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German Pages 204 [201] Year 2009
Zygmunt Bauman Leben als Konsum Aus dem Englischen von Richard Barth
Hamburger Edition
Hamburger Edition H I S Verlagsges. mbH Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung Mittelweg 36 20148 Hamburg www.hamburger-edition.de © der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition I S B N 978-3-86854-917-1 E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde © 2009 by Hamburger Edition I SB N 978-3-86854-211-0 © der Originalausgabe 2007 by Zygmunt Bauman First published in 2007 by Polity Press Titel der Originalausgabe: »Consuming Life« Redaktion: Paula Bradish Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns Satz aus Amsterdamer Garamont und Frutiger von Dörlemann Satz, Lemförde
Inhalt
Einleitung Das bestgehütete Geheimnis der Konsumgesellschaft
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1 Konsumismus kontra Konsum Exkurs: Zur Methode der »Idealtypen«
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2 Eine Gesellschaft von Konsumenten
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3 Die Kultur des Konsumismus
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4 Kollateralschäden des Konsumismus
153
Literatur
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Zum Autor
205
Einleitung Das bestgehütete Geheimnis der Konsumgesellschaft Umgekehrt gibt es vielleicht keine schlimmere Enteignung, keinen grausameren Verlust als den, den die im symbolischen Kampf um Anerkennung, um Zugang zu einem sozial anerkannten sozialen Sein, das heißt, mit einem Wort, um Menschlichkeit, Besiegten erleiden.1 Pierre Bourdieu Betrachten wir drei zufällig ausgewählte Fallbeispiele für die sich rasch verändernden Gepflogenheiten unserer zunehmend »verdrahteten«, oder vielmehr drahtlos vernetzten, Gesellschaft. Erster Fall: Am 2. März 2006 meldete der Guardian, dass »›social networking‹ innerhalb von zwölf Monaten vom neuesten Trend zu dem Trend schlechthin geworden ist«.2 Die Anzahl der Besucher auf der Website MySpace, ein Jahr zuvor der unangefochtene Marktführer unter den neu entwickelten Plattformen für soziale Netzwerke, hatte um das Sechsfache zugenommen, die konkurrierende Website M SN Spaces (mittlerweile Windows Live Spaces) verzeichnete elfmal mehr Treffer als im Vorjahr, und die Site Bebo.com wurde 61-mal häufiger aufgerufen als im Jahr davor. Wahrlich beeindruckende Zuwachsraten – auch wenn sich der erstaunliche Erfolg von Bebo, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels ein Neuling auf dem Markt, auch als Strohfeuer erweisen könnte: Einem Experten für Internettrends zufolge »werden mindestens 40 Prozent der derzeitigen Top Ten in einem Jahr in der Versen1 2
Bourdieu, Meditationen, S. 310. Dodson, Show and Tell Online.
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kung verschwunden sein. […] Der Start einer neuen Social-Networking-Site«, erklärt er, »ist wie die Neueröffnung einer Bar«, die nur deshalb die Massen anzieht, weil sie die neueste ist, mit einer nagelneuen oder generalüberholten Einrichtung, »bevor das Interesse ebenso zuverlässig verebbt wie der Kater am Tag danach« und sie ihre Anziehungskraft in einem endlosen Staffellauf an die »Nächstneueste« weiterreicht, den neuesten »heißen Tipp«, das neueste »Stadtgespräch«, den Laden, in dem »jeder, der etwas auf sich hält, gesehen werden muss«.3 Haben sie in einer Schule, einer geographischen oder virtuellen Nachbarschaft erst einmal Fuß gefasst, dann breiten sich »Social-Networking«-Websites mit der Geschwindigkeit einer »hochansteckenden Krankheit« aus. Innerhalb kürzester Zeit sind sie für eine ständig wachsende Zahl junger Männer und Frauen von einer Option unter vielen zur Standard-Anlaufstelle geworden. Offensichtlich haben diejenigen, die elektronische Kontaktbörsen erfunden und vermarktet haben, den richtigen Ton getroffen – beziehungsweise einen blankliegenden, empfindlichen Nerv, der seit langem auf den richtigen Reiz gewartet hat. Und sie brüsten sich zu Recht damit, dass sie ein echtes, weitverbreitetes und dringendes Bedürfnis befriedigen. Und um welches Bedürfnis handelt es sich? »Auf Social-Networking-Plattformen steht der Austausch persönlicher Informationen im Mittelpunkt.« Die Benutzer geben bereitwillig »intime Details aus ihrem Privatleben« preis, stellen »wahrheitsgetreue Informationen« ins Netz und »tauschen Fotos aus«.4 Schätzungen zufolge haben 61 Prozent aller Teenager in Großbritannien im Alter zwischen 13 und 17 Jahren »ein persönliches Profil auf einer Networking-Site« erstellt, mit dessen Hilfe sie »online Kontakte knüpfen« können.5 In Großbritannien, wo die Verbreitung der neuesten elektronischen Hilfsmittel dem Fernen Osten um Cyberjahre hinterherhinkt, können die Nutzer noch darauf vertrauen, dass ihre Entscheidung für diese Netzwerke als Ausdruck ihrer Wahlfreiheit oder gar als Mittel jugendlicher Auflehnung und Selbstbehauptung gilt (eine Annahme, deren 3 4 5
Ebenda. Ebenda. Lewis, Teenage Networking Websites.
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Glaubwürdigkeit von den panischen Reaktionen untermauert wird, die ihre nie da gewesene, vom Internet angefachte und im Internet ausgelebte Begeisterung für Selbstdarstellung tagein, tagaus bei ihren sicherheitsbesessenen Lehrern und Eltern auslöst, und von den nervösen Reaktionen von Schulleitern, die Websites wie Bebo.com von ihren Schulservern verbannen). In Südkorea dagegen, wo bereits heute ein Großteil des sozialen Lebens auf elektronischem Wege abgewickelt wird (genauer: wo das soziale Leben sich längst in ein elektronisches Leben oder Cyberlife verwandelt hat und wo der größte Teil des »sozialen Lebens« sich in erster Linie in Gesellschaft eines Computers, iPods oder Handys abspielt und erst in zweiter Linie mit anderen Wesen aus Fleisch und Blut), wissen junge Leute, dass sie nicht den Hauch einer Wahl haben; wo sie leben, ist ein auf elektronischem Weg vermitteltes soziales Leben keine Option mehr, sondern eine Notwendigkeit ohne Alternative. Die wenigen, die es versäumt haben, sich bei Cyworld zu registrieren, dem südkoreanischen Cybermarktführer in Zeiten der »Enthüllungskultur«, erwartet der »soziale Tod«. Allerdings wäre es ein großer Fehler zu glauben, dass der Drang, sein Inneres nach außen zu kehren, sowie die Bereitschaft, diesem Drang nachzugeben, lediglich Ausdruck einer einzigartigen, generationsspezifischen, altersabhängigen Neigung oder Sucht von Teenagern ist, die von Natur aus ein starkes Interesse daran haben, im »Netz« (ein Begriff, der sowohl im sozialwissenschaftlichen Diskurs als auch im populären Sprachgebrauch zusehends das Wort »Gesellschaft« ablöst) dauerhaft Fuß zu fassen – ohne eine klare Vorstellung davon, wie sie dieses Ziel erreichen können. Der neue Hang zur öffentlichen Beichte lässt sich nicht mit »altersspezifischen« Faktoren erklären – zumindest nicht ausschließlich. Eugène Enriquez hat die Botschaft, die man der wachsenden Flut von Hinweisen aus allen Bereichen der flüchtig-modernen Welt der Konsumenten entnehmen kann, so zusammengefasst: »Wenn man sich vor Augen hält, dass das, was vormals unsichtbar war – jedermanns Intimsphäre und jedermanns Innenleben –, heute in aller Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden soll (vor allem im Fernsehen, aber auch in der Literatur), dann versteht man, dass diejenigen, denen an ihrer Unsichtbarkeit gelegen ist, zurückgewiesen, beiseitegeschoben oder eines Verbrechens ver9
dächtigt werden. Körperliche, soziale und psychische Nacktheit sind heute an der Tagesordnung.«6 Mit tragbaren elektronischen Beichtstühlen ausgestattete Teenager sind nichts anderes als Lehrlinge, die die Kunst erlernen und in ihr unterwiesen werden, in einer »Beichtstuhl-Gesellschaft« zu leben – einer Gesellschaft, die dafür berüchtigt ist, dass sie die Grenze beseitigt, die einst das Private vom Öffentlichen schied, die es zur allgemeinen Tugend und Pflicht erhebt, das Private öffentlich zur Schau zu stellen, und die alles aus dem Bereich der öffentlichen Kommunikation verbannt, was sich nicht auf private Vertraulichkeiten reduzieren lässt, zusammen mit denjenigen, die sich weigern, solche Enthüllungen anzubieten. Wie Jim Gamble, Chef einer staatlichen Behörde zur Überwachung des Internets, gegenüber dem Guardian einräumte: »Es findet sich dort alles, was man auch auf einem Schulhof findet – der einzige Unterschied ist, dass es auf diesem Spielplatz keine Lehrer, keine Polizisten und keine Aufsichten gibt, die ein Auge darauf haben, was passiert.«7 Zweiter Fall: Am gleichen Tag, aber auf einer ganz anderen Seite in einem anderen Ressort, für die ein anderer Redakteur verantwortlich zeichnet, informierte der Guardian seine Leser, dass Unternehmen »Computersysteme verwenden, um Sie effektiver abzuwimmeln, je nach Ihrem Wert für die angerufene Firma«.8 Dank solcher Computersysteme kann man Informationen über Kunden speichern und sie in Kategorien einordnen, von »1« für erstklassige Kunden, deren Anrufe sofort entgegengenommen und zu einem höherrangigen Mitarbeiter durchgestellt werden, bis »3« (»Bodensatz«, wie es im Firmenjargon gemeinhin heißt) für Kunden, die am Ende der Warteschlange landen – und wenn sie schließlich durchgestellt werden, dann zu einem Mitarbeiter am unteren Ende der Hierarchie. Wie im ersten Fall kann man auch im zweiten kaum der Technik die Schuld an den neuen Praktiken geben. Die neue, ausgeklügelte Software kommt Managern zu Hilfe, die schon vorher mit der dringen6 7 8
Enriquez, L’idéal type, S. 49. Lewis, Teenage Networking Websites. Booth, Press 1 If You’re Poor.
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den Notwendigkeit konfrontiert waren, die anschwellende Flut der Anrufer zu klassifizieren, um die selektierenden und ausschließenden Praktiken zu beschleunigen, die bereits vorher angewandt wurden, jedoch mit Hilfe primitiver Hilfsmittel – selbstgestrickte, Do-it-yourself- oder Heimindustrieprodukte, die zeitraubend und offensichtlich weniger effektiv waren. Der Sprecher einer Firma, die solche Systeme installiert und betreut, stellt fest: »Die Technik greift lediglich Prozesse auf, die bereits vorhanden sind, und macht sie effizienter«9 – das heißt, sie beschleunigt und automatisiert und erspart damit den Angestellten der Firma die mühselige Arbeit, Informationen zusammenzutragen, Kundenprofile zu studieren, bei jedem Anruf ein Urteil zu fällen und die Verantwortung für die Konsequenzen dieser Entscheidungen zu übernehmen. Ohne die entsprechenden technischen Möglichkeiten müssten sie ihren eigenen Verstand nutzen und auf Kosten der Firma viel Zeit aufwenden, um einzuschätzen, wie gewinnbringend der Anrufer für das Unternehmen voraussichtlich sein wird: Über wie viel Geld oder welchen Kreditrahmen verfügt er, und wie hoch ist seine Bereitschaft, sich davon zu trennen? »Unternehmen müssen die Kunden aussortieren, die am wenigsten einbringen«,10 erklärt ein anderer Manager. Das heißt, Unternehmen brauchen eine Art »negative Überwachung«, eine Umkehrung der Überwachung im Stil des Orwellschen Big Brother oder eines Panoptikums, eine Art Sieb, das in erster Linie dazu dient, die Unerwünschten hinunterzuspülen und die Stammkunden aufzufangen, ein Vorgang, der neu definiert wird als der ultimative Effekt eines gründlichen Reinigungsprozesses. Sie brauchen eine Möglichkeit, die Datenbank mit jenen Informationen zu füttern, die geeignet sind, »fehlerhafte Konsumenten« herauszufiltern – das Unkraut des konsumistischen Gartens, Menschen, denen es an Geld, Kreditkarten und/oder Kauflust mangelt, und die immun sind gegen die Verlockungen der Werbung. Als Ergebnis der negativen Auslese wird nur zahlungskräftigen und kaufwilligen Mitspielern erlaubt, weiterhin am Konsumspiel teilzunehmen.
9 Ebenda. 10 Ebenda.
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Dritter Fall: Einige Tage später ließ wieder ein anderer Redakteur auf wieder einer anderen Seite die Leser wissen, dass der britische Innenminister Charles Clarke ein neues, auf einem Punktesystem basierendes Bewerbungsverfahren für Einwanderer angekündigt hatte, das »die Besten und Intelligentesten anlocken«11 sowie natürlich alle anderen abschrecken und abhalten sollte, auch wenn dieser Teil von Clarkes Ankündigung in der Pressemitteilung schwer zu entdecken war, da entweder vollständig weggelassen oder ins Kleingedruckte verbannt. Wen soll das neue Verfahren anlocken? Diejenigen, die am meisten Geld investieren können und über die besten Fähigkeiten verfügen, dieses Geld zu verdienen. »Dadurch können wir sicherstellen«, so der Innenminister, »dass nur jene in unser Land kommen, die über Fähigkeiten verfügen, für die im Vereinigten Königreich ein Bedarf besteht, und dass diejenigen ohne diese Fähigkeiten von einer Bewerbung abgehalten werden.«12 Und wie funktioniert dieses System? Kay zum Beispiel, eine junge Neuseeländerin mit einem Master-Abschluss, aber einem ebenso schlecht angesehenen wie bezahlten Job, hat die 75 Punkte nicht erreicht, die es ihr erlaubt hätten, sich um eine Einwanderungserlaubnis zu bewerben. Sie müsste nun zuerst ein britisches Unternehmen finden, das ihr eine Stelle anbietet, was ihr dann positiv angerechnet werden würde, als Beweis dafür, dass für ihre Fähigkeiten »im Vereinigten Königreich ein Bedarf besteht«. Charles Clarke würde kaum für sich in Anspruch nehmen, dass er der Erste war, der das Marktgesetz, demzufolge stets das beste Produkt im Regal ausgewählt wird, auf die Auswahl von Menschen übertragen hat. Wie der heutige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy, damals noch als Amtskollege des Innenministers, sagte: »Fast alle Demokratien der Welt praktizieren eine selektive Immigration«, woraus er die Forderung ableitete: »Frankreich sollte Einwanderer nach Bedarf auswählen können.«13
11 Travis, Immigration Shake-up. 12 Ebenda. 13 Ridet u.a., Pour Nicolas Sarkozy, »l’immigration choisie est un rempart contre le racisme«, Le Monde vom 28. April 2006.
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Drei Fälle, über die in drei verschiedenen Ressorts der Tageszeitung berichtet wurde, von denen angenommen wird, dass sie aus völlig unterschiedlichen Lebensbereichen stammen, aus Lebensbereichen, die jeweils eigenen Regeln folgen und von unabhängigen Organen überwacht und geleitet werden. Fälle, die auf den ersten Blick vollkommen unterschiedlich sind und die Menschen betreffen, die sich in Herkunft, Alter und Interessen grundlegend voneinander unterscheiden und mit ganz unterschiedlichen Problemen kämpfen. Gibt es, so könnte man fragen, irgendeinen Grund, sie nebeneinanderzustellen und als Angehörige ein und derselben Kategorie zu betrachten? Die Antwort lautet: Ja, es gibt einen Grund, sie miteinander in Verbindung zu bringen, und zwar einen sehr guten Grund, wie man ihn sich besser kaum vorstellen könnte. Die Schuljungen und -mädchen, die eifrig und begeistert ihre Qualitäten anpreisen, in der Hoffnung, Aufmerksamkeit zu erregen und vielleicht auch die Anerkennung und Akzeptanz zu erlangen, die nötig ist, um sozial »im Rennen« zu bleiben; die interessierten Kunden, die ihre Kaufhistorie aufbessern und ihren Kreditrahmen erweitern müssen, um einen besseren Service zu bekommen; die Bewerber um ein Einwanderungsvisum, die, als Beweis, dass eine Nachfrage für ihre Dienste besteht, mühsam Bonuspunkte sammeln – alle drei Kategorien von Menschen, die auf den ersten Blick so unterschiedlich erscheinen, werden dazu verführt, gedrängt oder gezwungen, eine attraktive und wünschenswerte Ware anzupreisen und alles dafür zu tun und die besten ihnen zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um den Marktwert der von ihnen feilgebotenen Güter zu erhöhen. Und die Ware, die sie gehalten werden auf dem Markt anzubieten, zu bewerben und zu verkaufen, sind sie selbst. Sie sind zugleich Vermarkter von Waren und die Waren, die sie vermarkten. Sie sind gleichzeitig Güter und Marketingagent, Handelsartikel und Handlungsreisende (und jeder Akademiker, so möchte ich hinzufügen, der sich je um eine Stelle als Hochschullehrer oder um Forschungsmittel beworben hat, wird in dieser Erfahrung unschwer das eigene Schicksal wiedererkennen). Welcher Gruppe die Statistiker sie auch zurechnen mögen, sie alle bevölkern ein und denselben sozialen Raum, den man Markt nennt. In welche Kategorie staatliche Archivare oder Enthüllungsjournalisten ihre Beschäftigungen auch einordnen 13
mögen, was sie alle betreiben (sei es aus freien Stücken, aus Notwendigkeit oder, wie zumeist, aus beiden Gründen), ist Marketing. Der Test, den sie bestehen müssen, um die erstrebte soziale Belohnung zu erlangen, erfordert, dass sie sich in Waren verwandeln, das heißt in Produkte, die in der Lage sind, die Aufmerksamkeit von Kunden zu erregen und Nachfrage zu generieren. Siegfried Kracauer war ein Denker mit der geradezu unheimlichen Fähigkeit, inmitten einer formlosen Masse von Marotten und Modeerscheinungen die kaum sichtbaren und noch unausgeformten Umrisse zukünftiger Trends zu erkennen. Bereits Ende der 1920er Jahre, als die bevorstehende Transformation der Gesellschaft von Produzenten in eine Gesellschaft von Konsumenten nur im Keim vorhanden war oder sich bestenfalls im Anfangsstadium befand, hielt Kracauer fest: »Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, die Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten. ›Wie werde ich schön?‹ lautet der Titel eines jüngst auf den Markt geworfenen Heftes, dem die Zeitungsreklame nachsagt, daß es Mittel zeige, ›durch die man für den Augenblick und für die Dauer jung und schön aussieht‹.«14 Die im Entstehen begriffenen Gepflogenheiten, die Kracauer in den späten 1920er Jahren als bemerkenswerte Berliner Kuriosität festhielt, breiteten sich aus wie ein Lauffeuer und wurden schließlich überall auf der Welt zur tagtäglichen Routine (oder zumindest zu einem Traum). 80 Jahre später beobachtete Germaine Greer bereits, dass »selbst in den abgelegensten Gebieten im chinesischen Nordwesten Frauen ihre Maoanzüge ablegten, um in Push-up-B H s und figurbetonte Röcke zu schlüpfen, ihre glatten Haare färbten, sich Locken legen ließen und sparten, um sich Kosmetikartikel leisten zu können. Das nannte man dann Liberalisierung.«15 Ein halbes Jahrhundert nachdem Kracauer die neuen Leidenschaften der Berliner Frauen bemerkt und beschrieben hatte, erklärte Jür14 Kracauer, Die Angestellten, S. 224. 15 Greer, Future of Feminism, S. 13.
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gen Habermas, die »Kommodifizierung« von Kapital und Arbeit sei die Hauptfunktion, ja die raison d’être des kapitalistischen Staates. Habermas schrieb zu einem Zeitpunkt, als die Gesellschaft von Produzenten dem Ende ihrer Tage entgegenging, und hatte insofern den Vorteil des Zurückblickenden auf seiner Seite. Wenn die Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften auf sich endlos wiederholenden Begegnungen zum Zwecke der Transaktion zwischen dem Kapital in der Rolle des Käufers und Arbeitskräften in der Rolle der Ware beruht, dann muss der Staat dafür sorgen, dass diese Begegnungen regelmäßig stattfinden und erfolgreich verlaufen, das heißt zu An- und Verkaufstransaktionen führen. Damit dieses Ziel in allen oder zumindest in einer erheblichen Anzahl der Begegnungen erreicht wird, muss das Kapital allerdings in der Lage sein, den aktuellen Preis der Ware zu bezahlen, muss ihn zu zahlen gewillt sein und dazu veranlasst werden, diesen Willen in die Tat umzusetzen – abgesichert durch staatliche Sicherungssysteme gegen die Risiken, die die notorischen Unwägbarkeiten von Warenmärkten mit sich bringen. Zugleich muss dafür gesorgt werden, dass die Arbeitskräfte in einem erstklassigem Zustand sind, in dem es wahrscheinlich ist, dass sie die Aufmerksamkeit potentieller Käufer auf sich ziehen, die sie für gut genug befinden, um zu kaufen, was sie sehen. Ohne die aktive Mitwirkung des Staates war es unwahrscheinlich, dass man erreichen, geschweige denn sicherstellen konnte, dass Arbeitskräfte für kapitalistische Käufer attraktiv sind – ebenso wenig, wie man Kapitalisten dazu bewegen konnte, ihr Geld in Arbeitskräfte zu investieren. Arbeitssuchende mussten gut ernährt und gesund sein, daran gewöhnt, sich diszipliniert zu verhalten, und über die Fähigkeiten verfügen, die die Arbeitsroutinen der von ihnen gesuchten Stellen verlangten. Den meisten Nationalstaaten, die nach Kräften versuchen, der Aufgabe der Kommodifizierung gerecht zu werden, sind heute von Defiziten an Macht und Ressourcen geplagt – Defiziten, die dadurch entstehen, dass einheimisches Kapital, aufgrund der Globalisierung der Kapital-, Arbeits- und Warenmärkte und der weltweiten Verbreitung von modernen Formen von Produktion und Handel, einem immer härteren Wettbewerb ausgesetzt ist; außerdem liegen die Ursachen dieser Defizite in den rasch ansteigenden Kosten des »Wohlfahrtsstaa15
tes«, jenem wichtigsten und vielleicht unverzichtbaren Instrument der Kommodifizierung der Arbeit. Auf dem Weg von einer Gesellschaft von Produzenten zu einer Gesellschaft von Konsumenten wurden die mit der Kommodifizierung und Rekommodifizierung von Arbeit und Kapital verbundenen Aufgaben einem doppelten Prozess der allmählichen, gründlichen und offensichtlich unumkehrbaren (wenngleich noch nicht abgeschlossenen) Deregulierung und Privatisierung unterzogen. Die Geschwindigkeit und das zunehmende Tempo dieser Prozesse waren und sind keineswegs gleichförmig. In den meisten (wenn auch nicht allen) Ländern scheinen sie auf dem Gebiet der Arbeit sehr viel radikaler zu sein, als sie es bisher auf dem Gebiet des Kapitals gewesen sind, wo es nach wie vor beinahe die Regel ist, dass neue Vorhaben mit Finanzspritzen vom Staat unterstützt werden, und zwar eher in steigendem als in abnehmendem Umfang. Außerdem wird die Fähigkeit und die Bereitschaft des Kapitals, Arbeitskraft einzukaufen, weiterhin regelmäßig vom Staat angekurbelt, der sich bemüht, die »Arbeitskosten« niedrig zu halten, indem er die Mechanismen für kollektive Tarifverhandlungen und Arbeitsplatzsicherung demontiert und die Handlungsoptionen der Gewerkschaften per Gesetz beschneidet – und allzu oft die Zahlungskraft von Unternehmen stützt, indem er Importe besteuert, Steuererleichterungen auf Exporte gewährt und die Dividenden von Anlegern mit öffentlichen Aufträgen subventioniert. So hat die Regierung Bush erst im Februar 2006 bekräftigt, dass der Staat der amerikanischen Ölindustrie im Lauf der nächsten fünf Jahre sieben Milliarden Dollar an Förderabgaben erlassen wird (eine Summe, die sich nach manchen Schätzungen vervierfachen wird), um deren Ölbohrungen in den staatlichen Gewässern im Golf von Mexiko zu fördern. (»Das ist, als ob man einen Fisch dafür bezahlt, dass er schwimmt«, so die Reaktion eines Abgeordneten im Repräsentantenhaus auf diese Nachricht. »Es ist nicht zu rechtfertigen, dass diese Unternehmen weiter staatlich subventioniert werden, wenn die Öl- und Gaspreise derart hoch sind.«)16
16 Andrews, Vague Law and Hard Lobbying.
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Bisher war die Aufgabe der Rekommodifizierung der Arbeit am stärksten von den Zwillingsprozessen Deregulierung und Privatisierung betroffen. Der Staat hat sich der unmittelbaren Verantwortung für diese Aufgabe im Wesentlichen entledigt, indem er den notwendigen institutionellen Rahmen von Diensten, die unverzichtbar sind, um die Verkäuflichkeit der Arbeitskraft zu erhalten, ganz oder teilweise in Privatfirmen ausgelagert hat (zum Beispiel im Fall von Schulen, Sozialwohnungen, Altersheimen und einer steigenden Zahl von medizinischen Dienstleistungen). Damit wird die eigentliche Aufgabe, die Verkäuflichkeit von Arbeit en masse sicherzustellen, der privaten Sorge der Einzelnen überlassen (etwa, indem die Kosten für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten nunmehr aus privaten, individuellen Mitteln getragen werden müssen); ihnen wird von Politikern geraten und von der Werbung eingeredet, dass sie ihren eigenen Verstand und ihre eigenen Ressourcen nutzen sollen, um im Rennen zu bleiben, ihren Marktwert zu erhalten beziehungsweise zu steigern und die Wertschätzung potentieller Käufer zu gewinnen. Arlie Russell Hochschild hat einige Jahre damit verbracht, die Veränderungen der Arbeitsstrukturen in hochentwickelten Branchen der amerikanischen Wirtschaft aus nächster Nähe (nahezu als Teilnehmerin) zu beobachten, und dabei Trends entdeckt und dokumentiert, die jenen überraschend ähnlich sind, die Luc Boltanski und Eve Chiapello in Europa diagnostiziert und als den »neuen Geist des Kapitalismus« äußerst detailliert beschrieben haben. Als wichtigstes Ergebnis dieser Arbeiten kann man hervorheben, dass Arbeitgeber eine ausgeprägte Präferenz für frei flottierende, ungebundene, flexible und frei verfügbare Generalisten zeigen (die dem Typ »Alleskönner« entsprechen, statt spezialisiert zu sein und eine auf ein bestimmtes Fachgebiet konzentrierte Ausbildung absolviert zu haben). Arlie Hochschild formuliert das so: »Seit 1997 geht in aller Stille ein neuer Begriff in Silicon Valley um, dem Kernland der Computerrevolution in Amerika – Zero Drag, null Reibung. Ursprünglich war damit die reibungsfreie Bewegung von Dingen wie Rollschuhen oder Fahrrädern gemeint. Dann wandte man ihn auf Beschäftigte an, die ohne finanzielle Anreize ganz leicht von einem Job zum nächsten wechselten. Neuerdings bedeutet er soviel wie ungebunden oder ohne Verpflichtungen. So mag der Chef einer dot.com-Firma über einen Angestellten sagen, er 17
sei Zero Drag, und damit meinen, dass dieser Angestellte bereit ist, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, in Notfällen einzuspringen oder jederzeit umzuziehen. Po Bronson, der über die Kultur von Silicon Valley gearbeitet hat, meint: ›Zero drag ist optimal. Eine Zeit lang wurden Stellenbewerber noch im Scherz nach ihrem Drag-Koeffizienten gefragt.‹«17 Wenn man in einiger Entfernung vom Valley wohnt und/oder mit einer Ehefrau oder einem Kind belastet ist, hebt das den »Drag-Koeffizienten« und senkt die Chancen des Bewerbers auf eine Anstellung. Arbeitgeber wünschen sich Angestellte, die eher schwimmen als gehen und eher surfen als schwimmen. Der ideale Angestellte wäre demnach ein Mensch, der keine bestehenden Beziehungen, Verpflichtungen oder emotionalen Bindungen hat und neue scheut; der sich bereitwillig auf jede Aufgabe einlässt, die sich ihm stellt, und willens ist, die eigenen Neigungen ständig anzupassen und neu einzustellen, und der sich in kurzer Abfolge neue Prioritäten zu eigen macht und alte abstreift; ein Mensch, der ein Umfeld gewohnt ist, in dem es unerwünscht und daher unklug ist, sich überhaupt an etwas – an einen Job, eine Fertigkeit oder eine Handlungsroutine – »zu gewöhnen«; und nicht zuletzt ein Mensch, der die Firma klaglos und ohne Rechtsstreit verlässt, wenn er nicht mehr gebraucht wird. Im Übrigen ein Mensch, für den langfristige Perspektiven, in Stein gemeißelte Karrierestufen und jede Art von Stabilität noch abschreckender und furchteinflößender sind als das Fehlen derselben. Die Kunst der »Rekommodifizierung« der Arbeit in ihrer neuen, aktualisierten Form ist denkbar schlecht dafür geeignet, von der schwerfälligen, für ihre Trägheit berüchtigten, traditionsgebundenen, gegen Veränderungen resistenten und in Routinen verliebten staatlichen Bürokratie gelernt zu werden; und diese Bürokratie ist denkbar ungeeignet, diese Kunst zu kultivieren und sie den Menschen zu vermitteln und einzuschärfen. Es ist besser, diese Aufgabe den Konsumgütermärkten zu überlassen – und genau das geschieht auch –, denn man weiß, dass sie nicht nur bereits Experten darin sind, ihren Kunden auffallend ähnliche Künste beizubringen, sondern auch bei der Ausführung dieser Aufgabe bestens gedeihen. Der tiefste Sinn der 17 Hochschild, Keine Zeit, S. XXVI I .
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Konversion des Staates zum Kult der »Deregulierung« und »Privatisierung« liegt in der Verlagerung der Aufgabe der Rekommodifizierung von Arbeit auf den Markt. Der Arbeitsmarkt ist nur einer von vielen Warenmärkten, an denen das Leben jedes Individuums notiert ist; der Marktpreis der Arbeit ist nur einer von vielen Marktpreisen, die bei individuellen Lebensentscheidungen berücksichtigt, beobachtet und einkalkuliert werden müssen. Doch auf allen Märkten gelten die gleichen Regeln. Erstens: Die eigentliche Bestimmung aller feilgebotenen Waren ist, dass sie von Käufern konsumiert werden. Zweitens: Den Wunsch, Güter zum Zweck des Konsums zu erwerben, werden Käufer dann und nur dann verspüren, wenn deren Konsum die Befriedigung ihrer Bedürfnisse verspricht. Drittens: Der Preis, den ein interessierter Konsument auf der Suche nach Befriedigung für die angebotenen Waren zu zahlen bereit ist, hängt von der Glaubhaftigkeit dieses Versprechens und der Intensität dieser Bedürfnisse ab. Begegnungen zwischen möglichen Konsumenten und ihren möglichen Konsumobjekten werden in zunehmendem Maße die Grundbausteine jenes eigentümlichen Geflechts zwischenmenschlicher Beziehungen, das man kurz als »Konsumgesellschaft« bezeichnet. Genauer gesagt: Das existenzielle Umfeld, das man »Konsumgesellschaft« nennt, zeichnet sich dadurch aus, dass es alle zwischenmenschlichen Beziehungen nach dem Muster und Vorbild der Beziehungen zwischen Konsumenten und ihren Konsumobjekten umgestaltet. Diese erstaunliche Leistung beruht auf der Besetzung und Kolonisierung des Raums, der sich zwischen menschlichen Individuen erstreckt, durch Konsumgütermärkte; jenes Raums, in dem die Fäden gesponnen werden, die Menschen miteinander verbinden, und in dem die Zäune gebaut werden, die sie trennen. In völliger Verzerrung und Perversion des eigentlichen Kerns der konsumistischen Revolution wird die Konsumgesellschaft meist so dargestellt, als stünden in ihrem Zentrum Beziehungen zwischen dem Konsumenten, dem der Status des cartesianischen Subjekts zugewiesen wird, und der Ware, der die Rolle des cartesianischen Objekts zukommt – obgleich das Gravitationszentrum der Begegnung von Subjekt und Objekt in derartigen Darstellungen eine entscheidende 19
Verschiebung erfährt, vom Bereich der Kontemplation in den Bereich des Handelns. Wenn es um das Handeln geht, sieht sich das denkende (wahrnehmende, prüfende, vergleichende, kalkulierende, Bedeutung zuschreibende, verständlich machende) cartesianische Subjekt – genau wie beim Akt der Kontemplation – mit einer Vielzahl räumlicher Objekte (der Wahrnehmung, der Prüfung, des Vergleichens, der Kalkulation, der Bedeutungszuschreibung, des Verstehens) konfrontiert, aber jetzt kommt noch die Aufgabe hinzu, mit ihnen umzugehen: sie zu bewegen, sich anzueignen, zu benutzen, wegzuwerfen. Zugegebenermaßen wird das Ausmaß von Souveränität, das dem Subjekt in Beschreibungen des Handelns von Konsumenten gemeinhin zugewiesen wird, immer wieder in Frage gestellt und in Zweifel gezogen. Wie Don Slater sehr richtig festgestellt hat, changiert das Bild des Konsumenten, das in gelehrten Abhandlungen über das Konsumleben gezeichnet wird, zwischen den Extremen »Übertölpelte beziehungsweise Tölpel der Kultur« und »Helden der Moderne«.18 Dem ersten Extrem zufolge sind Konsumenten alles andere als souverän Handelnde. Stattdessen werden sie dargestellt als von falschen Versprechungen getäuscht, verleitet, verführt, gedrängt und auf andere Weise fremdgesteuert von offenen oder verdeckten, in jedem Fall aber äußeren Einflüssen. Das andere Extrem der vermeintlichen Bilder des Konsumenten umfasst alle Tugenden, mit denen die Moderne sich so gerne schmückt, wie Rationalität, stabile Autonomie, die Fähigkeit, sich selbst zu definieren, und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein. Derartige Porträts zeigen den Träger eines »heroischen Willens und jener Intelligenz, die Natur und Gesellschaft umgestalten und beide der Herrschaft der persönlich und frei gewählten Wünsche des Individuums unterwerfen konnte.«19 Das Entscheidende ist jedoch, dass die Konsumenten in beiden Versionen – ob man sie nun als vom Werberummel Übertölpelte darstellt oder als heroische Praktiker des sich selbst vorantreibenden Drangs nach Herrschaft – als von der Gesamtheit aller möglichen Konsumobjekte abgeschnitten und getrennt von ihnen betrachtet werden. In den meisten Beschreibungen bleibt die Welt, die von der 18 Slater, Consumer Culture, S. 33. 19 Ebenda.
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Konsumgesellschaft geformt und aufrechterhalten wird, fein säuberlich getrennt in Dinge, die zur Wahl stehen, und jene, die auswählen; in Waren und deren Konsumenten: in Dinge, die konsumiert werden, und Menschen, die konsumieren. In Wirklichkeit jedoch ist die Konsumgesellschaft das, was sie ist, weil von alledem überhaupt keine Rede sein kann; was sie von anderen Gesellschaftsformen unterscheidet, ist gerade das Verwischen und letztlich die Beseitigung der oben genannten Unterscheidungen. In der Konsumgesellschaft kann niemand ein Subjekt werden, ohne sich zuerst in eine Ware zu verwandeln, und niemand kann sich seines Subjektseins sicher sein, ohne ständig jene Fähigkeiten zu regenerieren, wiederzubeleben und aufzufrischen, die von einer käuflichen Ware erwartet und eingefordert werden. Die »Subjektivität« des Subjekts und der Großteil dessen, was diese Subjektivität dem Subjekt zu erreichen ermöglicht, ist fokussiert auf das nicht enden wollende Bemühen, selbst eine verkäufliche Ware zu werden und zu bleiben. Das wichtigste Kennzeichen der Konsumgesellschaft – so sorgfältig verborgen und verheimlicht es auch ist – ist die Verwandlung von Konsumenten in Waren; genauer: ihrer Auflösung in der Warenflut, in der, um den wohl meistzitierten der höchst zitierwürdigen Gedanken Georg Simmels zu zitieren, »die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird«, sodass sie »in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung« erscheinen. »Sie schwimmen alle mit gleichem spezifischem Gewicht in dem fortwährend bewegten Geldstrom.«20 Die Aufgabe der Konsumenten und das Hauptmotiv, das sie dazu bringt, unablässig dem Konsum zu frönen, ist folglich die Aufgabe, sich aus der grauen und langweiligen Unsichtbarkeit und Nichtigkeit emporzustemmen, damit sie sich von der Masse der »mit gleichem spezifischen Gewicht schwimmenden«21 Objekte unterscheiden und so die Aufmerksamkeit von (blasierten!) Konsumenten auf sich ziehen … Für ihr erstes Album erhielt Corinne Bailey Rae, eine 27-jährige Sängerin, die 2005 von einem E M I -Manager unter Vertrag genommen
20 Simmel, Die Großstädte, S. 121. 21 Ebenda, S. 122.
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wurde, nach nur vier Monaten eine Platin-Schallplatte.22 Ein erstaunlicher Vorgang, eine Chance von eins zu einer Million oder Hunderten von Millionen – nach einem kurzen Auftritt in einer Indie-Band und einem Job als Garderobenfrau in einem Soul-Club ein kometenhafter Aufstieg zum Star. Die Wahrscheinlichkeit ist nicht größer, vielleicht sogar kleiner, als die, den Lotto-Jackpot zu gewinnen (aber halten wir fest, dass weiterhin Millionen von Menschen Woche für Woche Lottoscheine kaufen). »Meine Mutter ist Grundschullehrerin«, sagte Corinne einem Interviewer, »und wenn sie die Kinder fragt, was sie werden wollen, wenn sie groß sind, sagen sie: ›Berühmt.‹ Und auf die Frage, warum, sagen sie: ›Weiß nicht, ich will einfach berühmt werden.‹«23 »Berühmt zu sein« heißt in diesen Träumen nicht mehr (aber auch nicht weniger!), als auf den Titelseiten von Tausenden von Zeitschriften und auf Millionen von Bildschirmen gezeigt zu werden, im Gespräch zu sein, gesehen, wahrgenommen und damit, vermutlich, von vielen begehrt zu werden – genau wie die Schuhe, Röcke oder Accessoires, die derzeit in Hochglanzmagazinen und auf den Fernsehbildschirmen prangen und damit im Gespräch sind, gesehen werden, wahrgenommen, begehrt … »Das Leben ist mehr als Medienrummel«, so Germaine Greer, »aber nicht viel mehr. Im Informationszeitalter bedeutet Unsichtbarkeit mehr oder weniger den Tod.«24 Was für lebende Organismen der Stoffwechsel ist, das ist für Waren, und damit auch für Konsumenten, die ständige, unaufhaltsame Rekommodifizierung. Hinter dem Traum vom Berühmtsein verbirgt sich ein anderer Traum, der Traum, sich nicht mehr in der grauen, farb- und gesichtslosen Masse der Waren aufzulösen und darin aufgelöst zu bleiben, der Traum, sich in eine beachtenswerte, beachtete und begehrte Ware zu verwandeln, eine Ware, über die man spricht und die sich von der Masse der Waren abhebt, eine Ware, die man unmöglich übersehen, verlachen, entlassen kann. In einer Gesellschaft von Konsumenten ist 22 Siehe das Interview von Bryan Gordon im Observer Magazine, 21. Mai 2006, S. 20–24. 23 Ebenda. 24 Greer, Future of Feminism.
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die Verwandlung in eine begehrenswerte und begehrte Ware der Stoff, aus dem die Träume und Märchen sind. Karl Marx, der zu einer Zeit schrieb, als die Gesellschaft von Produzenten aufblühte, tadelte zeitgenössische Ökonomen, weil sie dem »Fetischcharakter der Ware« verfallen seien; sie hätten die Angewohnheit, zwischenmenschliche Interaktion zu übersehen oder sie absichtlich oder gewohnheitsmäßig hinter dem Warenverkehr zu verstecken, als ob die Waren von sich aus und ohne Vermittlung durch Menschen miteinander in Beziehung treten würden. Die Entdeckung, dass das Kaufen und Verkaufen von Arbeitskraft der Kern der »Produktionsverhältnisse« sei, die sich hinter dem Phänomen der »Warenzirkulation« verberge, argumentierte Marx, sei ebenso schockierend wie revolutionär: ein erster Schritt, die entmenschlichte Realität der kapitalistischen Ausbeutung wieder mit menschlicher Substanz zu füllen. Etwas später sollte Karl Polanyi ein weiteres Loch in die vom Warenfetischismus gesponnene Illusion reißen: Ja, sagte er, Arbeitskraft werde ge- und verkauft, als ob sie eine Ware sei wie jede andere, aber nein, betonte er, Arbeitskraft sei keine Ware wie jede andere und könne es auch nicht sein. Der Eindruck, dass Arbeit nichts anderes sei als eine Ware, könne nur eine grobe Verzerrung der Realität sein, da »Arbeitskraft« nicht unabhängig von den Trägern derselben ge- und verkauft werden könne.25 Im Gegensatz zu anderen Waren können Käufer ihre Einkäufe nicht »mit nach Hause nehmen«. Was sie erstanden haben, wird nicht ihr alleiniges und uneingeschränktes Eigentum, und sie können es nicht nach Belieben utere et abutere (ge- oder missbrauchen), wie sie es mit ihren anderen Einkäufen tun können. Die auf den ersten Blick »rein geschäftliche« Transaktion (man denke an die Klage von Thomas Carlyle im frühen 19. Jahrhundert über die »Zeiten, wo Barzahlung das einzige Band zwischen Mensch und Menschen ist«26) verbindet die Träger und Käufer von Arbeitskraft unvermeidlich durch gegenseitige Verpflichtungen und gegenseitige Abhängigkeit. Auf dem Arbeitsmarkt gebiert jede geschäftliche Transaktion eine menschliche Beziehung; jeder Arbeitsvertrag ist eine weitere Widerlegung des Warenfetischismus, und auf jede Transaktion folgen bald Beweise ihrer 25 Polanyi, The Great Transformation, S. 107ff. 26 Carlyle, Der Chartismus, S. 55.
