Gegensätzen, deren Sonderbarkeit sie jeder eindeutigen, geschlossenen Definition entzieht. Teilheim, der Minnas kleine Fehler beleuchtet und sie »boshafter Engel« nennt, behauptet: »Desto besser! desto besser! Minna wäre sonst ein Engel, den ich mit Schaudern verehren müßte, den ich nicht lieben könnte.« (V/9). Auch Tellheim bestätigt somit den komplexen Status der weiblichen Hauptgestalt, die in dieser Perspektive als Kontrastfigur zu Emilia erscheint.

15

Vgl. Kommereil (1970 4 : i28f.).

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gezogen, daß sie in den Klauen dieser Bestie sind?«, fragt er bezüglich Richard III. von Felix Weiße. »Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? (...) wenn die Lehre der Vernunft in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen und fröhlichen Mut behalten sollen: so ist es höchst nötig, daß wir an die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhängnisse so wenig, als möglich, erinnert werden. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg, wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen! — « (R VI: 401—02) Lessing konzipiert also das Trauerspiel nicht als Ausdruck von Resignation und Fatalismus, als absichtsloses Dichtensondern

er sieht es als ein Mittel,

Mut und Vertrauen hinsichtlich der Veränderbarkeit der Umstände zu wecken. Mitleid und Furcht sind aufgerufen, um das empfindsam-rationale Bewußtsein über das Warum des Fehlers der unglücklichen Person zu wecken, dessen Wiederholung in der Realität des Rezipienten. In Miss Sara Sampson liegt der Fehler der Privatpersonen in einem ethisch-individuellen Fundament begründet, das die individuellen Grenzen oder Schwächen der Protagonisten abspiegelt. In Emilia verwickelt die hamartia gemäß Lessings neuem Figurenstatus gleichermaßen Individuum und conditions. Die Poetik der Emilia Gaietti läßt nicht zu, daß das Schicksal der Figuren nur vom Eingriff des Zufalls bestimmt werden könnte. Jenseits der zufälligen Umstände ist der wahre, von Lessing vorgesehene Sinn des dramatischen Handlungsgefüges hervorzuheben: die Macht der sozialen Bedingtheit über das Schicksal der Helden. Dieser Weg zum heroischen Typus wirkt vom III. A k t an, mit dem Beginn jenes Handlungsabschnitts, der zur Tragödie führen wird. Der vorausgehende zweite A k t (expositio) stellt dagegen die Privatfiguren als tugendhafte Charaktere dar. Die ästhetische Absicht dieser ersten Phase der Handlung ist, die Identifikation zwischen den Rezipienten und den Figuren der Bühne zu ermöglichen. Das theoretische Fundament dafür liefert die Hamburgische Dramaturgie (82. Stück), worin Lessing den tragischen Helden weder als »ganz Lasterhaften« noch als »ganz tugendhaften Mann« konzipiert: »ein Mensch kann sehr gut sein, und doch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler begehen, wodurch er sich in ein unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne im geringsten gräßlich zu sein, weil es die natürliche Folge seines Fehlers ist.« (R VI: 418) Die im zweiten A k t dargestellte Tugend erweist sich als unwirksam. Lessings Kommunikationsstrategie sieht an erster Stelle die Konstruktion eines Durchschnittshelden vor, dessen ethisch-soziale Bezüge auch die des Publi14

Vgl. Hamburgische Dramaturgie, 34. Stück (R VI: 177).

