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German Pages 176 Year 2015
Michael Charlton, Tilmann Sutter Lese-Kommunikation
Michael Charlton (Prof. Dr.) war bis Herbst 2006 Professor am Psychologischen Institut der Universität Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Rezeptionsforschung, Kultur- und Entwicklungspsychologie. Tilmann Sutter (Prof. Dr.) lehrt Soziologie mit Schwerpunkt Mediensoziologie an der Universität Bielefeld. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Soziologische Theorie, Methodologie, Sozialisation, Moralsoziologie.
Michael Charlton, Tilmann Sutter Lese-Kommunikation. Mediensozialisation in Gesprächen über mehrdeutige Texte Unter Mitarbeit von Christina Burbaum, Gisela Mehren und Friederike Rau
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: unter Verwendung eines Gemäldes von Michael Charlton, 2005, © Michael Charlton Lektorat: Tilman Sutter, Bielefeld Satz: Christian Schulte, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-601-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT
1 Einleitung 9
2 Anschlusskommunikation im Rahmen der Mediensozialisation 17
2.1 Allgemeine sozialisationstheoretische Probleme 17
2.2 Ko-Konstruktion subjektiver und sozialer Strukturen 21
2.3 Selbstsozialisation im Verhältnis psychischer und sozialer Prozesse 25
2.4 Zur Ausbildung von Medienkompetenz 27
2.5 Anschlusskommunikation und kommunikative Aneignung im Prozess der Mediensozialisation 32
3 Lesekompetenz und literarische Mehrdeutigkeit 45
3.1 Einführung und Definitorisches 45
3.2 Mehrdeutigkeit als Ergebnis einer kulturhistorisch bedingten Leser-Text-Interaktion 49
3.3 Hypothesen über die Funktionen der literarischen Mehrdeutigkeit für den Leseprozess 55
3.3.1 Ist Mehrdeutigkeit ein ästhetisches Qualitätsmerkmal? 55
3.3.2 Literaturtheoretische Annahmen zum Umgang von Lesern mit literarischer Ambiguität 59
3.3.3 Psychoanalytische Annahmen zum Umgang von Lesern mit literarischer Ambiguität 62
3.4 Empirische Befunde 64
3.4.1 Folgen von Mehrdeutigkeit für die Attraktivität von Kunstwerken auf ihre Leser/Betrachter 64
3.4.2 Konstituierung von Lesarten im Rezeptionsprozess 68
3.5 Schluss: Mehrdeutigkeit statt Beliebigkeit der Deutungen 72
4 Verhandlungen von Mehrdeutigkeit literarischer Texte 75
4.1 Einleitung 75
4.2 Analyse eines Romans 76
4.2.1 Fallanalyse von Textstellen aus dem Roman „Morgen in der Schlacht denk an mich“ von Javier Marias 77
4.2.2 Drei Fallanalysen ausgesuchter Leseprozesse 86
4.2.3 Zusammenfassung 93
4.3 Fallanalyse eines Gedichts 94
4.3.1 Analyse des Gedichttextes „Abschied“ von Juan Ramon Jiménez 94
4.3.2 Vier Fallanalysen von Gesprächen über die Rezeption eines Gedichts 101
4.3.3 Fazit aus den Gedicht-Rezeptionen 116
4.4 Kommunikative Aneignungsprozesse 117
5 Schülergespräche über ein Gedicht 119
5.1 Einführung 119
5.2 Untersuchungssetting 119
5.3 Das Gedicht 120
5.4 Gesprächsprotokolle und Feinanalysen 121
5.5 Strategien zur kommunikativen Bearbeitung mehrdeutiger Textabschnitte 133
5.5.1 Bewerten 133
5.5.2 Gegenseitiges Erklären 133
5.5.3 Kooperative Ausarbeitung einer Idee 134
5.5.4 Kampf um die „richtige“ Lesart 136
5.5.5 Andere kommunikative Ziele 137
5.5.6 Fazit 139
5.6 Vergleich mit anderen empirischen Studien zur Kommunikation über Gedichte 140
5.7 Verstehenssicherung als kommunikativer Prozess 145
6 Abschließende Thesen zur Rolle der Anschlusskommunikation für die Entwicklung der Lesekompetenz in der Lebensspanne 147
6.1 Voraussetzungen zum Erwerb von Lesekompetenz 147
6.2 Das Vorlesen als früheste Form der Lese-Kommunikation 148
6.3 Lesesozialisation durch „gelenkte Teilhabe“ an kultureller Praxis 151
6.4 Lese-Kommunikation im Erwachsenenalter 153
7 Literatur 157
1 EINLEITUNG
Die Fortschritte im Bereich sozialwissenschaftlicher Medienforschungen haben zu einem immer differenzierteren Verständnis des Verhältnisses von Medienkommunikation und Medienrezeption geführt. Standen lange Zeit die Wirkungen der Medien im Vordergrund, führte in der Folge die Kritik der Medienwirkungsforschung zur Untersuchung der Rolle aktiv deutender Rezeptionsprozesse. Damit rücken auch Prozesse der Mediensozialisation in den Fokus der Medienforschungen. Dabei stellt sich nicht nur die Frage nach den inneren, subjektiven Voraussetzungen und Prozessen der Medienrezeption, sondern auch die Frage, ob und in welcher Weise Prozesse der Mediensozialisation als soziale Prozesse zu beschreiben sind und welches die sozialen Bedingungen der Medienrezeption sind. Die folgenden Untersuchungen schließen an diese Diskussionslage an, und sie richten sich dabei auf Prozesse des Lesens bzw. der Lesesozialisation. In diesem Bereich steht das Verhältnis zwischen Texten, Leseprozessen und den sozialen, kommunikativen Kontexten des Lesens zur Debatte. Diese sozialen Kontexte fassen wir mit Prozessen der Anschlusskommunikation. Prozesse der Anschlusskommunikation und der kommunikativen Aneignung von medialen Texten bilden ein neues, allgemeines Untersuchungsgebiet der sozialwissenschaftlichen Medienforschung: Nach der Entdeckung des aktiv deutenden Lesers bzw. Rezipienten wurde deutlich, dass Menschen Medien nicht nur allein, sondern auch zusammen mit anderen nutzen. Man spricht über das Gesehene, Gelesene und Gehörte, und diese Kommunikationen beeinflussen und bedingen den subjektiven Umgang mit Medien.
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Dieser Bedingungszusammenhang steht im Zentrum unserer Untersuchungen zu Prozessen des Lesens bzw. der Lesesozialisation1. Wie gehen Menschen mit Roman- und Gedichttexten um? Welche Vorgaben liefern die literarischen Texte? Legen sie bestimmte Deutungen nahe oder lassen sie weite Freiräume für verschiedene Interpretationen offen? Inwieweit passen sich die Leserinnen und Leser den Texten an, inwieweit lesen sie die Texte gegen den Strich? Und vor allem: Wie sprechen Menschen über das Gelesene und wie profitieren sie von diesen Gesprächen? Diese Gespräche können als rezeptionsbegleitende kommunikative Aneignungsprozesse und als an die Rezeption anschließende Kommunikationen beschrieben werden. Im Prozess der Lesesozialisation spielen diese Gespräche ebenso wie die Texte und die subjektiven Deutungen eine eigenständige Rolle: Wir rechnen also grundsätzlich mit drei unterschiedlichen Bedeutungsebenen in den Beziehungen zwischen Texten und Lesern. Anders als die Ebenen der Texte und die subjektiven Prozesse des Lesens wurde die Ebene der Anschlusskommunikation noch wenig beachtet, sie steht deshalb im Vordergrund der folgenden Untersuchungen. Diese Ebene wird mit empirischen Fallanalysen bearbeitet, die zeigen, wie mit Anschlusskommunikationen und kommunikativen Aneignungsprozessen die Mehrdeutigkeit literarischer Texte verarbeitet wird. Die empirischen Analysen werden zunächst theoretisch vorbereitet: Im zweiten Kapitel wird die oben kurz umrissene Untersuchungsperspektive in einen allgemeinen sozialisationstheoretischen Rahmen gestellt: Welche theoretische und methodische Rolle spielt die Anschlusskommunikation im Prozess der Mediensozialisation? Diese Frage wird aus Sicht des interaktionistischen Konstruktivismus gestellt, der am sozialisationstheoretischen Bezugsproblem des Verhältnisses von subjektiven und sozialen Strukturen ansetzt. Dabei werden zwei aktuelle sozialisationstheoretische Diskussionen zusammengeführt, die sich um eine Theorie der Selbstsozialisation und eine Theorie der Ko-Konstruktion drehen. Mit diesen Theorien wird die Debatte um das Verhältnis von subjektiven und sozialen Strukturen weitergeführt: Sie bilden die allgemeine sozialisationstheoretische Grundlage, auf der das Verhältnis subjektiver Rezeptionsprozesse und kommunikativer Aneignungen von Medienangebo1 Die vorliegende Untersuchung wurde teilweise von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Lesesozialisation in der Mediengesellschaft“ gefördert. 10
EINLEITUNG
ten untersucht werden kann. Die subjekttheoretischen Aspekte dieser Überlegungen werden im Rahmen einer Theorie der Ausbildung von Medienkompetenz im Hinblick auf sozialisationstheoretische Desiderate weiterentwickelt. Der Begriff der Medienkompetenz zielt vor allem auf subjektive Fähigkeiten des Umgangs mit Medien. Soziale, kommunikative Bedingungen des Umgangs mit Medien werden dabei vernachlässigt. Hinzutreten müssen deshalb Analysen kommunikationstheoretischer Aspekte der Medien- bzw. Lesesozialisation, also der Prozesse der Anschlusskommunikation und der kommunikativen Aneignung von Medienangeboten. Die große Bedeutung dieses Forschungsfeldes für eine Theorie der Mediensozialisation hat theoretische und methodische Gründe: In verschiedenen medientheoretischen Ansätzen wird deutlich, in welcher Weise Anschlusskommunikationen die sozialen Kontexte von Medienrezeptionsprozessen bilden. Der empirische Zugriff auf subjektive Rezeptionsprozesse erfolgt in der Regel anhand von Kommunikationen, also Beobachtungsprotokollen, Interviews etc., so dass das Verhältnis von subjektiven Rezeptionen und Anschlusskommunikationen eine methodisch begründete zentrale Rolle in einer Theorie der Medien- bzw. Lesesozialisation spielt. Im dritten Kapitel wird die eingangs umrissene Untersuchungsperspektive auf den Umgang mit literarischer Mehrdeutigkeit angewendet. Schriftliche Mitteilungen werden häufig anders verstanden, als sie vom Autor gemeint waren. Zum einen stimmen in der Regel Raum und Zeit bei der Textproduktion und der Textrezeption nicht überein. Manches, was in der face-to-face-Kommunikation als selbstverständliches Hintergrundwissen vorausgesetzt werden kann oder auf das sich mit einer einfachen Geste verweisen lässt, muss explizit vermerkt werden (Ong 1982). Sollte es dennoch zu Fehlinterpretationen kommen, werden – wie Schneider (1994) gezeigt hat – im mündlichen Wechselgespräch Auffassungsunterschiede rasch offenbar. Sprecher A erkennt aus der Antwort von Sprecher B, wie dieser ihn verstanden hat und kann Missverständnisse im Verlauf seines nächsten Turns bereinigen. Mündliche Kommunikation macht das (Miss-)Verstehen also weniger zu einem subjektiven Problem als zu einem Problem der Kommunikation, das mit kommunikativen Mitteln gelöst werden kann. Schriftliche Texte sind in vergleichbaren Situationen auf das schwerfälligere Hilfsmittel des erläuternden Kommentars angewiesen, den der Autor selbst oder ein Experte („Schriftgelehrter“) ab11
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geben kann (Raible 1995), oder eben auf die vorstehend erwähnten mündlichen Formen der Anschlusskommunikation. Von dieser Regel gibt es einige wenige Ausnahmen, die aber selbst wieder die Besonderheit der schriftlichen Kommunikation verdeutlichen. Zum einen kann man zwar mündlich gesprochene, aber konzeptionell schriftliche Texte finden (Koch und Österreicher 1985), die den von Schneider erwähnten Korrekturmechanismus vermissen lassen, z.B. weil Nachfragen nicht erlaubt sind. Ein klassisches Beispiel ist das Orakel von Delphi, das bekanntlich für schwerwiegende Missverständnisse offen war. Eine andere Ausnahme ist die psychotherapeutische Strategie der rhetischen Unschärfe (Wahmhoff 1983). Hierbei handelt es sich um eine bewusst erzeugte Bedeutungsoffenheit in den mündlichen Gesprächsbeiträgen von Therapeuten, die den Patienten auf seine eigene Person zurückverweisen soll. Der Zweifel des Patienten am „richtigen“ Verständnis der Äußerung seines Gegenübers ist in diesem Fall provoziert und erwünscht. Dem Nachteil der möglicherweise unangemessenen Interpretation von Schrifttexten steht ein vergleichbarer Vorteil gegenüber. Die Bedeutungsoffenheit von Schriftlichem nötigt den Leser, sich seines subjektiv geprägten Verständnisses bewusst zu werden. Er wird fragen: Wer bin ich, dass ich diesen Text so verstehe, beziehungsweise als wer wirst du erkennbar, wenn du diesen Text so verstehst? Hinter der spezifischen Textauffassung wird im Alltag gerne und oft eine spezifische Leserpersönlichkeit vermutet (und diese Annahme hat sich ja auch in der bekannten Untersuchung von Norman Holland (1975) verifizieren lassen). Ein Beispiel für den Schluss vom Leseverständnis auf die Person des Lesers wurde vor einiger Zeit in der Fernsehsendung „Das Literarische Quartett“ öffentlich, als der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki seiner Kollegin Sigrid Löffler sexuelle Verklemmtheit vorgeworfen hat, weil sie nicht damit einverstanden war, wie bestimmte Sujets in der von Reich-Ranicki ausgewählten Literatur abgehandelt wurden2. Beim Lesen werden die Selbstverständlichkeiten der eigenen oder fremden Lese-Perspektive thematisch und hinterfragbar, gerade so wie 2 Sigrid Löffler verließ das „Literarische Quartett“ wegen der sehr persönlichen Angriffe von Marcel Reich-Ranicki während eines Streits über die Qualitäten des Romans "Gefährliche Geliebte" von Haruki Murakami in der Sendung am 30. Juni 2000. Als späte Folge dieses Eklats wurde die Sendereihe am 14. Dezember 2001 mit der 77. Folge eingestellt.
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EINLEITUNG
bei der Übersetzung eines Textes in andere Sprachen die vertraute Art sich auszudrücken thematisiert und daher die Aufmerksamkeit auf das eigene Sprachsystem gelenkt wird (Goldschmidt 1999). Mehrdeutigkeit ist aus diesem Grund nicht von vornherein ein Mangel von Schriftlichkeit, sondern geradezu ein konstitutives Qualitätsmerkmal, wenn es sich um die Textsorte „Literatur“ handelt (Schmidt 1980). Die Polyvalenz eines literarischen Textes bis hin zur Unabschließbarkeit der Deutung (Marx 1993) steigert die Selbstaufmerksamkeit, sie kann vom Leser, je nach dessen literarischer Kompetenz, als lustvoll oder aber als bedrohliches Unvermögen erlebt werden. In dem Kapitel „Lesekompetenz und literarische Mehrdeutigkeit“ wird diesem Aspekt der Text-Leser-Beziehung weiter nachgegangen. Neben literaturwissenschaftlichen und literaturhistorischen Untersuchungen werden auch wahrnehmungspsychologische und psychoanalytische Forschungsergebnisse vorgestellt. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang, • ob Mehrdeutigkeit eine Eigenschaft von Texten oder von Lesestrategien ist, • ob Mehrdeutigkeit sowohl in hoch-literarischen als auch in trivialeren Texten vorkommt und ob sie in verschiedenen kulturellen Epochen unterschiedlich verbreitet war, • ob Mehrdeutigkeit an bestimmten quantifizierbaren Merkmalen der Wahrnehmungsgrundlage festgemacht werden kann, • ob literarische Mehrdeutigkeit von Lesern eher lustvoll oder eher verunsichernd erlebt wird, • ob kompetente Leser über Techniken verfügen, mit deren Hilfe sie Mehrdeutiges disambiguieren können, • und ob es notwendig ist, Grenzen der Interpretationsfreiheit festzulegen. Prozesse der kommunikativen Verhandlung der Mehrdeutigkeit literarischer Texte werden im vierten Kapitel mit zwei empirischen, strukturrekonstruktiven Fallanalysen bearbeitet: Es handelt sich um die Lektüre eines Romans und eines Gedichts. Die Fallanalysen richten sich nicht nur auf Prozesse der kommunikativen Aneignung des Romans und des Gedichts, sondern zuerst auf diese literarischen Texte selbst. So wird zunächst die Mehrdeutigkeit der literarischen Texte erfasst und dann in Beziehung zu Lektüreweisen und Lektüreerfahrungen gesetzt, wie sie in Gesprächen mit und unter Leserin13
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nen und Lesern zum Ausdruck kommen. Im ersten Schritt werden Teile des Romans „Morgen in der Schlacht denk an mich“ von Javier Marias sinnstrukturell mit der Methode der objektiven Hermeneutik rekonstruiert. Textoffenheit bzw. Mehrdeutigkeit kommen so als Merkmal des Romantextes in den Blick. Die sinnstrukturelle Ausleuchtung des Textes zeigt eine ausgeprägte Bedeutungsoffenheit: Diese Bedeutungsoffenheit wird im zweiten Schritt mit einer Reanalyse bereits vorliegenden Materials früherer Untersuchungen zu Prozessen des Lesens dieses Romans durch einige Leserinnen und Leser in Beziehung zu den dort erfassten und dokumentierten Rezeptionsweisen gesetzt. Dabei wird deutlich, dass hierbei tatsächlich Prozesse der kommunikativen Aneignung des Romantextes untersucht wurden: In den Interviews unterhielt sich die Forscherin mit den Rezipienten über deren Lektüreerfahrungen. Die Rekonstruktionen zeigen, dass auch ein vergleichsweise komplizierter und bedeutungsoffener Romantext Vorgaben liefert, an denen sich subjektive Lesarten ausrichten können. Diese Passung geht allerdings mit zum Teil sehr eigenständigen Umgangsweisen der Rezipienten mit dem Text einher. Auch die anschließende Fallanalyse des Gedichts „Abschied“ von Juan Ramon Jiménez im Band „Herz, stirb oder singe“ arbeitet die Mehrdeutigkeit des literarischen Textes heraus. Diese Rekonstruktionen werden mit Analysen einiger Gespräche in Beziehung gesetzt, in denen Leserinnen und Leser über ihr Verständnis dieses Gedichts Auskunft geben. Das Gedicht bietet unterschiedliche Möglichkeiten eigenständiger kommunikativer Aneignungsweisen: In einer eher distanzierten Aneignung finden sich die in der Fallanalyse des Textes rekonstruierten Mehrdeutigkeiten wieder. In einer eher persönlichen Aneignung wird das Gedicht in die eigene biografische Erfahrungswelt eingebaut: Das Gedicht gewinnt im Rahmen persönlicher Erfahrungen an Eindeutigkeit. Das vorletzte, fünfte Kapitel befasst sich mit dem Stellenwert der Anschlusskommunikation im Prozess der Mediensozialisation von Jugendlichen in der Schule. Hierzu wird eine Gesprächsanalyse zu den Aushandlungsprozessen in einer Schülergruppe über das angemessene Verständnis eines Gedichts präsentiert. Es wird deutlich, wie das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Lesestoff in der Anschlusskommunikation verknüpft wird mit dem Interesse an der Persönlichkeit des Mitschülers, wie also die Lese-Kommunikation auch unter den Bedingungen schulischen Lernens ihren „Sitz im Leben“ findet. Anschlusskommunikation kann eine sehr lustbetonte 14
EINLEITUNG
Tätigkeit sein. Die meisten Menschen gehen lieber mit ihren Freunden und Partnern ins Theater oder Kino als allein, und häufig planen sie im Anschluss an dieses Ereignis noch einen gemeinsamen Lokalbesuch ein, um sich über das Gesehene austauschen zu können. Aktuelle Bestseller werden häufiger gekauft und gelesen als Bestseller vom Vorjahr, denn nur jene eignen sich gut als Gesprächsgegenstand bei informellen Kontakten, weil man davon ausgehen kann, dass auch der Gesprächspartner in der letzten Zeit von dem betreffenden Werk gehört hat. Schließlich gibt es zu den Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt reichlich kommentierende Texte (also Möglichkeiten zur „Anschlussrezeption“ in Form von Rezensionen, Literatursendungen usw.). Mit ihrem Werbeslogan „Heute lesen, worüber man morgen spricht“ drückt die BILD-Zeitung aus, was in der Medienwissenschaft unter dem Titel „Agenda Setting Hypothesis“ häufig untersucht und bestätigt worden ist: Massenmedien bieten Gesprächsanlässe, Gesprächsinhalte und Positionen an, die sich im Gespräch verhandeln lassen. Anschlusskommunikation wird im Deutschunterricht gezielt zur Förderung der Lesekompetenz eingesetzt. Die Analyse zeigt, wie das Gespräch über ein vorgegebenes Gedicht dazu beiträgt, dessen Bedeutungsangebot in der Gruppe zu monosemieren. Dies geschieht regelmäßig im Schulunterricht. Auch in diesem Kontext gibt es natürlich den lustbetonten Austausch über die Lektüreinhalte, aber es kann auch geschehen, dass der pädagogische Rahmen die Redefreiheit und Redelust zu sehr beschneidet. Im abschließenden, sechsten Kapitel wird noch einmal zusammenfassend der Beitrag der Anschlusskommunikation zum Erwerb der Lesekompetenz in lebensgeschichtlicher Perspektive beleuchtet – vom Kleinkind, dem von den Eltern vorgelesen wird, bis hin zu Erwachsenen, die sich mit anderen über einen aktuellen Roman austauschen. Wichtige Hilfen bei der Datenerhebung und Manuskripterstellung haben wir durch Frau Dipl. Psych. Sanna Einsele, Herrn Benjamin Fauth und Frau Janina Strohmer erhalten. Wertvolle Unterstützung bei der Herstellung des Bandes haben Frau Sabine Adam, Herr Dipl. Soz. Christian Schulte sowie Herr Jan-Hendrik Passoth, M.A., geleistet. Wir bedanken uns herzlich.
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2 ANSCHLUSSKOMMUNIKATION IM RAHMEN M E D I E NS O Z I A L I S A T I O N
DER
2 . 1 A l l g em e in e s o z ia l is a t io n s t h eo r et is c h e Probleme Der Gegenstand Mediensozialisation ist in den umfassenden Zusammenhang von Gesellschafts-, Sozialisations- und Subjekttheorien eingebettet. In der Geschichte der Soziologie wurden vielfältige Antworten auf die zentrale Frage entwickelt, in welchem Verhältnis Subjekte und Gesellschaft stehen. Die traditionelle, bis heute in den Sozialisationstheorien dominierende Vorstellung des Verhältnisses von Subjekten und Sozialwelt kann mit Berger und Luckmann (1980, S. 54) folgendermaßen ausgedrückt werden: „Die Selbstproduktion des Menschen ist notwendig und immer eine gesellschaftliche Tat. Zusammen produzieren die Menschen eine menschliche Welt mit der ganzen Fülle ihrer sozio-kulturellen und psychologischen Gebilde.“
Dieses Wechselverhältnis von Subjekten und Sozialwelt kann mit zwei Annahmen beschrieben werden, die in den psychologischen und soziologischen Subjekt- und Sozialisationstheorien auf breite Zustimmung treffen: Die Annahme des Konstruktivismus besagt, dass Subjekte die Strukturen der Innen- und der Außenwelt in einem aktiven Konstruktionsprozess aufbauen. Damit sind allgemein in der Medienforschung und speziell auch im Bereich der Mediensozialisation einfache Medienwirkungsmodelle ausgeschlossen, insofern diese die aktiv vollzogenen Interpretationsleistungen der Rezipienten nicht berücksichtigen (vgl. Charlton 1997). Die Annahme des Interaktionismus besagt, dass Subjekte in einem interaktiven Wechselverhältnis mit der sozialen und natürlichen Außenwelt stehen.
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LESE-KOMMUNIKATION
Auf der Grundlage dieser beiden Annahmen sind vielfältige Forschungen seit langem damit beschäftigt, subjekt- und sozialisationstheoretische Aspekte miteinander zu verbinden: Immer wieder wurde die Frage verhandelt, in welchem Verhältnis intrasubjektive und äußere (soziale, kulturelle) Faktoren der individuellen Entwicklung zueinander stehen (vgl. Sutter 1999, 2003). Diese Frage stellt sich auch auf vielfältige Weise im Bereich der Mediensozialisation (vgl. Charlton 1997, S. 27ff.): Inwieweit werden die Subjekte durch Medien beeinflusst? Inwieweit bestehen Möglichkeiten der autonomen Aneignung von Medienangeboten? Werden wir durch Medien gesteuert, steuern wir selbst unseren Umgang mit Medien? Wie ist das Verhältnis von Fremd- und Selbstsozialisation im Umgang mit Medien? Dieses Problem ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass seit längerem kaum Fortschritte in der Verbindung von Sozialisations- und Gesellschaftstheorien zu verzeichnen sind: Seit dem nicht zu Ende geführten Versuch der Forschungsgruppe um Habermas, Sozialisation, soziale Evolution und Gesellschaftsanalyse zusammenzubinden (vgl. Döbert/Nunner-Winkler 1979; Habermas 1976), sind keine derart ambitionierten Projekte mehr in Angriff genommen worden (vgl. Sutter 1999a, S. 17ff.). Vielmehr haben sich gesellschafts- und sozialisationstheoretische Diskussionen voneinander entfernt: Ungeachtet gesellschaftstheoretischer Entwicklungen (z.B. in der Theorie sozialer Systeme) ruht die Sozialisationstheorie nach wie vor traditionellen Grundlagen auf, die sich mit Piaget der Konzeption von Subjekten als aktiven Konstrukteuren der Wirklichkeit und mit Mead der Vermittlung von Individuen und Gesellschaft als sozialisationstheoretischem Bezugsproblem verpflichtet fühlen (vgl. Hurrelmann/Ulich 1991; Grundmann 1999; Leu/Krappmann 1999). So gewinnt man insgesamt den Eindruck, dass innerhalb der Sozialisationstheorien die grundlagentheoretische Entwicklung stagniert (vgl. Sutter 2004): Zwar sind die Annahmen der Konstruktivität der Subjekte und des interaktiven Wechselverhältnisses von Subjekten und sozialer Umwelt allgemein und auch für die Theorien der Mediensozialisation (vgl. Charlton/Neumann 1990; Hurrelmann 1994) erkenntnisleitend. Trotz vermehrter Berührungspunkte (vgl. Hurrelmann/Ulich 1991a) befinden sich jedoch psychologische und soziologische Subjekt- und Sozialisationstheorien noch weitgehend in Gegenstellung zueinander.
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ANSCHLUSSKOMMUNIKATION
Kennzeichnend für diese Gegenstellung ist die Debatte um das Verhältnis von sozialer Konstitutionstheorie auf der Linie Vygotskys und dem entwicklungspsychologischen Konstruktivismus auf der Linie Piagets: Wenn man im Hinblick auf Prozesse der Mediensozialisation vor allem auf (kultur-)soziologische Bedingungen der Subjektentwicklung setzt (vgl. Oerter 1999), so steht man vor dem Problem, wie die Subjekte in ihrer Entwicklung auch tatsächlich von kulturellen Kontexten und Prozessen der sozialisatorischen Interaktion profitieren können (vgl. Sutter/Charlton 1994). Während den Theorien in der Tradition Piagets eine Zentrierung auf die aktiven Konstruktionsleistungen der Subjekte und eine Vernachlässigung der sozialen Bedingungen von Entwicklungsprozessen vorgehalten werden kann, erwecken soziale Konstitutionstheorien den Verdacht, die Subjekte aus dem Sozialisationsprozess austreiben zu wollen (vgl. Sutter 1999). In mindestens zwei Punkten bleiben diese Versuche ebenso unbefriedigend wie die Gegenstellung, die sie aufzulösen versuchen: Erstens kann man die Gegenstellung subjekt- und interaktionszentrierter Forschungstraditionen als Hinweis darauf nehmen, dass subjektive und soziale Konstruktionsprozesse tatsächlich eigenständig (wenn auch nicht isoliert voneinander) ablaufen. Dann aber wären die in traditionellen Konstitutionstheorien systematisch unterstellten Überschneidungsbereiche zwischen subjektiven und sozialen Prozessen erklärungsbedürftig. Dieser Erklärungsbedarf ist solange nicht gedeckt, als – zweitens – das damit verbundene konstitutionstheoretische Problem nicht aufgelöst werden kann, das aus den Vorgaben entsteht, die entweder auf der Seite der Subjekte oder auf der Seite der sozialisatorischen Interaktion eingeschleust werden (vgl. Sutter 1994). Nur wenn man Überschneidungsbereiche zwischen subjektiven und sozialen Prozessen behauptet, kann man soziale Entwicklungen auf subjektive Entwicklungsantriebe oder umgekehrt subjektive Entwicklungen auf soziale Entwicklungsantriebe zurückführen. Nur dann vermögen Prozesse in einem Bereich auf Prozesse im anderen Bereich direkt einzuwirken. Das konstitutive Verhältnis von subjektiven Konstruktionen und sozialisatorischen Interaktionen kann jedoch nicht einseitig von der subjektiven oder der sozialen Seite her konzipiert werden: Stattdessen kann gezeigt werden, wie die Prozesse auf diesen beiden Seiten eigenständig verlaufen und zugleich diese beiden Seiten auf der Ebene der Strukturbildung voneinander abhängen. Die Verbindung des entwicklungspsycholo19
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gischen Konstruktivismus mit einer Theorie der sozialisatorischen Interaktion bildet die zentrale Aufgabe des interaktionistischen Konstruktivismus, der den weiteren Überlegungen zugrunde liegt: Er verknüpft die Annahmen des Konstruktivismus und des Interaktionismus (vgl. Sutter 1999a). Dabei können zwei aktuelle Diskussionen zusammengeführt werden, die sich um eine Theorie der Selbstsozialisation und eine Theorie der Ko-Konstruktion drehen (vgl. Sutter 2004a). Sie sollen im Folgenden erörtert und im Bereich der Mediensozialisation umgesetzt werden. Mit den Theorien der Ko-Konstruktion und Selbstsozialisation werden im Folgenden zunächst aktuelle Debatten um das Verhältnis von subjektiven und sozialen Prozessen und Strukturen aufgenommen und aus der Sicht des interaktionistischen Konstruktivismus beleuchtet (2.2 und 2.3). Die subjekttheoretischen Aspekte dieser Überlegungen werden im Rahmen einer Theorie der Ausbildung von Medienkompetenz im Hinblick auf sozialisationstheoretische Desiderate weiterentwickelt (2.4). An diese Desiderate anknüpfend werden kommunikations- und interaktionstheoretische Aspekte der Mediensozialisation erörtert: Sie können an ein relativ neues Forschungsfeld angeschlossen werden, auf dem Prozesse der Anschlusskommunikation und der kommunikativen Aneignung von Medienangeboten untersucht werden. Die große Bedeutung dieses Forschungsfeldes für eine Theorie der Mediensozialisation hat theoretische und methodische Gründe: In verschiedenen medientheoretischen Ansätzen wird deutlich, dass Anschlusskommunikationen sowohl Schaltstellen zwischen Medienangeboten und subjektiven Rezeptionsprozessen als auch die sozialen Kontexte von Mediensozialisationsprozessen bilden. Der empirische Zugriff auf subjektive Rezeptionsprozesse erfolgt in der Regel anhand von Kommunikationen, also Beobachtungsprotokollen, Interviews etc., so dass das Verhältnis von subjektiven Rezeptionen und Anschlusskommunikationen eine methodisch begründete zentrale Rolle in einer Theorie der Medien- bzw. Lesesozialisation spielt (2.5).
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ANSCHLUSSKOMMUNIKATION
2 . 2 K o - K o ns t r u k t io n s u b j ek t iv er u nd s o z i a l er S t r uk t u r e n Der in den letzten Jahren im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Psychologie eingeführte Begriff der Ko-Konstruktion (vgl. Valsiner et al. 1997) verspricht, den entwicklungspsychologischen Konstruktivismus mit soziologischen Perspektiven zu verbinden. Damit könnte die Gegenstellung subjekt- und interaktionszentrierter Erklärungsstrategien überwunden und in ein wechselseitiges Ergänzungsverhältnis überführt werden. Tatsächlich kann der Begriff der Ko-Konstruktion an beide Forschungstraditionen angeschlossen werden: Bereits Piaget (1982, S. 23) hat darauf hingewiesen, dass von einer engen Beziehung zwischen individuellen Operationen und interaktiven Kooperationen auszugehen ist. Auf der Linie einer Theorie der Ko-Konstruktion entwickelt Piaget (1975, S. 180) die Vorstellung, dass subjektive Operationen, durchgeführt im Umgang mit anderen Personen, als Ko-Operationen begriffen werden können. Somit wird die Unterscheidung zwischen der Koordination individueller und interindividueller Aktionen irrelevant, weil „[…] die allgemeine Koordination der Aktionen, die den funktionellen Kern der Operationen auszeichnet, sowohl die interindividuellen als auch die intraindividuellen Aktionen umfasst, so dass die Frage sinnlos wird, ob die kognitive Kooperation (oder Kooperationen) die individuellen Operationen erzeugt oder umgekehrt.“ (Piaget/Inhelder 1993, S. 118)
Damit stellt sich auch nicht länger die Frage, ob die Subjektentwicklung entweder von der individuellen Konstruktivität oder von sozialen Interaktionen her zu erklären ist. Vielmehr besteht eine Identität „[…] zwischen intraindividuellen Operationen und den interindividuellen Operationen, die Ko-operationen bilden im genauen und quasi-ethymologischen Sinn des Wortes.“ (Piaget 1982, S. 23)
Eine Theorie subjektiver Konstruktionen ist dann immer auch zugleich eine Theorie sozialer Ko-Konstruktionen und umgekehrt. Im Licht einer Theorie der Ko-Operation verliert die Gegenstellung zwischen subjekt- und interaktionstheoretischen Sichtweisen an Relevanz.
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Neben dem entwicklungspsychologischen Konstruktivismus Piagets kann eine Theorie der Ko-Konstruktion auch in die Theorietraditionen des sozialen Konstruktivismus und der sozialen Konstitutionstheorie gestellt werden: Sie behandeln subjektive Konstruktionen im Kontext sozialer Beziehungen als Ko-Konstruktionen (vgl. Bruner/Haste 1987; Furth 1990). Wie James Youniss (1994, S. 35) hervorhebt, ko-konstruieren insbesondere Gleichaltrige in gegenseitigen Beziehungen sowohl die Regeln dieser Beziehungen als auch ihr gemeinsam geteiltes Wissen. Mehr noch: Ko-konstruiert wird nicht nur eine gemeinsame soziale Wirklichkeit, sondern auch die Fähigkeit der interaktiven Aushandlung dieser sozialen Wirklichkeit (vgl. Krappmann/Oswald 1992, S. 88). Im Hintergrund dieser Vorstellungen von Ko-Konstruktion sind Theorien sozialer Konstruktionen in der Tradition von George H. Mead und Lew Vygotsky zu sehen (vgl. dazu Sutter 1999a, S. 130ff.): Hier sind vor allem die Theorien sozialer Rollenübernahme und der „zone of proximal development“ bei Mead (1973) und Vygotsky (1978, S. 86) zu nennen3. In der Soziologie schließen hier Jürgen Habermas‘ (1983) Theorie sozialer Handlungskoordinationen und Ulrich Oevermanns (1979) Theorie sozialisatorischer Interaktionen an. Sie explizieren die sozialen Kontexte oder – noch weitgehender – die sozialen Voraussetzungen und Antriebe der Subjektbildung. Die zentrale konstitutionstheoretische Frage lautet dabei, wie die Nachwachsenden von den beschriebenen sozialen Kontexten und sozialen Interaktionsprozessen auch tatsächlich in ihrer Entwicklung profitieren können. Um diese Frage kreisen weitere der KoKonstruktion nahestehende Begriffe: So schlägt Jerome Bruner (1985) hier eine Erklärung über Prozesse des „scaffolding“ vor. Damit bezeichnet er die Unterstützungsleistungen kompetenter Interaktionspartner gegenüber dem Kind. Diese Prozesse umfassen Beiträge der sorgenden Bezugspersonen bzw. kompetenteren peers, die die zunächst unvollständigen kindlichen Handlungen in den sozialen Interaktionen ergänzen. Durch die Ergänzungen wird es dem Kind möglich, an einer sozialen Praxis teilzunehmen, die seinen Entwicklungsstand strukturell übersteigt. Einerseits bietet diese 3 Die „zone of proximal development“ bezeichnet „…the distance between the actual development level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers.“ (ebda.) 22
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Teilnahme Gelegenheiten, neue soziale Interaktionserfahrungen zu machen. Andererseits müssen die Nachwachsenden auch aktive Beiträge und Selektionsleistungen liefern, damit das interaktiv erzeugte Entwicklungspotenzial an die bislang entwickelten Subjektstrukturen angekoppelt werden kann. Die Kinder wählen aus den Interaktionsbeiträgen der kompetenten Bezugspersonen das aus, was sie bewältigen können (vgl. O’Connell/Bretherton 1984). Die Entwicklung sozialer Handlungsfähigkeit beginnt mit einem starken Gefälle der Interaktionsbeiträge von Mutter und Kind: In der „participatory interaction“ des Kindes mit einem kompetenteren, steuernden Interaktionspartner organisiert zunächst die sorgende Bezugsperson das interaktive Geschehen, und das Kind wächst schrittweise in die ihm zugewiesenen Rollen hinein und erwirbt die Fähigkeit, den Ablauf der sozialen Handlungen (z.B. von Spielen) zu gestalten (vgl. Nelson 1986; French 1985). Mittlerweile liegt eine Fülle von Begriffen vor, die soziale und kulturelle Kontexte der individuellen Entwicklung beschreiben (zum Überblick vgl. Rogoff 1998). Trotz dieser Versuche, strukturelle Zusammenhänge zwischen sozialen Interaktionen und subjektiven Handlungsfähigkeiten zu klären, bleibt doch offen, wie und warum die Kinder neue, sozial konstituierte Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten erschließen können: An diesem Problem muss auch der Begriff der Ko-Konstruktion ansetzen, d.h. er muss der prozessualen Eigenständigkeit und strukturellen Abhängigkeit von Subjekten und sozialen Interaktionen gerecht werden. Dies ist bislang noch nicht hinreichend gelungen: Zunächst kann die Einbettung subjektiver Konstruktionen in Kontexte sozialer Beziehungen ganz allgemein als Ko-Konstruktion behandelt werden (vgl. Bruner/Haste 1987; Furth 1990). Die Theorie des sozialen Konstruktivismus beschreibt mit dem Begriff der Ko-Konstruktion Prozesse des wechselseitigen sozialen Verstehens: „Im Gegensatz zur bloßen Illusion von Wechselseitigkeit führen Interaktionen, die auf Reziprozität gründen, zu geteiltem Wissen. Tatsächlich kokonstruieren Gleichaltrige die Regeln und Prozeduren, die zum Kern ihrer Beziehung werden.“ (Youniss 1994, S. 35)
Neben der Idee der Ko-Operation, die Differenzen zwischen individuellen und sozialen Konstruktionen einebnet, ist auch die These auf Piaget zurückzuführen, dass die Praxis sozialer Kooperation die
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Subjektentwicklung vorantreibt4 systematisch wird auf dieser Linie die Einheit subjektiver und sozialer Konstruktionen betont: „Die um die Fortsetzung ihrer Interaktion bemühten Kinder handeln fast ständig die Grundlagen ihrer Interaktion aus […] Kinder ‚konstruieren dabei zweierlei: zum einen die geteilte soziale Realität, zugleich aber auch die Kompetenzen, die zum Aushandeln dieser Realität und Handeln in dieser Realität erforderlich sind.“ (Krappmann/Oswald 1992, S. 88)
Die sozialen Bedingungen der Subjektbildung und subjektive Konstruktionsprozesse werden miteinander vermischt. Die prozessuale Eigenständigkeit und strukturelle wechselseitige Abhängigkeit subjektiver und sozialer Konstruktionen können nicht hinreichend auseinander gehalten werden. Die Position des interaktionistischen Konstruktivismus stellt, wie schon kurz dargelegt, das Verhältnis zwischen subjektiven und sozialen Prozessen in den Mittelpunkt. Mit dieser Problemstellung rückt sie einer „ko-konstruktivistischen Theorie“ (Vorderer/Valsiner 1999) nahe. Der interaktionistische Konstruktivismus und der „KoKonstruktivismus“ (ebda.) sind bestrebt, zentrale strukturgenetische Forschungstraditionen (v.a. von Piaget und Vygotsky) zu verbinden. Vor allem soll der Begriff der Ko-Konstruktion die Psychologie mehr als bisher für die sozialen Kontexte subjektiver Konstruktionen sensibilisieren (vgl. Valsiner et al. 1997). Der interaktionistische Konstruktivismus betont darüber hinaus die jeweilige Eigenständigkeit sozialer und psychischer Prozesse, die gleichwohl in einem konstitutionslogischen Abhängigkeitsverhältnis auf struktureller Ebene stehen. Damit kann das Verhältnis von subjektiven und sozialen Strukturen genauer spezifiziert werden, als dies auch das Modell der Ko-Konstruktion bislang erkennen lässt. Dieses Modell verknüpft die persönliche und die gesellschaftliche Ebene im Sinne bi-direktionaler Transformationen, wobei von einer begrenzten Unabhängigkeit dieser Ebenen ausgegangen wird (vgl. Vorderer/Valsiner 1999, S. 138ff.). Definitorische Unschärfen und nicht näher ausgeleuchtete Überschneidungsbereiche zwischen Konstruktionen
4 Piaget (1973) hat diesen Zusammenhang im Bereich der Entwicklung moralischen Urteilens rekonstruiert: Zuerst erwerben die Kinder die Fähigkeit der praktischen Befolgung von Regeln, bevor sie die Gründe und die Gültigkeit diesel Regeln beurteilen können. 24
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und Ko-Konstruktionen werden sichtbar, wenn Ko-Konstruktionen als subjektive Prozesse vorgestellt werden (vgl. ebda., S. 140).