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Falschheit sowie der Täuschung oder Selbsttäuschung, die mit ihr einhergehen. Wenn es das Schicksal des Warenfetischismus war, den menschlichen, allzu menschlichen Kern der Gesellschaft von Produzenten zu verbergen, so ist jetzt der Subjektivitätsfetischismus dazu bestimmt, die kommodifizierte, allzu kommodifizierte Realität der Gesellschaft von Konsumenten zu verschleiern. »Subjektivität« ist in einer Gesellschaft von Konsumenten, genau wie »Ware« in einer Gesellschaft von Produzenten (um das treffende Konzept von Bruno Latour zu verwenden) ein Faitiche,27 ein ganz und gar menschliches Produkt, das in den Rang einer übermenschlichen Autorität erhoben wird, indem man seinen menschlichen, allzu menschlichen Ursprung ebenso vergisst wie die Abfolge menschlicher Handlungen, die zu seiner Entstehung geführt haben und die die conditio sine qua non dieser Entstehung war. Im Fall der Ware in der Gesellschaft von Produzenten war es der Akt des Kaufens und Verkaufens der Arbeitskraft, der dem Produkt »Arbeit« einen Marktwert verlieh und es damit zu einer Ware machte – wobei dieser Prozess des ZurWare-Werdens durch das Aufkommen einer autonomen Interaktion von Waren verdeckt wird. Im Fall der Subjektivität in der Gesellschaft von Konsumenten ist es das Kaufen und Verkaufen von symbolischen Zeichen zur Konstruktion von Identität, das in der Erscheinungsform des Endprodukts beseitigt wird. Diese Konstruktion von Identität ist der angeblich öffentliche Ausdrucks des »Selbst«, der in Wirklichkeit das »Simulacrum« Jean Baudrillards ist,28 bei dem »Repräsentation« an die Stelle dessen tritt, was vermeintlich repräsentiert wird. Die »Subjektivität« von Konsumenten basiert auf Kaufentscheidungen – Entscheidungen, die vom Subjekt und von möglichen Käufern des Subjektes getroffen werden; ihre Beschreibung nimmt die Form einer Einkaufsliste an. Was wir für die Materialisierung der inneren Wahrheit des Selbst halten, ist in Wahrheit eine Idealisierung der materiellen – verdinglichten – Spuren von Konsumentscheidungen. Eine der immer zahlreicher werdenden Internet-Partnervermittlun27 Vgl. Latour, Die Hoffnung der Pandora, S. 327–359. 28 Vgl. Baudrillard, Agonie des Realen.
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gen (parship.co.uk) hat vor einiger Zeit eine Umfrage durchgeführt, der zufolge im Jahr 2005 zwei Drittel aller Singles, die eine Partnervermittlung in Anspruch nahmen, das Internet nutzten. Die »InternetDating«-Branche in Großbritannien machte im betreffenden Jahr 17 Millionen Euro Umsatz, und diese Zahl hat sich seitdem vermutlich vervielfacht.29 Innerhalb von sechs Monaten vor Veröffentlichung der Umfrageergebnisse nahm der Anteil der Singles, die überzeugt waren, im Internet den richtigen Partner zu finden, von 35 auf 50 Prozent zu – und die Tendenz ist weiter steigend. Die Autorin eines im Internetmagazin spiked erschienenen Essays kommentierte derartige Ergebnisse folgendermaßen: »Es spiegelt einen fundamentalen Wandel in der Art und Weise wider, wie Menschen ermuntert werden, persönliche Beziehungen zu sehen und ihr Privatleben zu organisieren: Intimität wird öffentlich ausgelebt und ist vertraglichen Normen unterworfen, die man sonst mit dem Kauf eines Autos, eines Hauses oder eines Urlaubs assoziiert.«30 Die Autorin stimmt mit einem anderen von spiked veröffentlichten Kommentar in der Ansicht überein, dass interessierte Nutzer sich dem Internet als der »sichereren, kontrollierbareren Option«31 zuwenden. Sie können so »das Risiko und die Unberechenbarkeit von persönlichen Begegnungen« vermeiden. »Die Angst vor der Einsamkeit treibt die Menschen an ihren Computer, während die Angst vor Fremden sie vor Begegnungen im wirklichen Leben zurückschrecken lässt.«32 Doch diese Sicherheit hat ihren Preis. Jonathan Keane beschreibt das »schleichende Gefühl von Unbehagen und Missbrauch«, das Menschen befällt – sosehr sie sich auch dagegen wehren mögen –, die von einer Website zur nächsten blättern, so wie sie früher die Seiten von Katalogen umgeblättert haben.33 Menschen, die die Dienste von Internetagenturen in Anspruch nehmen, sind unverkennbar von der Benutzerfreundlichkeit des Konsumgütermarkts verwöhnt, der verspricht, dass jede Entscheidung si29 Hoyle, »Why Today’s Singles Are Logging On in Search for Love at First Byte«, The Times vom 5. Januar 2006. 30 Bristow, Are We Addicted to Love? 31 Ebenda. 32 Appleton, Shopping for Love. 33 Keane, Late Capitalist Nights.
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cher und jede Transaktion einmalig und ohne Verpflichtungen ist, ein Akt »ohne verdeckte Kosten«, »ohne weitere finanzielle Forderungen«, »ohne Bedingungen« und »ohne weitere Anrufe«. Der Nebeneffekt (in Verwendung eines derzeit sehr beliebten Ausdrucks könnte man auch sagen, der »Kollateralschaden«) eines derart verwöhnten Daseins – das Risiken minimiert, Verantwortung radikal reduziert oder abgibt und von einer a priori neutralisierten Subjektivität der Protagonisten geprägt ist – ist allerdings, wie sich gezeigt hat, ein erheblicher Verlust sozialer Fähigkeiten. In Gesellschaft von menschlichen Wesen aus Fleisch und Blut fühlen sich die in den Praktiken des Konsumgütermarkts bestens geschulten Stammkunden von Internet-Partnervermittlungen unwohl. Jene Art von Ware, mit der sie gelernt haben, soziale Interaktionen einzugehen, kann man berühren, hat aber selbst keine Hände, um zu berühren; sie lässt sich mustern, ohne den Blick zu erwidern oder eine Erwiderung ihres Blickes zu erwarten, und erspart somit dem Betrachter, sich prüfenden Blicken auszusetzen, während sie selbst sich bereitwillig vom Kunden mustern lässt; man kann sie genauestens studieren, ohne ihren prüfenden Blick in die eigenen Augen, jenen Fenstern zu den tiefsten Geheimnissen der Seele, fürchten zu müssen. Ein Großteil der Anziehungskraft von Internetagenturen beruht darauf, dass sie die ersehnten menschlichen Partner als die Art von Ware präsentieren, der gut vorgebildete Konsumenten zu begegnen gewohnt sind und mit der sie umgehen können. Je erfahrener und »reifer« ihre Kunden werden, desto überraschter, verwirrter und verlegener sind sie, wenn sie sich »von Angesicht zu Angesicht« begegnen und feststellen, dass Blicke erwidert werden müssen, und dass in diesen »Transaktionen« sie, die Subjekte, zugleich Objekte sind. In Geschäften sind den Waren Antworten auf alle Fragen beigefügt, die ein interessierter Kunde stellen könnte, bevor er sich zum Kauf entscheidet, aber sie selbst bleiben höflich und stumm und stellen keine Fragen, vor allem keine peinlichen. Waren geben alle ihre Geheimnisse preis und mehr – ohne auf Gegenseitigkeit zu bestehen. Sie verbleiben in der Rolle des cartesianischen »Objekts« – völlig willfähriger, gehorsamer Dinge, die das omnipotente Subjekt berühren, formen und nach Belieben benutzen kann. Durch ihre Willfährigkeit erheben sie den Käufer in den vornehmen, schmeichelhaften und dem 26
Ego Auftrieb gebenden Rang des souveränen Subjekts, unangefochten und nicht kompromittiert. Indem sie die Rolle von Objekten so tadellos, realistisch und überzeugend spielen, liefern Handelswaren die epistemologische und praxologische Grundlage für den »Subjektivitätsfetischismus« und erneuern sie permanent. Als Käufer sind wir von Verkaufsmanagern und Werbetextern bestens darauf vorbereitet, die Rolle des Subjekts zu spielen – eine Phantasie, die wir durchleben wie eine tatsächliche Wahrheit; ein Theaterspiel, das aufgeführt wird, als wäre es das »reale Leben«, aus dem jedoch im Lauf der Zeit das reale Leben hinausgedrängt und aller Chancen auf eine Rückkehr beraubt wird. Und in dem Maße, in dem mehr und mehr Lebensnotwendigkeiten, die einst mühsam und ohne den Luxus der Vermittlung durch Teleshopping-Sender besorgt werden mussten, kommodifiziert werden (man denke an die Privatisierung der Wasserversorgung, deren unmittelbare Folge das Auftauchen von abgefülltem Wasser in den Regalen der Supermärkte ist), wird die Grundlage des »Subjektivitätsfetischismus« verbreitert und befestigt. Die bekannte, abgeänderte Version von Descartes’ Cogito, »Ich konsumiere, also bin ich …«, könnte und sollte man ergänzen mit: »ein Subjekt«. Und da wir mehr und mehr Zeit damit verbringen, einzukaufen (real oder in Gedanken, persönlich oder elektronisch), vervielfachen sich die Gelegenheiten, diese Ergänzung vorzunehmen. Der Trend, einen Partner im Internet zu suchen/einzukaufen, folgt dem sehr viel breiteren Trend zum Internetshopping. Immer mehr Menschen kaufen lieber auf Websites ein als in Geschäften. Die praktischen Vorteile (Lieferung ins Haus) und die Benzinersparnis sind eine naheliegende, aber keine ausreichende Erklärung für dieses Phänomen. Genauso wichtig, vielleicht noch wichtiger, ist der seelische Trost, der damit einhergeht, dass man den Verkaufsangestellten durch den Monitor ersetzt. Die Begegnung mit einer lebenden Person erfordert bestimmte soziale Fähigkeiten, die möglicherweise nicht vorhanden sind oder sich als unzureichend erweisen könnten, und in einem Dialog setzt man sich stets dem Unbekannten aus, als würde man sich dem Schicksal ergeben. Es ist ein sehr viel beruhigenderes Gefühl, zu wissen, dass ich die Maus in der Hand habe und niemand sonst, und dass mein Finger auf der Maustaste liegt und kein anderer. So kann es nicht mehr pas27
sieren, dass ich durch eine ungewollte (und unkontrollierte!) Gesichtsregung oder einen kurz aufflackernden, aber vielsagenden Ausdruck des Begehrens der Person auf der anderen Seite des Dialogs mehr von meinen wahren Gedanken und Absichten verrate, als ich preiszugeben bereit bin. In seinem Aufsatz »Soziologie der Sinne« hat Georg Simmel darauf hingewiesen, dass der Blick, den ich auf eine andere Person richte, gewollt oder ungewollt mein eigenes Selbst entblößt.34 Der Blick, den ich auf den anderen richte, in der Hoffnung, etwas davon zu erahnen, was er im Sinn und/oder auf dem Herzen hat, drückt zwangsläufig selbst etwas aus, und die Emotionen, die so aus der Tiefe zutage treten, sind nicht leicht im Zaum oder im Verborgenen zu halten, es sei denn, man ist ein gut ausgebildeter, professioneller Schauspieler. Insofern ist es sinnvoll, die angebliche Gewohnheit des Vogels Strauß nachzuahmen, den Kopf in den Sand zu stecken, sprich, den Blick abzuwenden oder zu senken: Indem ich dem Anderen nicht in die Augen schaue, mache ich mein wahres Selbst (genauer: meine wahren Gedanken und Gefühle) unsichtbar, undurchschaubar … Heute, in einer Ära von PC s, Laptops, BlackBerrys und Handys, haben die meisten von uns mehr als genug Sand um sich, in den wir unsere Köpfe stecken können. Wir müssen uns keine Sorgen mehr machen über die überlegene Fähigkeit des Verkäufers, in Gesichtern zu lesen, über seine Überredungskunst oder unsere schwachen Momente. Meine Befürchtungen und Hoffnungen, Sehnsüchte und Zweifel bleiben dort, wo sie hingehören: bei mir und nur bei mir. Ich klicke nicht vorschnell auf »Jetzt kaufen« und »Bestätigen«, ehe ich nicht alle Vor- und Nachteile einer Alternative gesammelt, aufgelistet und durchdacht und sie gegen die Vor- und Nachteile aller anderen Alternativen abgewogen habe. Solange ich derart umsichtig vorgehe, kann ich die Stunde der Abrechnung, der Urteilsverkündung, jenen point of no return und das Bedauern darüber, dass es »zum Nachdenken zu spät« ist und es »keinen Weg zurück« und »keinen Neuanfang« gibt, auf Armeslänge (beziehungsweise bei Tastaturbenutzern eher: auf Fingerlänge) von mir fernhalten; ich und niemand sonst führt das Kommando und hält das Steuerrad in Händen. Ich fühle mich sicher 34 Simmel, Soziologie der Sinne, S. 280ff.
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vor den Tricks und Täuschungsmanövern der unbekannten und undurchschaubaren Anderen, aber auch vor mir selbst, vor einer unbedachten Entscheidung, vor einer spontanen Handlung, die ich später womöglich – wer weiß, wie lange – vielleicht für den Rest meines Lebens bedauere. Das gilt für den Erwerb eines Autos, eines Rasenmähers, eines Home-Entertainment-Centers, eines Laptops oder eines Urlaubs; warum sollte es nicht auch für den Erwerb eines Partners gelten? Und nicht zuletzt: In unserer Welt, in der eine verführerische Neuheit mit atemberaubender Geschwindigkeit die andere jagt, in einer Welt unablässiger Neuanfänge, wirkt eine Reise voller Hoffnungen viel sicherer und attraktiver als die Aussicht, anzukommen: Das Vergnügen besteht in der Genugtuung des Einkaufens, während die Anschaffung selbst und die Vorstellung, mit möglicherweise unangenehmen und peinlichen Folgen und Nebenwirkungen belastet zu werden, mit hoher Wahrscheinlichkeit Frustration, Kummer und Bedauern mit sich bringt. Und da Internetshops rund um die Uhr geöffnet sind, kann man die Zeit der Genugtuung, die von jeglicher Sorge über zukünftige Frustrationen unbelastet ist, beliebig lange ausdehnen. Eine Shoppingeskapade muss kein lange im Voraus geplanter Ausflug mehr sein – man kann sie in eine Vielzahl aufregender Glücksmomente aufteilen, die großzügig auf alle anderen Lebensbereiche verstreut werden und noch die dunkelsten und langweiligsten Flecken in leuchtende Farben tauchen. Der Haken ist natürlich, dass die Suche nach einem Partner nicht gut in das Einkaufsschema passt; und die Suche nach einem Lebensgefährten, einem Partner fürs Leben, noch viel weniger. Die Hilfe, die das Internet im immerwährenden Präventivkrieg gegen die Risiken und Ängste anbieten kann, von denen das Leben der Wählenden in einer Gesellschaft der Wählenden randvoll ist, wird stets eine begrenzte sein, die »bis zu einem gewissen Grad« gilt. Für die Dauer der Suche mag sie die Ängste des Suchenden ein wenig beschwichtigen, doch reicht sie nicht über den Augenblick der Erfüllung hinaus, zu dem die Entdeckungsreise hoffentlich und erwartungsgemäß führt und von dem sie ihre Attraktivität und ihr Motiv abzuleiten scheint. Letztlich beruht der Subjektivitätsfetischismus, von dem die Gesellschaft von Konsumenten heimgesucht wird, ebenso auf einer 29
Illusion wie der Warenfetischismus, der die Gesellschaft von Produzenten heimsuchte. Die produktive Kraft der Produzenten konnte man nicht von den Produzenten selbst trennen, deren unveräußerliche Kraft sie war; ein unsichtbarer, aber schwerwiegender und unvermeidlicher Preis der Transaktion des Kaufens und Verkaufens von Arbeit war daher ein komplexes, vielschichtiges und vor allem gegenseitiges Band, das Käufer und Verkäufer für die Dauer des Produktionsprozesses, für den die erworbene Arbeitskraft eingesetzt werden sollte, aneinanderfesselte. Durch dieses Band stand von vornherein fest, dass es zu einer langen, vielleicht endlosen Kette von Interessenkonflikten, schwelenden Antagonismen oder offenen Feindseligkeiten, täglichen Scharmützeln und langwierigen Kämpfen um Anerkennung kommen musste. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Erwerb von »freudespendender Kraft«: so detailliert und ehrlich sie auf der Website einer Partnervermittlung auch aufgeführt sein mögen, die wunderbaren, Freude bereitenden Eigenschaften, die Internetsurfer in ihren Wunschpartnern suchen und von denen sie sich bei ihren Entscheidungen leiten lassen, sind untrennbar mit den Personen verbunden, deren Eigenschaften sie sind, genau wie die Arbeitskraft fest an die Produzenten geknüpft war, die über sie verfügten. Im Gegensatz zu der aus einer bestimmten Anzahl ausgewählter Attribute elektronisch zusammengestückelten Fiktion hat die reale Person nicht nur ein Ohr zum Hören, sondern auch einen Mund zum Sprechen und ist nicht nur gewillt, die eigenen Augen dem Blick des Wunschpartners auszusetzen, sondern erwartet auch von ihm, dass er in ihre Augen blickt, sie hat nicht nur die Fähigkeit, Gefühle auszulösen, sondern auch Gefühle, die darauf warten, ausgelöst zu werden, sowie eine komplette eigene Biographie einschließlich eines durch diese Biographie geprägten Charakters, entsprechender Erwartungshaltungen und einer Vorstellung vom Glück: nichts, was auch nur im Entferntesten an das passive, gefügige, gehorsame und manipulierbare cartesianische »Objekt« erinnert. Der Fluch, sich wechselseitig aucthor zu sein (jene »unreine« Zusammensetzung aus den englischen Wörtern actor, also Handelnder/Schauspieler, und author, also Autor, die aller Wahrscheinlichkeit nach nie »bereinigt« werden kann, aufgrund der nicht reduzierbaren auktorialen Macht aller Handelnden und der wei30
testgehenden Unmöglichkeit der »reinen Wiederholung« vorgegebener Schritte), bringt ans Tageslicht, dass »reine Subjektivität« eine Illusion ist. Noch so viele Vorsichtsmaßnahmen können an dieser Tatsache nichts ändern oder die Beziehung von diesem Fluch »reinigen«: Sie wird immer über alle eifrigen und einfallsreichen Versuche erhaben sein, das zu ändern, so lange sie auch andauern mögen. Der Ausdehnung der »Souveränität des Konsumenten« sind Grenzen gesetzt, unüberwindbare Grenzen, und diese Grenzen gehen aus jeder menschlichen Begegnung gefestigt hervor, trotz (oder wegen) aller Versuche, sie zu verschieben. Subjektivitätsfetischismus basiert wie sein Vorgänger, der Warenfetischismus, auf einer Lüge, und zwar im Wesentlichen aus dem gleichen Grund, auch wenn die Vertuschungsstrategien beider Varianten des Fetischismus auf entgegengesetzte Seiten der Subjekt-Objekt-Dialektik ausgerichtet sind, die der menschlichen Existenz innewohnen. Beide Varianten des Fetischismus stolpern und fallen über das gleiche Hindernis: die Hartnäckigkeit des menschlichen Subjekts, das tapfer allen Versuchen seiner Objektivierung standhält. In der Konsumgesellschaft wird die Subjekt-Objekt-Dualität in der Regel unter der Dualität von Konsument und Ware subsumiert. In zwischenmenschlichen Beziehungen wird die Souveränität des Subjekts somit als Souveränität des Konsumenten interpretiert und dargestellt, während der Widerstand des Objekts – der sich aus seiner unvollständig unterdrückten Souveränität ableitet, wie rudimentär diese auch sein mag – der Wahrnehmung als die Unzulänglichkeit, Unangemessenheit und Fehlerhaftigkeit eines falsch ausgewählten Produkts präsentiert wird. Für diese Art von Unannehmlichkeit hat der marktgesteuerte Konsumismus ein Rezept parat: Man tausche die fehlerhafte oder auch nur unvollkommene, nicht vollends befriedigende Ware gegen eine neue und bessere aus. Dieses Rezept hat die Tendenz, zu einer Strategie zu werden, zu der erfahrene Konsumenten automatisch und geradezu reflexhaft Zuflucht nehmen, aus erlernter und verinnerlichter Angewohnheit heraus. Schließlich ist die Notwendigkeit, »veraltete«, nicht vollkommen zufriedenstellende und/oder nicht mehr erwünschte Konsumobjekte zu ersetzen, in Konsumgütermärkten Teil des Pro31
duktdesigns und der Werbekampagnen, die auf die kontinuierliche Steigerung des Absatzes abzielen. Dass der praktische Gebrauch und die erklärte Nützlichkeit eines Produkts eine kurze Lebenserwartung hat, ist in der Marketingstrategie und der Gewinnerwartung bereits einkalkuliert: Es ist von vornherein so vorgesehen und wird den Konsumenten in der Praxis verordnet und eingeredet durch die Apotheose neuer Angebote (von heute) und die Verunglimpfung der alten (von gestern). Die wichtigste Form des Umgangs mit der Unzufriedenheit ist im Konsumzeitalter die Beseitigung der Objekte, die Gefühle der Unzufriedenheit auslösen. Langlebigkeit wird in der Konsumgesellschaft abgewertet, »alt« wird gleichgesetzt mit »veraltet«, nicht mehr zu gebrauchen und für die Müllhalde bestimmt. Die rasche Deklarierung als Abfall und die Verkürzung der Zeitspanne zwischen dem Aufkeimen und dem Vergehen von Bedürfnissen hält den Subjektivitätsfetischismus am Leben und sorgt dafür, dass er trotz der endlosen Serie von Enttäuschungen, die er hervorbringt, seine Glaubwürdigkeit nicht verliert. Die Konsumgesellschaft wäre undenkbar ohne eine blühende Abfallbeseitigungsindustrie. Dass Konsumenten den Objekten, die sie mit der Absicht erwerben, sie zu konsumieren, Treue schwören, ist nicht vorgesehen. Das immer häufiger zu beobachtende Muster der »reinen Beziehung«,35 das Anthony Giddens aufgedeckt und beschrieben hat, kann man als eine Übertragung dieser Gesetzmäßigkeit des Warenmarktes auf den Bereich zwischenmenschlicher Bindungen interpretieren. Die Praxis der »reinen Beziehung«, die in der populären Kultur und ihrer Darstellung in den Massenmedien vielfach festgestellt und teilweise idealisiert wird, kann man sich als ein Abbild der angenommenen oder postulierten Souveränität des Konsumenten vorstellen. Der Unterschied zwischen einer Partnerbeziehung und dem Erwerb gewöhnlicher Konsumgüter, ein gravierender Unterschied, der auf der Notwendigkeit der beiderseitigen Einwilligung beruht, deren es bedarf, um eine Beziehung zu initiieren, wird minimiert (wenn nicht sogar völlig irrelevant gemacht) durch den Zusatz, dass die Entscheidung eines Partners genügt, um sie zu beenden. Es ist diese Klausel, welche die Gemein35 Giddens, Wandel der Intimität, S. 69.
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samkeiten offenbart, die größer sind als die Unterschiede: Im Modell der »reinen Beziehung«, genau wie auf Konsumgütermärkten, können Partner so miteinander umgehen, wie sie auch mit Konsumobjekten umzugehen pflegen. Wird die Erlaubnis (und die Vorgabe), ein Konsumobjekt zurückzuweisen und zu ersetzen, sobald es nicht mehr völlige Zufriedenheit gewährleistet, erst auf Paarbeziehungen übertragen, dann wird Partnern der Status von Konsumobjekten zugewiesen. Paradoxerweise wird ihnen gerade deshalb dieser Status zugewiesen, weil sie darum kämpfen, die Vorrechte des souveränen Konsumenten zu erlangen und zu monopolisieren … Selbstverständlich ist eine »reine Beziehung«, in deren Mittelpunkt der Nutzen und die Befriedigung stehen, das genaue Gegenteil von Freundschaft, Hingabe, Solidarität und Liebe – all jenen »Ich-du«Beziehungen, denen die Rolle des Kitts im Gefüge des menschlichen Zusammenseins zugedacht ist. Diese »Reinheit« beruht letztlich auf dem Fehlen ethisch aufgeladener Ingredienzen. Die Attraktivität einer »reinen Beziehung« liegt (um Ivan Klíma zu zitieren) in der Delegitimierung von Fragen wie: »Wo ist die Grenze zwischen dem Recht auf persönliches Glück und eine neue Liebe auf der einen Seite und rücksichtslosem Egoismus, der die Familie zerstören und möglicherweise den Kindern Schaden zufügen könnte, auf der anderen?«36 Letzten Endes liegt diese Attraktivität darin, dass das Knüpfen und Lösen zwischenmenschlicher Bindungen zu »adiaphorischen« (indifferenten, neutralen) Akten erklärt wird, sodass die Akteure der Verantwortung füreinander enthoben werden: jener bedingungslosen Verantwortung, welche die Liebe, in guten wie in schlechten Zeiten, aufzubauen und zu erhalten verspricht und sich bemüht. »Der Aufbau einer guten und tragfähigen Beziehung erfordert«, in krassem Gegensatz zur Suche nach Vergnügen durch Konsumobjekte, »enorme Anstrengungen«37 – eine Tatsache, die von der »reinen Beziehung« nachdrücklich geleugnet wird, im Namen einiger anderer Werte, unter denen die grundlegende ethische Verantwortung für den Anderen nicht auftaucht. Klíma zufolge muss jedoch die Liebe, in krassem Gegensatz zum bloßen Bedürfnis nach Befriedigung, verglichen werden mit der »Schaffung 36 Klíma, Between Security and Insecurity, S. 60. 37 Ebenda, S. 61.
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eines Kunstwerks […] Auch das erfordert Vorstellungskraft, absolute Konzentration, die Kombination aller Aspekte der menschlichen Persönlichkeit, die Selbstaufopferung des Künstlers und absolute Freiheit. Vor allem jedoch erfordert Liebe, genau wie der künstlerische Schaffensakt, Aktivität, und zwar nicht routinemäßiges Handeln und Verhalten, sowie den ständigen Blick für das intrinsische Wesen des Partners, den Versuch, seine oder ihre Individualität zu erfassen, und Respekt. Nicht zuletzt erfordert sie Toleranz, das Bewusstsein, dass man nicht die eigenen Ansichten oder Ideale auf seinen Gefährten übertragen oder dem Glück des Anderen im Wege stehen darf.«38 Die Liebe, so könnte man sagen, enthält sich dem Versprechen, einen leichten Weg zum Glück und zur Erfüllung zu bieten. Eine »reine«, von der Praxis des Konsumismus inspirierte Beziehung verspricht einen leichten und sorgenfreien Weg dorthin und macht zugleich Glück und Sinn zu Geiseln des Schicksals – einem Lottogewinn ähnlicher als einem von hingebungsvollem Bemühen geprägtem Schaffensakt. Während ich dies schreibe, ist eine bemerkenswerte Betrachtung der vielen Gesichter des Konsumismus erschienen, herausgegeben von John Brewer und Frank Trentmann. In der Einleitung ziehen die beiden Wissenschaftler aus ihrem umfassenden Überblick über die verschiedenen Zugänge zu diesem Phänomen folgenden Schluss: »Am Beginn dieses Kapitels stand der Hinweis auf den beeindruckenden Reichtum und die Vielfalt des modernen Konsums und auf die Schwierigkeit, eine solche Bandbreite mit einem einzigen Interpretationsansatz gerecht zu werden […]. Kein einzelnes Narrativ über den Konsum, keine einzelne Typologie der Konsumenten und keine monolithische Version der Konsumkultur ist dafür adäquat.« Und sie raten allen, die mit der entmutigenden Aufgabe ringen, eine solche kohärente Beschreibung der Konsumenten und ihrer Lebensstrategien zu formulieren, »zu erkennen, dass Märkte notwendigerweise in eine komplexe politische und kulturelle Matrix eingebettet sind, die Konsumhandlungen ihren spezifischen Widerhall und ihre Bedeutung verleihen. Nur so können wir dem modernen Konsum in seiner ganzen Macht und Fülle gerecht werden.«39 38 Ebenda, S. 62. 39 Brewer/Trentmann, Consuming Cultures, S. 13.
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Dem kann man nur zustimmen. Das vorliegende Buch ist ein weiterer Beleg für ihre These: eine weitere Ergänzung der zahllosen Erkenntnisperspektiven, aus denen das Phänomen des modernen Konsums bislang untersucht worden ist. Ein Versuch, der nicht weniger voreingenommen ist (aber hoffentlich auch nicht voreingenommener) als jene, die er eher ergänzen soll, als korrigieren oder gar ersetzen. In diesem Buch möchte ich drei »Idealtypen« vorschlagen, Idealtypen des Konsumismus, der Konsumgesellschaft und der Kultur des Konsumismus. Die methodologische Grundlage und erkenntnistheoretische Bedeutung von Idealtypen werden im nächsten Kapitel behandelt, aber ich möchte bereits an dieser Stelle betonen, dass »Idealtypen« keine Schnappschüsse oder Abbildungen der gesellschaftlichen Realität sind, sondern der Versuch, Modelle zu entwerfen, die ihre grundlegenden Elemente und deren Struktur abbilden, um die ansonsten chaotischen und verstreuten, durch Erfahrung gewonnenen Indizien verständlich zu machen. Idealtypen sind keine Beschreibungen der gesellschaftlichen Realität, sondern Werkzeuge, um diese zu analysieren und – hoffentlich – zu begreifen. Ihr Zweck besteht darin, das Bild der Gesellschaft, in der wir leben, dazu zu zwingen, »Sinn zu ergeben«; zu diesem Zweck postulieren sie in der empirischen gesellschaftlichen Welt bewusst mehr Homogenität, Stimmigkeit und Logik, als unsere tagtägliche Erfahrung uns zu sehen und zu begreifen ermöglicht. Sie wurzeln tief in alltäglichen menschlichen Erfahrungen und Gewohnheiten. Um jedoch diese Gewohnheiten, um Beweggründe und Motive besser in den Blick nehmen zu können, bedarf es eines gewissen Abstandes, aus dem das Feld in seiner Gesamtheit betrachtet werden kann, sodass Wissenschaftler einen umfassenderen und klareren Blick auf menschliche Gewohnheiten bekommen und, so steht zu hoffen, sich auch das Blickfeld der Handelnden selbst in Bezug auf die Beweggründe und Motive ihrer Handlungen erweitert. Mir ist vollkommen bewusst, wie »chaotisch« (komplex, vielschichtig, heterogen) die Realität ist, die unsere gemeinsame Erfahrung uns zugänglich macht. Aber mir ist ebenso bewusst, dass »sinnhaft adäquate«40 Modelle, wie Max Weber sagen würde, unentbehrlich sind 40 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 5.
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für jegliches Verstehen, ja für das bloße Bewusstsein von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Verbindungen und Diskontinuitäten, die sich hinter der verwirrenden Vielfalt der Erfahrungen verbergen. Die hier vorgeschlagenen Idealtypen sind als Werkzeuge gedacht, mit denen man »denken« beziehungsweise »sehen« kann. Aus dem gleichen Grund schlage ich einige Begriffe vor, die, wie ich hoffe, einen Beitrag leisten, neue oder neu entstehende Phänomene und Prozesse zu begreifen, die durch die alten Begriffsnetze hindurchschlüpfen – wie zum Beispiel »pointillistische Zeit«, »Kommodifizierung von Konsumenten« oder »Subjektivitätsfetischismus«. Und schließlich versuche ich, die Auswirkungen von konsumistischen Interaktions- und Bewertungsmustern auf verschiedene, auf den ersten Blick nicht miteinander in Beziehung stehende Aspekte des gesellschaftlichen Umfelds festzuhalten, wie Politik und Demokratie, gesellschaftliche Schichtung und soziale Schranken, Gemeinschaften und Partnerschaften, Identitätsbildung, die Produktion und Anwendung von Wissen oder Werthierarchien. Die Invasion, Eroberung und Kolonisierung des Netzes zwischenmenschlicher Beziehungen durch Weltanschauungen und Verhaltensmuster, die von Konsumgütermärkten inspiriert und nach ihren Maßstäben geformt sind, die Quellen von Unmut, Dissens und gelegentlichem Widerstand gegen diese Besatzungsmächte sowie die Frage (so es sie gibt) nach unüberwindbaren Grenzen der Herrschaft der Besatzer, das sind die zentralen Themen dieses Buches. Die gesellschaftlichen Formen und die Kultur des Lebens in der Gegenwart werden erneut durchleuchtet und im Licht dieser Themen neu interpretiert. Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist zwangsläufig eine Geschichte ohne eindeutiges Ergebnis – ja, mit offenem Ende –, wie jeder Bericht von einem noch andauernden Gefecht.
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1 Konsumismus kontra Konsum
Konsumieren, so scheint es, ist eine banale, ja triviale Angelegenheit. Wir tun es alle täglich, und gelegentlich zelebrieren wir es, wenn wir eine Party geben, ein bedeutendes Ereignis feiern oder uns für eine besonders beeindruckende Leistung belohnen – aber meist tun wir es ganz nüchtern, routinemäßig, könnte man sagen, ohne groß vorauszuplanen oder lange darüber nachzudenken. Wenn man ihn auf seine archetypische Form des Stoffwechselkreislaufs von Nahrungsaufnahme, Verdauung und Ausscheidung reduziert, dann ist Konsum ein permanenter Bestandteil und eine unabdingbare Voraussetzung des Lebens, die zeit- und geschichtslos ist; etwas untrennbar mit dem biologischen Überleben Verbundenes, das wir als Menschen mit allen anderen Lebewesen teilen. So betrachtet hat das Phänomen des Konsums Wurzeln, die so weit zurückreichen wie das Leben auf der Erde selbst, und es ist zweifellos ein bleibender, wesentlicher Bestandteil jeder Lebensform, die wir aus historischen Erzählungen und ethnographischen Aufzeichnungen kennen. Plus ça change, plus c’est la même chose, so scheint es. Jede Form des Konsums, die für eine bestimmte Epoche der Menschheitsgeschichte typisch war, lässt sich ohne große Schwierigkeiten als eine leicht veränderte Version früherer Gewohnheiten beschreiben. Kontinuität scheint auf diesem Gebiet die Regel zu sein; Brüche, Diskontinuitäten, radikale Veränderungen – von revolutionären Wendepunkten ganz zu schweigen – kann man als rein quantitative, nicht qualitative Veränderungen abtun (und oft geschieht das auch). Doch auch wenn die Tätigkeit des Konsumierens als solche wenig Spielraum für Einfallsreichtum und Handlungsoptionen lässt, so gilt dies keineswegs für die Rolle, die der Konsum bei früheren Veränderungen und der gegenwärtigen Dynamik des menschlichen In-der-Welt-Seins gespielt hat und weiterhin spielt, und ganz besonders nicht für seinen Rang unter den Faktoren, die den Stil und die Atmosphäre des gesellschaftlichen Lebens prägen, 37
sowie seine Rolle als Muster (eines von vielen oder das entscheidende) für zwischenmenschliche Beziehungen. In der gesamten Menschheitsgeschichte haben Konsumaktivitäten oder mit dem Konsum in Verbindung stehende Aktivitäten (die Produktion, Lagerung, Verteilung und Entsorgung von Konsumobjekten) ständig das »Rohmaterial« geliefert, aus dem die vielfältigen Lebensformen und zwischenmenschlichen Beziehungsmuster geformt werden konnten und tatsächlich geformt wurden, mit Hilfe des von der Vorstellungskraft beflügelten kulturellen Einfallsreichtums. Und vor allem: In dem Maße, in dem sich ein dehnbarer Raum zwischen dem Akt des Produzierens und dem des Konsumierens auftat, erlangten beide Akte eine zunehmende Autonomie und Unabhängigkeit voneinander – sodass sie von unabhängigen Gruppen von Institutionen reguliert, strukturiert und betrieben werden konnten. Seit der »neolithischen Revolution«, die der Lebensweise der von der Hand in den Mund lebenden Sammler ein Ende setzte und das Zeitalter der Überschüsse und der Vorratshaltung einläutete, könnte man die Geschichte als eine Abfolge erfinderischer Formen beschreiben, die die Kolonisierung und Verwaltung dieses Raumes angenommen hat. Laut einer These (und diese These wird hier aufgegriffen und im Lauf dieses Kapitels genauer ausgearbeitet) kam es Jahrtausende später zu einem äußerst folgenreichen Umbruch, den man mit guten Gründen als »konsumistische Revolution« bezeichnen könnte: Dies war der Zeitpunkt des Übergangs vom Konsum zum »Konsumismus«, als der Konsum, so Colin Campbell, für das Leben der meisten Menschen »besonders wichtig, wenn nicht sogar entscheidend« wurde, »der eigentliche Daseinszweck«1 und als »unsere Fähigkeit, zu ›wollen‹, zu ›begehren‹ und zu ›ersehnen‹, und vor allem die Fähigkeit, diese Emotionen immer wieder zu erleben, tatsächlich zur Grundlage der Wirtschaft«2 und des menschlichen Zusammenseins wurde.
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Campbell, I Shop Therefore I Know, S. 27. Ebenda, S. 28.
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Exkurs: Zur Methode der »Idealtypen« An dieser Stelle ist eine Warnung angebracht, um mögliche und auf jeden Fall unauflösbare Kontroversen vorwegzunehmen, die sich auf die Einzigartigkeit oder Allgemeingültigkeit beziehungsweise die Besonderheit oder Gewöhnlichkeit der hier analysierten Phänomene beziehen. Es steht außer Frage, dass nichts oder fast nichts in der Menschheitsgeschichte absolut neu ist, in dem Sinne, dass es ohne Vorläufer in der Vergangenheit ist; Kausalketten können immer unendlich weit in die Vergangenheit zurückverfolgt werden. Ebenso außer Frage steht jedoch, dass in verschiedenen Lebensformen selbst diejenigen Phänomene, die nachweislich omnipräsent sind, eine andere Konfiguration eingehen – und es ist die Besonderheit der Konfiguration und weniger die Spezifität der Bestandteile, die »den Unterschied ausmacht«. Das hier vorgeschlagene Modell des »Konsumismus«, ebenso wie die Modelle der »Konsumgesellschaft« und der »Konsumkultur«, sind das, was Max Weber »Idealtypen« nannte: Abstraktionen, die die Einzigartigkeit einer Konfiguration, die wiederum aus keineswegs einzigartigen Bestandteilen zusammengesetzt ist, zu erfassen suchen und die Muster, die jene Figuration definieren, von der Vielzahl der Aspekte abheben, die die betreffende Konfiguration mit anderen teilt. Die meisten, wenn nicht alle Begriffe, die regelmäßig in den Sozialwissenschaften verwendet werden – wie »Kapitalismus«, »Feudalismus«, »freier Markt«, »Demokratie«, ja sogar »Gesellschaft«, »Gemeinschaft«, »Ort«, »Organisation« oder »Familie« –, haben den Status von Idealtypen. Max Weber hat darauf hingewiesen, dass »Idealtypen« (wenn sie richtig konstruiert werden) nützliche, ja unverzichtbare kognitive Werkzeuge sind, auch wenn (oder vielleicht weil) sie bewusst ein Schlaglicht auf bestimmte Aspekte einer beschriebenen gesellschaftlichen Realität werfen und andere Aspekte im Schatten belassen, die für die essenziellen, notwendigen Eigenschaften einer bestimmten Lebensform als weniger oder nur zufällig von Bedeutung erachtet werden. »Idealtypen« sind keine Beschreibungen der Realität: Sie sind Werkzeuge, die dazu dienen, die Realität zu analysieren. Sie erleichtern das Denken oder, so könnte man paradoxerweise argumentieren, sie ermöglichen trotz ihrer Abstraktheit die Beschreibung der empirischen gesellschaftlichen Realität, wie sie für unsere Erfahrung zugänglich ist. 39
Für jeden Versuch, Gedanken verständlich zu machen und ein kohärentes Bild aus dem entsetzlichen Durcheinander menschlicher Erfahrung zu gewinnen, sind diese Werkzeuge unverzichtbar. Erinnern wir uns an die elegante und überzeugende Argumentation, mit der Max Weber ihre Konstruktion und ihre Anwendung gerechtfertigt hat, eine Argumentation, die nichts von ihrer Aktualität und ihrer Relevanz für die soziologische Praxis eingebüßt hat: »In a l l e n Fällen, […] e n tf e r n t […] sich [die Soziologie] von der Wirklichkeit und dient der Erkenntnis dieser in der Form: daß durch Angabe des Maßes der An n ä h e r u n g einer historischen Erscheinung an einen oder mehrere dieser Begriffe diese eingeordnet werden kann. Die gleiche historische Erscheinung kann z.B. in einem ihrer Bestandteile ›feudal‹, im anderen ›patrimonial‹, in noch anderen ›bureaukratisch‹, in wieder anderen ›charismatisch‹ geartet sein. Damit mit diesen Worten etwas E i n d e u t i g e s gemeint sei, muß die Soziologie ihrerseits ›reine‹ (›Id e a l ‹-)Typen von Gebilden jener Art entwerfen, welche je in sich die konsequente Einheit möglichst vollständiger S in n adäquanz zeigen, eben deshalb aber in dieser absolut idealen re in e n Form vielleicht ebensowenig je in der Realität auftreten, wie eine physikalische Reaktion, die unter Voraussetzung eines absolut leeren Raums errechnet ist.«3 Solange wir Webers Worte im Hinterkopf behalten, können wir weiterhin gefahrlos (wenn auch mit Bedacht) auf »reine Konstrukte« zurückgreifen, wenn wir darum ringen, die zugegebenermaßen »unreine« Realität verständlich zu machen und sie zu verstehen, während wir gleichzeitig die Fallstricke vermeiden, die die Unvorsichtigen erwarten, die dazu neigen, »reine Idealtypen« mit »realen Phänomenen« zu verwechseln. Wir können also weiter daran arbeiten, die Modelle des Konsumismus, der Konsumgesellschaft und der Konsumkultur zu konstruieren – nach Ansicht des Autors genau die passenden Werkzeuge, mit deren Hilfe man einen entscheidenden Aspekt der Gesellschaft verstehen kann, in der wir heute leben, und damit auch geeignet, um ein kohärentes Bild unserer gemeinsamen Erfahrungen in dieser Gesellschaft zu konstruieren. * * * 3
Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 10. (Hervorhebungen im Orig.)
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Der »Konsumismus«, so könnte man sagen, ist eine Art gesellschaftliches Arrangement, das daraus resultiert, dass alltägliche, ständig vorhandene und gewissermaßen »systemneutrale« menschliche Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte zur entscheidenden Antriebs- und Triebkraft der Gesellschaft recycelt werden, zu einer Kraft, die die Reproduktion des Systems, die gesellschaftliche Integration, die Ausbildung sozialer Schichten und die Entwicklung menschlicher Individuen koordiniert und darüber hinaus eine wichtige Rolle im Prozess der Ausbildung der Identität von Einzelnen oder von Gruppen sowie in der Auswahl und Umsetzung individueller Lebensstrategien spielt. Die Ära des »Konsumismus« bricht an, wenn der Konsum jene Rolle als Dreh- und Angelpunkt übernimmt, die in der Gesellschaft von Produzenten die Arbeit spielte. Wie Mary Douglas betont: »Solange wir nicht wissen, warum Menschen Luxusgüter [das heißt, Güter, die über das Lebensnotwendige hinausgehen] brauchen und wie sie sie verwenden, sind wir weit davon entfernt, das Problem der Ungleichheit ernst zu nehmen.«4 Im Gegensatz zum Konsum, der in erster Linie ein Merkmal und eine Beschäftigung von einzelnen Menschen ist, ist Konsumismus ein Attribut der Gesellschaft. Damit eine Gesellschaft sich dieses Attribut aneignet, muss die vollkommen individuelle Fähigkeit des Wollens, Wünschens und Sehnens – genau wie die Arbeitskraft in der Gesellschaft von Produzenten – von den Einzelnen losgelöst (»entfremdet«) und zu einer externen Kraft recycelt/verdinglicht werden. Diese Kraft bringt dann die »Gesellschaft von Konsumenten« als eine spezifische Form des menschlichen Zusammenlebens zum Laufen und hält sie auf Kurs, während sie gleichzeitig spezifische Parameter für effektive individuelle Lebensstrategien festlegt und auf andere Weise die Wahrscheinlichkeit bestimmter individueller Entscheidungen und Verhaltensweisen manipuliert. Doch all das sagt noch wenig über den Inhalt der »konsumistischen Revolution« aus. Die Frage, die einer näheren Untersuchung bedarf, ist, was wir »wollen«, »wünschen« und »ersehnen« und wie sich der Kern unseres Wollens, Wünschens und Sehnens im Verlauf und als Folge des Übergangs zum Konsumismus verändert. 4
Douglas, In the Active Voice, S. 24.