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kums sind. 1 ' Folglich identifiziert sich der Rezipient mit ihm. Aber gerade da bahnt sich eine Handlung an, die zur Tragödie führen wird. Diese wird die Empörung des Zuschauers wecken, die begleitet ist von Mitleid und Furcht. Als Ergebnis wird angestrebt, den Zuschauer zu zwingen, nach den Ursachen zu fragen und eben jene Kriterien, mit denen er sich zuvor identifiziert hat, einer kritischen Prüfung zu unterziehen, haben sie sich im Verlauf der Handlung doch als unbrauchbar gezeigt, einer tragischen Entwicklung entgegenzuwirken.1* Es ist ein zweifaches Unternehmen. Die substantielle Schwäche der Tugend der Privatfiguren wird nicht nur Ursache für den Tod Emilias, sondern ebenfalls Ursache für die Niederlage Orsinas, deren Kontrastfunktion sich hier auf die Ebene der Rezeption ausweitet. Um die gefährdete Situation des Lessingschen Bürgers darzustellen, überlagert die fehlende Solidarität Odoardos, das heißt die Schwäche des Gellertschen Bürgers noch die höfische Gewalt, das heißt die Widerstandskraft des historischen Gegners. Auch Orsina erfährt eine Evolution: Ihre Liebe zum Prinzen, verlegt in die Vorgeschichte, hat sich in eine aktive Opposition gewandelt, die im Verlauf der Handlung mit politischen Implikationen angehäuft wird. Der Text läßt die Entwicklung Orsinas mit der Emilias kontrastieren. Ausdruck dessen ist insbesondere der gegensätzliche Appell, den beide an Odoardo richten, die ins Gegenteil gehende Zusammenarbeit, die sie von ihm verlangen: hier beim Selbstmord, dort bei der Rebellion. Unter diesem Blickwinkel sind die Niederlagen der beiden Frauen zu deuten als zwei alternative Vorschläge, die Lessing dem Zuschauer unterbreitet. Nur einer dieser Vorschläge wird auf der Bühne verwirklicht. Das fehlende Bündnis zwischen Odoardo und Orsina stellt die Möglichkeit dar, die der Text gerade dadurch, daß er sie unverwirklicht läßt, stark hervorhebt. Statt Bündnispartner zu werden im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, schickt Odoardo Orsina in den Bannkreis ihrer Isolation zurück. Für Emilia den Freitod, für Orsina die Gefahr, fortgerissen zu werden, den Verstand zu verlieren.

Plauderei: die Rezeption von seiten des H o f e s Lessing schreibt für ein bürgerliches Publikum, für Zuschauer »vom gleichen Schrot und Korn«. Auf diesen privilegierten Rezeptionsbereich bin ich bereits I!

16

Vgl. die von J.-D. Müller (1971), Siegle (1979), Nixdorf (1980) gesammelten Materialien. Vgl. Sanna (1983: 27—33) z u r Strategie, mittels deren Lessing in den Anfangsszenen der Minna, von Bamhelm die Identifikation des Zuschauers mit Tellheim herzustellen trachtet, bevor er den Major einem Wandlungsprozeß unterzieht, der auch den Zuschauer erfassen soll. 68

eingegangen. Was aber die Möglichkeiten der Rezeption der Emilia von Seiten des Hofes bestimmen könnte — das kennzeichnet der Text selbst in den Eröffnungsszenen. Nach Aussage vieler Interpreten beweist der Prinz hier im Gespräch mit dem Maler Conti eine ausgeprägte ästhetische Sensibilität. Ein aufmerksames Lesen deckt indessen unter dieser Oberfläche den Tatbestand eines verfehlten Dialogs auf.17 Der Adressat des Textes kann nicht der Hof sein, nicht dieser Prinz ohne Gehör und Verstand, der seine Augen nur dazu gebraucht, das Objekt seiner Begierde ausfindig zu machen.18 Mit einem dergestalt angelegten Prinzen muß das Gespräch seinen Sinn verfehlen. Als Conti dem Prinzen das Porträt Orsinas vorstellt, hält dieser es für sehr geschmeichelt. Aber der Maler verteidigt es: CONTI: Das Original schien dieser Meinung nicht zu sein. (...) Die Kunst muß malen, wie sich die plastische Natur, — wenn es eine gibt - das Bild dachte (...) DER PRINZ: Der denkende Künstler ist noch eins so viel wert. - Aber das Original, sagen Sie, fand dem ungeachtet — CONTI: Verzeihen Sie, Prinz. Das Original ist eine Person, die meine Ehrerbietung fodert. Ich habe nichts Nachteiliges von ihr äußern wollen. DER PRINZ: SO viel als Ihnen beliebt! — Und was sagte das Original? (...) CONTI: (...) Wir malen mit Augen der Liebe: und Augen der Liebe müßten uns auch nur beurteilen. (I/IV)