2 . 3 S e l b s t s o z ia l i s a t io n i m V er hä l t ni s p s y c h is c h er u nd s o z i a l er P r o z es s e Die Einsicht in bi-direktionale Prozesse, in denen nicht einseitig die Nachwachsenden von den kompetenten Interaktionspartnern beeinflusst werden, sondern wechselseitige Beeinflussungen der Subjekte stattfinden, erscheint höchst plausibel, muss aber genauer bestimmt werden. Diese Bestimmung kann auf der Subjektseite mit dem Begriff der Selbstsozialisation vorangetrieben werden. Man kann den Begriff der Selbstsozialisation, wenn er nur auf eine wie auch immer gefasste Eigenständigkeit von Subjekten abzielt, in vielfältige Kontexte der bisherigen Sozialisationsforschung stellen (vgl. Dollase 1999; Veith 2002; Zinnecker 2000). Gerade im Bereich der Mediensozialisation kann aufgrund sozialer Wandlungsprozesse darauf verwiesen werden, dass Nachwachsende beim Erlernen des Umgangs mit Medien zunehmend auf sich selbst gestellt sind und sich deshalb zunehmend selbst sozialisieren (vgl. Fromme et al. 1999). Aber auch allgemein wachsen die Möglichkeiten und Anforderungen, den Aufbau der eigenen Persönlichkeit selbst zu gestalten (vgl. K. Hurrelmann 2002). Wenn man entwicklungs- und sozialisationstheoretisch diesen Wandlungen gerecht zu werden versucht, geht es gerade nicht darum, abermals Selbstsozialisation gegen Fremdsozialisation auszuspielen und damit – wie etwa Lothar Krappmann (2002) zu bedenken gibt – die alten Fehler subjektzentrierter Theorien zu wiederholen. Eine Theorie der Selbstsozialisation bildet einen zentralen Baustein einer konstruktivistischen Sozialisationsforschung, wobei sie sowohl an ältere als auch aktuelle konstruktivistische Theorien angebunden werden kann: Denken wir etwa an den strukturgenetischen Konstruktivismus Piagets, der auf die selbstregulativen intrasubjektiven Prozesse fokussiert; eine Theorie der Selbstsozialisation formuliert auch die soziologische Systemtheorie, die auf die selbstreferentielle Geschlossenheit des Aufbaus psychischer Systeme verweist (vgl. Luhmann 1984, S. 286ff.). Diese Geschlossenheit spricht ebenso wenig wie die Entwicklungstheorie Piagets (insbesondere in der Moraluntersuchung: vgl. Piaget 1973) gegen eine 25
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Teilnahme an Kommunikationen als konstitutive Bedingung der Subjektbildung. Nur greifen dabei weder subjektive in soziale noch soziale in subjektive Prozesse direkt ein. Sieht man im Sinne einer konstruktivistischen Sozialisationsforschung, wie sie in der Position des interaktionistischen Konstruktivismus entfaltet wird, die jeweilige Autonomie subjektiver und sozialer Prozesse, so wird zweierlei deutlich (vgl. dazu Sutter 1999a): 1. Die Entwicklungsvoraussetzungen bzw. Vorgaben an sozialen Handlungsfähigkeiten auf der Seite der Nachwachsenden können weitgehend minimiert werden. Es muss also keine kommunikative Fähigkeit der Teilnahme an sozialen Beziehungen postuliert werden, von der unklar bleibt, woher sie kommen soll. 2. Diese Sicht der Dinge macht die wechselseitige prozessuale Unabhängigkeit von Selbstsozialisation und sozialisatorischen Interaktionen plausibel. Gerade in den frühen Phasen der Ontogenese ist nicht zu sehen, wie die kommunikativen Prozesse von den Handlungskompetenzen der Nachwachsenden abhängig gemacht werden können. Im Gegenteil: Die Pointe frühkindlicher Sozialisationsprozesse ist die Unabhängigkeit kommunikativer Prozesse von den Fähigkeiten der Nachwachsenden, die sich dank dieses Umstandes nach und nach ausbilden können. Für diese Unabhängigkeit gibt es vielfache Belege (vgl. Sutter 1999): Für die frühen Sozialisationsprozesse genügt es zunächst, wenn die bedeutungszuweisenden Handlungen der kompetenten Bezugspersonen eine komplette soziale Interaktionsstruktur etablieren. Ein gutes Beispiel hierfür sind die von Bruner (1987) in verschiedenen Bereichen sozialer Entwicklung empirisch untersuchten Interaktionsformate. Sie bilden konstant wiederkehrende Strukturierungen bestimmter Handlungsabläufe (z.B. Geben-Nehmen-Spiele), die schrittweise eingeübt und konventionalisiert werden. Besonders augenfällig ist die eigenständige kommunikative Organisation des Benennens im Kontext des gemeinsamen Buchlesens von Mutter und Kind, das in vier Äußerungstypen gegliedert ist (vgl. ebda., S. 64ff.): Aufruf, Frage, Bezeichnung, Rückmeldung; z.B.: „Schau, was ist das? Das ist ein X. Ja.“ Dieses „Buch-Lese-Format“ führt den Nachwachsenden auf markante Weise die kooperative Erzeugung der Struktur einer sozialen Handlung vor, und zwar auch unter der minimalen Bedingung, dass das Kind sich nur mit seiner Aufmerksamkeit beteiligt und ansonsten passiv bleibt. Entscheidend ist, dass die Kommunikationsprozesse Bedeutungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, aus denen die Subjekte konstruktiv bestimmte 26
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Bedeutungen auswählen können. Freilich passen die sorgenden Bezugspersonen ihre Handlungen den sozialen Handlungsfähigkeiten der Nachwachsenden an, wodurch – etwa im Sinne von Vygotskys Zone der nächstfolgenden Entwicklung – neue Entwicklungsmöglichkeiten entstehen. So setzt das Interaktionsformat des Buchlesens von Mutter und Kind nur voraus, dass das Lesen eine gewisse Aufmerksamkeit beim Kind erweckt. Ansonsten sorgt das Interaktionsformat dafür, dass sich das Kind regelmäßig wiederkehrende neue Erfahrungen und Routinen nach Maßgabe eigener Fähigkeiten potenziell aneignen kann. Die Position des interaktionistischen Konstruktivismus versucht, die jeweils in den Traditionen von Piaget und Vygotsky rekonstruierte Eigenständigkeit subjektiver und sozialer Prozesse aufzunehmen. Dabei ist von entscheidender Bedeutung, subjektive und soziale Prozesse klar erkennbar zu differenzieren: Es kann sich gerade nicht um ein Zusammenwirken unterschiedlicher subjektiver Konstruktionen in dem Sinne handeln, dass Ko-Konstruktion (und sei es als Zusammenwirken mehrerer Selbstsozialisationsprozesse) zugleich einen subjektiven und einen sozialen Prozess darstellt. Dagegen kann mit einem Modell der Ko-Konstruktion ähnlich wie mit den anderen genannten sozial-konstruktivistischen Begriffen die Angewiesenheit subjektiver Konstruktionen auf soziale Interaktionen verdeutlicht werden.
2.4 Zur Ausbildung von Medienkompetenz Die an den Schlüsselbegriffen der Ko-Konstruktion und Selbstsozialisation verdeutlichte allgemeine sozialisationstheoretische Position des interaktionistischen Konstruktivismus kann im Bereich der Mediensozialisation umgesetzt werden: Auch hier finden wir das Verhältnis subjektiver und sozialer Prozesse als zentrales Bezugsproblem.5 Es lässt sich als Verhältnis der subjektiven Rezeption von Medien einerseits und der Anschlusskommunikation bzw. kommunikativen Aneignung von Medien andererseits genauer fassen. Auch hier 5
Es kommt mit der verbreiteten Unterscheidung von Selbst- und Fremdsozialisation im Umgang mit Medien (vgl. Süss 2004) nicht zur Deckung. Die Frage nach autonomen Gestaltungsmöglichkeiten und äußeren Anpassungszwängen im Umgang der Subjekte mit Medien muss eigenständig bearbeitet werden. 27
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müssten sich prozessuale Eigenständigkeit und strukturelle Abhängigkeit dieser beiden Bereiche zeigen lassen. Die Fähigkeit des subjektiven Umgangs mit Medien, die im Folgenden zunächst kurz erörtert wird, wird üblicherweise mit dem mittlerweile breit verwendeten Begriff der Medienkompetenz beschrieben. Dagegen sind die Prozesse der kommunikativen Aneignung und Weiterverarbeitung von Medienangeboten, die unseren zentralen Gegenstandsbereich bilden, noch nicht so breit beachtet worden. Seit der stark wachsende Einfluss der Medien auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche und die Gesellschaftsmitglieder thematisiert wird, ist der Begriff der Medienkompetenz zum vielfach verwendeten Schlagwort geworden (zum Überblick vgl. Gapski 2001; Groeben/Hurrelmann 2002). Der kompetente Umgang mit Medien kann verschiedene Bedeutungen haben (vgl. Baacke 1999; Theunert 1999): Medienkompetenz kann bedeuten, Medienangebote aller Art zu verstehen. Es kann sich um die Beherrschung von Mediengeräten (Kassettenrekorder, Spielkonsolen, Fernseher) handeln. Medienkompetenz kann sich auf die Verwendung von Medien in Beruf, Schule und Freizeit beziehen. Medienkompetenz kann sich auf die Herstellung und Gestaltung von Medien beziehen. Medienkompetenz kann die Beurteilung und Bewertung von Medien inklusive ihrer Herstellung und Organisation meinen. Passend zu den vorlaufenden allgemeinen sozialisationstheoretischen Überlegungen werden wir die Frage in den Vordergrund rücken, wie sich kognitive und soziale Fähigkeiten des Verstehens und des Umgangs mit Medien – gefasst als Medienkompetenz – ausbilden. Während der breit verwendbare Begriff der Medienkompetenz je nach Problemstellung und Kontext spezifiziert werden muss, weist der übergeordnete Begriff der Kompetenz eine längere Geschichte auf, in der er klar bestimmt wurde (vgl. Sutter/Charlton 2002). Dabei fällt auf, dass er in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich verwendet wurde: a) Der Begriff der Kompetenz war zunächst im Bereich der Sprachwissenschaft und der Spracherwerbstheorie bedeutsam. In der Linguistik Noam Chomskys (1972) wird mit Sprachkompetenz das intuitive Regelwissen bezeichnet, über das die Subjekte verfügen. Kinder erschließen die Regeln ihrer Muttersprache mit Hilfe von Hypothesenbildungs- und Hypothesenbewertungsverfahren sowie angeborenen sprachlichen Universalien (vgl. Szagun 1993, S. 76ff.). Im Hinblick auf entwicklungs- und sozialisationstheoretische Fragen sind die postulierten angeborenen 28
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sprachlichen Universalien zu hinterfragen: Zwar legen unterschiedliche Kompetenztheorien strukturelle Universalien zugrunde, aber die Frage, ob die aufgefundenen bzw. vermuteten Universalien angeboren oder erworben sind, trennt nativistische und konstruktivistische Versionen der Kompetenztheorie. b) In Abhebung vonChomskys Nativismus versuchen konstruktivistische Kompetenztheorien, den Erwerb allgemeiner Subjektstrukturen zu rekonstruieren. Im Anschluss an die kognitive Entwicklungstheorie Piagets entfaltet Lawrence Kohlberg (1984) die Entwicklungstheorie der Moral als Kompetenztheorie, in der allgemeine Strukturen kognitiver und sozialer Kompetenzen beschrieben werden. Die Universalität der Kompetenzstrukturen wird vor allem an der relativ umweltunabhängigen Selbstorganisation der Subjekte festgemacht. Bis dahin fehlt eine sozialisationstheoretische Anbindung der universalistischen Kompetenztheorien an genuin soziale Konstitutionsbedingungen. c) Diese Anbindung wird in der Folge auf der sozialisationstheoretischen Ebene einer Theorie der Bildung von Ich-Identität vorangetrieben, die mit psychologischen Theorien kognitiver, sozialer und moralischer Entwicklung verknüpft wird (vgl. Döbert/Nummer-Winkler 1979; Döbert et al. 1980): Identität in den verschiedenen Kompetenzbereichen bilden die Subjekte in sozialen Interaktionen aus. Dieser Zusammenhang wurde als Rollenkompetenz, Interaktionskompetenz oder aber auch kommunikativer Kompetenz beschrieben. Subjekte bilden ihre Kompetenzen in Prozessen der Beteiligung an sozialen Interaktionen aus: kommunikative Kompetenz kann deshalb als eine allgemeine subjektive Grundqualifikation gelten. In den Kompetenztheorien stellt sich die gleiche Problemlage wie auf der oben erörterten allgemeinen Ebene der Entwicklungsund Sozialisationstheorien: Die subjektiven und sozialen Bedingungszusammenhänge sind nicht umfassend konzipiert und ihr Verhältnis zueinander ist ungeklärt (vgl. Sutter/Charlton 2002, S. 135ff.). Dies liegt vor allem an zwei Umständen: Erstens ist der Begriff der Kompetenz ursprünglich nativistisch, synchron und individuell angelegt und eignet sich daher nicht für eine Übernahme in sozialisationstheoretische Forschungsfelder. Zweitens können weder subjektive Erwerbsstrategien noch soziale Entwicklungsbedingungen der Subjektbildung kompetenztheoretisch untersucht werden. Den ersten Punkt müsste eine Theorie der Medienkompetenz dadurch bearbeiten, dass sie angibt, welchen von der ursprüng29
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lichen Bedeutung abweichenden Begriff der Kompetenz sie jeweils verwendet. Der zweite Punkt führt zu einem zentralen Defizit kompetenztheoretischer Entwicklungsmodelle, die im Bereich der Kognition, des sozialen Verstehens und der Moral vor allem Entwicklungsresultate und keine Entwicklungsprozesse und konstitutiven Entwicklungsbedingungen beschreiben (vgl. Sutter 1994). Aus diesen Überlegungen ergeben sich zunächst zentrale Desiderate für die sozialisationstheoretische Verwendung des Begriffs Medienkompetenz: Konstruktivistische Theorien der Medienkompetenz müssen im Kontext der Begriffsgeschichte ihren Kompetenzbegriff klären, keinesfalls kann Medienkompetenz als wohlfeiles Schlagwort eingesetzt werden. Vor allem aber sind nicht nur die Entwicklungsresulate als Medienkompetenzen zu bestimmen, also welches Verständnis von Medienangeboten und welches Geschick im Umgang mit Medien die Rezipienten jeweils erkennen lassen. Darüber hinaus geht es um die prozessuale Dynamik und die sozialen Bedingungen der Ausbildung von Medienkompetenz. Für die Ausbildung von Medienkompetenz im Sinne des Verstehens von Medienangeboten könnte dies folgendes bedeuten: Medienangebote zu verstehen ist ein Prozess, der insbesondere die Fähigkeit voraussetzt, Personen und soziale Beziehungen zu verstehen. Diese Fähigkeit wiederum wird als sozial-kognitive Kompetenz beschrieben. Subjekte verstehen Medienangebote also im Rahmen ihrer jeweils entwickelten Stufen sozialer Kognition (vgl. Sutter 1999b). In der Abfolge dieser Stufen werden Handlungsperspektiven ausdifferenziert und koordiniert, und es werden grundlegende Kategorien wie Intentionalität, Verantwortung, soziale Normen usw. erworben. Aus kompetenztheoretischer Sicht kann man also einerseits durchaus einen stufenspezifischen, altersabhängigen Umgang von Subjekten mit Medienangeboten beschreiben (vgl. auch Moser 1999, S. 143ff.; Theunert 1999). Auf dieser Grundlage kann man andererseits auch eine stufenspezifische, altersabhängige Angemessenheit medialer Angebote rekonstruieren: So enthalten Mediengeschichten verschiedene Elemente wie Gut und Böse, Schuld, Verantwortung, Absicht usw., die von Kindern nur nach Maßgabe schon entwickelter kognitiver und sozialer Kompetenzen verstanden werden können. Dies kann etwa im Bereich des Verständnisses von Fernsehsendungen gezeigt werden (vgl. Sutter/Charlton 2002, S. 142f.). Kleine Kinder verstehen Fernsehen als ein Fenster zum Wohnzimmer von kleinen Fernsehmännchen. Dies ist ein konkretistisches und realis30
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tisches Verständnis von Fernsehen ohne Abstraktionsleistungen. Später werden Fernsehbilder als Bilder aus einer fernen Welt und zunehmend auch als Inszenierungen begriffen: Es wird die Differenz zwischen realistischen und fiktionalen Darbietungen erworben. Dieser Erwerbsprozess beinhaltet bestimmte Dezentrierungs- und Abstraktionsleistungen. Sendungen werden erst als absichtslos beobachtete ferne Welt und dann als absichtsvoll gezeigte und inszenierte Welt verstanden. Diese Ausdifferenzierung weiterer Ebenen fiktionaler, inszenierter, strategisch eingesetzter Wirklichkeitskonstruktionen setzt sich bis in das Erwachsenenalter fort. Im Rahmen solcher strukturanalytischer Untersuchungen kommen mit dem Begriff der Medienkompetenz jedoch nur Entwicklungsresultate und die Fähigkeiten des individuellen Umgangs von Subjekten mit Medienangeboten in den Blick. Dieser Forschungsbereich muss deshalb durch Untersuchungen des Verlaufs von Rezeptionsprozessen ergänzt werden (vgl. Charlton/Neumann-Braun 1992). Dabei wird deutlich, wie die jeweils ausgebildeten Subjektstrukturen das Einfallstor bilden, durch das die Medienangebote passieren müssen: Überkomplexe Inszenierungen von Figuren und Geschichten können von den Subjekten bei noch nicht ausreichenden kognitiven und sozialen Fähigkeiten umgedeutet oder ignoriert werden. Zudem werden Medienangebote nach Maßgabe eigener Themen und Bedürfnisse rezipiert. Diese Zusammenhänge können nur in einem genauen Modell von Rezeptionsprozessen untersucht werden (vgl. ebda., S. 81ff.). So haben Subjekte im Verlauf ihrer Entwicklung und in unterschiedlichen Lebenslagen bestimmte Themen, die besonders wichtig, interessant oder auch schwierig sind: Subjekte sind in der Auswahl von und im Umgang mit Medienangeboten thematisch voreingenommen. Weiterhin verfügen Subjekte über Strategien der Rezeptionssteuerung, mit denen sie den Umgang mit Medienangeboten organisieren können. Schließlich werden Medienangebote in Beziehung zu eigenen Lebenslagen, Alltagserfahrungen, Problemen und Herausforderungen gesetzt. Man kann die Ausbildung von Medienkompetenz mit dem strukturgenetischen Konstruktivismus Piagets als individuellen Prozess der Dezentrierung, d.h. Differenzierung und Koordination von Perspektiven begreifen. Verschiedene Aspekte und Zusammenhänge der Medienangebote können von den Subjekten nach Kriterien wie Kohärenz und Widerspruch reflektiert werden. Zudem sind in Zeiten beschleunigter medialer Entwicklungen Kinder und Jugend31
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liche generell zunehmend auf sich selbst gestellt. Aus theoretischen und empirischen Gründen ist die Dynamik der Selbstsozialisation bei der Ausbildung von Medienkompetenz nicht zu unterschätzen. Ebenso ist allerdings auf kommunikative Aneignungsprozesse von Medienangeboten zu achten (vgl. Buckingham 1993; Sutter 2002). Die Frage, wie die Teilnahme an Kommunikationen, die den Mediengebrauch begleiten bzw. an ihn anschließen, die subjektive Rezeption von Medienangeboten beeinflusst, weist über den Begriff der Medienkompetenz hinaus.
2.5 Anschlusskommunikation und kommunikative Aneignung im Prozess der Mediensozialisation Eine konstruktivistische Theorie der Mediensozialisation bewegt sich, wie unsere Fallanalysen weiter unten deutlich machen, mindestens in drei Bereichen: 1. Auf der Seite der Medienkommunikation liegt der Bereich der Sinnstrukturen der Medienangebote. Hier bilden sich die kommunikativen, sozial konstruierten Bedeutungsmöglichkeiten der Medienangebote, die reichhaltiger und vielfältiger als die subjektiven Rezeptionen sind, die aus diesen Bedeutungsmöglichkeiten auswählen (vgl. Sutter 2001). 2. Die Rekonstruktion der Sinnstrukturen der Medienangebote macht den Raum möglicher subjektiver Lesarten von Medienangeboten sichtbar. Der Bereich subjektiver Rezeptionsprozesse kann erschlossen werden, wenn im Verhältnis der ersten und der zweiten Ebene sowohl das beleuchtet wird, was an Bedeutung im subjektiven Verständnis des Medienangebotes ausgewählt wurde, als auch das, was an möglichen Bedeutungen nicht realisiert wurde (vgl. z.B. Braun et al. 1994). 3. Prozesse der Mediensozialisation sind mit dem Verhältnis von Medienangeboten und Medienrezeptionen noch nicht umfassend beschrieben, wie weiter unten im Rahmen von Text-LeserInteraktionen eingehend erörtert wird. Häufig vollzieht sich der Umgang mit Medienangeboten nicht individuell, sondern sozial und kommunikativ gemeinsam mit anderen Rezipienten. Damit gewinnt eine Untersuchungsperspektive an Bedeutung, in der im Zusammenhang der zeitgenössischen Forschungstradition der Cultural Studies (vgl. Hörning/Winter 1999) neben den aktiven Konstruktionsprozessen der Rezipienten vor allem die Prozesse der kommuni32
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kativen Aneignung von Medienangeboten im Mittelpunkt der Forschungsinteressen stehen. Vielfach beziehen sich Gespräche in Familien, unter Freunden und Berufskollegen usw. auf Medienangebote, die auf diese Weise kommunikativ gedeutet und weiterverarbeitet werden. Kommunikative Aneignungsprozesse bilden sowohl Komponenten und Kontexte subjektiver Rezeptionsprozesse als auch eigenständige Bereiche der Vermittlung von Medienkommunikation und Alltagswelt der Rezipienten (vgl. Charlton 1997; Charlton/Klemm 1998; de Certeau 1988). Es handelt sich also entweder um rezeptionsbegleitende Kommunikationen (vgl. Holly/Püschel/Bergmann 2001) oder um an die Rezeption anschließende Kommunikationen, in denen die Medienangebote weiter angeeignet und verarbeitet werden. Dieser dritte Bereich der Anschlusskommunikationen und der Prozesse kommunikativer Aneignung von Medienangeboten steht im Mittelpunkt unserer Untersuchungen. Dieser Bereich wurde auf allgemeiner Ebene im Verhältnis von Massenkommunikation und sozialen Interaktionen untersucht: In älteren Ansätzen der Medienwirkungsforschung ist hier vor allem das Modell des Two-step-flow der Massenkommunikation zu nennen. Diesem Modell liegt die Beobachtung zugrunde, dass Medienangebote nicht nur individuell rezipiert werden und auf diesem Wege direkt wirken, sondern häufig über den Umweg sogenannter Meinungsführer vermittelt werden (vgl. Maletzke 1998, S. 111ff.; Merten 1994; Schenk 1987). Die Meinungsführer verfolgen intensiv das mediale Geschehen, sind gut informiert und haben großen Einfluss auf andere Personen. Über die Meinungsführer entfalten die Medienangebote ihre Wirkungen in Prozessen sozialer Interaktionen. Gerade bei zunehmender Komplexität und Vielfalt der Informationen werden die Medienangebote durch Meinungsführer verdichtet und kanalisiert. Nach wie vor werden jedoch Medien auf vielfältige Weise individuell genutzt, so dass das Modell des Two-step-flow der Massenkommunikation keine allgemeine Theorie der Medienwirkung darstellt (vgl. Merten 1994). Für einen beschränkten Bereich der Medienkommunikation kann das Modell jedoch weiter differenziert und ausgebaut werden. Auf der einen Seite gibt es die Massenkommunikation, die sich von den Beschränkungen sozialer Interaktionen befreit hat und gerade deshalb in der Lage ist, auch unter hoch komplexen gesellschaftlichen Bedingungen Kommunikationen gesellschaftsweit zu verbrei33
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ten (vgl. Luhmann 1996). Auf der anderen Seite gibt es vielfältige Netzwerke interpersonaler Beziehungen, die kommunikativ an die Massenkommunikation anschließen. Dabei kann eine Abfolge von Prozessen der Massenkommunikation und Prozessen interpersonaler Kommunikation beobachtet werden: Medienangebote werden nicht nur kommunikativ angeeignet und verarbeitet, sondern verschiedene Netzwerke interpersonaler Kommunikationen haben wiederum Rückwirkungen auf die Massenkommunikation. Medial verbreitete Kommunikationen versorgen die Gesellschaftsmitglieder und die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. mit Informationen und einem Themenvorrat, die genutzt und weiterverarbeitet werden können. Die interaktiven Kommunikationen in den verschiedenen Netzwerken beeinflussen ganz entscheidend die Relevanz und Wichtigkeit von Themen und erfüllen damit eine Scharnierfunktion zwischen Massen- und Anschlusskommunikation (vgl. Schenk 1995; Schenk/Rössler 1998). Es geht also nicht nur um die Verbreitung, sondern auch um die Deutung und Akzeptanz von Medienangeboten: Relevant und wichtig ist das, was auf der Straße, am Familientisch, im Büro oder in der Kneipe verhandelt wird. Dieser allgemeine Prozess der kommunikativen Auswahl, Deutung und Klärung der Bedeutungen und Relevanzen von Medienangeboten kann in verschiedenen Bereichen der Medienkommunikation beschrieben werden. Wie weiter unten ausführlicher erörtert wird, bietet die Offenheit medialer Texte eine Pluralität möglicher Bedeutungen, die in subjektiven und kommunikativen Aneignungsprozessen durch bestimmte interpretative Festlegungen geschlossen wird. Dies geschieht sowohl in rezeptionsbegleitenden als auch an die Rezeption anschließenden Kommunikationen. Der gemeinsam mit anderen vollzogene Umgang mit Medien verläuft in Form rezeptionsbegleitender Kommunikationen. Die verschiedenen Phasen des Rezeptionsprozesses (vgl. Charlton 1997, S. 24) werden oftmals sozial und kommunikativ gestaltet: Zunächst wird eine geeignete Situation für die Medienrezeption eingerichtet. Vor und während der Rezeption werden thematische Fokussierungen etabliert, an denen sich der Umgang mit dem Medienangebot ausrichtet. Während der Rezeption sind verschiedene Strategien der Rezeptionssteuerung zu beobachten (etwa die Regulierung von Nähe und Distanz zum Medienangebot). Diese sozial gestalteten Rezeptionsphasen kann man beispielsweise am Fall des Bilderbuchlesens von Mutter und 34
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Kind beobachten (vgl. Braun et al. 1994): Die Mutter kann durch unterschiedliche Sitzarrangements dem Kind mehr oder weniger Raum für eigene Aktivitäten beim Lesen bieten, wobei aber eine gemeinsame (visuelle, gestische, sprachliche) Bezugnahme auf die Buchseiten gesichert werden muss. Während des Lesens können Mutter und Kind bestimmte thematische Schwerpunkte setzen und Bezüge zur eigenen Alltagswelt herstellen. Bestimmte Themen und Inhalte können eingehender behandelt werden oder aber auf Distanz gebracht bzw. übergangen werden. Schließlich können auch immer wieder die Rollenverteilungen neu ausgehandelt werden (wer wählt das Buch aus, wer liest vor bzw. zeigt auf Bilder, wer hört zu usw.). So vertraut und alltäglich uns diese Beobachtungen aus dem Bereich des Buchlesens von Mutter und Kind vorkommen mögen, so scharf ist der Kontrast zwischen dem verbreiteten Bild des vereinzelten, isolierten Fernsehpublikums und der Beschreibungen der kommunikativen Einbettung der Rezeption von Fernsehsendungen. Gegen die lange Zeit dominante Vorstellung des vereinzelten Rezipienten vor dem Fernseher wurde mehr und mehr das neue Forschungsfeld der kommunikativen Aneignung von Medienangeboten in den Vordergrund gerückt (vgl. Holly/Püschel 1993): Der „sprechende Zuschauer“ (Holly/Püschel/Bergmann 2001) sieht sich Fernsehsendungen im Kreis der Familie oder der Freunde an und kommentiert auf vielfältige Weise das Gesehene. Da sich diese Gespräche auf einen aktuell ablaufenden Kommunikationsprozess richten, haben sie eine spezifische Organisation: Sie entfalten sich nicht frei und eigenständig, sondern sind in die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit bindende Tätigkeit der Medienrezeption eingebunden. Deshalb weisen diese rezeptionsbegleitenden Kommunikationen, die als „primäre Thematisierungen“ (Holly/Baldauf 2001, S. 41) bezeichnet werden, eine besondere Struktur auf: Die parallel ablaufende Medienkommunikation bedingt längere Pausen, da unter dieser Bedingung kein Anschlusszwang für weitere Redezüge besteht. Anders als in eigenständigen Gesprächen sind die Kommunikationsverpflichtungen in diesen „offenen Sprechsituationen“ (ebda., S. 46) stark herabgesetzt: So können Reaktionen auf Äußerungen ausbleiben, man muss keine expliziten Adressierungen vornehmen usw. In dieser Weise können Medienangebote mitlaufend kommunikativ angeeignet werden. Michael Klemm (2001) unterscheidet hierbei sieben „kommunikative Handlungsfelder“ des fernsehbegleitenden Sprechens: Organisieren (z.B. um erhöhte Lautstärke bitten oder 35
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Programmwahl absprechen), Verarbeiten (z.B. Ausdruck des emotionalen Erlebens), Verständnissicherung, Deuten, Übertragen und Einordnen (Medienangebote mit eigenen Kontexten verbinden), Bewerten und sich Vergnügen. Neben den die subjektive Medienrezeption begleitenden und ergänzenden kommunikativen Aneignungsprozessen können vielfältige Formen eigenständiger, an die Medienrezeption direkt oder mittelbar anschließender Kommunikationen festgehalten werden. In diesem Sinne sind zunächst einmal die oben beschriebenen Phasen des Medienrezeptionsprozesses (nach Charlton 1997, S. 24) zu komplettieren: Nach Beendigung der Medienrezeption kann das Gesehene, Gelesene und Gehörte in unterschiedlicher Weise weiterverarbeitet werden (etwa in Spiele eingebaut, mit eigenen Erfahrungen verbunden werden usw.). Nicht nur in subjektiven Rezeptionsprozessen können verschiedene, von den Vorgaben der Medienangebote abweichende Lesarten entwickelt werden, was etwa Stuart Hall (1980, S. 136ff.) mit seinem Encoding/Decoding-Modell beschreibt. Es kann auch die eigenständige Rolle der Anschlusskommunikation in diesen Prozessen deutlich gemacht werden (vgl. Holly/Habscheid 2001; Keppler 1994). Über Medienerfahrungen wird in Familien, Freundeskreisen, unter Kollegen usw. geredet. Dabei werden den Medienangeboten Bedeutungen zugewiesen, die von den Bedeutungen der Medienangebote und der subjektiven Rezeptionen unterschieden werden müssen. Weder wirken die Medienangebote an sich, noch kann die Analyse der Wirkung von Medien auf die subjektive Rezeption eingegrenzt werden. Auch kann die oben genannte Scharnierfunktion der interpersonalen Anschlusskommunikation zwischen Medienangeboten und Medienrezipienten nicht einfach als bloße Übertragungs- oder Übermittlungsleistung begriffen werden. Vielmehr werden Medienangebote auf spezifische, eigenständige Weise im sozialen Gebrauch bedeutsam: Die Anschlusskommunikationen werden durch eigene Regeln organisiert, sie konstruieren eigene Bedeutungen und schaffen Raum für vielfältige Formen der Distanzierung von der Medienkommunikation (vgl. Charlton/Barth 1999; Keppler 2001; Stauff 1999). In Anschlusskommunikationen wird über die Medien diskutiert, sie werden bewertet, kritisiert usw. (vgl. Keppler 1994). Medienangebote regen alltägliche Kommunikationen an und fungieren als Themenvorrat für Gespräche in verschiedenen sozialen Gruppen. Die Medienan-
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gebote können in diesen Prozessen immer wieder neue Funktionen und Bedeutungen erhalten (vgl. Charlton/Klemm 1998). Die überaus große Bedeutung von Anschlusskommunikationen und kommunikativen Aneignungsprozessen ergibt sich nicht nur aus der in den letzten Jahren deutlich gewordenen Eigenständigkeit dieses Gegenstands- und Forschungsbereichs, sie resultiert zudem aus grundlegenden methodologischen und methodischen Überlegungen: Auf subjektive Medienrezeptionsprozesse kann nicht direkt zugegriffen werden, sie entziehen sich der direkten Beobachtung. Es sind stets Kommunikationen in Form protokollierter (Verhaltens-) Beobachtungen, rezeptionsbegleitender Äußerungen, Interviews usw., von denen auf subjektseitige Medienwirkungen und Verarbeitungsprozesse geschlossen werden muss. Dieser Umstand lässt sich leicht an vielen Rezeptionsstudien nachvollziehen, z.B. den Untersuchungen des Mediengebrauchs im Kontext der Identitätsbildung und Alltagsbewältigung (vgl. Charlton/Neumann 1990). Zur Illustration des Gemeinten erscheint ein Fall besonders geeignet, bei dem wir das Buchlesen einer Mutter mit ihrem Kind rekonstruierten (vgl. Braun et al. 1994; Sutter 1999a, S. 246ff.): Nach mehrmaligen Aufforderungen der Mutter an das Kind, etwas anhand des Buches zu erzählen, gibt das Kind in fragendem Ton mehrere kurze Äußerungen von sich („drehn“, „Klopier“, „ha Eimer“), während es im Buch blättert und auf der gesuchten Seite verschiedene Dinge zeigt. Die Mutter und der anwesende wissenschaftliche Beobachter verstehen nicht, was das Kind meint, und versuchen gemeinsam, den Sinn der kindlichen Äußerungen zu entschlüsseln. Dabei wird die Differenz zwischen subjektiven und kommunikativen Bedeutungskonstruktionen offensichtlich, die dem Verhältnis zwischen subjektiven und sozialen Prozessen immer zugrunde liegt, aber von den Handelnden oftmals nicht wahrgenommen und bewusst gemacht wird: Es wird letztlich nicht klar, was das Kind subjektiv mit seinen kurzen Äußerungen meint. Beobachtbar sind aber die kommunikativen Konstruktionen, die den kindlichen Äußerungen bestimmte Bedeutungen zuweisen: Die Mutter und der Beobachter ergänzen die kurzen Äußerungen des Kindes („da kann man drehn an dem Knopf“, „da ist der Mülleimer“, „der ist hinter der Tür“). Wir haben hier nichts anderes als rezeptionsbegleitende kommunikative Aneignungsprozesse vor uns. Sie bilden das empirische Material, an dem jene Prozesse indirekt erschlossen werden, die Gegenstand dieser Fallanalyse sind: die kindlichen kognitiven und sozialen Voraussetzungen 37
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und weiteren Entwicklungsmöglichkeiten im Prozess der Mediensozialisation. Im Sinne der oben umrissenen Position des interaktionistischen Konstruktivismus sind Prozesse der Selbstsozialisation im Umgang mit Medien bzw. der Entwicklung von Medienkompetenz von den sozialisatorischen Prozessen der sozialen, kommunikativen Aneignung zu unterscheiden, wobei aber nun eine methodisch begründete Asymmetrie zwischen diesen Bereichen festzuhalten ist: Während der zweite, soziale Bereich direkt empirisch beobachtbar und beschreibbar ist, kann der erste Bereich nur indirekt erschlossen werden. Dies ist nun beileibe keine Besonderheit kindlicher Mediensozialisation, wie Untersuchungen von Corinna Pette zu Prozessen der Lesesozialisation Erwachsener gezeigt haben (vgl. Pette 2001): Erfahrungen und Strategien der Lektüre eines Romans wurden von den Erwachsenen schriftlich notiert und im Gespräch mit der Forscherin geschildert und erläutert. Wir haben es hier also hauptsächlich mit Anschlusskommunikationen, d.h. mit kommunikativen Verarbeitungsprozessen im Anschluss an die Medienrezeption zu tun. Aus diesen Kommunikationen werden die mit Lektüreerfahrungen und Lesestrategien verbundenen subjektiven Bedeutungskonstruktionen erschlossen. Weiter unten werden wir diese zwei Bereiche um einen weiteren, kommunikativen Bereich erweitern: den literarischen Text selbst. Wir werden sehen, dass auch Beziehungen zwischen Texten und Lesern im Grunde Relationen zwischen Texten und kommunikativen Aneignungs- und Weiterverarbeitungsprozessen sind, von denen auf die subjektiven Bedeutungsselektionen der Leserinnen und Leser geschlossen wird. Es können hierbei zwei grundlegende Konsequenzen festgehalten werden: 1. Grundsätzlich sind für Untersuchungen von Prozessen der Mediensozialisation drei Bereiche relevant: die medialen Texte selbst, die subjektiven Rezeptionsprozesse und die Anschlusskommunikationen (vgl. Sutter 1999b). 2. Mehr als bisher ist in diesem Zusammenhang die zentrale Rolle von Anschlusskommunikationen und kommunikativen Aneignungsprozessen herauszustellen. Dies kann auch auf einer allgemeinen methodologischen Ebene verdeutlicht werden. Sowohl die soziale Wirklichkeit als auch die methodischen Zugänge zu dieser Wirklichkeit sind stets kommunikativ, genauer: textförmig verfasst. Dieser Auffassung liegt die These der Textförmigkeit sozialwissenschaftlicher Gegenstände zugrunde, wie sie von der Methode der objektiven Hermeneutik for38
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muliert wird, die wir in unseren Fallanalysen anwenden (vgl. Oevermann 1986, S. 46ff.): Da die Sprache konstitutiv allen sozialwissenschaftlichen Gegenständen zugrunde liegt, beziehen nach Ansicht der objektiven Hermeneutik auch vor- und außersprachliche Handlungen und subjektive Erfahrungen ihre Bedeutungen von der sprachlichen Bedeutungsfunktion. Methodologisch ist die These der Textförmigkeit sozialwissenschaftlicher Gegenstände zwingend: Nur in kommunizierbaren Formen haben die Sozialwissenschaften einen Zugang zu ihren Gegenständen (was, nebenbei bemerkt, nicht zwingend heißen muss, dass alle Gegenstände tatsächlich textförmig verfasst sind: vgl. Sutter/Weisenbacher 1993). Methodologisch muss mithin von einer Konvergenz von Texten und Gegenständen ausgegangen werden. Im Bereich der Medienforschung werden damit auch subjektive Rezeptionsprozesse nur textförmig beschreibbar und methodisch zugänglich. Deshalb können rezipierende Subjekte als Texturen verstanden werden (vgl. Charlton/Neumann 1990). Es handelt sich um die Texturen der kommunikativen Aneignungsprozesse und der Anschlusskommunikationen, die letztlich die Datenbasis der Medienrezeptionsforschungen bilden. Freilich tritt damit – parallel zum oben erörterten allgemeinen Problem des Verhältnisses von subjektiven und sozialen Prozessen in der Position des interaktionistischen Konstruktivismus – das Problem des Verhältnisses subjektiver und kommunikativer Aneignungsprozesse von Medienangeboten in den Vordergrund. Wie wir gesehen haben, können im Rahmen einer Theorie der Mediensozialisation die Prozesse der sozialisatorischen Interaktion von Prozessen der Massenkommunikation und der subjektiven Rezeption abgegrenzt und auf der Ebene von Anschluss- bzw. Begleitkommunikation verortet werden. So wie Subjekte generell ihre Fähigkeiten in sozialen Beziehungen ausbilden, in die sie eingebunden sind, wird die Fähigkeit, mit Medien umzugehen, in Kooperation mit anderen Personen erworben. Anschlusskommunikationen können als soziale Bedingungen des Erwerbs von Medien- bzw. Lesekompetenz betrachtet werden. Voraussetzung für den Erwerb von Medienkompetenz ist somit die Fähigkeit, an Prozessen der Anschlusskommunikation und der kommunikativen Verarbeitung von Medienangeboten teilzunehmen. Während dies allgemein konsentiert sein dürfte, stellt die in der Position des interaktionistischen Konstruktivismus vertretene Unterscheidung zwischen kommunikativen und subjektiven Aneignungsprozessen von Medienangeboten keineswegs einen 39
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common sense dar: So werden insbesondere im Forschungsfeld der kommunikativen Aneignung des Fernsehens mit dem Begriff des sozialen Handelns sowohl soziale als auch subjektive Prozesse beschrieben – Fernsehen als soziale Handlung. Beispielhaft hierfür ist der Begriff der parasozialen Interaktion zu nennen (vgl. Horton/Wohl 1956), der in den letzten Jahren wieder verstärkt für Medienforschungen nutzbar gemacht wurde (vgl. Vorderer 1996). Zuschauer können zu Medienfiguren parasoziale Interaktionen aufbauen, indem sie sich in Beziehung zu diesen Figuren setzen. Zwar geschieht dies unter den Bedingungen der einseitigen Form der Massenkommunikation, die Face-to-face-Interaktionen ja gerade wirksam ausschließt. Parasoziale Interaktionen dürfen aus diesem Grunde nicht mit realen Beziehungen verwechselt werden: Die einseitige Form der Massenkommunikation etabliert einen Unterschied zwischen interaktiven Beziehungen zu Medienfiguren und zu wirklichen Personen, der nicht verdeckt werden darf (vgl. Keppler 1996). Dennoch können Zuschauer und Medienakteure so tun, als ob sie in einer direkten sozialen Beziehung zueinander stünden. Dabei handelt es sich aber nicht um kommunikative, sondern um subjektive Prozesse, d.h. auf der Seite der Rezipienten um subjektive Unterstellungen im Prozess der Medienrezeption. Der Begriff der parasozialen Interaktion löst also die Grenze zwischen subjektiven und sozialen Konstruktionen auf, indem er mit subjektiven Unterstellungen zugleich die Beziehung zwischen Medienangeboten und Rezipienten beschreibt. Begriffe der parasozialen Interaktion oder – mit ähnlicher Stossrichtung – der inneren Rede bzw. des inneren Dialogs bei der Medienrezeption (vgl. Krotz 1996) können einen Beitrag zum Verständnis von Medienrezeptionsprozessen leisten, wenn und insofern sie die Differenz zwischen sozialen und subjektiven Prozessen berücksichtigen. Beide Alternativen, die Engführung oder die genaue Unterscheidung sozialer und psychischer Prozesse, können in den Kontext der Sozialtheorie George H. Meads (1973) gestellt werden, die soziale Beziehungen im Modell der Rollen- bzw. Perspektivenübernahme beschreibt. Die Engführung sozialer und psychischer Prozesse in der Theorie parasozialer Interaktionen steht in der Tradition des symbolischen Interaktionismus: Einerseits werden damit zu Recht gegen vereinfachte Medienwirkungsforschungen und in Anlehnung an Mead die Prozesse der subjektiven Deutungen in der Medienrezeption zur Geltung gebracht. Andererseits sind damit 40
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Prozesse der Massenkommunikation und der Anschlusskommunikation nicht auch schon erfasst. Die Eigenständigkeit dieser kommunikativen Bereiche kann ebenfalls auf Meads Sozialtheorie gestützt werden, wenn sie genuin soziologisch rekonstruiert wird (vgl. Schneider 1994; Sutter 1999, S. 180ff.). In Begriffen der hier relevanten Medienforschung bedeutet dies: Anschlusskommunikationen und kommunikative Aneignungsprozesse prozessieren eigenständig, sie lassen sich nicht lediglich als Produkte subjektiver Rezeptionsprozesse begreifen, die miteinander koordiniert werden. Die sozialen Bedeutungen kommunikativer Aneignungsprozesse lassen sich also nicht auf subjektive Verstehensleistungen reduzieren, sondern werden in Abfolgen kommunikativer Handlungen gebildet. Eben dies sollte der oben kurz geschilderte Fall des Buchlesens von Mutter und Kind illustrieren: Bedeutungen kommunikativer Aneignungsprozesse entstehen in einer Abfolge von Äußerungen, die sich in der wechselseitigen Bezugnahme selbst organisieren, d.h. sich wechselseitig Bedeutungen zuweisen. Diese kommunikativen Bedeutungen kommen mit den subjektiven Bedeutungen von Medienrezeptionsprozessen nicht zur Deckung. Diese Differenz muss in den Medienforschungen theoretisch und methodisch berücksichtigt werden. Dabei spricht nichts dagegen, Bilder der parasozialen Interaktion, des inneren Dialogs oder der inneren Rede als Metaphern für sozial-kognitive Prozesse bei der Rezeption von Medienangeboten zu verwenden, solange klar bleibt, dass ein Verstehensprozess nicht zugleich kognitiv und kommunikativ sein kann. Mittlerweile haben sich mehrere Forschungen mit Strukturen und Funktionen von Anschlusskommunikationen und kommunikativen Aneignungsprozessen vor allem im Bereich des Fernsehens befasst (die folgenden Ausführungen lehnen sich an Sutter 2002, S. 94ff. an). Es gibt vielfältige Formen und Muster der kommunikativen Fernsehaneignung, die mediale Texte in Relation zur Alltagswelt und zum eigenen Erleben setzen und Interpretationen der medialen Texte konstruieren. Die Alltagswelt wird z.B. mit Erzählungen, Bewertungen und spielerischen Projektionen in Beziehung zu Medienangeboten gesetzt. Die Offenheit der Texte wird durch Konstruktionen intertextueller Bezüge, Austausch von Kontextwissen, Verhandlungen möglicher Bedeutungen usw. kommunikativ reduziert. Die Untersuchungen zeigen, dass während des Fernsehens erstaunlich viel und kontinuierlich, dabei aber oftmals sehr kurz und thematisch komprimiert kommuniziert wird (vgl. Holly/Püschel/ 41
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Bergmann 2001). Die Bruchstückhaftigkeit rezeptionsbegleitender Anschlusskommunikationen ist im gegebenen Kontext einer aktuell ablaufenden, Aufmerksamkeit bindenden Medienrezeption funktional: Man tauscht sich aus, ohne mehr als nötig zu verpassen. Dabei bedingen die Zusammensetzung der kommunizierenden Zuschauergruppe, situative Kontexte und bestimmte Stile die Art und Weise der kommunikativen Aneignung: Von der distanzierten, sachlichen und konzentrierten Rezeption bis hin zu Blödeleien, die Medienangebote nur zum Anlass für vergnüglichen Austausch in der Gruppe nutzen (vgl. Charlton/Klemm 1998, S. 720f.). Daneben haben aber auch die Medientexte Einfluss auf die Gestaltung der kommunikativen Aneignung: So werden bestimmte Gattungen von Fernsehsendungen (Unterhaltungsshows, Quizsendungen, Magazine usw.) auf spezifische Weise angeeignet, es gibt mit anderen Worten gattungsspezifische kommunikative Aneignungsweisen (vgl. Holly/Habscheid 2001; Holly/Püschel/Bergmann 2001; Ayaß 2001). Kommunikationen, die sich an die Lektüre von schriftlichen Texten anschließen, sind zwar ein alltägliches und weitverbreitetes Phänomen, wurden aber bislang nicht systematisch untersucht. Die Untersuchungen zur Anschlusskommunikation nach der Lektüre kann man nach den mit dem Diskurs verfolgten Zwecken einteilen in: • Gespräche, die vorwiegend der Vermittlung oder Festigung der Kulturtechnik Lesen dienen, • Gespräche, die vorwiegend dem Verstehen der (literarischen) Texte dienen, • Gespräche, die vorwiegend der Persönlichkeitsbildung dienen, sowie • Gespräche, die vorwiegend der Unterhaltung und dem Genusserlebnis dienen. Aus Gründen der Relevanz für unsere weiteren Ausführungen beschränken wir uns auf die ersten beiden Punkte (zu den beiden letzteren vgl. Sutter 2002, S. 97). Gespräche, die vorwiegend der Vermittlung oder Festigung der Kulturtechnik Lesen dienen: Empirische Beispiele für die Vermittlung zwischen lebensweltlich erfahrbarem und sozial situiertem Sinn auf der einen Seite und dekontextualisiertem, durch die Schriftform vermitteltem Sinnangebot auf der anderen Seite liefern zum Beispiel die Untersuchungen von Braun (1995) zum Vorlesen 42
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im Säuglings- und Kleinkindalter, von Feneberg (1994) und Wieler (1997) zum Vorlesen im Vorschulalter. Hierbei geht es primär nicht darum, Kinder in das Zeichensystem Schrift einzuführen, sondern darum, dass Kinder im Gespräch die Fähigkeit erwerben, eigene Erfahrungen und medial angebotene, kulturelle Deutungsmuster aufeinander zu beziehen. Damit wird zugleich die Voraussetzung für die Teilhabe an den nachfolgend beschriebenen Anschlusskommunikationen geschaffen. Gespräche, die vorwiegend dem Verstehen der (literarischen) Texte dienen: Das subjektive Verständnis eines (literarischen) Textes kann in Anschlusskommunikationen vertieft und gesichert werden: „Zur literarischen Kompetenz gehört die Fähigkeit, über Gelesenes reflektieren und kommunizieren zu können. Ein wirkliches Gespräch über Gelesenes kann nicht nur die Leseerfahrungen vermitteln, sondern auch das Verstehen im Dialog vertiefen.“ (Andringa 2000, S. 96)
In seiner sprachanalytischen Untersuchung mit dem Titel „Konversationen über Literatur“ führt Ihwe (1985, S. 120) darüber hinaus den Nachweis, dass jede wissenschaftliche Literaturinterpretation einen konversationellen Charakter hat, der lediglich an der Textoberfläche durch den üblicherweise monologisierenden und individualisierenden Präsentationsmodus der Literaturkritik überdeckt wird. Die Lese- und Schreiberziehung breiter Bevölkerungskreise, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa einsetzte (vgl. z.B. Messerli 2000), hatte zur Folge, dass bald das Bedürfnis aufkam, neben Gebrauchstexten auch literarische Texte verstehen zu lernen. Für die erwachsene Bevölkerung übernahmen in vielen Orten im 18. und 19. Jahrhundert Lesegesellschaften die Funktion, Lesestoffe bereitzustellen und Gespräche über die Lektüre zu fördern (Müller 1990; Prüsener 1972). Einige Lesegesellschaften setzen ihre Vereinsaktivitäten bis in die Gegenwart hinein fort. Vielerorts werden aber auch von den Volkshochschulen Literaturgesprächskreise angeboten oder es haben sich Literatur-Häuser (z.B. in HamburgSt.Georg) oder Literatur-Cafés (z.B. in Stuttgart) gebildet. Neben diesen Angeboten auf freiwilliger Basis, die sich an erwachsene Literaturinteressierte richten, versuchen traditionell die Schulen im Muttersprachen- und Fremdsprachenunterricht das Verstehen literarischer Texte durch Unterrichtsgespräche zu fördern. Textbeispiele
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für literaturbezogene Lehrgespräche finden sich etwa bei Wieler (1998) oder unter gesprächsanalytischer Perspektive bei Ehlich und Rehbein (1986). Diese Untersuchungen zeigen, wie Lesefähigkeiten und die Verarbeitung von Lektüreerfahrungen in Anschlusskommunikationen ermöglicht und gefördert werden. Auch unsere weiter unten dargestellten Untersuchungen beleuchten die Rolle der Anschlusskommunikation und der kommunikativen Aneignung im Prozess der Lesesozialisation. Dabei wird darauf zu achten sein, in welcher Weise sich das in der Position des interaktionistischen Konstruktivismus formulierte Verhältnis von subjektiven und sozialen Prozessen, konkret: von Medienrezeption und Anschlusskommunikation empirisch zeigt. Bevor dies in Angriff genommen werden kann, ist jedoch noch ein weiterer Schritt nötig: Es ist zu klären, wie die Texte verfasst sind, die subjektiv und kommunikativ angeeignet und verarbeitet werden. So kommen alle drei Bereiche in den Blick, die wir als für eine Theorie der Medien- bzw. Lesesozialisation zentral hervorgehoben haben: die Rezeption, die Anschlusskommunikation und die Medienangebote bzw. Texte selbst.