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Es wird gemeinhin (wenn auch, wie sich zeigen lässt, fälschlicherweise) angenommen, dass das, was Männer und Frauen, die in die konsumistische Daseinsform hineingeworfen worden sind, sich vor allem wünschen und ersehnen, die Aneignung, der Besitz und die Anhäufung von Objekten ist, die wertgeschätzt werden, weil man erwartet, dass sie ihren Besitzern Komfort und/oder Ansehen verschaffen. Dass die Aneignung und der Besitz von Gütern, die Komfort und Ansehen sichern (oder zumindest zu sichern versprechen), das Hauptmotiv für die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen war, mag in der Gesellschaft von Produzenten tatsächlich der Fall gewesen sein, einer Gesellschaftsform, die dem Ziel einer stabilen Sicherheit und sicheren Stabilität verpflichtet war, und die sich zur Gewährleistung ihres langfristigen Fortbestands auf individuelle Handlungsmuster verließ, die jenen Motiven entsprechend konzipiert waren. Tatsächlich war die Gesellschaft von Produzenten, dem wichtigsten Gesellschaftsmodell in der »festen« Phase der Moderne, in erster Linie sicherheitsorientiert. Zum Erlangen dieser Sicherheit setzte sie auf die menschliche Sehnsucht nach einem verlässlichen, vertrauenerweckenden, geordneten, geregelten, transparenten und damit haltbaren, die Zeit überdauernden und sicheren Umfeld. Eine solche Sehnsucht war in der Tat ein hervorragend geeignetes Rohmaterial, aus dem die Art von Lebensstrategien und Verhaltensmustern abgeleitet werden konnten, die unerlässlich waren, um der Ära des »Höher, schneller, weiter« und »Big is beautiful« gerecht zu werden: einer Ära der Massenfabriken und Massenarmeen, der verbindlichen Regeln und der Regelkonformität und der bürokratischen und panoptischen Herrschaftsstrategien, die in ihrem Bemühen, Disziplin und Unterordnung zu erreichen, darauf setzte, individuelles Verhalten nach bestimmten Mustern und Routinen zu formen. In jener Ära galten große Mengen an raumgreifenden, schweren und unbeweglichen Besitztümern als Anzeichen einer gesicherten Zukunft, einer Zukunft, die den Bedarf an persönlichem Komfort, an Macht und Status auf Dauer zu decken versprach. Sperrige Besitztümer implizierten oder deuteten auf eine fest verankerte, verlässlich geschützte und sichere Existenz hin, die gegen zukünftige Kapriolen des Schicksals immun war; man konnte sich darauf verlassen und verließ sich tatsächlich darauf, dass sie das Leben ihrer Besitzer gegen die 42
ansonsten unkontrollierbaren Unwägbarkeiten des Schicksals absicherten. Da ihr wichtigster Zweck und Wert darin bestand, langfristige Sicherheit zu bieten, waren erworbene Güter nicht dazu bestimmt, sofort konsumiert zu werden; im Gegenteil: Sie sollten vor Schaden und Zersetzung bewahrt werden und intakt bleiben. Wie die gewaltigen Mauern einer befestigten Stadt, welche die Bewohner vor den unvorhersehbaren und unaussprechlichen Gefahren schützen sollten, die, wie man vermutete, in der Wildnis draußen lauerten, musste man sie vor Verschleißerscheinungen und einem vorzeitigen Ende ihrer Verwendbarkeit bewahren. Im Zeitalter der festen Moderne, in der Gesellschaft von Produzenten, erschien es in der Tat so, dass Befriedigung primär im Versprechen langfristiger Sicherheit lag, nicht in der unmittelbaren Freude am Genuss. Jene andere Form der Genugtuung, würde man ihr frönen, hätte einen bitteren Nachgeschmack von Leichtsinn oder gar Sünde hinterlassen. Der Zeitpunkt, da man das Potential von Konsumgütern, Komfort und Sicherheit zu bieten, vollständig oder teilweise aufbrauchte, musste praktisch unendlich lange hinausgezögert werden, für den Fall, dass sie den wichtigsten Zweck nicht erfüllen sollten, den ihnen der Besitzer zugedacht hatte, als er sie mühsam zusammentrug, anhäufte und in dem Zustand aufbewahrte, in dem sie bleiben sollten – nämlich den Zweck, so lange dienstbereit zu bleiben, wie die Möglichkeit bestand, dass sie gebraucht werden könnten (also im Grunde »bis dass der Tod uns scheidet«). Nur haltbare, die Zeit überdauernde und gegen sie immune Besitztümer konnten das ersehnte Maß an Sicherheit bieten. Nur solche Besitztümer hatten eine inhärente Neigung, oder zumindest eine Chance, im Volumen größer zu werden statt kleiner, und nur sie versprachen, die Aussicht auf eine sichere Zukunft auf eine immer tragfähigere und verlässlichere Grundlage zu stellen, weil sie ihre Besitzer als vertrauens- und kreditwürdig auswiesen. Zu der Zeit, als Thorstein Veblen ihn Ende des 19. Jahrhunderts so anschaulich beschrieb, hatte »der demonstrative Konsum«5 eine völlig andere Bedeutung als heute: Er bezeichnete die öffentliche Zurschaustellung von Reichtum unter Betonung seiner Solidität und Dauerhaftigkeit, nicht die Demonstration der Leichtigkeit, mit der man sofort 5
Vgl. Veblen, Theorie der feinen Leute, bes. Kap. IV.
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und an Ort und Stelle Vergnügen aus erworbenen Reichtümern pressen kann, indem man sie unverzüglich aufbraucht, verdaut und bis zum letzten Tropfen genießt oder sie weggibt und zerstört wie bei einem Potlatch, dem »Fest des Schenkens«. Der Gewinn und Nutzen der Zurschaustellung stieg proportional zum Grad an Solidität, Dauerhaftigkeit und Unzerstörbarkeit, der sich in den zur Schau gestellten Waren offenbarte. Edelmetalle und Edelsteine, die beliebtesten Schauobjekte, waren gegen die zerstörerische Kraft der Zeit immun, sie würden nicht oxidieren und ihren Glanz einbüßen; dank dieser Qualitäten standen sie für Beständigkeit und dauerhafte Verlässlichkeit. Dasselbe galt für die gewaltigen Stahlsafes, in denen sie aufbewahrt wurden, wenn sie gerade nicht zur Schau gestellt wurden, wie auch für die Bergwerke, Bohrtürme, Fabriken und Eisenbahnlinien, die für einen nicht versiegenden Strom an phantasievollem Schmuck sorgten und sie gegen die Gefahr absicherten, verkauft oder verpfändet zu werden, oder die reichgeschmückten Paläste, in die die Besitzer der Edelsteine ihre signifikanten Anderen einluden, damit diese sie aus nächster Nähe – und voller Neid – bewundern konnten. Sie waren ebenso langlebig, wie man es sich vom ererbten oder erworbenen gesellschaftlichen Status, den sie repräsentierten, ersehnte und erhoffte. All das war in der Gesellschaft von Produzenten, in der festen Moderne, absolut sinnvoll – einer Gesellschaft, so möchte ich wiederholen, die auf Umsicht und langfristiges Planen, auf Dauerhaftigkeit und Sicherheit und vor allem auf dauerhafte, langfristige Sicherheit setzte. Aber die Sehnsucht des Menschen nach Sicherheit und seine Träume von einem endgültig »stabilen Gleichgewicht« sind ungeeignet, um von einer Gesellschaft von Konsumenten in Dienst genommen zu werden. Auf dem Weg zu einer Gesellschaft von Konsumenten muss sich die Sehnsucht des Menschen nach Stabilität von einem zentralen Aktivposten zu einem möglicherweise fatalen systemischen Nachteil, zu einer Ursache von Störungen und Fehlfunktionen verwandeln – und das tut sie auch. Es könnte kaum anders sein, assoziiert doch der Konsumismus, in krassem Kontrast zu vorangegangenen Lebensformen, das Glück weniger mit der Befriedigung von Bedürfnissen (wie die »offiziellen Handreichungen« nahelegen), als mit einer ständigen Zunahme und Intensivierung von Wünschen, was wiederum den sofortigen Ge44
brauch und die baldige Ersetzung der Objekte impliziert, von denen man sich ihre Erfüllung erwartet und erhofft. Er verbindet, wie Don Slater es treffend formuliert hat, die Unstillbarkeit der Wünsche mit dem Drang und der Notwendigkeit, »sich ihre Befriedigung immerzu von Waren zu erwarten«.6 Neue Bedürfnisse bedürfen neuer Waren, neue Waren bedürfen neuer Bedürfnisse und Wünsche. Der Anbruch des Zeitalters des Konsumismus verheißt eine Ära der »inhärenten Obsoleszenz« der auf dem Markt angebotenen Waren und bringt einen atemberaubenden Aufstieg der Abfallbeseitigungsindustrie mit sich. Die Unbeständigkeit der Wünsche und Unstillbarkeit der Bedürfnisse sowie die daraus resultierende Vorliebe für den sofortigen Konsum und die sofortige Entsorgung seiner Objekte passt sehr gut zur neuen Flüchtigkeit des Umfelds, in dem Lebenspläne eingeschrieben worden sind und in dem sie in absehbarer Zukunft umgesetzt werden müssen. Ein flüchtig-modernes Umfeld ist ein ungastlicher Ort für langfristiges Planen, Investieren und Aufbewahren; ja, es nimmt dem Hinauszögern der Bedürfnisbefriedigung seinen einstigen Sinn von Besonnenheit, Umsicht und, vor allem, Vernünftigkeit. Die meisten Wertgegenstände büßen ihren Glanz und ihre Anziehungskraft schnell ein, und wenn man zaudert, kann es gut sein, dass sie nur noch für den Müllplatz taugen, noch ehe man sie genossen hat. Und wenn der Grad an Mobilität sowie die Fähigkeit, eine flüchtige Chance im Vorbeigehen beim Schopf zu ergreifen, wichtige Faktoren für hohen Status und Ansehen werden, empfindet man sperrige Besitztümer eher als lästigen Ballast denn als wertvolle Last. Stephen Bertman hat zur Bezeichnung der Lebensweise in unserer Art von Gesellschaft die Begriffe nowist culture (»jetztige Kultur«) und hurried society7 (»gehetzte Gesellschaft«) geprägt, außerordentlich treffende Begriffe, die immer dann besonders wertvolle Dienste leisten, wenn wir das Wesen des flüchtig-modernen Phänomens des Konsumismus zu begreifen suchen. Wir können festhalten, dass der flüchtigmoderne Konsumismus vor allem deshalb bemerkenswert ist, weil er – und dies ist bislang einzigartig – die Bedeutung der Zeit erneut verhandelbar macht. 6 7
Vgl. Slater, Consumer Culture, S. 100. Bertman, Hyperculture, S. 59, 126.
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In der flüchtig-modernen Konsumgesellschaft ist die Zeit, so wie sie von ihren Mitgliedern gelebt wird, weder zyklisch noch linear, wie sie es für die Mitglieder aller anderen uns bekannten Gesellschaften war. Stattdessen ist sie, um die Metapher von Michel Maffesoli zu gebrauchen, eine pointillistische 8 oder, mit dem nahezu synonymen Begriff von Nicole Aubert, gebrochene Zeit,9 die ebenso sehr (wenn nicht stärker) von der Fülle vorhandener Brüche und Diskontinuitäten geprägt ist, von den Abständen, die aufeinanderfolgende Punkte trennen und die Verbindungen zwischen ihnen durchbrechen, wie vom spezifischen Gehalt der einzelnen Punkte. Charakteristisch für eine pointillistische Zeit sind eher ihre Inkonsistenz und der Mangel an Kohäsion, als Elemente der Kontinuität und Konsistenz. In einer solchen Zeit wird jede Kontinuität oder Kausallogik, mit denen sich aufeinanderfolgende Punkte verbinden lassen mögen, tendenziell erst ganz am Ende, im Rahmen der rückblickenden Suche nach Verständlichkeit und Ordnung vermutet oder hineininterpretiert, während es auffällig ist, dass sie bei den Motiven für die Bewegungen der Akteure zwischen den einzelnen Punkten fehlen. Pointillistische Zeit ist zersplittert, ja geradezu pulverisiert, zu einer Vielzahl von »ewigen Augenblicken« – Ereignissen, Zwischenfällen, Unfällen, Abenteuern, Episoden –, in sich abgeschlossenen Monaden, einzelnen Fragmenten, wobei jedes Fragment so stark reduziert ist, dass es sich immer mehr dem geometrischen Ideal der Nulldimensionalität annähert. Wie wir in der Schule in euklidischer Geometrie gehört haben, haben Punkte keinerlei Länge, Breite oder Höhe: Sie existieren, so möchte man sagen, vor Raum und Zeit; in einem aus Punkten bestehenden Universum haben Raum und Zeit noch nicht begonnen. Wir wissen aber auch, von Experten für Kosmologie, dass solche nicht räumlichen und nicht zeitlichen Punkte ein unendlich großes Potential und unendlich viele Möglichkeiten beinhalten können, die nur darauf warten, zu explodieren und sich auszudehnen; als Beleg kann (wenn man den Postulaten der modernen Kosmologie glauben will) jener entscheidende Punkt vor dem »Urknall« gelten, der zum Ursprung des Raum-Zeit-Universums wurde. Heutzutage, um das anschauliche 8 9
Maffesoli, L’instant éternel, S. 16. Aubert, Le culte de l’urgence, S. 187.
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Bild Maffesolis zu bemühen, »lässt sich die Vorstellung von Gott zusammenfassen als eine ewige Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft zugleich in sich beschließt. […] das Leben, individuell wie gesellschaftlich, ist nichts als eine Abfolge von Gegenwart, eine Verknüpfung von Augenblicken, die mehr oder weniger intensiv erlebt werden.«10 Jeder Zeit-Punkt trägt nunmehr den Keim eines potentiell weiteren »Urknalls« in sich, und das gilt auch für jeden nachfolgenden Punkt, unabhängig davon, was aus den vorangegangenen geworden ist, und trotz des ständig weiter anwachsenden Erfahrungsschatzes, aus dem hervorgeht, dass die meisten Chancen sich entweder als Enttäuschung herausstellen oder verpasst werden, während sich die meisten Punkte als unfruchtbar und die meisten Regungen als Totgeburten erweisen. Würde man eine Karte des pointillistischen Lebens zeichnen, so hätte sie eine geradezu unheimliche Ähnlichkeit mit einem Friedhof für imaginäre, eingebildete oder fahrlässig vernachlässigte und unerfüllt gebliebene Möglichkeiten. Oder sie würde, je nach Standpunkt, einem Friedhof verpasster Chancen gleichen: In einem pointillistischen Universum erleiden viele Hoffnungen einen frühen Tod durch Kindersterblichkeit, Abtreibung und Fehlgeburt. In einem pointillistischen Zeitmodell gibt es keinen Platz für die Vorstellung vom »Fortschritt« als einem ansonsten leeren Flussbett der Zeit, das langsam, aber stetig durch menschliche Anstrengung gefüllt wird; oder von menschlichen Anstrengungen, die zu einem immer eleganteren und höheren Bauwerk führen, das Stockwerk für Stockwerk vom Fundament zum Dach hinaufwächst, wobei jedes Stockwerk sicher auf dem zuvor errichteten ruht, bis zu jenem Augenblick, da der Firstbalken mit einem Blumenkranz geschmückt wird, um das Ende langer und emsiger Bemühungen zu markieren. An die Stelle dieses Bildes tritt der Glaube (um Franz Rosenzweig mit einer Aussage zu zitieren, die bei der Niederschrift Anfang der 1920er Jahre als ein Ruf zu den Waffen gedacht war, die jedoch eher wie eine Prophezeiung klingt, wenn man sie Anfang des 21. Jahrhunderts wieder liest), »dass das ›ideale Ziel‹ vielleicht schon im nächsten, ja in diesem Augenblick erreicht werden könnte und müßte«.11 Ähnlich lautet 10 Maffesoli, L’instant éternel, S. 56. 11 Rosenzweig, Stern der Erlösung, S. 180.
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Michael Löwys Lesart von Walter Benjamins Neuinterpretation der modernen Vision vom geschichtlichen Prozess: Die Vorstellung von der »Zeit der Notwendigkeit« ist ersetzt worden durch das Konzept der »Zeit der Möglichkeiten, einer vom Zufall bestimmten Zeit, die in jedem Augenblick für das unvorhersehbare Hereinbrechen des Neuen offen ist«; dies ist »eine Vorstellung von Geschichte als offener Prozess, der nicht vorherbestimmt ist und in dem in jedem Augenblick Überraschungen, unerwartete Glücksfälle und unvorhergesehene Gelegenheiten auftauchen können«.12 Jeder Augenblick, würde Benjamin sagen, hat sein revolutionäres Potential. Oder schließlich, nunmehr in Walter Benjamins eigenen Worten, in denen das Vokabular der alten hebräischen Propheten anklingt: »Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.«13 Mit dem unheimlichen Weitblick, der ihn auszeichnete, vermutete Siegfried Kracauer, dass die bevorstehende Transformation der Zeit jenem Modell folgen würde, das zuerst Marcel Proust in seiner monumentalen Untersuchung der vergangenen Zeit und der Art ihrer posthumen Existenz erkundet hatte. Kracauer erkannte, dass Proust die Bedeutung der Chronologie radikal in Frage gestellt hat. »Ihm zufolge, scheint es, ist Geschichte überhaupt kein Prozeß, sondern ein Sammelsurium kaleidoskopischer Veränderungen – etwas wie Wolken, die sich nach Belieben ballen und zerstreuen. […] Es gibt keinen Fluß der Zeit. Was allerdings besteht, ist eine diskontinuierliche, nicht kausale Abfolge von Situationen, oder Welten oder Zeiträumen, die wie bei Proust als Projektionen oder Gegenpole des jeweiligen Ichs zu denken sind, in das sein Sein – aber sind wir berechtigt, ein identisches Ich darunter anzunehmen? – sich nach und nach verwandelt. […] [ J]ede Situation [ist] eine Wesenheit mit eigenem Anspruch […], die nicht aus vorhergehenden abzuleiten ist.«14 Der Anschein eines »Telos«, eines Ziels, das entweder vorher ausgewählt oder vorbestimmt wurde, kann nur im Rückblick entstehen, lange nachdem die Abfolge von »Wesenheiten mit eigenem Anspruch« zu ihrem Ende gekommen ist. Es ist unmöglich herauszufinden, wel12 Löwy, Fire Alarm, S. 102, 105. 13 Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 704. 14 Kracauer, Geschichte, S. 151.
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che Logik, so es eine gibt, diese »Wesenheiten« in dieser Abfolge aufgereiht hat statt in einer ganz anderen. Was auch immer diese im Rückblick hineingelesene Logik sein mag, man sollte sie nicht als ein Produkt eines vorgefassten Plans/Projekts und als Ablauf einer zielgerichteten Handlung betrachten. Insofern ist der derzeit so beliebte Ausdruck »unerwartete Folge« eine Fehlbezeichnung, weil die Vorsilbe »un« suggeriert, dass das Phänomen eine Abnormität ist, eine Abweichung von der Norm; aber es ist die Norm, dass die Folgen von Handlungen unerwartet sind, und es entspricht eher dem Konzept der Ausnahme, des Unfalls oder der Anomalie, wenn sich die Intention und die Folgen einer Handlung überlappen. Im Falle Prousts betont Kracauer: »Gegen Ende des Romans entdeckt Marcel, der dann mit Proust eins wird, daß sein je unverbundenes früheres Ich im Grunde eine Phase oder Station auf dem Weg war, auf dem er sich fortbewegte, ohne je davon zu wissen. Erst jetzt im Nachhinein erkennt er, daß dieser Weg durch die Zeit ein Ziel hatte; daß er einzig dem Zweck diente, ihn auf seine Berufung als Künstler vorzubereiten.«15 Halten wir jedoch fest, dass die plötzliche Offenbarung (Geburt) eines Sinns, den die Abfolge vergangener Augenblicke in sich trug (den sie den Beteiligten allerdings nicht offenbarte, beziehungsweise den sie verheimlichte) selbst in einer »Situation« erfolgte, in einem weiteren »Augenblick« wie jenen anderen, vergangenen Augenblicken; allerdings ist dieser Augenblick, wie es scheint, im (verborgenen) Prozess des (unerwarteten und unbemerkten) »Reifens« weiter fortgeschritten und jenem Punkt, an dem explosionsartig die geheime Bedeutung von allem offenbar wird, näher als die Augenblicke, die ihm vorangingen. Halten wir weiterhin fest, dass es, einst wie jetzt, keine Vorwarnung gab, dass dieser Augenblick, im Unterschied zu den Augenblicken zuvor oder danach, der Moment der Wahrheit sein könnte, der Moment der Geburt (der Offenbarung) eines Sinns – es war unmöglich, ihn vorherzusagen, ehe er eintraf. Im gesamten, tausende von Seiten langen Roman von Proust wies nichts darauf hin, dass er eintreffen würde … Auf den pointillistischen Gemälden von Sisley, Signac oder Seurat und auf einigen Bildern von Pisarro oder Utrillo sind die Farbpunkte 15 Ebenda, S. 153.
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zu sinnvollen Einheiten arrangiert: Hat der Maler das Gemälde vollendet, kann der Betrachter die Bäume erkennen, die Wolken, den Rasen, die Sandstrände, die Badenden, die sich anschicken, in den Fluss einzutauchen. In der pointillistischen Zeit ist es die Aufgabe jedes einzelnen »Lebenspraktikers«, die Punkte zu sinnvollen Strukturen zu arrangieren. Anders als bei den Werken pointillistischer Maler erfolgt dies in der Regel in der Rückschau. Strukturen werden meist rückblickend entdeckt; selten werden sie im Voraus geplant, und wenn doch, so gehorchen die Pinsel, mit denen die Farbtupfer von geistigen Landkarten auf Leinwände übertragen werden, dem Auge und der Hand der »Lebenspraktiker« selten oder überhaupt nicht so, wie es bei den großen Praktikern der bildenden Künste der Fall war. Aus genau diesen Gründen ist das »jetztige« Leben in der Regel ein »gehetztes«. Die Gelegenheit, die einer der Punkte enthalten mag, stirbt mit ihm; für diese einzigartige Gelegenheit wird es keine »zweite Chance« geben. Jeder Punkt hätte als ein völliger und echter Neuanfang gelebt werden können, doch wenn es keinen schnellen und entschiedenen Ansporn gab, sofort zu handeln, dann wird der Vorhang unmittelbar nach Beginn des Aktes gefallen sein, ohne dass dazwischen viel passiert ist. Das Hinausschieben ist ein Serienmörder von Chancen. Die Klugheit legt nahe, dass jeder, der eine Chance blitzschnell ergreifen will, gar nicht schnell genug sein kann; jegliches Zögern ist wenig ratsam, denn die Strafe ist hart. Weil die Unwissenheit darüber, was was ist, sicherlich anhalten wird, bis man das Potential jedes einzelnen Moments genau ausgetestet hat, kann nur eine Hast, die alle Register zieht, die Überfülle an trügerischen Hoffnungen und Fehlstarts – vielleicht – ausgleichen. Da man davon ausgeht, dass weite Räume in der Zukunft existieren und die Chancen für Neuanfänge bieten, mit einer Vielzahl von Punkten, deren noch nicht getestetes »Urknall«-Potential nichts von seinem Geheimnis eingebüßt hat und daher (noch) nicht diskreditiert ist, kann man aus den Trümmern von vorzeitig beendeten, oder vielmehr todgeborenen Anfängen, stets neue Hoffnung schöpfen. Ja, es stimmt, dass im »jetztigen« Leben der Bewohner des konsumistischen Zeitalters der Grund für die Eile teilweise im Drang liegt, 50
zu erwerben und zu sammeln. Das drängendste Bedürfnis jedoch, das die Hast dringend geboten erscheinen lässt, ist die Notwendigkeit, wegzuwerfen und zu ersetzen. Wäre man mit schwerem Gepäck belastet, insbesondere mit der Art von schwerem Gepäck, das man aus sentimentaler Anhänglichkeit oder wegen eines unbedacht abgelegten Treueids ungern zurücklässt, würden sich die Erfolgschancen auf null reduzieren. Hinter jedem Werbespot, der eine neue und noch nicht erprobte Gelegenheit verspricht, Glückseligkeit zu erleben, verbirgt sich die latente Botschaft: »Vorbei ist vorbei.« Entweder es kommt jetzt zum »Urknall«, genau in diesem Augenblick und beim ersten Versuch, oder es macht keinen Sinn, an diesem bestimmten Punkt zu verweilen, und es ist höchste Zeit, ihn hinter sich zu lassen und zu einem anderen weiterzuziehen. Als Chance für einen »Urknall« verschwindet jeder Zeit-Punkt ebenso schnell, wie er gekommen ist. In der Gesellschaft von Produzenten hätte man nach einem Fehlstart oder einem gescheiterten Versuch sehr wahrscheinlich den Rat zu hören bekommen: »Streng dich noch mehr an, und versuch’s noch einmal mit mehr Geschicklichkeit und größerem Einsatz«; nicht so in der Gesellschaft von Konsumenten. Hier muss man Werkzeuge, die versagt haben, ausmustern, nicht schleifen und noch einmal anwenden, mit mehr Geschick, mehr Engagement, und deshalb hoffentlich größerem Erfolg. Wenn also die Ziele der Wünsche von gestern, auf die man in der Vergangenheit seine Hoffnung gesetzt hat, ihre Versprechen nicht halten und nicht die erhoffte vollständige und sofortige Befriedigung bringen, sollte man sich von ihnen verabschieden – ebenso wie von Beziehungen, die sich nicht als der erhoffte »Urknall« erwiesen haben. Besondere Eile ist geboten, wenn man von einem Augenblick (der missglückt ist, im Begriff ist zu missglücken oder von dem man den Verdacht hat, dass er missglückt) zum anderen (noch nicht getesteten) hastet. Man sollte sich vor der bitteren Lektion Fausts hüten, der just in jenem Augenblick, den er nicht loslassen und auf ewig festhalten wollte, eben weil es der vergnüglichste war, zu einer Ewigkeit in der Hölle verdammt wurde. In der »jetztigen« Kultur ist der Wunsch, die Zeit möge stehenbleiben, ein Anzeichen von Dummheit, Trägheit oder Ungeschicklichkeit. Und er ist ein Verbrechen, das bestraft werden muss.
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Das konsumistische Wirtschaftssystem lebt vom Warenumsatz; es boomt, wenn mehr Geld den Besitzer wechselt, und wann immer Geld den Besitzer wechselt, wandern einige Konsumgüter auf den Müll. Dementsprechend wird in einer Konsumgesellschaft das Streben nach Glück – das am häufigsten beschworene und als Köder verwendete Ziel von Werbekampagnen, die die Bereitschaft der Konsumenten erhöhen sollen, sich von ihrem Geld zu trennen (bereits verdientes Geld oder Geld, das sie zu verdienen erwarten) – neu ausgerichtet, weg von der Herstellung von Dingen oder ihrer Aneignung (ganz zu schweigen von ihrer Lagerung), hin zu ihrer Entsorgung – genau das, was nötig ist, wenn das Bruttosozialprodukt steigen soll. Für die konsumistische Wirtschaft steht die frühere Ausrichtung, die man mehr oder weniger aufgegeben hat, für ihre größte Sorge: die Stagnation, den Aufschub oder das Schwinden der Kauflust. Die zweite Ausrichtung dagegen bedeutet eher Gutes: Es folgt eine weitere Einkaufsrunde. Würde der Drang zum bloßen Erwerben und Besitzen nicht durch den Drang ergänzt, Dinge loszuwerden und wegzuwerfen, so würde er Probleme für die Zukunft schaffen. Die Konsumenten in der konsumistischen Gesellschaft müssen den seltsamen Gewohnheiten der Bewohner von Leonia folgen, einer von Italo Calvinos unsichtbaren Städten: »Mehr noch als an den Dingen, die jeden Tag fabriziert, verkauft und gekauft werden, bemißt sich Leonias Wohlstand an dem, was jeden Tag weggeworfen wird, um Platz für Neues zu machen. So sehr, daß man sich fragt, ob die wahre Leidenschaft von Leonia wirklich, wie es heißt, der Genuß neuer und anderer Dinge ist und nicht eher das Ausstoßen, das Von-sich-Entfernen, das Sich-Reinigen von einer wiederkehrenden Unreinheit.«16 Große Unternehmen, die auf den Verkauf »haltbarer Güter« spezialisiert sind, haben das erkannt und räumen ein, dass die eigentlich knappe und daher besonders heiß begehrte und geschätzte Dienstleistung die »Entsorgungsaufgabe« ist. Ihre Dringlichkeit steigt proportional zur Zunahme des Erwerbens und Besitzens. Firmen stellen ihren Kunden heutzutage selten die Lieferung in Rechnung, aber immer häufiger verlangen sie eine stolze Summe für die Entsorgung jener »haltbaren« Güter, die durch das Erscheinen von neuen, verbesserten 16 Calvino, Die unsichtbaren Städte, S. 121.
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»haltbaren« Gütern von einem Quell der Freude und des Stolzes zu einem Dorn im Auge und einem Stigma der Schande geworden sind. Dieses Stigma loszuwerden, ist nunmehr die Vorbedingung des Glücks; und Glück, dem würde niemand widersprechen, bekommt man nicht umsonst. Man denke nur an die Kosten für den Abtransport von Verpackungsmüll aus dem Vereinigten Königreich, dessen Volumen einem Bericht von Lucy Siegle zufolge bald die 1,5-Millionen-Tonnen-Marke erreichen wird.17 Diesem Beispiel folgen auf die skin trades spezialisierte große Unternehmen, also solche, die persönliche Dienstleistungen verkaufen, die sich auf den Körper der Kunden konzentrieren. Was sie besonders eifrig bewerben und mit dem größten finanziellen Gewinn verkaufen, sind Dienstleistungen der Exzision, Entfernung und Beseitigung: von Körperfett, Gesichtsfalten, Akne, Körpergeruch, durch dieses oder jenes ausgelöste Depressionen, oder die Unmengen von noch unbenannten und mysteriösen Flüssigkeiten oder unverdauten Überresten von Festessen, die sich unzulässigerweise im Körper festgesetzt haben und nur loszuwerden sind, wenn man sie mit Gewalt hinausbefördert. Die großen Firmen, die darauf spezialisiert sind, Menschen zusammenzubringen, wie zum Beispiel die Online-Partnervermittlung von AOL , betonen gern die Leichtigkeit, mit der ihre Kunden, wenn (aber natürlich nur, wenn) sie die von ihnen angebotenen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, unerwünschte Partner loswerden können oder Partner daran hindern können, länger zu bleiben als erwünscht, indem sie sich einer raschen Beseitigung entziehen. Wenn sie ihre Vermittlungsdienste anbieten, betonen die betreffenden Unternehmen, dass die Online-Partnersuche sicher ist – und mahnen: »Wenn Sie bei einem bestimmten Mitglied kein gutes Gefühl haben, brechen Sie den Kontakt ab. Sie können Absender blockieren, um sich vor ungebetenen Nachrichten zu schützen.« Dienste wie »dates with mates« bieten ähnlich lautende, lange Listen von »Regeln für ein sicheres OfflineDate«.18
17 Siegle, Is Recycling a Waste of Time? 18 Siehe z.B. http://www.dateswithmates.com/tc.aspx (25. 7. 2008).
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Um all den neuen Bedürfnissen, Begierden, Zwängen und Süchten gerecht zu werden und um die neuen Mechanismen zur Motivation, Lenkung und Überwachung menschlichen Verhaltens zu bedienen, muss das konsumistische Wirtschaftssystem auf Überschuss und Abfall setzen. Die Aussicht, die unaufhaltsam ansteigende Flut an Innovationen einzudämmen und zu integrieren, wird zusehends schlechter, vielleicht sogar völlig nebulös. Denn um das konsumistische Wirtschaftssystem am Laufen zu halten, muss die Geschwindigkeit, mit der der bereits jetzt enormen Anzahl an Neuheiten weitere hinzugefügt werden, zwangsläufig über jedes Ziel hinausschießen, das auf die bereits bekannte Nachfrage zugeschnitten ist. Im konsumistischen Wirtschaftssystem entsteht in der Regel zuerst das Produkt (das erfunden, durch Zufall entdeckt oder in einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung routinemäßig entworfen wurde), und erst dann sucht es nach einer Anwendung. Viele, vielleicht die meisten Produkte, wandern alsbald auf den Müll, weil sie keine kaufwilligen Kunden gefunden haben oder es noch gar nicht versucht haben. Doch selbst die wenigen Glücklichen, denen es gelingt, ein Bedürfnis, ein Verlangen oder einen Wunsch zu finden oder herbeizuzaubern, für dessen Befriedigung sie sich als jetzt schon (oder künftig) relevant erweisen könnten, müssen bald dem Druck weiterer »neuer und verbesserter« Produkte weichen (das heißt Produkten, die alles zu leisten versprechen, was die älteren Produkte konnten, nur schneller und besser – mit der Dreingabe, dass sie einige Dinge tun können, von denen bis dahin kein Konsument gedacht hätte, dass er sie brauchen könnte oder Geld dafür ausgeben würde), lange bevor ihre Lebensdauer ihr vorbestimmtes Ende erreicht hat. Die meisten Aspekte des Lebens und die meisten technischen Geräte, deren wir uns im Leben bedienen, vermehren sich, wie Thomas Hylland Eriksen darlegt, mit exponentieller Geschwindigkeit.19 Überall, wo exponentielles Wachstum auftritt, wird früher oder später zwangsläufig der Punkt erreicht, an dem das Angebot das Maß der tatsächlichen oder unterstellten Nachfrage übersteigt; meist wird dieser Punkt vor einem anderen, noch dramatischeren Punkt erreicht, dem Punkt, an dem das Angebot an seine natürlichen Grenzen stößt. 19 Vgl. Eriksen, Die Tyrannei des Augenblicks, bes. Kap. 5.
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Diese pathologische (und ausgesprochen verschwenderische) Tendenz zum exponentiellen Wachstum der Produktion von Gütern und Dienstleistungen würde, rechtzeitig entdeckt, möglicherweise als das erkannt werden, was sie ist, und vielleicht sogar Gegenmittel oder präventive Maßnahmen anregen – gäbe es da nicht einen weiteren, besonders außergewöhnlichen Prozess des exponentiellen Wachstums, der ein Übermaß an Information zur Folge hat. Nach Berechnungen von Ignacio Ramonet wurde in den letzten 30 Jahren weltweit mehr Information produziert als in den 5000 Jahren zuvor, und »[e]in einziges Exemplar der Sonntagsausgabe der New York Times enthält mehr Informationen, als ein gebildeter Mensch des 18. Jahrhunderts während seines ganzen Lebens konsumierte«.20 Wie schwierig, nein, unmöglich es wäre, das ganze Ausmaß der heute »verfügbaren« Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten (ein Umstand, der dazu führt, dass ein Großteil davon endemisch nutzlos, ja totgeboren ist), kann man beispielsweise der Beobachtung Eriksens entnehmen, dass aus »mindestens der Hälfte aller in den Sozialwissenschaften veröffentlichten Zeitschriftenartikel nie zitiert wird«,21 was den Schluss nahelegt, dass mehr als die Hälfte der von der Forschung produzierten Informationen lediglich von den anonymen Gutachtern und den Redakteuren der Fachzeitschriften gelesen werden. Und da, so möchte ich hinzufügen, nicht wenige Autoren wissenschaftlicher Studien Texte in ihren Anmerkungsapparat aufnehmen, die sie nie gelesen haben (das Anmerkungssystem, das in Fachzeitschriften am weitesten verbreitet und offiziell gebilligt ist, erfordert keine Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Textes, auf den Bezug genommen wird, und läuft in der Praxis auf reines Name-Dropping hinaus, wodurch ein derartiges Vorgehen sanktioniert und enorm erleichtert wird), kann man nur vermuten, welch kleiner Bruchteil des Inhalts dieser Artikel jemals Eingang in den sozialwissenschaftlichen Diskurs findet, geschweige denn die Richtung dieses Diskurses spürbar beeinflusst. »Es gibt zuviel Information, nicht zu wenig«, schließt Eriksen. »Eine entscheidende Fähigkeit in der Informationsgesellschaft besteht darin, 20 Ramonet, Die Kommunikationsfalle, S. 167. 21 Eriksen, Die Tyrannei des Augenblicks, S. 133.
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sich gegen die 99,99 Prozent der angebotenen Information zu schützen, die man nicht will.«22 Die Grenze, so könnte man sagen, die eine sinnvolle Botschaft (der scheinbare Zweck der Kommunikation) vom Hintergrundlärm (ihrem anerkannten Gegenspieler und ärgstem Hindernis) trennt, ist fast völlig verwischt worden. Im unbarmherzigen Wettbewerb um die knappste aller knappen Ressourcen – die Aufmerksamkeit potentieller Konsumenten – suchen die Anbieter potentielle Konsumgüter, einschließlich der Informationslieferanten, verzweifelt nach jenen noch unbearbeiteten Zeitfenstern der Konsumenten, nach den kleinsten Pausen zwischen Augenblicken des Konsums, die man mit weiteren Informationen füllen könnte. Sie hoffen, dass ein Bruchteil der anonymen Masse auf der Empfängerseite der Kommunikationskanäle im Laufe ihrer verzweifelten Suche nach den Informationsschnipseln, die sie brauchen, zufällig auf die Schnipsel stoßen wird, die sie nicht brauchen, aber nach dem Wunsch der Lieferanten aufnehmen sollen, und dass sie dann hinreichend beeindruckt oder auch nur ermüdet sind, um so lange innezuhalten oder ihr Tempo zu verlangsamen, dass sie sie aufnehmen können, an Stelle jener Schnipsel, die sie eigentlich gesucht haben. Bruchstücke des Lärms aufzunehmen und sie in sinnvolle Botschaften zu übersetzen, wird infolgedessen ein im Großen und Ganzen zufälliger Prozess. »Medienhypes«, jene Produkte der Werbebranche, die erwünschte (sprich: profitable) Objekte der Aufmerksamkeit vom unproduktiven (sprich: unprofitablen) Lärm abheben sollen –, wie die ganzseitigen Anzeigen, die die Premiere eines neuen Films oder eines Theaterstücks, die Veröffentlichung eines neuen Buches, die Ausstrahlung einer großzügig von Sponsoren unterstützten Fernsehshow oder die Eröffnung einer neuen Ausstellung ankündigen –, lenken die Aufmerksamkeit für einige Minuten oder einige Tage gezielt auf ein bestimmtes Objekt des Konsumwunsches. Für eine kurze Zeitspanne können sie die eifrige und fortwährende, in der Regel jedoch ungeleitete und ungerichtete Suche nach »Filtern« ablenken, kanalisieren und bündeln, und nach dieser kurzen Unterbrechung muss die Suche unvermindert weitergehen.
22 Ebenda, S. 34, 35.
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Da jedoch auch die Zahl derer exponentiell wächst, die um einen Anteil an der Aufmerksamkeit möglicher Kunden konkurrieren, übersteigt die Aufgabe des Filterns die Kapazität der Filter, sobald sie entworfen und noch bevor sie einsatzfähig sind. Daher das immer häufiger auftretende Phänomen des »vertikalen Stapelns«, ein Begriff, den Bill Martin geprägt hat, um das erstaunliche Auftürmen musikalischer Trends zu erklären, das dadurch entsteht, dass die Promoter von Neuheiten fieberhaft daran arbeiten, die Aufnahmefähigkeit der Käufer auf dem »Musikmarkt« über ihre Grenzen hinaus auszudehnen, weil die wenigen Freiräume auf dem »Musikmarkt« von der ständig steigenden Flut neuer und recycelter Angebote bis zum Rand gefüllt werden. Martin ist der Ansicht, dass zu den bedeutendsten Opfern der Informationsflut auf dem Gebiet der Popmusik die Vorstellungen von einer »linearen Zeit« und von »Fortschritt« gehören.23 Unter Ausnutzung der kurzen Lebenserwartung des öffentlichen Gedächtnisses werden alle erdenklichen Retro-Stile und alle möglichen Formen von neu Aufbereitetem, Recyceltem und Plagiiertem als Neuheiten ausgegeben und in die eine, begrenzte Aufmerksamkeitsspanne der Musikfans gepresst. Das Beispiel der Popmusik ist jedoch nur eine Erscheinungsform einer nahezu universellen Tendenz, die alle von der Konsumindustrie bedienten Lebensbereiche gleichermaßen betrifft. Um noch einmal Eriksen zu zitieren: »Anstatt die Information sauber in Reihen anzuordnen, bietet die Informationsgesellschaft Kaskaden aus ihrem ursprünglichen Kontext entnommener Zeichen, die mehr oder weniger zufällig miteinander verknüpft sind. […] Anders gesagt: Wenn wachsende Mengen an Information mit steigender Geschwindigkeit verteilt werden, wird es immer schwieriger, Erzählungen, Ordnungen und Abfolgen von Entwicklung zu schaffen. Die Bruchstücke drohen die Herrschaft zu erlangen. Das hat weitreichende Folgen für unser Verhältnis zum Wissen, zur Arbeit und zum Lebensstil.«24 Die Tendenz, dem Wissen, der Arbeit und dem Lebensstil (ja, dem Leben insgesamt und allem, was dazugehört) mit »Blasiertheit« zu begegnen, wurde mit erstaunlichem Weitblick schon zu Beginn des letz23 Martin, Listening to the Future, S. 292. 24 Eriksen, Die Tyrannei des Augenblicks, S. 156, 161.