Dann zeigt Conti dem Prinzen das Porträt Emilias. Der Prinz ist begeistert: Es ist, als ob der Maler die Wünsche von seinen Augen abgelesen hätte. Der Maler aber verweilt nun dabei, die Gründe für sein Unbefriedigtsein über die eigene Arbeit und die Normen, die ihn dabei geleitet haben, zu erläutern. Diese Ausführungen Contis stellen, wie bereits oben erwähnt, Lessings Gedanken über seine eigene Arbeit dar: Sie enthalten nichts weniger als die chiffrierte Poetik des Textes. Der Prinz hört diese Ausführungen nicht einmal: Als Rezipient des Textes schließt sich also der Repräsentant des Hofes selbst aus. DER PRINZ (indem er nur eben von dem Bilde wegblickt)·. Was sagen Sie, Conti? Was wollen Sie wissen? CONTI: O nichts, nichts! — Plauderei! Ihre Seele, merk' ich, war ganz in Ihren Augen. Ich liebe solche Seelen, und solche Augen. (...) Oder Sie sahen, die ganze Zeit, ebenso wenig, als Sie hörten.

Hier noch der folgende Monolog des Prinzen, nachdem Conti gegangen ist: 17 18

Vgl. Kraft (1968: 3 if.). Zu Teilheims Starrheit des Blickes in der zentralen Szene IV/6 von Minna von Barnhelm, die zugleich gegensätzlich und komplementär zu den unbeweglichen Augen Hettore Gonzagas in I/4 erscheint, vgl. Sanna (1983: 4 6 - 5 0 , 182-92).

69

DER PRINZ: (...) (gegen das Bild) Dich hab' ich für jeden Preis noch zu wohlfeil. — Ah! schönes Werk der Kunst, ist es wahr, daß ich dich besitze? — Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! - Was Sie dafür wollen, ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fodre nur! Fodert nur! - Am liebsten kauft' ich dich, Zauberin, von dir selbst! (I/V) Im ersten Teil des Gesprächs mit Conti ist der Prinz ausschließlich daran interessiert, boshafte Dinge über Orsina zu hören, über die Frau, die er nicht mehr liebt. Im zweiten Teil hat er nur Augen für Emilia, die Frau, die er jetzt liebt oder zu lieben glaubt. Contis Reflexionen über die eigene Kunst hört er nicht einmal, doch gerade er — ohne Verstand — spricht vom »denkenden Künstler«. In Wirklichkeit läuft dabei das, was der Künstler denkt, völlig »ungeachtet« an dem Prinzen vorbei; dessen ganzes Hören ist gefangengenommen vom Klatsch. Von daher folgt auf das nicht gehörte Gespräch ein Gemeinplatz. Das verfehlte Gespräch betrifft aber nicht nur den Prinzen; und es wäre falsch, die Äußerungen Contis etwa als Antwort auf den Prinzen zu lesen. Jede der beiden Figuren verfolgt das eigene Reden, das unterschiedlich ist und ohne jedwede Beziehung mit dem des anderen. Mit der Bemerkung »Augen der Liebe« scheint Conti einen wichtigen Beweis für eine positive Wertung des Prinzen geliefert zu haben. So wurde es zumindest gedeutet. Doch in Wirklichkeit sind es nicht die Augen des Prinzen, über die der Maler Conti spricht. Für Conti-Lessing sind die Augen der Liebe die einer ganzen Person, die fähig ist, in ihren Augen ihre ganze Seele zu spiegeln, ihre ganze Individualität. Das ist die Voraussetzung, um den anderen als Ganzheit zu erkennen. Die Augen der Liebe — die in der Minna von Barnhelm in ihrer Bedeutung dem Tiefblick der Liebe entsprechen — sind solche, die die tiefe Individualität in ihrer Ganzheit durchdringen, die Einheit von Herz und Verstand erfassen. 19 Das sind in der Emilia Gaietti die Augen Orsinas. Sie hat den Prinzen ernsthaft geliebt, wie Marinelli bestätigt. Innerhalb der Lessingschen Koordinaten bedeutet das, daß Orsina den Prinzen vollständig gesehen hat und daß sie das Verhältnis Schein/Wirklichkeit