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3 L E S E K O M P E TE N Z U N D L I TE R A R IS C H E M E H R D EU T I G K E I T
3 . 1 E i n f üh r u n g u nd D e f in it o r i s c h es Im vorangehenden Kapitel wurden drei Gegenstandsbereiche benannt, mit denen sich die Leseforschung auseinander setzen muss: Texte, kognitive Prozesse beim Lesen und Anschlusskommunikationen. Im Folgenden soll es um den Beitrag der Texte zur Dynamik des Rezeptionsprozesses gehen. Besondere Aufschlüsse für das Verständnis dieses Prozesses lassen sich gerade dort erwarten, wo die Kompetenz des Lesers besonders gefordert erscheint, nämlich beim Lesen von bzw. Kommunizieren über schwer verständliche oder auf unterschiedliche Weise zu verstehende Texte. Der Anschlusskommunikation kommt bei der Erforschung des Umgangs von Leser/inne/n mit mehrdeutigen Texten eine doppelte Funktion zu. Zum einen haben Leser das Bedürfnis, im Gespräch mit anderen ihr persönliches Verständnis zu vertiefen oder zu revidieren. Zum anderen eröffnet die Anschlusskommunikation forschungsmethodisch den einzig möglichen Zugang zu den subjektiven Verarbeitungsprozessen des Individuums. Das Phänomen der Mehrdeutigkeit der Sprache wird in der Linguistik, der Literaturwissenschaft und der Psychologie jeweils etwas anders konzipiert. Die linguistische Mehrdeutigkeitsforschung (einen Überblick über Forschungstrends geben Nerlich/Todd/ Vimala/Clarke 2003, sowie Ravin/Leacock 2000) befasst sich mit der Bedeutungsvielfalt einzelner Worte oder Ausdrücke (z.B. Metaphern). Hingegen verwenden Literaturwissenschaftler die Begriffe Ambiguität, Mehr- bzw. Vieldeutigkeit, Polysemantik und Unbestimmtheit oft als Synonyme zur Bezeichnung einer Bedeutungsoffenheit von literarischen Werken, dargestellten Sachverhalten, Motiven oder Charakteren. Kurz (1999 S. 102) versucht eine schärfere Ab45
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grenzung der einzelnen Begriffe, die aber nicht allgemein geteilt wird. Er spricht von Mehrdeutigkeit oder Ambiguität, wenn die Semantik des Kontextes für einen Text mehr als einen Bezug zulässt oder provoziert. Wenn bestimmten Lesern lediglich das relevante Kontextwissen fehlt, um einen (in einem gegebenen Zusammenhang eindeutigen) Text entsprechend einordnen zu können, wird nicht von Mehrdeutigkeit gesprochen. Vieldeutigkeit verweist nach Kurz dagegen auf die prinzipielle Unausdeutbarkeit eines Textes. Von Ambivalenz (im Gegensatz zu Ambiguität) spricht Wingertszahn (1990, S. 26) wenn in literarischen Texten ein Tatbestand von unterschiedlichen Seiten aus anvisiert wird, entweder als Mehrstimmigkeit (im Sinne des Polyphoniekonzepts von Bakhtin 1981) oder wenn Charaktere gleichzeitig einander entgegen gesetzte Strebungen, Haltungen und Gefühle ausdrücken (im Sinne des tiefenpsychologischen Ambivalenzbegriffs), wobei aber nicht zwingend auf eine psychische Ambivalenz des Autors geschlossen werden darf. In vergleichbarer Weise zählt Zima (1996, S. 135) „Ambivalenz, Kontingenz, Austauschbarkeit (der Rollen, der Subjekte) und Naturwüchsigkeit als Schwächung des Kultur-Überichs (im Sinne von Freud)“
zu den wesentlichen Aspekten der modernen Literatur. Ambivalente Konstruktionen sollen in modernen Romanen nach dem Willen ihrer Autoren häufig die Bewusstseinsbildung der Leser fördern. Sie kennzeichnen nach Zima (2001, S. 268 f.) zwar auch die literarische Postmoderne, allerdings dienen sie dort nicht mehr der kritischen Bewusstseinsbildung des Lesers, sondern (lediglich) dem ästhetischen Genuss oder der Provokation ohne Anspruch auf einen Wahrheitsgehalt. Siegfried J. Schmidt, der prominenteste Vertreter einer empirischen Literaturwissenschaft in Deutschland, führt in seine Literaturtheorie (1980) als zentralen Begriff die sog. „PolyvalenzKonvention“ ein, die seiner Ansicht nach von einem Text neben der „Ästhetischen Konvention“ erfüllt werden sollte, wenn ein literarischer Anspruch erhoben wird. Schmidt (1972) definiert die Polyvalenz als mehrfach-perspektivische Bedeutungskonstitution durch den Leser im Rezeptionsprozess. Der Polyvalenz entspricht auf Seiten des Textes die Polyfunktionalität. Als polyfunktional wird ein Texttyp bezeichnet, der als angemessene Verarbeitungsweise eine
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mehrperspektivische Rezeption erfordert. Wenn darüber hinaus die wissenschaftliche Analyse der Polyfunktionalität eines Textes dessen Mehrdeutigkeit bestätigt, kann man auch von Polyinterpretabilität sprechen. Die konstitutive Rolle der Polyvalenz für die Literatur wird allerdings nicht von allen Literaturwissenschaftlern anerkannt. Seiler (1982) weist darauf hin, dass dieses Postulat erst in der Romantik aufgekommen ist. Im Rahmen der experimentellen psychologischen Forschung schließlich hat Berlyne (1960) auf die Bedeutung der „ambiguity“ hingewiesen, mit der die Uneindeutigkeit einer Reizkonstellation bezeichnet wird. Dieses Konstrukt wurde in verschiedenen Untersuchungen sowohl auf die spezifische Reizqualität von sinnfreien Gebilden (z.B. Polyeder) als auch von verschiedenen Symbolsystemen (Texte, Musik, Werke bildender Kunst) bezogen. Eine Zusammenstellung unterschiedlicher Formen literarischer Mehrdeutigkeit liefert Empson (1956), der sieben Typen von Ambiguität unterscheidet: •
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„First-type ambiguities arise when a detail is effective in several ways at once, e.g. by comparisons with several points of likeness, antitheses with several points of difference” (S. V) „In second-type ambiguities two or more alternative meanings are fully resolved in one“ (S. V) „[…]third type […] two apparently unconnected meanings are given simultaneously“ (S. V) „In the forth type the alternative meanings combine to make clear a complicated state of mind in the author“ (S. V) „The fifth type is a fortunate confusion, as when the author is discovering his idea in the act of writing […] or not holding it all in mind at once“ (S. VI) „In the sixth type what is said is contradictory or irrelevant and the reader is forced to invent interpretations“ (S. VI) „The seventh type is that of full contradiction, making a division in the author’s mind“ (S. VI)
Empson führt für jeden Ambiguitäts-Typus zahlreiche Beispiele aus der Literatur an. Auch wenn seine Aufstellung nicht erschöpfend und nicht systematisch ist, so ist sie doch als Beispielsammlung hilfreich und wird nach wie vor häufig zitiert. Die wissenschaftliche Literatur zum Thema „Ambiguität“ ist nicht sehr umfangreich, aber sie entstammt verschiedenen Fachdis47
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ziplinen mit unterschiedlich (historisch, texthermeneutisch, empirisch) orientierten Forschungstraditionen. Der vorliegende Überblick soll dazu dienen, diese fachspezifischen Forschungsergebnisse Disziplinen-übergreifend vergleichbar und diskutierbar zu machen. Ausgeklammert bleibt aus der weiteren Betrachtung die kognitivlinguistische Polysemie-Forschung, da sie für die in diesem Band vorgestellten eigenen, empirischen Beiträge weniger relevant ist. Ein erster Abschnitt (2.) des vorliegenden Kapitels ist der Frage gewidmet, ob Mehrdeutigkeit eine Texteigenschaft ist. Die Überlegungen führen zu dem Schluss, dass der produktive und rezeptive Umgang mit bestimmten Textsorten (literarischen Texten) maßgeblich von gesellschaftlichen Konventionen bestimmt wird, die eine (kulturhistorisch) bestimmte Beziehung zwischen Text und Leser ermöglichen, aber nicht als (zeitlose) Texteigenschaft dingfest gemacht werden können. Der zunehmende Verzicht auf eine Gängelung der Rezipienten durch eindeutige Leseinstruktionen und die literarische Kompetenz der zeitgenössischen Leserschaft im Umgang mit Mehrdeutigkeit haben sich demnach zeitgleich entwickelt. Im nächsten Abschnitt (3.) wird zunächst untersucht, ob Mehrdeutigkeit von literarischen Texten ein notwendiges Kriterium für deren ästhetischen Wert darstellt bzw. – umgekehrt – ob nur hochkulturelle Texte mehrdeutig sind. In der wissenschaftlichen Beantwortung dieser Frage ist in den letzten Jahren ein Wandel eingetreten. Je mehr sich die Ansicht durchgesetzt hat, dass auch populären Medienerzeugnissen der Status von Kulturerscheinungen zugesprochen werden muss, desto mehr hat sich auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich das Spiel mit der Mehrdeutigkeit nicht nur bei einer ästhetisch gebildeten Leserschaft im Umgang mit hochkulturellen Textgenres findet. Während sich Literaturwissenschaftler hauptsächlich mit der Frage beschäftigen, welche Texteigenschaften den Deutungsspielraum beim Lesen eröffnen, interessieren sich Psychoanalytiker mehr für die Bedürfnisse und Abwehrstrategien von Lesern im Umgang mit Ambiguität. Ein großer Teil der empirisch gesicherten Befunde (4.) entstand leider auf einem ganz anderen Forschungshintergrund als die in (3.) aufgeworfenen Fragen. Die entsprechenden Untersuchungen befassen sich daher nicht in gleicher Ausführlichkeit mit allen aufgeführten kulturphilosophischen, literaturwissenschaftlichen und psychoanalytischen Hypothesen. Die Forschungsgruppe um Dan Berlyne wollte den Nachweis führen, dass die Attraktivität von Kunstwerken 48
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ganz entscheidend von der Art der dargebotenen Reizkonfiguration abhängt. Die Ambiguität wurde hierbei als eine wichtige Einzelvariable (unter mehreren) genannt. Die Befunde sind leider uneinheitlich. Experimente mit Lesern im Kontext der empirisch-literaturwissenschaftlichen Forschung zeigen, dass wahrgenommene Polyvalenz zu verstärkten Anstrengungen bei der Suche nach einem Textsinn führt. Eine häufig angewendete Lesestrategie ist dabei eine neue Rahmung der Textpassage, z.B. als Fiktion ohne Wahrheitsanspruch. Am Ende des Suchprozesses werden aber eindeutige Lesarten bevorzugt. In Arbeiten unserer eigenen Forschungsgruppe ist die Rolle der Anschlusskommunikation bei der Auseinandersetzung mit Mehrdeutigkeit belegt worden. Im letzten Abschnitt (5) wird die Frage nach den Grenzen der Interpretationsfreiheit bei der Rezeption mehrdeutiger Texte aufgeworfen. In weitgehender Einigkeit wird in der wissenschaftlichen Literatur betont, dass zwar individuelle Auffassungen auf Grund der unterschiedlichen Kompetenzen und Lebenserfahrungen der Leser/Leserinnen unvermeidlich sind, dass aber andererseits jede Lesart im Licht gesellschaftlicher Lese-Konventionen begründbar sein muss.
3 . 2 M e hr d eu t i g k e it a l s E r g eb n is ei n er k ul t u r h is t o r is c h b ed in g t e n L e s e r - T ex t - I n t e r a k t i o n Wann ist ein Text mehr- oder vieldeutig? Ist Mehrdeutigkeit eine Eigenschaft von bestimmten Texten? Streng genommen sind Texte keine Dinge, die gewisse natürliche Eigenschaften haben, sondern sie lassen sich als Handlungsangebote verstehen, die zum Mithandeln einladen. Die nachlässige Konzeptualisierung vom Text als Objekt hat allerdings in der Literaturwissenschaft Tradition. „The poem conceived as a thing between the poet and the audience is of course an abstraction. The poem is an act. But if we are to lay hold of the poetic act to comprehend and to evaluate it, and if it is to pass current as a critical object, it must be hypostatized.“ (Wimsatt 1970, p. xvii)
Diese Verkürzung des Gegenstandsverständnisses bleibt – wie zu zeigen sein wird – nicht ohne Folgeprobleme.
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Üblicherweise bedient man sich der Konstruktion eines kompetenten Lesers (nicht ein einzelner Leser, gleichgültig ob wissenschaftlich vorgebildet oder Laie, sondern ein ideal gedachtes Mitglied der Sprachgemeinschaft), der, gestützt auf sein latentes und explizites Wissen über die Regeln des Sprechens und der Sprache, in der Lage sein sollte, die „wahre“ Textbedeutung zu erkennen. Wimsatt und Beardsley (1970a, b) als Vertreter der formalistischen Schule in der Literaturwissenschaft empfehlen, dass dieser idealisierte Leser lediglich die textimmanenten Hinweise („internal evidence“) auf eine bestimmte Textbedeutung, wie Syntax, Semantik und weitere Aspekte der Textstruktur, berücksichtigen sollte. Auch Mehr- bzw. Vieldeutigkeit lässt sich so als Texteigenschaft beschreiben. Der Text präsentiert zwei oder mehr Lesarten, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Der ideale Interpret identifiziert die Mehrdeutigkeit in diesem Fall als eine Texteigenschaft, die auch durch die sorgfältigste Lektüre nicht aufgehoben werden kann. Die von Empson (1956) beschriebenen Textphänomene folgen diesem Muster. Charakteristisch ist für diesen Fall, dass die verschiedenen Bedeutungen dem selben Leser (intraindividuell) gleichzeitig oder in raschem Wechsel oder beim wiederholten Lesen aufscheinen. Groeben und Schreier (1992, S. 11) belegen diese intraindividuell feststellbare Polyvalenz mit dem Etikett „starke Polyvalenzdefinition“. Von einer „schwachen“ Polyvalenzdefintion sprechen sie dagegen dann, wenn unterschiedliche Rezipienten einem Text unterschiedliche Bedeutungen verleihen. Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn sich heutige Leser und Leser, die Zeitgenossen des Autors waren, wegen des historischen Abstands hinsichtlich ihrer Lebenserfahrungen unterscheiden (Seiler 1982). Im weiteren Fortgang ihrer Analyse schlagen Groeben und Schreier (1992, S. 12) vor, zwischen verschiedenen Bedeutungsproduktionen zu unterscheiden, zu denen eine oder viele Personen, zu einem oder zu vielen Zeitpunkten aktiv gelangen oder die sie wenigstens als gültig anerkennen. Diese Systematik enthält als eine Variante auch die Ko-Präsenz oder den schnellen Wechsel von einer oder mehreren Bedeutungen, ein Phänomen, das von Lotman (1972, S. 107) als „Flimmern“ bezeichnet worden ist. Die interindividuelle Mehrdeutigkeit (schwache Polyvalenzdefinition) kann sich daraus ergeben, dass unterschiedliche empirische Leser den textimmanenten Bedeutungsgehalt in jeweils unterschiedlichen Ausschnitten realisieren oder ausschöpfen. Die Mehrdeutig50
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keit fällt den Lesern in diesem Fall nur dann auf, wenn sie ihre Lesarten im Rahmen der Anschlusskommunikation miteinander vergleichen. Solche interindividuell unterschiedlichen Lesarten können dadurch zu Stande kommen, dass verschiedene Leser über unterschiedliche Lesekompetenzen verfügen oder dass unterschiedliches Kontextwissen an den Text herangetragen wird („external evidence“ nach Wimsatt und Beardsley, z.B. Annahmen über die Autorenintention, biographisches und (literatur-)historisches Wissen, Spekulationen über mögliche Tatbestände, auf die der Autor anspielen will). Und schließlich besteht die Möglichkeit, dass Leser/Leserinnen dem Text idiosynkratische Bedeutungen verleihen, weil er bestimmte persönliche Erinnerungen oder Gefühle in ihnen wachruft. In allen diesen Fällen entsteht die individuelle Lesart also aus der Besonderheit der Lesestrategien (vgl. Charlton/Pette/Burbaum 2004), die von einzelnen Subjekten auf den Text angewendet werden. Man könnte vermuten, dass nur die erstgenannte (intraindividuelle) Version von Vieldeutigkeit ein Textphänomen sei, während die zweite Variante (interindividuelle Vieldeutigkeit) ein Rezeptionsphänomen darstelle. Wimsatt und Beardsley (1970a, b) sprechen in diesem Zusammenhang von „fallacies“, also unerwünschten Fehlschlüssen über den Bedeutungsgehalt eines poetischen Textes. Man kann aber auch mit Berthold (1993) der Ansicht sein, dass nicht nur die intraindividuelle, sondern auch die interindividuelle Vieldeutigkeit für die moderne Literatur und für ihre Leser charakteristisch ist. Nach Berthold (1993) handelt sich dabei nicht um „materialbedingte Besonderheiten literarischer Texte in der Moderne“, sondern um „Begriffe, mit denen die kulturhistorisch herausgebildete Erweiterung des Möglichkeitsspektrums im Umgang mit literarischen Texten erfasst wird“ (315). „Vieldeutigkeit wäre also der Effekt, den die Anwendung einer spezifischen Rezeptionsform auf Texte hervorruft, welche die Angemessenheit gerade dieses Umgangs mit ihnen nicht mehr betonen“ (310).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sowohl die Texte als auch deren Leser einen Beitrag zu Eindeutigkeit vs. Mehrdeutigkeit der Bedeutungsgebung beim Lesen leisten. Die gegenwärtige Leseforschung betont folglich die Bedeutung der Beziehung zwischen Text und Leser (vgl. Dias und Hayhoe 1988). Kritisiert werden frühere Auffassungen, denen zu Folge die „Leser im Text“ aufzusuchen sind (so z.B. mit dem Konzept des „impliziten Lesers“ von Iser
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1980), bzw. die „Texte im Leser“ (z.B. als „identity theme“ bei Holland 1975). Texte können ihren Leser durch offen zu Tage liegende Textmerkmale (Syntax, Semantik, Rhythmus, Reim und Leseinstruktionen) eine definitive Lesart nahe legen oder sie können sie zum spielerischen Ausgestalten anregen. Literarische Texte enthalten häufig implizite oder explizite Leseanweisungen, wie der Leser mit den dargestellten Sachverhalten zu verfahren hat. Auf der anderen Seite können Leser über mehr oder weniger Lesekompetenz verfügen und sie können sich mehr oder weniger eng an Textvorgaben und Leseinstruktionen halten. Diesem Tatbestand soll der Begriff „LeserText-Interaktion“ Rechnung tragen, der sich verschiedentlich in der literaturwissenschaftlichen Diskussion findet (vgl. Groeben 1989). Die Polyfunktionalität von Texten setzt eine Leserschaft voraus, die über die Kompetenz verfügt, den offen stehenden Bedeutungsraum zu nutzen. Der Literaturhistoriker Berthold (1993) zeigt auf, wie sich die Leser-Text-Beziehung in der Literatur- und Rezeptionsgeschichte entwickelt hat. Er rekonstruiert die Veränderungen des Lesens und des literarischen Schreibens als Folge eines interdependenten Veränderungsprozesses, der sowohl Leser wie Autoren betrifft. Der Lernprozess der Leser am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert bezieht sich erstens auf die Akzeptanz von Fiktionalität bzw. den Verzicht der Leser auf einen Wahrheitsanspruch von Literatur und zweitens auf den Umgang mit Mehrdeutigkeit. Parallel dazu entwickelte sich der Roman von der Barockform (beschreibende Poesie – ut pictura poesis, 254) zur modernen Form der Fabel. Berthold stellt als Ergebnis seiner Analysen folgende These auf: „Die Herausbildung sehr unterschiedlicher Rezeptionsmöglichkeiten von literarischen Texten ist eine komplexe kulturhistorische Entwicklung, in der die Ausdifferenzierung neuer Lesetechniken bei den Rezipienten wiederum Reaktionen auf Seiten der Textproduktion hervorrief.“ (Berthold 1993, S. 325)
Der Barockroman in der Mitte des 18. Jahrhunderts entfaltet laut Berthold bereits unübersichtliche Handlungsverwicklungen (zahlreiche Figuren erzählen Geschichten, in denen wieder andere Figuren vorkommen). Kapitelüberschriften und Inhaltsangaben erleichtern zwar die Orientierung, aber es entsteht bei seinen Lesern zuerst einmal Verwirrung, verbunden mit dem Zweifel am geschichtlichen
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Sinn der Welt und an deren Gerechtigkeit, bis dann schließlich in einer Schlussapotheose die sittliche Weltordnung durch Gott nach dem Muster von Sündenstrafe und Tugendlohn wieder hergestellt wird. Nachdem der Text seine Leser zuerst verunsichern sollte, reklamiert das Ende umso eindeutiger, dass die Welt einen moralischen Sinn in sich trägt. Die Führung des Lesers ist im Barockroman also sehr ausgeprägt. Dagegen gibt der neuzeitliche Erzähler den Versuch auf, bestimmte unerwünschte Leseweisen des Textes auszuschließen. Im Vergleich zu seinen Vorläufern treten z.B. in Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ die Intentionssignale und Lektüreanweisungen zurück, stattdessen konstatiert Berthold ein „Bemühen um die eigene Uneindeutigkeit“ (296) durch das Stilmittel der Ironie, die „Position und Konterkarierung im Vagen hält.“ Untrennbar verflochten mit der neuen Art zu Schreiben ist die ebenfalls ab dem 18. Jahrhundert aufkommende Art des Lesens. Der Barockroman wird langsam und abschnittsweise („statarisch“, Berthold 1993, S. 268f.) gelesen, der Schwerpunkt des Leseinteresses liegt auf einzelnen Bildern (pictura). Das Bildungsniveau der Leserschaft ist ziemlich homogen, so dass sichergestellt ist, dass jeder Leser die moralische Botschaft des Textes auch eindeutig versteht. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden Texte dagegen zunehmend schnell und „kursorisch“ gelesen. Das Interesse gilt der Fabel, wobei die Leserschaft es gelernt hat, die Sinnfrage bei der Lektüre einzelner Kapitel erst einmal zurückzustellen, um sich lustvoll der von der Erzählung erzeugten Spannung hingeben zu können. Der neuzeitliche Roman wendet sich an ein Publikum, dessen Bildungsniveau sehr unterschiedlich ist und dessen „richtiges“ Textverständnis durch textimmanente Instruktionen nicht mehr sicher gestellt werden kann. Aber auch die immer beliebtere Textgattung der „Fabel“ erschwert es, eine eindeutige, wahre Botschaft zu vermitteln. In Bezug auf das Fiktionsverständnis heißt das: „Leser lernten, bei der Romanrezeption die faktische Referenz zugunsten anderer Referenzen zurückzustellen, die Geschichte als eine Fiktion zu lesen, welche einen Bezug zur jeweiligen kulturellen Wirklichkeit behauptet und nach diesem Maßstab auch gemessen und bewertet werden kann.“ (Berthold 1993, S. 322).
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Die Argumente von Berthold zur Ko-Evolution von Textsinn und Leserkompetenz sind gut begründet und überzeugend, allerdings darf daraus nicht geschlossen werden, dass die Mehrdeutigkeit von Texten ein Phänomen wäre, das erst in der neuzeitlichen Literatur zu beobachten sei. Schon bei Cicero findet sich der Hinweis auf die Kunst der Verstellung („Dissimulatio“) des Redners6. Ebenso kennt auch die Epik des frühen Mittelalters das zur Reflexion auffordernde Stilmittel der Mehrdeutigkeit und es ist unwahrscheinlich, dass den zeitgenössischen Rezipienten diese Textstrategie verborgen geblieben ist. In ihrer Analyse der auffälligen Mehrdeutigkeiten in Gottfried von Strassburgs „Tristan“ kommt Lanz-Hubmann (1989 S. 49 f.) zu dem Ergebnis: „Weit davon entfernt, eine klare Parteinahme zu ergreifen, eindeutige Positionen anzubieten, mit denen sich der Rezipient des „Tristan“ identifizieren könnte, enthält der Roman eine Durchschichtung von Perspektiven, die im jeweiligen Kontext unproblematisch und eindeutig scheinen. Durch Autorenkommentare und Epitheta wird der Rezipient affiziert und zu einer Stellungnahme veranlasst, welche (er) aufgrund der Retention widersprechender und divergierender Kommentare und Wertungen, auch aufgrund von relativierenden Tatsachenberichten modifizieren muss. Die Tiefenstruktur des Romans ist also gekennzeichnet durch ein Netz von Gegensatzspannungen, wo die Oberflächenstruktur, der „meaning of context“ klar und eindeutig erscheint.“
Weil Texte von den Lesern aus ihrem historischen, kulturellen Kontext heraus verstanden werden müssen, muss auch die Leseforschung den spezifischen kulturellen Horizont der Leserschaft berücksichtigen: „Richtet man nicht den Blick auf die in Traditionen entstandenen Rezeptionsoptionen gegenüber Texten und die spezifische Auswahl, in der jeder einzelne Leser im Rückgriff auf das von diesen Traditionen angebotene Möglichkeitsspektrum seine Erwartungen konkretisiert, dann wird der Text tatsächlich zu einer Ansammlung von Stellen oder einem Chaos von Buchstaben.“ (Berthold 1993, S. 314)
6 Cicero, De Oratore, Lib. II, Cap. 67, Par. 269 : „Urbana etiam dissimulatio est, cum alia dicuntur ac sentias […]“
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Auch Bode (1988) beschäftigt die historisch bedingte Veränderung der Literatur, allerdings konzentriert er sich eher auf die Zeit der literarischen Moderne. Im Anschluss an eine umfangreiche Untersuchung der Frage, wie konstitutiv Ambiguität für die Literatur (bzw. für die Kunst im Allgemeinen) sei, stellt er die These auf, dass in allen Künsten die Selbstbezüglichkeit der Zeichen auf dem Vormarsch sei, auch in der Literatur. Allerdings zeigt sich diese „übergeordnete evolutionäre Tendenz auf Selbstbezüglichkeit der ästhetischen Strukturen“ (381) in der Literatur später und nicht so radikal wie in der Malerei und der Musik, weil Sprache immer „mit ihrer Primär-Referenz, ihrem Vormals-Bedeuten behaftet“ sei (380). Die Kernaussage von Bode ist also in erster Linie auf die Literaturproduktion bezogen, wobei die Spielräume zur Entwicklung neuer Formen in der Literatur-Produktion – wie Berthold hervorgehoben hat – eng mit der sich verändernden Rezeptionskompetenz der Leserschaft verknüpft sind.
3.3 Hypothesen über die Funktionen der literarischen Mehrdeutigkeit für den Leseprozess 3.3.1 Ist Mehrdeutigkeit ein ästhetisches Qualitätsmerkmal? „Im Grunde ist eine Form ästhetisch gültig gerade sofern, als sie unter einer vielfachen Perspektive gesehen und aufgefasst werden kann“, schreibt Eco über das „offene Kunstwerk.“ (Eco 1973, S. 30)
Schmidt (1980) beschränkt sich ebenfalls nicht auf die wertfreie Definition von Polyfunktionalität/Polyvalenz, sondern er erhebt diese Texteigenschaft zur Norm für literarische Texte/literarisches Lesen. Auch Roland Barthes (1976) hebt in seinem berühmten Essay „S/Z“ genau diesen spannungsreichen und mehrdeutigen Textaufbau als kennzeichnend für anspruchsvolle Literatur hervor, wenn er zwischen den zur persönlichen Bedeutungsbildung anregenden, schreibbaren Texten und den einsinnigen, lediglich lesbaren Texten unterscheidet. „Das Schreibbare […] weil es das Vorhaben der literarischen Arbeit (der Literatur als Arbeit) ist, aus dem Leser nicht mehr einen Konsumenten,
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sondern einen Textproduzenten zu machen […] Als Gegenüber des schreibbaren Textes etabliert sich […] sein negativer, reaktiver Wert, sein Gegenwert; das, was gelesen aber nicht geschrieben werden kann: das Lesbare.“ (Barthes 1976, S. 8, stark gekürzt) „Der schreibbare Text, das sind wir beim Schreiben, bevor das nicht endende Spiel der Welt (die Welt als Spiel) durch irgendein singuläres System (Ideologie, Gattung, Kritik) durchschritten, durchschnitten, durchkreuzt und gestaltet worden wäre, das sich dann auf die Pluralität der Zugänge, die Offenheit des Textgewebes, die Unendlichkeit der Sprachen niederschlägt.“ (Barthes 1976, S. 9)
Die Reduzierbarkeit auf eine einzige, „richtige“ Lesart ist gerade nicht das Ziel des schreibbaren Textes: „in Wirklichkeit geht es immer um einen Gewinn an spielerischer Lust: um die Signifikanten zu vermehren, nicht um irgendein letztes Signifikat zu erreichen.“ (Barthes 1976, S. 165)
Weil (1986) vertritt in der Tradition der Kunstphilosophie von Susanne Langer (1953) die These, dass jede Kunst, nicht nur das literarische Kunstwerk, mehrdeutig sei. Während die Alltagssprache dazu diene, bestimmte praktische Aufgaben im Zusammenleben der Menschen zu bewältigen und deswegen immer auch an die Kontexte gebunden ist, in denen die zu lösenden kommunikativen Aufgaben des Alltags verortet sind, ist das Kunstverständnis nicht-pragmatisch und beruht auf der freien Konstruktion von Kontexten durch den Betrachter/Hörer. Die Mehrdeutigkeit ergibt sich also aus der Möglichkeit des Rezipienten, die in der Kunst enthaltenen symbolischen Formen entsprechend den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu rahmen. Insofern bezieht sich der Ambiguitätsbegriff von Weil auf den interindividuellen Aspekt der Mehrdeutigkeit. Weil ist weiterhin der Meinung, dass Kunst auf eine einsinnige Zeichen-Referent-Beziehung verzichte und daher der Unabgeschlossenheit (ever moving patterns) vom Wechselspiel zwischen Gefühlen mit Gedanken und Eindrücken entgegenkomme. Dieser Aspekt der ständigen Veränderbarkeit der Kunsterfahrung entspricht also dem intraindividuellen Ambiguitätskonzept, wie es oben vorgestellt wurde. So wie Gefühle kommen und gehen, muss auch die subjektiv realisierte Aussage des Kunstwerks veränderbare Perspek-
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tiven zulassen. Mit einer entsprechenden Formulierung bringt auch Langer (1953, S. 40) ihren Grundgedanken zum Ausdruck: „Art is the creation of forms symbolic of human feeling.“
Die Ambiguität des Kunstwerks findet nach Meinung vieler ihre Entsprechung in der Ambiguitätstoleranz seiner Rezipienten, aber auch der Umkehrschluss scheint zu gelten. In dieser Überzeugung warnten in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts solche Gesellschaftskritiker, die eine weitere Ausbreitung der Massenkultur (insbesondere des sich rasch ausbreitenden Fernsehangebots) vorhersahen: Nur wer Ambiguität genießen kann, kann sich auch für Kunst und insbesondere für die Weiterentwicklung des künstlerischen Ausdrucks interessieren. Nach Ansicht des amerikanischen Politologen Abraham Kaplan zeichnen sich Anhänger populärer Kulturformen durch ihre Angst vor Vieldeutigkeit aus. „In the taste for popular art there is a marked intolerance of ambiguity […] At bottom ambiguity is frightening. That is why the newest art is always either funny or infuriating: we laugh at what we cannot understand so as to discharge the tension of the fear it arouses, and what is perceived as a threat may also provoke anger.“ (Kaplan 1964, S. 356)
Die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts aufgekommene (vgl. Turner 1990) und bis heute anhaltende Debatte über den gesellschaftspolitischen und ästhetischen Status von Populärkultur hat jedoch dazu geführt, dass manche Standards, die traditionell nur dem hochkulturellen Kunstwerk zugeschrieben wurden, nun auch für populäre Erzeugnisse, wie z.B. Fernsehunterhaltung, reklamiert werden. Fiske (1987) hält ein gewisses Ausmaß an Textoffenheit auch in Fernsehsendungen für unvermeidlich: „To be popular, then, television must be both polysemic and flexible […] I shall characterize the television text as a state of tension between forces of closure, which attempt to close down its potential of meanings in favor of its preferred ones, and forces of openness, which enable its variety of viewers to negotiate an appropriate variety of meanings.“ (Fiske 1987, S. 84)
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Und Luhmann (1996, S. 112) konstatiert „Unterhaltungssendungen haben somit immer einen Subtext, der die Teilnehmer einlädt, das Gesehene oder Gehörte auf sich selber zu beziehen.“
Zumindest die interindividuelle (Be-)Deutungsoffenheit kann folglich auch dem trivialen, ästhetisch anspruchslosen Text nicht abgesprochen werden (vgl. zum Beispiel die Studie von Holly (1995) zur Textoffenheit in der Fernsehserie „Lindenstraße“). Kurz (1999) stellt ebenfalls kritisch fest, dass die vielfach behauptete, exklusive Beziehung zwischen als wertvoll erachteter Literatur und Vieldeutigkeit keineswegs gegeben ist : „Die moderne ästhetische Diskussion wird beherrscht von der fraglosen Geltung des Vieldeutigkeitsschemas. Literatur und Eindeutigkeit schließen sich demzufolge prinzipiell aus.“ (S. 95)
Der Autor hält diese Sicht jedoch für überzogen und einseitig: 1. Das Ausmaß an Vieldeutigkeit literarischer Werke variiert je nach Epoche und Gattung (vgl. hierzu auch Berthold 1993). 2. Vieldeutigkeit stellt keine Antwort auf ein ambivalentes Wertebewusstsein in modernen Gesellschaften dar, wie dies z.B. von Zima (1996, 2001) behauptet wird. Vieldeutigkeit gab es schon immer (Kurz verweist z.B. auf bildliche Darstellungen aus der Steinzeit). 3. Vieldeutigkeit findet sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Wissenschaft (z.B. Geschichtswissenschaft). Selbst Gesetzestexte, deren Verfasser auf größtmögliche Eindeutigkeit Wert legen, sind interpretationsbedürftig. 4. Fiktion ist nicht per se vieldeutiger als die Lebenswelt. Literarische Figuren haben im Gegensatz zu Personen keine Vergangenheit und keine Zukunft, kein Entwicklungspotential. 5. Jeder Text kann daraufhin untersucht werden, welcher Kontext für ihn relevant ist, welche gesellschaftliche Funktionen er übernimmt, welche impliziten Voraussetzungen gemacht werden. Wie die Untersuchungen zur linguistischen Pragmatik gezeigt haben, ist auch die Bedeutung von Alltagsäußerungen in hohem Maße kontextabhängig und interpretationsbedürftig.
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Insgesamt erbrachte der Diskurs über Vieldeutigkeit als Werkeigenschaft (Ausdruck des künstlerischen Gehalts) bzw. Vieldeutigkeit als Stilmittel, das einer ganz bestimmten Autorenintention entspricht (intendierte Bewusstseinsbildung bei den Rezipienten), weniger klare Zusammenhänge als ursprünglich erhofft. Weder ließ sich die Ambiguität als exklusives Merkmal von hochkulturellen Erzeugnissen der Literatur, Musik oder bildenden Kunst reklamieren, noch findet sich ein Trend zum vermehrten Einsatz von Textoffenheit im Dienste der Aufklärung. Es scheint daher unumgänglich, die einseitige Konzentration auf Textmerkmale zugunsten einer Analyse der Text-Leser-Interaktion aufzugeben. Statt nur zu konstatieren, dass bestimmte Werke mehr Ambiguitätserfahrungen auslösen als andere, soll im Folgenden der Blick auf den Prozess der Verarbeitung von Ambiguität gerichtet werden.
3.3.2 Literaturtheoretische Annahmen zum Umgang von Lesern mit literarischer Ambiguität Die empirische Erforschung der Leser-Text-Interaktion ist ein schwieriges Unterfangen, da die Textverarbeitung durch den Leser teilweise automatisiert und unbewusst abläuft, und daher nicht unmittelbar der Beobachtung durch Wissenschaftler zugänglich ist. Hinzu kommt die lange Zeit vorherrschende Skepsis der Literaturwissenschaft gegenüber der Angemessenheit einer empirischen Leseforschung, wie sie zum Beispiel Wimsatt und Beardsley vorbringen: „The report of some readers […] that a poem or story induces in them vivid images, intense feelings, or heightened consciousness, is neither anything which can be refuted nor anything which it is possible for the objective critic to take into account.“ (Wimsatt 1970b, S. 32)
Aus diesen Gründen konnte sich ein forschungsstrategischer Zwischenschritt etablieren, der unter dem Sammelbegriff „Rezeptionsästhetik“ lange Zeit die Text-Leser-Forschung geprägt hat. Untersuchungsgegenstand der Rezeptionsästhetik waren (noch) nicht die empirischen Leser eines Textes, sondern die vom Text erwarteten und angesprochenen, also impliziten Leser, deren Reaktionen der Text mit Hilfe seiner Leseanweisungen zu beeinflussen sucht.