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ten Jahrhunderts von Georg Simmel erkannt, der feststellte, dass sie als Erstes bei den Bewohnern der wuchernden, riesigen, übervölkerten modernen Großstadt auftaucht.25 Ein anderes Phänomen, das sich immer deutlicher abzeichnet und erstaunliche Ähnlichkeit mit dem hat, was Simmel unter dem Namen der »Blasiertheit« entdeckt und analysiert hat, gewissermaßen eine reife und den Kinderschuhen entwachsene Version jener Tendenz, die dieser scharfsinnige Denker bereits in einem frühen, unausgeformten Anfangsstadium erkannt und beschrieben hat, wird derzeit unter der Bezeichnung »Melancholie« diskutiert. Autoren, die sich heute dieses Begriffs bedienen, übergehen meist Simmels Prophezeiungen und böse Vorahnungen und schauen noch weiter zurück, unmittelbar dorthin, wo im Altertum Schriftsteller wie Aristoteles ihn zurückließen und wo in der Renaissance Denker wie Ficino und Milton ihn wiederentdeckt und erneut betrachtet haben. Im heutigen Gebrauch, so, wie Rolland Munro ihn verwendet, steht der Begriff der »Melancholie« »nicht so sehr für einen Zustand der Unentschlossenheit, ein Schwanken zwischen der Entscheidung, diesem oder jenem Weg zu folgen, sondern für die Abwendung von den Unterscheidungen selbst«; er steht für die »Loslösung« davon, »an irgendetwas Bestimmtem zu hängen«. Melancholisch zu sein heißt, »sich der Unendlichkeit möglicher Beziehungen bewusst, aber an nichts gebunden zu sein«. Kurz, Melancholie verweist auf »eine Form ohne Inhalt, die Weigerung, nur dieses oder nur jenes zu kennen«.26 Meiner Ansicht nach bezeichnet die Idee der »Melancholie« letzten Endes das allgemeine Gebrechen des Konsumenten (den die Konsumgesellschaft zum homo eligens verdammt), eine Störung, die aus dem verhängnisvollen Aufeinandertreffen zwischen der Verpflichtung und dem Zwang zu entscheiden/der Sucht nach Entscheidungen und der Unfähigkeit, sich zu entscheiden, resultiert. In der Begrifflichkeit Simmels steht sie für die inhärente Flüchtigkeit und die gekünstelte Substanzlosigkeit der Objekte, die über die wachsende Flut der Stimuli hinweggleiten, darin versinken und wiederauftauchen.27 Sie steht 25 Vgl. Simmel, Die Großstädte, S. 121f. 26 Munro, Outside Paradise, S. 276. 27 Vgl. Simmel, Die Großstädte, S. 121ff.
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für die Substanzlosigkeit, die im Verhaltenskodex der Konsumenten als wahllose, alles fressende Völlerei wiederauftaucht – jener radikalsten und ultimativen Form einer als letzter Ausweg dienenden Lebensstrategie, um sich in einem Lebensumfeld abzusichern, das geprägt ist von der »Pointillisierung« der Zeit und von der Nicht-Verfügbarkeit vertrauenswürdiger Kriterien, die das Relevante vom Irrelevanten, die Botschaft vom Lärm trennen könnten. Dass Menschen seit jeher das Glück dem Unglück vorgezogen haben, ist eine banale Feststellung, genauer gesagt ein Pleonasmus, da sich der Begriff »Glück« in seiner gebräuchlichsten Form auf Zustände und Ereignisse bezieht, deren Eintreffen Menschen sich wünschen, während »Unglück« für Zustände oder Ereignisse steht, die sie zu vermeiden wünschen. Sowohl »Glück« als auch »Unglück« signalisieren eine Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit, so wie sie sich darstellt, und einer Wirklichkeit, die man ersehnt. Aus diesem Grund können alle Versuche, das Maß an Glück zu vergleichen, das Menschen in räumlich oder zeitlich getrennten Lebensformen erleben, nur fehlgeleitet und letztlich müßig sein. Wenn die Mitglieder eines Volkes A ihr Leben in einem anderen soziokulturellen Umfeld gelebt haben als die eines Volkes B, so wäre es in der Tat sinnlos oder anmaßend, das Volk A oder B für »glücklicher« zu erklären. Glücksgefühle oder ihre Abwesenheit basieren auf Hoffnungen und Erwartungen sowie auf erlernten Gewohnheiten, und all dies wird sich in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten zwangsläufig unterscheiden, sodass schmackhaftes Fleisch, das Volk A besonders zu schätzen weiß, beim Volk B möglicherweise als ekelhaft und giftig gilt. Wenn man es Bedingungen aussetzen würde, die Volk A bekanntermaßen glücklich machen, wäre Volk B vielleicht todunglücklich und umgekehrt. Und wenn, wie wir seit Freud wissen, das plötzliche Nachlassen von Zahnschmerzen beim Betroffenen auch große Glücksgefühle auslösen kann, so kommt dies bei Zähnen, die nicht wehtun, äußerst selten vor … Das Höchste, was wir von Vergleichen erwarten können, die den Faktor der unterschiedlichen Erfahrungen ignorieren, ist Aufschluss über die Selektivität und die Zeit- bzw. Ortsgebundenheit der Leidenstoleranz und der Neigung, sich zu beschweren. 59
Die Frage, ob die konsumistische Revolution der flüchtigen Moderne die Menschen glücklicher oder unglücklicher gemacht hat als zum Beispiel die Menschen, die ihr Leben in der festen Moderne, in einer Gesellschaft von Produzenten verbracht haben, oder im vormodernen Zeitalter, ist daher so strittig (und letztlich unentscheidbar), wie eine Frage nur sein kann, und wird es aller Wahrscheinlichkeit nach für immer bleiben. Welche Bewertung auch formuliert wird, sie wird nur im Kontext der spezifischen Vorlieben der Bewertenden und der Grenzen ihrer Vorstellungskraft überzeugend klingen. Jede Bestandsaufnahme von Segnungen und Flüchen wird sicherlich im Einklang mit den Ansichten zu Glückseligkeit und Elend vorgenommen werden, die zu dem Zeitpunkt vorherrschen, da jene Dinge erfasst werden, von denen man glaubt und/oder hofft, dass sie glücklich machen. Die Einstellungen, Erfahrungen, kognitiven Perspektiven und Wertvorstellungen der Bewertenden und der Bewerteten werden zwangsläufig in doppelter Hinsicht völlig auseinanderklaffen und Zweifel aufkommen lassen, ob eine übereinstimmende Sichtweise je möglich sein wird. Die Bewertenden haben nie unter Bedingungen gelebt (im Unterschied zu einem kurzen Besuch, bei dem man für die Dauer des Aufenthalts den Sonderstatus des Besuchers/Touristen nicht ablegt), die für die Bewerteten normal sind, während die Bewerteten nie die Chance bekämen, zur Bewertung Stellung zu nehmen, und selbst wenn sie eine solche (posthume) Chance bekämen, wären sie außerstande, die Vor- und Nachteile eines Umfeldes zu beurteilen, das ihnen völlig unbekannt ist und in dem sie keinerlei eigene Erfahrungen gemacht haben. Urteile, die man über die Vorteile (häufig) oder Nachteile (selten) der Fähigkeit der Konsumgesellschaft, Glück zu erzeugen, lesen oder hören kann, sind demzufolge ohne jeden Erkenntniswert (außer wenn man sie als Ausdruck der ausgesprochenen oder impliziten Wertmaßstäbe des jeweiligen Autors behandelt), und deshalb ist man gut beraten, sich vergleichender Beurteilungen zu enthalten. Stattdessen sollte man sich auf jene Daten konzentrieren, die ein Licht auf die Fähigkeit jener Gesellschaft werfen können, ihrem eigenen Versprechen gerecht zu werden; mit anderen Worten, man sollte sie anhand der Werte beurteilen, die sie selbst propagiert und deren Erwerb sie zu erleichtern verspricht. 60
Der charakteristischste Wert der Konsumgesellschaft, ja, ihr höchster Wert, an dem sich alle anderen Werte messen lassen müssen, ist ein glückliches Leben. Mehr noch: Die Konsumgesellschaft ist die wohl einzige Gesellschaftsform in der Geschichte der Menschheit, die Glück im irdischen Leben verspricht, Glück im Hier und Jetzt und in jedem weiteren »Jetzt«: kurz gesagt, sofortiges und fortwährendes Glück. Zugleich ist sie die einzige Gesellschaft, die hartnäckig davon absieht, jegliche Form des Unglücklichseins zu rechtfertigen und/oder zu legitimieren (abgesehen vom Schmerz, dem Verbrecher ausgesetzt werden, als »gerechte Strafe« für ihre Verbrechen), die sich weigert, es zu tolerieren, und es als ein abscheuliches Laster darstellt, das nach Bestrafung und Kompensation verlangt. Wie in der von François Rabelais beschriebenen Abtei von Thélème oder in Samuel Butlers »Erewhon« ist Unglücklichsein auch in der Konsumgesellschaft eine strafbare Handlung oder bestenfalls eine sündhafte Abweichung von der Norm, die Betroffene als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft disqualifiziert. Wenn man daher Mitgliedern der Konsumgesellschaft der flüchtigen Moderne die Frage stellt: »Sind Sie glücklich?«, so hat das einen ganz anderen Stellenwert, als wenn man die gleiche Frage an Mitglieder von Gesellschaften richtet, die kein derartiges Versprechen gemacht und keine derartige Verpflichtung eingegangen sind. Die Konsumgesellschaft steht und fällt mit dem Glücklichsein ihrer Mitglieder – in einem Grad, der in jeder anderen Gesellschaft, von der wir wissen, unbekannt war und kaum nachvollziehbar gewesen wäre. Die Antworten, die Mitglieder der Konsumgesellschaft auf die Frage »Sind Sie glücklich?« geben, kann man mit gutem Recht als ultimativen Test ihres Erfolgs oder Scheiterns betrachten. Und das Urteil, das die Antworten nahelegen, die in zahlreichen Studien in zahlreichen Ländern erfasst wurden, ist alles andere als schmeichelhaft, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens: Wie Richard Layard in seinem Buch »Die glückliche Gesellschaft« aufzeigt, führt eine Steigerung des Einkommens nur bis zu einer bestimmten Schwelle zu einer Zunahme des Glücksgefühls bei den Befragten. Diese Schwelle fällt mit jenem Punkt zusammen, an dem die »essenziellen« oder »natürlichen«, »überlebenswichtigen Bedürfnisse« befriedigt sind – also mit ebenjenen Konsummotiven, die die Konsumgesellschaft als primitiv, unreif oder übermäßig traditions61
gebunden verunglimpft und die sie mit allen Mitteln durch flexiblere und weiterreichende Sehnsüchte und ausgefallenere, impulsive Wünsche ersetzen oder zumindest in den Hintergrund drängen will. Jenseits dieser recht niedrigen Schwelle verschwindet die Korrelation zwischen Reichtum (und damit dem anzunehmenden Konsumniveau) und Glück. Weitere Steigerungen des Einkommens führen zu keiner Zunahme des Glücks.28 Ein solches Ergebnis legt den Schluss nahe, dass Konsum, im Gegensatz zur landläufigen Ansicht und zu den Versprechungen von oben, weder ein Synonym für den Zustand des Glücklichseins ist noch eine Aktivität, die diesen mit Sicherheit herbeiführen wird. Betrachtet man Konsum in der Terminologie Laylards als »hedonistische Tretmühle«,29 so ist er keine patentierte Maschine, die ein immer höheres Maß an Glück produziert. Es scheint vielmehr umgekehrt zu sein: Wie die von Forschern gewissenhaft zusammengestellten Berichte implizieren, führt das Eintreten in die »hedonistische Tretmühle« keineswegs dazu, die Zufriedenheit der Teilnehmer insgesamt anzuheben. Die Fähigkeit des Konsums, das Glücklichsein zu befördern, ist recht begrenzt und kann kaum über das Niveau der Befriedigung der grundlegenden existenziellen Bedürfnisse (im Unterschied zu den Bedürfnissen des Seins, wie sie von Abraham Maslow definiert werden30) hinaus erweitert werden. Und wenn es um das geht, was Maslow »Daseinsbedürfnisse« oder »Selbstverwirklichung« nennt, so erweist sich der Konsum in den meisten Fällen als völlig glückloser »Glücksfaktor«. Zweitens: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass mit der Zunahme des gesamten (oder »durchschnittlichen«) Konsumvolumens auch die Anzahl der Menschen steigt, die sich selbst als »glücklich« bezeichnen. Andrew Oswald von der Financial Times hält die umgekehrte Tendenz für wahrscheinlicher und kommt zu dem Schluss, die Einwohner von hochentwickelten, reichen Ländern mit auf Konsum ausgerichteten Wirtschaftssystemen seien dadurch, dass sie reicher geworden sind, nicht glücklicher geworden.31 Auf der anderen Seite kann man feststel28 29 30 31
Vgl. Layard, Die glückliche Gesellschaft, Kap. 4. Ebenda, S. 60. Vgl. Maslow, Psychologie des Seins. Vgl. Monbiot, How the Harmless Wanderer.
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len, dass negative Phänomene und Ursachen von Unbehagen und Unglücklichsein, wie Stress oder Depressionen, lange und sozialunverträgliche Arbeitszeiten, zerfallende Beziehungen, Mangel an Selbstvertrauen sowie nervenaufreibende Unsicherheiten darüber, ob man fest etabliert und nicht »draußen« ist, an Häufigkeit, Volumen und Intensität zunehmen. Der steigende Konsum beansprucht den Status eines Königswegs, um immer mehr Menschen immer glücklicher zu machen, doch damit ist weder die Beweisaufnahme für diese Behauptung noch der Fall an sich abgeschlossen. Der Ausgang ist völlig offen, und je länger die Tatsachen abgewogen werden, desto zweifelhafter und fadenscheiniger werden die Argumente des Klägers. Im Zuge der Verhandlung häufen sich die Gegenbeweise, die belegen, oder doch sehr nahelegen, dass ein konsumorientiertes Wirtschaftssystem, im Gegensatz zur Argumentation der Anklage, aktiv zur Unzufriedenheit beiträgt, das Selbstvertrauen schwächt und das Gefühl der Unsicherheit verstärkt und so selbst zu einer Quelle jener unterschwelligen Angst wird, die es zu heilen oder zu zerstreuen verspricht – einer Angst, die das Leben in der flüchtigen Moderne durchdringt und die der Hauptgrund für die flüchtig-moderne Variante des Unglücklichseins ist. Zwar stützt sich das Plädoyer der Konsumgesellschaft auf das Versprechen, die Wünsche der Menschen in einem Ausmaß zu erfüllen, das keine andere Gesellschaft auch nur im Traum je erreichen konnte, doch das Versprechen der Befriedigung bleibt nur so lange verführerisch, wie das Verlangen ungestillt ist, wichtiger noch, solange der Kunde nicht »restlos befriedigt« wird: das heißt, solange die Wünsche, die die Suche nach Befriedigung in Bewegung gesetzt und konsumistische Experimente ausgelöst haben, nicht als wirklich und vollständig erfüllt empfunden werden. So wie die leicht zufriedenzustellenden »traditionellen Arbeiter«, die nicht bereit waren, mehr zu arbeiten, als nötig war, um ihre gewohnte Lebensweise fortzusetzen, der Albtraum der aufkeimenden »Gesellschaft von Produzenten« waren, so würden »traditionelle Konsumenten« der Konsumgesellschaft, der Konsumindustrie und den Konsumgütermärkten den Todesstoss versetzen, weil sie, geleitet von den vertrauten Bedürfnissen von gestern, frohgemut Augen 63
und Ohren vor den Überredungskünsten und Ködern des Konsumgütermarktes verschließen, damit sie weiter ihren alten Routinen und Gewohnheiten folgen können. Eine niedrige Schwelle für Träume, leichter Zugang zu genügend Waren, um diese Schwelle zu erreichen, sowie der Glaube, dass »echten« Bedürfnissen und »realistischen« Wünschen objektive Grenzen gesetzt sind, die schwer oder unmöglich überwunden werden können: Das sind die gefährlichsten Gegner des auf den Konsumenten orientierten Wirtschaftssystems, und sie sollten daher vom Erdboden getilgt werden. Die eigentlichen Schwungräder des auf den Konsumenten abzielenden Wirtschaftssystems sind gerade die Nicht-Erfüllung von Wünschen und die unerschütterliche, permanent erneuerte und bekräftigte Überzeugung, dass jeder der zahlreichen Versuche, sie zu erfüllen, gänzlich oder teilweise gescheitert ist, manches zu wünschen übrig ließ und verbessert werden könnte. Die Konsumgesellschaft floriert, solange sie erfolgreich dafür sorgt, dass die Nicht-Befriedigung ihrer Mitglieder (und damit, in ihren eigenen Begriffen, ihr Unglücklichsein) fortwährend ist. Die naheliegende Methode, um einen derartigen Effekt zu erzielen, besteht in der Abund Entwertung von Konsumprodukten, kurz nachdem sie mittels Werbung in die Welt der Konsumentenwünsche hineinkatapultiert wurden. Doch eine andere Möglichkeit, dasselbe zu erreichen, und zwar auf noch effektivere Weise, bleibt im Halbschatten und wird nur selten von scharfsinnigen Journalisten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht: nämlich die, jedes Bedürfnis/Begehren/Verlangen in einer Weise zu befriedigen, die zwangsläufig weitere Bedürfnisse/Begierden/Verlangen hervorruft. Was als Versuch beginnt, ein Bedürfnis zu befriedigen, muss als Zwang oder Sucht enden. Und dies geschieht auch, solange der Drang, Lösungen für Probleme oder Linderung für Schmerzen und Sorgen in Geschäften zu suchen, und nur in Geschäften, ein Verhalten ist, das nicht nur geduldet, sondern eifrig gefördert wird, bis es sich zu einer Gewohnheit oder Strategie verdichtet, zu der es scheinbar keine Alternative gibt. Die tiefe Kluft zwischen Versprechen und Realität ist weder ein Zeichen für eine Funktionsstörung noch eine Nebenwirkung von Nachlässigkeit oder das Ergebnis einer fehlerhaften Kalkulation. Das Reich der Heuchelei, das sich zwischen den landläufigen Ansichten und der Le64
bensrealität von Konsumenten erstreckt, ist eine notwendige Vorbedingung für eine reibungslos funktionierende Konsumgesellschaft. Wenn die Suche nach Erfüllung weitergehen soll und neue Versprechen verführerisch und ansteckend sein sollen, müssen bereits gegebene Versprechen routinemäßig gebrochen und die Hoffnung auf Erfüllung regelmäßig enttäuscht werden. Jedes einzelne Versprechen muss irreführend oder zumindest übertrieben sein, damit die Suche nicht ins Stocken gerät, oder die Begeisterung dafür (und damit ihre Intensität) unter das Niveau abfällt, das nötig ist, um den Warenkreislauf zwischen Fließbändern, Geschäften und Mülleimern in Gang zu halten. Ohne dass die Wünsche ständig aufs Neue enttäuscht werden, würde die Nachfrage seitens der Konsumenten rasch versiegen, und dem auf die Konsumenten ausgerichteten Wirtschaftssystem würde die Puste ausgehen. Der Gesamtüberschuss ist es, der die Frustration angesichts jedes einzelnen Versprechens neutralisiert und verhindert, dass eine Vielzahl von frustrierenden Erfahrungen das Vertrauen in den endgültigen Erfolg der Suche untergräbt. Aus diesem Grund ist der Konsumismus nicht nur eine Ökonomie des Überschusses und des Abfalls, sondern auch eine Ökonomie der Täuschung. Sie setzt auf die Irrationalität der Konsumenten, nicht auf ihre wohlinformierten und nüchternen Überlegungen, auf das Ansprechen konsumistischer Emotionen, nicht auf die Kultivierung der Vernunft. Diese Täuschung ist ebenso wenig ein Hinweis auf eine Funktionsstörung der Konsumwirtschaft wie Überschuss und Abfall. Vielmehr ist sie ein Symptom dafür, dass sie sich bester Gesundheit erfreut und auf dem richtigen Weg ist: ein charakteristisches Kennzeichen der einzigen Ordnung, unter der sich die Konsumgesellschaft ihres Fortbestands sicher sein kann. Das Ausrangieren eines Konsumangebots nach dem anderen, von dem man sich erwartet hatte (und von dem versprochen worden war), dass es bereits geweckte Wünsche ebenso erfüllt wie andere, die ihrer Erzeugung und Geburt noch harren, hinterlässt ständig wachsende Berge enttäuschter Erwartungen. Die Sterblichkeitsrate der Erwartungen ist hoch, und in einer reibungslos funktionierenden Konsumgesellschaft muss sie zwangsläufig ständig steigen. Die Lebenserwartung von Hoffnungen ist demgegenüber verschwindend gering, und nur eine intensive Ankurbelung ihrer (Re-)Produktivität und eine außer65
gewöhnlich hohe Geburtenrate können sie davor bewahren, dezimiert und ausgelöscht zu werden. Damit die Erwartungen am Leben erhalten werden und neue Hoffnungen unverzüglich das Vakuum füllen, das bereits diskreditierte und ausrangierte Hoffnungen hinterlassen, muss der Weg vom Geschäft zum Mülleimer verkürzt und immer schneller zurückgelegt werden. Es gibt noch ein weiteres wichtiges Charakteristikum, das die Konsumgesellschaft von allen anderen bekannten Systemen – auch den raffiniertesten – zur geschickten und effektiven »Erhaltung von Verhaltensmustern« und »Spannungsbewältigung« abhebt (um die Voraussetzungen eines »sich selbst ausgleichenden Systems« nach Talcott Parsons aufzugreifen). Die Konsumgesellschaft hat eine nie da gewesene Fähigkeit entwickelt, jegliche Form von Dissens, den sie, genau wie andere Gesellschaftsformen, unweigerlich auslöst, zu absorbieren und ihn dann als Hauptquelle ihrer eigenen Reproduktion, Erneuerung und Expansion wiederzuverwerten. Die Konsumgesellschaft bezieht ihre Triebkraft und ihre Eigendynamik aus der Unzufriedenheit, deren Produktion sie meisterhaft beherrscht. Sie ist ein hervorragendes Beispiel für einen Prozess, den Thomas Mathiesen kürzlich als »lautlose Disziplinierung«32 beschrieben hat: das heißt, die Anwendung des Kunstgriffs der »Absorption«, um den Dissens und Protest, den das System generiert und verbreitet, im Keim zu ersticken, sodass »ursprünglich transzendierende Einstellungen und Handlungen« – also solche, die das System mit Explosion oder Implosion bedrohen – »auf eine Weise in die herrschende Ordnung integriert werden, welche die dominierenden Interessen nicht in Frage stellt«.33 Ich würde hinzufügen: Sie werden in eine wichtige Quelle der Aufrechterhaltung und ständigen Reproduktion dieser Ordnung verwandelt. Der wichtigste Weg zur Erzielung dieses Effektes wäre undenkbar, wäre da nicht das flüchtig-moderne Umfeld der konsumistischen Gesellschaft und Kultur. Dieses Umfeld ist von einer weit fortgeschritte32 Mathiesen, Die lautlose Disziplinierung, S. 42. 33 Ebenda.
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nen Deregulierung und Entroutinisierung menschlichen Verhaltens charakterisiert, unmittelbar verbunden mit einer Lockerung oder Auflösung zwischenmenschlicher Bindungen – die oft als »Individualisierung« bezeichnet wird.34 Die Hauptattraktion des Shopping-Lebens besteht darin, dass es Neuanfänge und Auferstehungen (Gelegenheiten, »neu geboren« zu werden) in Hülle und Fülle bietet. So trügerisch und letztlich frustrierend dieses Angebot bisweilen auch erscheinen mag, in einem kaleidoskopisch instabilen Umfeld, in dem »lebenslange Projekte« und langfristiges Planen keine realistischen Optionen sind und als unvernünftig und wenig ratsam wahrgenommen werden, wird die Strategie, sich mit Hilfe der auf dem Markt angebotenen Identitätsbaukästen permanent dem Entwerfen und Neuentwerfen der eigenen Identität zu widmen, die einzige vertrauenswürdige oder »vernünftige« Strategie sein und bleiben. Der potentiell lähmende Überschuss an »objektiv erhältlichen« Informationen, die die Aufnahme- und Recyclingfähigkeit des Verstandes übersteigen, erscheinen erneut als dauerhafter Überschuss an Lebensoptionen; dieser Überschuss übertrifft die Zahl von Reinkarnationen, die in der Praxis getestet werden und der Überprüfung und Evaluation zugänglich sind. Im Mittelpunkt der Lebensstrategie eines vollwertigen, erprobten Konsumenten stehen Visionen von »Morgendämmerungen«, doch diese Visionen, um eine Metapher des jungen Karl Marx aufzugreifen, werden angezogen wie die Motten vom Licht heimischer Lampen, nicht vom grellen Licht der universellen Sonne, die jetzt hinter dem Horizont verborgen ist. In einer flüchtig-modernen Gesellschaft erleiden Utopien das gleiche Schicksal wie alle anderen kollektiven Unternehmen, die Solidarität und Kooperation erfordern: Sie werden privatisiert und der persönlichen Sorge und Verantwortung des Einzelnen überlassen (»subsidiarisiert«). Auffällig an den Visionen neuer Morgendämmerungen ist das Fehlen einer Veränderung der Landschaft: Was verändert und – ganz sicher – »verbessert« werden soll, ist lediglich die Position des beobachtenden Individuums und damit seine beziehungsweise ihre Aussichten, die Wunder und Reize der Landschaft zu genießen, und gleichzeitig allen weniger berücken34 Vgl. Bauman, Individualized Society; ders., Liquid Love.
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den oder ausgesprochen Abscheu erregenden und abstoßenden Anblicken zu entfliehen. In einem vor mehr als 20 Jahren viel gelesenen und einflussreichen Buch, »Der Cinderella-Komplex«, beschreibt die Autorin Colette Dowling die Sehnsucht nach Sicherheit, Wärme und Fürsorge.35 Wie Arlie Russell Hochschild zu diesem und anderen Ratgebern für Frauen feststellt, charakterisiert Dowling diese Sehnsucht als »gefährliches Gefühl«.36 Dowling warnt die Cinderellas des neuen Zeitalters vor dieser Falle: Im Impuls, für andere zu sorgen, und in der Sehnsucht, von anderen umsorgt zu werden, lauert die schreckliche Gefahr, abhängig zu werden, die Fähigkeit zu verlieren, die Strömung auszuwählen, die sich derzeit am besten zum Surfen eignet, und leichtfüßig von einer Welle zur anderen zu hüpfen, sobald sie die Richtung ändert. Wie Arlie Russell Hochschild anmerkt: »Ihre Angst davor, von einer anderen Person abhängig zu sein, beschwört das Bild des amerikanischen Cowboys herauf: allein, emotional distanziert, mit seinem Pferd umherstreifend. […] Aus Aschenputtels Asche steigt das postmoderne Cowgirl empor.« Die meistverkauften Beziehungsbücher/ Ratgeber dieser Tage »flüstern den Leserinnen zu: ›Mögen diejenigen, die Emotionen investieren, sich in Acht nehmen‹«; Frauen sollten »in sich selbst als Solounternehmen investieren«.37 Hochschild stellt weiter fest: »Der kommerzielle Geist des Privatlebens besteht aus Bildern, die einem Paradigma des Misstrauens den Weg ebnen.« Moderne Ratgeber bereiten das Selbst auf diesen kommerziellen Geist vor, »indem sie ein Selbst anbieten, das gut gewappnet ist gegen Verletzungen. […] Die heroischen Handlungen, die ein Selbst ausführen kann, sind […], dieser Sichtweise zufolge, das Sich-Ablösen, das Verlassen und das Weniger-von-anderen-Abhängen und Andere-weniger-Brauchen. […] In vielen coolen, modernen Büchern bereiten uns die Autoren darauf vor, da draußen Menschen zu begegnen, die unsere Fürsorge nicht brauchen und die sich uns gegenüber nicht fürsorglich verhalten (können).«38 35 36 37 38
Vgl. Dowling, Der Cinderella-Komplex. Hochschild, The Commercialization of Intimate Life, S. 21. Ebenda, S. 11. Ebenda, S. 14.
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Die Möglichkeit, die Welt mit fürsorglicheren Menschen zu bevölkern und die Menschen dazu zu bewegen, fürsorglicher zu sein, taucht in den von der konsumistischen Utopie gezeichneten Panoramen nicht auf. Die privatisierten Utopien der Cowboys und Cowgirls des konsumistischen Zeitalters zeigen stattdessen einen enorm erweiterten »Freiraum« auf (frei für mich, natürlich), eine Art von leerem Raum, von der der flüchtig-moderne Konsument, der auf Solovorstellungen aus ist, und zwar ausschließlich auf Solovorstellungen, stets mehr braucht und nie genug bekommen kann. Der Raum, den flüchtig-moderne Konsumenten brauchen, für den sie, so der Rat von allen Seiten, kämpfen und den sie mit Zähnen und Klauen verteidigen sollen, kann nur dadurch errungen werden, dass man andere Menschen aus ihm hinausbefördert – vor allem jene Art von Menschen, die fürsorglich sind und/oder die es nötig haben könnten, dass man für sie sorgt. Der Konsumgütermarkt hat von der Bürokratie der festen Moderne die Aufgabe der Adiaphorisierung übernommen: die Aufgabe, das Gift des »Für-andere-da-Seins« aus der Auffrischungsimpfung des »Mit-anderen-zusammen-Seins« herauszupressen. Es ist genau so, wie Emmanuel Levinas angedeutet hat, als er darüber nachsann, dass die »Gesellschaft« vielleicht weniger eine Vorrichtung war, um geborenen Egoisten ein friedliches und freundliches Zusammensein zu ermöglichen (wie Hobbes meinte), sondern eher ein Hilfsmittel, um endemisch moralischen Menschen ein ichbezogenes, selbstreferenzielles, egoistisches Leben möglich zu machen – durch das Abschneiden, Neutralisieren und Zum-Schweigen-Bringen jener quälenden »Verantwortung für den Anderen«, die jedes Mal das Licht der Welt erblickt, wenn das Gesicht des Anderen auftaucht, einer Verantwortung, die mit menschlichem Zusammensein letztlich untrennbar verbunden ist.39 Frank Mort hat darauf hingewiesen, dass den vierteljährlichen Berichten des Henley Centre for Forecasting zufolge (einer Marketingorganisation, die die Konsumindustrie mit Informationen über die wechselnden Muster in der Freizeitgestaltung ihrer möglichen Kunden versorgt) die Spitzenplätze auf der Liste der bevorzugten und ge39 Levinas, Totalität und Unendlichkeit, bes. Teil I I I .
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fragtesten Vergnügungen in den letzten zwei Jahrzehnten stets von Aktivitäten belegt werden, »die in erster Linie über marktbasierte Versorgungswege verfügbar gemacht werden: einkaufen für den persönlichen Bedarf, essen gehen, Heimwerken und Videos anschauen. Ganz am Ende der Liste rangierte die Politik: Die Teilnahme an einer politischen Versammlung steht für Briten gleichauf mit einem Besuch im Zirkus, als die am wenigsten wahrscheinliche Unternehmung.«40
40 Mort, Competing Domains, S. 225ff. Mort zitiert folgende Berichte des Henley Centre »Planning for Social Change« (1986), »Consumer and Leisure Futures« (1997) und »Planning for Consumer Change« (1999).
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2 Eine Gesellschaft von Konsumenten
Wenn die konsumistische Kultur die spezifische Art und Weise ist, in der die Mitglieder einer Gesellschaft von Konsumenten sich zu verhalten gedenken, beziehungsweise in der sie sich »unbedacht« verhalten – das heißt, ohne darüber nachzudenken, was sie als ihr Lebensziel betrachten und was sie als die richtigen Mittel erachten, es zu erreichen, oder darüber, wie sie Dinge und Handlungen, die ihrer Meinung nach für diesen Zweck relevant sind, von jenen unterscheiden, die sie als irrelevant verwerfen, was sie aufregend finden und was sie nur mäßig begeistert oder kaltlässt, was sie anzieht und was sie abstößt, was sie zum Handeln veranlasst und was sie die Flucht ergreifen lässt, was sie ersehnen, was sie fürchten und an welchem Punkt Ängste und Sehnsüchte sich das Gleichgewicht halten –, dann steht die Gesellschaft von Konsumenten für die spezifischen existenziellen Bedingungen, unter denen eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass die meisten Männer und Frauen sich der konsumistischen Kultur zuwenden und keiner anderen und dass sie sich meistens über an deren Grundsätze halten, soweit es ihnen möglich ist. Die »Konsumgesellschaft« ist eine Gesellschaft, die (um an einen einst viel benutzten, von Louis Althusser geprägten Begriff zu erinnern) ihre Mitglieder primär in ihrer Eigenschaft als Konsumenten »interpelliert« oder »anruft«1 (das heißt, sie anspricht, aufruft, an sie appelliert, sie befragt, sie aber auch stört und unterbricht). Indem sie das tut, erwartet die »Gesellschaft« (oder das, was sich an menschlichen, mit Zwangsmitteln und Überredungskünsten bewaffneten Organen hinter diesem Begriff bzw. Bild verbirgt), dass man sie hört, ihr zuhört und ihr gehorcht; sie beurteilt – belohnt und bestraft – ihre Mitglieder abhängig davon, wie schnell und wie umfassend sie auf die Anrufung reagieren. Deshalb werden die auf der Skala der Exzellenz/Untauglich1
Vgl. z.B. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate.
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keit der konsumistischen Leistung errungenen oder zugewiesenen Positionen zum wichtigsten Faktor für die gesellschaftliche Schichtenbildung und zum Hauptkriterium für Inklusion und Exklusion; darüber hinaus steuern sie die Verteilung von gesellschaftlichem Ansehen, Stigmata und öffentlicher Aufmerksamkeit. Die »Konsumgesellschaft« steht mit anderen Worten für eine Art von Gesellschaft, die die Entscheidung für einen konsumistischen Lebensstil und eine konsumistische Lebensstrategie propagiert, fördert oder erzwingt und allen kulturellen Alternativen ablehnend gegenübersteht; eine Gesellschaft, in der die einzige rückhaltlos gebilligte Wahlmöglichkeit in der Praxis darin besteht, sich an die Grundsätze der Konsumkultur anzupassen und sich strikt daran zu halten. Als plausible, und somit auch einleuchtende Entscheidung ist sie eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Gesellschaft. Es handelt sich dabei um eine bemerkenswerte Wendung im Verlauf der neueren Geschichte, ja um eine echte Zeitenwende. Frank Trentmann hat einen gründlichen und äußerst aufschlussreichen Versuch unternommen, den Stellenwert des Begriffs Konsum bzw. Konsument nachzuzeichnen, so wie er von verschiedenen modernen Denkern zur Beschreibung einer sich abzeichnenden gesellschaftlichen Realität eingenommen wurde; er stellt fest, dass »der Konsument im Diskurs des 18. Jahrhunderts praktisch nicht vorhanden war. Bezeichnenderweise taucht er nur in sieben der 150000 in einer Internetdatenbank erfassten Werke des 18. Jahrhunderts überhaupt auf – zweimal als privater Kunde […], einmal als der Kunde, der Einfuhrzoll für Kolonialwaren bezahlen muss, einmal als der Kunde, der unter den hohen Preisen der Händler leidet, und […] zweimal in Bezug auf die Zeit (›der rasche Konsument der Stunden‹)«.2 In all diesen Fällen ist offensichtlich, dass Konsument als Bezeichnung für eine marginale und irgendwie exzentrische Figur gebraucht wurde, die für den ökonomischen Mainstream, ganz zu schweigen von der Gesamtheit des täglichen Lebens, sicherlich nur am Rande von Bedeutung ist. Auch im darauffolgenden Jahrhundert kam es diesbezüglich zu keiner radikalen Veränderung, trotz des ausführlich dokumentierten und spektakulären Siegeszugs von Verkaufspraktiken, 2
Trentmann, The Modern Genealogy of the Consumer, S. 23.
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Werbung, Methoden der Warenrepräsentation und, nicht zu vergessen, Einkaufspassagen, den Archetypen zeitgenössischer Einkaufszentren (jene »Konsumtempel«, so der Begriff von William Severini Kowinski, den George Ritzer aufgegriffen hat3). Noch im Jahr 1910 »sah die elfte Ausgabe der Encyclopædia Britannica keine Notwendigkeit für mehr als einen kurzen Eintrag zu ›consumption‹, definiert als körperliches Dahinschwinden oder als ökonomischer ›Fachausdruck‹, der die Vernichtung von Gütern bezeichnet«.4 Über weite Strecken der neueren Geschichte (das heißt, im Zeitalter gewaltiger Industrieanlagen und riesiger Wehrpflichtigenarmeen) »rief« die Gesellschaft den größten Teil ihrer männlichen Mitglieder primär als Produzenten und Soldaten »an« und fast die gesamte andere (weibliche) Hälfte in erster Linie als deren Zulieferer von Dienstleistungen. Folglich waren Gehorsam und Regelkonformität, das SichAbfinden mit der zugewiesenen Position und die Akzeptanz derselben als unanfechtbar, das Ertragen fortwährender Plackerei und das fügsame Unterwerfen unter monotone Routinen, die Bereitschaft, die Befriedigung von Bedürfnissen zu verschieben und die resignierte Akzeptanz des Arbeitsethos (das heißt vor allem, damit einverstanden zu sein, zu arbeiten, um der Arbeit willen sei sie sinnvoll oder nicht)5 die wichtigsten Verhaltensmuster, die diesen Mitgliedern eifrig gelehrt und eingebläut wurden und die sie lernen und internalisieren sollten. Was am meisten zählte, war der Körper des zukünftigen Arbeiters oder Soldaten; ihr Geist dagegen musste zum Schweigen gebracht werden, und wenn er erst einmal betäubt und damit »deaktiviert« war, konnte man ihn als unmaßgeblich beiseiteschieben und in politischen Kalkülen und beim Planen des taktischen Vorgehens weitgehend außer acht lassen. Die Gesellschaft von Produzenten und Soldaten konzentrierte sich auf die Handhabung von Körpern, damit das Gros ihrer Mitglieder für das Leben und Handeln in dem für sie vorgesehenen Lebensraum geeignet war: die Fabrikhalle und das Schlachtfeld. 3 4 5
Kowinski, Malling of America, S. 218, zit. n. Ritzer, McDonaldisierung der Gesellschaft, S. 21. Trentmann, The Modern Genealogy of the Consumer, S. 28. Vgl. Bauman, Work, Consumerism and the New Poor, Kap. 1.
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In krassem Gegensatz zur Gesellschaft von Produzenten/Soldaten konzentriert die Gesellschaft von Konsumenten den Trainings- und Anpassungsdruck, den sie von frühester Kindheit an und lebenslang auf ihre Mitglieder ausübt, auf die Handhabung des Geistes und überlässt die Handhabung der Körper individuellen Anstrengungen in Eigenregie, die von geistig geschulten und gelenkten Individuen individuell überwacht und koordiniert werden. Eine solche Schwerpunktverlagerung ist unumgänglich, wenn die Mitglieder auf das Leben und Handeln in ihrem neuen Lebensraum vorbereitet werden sollen, in dessen Mittelpunkt schließlich die Einkaufszentren stehen, wo Waren gesucht, gefunden und gekauft werden, sowie die Straßen, wo die in den Geschäften gekauften Waren öffentlich zur Schau gestellt werden, um den Marktwert ihrer Besitzer zu erhöhen. Daniel Thomas Cook von der University of Illinois fasst den neuen Trend so zusammen: »[D]ie Schlachten, die wegen und um die Konsumkultur von Kindern geschlagen werden, sind nichts anderes als Auseinandersetzungen über das Wesen des Menschen und über die Reichweite des Menschseins angesichts eines ausufernden Kommerzes. Das Verhältnis von Kindern zu den Dingen, Medien, Bildern und Bedeutungen, die aus der Welt des Kommerzes hervorgehen, sich auf diese Welt beziehen, und in sie verstrickt sind, spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung von Persönlichkeit und von moralischen Positionen im heutigen Leben.«6 Die »Abhängigkeit vom Käufer« setzt bei Kindern ein, sobald sie lesen lernen, vielleicht auch schon viel früher. Es gibt keine unterschiedlichen Trainingsstrategien für Jungen und Mädchen; im Gegensatz zur Rolle des Produzenten ist die Rolle des Konsumenten geschlechtsunspezifisch. In einer Gesellschaft von Konsumenten soll, ja muss jeder ein »Konsument aus Berufung« sein (das heißt, er muss Konsumieren als eine Berufung betrachten und behandeln); in jener Gesellschaft ist das als Berufung betrachtete und behandelte Konsumieren ein universelles Menschenrecht und eine universelle Menschenpflicht zugleich, die keinerlei Ausnahmen zulässt. Insofern nimmt die Konsumgesellschaft keine Alters- oder Geschlechtsunterschiede zur Kenntnis (so kontrafaktisch das auch ist) und berücksich6
Cook, Beyond Either/or, S. 149.
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tigt weder das eine noch das andere; ebenso wenig nimmt sie Klassenunterschiede zur Kenntnis (was völlig kontrafaktisch ist). Von den geographischen Zentren des weltweiten Netzwerks von Datenautobahnen bis hin zur entlegensten, noch so verarmten Peripherie werden »die Armen in eine Lage hineingedrängt, in der sie entweder das wenige, was ihnen an Geld oder Ressourcen zur Verfügung steht, für sinnlose Konsumobjekte statt für das Lebensnotwendige ausgeben müssen, um so die totale gesellschaftliche Erniedrigung abzuwenden, oder sie müssen damit rechnen, gehänselt und ausgelacht zu werden«.7 Die konsumistische Berufung basiert letztlich auf individuellen Leistungen. Die Auswahl der auf dem Markt angebotenen Dienste, die möglicherweise nötig sind, damit individuelle Leistungen ohne Störung laufen, wird ebenfalls als Sache des einzelnen Konsumenten betrachtet: Eine Aufgabe, die individuell in Angriff genommen und gelöst werden muss, mit Hilfe von individuell erworbenen Konsumfertigkeiten und Handlungsmustern. Von allen Seiten bombardiert mit Empfehlungen, dass sie sich mit diesem oder jenem in Geschäften angebotenen Produkt ausstatten müssten, wenn sie die erwünschte gesellschaftliche Position erlangen und behalten, ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen erfüllen und ihr Selbstwertgefühl sichern wollen – und außerdem wollen, dass all das gesehen und anerkannt wird –, werden Konsumenten unabhängig von Geschlecht, Alter und gesellschaftlicher Position das Gefühl haben, unzulänglich und minderwertig zu sein, wenn sie den Aufrufen nicht umgehend Folge leisten. Aus den gleichen Gründen (das heißt, weil die Frage der »Gesellschaftsfähigkeit« der Verantwortung und Sorge des Einzelnen übertragen wurde) sind Praktiken der Exklusion in der Gesellschaft von Konsumenten sehr viel strikter, strenger und unnachgiebiger als in der Gesellschaft von Produzenten. In der Gesellschaft von Produzenten sind es Männer, die den Eignungstest als Produzenten/Soldaten nicht bestehen, die für »anormal« erklärt und als »Invaliden« gebrandmarkt werden. Von da an werden sie entweder als zu therapierende Objekte eingestuft, in der Hoffnung, dass man sie wieder in Form bringen kann und sie »ins Glied zurücktreten« können, oder als Objekte der 7
Shrestha, In the Name of Development, S. 26, zit. n. Belk, The Human Consequences, S. 69.