dechiffriert hat. Sie allein kennt den Prinzen

ganz, sie allein ist in der Lage, ihn mit Verstand zu hassen. Die leidenschaftliche Vehemenz Orsinas speist sich aus ihrem Bewußtsein. Wie Minna ist Orsina eine ganze Persönlichkeit. Contis Ausführungen, wie gesagt, beinhalten eine eigene Kontinuität und eine innere Dynamik, was sie gleichsam unabhängig macht von denen des Prinzen. Nach der Bemerkung über die »Augen der Liebe«, spricht Conti dem Prinzen nicht nur den Besitz des Gehörs ab, sondern zieht sogar dessen Sehvermögen in Zweifel. Und das in Bezug auf Emilia, hinsichtlich ihres Porträts ! 19

Vgl. Sanna (1983: 182-202) und S.46, Anm.48.



Der Lessingsche Kodex des Sehens/Hörens, den Conti in dieser Schlüsselszene ins Spiel bringt, erlaubt die Behauptung, daß sich das Problem der Liebe für den Prinzen nicht stellt. Innerhalb dieser Koordinaten widerlegen die Worte Contis die etwaige Darstellung eines Prinzen, der Emilia liebt. Die Tragödie, nun auch ohne die Hülle der Liebe, ist der Willkür der Macht zuzuschreiben und den wankelmütigen Wünschen des Prinzen.10 In dem Monolog, der auf Contis Abgang folgt, goutiert der Prinz im »schöne(n) Werk der Kunst« im voraus das »schönre (...) Meisterstück der Natur«, den Besitz der Emilia (die hingegen in V/7 das »Meisterstück« Odoardos wird!). Das Porträt Contis ist für den Prinzen mithin nur ein Ersatz des Besitzes von Emilia selbst.21 Bei Hofe ist die Kunst entfremdet zum »Requisit eines Gefühlszustandes« (Durzak, 1969: 66), dem sie Besitz oder Konsum anträgt. Das Porträt Orsinas, bereits ohne emotionalen Wert, wird in der Galerie ausgestellt, mit üppigem Rahmen versehen. Das Porträt Emilias aber, Objekt des momentanen Konsums, behält der Prinz bei sich: »Mit einem Studio macht man so viel Umstände nicht: auch läßt man das nicht aufhängen; sondern hat es gern bei der Hand.« (I/4) Der Prinz wird im Text unfähig gezeigt, in den Gehalt des Bildes wie in die Bedeutung der Ausführungen Contis einzudringen, das heißt in die Dynamik des Verhältnisses Schein/Wirklichkeit. Lessing entwirft in der Szene Prinz—Conti die Rezeption von Seiten des Hofes. Er kannte den Hof. Nach dem vom Autor vorgesehenen Modus — als chronique scandaleuse — wird Emilia Galotti in Braunschweig am Geburtstag der Herzogin-Mutter >konsumiertPrinzen mit menschlichen Zügen< — einen Kompromiß herbeizuführen, zum Scheitern verurteilt ist.6 Im Falle Orsinas konstruiert Lessing auf dem traditionellen Hintergrund der lasterhaften Person< eine Figur, deren komplexe Struktur sich, zumindest potentiell, darstellt als objektive politische Tugend. — Die Dynamik Schein/Wirklichkeit begründet und provoziert insofern die kritische Musterung der moralischen Kategorien der Aufklärung, die Lessing in der Emilia Gaietti vornimmt. Der Schwerpunkt der Problematik Moral/Politik erlaubt es, das Theater Lessings als politisches Theater zu definieren. Eine Theorie des bürgerlichen Trauerspiels auf dem Stand der Emilia Galotti hat Lessing — wie bereits bemerkt — nicht geschrieben. Seine früheren theoretischen Schriften gehen auf die Jahre 1756— 57 und 1767 zurück. Nur die Analyse des Trauerspiels selbst erlaubt Rückschlüsse auf seine Poetik. Daß Lessings Theater politisches Theater sei, ist eine schwerwiegende Behauptung; innerhalb der Lessingforschung wird ihr kaum Konsens geboten. Sehr schwierig wird der Dialog mit Karl Siegfried Guthke sein, der das Theater Lessings ausschließlich unter religiösem Aspekt betrachtet. Schwierig aber auch mit Klaus Peter und Peter Weber, um zwei Wissenschaftler verschiedener Richtung zu nennen. Klaus Peter unter6