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Nach Iser (1984) enthalten literarische Texte „Leerstellen“, an denen der Text uneindeutig ist und verschiedene Anschlüsse von Erwartungen und Vorstellungen (z.B. von Geschichten-Schemata) durch den Leser zulässt. Leerstellen erweisen sich „als ein zentrales Umschaltelement der Interaktion von Text und Leser […und] regulieren daher die Vorstellungstätigkeit des Lesers, die nun zu Bedingungen des Textes in Anspruch genommen wird.“ (Iser 1984, S. 266)
Der Leser wird hier gezwungen, in seiner Phantasie verschiedene Anschlussmöglichkeiten zu entwerfen und anschließend zu prüfen, ob diese eine gute Fortsetzung („good continuation“) der Geschichte erlauben. Im Rezeptionsprozess legt sich der Leser auf eine bestimmte Lesart fest, aber dennoch bleibt eine „latente Störung der erzeugten Gestalten durch die in der Selektion ausgeschlossenen Möglichkeiten“ bestehen. (Iser 1984, S. 210)
Mit der Funktion von „Unbestimmtheitsstellen“ für die Rezeption von literarischen Kunstwerken befasste sich vor Iser bereits Ingarden (1960), mit dessen etwas anders gefärbtem Konzept sich Iser (1984, S. 267ff.) ausführlich auseinandersetzt. Noch früher hatte Sartre (1981, Original 1948), auf diese anregende „Leere“ hingewiesen. Der Leser wird „vom Autor gelenkt; aber er lenkt ihn nur; die Merkzeichen, die er aufgestellt hat, sind durch Leere voneinander getrennt, man muss sie verbinden, man muss über sie hinausgehen. Mit einem Wort: Lektüre ist gesteuertes Schaffen.“ (Sartre 1981, S. 38)
Neben der sog. „Konstanzer Schule“, als deren wichtigster Repräsentant Iser gilt, haben sich auch andere Literaturtheoretiker mit der Frage beschäftigt, welche Leserreaktion wohl eine Vertextungsstrategie wie z.B. die Erzeugung von Text-Ambiguität auslösen könnte oder müsste. Im Rahmen seiner umfangreichen Abhandlung zur Ästhetik der Ambiguität setzt sich Bode (1988) unter anderem auch mit den literaturtheoretischen Schriften von Lotmann und Jakobson auseinander, die
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„wiewohl überhaupt nicht auf eine Hervorhebung literarischer Ambiguität angelegt, doch Mehrdeutigkeit als wesentlichen, gar nicht abzustellenden Zug ‚dichterischer Sprache’ identifizierten.“ (Bode 1988, S. 379)
Bode (1988, S. 44ff) zeigt auf, warum in Lotmans Theorie literarischer Texte der Mehrdeutigkeit ein zentraler Stellenwert zugeschrieben wird. Die Bedeutungskomplexität ist nach Lotman durch wissenschaftliche Interpretationen nicht völlig auszuschöpfen, es bleibt ein „unübersetzbarer Rest“, jeder Versuch zur Umkodierung künstlerischer Sprache stößt an Grenzen. Anstatt die Bedeutungsvielfalt dingfest zu machen, gibt sich der Rezipient einem Spiel mit Bedeutungen hin, lässt mal diese, mal jene Bedeutung aufleuchten. „Der Mechanismus des spielerischen Effekts beruht nicht auf einer statischen gleichzeitigen Existenz verschiedener Bedeutungen, sondern auf dem ständigen Bewusstsein der Möglichkeit anderer Bedeutungen als der, die gerade wahrgenommen wird.“ (Lotman 1981, S. 107)
Lotman prägte für dieses Phänomen den Begriff des „Flimmerns.“ Im einfachsten Fall ergibt sich die changierende Bedeutung bereits aus der Doppelkodierung jedes Textes, die daraus resultiert, dass der Text als Ganzes ein bedeutungsvolles Zeichen darstellt, aber darüber hinaus aus einer Folge von Einzelzeichen aufgebaut ist, die in einer natürlichen Sprache verankert sind. Häufig wird der Autor jedoch bestrebt sein, die Anzahl der Codesysteme noch weiter zu erhöhen, während der literarisch ungeübte Leser viel eher die Tendenz hat, den Text unterhalb dem potentiell möglichen Komplexitätsniveau zu rekonstruieren. Auch im Werk von Roman Jakobson findet Bode Hinweise auf die Entstehung und Wirksamkeit von Ambiguität in literarischen Werken. Im Gegensatz zur Alltagssprache wird laut Jakobson die Wahrnehmung des Lesers/Hörers auf ein Wort als Wort gelenkt (z.B. durch Rhythmik, Reim usw.) und nicht nur auf den durch das Wort bezeichneten Gegenstand. Somit betont auch Jakobson die Selbstbezüglichkeit poetischer Sprache. Aber: „Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht nicht den Bedeutungscharakter aus, sondern macht ihn doppeldeutig.“ (Jakobson 1972, S. 138)
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Bode fasst die Selbstbezüglichkeit der poetischen Sprache in ein anschauliches Bild: „Wenn Sachtexte wie Glasfenster sind, die uns einen Blick auf das ‚Draußen’ erlauben (und darin auch ihre Funktion haben), so ist ein literarischer Text wie ein farbiges Kirchenfenster. Was es zu zeigen hat, ist in ihm selbst, nicht dahinter, auch wenn das Licht des Draußen durchscheint.“ (Bode 1988, S. 54)
Bode zieht aus seiner Sichtung von diesen und anderen literaturtheoretischen Klassikern den Schluss, dass die Primär-Referenz des einzelnen Wortes in der poetischen Sprache keineswegs außer Kraft gesetzt wird. Wenn aus referenzbehafteten Wörtern unter zu Hilfenahme unterschiedlichster poetischer Verfahren eine neue Binnenstruktur des Textes hervorgeht, so entsteht das „Flimmern“ der Bedeutungen gerade deswegen, weil die Primärreferenz – wenn auch verschiedentlich gebrochen – erhalten bleibt.
3.3.3 Psychoanalytische Annahmen zum Umgang von Lesern mit literarischer Ambiguität Psychoanalytisch orientierte Kulturwissenschaftler beschäftigen sich gelegentlich mit den emotionalen Folgen des Lesens bzw. der Kunstrezeption. Dabei wird zumeist die Parallele zwischen dem mütterlichen Beziehungs- und Deutungsangebot an den Säugling und der emotionalen Versorgung des Lesers durch die Lektüre betont. Priel (1994) bezieht ihre Argumente aus dem objektbeziehungstheoretischen Ansatz der Psychoanalyse. Dieser Ansatz beruht auf klassischen Arbeiten von Melanie Klein und Donnald Winnicott, vor allem aber auch auf der Beobachtung und Interpretation der Mutter-Kind-Interaktion im Säuglings- und Kleinkindalter durch Margret Mahler und ihre Kollegen (Mahler/Pine/Bergman 1990). Objektbeziehung meint in diesem Zusammenhang die sich im Entwicklungsverlauf ändernde Beziehung des Kindes zu seinem ersten Liebesobjekt (also in der Regel der Mutter), die von einer anfänglichen Verschmelzungsphantasie (Symbiose) über mehrere Schritte der Loslösung zur erfahrenen Autonomie und damit zur „psychischen Geburt“ des Kindes führt. Die schrittweise Loslösung
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(Separation) von der Mutter wird nach Mahler vom Kleinkind durchaus ambivalent erlebt (Autonomiegewinn vs. Geborgenheitsverlust). Im Säuglingsalter transformiert die Mutter – aus objektbeziehungstheoretischer Sicht – die interne und externe Umwelt des Kindes. Da das Kind erst Schritt für Schritt lernen muss, zwischen sich und der Mutter zu unterscheiden, werden in den ersten beiden Lebensjahren die emotionalen Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind noch nicht von internen – vom kindlichen Organismus selbst hervorgebrachten – Emotionen getrennt. Diese von Mahler et al. vor mehr als 30 Jahren formulierten Beobachtungen haben sich auch in der aktuellen, experimentell orientierten Säuglingsforschung replizieren lassen. Externe Regulationen zwischen Mutter und Kind (z.B. der beruhigende Einfluss der mütterlichen Stimme) werden erst allmählich in interne Selbst-Regulationen des Säuglings transformiert (vgl. die Beiträge in: Friedelmeier/Holodynski 1999). Priel (1994) vermutet nun, dass diese Transformationserlebnisse in ästhetischen oder religiösen Erfahrungen wieder durchlebt werden können. „In adult life traces of early transformational experience are assumed to reappear in aesthetic and religious experience.“ (550)
Vieldeutige Texte sind nach der Ansicht dieser Autorin dazu geeignet, Leser zu ängstigen, weil sie diese an die früher erlebte Trennungssituation und die damit einhergehende Verunsicherung erinnern: „The reading of texts structured as permanently ambiguous evokes an increased awareness of the loss of or separation from an omnipotent transformational object.“ (Priel 1994, S. 548)
Wenn der Leser eines mehrdeutigen Textes die dabei aufkommende Angst vor Objektverlust nicht mehr ertragen kann, transformiert er möglicherweise die Wirklichkeit selbst, d.h. er entwickelt eine schlüssige Lesart, indem er widersprüchliche Informationen ausklammert. Die Autorin zeigt am Beispiel der Erzählung „The turn of the screw“ von Henry James, dass verschiedene Literaturwissenschaftler von der einen oder anderen eindeutigen Lesart überzeugt sind, obwohl James selbst die Möglichkeit zur Auflösung der textinternen Ambiguität verneint. (Aber natürlich kann Priel nicht bewei-
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sen, dass die von ihr zitierten Literaturwissenschaftler aus Angst vor Objektverlust zu einer eindeutigen Lesart tendieren.) Die Psychoanalyse folgt nach Wyss (1961) einem dialektischen Erklärungsmodell, in welchem sich die Protagonisten und die Antagonisten einer seelischen Reaktion gegenseitig hemmen und/oder überwinden (z.B. Es-Wünsche vs. Über-Ich-Kontrolle, Angstabwehr durch Verdrängung vs. Angstbewältigung durch Selbstkonfrontation). Daher verwundert es nicht, dass auch genau die gegenteilige Wirkung von ästhetischer Ambiguität auf das Angsterleben der Rezipienten beschrieben worden ist. So haben zum Beispiel verschiedene Kunstwissenschaftler in dem malerischen Werk von Paul Cezanne deutliche Widersprüche in Bezug auf Solidität und Raumperspektive der dargestellten Objekte konstatiert. Weiss (1953) vermutet, dass die daraus resultierenden uneindeutigen Objektwahrnehmungen dem Betrachter einen distanzierten und damit angstfreien Blick auf die Darstellungen erlauben. Er stellt dies in einen Zusammenhang mit Berichten über Sexualängste des Malers, die vielleicht die psychologische Notwendigkeit für seine persönliche Art und Weise des „detached looking“ erklären könnten.
3.4 Empirische Befunde 3.4.1 Folgen von Mehrdeutigkeit für die Attraktivität von Kunstwerken auf ihre Leser/Betrachter Die Kunstpsychologie ist eine eher kleine Anwendungsdomäne der psychologischen Forschung. Als Wegbereiter der experimentellen Wahrnehmungs- und Emotionsforschung gilt unbestritten der Psychologe Daniel Berlyne, der sich ausführlich mit der Kunstvorliebe und dem Kunstverstehen befasst hat. Er hat eine Theorie der ästhetischen Wahrnehmung entwickelt (Berlyne 1960, 1971), die davon ausgeht, dass die Motivation, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, wie auch die Wertschätzung von mehr oder weniger künstlerischen Gebilden (Texte, Musik, Bilder) durch einige wenige StimulusEigenschaften und Variablen der Informationssuche determiniert werden. Eine herausgehobene Bedeutung kommt in dieser Theorie den „collative variables“ (Variablen des Vergleichs) zu:
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„ihre Bestimmung erfordert die Untersuchung der Ähnlichkeiten und Differenzen, der Kompatibilitäten und Inkompatibilitäten zwischen Elementen: zwischen einem vorhandenen Stimulus und Stimuli, die früher erfahren worden sind (Neuartigkeit und Veränderung), zwischen einem Element eines Musters und anderen, begleitenden Elementen (Komplexität), zwischen gleichzeitig aktivierten Reaktionen (Konflikt), zwischen Stimuli und Erwartungen (Überraschungswert) oder zwischen gleichzeitig aktivierten Erwartungen (Ungewissheit).“ (Berlyne 1960, zitiert nach der dt. Ausgabe 1974, S. 68)
Die collativen Variablen „complexity“, „incongruity“ und „ambiguity“ beziehen sich teils auf objektive Stimuluseigenschaften, teils auf subjektive Wahrnehmungsweisen. Berlyne nimmt nun an, dass die Präferenz für eine bestimmte Reizkonfiguration entscheidend von der Komplexität der Konfiguration abhängt und diese beiden Variablen in einer umgekehrt Uförmigen Beziehung zueinander stehen. Der Einfluss von komplexen Reizkonfigurationen auf die Bewertung wurde in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen. Groeben (1977) hält die hier beschriebene Beziehung für „eine der am besten bestätigten der Psychologie.“ (38) Der charakteristische umgekehrt U-förmige Zusammenhang zwischen hedonistischem Wert und Erregungspotential ergibt sich nach Berlyne (1974a) aus dem Zusammenspiel zweier antagonistischer Verarbeitungsprozesse, nämlich der Attraktivität komplexer Muster einerseits (reward) und der Überforderung (aversion) angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe andererseits. Weiterhin nahm Berlyne an, dass sich gleichzeitig einwirkende, aber aus verschiedenen Quellen stammende Reize gegenseitig in ihrer Wirkung verstärken. In zahlreichen Experimenten von Berlyne und anderen Forschern wurde Komplexität schlicht durch die Anzahl der Ecken von Polygonen operationalisiert und es wurde darauf verzichtet, weitere Kontrollvariablen, wie z.B. den subjektiv empfundenen Bedeutungsgehalt der Reizkonfiguration, in ihrer Auswirkung auf die Präferenz zu überprüfen. Martindale et al. (1990) konnten in ihrer Untersuchungsreihe die umgekehrt U-förmige Beziehung zwischen Präferenz und Komplexität dann replizieren, wenn sie Berlynes Experimentalanordnung genau kopiert haben, allerdings verschwand der Effekt, wenn der Bedeutungsgehalt der Objekte kontrolliert wurde und die Form der Regressionsgerade veränderte sich, wenn
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hinsichtlich der ästhetischen Bewertung ökologisch validere Objekte (Gemälde statt Polygone) verwendet wurden. Zur Frage der empirischen Bestätigung von Berlynes Theorie schwelt in der Fachliteratur seit Jahrzehnten eine Kontroverse, die sporadisch in neuen Experimenten und/oder neuen Konzeptualisierungsvorschlägen ihren Ausdruck findet. Martindale et al. (1990) zweifeln alle drei genannten Postulate Berlynes an: In ihren experimentellen Untersuchungen erwies sich (1) weder die Stimuluskomplexität als wichtigster Pädiktor einer Präferenz für bestimmte Reizkonstellationen, noch (2) bestand eine inverse U-förmige Beziehung zwischen Erregungspotential und Präferenz, noch (3) ließen sich die verschiedenen Erregungsdeterminanten – wie theoretisch vorhergesagt – aufsummieren. Konecni (1996) befasst sich wiederum ausführlich mit diesen kritischen Experimenten Martindales und kommt zu dem Schluss, dass die Operationalisierungen der nach Berlyne hypothetisch relevanten Variablen durch Martindale völlig unzureichend vorgenommen wurde, dass seine Interpretation der aufgefundenen Regressionsgeraden unzulässig ist und dass Martindale insgesamt von der Fehleinschätzung ausgeht, bei Berlynes Aussagen handle es sich um eine empirisch überprüfbare Theorie. Vielmehr attestiert er Berlynes Konzept „a fundamental untestability“ (135), z.B. weil Berlyne allgemeine Zusammenhänge hypostasiert habe, die sich in einer infiniten Zahl von menschlichen Verhaltensproben letztlich abzeichnen sollten (132), aber keineswegs für alle konkreten Untersuchungsanordnungen Gültigkeit beanspruchen wollen. Im Anschluss an diese Kritik zu Berlynes Hypothesen muss der Ausgang des Streits aus der Sicht der experimentellen Wahrnehmungspsychologie als völlig offen gelten. Nach dem heutigen Stand der empirischen Forschung hat sich Berlyne wohl einfach zu viel vorgenommen, wenn er hirnphysiologische Phänomene (z.B. den Grad der durch Umweltreize ausgelösten Erregung), Phänomene, wie sie bei der Reizverarbeitung auftreten (z.B. die Tendenz zur Gestaltschließung und zur Herstellung von Kohärenz bei der Stimulusverarbeitung) und kognitive Phänomene (Wertschätzung für ein bestimmtes ästhetisches Werk) in einer Gesetzmäßigkeit zusammenfassend erklären wollte. Für die Notwendigkeit einer bereichspezifischen Analyse von physiologischen, informationsverarbeitenden und kulturellen As-
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pekten der ästhetischen Erfahrung sprechen folgende Untersuchungsergebnisse: • Wenn die Neugier der Betrachter geweckt wird, achten sie eher auf inkongruente Stimuli, wenn sie dagegen erwarten, dass sie die Reizkonstellation erinnern sollen, achten sie eher auf komplexe Stimuli (Greenberger, Woldman und Yourshaw 1967). • Die vom Betrachter subjektiv bewerteten eigenen Stimmungen, Affekte und Emotionen sagen besser als der physiologisch messbare Erregungszustand die Präferenz für bestimmte ästhetische Gebilde vorher (Konecni 1996). • Die wahrgenommene Bedeutung einer Konfiguration ist wichtiger als deren Komplexität (Martindale et al. 1990). • Die U-förmige Regressionskurve zwischen Komplexität und Präferenz ist gegenstandsspezifisch unterschiedlich deutlich ausgeprägt (Orr/Ohlsson 2001) in einem Vergleich bezüglich der Wirkung von Jazz- vs. Bluegrass-Musik). Offenbar sind noch andere Faktoren für die Attraktivität von Kunstwerken zuständig als deren Reizqualität. In erster Linie wird man hier an gesellschaftlich vermittelte Werturteile denken müssen. In diesem Sinne interpretieren Katz und HaCohen (2003) kunstphilosophische Überlegungen von britischen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts auf dem Hintergrund aktueller kognitionspsychologischer Erkenntnisse neu. Als Konsequenz ihrer Analysen schlagen sie vor, die Ebene der Konzeptbildung („sense making“) von der Ebene des Symbolverständnisses („meaning“) zu trennen und den letztgenannten Prozess als zeitlich nachgelagert zu betrachten: „A separation was then set between sense making and meaning. While sense making highlighted process and coherence, meaning was grafted onto the constructive elements that create coherence, which are necessary, of course, for its mode of symbolization. Sense making was increasingly related to innate operations of the mind, while meaning became more and more identified with the aspects of culture, conventions and their likes. The separation between sense making and meaning notwithstanding, they remained intimately connected through the constructive elements.“ (281)
Wie im Kapitel 2 gezeigt wurde, stellt die Kommunikation einen Ort dar, in welchem die kulturelle Bedeutung von Kunstwerken erarbeitet und festgelegt wird. Dieser gesellschaftliche, kommunikati-
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ve Prozess ist an die individuelle Rezeption des Kunstwerks gekoppelt, zugleich aber auch operativ von der Kognition getrennt.
3.4.2 Konstituierung von Lesarten im Rezeptionsprozess Die Prozeduren, die Leser einsetzen, um den Sinn literarischer Werke zu erarbeiten, werden häufig als Lesestrategien bezeichnet. Die empirische Erforschung solcher Lese- und Verarbeitungstechniken basiert zumeist auf Selbstbeobachtungsmethoden, die bekannteste Methode ist hier die „Methode des Lauten Denkens.“ Da es sich bei Gedichten um eine wenig umfangreiche Textsorte handelt, die aber häufig besondere Anforderungen bei der Sinnkonstitution stellt, finden sich relativ viele Arbeiten, die die Erforschung der Lesestrategien beim Lesen von Gedichten zum Ziel haben. Viehoff (1986) hat die Kommentare von Lesern eines schwer verständlichen Gedichts analysiert und dabei nachgewiesen, dass Leser ihre Lesestrategien ändern, wenn sie feststellen, dass der vorgelegte Text einen ästhetischen Anspruch erhebt (hier: dass es sich um ein Gedicht handelt). In diesem Fall treten metakognitive Reflexionen über die Schwierigkeiten, einen kohärenten Textsinn zu entdecken, in den Hintergrund, während die typischen Merkmale der Textsorte „Gedicht“ stärker artikuliert werden („no rhyme“, „what a beautiful metaphor“; Viehoff 1986, S. 297). Fairley (1988) gibt auf empirischer Grundlage als erfolgreiche Strategien der Gedichtrezeption Handlungsweisen an, wie z.B. „look for human significance, expect parts of the text to be cohesive according to some overall composite plan, […].“(S. 314)
Hanauer (1998) hat aus dem Vergleich von formalen (nach Roman Jakobson) beziehungsweise konventionsabhängigen (nach Siegfried J. Schmidt) Besonderheiten von Gedichten und enzyklopädischen Texten jeweils textadäquate Lesestrategien abgeleitet und ebenfalls empirisch überprüft. Alle vorgenannten Untersuchungen bedienten sich der „Methode des lauten Denkens“. Als methodische Variante7 finden sich in 7 Einen Überblick über Methoden der empirischen Literaturwissenschaft geben Charlton und Barth, 1999. 68
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der empirischen Literaturwissenschaft aber auch experimentelle Untersuchungen, die häufig mit manipulierten Textversionen arbeiten. Diese Methode erlaubt es, auf die Introspektion der Lesenden zu verzichten. Je nach Fragestellung kann dies vorteilhaft sein, da die beim literarischen Lesen eingesetzten kognitiven Lesestrategien teilweise stark automatisiert sind und daher dem Lesenden nie vollständig bewusst werden. Als Beispiel für eine experimentell-manipulative Studie soll hier eine Untersuchung von Halasz (1993) vorgestellt werden. Eine besonders wichtige Lesestrategie im Dienste der Disambiguierung von literarischen Texten ist die Kohärenzbildung. Leser bilden Erwartungen aus, wie eine Geschichte weitergehen bzw. enden könnte und – wenn nötig – reinterpretieren sie bereits Gelesenes, um es mit neuen Informationen zur Übereinstimmung zu bringen. Halasz (1993) untersuchte in 2 Experimenten die voraus- und zurückgerichteten Erwartungen von Lesern anhand einer zeitgenössischen amerikanischen Kurzgeschichte, Versuchspersonen waren Budapester Schüler. Der Autor der Geschichte bediente sich eines eher traditionellen, linearen Erzählstils. Für das Leseexperiment I wurden vier Guppen von Lesern gebildet. Jede Gruppe bekam nur eine Texthälfte (Anfang oder Schluss) vorgelegt und musste entweder den wahrscheinlichsten oder den unwahrscheinlichsten Schluss bzw. Anfang aus einer Anzahl von vorgegebenen Alternativen auswählen. Im Leseexperiment II wurde die Anzahl der verfügbaren Informationen verdoppelt, d.h. die Geschichten wurden stärker expliziert und damit im Prinzip eindeutiger gemacht. Erwartungsgemäß haben die Schüler in beiden Experimenten mit großer Treffergenauigkeit den „richtigen“ Geschichtenanfang bzw. Schluss ausgewählt bzw. den „falschen“ Anfang/Schluss verworfen. Überraschenderweise wurde die Trefferzahl jedoch nicht verbessert, sondern sogar etwas verschlechtert, wenn die vorgegebenen Alternativen mehr und detailreichere Informationen enthielten. Der Autor vermutet, dass die (zu) große Komplexität der Aufgabe im zweiten Experiment den Leser zu einer verstärkten Auswahl unter den von ihm für relevant gehaltenen Informationen geführt hat – und damit zugleich auch zu individuelleren und weniger konformen Erwartungen an den Anfang bzw. Fortgang der Geschichte. Beide Experimente wurden auf der Basis einer ungarischen Kurzgeschichte mit vergleichbaren Ergebnissen wiederholt.
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Die Experimente von Halasz zeigen, dass Leser von Romanen Vorstellungen über eine „good continuation“ entwickeln und dann einsetzen können, wenn der Text Leerstellen aufweist. (Im Experiment war durch das Weglassen einer Texthälfte sozusagen eine ungewöhnlich gewichtige „Leerstelle“ erzeugt worden.) Andererseits ist es aber falsch anzunehmen, der Leser würde alle zur Verfügung stehenden Informationen zur Auffüllung der Leerstellen tatsächlich auch nutzen. Wahrscheinlich sind die vom Leser eingesetzten „story grammars“ recht stereotyp und schlicht aufgebaut, so dass zu viel Informationen eher verwirren anstatt die Aufgabe zu erleichtern. Der Umgang des Lesers mit Ambiguität ist im Rahmen des Forschungsprogramms der Empirischen Literaturwissenschaft in zahlreichen Studien untersucht worden. Meutsch und Schmidt (1985) fassen ihre eigenen empirischen Untersuchungsergebnisse zur Polyvalenzkonvention folgendermaßen zusammen: • Beim Lesen literarischer Texte kommen Verstehensprobleme vor, die die Kommunikatbildung (also das individuelle Ergebnis der Erzeugung eines Textsinns) erschweren. • Polyvalente Kommunikatbildungsprozesse manifestieren sich in einer Tendenz zum Wechseln des Bezugsrahmens. • Dieser Wechsel wird vom Rezipienten positiv erlebt. • Nicht-narrative literarische Texte (z.B. Gedichte) erzeugen mehr polyvalente Kommunikatbildungsprozesse als narrative. Groeben und Schreier (1992) sichteten alle bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erreichbaren empirischen Untersuchungen zur Polyvalenz literarischer Texte und kommen zu dem Schluss, dass intraindividuell empfundene Polyvalenzen zu einer verstärkten Suche nach einem kohärenten Textsinn führen – am Ende werden eindeutige Lesarten bevorzugt. Interindividuelle Lesartenunterschiede ergeben sich vor allem aus der unterschiedlichen Lesekompetenz der Rezipienten. Leider beschränken sich die meisten Autoren von Studien zur Rezeption von mehrdeutigen Texten auf die Beschreibung von kognitiven Lesestrategien. Zum Beispiel haben Dias und Hayhoe (1988) Schüler in Gruppen über die Bedeutung eines Gedichts diskutieren lassen und aus den Gesprächsprotokollen erfolgreiche Strategien der Sinnerschließung abgeleitet. Den vier aufgefundenen Techniken (paraphrasing, thematizing, allegorizing and problem-solving) ordnen die Autoren Lesertypen zu (paraphrasers usw.), die diese Lesestrategie überwiegend bzw. ausschließlich anwenden. Die Autoren 70
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haben also eine im Schulunterricht nicht unübliche soziale Situation geschaffen, nämlich das Gruppengespräch, um die kognitiven Lesestrategien der Schüler zu erforschen. Da die Schüler im Rahmen des Forschungsdesigns die Gelegenheit zum Gespräch nicht feiwillig gesucht haben, gerät den Autoren aus dem Blick, dass das Sprechen über Literatur (von uns unter den Begriff „Anschlusskommunikation“ subsumiert) im Alltag von (freiwilligen) Lesern eine der wichtigsten Methoden zur Sinnkonstitution darstellt. Den kommunikativen Techniken, die die Schüler anwenden mussten, wenn sie sich über die Gedichttexte miteinander austauschen wollten, widmen Dias und Hayhoe keine Aufmerksamkeit. Im Unterschied zu den meisten anderen Autoren, hat Pette (2001) nicht nur kognitive, sondern auch emotionale und soziale Strategien im Zusammenhang mit dem Lesen von Romanen identifiziert. Diese Autorin hat Leser dazu angehalten, sich beim Lesen eines Romans selbst zu beobachten und die eingesetzten Lesestrategien zu protokollieren. Herausgekommen ist dabei eine umfangreiche Liste von mehr oder weniger komplexen Verhaltensweisen: Lesestrategien im Dienste der Verstehenssicherung, zur Überbrückung von Verständnislücken, zur Sicherung von Lesebedürfnissen, zur Erhöhung der Lesemotivation, zur Regulation emotionaler Betroffenheit, zur Erleichterung der Aneignung des Medienthemas an die eigene Lebenspraxis, zur Selbstvergewisserung und Identitätssicherung. Einige dieser Strategien sind kognitiver Natur (z.B. eine gelesene Situation weiterphantasieren; auf widersprüchliche Textaussagen achten usw.), ein beträchtlicher Teil der Strategien ist aber eher sozial fundiert und kommt häufig auch nicht während des Leseprozesses im engeren Sinn, sondern bei der Vor- und Nachbereitung der Lektüre zum Einsatz (z.B. sich vom Buchhändler bei der Lektüreauswahl beraten lassen, mit Freunden über das soeben gelesene Buch sprechen usw.). Charlton, Pette und Burbaum (2004) sowie Burbaum, Charlton und Schweizer (2004) haben auf der Basis einer repräsentativen Telefonbefragung von Romanlesern in Deutschland aufgezeigt, mit welchen Sozialisations- und Lebensbedingungen (Qualität und bzw. Dauer der Leseerziehung in Elternhaus und Schule, Geschlecht, kulturelles Milieu, Stellenwert des Lesens im Beruf) die Verwendung einzelner Lesestrategien zusammenhängt. Diese Untersuchungen lassen den Schluss zu, dass die Sinnkonstitution nicht als ein ausschließlich vom vereinzelten Individuum 71
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zu leistender kognitiver Prozess verstanden werden kann. Vielmehr ist es notwendig, die Kommunikationsform „Lesen“ im Kontext der voraus laufenden und anschließenden weiteren Kommunikationsund Interaktionsprozesse zu analysieren. Anschlusskommunikation wird in ganz besonderem Maße durch die Ambiguität von Texten provoziert, wenn der Sinn in der individuell-kognitiven Phase der Textrezeption nicht befriedigend aufgeklärt werden kann.
3.5 Schluss: Mehrdeutigkeit statt Beliebigkeit der Deutungen Emil Staiger (1963, S. 33) beschließt seinen berühmten Aufsatz über die „Kunst der Interpretation“ mit der Feststellung, „dass jedes echte Kunstwerk in seinen festen Grenzen unendlich ist“ und „dass nur alle Menschen zusammen Menschliches zu erkennen vermögen.“ Jeder Interpret kann nur das sehen, was ihm „persönlich zu sehen vergönnt ist“, aber er kann den Versuch machen, das selbst Empfundene zu prüfen und den Nachweis zu erbringen, „dass es stimmt“ (ebda., S.32). Diesen Nachweis führt Staiger (am Beispiel der Interpretation des Gedichts „Auf eine Lampe“ von Mörike), indem er wechselseitige Bezüge zwischen der Biographie des Autors, intertextuellen Verweisen, kulturhistorischen Tatsachen und im Gedicht verwendeten Stilmitteln aufzeigt. Der Versuch dagegen, die Wirkung des Gesamtwerks auf einzelne linguistische oder stilistische Elemente zurückzuführen, führt nach Staigers Ansicht in einen „öden und trügerischen Schematismus.“ Die von Staiger vertretene Position ist in Wahrheit komplexer, als sie zuweilen in der Sekundärliteratur wiedergegeben wird. Sie liegt zwischen den Extremen „unausschöpfbare Textoffenheit vs. Begründbarkeit von Lesarten“ und „zeitlos gültige Interpretation vs. historischer Relativismus.“ Es gibt nach Staiger zwar unendlich viele richtige, aber eben auch falsche Lesarten und die Plausibilisierung einer Lesart ist nicht nur eine Sache des persönlichen Gefühls, sondern sie lässt sich auch an textuellen und außertextuellen Merkmalen festmachen, allerdings nicht am isolierten Schema, sondern nur an dem Gesamtbild der Dichtung und seines Entstehungskontextes. Auch Kurz (1999) geht davon aus, dass die Bedeutungsmöglichkeiten literarischer Texte begrenzt sind, so dass sich eine „bestimmte Unbestimmtheit“ ergibt.
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„Gleichwohl wird diese Unbestimmtheit semantisch konturiert, werden die Bedeutungsmöglichkeiten begrenzt.“ (Kurz 1999, S. 101)
Es gibt viele richtige, aber auch falsche Interpretationen. „Mit einem Gedicht kann man Vieles, aber nicht Alles machen.“ (105)
Für Kurz stellt sich daher nicht die Frage nach möglichen Bedeutungen, sondern die nach der überzeugenden Interpretation. Die sorgfältige, wissenschaftliche Interpretation ist unverzichtbar, weil unter der Bedingung von Schriftlichkeit die Verstehenshilfen wegfallen, die in der face-to-face-Kommunikation in Anspruch genommen werden können (vgl. Ong 1982; Koch/Österreicher 1985). Viehoff (1987) kommt als Vertreter der Empirischen Literaturwissenschaft zu der Ansicht, dass Leser – geleitet durch die instruierenden Hinweise des Textes – individuelle Kommunikate konstruieren. Er betont einerseits die Einzigartigkeit des individuellen Kommunikatbildungsprozesses, dessen jeweilige Besonderheit nicht nur durch die persönlichen Wissensbestände und Einstellungen (z.B. literarische vs. nicht literarische Leseintention), sondern auch durch die aktuellen und früheren emotionalen Erfahrungen der Leser bedingt wird. Zum anderen wird die Leser-Text-Interaktion aber auch durch Textmerkmale gesteuert und ist hoch konventionalisiert, deshalb sind nach Meinung dieses Autors „vollständig private Lesarten“ (Viehoff 1986, S. 403 – Original englisch) nicht zulässig. Thorne (1988) hält die Ergebnisse, die eine formale linguistische Analyse (z.B. das Auszählen bestimmter pronominaler Formen) liefern kann, für sehr begrenzt, wenn nicht gar für unsinnig. Stattdessen spricht er sich für eine gesprächsanalytische bzw. pragmalinguistische Textanalyse aus, die einzelne Wörter oder sprachliche Wendungen in ihrem alltagsüblichen – wörtlichen oder aber auch metaphorischen – Gebrauch analysiert. In seiner beispielhaften Analyse zu den möglichen Lesarten eines Gedichts von Robert Frost („Stopping by woods“) weist Thorne nach, dass bestimmte syntaktische und pragmatische Regeln den Spielraum der zulässigen Auffassungen über den Textsinn begrenzen und zugleich die von zahlreichen Literaturwissenschaftlern formulierte Auffassung bestätigen, dass dieses Gedicht neben seiner offensichtlichen Lesart (Schilderung eines winterlichen Naturerlebnisses) noch eine auf den ersten Blick verborgene Bedeutung (Auseinandersetzung mit einer
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aufkeimenden Todessehnsucht) in sich trägt. Beide Lesarten lassen sich allerdings nicht gegeneinander ausspielen, sondern das Gedicht bezieht seinen Reiz gerade aus diesem Changieren zwischen oberflächlicher und tieferer Bedeutung. Die offensichtliche Lesart lässt – vergleichbar mit einem in der Sprache der Psychoanalyse als „Deckerinnerung“ bezeichneten Phänomen – die Tiefenbedeutung verschlüsselt durchscheinen. Die Ambiguität bleibt unauflösbar, erlaubt es dem Leser aber, sich „gefahrlos“ einem Thema zu nähern, das in einer offenen Formulierung eher ängstigend wirken müsste. Die zitierten Autoren stimmen grundsätzlich darin überein, dass bei aller möglichen Vieldeutigkeit bestimmte Textmerkmale die Freiheit der Interpretation eines literarischen Werkes durch seine Leser begrenzen. Das von Thorne (1988) vorgeschlagene Verfahren einer pragmalinguistischen Textanalyse entspricht weitgehend dem methodischen Vorgehen der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 2000), bei dem der Sinngehalt von Texten unter explizitem Rückgriff auf die Regeln sozialen Handelns rekonstruiert wird. Je nach Textstruktur kann das Ergebnis der Objektiven Hermeneutik im Nachweis bestehen, dass die von einzelnen Lesern produzierten mehrdeutigen Lesarten monosemiert werden können, wenn alle impliziten Textanweisungen korrekt beachtet werden (rezeptionsseitige Ambiguität führt zu interindividuell unterschiedlichen Textauffassungen), oder dass – wie im Falle des Frost-Gedichts – verschiedene Lesarten vom Text gedeckt werden (textseitige Mehrdeutigkeit führt, wenn sie vom Leser erkannt wird, zur Gleichzeitigkeit bzw. zum schnellen Wechsel von zwei oder mehr Lesarten im Rezeptionsprozess). Im folgenden Kapitel finden sich ausführliche Beispiele für die Anwendung dieser Methode auf die Interpretation einer Romanpassage und eines Gedichts.
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4 VERHANDLUNGEN
M E H RDE U T I G K E I T L I T E R A R I S CH E R T E X T E VON
4.1 Einleitung Mit den folgenden Fallanalysen werden Beziehungen zwischen Medienangeboten und Rezeptionsprozessen untersucht. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Beziehungen liegt in der Rekonstruktion der „objektiven“ Sinnstrukturen von Medienangeboten, insofern davon auszugehen ist, dass im Bedeutungshorizont des Medienprodukts die Bedeutungshorizonte der Rezeptionsprozesse angelegt sind. Unserer Vorgehensweise liegt also die Annahme zugrunde, dass Medienangebote selbst ihre Bedeutungen festlegen. Diese Annahme ist mit der weiter oben skizzierten Position des interaktionistischen Konstruktivismus im Rahmen einer Theorie der Lesesozialisation kompatibel: Sie zielt auf eine jeweils eigenständige Konzeptualisierung von Medienangeboten selbst sowie subjektiven und sozialen Aneignungen von Medienangeboten. Die rekonstruierten Sinnstrukturen der medialen Texte fungieren als Bedingungen für die Konstruktion von Bedeutungen in subjektiven und sozialen Aneignungsprozessen. Diesem Zusammenhang gehen wir im Folgenden in den Bereichen des medialen Textes und der Anschlusskommunikationen bzw. kommunikativen Aneignungsprozessen nach. Zunächst werden die Mehrdeutigkeit eines Romantextes und die darin potenziell angelegten und faktisch realisierten Möglichkeiten subjektiver Lesarten rekonstruiert (Abschnitt 2). Weitere Fallanalysen richten sich auf den Text und die Rezeptionen eines Gedichts (Abschnitt 3). Rezeptionen mehrdeutiger literarischer Texte werden in diesen Fallanalysen als kommunikative Aneignungsprozesse beschrieben. Als methodischer Zugang zu und soziale Bedingung von Lesesozialisation spielen kommunikative Aneignungsprozesse eine zentrale Rolle (Abschnitt 4). 75
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4.2 Analyse eines Romans Die folgenden Fallanalysen schließen an das DFG-Projekt „Lesesozialisation im Erwachsenenalter“ an, in dem Untersuchungen zu Prozessen der Lesepraxis durchgeführt wurden (vgl. Charlton/Pette 1999). Erstens werden Teile des in diesen Untersuchungen zugrunde gelegten Romans „Morgen in der Schlacht denk an mich“ von Javier Marias8 sinnstrukturell mit der Methode der objektiven Hermeneutik rekonstruiert. Zweitens wird bereits vorliegendes Material aus diesen Untersuchungen zu Prozessen der Lesepraxis einiger befragter Leserinnen und Leser (vgl. Pette 2000, 2001) einer kurzen Reanalyse unterzogen. Über die Analyse der Lesepraxis in den vorlaufenden Untersuchungen hinausgehend werden umfassend die Beziehungen zwischen literarischen Texten und subjektiven Umgangsweisen mit der Mehrdeutigkeit dieser literarischen Texte rekonstruiert, wobei die subjektiven Umgangsweisen in Gesprächen über die Lektüre dieser Texte zum Ausdruck kommen. Das Vorgehen der so genannten „objektiven Hermeneutik“ bietet sich für unsere Fragestellung an, die strikt kommunikations- und textorientiert angelegt ist. Im Bereich der qualitativen Sozialforschung hat sich seit vielen Jahren die „objektive Hermeneutik“ als eine empirische Methode etabliert, die auf Fragestellungen dieses Typs zugeschnitten ist (vgl. Oevermann 1983; Oevermann et al. 1979; Wernet 2000). Als Hermeneutik zielt diese Methode darauf ab, die Bedeutungen von Kommunikationen und sozialen Handlungen zu verstehen. „Objektiv“ meint dabei lediglich, dass es allgemeine Bedeutungen des Handelns gibt, die von den subjektiv gemeinten Absichten und Interpretationen der handelnden Subjekte unterschieden werden müssen. Mit den folgenden objektiv-hermeneutischen Fallanalysen werden die auf der Ebene sozialer Sinnstrukturen erzeugten Bedeutungsmöglichkeiten rekonstruiert. Die Methode der objektiven Hermeneutik rekonstruiert den sequenziellen Aufbau sozialer Wirklichkeit: In den Fallanalysen werden die sequenziell, Schritt für Schritt kommunikativ erzeugten Bedeutungen von Äußerungen analysiert. Da die Methode der „objektiven Hermeneutik“ mittlerweile allgemein bekannt ist und wir seit längerer Zeit mit dieser Methode arbeiten (vgl. u.a. Sutter/Charlton 1994), sollen an dieser Stelle ei8 Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn. Stuttgart: Klett-Cotta, 1998 76
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nige Worte zum konkreten Vorgehen genügen: Bei der Anwendung dieser Methode muss stets berücksichtigt werden, dass die Bedeutungen von Äußerungen auf jeweils gegebene Kontexte bezogen sind, die rekonstruiert werden müssen. Im Mittelpunkt steht deshalb die pragmatische Analyse von Äußerungen. Sie rekonstruiert jene Regeln, die unterstellt werden müssen, wenn die jeweils vorliegende protokollierte bzw. textförmige Äußerung sinnvoll sein soll. Dabei werden die der Äußerung zugrunde liegenden pragmatischen Geltungsbedingungen untersucht: Welche möglichen Kontexte und welche Geltungsbedingungen machen die Äußerung sinnvoll? Die rekonstruierten Geltungsbedingungen werden in einer Strukturhypothese zusammengefasst, in welcher die Regelförmigkeit der analysierten Sequenz dargestellt wird.
4.2.1 Fallanalyse von Textstellen aus dem Roman „Morgen in der Schlacht denk an mich“ von Javier Marias Die Analyse beginnt mit der Betrachtung einer Textstelle von S. 293 des Romans von Javier Marias. (1) „Somit war es doch wieder möglich, dass Celia Victoria war und sie und der Arzt – ein verheirateter Mann – beschlossen hatten, zu ihr zu gehen, und dass sie, kurz nachdem ich meine Wohnung betreten hatte, bei ihr eingetroffen waren,[…].“ „somit“ schließt an etwas Vorangehendes an, als Konsequenz, Zusammenfassung oder Bündelung, es wird affirmativ signalisiert, dass etwas Bedeutsames folgt. „somit war es doch wieder möglich“ Es existieren Alternativen, von denen eine ausgeschlossen war und nun wieder eröffnet wird. Der fragliche Gegenstand bzw. das Ereignis oder die angesprochene Relation war in der Vergangenheit bereits thematisch. Das Angesprochene kann hypothetisch (z.B. als Annahme) oder konkret sein (etwa nach einer Reparatur wieder über eine Brücke gehen können). Die Wiedereröffnung der Möglichkeit müsste im direkten Vorlauf aufgetaucht sein, „somit“ stellt einen 77
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direkten, engen Bezug her: Etwas war möglich, dann ausgeschlossen und nun wieder möglich, und zwar entgegen den bisherigen Erwartungen, also als Überraschung bzw. überraschende Wendung, die nicht mehr erwartet wurde. Das Imperfekt ist für eine Argumentation unüblich, es handelt sich eher um eine Erzählung oder einen Bericht. „dass Celia Victoria war“ Die Identität einer Person ist unklar: Die Alternativen sind mit Celia oder Victoria benannt. Offenbar wurde der Name Celia einer Person zugeordnet, die jetzt doch wieder Victoria sein könnte. Möglich ist, dass einer der beiden oder beide Namen Figuren oder Personae bezeichnen, es kann sich aber auch um eine reale Person handeln, deren Identität nicht eindeutig bestimmbar ist. Der letztere Fall verweist auf eine erhebliche Distanz des Sprechers zu dieser Person. Der Name steht für die ganze Person, nicht für ein Attribut oder eine Rolle. Empirisch handelt es sich um einen ungewöhnlichen Fall (und eben daraus beziehen Verwechslungsstücke ihren Unterhaltungswert). Einen „clear case“ bilden Zwillinge: Wenn Celia Victoria ist, gilt umgekehrt, dass Victoria Celia ist. Ein alternativer Fall wäre: einer der beiden Namen referiert auf eine fiktive Person. Es handelt sich dann um eine Person, die entweder Celia oder Victoria ist. (2) „und sie und der Arzt – ein verheirateter Mann – beschlossen hatten, zu ihr zu gehen“ Victoria und der Arzt hatten beschlossen, in Victorias Wohnung zu gehen, obwohl der Arzt ein verheirateter Mann ist. Verheiratet sein macht die Angelegenheit im Hinblick auf gesellschaftliche Konventionen delikat. Obwohl Victoria als Person naheliegt, um die es sich handelt, ordnet das „sie“ den Handlungsablauf nicht eindeutig einem Namen zu. Die Relevanz der Identität Celias oder Victorias für die jeweilige Beziehung zu dem Arzt bleibt unklar. „Sie“ beschließen gemeinsam, in Victorias/Celias Wohnung zu gehen: das verweist auf eine symmetrische Beziehung zwischen den beiden Personen. Der Arzt tritt nicht als Arzt in Erscheinung. Unklar ist, warum der Arzt nicht mit Namen, sondern mit Berufsbezeichnung eingeführt wird (war er im Vorlaufenden als Arzt relevant?).