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Strafverfolgung, um sie davon abzuhalten, sich einer Rückkehr in den Schoß der Gemeinde zu widersetzen. In der Gesellschaft von Konsumenten sind die für die Exklusion (einer endgültigen, unwiderruflichen Exklusion, bei der eine Berufung nicht zugelassen ist) vorgesehenen »Invaliden« »fehlerhafte Konsumenten«. Anders als die Außenseiter der Gesellschaft von Produzenten (die Arbeitslosen und die vom Militärdienst Ausgeschlossenen) kann man sie sich unmöglich als Menschen vorstellen, die Hilfe und Fürsorge verdienen, da das Befolgen und Erfüllen der Grundsätze der Konsumkultur (völlig kontrafaktisch) als jederzeit und universell möglich gilt. Da jeder, der es wünscht, diese Grundsätze annehmen und anwenden kann (es kann sein, dass Menschen eine Arbeitsstelle verweigert wird, obwohl sie über die nötigen Fertigkeiten verfügen, aber wenn wir nicht von einer kommunistischen »Diktatur über die Bedürfnisse«8 sprechen, kann man ihnen kein Konsumgut verweigern, wenn sie genug Geld haben, um es zu bezahlen), wird (wiederum kontrafaktisch) angenommen, dass es allein eine Frage der individuellen Bereitschaft und Leistung ist, ob man ihnen gehorcht. Aufgrund dieser Annahme kann »soziale Invalidität«, die zur Exklusion führt, in der Konsumgesellschaft nur das Ergebnis individueller Mängel sein; jeglicher Verdacht, dass das Scheitern »extrinsische Ursachen« haben könnte, die überindividuell sind und in der Gesellschaft wurzeln, wird von vornherein ausgeschlossen oder zumindest in Zweifel gezogen und als stichhaltige Rechtfertigung ausgeschlossen. »Konsumieren« ist daher eine Investition in die eigene Mitgliedschaft in der Gesellschaft, was sich in der Konsumgesellschaft als »Verkäuflichkeit« übersetzen lässt: der Erwerb von Eigenschaften, für die auf dem Markt bereits eine Nachfrage besteht, oder das Recyceln von Eigenschaften, die man bereits besitzt, zu Waren, für die eine Nachfrage erzeugt werden kann. Die meisten Güter, die auf dem Konsumgütermarkt angeboten werden, beziehen ihre Attraktivität und ihre Macht, interessierte Kunden zu gewinnen, aus ihrem tatsächlichen oder angenommenen, explizit beworbenen oder mittelbar implizierten Investitions wert. Ihr Versprechen, die Attraktivität und damit den Marktwert des Käufers zu erhöhen, findet sich im Groß- oder Klein8
Vgl. Fehér/Ferenc u.a. (Hg.), Diktatur über die Bedürfnisse.
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gedruckten, zumindest aber zwischen den Zeilen, in den Prospekten aller Produkte – einschließlich jener, die augenscheinlich in erster Linie oder sogar ausschließlich dem reinen Vergnügen des Konsumenten dienen sollen; Konsum ist eine Investition in alles, was für den »sozialen Wert« und das Selbstwertgefühl des Individuums von Bedeutung ist. In der Konsumgesellschaft ist das wichtigste, vielleicht entscheidende Ziel des Konsums (auch wenn das kaum je deutlich ausgesprochen und noch seltener öffentlich diskutiert wird) nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, Sehnsüchten und Wünschen, sondern die Kommodifizierung oder Rekommodifizierung des Konsumenten: Der Konsument wird in den Status einer verkäuflichen Ware gehoben. Letzten Endes ist das der Grund, warum das Bestehen der »Konsumentenprüfung« eine nicht verhandelbare Bedingung für den Eintritt in eine Gesellschaft ist, die nach dem Modell des Marktplatzes umgestaltet wurde. Das Bestehen jenes Tests ist eine außervertragliche Vorbedingung für all jene vertraglichen Verhältnisse, die das Netz von Beziehungen namens »Konsumgesellschaft« spinnen und in dieses Netz hineingesponnen werden. Es ist diese Vorbedingung, die keine Ausnahmen zulässt und keine Verweigerung akzeptiert, welche die Gesamtheit der An- und Verkaufstransaktionen zu einer imaginierten Totalität zusammenschweißt; genauer gesagt ermöglicht sie, dass jene Gesamtheit als eine Totalität erfahren wird, die wir »Gesellschaft« nennen – ein Gebilde, dem man die Fähigkeit zuschreiben kann, »Forderungen zu stellen« und Akteure dazu zu zwingen, sie zu erfüllen. Damit kann man ihr den Status eines »sozialen Tatbestands« im Sinne Durkheims zuschreiben. Die Mitglieder der Konsumgesellschaft sind selbst Konsumgüter, und es ist die Eigenschaft, ein Konsumgut zu sein, die sie zu vollwertigen Mitgliedern jener Gesellschaft macht. Eine verkäufliche Ware zu werden und zu bleiben, ist das stärkste Motiv eines Konsumenten, auch wenn es in der Regel nur latent vorhanden und selten bewusst ist, geschweige denn explizit zum Ausdruck gebracht wird. Die Attraktivität von Konsumgütern – die tatsächlichen oder potentiellen Wunschobjekte der Konsumenten, die Konsumhandlungen auslösen – wird in der Regel anhand ihrer Fähigkeit taxiert, den Marktwert eines Konsumen77
ten zu erhöhen. »Sich zu einer verkäuflichen Ware zu machen« ist etwas, was man selbst tun muss, eine Pflicht des Individuums. Halten wir fest: Die Herausforderung und die Aufgabe besteht im Machen, nicht einfach im Werden. Die Vorstellung, dass niemand als »fertiger« Mensch geboren wird, dass noch viel zu tun bleibt, um ein fertiger, wahrer Mensch zu werden, ist keine Erfindung der Konsumgesellschaft – nicht einmal der Moderne. Aber das, was Günther Anders 1956 als »prometheische Scham«9 bezeichnet hat, die Scham, seine Pflicht nicht erfüllt zu haben, sich zu etwas anderem (vermutlich Besserem) zu machen als das, was man »geworden« ist, das ist es sehr wohl. In den Worten von Anders besteht »prometheischer Trotz« in der »Weigerung, irgend etwas, sogar sich selbst, Anderen zu schulden«, während der »prometheische Stolz« darin besteht, »alles, sogar sich selbst, ausschließlich sich selbst zu verdanken«.10 Der Zankapfel, der Einsatz und der Hauptpreis in unserer heutigen Version der prometheischen Art des In-der-Welt-Seins (oder vielmehr in der zeitgenössischen Umschreibung/Verdrehung/Perversion des prometheischen Ehrgeizes) ist natürlich das Selbst, »das eigene Selbst«. Bloßes »Werden«, als Folge des Zufalls, dass man von seiner Mutter empfangen und geboren worden ist, ist nicht genug. Dass das »bloße Sein« weit hinter der potentiellen Vollkommenheit des Artefakts zurückbleibt, war seit Beginn des modernen, aufgeklärten Zeitalters ein Axiom des allgemein verbindlichen (wenn auch nicht allgemein akzeptierten) Weltbildes. Mit Vernunft ausgestattete Menschen können, sollten und würden die Natur verbessern – und ihre eigene Natur ebenfalls, jene »Natur«, die ihr In-der-Welt-Erscheinen ausgelöst und die Richtung ihres »Werdens« vorherbestimmt hat. Das prometheische Kunststück war demzufolge nicht mehr die einmalige, legendäre Leistung eines Halbgotts, sondern die Art und Weise oder das Schicksal des menschlichen In-der-Welt-Seins an sich. Der Zustand der Welt – der Grad ihrer »Vollkommenheit« – war nun eine Frage der Sorge und des zielgerichteten Handelns des Menschen. Und das Gleiche galt, wenn auch eher indirekt, für den Zustand jedes einzelnen Menschen und den Grad seiner oder ihrer Vollkommenheit. 9 Anders, Antiquiertheit des Menschen, S. 23. 10 Ebenda, S. 24.
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Ehe aus dem prometheischen Trotz und dem prometheischen Stolz die prometheische Scham hervorging, bedurfte es daher eines weiteren Schritts. Dieser schicksalhafte Schritt, so meine These, war der Übergang von der Gesellschaft von Produzenten, mit ihrem Führungsstil der normativen Regulierung, ihrer Arbeitsteilung und -koordinierung, ihrer für Konformität sorgenden Beaufsichtigung und ihrem Konformgehen mit dem Beaufsichtigtwerden, hin zur Gesellschaft von Konsumenten, mit ihrer teils erzwungenen, teils freiwilligen Individualisierung und dem selbstreferenziellen Charakter ihrer Sorgen, ihrer Aufgaben, ihres Umgangs mit Aufgaben und der Verantwortung für die Folgen dieses Umgangs. Dieser Schritt verhieß eine stärkere, alles andere in den Schatten stellende Betonung des »Selbst«, als zugleich wichtigstes Objekt und Subjekt der Pflicht, die Welt umzugestalten, wie auch der Verantwortung für deren Erfüllung oder Nicht-Erfüllung: eine Betonung des individuellen Selbst als Aufseher und Schutzbefohlener des prometheischen Daseins zugleich. Indem sie sich offen um die Vormachtstellung vor ihren Mitgliedern bemühte, um den Vorrang »gesellschaftlicher« Interessen und Ambitionen vor denen von Individuen und »Gruppen«, und damit die Rolle des Autors einer Welt übernahm, die als ein Artefakt vernunftgeleiteteten menschlichen Handelns betrachtet wurde, übernahm die Gesellschaft von Produzenten, ob planvoll oder unwillkürlich, die Rolle eines »kollektiven Prometheus« – und ersetzte damit die Normkonformität durch die Verantwortung des Individuums für die Qualität des Produkts. Die Rolle des Prometheus, ebenso wie die Verantwortung für die Erfüllung dieser Rolle, wird von der Konsumgesellschaft an Individuen »outgesourct« und »subsidiarisiert«. Prometheische Scham ist im Gegensatz zu prometheischem Trotz oder prometheischem Stolz ein ganz und gar individuelles Gefühl. »Gesellschaften« schämen sich nie und können es auch gar nicht; Scham ist nur als individuelle Empfindung vorstellbar. Nachdem sie explizit oder zumindest in der Praxis auf den ehemals beanspruchten prometheischen Status verzichtet und ihn abgelegt hat, versteckt sich die Gesellschaft nunmehr hinter ihren Artefakten. Die Autorität und die Privilegien, die einem höheren Wesen zustehen – einst der exklusive und mit Argusaugen bewachte Besitz der »menschlichen Gesellschaft« –, sind menschlichen Produkten zugefallen, jenen 79
materiellen Spuren der menschlichen Vernunft, Erfindungsgabe und Geschicklichkeit. Sie sind es, die Aufgaben perfekt oder nahezu perfekt erledigen, an denen ein Mensch, »den ein Weib geboren«, eine bloße Nebenerscheinung der hoffnungslos kontingenten Natur, wohl kläglich scheitern oder die er allenfalls auf beschämend minderwertige Art und Weise ausführen könnte. Es ist das Artefakt, dem wir täglich in Form von Produkten der Konsumgüterindustrie begegnen, das nun über dem Kopf jedes einzelnen menschlichen Individuums schwebt und aufragt, als Muster an Perfektion und Vorbild für den Versuch, es nachzuahmen (der zugegebenermaßen zum Scheitern verurteilt ist). Seit der Mensch die Überlegenheit der res (des Dings) akzeptiert hat, so Anders, verwirft er »sein Nichtverdinglichtsein als Manko«.11 Geboren und »geworden sein« anstatt von vorn bis hinten hergestellt zu sein, ist jetzt ein Grund, sich zu schämen. Prometheische Scham ist ein Gefühl der »Scham vor der ›beschämend‹ hohen Qualität der selbstgemachten Dinge«.12 In Anlehnung an Nietzsche erklärt Anders, dass der menschliche Körper (das heißt der Körper, wie er durch eine zufällige Laune der Natur auf uns gekommen ist) heute etwas ist, »was überwunden werden muß«.13 Der »rohe«, natürliche, ungeformte und unbearbeitete Körper ist etwas, wofür man sich schämen muss: eine Beleidigung für das Auge, die stets sehr zu wünschen übrig lässt, und vor allem der lebende Beweis der Pflichtvergessenheit sowie möglicherweise des Ungeschicks, der Unwissenheit, der Schwäche und des mangelnden Einfallsreichtums des »Selbst«. »Als ›nackt‹« – also als Objekt, das nach allgemeiner Übereinkunft mit Rücksicht auf den Anstand und die Würde des »Besitzers« nicht öffentlich entblößt werden darf – gilt heute nicht der unbekleidete Leib, sondern der »unbearbeitete«, so Anders, da unzureichend »verdinglichte« Körper.14 Mitglied der Konsumgesellschaft zu sein ist eine entmutigende Aufgabe, ein endloser und mühseliger Kampf. Die Angst, nicht gesellschaftskonform zu sein, wurde zwar verdrängt von der Angst vor der eigenen Unzulänglichkeit, aber dadurch ist sie nicht weniger quälend 11 12 13 14
Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 23. Ebenda, S. 31. Ebenda.
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geworden. Die Konsumgütermärkte sind nur allzu gern bereit, aus dieser Angst Kapital zu schlagen, und die Unternehmen, die Konsumgüter produzieren, konkurrieren um die Rolle als verlässlichster Berater und Helfer bei den endlosen Bemühungen ihrer Kunden, sich dieser Herausforderung zu stellen. Sie liefern »die Mittel«, die Instrumente, die die individuell erledigte Aufgabe der »Selbst-Erzeugung« erfordert. Man könnte sie allerdings wegen irreführender Werbung verklagen: Die Güter, die sie als »Mittel« für den individuellen Gebrauch bei der Entscheidungsfindung hinstellen, sind in Wirklichkeit, wie Anders betont, »Vorentscheidungen«.15 Sie waren vorgefertigt, lange bevor das Individuum mit der (als Gelegenheit dargestellten) Pflicht konfrontiert wurde, sich zu entscheiden. Es ist, wie Anders sagt, absurd, von diesen Mitteln anzunehmen, dass sie eine individuelle Richtungsentscheidung ermöglichen. Diese Mittel sind die kristallisierte, keinen Widerspruch duldende »Notwendigkeit«, die Menschen nach wie vor lernen, der sie gehorchen und der sie zu gehorchen lernen müssen, um frei zu sein. Eine der 16- bis 17-jährigen Mädchen, die Decca Aitkenhead, eine kluge Korrespondentin des Guardian, in den Cotswolds interviewt hat, sagte: »Also, wenn ich zum Weggehen das anziehen würde, was ich jetzt anhabe (Jeans und ein T-Shirt), würden mich alle anstarren und sagen: Warum hast du nicht was Besonderes an, was sexy und aufreizend ist? Mit 13 sind wir so weggegangen. So macht man das eben, wenn man trendy aussehen will.«16 Eine andere aus der Gruppe, die Anfang zwanzig war, ergänzte: »Ständig wird man daran erinnert, wie ein sexy Körper aussieht, und je älter ich werde, desto öfter mache ich mir Sorgen darüber, ob ich dem gerecht werde.« Was als »sexy und geil« gilt und wie ein »sexy Körper« auszusehen hat, wird von der Mode diktiert (Moden wechseln schnell: 16- und 17-Jährige »haben keine Ahnung, dass T-Shirts für unter 13-Jährige mit Aufdrucken wie ›Trainee Babe‹ erst in den 1990er Jahren in Mode kamen, und sind anscheinend erstaunt, dass Mädchen früher anders angezogen waren«; ein Mädchen »schaut ungläubig«, so Aitkenhead, als sie ihr erzählt, dass »Mädchen in den Siebzigern sich die Achselhaare nicht rasiert ha15 Ebenda, S. 2. 16 Aitkenhead, Sex Now.
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ben«).17 Neue Versionen dieser Kleidung zu erstehen, diese Outfits zu pflegen und veraltete Versionen zu ersetzen oder aufzupolieren, ist eine Voraussetzung dafür, weiter nachgefragt zu werden: attraktiv genug zu bleiben, um interessierte Kunden zu finden, ob dabei Geld den Besitzer wechselt oder nicht. Wie Digby Jones, ehemaliger Leiter der Arbeitgeberorganisation »Confederation of British Industry« mit Bezug auf einen völlig veränderten Arbeitsmarkt anmerkt, ist die einzige Anforderung an diejenigen, die ein »nachgefragtes Gut« sein wollen, »so anpassungsfähig, so gut ausgebildet und so wertvoll zu sein, dass es kein Arbeitgeber wagen würde, sie zu entlassen oder schlecht zu behandeln«.18 In der vorherrschenden, »liberalen« Version (das heißt, in der »offiziellen Lesart«, die in gelehrten Beschreibungen ebenso routinemäßig reproduziert wird wie in populären Bildern) wird die Geschichte der Menschheit als ein langer Marsch hin zu persönlicher Freiheit und Rationalität dargestellt. Seine jüngste Etappe, der Übergang von der Gesellschaft von Produzenten und Soldaten zur Gesellschaft von Konsumenten, wird gemeinhin beschrieben als ein Prozess der allmählichen und irgendwann vollständigen Emanzipation der Individuen von einem ursprünglichen Zustand, in dem sie »keine Wahl« und später eine »eingeschränkte Wahl« hatten, von verordneten Szenarios und verpflichtenden Routinen, von vorherbestimmten und vorgeschriebenen, nicht verhandelbaren Bindungen und von verpflichtenden oder zumindest unanfechtbaren Verhaltensmustern. Kurz, dieser Übergang wird dargestellt als weiterer, möglicherweise entscheidender Sprung aus der Welt der Zwänge und der Unfreiheit hin zu individueller Autonomie und Selbst-Beherrschung. In aller Regel wird dieser Übergang als endgültiger Triumph des individuellen Rechts auf Selbstbehauptung gezeichnet, unter der primär die unteilbare Souveränität des von allen Lasten befreiten Subjekts verstanden wird, eine Souveränität, die ihrerseits als Recht des Individuums auf freie Wahl interpretiert wird. Das individuelle Mitglied der Konsumgesellschaft ist in allererster Linie definiert als Homo eligens. 17 Ebenda. 18 Zit. n. Perkins, Collective Failure.
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Die andere, latente Version, die sich selten, wenn überhaupt, öffentlich vernehmen lässt, die jedoch ein ständiger, versteckter und unsichtbarer, aber unverzichtbarer Souffleur der ersten ist, lässt denselben Übergang in einem ganz anderen Licht erscheinen. Statt als Schritt auf dem Weg zur endgültigen Emanzipation des Individuums von vielfältigen äußeren Zwängen, kann man diesen Übergang auch als Eroberung, Annektierung und Kolonisierung des Lebens durch den Konsumgütermarkt darstellen, wobei die tiefste (wenngleich unterdrückte und verborgene) Bedeutung dieser Unterwerfung und Kolonisierung die Erhebung der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des Marktes zu Lebensgrundsätzen ist, und zwar zu jener Art von Grundsätzen, die man nur auf eigene Gefahr ignorieren kann, da ihre Missachtung in der Regel mit Exklusion bestraft wird. Die Gesetze des Marktes gelten für die zur Auswahl stehenden Dinge und für die Wählenden gleichermaßen. Nur Waren haben das Recht, die Konsumtempel zu betreten, sei es durch den »Waren«- oder den »Kunden«-Eingang; in jenen Tempeln sind sowohl die angebeteten Objekte als auch die Betenden Waren. Mitglieder der Konsumgesellschaft sind selbst Produkte der Kommodifizierung; ihre deregulierte, privatisierte Verbannung in das Reich der Kommodifizierung der life politics ist das wichtigste Merkmal, das die Konsumgesellschaft von anderen Formen des menschlichen Zusammenseins unterscheidet. Wie in einer makaberen Parodie auf den Kantschen kategorischen Imperativ sind Mitglieder der Konsumgesellschaft gezwungen, den gleichen Verhaltensmustern zu folgen, deren Befolgung sie von den von ihnen konsumierten Objekten erwarten. Um in die Konsumgesellschaft Einlass und eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, müssen Männer und Frauen die Aufnahmekriterien erfüllen, die von den Marktstandards vorgegeben werden. Man erwartet von ihnen, dass sie sich auf dem Markt anbieten und in Konkurrenz zu den übrigen Mitgliedern einen möglichst hohen »Marktwert« anstreben. Was sie in die Geschäfte lockt, während sie auf der Suche nach Konsumgütern (dem augenscheinlichen Grund ihrer Anwesenheit) den Markt sondieren, ist die Aussicht, jene Werkzeuge und Rohstoffe zu finden, die sie benutzen können (und müssen), um dafür zu sorgen, dass sie selbst »für den Konsum geeignet« und damit markttauglich sind. 83
Der Konsum ist der wichtigste Mechanismus der »Kommodifizierung« von Konsumenten – eine Aufgabe, die wie so viele andere von der Gesellschaft übernommene und staatlich koordinierte Aufgaben dereguliert, privatisiert, »outgesourct« oder an Konsumenten »subsidiarisiert« und der Sorge, Organisation und Verantwortung des bzw. der Einzelnen überlassen worden ist. Die treibende Kraft der Konsumaktivitäten ist das individuelle Streben nach dem optimalen Verkaufspreis, nach dem Aufsteigen in eine höhere Liga, nach besseren Bewertungen und einer besseren Position in dieser oder jener Rangliste (Ranglisten, die man beobachten und von denen man sich hoffentlich eine aussuchen kann, sind glücklicherweise in großer Zahl vorhanden). Alle Mitglieder der Gesellschaft von Konsumenten sind von der Wiege bis zur Bahre Konsumenten de iure – auch wenn das ius, das sie als Konsumenten definiert hat, niemals von einem Parlament verabschiedet und niemals in Gesetzesbüchern niedergeschrieben wurde. Ein »De-iure-Konsument« zu sein ist praktisch die »außergesetzliche Grundlage des Gesetzes«, da es allen juristischen Bestimmungen vorangeht, die die Ansprüche und Pflichten des Bürgers definieren und ausbuchstabieren. Dank der von den Märkten geleisteten Vorarbeit kann der Gesetzgeber fest davon ausgehen, dass die der Gesetzgebung unterworfenen Bürger bereits vollentwickelte, versierte Konsumenten sind: Wann immer es darauf ankommt, können sie den Zustand, ein Konsument zu sein, als etwas Naturgegebenes und nicht als juristisches Konstrukt betrachten – als Teil der »menschlichen Natur« und der angeborenen menschlichen Vorlieben, der alle menschengemachten Gesetze gerecht werden, die sie beachten, befolgen und beschützen müssen; ja, als das ursprüngliche Menschenrecht, das allen Bürger rechten zugrunde liegt, jener Art von sekundären Rechten, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, jenes grundlegende, vorrangige Recht als sakrosankt zu bestätigen und es absolut unantastbar zu machen. In seiner Untersuchung und Rekonstruktion der Entwicklungen nach dem Ersten Weltkrieg, jener Entwicklungen, die schließlich zur Etablierung der Konsumgesellschaft führten, kommt Daniel Thomas Cook zu dem Schluss, dass »das kindliche ›Recht‹ auf Konsum in vielfältiger Weise anderen, gesetzlich verankerten Rechten vorausgegangen 84
ist und diese angekündigt hat. Jahrzehnte bevor ihre Rechte in Kontexten wie der UN -Kinderrechtskonvention von 1989 geltend gemacht wurden, wurde Kindern im Einzelhandel ein ›Mitspracherecht‹ eingeräumt durch die Teilnahme an Design- und Namenswettbewerben, die Wahl von Bekleidung und in Marktforschungsprogrammen. Die Mitwirkung von Kindern in der Warenwelt als Akteure, als Personen mit eigenen Wünschen, untermauert ihren derzeit wachsenden Status als Individuen, denen eigene Rechte zugestanden werden.«19 Im Rahmen seiner Analyse der Geschichte des kindlichen Konsumismus und der Kommodifizierung der Kindheit im 20. Jahrhundert20 stieß Cook auf ein universelles Muster, dem die Konsumgesellschaft im Laufe ihrer ursprünglichen Entstehung gefolgt ist und dem sie bei ihrer Selbstreproduktion und Expansion nach wie vor folgt. Man ist versucht, zur Beschreibung der Produktion von Konsumenten und der Reproduktion der Konsumgesellschaft die denkwürdige These von Ernst Haeckel, jenem ebenso berüchtigten wie gefeierten Naturforscher des 19. Jahrhunderts, abzuwandeln, der zufolge die »Ontogenesis […] die kurze und schnelle Recapitulation der Phylogenesis«21 ist (das heißt, dass die Entwicklungsstadien jedes einzelnen Embryos verkürzte und verdichtete Rekapitulationen der Stufen sind, die die Spezies in ihrer geschichtlichen Evolution durchlaufen hat), allerdings mit einem entscheidenden Vorbehalt: Anstatt einen eindimensionalen Kausalzusammenhang anzunehmen, ist es vernünftig und angemessen, davon auszugehen, dass dem Lebensweg des individuellen Konsumenten die gleiche Abfolge übergestülpt wird, die sich im Rahmen der permanenten Reproduktion der Konsumgesellschaft endlos wiederholt (und somit die bekanntermaßen müßige, da unlösbare Debatte nach dem Schema: »Was war zuerst da, die Henne oder das Ei?« zu vermeiden). 19 Cook, The Commodification of Childhood, S. 12. 20 Cook verwendete den Begriff der »kopernikanischen« Veränderung, die auf Kinder abzielende Märkte hervorgebracht hat, und die im Wechsel von der »Elternperspektive« zur »pediocularity« bestand, das heißt, der Abstimmung von Design und Marketingstrategien auf die Perspektive von Kindern, die nunmehr als souveräne Subjekte mit Wünschen und Wahlfreiheit anerkannt werden; vgl. ebenda, S. 67. 21 Haeckel, Ontogenetische Thesen, S. 210.
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Im täglichen Betrieb der heutigen, reifen Konsumgesellschaft sind die »Rechte des Kindes« und die »Rechte des Bürgers« in den tatsächlichen oder angenommenen Fähigkeiten des kompetenten Konsumenten verankert und überlagern diese – genau wie zur Zeit ihres Entstehens und Heranreifens. Sie bestätigen und bekräftigen sich gegenseitig, »naturalisieren« einander und sorgen dafür, dass sie zu »dominierenden Vorstellungen« werden – genauer gesagt, als Doxa (Annahmen, auf deren Grundlage Menschen denken, die aber, wenn überhaupt, selten hinterfragt werden) oder schlicht als Teil des gesunden Menschenverstandes angesehen werden. Im Gegensatz zur offiziellen Berechtigung, bei deren Zuerkennung jegliche »Vermögensüberprüfung«, wiederum offiziell, abgelehnt wird, ist die – selten offen ausgesprochene und doch entscheidende – Voraussetzung für die Zuerkennung oder Verweigerung des praktischen, realen Anspruchs auf die Vorteile des uneingeschränkten Bürgerrechts die konsumistische Kompetenz eines Menschen sowie seine Fähigkeit, sie einzusetzen. Eine beträchtliche Anzahl von De-iure-Konsumenten scheitert an jenem Test, der, inoffiziell doch allzu deutlich spürbar, für De-facto-Konsumenten angesetzt worden ist. Wer den Test nicht besteht, gehört zu den »gescheiterten Konsumenten«, die manchmal der Untergruppe der »gescheiterten Asylbewerber« oder »illegalen Einwanderer« zugerechnet werden, manchmal auch der underclass (das heißt jener zusammengewürfelten Mischung von Individuen, denen die Mitgliedschaft in allen anerkannten Gesellschaftsklassen verweigert wird, die also für die Klassenzugehörigkeit an sich ungeeignet sind), meist jedoch anonym in den Statistiken der »Armen« oder der »Menschen unterhalb der Armutsgrenze« verstreut sind; der klassischen Definition von Simmel zufolge sind dies die Objekte der Wohltätigkeit, in Abgrenzung von kritisch urteilenden/wählenden Subjekten wie den übrigen Mitgliedern der Konsumgesellschaft.22 Stimmt man der These Carl Schmitts zu, dass das ultimative, entscheidende Vorrecht eines Souveräns in der Entscheidung über die Ausnahme besteht,23 so muss man akzeptieren, dass in der Konsumgesellschaft der wahre Träger von souveräner Macht der Konsumgütermarkt ist; dort, 22 Simmel, Soziologie der Armut. 23 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 13.
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wo Verkäufer und Käufer aufeinandertreffen, findet täglich die Auswahl und Unterscheidung von Verdammten und Geretteten statt, von Insidern und Outsidern, Inkludierten und Exkludierten (oder genauer, ordentlichen und fehlerhaften Konsumenten). Der Konsumgütermarkt ist zugegebenermaßen ein eigentümlicher, bizarrer Souverän, der sich eklatant von jenen unterscheidet, die Lesern aus politologischen Abhandlungen vertraut sind. Dieser seltsame Souverän verfügt weder über legislative noch exekutive Organe, ganz zu schweigen von Gerichten, die zu Recht als unverzichtbares Beiwerk der in politologischen Lehrbüchern untersuchten und beschriebenen echten Souveräne gelten. Folglich ist der Markt gewissermaßen souveräner als die politischen Souveräne, für die sehr viel mehr Werbung gemacht wird und die eifrig für sich selbst werben, denn der Markt verhängt nicht nur die Urteile der Exklusion, sondern er lässt auch keine Berufungsverfahren zu. Seine Urteile sind ebenso endgültig und unwiderruflich, wie sie inoffiziell, unausgesprochen und kaum je schriftlich niedergelegt sind. Gegen den Ausschluss durch die Organe des souveränen Staates kann man Einwände einlegen und protestieren, sodass eine Chance besteht, dass man seine Annullierung erreicht, aber nicht gegen die Ausweisung durch den souveränen Markt, denn in diesem Fall wird kein vorsitzender Richter benannt, eine Person, die den Widerspruch entgegennehmen könnte, ist nicht in Sicht, und eine Adresse, an die man ihn schicken könnte, fehlt ebenfalls. Um den Protest zurückzuweisen, den die Urteile des Marktes auslösen können, haben Politiker das TI NA -Prinzip erprobt (»There is no alternative« / »Dazu gibt es keine Alternative«) – eine Diagnose, die sich geradezu selbst bewahrheitet, eine Hypothese, die sich geradezu selbst bestätigt. Je häufiger die Formel wiederholt wird, desto umfassender ist die Abtretung staatlicher Souveränität an die Konsumgütermärkte und desto respekteinflößender und hartnäckiger wird die Souveränität der Märkte. Genau genommen ist es nicht der Staat und auch nicht die Exekutive, die geschwächt, unterminiert und ausgezehrt werden oder anderweitig »verkümmern«, sondern die Souveränität des Staates, das Privileg des Staates, die Grenze zwischen Inkludierten und Exkludierten zu ziehen, 87
einschließlich des Rechts, Letztere später zu rehabilitieren und wieder aufzunehmen. Zum Teil ist diese Souveränität bereits eingeschränkt worden, und es ist anzunehmen, dass sie unter dem Druck der Entstehung weltweit verbindlicher Gesetze und der dazugehörigen (bislang nur ansatzweise und rudimentär vorhandenen) Rechtsorgane schubweise weiter schwinden wird. Dieser Prozess ist jedoch für die Frage der neuen Souveränität der Märkte nur von sekundärer und indirekter Bedeutung, da er kaum etwas daran verändern wird, wie souveräne Entscheidungen getroffen und legitimiert werden. Auch wenn sie »nach oben« abgegeben wird, an suprastaatliche Institutionen, so verbindet Souveränität (zumindest gemäß dem Grundsatz, von dem erwartet oder angenommen wird, dass sie ihm gerecht wird) nach wie vor Macht und Politik und ordnet Erstere der Aufsicht der Letzteren unter; vor allem kann sie angefochten und reformiert werden, da sie über eine bekannte Adresse verfügt. Viel revolutionärer (und potentiell tödlich für den Staat, so wie er im Lauf der Moderne ausgebildet wurde) ist eine andere Tendenz, die die staatliche Souveränität sehr viel grundlegender untergräbt: die Neigung des geschwächten Staates, viele seiner Funktionen und Privilegien nicht nach oben, sondern zur Seite hin abzugeben und sie der unpersönlichen Macht der Märkte zu überlassen, das heißt, die immer umfassendere Kapitulation des Staates vor der Erpressung durch die Kräfte des Marktes, Kräfte, die der von der Wählerschaft bevorzugten und befürworteten Politik entgegenwirken und an Stelle der Bürgerschaft den Status des Referenzpunktes und des ultimativen Schiedsrichters in Fragen des politischen Anstands übernehmen. Die Folge dieser zweiten Tendenz ist die allmähliche Trennung der Handlungsfähigkeit, die zusehends auf die Märkte übergeht, von der Politik, die zwar weiterhin Domäne des Staates bleibt, aber nach und nach ihren Handlungsspielraum sowie ihre Macht, die Regeln zu bestimmen und die Rolle des Schiedsrichters zu spielen, einbüßt. Dies ist der Hauptgrund für die Erosion der staatlichen Souveränität. Zwar werden Ausschluss- und Ausweisungsurteile weiterhin von staatlichen Organen artikuliert, verkündet und vollstreckt, doch können sie nicht mehr autonom über die Kriterien der »Ausschlusspolitik« oder die Prinzipien ihrer Umsetzung entscheiden. Der Staat als Gan88
zes, einschließlich seiner legislativen und judikativen Organe, wird zum Vollstrecker der Souveränität des Marktes. Wenn beispielsweise ein Minister verkündet, dass die neue Einwanderungspolitik darauf abziele, mehr Menschen nach Großbritannien zu holen, »die das Land braucht«, und diejenigen fernzuhalten, »für die das Land keinen Bedarf hat«, dann überträgt er den Märkten implizit das Recht, den »Bedarf des Landes« zu definieren und zu entscheiden, was (oder wen) es braucht oder nicht braucht. Der Minister hat demnach vor, jenen Menschen Gastfreundschaft anzubieten, die vorbildliche Kunden zu sein oder bald zu werden versprechen, und sie Menschen, deren Konsummuster nicht dazu führen werden, dass die Schwungräder der Konsumwirtschaft sich schneller drehen und die Gewinne der Firmen über das bereits erreichte Niveau hinaus in die Höhe getrieben werden, zu verweigern – also Menschen am unteren Ende des Einkommensspektrums, deren Verbrauch sich auf weniger profitable oder unprofitable Konsumgüter konzentriert. Als wollte er noch deutlicher machen, von welchen Gedankengängen und welcher Logik die Anerkennung oder Abweisung von Ausländern bestimmt wird, weist der Minister darauf hin, dass die wenigen Menschen aus der genannten Kategorie, die zeitweise einreisen dürfen, um den saisonalen Arbeitskräftebedarf in örtlich gebundenen Bereichen der Konsumproduktion zu decken (etwa bei Hotel- und Restaurantdienstleistungen oder bei der Obsternte), ihr Einkommen in ihre Herkunftsländer transferieren werden (da Familienmitgliedern nicht erlaubt wird, ihnen nach Großbritannien zu folgen) und damit die Zirkulation von Konsumgütern im Inland nicht ankurbeln. Fehlerhafte Konsumenten, Menschen, die über zu wenig Ressourcen verfügen, um auf die »Zurufe« oder, genauer gesagt, die verführerischen Gesten der Konsumgütermärkte adäquat zu reagieren, sind Menschen, die die Konsumgesellschaft »nicht braucht«; die Konsumgesellschaft wäre ohne sie besser dran. In einer Gesellschaft, die ihren Erfolg und ihren Misserfolg an den Statistiken des Bruttosozialprodukts misst (das heißt, an der Gesamtsumme an Geld, das bei Kaufs- und Verkaufstransaktionen den Besitzer wechselt), werden solche minderwertigen, mangelhaften Konsumenten als Passiva abgeschrieben. Die stillschweigende Annahme, die dieser Argumentation zugrunde liegt, ist wiederum die Formel: »Man ist kein Konsument, wenn man 89
keine Ware ist.« Die Kommodifizierung geht dem Konsum voraus und kontrolliert den Eintritt in die Welt der Konsumenten. Um eine realistische Chance zu haben, die Rechte eines Konsumenten wahrnehmen und die entsprechenden Pflichten erfüllen zu können, muss man zuerst selbst zur Ware werden. »Das Land« braucht, ebenso wie die Märkte, Waren; ein Land, das das Recht auf das erste und letzte Wort den Konsumgütermärkten überlässt, braucht Bewohner, die entweder bereits Waren oder für die rasche und kostengünstige Kommodifizierung geeignet sind; die Entscheidung über die Einordnung in die Kategorie der vollwertigen Waren ist selbstverständlich Sache der Märkte. Die erste und entscheidende Frage, die zu stellen ist, wann immer Staatsbeamte über einen Antrag auf Erteilung einer Einreiseund Aufenthaltsgenehmigung befinden, lautet: »Gibt es Käufer, die an genau dieser Art von Gut interessiert sind?« Der Staat hat das Muster und die Regeln, die durch die weitverbreiteten Praktiken der flüchtig-modernen Unternehmen im Alltag der konsumistischen Gesellschaft bereits fest etabliert und verwurzelt waren, übernommen und zu einem Prinzip staatlicher Politik umgeformt. Wie Nicole Aubert in ihrer umfassenden Untersuchung solcher Praktiken festgestellt hat, wird die Personalpolitik großer kapitalistischer Unternehmen so gehandhabt, »als ob der Angestellte selbst ein ›Produkt‹ wäre, das innerhalb kürzestmöglicher Zeit konzipiert, profitabel gemacht und ausgetauscht wird«.24 Von neu Eingestellten wird erwartet, dass sie von ihrem ersten Arbeitstag an mit voller Geschwindigkeit und ganzer Kraft Leistungen erbringen: Es bleibt keine Zeit, sich »einzugewöhnen«, »Fuß zu fassen«, sich zu integrieren, anzupassen und Loyalität zur Firma und Solidarität mit den anderen Angestellten zu entwickeln, da sich das Profil der geforderten Leistungen zu schnell verändert. Langwierige Rekrutierungsverfahren, Eingewöhnung und innerbetriebliche Schulungen werden allesamt als Verschwendung von Zeit und Ressourcen betrachtet – genauso wie das Bereithalten von größeren Beständen fertiger Produkte in den Lagerhäusern des Unternehmens. Produkte, die in den Regalen lagern, bringen keinen Profit und sind praktisch nutzlos. Sowohl die
24 Aubert, Le culte de l’urgence, S. 83.
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Lagerbestände als auch die für Rekrutierung, Integration und Schulung aufgewendete Zeit müssen auf das absolute Mindestmaß reduziert werden. Das Geheimnis jedes langlebigen (das heißt, sich erfolgreich selbstreproduzierenden) Gesellschaftssystems ist die Umsetzung seiner funktionellen Anforderungen in Verhaltensmotive der Akteure. Anders ausgedrückt: Das Geheimnis einer erfolgreichen »Sozialisierung« besteht darin, dass man Individuen dazu bringt, das tun zu wollen, was nötig ist, damit das System sich selbst reproduziert. Dies kann offen und explizit geschehen, indem man durch einen verschiedentlich als »geistige Mobilisierung«, »staatsbürgerliche Bildung« oder »ideologische Indoktrination« bezeichneten Prozess Unterstützung für das erklärte Interesse eines »Ganzen« organisiert und fördert, etwa für einen Staat oder eine Nation, wie es in der »festen« Phase der Moderne in der Gesellschaft von Produzenten die Regel war. Oder es kann heimlich und indirekt geschehen, indem offen oder verdeckt bestimmte Verhaltensmuster und bestimmte Problemlösungsmuster erzwungen oder antrainiert werden, die – wenn sie erst einmal akzeptiert und befolgt werden (und befolgt werden müssen sie, da alternative Wahlmöglichkeiten auf dem Rückzug sind und verschwinden, begleitet vom allmählichen, aber unaufhaltsamen Vergessen der Fähigkeiten, die nötig sind, um sie in die Praxis umzusetzen) – die gleichförmige Reproduktion des Systems aufrechterhalten, so wie es die Regel ist in der »flüchtigen« Phase der Moderne, die zufällig gleichzeitig das Zeitalter der Gesellschaft von Konsumenten ist. Diese für die Gesellschaft von Produzenten typische Verknüpfung der »Systemanforderungen« mit individuellen Motiven erforderte die Abwertung des »Jetzt« und insbesondere die Abwertung der sofortigen Bedürfnisbefriedigung und des Vergnügens im Allgemeinen (genauer gesagt, die Abwertung dessen, was im Französischen mit dem nahezu unübersetzbaren Begriff jouissance bezeichnet wird). Die »Gegenwart« musste degradiert werden und den zweiten Platz hinter der »Zukunft« einnehmen. Dadurch wurde sie eine Geisel der noch unbekannten Wendungen einer Geschichte, die man gerade durch die Kenntnis ihrer Gesetze und das Erfüllen ihrer Forderungen glaubte zähmen, erobern und kontrollieren zu können. Die »Gegenwart« war nur ein 91
Mittel zum Zweck, nämlich eines Glücks, das stets in der Zukunft lag, also stets »noch nicht« war. Gleichzeitig musste diese Verknüpfung von Systemanforderungen mit individuellen Motiven notwendigerweise auch das Aufschieben und insbesondere das Prinzip des »Hinauszögerns« oder des Verzichts auf »Bedürfnisbefriedigung« begünstigen, das heißt, das Prinzip, um eines unklaren zukünftigen Gewinns willen auf ganz spezifische, unmittelbar verfügbare Vorteile zu verzichten sowie individuelle Vorteile dem Wohl des »Ganzen« (sei es der Gesellschaft, des Staates, der Nation, der Klasse, des Geschlechts oder einfach eines bewusst im Unklaren belassenen »Wir«) zu opfern, im Vertrauen darauf, dass man so zu gegebener Zeit ein besseres Leben für alle erreichen werde. In einer Gesellschaft von Produzenten wurde dem »Langfristigen« der Vorzug gegenüber dem »Kurzfristigen« gegeben, und den Erfordernissen des »Ganzen« wurde der Vorrang gegenüber den Bedürfnissen einzelner »Teile« eingeräumt. Die Freuden und die Befriedigung, die sich aus »ewigen« und »überindividuellen« Werten ableiteten, galten als wichtiger als die flüchtigen Verzückungen des Individuums, und die Verzückungen der vielen wurden über das Elend der wenigen gestellt; diese wurden als die einzigen echten und erstrebenswerten Vergnügungen unter einer Vielzahl von verführerischen, aber verlogenen, gekünstelten, trügerischen und letztlich menschenunwürdigen »Freuden des Augenblicks« betrachtet. Aus Erfahrungen klüger geworden, sind wir (Männer und Frauen, deren Leben sich in einem flüchtig-modernen Umfeld vollzieht) nicht selten geneigt, diese Verzahnung der Reproduktion des Systems mit individuellen Motivationen als verschwenderisch, exorbitant teuer und, vor allem, schrecklich repressiv abzutun, weil es den »natürlichen« menschlichen Neigungen zuwiderläuft. Sigmund Freud war einer der Ersten, die das erkannt haben – doch selbst dieser überaus ideenreiche Denker, der in einer Zeit lebte und seine Daten sammelte, als die Gesellschaft der Massengüterindustrie und der allgemeinen Wehrpflicht ihren Aufstieg erlebte, konnte sich keine Alternative zur gewaltsamen Unterdrückung der Triebe vorstellen und schrieb daher seinen Beobachtungen den übergeordneten Status von notwendigen und unvermeidlichen Kennzeichen jeglicher Kultur zu: der Kultur »an sich«. 92
Die Forderung des Triebverzichts, schloss Freud, wird nirgendwo und unter keinen Umständen auf freudige Zustimmung stoßen. Er stellt fest, »daß eine Überzahl von Menschen den diesbezüglichen Kulturverboten nur unter dem Druck des äußeren Zwanges gehorcht« und schreibt an anderer Stelle: »man kann vor dem ungeheuerlichen Aufwand an Zwang erschrecken, der bis zur Durchführung dieser Absichten unvermeidlich sein wird«. Dieser Zwang ist es, der die Entscheidungen des Menschen für »die Opfer, welche ihnen von der Kultur zugemutet werden, um ein Zusammenleben zu ermöglichen«25 fördert, einimpft und absichert, etwa die zugunsten des Arbeitsethos (das heißt, die prinzipielle Verdammung des Müßiggangs, verbunden mit dem Gebot, um der Arbeit willen zu arbeiten, unabhängig vom materiellen Gewinn) oder die Akzeptanz des Ethos des friedlichen Zusammenlebens, das seinen Ausdruck im Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« findet (»Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?«, so die rhetorische Frage Freuds26). Der Rest der Freudschen Argumentation zugunsten des Zwangskorsetts, das alle Kulturen für ihre Stabilität brauchen, ist so bekannt, dass es hier nicht im Detail wiederholt werden muss. Seine allgemeine Schlussfolgerung war, wie wir wissen, dass jegliche Kultur nur durch Zwang und Triebverzicht aufrechterhalten werden kann, da ein gewisses Maß an permanent im Hintergrund brodelndem Dissens und sporadisch, aber immer wieder auftretenden Rebellionen sowie kontinuierlichen Anstrengungen, diese zu unterdrücken und ihnen vorzubeugen, unumgänglich sind. Unzufriedenheit und Meuterei sind unvermeidbar, weil jede Kultur die gewaltsame Unterdrückung der menschlichen Triebe bedeutet und jeder Zwang Widerwillen hervorruft. »Diese Ersetzung der Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft ist der entscheidende kulturelle Schritt. Ihr Wesen besteht darin, daß sich die Mitglieder der Gemeinschaft in ihren Befriedigungsmöglichkeiten beschränken, während der Einzelne keine solche Schranke kannte.«27 25 Freud, Die Zukunft einer Illusion, S. 332, 329. 26 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 469. 27 Ebenda, S. 455.