Zum »Harmoniedenken der literarischen Intelligenz der Zeit« vgl. Schulte-Sasse. Vgl. S. 58, Anm. 15.

85

streicht »die Betonung des Charakters, des >Menschenlangen Weges< als Schlüssel zum Koordinatensystem in Lessings politischem Schauspiel Emilia Gaietti«) lehnt er Auslegungen als unhistorisch ab, die die Schuld an Emilias Tod im bürgerlichen Lager und bei seinen übersteigerten

Schmitt-Sasse (1983:157—61) sieht Conti eine absolutistische, den Prinzen hingegen eine bürgerliche Kunstauffassung vertreten, eine Deutung, die mit meiner Interpretation der Szene I/4, die den Maler als Vertreter Lessings agieren läßt, geradezu kollidiert. Vgl. dazu Kap. V der vorliegenden Studie.

96

sittlichen Normen suchen (so Seeba 1973, Neumann 1977, Kortner und Nagel 1970): Im Drama bleibt kein Spielraum »für die erwähnten Assoziationen und Spekulationen moderner Sexual- und Sozialpsychologie« (70). Wittkowskis schlüssige Argumentation macht sich drei Fixpunkte seiner Interpretationsrichtung zu eigen. ι. Die Emilia Galotti darf nicht als Psychodram gelesen werden, sondern sie ist eine politische Tragödie mit antiabsolutistischer Tendenz: »der Mord des Vaters an Emilia (ist) die Hauptwaffe des Bürgertums im Kampf für seine Freiheit und Emanzipation« (82). Wiederum sind Politik und Moral deutlich unterschieden und klaffen weit auseinander. Alleiniger Hort der Tugend ist das Bürgertum. 2. Odoardos ethischer Rigorismus, der zu Emilias Tötung führt, entspricht nach dieser Theorie genau dem christlichen Wertsystem der Tragödie: »Denn ein Fehltritt, eine Unterlassungssünde können womöglich nie wieder gutzumachen sein vor der Ewigkeit, die über des Menschen Los entscheidet.« (77) Die Handlung des Dramas verläuft »zwischen der horizontalen Achse von Zeit und Zeitlichkeit und jener vertikalen Achse von Moral und Amoral, die über das Los in der Ewigkeit entscheidet.« (71) Es hieße jedoch meines Erachtens das Schauspiel völlig mißverstehen, wenn man es aus dem Blickwinkel christlicher Militanz betrachtet. Denn Lessing distanziert sich gerade von Odoardos christlichem Rigorismus, den er unter die Ursachen für Emilias Tod einreiht (vgl. Wierlacher 197}, Göbel 1983). 3. Wie Wittkowski das irdische Handeln nach jenseitigen Maßstäben beurteilt, so relativiert er auch das Ziel der bürgerlichen Emanzipation: In der Emilia Galotti erstrebt Lessing noch, was er »in seinem Fragment gebliebenen Schweizer Revolutionsdrama Samuel Henzi will und was schließlich in jeder denkbaren Gesellschaftsordnung immer wieder nötig werden dürfte: >(...) Den Mißbrauch ihres Amts, und nicht ihr Amt (be)strafen.Klassengegner< können zwar durchaus einen gemeinsamen menschlichen Kern besitzen; doch kommt dies in Emilia Galotti nicht zum Tragen. Nicht das Allgemein-Menschliche scheint Lessing zu interessieren, sondern er ist, wie Heine behauptete, »politisch bewegt«. Eine genaue Analyse der Emilia fördert meines Erachtens eine schon historische und auch