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(3) „und dass sie, kurz nachdem ich meine Wohnung betreten hatte, bei ihr eingetroffen waren, […].“ Es kommt nun ein Sprecher bzw. ein Ich-Erzähler ins Spiel. Zugleich wird eine mögliche bzw. hypothetisch konstruierte, verflochtene Zeitstruktur sichtbar. Es handelt sich um eine Spekulation bzw. eine (Re-)Konstruktion: Der Erzähler selbst geht hermeneutisch vor, er versucht, den Ablauf eines (sozialen) Geschehens zu rekonstruieren: Was hat sich wann zwischen wem zugetragen? Die Zeitstruktur ist besonders bedeutsam, denn je nachdem, wann was passiert ist und wann was getan wurde, gibt es unterschiedliche Szenarien. Zwischenfazit: Es handelt sich um eine sprachlich klare, explizite Rede, eine Erzählung bzw. einen präzisen Bericht, die sich um Spekulationen, Fiktionen und wenig Greifbares dreht. Der/die Adressat/en der Rede ist/sind nicht erkennbar. (4) „nachdem sie vielleicht in der Stadt ohne Verkehr eine Runde gedreht oder in einer abgelegenen Straße kurz halt gemacht hatten, verflogen die Eile des Mannes“ Es handelt sich um den Versuch der genaueren Klärung der Zeitstruktur, weil die Personen später ankommen als eigentlich erwartet. Die Relation Weg x Zeit steht im Zentrum: Die Verspätung wird begründet (Umweg, kurze Rast). Ohne Verkehr mag die Runde schnell genug gedreht worden sein, so dass die Verspätung begrenzt war. Wahrscheinlich waren sie mit dem Auto unterwegs. Die abgelegene Straße könnte bedeuten: unbeobachtete Rast. Vorher war der Mann in Eile, die nun verflogen ist: auch dies erklärt die Verzögerung der Ankunft. Mit dem „Mann“ ist wahrscheinlich der Arzt gemeint. Die Stellung von „verflogen“ weist auf einen durchkonstruierten, schriftstellerischen Text hin. Noch immer wird der Mann unpersönlich und neutral bezeichnet. Wie ist die Verknüpfung der beiden Zeitstränge möglich? Wie können beide Orte vom Sprecher erfahren werden? Es könnte Licht in einer gegenüber liegenden Wohnung angemacht werden, so dass die Ankunft der Frau und des Mannes sichtbar ist; oder es könnte sich um eine telefonische Verbindung handeln, oder eine Abhöranlage. 79
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(5) „Und wenn es so war, wenn der Arzt oder ein anderer Mann jetzt bei ihr war, dann war die Gefahr noch nicht vorbei“ Weiterhin werden Möglichkeiten und Hypothesen erschlossen. Unklar wird nun die Relevanz des Arztes als verheirateter Mann: irritierenderweise könnte es jetzt auch irgendein anderer Mann sein (diese Möglichkeit gäbe es nun an jeder Stelle, wo die männliche Person neutral als Mann bezeichnet wird). Es gibt eine Zeit des Erzählens, die nach den vergangenen Ereignissen in der Gegenwart liegt, aber auch eine Jetzt-Zeit der Ereignisse (der Mann war jetzt bei ihr) und der Überlegungen, die der Erzähler anstellt. Es besteht eine Gefahr, die noch nicht vorbei ist, die aber keiner Person ursächlich zugeordnet ist: sie kann ebenso von Celia/Victoria wie auch von dem Mann ausgehen. Die Gefahr besteht, weil und insoweit die beiden Personen zusammen sind. Unklar ist auch die Natur der Gefahr, sie könnte auch für den Erzähler bestehen (durch das Beisammensein der beiden Personen könnte der Erzähler persönlich verletzt sein). (6) „und dann galt für Celia und für Victoria dieses ‚noch nicht‘, noch nicht, noch nicht“ Bei Celia und Victoria handelt sich also um zwei Personen. Aber warum gilt das ‚noch nicht‘ für Celia und Victoria, wenn doch nur eine von beiden mit dem Mann in der Wohnung ist? Mit der Gefahr, die für Celia und Victoria besteht, ist für beide offensichtlich ein ‚noch nicht‘ verbunden. „Noch nicht“ bezeichnet etwas Bestimmtes, in möglicherweise naher Zukunft, vielleicht ein Zitat unbekannter Herkunft; es wird zwei Mal wiederholt: das Angesprochene wird intensiviert, drängend, unausweichlich. Strukturhypothese: Wir haben die Konstruktion eines Möglichkeitsraumes vor uns, die viele Irritationen und Widersprüche enthält. Faktisches wird in Mögliches überführt (vgl. (5)), es entsteht eine Kette von Spekulationen, die sich um die Auslegungsarbeit rankt. Der Sprecher ist aus sachlichen, sozialen und/oder persönlichen Gründen nicht in der Lage, sich Klarheit über die fraglichen Situationen zu verschaffen.
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(7) „Aber wer weiß, ob schon morgen oder in Kürze nicht mehr, die mich kennen, schweigen, und indem sie schweigen, verteidigen sie mich nicht.“ Das „noch nicht“, kaum dass es sich ereignet, vergeht möglicherweise, ist flüchtig, dauert nicht. Das Zitat „die mich kennen“ könnte literarisch sein. (8) „Ich konnte sie nicht noch einmal anrufen, weil alles möglich war, und das ist der Preis der Ungewissheit, ich hätte mich lächerlich gemacht, mir ihren Zorn und Schmähungen eingehandelt.“ Der Sprecher hat schon einmal angerufen, seine Ungewissheit ist groß, aber für Klarheit zu sorgen wäre riskant, er würde sich lächerlich machen. Wir sehen einem Ruminierenden zu, einem, der sich Gedanken macht. Dies geschieht atemlos, die Gedanken springen und jagen sich. „Noch nicht“ könnte ein Sexualakt sein, der den Sprecher eifersüchtig macht. Strukturhypothese: Der Text stellt sich sehr offen dar: Er ist schillernd, irritierend, er versucht, Möglichkeitsräume auszuleuchten. Potentiellen Adressaten bereitet es Probleme, die Aussagen nachzuvollziehen, wenn sie nicht über entsprechendes Vor- und Kontextwissen verfügen. Der Text transportiert und variiert die Ungewissheit, in der sich der Sprecher befindet. Die genaue Motivation der Ungewissheit bleibt im Dunkeln, mögliche Handlungsalternativen werden nicht ergriffen, um Klarheit zu schaffen. Es folgt die Analyse einer weiteren Textstelle (S. 251): (1) „‚Wie heißt du?‘ fragte ich die Hure am Ende der Castellana […].“ In der Beziehung zwischen Hure und Freier ist der wirkliche Name der Hure normalerweise irrelevant, es werden stattdessen „Künstlernamen“ geführt. Relevant in dieser Art professioneller Rollenbeziehung sind vor allem der Körper und nur ein kleiner Ausschnitt der Persönlichkeit. Wir stoßen wieder auf eine Fiktionalität der Identität.
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(2) „‚Victoria‘, schwindelte sie, wenn sie Celia war, und vielleicht auch, wenn sie es nicht war. Aber wenn sie es war, schwindelte sie mit Absicht und Ironie und Tücke oder sogar Hohn, weil dies die weibliche Form meines eigenen Namens ist.“ Der Name klärt die Identität der Frau nicht, möglicherweise ist Victoria Celia, d.h. sie schwindelt. Wie aber kann es sein, dass die Identitäten der beiden Frauen unklar bleiben? Immerhin kann der Sprecher die anwesende Frau hören, riechen, eventuell auch sehen. Der Sprecher kann mit Celia nicht sehr vertraut sein. (Vielleicht war es nur eine kurze Bekanntschaft in einer Bar, die ihm nun möglicherweise als Hure mit Künstlername Victoria wieder begegnet.) Wenn Victoria Celia wäre und schwindelte, so fände eine Metakommunikation statt, in der Victoria Überlegenheit, Verachtung und/oder Belustigung signalisiert. Das wäre bemerkenswert, da es auch in HureFreier-Begegnungen möglich ist, nach dem Namen zu fragen – selbst wenn es sich dabei um einen angenommenen (Künstler-) Namen handelt, den die Hure nennt. Die typische Rolle des potentiellen Freiers wird gebrochen, da er als solcher nicht ahnen kann, wer Victoria wirklich ist, es sei denn es liegen die oben dargelegten Bedingungen vor. Dann wäre Victoria im Vorteil, weil sie weiß, ob man sich schon begegnete und wer der Sprecher ist. Das ließe sich leicht klären, allerdings mit einem Risiko für den Sprecher, für den die ungewisse Lage peinlich sein könnte (z.B. weil er bei der Begegnung betrunken war). (3) […] „‚und du?‘“ Victoria signalisiert, dass sie den Sprecher auch nicht kennt. Das kann durchaus eine Inszenierung sein, so dass alle geschilderten Geltungsbedingungen weiterhin mitgeführt werden. Das vertrauliche „du“ ist üblich in Hure-Freier-Kontakten, unabhängig von Herkunftsmilieus. (4) „‚Javier‘, schwindelte ich meinerseits und wurde mir bewusst, dass ich es so oder so getan hätte, wenn sie Victoria war ebenso wie wenn sie meine Celia war, die nicht mehr meine war.“ Aus der Sicht des Sprechers wird die Inszenierung weitergeführt, aber Victoria als Celia wüsste, wer der Sprecher wirklich ist, wodurch das Rollenspiel durchbrochen wird. Wie kann es sein, dass 82
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seine Celia da ist und er erkennt sie nicht. „Seine“ verweist auf eine gewisse Nähe und widerspricht der oben festgehaltenen Bedingung, dass er nur lose zu Celia in Beziehung steht. Es könnte sich um einen großen zeitlichen Abstand handeln (der Sprecher hat vor vielen Jahren seine Tochter oder Frau, also „seine Celia“ zum letzten Mal gesehen). Die Kennzeichnung der Beziehung des Sprechers zu Celia ist also zugleich unverbindlich und Besitz ergreifend. Oder Celia hat in Gestalt von Victoria ihr Aussehen stark verändert. (5) „‚Noch ein Javier‘, bemerkte sie, ‚davon wimmelt es in der Stadt, oder es ist der Name, den ihr alle gern hättet, keine Ahnung, wie ihr gerade darauf kommt. ‚Ihr alle?, fragte ich. ‚Meinst du deine Kunden?“ Auch die Freier/Kunden nennen Victoria zufolge einen fiktiven Namen und verfallen erstaunlich oft auf „Javier“. (Im vorliegenden Fall bringt damit der Romanautor augenzwinkernd seinen eigenen Namen ins Spiel.) In Frage steht der Personenkreis „Ihr alle“, dem der Sprecher zugeordnet wird, möglicherweise der Kreis von Freiern. (6) „‚Die Kerle ganz allgemein, die Kerle eben, glaubst du etwa, ich kenne nur Freier?‘“ Überraschenderweise geben sich nicht nur Freier/Kunden, sondern Männer allgemein Victoria gegenüber den Namen Javier, was allerdings schwer nachvollziehbar ist (Victoria würde dann allgemein Männer kennen, die sich fiktive Namen geben). Möglicherweise handelt es sich um eine Trotzreaktion, die nicht an Rationalität, sondern Selbstbehauptung ausgerichtet ist, wozu die abwertende Bezeichnung der Männer als „Kerle“ passt. (7) „Sie hatte etwas Unwirsches, was Celia nicht hatte und auch nicht hat, wenn sie sie war, verstellte sie sich ziemlich gut, oder vielleicht hatte sie die Zeit, die sie schon übte – möglicherweise mehr als ein oder zwei Monate, ich hatte es fertig gebracht, sie vier oder fünf Monate lang weder zu sehen noch zu sprechen –, genutzt, um bestimmte Umgangsformen auf sich abfärben zu lassen. Ich sagte mir auch, dass sie vielleicht irritiert war, weil ich mich so schnell für sie entschieden und darüber hinaus im voraus bezahlt hatte: Wer 83
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weiß, vielleicht fragte sie sich, ob ich sie wegen ihrer Ähnlichkeit mit Celia und ausnahmsweise mitgenommen hatte oder ob ich schon immer zu Huren gegangen war und sie es während unserer Ehe nur nicht gemerkt hatte.“ Etwas Nicht-Sprachliches oder der Tonfall wird charakterisiert („etwas Unwirsches“). Der Text erläutert nun viele der oben genannten Aspekte: Celia ist die Ehefrau des Sprechers, der sie 4 bis 5 Monate nicht gesehen und gesprochen hat. Weiterhin schießen wilde Spekulationen ins Kraut. Es handelt sich um keine mit nahe liegenden Kontexten nachvollziehbaren Handlungszusammenhänge, eher denkt man an wahnhafte Überlegungen, an eifersüchtiges Grübeln und Nachsinnen (Ruminieren). Dass man seine Ehefrau nach 4 bis 5 Monaten nicht wieder erkennt, würde schon sehr spezielle Kontexte (wie gekonnte Maskerade mit erheblichem schauspielerischem Talent) erfordern. (8) „‚Bestimmt nicht, entschuldige. Ich nehme an, du hast auch Familie?’ ‚Irgendwo schon, ich sehe sie nie, also frag mich nicht danach.‘ Mit Nachdruck fügte sie, in ihren Augen wie gemalt die dunkle Nacht, gekränkt hinzu: ‚Hör mal, ich hab mit vielen Leuten Umgang.‘“ Das Gespräch ist untypisch für eine Begegnung zwischen einer Hure und einem Freier. Victoria behauptet sich außerhalb ihrer Rolle als Hure, und dies mit persönlichem Nachdruck. In dieser Weise kann die Irritation um die Frau als Hure/Ehefrau (Victoria und Celia) aufrechterhalten werden. Da nun immer dichter Lesarten mit sehr speziellen Kontexten angelegt werden müssen, um die Sinn- und Bedeutungsgehalte des Textes zu explizieren, liegt die Fiktivität der Erzählung einer Geschichte nahe, deren Verständnis die Kenntnis umfangreicher Vorgeschichten und Rahmenbedingungen erfordert. Im folgenden, hier nicht wiedergegebenen Text (S. 252f.) wird die schmale Grenze zwischen Ehefrau und Hure facettenreich illustriert, der Text oszilliert zwischen Ähnlichkeiten und Unterschieden bzw. Veränderungen dieser möglichen Identitäten der Frau.
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Strukturhypothese: Wenn die Frage unbeantwortet bleibt, wie die Äußerungen des Sprechers bzw. die Darlegungen des Erzählers als realistisches, glaubwürdiges Geschehen aufgefasst werden können, muss das Fiktive ausgeleuchtet werden. Dass der Sprecher wahnhafte Vorstellungen ausbreitet, ist durchaus auch in der geschliffenen rhetorischen Form des Textes möglich (Wahn und Eloquenz widersprechen sich nicht). Victors Konstruktionen, seine Beziehungslosigkeit und Selbstbezüglichkeit verweisen auf Wahnvorstellungen. Textstelle S. 85 und S. 428 (Schluss) (S. 85) „Ich wusste, was passiert war, und es kam mir unsinnig und lächerlich zugleich vor, dass es passiert war, Geschehenes ist überhaupt nicht geschehen, solange es nicht entdeckt wird, solange es nicht ausgesprochen wird und solange es niemand weiß, und in der Zwischenzeit können sich Tatsachen in bloße Gedanken, in bloßes Erinnern verwandeln […].“ Es handelt sich um eine konstruktivistische, subjektivistische Sichtweise von Wirklichkeit. Der Sprecher weiß um Ereignisse und distanziert sich davon; es ist unsinnig und lächerlich, dass sie passiert sind. Obwohl man vom Sprecher Victor wenig erfährt, kreist alles um seine wirklichkeitserzeugende Subjektivität. Ereignisse können ungeschehen sein, wenn sie nicht entdeckt, nicht kommuniziert und/oder nicht gewusst werden. Daraus folgt eine dünne, bewegliche und verschwimmende Grenze zwischen Realität und subjektiven Konstruktionen, zwischen Außen- und Innenwelt. Ereignisse sind flüchtig (weiter heißt es auf S. 85): „[…] ihre langsame Reise in die Unwirklichkeit beginnt genau zum Zeitpunkt des Geschehens; und es gibt den Trost der Ungewissheit, der sich ebenfalls auf Vergangenes bezieht.“ Dazu passt die Passage am Ende des Buches auf S. 428: „Der kleine Junge wird nie erfahren, was geschehen ist, sein Vater und seine Tante werden es ihm verheimlichen, und auch ich werde es ihm verheimlichen, und das ist ohne Bedeutung, denn so vieles geschieht, ohne dass jemand es merkt oder in Erinnerung behält […]
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von dem, was nicht verschwiegen wird, bleibt später nur ein winziger Teil in Erinnerung und nur für kurze Zeit […]“ Wir haben den Fall einer (radikal) konstruktivistischen Weltauffassung vor uns: Ereignisse sind flüchtig, subjektiv und erhalten Dauer und Widerständigkeit nur durch das Denken, Erinnern und Kommunizieren. Eine haltbare, vielfach sogar nahe liegende Lesart ist, dass der Sprecher sich in einem Wahnsystem bewegt, das lediglich intern konsistent gehalten werden muss. Es gibt keine zuverlässige Differenzierung von Wahn und Wirklichkeit (Objektivität, Wahrheit). Es wird die Logik von Geheimnissen und Ahnungen entfaltet. Das Wahnsystem könnte durchbrochen werden durch: Kommunikation, kontrollierte Erfahrungsverarbeitung, soziale Beziehungen und Perspektivenwechsel.
4.2.2 Drei Fallanalysen ausgesuchter Leseprozesse Nach der Rekonstruktion des Romantextes richten wir die Analyse nun auf Gespräche, in denen Leserinnen und Leser über ihre Lektüre dieses Romans sprechen. Gegenstand der Untersuchung sind zunächst Aussagen von Frau C. zur analysierten Episode im Roman „Morgen in der Schlacht denk an mich“ (weitere Angaben zur Leserin und zum Kontext der Textstelle finden sich bei Pette 2000): Frau C: ja aber ich hatt auch den Eindruck manchmal aber aber dann auch wiederum nicht wirklich ja denn wenn’s so beziehungslos ist ähm warum dann äh diese diese wahnsinnigen Reflexionen über diese Beziehung (?) Interviewerin: ja aber ich denk Frau C: des sind des sind des hab ich mich auch gefragt – sind’s Selbstreflexionen (?) aber warum warum wird dann der Über der der Umweg um über die Beziehungen gemacht (?) also des fand ich besonders deutlich bei dieser Geschichte mit der mit der Prostituierten den die auch da wird ja die Ehe mit der Celia wird ja als eigentlich was nichts bes also als nix Besonderes geschildert des war halt und die war viel jünger und wollte ihn heiraten und dann hat er sie halt geheiratet und nach drei Jahren war’s dann nix mehr okay aber dann plötzlich diese diese diese Seiten lang sich dann zu über86
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legen was wäre wenn sie jetzt Prosti Prostituierte ist und so Interviewerin: also da das war für mich sehr äh wirklich sehr sehr konstruiert weil ich denke oder des war für mich so ’n Zeichen wie da Beziehung gelebt wird also ich kann mir nicht vorstellen dass man mit jemandem verheiratet ist und nachher ähm also die ham ja in dem Auto dann auch noch miteinander geschlafen Frau C: und des nicht merkt ob sie’s ist Interviewerin: den Körper nicht erkennt ja das is so aber das zeigt mir auch irgendwie so ’ne also ich hab da ’ne Beziehungslosigkeit gespürt eben – da geht’s nicht mehr um den Einzelnen sondern da geht’s halt um etwas oder letztendlich vielleicht um sich Frau C: ja wobei ähm ich die Beziehungslosigkeit dann noch am stärksten zu den Leu der Leute zu sich selber empfunden hab – also es wird ja eigentlich wenig deshalb hab ich jetzt auch überlegt ob diese Be die Schilderung der Beziehungen vielleicht äh dazu dient die die Selbstbeziehungen zu darzustellen denn es wird ja wenig über sich selber reflektiert es wird ja immer nur über also zumindest dieser Victor reflektiert ja immer nur über die andern über die Rolle die die andern möglicherweise für ihn spielen könnten äh die die möglicherweise untereinander spielen könnten aber über über sich selber also über ihn erfährt mer ja recht wenig bis auf diese jetzt und des was mer erfährt ist alles net so richtig wirklich – also er is’n Redenschreiber aber des macht er für jemand andern er schreibt Drehbücher die werden aber eigentlich gar net gedreht da kriegt er dann zwar trotzdem Geld er is äh es wird wenig er isch ja halt sozusagen is er auch geschichtslos er hat es wird wenig über seine Herkunft oder so geschrieben – es isch au die Stadt wenn mer nicht wüsste dass es Madrid is könnt’s alles andere auch sein Was ist der Sinn der ausführlichen Reflexionen, die im Roman ausgebreitet werden? Es wirkt alles konstruiert. Vor allem: Wenn die Prostituierte tatsächlich Victors Exfrau sein sollte, und sie schlafen miteinander, dann müsste Victor zumindest den Körper von Celia erkennen. Die Beziehungslosigkeit Victors tritt hervor, seine ausgedehnten Reflexionen über die Welt und andere Personen vermeiden die Selbstauseinandersetzung bzw. Selbstreflexion. 87
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Trotz der Bedeutungsoffenheit der Textstelle im Roman kommt Frau C. auf die gleichen Interpretationsmuster, die wir mit unserer Fallanalyse aufgedeckt haben: Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von Selbstreflexion, Selbstbezüglichkeit und Beziehungslosigkeit. In der Fallanalyse resultiert die Textoffenheit v.a. aus der Fiktionalität einer fortlaufenden Grübelei, hinter deren Spekulationen mögliche Wirklichkeitsbezüge verschwinden. Für Frau C. sind Victors Spekulationen über andere Personen Mittel, seine Selbstbeziehung (nicht: Selbstreflexion) darzustellen: es geht um die Rollen, die die anderen möglicherweise für ihn spielen könnten. Einige Zeit vorher kommt Frau C. in einer freien Kommentierung des Romans auf diese Textstellen zu sprechen: Frau C: dann ähm in Erinnerung geblieben aber auch nicht sehr gefallen hat mir die die Geschicht mit Celia oder Victoria dieser äh Prostituierten von der ja offenbleibt ob’s seine ehemalige Frau ist ähm die fand ich als Kurzgeschichte oder so hätt ich des gut gefunden aber in mit dem übrigen Buch zusammen fand ich’s irgendwie unnötig – ja wobei Interviewerin: man findet nicht so ganz den Zusammenhang ne Frau C: ja ja wobei der Grundgedanke mit dem diese Geschichte ja anfängt dass mer sich quasi ähm an den Namen erinnert und wenn mer sich an den Namen erinnert nicht erinnert das Gesicht verschwindet und der Name bleibt also dieser Gedanke ähm den fand ich interessant wieder wie so am Anfang mit diesen Gegenständen ja also des kommt ja immer wieder in dem Buch diese Überlegung was bleibt von jemand der stirbt (?) was bleibt von jemand der für mich keine Bedeutung mehr hat (?) der in Geschichte is in meinem Leben wie wie lebt der in meiner Erinnerung weiter (?) lebt der überhaupt weiter (?) und so – und da wird des eben mit diesem Namen exemplifiziert un da der Gedanke den Gedanken fand ich interessant aber ich fand’s dann übertrieben ausagiert – ja also dass er die dann äh in als in als Frau hieß die glaub ich Celia und als Prostituierte heißt sie Victoria und er heißt Victor und nennt sich ab er als Kunde Javier ja also der den Schriftstellernamen also des fand ich ähm zu sehr – ausagiert ja also
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Interviewerin: des war auch was sehr Konstruiertes Frau C: ja sehr konstruiert und der Qualität sonsch von wie er Gedanken auch andeutet eigentlich nit ganz angemessen – also da wird mer dann wirklich äh mit ’em Holzhammer dann da darauf draufgebracht – ja Als ein den Roman durchziehendes, interessantes Thema, das hierbei angeschnitten wird, nennt sie das Verschwinden von Personen und die Erinnerung an diese Personen. Die Gesichter werden ausgelöscht, aber die Namen bleiben und in dieser Form leben die Personen in der Erinnerung weiter. Wiewohl dieser Gedanke interessant ist, wird er in diesen Episoden des Romans zu sehr „ausagiert“, was ihr nicht gefällt. Diese Stellen wären als eigenständige Kurzgeschichte anders zu beurteilen; im Roman sind es unnötige Fremdkörper. Aber immerhin: Nicht bloß selbstbezügliche Grübelei, gar wahnhafte Konstruktionen, sondern ein in sich stimmiges Modell des Erinnerns kommt in dieser „Kurzgeschichte“ im Roman zum Ausdruck. Auch Leserin B. fragt, was die ausgedehnte Grübelei von Victor über Celia und Victoria für einen Sinn macht (Einzelheiten bei Pette 2000). Frau B: ja weil ich dachte eigentlich das wär jetzt ähm also überhaupt die ganze Episode ähm ob er jetzt noch rauskriegen kann ob es seine Ex-Frau war oder nicht ähm wär jetzt irgendwie abgehakt und irgendwie ist es also in seinen Gedanken hat er sich immer noch so ’n Hintertürchen offengehalten es so hinzukonstruieren dass sie’s ja doch gewesen sein könnte – erst ähm irgendwie die Idee na dann ruf ich mal bei ihr zu Hause an wenn sie da ist und verschlafen an’s Telefon geht dann wird sie ja den ganzen Abend äh zu Hause gewesen sein und geschlafen haben oder so dann kann sie’s ja nicht gewesen sein ähm so diese Beruhigung und dann ähm irgendwie so jedes kleinste Detail äh was noch so kommt irgendwie so zu drehen dass man’s doch wieder als Möglichkeit hinkriegt dass es so sein könnte wie man befürchtet hat – und das war für mich irgendwie als auch schon wieder so abstrus irgendwie wie er sich dann überlegt ja na gut also da waren vorher noch Anrufe jetzt war sie nicht da jetzt ist sie vielleicht grade zur Tür reingekommen und dann 89
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hatte sie noch nicht mal Zeit das hm das könnte zeitlich jetzt alles hinkommen und so und ähm ja das war auch noch so eh ähm im Hinblick auf die Frage weil ich mich echt gefragt hab ähm was diese ganze Episode also mit der Victoria eigentlich wirklich sollte für ihn (?) also eigentlich hat es ja ein Problem was er selbst hat irgendwie angesprochen mit seiner nicht verarbeiteten Beziehung in gewisser Weise weil auch ähm so unterschwellig an den einzelnen Stellen für mich immer anklang dass er’s irgendwie doch nicht so richtig verwunden hat dass seine Ex-Frau jetzt andere Bekanntschaften haben könnte und auch zum Schluss wo glaub ich zwei drei Mal erwähnt wurde dass sie ja eventuell doch wieder heiraten wird ähm das klang immer so ’n bisschen abfällig oder was heißt abfällig – aber irgendwie so so verletzt noch irgendwie wie kann sie denn bloß sich sozusagen emanzipieren wenn ich doch also während er sich ganz offensichtlich da emotional noch nicht rausgelöst hat fand ich und und ja aber andererseits auch offenbar überhaupt nicht in der Lage war mal ’n also ’n offenes Gespräch mit ihr zu suchen und ähm das immer nur so ähm ja so hintenrum irgendwie ging über so Anrufe oder mal so so kontroll verschreckt wieder den Hörer fallen lassen wenn sie dran geht und Auch für Frau B. handelt es sich um schwer nachvollziehbare, detaillierte Ausbreitungen von Möglichkeiten, deren Sinn nicht leicht zu fassen ist. Wie Frau C. bietet auch Frau B. eine klare Lesart an: Das hängt mit Victors ungelösten Beziehungsproblemen zusammen. Er hat noch Probleme mit seiner früheren Beziehung zu seiner Ex-Frau, ist aber nicht in der Lage, offen darüber zu sprechen; ersatzweise spielt er alle Möglichkeiten durch, was wohl passieren und was dies bedeuten könnte. Insgesamt aber macht die Episode auch auf Frau B. einen abstrusen, konstruierten und überflüssigen Eindruck. (Zur ersten Textstelle unserer Fallanalyse hat Frau B. geschrieben: „ich hatte befürchtet, dass das jetzt kommt.“) Diesen Eindruck hatte auch Herr A. (vgl. Pette 2000): Herr A: also erstmal hab ich nicht so richtig kapiert was des jetzt soll (?) ja äh und dann fand ich diese Geschichte na für sich au wieder relativ spannend aber ich hatte eigentlich so’n bisschen des Problem ähm die Verbindung herzukriegen zu 90
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der anderen Geschichte und ich hab’s eigentlich au so relativ schnell gelesen weil ich eigentlich wissen wollte wie die Haupthandlung weitergeht – äh ich fand’s schon irgendwie sehr vor allem wie er dann da nachts in ihre Wohnung geht ne also des fand ich jetzt auch schon äh ja schon sehr sehr spannend ja äh aber für mich war des jetzt deswegen denk ich werd ich au des Buch auf äh möchte ich’s auch ’n zweites Mal auch nochmal lesen des isch äh geht mir oft so wenn für mich praktisch so ’n Hauptstrang isch und ich hab äh des hab ich vorher schon mal kurz andeutungsweise gesagt – ich hab äh also ähm doch eher versucht des Buch so zu lesen wie ich normalerweise ’n Buch les und weniger jetzt so äh mir zu überlegen wie les ich des Buch in dieser Ausnahmesituation dass da hinterher ’n Interview drüber äh veranstaltet wird ne und deswegen Herr A. kann sich im Gegensatz zu Frau B. und Frau C. kaum an die Passage erinnern, weil sie den hauptsächlichen Handlungsstrang unterbrach, der ihn bei der Lektüre viel mehr interessierte. Insgesamt sehen wir also mehrere, auf der Ebene der Grundstruktur sehr ähnliche Rezeptionen, die angesichts der bestehenden Bedeutungsoffenheit der Episode im Roman bemerkenswert sind. Als konstruiert, fremd, abstrus, schwer nachvollziehbar, selbstbezüglich und nur aus dieser Perspektive über andere sinnierend werden die Grübeleien aufgefasst. Auf dieser grundlegenden Ebene wird also die Bedeutungsoffenheit des Romans konsistent geschlossen. Unterschiedlich ist dagegen der Umgang mit dem Text auf der Ebene der inhaltlichen Deutung: Den fiktionalen, konstruierten Charakter betonend hebt die Fallanalyse den Wahncharakter radikaler Selbstbezüglichkeit heraus. Frau B. stellt einen Bezug zur Wirklichkeit in Form eines ungelösten Beziehungsproblems Victors mit seiner ExFrau her. Frau C. sieht ein übergreifendes Thema des Romans angeschnitten, eine spezifische Form des Erinnerns von Personen. Auch die Textstelle auf S. 85 des Romans, die wir in die Fallanalyse einbezogen haben, wird von Frau B. ausführlich kommentiert. Frau B: eben eigentlich auch aus diesem Zusammenhang raus solange er ähm nich entdeckt wird kann er das vor auch vor sich selbst leugnen und solange denk ich kann man also 91
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ich denke mit der Zeit wenn man wirklich wollt könnte man dann irgendwann auch selbst zu der mindestens hundertprozentigen Überzeugung kommen dass es nicht passiert ist- was da eigentlich passiert ist und ähm bei vielem also frag ich mich dann auch so so bestimmte Episoden die man ja aus seinem Leben irgendwie nach ’n paar Wochen Monaten oder Jahren dann sogar erinnert ob die wirklich so passiert sind wie ich sie jetzt erinnere (?) oder ob ich nicht irgendwie ähm schon wie soll man sagen ähm Sichtweisen die mir lieber gewesen wären so internalisiert hab dass ich sie jetzt als real erinnere (?) und ähm ich denke das sind so Momente wo man dann irgendwie so davor steht und wo ähm man sich dann für einen Weg entscheiden muss – also denk ich das is auch ’n unbewusster Prozess der da stattfindet – ich mein gut er hat sich dann ähm dafür entschieden natürlich irgendwie mit der Familie Kontakt aufzunehmen sonst hätt sich das Buch ja im Grunde nicht gelohnt aber ähm die Überlegung denk ich is einfach die Grundsätzliche und die is dann einfach da wobei ich’s fast zum Teil natürlicher fände wenn man dann versucht das zu verdrängen – ich mein gut bei so ’nem wirklich krassen und speziellen Fall wird man vielleicht doch eher gezwungen zum Handeln aber ich denk bei vielen Kleinigkeiten ähm handelt man dann einfach so dass dann ähm dass man ja’s nicht wahrhaben will und dass es dann auch irgendwie nich geschieht irgendwie für einen selbst so In ganz ähnlicher Weise wie die Fallrekonstruktion hebt Frau B. die Subjektivität und Konstruktivität erinnerter Wirklichkeit hervor, was ja auch das Thema ihres Kommentars der Celia-/VictoriaEpisode war. Wirklichkeit lässt sich verändern, umdeuten, verdrängen; ganz im Duktus der Fallanalyse kann man von einer wirklichkeitserzeugenden Subjektivität sprechen, die Frau B. als interessantes Problem und Thema des Romans anspricht. Sowohl in der Fallanalyse als auch in der Rezeption wird die Textoffenheit des Romans auf einer grundlegenden Ebene fast auf einer Linie liegend stark reduziert. Dies ist trotz der festgehaltenen, ausgeprägten Mehrdeutigkeit auf der Ebene inhaltlicher Konstellationen möglich. Interessanterweise schlagen sich also die unterhalb dieser Ebene liegenden Textvorgaben (d.h. die allgemeinen Sinnstrukturen des Textes) in der subjektiven Rezeption nieder. 92
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4.2.3 Zusammenfassung Auf der Oberfläche inhaltlicher Konstellationen stellen sich die Ausschnitte des Romantextes, die vor allem aus innerer Rede der Hauptperson bestehen, als kompliziertes, irritierendes und widersprüchliches Geflecht von Erinnerungen, Reflexionen und Spekulationen dar. Die sinnstrukturelle Ausleuchtung des Textes zeigt eine ausgeprägte Bedeutungsoffenheit: schillernd und irritierend in den Versuchen, Möglichkeitsräume auszuleuchten. Der Text transportiert und variiert mannigfach die Ungewissheiten, in denen sich die Hauptperson befindet. Dabei handelt es sich um wahnhafte Vorstellungen, um subjektive Wirklichkeitsentwürfe, um Konstruktionen, welche auf die Beziehungslosigkeit und Selbstbezüglichkeit der Hauptperson verweisen. Diese in einem ersten Schritt rekonstruierten Strukturen auf der Seite des Romantextes haben wir in einem zweiten Schritt in Beziehung zu den erfassten und dokumentierten Rezeptionsweisen und Interpretationen einiger Leserinnen und Leser gesetzt. Diese Rezeptionsweisen und Interpretationen wurden an einem Material untersucht, das Prozesse der kommunikativen Aneignung des Romantextes enthält: In den Interviews unterhielt sich die Forscherin mit den Rezipienten über deren Lektüreerfahrungen. Das schwierige, komplizierte Bild des Romantextes hätte nun eigentlich eine recht heterogene Bandbreite unterschiedlicher Lesarten des Romantextes erwarten lassen. Das war jedoch nur auf der Oberfläche inhaltlicher Konstellationen der Fall, auf der Ebene darunter liegender Muster kommen die Deutungen der objektiv-hermeneutischen Fallanalyse und der Rezipienten in den Prozessen der Anschlusskommunikation weitgehend zur Deckung. Dabei nehmen die Rezipienten teilweise eine sehr distanzierte Sicht auf den Romantext ein, die von eigenwilligen Deutungen über Kritik bis hin zum offenen Unmut reicht. Die Resultate sind also vor allem in zwei Punkten folgenreich: Erstens bietet auch ein vergleichsweise schwieriger, komplizierter und bedeutungsoffener Romantext Vorgaben, an denen sich subjektive Lesarten ausrichten können. Diese Ausrichtung ist zweitens nicht schon auf der Oberfläche inhaltlicher Deutungen, sondern der darunter liegenden Bedeutungsstrukturen zu erkennen. Diese Passung geht allerdings mit sehr eigenständigen Umgangsweisen der Rezipienten mit dem Text einher.
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4 . 3 F a l l a n a l y s e ei n es G ed ic ht s Analog zum Vorgehen in der vorlaufenden Fallanalyse des Romans werden nun der Text eines Gedichts und Gespräche rekonstruiert, in denen einige Leserinnen mit einer Interviewerin über dieses Gedicht sprechen. Auch hier werden die rekonstruierten Bedeutungsmöglichkeiten bzw. die Mehrdeutigkeit des (Gedicht-)Textes mit den Auslegungen der Leserinnen konfrontiert.