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Lassen wir den Einwand einmal beiseite, dass »der Einzelne«, der nicht schon immer »Mitglied einer Gemeinschaft« war, möglicherweise eine noch phantastischere Gestalt darstellt als der vorgesellschaftliche Wilde in Hobbes’ bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle), oder aber bloß ein rhetorisches Mittel, das der Argumentation dient, wie der von Freud in seinem späteren Werk erfundene »Urvatermord«. Doch weshalb auch immer Freud sich für genau diese Formulierung entschieden hat, der Kern der Aussage ist, dass das gemeine Volk das Gebot, die Interessen einer überindividuellen Gruppe über individuelle Neigungen und Impulse und langfristige Ziele über die sofortige Bedürfnisbefriedigung zu stellen (wie im Fall des Arbeitsethos), kaum freiwillig anerkennen, sich zu eigen machen und befolgen wird, und dass somit jede Kultur (oder, einfacher ausgedrückt, jegliche Form des friedlichen und kooperativen menschlichen Zusammenlebens mit all ihren Vorteilen) auf Zwang begründet sein muss, oder zumindest auf einer realistischen Androhung, dass Zwang ausgeübt werden wird, falls die Triebimpulsen auferlegten Beschränkungen nicht peinlich genau eingehalten werden. Wenn das kultivierte menschliche Zusammenleben dauerhaft bestehen soll, muss sichergestellt werden, dass das »Realitätsprinzip« die Oberhand über das »Lustprinzip« behält, koste es, was es wolle. Diese Schlussfolgerung projiziert Freud auf alle Formen des menschlichen Zusammenlebens (die rückblickend in »Kulturen« umbenannt wurden) und stellt sie als universelle Vorbedingung des menschlichen Zusammenlebens dar, als Vorbedingung von jedem Leben-in-Gesellschaft, was zugegebenermaßen gleichbedeutend mit menschlichem Leben an sich ist. Doch wie man die Frage auch beantwortet, ob die Triebunterdrückung tatsächlich gleichbedeutend mit der Geschichte der Menschheit war und für immer bleiben wird oder nicht, man kann überzeugend argumentieren, dass dieses scheinbar zeitlose Prinzip zu keiner anderen Zeit entdeckt, benannt, zu Protokoll genommen oder theoretisch durchdrungen hätte werden können als zu Beginn der Moderne; genauer, zu keinem anderen Zeitpunkt als nach dem Zusammenbruch des Ancien Régime, der ihm unmittelbar vorausging. Es war dieser Zusammenbruch, das Auseinanderfallen der althergebrachten Institutionen, die eine im Großen und Ganzen monotone und mehr oder weniger nüchterne Reproduktion von »Rechts- und Pflichtgewohn94
heiten« aufrechterhalten hatte, der das menschengemachte Artefakt, das sich hinter der »natürlichen« oder »göttlichen« Ordnung verbarg, freilegte und so eine Reklassifizierung des Phänomens »Ordnung« aus der Kategorie »Gegeben« in die Kategorie »Aufgaben« erzwang; dadurch wurde die »Logik der göttlichen Schöpfung« als eine Errungenschaft menschlicher Macht neu dargestellt. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass selbst wenn vor dem Beginn der Moderne der Raum für die Ausübung von Zwang nicht weniger groß war, als er im Zuge des Aufbaus der modernen Ordnung zwangsläufig werden musste, so war vor der Moderne kaum Raum für die Selbstsicherheit und Nüchternheit, mit der Jeremy Bentham ein Gleichheitszeichen zwischen Gesetzestreue auf der einen und dem Sicherstellen, dass keine alternativen Möglichkeiten einsickern können, auf der anderen Seite setzen konnte und setzte, indem er die Ausgänge des panoptischen Gefängnisses versperrte und die Insassen in eine Lage brachte, wo ihnen nur die Wahl zwischen »Arbeite oder stirb« blieb. Richard Rorty hat den Trend in einer kurzen, prägnanten These auf den Punkt gebracht: »Seit Hegel haben die Intellektuellen damit begonnen, Phantasievorstellungen von der Berührung mit der Ewigkeit fallenzulassen und zu Vorstellungen vom Aufbau einer besseren Zukunft überzugehen.«28 Die »Macht der Gemeinschaft«, insbesondere einer künstlich geschaffenen Gemeinschaft, einer Gemeinschaft, die im Verlauf des Aufbaus einer Kultur oder Nation entstanden ist, musste »die Macht des Individuums« nicht ersetzen, damit das Zusammenleben möglich und praktikabel wurde; die Macht der Gemeinschaft bestand, lange bevor ihre Notwendigkeit entdeckt wurde, ganz zu schweigen von ihrer Dringlichkeit. In der Tat war es unwahrscheinlich, dass »dem Individuum« oder »der Gemeinschaft« die Idee kam, dass eine solche Ersetzung eine Aufgabe sein könnte, die von einer mächtigen, kollektiven oder individuellen Instanz erst noch zu leisten sei, solange die Präsenz der Gemeinschaft und ihre allzu greifbare Macht sich sozusagen »im Licht versteckte«, das heißt, zu offensichtlich war, um bemerkt zu werden. Die Gemeinschaft, so könnte man sagen, hatte Macht über das Individuum (und zwar eine absolute, »allumfassende« Macht), solange sie 28 Rorty, Das Ende des Leninismus, S. 336.
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unproblematisch war und nicht eine Aufgabe, die man (wie alle Aufgaben) bewältigen oder an deren Bewältigung man scheitern konnte. Kurz: Die Gemeinschaft hatte die Individuen in ihrer Gewalt, solange ihnen nicht bewusst war, dass sie »eine Gemeinschaft sind«. Dass die Unterordnung individueller Kräfte unter die Kräfte einer »Gemeinschaft« zu einem »Bedürfnis« gemacht wurde, das »erfüllt« werden musste und gezielte Maßnahmen erforderte, war eine Umkehrung der Logik vormoderner Gesellschaftsformen. Weil jedoch zugleich etwas »naturalisiert« wurde, was in Wirklichkeit ein historischer Prozess war, schuf diese Unterordnung auf einen Schlag ihre eigene Legitimität und den ätiologischen Mythos ihres »Ursprungs«, ihrer »Geburt« oder ihrer »Erschaffung«, als ein Akt oder Prozess, in dem eine Ansammlung von frei flottierenden, vereinzelten Individuen, die einander misstrauisch und feindselig gegenüberstehen, zu einer »Gemeinschaft« umgeformt, integriert und verdichtet wurde, die fähig war, sich erfolgreich um die Autorität zu bemühen, mit der sie diejenigen individuellen Neigungen zurechtstutzen und unterdrücken konnte, die erwiesener- oder erklärtermaßen den Anforderungen eines sicheren Zusammenlebens zuwiderliefen. Um es kurz zu machen: Die Gemeinschaft mag so alt sein wie die Menschheit, aber die Vorstellung von »Gemeinschaft« als conditio sine qua non der Menschheit konnte nur im Kontext der Erfahrung ihrer Krise geboren werden. Zusammengeflickt wurde diese Vorstellung aus Ängsten, die der Zusammenbruch eines sich vorher selbst reproduzierenden gesellschaftlichen Umfelds auslöste – eines Umfelds, das später rückblickend das Ancien Régime genannt wurde und als »traditionelle Gesellschaft« Eingang in den sozialwissenschaftlichen Wortschatz fand. Der moderne »Prozess der Zivilisation« (der einzige Prozess, der sich selbst so bezeichnet) wurde ausgelöst von einem Zustand der Ungewissheit, für die als eine mögliche Erklärung das Auseinanderfallen und die Ohnmacht der »Gemeinschaft« vorgebracht wurden. Die »Nation«, jene überaus moderne Innovation, stellte man sich nach dem Vorbild der »Gemeinschaft« vor: Sie sollte eine neue, größere Gemeinschaft sein, eine Gemeinschaft par excellence, eine auf die große Leinwand einer neu erdachten »Totalität« projizierte Gemeinschaft – und eine planmäßige Gemeinschaft, eine Gemeinschaft, die 96
auf das mittlerweile ausgedehnte Netzwerk der wechselseitigen Abhängigkeit und des Austausches zwischen Menschen zugeschnitten war. Was später als »Prozess der Zivilisation« bezeichnet wurde, zu einer Zeit, als die Entwicklungen, die er bezeichnete, bereits dabei waren, zum Stillstand zu kommen oder sich umzukehren schienen, war der permanente Versuch, neue Regeln oder Muster für menschliches Verhalten zu finden, nachdem es dem Homogenisierungsdruck von sich selbst reproduzierenden, vormodernen Nachbarschaften nicht mehr unterlag. Scheinbar konzentrierte sich das, was rückblickend als »Prozess der Zivilisation« bezeichnet wurde, auf Individuen: Die vom nunmehr autonomen Individuum neu erworbene Fähigkeit zur Selbstkontrolle sollte die Aufgabe übernehmen, die vorher gemeinschaftliche Kontrollmechanismen erfüllt hatten, die jetzt nicht mehr verfügbar waren. In Wahrheit ging es jedoch darum, die Fähigkeit der Individuen zur Selbstkontrolle zu nutzen, um die »Gemeinschaft« auf einer höheren Ebene wieder in Kraft zu setzen und neu zu konstituieren. So wie der Geist des untergegangenen Römischen Reiches über der Selbstkonstitution des feudalen Europa lag, so schwebte über der Konstitution moderner Nationen der Geist der verlorengegangenen Gemeinschaft. Der Aufbau von Nationen gelang, indem man Patriotismus – die gezielt herbeigeführte (gelehrte und erlernte) Bereitschaft, individuelle Interessen hinter den mit anderen Individuen geteilten Interessen zurückzustellen, wobei diese Individuen bereit sind, das Gleiche zu tun – als wichtigstes Rohmaterial benutzte. Berühmt ist die Zusammenfassung dieser Strategie von Ernest Renan: Eine Nation war oder, genauer gesagt, konnte nur leben und überleben durch ein tägliches Plebiszit ihrer Mitglieder.29 Norbert Elias bemühte sich, dem Freudschen zeitlosen Modell der Kultur wieder Historizität zu verleihen, und erklärte die Geburt des modernen Selbst (jenes Bewusstseins der eigenen »inneren Wahrheit«, verbunden mit der eigenen Verantwortung dafür, ihr Geltung zu verschaffen) mit der Internalisierung äußerer Einschränkungen und ihrer Zwänge. Der Prozess der Bildung von Nationen war in dem 29 Renan, Was ist eine Nation?
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Raum eingeschrieben, der sich zwischen überindividuellen, panoptischen Mächten und der individuellen Fähigkeit erstreckte, sich an die Notwendigkeiten anzupassen, die jene Mächte schufen. Die neu erworbene individuelle Wahlfreiheit (einschließlich der Wahl der eigenen Identität) – eine Folge der nie da gewesenen Unterdeterminierung und Unterdefinition der gesellschaftlichen Position, die ihrerseits verursacht wurde durch den Niedergang oder die radikale Schwächung traditioneller Bindungen – wurde paradoxerweise in den Dienst der Unterdrückung von jenen Wahlmöglichkeiten gestellt, die als schädlich für die »neue Totalität« – den gemeinschaftsähnlichen Nationalstaat – galten. Bei allen pragmatischen Vorteilen war die panoptikongleiche Methode des »Disziplinierens, Bestrafens und Beherrschens«, mit der die nötige und angestrebte Manipulation von Verhaltenswahrscheinlichkeiten und deren Verwandlung in Routinehandlungen erreicht werden sollte, mühselig, teuer und konfliktträchtig. Außerdem war sie lästig und aus Sicht der Machthaber sicherlich nicht die beste Wahl, weil sie ihre eigenen Handlungsspielräume schwerwiegenden und nicht verhandelbaren Beschränkungen unterwarf. Allerdings war dies nicht die einzige Strategie, um die Stabilität des Systems, besser bekannt als Sozialordnung, zu etablieren und abzusichern. Nachdem sie »Zivilisation« mit einem zentralisierten System des Zwangs und der Indoktrinierung gleichgesetzt hatten (was später unter dem Einfluss Michel Foucaults fast vollständig auf den Bereich des Zwangs reduziert wurde), blieb Sozialwissenschaftlern kaum eine andere Wahl, als den Anbruch der »Postmoderne« (eine Entwicklung, die mit der Etablierung der Konsumgesellschaft zusammenfiel) als ein Produkt des »Prozesses der Entzivilisierung« zu beschreiben. Was jedoch in Wirklichkeit geschah, war die Entdeckung, Erfindung oder Entstehung einer alternativen Methode (die weniger mühselig, kostengünstiger und im Vergleich weniger konfliktträchtig war, vor allem aber den Machthabern mehr Freiheit und damit mehr Macht verlieh), um die für die Aufrechterhaltung des als Sozialordnung anerkannten Herrschaftssystems nötigen Verhaltenswahrscheinlichkeiten zu manipulieren. Eine andere Variante des »Prozesses der Zivilisation«, eine alternative und offensichtlich günstigere Methode, mit der dieselbe Aufgabe bewältigt werden konnte, wurde entdeckt und ins Werk gesetzt. 98
Diese neue, von der flüchtig-modernen Konsumgesellschaft praktizierte Methode ruft wenig bis gar keinen Dissens, Widerstand oder Aufruhr hervor, und zwar dank des Kunstgriffs, dass die neue Verpflichtung (die Verpflichtung zur Wahl) als Wahlfreiheit dargestellt wird. Man könnte sagen, dass die oft analysierte, kritisierte und geschmähte Weissagung Rousseaus – dass »man ihn [den Bürger] zwingt, frei zu sein«30 – Jahrhunderte später Wirklichkeit geworden ist, wenn auch nicht in der Form, in der sowohl die begeisterten Anhänger als auch die scharfen Kritiker Rousseaus es erwartet hatten. So oder so ist der Gegensatz zwischen dem »Lust-« und dem »Realitätsprinzip«, die bis vor kurzem als unversöhnlich galten, außer Kraft gesetzt: Sich den strengen Anforderungen des »Realitätsprinzips« zu beugen, ist gleichbedeutend mit der Erfüllung der Verpflichtung, nach Lust und Glück zu streben, und wird daher als Ausübung von Freiheit und Akt der Selbstbehauptung durchlebt. Man ist versucht zu sagen, dass Hegels zugegebenermaßen kontroverse Formel, wonach Freiheit »Einsicht in die Notwendigkeit« ist, sich bewahrheitet hat, wenn auch paradoxerweise nur dank eines Mechanismus, der es ermöglicht, die Zwänge der Notwendigkeit zu einer Freiheitserfahrung zu recyceln und dabei die »Einsicht« außen vor zu lassen. Strafende Gewalt, so sie angewendet wird, ist selten nackt; sie erscheint getarnt als Ergebnis des einen oder anderen »Fehltritts« beziehungsweise dieser oder jener verpassten (übersehenen) Gelegenheit. Weit davon entfernt, die Grenzen individueller Freiheit aufzuzeigen und ans Tageslicht zu bringen, kaschiert sie diese noch effektiver, indem sie die individuelle Wahl (ob sie schon getroffen ist oder erst noch getroffen werden muss), als wichtigster, vielleicht einziger »Unterschied«, der im individuellen Streben nach Glück »einen Unterschied macht«, indirekt eingeschränkt. In den meisten Fällen taucht die »Totalität«, die Individuen Loyalität und Gehorsam abverlangt, weder in Form einer Verweigerung ihrer individuellen Autonomie auf noch als obligatorisches Opfer wie die allgemeine Wehrpflicht, also die Pflicht, ihr Leben für ihr Land und das Wohl der Nation zu opfern. Stattdessen präsentiert sie sich in Form von höchst unterhaltsamen und ausnahmslos vergnüglichen, 30 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 21.
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lustvollen Festen des gemeinschaftlichen Beisammenseins und der Zugehörigkeit, die anlässlich einer Fußballweltmeisterschaft oder eines Kricket-Testspiels stattfinden. Sich der »Totalität« unterzuordnen ist keine widerwillig wahrgenommene, mühsame und nicht selten beschwerliche Pflicht mehr, sondern »Patriotainment«, ein heißbegehrtes und außerordentlich angenehmes festliches Treiben. Für gewöhnlich sind Karnevalsfeste, wie Michail Bachtin in unvergesslicher Weise dargelegt hat, Unterbrechungen der Alltagsroutine, kurze, rauschhafte Intervalle zwischen Phasen langweiliger Alltäglichkeit, Pausen, in denen die gewohnte Wertehierarchie zeitweise umgekehrt wird, die qualvollsten Aspekte der Realität kurzzeitig ausgesetzt und Verhaltensweisen, die im »normalen« Leben verboten sind und als anstößig gelten, ostentativ praktiziert und offen zur Schau getragen werden.31 Karnevalsfeste im alten Stil eröffneten die Chance, in der Ekstase individuelle Freiheiten zu kosten, die im Alltag verwehrt wurden; heute sind die schmerzlich vermissten Gelegenheiten diejenigen, bei denen man die Last und Qual der Individualität ablegen und vergraben, das Selbst in einem »größeren Ganzen« aufgehen, und man in kurzen, aber intensiven Festen der gemeinschaftlichen Belustigung feiern kann. Die Funktion (und das Verführerische) an den Karnevalsfesten der flüchtigen Moderne liegt in der kurzzeitigen Wiederbelebung des ins Koma gefallenen Zusammenseins. Solche Karnevalsfeste sind Séancen, bei denen die Menschen sich versammeln, um sich an den Händen zu halten und für die Dauer der Séance den Geist der verlorenen Gemeinschaft aus der Unterwelt zurückzurufen – im beruhigenden Bewusstsein, dass der Gast die Gastfreundschaft nicht über Gebühr in Anspruch nehmen, sondern nur einen flüchtigen Besuch abstatten und umgehend verschwinden wird, sobald die Séance zu Ende ist. All das bedeutet nicht, dass das Verhalten von Individuen an »normalen« Werktagen zufällig, ohne erkennbare Muster und unkoordiniert geworden wäre. Es bedeutet lediglich, dass die Nicht-Zufälligkeit, die Regelmäßigkeit und die Koordination individueller Handlungen mit 31 Bachtin, Rabelais und seine Welt, S. 52–65.
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anderen Mitteln erreicht werden können und in der Regel auch werden, als mit den Zwangsmechanismen der festen Moderne, mit Polizeigewalt und einer Befehlskette, die von einer Gesamtheit angewendet wird, die »größer« zu sein verspricht »als die Summe ihrer Teile«, und die fest entschlossen ist, ihren »menschlichen Einheiten« Disziplin anzutrainieren und einzudrillen. In einer flüchtig-modernen Konsumgesellschaft tritt zunehmend der Schwarm an die Stelle der Gruppe, die mit Anführern, hierarchisch abgestufter Autorität und einer Hackordnung ausgestattet ist. Ein Schwarm kommt ohne all jene Finessen und Kunstgriffe aus, ohne die eine Gruppe weder gebildet würde noch lebensfähig wäre. Schwärme müssen sich nicht mit Hilfsmitteln belasten, um ihr Überleben zu sichern; sie kommen zusammen, lösen sich auf und finden erneut zusammen, von Gelegenheit zu Gelegenheit, jedes Mal geleitet von anderen, sich immerzu verändernden Anlässen, und angezogen von wechselnden und beweglichen Zielen. Die verführerische Macht beweglicher Ziele reicht in der Regel aus, um ihre Bewegungen zu koordinieren, sodass jeder Befehl und jeder Zwang »von oben« überflüssig ist. Schwärme kennen kein »Oben«; es ist lediglich die derzeitige Richtung ihres Fluges, die einigen Einheiten des aus eigenem Antrieb fliegenden Schwarms die Rolle von »Anführern« zuweist, denen die anderen für die Dauer einer bestimmten Flugstrecke oder eines Abschnitts davon, aber kaum länger »folgen«. Schwärme sind keine Teams, Arbeitsteilung ist ihnen fremd. Sie sind (im Gegensatz zu echten Gruppen) nicht mehr als die »Summe ihrer Teile«; zusammengehalten werden solche Ansammlungen sich selbst antreibender Einheiten (um erneut auf Durkheim zurückzugreifen und ihn abzuwandeln) einzig durch »mechanische Solidarität«, die sich in der Nachahmung ähnlicher Verhaltensmuster und in der Bewegung in die gleiche Richtung manifestiert. Am besten kann man sie sich als immer wieder kopierte Bilder von Andy Warhol ohne Original vorstellen oder mit einem Original, das nach Gebrauch weggeworfen wurde und weder auffindbar noch wiederherstellbar ist. Jede Einheit des Schwarms ahmt die Bewegungen aller anderen nach und führt doch die gesamte Aufgabe allein aus, von Anfang bis zum Ende und in allen ihren Teilen (im Fall von konsumierenden Schwärmen besteht die solchermaßen ausgeführte Aufgabe im Konsumieren). 101
In einem Schwarm gibt es keine Spezialisten, niemanden, der besondere (und seltene) Fertigkeiten und Ressourcen besitzt und dessen Aufgabe darin besteht, andere Einheiten zu befähigen und ihnen dabei behilflich zu sein, ihre Aufgaben auszuführen, beziehungsweise deren individuelle Schwächen oder Defizite zu kompensieren. Jede Einheit ist ein »Hansdampf in allen Gassen« und muss über die ganze Bandbreite an Werkzeugen und Fertigkeiten verfügen, die zur Ausführung der gesamten Aufgabe nötig ist. In einem Schwarm gibt es keinen Austausch, keine Kooperation und kein Sich-gegenseitig-Ergänzen, nur die räumliche Nähe und die grob aufeinander abgestimmte Richtung der aktuellen Bewegung. Im Fall von denkenden und fühlenden Menschen ist das Beruhigende am Fliegen im Schwarm, dass man sich in der Menge sicherer fühlt: die Überzeugung, dass die Richtung des Fluges richtig gewählt sein muss, weil ein erstaunlich großer Schwarm ihr folgt; die Annahme, dass so viele fühlende, denkende und frei wählende Menschen nicht alle gleichzeitig getäuscht worden sein können. Was Selbstsicherheit und das Gefühl der Sicherheit anbelangt, sind die wie von Geisterhand koordinierten Bewegungen eines Schwarms der bestmögliche Ersatz für die Autorität der Anführer einer Gruppe und nicht weniger wirkungsvoll als diese. Im Gegensatz zu Gruppen kennen Schwärme keine Andersdenkenden oder Rebellen – lediglich, so könnte man sagen, »Deserteure«, »Stümper« oder »verlorene Schafe«. Einheiten, die im Flug aus dem Hauptfeld herausfallen, haben sich nur »verirrt«, sind »verlorengegangen« oder »auf der Strecke geblieben«. Sie müssen sich alleine durchschlagen, doch das Leben von Einzelgängern währt selten lange, weil die Chance, allein ein realistisches Ziel zu finden, viel kleiner ist, als wenn sie dem Schwarm folgen, und wenn unrealistische, sinnlose oder gefährliche Ziele angestrebt werden, vervielfacht sich das Risiko, umzukommen. Die Konsumgesellschaft neigt dazu, Gruppen aufzulösen, oder lässt sie äußerst fragil und zersetzungsgefährdet werden. Sie begünstigt die rasche Formierung und Auflösung von Schwärmen. Konsumieren ist eine höchst einsame Aktivität (vielleicht sogar der Archetyp der Einsamkeit), selbst dann, wenn sie gemeinsam praktiziert wird. 102
Die Aktivität des Konsumierens lässt keine dauerhaften Bindungen entstehen. Die Bindungen, die im Rahmen einer Konsumhandlung eventuell geknüpft werden, können die Handlung überdauern, vielleicht aber auch nicht; sie mögen Schwärme für die Dauer eines Fluges zusammenhalten (das heißt, bis zum nächsten Wechsel des Ziels), aber sie sind zugegebenermaßen situationsgebunden und im Übrigen schwach und instabil, sodass sie, wenn überhaupt, wenig Einfluss auf die weiteren Bewegungen der Einheiten haben und ihre Geschichte kaum oder gar nicht erhellen. Aus Erfahrungen klüger geworden, können wir vermuten, dass es nicht zuletzt das produktive Element des Konsums war, das dafür sorgte, dass die Mitglieder eines Haushalts am Familientisch verblieben und dass der Familientisch zu einem Instrument der Integration und Stärkung der Familie als einer dauerhaft zusammengeschweißten Gruppe wurde. Fertig zubereitetes Essen konnte man am Familientisch finden und nirgendwo sonst: Das Versammeln um den gemeinsamen Esstisch war die letzte Verteilungsphase eines langen Produktionsprozesses, der in der Küche begann oder sogar davor, auf dem Familienacker oder in der Familienwerkstatt. Was die Speisenden zu einer Gruppe zusammenschweißte, war die tatsächliche oder erwartete Kooperation im vorausgehenden, produktiven Arbeitsprozess, und daraus leitete sich der gemeinsame Konsum des Produzierten ab. Es ist anzunehmen, dass die »unbeabsichtigte Folge« von »Fastfood«, »Essen zum Mitnehmen« oder »Fertiggerichten« (oder vielleicht eher deren »latente Funktion« und der wahre Grund für die unaufhaltsame Zunahme ihrer Beliebtheit) entweder darin besteht, das Versammeln um den Familientisch überflüssig zu machen und damit dem gemeinsamen Konsum ein Ende zu bereiten, oder durch einen Akt der Kommensalität, des gemeinsamen Konsums, den Verlust der lästigen Merkmale des Knüpfens und Bestätigens von Banden, die er einst hatte, die in der flüchtig-modernen Konsumgesellschaft jedoch irrelevant oder sogar unerwünscht geworden sind, symbolisch zu bekräftigen. »Fastfood« ist dazu da, die Einsamkeit einsamer Konsumenten zu schützen. Die wichtigste Tugend, die von Mitgliedern der Konsumgesellschaft (oder, wie der britische Innenminister es formulieren würde, jener Menschen, »die das Land braucht«) erwartet wird, ist die aktive Betä103
tigung auf den Konsumgütermärkten. Wenn das am Bruttosozialprodukt gemessene Wachstum sich zu verlangsamen oder gar ins Negative zu fallen droht, dann sind es schließlich Konsumenten, die ihre Scheckbücher oder, besser noch, ihre Kreditkarten zücken, auf die man hofft, und die man drängt und beschwatzt, die »Wirtschaft anzukurbeln« – und so »das Land aus der Konjunkturkrise herauszuführen«. Aber derlei Hoffnungen und Aufrufe sind natürlich nur dann sinnvoll, wenn die Adressaten Menschen mit einem Konto im Plus und einer Brieftasche voller Kreditkarten sind, »kreditwürdige« Menschen, die »Beraterbanken« gerne beraten, für die man gerne »den Weg frei macht« und denen man »Leistung aus Leidenschaft« zusichert. Da ist es wenig überraschend, dass die Aufgabe, für die Kreditwürdigkeit von Gesellschaftsmitgliedern zu sorgen und sie dazu zu bringen, den eingeräumten Kredit bis ans Limit auszureizen, auf der Liste der staatsbürgerlichen Pflichten und der Sozialisationsbemühungen ständig nach oben wandert. Schulden zu machen und auf Kredit zu leben, ist in Großbritannien mittlerweile Teil des vom Staat entworfenen, abgesegneten und subventionierten nationalen Lehrplans geworden. Hochschulstudenten, die erhoffte »Konsumelite« der Zukunft und damit jener Teil der Nation, der für die Konsumwirtschaft in den kommenden Jahren den höchsten Gewinn abzuwerfen verspricht, durchlaufen ein drei bis sechs Jahre langes Training in den Fertigkeiten und Gepflogenheiten des Geldleihens und des Lebens auf Kredit, das verpflichtend ist, obwohl es auf keinem Lehrplan auftaucht. Man hofft, dass das obligatorische Leben auf Kredit lange genug dauert, um zur Gewohnheit zu werden und die Institution des Verbraucherkredits von den letzten Überresten von Schande reinzuwaschen, die ihr noch anhaften (ein Überbleibsel aus der Sparbuch-Gesellschaft von Produzenten), und lange genug, damit die Überzeugung, dass nie zurückgezahlte Schulden eine clevere und solide Lebensstrategie sind, in den Rang einer »rationalen Entscheidung« des »gesunden Menschenverstandes« erhoben und zu einem nicht mehr hinterfragbaren Axiom der Lebensweisheit gemacht wird. Ja, ausreichend lange, damit das »Leben auf Kredit« zur zweiten Natur wird. Diese »zweite Natur« mag dem staatlich geförderten Training auf dem Fuße folgen, aber sie wird möglicherweise keine Immunität gegen »Naturkatastrophen« und andere »Schicksalsschläge« mit sich bringen. 104
Unter dem Beifall von Vermarktern und Politikern gleichermaßen reihen sich junge Männer und Frauen unter die »ernst zu nehmenden Konsumenten« ein, lange bevor sie ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten, denn ein 20-Jähriger kann sich heutzutage ohne jede Schwierigkeit eine Auswahl von Kreditkarten zulegen (und das verwundert kaum, wenn man sich vor Augen hält, dass eine Vorbedingung für die Zulassung zum »Arbeitsmarkt« die Herausforderung ist, sich zu einer wertvollen Ware zu machen, eine Aufgabe, für die man Geld und immer mehr Geld benötigt). Eine aktuelle Untersuchung in Großbritannien, unter der gemeinsamen Federführung der Financial Services Authority und der Bristol University, kam allerdings zu dem Ergebnis, dass die Generation der 18- bis 40-Jährigen (also die erste Generation von Erwachsenen, die in einer vollständig ausgebildeten Konsumgesellschaft aufgewachsen und herangereift ist) unfähig ist, mit ihren Schulden zurechtzukommen oder mehr als ein »erschreckend niedriges« Niveau von Ersparnissen anzuhäufen: Nur 30 Prozent der Individuen in dieser Generation haben etwas Geld für zukünftige Erwerbungen zurückgelegt, 42 Prozent haben nichts unternommen, um sich einen Anspruch auf Altersbezüge zu sichern, und 24 Prozent der Jungen (aber lediglich 11 Prozent der über 50-Jährigen und 6 Prozent der über 60-Jährigen) haben derzeit ihr Bankkonto überzogen.32 Dass das Leben auf Kredit, mit Schulden und ohne Ersparnisse, eine gute und angemessene Methode ist, menschliche Belange auf allen Ebenen zu handhaben, auf der Ebene der individuellen life politics ebenso wie auf der Ebene staatlicher Politik, ist mittlerweile sozusagen »offiziell«: Dafür bürgt die erfolgreichste und am weitesten entwickelte unter den heutigen Konsumgesellschaften. Die Vereinigten Staaten von Amerika, die unverkennbar stärkste Wirtschaftsmacht der Welt, ein Erfolgsmodell, zu dem die meisten Bewohner dieses Planeten aufblicken, die auf der Suche nach dem ultimativen Vorbild für ein befriedigendes und angenehmes Leben sind, sind vermutlich höher verschuldet als jedes andere Land in der Geschichte. Paul Krugman zeigt auf, dass »Amerika letztes Jahr auf den Weltmärkten 57 Prozent mehr ausgegeben als eingenommen hat«. Er fragt: »Wie haben die Amerikaner es geschafft, so über ihre Verhältnisse zu leben?«, und antwortet: 32 Collinson, Study Reveals Financial Crisis.
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»[I]ndem sie sich bei Japan, China und den Ölproduzenten im Nahen Osten tief verschuldet haben.«33 Die Machthaber und Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika sind nach importiertem Geld ebenso süchtig (und von ihm abhängig) wie sie nach importiertem Öl süchtig und von ihm abhängig sind. Staatsverschuldung dient genau wie die Verschuldung der Verbraucher der Finanzierung von Konsum und nicht von Investitionen. Importiertes Geld, das früher oder später zurückgezahlt werden muss (auch wenn die derzeitige Regierung sich noch so anstrengt, die Rückzahlung ad calendas graecas zu verschieben), wird nicht ausgegeben, um potentiell profitable Investitionen zu tätigen, sondern um den boomenden Konsum und damit den »Wohlfühlfaktor« in der Wählerschaft aufrechtzuerhalten und um das wachsende nationale Defizit zu decken, das ja (trotz immer schärferer Einschnitte bei den Sozialleistungen) aufgrund fortgesetzter Steuererleichterungen für die Reichen regelmäßig steigt. »Steuererleichterungen für die Reichen« sind nicht – oder zumindest nicht ausschließlich – ein Rezept, um die Hohen und Mächtigen glücklicher zu machen oder um die Schulden zurückzuzahlen, die Politiker im Eifer von exorbitant teuren Wahlkampfversprechungen angehäuft haben. Die Politik der Steuererleichterungen lässt sich auch nicht hinreichend erklären als Ausdruck der angeborenen Neigungen von Politikern, die überwiegend aus den Reihen der Reichen stammen (wie im vielleicht berüchtigtsten Fall, über den, wenn auch vergeblich, zugleich am meisten berichtet wurde und bei dem es darum ging, dass US -Vizepräsident Cheney die Firma Halliburton begünstigt hat, ein Unternehmen, das er vor seiner Kandidatur geleitet hatte und dessen Leitung er vermutlich erneut zu übernehmen hofft, wenn seine Amtszeit zu Ende ist), oder mit der Bestechlichkeit jener Politiker, die aus den unteren Schichten stammen und die der Versuchung nicht widerstehen konnten, ihren naturgemäß zeitlich begrenzten politischen Erfolg in dauerhaftere und verlässlichere wirtschaftliche Vermögenswerte zu verwandeln. Neben all diesen Faktoren, die sicherlich dazu beigetragen haben, die derzeitige Tendenz hervorzurufen und aufrechtzuerhalten, sind die 33 Krugman, Deep in Debt.
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Steuererleichterungen für die Reichen integraler Bestandteil eines allgemeinen Trends, die die Besteuerung von den Einnahmen, ihrer »natürlichen« Basis in der Gesellschaft von Produzenten, wegverlagert, hin zu den Ausgaben, einer ähnlich »natürlichen« Basis in einer Konsumgesellschaft. Nunmehr ist es die Tätigkeit des Konsumierens, und nicht die des Produzierens, in der man die entscheidende Schnittstelle zwischen Individuen und der Gesellschaft insgesamt sieht; nunmehr definiert in erster Linie die Funktion als Konsument, und nicht die als Produzent, den Status des Bürgers. Daher ist es nur recht und billig, aus sachlichen wie auch aus symbolischen Gründen, dass das Zusammenspiel von Rechten und Pflichten, das routinemäßig beschworen wird, um das Erheben und Einsammeln von Steuern zu legitimieren, neu ausgerichtet wird auf die souveränen Entscheidungen des Konsumenten. Im Gegensatz zur Einkommensteuer rückt die Mehrwertsteuer jene Wahlfreiheit (des Konsumenten) in den Mittelpunkt, die der Logik der Konsumgesellschaft zufolge die Bedeutung der individuellen Souveränität und der Menschenrechte definiert und die Regierungen, die an der Spitze einer Konsumgesellschaft stehen, gerne zur Schau stellen als die Art von Dienstleistung, deren Bereitstellung zur Legitimierung ihrer Macht vollkommen ausreicht.
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3 Die Kultur des Konsumismus
Ein einflussreiches, vielgelesenes und angesehenes Modeheft für die Herbst/Winter-Saison 2005, herausgegeben von einer renommierten Zeitschrift, präsentierte »ein halbes Dutzend unverzichtbare Looks … für die kommenden Monate« und versprach, man werde damit »der Meute der Modebewussten voraus sein«. Dieses Versprechen war treffend und geschickt kalkuliert, um Aufmerksamkeit zu erregen, außerordentlich geschickt sogar, da es mit einem kurzen, prägnanten Satz alle oder fast alle Sorgen und Bedürfnisse ansprach, die von der Konsumgesellschaft erzeugt und aus dem Konsumleben geboren werden. Erstens: die Sorge, »voraus zu sein und zu bleiben« (der »Meute der Modebewussten« voraus, das heißt, der Bezugsgruppe, den »signifikanten Anderen«, den »Anderen, auf die es ankommt« und deren Anerkennung oder Zurückweisung die Grenze zwischen Erfolg und Misserfolg festlegt). In den Worten Michel Maffesolis: »Ich bin der, der ich bin, weil der andere mich als solchen anerkennt«, und »das empirische Sozialleben ist nichts anderes als ein Ausdruck der Empfindungen von aufeinanderfolgenden Zugehörigkeiten«1 – wobei die Alternative eine Abfolge von Zurückweisungen oder die endgültige Exklusion ist, als Strafe dafür, dass man sich nicht mit Gewalt, Argumenten oder Geschicklichkeit Anerkennung verschafft hat. Allerdings darf man nicht vergessen, dass in einer Konsumgesellschaft, in der zwischenmenschliche Bindungen meist über Konsumgütermärkte geknüpft und vermittelt werden, das Gefühl der Zugehörigkeit nicht dadurch erreicht wird, dass man das von jener »Meute der Modebewussten«, der man angehören möchte, festgelegte und überwachte Verfahren befolgt, sondern durch die metonymische Identifikation des Aspiranten selbst mit der »Meute«; der Prozess der Selbstidentifikation wird durchgeführt, und seine Ergebnisse werden zur Schau 1
Maffesoli, L’instant éternel, S. 40f.
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gestellt, mit Hilfe sichtbarer »Zeichen der Zugehörigkeit«, die man in der Regel in Geschäften erwerben kann. In den postmodernen »Stämmen«2 (wie Maffesoli es vorzieht, die »Meuten der Modebewussten« der Konsumgesellschaft zu nennen) treten an die Stelle der »Totems« der ursprünglichen Stämme »emblematische Figuren«3 und ihre sichtbaren Kennzeichen (vorgegebene Bekleidungs- und/oder Verhaltensregeln). Voraus zu sein, wenn es darum geht, die Embleme der emblematischen Figuren der Meute der Modebewussten zur Schau zu tragen, ist das einzig verlässliche Rezept, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass die jeweils erwählte Meute der Modebewussten, wäre sie sich der Existenz des Aspiranten bewusst, ihm in der Tat die ersehnte Anerkennung und Akzeptanz gewähren würde. Voraus zu bleiben ist dann die einzige Methode, um sich eine derartige Bestätigung der »Zugehörigkeit« für die erwünschte Dauer zu sichern; um also den einmaligen Akt der Aufnahme umzuwandeln in eine (befristete, aber verlängerbare) Aufenthaltsgenehmigung. Alles in allem verspricht das »Voraussein« die Aussicht auf Sicherheit, Gewissheit, und die Gewissheit der Sicherheit – eben jene Art von Erfahrungen, die im Konsumleben am offensichtlichsten und schmerzlichsten fehlen, obwohl die Sehnsucht, diese zu erwerben, ihr Leitstern ist. Der Verweis darauf, dass man »der Meute der Modebewussten voraus sein« könne, enthält das Versprechen eines hohen Marktwerts und einer großen Nachfrage (was beides übersetzt wird als die Gewissheit, Anerkennung, Zustimmung und Inklusion zu erfahren). Im Falle eines Bemühens, das im Wesentlichen auf die Zurschaustellung von Emblemen reduziert ist, ein Bemühen, das mit dem Kauf von Emblemen beginnt, auf die die öffentliche Bekanntmachung ihres Besitzes folgt, und die als abgeschlossen betrachtet wird, sobald der Besitz allgemein bekannt ist, lässt sich dies wiederum übersetzen in ein Gefühl der »Zugehörigkeit«. Die Bezugnahme auf das »Voraus-Bleiben« wirkt wie eine zuverlässige Warnung vor der Gefahr, den Augenblick zu verpassen, in dem die derzeitigen Embleme der »Zugehörigkeit« in der Versenkung verschwinden, weil sie durch neue ersetzt worden sind und ihre unaufmerksamen Träger riskieren, auf der Strecke zu 2 3
Maffesoli, Time of the Tribes, S. 6. Ebenda, S. 119.
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bleiben – was sich im Fall der vom Markt vermittelten Bewerbung um Mitgliedschaft übertragen lässt in das Gefühl, zurückgewiesen, ausgeschlossen, verlassen und einsam zu sein, und letztlich zum quälenden Schmerz der eigenen Unzulänglichkeit führt. Die verborgene Bedeutung der Sorgen von Konsumenten (und des Konsums) hat Mary Douglas in ihrer berühmten These freigelegt, der zufolge »eine Theorie der Bedürfnisse von der Annahme ausgehen sollte, dass jedes Individuum Waren benötigt, um andere Menschen für die eigenen Projekte zu gewinnen […]. Waren dienen dazu, andere Menschen zu mobilisieren.«4 Oder zumindest dazu, das beruhigende Gefühl zu geben, dass alles unternommen worden ist, was nötig wäre, um eine solche Mobilisierung zu erreichen. Zweitens enthält die Botschaft ein Verfallsdatum: Der Leser wird gewarnt, dass die Botschaft »für die kommenden Monate« gilt und nicht länger. Das passt gut zur Erfahrung der pointillistischen Zeit, die sich aus Augenblicken, befristeten Episoden und Neuanfängen zusammensetzt; sie befreit die Gegenwart, die möglichst umfassend erkundet und genutzt werden soll, von den Ablenkungen der Vergangenheit oder der Zukunft, die die Konzentration stören und das Hochgefühl der freien Wahl verderben könnte. Sie bietet den zweifachen Bonus, kurzzeitig auf dem neuesten Stand zu sein und zugleich dagegen abgesichert zu sein, in der Zukunft den Anschluss zu verlieren (zumindest in absehbarer Zukunft, falls es so etwas gibt). Erfahrene Konsumenten werden die Botschaft sofort verstehen. Sie wird sie zur Eile antreiben und sie daran erinnern, dass es keine Zeit zu verschwenden gilt. In der Botschaft ist also eine Warnung impliziert, die man nur unter höchster Gefahr ignorieren kann: So groß der Gewinn auch sein mag, wenn man dem Aufruf umgehend Folge leistet, er wird nicht ewig währen. Jede Versicherung, die man sich zulegt, muss verlängert werden, sobald die »kommenden Monate« vorüber sind. Schauen Sie wieder rein, demnächst mehr. In einem Roman mit dem treffenden Titel »Die Langsamkeit« zeigt Milan Kundera den engen Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Vergessen auf: »der Grad der Geschwindigkeit verhält sich direkt proportional zur Intensität des 4
Douglas, In the Active Voice, S. 23.