konkret politische Sicht der moralischen Dimension zu Tage. Die Emilia Galotti ist in erster Linie ein politisches Drama und die menschlichen Handlungen in ihrer umfassenden geschichtlichen Bedeutung werden aus dieser Perspektive dargestellt. Das Beharren auf einer abstrakt-moralischen Betrachtungsweise steht hinter zwei Schlußfolgerungen, die Werner zum Ausgang der Emilia Galotti zieht: Zum einen soll Odoardos Tat »notwendig erscheinen, weil sie den höchsten Wert des Menschen, seine Würde, verteidigt« (149); zum andern ist trotz dieser Tat »die Tragödie nicht ohne Hoffnung. Sie gründet sich einerseits auf Ethos, Willen und Tatkraft, die Emilia oder Odoardo als abstrakte menschliche Eigenschaften aufzubringen imstande sind; sie gründet sich andererseits auf den höchsten Richter als den Garanten der Perfektibilität des Menschen und der Welt.« (149) In mancherlei Hinsicht muß ich Hans-Georg Werner hier meine Zustimmung versagen. Vor allem ignoriert er völlig die zentrale Rolle der kritischen Distanz in der Wirkungsästhetik Lessings. Dieser kennt keine »abstrakten menschlichen Eigenschaften« und Odoardos Tat findet, wie ich darzulegen versucht habe, weder ihrer politischen Folgen, noch ihrer menschlichen Implikationen wegen Lessings Zustimmung. Emilias Tötung hat keine politischen Auswirkungen, sie bringt das absolutistische System nicht im geringsten ins Wanken; die menschlichen Implikationen des tragischen Akts liegen in der Pervertierung, in der Entmenschung der ethisch-privaten Ideologie des Bürgertums. Der Text gibt keineswegs einer durch Odoardos Tat oder seine Anrufung des »obersten Richters« geweckten Hoffnung Nahrung. »Und dann dort — erwarte ich Sie vor dem Richter unser aller!« (V/8), läßt Odoardo verlauten — 99

zu seinen Füßen die sterbende Emilia, hinter seinem Rücken der Leichnam des geliebten Schwiegersohns und er selbst mit der Aussicht auf ein Lebensende im Kerker seiner Durchlaucht Hettore Gonzaga. Es fällt schwer, sich einen ungünstigeren Augenblick für die Anrufung des obersten Richters, die wörtlich zu verstehen wäre, vorzustellen. Daher drängt sich die Deutung auf, daß Lessing ihn als metaphysische Flucht von tragischer Ironie, als Gipfelpunkt von Odoardos Passivität und als Siegel unter sein historisches Scheitern verstanden hat. Die Emilia Galotti läßt der Hoffnung generell wenig Raum. Als überzeugter Gegner des Absolutismus sieht Lessing die verhängnisvollen Vorzeichen der widersprüchlichen bürgerlichen Emanzipation. Die, Marx zufolge, an Konterrevolutionen, nicht an Revolutionen reiche deutsche Geschichte gibt ihm nicht unrecht. Hans-Georg Werner oder auch andere die Emilia Galotti als fortschrittliches Werk interpretierende Literaturkritiker sehen sich gezwungen, dem Text Gewalt anzutun, um als unumgängliches Pendant zur Ablehnung des Absolutismus aus ihm eine mit den bürgerlichen Figuren verbundene Hoffnung herauszulesen.

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