4.3.1 Analyse des Gedichttextes „Abschied“ von Juan Ramon Jiménez9 Das ausgewählte Gedicht hat folgenden Wortlaut: ABSCHIED Zuerst, mit welcher Gewalt die wirklichen Hände! – Man hat das Gittertor geschlossen. einsam kreuzen sich das Herz und das Feld. – Mit welcher Beharrlichkeit dann die Hände des Erinnerns! Die objektiv-hermeneutische Analyse beginnt mit dem ersten Wort in der ersten Zeile des Gedichts: „Zuerst.“ Wir haben keine räumliche, statische Angabe (etwa eine Reihung von Objekten), sondern eine Zeitpunktbestimmung in einem Vorher-Nachher-Verhältnis vor uns, also die Konstruktion einer zeitlichen Beziehung. „Zuerst“ verweist in diesem Zusammenhang auf eine Handlungsabfolge, eine Abfolge von Ereignissen oder Gefühlen, d.h. von dynamischen Prozessen. Es handelt sich, zumindest in mündlicher Rede, nicht um eine initiale Eröffnungsstelle, mit der per Gruß oder Anrede ein gemeinsamer sozialer Handlungsraum eröffnet wird; vielmehr folgt „Zuerst“ auf eine solche Eröffnung („Meine Damen und Herren! Zuerst einmal möchte ich mitteilen, […]“). 9 Aus: Herz, stirb oder singe. Gedichte spanisch und deutsch. Auswahl und Übertragung Hans Leopold Davi. Diogenes Taschenbuch. Zürich: Diogenes Verlag, 1977. 94
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Das Komma und die damit verbundene Zäsur heben das „Zuerst“ hervor und betonen damit diesen Zeitpunkt. Diese Form erscheint für die mündliche Sprache ungewöhnlich, weil hier „Zuerst“ in der Regel ohne Zäsur gebraucht wird. Erwartet werden kann mithin eine schriftliche Sprache, und auch da ist die Konstruktion mit Komma, also ein zäsurierendes „Zuerst“, auffällig. „Zuerst“ ist hochgradig anschlussbedürftig, es muss etwas folgen; es steht nicht alleine da und fungiert auch nicht als Antwort auf eine Frage. Auch wenn ein Einschub auf das Komma folgt, der eine Abweichung vom erwarteten Verlauf der Äußerungen bildet, indem er etwa eine Spezifizierung oder eine Bedingung zum Ausdruck bringt, so erwarten wir einen direkten Anschluss an den Einschub, der sich unmittelbar auf das „Zuerst“ bezieht, eben weil dieses mit dem Komma deutlich hervorgehoben wird. In einem seltenen Fall kann auch eine Korrektur erfolgen, die sich nicht mehr auf das „Zuerst“ bezieht („Zuerst, oder sagen wir anders, […]“). „mit welcher Gewalt“ Es folgt überraschenderweise kein Verb, also keine Handlung, kein Ereignis, keine Erläuterung, d.h. kein Bezug zum zeitlichen Konnex von „Zuerst“. Die Frage ist: Um was für einen Einschub handelt es sich? Zunächst betrachten wir das Segment für sich genommen: Es kann sich um eine Frage handeln. Es kann auch ein indikativer Ausdruck einer starken Betonung, einer Beschwörung von Einzigartigem oder von Inbrunst sein. Der Ausdruck „mit welcher Gewalt“ verweist auf Unvergleichliches, Intensives, Einzigartiges. Wir untersuchen das Segment nun als Einschub, der auch mündlich sein könnte, etwa: „Zuerst, mit welcher Gewalt, brach er durch die feindlichen Linien.“ Hier erscheint das verbindende „und“ unverzichtbar, es verbindet den Zeitpunkt und die Art und Weise der Handlung. Das „und“ fehlt indessen: Es könnte sich um eine indikativisch ausgedrückte Frage oder Gegenfrage handeln, etwa: „Zuerst – mit welcher Gewalt eigentlich? – hat er es genommen.“ Der Satz würde sich so auf eine vorausgegangene Auseinandersetzung beziehen. Als rhetorische Figur erzeugt die Form „Zuerst“ eine Spannung, die nun das, was folgt, heraushebt, und zwar beides, den Einschub und den darauf folgenden Satzteil. So etwas hört man bei Leuten, die auf Überzeugung anderer Personen aus sind, etwa bei hochran95
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gigen Politikern („Zuerst, und das sage ich als Bürger dieses Landes, müssen wir […]“). Die Frage und die indikativische Betonung von Besonderem, Einzigartigem führen zusammen, bringen etwas Unaussprechliches, Unfassbares, Unvergleichliches zum Ausdruck. Die Gewalt kann äußerlich oder innerlich sein. Der Anschluss kann sich nun auf die Quantität oder die Qualität der Gewalt beziehen (quantitativ: ein Sturm bricht los; qualitativ: Hörer in den Bann einer Rede ziehen), und er wird bestimmte Handlungen oder Ereignisse benennen. „die wirklichen Hände!“ Wiederum finden wir zu unserer Überraschung kein Verb vor: Es wird keine Handlung und kein Ereignis benannt. Es handelt sich um einen unvollständigen Satz, der auf ergänzende Kontexte bzw. auf Vergangenes verweist. Das „Zuerst“ spannt „die wirklichen Hände“ in einen dynamischen Prozess ein, einen zeitlichen Ablauf, der aber völlig offen bleibt. An dieser Stelle stehen wir vor einer weitgehenden Bedeutungsoffenheit: Auf welche Situation, Beschreibung bzw. Erzählung antwortet der Satz, was erläutert oder erweitert er? Die Lage könnte auf starke Kontexturierungen, auf feste Routinen (z.B. Händewaschen) oder ein vorlaufendes Geschehen verweisen. Eine Routine liegt aber nicht vor, da ja „mit welcher Gewalt“ im Gegenteil Einzigartiges und Besonderes hervorhebt. So muss man die Szene mit einem Vorgang selbst ergänzen (was tun die Hände?). „die wirklichen“ stellt einen Authentizitätsmarker dar, stellt Eigentlichkeit und Echtheit (z.B. reale Hände im Unterschied zu Puppenhänden) heraus. Implizit wird auf Hände verwiesen, die nicht wirklich sind. Es handelt sich um unpersönliche („die“), aber bestimmte Hände. Man denkt an Szenen des Kampfes und der Bedrohung von Menschen gegen andere Menschen und gegen Dinge (z.B. einen Marmeladetopf gewaltsam öffnen). Es handelt sich um äußerliche Gewalt, die mehr auf quantitative als auf qualitative Aspekte zielt. Man denkt bei Händen an zupacken, greifen, festhalten, zuschlagen oder drücken. Die Hände könnten in Objektstellung sein (ein Hammer zerschmettert die Hände), was aber schwer kompatibel mit „wirklichen“ ist. „wirklichen“ weist den Händen eine subjektiv behauptete Qualität zu, die auch transzendental sein könnte (als Hände eines Gottes oder Geistes). Das zeigt auch folgende Überlegung als Probe: Eine Hand im Handschuh und eine freie („wirkliche“) Hand werden ge96
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küsst. Auch hier ginge es nicht um die bloße Erscheinung (bedeckt/offen), sondern die subjektiv behauptete Qualität der wirklichen Hand. Die Anzahl der „Hände“ bleibt offen, es könnte sich also auch um die Hände mehrerer Personen handeln. Als Erwartungen an den weiteren Verlauf des Textes können folgende implizit oder explizit zu schließende Bedeutungsoffenheiten festgehalten werden: Um welches Verb, d.h. um welche Tätigkeit handelt es sich, um welche Dynamik, welchen Zeitablauf, welche Person/en, welche subjektiv behauptete Qualität? „– man hat das Gittertor geschlossen.“ Alles bleibt offen und elliptisch. Der Gedankenstrich signalisiert: Es folgt etwas, das vom Vorangehenden abgesetzt ist, etwas anderes, das eingeschoben wird. Die offenen Bedeutungen werden eventuell später geschlossen. Das „man“ ist unpersönlich, unbestimmt. Das „hat […] geschlossen“ bezeichnet einen Vorgang in der Vergangenheit, der zum aktuellen Zustand geführt hat. Dabei bildet „Gittertor“ die Begrenzung eines Areals, die den freien Zugang verhindert; sie stellt eine hohe Hürde dar (also mindestens Brusthöhe). Man denkt an Gefängnisse, Behausungen, Friedhöfe. Die Perspektive des Betrachters/Sprechers kann außen oder innen sein, er kann aus- oder eingeschlossen sein. Er ist in einer passiven Stellung (jemand anderes hat das Tor geschlossen). Das Gittertor begrenzt den Raum der Aktionsmöglichkeiten der wirklichen Hände. Deren Gewalt kann sich auf das Gittertor richten oder auf Menschen oder Dinge diesseits oder jenseits des Gittertores. Man denkt an Ein- und Aussperren und sich dagegen wehren. Das lyrische Ich ist dem unterworfen. Im Kontrast zum ersten Satz handelt es sich hier um einen vollständigen Satz. „einsam kreuzen sich das Herz und das Feld.–“ Normalerweise kreuzen sich: Wege, Schicksale, Klingen, Bahnen. Formal kann alles angesprochen sein, was sich selbst in Form eines Kreuzes bringt bzw. bringen lässt (längliche Gebilde, wie Latten usw.). Dabei handelt es sich jeweils um zwei Koordinaten, aber da steht: „einsam“: Das meint eine Selbstbeziehung (z.B. ein allein auf weiter See segelndes Schiff), die in die Relation „kreuzen“ eingespannt ist (die Bahn des Schiffes kreuzt sich mit der eines anderen 97
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einsamen Schiffes). Indessen hat „einsam kreuzen“ nicht diese Bedeutung, da sich „einsam“ auf die Relation „kreuzen“ beziehen soll. Das wäre unsinnig. Die Überprüfung der Übersetzung10 ergibt folgende Korrektur des Textes: „Als Einsame kreuzen sich das Herz und das Feld“, was mit der obigen Bedeutungsrekonstruktion kompatibel ist. Nun können sich „das Herz und das Feld“ nur in einem übertragenen Sinne kreuzen, was auf eine lyrische Sprache verweist. Bedingungen der Übertragung wären: längliche Form, Bewegung, Dynamik, Zeitbezug. Überkreuzen kann ein punktuelles Zusammentreffen und anschließendes Auseinanderstreben bedeuten. Es könnte sich um die Innen- (Herz) und die Außenwelt (Feld) handeln, also Herz und Feld als Metaphern für Innen- und Außenwelt. Innen- und Außenwelt wären dann dynamische, sich kurzzeitig treffende Einheiten. Die Einsamkeit von Herz und Feld könnte durch das Gittertor symbolisiert werden. Möglich wäre auch eine sehr konkrete Lesart: Jemand ist hinter dem Gittertor eingesperrt und blickt hinaus auf das Feld. Aber das passt nicht gut zum Gittertor, weil Herz und Feld sich (metaphorisch ausgedrückt) als Einsame kreuzen und dies als Getrennte nicht tun könnten. Im gegebenen Zusammenhang könnte die Gewalt der Hände das Gittertor schließen. Im Gedicht wäre eine sinnstrukturelle Zäsur nach „geschlossen“ anzusetzen: Bis dahin handelt es sich um einen äußerlichen, wirklichen, konkreten Vorgang. Danach, ab „als Einsame“, handelt es sich um einen innerlichen, dynamischen, geistigen Prozess, wobei die Grenze des Gittertores beides, außen und innen anspricht und so eine Übergangspassage darstellt. Der Einschub trennt äußere und innere Vorgänge und ist selbst nochmals getrennt. „Mit welcher Beharrlichkeit dann die Hände des Erinnerns!“ Dieser Satz ist analog zum ersten konstruiert, im Sinne der Zeitrelation „Zuerst […] dann […]“, wobei „Zuerst“ und „dann“ verschoben sind: Zuerst hebt den Zeitpunkt hervor, das „dann“ tritt hinter die „Beharrlichkeit“ zurück. In beiden Sätzen wird die Qualität und Intensität von Gewalt und Beharrlichkeit durch „mit welcher“ betont. Dieser und der erste Satz weisen auch Unterschiede auf: a) Gewalt bildet eine vorübergehende Dynamik, ist flüchtig. Beharrlich10 „se cruzan solitarios el corazón y el campo-.“ 98
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keit dagegen ist dauerhaft, kontinuierlich, nachdrücklich, sich wiederholend. Ein statisches Moment käme mit verharren zum Ausdruck. b) Hinzu tritt die Differenz zwischen inneren und äußeren Vorgängen, den Händen des Erinnerns und den wirklichen Händen. Die Hände des Erinnerns weisen den wirklichen Händen eine Bedeutung zu, diese sind wirklich, jene nur metaphorisch. Hände aus Fleisch und Blut, das meint „wirklich.“ Die inneren Hände des Erinnerns halten fest, begreifen, holen hervor, berühren. Dabei wird der körperliche Vorgang der wirklichen Hände zugleich getrennt und in den inneren Vorgang des Erinnerns überführt. Die wirklichen Hände spenden per Metapher den Händen des Erinnerns die Bedeutung. „Man hat das Gittertor“ verweist auf eine neutrale, unpersönliche und unbestimmte Handlungsinstanz, der das lyrische Ich unterworfen ist. Damit bleibt das Subjekt der Trennung innen/außen offen, das Subjekt der Hände bleibt unbestimmt. Wir nehmen nun den Titel des Gedichts, ABSCHIED, hinzu. Es handelt sich um eine Trennung, hier von innen und außen. Beim Abschied werden Hände gedrückt, so dass der erste Satz als gewaltsame Geste des Abschieds gedeutet werden kann: Die Person, die geht, reißt sich los, die Person, die bleibt, versucht, den anderen festzuhalten; dieser Vorgang ist flüchtig, konkret, außerweltlich. Der zweite Satz beschreibt die Folge der Trennung: Es ist ein schwerer Abschied im Rahmen einer engen, intimen Beziehung (z.B. Mutter und Sohn). Es ist sowohl räumliche Trennung als auch mentales Festhalten. Die Beharrlichkeit spiegelt die Gewalt, d.h. die Intensität des Abschieds wieder. Der Abschied erscheint als Trennung und Festhalten, wobei die genauen Tätigkeiten durch das Fehlen von Verben in beiden Sätzen offen bleiben. Der Abschied ist in dem Gedicht keine Episode, die zu Ende geht, sondern eine längere Geschichte. Erinnern heißt: das Verabschiedete wird gedanklich zurückgeholt und festgehalten in einem sich wiederholenden Prozess. „Als Einsame kreuzen sich Herz und Feld“: Die erinnerte, verabschiedete Außenwelt ist möglicherweise menschenleer, ein weiter Raum. Als Einsame kreuzen sich Herz und Feld im Licht des letzten Satzes beharrlich immer wieder.
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Im gesamten Zusammenhang kann nun das folgende sinnstrukturelle Fazit gezogen werden: Wir haben drei Teile vor uns, in denen der Abschied beschrieben wird. 1) Zunächst das aktuelle, konkrete Abschiednehmen. 2a) Eine erste Übergangsphase, in der das Gittertor den Vollzug des Abschieds als konkreten, äußerlichen Vorgang symbolisiert. 2b) Eine zweite Übergangsphase, in der der Abschied als innerer Vorgang symbolisiert wird. 3) Schließlich der innere Akt des Erinnerns als Folge des Abschieds, wobei die Schwere (im Sinne von Gewaltsamkeit) des Abschieds innerlich aufgenommen wird in Form der Beharrlichkeit des Erinnerns. Bedeutungsoffen, d.h. auslegungsbedürftig bleibt der Vorgang des Kreuzens von Herz und Feld als Einsame: Das Feld erscheint als Sinnbild der Einsamkeit und Verlassenheit, es ist menschenleer: Der, der ging, ist aus dem Blick geraten, und also ist auch das Herz einsam. Was genau bedeutet kreuzen? Kreuzen bedeutet die Korrespondenz von Feld und Herz zu der Zeit, wenn nicht oder noch nicht erinnert wird, im Zyklus des beharrlichen, sich wiederholenden Prozesses des Erinnerns. Nach vollzogenem Abschied herrscht zunächst Leere, in der Herz und Feld sich als Einsame befinden. Bedeutungsoffen bleibt auch das Feld. Die unauflösbare Polyvalenz des Gedichts kann vor allem an den Begriffen „kreuzen“ und „Feld“ festgemacht werden.
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4.3.2 Vier Fallanalysen von Gesprächen über die Rezeption eines Gedichts11 Gespräch mit Frau D. über ihre Auseinandersetzung mit dem Gedicht „Abschied“ Frau D: Zunächst ist es also im ersten im ersten Teil denkt man es ist wirklich ein realer Abschied durch den Händedruck und es ist aber schon ein endgültiger Abschied und doch auch wieder nicht er ischt nämlich nicht wiederholbar sondern – und bleibt er in der Erinnerung – des ist jetzt mein Gedanke zu dem Gedicht – was ich – ich würde mit dem mehr also nicht ein persönlicher Abschied unbedingt – also von Person zu Person sondern vielleicht von einem innern Gefühl auch was man – hat von und von dem Abschied nimmt und das aber doch so fest sitzt dass ich das immer wieder in Erinnerung habe – es klingt durch das Gittertor natürlich abgeschlossen aber es wird wieder hereingeholt durch das Herz und das Feld und bleibt durch den Händedruck durch den beharrlichen Händedruck Interviewerin: als Gefühl Frau D: ja als Gefühl es ist umgesetzt in was Sichtbares aber ich glaube es ist eben Gefühl Interviewerin: zu der Person von der Abschied genommen wird (?) Frau D: ja – oder vielleicht auch von einer Sache Der Abschied ist real, durch den Händedruck, wie die „wirklichen Hände“ gedeutet werden. Er ist endgültig und ist es nicht, insofern er nicht wiederholbar ist, aber er bleibt in Erinnerung. Es handelt sich um keinen „Normalfall“ von Abschied in der Beziehung zwi11 Die Gespräche über das Gedicht „Abschied“ von Juan Ramon Jiménez wurden von Christina Burbaum geführt und waren Teil eines insgesamt mehrstündigen Interviews zu Routinen und Funktionen des Lesens bei regelmäßigen Leserinnen/Lesern von Gedichten. Die Transkriptionsweise wurde für den vorliegenden Zweck stark vereinfacht, u.a. wurden für eine verbesserte Lesbarkeit die meisten Signierungen für die Prosodie weggelassen (Ausnahme: Frageintonation, signiert als (?)) wie auch die eingestreuten Hörersignale der Interviewerin. Längere Pausen wurden als „ – “ vermerkt. Die hier aufgeführten Gesprächsausschnitte sind nur ein kleiner Teil des Gesamtmaterials. Zu Einzelheiten vgl. Burbaum, in Vorbereitung). 101
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schen Personen, sondern um den Abschied von einem inneren Gefühl, das festsitzt. Also bereits für die ersten Zeilen gilt: Der Abschied wird nicht als soziales Geschehen verstanden, sondern als subjektiver, innerer Vorgang. Dieser Vorgang erscheint durch das Gittertor abgeschlossen, das Gittertor setzt eine äußere Begrenzung/Bedingung/Gegebenheit und verweist auf Außenwelt. Das Gefühl wird wieder hereingeholt durch das Herz und das Feld, die, durch das Gittertor getrennt, nun innerlich sich in der Erinnerung kreuzen. Das Gefühl wird durch den beharrlichen „Händedruck“, wie es abermals heißt, ausgedrückt oder dargestellt. Ein unklares „Es“ wird in etwa Sichtbares umgesetzt. „Es“ kann sein: die Gewalt, das Gittertor, Herz und Feld, die Hände des Erinnerns. Es handelt sich um einen Abschied von einem inneren Gefühl oder von einer Sache. Frau D: vielleicht ist es auch da drin immer wieder von sich selber Abschied nehmen und dass das aber im Grunde gar nicht ganz möglich ist Abschied kann auch Abschied von sich selbst bedeuten, eine interessante, ungewöhnliche Lesart, die in der Fallanalyse des Gedichts nicht auftaucht. Der Abschied im Gedicht wird potentiell in drei Weltbezügen dargestellt: Sachlich, sozial und subjektiv, wobei der subjektive Weltbezug v.a. durch die Beharrlichkeit des Händedrucks zur dominanten Lesart wird. Das passt zum Abschied von sich selbst, der aber eigentlich gar nicht möglich ist. Frau D: und dass dann immer mal das Gitter zufällt, aber dann bleibt einem aber doch noch etwas – dieses Loslassen – vielleicht deswegen es is dieses Loslassen – ein das Loslassen von von irgendeiner Verbindung was man möchte vielleicht aber was man gar nicht kann letztendlich weil dann immer noch – ja und zwar einsam kreuzen sich das Herz und das Feld das eigentlich von Außen des gar niemand bewirken kann – es liegt an mir selber Interviewerin: des hab ich jetzt nicht genau verstanden wie sie des mit der Strophe zusammenbringen oder wie wie sie die verstehn Frau D: also rein äußerlich ist es eigentlich abgeschlossen 102
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und aber im tiefsten Grund dies – also die Beharrlichkeit und die Einsamkeit – führen den Abschied nicht zu Ende – sind also Dinge die ich vielleicht loslassen möchte, aber gar nicht loslassen kann Interviewerin: mhm – von der Sache her dass des dann nicht geht Frau D: ja – ja – ja ja Interviewerin: letztlich Frau D: aber vielleicht ist das ganz gut so Interviewerin: mhm – ham sie denn da was Konkretes jetzt im Sinn für das (?) Frau D: nee ich mein – ich hab jetzt vielleicht mehr so dieses ähm wir ham ja eine ganze Reihe Kinder und da muss man sich ja auch immer wieder – lösen und loslassen und Abschied nehmen von denen – von der Phase in der jedes Kind ist Es fällt immer wieder das Gitter zu, das die einzige klare Referenz auf die Außenwelt bildet. Hier liegt der Anlass des Abschieds, man muss soziale Bindungen loslassen. Die Leserin selbst kann den Abschied nicht beenden, er entfaltet eine innerliche Eigendynamik, man möchte Dinge loslassen, die man nicht loslassen kann. Ein Beispiel hierfür wären Kinder, die man auch in verschiedenen Phasen immer wieder loslassen muss. Frau D: ja ja da gibs ja keine Antwort die – ich vielleicht will ich das nicht – ich will eigentlich gar keine fertigen Antworten sondern ich will das drehen und will das in der Hand haben In dieser zentralen Sequenz werden die Bedeutungsoffenheit, Unabgeschlossenheit und Unfertigkeit eines Gedichts positiv bewertet. Vergleich mit der Strukturhypothese der Fallanalyse des Gedichts: • In der Gedichtrezeption wird früher und ausgeprägter als in der Fallanalyse des Gedichts auf die Innerlichkeit der Vorgänge fokussiert.
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• Das Gittertor ist das einzige auf Außenwelt verweisende Element; in der Fallanalyse des Gedichts verweist der ganze erste Teil auf äußere, konkrete Vorgänge. • Die Hände werden als Händedruck aufgefasst, und v.a. die Beharrlichkeit des zweiten Händedrucks fungiert als Merkmal der Innerlichkeit. • In der Gedichtrezeption wird die Zeitdimension vernachlässigt, die in der Fallanalyse des Gedichts betont wird. • In beiden Interpretationen bleiben „Feld“ und „kreuzen“ weitgehend bedeutungsoffen. • Deutliche Unterschiede dagegen zeigen sich in der Gewalt als innerem Vorgang und dem Abschied von sich selbst in der Gedichtrezeption. • Die Bedeutungsoffenheit des Gedichts wird als wichtiges Motiv der Gedichtrezeption betont. Insgesamt kann die Sinnstruktur der Gedichtrezeption gut in die Fallanalyse des Gedichts eingepasst werden: Die Ausnahme hiervon bildet die Lesart „Abschied von sich selbst.“ Gespräch mit Frau E. über ihre Auseinandersetzung mit dem Gedicht „Abschied“ Frau E: ja, so vor zehn Jahren, als ich dann wirklich eine einen schmerzliche schmerzlich Abschied nehmen musste also in dieser Zeit oder vor noch ein bisschen länger – aber jetzt ähm der, als du angefangen hast zu zu lesen, die erste Assoziation war wie jung sollte man sein um das so zu empfinden (?) weil weil das also ja, mit welcher Gewalt die wirklichen Hände also – ist zuerst ein Gefühl gekommen, ja diese Zeit – ha also – also wie wenn das Gefühl mir mir schon fremd geworden ist oder (?) und das zu einer anderen Zeit also in meinem Leben gehört als ich eben jünger war wenn die Gefühle mit solcher Kraft kommen und dann – dann ist aber doch sofort Erinnerung gekommen an Abschied der schmerzlich war und und dann als zweites und dass dass die Gefühle eigentlich immer doch noch so da sind also wenn ich die auch – wenn ich das auch – wenn die wirklich hochkommen dürfen dann dann ist der der Schmerz ist noch da
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Frau E. verbindet mit dem Gedicht die Erfahrung schmerzlichen Abschieds (wie sich herausstellt im Rahmen der Auflösung einer Liebesbeziehung). „Wie jung sollte man sein, um das so zu empfinden“? „sollte man“ verweist entweder auf einen impliziten Leser (man), oder früher hat sie so empfunden. E ist vom eigenen Gefühl überrascht: so also ist die Qualität und Intensität ihres Gefühls. „mit welcher Gewalt“: Einerseits ist das Gefühl jetzt, in der Distanz, fremd, aus einer anderen Zeit. Andererseits ist das Gefühl noch da, aber nicht mehr so intensiv, „milder.“ Intensität und Unmittelbarkeit des Gefühls sind nicht mehr so wie früher. Frau E: weil ich wusst es ja – ich kenne das Gedicht aber dass der der der also ich habe eigentlich den inneren Abschnitt wie ausgeblendet gehabt der erste Teil und der dritte Teil die die waren mir mir noch sehr stark in Erinnerig in in Erinnerung der mittlere Teil nicht mehr und dann dann sind da Gefühle da obwohl die Wörter noch gar nicht obwohl ich die Wörter noch gar nicht erkannt hab obwohl ich noch – noch gar nicht analysiert hab was dort steht, oder interpretiert hab aber es gibt ein – einen Impact der ist schon da bevor – überhaupt ich die Wö auch nur die Wörter erkannt habe oder (?) Frau E. hat das Gedicht schon 100mal gelesen, aber den Mittelteil hat sie ausgeblendet. Schon während der Beziehung zu Ihrem Partner damals haben sie zusammen das Gedicht geteilt, aber anderes hat in der Beziehung gefehlt (sie waren jeweils mit einem anderen Partner zusammen). Das kommt vor allem im Mittelteil zum Ausdruck, der von Frau E. quasi abgespalten wurde, so eine Vermutung. Es könnte sich um eine Art präattentiven Prozess handeln, eine emotionale Vorbewertung; erst kommt das Gefühl, dann das Verstehen der Worte; das Gedicht bildet einen starken Anhaltspunkt für schmerzhafte Erinnerungen. Dagegen ist der Mittelteil des Gedichts emotional nicht besetzt, es besteht eine Fokussierung auf die eindeutigen Teile des Gedichts, welche für Frau E die schmerzlichen Erfahrungen der Trennung symbolisieren. Interviewerin: könntst du denn das beschreiben dies Gefühl (?) Frau E: also ein Gefühl von etwas erkennen also ja genau so ist es also ein Gefühl ja er sagt jetzt genau was ich fühle also 105
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ja genau das ja so ist es obwohl ich ja das obwohl ich die Wörter noch nicht erkannt habe Interviewerin: das meinst du jetzt wars beim Lesen ebengerade oder auch damals Frau E: nein als dus als dus – auch als ichs erste mal gelesen Interviewerin: ja Frau E: ja auch damals aber das ist eigentlich äh ich denke dass es das Gleiche ist als ich es damals gelesen habe dass ich das gleiche Gefühl hatte als jetzt als du angefangen hast mit äh also mit den ersten zwei Sätzen dass sofort das gleiche Gefühl wieder da is was damals als ichs das erste mal gelesen hab nur dass ich jetzt gedach noch gedacht habe so schnell oh wie jung muss man da sein das zum das um das noch so empfinden zu können jetzt bin ich sozusagen jenseits von Gut und Böse nein also einfach nicht mehr so – also die Gefühle sind nicht mehr so lebensbedrohend vielleicht wie damals aber aber ja also es ist es ist das gleiche Gefühl Die Interviewerin fragt nach der Beschreibung der Gefühle. Noch vor der Identifikation der Worte sagt der Gedichttext, was sie fühlt. Es besteht eine unmittelbare, authentische, vorreflexive Kopplung des Textes mit dem Gefühl, das aber nicht weiter präzisierbar ist, und mit der Erinnerung. Das ist eine Funktion, die vorzüglich von kurzen, sehr offenen Gedichttexten erfüllt werden kann. Die genannte Kopplung bestand vom ersten Lesen an und blieb von damals bis heute die gleiche. Andererseits herrscht auch eine gewisse Distanz, das Ganze ist nicht mehr so lebensbedrohend. Auffällig ist die Unmittelbarkeit des Gefühls als Moment der Gewalt. Diese Bedeutungsmöglichkeit fügt jenen unserer Fallanalyse etwas Neues im Sinne von Präzisierendes hinzu. Die Ohnmacht entspringt aus dem eigenen Gefühl, an der Grenze des Sagbaren, referenzlos. Das ist das Muster, das den Schilderungen des Gefühls von Frau E. in Beziehung zum Gedichttext unterliegt. Frau E: also ein endgültiger Abschied also ein ganz schmerzliger Abschied der unumgänglich ist und und wo ich mich eigentlich nicht damit abfinden kann aber wo ich gezwungen bin das hinzunehmen aber ich kann es nicht akzeptieren ich kann es nicht hinnehmen eigentlich kann ichs nicht 106
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hinnehmen aber es ist also es ist ein ein ein ungewollter Abschied der sehr schmerzlich ist also und unumgänglich Interviewerin: n Abschied von einer bestimmten Person (?) Frau E: ja Abschied von einer bestimmten Person ja – und ich würde das hab ich auch noch gedacht also ich würde das nicht nicht also das gleiche empfinden wenn es der Abschied von einem Kind wäre oder so als für mich ist dieses Gedicht schon eher eine Partnerbeziehung also eine Liebesbeziehung oder eine Passion aber nicht nicht das Abschiednehmen von einem Kind Frau E. äußert Synonyme für die „Gewalt“ im Gedicht: die Endgültigkeit des Abschieds, Schmerz, Unumgänglichkeit, Zwang, Unakzeptables. Das Gedicht behandelt für Frau E den Abschied innerhalb einer Paarbeziehung (und nicht etwa einer Eltern-Kind-Beziehung). Frau E: also von einer großen Liebe oder großen Leidenschaft oder nein Liebe also ja Verlassenwerden eine unglückliche Liebe und die ist jetzt zu Ende und das Gittertor ist geschlossen also jetzt ist es wirklich vorbei aber ich kanns noch nicht glauben abers steht da oder (?) und ja und dann all die schmerzlichen Erinnerungen und oder die Sachen die zuerst eh schön waren die die werden irgendwie die Erinnerungen ham schön also etwas was mal als schöne Er – die schöne Erinnerung wird zur schmerzlichen Erinnerung Dabei bedeuten Abschied und Verlassenwerden die Umwandlung eigenen inneren Fühlens und Erlebens: Ehemals schöne Erlebnisse und Erinnerungen werden nun zu schmerzlichen Erinnerungen. Damit folgt Frau E. der Zeitstruktur des Gedichts: „zuerst“, „dann“. Der innere Abschied geht über den äußeren hinaus und umfasst 2 Formen. Frau E. geht bislang nicht auf die „Beharrlichkeit“ im Gedichttext ein. „das Gittertor geschlossen“ begreift Frau E. als Endgültigkeit des Abschieds, der man unterworfen ist. Hier wird die Analyse des Gedichts durch Frau E., die kurz zuvor eher formal gehalten ist, mit persönlichen Erfahrungen angereichert und aufgefüllt. Frau E: ich weiß nur nicht was dieser Satz bedeutet das hab ich jetzt wieder gedacht einsam kreuzen sich das Herz und das Feld – also das schon zwischen Herz und eh – dass zwi107
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schen Herz und – also dass schon eine Distanz da ist wo ja wo wo schon Verzicht ja ist auch wieder Verzicht auch schön – das Nicht-haben-können oder dass Wünsche die unerfüllt bleiben eigentlich auch Interviewerin: ist dann jetzt eher son Satz der praktisch also du hattest ja gesagt du hast den Mittelteil eher vergessen (?) Frau E: ja hab ich vergessen Interviewerin: und den Rest ja auch dass der so runterfällt (?) Frau E: ja und auch jetzt so merk ich also dass da immer noch ein Widerstand ist was anzuerkennen dass da wirklich ein geschlossenes Tor ist wo uner wo die Wünsche wirklich unerfüllt bleiben also ist noch ein Widerstand da und da merk ich das hab ich – ja also es ist ein Wider – ich stell es fest da ist ein Widerstand – diesen Teil also auch eh überhaupt zur Kenntnis zu nehmen Der Mittelteil „einsam kreuzen sich das Herz und das Feld“ hat für Frau E. keine klare Bedeutung (was sich mit der Fallanalyse des Gedichts deckt). Widerstand, Abwehr, Verzicht, unerfüllte Wünsche werden diesem Satz zugeordnet, aber nicht im Einzelnen aufgeschlüsselt. Es ist der Abschied von einer von Anfang an unerfüllten Liebesbeziehung. Interviewerin: und gibts einen Satz, oder einen Ausschnitt daraus der dir besonders also den du jetzt entweder in Erinnerung noch hattest (?) Frau E: ja der der erste Satz zuerst mit welcher Gewalt die wirklichen Hände das hat ich noch in Erinnerung und auch der dritte aber eben dieser dieser ist der Wichtigere merk ich jetzt Interviewerin: welcher (?) Frau E: der der Mittelsatz einsam kreuzen sich das Herz und das Feld das ist der Satz den ich nicht wahrhaben will und wahrscheinlich wird mir das jetzt den Kopf weiterdrehen also ab heute seh ich das Herz und das Feld Der Mittelteil des Gedichts ist (zumindest künftig) der wichtigste, den Frau E. nicht wahrhaben will und der ihr „den Kopf weiterdrehen“ wird. 108
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Frau E: aber wenn das Gittertor geschlossen ist und die Einsamkeit ist da und dann noch die Beharrlichkeit also ich ich sag es jetzt intellektuell aber wie wenn das Gefühl schon lang das erfasst hat dass es um – um eine Erinnerung geht also um ein Abschied geht die die noch nicht vollzogen ist in mir oder (?) die wieder nicht freiwillig ist und dass mein Gefühl das erfasst bevor mein Verstand das erfasst es geht darum dass ich dass ich diese Abschied nicht akzeptiert habe Interviewerin: hm – und das hat dir praktisch der Mittelteil und dies Gefühl deutlich gemacht (?) Frau E: ja also das Wort Beharrlichkeit weil weil die Hände des Erinnerns die könne auch schön sein aber wenn sie beharrlich sind dann will ich sie ja eigentlich nicht – etwas was so beharrlich ist das hätt eh doch eigentlich lieber weg oder (?) oder (?) dann dann das heißt in diesem Fall für mich so wie’s mich anspricht das ist langer Schmerz oder vielleicht nie aufhört zu schmerzen dass diese Möglichkeit auch ist Hier kommt nun noch die Beharrlichkeit ins Spiel, als noch nicht endgültig vollzogener Abschied, als unbeendete Erinnerung, als Zwang, dem man unfreiwillig unterworfen ist, als unaufhörlicher Schmerz. Erinnerungen können schön sein, aber etwas, das sich so beharrlich immer wieder meldet, verursacht möglicherweise Schmerzen. Zusammenfassung: In diesem Fall wird die Gedichtinterpretation fest in die persönliche Lebensgeschichte eingebunden: Es handelt sich um eine in der Vergangenheit liegende Phase der schmerzlichen Auflösung einer Liebesbeziehung, wobei das Gefühl des Schmerzes noch nachhallt. In dieses Thema wird das Gedicht „Abschied“ eingebettet. Das Gedicht wird in hohem Maße „thematisch voreingenommen“ (Charlton/Borcsa 1997) rezipiert. Die Prägung durch die persönliche Vorgeschichte geht so weit, dass der in der Erinnerung abgespaltene Mittelteil neu entdeckt wird. Wir sehen hier die Eigenständigkeit sowohl der persönlichen Wiederaneignung als auch der kommunikativen Aneignung des Gedichttextes im Interview, in dem die subjektive Rezeption erfasst wird.
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Gespräch mit Frau F. über ihre Auseinandersetzung mit dem Gedicht „Abschied“ Frau F: da hab ich mich gefragt was Gewalt ist Gewalt Heftigkeit (?) nicht Gewalt Brutalität (?) also da weil als ich zuerst Gewalt gelesen hab hab ich also sofort an an krimineller Gewalt oder heft also und dann hab ich gedacht ne das is is einfach heftig das is einfach eh gewaltig sagen mer mal so und man hat das Gittertor da dacht ich wer (?) wer is man also die Welt (?) eh einsam kreuzen sich das Herz und das Feld (?) eh is das die Verschmelzung des Körpers mit der Erde (?) also is das einfach der Tod das Begräbnis (?) also Gittertor ist Friedhof und Gefängnis für mich beides und man hat das Gittertor geschlossen und man – also irgendwie’n Gefangener der das rausbrüllt was weiß ich (?) bevor er in die Todeszelle geht Gewalt wird als zentrales Thema eingeführt, verbunden mit Brutalität und Kriminalität. „einsam kreuzen sich das Herz und das Feld“ wird als Verschmelzen von Körper und Erde interpretiert, als ein Begräbnis. Das Begräbnis auf dem Friedhof kann auch am Bild des Gittertores festgemacht werden. Das Bild des Gittertores verweist zudem auf ein Gefängnis; ein Gefangener brüllt, bevor er in die Todeszelle kommt. Frau F: man könnte das leidend leidend interpretieren man kann das aber auch sehr zornig (?) also ich find es sehr zornig – so etwas eh – je nicht jähzornig sondern einfach zornig – es kommt mir sehr – ja ohne Antwort irgendwie – kann kann keiner beantworten was ich will – so kommt’s mir vor Der Mensch, der Gewalt unterworfen, ist leidend und zornig, was mit den Bildern vom Friedhof und vom Gefängnis verbunden werden kann. Auch hier ist wieder das Gitter ein wichtiger Anknüpfungspunkt: Leidend bzw. zornig bleibt man ohne Antwort, einsam und verlassen. Keiner sagt, „was ich will.“ Frau F: die zweiten Hände sind symbolisch – also die wirklichen Hände die also der Unterschied einfach zwischen zwischen der Energie und etwas was nich mehr greifen kann – 110
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etwas was weggeht diese dieser Unterschied is es – also die Gewalt der des also des Physische wo man noch Kraft hat und nachher is die Gewalt oder die die Energie im im Mentalen also man kann nich mehr greifen man jemanden nich mehr anfassen aber man behält ihn dann einfach hier man krallt dann hier oben das kommt mir so vor also die Hände sind dann eigentlich die die Gedanken die man nicht ma also dass man jemanden nich dann auch nich gedanklich nich ziehn lassen kann oder oder eine eine nich nur n Menschen sondern auch ne Tat oder eine ein Erlebnis oder so dass man – da komm mir diese Hände des Erinnerns Zweimal werden Hände angesprochen: in den letzten beiden Zeilen sind die Hände symbolisch, man kann jemanden gedanklich nicht ziehen lassen, aber auch sich nicht von einer Tat oder einem Erlebnis lösen. In den ersten beiden Zeilen sind die Hände physisch, es handelt sich um konkrete Gewalt. Allgemeine Beobachtungen: Die Rezipientin muss sich erst sammeln, sagt vieles, um Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu ordnen. Sie assoziiert, spielt Möglichkeiten durch, ohne dass die Bausteine der Interpretationen sich systematisch oder konsistent fügen würden, sie bleiben vereinzelt. Das Gedicht gefällt und interessiert nicht besonders (sie würde es sich nicht über das Bett hängen), deshalb bleibt die Interpretation äußerlich (ganz im Gegensatz zu Fall 1) und wird als Test durchgeführt (sage ich das Richtige, entspreche ich den Erwartungen?). Als auffälliger Kontrast ist die Deutung der Stelle „einsam kreuzen sich das Herz und das Feld“ hervorzuheben: Es handelt sich inhaltlich um eine neue Deutung (als Begräbnis). Obwohl alles sonst eher undeutlich und unklar ausfällt, findet sich ausgerechnet bei dieser Stelle eine klare Deutung. In der Fallanalyse des Gedichts und den bisherigen Rezeptionen erschien gerade diese Zeile dunkel und schwer zu verstehen. Insgesamt stellt die Rezipientin im Anschluss an die ersten beiden Zeilen sehr düstere Varianten von Gewalt vor. Das Gedicht erscheint ängstigend und abstoßend. Nicht der Abschied, sondern die physische konkrete Gewalt gegen Menschen wird zum zentralen Thema des Gedichts. Damit haben wir eine deutlich abweichende
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Lesart des Gedichts vor uns. Ein weiterer wichtiger Anknüpfungspunkt ist das Gitter bzw. Gittertor, das die Gewalt-Bilder ergänzt. Gespräch mit Frau G. über ihre Auseinandersetzung mit dem Gedicht „Abschied“ Frau G: ab dem zweiten Vers einsam kreuzen sich das Herz und das Feld – ah ja das einfach sone sone Feststellung die dann aber durch die Bilder die damit transportiert werden das sehr emotional wird und also einsam is klar also nach nach der Verabschiedung jetzt einfach und dann fand ich dieses Kreuzen aber sehr merkwürdig irgendwie also dieses Herz und das Feld das kann man sich irgendwie so vorstellen also das is zwar auch also Herz ja was ganz Abstraktes und Feld was Konkretes aber s geht irgendwie trotzdem ganz gut zusamm also vielleicht auch das Herz – das Feld das is so ähnlich vom – em also gleich von der Syntax und von der Buchstabenzahl vielleicht auch deshalb ich weiss es nich und dann das is ja auch son geläufiger Topos irgendwie aber dann hat mich dieses Kreuzen eben ’n bisschen irritiert zwar schon was was is was ineinander geht irgendwie aber – sich dann eben auch wieder trennt also wie dieser Abschied aber dann das is eben dieses Kreuz auch wieder da drin enthalten und ja dann auch wieder was eher negativ Konnotiertes und in der letzten Strophe dann fand ich hat das Gedicht wieder n ganz anderen Duktus genommen also von dieser Härte am Anfang irgendwie wieder zu was ganz Weichem also welche Baharrlichkeit dann die Hände des Erinnerns also vielleicht durch dieses Dann auch bin dadurch dann über diese Beharrlichkeit gestolpert weil des ja eigentlich son ganz anderer Bereich is also eher so – weiß ich beharrlich is jemand der jetzt irgendwie enger an was dran bleibt oder so das hat eher was mit Fleiss zu tun als jetzt mit em – Gedanken und damit fand ich aber hat das eigentlich schon wieder ganz gut gepasst also dass s halt einfach was is was sich so festsetzt jetzt dieser Abschied – ja – und dann hat sich das eben geklärt in der Schlusszeile mit den Händen des Erinnerns und den wirklichen Händen – ja so dieses Kreuz das ja auch ganz zentral in dem Gedicht und das wird dann find ich eben auch noch ganz gut durch diese meiner Meinung nach Trennung 112
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irgendwie von diesem harten Anfang zu diesem weichen Schluss vollzogen irgendwie so zwei Bewegungen irgendwie sind – ja und fand ich dann auch schön mit diesem Abschied irgendwie oder mit dieser Begegnung die so is was was zuläuft und dann aber auch wieder dann von einander läuft Die Rezipientin nimmt allgemein keine inhaltliche, sondern eher eine formale Interpretation des Gedichts vor: Dabei wird das Gedicht in zwei Blöcke zerlegt, wobei der erste Block als kalt, negativ und unpersönlich, der zweite Block dagegen eher als warm und weich charakterisiert wird. Die Rezipientin versteht die ersten beiden Zeilen des Gedichts als Abschied zweier Personen, obwohl der Text schon da bereits strikt unpersönlich gehalten ist, und sieht einen Kontrast zur dritten Zeile, die als unpersönlich markiert ist („man hat das Gittertor geschlossen“). Anschließend wird deutlich, in welcher Weise die formale Analyse stellenweise aufgesetzt wirkt: Das Herz soll abstrakt, das Feld konkret sein, aber beide passen zueinander aufgrund gleicher Buchstabenzahl der Worte. Diese Analyse steht im Kontrast zur Aufforderung der Interviewerin zu schildern, wie das Gedicht spontan und emotional wirkt. Das versucht die Rezipientin durchaus, bleibt dabei aber distanziert. Inhaltlich ist ihre Rede unklar, sie hangelt sich von Wort zu Wort. So wie sie Teile des Gedichts charakterisiert, ist ihr Umgang mit dem Gedicht: distanziert und kühl. „einsam kreuzen sich das Herz und das Feld“: hier wird zunehmend deutlich, wie das Gedicht in der Auslegung äußerlich bleibt. Die Rezipientin redet nicht über eigene, sondern andere Emotionen („das sehr emotional wird“). Den Satz begreift sie als Feststellung, die dann durch die transportierten Bilder „emotional wird.“ Zu solchen Konstruktionen mag beitragen, dass die Befragte unter Handlungsdruck steht, direkt Satz an Satz schließt und dabei kompetent Auskunft geben will. Das mehrdeutige Gedicht wird in dieser Situation einer sehr einfachen, klaren und oberflächlichen Lesart unterworfen: Es gibt einen Abschied zweier Personen, die dann jeweils einsam sind. Später allerdings führt die eingehendere Betrachtung des Gedichts zu einer Korrektur:
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Frau G: ah ja gut was ich jetzt auch seh is dass dass ich dieses einsam zuerst auf die Person bezogen hab und dass er aber schreibt also das Herz und das Feld kreuzen sich einsam nich die Person – eh zu vorschnell „einsam“ bezieht sich nicht auf Personen, sondern auf Herz und Feld, die sich kreuzen. Danach kommt die Mehrdeutigkeit des Gedichts ins Spiel, denn „kreuzen“ erscheint merkwürdig, was zu der schon erwähnten, ebenfalls merkwürdigen Charakterisierung des Herzens als abstrakt und des Feldes als konkret führt. Die Rezipientin entwickelt aber eine interessante, unsere Gedichtanalyse ergänzende Deutung: Die Bewegung des Kreuzens meint die Prozesse der Vereinigung und der Trennung. Allerdings ist das Ereignis der Vereinigung nicht im Gedicht angesprochen. Noch mehr als dieses Element verselbständigt sich ein Kreuz, das eingeführt und dem eine zentrale Rolle im Gedicht zugeschrieben wird: kreuzen wird zum Kreuz. Die Rezipientin sieht dabei zwei Bewegungen: vom harten, kalten Anfang zum weichen Schluss die erste; die zweite bleibt unklar, eventuell der Prozess von der Begegnung zum Abschiednehmen. Die von der Interviewerin angeforderte spontane, persönliche, emotionale Interpretation des Gedichts gelingt nicht, das Gedicht bleibt äußerlich und oberflächlich, der Umgang ist formal und distanziert. Die Rezipientin arbeitet stellenweise mit verkürzten Eindeutigkeiten und Hilfskonstruktionen. So auch hier, wo nochmals der erste Leseeindruck geschildert wird: Man verabschiedet sich, beide gehen raus, er macht einen Spaziergang und kehrt wieder an den Ort, an das Gittertor zurück. Frau G: ja und und so beim ersten mal Lesen denkt man sich halt irgendwie gut die verabschieden sich und dann gehn sie halt beide raus und er macht n Spaziergang und kehrt dann wieder an diesen Ort zurück wo sie sich getrennt ham das vielleicht nochmal zu den Bildern also dieses Gittertor is dann einfach so – der dann Dreh- und Angelpunkt In der distanzierten, formalen Suche nach Passungsverhältnissen und Konsistenzen verselbständigt sich ein im Gespräch kommunikativ konstruierter Text im Unterschied zum Gedichttext. Der distan-
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VERHANDLUNGEN VON MEHRDEUTIGKEIT
zierte Umgang mit dem Gedicht steht in Kontrast zu dem sehr persönlichen Umgang von Frau D. mit der Textvorlage. Ins Zentrum der Gedichtinterpretation rückt das umgedeutete, hinzugefügte Kreuz. Diese Eigenkonstruktion wird im protokollierten Gespräch nicht mehr korrigiert. Einmal heißt es zum Beispiel: „und dann dieses Kreuz irgendwie das find ich halt auch n sehr eindringliches Symbol.“ Die Bilder, nach denen sie gefragt wird, entwickeln eine Eigendynamik, und das derart umgestaltete Gedicht wird dann in einer – wie die Rezipientin selbst sagt – „nüchternen“ Analyse gedeutet. Das Gedicht erscheint sowohl pathetisch (eine recht eigenwillige Auslegung) als auch nüchtern, der Gedicht- und der Auslegungstext überlagern sich. Die sehr subjektive Aneignung des Gedichts, die sich teils deutlich vom Gedichttext wegbewegt, wird durch die Befragung zumindest tendenziell unterstützt, die auf möglichst subjektive, spontane Reaktionen abzielt. Die Komplexität und Mehrdeutigkeit des Gedichts kann so kaum erfasst und reflektiert werden. Die von der Rezipientin stellenweise sehr eigenwillig konstruierte Auslegung und Modifizierung des Gedichttextes ist sicherlich ganz wesentlich durch den sozialen Handlungsdruck in der Interviewsituation bedingt. Die subjektive Rezeption des Gedichts ohne Zeit- und Handlungsdruck bei Ausschöpfung der vorhandenen Reflexionsmöglichkeiten würde sicherlich zu anderen Resultaten führen.
4.3.3 Fazit aus den Gedicht-Rezeptionen Die vier analysierten Gedichtrezeptionen weisen unterschiedliche Formen einer eigenständigen kommunikativen Aneignung des Gedichts auf. Im ersten Fall steht die Auslegung des Gedichttextes selbst im Vordergrund. Dagegen ist der zweite Fall durch eine ausgeprägte thematische Voreingenommenheit gekennzeichnet, d.h. das Gedicht wird in lebensgeschichtliche Erfahrungen eingebettet. Insofern liegt hier eine vergleichsweise autonome Aneignungsweise vor. In diesem Punkt bildet der dritte Fall einen Kontrast, weil er eine eher heteronome Aneignungsweise zeigt: Es steht das Bemühen im Vordergrund, den Erwartungen der Interviewerin bzw. den Anforderungen der Interviewsituation zu entsprechen. Auch im vierten Fall macht sich der situative Handlungsdruck des Interviews 115
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bemerkbar, wobei der Versuch, Kompetenz bei der Gedichtinterpretation unter Beweis zu stellen, zu eigenwilligen Auslegungen führt.