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Vergessens«.5 Warum? Wenn man, »[u]m die Bühne zu besetzen, […] die anderen davon herunterstoßen«6 muss, dann erfordert das Erobern jener besonders wichtigen Bühne namens »öffentliche Aufmerksamkeit« (genauer, die Aufmerksamkeit jenes Teils der Öffentlichkeit, der zu Konsumenten recycelt werden soll), dass man andere Objekte der Aufmerksamkeit – andere Figuren und andere Handlungsstränge, einschließlich der Handlungsstränge, die jene in Szene gesetzt haben, die gestern um Aufmerksamkeit gebuhlt haben – von ihr fernhält. »[Die] Situationen, die die Geschichte in Szene setzt«, erinnert uns Kundera, »[sind] nur in den allerersten Minuten beleuchtet.«7 In der flüchtig-modernen Welt ist Langsamkeit ein Vorbote des sozialen Todes. »Da alle Menschen Fortschritte machen, wird jeder, der auf der Stelle bleibt, hinter den anderen unweigerlich immer weiter zurückfallen«,8 so Vincent de Gaulejac. Der Begriff »Exklusion« evoziert fälschlicherweise, dass jemand in Aktion tritt und das Objekt von der Position entfernt, die es eingenommen hatte; in Wirklichkeit ist es in den meisten Fällen »Stagnation, die zur Exklusion führt«. Drittens: Da aktuell nicht nur ein einziger, sondern »ein halbes Dutzend« Looks im Angebot sind, ist man tatsächlich frei (auch wenn – und dieses Wort der Warnung ist mehr als angebracht! – die Bandbreite des aktuellen Angebots den eigenen Entscheidungen unüberwindbare Grenzen setzt). Man kann sich seinen Look auswählen. Das Wählen an sich – das Auswählen irgendeines Looks – steht nicht zur Debatte, denn Wählen ist das, was man tun muss und nur unter der Gefahr der Exklusion unterlassen und vermeiden kann. Und auch auf die zur Wahl stehenden Optionen hat man keinen Einfluss: Es sind keine anderen Optionen übrig, da alle realistischen und empfehlenswerten Möglichkeiten bereits vorsortiert und vor-geschrieben worden sind. Aber machen Sie sich keine Gedanken wegen all dieser lästigen Kleinigkeiten: wegen des Zeitdrucks, wegen der Notwendigkeit, sich bei der »Meute der Modebewussten« einzuschmeicheln, für den Fall, 5 6 7 8
Kundera, Die Langsamkeit, S. 41. Ebenda, S. 22. Ebenda, S. 90. Gaulejac, Le sujet manqué, S. 134.
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dass sie den Blick auf Sie richten und Ihre Kleidung und Ihr Benehmen zur Kenntnis nehmen und registrieren, oder wegen der streng begrenzten Anzahl der zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten (nur »ein halbes Dutzend«). Worauf es wirklich ankommt, ist, dass Sie jetzt die Zügel in der Hand halten. Und das müssen Sie auch: die Wahl mag bei Ihnen liegen, aber vergessen Sie nicht, dass das Treffen einer Wahl obligatorisch ist. Ellen Seiter schreibt zwar: »Kleidung, Möbel, Schallplatten, Spielzeug – bei all den Dingen, die wir kaufen, müssen wir Entscheidungen treffen und von unserem eigenen Urteil und unserem ›Geschmack‹ Gebrauch machen«, beeilt sich jedoch zu ergänzen: »Selbstverständlich haben wir keinerlei Einfluss darauf, was uns überhaupt zur Auswahl angeboten wird.«9 Gleichwohl sind in der Konsumkultur Auswählen und Freiheit zwei Bezeichnungen für ein und denselben Zustand; und sie als Synonyme zu behandeln ist zumindest insofern korrekt, als man nur auf das Auswählen verzichten kann, wenn man zugleich seine Freiheit aufgibt. Der entscheidende Umbruch, der das kulturelle Syndrom des Konsumismus am deutlichsten von seinem produktivistischen Vorgänger unterscheidet, ein Umbruch, der diese Ansammlung zahlreicher unterschiedlicher Impulse, Intuitionen und Neigungen zusammenhält und die Gesamtheit in den Status eines kohärenten Lebensprogramms erhebt, scheint die Umkehrung der Werte zu sein, die der Beständigkeit beziehungsweise der Vergänglichkeit jeweils beigemessen werden. Das kulturelle Syndrom des Konsumismus besteht in erster Linie darin, den Wert des Aufschiebens sowie die Richtigkeit und Wünschbarkeit der Verzögerung der Bedürfnisbefriedigung nachdrücklich zu leugnen – jenen beiden axiologischen Säulen der vom Syndrom des Produktivismus beherrschten Gesellschaft von Produzenten. In der überlieferten Hierarchie allgemein anerkannter Werte hat das konsumistische Syndrom Beständigkeit ab-, und Vergänglichkeit aufgewertet. Es stellt den Wert der Neuartigkeit über den der Langlebigkeit. Es hat die Zeitspanne erheblich verkürzt, die nicht nur den Wunsch von seiner Erfüllung trennt (wie viele Beobachter behauptet haben, die sich von Finanzinstitutionen inspirieren beziehungsweise 9
Seiter, Sold Separately, S. 3.
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in die Irre führen ließen), sondern auch den Augenblick der Geburt des Wunsches vom Augenblick seines Ablebens, und die Wahrnehmung eines Besitzes als nützlich und wünschenswert von der Erkenntnis, dass er nutzlos ist und aussortiert werden muss. Im Hinblick auf die Objekte menschlicher Wünsche hat es dem Akt der Aneignung, auf den alsbald die Beseitigung als Abfall folgt, jenen Platz zugewiesen, der einst dem Erwerb von Besitzungen eingeräumt wurde, die haltbar sein und langfristig Genuss verschaffen sollten. Wenn es um menschliche Sorgen geht, so ersetzt das konsumistische Syndrom die Verfahren, um Dinge (seien sie belebt oder unbelebt) festzuhalten und mit ihnen eine langfristige (oder gar endlose) Bindung und Verpflichtung einzugehen, durch Vorkehrungen gegen die Möglichkeit, dass Dinge unsere Gastfreundschaft über Gebühr in Anspruch nehmen. Zugleich wird die Lebenserwartung von Wünschen radikal verkürzt, ebenso wie die zeitliche Entfernung zwischen einem Wunsch und seiner Erfüllung und zwischen der Erfüllung und dem Müllplatz. Beim »konsumistischen Syndrom« dreht sich alles um Geschwindigkeit, Überschuss und Abfall. Versierte Konsumenten sind nicht zimperlich, wenn es darum geht, Dinge dem Abfall zuzuordnen; ils (et elles, bien sûr) ne regrettent rien. In der Regel akzeptieren sie die kurze Lebenserwartung der Dinge und ihr vorherbestimmtes Ende mit Gleichmut, oft mit kaum verhohlenem Genuss und manchmal mit ungetrübtem Vergnügen und dem Hochgefühl des Sieges. Die fähigsten Experten in der Kunst des Konsumierens, diejenigen mit der schnellsten Auffassungsgabe, wissen, dass das Wegwerfen von Dingen, die das Haltbarkeitsdatum (sprich: die Frist für das Genießen) überschritten haben, ein Ereignis ist, über das man jubeln sollte. Für die Meister in der Kunst des Konsumierens liegt der Wert jedes Objekts zu gleichen Teilen in seinen Vorzügen und in seinen Schwächen. Die bereits bekannten und die dank ihrer vorbestimmten und im Voraus geplanten Obsoleszenz (oder, in der Terminologie Karl Marx’, ihres »moralischen« Verschleißes, im Gegensatz zum physischen10) noch (unvermeidlich) zutage tretenden Schwächen versprechen eine bevorstehende Erneuerung und Verjüngung, neue Abenteuer, neue Sinneseindrücke, neue Freuden. In einer Konsum10 Marx, Das Kapital, S. 426.
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gesellschaft kann Perfektion (sofern eine solche Vorstellung noch angemessen ist) nur eine kollektive Eigenschaft der Masse, der Vielzahl von Wunschobjekten sein. Das nach wie vor vorhandene Bedürfnis nach Perfektion verlangt nunmehr weniger nach einer Verbesserung der Dinge als nach einem Überfluss derselben und ihrer raschen Verbreitung. Daher, so möchte ich wiederholen, kann eine Konsumgesellschaft nur eine Gesellschaft der Überschüsse und der Verschwendung sein – und damit des Überflusses und der verschwenderischen Abfallproduktion. Je flüchtiger ihr Lebensumfeld, desto mehr potentielle Konsumobjekte brauchen die Akteure, um auf Nummer sicher zu gehen und sich gegen die Launen des Schicksals abzusichern (die in der Sprache der Soziologen umbenannt wurden in »unerwartete Folgen«). Doch Überschüsse vergrößern die mit dem Auswählen einhergehende Unsicherheit, die sie eigentlich aus der Welt schaffen oder zumindest abmildern und entschärfen sollten – und so ist es wenig wahrscheinlich, dass die bereits erzielten Überschüsse jemals exzessiv genug sein werden. Das Leben von Konsumenten muss zwangsläufig eine endlose Abfolge von Versuch und Irrtum sein. Es ist ein Leben des andauernden Experimentierens, ohne allerdings viel Hoffnung auf ein Experimentum crucis zu machen, das den Experimentierenden den Weg in ein zuverlässig kartiertes und mit Wegweisern versehenes Land der Sicherheit weisen könnte. Geh auf Nummer sicher; das ist die goldene Regel des rationalen Konsumierens. In all diesen Lebensgleichungen gibt es überwiegend Variablen und wenige bis keine Konstanten, und die Variablen ändern ihren Wert zu oft und zu schnell, als dass man die Übersicht behalten, geschweige denn ihre überraschenden Veränderungen in der Zukunft erraten könnte. Die häufig wiederholte Versicherung »Dies ist ein freies Land« bedeutet: Es liegt bei Ihnen, was für ein Leben Sie zu führen wünschen, wie Sie es leben wollen und welche Entscheidungen Sie treffen, um Ihr Projekt zu verwirklichen; schreiben Sie es sich selbst und niemandem sonst zu, wenn all das nicht zu dem Glück führt, das Sie sich erhofft hatten. Diese Aussage impliziert, dass die Freude über die Emanzipation aufs Engste verwoben ist mit der panischen Angst vor dem Scheitern. 114
Diese beiden Implikationen sind untrennbar miteinander verbunden. Die Freiheit lässt zwangsläufig unzählige Risiken von Abenteuern den Platz überfluten, den die Gewissheit der Langeweile geräumt hat. Diese Abenteuer versprechen zwar zweifelsohne herrlich erfrischende, weil neue Sinneseindrücke, sind jedoch zugleich ein Vorzeichen der erniedrigenden Erfahrung des Scheiterns und des durch Niederlagen ausgelösten Verlustes an Selbstachtung. Wenn das Abenteuer begonnen hat und das ganze Ausmaß der Risiken offenbar wird, die auf dem Weg zum Abenteuer leichten Herzens heruntergespielt worden sind, ist die Langeweile, jener zu Recht missbilligte und beklagte Fluch der Sicherheit, schnell vergeben und vergessen: Alsbald wird das Ausmaß und die Abscheulichkeit des mit ihr verbundenen Unbehagens nunmehr seinerseits heruntergespielt. Der Einzug der Freiheit, in der virtuellen Gestalt der Wahlfreiheit des Konsumenten, wird in der Tendenz als berauschender Akt der Emanzipation betrachtet, sei es von quälenden Verpflichtungen und lästigen Verboten oder von monotonen und stupiden Routinen. Kurz nachdem die Freiheit sich eingelebt und sich ihrerseits in eine Alltagsroutine verwandelt hat, lässt eine neue Art des Horrors, der nicht weniger furchterregend ist als die Schrecken, die der Einzug der Freiheit vertreiben sollte, alle Erinnerungen an das Leid und den Groll der Vergangenheit verblassen: der Horror der Verantwortung. Nächte, die auf Tage folgen, die von unausweichlichen Routinen geprägt sind, sind voller Träume von der Freiheit von Zwängen. Nächte, die auf Tage folgen, die von unausweichlichen Entscheidungen geprägt sind, sind voller Träume von der Freiheit von Verantwortung. Daher ist es bemerkenswert, wenn auch wenig überraschend, dass die beiden einflussreichsten und überzeugendsten Begründungen für die Notwendigkeit der »Gesellschaft« (womit in diesem Fall eine Autorität gemeint ist, die ein umfassendes System von Normen, Regeln, Zwängen, Verboten und Sanktionen gutheißt und überwacht), die Philosophen seit dem Beginn des Übergangs zur Moderne vorgebracht haben, von der Erkenntnis der physischen Bedrohungen und seelischen Belastungen ausgelöst worden sind, die im Zustand der Freiheit endemisch sind. Die erste Begründung wurde von Thomas Hobbes dargelegt und von Émile Durkheim ausführlich ausgearbeitet und gegen Mitte des 115
20. Jahrhunderts in eine stillschweigende Annahme verwandelt, die Teil des sozialphilosophischen und sozialwissenschaftlichen Konsenses wurde. Sie stellte gesellschaftlichen Zwang und die der individuellen Freiheit durch normative Vorschriften auferlegten Beschränkungen als notwendiges, unvermeidbares und letzten Endes heilsames und segensreiches Mittel dar, das menschliche Zusammensein vor dem »Krieg aller gegen alle« und menschliche Individuen vor einem Leben zu bewahren, das »einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« ist.11 Die Beendigung des mit Autorität ausgeübten gesellschaftlichen Zwangs (wenn eine solche Beendigung überhaupt durchführbar oder auch nur denkbar wäre) würde, so die Anhänger dieser Sichtweise, die Individuen nicht befreien; sie würde im Gegenteil lediglich dazu führen, dass sie unfähig wären, sich gegen die morbiden Einflüsterungen ihrer eigenen, im Wesentlichen a-sozialen Instinkte zur Wehr zu setzen. Sie würde sie zu Opfern einer Sklaverei machen, die sehr viel schrecklicher wäre als eine Sklaverei, die von all den Zwängen einer harten gesellschaftlichen Realität je erzeugt werden könnte. Sigmund Freud sollte später den gesellschaftlich ausgeübten Zwang und die daraus folgende Einschränkung persönlicher Freiheiten als den eigentlichen Kern der Kultur darstellen: Angesichts des »Lustprinzips« (wie etwa dem Drang nach sexueller Befriedigung oder dem angeborenen Hang der Menschen zur Trägheit), durch das individuelles Verhalten in die Einöde der Asozialität führen würde, wenn es nicht durch das auf Macht und Autorität gegründete »Realitätsprinzip« gezügelt, beschnitten und ausgeglichen würde, wäre Kultur ohne Zwang undenkbar. Die zweite Begründung für die Notwendigkeit, ja Unvermeidbarkeit von gesellschaftlich gesteuerten normativen Vorschriften und damit auch für den die individuelle Freiheit einschränkenden gesellschaftlichen Zwang, beruhte auf einer geradezu entgegengesetzten Prämisse, nämlich auf der ethischen Herausforderung, mit der Menschen durch die bloße Präsenz von anderen, durch den stummen Appell im »Antlitz des Anderen«, konfrontiert sind. Diese Herausforderung geht allen gesellschaftlich erzeugten und gesellschaftlich konstruierten, kontrollierten und überwachten ontologischen Umständen voraus; diese wiederum versuchen, die Herausforderung dieser prinzipiell 11 Hobbes, Leviathan, S. 96.
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grenzenlosen Verantwortung so weit wie möglich zu neutralisieren, zu beschneiden und zu begrenzen, damit sie erträglich wird und man mit ihr leben kann. In dieser Version, die am ausführlichsten von Emmanuel Levinas ausgearbeitet wurde, aber sich auch in der Vorstellung von der »unausgesprochenen [ethischen] Forderung« Knud Løgstrups findet,12 wird die Gesellschaft hauptsächlich als eine Vorrichtung betrachtet, die die prinzipiell uneingeschränkte und unbegrenzte Verantwortung für den Anderen auf eine Reihe von Vorschriften und Verbote reduzieren soll, denen der Mensch mit seinen Fähigkeiten eher gerecht werden kann. Levinas zufolge besteht die wichtigste Funktion von normativen Vorschriften, und zugleich der entscheidende Grund für ihre Unvermeidlichkeit, darin, aus der prinzipiell uneingeschränkten und grenzenlosen Verantwortung für den Anderen eine (auf ausgewählte, ordnungsgemäß aufgelistete und eindeutig definierte Umstände) beschränkte und (auf eine ausgewählte Gruppe von »Anderen«) begrenzte zu machen (die deutlich kleiner ist als die Gesamtheit der Menschen, und vor allem enger begrenzt und damit leichter zu bewältigen als die unbestimmte Gesamtsumme der »Anderen«, die in den Subjekten irgendwann Gefühle der unveräußerlichen und grenzenlosen Verantwortung wecken könnten). In den Worten Knud Løgstrups, eines Denkers, dessen Standpunkt bemerkenswert nahe bei dem von Levinas liegt – beharrt er doch wie Levinas auf dem Primat der Ethik vor den Realitäten des In-der-Gesellschaft-Lebens und zieht wie jener die Welt dafür zur Rechenschaft, dass sie den Standards der ethischen Verantwortung nicht gerecht wird –, könnte man sagen, dass die Gesellschaft ein Arrangement ist, um die ansonsten hartnäckig und quälend stumme (weil unspezifische) ethische Forderung hörbar (das heißt, spezifisch und kodifiziert) zu machen und damit die unendliche Vielzahl der Möglichkeiten, die eine solche Forderung impliziert, auf eine viel engere, bewältigbare Palette mehr oder weniger klar formulierter Pflichten zu reduzieren.13 Das Anbrechen der Ära des Konsumismus hat die Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft beider Begründungen untergraben – auf unterschiedliche Art und Weise, aber aus dem gleichen Grund. Der 12 Løgstrup, Die ethische Forderung, S. 21ff. 13 Ebenda.
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Grund ist in dem immer deutlicher zutage tretenden und weiter fortschreitenden Prozess der Demontage des einst umfassenden Systems normativer Vorschriften zu suchen. Immer größere Bereiche menschlichen Verhaltens sind von der explizit gesellschaftlichen (ganz zu schweigen von der durch eine Autorität abgesegneten und durch offizielle Sanktionen bekräftigten) Strukturierung, Überwachung und Kontrolle ausgenommen, sodass ein immer größerer Anteil der ehemals gesellschaftlich wahrgenommenen Verpflichtungen in die Verantwortung individueller Männer und Frauen zurückverwiesen wird. In einem deregulierten und privatisierten Umfeld, das auf die Anliegen und Ziele von Konsumenten ausgerichtet ist, lastet die Verantwortung für Entscheidungen, für die auf diese Entscheidungen folgenden Handlungen und die Konsequenzen jener Handlungen voll und ganz auf den Schultern der einzelnen Akteure. Wie Pierre Bourdieu uns bereits vor mehr als 20 Jahren zu verstehen gab, ist der Zwang im Großen und Ganzen durch Anreize ersetzt worden, einst obligatorische Verhaltensmuster durch Verführung, Verhaltenskontrolle durch Öffentlichkeitsarbeit und Werbung und normative Vorschriften durch das Wecken neuer Bedürfnisse und Wünsche. Das Anbrechen der Ära des Konsumismus hat die beiden oben erörterten Begründungen offensichtlich eines erheblichen Teils der ihnen ursprünglich zugeschriebenen Glaubwürdigkeit beraubt, denn die katastrophalen Folgen des Aufgebens oder der Auszehrung gesellschaftlich verordneter, normativer Vorschriften, die in diesen Begründungen als praktisch unausweichlich vorhergesagt wurden, sind ausgeblieben. Auch wenn die Fülle und Intensität von Antagonismen und offenen Konflikten zwischen Individuen, die mit der fortschreitenden Deregulierung und Privatisierung ehemals gesellschaftlich bewältigter Funktionen aufbrechen sowie das Ausmaß des Schadens, den sie dem gesellschaftlichen Gefüge zufügen können, allesamt Gegenstand einer anhaltenden Debatte sind, so ist die deregulierte und privatisierte Konsumgesellschaft nach wie vor weit von der Hobbesschen Schreckensvision entfernt und nähert sich ihr augenscheinlich auch nicht an. Ebenso wenig hat die explizite Privatisierung von Verantwortung zur Lähmung von menschlichen Subjekten geführt, die von der schieren Größe der Herausforderung überwältigt sind, wie die Visionen Le118
vinas’ und Løgstrups impliziert hatten; dennoch gibt das Schicksal des ethischen Bewusstseins und des moralisch motivierten Handelns durchaus Anlass zu zahlreichen ernsten und allzu berechtigten Sorgen. Alles deutet darauf hin (auch wenn das letzte Wort noch nicht gesprochen ist), dass Konsumenten, sobald sie erst einmal der Logik der Konsumgütermärkte ausgesetzt und ihren eigenen Entscheidungen überlassen waren, feststellen mussten, dass die Machtbalance zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip sich umgekehrt hatte. Jetzt ist es das »Realitätsprinzip«, das dem Anschein nach auf der Anklagebank sitzt. Im Falle eines Konflikts zwischen diesen beiden Prinzipien, die man einst als unvereinbare Gegensätze betrachtete (was, wie bereits ausgeführt, heute keineswegs eine ausgemachte Sache ist), ist es das Realitätsprinzip, das aller Wahrscheinlichkeit nach in Bedrängnis geriete und wahrscheinlich zum Rückzug, zur Selbstbeschränkung und zum Nachgeben gedrängt würde. Es scheint wenig gewinnversprechend, wenn man den unumstößlichen »sozialen Tatbeständen« gerecht zu werden versucht, die zu Émile Durkheims Zeiten als unverrückbar und unausweichlich galten, wohingegen es endlos erweiterbare Vorteile und Gewinne verspricht, sich am unendlich dehnbaren Lustprinzip auszurichten. Die bereits jetzt offensichtliche und weiter zunehmende »Nachgiebigkeit« und Flexibilität der »sozialen Tatbestände« in der flüchtigen Moderne tragen das ihre dazu bei, die Suche nach Lustgewinn von den einstigen (nun als irrational getadelten) Beschränkungen zu emanzipieren und sie ganz der Ausbeutung durch den Markt zugänglich zu machen. Die Kämpfe um Anerkennung (die sich alternativ auch als Versuche interpretieren lassen, Legitimität zu erlangen), die den fortlaufenden Eroberungen des Lustprinzips folgen, sind in der Regel kurz und reine Formsache, da der siegreiche Ausgang in der großen Mehrzahl der Fälle von vornherein feststeht. Der Hauptvorteil des »Realitätsprinzips« gegenüber dem »Lustprinzip« beruhte einst auf den großen (gesellschaftlichen, überindividuellen) Ressourcen, auf die Ersteres im Vergleich zu den viel schwächeren (lediglich individuellen) Kräften, auf die Letzteres angewiesen war, zurückgreifen konnte. Doch infolge des Prozesses der Deregulierung und Privatisierung ist dieser Vorteil gewaltig zusammengeschrumpft, wenn nicht sogar null und nichtig geworden. Jetzt ist es an den einzelnen Konsumenten, die Realitäten 119
zu bestimmen (und, soweit das praktikabel und erwünscht ist, festzulegen), die die Forderungen der flüchtig-modernen Version des Realitätsprinzips zum Leben erwecken könnten, und gleichzeitig die vom Lustprinzip diktierten Ziele zu verfolgen. Was die von Levinas erdachte und vorgebrachte Begründung betrifft: die Aufgabe, die übermenschliche Grenzenlosigkeit der ethischen Verantwortung auf ein Maß zu reduzieren, das ein durchschnittlicher Mensch mit seinem Einfühlungsvermögen, seiner Urteilskraft und seiner Handlungsfähigkeit bewältigen kann, wird, mit Ausnahme einiger weniger, ausgewählter Gebiete, zunehmend ebenfalls »subsidiarisiert« und auf individuelle Männer und Frauen übertragen. In Ermangelung einer autorisierten Übertragung des stummen Appells in ein begrenztes Inventar von Pflichten und Verboten ist es nun Sache der Individuen, die Grenzen ihrer Verantwortung für andere Menschen zu definieren, und festzulegen, welche moralischen Interventionen plausibel erscheinen und welche nicht, sowie zu entscheiden, wie weit sie gehen wollen, wenn es darum geht, ihr eigenes Wohl zu opfern, um ihren moralischen Verpflichtungen gegenüber anderen gerecht zu werden. Wird diese Aufgabe Individuen übertragen, erweist sie sich als erdrückend, da die Strategie, sich hinter einer anerkannten und offenbar unverrückbaren Autorität zu verstecken, die ihnen zuverlässig die Last der Verantwortung (oder zumindest einen erheblichen Teil davon) abnimmt, keine gangbare oder verlässliche Option mehr ist. Das Ringen mit einer derart gewaltigen Aufgabe setzt die Akteure einem Zustand der permanenten und heillosen Ungewissheit aus; allzu oft führt sie zu quälender und erniedrigender Selbstanklage. Allerdings hat sich das Gesamtergebnis der Privatisierung und Subsidiarisierung von Verantwortung für das moralische Selbst und für moralische Akteure als weniger lähmend erwiesen, als Levinas und seine Schüler, einschließlich meiner selbst, es erwartet hätten. Irgendwie hat sich ein Weg gefunden, ihre potentiell verheerenden Auswirkungen abzumildern und den Schaden zu begrenzen. Es gibt, so scheint es, gewerbliche Interessenten in Hülle und Fülle, die sich bereitwillig der von der »Great Society«14 14 »Great Society« war die Bezeichnung eines vom US -Präsidenten Lyndon B. Johnson 1964 vorgestellten Plans für soziale Reformen, insbesondere zur Bekämpfung der Armut und Beseitigung der Ungleichheit der Rassen.
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vernachlässigten Aufgaben annehmen und den hilflos zurückgelassenen, unwissenden und verwirrten Konsumenten ihre Dienste verkaufen. Unter dem Regime der Deregulierung und Privatisierung ist das Rezept zur »Entlastung von Verantwortung« im Wesentlichen das Gleiche geblieben wie in früheren Phasen der neueren Geschichte: die Injektion einer Dosis echter oder vermeintlicher Übersichtlichkeit in eine hoffnungslos undurchschaubare Situation, indem man die schwindelerregende Komplexität der Aufgabe durch eine begrenzte und mehr oder weniger umfassende Liste von verständlichen Regeln des »Müssens« und »Nicht-Dürfens« ersetzt (oder genauer, sie dahinter versteckt). Einst wie jetzt werden individuelle Akteure dazu gedrängt und verleitet, ihr Vertrauen auf Autoritäten zu setzen, die zuverlässig für sie herausfinden, was sie dem stummen Appell zufolge in dieser oder jener Situation zu tun haben und wie weit (und nicht weiter) sie aufgrund ihrer uneingeschränkten Verantwortung unter den gegebenen Umständen gehen müssen. Die Begriffe »Verantwortung« und »verantwortliche Entscheidung«, die einst auf dem semantischen Feld der ethischen Pflicht und moralischen Sorge um den Anderen angesiedelt waren, haben sich verlagert beziehungsweise sind in den Bereich der Selbstverwirklichung und der Kalkulation von Risiken verschoben worden. Dabei ist der oder die »Andere« als Auslöser, Ziel und Messlatte einer Verantwortung, die man erkennt, übernimmt und erfüllt, fast vollständig aus dem Blickfeld verschwunden, verdrängt oder überschattet vom eigenen Selbst des Akteurs. »Verantwortung« bedeutet jetzt vor allem Verantwortung gegenüber sich selbst (»Das bist du dir schuldig«, »Das hast du dir verdient«, wie diejenigen es ausdrücken, die »Entlastung von Verantwortung« verkaufen), und »verantwortliche Entscheidungen« sind vor allem jene Schritte, die den Eigeninteressen dienen und die Wünsche des Selbst befriedigen. Das Ergebnis unterscheidet sich nur unwesentlich von den »adiaphorisierenden« Effekten der von der Bürokratie in der festen Moderne praktizierten Strategie, die die »Verantwortung für« jemanden oder etwas (das Wohlergehen des Anderen und die Menschenwürde) durch die »Verantwortung vor« jemandem oder etwas (dem Vorgesetzten, der Autorität, der Sache und ihrer Fürsprecher) ersetzte. Dieser Tage 121
werden adiaphorisierende Effekte (die entstehen, wenn bestimmte Handlungen, die moralische Entscheidungen implizieren, für »ethisch neutral« erklärt und von der ethischen Beurteilung und Kritik ausgenommen werden) allerdings hauptsächlich dadurch erreicht, dass die »Verantwortung für andere« ersetzt wird durch »Verantwortung vor sich selbst« und »Verantwortung für sich selbst«. Der Andere als Objekt ethischer Verantwortung und moralischer Sorge ist das Opfer – ein Kollateralschaden – des Sprungs hin zur konsumistischen Version der Freiheit. Damit können wir zu den drei Botschaften zurückkehren, die ich zu Beginn des Kapitels kurz erörtert habe. Alle drei Botschaften rufen, gemeinsam und unisono, den Ausnahmezustand aus. Das ist nichts Neues, sicherlich, nur eine weitere Neuauflage der ständig wiederholten Versicherung, dass die permanente Wachsamkeit, die ständige Bereitschaft, dort hinzugehen, wo man hingehen muss, das Geld, das man ausgeben muss, und die Anstrengungen, die unterwegs unternommen werden müssen, allesamt recht und billig sind. Warnungen werden ausgegeben (Orange? Rot?), neue, vielversprechende Anfänge und neue, unmittelbar bevorstehende Risiken werden angekündigt. Die nötige Ausrüstung, um die richtigen Entscheidungen zu treffen (um der unveräußerlichen Verantwortung vor und für sich selbst gerecht zu werden), die geeigneten Hilfsmittel beziehungsweise Routinen und narrensicheren Instruktionen, wie man sie am besten zum eigenen Vorteil einsetzen kann, warten ganz in der Nähe, auf jeden Fall in Reichweite, und können mit ein bisschen Verstand und Mühe auch gefunden werden. Worauf es ankommt, ist nach wie vor, niemals den Augenblick zu verpassen, der sofortiges Handeln erfordert, damit der glücklose, unaufmerksame und geistesabwesende, pflichtvergessene oder träge Akteur nicht hinter der »Meute der Modebewussten« zurückfällt, anstatt ihr voraus zu sein. Die Trägheit der Konsumgütermärkte zu vernachlässigen und sich auf Werkzeuge und Routinen zu verlassen, die die Aufgabe in der Vergangenheit gut erfüllt haben, ist kein gangbarer Weg. In ihrer bemerkenswerten Untersuchung der gegenwärtigen weitreichenden Veränderungen in unserer Zeitwahrnehmung und Zeiterfahrung weist Nicole Aubert auf die entscheidende Rolle hin, die 122
der »Ausnahmezustand« spielt, sowie auf das Gefühl der »Dringlichkeit«, die dieser Zustand den Erwartungen und dem Kalkül zufolge säen, verbreiten und etablieren soll, wenn er erst einmal erklärt ist.15 In heutigen Gesellschaften, so Aubert, befriedigt der Zustand und das Bewusstsein eines »Notstands« eine Reihe existenzieller Bedürfnisse, die in anderen bekannten Gesellschaftstypen entweder unterdrückt und ignoriert oder durch ganz andere Strategien bedient werden. Die neuen Notbehelfe, die sie auf die Strategie eines intensiv und ausgiebig kultivierten Gefühls der Dringlichkeit zurückführt, bieten Individuen und Institutionen gleichermaßen illusorische und trotzdem sehr effektive Erleichterung bei ihrem Bemühen, die potentiell verheerenden Folgen der qualvollen Entscheidungen, die im Zustand der Freiheit des Konsumenten endemisch sind, abzufedern. Eine der wichtigsten Illusionen entstammt der kurzzeitigen Verdichtung der ansonsten diffusen Energie, die durch den Alarmzustand ausgelöst wird. Erreicht sie den Punkt, an dem sie sich selbst entzündet, dann verschafft die akkumulierte Handlungsfähigkeit (wenn auch nur für kurze Zeit) Erleichterung von den Qualen der Unzulänglichkeit, die die Konsumenten im Alltag plagen. Die Menschen, mit denen Aubert sprach und die sie genau beobachtete (Menschen, so sei erklärend hinzugefügt, die in den Künsten des Konsumlebens geschult und unterwiesen waren und die deshalb unfähig waren, die geringste Frustration auszuhalten und mit einem Aufschub der Bedürfnisbefriedigung, die sie stets sofort erwarteten, nicht mehr zurechtkamen), »die sich gewissermaßen im gegenwärtigen Augenblick eingeschlossen haben, in einer Logik, die ›keinen Aufschub duldet‹, baden in der Illusion, dass sie über die Zeit triumphieren können«,16 indem sie sie (kurzfristig!) ganz aufheben oder zumindest ihren frustrierenden Einfluss abschwächen. Die heilende oder beruhigende Kraft einer solchen Illusion der Herrschaft über die Zeit – der Macht, die Zukunft in der Gegenwart aufzulösen und sie im »Jetzt« einzuschließen – kann kaum überschätzt werden. Wenn, wie Alain Ehrenberg überzeugend darlegt, die menschlichen Leiden heute aus einem Übermaß an Möglichkeiten erwachsen, 15 Aubert, Le culte de l’urgence, S. 193f. 16 Ebenda, S. 63.
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statt, wie in der Vergangenheit, aus einer Überfülle an Verboten, und wenn der Gegensatz zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen die Rolle des kognitiven Rahmens und wichtigsten Kriteriums für die Bewertung und Wahl einer Lebensstrategie angenommen hat, eine Rolle, die zuvor vom Gegensatz zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen erfüllt wurde, dann ist es wenig überraschend, dass die aus der panischen Angst vor der Unzulänglichkeit geborene Depression die vom Schrecken der Schuld (das heißt, vom Vorwurf der Nonkonformität, der auf einen Regelverstoß folgen kann) verursachte Neurose ablöst als das charakteristische und am weitesten verbreitete psychische Gebrechen der Bewohner der Konsumgesellschaft.17 Wie die weite Verbreitung von sprachlichen Wendungen wie »Zeit haben«, »keine Zeit haben«, »Zeit verlieren« und »Zeit gewinnen« lebhaft vor Augen führt, steht das Anliegen, der Geschwindigkeit und dem Rhythmus der Zeit mit einer Fülle von individuellen Absichten und mit eifrig verfolgten individuellen Handlungen zu begegnen, unter unseren häufigsten, kraftraubendsten und nervenaufreibendsten Sorgen an erster Stelle. Folglich kann die Unfähigkeit, eine perfekte Übereinstimmung zwischen einer Anstrengung und der entsprechenden Belohnung zu erzielen (insbesondere eine regelmäßig zutage tretende Unfähigkeit, die den Glauben an die eigene Beherrschung der Zeit untergräbt), eine reiche Quelle des »Unzulänglichkeitskomplexes« sein, jenes wichtigsten Gebrechens des flüchtigmodernen Lebens. Unter den gängigen Definitionen des Scheiterns kann heutzutage nur eine Knappheit an Geld mit Zeitmangel ernsthaft konkurrieren. Es gibt kaum etwas, was den Unzulänglichkeitskomplex (wenn auch kurzzeitig) effektiver lindert als eine besonders große Anstrengung, die im und unter dem Einfluss eines Ausnahmezustandes unternommen wird. Einer der erfolgreichen Akademiker, die Nicole Aubert interviewt hat, erzählte, er fühle sich in solchen Momenten beinahe wie der Herr der Welt, er genieße dann das Gefühl, intensiver zu leben und den plötzlichen Adrenalinschub, der ihm das Gefühl der »Macht über die Zeit« vermittele. Die heilende Kraft der in einem Ausnahmezustand erlebten Befriedigung kann sogar über den Anlass hinaus 17 Vgl. Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst.
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fortwirken. Wie ein weiterer Interviewpartner Nicole Auberts erklärte, lag der größte Gewinn beim In-Angriff-Nehmen einer dringenden Aufgabe in der reinen Intensität des gelebten Augenblicks. Der Inhalt der Aufgabe und der Grund für die Dringlichkeit müssen rein zufällig und unerheblich gewesen sein, da sie so gut wie vergessen waren; man erinnerte sich dagegen, und zwar mit Freude, an die ungeheure Intensität und an den beruhigenden Beleg, ja den schlagenden Beweis für die eigene Fähigkeit, sich der Herausforderung zu stellen.18 Ein weiterer Dienst, den ein Leben in ständig wiederkehrenden oder nahezu permanenten Ausnahmezuständen (selbst wenn sie künstlich hergestellt oder mit der Absicht zu täuschen ausgerufen worden sind) der geistigen Gesundheit unserer Zeitgenossen erweisen kann, ist eine aktualisierte Version der »Hasenjagd« Blaise Pascals,19 die dem neuen gesellschaftlichen Umfeld angepasst ist. In krassem Gegensatz zu einem Hasen, der bereits geschossen, zubereitet und konsumiert ist, lässt diese Jagd dem Jäger wenig Zeit, um über die Kürze, Leere, Bedeutungslosigkeit oder Eitelkeit seines weltlichen Strebens und seines irdischen Lebens insgesamt nachzudenken. Die aufeinanderfolgenden Zyklen des Sicherholens nach dem letzten Alarm und des Kraftsammelns für den nächsten, um dann ein weiteres Mal den Augenblick des Ausnahmezustands zu durchleben und sich erneut von seinen Spannungen und dem Energieaufwand zu erholen, den das Handeln unter Druck mit sich brachte – diese Zyklen können all die potentiellen »Hohlräume« des Lebens füllen, die sich ansonsten mit dem unerträglichen Bewusstsein von »letzten Dingen« füllen könnten, die nur provisorisch verdrängt wurden – Dinge, die man um der geistigen Gesundheit und der Freude am Leben willen lieber vergessen würde. »Permanente Aktivität, bei der eine dringliche Aufgabe auf die andere folgt, gibt einem die Sicherheit eines erfüllten Lebens oder einer ›erfolgreichen Karriere‹, die einzigen Beweise der Selbstverwirklichung in einer Welt, aus der alle Bezüge auf ein Jenseits verschwunden sind und in der die Existenz mit ihrer Endlichkeit die einzige Gewissheit ist […]. Wenn sie handeln, denken die Menschen kurzfristig – an Dinge, die sofort oder in der nahen Zukunft getan werden müs18 Vgl. Aubert, Le culte de l’urgence. 19 Pascal, Gedanken, S. 76.
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sen […]. Allzuoft ist Handeln nur eine Flucht vor dem Selbst, ein Heilmittel gegen den Schmerz.«20 Lassen Sie mich hinzufügen, dass die therapeutische Wirksamkeit der Aktivität umso zuverlässiger ist, je intensiver sie ist. Je tiefer man in die Dringlichkeit einer unaufschiebbaren Aufgabe eintaucht, desto weiter kann man sich den Schmerz vom Leibe halten – und wenn der Versuch, ihn auf Distanz zu halten, scheitert, dann wird er zumindest weniger unerträglich erscheinen. Und schließlich kann ein Leben, das von Alarmen und Dringlichkeiten dominiert und ganz von den Bemühungen in Anspruch genommen ist, mit einem Ausnahmezustand nach dem anderen zurechtzukommen, noch einen weiteren wichtigen Dienst erweisen: in diesem Fall den Unternehmen, die die Konsumwirtschaft am Laufen halten, Unternehmen, die unter den Bedingungen eines unbarmherzigen Wettbewerbs ums Überleben kämpfen und gezwungen sind, Strategien anzuwenden, die bei ihren Angestellten heftigen Widerstand und Aufruhr auslösen können, und die letztlich die Fähigkeit des Unternehmens bedrohen, effektiv zu handeln. In unseren Tagen wird immer öfter festgestellt, dass die Führungsstrategie, eine Atmosphäre der Dringlichkeit heraufzubeschwören oder einen im Grunde normalen Zustand als Ausnahmezustand darzustellen, eine hocheffektive und bevorzugte Methode ist, um Untergebene davon zu überzeugen, dass sie selbst die drastischsten Veränderungen, die ihre Ziele und Aussichten – ja, ihr Leben – im Kern treffen, gelassen hinnehmen sollen. »Erkläre den Ausnahmezustand – und herrsche weiter« scheint das immer beliebtere Managementrezept zu sein, um die eigene Machtposition zu sichern und die unangenehmsten und unerhörtesten Angriffe auf das Wohl der Angestellten unbeschadet durchzusetzen oder um unerwünschte Arbeitskräfte loszuwerden, die im Zuge immer neuer Runden der »Rationalisierung« beziehungsweise des »asset strippings« überflüssig geworden sind. Weder das Lernen noch das Vergessen können sich den Auswirkungen der »Tyrannei des Augenblicks« entziehen, der der permanente Ausnahmezustand ebenso Vorschub leistet wie die Zersplitterung der 20 Aubert, Le culte de l’urgence, S. 107f., 110.