4 . 4 K o m m u n ik a t iv e A ne i g n u ng s p r o z es s e Mit den untersuchten Gesprächen über die Lektüre der Roman- und Gedichttexte haben wir nicht nur subjektive, sondern auch kommunikative Aneignungsprozesse vor uns. In der Untersuchung der Romanlektüre können diese unterschiedlichen Aneignungsweisen am bereits oben etwas ausführlicher dargelegten Fall von Frau C. nochmals illustriert werden. Zunächst kommentiert Frau C. den Roman aus ihrer Sicht (vgl. Anhang S. 130f.), wobei die Interviewerin äußerst sparsam agiert (also im wesentlichen Aufmerksamkeit signalisiert und weitere Anschlüsse motiviert). Frau C. spannt hier zwei Linien auf: Zum einen begründet sie, warum ihr die in unserer Fallanalyse genauer untersuchte Episode mit Victoria und Celia nicht gefallen hat, zum anderen erläutert sie ein dahinter liegendes Thema des Romans, das sie interessant findet. Es handelt sich um die Art und Weise, wie man bestimmte Personen erinnert, was aber in der Episode viel zu sehr ausgebreitet wird. Diese spontane subjektive Interpretation kann mit dem Gespräch verglichen werden, das Frau C. mit der Interviewerin etwas später über die gleiche Episode führt (vgl. Pette 2000). Die Interviewerin bietet eine Deutung an, derzufolge die Prozesse zwischen den Personen im Roman beziehungslos wirken. Frau C. nimmt dieses Merkmal der Beziehungslosigkeit auf und kontrastiert es mit den ausgedehnten Reflektionen über die Beziehungen und mit dem Grübeln über zum Teil abstruse Möglichkeiten (ist die Frau die eigene Ex-Ehefrau, ist sie eine Prostituierte usw.). Diese Interpretation ergänzt die Interviewerin mit der Deutung, es handelt sich um etwas sehr Konstruiertes. Sie fasst dann die entstandene Konstellation zusammen: Die Konstruktion von Beziehungslosigkeit verweist auf Selbstbezüglichkeit. Diese Konstellation wird von Frau C. weitergesponnen und ausgedeutet. Das Thema des Erinnerns von Personen, das die freie Kommentierung noch mit dominierte, findet sich hier nicht mehr. In hohem Maße verselbständigt sich dabei der Prozess der kommunikativen Aneignung des Textes, indem die Interviewerin eine Interpretation anbietet, die von Frau C. angenommen und variiert wird.
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VERHANDLUNGEN VON MEHRDEUTIGKEIT
Die Eigenständigkeit der kommunikativen Aneignungsprozesse wird auch in den vier Gedichtrezeptionen in unterschiedlichen Formen sichtbar. Neben den Sinnstrukturen des Gedichttextes spielen persönliche Erfahrungen und Einflüsse der Interviewsituation eine bedeutende Rolle. Es dürfte – im Anschluss an die Überlegungen in Kapitel 2 – deutlich geworden sein, dass kommunikative Aneignungsprozesse neben individuellen Rezeptionen eine eigenständige Ebene des Umgangs mit der Mehrdeutigkeit von Texten bilden. Darüber hinaus sei nochmals auf die allgemeine Bedeutung kommunikativer Aneignungsprozesse in der Lesesozialisation verwiesen, wie sie oben umrissen wurde: Zwar ist grundlegend von einer Eigenständigkeit subjektiver Rezeptionsprozesse auszugehen, aber diese Rezeptionsprozesse sind nur in kommunikativer Form zugänglich. Methodologisch kann man deshalb von rezipierenden Subjekten als Texturen sprechen, die in Form kommunikativer Aneignungsprozesse in den Blick kommen. Auch in den anschließenden weiteren Fallanalysen wird deutlich, dass der Zugang zu subjektiven Verarbeitungsprozessen über die kommunikativen Umgangsweisen mit mehrdeutigen Texten eröffnet wird. Diese kommunikativen Umgangsweisen bilden zugleich wichtige sozialisatorische Bedingungen des Erwerbs von Lesekompetenz.
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5 SCHÜLERGESPRÄCHE
ÜBER EIN
GEDICHT
5.1 Einführung Gespräche über Gedichte gehören zum Kern-Curriculum des Deutschunterrichts in der Sekundarstufe. Auch die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung hat sich bereits früh mit dieser Gesprächsform auseinandergesetzt (z.B. Fish 1980, mit seinen sehr bekannt gewordenen Essays zur Bedeutung der Schulklasse als ‚interpretive community‘, die die Bedeutung eines literarischen Textes gemeinsam erarbeitet). Der nachfolgende Beitrag verdeutlicht noch einmal – ganz im Sinne von Fish – die Selbständigkeit der Textgattung Anschlusskommunikation gegenüber der literarischen Textvorlage. Vorgestellt werden Transkripte von Schülergesprächen über ein Gedicht von Christoph Derschau. Im Anschluss an eine Deskription und erste Analyse des Kommunikationsverhaltens der Schüler werden die gefundenen Kommunikationsformen zu Befunden aus einigen aktuellen Forschungsarbeiten in Bezug gesetzt.
5.2 Untersuchungssetting Die nachfolgenden Beobachtungsprotokolle basieren auf Videoaufzeichnungen des Diskussionsverhaltens von zwei Schülergruppen während des Deutschunterrichts. Jede der beiden Gruppen A und B bestand aus zwei Teilnehmerinnen und zwei Teilnehmern am Leistungskurs „Deutsch“ der Oberstufe an einem süddeutschen Gymnasium (Altersspanne 19 bis 20 Jahre). Alle Gruppenmitglieder, die das Gedicht „Den Kopf voll Suff und Kino“ von Christoph Derschau (s.u.) schriftlich vorliegen hatten, waren aufgefordert worden, sich ohne Lehrerbeteiligung über das Gedicht auszutauschen (Zeitbegrenzung: 1 Schulstunde). Die Mitglieder der Gruppe
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A hatten die Gelegenheit bekommen, sich vor dem Gruppengespräch individuell mit dem Gedicht zu befassen. Für den Verlauf der Gruppengespräche erwies sich diese Vorbeschäftigung der Gruppe A mit dem Text jedoch als wenig bedeutsam. Vielleicht ist darin ein erster Hinweis zu sehen auf die Tatsache, dass die sozialen Prozesse der kommunikativen Aneignung von der individuellen kognitiven Auseinandersetzung mit einem Text partiell unabhängig sind.
5 . 3 D a s G ed ic h t Christoph Derschau: Den Kopf voll Suff und Kino (für E.)12 Und wieder saß ich rum vergangene Nacht den Kopf voll Suff und Kino. Nachdenken über meine Wehmut hieße nachdenken über mich. So entschließe ich mich dich in einen kahlen städtischen Baum zu setzen und erst bei Vollmond wieder herunterzuholen. Denn mit dir blühen die Bäume im Winter mit dir wird die höllische Großstadt zum Paradies. Wenn der Kopfschmerz mich drückt halt ich mich mit dir über Wasser und wir wandeln wie der aus der Bibel über einen See in dem manch ein Lächeln ersoff. Der Anruf der mich aus dem Schlaf wiegt gibt mir dann wieder festen Boden unter die Füße. 12 Aus: Derschau, Christoph. Den Kopf voll Suff und Kino. Gedichte von Liebe, Tod und dem täglichen Kleinkram. Augsburg: Maro, 3. Auflage 1977. 120
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
Und ich weiß ich werde auch heute mit meinen Tagträumen allein sein müssen mit diesem Gedicht den Kopf voll Suff und Kino.
5 . 4 G es p r ä c hs p r o t o k o l l e 13 un d F e in a n a l y s en Strategien für die gemeinsame Erarbeitung des Gedicht-Verständnisses in der Gruppe A (Ben, Luise, Marlene, und Max) Kontext: Die Gruppenmitglieder haben eine Abschrift des Gedichts erhalten und jeder hat für sich den Text gelesen. Dem transkribierten Gesprächsausschnitt geht die Aufforderung von Marlene an alle voran, sich zu ihrer jeweiligen Lesart des Gedichts zu äußern. Marlene hat damit die Regie übernommen. Nach kurzer Debatte befolgt Luise als erste die Aufforderung. AI1 Luise: AI2 Ben: AI3 Luise:
also für mich gehts da um Liebe gescheiterte Liebe bsch ((zu Ben)) s lyrische Ich des hat grad ne Beziehung beendet oder s wurd (für ihn) beendet s wurd verlassn und isch jetzt also ich denk mal dass es ziemlich frisch isch ( ) also erscht vielleicht en paar Tage und dass des nämlich dann sich so in Tagträume flieht also flüchtet (gradezu da rein) in d Vergangnheit und am Schluß wird’s aber wieder rausgerissen ebn durch den Anruf un es war wie son Film en Kinofilm (in sei-) im Kopf vom lyrischn Ich AI4 Marlene: hm AI5 Luise: und ja des isch irgendwie so en Film eben abgelaufen 13 Die Transkription der mündlichen Rede verzichtet auf Satzzeichen. Es werden folgende Sonderzeichen verwendet: ( ) bedeutet „un- bzw. schwer verständliche Passage“; [ ] bedeutet „erschlossener Textsinn“; (( )) enthält einen extralinguistischen Kommentar. Die Interakte sind jeweils vom Beginn des Ausschnitts an durchnummeriert. 121
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am Schluß ischs aber wieder wach des isch praktisch eben n Tagtraum der mit dem Gedicht beginnt ( ) wenns Gedicht zu Ende isch isch dann auch der Tagtraum zu Ende ( ) AI6 Marlene: also des hab ich ungefähr au so gedacht nur ich habs also ich hab nit dass ne Beziehung beendet isch ich hab eigentlich eher auf Tod plädiert von ihr AI7 Luise: auf jeden Fall isch irgend en Ende zwischen den zwei Menschen AI8 Marlene:(des isch halt) ich hab auch so gedacht s kann au sein dass es irgendwas Soziales isch warums beendet isch also irgendwie dass sie ebn halt zu weit voneinander entfernt sind oder so nit zusammen sein könn oder sie nimmer zusamm sin also daß die Beziehung beendet isch abers kann auch sein dass sie tot isch weil ich halt noch em des Paradies un des Wandeln un die Bibel (ja irgendwie so) religiös un irgendwie so weisch un wandln isch irgendwie wie wenn er sich halt vorstellt dass er au tot wär un sie halt irgendwie aufn Wolken was heißt auf n Wolkn oder irgendwo wandeln würden ich glaub ( ) AI9 Luise: ich dacht des isch ne Beziehung weil au nachdenkn über meine Wehmut hieße nachdenken über mich vielleicht hat AI10 Marl.: mm AI11 Luise: des lyrische Ich ebn in der Beziehung au Fehler gemacht und jetzt is es nur zu spät ( ) AI12 Ben: ich würd sagn des is definitiv ne Beziehung weil erstens is es an jemandn adressiert un äh er hat auch die Absicht gehabt des Gedicht abzuschickn aber machts am Schluß nich er sagt ja dann am Schluß ää [doch ich weiß ich werde auch heute mit meinen tagträumen] AI13 Luise: [( ) wie kommsch Du drauf (abzuschicken)] ((lacht)) hasch Du ne Briefmarke ( ) AI14 Ben: nein guck mal allein sein müss(e)n mit dies(e)m Gedicht also er hats er schreibt ja praktisch en Gedicht um jemand was mitzuteilen des es is ja auch an jemanden adressiert AI15 Luise: ebn guck des denk ich ebn nit 122
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
AI16 Marl.: ( ) AI17 Luise: ich glaub des isch so zwar nit anonym schon an jemand adressiert aber ich glaub der hat des geschriebn um sich selbst dadrüber klar zu werden AI18 Marl.: um sich über sich selbscht AI19 Ben: ja natürlich hat er nie die Absicht gehabt aber trotzdem es is so verfasst dass mans an jemanden schicken könnte AI20 Luise: mit dem Hintergedanken ja Du schickschs eh nit weg ( ) AI21 Ben: ausserdem (ist es ja so verformt) dass dass AI22 Marl.: ich weiß nich ( ) des macht ma ja manchmal wirklich man fängt´n Brief an an jemand zu schreiben AI23 Luise: aber man weiß von vornherein ich schick den Brief nit ab (weil) AI24 Marl.: ich schick ihn nicht ab oder schreib ihn eigentlich nur für mich damit meine Gefühle irgendwie mit denen irgendwie bisschen mehr klar komm wenn ich se aufschreib oder ich ( ) auch eher AI25 Luise: oder am Schluß des hab ich dann au gwusst dass der ihn nicht abschickt weil ich werde auch heute AI26 Ben: darf der Max ( ) jetzt auch was sagn? Luise nimmt die Aufforderung an, indem sie Marlenes Formulierung wiederholt (AI1). Ben fällt ihr ins Wort und gibt eine denkbar knappe Zusammenfassung seiner Lesart. Luise verbietet Ben das Reden wie einem Kind („bsch“, AI3). In Fachsprache („lyrisches Ich“) nennt sie das Ende einer Beziehung als Kernthema des Gedichts, lässt aber offen, wie es zu diesem Ende kam und nennt mehrere mögliche Alternativen. Sie schildert die Situation aus der Innensicht des lyrischen Ichs, stellt eine Vermutung darüber an, seit wann seine Verlassenheits-Situation besteht („ziemlich frisch“) und hat eine ziemliche genaue Vorstellung davon („vielleicht en paar Tage“). Sie begründet das damit, dass das lyrische Ich sich in die Tagträume über seine Vergangenheit „gradezu reinflüchtet“, d.h. die Dringlichkeit des Tagträumens als Bewältigungstechnik dient als Indikator für die Frische des Leidens des lyrischen Ichs. Das Ende des Tagtraums im Gedicht wird mit einem Filmende im Kopf des lyrischen Ichs verglichen. Somit wird eine andere Kunstform zum Verständnis des Gedichts herangezogen, deren zeit123
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liche Begrenztheit ein ähnliches Erleben verursacht („rausgerissen“, AI3). Nach einem Hörersignal von Marlene wiederholt Luise ihre Film-Metapher und bezieht die Länge des „inneren Films“ 1:1 auf die Länge des Gedichts. Marlene leitet mit eingeschränkter Zustimmung („ungefähr“,AI6) die Darstellung ihrer eigenen Sichtweise ein („eher auf Tod plädiert“), benutzt Fachsprache, aber aus dem falschen Bereich. Luise betont das Gemeinsame ihrer beiden Sichtweisen („irgendein Ende“, AI7) und stärkt damit die Koalition der beiden Frauen. Marlene nennt ihre möglichen alternativen Sichtweisen („irgendwas Soziales“, AI8). Diese sehr abstrakte Formulierung ist für viele mögliche Beziehungen zwischen den Gedichtprotagonisten zutreffend, bleibt aber noch sehr diffus. Die Alternative „Tod“ (die gewählte Formulierung impliziert die Annahme, dass der Adressat des Gedichts weiblich ist) wird aufgrund von Begriffen genannt, die transzendentale Assoziationen („irgendwie so religiös“) auslösen; eine Theorie, die Marlene in leicht rechtfertigendem Tonfall („halt“) vorbringt, wobei sie sich um Rückversicherung bemüht („irgendwie so weisch“). Bei ihr fällt eine Diskrepanz auf zwischen der Anführerrolle in der Gesprächsorganisation und vielen Unsicherheitsmarkierern. Luise belegt argumentativ an einer Textstelle ihre Sichtweise (nicht Tod, sondern Trennung) und schließt eine weitergehende Theorie an, die aus lebensweltlicher Erfahrung stammt: in Beziehungen können Fehler gemacht werden, die definitiv zum Ende der Beziehung führen können („und jetz is es nur zu spät“, AI11). Ben widerspricht Luise und argumentiert dafür, das Gedicht als eine reale Botschaft zu betrachten, die aber nicht abgeschickt wurde. Luise nimmt ihn auf den Arm („Briefmarke“, AI13). Ben versucht, Zustimmung zu bekommen („guck mal“, AI14), indem er auf eine Gedichtstelle hinweist und seine Sicht als Tatsache formuliert („ja“, „praktisch“). Luise verweigert die Zustimmung nachdrücklich, als habe Ben genau das getroffen, was sie verneinen will („ebn“, AI15). Sie räumt zwar eine gewisse Berechtigung für Bens Sicht ein („zwar“, „schon“, AI17), ist sich jedoch über die Innenwelt des lyrischen Ichs und seine Beweggründe zu schreiben, subjektiv ziemlich sicher: Es geht um eine innerpsychische Bewältigung von Gefühlen, nicht um eine Botschaft an die geliebte Person. Marlene stimmt zu.
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SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
Ben widerspricht seiner vorherigen Aussage, um in die Nähe eines Konsenses zu kommen („natürlich nicht die Absicht gehabt […]“, AI19), beharrt aber auf der formalen Grundlage des Gedichts für seine These ‚Gedicht als reale Botschaft‘ („trotzdem is es so verfasst“). Luise führt unbeirrt ihre Darstellung der Innensicht des lyrischen Ichs fort, verfällt dabei in die Du-Form (AI20, als persönlichere Form des unpersönlichen ‚man‘). Ben wird unterbrochen, verspricht sich beim Versuch, weiteres Belegmaterial anzubringen („außerdem ist es ja so verformt“, AI21). Marlene bestärkt nach einem ‚Bescheidenheitsmarkierer‘ („ich weiß nich“, AI22) Luises Position, indem sie für deren These eine allgemeine Gültigkeit („man“) und hohe Realitätsnähe bescheinigt („wirklich“). Luise setzt den von Marlene begonnenen Satz fort (AI23) und demonstriert vollständige Einigkeit, wechselt vom unpersönlichen „man“ zur „ich“-Form und damit auf den Bereich der persönlichen Erfahrung über. Marlene übernimmt wieder und bleibt ebenfalls bei der Ich-Form: die Mädchen schwelgen im Wiedererkennen von inneren Erlebnissen im Gedicht. Luise will noch mit einer anderen Textstelle ihre früh als richtig erkannte These untermauern („des hab ich dann au gwusst“), wird aber von Ben unterbrochen, der für den schweigenden Max das Rederecht erkämpft. Damit hat er der Frauenfront gezeigt, dass ihre gemeinsame Lesart angreifbar ist. Gleichzeitig steht er nicht als einziger Verlierer da, der sich selbst verteidigen muss, sondern wehrt sich für Max, der sich in einer noch schwächeren Position befindet, da er noch gar nicht zu Wort gekommen ist. Disput über die Textstelle „in einen Baum setzen“ (Gruppe B: Georg, Mirko, Paula & Sophie) Kontext: Nach einigen Unklarheiten über den Sinn des Gedichts überlegt die Gruppe gemeinsam, wie sie bei der Interpretation vorgehen soll. BII1 Sophie: [ja aber wieso] wenn er sie in einen Baum setzt wieso kann er dann nich mehr nachdenkn über seine Wehmut? BII2 Paula: ja ich hab des ja fol – ich mein des – also ich denke dass er 125
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BII3 Mirko: ( ) sie einfach aus seinen Gedankn verschiebn will deswegn setzt er sie auf den Baum und ho – irgendwie später denkt er und au sie un deswegn weil er halt seiner Wehmut oder halt ja [dass des wohl lyrisch gemeint is is uns ja klar] dass er sie nich packt un aufn Baum hievt BII4 Sophie: [ach und seine Wehmut des isch sozusagn sie] BII5 Paula: ja also – ja ich mein also nich direkt sie aber (s hat) mit ihr zu tun und er würde BII6 Sophie: mh BII7 Paula: und er würd würd vielleicht gern dass sie da wär oder so des is sie halt nich un deswegen muß er sie aus seinen Gedanken verbannen ((lacht)) ja damit er nich so leidet keine Ahnung Sophie fragt nach dem inhaltlichen Zusammenhang zweier Gedichtzeilen, die grammatikalisch aufeinander bezogen („so entschließe ich mich […]“), aber semantisch nicht verständlich sind (BII1). Mirko nimmt die Gedichtmetapher als Ausdruck für eine Bewältigungstechnik („sie einfach aus seinen Gedanken verschieben“). Er betont das Metaphorische noch einmal, indem er den Konsens darüber erwähnt („is uns ja klar“) und die wörtliche Bedeutung ad absurdum führt, indem er sie etwas handgreiflicher umformuliert („packt“, „hievt“, BII3). Sophie nimmt die Idee auf und erwägt eine Gleichsetzung eines Begriffs („Wehmut“) mit der Person, an die das Gedicht adressiert ist („sozusagen“ markiert die Vorläufigkeit einer Formulierung). Paula ist derselben Ansicht wie Mirko und übernimmt die weitere Eingrenzung von dessen These: Es gibt einen Zusammenhang zwischen „Wehmut“ und der angesprochenen Person, aber sie werden nicht gleichgesetzt (im Sinne von „eine Person namens Wehmut“). Sie verlässt die Gedichtebene und führt eine psychologische Theorie als Verstehenskategorie ein: das lyrische Ich will nicht an die abwesende Person denken, um nicht zu leiden. Gruppe A zur Textstelle „Bäume im Winter“ Kontext: Die Gruppendiskussion nimmt ihren Ausgang bei der Frage, wieviel Alkoholkonsum mit der Gedichtzeile „den Kopf voll Suff und Kino“ ausgedrückt wird.
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SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
AIII1 Luise: AIII2 Ben: AIII3 Luise: AIII4 Ben:
der Suff hilft ihm findest Du des nich ironisch? zu schwebn ((mit übertrieben romantischem Ton)) denn mit dir blühn die Bäume im Winter mit dir wird die höllische Großstadt zum Paradies AIII5 Marl.: nee AIII6 Luise: nee AIII7 Marl.: du musch es anderscht lesn hörn du musch es einfach ( ) ((mit ernstem Ton)) denn mit dir blühn die Bäume im Winter mit dir wird die höllische Großstadt (zum Paradies) AIII8 Ben: des passt nich zu dem was er davor gesagt hat AIII9 Luise: nee des passt nit zu dem Menschn deswegn schickt ers au nit weg AIII10 Marl.:ja AIII11 Luise: der Mensch is eigentlich s schon en Mann ebn en Mann AIII12 Ben: des des is viel zu poetisch dies die dritte AIII13 Luise: aber des isch vielleicht AIII14 Ben: die dritte Strophe AIII15 Luise: du in jedm Mann steckt auchn weicher Kern einfach und des kommt halt dabei raus AIII16 Marl.:ja Ben sucht Konsens für eine ganz andere Sichtweise auf das Gedicht: Es könnte vielleicht ironisch gemeint sein (AIII2). Luise bleibt noch bei ihrer Bemühung, sich in das lyrische Ich hineinzuversetzen und beschreibt die Bewältigungsfunktion von dessen „Suff“ mit einer poetischen Metapher: „hilft ihm zu schweben.“ Ben belegt seine Sichtweise durch eine Leseprobe mit entsprechender Betonung (AIII4). Dadurch grenzt er sich, ebenso wie durch die formale Argumentation oder durch das Erkämpfen von Rederecht für den schweigsamen Max gegen die beredte Allianz der Mädchen ab. Die Mädchen reagieren in Einigkeit ablehnend (AIII5, AIII6). Marlene gibt die nach ihrer Ansicht korrekte Lesart vor („du musch es anders lesn hörn“), gefolgt von einer entsprechenden Leseprobe. Ben weist auf einen stilistischen Widerspruch innerhalb des Gedichts hin, der für seine Sichtweise der Ironie spräche (AIII8). Luise gibt ihm Recht, wendet den Widerspruch aber ins Psychologische und nimmt 127
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damit Bens Einwand als Beleg für ihre eigene These über das Empfinden und Handeln des lyrischen Ichs (AIII9). Marlene gibt ihr Recht. Luise geht noch weiter: sie leitet aus der Eigenschaft, die sie dem lyrischen Ich zuschreibt (dass er eine Gedichtzeile geschrieben hat, die eigentlich nicht zu ihm passt) eine Annahme über dessen Geschlecht ab: Es muss ein Mann sein. Dass die Gedichtzeile nicht zu ihm passt, bestätigt wiederum ihre Sicht über Männer („ebn n Mann“, AIII11). Ben versucht noch einmal, sachlich über die stilistische Einordnung („viel zu poetisch“) einer Gedichtstelle zu sprechen, ohne den Bezug zu nennen, den er meint (AIII12). Luise bezieht den Einwand Bens („zu poetisch“) wieder ganz auf die psychologische Seite des lyrischen Ichs. Da sie inzwischen fest davon überzeugt ist, dass es sich um einen Mann handelt, kann sie den Widerspruch mit einer alltagspsychologischen Redewendung erklären („in jedem Mann steckt auch n weicher Kern einfach“), was wiederum den Charakter der Gedichtzeile rechtfertigt („und des kommt halt dabei raus“). Wiederum gibt ihr Marlene Recht. Gruppe B zur Textstelle „Bäume im Winter“ Mit derselben Textpassage beschäftigt sich auch die Gruppe B. Kontext: Die Gruppe versucht gemeinsam, Textstellen zu verstehen, die sie noch nicht in ihre Interpretation einordnen kann. BIV1 Mirko: ich hab ne Idee ich hab glaub ich ne Idee denn mit dir blühn die Bäume im Winter e eh die Bäume könn im Winter nich blühn und irgendwie hab ich jetz des Gefühl des is Urlaub die dass die jetzt in den Urlaub fahrn im Winter irgendwo auf Hawai da blühn die Bäume auch im Winter und dann sind se nämlich dann äh dann weiste dieses Wasser des wie dass die an der See am Meer also ich weiß nich vielleicht is des auch zu weit gegriffn aber ich könnt mir des gut vorstelln dass die dass des son Urlaub ist [un danach] BIV2 Sophie: [ja un] die höllische Großstadt zum Paradies was hat des mit Urlaub zu tun? BIV3 Mirko: Städtereise ((lacht)) BIV4 Sophie: ja aber dann höllische Großstadt un Paradies ich mein wenn du wenn du ne Städtereise machsch dann – 128
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
wenn du des als höllische Großstadt ansiehsch dann kann kann des ja nich plötzlich zum Paradies werdn nur weil du jetz im Urlaub bisch BIV5 Mirko: gut ok [aber] BIV6 Paula: [aber s] kann ja auch so sein dass des einfach Urlaubserinnerungen wo sie halt zusamm in Urlaub warn (s muß ja nich sein) dass sie nur im Urlaub zusamm warn BIV7 Sophie: mh BIV8 Mirko: ich find ich ich dass des was expressionistisches hat des Gedicht findet ihr nich? BIV9 Sophie: ja sowieso natürlich BIV10 Mirko: un deswegn äh deswegn is es mir hier auch mit der höllischen Großstadt aufgefalln also ist die expressionistische von der Großstadt die so böse un schlecht is auf der einen Seite des hat auch des ganze Gedicht auf der einen Seite im Expressionismus wird ja die die Großstadt beschriebn auf der einen Seite hassn sie die Gro – oder also was heißt die die w was sagn die da der der giftgrüne Schall des Himmels und ähm die die des Blut des durch die weisste ach ihr kennt ja auch so expressionistische Gedichte ((Paula lacht)) BIV11 Mirko :und ähm auf der andern Seite hab ich dann weil die wohn ja alle in der Großstadt die wohn da ja alle und die würdn um nichts in der Welt aufs Land ziehn oder sowas und des is find ich hat hier sowas Ähnliches auf der einen Seite weiste wemmaan sich über irgendetwas beschwert wenn wenn was nich gefällt dann man beschwert sich ja meistens über die Sachen die eim doch mehr am Herzn liegn des is wie wie die Mutter die halt des Kind anschreit mag m – mag des Kind ja mehr als die die die der ders halt egal is und ich find des hat sowas also so ja dass auch alles Negative hier drin irgendwie dass es erwähnt wird dass is des is wieder was Positives des habt ihr jetz nich verstandn! BIV12 Paula: na so ungefähr ähm mit und zu dem andern nochmal denn mit dir blühn die Bäume im Winter des muß ja nich unbedingt sowas heißn ganz einfach halt dass es schön is ja wenn sie da is auch im Winter
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Mirko hat eine Idee, nachdem er eine fragliche Gedichtzeile vorgelesen hat: das Bild „mit dir blühen die Bäume im Winter“ versteht er wörtlich als Urlaub in einem Land, in dem dies der Fall ist. Sophie stellt das in Frage mit einer anderen Gedichtstelle, die nicht zu dieser Theorie passt (BIV2), Mirko reagiert mit einem Witz („Städtereise“). Sophie nimmt ihn weiterhin ernst und versucht ihn zu überzeugen: Seine Sicht passt nicht. Mirko macht daraufhin im Alleingang einen fachwissenschaftlichen Exkurs („ich find dass des was Expressionistisches hat findet ihr nich“, BIV8), den er mit einem provozierenden Witz beendet, indem er der Gruppe unterstellt, sein Exkurs habe sie überfordert. Paula kehrt jedoch zurück zu dem Stand des Gesprächs vor dem Exkurs und bringt eine alternative Sicht auf die Zeile („[…] des muss ja nich unbedingt sowas heißn ganz einfach halt dass es schön is ja wenn sie da is auch im winter“, BIV12). „über Wasser wandeln“ (Gruppe B) Kontext: Mirko spricht darüber, wie der Verstehensprozess bei „normalen Gedichten“ abläuft (und sagt damit, dass das vorliegende Gedicht nicht dazugehört), danach rätselt die Gruppe an einer Textzeile herum und erwägt verschiedene Verstehensalternativen. BV1 Sophie: vielleicht kamma des als Außenstehender auch gar nich blickn vielleicht sind des Sachn die nur die zwei verstehn ((Mirko zieht die Augenbrauen nach oben; Georg schaut in die Kamera)) des gibts doch oft bei so Freundschaften oder so da redesch du irgendwelche Sachn un un en Außenstehender blickt echt nich wovon du redesch und und des is so verplant alles des hat nämlich alles kein Zusammenhang wenn der Kopfschmerz mich drückt halt ich mich mit dir über Wass – über über Wasser un wir wandln wie der aus der Bibl also ich mein da hat ja echt des eine mit dem andern nix zu tun BV2 Georg: ja gut also mit dem halt ich mich über Wasser un wir wandln wie der aus der Bibl über einen See des hat ja schon was zusamm zu tun nur des passt nich zu den Kopfschmerzn BV3 Sophie: [ja genau] 130
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BV4 Georg: [oder auch] des mit dem Lächeln da mit dem ersoffenen Lächeln BV5 Mirko: des das is gut ich glaub des des is es eigentlich dass es dass es so BV6 Sophie: un vielleicht BV7 Mirko: des des ich glaub das is gut des des is es ich glaub des is es eigentlich BV8 Sophie: ja die ham BV9 Mirko: dass es dass es so Erinnerungen sin einzelne einzelne Erinnerungen die warn zusamm an dem an dem Strand und er hatte Kopfschmerzn und die gehn halt ins Wasser und sie hat ihn keine Ahnung sie hat ihn halt keine Ahnung dann halt rumgespritzt und dann ging der Kopfschmerz war er weg und dann sind de sind se so am Strand entlang gelaufen so in dem tieferen niedrigen Wasser so weiste so zu zweit hintereinander wie der aus der Bibel oder über einen See un dann indem manch ein Lächeln ersoff des is des is au extra schau ma des is o – ja gut des hat nichts damit zu tun ehm des kamma so nich sagn aber des ist dann des ist dann des jetzt des is dann nich mehr die Erinnerung sondern die BV10 Paula: ja BV11 Mirko: er begreift dass es vorbei is BV12 Paula: mh BV13 Sophie:ja BV14 Mirko: er schwelgt so in Gedankn de – du hast diese ganzn Bilder vor dir un un dann is es is es plötzlich weiste wie son Film BV15 Paula: ja BV16 Mirko: un der Film bricht dann plötzlich ab klick klick klick klick klick klick wie wenn der Film an [den] BV17 Paula: [ja] BV18 Mirko: Projektor schlägt und dann in dem manch ein Lächln ersoff BV19 Paula: (a ja) da hammer ja auch Bezug zu obn zu untn un (zum) drittn ersoff ja ich glaubs gut die Erklärung BV20 Sophie: ach so stimmt Suff BV21 Mirko: stimmt 131
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BV22 Sophie: aha super ((lacht)) BV23 Georg: super Sophie fällt zum ersten Mal ein, dass das Gedicht vielleicht gar nicht verstanden werden kann (BV1). Sie denkt dabei an eine Art Privatsprache, die das lyrische Ich mit der Adressatin des Gedichts verbunden haben könnte. Sie sucht Konsens dafür, dass es so etwas „doch oft“ in verschiedenen Beziehungen gebe und verwendet das persönlichere „du“ anstelle von „man“ („da redesch du irgendwelche Sachn“). Zum Beleg für die Unverständlichkeit kehrt sie auf die Gedichtebene zurück und zitiert einige Zeilen, die sie jugendsprachlich als „verplant“ bezeichnet. Während Georg noch nach möglichen Zusammenhängen zwischen den Zeilen sucht (BV2) und Sophie ihm zustimmt, findet Mirko an Sophies Theorie Gefallen (BV7: „des is es eigentlich“) und konkretisiert sie als „einzelne Erinnerungen“ (BV9). Er subsumiert alle vorher unverständlichen und unzusammenhängenden Gedichtmetaphern unter eine vorgestellte Szene am Strand, die Autor und Adressatin des Gedichts miteinander erlebt haben könnten. Als er an eine Gedichtstelle kommt, die er in seiner Szenerie nicht unterbringen kann, nimmt er einen Wechsel der Zeitebene an: es handelt sich nicht mehr um die Erinnerungen des lyrischen Ichs, sondern um dessen erlebtes Jetzt („er begreift, dass es vorbei ist“, BV11). Paula und Sophie geben ihm Recht. Mirko reformuliert die Erkenntnis noch einmal und illustriert sie: die verschiedenen Bilder des Gedichts werden zu „Schwelgen in Gedanken“ (BV14) des lyrischen Ichs, das er aus dessen Innensicht („du hast dann diese ganzen Bilder vor dir“) als Film beschreibt. Das ermöglicht es auch, den Bruch im Gedicht, der vorher unverständlich war, als Ende dieses inneren Films zu reinszenieren („klick klick klick“). Die verschiedenen Ebenen des Gedichts werden fassbar durch die Film-Metapher, weil Filme durch ihre zeitliche Begrenztheit ebenso Realität wie deren abruptes Ende bedeuten. Paula stellt befriedigt andere Bezüge zu Gedichtstellen fest, die sich durch diese Sichtweise ergeben. Alle anderen stimmen zu.
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SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
5 . 5 S t r a t e g ie n z ur k o m m un ik a t iv en B ea r b e it u ng m e hr d e ut ig er T ex t a b s c h ni t t e
5.5.1 Bewerten Bis auf eine Ausnahme enthalten sich die Diskussionsteilnehmer jeder spontanen Bewertung des Gedichts. Nur Mirko gibt gleich zu Beginn der Diskussion ein negatives Werturteil ab. Er positioniert sich damit als Lyrik-Kenner, der mit verschiedenen Textmerkmalen genug Erfahrung hat, um eine klare Einstellung dazu gewonnen zu haben und außerdem eine Alternative vorschlagen zu können: „ich hasse des wenn sich Gedichte nich reimen ich weiß nich also was solln des da kann man doch gleich irgendwie gescheite Prosa schreiben“ (nicht im Zusammenhang transkribierte Textstelle).
5.5.2 Gegenseitiges Erklären Erklärungen finden sich relativ häufig. Hier einige Beispiele: AI12 Ben:
„ich würd sagn des is definitiv ne Beziehung weil erstens is es an jemandn adressiert […]“ AI22 Marlene: „des macht ma ja manchmal wirklich man fängtn Brief an an jemand zu schreiben […]“ AIII15 Luise: „du in jedm Mann steckt auchn weicher Kern einfach und des kommt halt dabei raus […]“ BV2 Georg: „ja gut also mit dem halt ich mich über Wasser un wir wandln wie der aus der Bibl über einen See des hat ja schon was zusamm zu tun nur des passt nich zu den Kopfschmerzn […]“ Aber auch im Kontext der folgenden, spezifischeren Strategien tauchen häufig erklärende Äußerungen auf.
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5.5.3 Kooperative Ausarbeitung einer Idee Beispiel 1: Wechsel der Verstehensebene Von der Gedichtsemantik, die unverständlich bleibt (BII1 Sophie: „ja aber wieso wenn er sie in einen Baum setzt wieso kann er dann nich mehr nachdenken über seine Wehmut?“) wechselt Mirko in seinem Erklärungsversuch auf die psychologische Ebene und nimmt die Gedichtmetapher als Ausdruck für eine Bewältigungstechnik des Protagonisten (BII3 Mirko:„[ ] sie einfach aus seinen Gedanken verschieben will deswegn setzt er sie auf den Baum […] dass des wohl lyrisch gemeint is is uns ja klar dass er sie nich packt un aufn Baum hievt“). Er veranschaulicht seinen Wechsel vom WörtlichVerstehen ins Metaphorische durch die handgreiflichere Umformulierung und zeigt damit, wie absurd er es fände, hier bei der wörtlichen Bedeutung zu bleiben. Sophie versucht eine Gleichsetzung von Begriff und Person im Gedicht (BII4 „ach und seine Wehmut des isch sozusagen sie“), Paula differenziert den Zusammenhang, indem sie Mirkos These weiter ausformuliert (BII5, BII7„[…] nich direkt sie aber s hat mit ihr zu tun und […] er würd vielleicht gern dass sie da wär oder so des is sie halt nich un deswegen muss er sie aus seinen Gedanken verbannen damit er nich so leidet“, S.12). Sie verlässt die Gedichtebene und führt eine psychologische Theorie als Verstehensebene ein: das lyrische Ich will nicht an die abwesende Person denken, um nicht zu leiden. Der Weg zu einer gemeinsamen Lösung des Verständnisproblems verläuft also über die folgenden Schritte: Problembeschreibung (Sophie) – Erster, unklarer Antwortversuch (Paula) – Lösungsvorschlag (Mirko) – Versuch einer Explikation des Lösungsvorschlags (Sophie) – Zurückweisung und neuer Versuch (Paula) – Zustimmung (Sophie) – Erweiterter Lösungsvorschlag (Paula). Beispiel 2: Wird ein privilegiertes Kontextwissen vorausgesetzt? Nach einiger Ratlosigkeit und lautem Denken („irgendwie muss dieser Vollmond doch noch ne Bedeutung haben“) fällt Sophie zum ersten Mal ein, dass das Gedicht vielleicht gar nicht verstanden werden kann und dies der Schlüssel zum Verständnis ist („vielleicht kamma des als Außenstehender auch gar nich blickn vielleicht sind des Sachn die nur die zwei verstehn“, BV1). Die Unverständlichkeit 134
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
ist in der Privatheit zwischen dem lyrischen Ich und der Adressatin des Gedichts und deren geteilten Erfahrungen begründet: „des gibts doch oft so bei Freundschaftn oder so da redesch du irgendwelche Sachn un en Außenstehender blickt echt nich wovon du redesch.“ Während Georg noch nach anderen möglichen Zusammenhängen sucht, findet Mirko an Sophies Theorie Gefallen (BV7 „des is es eigentlich“) und konkretisiert sie als „einzelne Erinnerungen.“ Er ordnet die scheinbar zusammenhangslosen Passagen einer vorgestellten Szene am Strand zu, die Autor und Adressatin des Gedichts miteinander erlebt haben könnten (BV9). Durch einen Wechsel der Zeitebene gelingt es ihm anschließend, eine noch verbleibende Widersprüchlichkeit zu vermeiden (siehe 4.4), Paula und Sophie schließen sich seiner Lesart an. Diskussionsverlauf auf dem Weg zur endgültig von der Gruppe akzeptierten Lösung: Erste Lösungsidee (Sophie) – Alternativvorschlag (Georg) – Aufgriff der erstgenannten Lösungsidee und Explikation (Mirko) – Zustimmung (Paula, Sophie). Beispiel 3: Die Filmmetapher als Möglichkeit, unvereinbare Gedichtpassagen zu verstehen Während in der Gruppe 1 Luise bereits bei ihrer ersten Darstellung, wie sie das Gedicht verstanden hat, zu dem Vergleich „Film“ findet („flüchtet gradezu da rein in d Vergangenheit und am Schluss wird s aber wieder rausgerissen ebn durch den Anruf un es war wie son Film en Kinofilm in sei im kopf vom lyrischen ich“, AI3), erarbeitet sich die Gruppe 2 diese Lösung schrittweise. Nachdem Sophie den Grund für die Unverständlichkeit des Gedichts darin sieht, dass es sich um die private Geschichte zwischen zwei Menschen handelt, die man als Außenstehender nicht ohne weiteres nachvollziehen kann (s.o.), findet Mirko nach der Darstellung einer möglichen Szene aus der Innensicht des lyrischen Ichs zu der Metapher des inneren Films: „er schwelgt so in Gedanken de – du hast diese ganzn Bilder vor dir un dann is es is es plötzlich weiste wie son Film“ (BV14). Das ermöglicht auch, den Bruch im Gedicht, der vorher unverständlich war, als Ende dieses inneren Films zu reinszenieren („klick klick klick“), die verschiedenen Ebenen des Gedichts werden fassbar durch die Film-Metapher, weil Filme durch ihre zeitliche Begrenztheit Realität ebenso wie ihr abruptes Ende bedeuten. Paula stellt fest, dass sich hierdurch auch Bezüge zu weiteren Ge135
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dichtstellen ergeben („a ja da hammer ja auch Bezug zu obn zu untn un zum dritten ersoff ja ich glaub s gut die Erklärung“, BV19), auch Sophie stimmt zu. Diskussionsverlauf in Stichworten: Weiterführender Lösungsvorschlag (Mirko) – Zustimmung (Paula) – Weiterführende Explikation (Paula) – Abschließende Zustimmung (Sophie, Mirko, Georg).
5.5.4 Kampf um die „richtige“ Lesart Beispiel 1: Mitteilung an ein Gegenüber oder subjektiver Bewältigungsversuch? Ben argumentiert formal für die Sichtweise, dass das Gedicht eine reale Botschaft des Verfassers ist, die dieser nur nicht abgeschickt hat („weil erstens is es an jemanden adressiert un er hat auch die Absicht gehabt es loszuschicken aber machts am Schluss nich er sagt ja dann am Schluss doch ich weiß ich werde auch heute mit meinen Tagträumen […] allein sein müssen“, AI12). Er wird dafür von Luise auf den Arm genommen („wie kommsch du drauf […] hasch du ne Briefmarke […]“) und seine Theorie wird mit Nachdruck angezweifelt („ebn guck des denk ich eben nit“). Luise und Marlene entwickeln gemeinsam die Alternativtheorie, das Schreiben des Gedichts sei als Bewältigungshandlung zu verstehen („der hat des geschriebn um sich selbst dadrüber klar zu werden“). Ben versucht zwar, seine Sichtweise mit Zugeständnissen doch noch durchzubringen („ja natürlich hat er nie die Absicht gehabt aber trotzdem es is so verfasst dass mans an jemanden schicken könnte“, AI19). Die beiden Mädchen wechseln einander ab in ihren Begründungen für die gemeinsame Bewältigungsthese, sie belegen die Richtigkeit ihrer These damit, dass es sich um eine allgemein geteilte Erfahrung handelt, durch den Wechsel von der allgemeinen ‚man‘-Form zur ‚ich‘- Form beziehen sie diese Erfahrung auf die eigene Lebenswelt. Ben unterbricht die sich überbietenden Mädchen, indem er das Rederecht für den schweigenden Max erkämpft. Diskussionsverlauf in Stichworten: Lösungsidee (Luise) – Zustimmung und weitere Explikation (Marlene) – Zustimmung und Weiterführung (Luise) – Aufgriff, aber spezifische Weiterführung (Ben) – Widerspruch (Luise) – dreifache Wiederholung: Argument (Ben) 136
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
– Gegenargumente (Luise und Marlene) – Suche nach argumentativer Unterstützung (Ben) – keine abschließende Klärung, da der angesprochene Max ein neues Thema eröffnet. Beispiel 2: Ambivalenz als Textmerkmal oder Persönlichkeitseigenschaft des „lyrischen Ichs“? Ben sucht Konsens für eine ganz andere, mögliche Sichtweise auf zumindest Teile des Gedichts („findest du des nich ironisch?“, AIII2) und belegt seine Sicht, indem er die gemeinten Zeilen in ironischem Tonfall vorliest. Marlene und Luise widersprechen und lesen dieselbe Textstelle in ernstem Ton vor. Ben argumentiert auf der formalen Ebene und versucht, das Gedicht zu verstehen, indem er textimmanente Kohärenz unterstellt. Er weist auf einen stilistischen Widerspruch hin, der für seine Sichtweise der Ironie spräche (AIII8 und folgende: „des passt nich zu dem was er vorher gesagt hat […] des is viel zu poetisch […] die dritte Strophe“). Luise bestätigt, dass ein Widerspruch vorliegt, sie sieht ihn aber auf der psychologischen Ebene („nee des passt nit zu dem Menschn deswegn schickt ers au nit weg“) und nimmt damit Bens Einwand als Beleg für ihre eigene These über das Empfinden und Handeln des lyrischen Ichs, dem sie damit eine Konstanz der Persönlichkeit zuschreibt. Luise geht noch weiter: Sie leitet aus der Eigenschaft, die sie dem lyrischen Ich zuschreibt (nämlich eine Gedichtzeile geschrieben zu haben, die eigentlich nicht zu ihm passt) eine Bestätigung über dessen Geschlecht ab: Es muss ein Mann sein. Dass die Gedichtzeile nicht zu ihm passt, bestätigt in einer Art Zirkelschluss wiederum ihre Sicht über Männer (AIII11 „ebn n mann“). Verlauf der Diskussion in Stichworten: Lösungsvorschlag (Luise) – Alternativvorschlag (Ben) – Zurückweisung (Luise und Marlene) – Bekräftigung des ersten Vorschlags (Marlene) – Zurückweisung (Ben) – usw. in mehreren Wiederholungen, am Ende kein Konsens, sondern (außerhalb der transkribierten Textstelle) Themenwechsel.
5.5.5 Andere kommunikative Ziele Menschen nutzen Texte bekanntlich nicht nur in Übereinstimmung mit den textimmanenten Gebrauchsinstruktionen. Die Widerspens137
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tigkeit von Lesern kann in einem kognitiven Verarbeitungsmuster zum Ausdruck kommen, das als „oppositional reading“ bezeichnet wurde (Hall 1980). Aber selbst wenn Leser nicht so weit gehen, einen Text „gegen den Strich“ zu lesen, so bringen sie diesen doch sehr häufig in Verbindung mit ihrer ganz individuellen Lebenserfahrung und Lebenssituation. Sie nutzen ihn also für ihre individuellen Ziele ganz unabhängig von möglichen Autorenintentionen. Vergleichbar mit dieser Strategie der kognitiven Ausbeutung der Textvorlage für persönliche Zwecke findet sich auch in Gesprächen ein Muster des Gebrauchs von Texten zur Lösung sozialer Aufgaben, das vom Textinhalt nicht unbedingt nahe gelegt wird. Hier einige Beispiele: Beispiel 1: Koalitionsbildung Frauen vs. Männer Marlene und Luise bilden eine Koalition, indem sie betonen, wie sehr sie sich inhaltlich in ihrer psychologischen Deutung des Gedichts und seiner Anbindung an die eigene Lebenswelt einig sind. Unter anderem stellen sie ihre Einigkeit demonstrativ zur Schau, indem sie gegenseitig ihre Sätze vollenden (Luise: „[…] aber man weiß von vorneherein ich schick den Brief nit ab weil […]“ Marlene: „ich schick ihn nich ab oder ich schreib ihn eigentlich nur für mich“, AI23–AI24). Diese Frauen-Koalition grenzt sich von den anwesenden Männern ab, indem sie diese mit einem Geschlechtsstereotyp konfrontiert („in jedem Mann steckt auch n weicher Kern einfach“, AIII15) und gleichzeitig mit diesem Stereotyp den Charakter der Gedichtzeile erklärt („und des kommt halt dabei raus“). Das als männlich konzipierte lyrische Ich wird als hilflos, depressiv und beschränkt in seinen Bewältigungsmöglichkeiten charakterisiert. Neben dem vordergründigen Zweck, die Gedichtstelle zu erklären, wird somit Ben spielerisch provoziert und das situativ relevante Thema Mann-Frau eingeführt. Ben unterbricht daraufhin die beiden und versichert sich der Unterstützung durch den bisher schweigenden Max (AI26). Beispiel 2: Sich gemeinsam amüsieren Hierzu zählen eher witzig als erklärend gemeinte Kommentare, zum Beispiel: Sophie: „die höllische Großstadt zum Paradies was hat des mit Urlaub zu tun“ Mirko: „Städtereise ((lacht))“ (BIV3). 138
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
Beispiel 3: Sachkenntnis demonstrieren Mirkos Verweis auf das schulische Wissen über die Eigenart expressionistischer Gedichte („[…] im Expressionismus wird ja die Großstadt beschrieben“, BIV10) kann sowohl als Erinnerung der Gruppenmitglieder an gemeinsam erworbene schulische Wissensbestände aufgefasst werden, als auch als ein sachdienlicher Einfall, der den Sprecher aus der Gruppe heraushebt.
5.5.6 Fazit Als Ergebnis der strukturellen Analysen zu den Gesprächsverläufen in den beiden untersuchten Interpretationsgruppen können drei Aspekte hervorgehoben werden: Erstens erwies sich die Gruppendiskussion in einigen Fällen als außerordentlich hilfreich beim Auffinden von Problemlösungen zur Erklärung mehrdeutiger oder unverständlicher Passagen des Gedichts. Indem die Gruppenteilnehmer ihre eigenen Vorschläge konstruktiv bewerten und sich gegenseitig zum Weiterverfolgen einer bestimmten Lösungsidee anregen, können sie kreative Lesarten entwickeln, deren Schlüssigkeit von der Gruppe am Text überprüft worden ist. Zweitens finden sich Gesprächsausschnitte, in denen eine Zusammenarbeit in der ganzen Gruppe misslingt. Die wechselseitige Infragestellung der gegnerischen Auffassungen führt hier weder zu einem Kompromiss noch gar zu einer beide Lösungsvorschläge miteinander verbindenden und aussöhnenden Lesart. In den dokumentierten Fällen reagierte die Gruppe auf diese Pattsituation so, dass sie zu einem anderen Thema bzw. einem anderen Problem überging, ohne das Vorhergehende gelöst zu haben. Drittens wurde deutlich, dass es den Gruppenmitgliedern auch unter den restriktiven Gesprächsbedingungen einer schulischen Lernsituation möglich ist, andere Themen (Mann-Frau-Beziehung, Spaß haben, überlegen sein) lustvoll mitzuverhandeln.
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5 . 6 V er g l eic h m it a n d er e n e m p ir is c h en S t ud ie n z ur K o m m un ik a t io n üb e r G ed ic h te Purves und Rippers (1968) sammelten die von Wissenschaftlern und Studenten abgegebenen schriftlichen Kommentare zu Gedichten und ordneten diese Texte in vier Kategorien ein: 1. Engagement – involvement (das Mögen – Nichtmögen eines Gedichts als Ausdruck der spontanen emotionalen Reaktion) 2. Perception (umfasst textbezogene Äußerungen – im Gegensatz zu selbst- oder kontextbezogenen Kommentaren) 3. Interpretation (Suche nach einem Sinn) 4. Evaluation (Werturteil entsprechend ästhetischem Empfinden oder externen Wertmaßstäben). Wie schon im dritten Kapitel erwähnt haben Dias und Hayhoe (1988) Schülergruppen über Gedichte diskutieren lassen, allerdings mussten sich diese Schüler streng an eine Gesprächsordnung halten, die z.B. vorsah, dass anfangs jeder Schüler ein erstes Statement zum Gedicht abgeben sollte und kein anderes Gruppenmitglied ihn unterbrechen oder kommentieren durfte. Die Auswertung der Schüleräußerungen erfolgte – trotz der Gruppensituation, in der diese Äußerungen erhoben worden sind – individuenbezogen und nicht gruppenbezogen. Die aufgefundenen Strategien im Umgang mit Gedichten (paraphrasing, thematizing, allegorizing, problem-solving) sind daher Lesemuster („patterns of reading“), aber nicht Gesprächsmuster. Eine sehr ausführliche und fundierte Analyse eines Gesprächs über ein mehrdeutiges Kunstwerk hat Deppermann (1997) vorgenommen. Dieser Autor rekonstruiert, wie eine Gruppe von Schülern versucht, das schwer verständliche und letztlich unlogisch dargestellte Geschehen in dem Film „Angel Heart“ (1986, Regie Alan Parker) zu verstehen. Hierbei handelt es sich zwar nicht um Gesprächsstrategien, die im Anschluss an eine Gedichtrezeption eingesetzt wurden, aber die Untersuchung von Deppermann ist doch wegweisend für die Analyse von Gesprächen über die Bedeutung von (Alltags-) Kunst. Deppermann (1997, S. 202 ff.) konnte folgende „Strategien der Bearbeitung von Verwirrung“ in der untersuchten Schülergruppe aufzeigen: 140
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
1. Verwendung von filmimmanenten Informationen: Beschreibung als Erklärung präsentieren; Rekurs auf das Detail; Prozessuale Revision und Erklärung durch später erworbenes Wissen; Erklärung durch Korrelation (rätselhafte Ereignisse im Film werden dadurch „erklärt“, dass sie immer in Verbindung mit anderen Ereignissen auftreten); Reziproke Erklärung (verschiedene erklärungsbedürftige Ereignisse werden als wechselseitige Explanantien benutzt). 2. Verwendung von filmexmanenten Informationen: Erfahrungsbzw. Weltwissen: Formelhafte Wendungen und Maximen; Intertextuelles und Genrewissen. 3. Rahmungsoperationen: Rahmung als Ereignis in einer realitätsdiskrepanten Welt (z.B. als Phantasien des Protagonisten); Symbolische Rahmung; Rahmung des Films als wirkungsorientierte Inszenierung; Asemiotische Rahmung (z.B. wird das Dargestellte als für das Verständnis des Films irrelevant erklärt). Diese bislang aufgeführten Lösungsmuster sind nicht explizit „kommunikativ“, sondern alle auch als individuell-kognitive Strategien einsetzbar. Darüber hinaus benennt Deppermann jedoch auch die Kommunikation über Lösungswege, welche – gestützt auf die genannten Argumentationen – in den untersuchten Gesprächsgruppe beschritten worden sind: Problementwicklung – Problemdefinition – Lösungsentwicklung – Abschluss der Problemverhandlungen (Deppermann 1997, S. 209 ff). Von den hier vorgestellten Arbeiten beschäftigt sich einzig Hausendorf (im Druck) explizit und ausführlich mit der „kommunikativen Gattung“ des Sprechens über Kunst. Der Begriff „kommunikative Gattung“ unterstellt, dass es sich bei der untersuchten Gesprächsform um ein Sprachspiel handelt mit typischen kommunikativen Problem- und Aufgabenstellungen, für die sich im Laufe der Zeit charakteristische Routinelösungen ausgebildet haben. Hausendorf benennt vier zentrale Aufgaben, die das Sprechen über Kunst bearbeiten muss: „Beschreiben“, „Deuten“, „Erläutern“ und „Bewerten“. „Beschreiben“ meint die sprachliche Bezugnahme auf etwas sinnlich Wahrnehmbares, auf das man sich beim Sprechen über Kunst bezieht. Je nach Kunstform ist die sprachliche Identifizierung dessen, worauf man sich beziehen will, keine einfache Aufgabe (z.B. im Falle der von Hausendorf untersuchten Gespräche über Aspekte in Werken des abstrakten Malers Cy Twombly). Die 141
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Notwendigkeit zum „Deuten“ ergibt sich nach Hausendorf dann, wenn man nicht mehr „auf den ersten Blick“ erkennt, was man sieht (bzw. in anderen Sinnesmodalitäten hört, riecht oder schmeckt). Von „Erläutern“ spricht Hausendorf dann, wenn kulturelles Wissen in die Debatte eingeführt wird: Wissen über Künstler, Kontexte, Gattungen usw. In der linguistischen Forschungstradition wurde dem „Bewerten“ bislang am meisten Aufmerksamkeit zu teil. Auch in der alltäglichen Kunstkommunikation nimmt das „Bewerten“ eine herausragende Stellung ein. Das eigene Werturteil über ein Kunstwerk dient häufig als Gesprächseinstieg bzw. als Rechtfertigung für einen kunstbezogenen Diskurs. Zwischen den hier exemplarisch vorgestellten Untersuchungen (einschließlich unserer eigenen) finden sich beträchtliche Unterschiede in der Art, wie die Kommunikation über den Verstehensprozess untersucht worden ist. 1. Purves und Rippers (1968) verstehen die schriftlich abgegebenen Stellungnahmen ihrer Untersuchungspersonen als Feststellungen zum Ergebnis der Interpretationsbemühungen (Was ist bei der Gedichtinterpretation herausgekommen?). Die Probleme der Kommunikationssituation zwischen Leser und Forscher (Wie kam die Interpretation zu Stande? Was ist über das Interpretationsergebnis überhaupt mitteilbar? Auf welche Forschererwartungen antwortet der Leser? Wie will der Leser vom Forscher gesehen werden?) kommen dagegen nicht in den Blick. Schwerpunkt dieser Analyse bilden also die Ergebnisse der subjektiven Bedeutungskonstruktion und deren Bewertung (mit dem Anspruch auf persönliche oder ästhetisch allgemeine Gültigkeit). 2. Bei Dias und Hayhoe (1988) werden die Schüleräußerungen in den Interpretationszirkeln ebenfalls nicht unter dem Aspekt der speziellen Gesprächssituation angesehen, aus denen sie hervorgegangen sind. Diese Autoren behandeln die Gesprächsbeiträge der Schüler vielmehr wie Aussagen über den Interpretationsprozess. Die kontextuierten Schüleräußerungen werden so behandelt, als wären sie Protokolle der eigenen Denkprozesse (vergleichbar zur „thinking aloud technique“). 3. Deppermanns (1997) Analyse der Schülergespräche besteht aus zwei Teilen. Zuerst erstellt er eine Liste von Argumenten bzw. Argumentationsfiguren und hinterfragt anschließend die Qualität der einzelne Figuren. In einem zweiten Teil präsentiert er ein allgemeines Modell des kommunikativen Problemlösungspro142
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
zesses, innerhalb dessen die aufgelisteten Argumentationsformen von den Gesprächsteilnehmern eingesetzt werden. 4. Hausendorf (im Druck) will sich ausschließlich mit Gesprächsroutinen und der Funktion einzelner Äußerungen in natürlichen (d.h. nicht durch Instruktion erzwungenen) Gesprächssituationen befassen. Allerdings ist sein Textkorpus zur Zeit noch sehr beschränkt, so dass er teilweise auf fingierte Gespräche (Filmdialoge) zurückgreifen muss. Aufgrund seiner veränderten Perspektive kann er als einziger unter den genannten Autoren nachweisen, dass die Kommunikation im Anschluss an eine Kunstrezeption noch anderen Zielen dient als der individuellen bzw. kooperativen Konstruktion und Absicherung von Deutungen für das Kunstwerk, über das gesprochen wird. Hier sind besonders die soziale Positionierung im Gespräch (Bamberg 1997) und die soziale Distinktion in der Gesellschaft (Bourdieu 1970) zu nennen. 5. Vergleich mit der vorliegenden Untersuchung: Die Arbeiten von Purves und Rippere (1968) sowie von Dias und Hayhoe (1988) befassen sich mit der Frage, welche kognitiven Operationen bei der Gedichtrezeption zu einem optimalen Text-Verständnis führen. Die Rezipientenäußerungen werden hierbei als Abbilder der individuellen Vorgänge bei der Textverarbeitung aufgefasst. Die Untersuchung von Deppermann zeigt sehr schön, dass in der interpersonalen Kommunikation tatsächlich Argumentationsfiguren (z.B. beim Einsatz von Wissensbeständen oder in Form von mehr oder weniger zulässigen Erklärungsstrategien) auftauchen, die den aus der kognitiven Psychologie bekannten mentalen Informationsverarbeitungsprozessen entsprechen (auf die Parallelität zwischen interpersonalen und intrapersonalen Problemlösestrategien hat ja bereits Vygotskij (1986) hingewiesen). In den von uns präsentierten Analysen wurden dagegen Fragestellungen untersucht, die eher denen von Deppermann (im zweiten Teil seines Beitrags) und von Hausendorf entsprechen. Unterschiedliche Ergebnisse lassen sich zum Teil auf das Material zurückführen, über das diskutiert worden ist (Film, Malerei, Gedicht). So stellt sich die Beschreibungsaufgabe bei einem einmalig gesehenen Film oder bei einem abstrakten Gemälde weitaus schwieriger dar als bei einem Gedicht, das allen Beteiligten schriftlich vorliegt. Zu einem weiteren Teil gehen die Unterschiede auf eher zufällige, mit der Gruppenzusammensetzung und dem Diskussionsverlauf zusam143
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menhängende Aspekte zurück (konsensuelle Problemlösung bei Deppermann, Problemverschiebung durch Themenwechsel in unseren Beispielen aus der Gruppe I). Die meisten Äußerungen in den von uns untersuchten Schülergruppen galten dem Bemühen um eine Interpretation des Gedichts, also der kommunikativen Tätigkeit „Deuten“ i.S. Hausendorfs. Die deutenden Schüleräußerungen sollten der Herstellung eines geteilten Verständnisses von dem Gedicht oder von ausgewählten Textabschnitten dienen. Dieser Konsens wurde nicht immer erreicht. Ein Beispiel für Erläuterungen sind die Ausführungen von Mirko über expressionistische Gedichte (BIV8 ff.) Auch die Einführung des terminus technicus „lyrisches Ich“ (in beiden Interpretationsgruppen) basiert auf der Anwendung von spezifischem Genrewissen, ebenso wie manche Wortwahl (z.B. AIII3 „schwebn“). Poetologisches Wissen liegt auch dem Lösungsvorschlag zu Grunde, der von einer nicht textuell markierten Vermischung von Realität und Phantasie (Gruppe B, Textstelle V) oder von einem unausgesprochenen Wechsel der Zeitebene (BV11) ausgeht. Prozedurales Wissen über den Umgang mit Gedichten zeigt sich z.B. in Gesprächsbeiträgen, in welchen eine Textzeile laut und mit einer bestimmten Betonung vorgelesen wurde. Insgesamt haben die Schüler wenig erläutert und fast gar nicht bewertet. Das Fehlen von subjektiven Bewertungen wäre für ein zwangloses Alltagsgespräch über ein Gedicht unter Freunden sehr ungewöhnlich. Wie Hausendorf aufzeigt, dient das Sprechen über Kunst im Alltag sehr häufig der gesellschaftlichen Distinktion (im Sinne von Bourdieu 1970) und der damit verbundenen sozialen Kategorisierung. Die Unterschiede zwischen den kulturellen Milieus werden besonders am milieutypischen Geschmack, also an den vorherrschenden Werturteilen, sichtbar. Erklärlich wird das Fehlen bewertender Äußerungen in unserem Zusammenhang wohl aus der Besonderheit der Untersuchungssituation: Das Gedicht wurde vom Lehrer ausgewählt und im Rahmen einer Lernsituation an der Bildungsinstitution Schule zur Bearbeitung vorgegeben. Der Bildungsstand der Schüler im Klassenverband ist relativ homogen, die überlegene Bewertungskompetenz des Lehrers kaum anzuzweifeln. Das Vorzeigen des eigenen „kulturellen Kapitals“ gegenüber den Mitschülern ist nicht nur unnötig, sondern würde wohl auch als Angeberei verstanden. Aber auch die persönliche Betroffenheit durch das Gedicht, ein mögliches anderes Motiv zur Kundgabe persönlicher 144
SCHÜLERGESPRÄCHE ÜBER EIN GEDICHT
Bewertungen, scheint sich bei den Schülern in Grenzen zu halten. Insofern kreisen fast alle in der Gruppe abgegebenen Äußerungen um die Verstehenssicherung, also das Deuten.
5.7 Verstehenssicherung als kommunikativer Prozess Die Prozesse, die anhand der Schülergespräche analysiert wurden, werden üblicherweise als subjektive Konstruktionen beschrieben, in denen durch Deutungen ein Textverstehen hergestellt bzw. abgesichert wird. Diese Prozesse können aber auch als genuin soziale Konstruktionen begriffen werden. Im Fall der Schülergespräche müssen sie sogar als kommunikative Prozesse der Herstellung und Absicherung eines Verständnisses des Gedichttextes aufgefasst werden. Erkennbar fallen nämlich die Dimensionen der kommunikativ erzeugten Sinnstruktur der Gespräche und der subjektiven Bedeutungsselektionen auseinander. Auch dort, wo kommunikativ Einigkeit signalisiert wird, handelt es sich nicht zwingend um gemeinsam geteilte subjektive Bedeutungen der Schülerinnen und Schüler. Als Beispiel für diese Differenz zwischen subjektiv erzielten Übereinstimmungen und der kommunikativen Signalisierung von gemeinsamem Verstehen können wir nochmals die Verhandlung der Textstelle „über Wasser wandeln“ heranziehen (vgl. 5.4). Vor dem Hintergrund allgemeiner Ratlosigkeit über die Bedeutung dieser Textstelle bietet Mirko eine längere erläuternde Geschichte an, die allgemein akzeptiert wird, ohne dass deutlich wird, wie die anderen Gruppenmitglieder diese Geschichte verstehen. Zwar erscheint diese Passage auch als Beispiel für die kooperative Ausarbeitung einer Idee (vgl. 5.5.3, Beispiel 3: Paula ergänzt den Deutungsvorschlag um einige Bezüge), die aber nur durch eine knappe Zustimmung von Sophie und Georg abgeschlossen wird, die deren subjektives Verständnis offen lässt. Dennoch dienen die Schülergespräche vor allem der Verstehenssicherung, und zwar in Form kommunikativer Aneignungsprozesse und Anschlusskommunikationen. Wie die Überlegungen zur Anschlusskommunikation und zur kommunikativen Aneignung von Medientexten in Kapitel 2 gezeigt haben, können Prozesse der Verstehenssicherung in diesem Zusammenhang als eigenständige kommunikative Prozesse angesehen werden, die zugleich als soziale Kontexte subjektiver Verstehensleistungen fungieren. Die Frage, 145
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wie mehrdeutig Gedicht und Gedichtinterpretation nach Abschluss der Gruppenarbeit der Schüler bleiben, kann vor allem auf der Ebene kommunikativer Verstehenssicherung beantwortet werden: Prozesse des subjektiven Verstehens werden dadurch aber nicht in Bausch und Bogen ins Reich der Spekulation verwiesen. Die kommunikativ erzeugten Interpretationen bilden mehr oder weniger anschlussfähige Möglichkeitsräume für subjektive Deutungen. Diese Möglichkeitsräume können sich wiederum mehr oder weniger von den Bedeutungen der Gedichttexte entfernen. Damit gilt auch für den Umgang mit Gedichttexten, was allgemein den unterschiedlichen Untersuchungen zur kommunikativen Aneignung von Medienangeboten zu entnehmen ist: Es geht nicht nur um die Vorgaben der medialen Texte und die subjektiven Rezeptionsprozesse, sondern auch um rezeptionsbegleitende und an die Rezeption anschließende Kommunikationen als eigenständige Ebene des Umgangs mit Medienangeboten.
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6 ABSCHLIESSENDE THESEN ZUR ROLLE DER A N S C H L U S S K O MM U N I K A T I O N F ÜR D I E E N T W I C K L U N G DE R L E S E K O M P E T E N Z I N D E R L E B E N S SP A N N E
6 . 1 V o r a u s s e tz u n g e n z u m E r w e r b v o n L e se k o m p e t e n z Unter Lesekompetenz verstehen wir die Fähigkeit, komplexe, hierarchisch aufgebaute Textstrukturen auf vielen Ebenen zu dekodieren und mit Sinn zu versehen. Neben dem Erkennen von Buchstaben, Wörtern, Satzstrukturen sind es die vielfältigen suprasegmentalen Gliederungsgesichtspunkte, die erkannt und zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen (Textabschnitte, Kohärenz, Intertextualität, ausführlich bei Christmann 2004). Texte müssen weiterhin nach Form (Textsorten, Genres, Narrationsformate, stilistische Elemente usw.) und Inhalt erfasst werden (Beziehung zum allgemeinen Weltwissen und zur persönlichen Welterfahrung, inferentielle Auffüllung von Leerstellen, vgl. hierzu Eco 1987), um ihre Bedeutung zu verstehen. Dies gilt in besonderem Maße für literarische Texte (Christmann/Schreier 2003) Die primäre Sprachfähigkeit (Mündlichkeit, Beherrschung der Muttersprache) ist teilweise Voraussetzung, teilweise aber auch Folge des Umgangs mit schriftlich oder bildlich kodierten Symbolsystemen. Kinder müssen nicht bereits sprechen können, bevor man sie an kulturell entwickelte Symbolsysteme (z.B. Reime, Lieder, Bilderbuchinhalte) heranführen kann, sondern sie lernen sprechen, indem die vertrauten Bezugspersonen auf tradierte Formen und Inhalte zurückgreifen. So werden zum Beispiel bereits die kurzen Sequenzen des Sprechens zu und Berührens von Säuglingen im Rahmen von ritualisierten Körperspielen (pickaboo, hoppe-Reiter usw.)
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in festgelegten sprachlichen und/oder gestischen Formen von Generation zu Generation überliefert. Diese Spielformen sind deswegen auch außerhalb der dem Kind vertrauten Eltern-Kind-Dyade, z.B. mit den Großeltern oder Freunden der Eltern, reproduzierbar (vgl. Charlton 1991). Spiele und Kinderreime sind somit die erste Form von konzeptioneller Schriftlichkeit, die das Kind kennen lernt (zur Unterscheidung zwischen medialer und konzeptioneller Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit siehe unten). Bruner vertritt die Ansicht, dass Spracherwerb immer auch Kulturerwerb bedeutet (Bruner 1987), und dass gerade bei den ersten Begegnungen des Kindes mit Kinderreimen und Bilderbüchern kulturelle Praktiken erworben werden.
6 . 2 D a s V o r l es e n a l s fr ü h es t e F o r m d er L es e -K o m m un ik a t io n Der Umgang mit Büchern und das selbständige Lesen wird durch die Lese-Kommunikation vorbereitet, wie sie prototypisch im Rahmen des Vorlesens vorkommt. Das Vorlesen stellt im Kleinkindalter eine der wichtigsten Gelegenheiten für ausführliche Gespräche zwischen Eltern und Kindern dar. Im Unterschied zum gemeinsamen Spiel weisen die elterlichen Äußerungen hierbei eine besonders hohe Komplexität auf (Crain-Thoreson/Dahlin/Powell 2001). Eine Auswertung einer für die USA repräsentativen Erhebung zur Erziehungssituation in der Familie ergab, dass bestimmte kulturelle Faktoren (Ethnizität, Muttersprache, Bildungsniveau), nicht aber die Höhe des Einkommens für die Intensität des Vorlesens im Elternhaus entscheidend sind (Yarosz/Barnett 2001). Anlässlich einer großen Umfrage der Stiftung Lesen in Deutschland gab jede/r Dritte an, dass ihr/ihm früher im Kindergarten von den Erzieherinnen häufig vorgelesen wurde (Spiegel-Verlag und Stiftung-Lesen 2001, S. 286f.). Die Häufigkeit des Vorlesens im Kleinkindalter ist ein guter Prädiktor für die Leseleistung des Kindes bis zur Mitte der Grundschulzeit (Ergebnis einer Meta-Analyse von Bus/van Ijzendoorn/Pellegrini 1995). Im weiteren Verlauf der schulischen Leseerziehung wird dieser Zusammenhang gemäß den Ergebnissen dieser Metaanalyse zwar weniger bedeutsam für die Leseleistung, aber Burbaum, Charlton und Schweizer (2004) konnten an einer (für Deutschland nahezu) repräsentativen Stichprobe 148
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von erwachsenen Romanlesern nachweisen, dass das Vorlesen im Elternhaus einen bleibenden positiven Einfluss auf die literarische Lesekompetenz hat. Videoanalysen haben gezeigt, dass elterliches Vorlesen sehr unterschiedlich gestaltet werden kann. Schneider (1995) hat in ihrer Längsschnittuntersuchung zum Vorlesen durch Väter und Mütter von Vorschulkindern vier Faktoren identifiziert (frei gestaltete vs. vorlagengetreue Rezeption; Selbstbezogenheit vs. Partnerbezogenheit der Mutter/des Vaters; Führung durch Mutter/Vater vs. Führung durch das Kind; geringe vs. hohe Sachbezogenheit des Kindes). Überraschenderweise fanden sich kaum systematische Veränderungen des Vorlesestils in Abhängigkeit vom Entwicklungsverlauf des Kindes über den zehnmonatigen Beobachtungszeitraum hinweg. McDonnell, Friel-Patti und Rosenthal Rollins (2003) haben MutterKind-Dyaden vier mal in dreieinhalb Wochen beim Vorlesen desselben, anfangs neuen und unbekannten Bilderbuchs gefilmt. Die Auswertung des Filmmaterials konzentrierte sich auf Charakteristika des Sprechens (durchschnittliche Äußerungslänge, Initiative vs. antwortende Äußerung usw.) Die beobachteten Veränderungen im Interaktionsstil bezogen sich auf die Zunahme des Sprechanteils des Kindes (verbunden mit einer abnehmenden Mutteraktivität), aber nicht auf die Anzahl der mütterlichen Initiativen und die Länge der mütterlichen Sprachäußerungen. Die Autorinnen schließen daraus, dass die Mütter über die Zeit hinweg unverändert die Vorlesesituation so gestaltet haben, dass sie für das Kind eine Herausforderung darstellte. Ausgehend von einer älteren Einteilung von Heath (1983), die zwischen einem „lower“ bzw. „higher level interactive style“ unterschied und letzteren als typisch für Mittelklassen-Familien bezeichnete, wurde in zahlreichen Untersuchungen der Frage nach Varianten beim Vorlesen in unterschiedlichen Schichten, Nationen oder Ethnien nachgegangen. Wieler (1997) fand in ihren Fallstudien an niederländischen und deutschen Familien aus Unter- und Mittelschicht einen bedeutsamen bildungsabhängigen Unterschied: Mittelschichtmütter haben wesentlich öfter einen intensiven Austausch über literarische und alltägliche Erfahrungen ihrer Vierjährigen gesucht als Unterschichtmütter. Reese, Cox, Harte und McAnally (2003) diskutieren die Ergebnisse zahlreicher weiterer Studien, in denen die Mütter entweder als (vorlagengetreue, textgebundene) „describers“ oder als (erlebnis- und bedeutungsorientierte) „comprehenders“ be149
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schrieben werden. Der „comprehender“ Stil fand sich überwiegend in europäischen Familien der Mittelschicht. Bus, Lesemann und Keultjes (2000) warnen aber aufgrund ihrer eigenen Ergebnisse aus einer kulturvergleichenden Untersuchung vor einer vorschnellen Verallgemeinerung der kulturellen Determination des Vorlesestils. Vielmehr schlagen sie vor, zwei Dimensionen zu unterscheiden, wobei die eine vom Bildungsniveau der Eltern, die andere von kulturellen Normen bestimmt ist. Die erste Dimension ist durch zwei konträre Verhaltensweisen gekennzeichnet: (a) eine Strategie, die den Kindern die Initiative im Frage-AntwortSpiel weitgehend überlässt und die hauptsächlich von wenig literaten Familien angewendet wird, und (b) eine Strategie, die hohe kognitive Anforderungen an die Kinder stellt. Die zweite Dimension ist nicht von der Vertrautheit mit Büchern abhängig, sondern hier fließen kulturelle Überzeugungen über angemessene Formen der Eltern-Kind-Interaktion in die Gestaltung der Vorlesesituation ein. Für das Vorlesen sind jedoch nicht nur der kulturelle und Bildungs-Hintergrund der Eltern entscheidend, sondern auch die kognitive Fähigkeit und das Temperament des Kindes. Dies wird besonders deutlich, wenn man beobachtet, wie Eltern behinderten Kindern vorlesen. In ihrer Videoanalyse mit 20 Kindern unterschiedlichen Behinderungsgrads unterscheiden Rabidoux und MacDonald (2000) zwischen proaktiven, reaktiven, inaktiven und resistiven Kindern, sowie zwischen Müttern, die ihre Aufgabe eher als Managerin, Unterstützerin oder Lehrerin definieren. Kindliche und mütterliche Verhaltensweisen stehen zueinander in Wechselbeziehungen, so dass sich eine einfache Typenbildung auf der Basis des Elternverhaltens von vornherein verbietet. Es entspricht den komplexen Ursachen und Bedingungen des mütterlichen Vorlesestils, dass auch die Untersuchungsergebnisse zur Möglichkeit einer positiven Einflussnahme auf diesen Prozess, z.B. durch ein Elterntraining, sehr unterschiedlich ausfallen. Morgan und Goldstein (2004) berichten über erfolgreiche Versuche, Unterschicht-Mütter zu einem Kontext-überschreitenden Sprachverhalten zu verhelfen. Diese Mütter wurden durch ein Training erfolgreich angeregt, beim Vorlesen mehr Erklärungen zu geben, Geschichten wiederzuerzählen und für das Kind persönlich relevante Erlebnisse mit den Buchgeschichten zu verbinden. Einfachere Maßnahmen, wie z.B. die kostenlose Versorgung von Familien mit Büchern oder die bloße Ermunterung zum Vorlesen, sind dagegen nach den Beo150
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bachtungen von Bus, Lesemann und Keultjes (2000) nicht Erfolg versprechend. Reese, Cox, Harte und McAnally (2003) fanden heraus, dass Kinder mit unterschiedlichem Wortschatz von verschiedenen Vorlesestilen profitierten. So lernten wenig sprachgewandte Kinder am meisten, wenn der (einfache) „describer style“ angewandt wurde, sprecherfahrene Kinder verbesserten ihr Textverständnis dagegen sehr gut, wenn sie nach einem „performance-oriented style“ vorgelesen bekamen, wie er im Kindergarten üblich ist (viele Kommentare bevor das Buch aufgeschlagen wird, dann wenig Unterbrechungen beim eigentlichen Vorlesen und abschließend ein Gespräch zum Schließen von Verständnislücken und zur Bewertung). Diese Autorinnen kommen daher zu dem Schluss, dass es keinen in jeder Situation überlegenen Vorlesestil gibt und dass ein Training von Eltern vor allem deren Repertoire an situationsspezifisch wählbaren Strategien vergrößern sollte.
6 . 3 L es es o z ia l i s a t io n d ur c h „g el e nk t e T ei l ha b e“ a n k ul t ur el l er P r a x is Neuere Modellvorstellungen zum Kulturerwerb orientieren sich häufig an der kontextualistischen Sozialisationstheorie, wie sie ursprünglich von Vygotsky (1986, 1978) formuliert worden ist. Demnach steht am Beginn eines Erwerbs von Kulturtechniken die gelenkte Teilhabe an einer kulturellen Praxis, die sich dann das Subjekt schrittweise aneignen kann. Neuman (2000, S. 153) charakterisiert erfolgreiche Programme zur Förderung der Lesekompetenz im Elternhaus folgendermaßen: „[They] address not only the parent or the child as literacy learners, but the parent-child-relationship. It is presumed that the skills learned and practiced by the adult and the child produce an intergenerational and/or reciprocal transfer of skills.“
Die Kommunikation mit Eltern, Lehrern und Mitschülern stellt dem sich bildenden kognitiven System des Kindes kulturelle Inhalte und Strukturen zur Verfügung. So stellen zum Beispiel Alltagsdiskurse oder massenmediale Genres Anregungen dar, um bestimmte kogni-
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tive Konzepte und Operationen auszubilden. Beim gemeinsamen Bilderbuchlesen verhilft die Kommunikation mit der Mutter dem Kind zu einer Präzisierung und Erweiterung seiner Begriffs- und Vorstellungswelt. Auf diese Weise entwickelt das Kind eine Verbindung zwischen den wahrgenommenen Dingen und Geschehnissen aus seiner natürlichen Umwelt mit Bild- bzw. SprachSymbolen. Konkrete Erfahrungen werden dekontextualisiert, reflektierbar und emotional bewältigbar. Die Fähigkeit zur Rezeption von schriftlichen Texten und weiteren Produkten der Massenkommunikation entsteht in einer Art „Lehrlingsverhältnis“ des Kindes durch gelenkte Teilhabe an einer kulturellen Praxis (Rogoff 1990). Typische Schritte auf dem Weg zur selbstständigen Medienrezeption sind (in Anlehnung an Collins/Brown/Newman 1989): das vorbildhafte Vorlesen (modeling), die Aufforderung zur Nachahmung in einem unterstützenden Rahmen (scaffolding, coaching), das langsame Ausblenden der Unterstützungsleistung (fading), Nachdenken über und Verbalisieren der eigenen Lesestrategien (articulation, reflection). Indem das Kind an weiteren medienbezogenen Diskursen teilnimmt (z.B. beim Gespräch über Lektüre im Elternhaus, im Schulunterricht oder in Gesprächen auf dem Schulhof) entwickelt es sozial situierte Formen des Selbst- und Weltverständnisses und der Selbstpräsentation („self enactment“, Gee 2003, S. 37). Die große Bedeutung der Lese-Kommunikation mit Eltern, Geschwistern und Freunden zeigte sich im Rahmen der PISA Studie (Kirsch/de Jong/LaFontaine et al. 2002), bei der die Leseleistungen von 15jährigen Schülern ländervergleichend erhoben worden sind. Neben der Qualität des Schulunterrichts („quality or standard of school“) ist die Möglichkeit, im Elternhaus regelmäßig über kulturelle und politische Themen zu sprechen („cultural communication at home“), der zweitwichtigste Prädiktor zur Vorhersage von Lesekompetenz („reading literacy“) und Lesefreude („engagement in reading“). Auf anderen Wegen kommen Burbaum, Charlton und Schweitzer (2004) im Rahmen ihrer oben erwähnten Umfrage unter Romanleserinnen und Romanlesern zu vergleichbaren Ergebnissen. Auch hier zeigte sich ein starker Zusammenhang zwischen dem Interesse an klassischer und zeitgenössischer Literatur und dem Leseklima in der Herkunftsfamilie. Die Fähigkeit, mithilfe des Lesens belastende Alltagserfahrungen und Probleme besser bewältigen zu können, stand überraschenderweise nur mit der Lese-Kommunika152
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tion im Elternhaus in Zusammenhang, nicht aber mit der Qualität der Schul- bzw. Universitätsausbildung.
6.4 Lese-Kommunikation im Erwachsenenalter Die Ergebnisse der vorgestellten Studien zum Erwerb der Lesefähigkeit belegen, wie unangemessen die Annahme ist, Kinder würden zuerst die mündliche Kommunikationsform und dann – in einem zweiten Schritt – die schriftlich bzw. bildlich kodierte Kommunikationsform erwerben. Ebenso wenig hat sich die viel zitierte These von Ong (1982) bestätigt, dass archaische, primär mündliche Kulturen nur über solche Kommunikationsformen verfügt haben, die z.B. durch additive an Stelle von subordinativer Textgliederung, Nähe zur Lebenswelt von Sprecher und Hörer, empathische und partizipatorische statt objektiv-distanzierter Beziehung zwischen den Kommunizierenden charakterisiert sind. Ong postulierte also aufgrund seiner theoretischen Überlegungen einen festen Zusammenhang zwischen medialer Form (Mündlichkeit) und kommunikativem Stil (Sprache der Nähe), der aber in Widerspruch zu vielen kulturhistorischen Befunden steht. Breite wissenschaftliche Anerkennung hat stattdessen der auch auf empirische Forschungsergebnisse gestützte Vorschlag von Koch und Österreicher (1985) gefunden, die ebenfalls zwischen nähe- und distanzsprachlichen Kommunikationsformen unterscheiden, diese aber als weitgehend unabhängig von der medialen Realisation der Kommunikation (also Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit) konzipieren. Die Autoren spannen zwischen dem nähesprachlichen Pol und dem distanzsprachlichen Pol ein Kontinuum an graduell unterschiedlichen Kommunikationsbedingungen auf (Dialog vs. Monolog, Vertrautheit der Partner vs. Fremdheit, face-to-face-Interaktion vs. raumzeitliche Trennung, Situationsverschränkung vs. Situationsentbindung usw.). Dass diese Pole nicht eindeutig der medialen Form von Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit zuzuordnen sind, kann man sich leicht vor Augen führen, wenn man z.B. an eine medial mündliche, aber von der Distanz zwischen Akteuren und Publikum geprägte Theateraufführung denkt. Auf der anderen Seite bestreiten Koch und Österreicher keineswegs, dass schriftlich fixierte Texte häufig dazu dienen, eine Kommunikation über die Distanz hinweg
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zu ermöglichen. Die Autoren korrigieren und präzisieren daher die These Ongs folgendermaßen: „Die Schrift qua graphisches Medium ist nicht notwendige Bedingung – wenn auch ideales Instrument – zur Realisierung der kommunikativen Anforderungen der Distanz.“ (Koch/Österreicher 1994, S. 589)
Wie wir im Kapitel 3 argumentiert haben, erhebt die Literatur bestimmte typisch distanzsprachliche Texteigenschaften zur Norm, insbesondere die Eigenschaft der Mehrdeutigkeit (Polyvalenz-Norm nach Schmidt 1980). Mehrdeutigkeit entsteht ja besonders unter Bedingungen, in denen die Referenz einer Äußerung dem Empfänger nicht klar ist, zum Beispiel weil er in einem anderen raumzeitlichen und sozialen Kontext lebt als der Sprecher. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum die Distanz zwischen Sprecher und Hörer (bzw. Autor und Rezipient) zu geringer Eindeutigkeit bzw. polyvalenten Textbedeutungen führen kann. Denn nur die nähesprachliche face-to-face-Kommunikation sieht einen Reparaturmechanismus für den Fall vor, dass sich wegen unklarer Verweisungszusammenhänge Missverständnisse ergeben: die Nachfrage oder – noch allgemeiner – die Selbstkorrektur der Kommunikation im Rahmen von Sprecherwechseln. Schneider (1994) befasst sich mit mindestens dreizügigen Äußerungssequenzen und stellt fest, dass sich hierbei die Kommunikation (in der Sprache Luhmanns) „selbst beobachtet“ und dadurch die Verständigung sichert. Dabei lässt sich folgende Interaktionssequenz beobachten: (1) eine Äußerung von Person A, (2) eine Reaktion auf diesen Sprechakt durch Person B, die auf propositionalen Gehalt und/oder Illokution von A’s Äußerung Bezug nimmt, und schließlich (3) eine weitere Äußerung von A, in der das Verständnis von B bezüglich der eigenen Initialäußerung entweder ratifiziert oder aber korrigiert wird. Wie wir im Kapitel 3 gezeigt haben, müssen die Leser-TextBeziehungen als Ergebnis eines historischen und individuellen Bildungsprozesses angesehen werden. Die Literaturgeschichte und die Bildungsgeschichte des Lesepublikums haben sich simultan und in Wechselbeziehung auf die heute möglichen Formen des Schreibens und Rezipierens hin entwickelt.
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In einer eigenen Untersuchung (Charlton/Burbaum/Schweizer/ Stürz/Sutter 2002) haben wir gezeigt, wie sehr das heutige Lesepublikum daran gewöhnt ist, über eigene Leseerfahrungen mit Freunden und Verwandten zu kommunizieren oder auch die Lektüreempfehlungen und Leseerfahrungen von Literatur-Experten vor- und nachbereitend zur eigenen Lektüre zu rezipieren. Lesesozialisation bedeutet daher immer auch die Befähigung zur Lese-Kommunikation mit Mitgliedern einer informellen „interpretive community“ (Jensen 1990), wobei sich ständig neue Formen und Wege der Kommunikation entwickeln, zuletzt zum Beispiel über weblogs im Internet, die von eigenen Leseerfahrungen berichten, oder in Form von selbstgeschriebenen Text-Varianten und -Fortsetzungen durch sog. „textual poachers“ (Jenkins 1992) . Das Miteinander von Lektüre und Anschlusskommunikation erweist sich sowohl aus kulturhistorischer wie auch aus ontogenetischer Perspektive eher als Regelfall denn als Ausnahme.
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