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Zeit in eine Abfolge von disparaten und dem (wenn auch trügerischen) Anschein nach unverbundenen »Neuanfängen«. Das Konsumleben kann nichts anderes sein als ein Leben des schnellen Lernens, zugleich muss es aber ein Leben des schnellen Vergessens sein. Vergessen ist ebenso wichtig wie Lernen, wenn nicht sogar noch wichtiger. Zu jedem »Müssen« gibt es ein »nicht dürfen«, und welches der beiden das eigentliche Ziel der atemberaubenden Geschwindigkeit der Erneuerung und der Beseitigung enthüllt und welches nur eine flankierende Maßnahme ist, die das Erreichen des Ziels sicherstellen soll, ist eine ewig strittige und chronisch ungelöste Frage. Die Art von Information/Anweisung, die uns im oben zitierten »Modeheft« und in Dutzenden anderen vielfach begegnet, klingt etwa so: »Das Ziel in diesem Herbst ist die 1960er Carnaby Street« oder »Der Trend zum Gothic-Style ist für diesen Monat perfekt«. Dieser Herbst unterscheidet sich natürlich grundlegend vom letzten Sommer, und dieser Monat hat nichts zu tun mit den vergangenen Monaten, sodass das, was im letzten Monat perfekt war, in diesem alles andere als perfekt ist, genauso wie das Reiseziel des letzten Sommers Lichtjahre entfernt ist vom Ziel dieses Herbstes. »Ballett-Pumps«? »Zeit, sie wegzuräumen.« »Spaghettiträger«? »Die sind diese Saison fehl am Platz.« »Kugelschreiber«? »Die Welt ist ohne sie besser dran.« Auf den Aufruf, »die Make-up-Tasche aufzumachen und einen Blick hineinzuwerfen«, folgt aller Wahrscheinlichkeit nach die Ermahnung: »In der kommenden Saison dreht sich alles um satte Farben«, woran sich die Warnung anschließt, dass »Beige und seine sicheren, aber langweiligen Verwandten ihre besten Zeiten hinter sich haben … schmeißen Sie sie weg, sofort«. Offensichtlich kann man sich das Gesicht nicht gleichzeitig mit »langweiligem Beige« und mit »tiefen, satten Farben« anmalen. Eine der beiden Farbpaletten muss weichen. Wird überflüssig. Ein weiteres Abfallprodukt oder ein »Kollateralschaden« des Fortschritts. Etwas, wovon man sich trennen muss. Und zwar schnellstens. Erneut die Frage nach der Henne und dem Ei … Muss man Beige »wegschmeißen«, damit das Gesicht bereit ist für die tiefen, satten Farben, oder überschwemmen die tiefen, satten Farben die Kosmetikregale der Supermärkte, um sicherzustellen, dass die Vorräte an unbenutztem Beige auch wirklich »sofort« »weggeschmissen« werden? 127
Viele der Millionen von Frauen, die jetzt das Beige wegwerfen, um ihre Einkaufstaschen mit den neuen Farben zu füllen, würden höchstwahrscheinlich sagen, dass es ein trauriger, aber unvermeidlicher Nebeneffekt der Erneuerung und Verbesserung des Make-ups ist, wenn man jetzt das Beige auf den Müll werfen muss, ein trauriges, aber notwendiges Opfer, das man bringen muss, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben. Aber einige unter den tausenden von Verkaufsmanagern, die die Waren für die Kaufhausregale bestellen, würden in einem ehrlichen Augenblick vermutlich zugeben, dass der Grund für das neue Auffüllen der Kosmetikregale die Notwendigkeit war, die Nutzungsdauer der Beigetöne zu verkürzen – sodass der Warenumschlag in den Lagerhäusern nicht zum Stillstand kommt, die Wirtschaft floriert und die Gewinne steigen. Bemisst sich das Bruttosozialprodukt, der offizielle Maßstab für das Wohlergehen der Nation, nicht nach der Geldmenge, die den Besitzer wechselt? Wird das Wirtschaftswachstum nicht von der Energie und Aktivität von Konsumenten angetrieben? Und ein Konsument, der nicht damit beschäftigt ist, verbrauchten oder überholten Besitz (ja, alles, was von den gestrigen Einkäufen übrig ist) wegzuwerfen, ist ein Oxymoron – wie ein Wind, der nicht weht, oder ein Fluss, der nicht fließt. Wie es scheint, sind beide Antworten korrekt: Sie widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich. In einer Konsumgesellschaft und zu einer Zeit, da die einst »große Politik« von life politics abgelöst wird, ist der wahre »Wirtschaftskreislauf«, derjenige, der die Wirtschaft in Gang hält, der Kreislauf des »Kaufens, Genießens und Wegwerfens«. Ebendiese Tatsache, dass zwei augenscheinlich so widersprüchliche Antworten gleichzeitig richtig sein können, ist das größte Kunststück der Konsumgesellschaft und, so könnte man argumentieren, der Schlüssel zu ihrer erstaunlichen Fähigkeit, sich selbst zu reproduzieren und auszubreiten. Das Leben eines Konsumenten, das Konsumleben, dreht sich nicht um Erwerben und Besitzen. Es dreht sich auch nicht um das Loswerden dessen, was man vorgestern erworben und einen Tag später stolz zur Schau getragen hat. Stattdessen dreht es sich in erster Linie darum, in Bewegung zu sein. Wenn Max Weber recht hatte und der ethische Grundsatz des Produktionslebens das Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung war (und 128
immer sein musste, wenn das Ziel ein Produktionsleben war), dann lautet die ethische Richtschnur für das Konsumleben (wenn das Ethos eines solchen Lebens in Form eines Regelwerks für vorgeschriebenes Verhalten dargestellt werden kann), es tunlichst zu vermeiden, dauerhaft zufrieden zu sein. Für eine Gesellschaft, die die Zufriedenheit der Kunden zu ihrem einzigen Motiv und wichtigsten Ziel erklärt, ist ein zufriedener (wunschlos glücklicher) Kunde weder ein Motiv noch ein Ziel, sondern die furchteinflößendste aller Bedrohungen. Was für die Konsumgesellschaft gilt, muss auch für die einzelnen Mitglieder gelten. Zufriedenheit darf immer nur eine kurzzeitige Erfahrung sein, etwas, das man eher fürchten als begehren muss, wenn es zu lange anhält. Anhaltende, endgültige Befriedigung muss für Konsumenten alles andere sein als eine verlockende Aussicht: Ja, sie muss eine Katastrophe sein. Dan Slater drückt es so aus: Die Konsumkultur »assoziiert Zufriedenheit mit wirtschaftlicher Stagnation: die Bedürfnisse dürfen kein Ende haben […]. [Das] setzt voraus, dass unsere Bedürfnisse einerseits unstillbar sind, dass wir aber stets erwarten, sie durch Waren befriedigt zu bekommen.«21 Oder vielleicht könnte man es so formulieren: Wir werden gedrängt und/oder überredet, unablässig nach Befriedigung zu suchen, und gleichzeitig jene Art von Zufriedenheit zu fürchten, die der Suche ein Ende bereiten würde. Mit der Zeit muss man uns gar nicht mehr drängen oder überreden, damit wir uns so fühlen und entsprechend handeln. Keine Wünsche offen? Nichts, dem man nachjagen könnte? Nichts, wovon man träumen könnte, in der Hoffnung, dass der Traum Wirklichkeit wird? Ist man gezwungen, sich ein für alle Mal mit dem abzufinden, was man hat (und damit zugleich mit dem, was man ist)? Gibt es nichts Neues und Außergewöhnliches mehr, das sich einen Platz auf der Bühne der Aufmerksamkeit erobern, und nichts auf dieser Bühne, das man wegwerfen und loswerden müsste? Einen solchen – hoffentlich vorübergehenden – Zustand könnte man nur mit einem Namen benennen: »Langeweile«. Die Albträume, die den Homo consumens heimsuchen, sind belebte oder unbelebte Dinge beziehungsweise deren Schatten, Erinnerungen an belebte oder unbelebte Dinge, die länger zu bleiben drohen, als sie willkommen sind, und die Bühne zustellen. 21 Slater, Consumer Culture, S. 100.
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Das wichtigste Anliegen (und, wie Talcott Parsons sagen würde, die »funktionelle Bedingung« der Konsumgesellschaft) ist nicht die Erzeugung neuer Bedürfnisse (die manche »künstliche« Bedürfnisse nennen, allerdings irrtümlicherweise, da »Künstlichkeit« keine spezifische Eigenschaft »neuer« Bedürfnisse ist: Auch wenn sie natürliche menschliche Neigungen als Rohmaterial verwenden, so erhalten doch in jeder Gesellschaft alle Bedürfnisse ihre greifbare, konkrete Form durch das »Artefakt« des gesellschaftlichen Drucks). Was die Konsumwirtschaft und den Konsumismus am Leben erhält, ist das Herunterspielen und die Infragestellung der Bedürfnisse von gestern, das Verspotten und die Entstellung ihrer Objekte, die nunmehr passé sind, und vor allem die Diskreditierung der bloßen Vorstellung, dass das Konsumleben von der Befriedigung von Bedürfnissen geleitet sein sollte. Das Beige des Make-ups, letzte Saison noch ein Zeichen von Kühnheit, ist jetzt nicht nur eine unmoderne Farbe, sondern eine langweilige und hässliche, und darüber hinaus ein peinliches Stigma und ein Brandmal der Ignoranz, Indolenz, Ungeschicktheit oder generellen Minderwertigkeit. Diese Farbe zu verwenden, vor nicht allzu langer Zeit eine Handlung, die für Rebellion, Wagemut und die Fähigkeit, »der Meute der Modebewussten voraus zu sein«, stand, verwandelt sich in kürzester Zeit in ein Symptom von Trägheit oder Feigheit (»Das ist kein Makeup, das ist eine Kuscheldecke«), ein Zeichen, dass jemand hinter der Meute zurückfällt, vielleicht sogar dabei ist, den Anschluss ganz zu verlieren. Erinnern wir uns: Nach dem Urteil der Kultur des Konsumismus sind Individuen, die sich mit einer begrenzten Bandbreite von Bedürfnissen zufriedengeben, sich nur danach richten, was sie zu brauchen glauben, und niemals nach neuen Bedürfnissen, die eine angenehme Sehnsucht nach Befriedigung erwecken könnten, Ausschau halten, fehlerhafte Konsumenten, also die Art von sozialen Außenseitern, die spezifisch ist für die Konsumgesellschaft. Die Bedrohung durch und die Angst vor der Ächtung und der Exklusion schwebt auch über jenen, die zufrieden sind mit ihrer Identität und mit dem, wofür ihre »signifikanten Anderen« sie halten. Die Kultur des Konsumismus ist geprägt vom permanenten Druck, jemand anders zu sein. Konsumgütermärkte sind darauf ausgerichtet, das in der Vergangenheit Angebotene umgehend abzuwerten, 130
um in der allgemeinen Nachfrage Platz zu schaffen, der mit neuen Angeboten aufgefüllt werden kann. Sie erzeugen Unzufriedenheit mit den Produkten, mit denen Konsumenten ihre Bedürfnisse befriedigen – und kultivieren darüber hinaus permanente Unzufriedenheit mit der erworbenen Identität und den Bedürfnissen, durch die eine solche Identität definiert wird. Die Identität zu wechseln, die Vergangenheit abzustreifen und Neuanfänge anzustreben, sich zu bemühen, neu geboren zu werden – all das wird von dieser Kultur gefördert, als eine Pflicht, die als Privileg getarnt ist. Das, was angesichts der Unendlichkeit der konsumistischen Perspektiven die »Pointillisierung« beziehungsweise »Brechung« der Zeit zu einer höchst attraktiven Neuheit und einer Art des In-der-Welt-Seins macht, die zweifellos freudig erlernt und mit Eifer praktiziert werden wird, ist ein zweifaches Versprechen: dass man der Zukunft zuvorzukommen und der Vergangenheit ihre Macht nehmen kann. Schließlich entspricht diese doppelte Leistung dem Ideal der Freiheit (ich war im Begriff zu schreiben: »dem modernen Freiheitsideal«, doch dann wurde mir bewusst, dass der Ausdruck mit diesem Zusatz pleonastisch wäre: Was man in vormodernen Zeiten »Freiheit« nannte, würde den Freiheitstest nach modernen Standards nicht bestehen und daher überhaupt nicht als »Freiheit« gelten). Wenn man sie zusammennimmt, dann verheißen das Versprechen, die Akteure von den Beschränkungen zu emanzipieren, die ihrer Wahlfreiheit durch die Vergangenheit auferlegt waren (die Art von Beschränkungen, die vor allem deshalb so ärgerlich sind, weil sie die unangenehme Angewohnheit haben, an Umfang zuzunehmen und sich zu verhärten, je mehr die »Vergangenheit« sich unerbittlich mit einer immer dickeren Lage von Sedimenten aus immer längeren Abschnitten der Lebensgeschichte füllt), und die Erlaubnis, allen Sorgen bezüglich der Zukunft (genauer gesagt bezüglich der zukünftigen Konsequenzen gegenwärtiger Handlungen, mit ihrer höchst ärgerlichen Macht, gegenwärtige Hoffnungen zunichte zu machen, den Wert gegenwärtiger Entscheidungen aufzuheben oder umzukehren und gegenwärtig gefeierte Erfolge rückwirkend zu entwerten) ein Ende zu setzen, eine umfassende, uneingeschränkte, nahezu »absolute« Freiheit. Die Konsumgesellschaft bietet eine solche Freiheit in einem nie da gewesenen 131
Ausmaß, das in jeder anderen uns bekannten Gesellschaft schlichtweg undenkbar gewesen wäre. Befassen wir uns zuerst mit der geradezu unheimlichen Leistung, die Macht der Vergangenheit zu brechen. Sie läuft auf eine einzige, allerdings wahrlich erstaunliche Veränderung in der conditio humana hinaus: die neu erfundene (allerdings als neu entdeckt gepriesene) Leichtigkeit, »wiedergeboren« zu werden. Dank dieser Erfindung haben nicht nur Katzen sieben Leben. In-Konsumenten-verwandeltenMenschen wird nunmehr die Möglichkeit geboten, in den einen, entsetzlich kurzen Besuch auf der Erde, einen Besuch, dessen abscheuliche Kürze vor nicht allzu langer Zeit beklagt wurde und der seither nicht wesentlich länger geworden ist, viele Leben hineinzupressen: eine endlose Folge von Neuanfängen. Eine ganze Serie von Familien, Karrieren, Identitäten. Bei dem kleinsten Kratzer macht man heute gleich einen radikalen Schnitt – so scheint es zumindest. Die derzeitige Attraktivität der »seriellen Geburten« – des Lebens als endlose Kette von »Neuanfängen« – manifestiert sich unter anderem im erstaunlichen, vielkommentierten Siegeszug der plastischen Chirurgie. Vor nicht allzu langer Zeit führte sie in der Medizin ein Schattendasein, als Reparaturwerkstatt und letzter Ausweg für einige wenige Männer und Frauen, die durch eine seltene Kombination von Genen, durch Verbrennungen, die nicht heilen wollten, oder hässlichen Narben, die nicht verschwanden, grausam entstellt waren. Jetzt hat sie sich für Millionen von Menschen, die es sich leisten können, zu einem Routineinstrument für die fortwährende Umgestaltung des sichtbaren Selbst entwickelt. Und zwar tatsächlich fortwährend: Die Schaffung eines »neuen und schöneren« Aussehens wird nicht mehr als einmalige Angelegenheit betrachtet. Die sich wandelnde Bedeutung des Wortes »Verschönerung« und damit die Notwendigkeit (und, natürlich, die Verfügbarkeit) von weiteren Operationen, um die Spuren der vorhergehenden zu beseitigen, sind in das Konzept integriert und machen einen Großteil seiner Anziehungskraft aus (wie der Guardian am 16. Mai 2006 berichtete, bietet die Firma »Transform«, die »in Großbritannien auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie führend ist«, »Kundenkarten« an, die Kunden für Folgeoperationen nutzen können).22 22 Hall, »Holiday for Plastic Surgery« Firm under Fire.
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Bei plastischer Chirurgie geht es nicht um die Entfernung eines Makels oder um das Erreichen einer Idealform, die einem von der Natur oder vom Schicksal verwehrt wurde, sondern darum, Schritt zu halten mit sich schnell wandelnden Standards, den eigenen Marktwert zu erhalten und ein Image abzulegen, dessen Nützlichkeit oder Charme überlebt ist, sodass man es durch ein neues öffentliches Image ersetzen kann – im Rahmen eines Paketangebots mit (hoffentlich) einer neuen Identität und (ganz sicher) einem Neuanfang. In seiner kurzen, aber umfassenden Untersuchung des spektakulären Aufstiegs des Geschäfts mit der Schönheitschirurgie schreibt Anthony Elliott: »Schönheitschirurgie wird zunehmend zu einer Lifestyle-Frage. […] Die Chirurgie-Kultur von heute fördert eine Phantasie von der grenzenlosen Formbarkeit des Körpers. Die Botschaft der Schönheitsindustrie ist, dass nichts Sie daran hindern kann, sich nach Belieben neu zu erfinden; aber es ist unwahrscheinlich, dass Ihr chirurgisch aufgewerteter Körper Sie auf Dauer glücklich machen wird, denn die chirurgischen Verbesserungen von heute werden nur für die unmittelbare Zukunft entworfen. Ihre Haltbarkeit gilt bis zum ›nächsten Eingriff‹.«23 Jeder Neuanfang kann Sie nur bis zu einem bestimmten Punkt bringen und nicht weiter; jeder Neuanfang verheißt viele weitere Neuanfänge in der Zukunft. Jeder Augenblick hat die ärgerliche Tendenz, zur Vergangenheit zu werden – und in kürzester Zeit wird er seinerseits seine Macht einbüßen. Die Fähigkeit, die Macht der Vergangenheit zu brechen, ist schließlich der tiefste Sinn des Versprechens, Macht zu verleihen, das die auf den Konsumgütermärkten angebotenen Waren auszeichnet. Die von Konsumenten bewohnte Welt wird von ihren Bewohnern als riesiger Container mit Ersatzteilen wahrgenommen. Das Ersatzteillager ist ständig reichlich gefüllt, und wenn das Angebot kurzzeitig erschöpft ist, kann man sich darauf verlassen, dass es stets wieder aufgefüllt wird. Es wird nicht mehr erwartet, dass man sich damit abfindet und begnügt, was man hat und wer man ist, sich mit dem Fehlen anderer Optionen versöhnt und aus Mangel an Alternativen das Beste aus dem macht, was das Schicksal einem mitgegeben hat. Verliert irgendein Teil (der Werkzeuge im täglichen Gebrauch, des derzeitigen 23 Elliott, Quick Fix Brings Long-term Legacy.
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Netzwerks an Kontakten zu anderen Menschen, des eigenen Körpers oder seines öffentlichen Erscheinungsbildes, des eigenen Selbst beziehungsweise der eigenen Identität und des öffentlich präsentierten Images) seine öffentliche Wirksamkeit oder seinen Marktwert, so muss er entfernt, herausgerissen und durch ein »neues und verbessertes« oder einfach frischeres und noch nicht abgenutztes »Ersatzteil« ersetzt werden; wenn nicht durch ein selbst oder in Heimarbeit angefertigtes, dann (vorzugsweise) durch ein fabrikmäßig hergestelltes und von Geschäften angebotenes. Auf diese Wahrnehmung der Welt, und ihren modus operandi darin, werden die Konsumenten der Konsumgesellschaft von Geburt an und ihr Leben lang gedrillt. Den nächsten Artikel zu einem niedrigeren Preis zu verkaufen, wenn der früher gekaufte, ähnliche Artikel »nach Gebrauch« im Geschäft zurückgegeben wird, ist eine Strategie, die von Unternehmen, die Haushaltswaren verkaufen, immer häufiger angewendet wird. Aber Lesław Hostyn´ski, ein scharfsinniger Analytiker der Wertmaßstäbe der Konsumkultur, hat eine lange Liste weiterer Methoden aufgelistet und beschrieben, die zur Vermarktung von Konsumgütern angewendet werden, um die jungen (und immer jüngeren) Adepten des Konsumismus davon abzuhalten, eine langfristige Bindung an irgendetwas zu entwickeln, was sie kaufen und genießen.24 Mattel zum Beispiel, die Firma, die den Spielzeugmarkt mit Barbiepuppen überschwemmt und allein 1996 einen Umsatz von 1,7 Milliarden Dollar erzielt hat, versprach jungen Konsumenten, dass sie die nächste Barbie billiger bekämen, wenn sie das derzeit benutzte Exemplar ins Geschäft zurückbrächten, sobald es »aufgebraucht« sei. Die »Wegwerfmentalität«, jenes unverzichtbare Gegenstück zur »Ersatzteilvision« der (kommodifizierten) Welt, wurde erstmals von Alvin Toffler als eine Art spontane Entwicklung von unten beschrieben,25 doch seither ist sie ein wichtiges Ziel von Unternehmen geworden, die ihre zukünftigen Kunden von früher Kindheit an und ihr gesamtes Konsumleben lang schulen. Eine Barbiepuppe gegen eine »neue und verbesserte« auszutauschen, führt zu einem Leben, dessen Beziehungen und Partnerschaften 24 Vgl. Hostyn´ski, Wartos´ci w s´wiecie konsumpcji, S. 108ff. 25 Toffler, Der Zukunftsschock, S. 48.
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nach dem Muster des Mietkaufs geformt und gelebt werden. Wie Pascal Lardellier schreibt, wird die »Logik der Gefühle« immer konsumistischer:26 Sie zielt auf die Verringerung von allen möglichen Risiken ab, die Kategorisierung der gesuchten Merkmale, das Bemühen, die Eigenschaften des gesuchten Partners genau zu definieren, die den Sehnsüchten des Suchenden entsprechen. Die zugrunde liegende Überzeugung ist, dass es möglich ist, das Liebesobjekt aus einer Anzahl eindeutig festgelegter und messbarer körperlicher und sozialer Eigenschaften und Charakterzüge zusammenzusetzen. Den Prinzipien eines solchen »Liebesmarketings« (marketing amoureux, ein von Lardellier geprägter Begriff) zufolge sollte der interessierte »Käufer« des »Liebesobjekts« vom »Kauf« absehen, wenn das gesuchte Liebesobjekt in einer oder mehreren Kategorien durchfällt, genau so, wie er oder sie es ganz gewiss bei jeder anderen angebotenen Ware tun würde; wenn sich das Versagen jedoch erst nach dem »Kauf« herausstellt, so ist das durchgefallene Liebesobjekt, wie jedes andere Konsumgut, wegzuwerfen und entsprechend auszutauschen. Für Jonathan Keene vermittelt das Verhalten von Kunden, die auf der Suche nach dem zusammengesetzten Ideal eines Partners das Internet durchforsten, den Eindruck einer »emotional distanzierten Handlung«, »als wären Menschen Koteletts im Schaufenster einer Metzgerei«.27 »Neu geboren« zu werden bedeutet, dass das (oder die) frühere(n) Leben, mitsamt aller Konsequenzen, praktisch annulliert worden ist (sind). Jeder weitere »Neuanfang« (jede Inkarnation) vermittelt das beruhigende, obgleich trügerische Gefühl, man hätte nun die Art von Macht, von der Menschen seit jeher wehmütig geträumt, die sie jedoch nie zuvor zu erleben (geschweige denn zu praktizieren) hofften, eine Macht, die Leo Schestow zum exklusiven Vorrecht und entscheidenden Wesenszug Gottes erklärt hat: Der bedeutende russisch-französische Existenzialist Schestow argumentierte, dass die Macht, die Vergangenheit zu annullieren (beispielsweise dafür zu sorgen, dass Sokrates nie gezwungen wurde, den Schierlingsbecher zu trinken), das 26 Lardellier, Rencontres sur internet, S. 229. 27 Keane, Late Capitalist Nights, S. 67f.
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ultimative Zeichen der göttlichen Allmacht sei.28 Die Macht, vergangene Ereignisse zu verändern oder sie für null und nichtig zu erklären, kann die Macht der kausalen Determiniertheit aufheben und entwaffnen, sodass die Macht der Vergangenheit, die Optionen in der Gegenwart einzuschränken, radikal beschnitten, vielleicht sogar gänzlich abgeschafft werden kann. Was man gestern war, wird der Möglichkeit nicht mehr im Wege stehen, dass man heute etwas ganz anderes wird; ebensowenig wird es die Aussicht auf eine weitere Inkarnation in der Zukunft verstellen, die ihrerseits die Gegenwart – ihre Vergangenheit – auslöschen wird. Erinnern wir uns: Da man davon ausgeht, dass jeder einzelne Zeitpunkt voller unerforschter Möglichkeiten ist und dass jede einzelne dieser Möglichkeiten originell und einzigartig ist und zu keinem anderen Zeit-Punkt kopiert werden wird, ist die Anzahl der möglichen Arten, auf die man sich ändern (oder zumindest zu ändern versuchen) kann, wahrlich unzählbar. Ja, sie stellt sogar die erstaunliche Vielzahl von Permutationen und die schwindelerregende Vielfalt von Formen und Gestalten in den Schatten, die das zufällige Aufeinandertreffen von Genen bislang in der menschlichen Spezies hervorgebracht hat und aller Wahrscheinlichkeit nach in der Zukunft hervorbringen wird. Laut Andrzej Stasiuk, einem aufmerksamen Beobachter unserer heutigen Lebensweise, kommt die Vielzahl, nein, Unendlichkeit von Optionen der Ehrfurcht gebietenden Weite der Ewigkeit nahe, in der, wie wir wissen, früher oder später alles passieren und früher oder später alles getan werden kann; allerdings ist jetzt diese wunderbare Macht der Ewigkeit hineingepresst worden in die keineswegs ewige Spanne eines einzigen menschlichen Lebens. Die erfolgreiche Entwaffnung der Macht der Vergangenheit, nachfolgende Entscheidungsmöglichkeiten einzuschränken, zusammen mit der dadurch erzeugten Leichtigkeit einer »weiteren Geburt«, berauben in der Folge die Ewigkeit ihrer verführerischsten Anziehungskraft. In der pointillisierten Zeit der Konsumgesellschaft ist die Ewigkeit kein Wert und kein Objekt der Begierde mehr. Die Eigenschaft, die ihr mehr als jede andere ihren einzigartigen und wahrlich monumentalen Wert verlieh und sie zum Gegenstand von Träumen machte, ist heraus28 Schestow, Der gefesselte Parmenides.
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geschnitten, komprimiert, zu einem »Urknall«-artigen Erlebnis verdichtet und dem Augenblick aufgepfropft worden – jedem beliebigen Augenblick. Dementsprechend ersetzt die flüchtig-moderne »Tyrannei des Augenblicks« mit ihrem Grundsatz carpe diem die vormoderne Tyrannei der Ewigkeit mit ihrem memento mori. In einem Buch, dessen Titel für sich spricht, greift Thomas Hylland Eriksen die »Tyrannei des Augenblicks« heraus, als bemerkenswertestes Kennzeichen unserer heutigen Gesellschaft und ihre wohl wichtigste Neuerung: »Sogar das ›Hier und Jetzt‹ ist bedroht, weil sich der nächste Augenblick so schnell einstellt, dass es schwierig wird, in der Gegenwart zu leben. […] Die Konsequenzen dieser extremen Eile sind überwältigend. Sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft ist durch die Tyrannei des Augenblicks bedroht.«29 Ein echtes Paradox und eine nie versiegende Quelle von Spannungen: je voluminöser und umfassender der Augenblick wird, desto kleiner (kürzer) ist er; während sein potentieller Inhalt anschwillt, schrumpfen seine Ausmaße. »Es gibt überzeugende Hinweise darauf, dass wir dabei sind, eine Gesellschaft zu schaffen, in der man nicht einmal den einfachsten Gedanken zu Ende denken kann.«30 Aber im Gegensatz zu den verbreiteten Hoffnungen, die die Versprechen des Konsummarktes fördern, würde eine Veränderung der eigenen Identität, wäre sie überhaupt plausibel, sehr viel mehr erfordern als nur einen kurzen, einfachen Gedanken. Wird die Zeiterfahrung einer »Pointillisierung« unterzogen, dann wird sie an beiden Enden abgeschnitten. Ihre Schnittstellen mit der Vergangenheit und der Zukunft verwandeln sich in Gräben – ohne Brücken und hoffentlich unüberbrückbar. Paradoxerweise gibt es im Zeitalter der schnellen und mühelosen Kontaktaufnahme und des Versprechens, ständig »in Verbindung« zu bleiben, den Wunsch, die Kommunikation zwischen dem Erleben des Augenblicks und allem, was ihm vorausgeht oder folgt, auszusetzen oder besser noch unwiderruflich abzubrechen. Der Graben hinter uns soll dafür sorgen, dass die Vergangenheit das vorauseilende Selbst niemals einholen kann. Der Graben vor uns ist eine Bedingung dafür, dass der Augenblick 29 Eriksen, Die Tyrannei des Augenblicks, S. 15. 30 Ebenda, S. 8f.
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ganz ausgekostet und man sich selbst völlig und ohne Vorbehalte seinem (zugegebenermaßen flüchtigen) Charme und seiner Verführungskraft hingeben kann: ein Akt, der, wenn überhaupt, kaum realisierbar wäre, wenn der aktuell durchlebte Augenblick mit der Sorge vergiftet wäre, man könnte sich die Zukunft verbauen. Idealerweise ist jeder Moment nach dem Muster eines Kreditkarteneinsatzes geformt, eines radikal entpersonalisierten Aktes: Ohne Interaktion von Angesicht zu Angesicht ist es leichter, das Unangenehme, das jeder Augenblick des Genusses mit sich bringen könnte, zu vergessen oder vielmehr gar nicht erst darüber nachzudenken. Kein Wunder, dass die Banken – denen daran gelegen ist, das Bargeld im Umlauf zu halten und so noch mehr Geld zu verdienen, als es der Fall wäre, wenn das verfügbare Bargeld ungenutzt liegen bliebe – es vorziehen, wenn ihre Kunden ihre Kreditkarten zücken, anstatt darauf zu warten, bis sie einen Termin beim Zweigstellenleiter bekommen. In Anlehnung an die Terminologie Stephen Bertmans hat Elzbieta Tarkowska, selbst eine bedeutende Soziologin, das Konzept der »synchronen Menschen« entwickelt, die »ausschließlich in der Gegenwart leben« und die »Erfahrungen in der Vergangenheit oder Konsequenzen ihrer Handlungen in der Zukunft keine Beachtung schenken«, eine Strategie, die »das Fehlen von Bindungen zu anderen zur Folge« hat. Die »gegenwartsfixierte Kultur« »schätzt Geschwindigkeit und Effektivität, fördert aber weder die Geduld noch die Ausdauer«.31 Man könnte hinzufügen, dass es ebendiese Fragilität und scheinbar leichte Verfügbarkeit von individuellen Identitäten und zwischenmenschlichen Bindungen ist, die in der zeitgenössischen Kultur als Kern der individuellen Freiheit dargestellt werden. Eine Entscheidung, die eine solche Freiheit weder anerkennen noch zugestehen, noch dulden würde, ist der Entschluss (oder auch nur die Fähigkeit), an der bereits konstruierten Identität festzuhalten, das heißt an der Art von Aktivität, die den Erhalt und die Sicherheit jenes sozialen Netzwerks voraussetzt und notwendigerweise einschließt, auf dem diese Identität ruht und das sie aktiv reproduziert.
31 Tarkowska, Zygmunt Bauman.
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In meinem Buch »Liquid Love« habe ich versucht, die zunehmende Fragilität zwischenmenschlicher Bindungen zu analysieren. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass menschliche Bindungen heute – mit einer Mischung aus Jubel und Sorge – als etwas Fragiles betrachtet werden, das leicht auseinanderfällt und ebenso leicht gelöst wie geknüpft werden kann. Wenn sie mit Jubel betrachtet werden, dann deshalb, weil diese Fragilität die Risiken entschärft, die man in jeder Interaktion zu erkennen meint, die Gefahr eines in der Gegenwart geknüpften Knotens, der in der Zukunft als Einengung empfunden wird, und die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn zu einem jener Dinge erstarren lässt, die »ihre Zeit überlebt« haben; die einst anziehend waren, jetzt aber abstoßend sind, den Lebensraum verstellen und die Freiheit einschränken, das endlose Feuerwerk von Augenblicken zu erforschen, die voller neuer und verbesserter Anziehungspunkte sind. Und wenn sie mit Sorge betrachtet werden, dann deshalb, weil die Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Widerruflichkeit gegenseitiger Verpflichtungen ihrerseits Quelle beängstigender Risiken sind. Schließlich sind die Neigungen und Absichten anderer Menschen, die in der Lebenswelt jedes Individuums gegenwärtig und aktiv sind, unbekannte Variablen. Man kann sie nicht als selbstverständlich voraussetzen, auf sie zählen oder sie zuverlässig vorhersagen – und die daraus resultierende Ungewissheit versieht die aus irgendeiner gegenwärtigen Beziehung gewonnenen Freuden mit einem riesigen und unauslöschlichen Fragezeichen, lange bevor alle erhofften Befriedigungen erfahren und ganz ausgekostet worden sind. Die zunehmende Fragilität menschlicher Bindungen wird daher während der gesamten Lebensdauer, vom Augenblick ihrer Empfängnis bis lang nach ihrem Ableben, als Segen und Fluch zugleich erlebt. Sie reduziert nicht die Gesamtmenge der Befürchtungen, sondern bewirkt lediglich eine Umverteilung der Sorgen, und es ist praktisch unmöglich, ihre zukünftigen Windungen vorherzusehen, geschweige denn vorzuschreiben oder zu kontrollieren. Einige Beobachter der zeitgenössischen Entwicklungen, allen voran Manuel Castells und Scott Lash, begrüßen die neue Technologie des virtuellen Knüpfens und Lösens von Bindungen als vielversprechende Alternative und in mancher Hinsicht überlegene Form der Sozialität, 139
als mögliches Heilmittel oder vorbeugende Medizin gegen das Schreckgespenst der Einsamkeit des Konsumenten und als Auftrieb für dessen Freiheit (das heißt, die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen und zu revidieren): eine alternative Form der Sozialität, die den Konflikt zwischen den Anforderungen der Freiheit und der Sicherheit bis zu einem gewissen Grad aufheben kann. Castells schreibt von »vernetztem Individualismus«,32 Scott Lash und Mike Featherstone von »kommunikativen Bindungen« (communicational bonds).33 Doch scheinen beide Perspektiven pars pro toto zu nehmen, auch wenn sie sich jeweils auf einen anderen Teil des komplexen, ambivalenten Ganzen konzentrieren. Vom Standpunkt des ausgelassenen Teils aus betrachtet ähnelt das »Netz« auf beunruhigende Weise eher einer vom Wind verwehten Düne aus Treibsand als einer Baustelle für tragfähige soziale Bindungen. Wenn elektronische Kommunikationsnetzwerke im Lebensumfeld des individuellen Konsumenten auftauchen, so sind sie von Anfang an mit einer Sicherheitsvorrichtung ausgerüstet: mit der Möglichkeit, die Verbindung schnell, problemlos und (hoffentlich) schmerzlos zu trennen, die Kommunikation abzubrechen, sodass Teile des Netzwerks nicht mehr bedient und ihrer Relevanz sowie ihrer Fähigkeit, ein Ärgernis darzustellen, beraubt werden. Es ist diese Sicherheitsvorrichtung, und nicht die Leichtigkeit, mit der man Kontakt aufnehmen oder gar dauerhaft zusammenbleiben kann, die Männer und Frauen, die darin geschult sind, in einer von Märkten geregelten Welt zu funktionieren, an diesem elektronischen Ersatz für den Kontakt von Angesicht zu Angesicht so schätzen. Individuelle Freiheit bedeutet in einer solchen Welt weniger den Akt, das Erwünschte zu erlangen, als vielmehr das Ungewollte loszuwerden. Eine Sicherheitsvorrichtung, die den sofortigen Kontaktabbruch auf Wunsch ermöglicht, passt perfekt zu den grundlegenden Prinzipien der Kultur des Konsumismus. Soziale Bindungen dagegen und die Fähigkeiten, die benötigt werden, um sie zu knüpfen und zu pflegen, sind ihre ersten und wichtigsten Kollateralschäden.
32 Castells, Die Internet-Galaxie, S. 142–145. 33 Lash/Featherstone, Recognition and Difference, S. 17.
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Wenn man sich vor Augen hält, dass der »virtuelle Raum« zusehends zum natürlichen Lebensumfeld der derzeitigen Mitglieder der gebildeten Klassen wird sowie derer, die dazugehören wollen, dann nimmt es kaum wunder, dass etliche Akademiker dazu neigen, das Internet und das World Wide Web als eine vielversprechende und willkommene Alternative oder als Ersatz für die welkenden und dahinschwindenden traditionellen Institutionen der politischen Demokratie anzusehen, Institutionen, die dieser Tage bei den Bürgern bekanntlich auf immer weniger Interesse und noch weniger Engagement stoßen. Für die derzeitigen und potentiellen Mitglieder der gebildeten Klassen wird Politik »in erster Linie zu einer Übung in individueller Selbsttherapie, eine individuelle Leistung, kein Bemühen, das auf die Bildung einer Bewegung abzielt«34 – ein Mittel, um die Welt über ihre eigenen Tugenden zu informieren, dokumentiert beispielsweise durch ikonoklastische Botschaften, die man auf Autoscheiben klebt, oder durch die demonstrative Zurschaustellung von ostentativ »ethischem« Konsum. Das Theoretisieren über das Internet als neue und bessere Form der Politik, das Surfen im World Wide Web als neue und effektivere Form des politischen Engagements und schnellere Internetverbindungen und höhere Surfgeschwindigkeit als Fortschritte im demokratischen Prozess ähneln verdächtig bloßen Randbemerkungen zu den immer weiter verbreiteten und immer stärker entpolitisierten Lebenspraktiken der gebildeten Klasse und vor allem zu ihrem sehnlichen Wunsch nach einer ehrenhaften Entlassung aus der »realen Politik«. Vor solch einem Hintergrund an Lobeshymnen ist der Widerhall von Jodi Deans unverblümtem Urteil umso gewaltiger: Sie stellt fest, dass die heutigen Kommunikationstechnologien »zutiefst entpolitisierend«35 wirken und dass »Kommunikation heute als Fetisch funktioniert: als die Verleugnung einer grundlegenderen politischen Entmachtung oder Kastration«.36 »Der Technikfetisch ist für uns ›politisch‹ und ermöglicht, dass wir uns um unser sonstiges Leben kümmern können, befreit von der Schuld, dass wir womöglich nicht 34 Frank, Das falsche Versprechen der New Economy. 35 Dean, Communicative Capitalism, S. 51. 36 Ebenda, S. 61.
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unseren Teil beitragen, und im sicheren Glauben, dass wir schließlich alle informierte, engagierte Bürger sind. […]. Wir müssen keine politische Verantwortung übernehmen, weil […] die Technik das für uns erledigt. […]. Das macht uns glauben, dass wir lediglich eine bestimmte Technologie universell verfügbar machen müssen, und schon haben wir eine demokratische oder ausgeglichene Gesellschaftsordnung.«37 Die Realität steht gewissermaßen in krassem Gegensatz zu dem heiteren und optimistischen Porträt, das die »Technikfetischisten« von ihr zeichnen. Der gewaltige Informationsfluss ist kein Nebenarm des Demokratieflusses, sondern ein unersättliches Ansaugrohr, das seinen Inhalt abfängt und in riesige, aber stagnierende, abgestandene und künstliche Seen ableitet. Je gewaltiger dieser Strom ist, desto größer die Gefahr, dass das Flussbett austrocknet. Die Server dieser Welt speichern Informationen, damit die neue flüchtig-moderne Kultur das Lernen, als wichtigste treibende Kraft der Lebenspläne von Konsumenten, durch das Vergessen ersetzen kann. Server saugen alle Spuren von Dissens und Protest auf und speichern sie, sodass die flüchtigmoderne Politik ungerührt und ungebremst weiterfließen und Auseinandersetzungen und Argumente durch markige Sprüche und Fototermine ersetzen kann. Die vom Fluss wegführenden Ströme lassen sich nicht leicht um- und in das Flussbett zurückleiten: Bush und Blair konnten unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in den Krieg ziehen, ohne dass es einen Mangel an Websites gegeben hätte, die ihren Bluff offenlegten. Dazu passt, dass Nachrichtensprecher (oder die Zuschauer) es vorziehen, alles, was über die politische Lage zu sagen ist, im Stehen mitzuteilen, als hätte man sie bei etwas ganz anderem unterbrochen oder als hätten sie nur kurz angehalten auf dem Weg woandershin. Würden sie sich an einen Schreibtisch setzen, würde das auf eine dauerhaftere Bedeutung der Nachrichten hindeuten, als man ihnen eigentlich beimessen will, und auf tiefgründigere Überlegungen, als man meint, dass die Konsumenten am anderen Ende des Massenkommunikationskanals, die alle mit den eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind, ertragen können. 37 Ebenda, S. 63.
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Was die »reale Politik« betrifft, so wird der ihr innewohnende Dissens auf dem Weg in elektronische Lagerhäuser sterilisiert, unschädlich gemacht und sie selbst dadurch ihrer Relevanz beraubt. Diejenigen, die das Wasser in den Stauseen in Wallung versetzen, mögen sich zu ihrem Schwung und ihrem Elan, der von ihrer Fitness zeugt, selbst gratulieren, doch diejenigen in den Korridoren der echten Macht wird man kaum dazu zwingen können, ihnen Gehör zu schenken. Sie werden der ausgefeilten Kommunikationstechnologie nur dafür dankbar sein, dass sie potentielle Probleme ableitet und die Barrikaden, die auf ihrem Weg errichtet werden, zerlegt, noch ehe die Erbauer dieser Barrikaden Zeit hatten, sie fertigzustellen, geschweige denn, die nötigen Menschen zusammenzurufen, um sie zu verteidigen. Die reale und die virtuelle Politik bewegen sich in unterschiedliche Richtungen, und der Abstand zwischen ihnen wächst, da die Autarkie beider von der Abwesenheit des anderen profitiert. Das Zeitalter der Simulacra Jean Baudrillards38 hat den Unterschied zwischen echten Dingen und ihren Spiegelungen, zwischen realen und virtuellen Realitäten, nicht aufgehoben; es hat lediglich einen Abgrund zwischen ihnen geschaffen, den Internetsurfer leicht überspringen, während die Bürger von heute und mehr noch die, die Bürger werden wollen, ihn immer schwerer überbrücken können. Kurz bevor PC s und Mobiltelefone die privaten und intimen Welten von Konsumenten zu kolonisieren begannen, stellte Christopher Lasch verbittert fest, dass es unwahrscheinlich sei, dass Menschen, die »in Städten und Vorstädten leben, in denen Einkaufszentren an die Stelle von Nachbarschaften getreten sind […] die Idee der Gemeinschaft neu erfinden, nur weil der Staat sich als ein derart unbefriedigender Ersatz erwiesen hat«.39 Dieses Urteil gilt bis heute, auch wenn die Kolonisierung sich mit der Geschwindigkeit eines Buschfeuers ausgebreitet und längst die abgelegensten Winkel und Ecken erreicht hat. In seiner kürzlich veröffentlichten Studie zeitgenössischer Obsessionen mit der Identität (vor allem der Aufmerksamkeit, die man heute dem Zusammensetzen und der Demontage von Identitäten widmet), 38 Baudrillard, Agonie des Realen, S. 6. 39 Lasch, The Age of Limits, S. 240.
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versucht Kwame Anthony Appiah die seltsame Dialektik des »Kollektivs« und des »Individuums«, von »Zugehörigkeit« und »Selbstbehauptung« zu fassen – eine Dialektik, die dazu führt, dass die Versuche, sich eine Identität aufzubauen, letztlich ineffektiv, aber (vielleicht gerade deshalb) unaufhaltsam sind und kaum je an Entschlossenheit einbüßen werden.40 Wenn zum Beispiel die Tatsache, dass jemand Afroamerikaner(in) ist, die Gestalt des Selbst beeinflusst, die er oder sie zum Ausdruck zu bringen und öffentlich darzustellen versucht, so Appiah, dann begibt sich diese Person in diese Auseinandersetzung und strebt nach Anerkennung ihrer afroamerikanischen Identität nur deshalb, weil sie sich der Notwendigkeit bewusst ist, ein Selbst zu besitzen, das geeignet ist, hergezeigt und öffentlich dargestellt zu werden. Situative und kontingente Zuschreibungen mögen erklären, welches Selbst aus der Zahl derer, die in Betracht kommen, zum Zeigen gewählt wird, aber sie erklären kaum die Aufmerksamkeit selbst, die man dafür aufwendet, überhaupt eine Auswahl zu treffen und sie dann öffentlich darzustellen; noch weniger erklären sie den Eifer, der in die Bemühungen einfließt, dieses sichtbar zu machen. Selbst wenn nach Auffassung des Akteurs beziehungsweise der Akteurin das Selbst, das er/sie bemüht ist, zu offenbaren und anerkennen zu lassen, der Wahl einer individuellen Identität vorausgeht, sie vorwegnimmt und im Voraus festlegt (Zuordnungen zu einer Ethnie, Rasse, Religion oder einem Geschlecht nehmen für sich in Anspruch, zu dieser Kategorie von Selbst zu gehören), sind es der Drang, eine Wahl zu treffen, und die Bemühungen, die Wahl öffentlich deutlich zu machen, die die Selbstdefinition des flüchtig-modernen Individuums ausmachen. Diese Bemühungen wären kaum unternommen worden, wenn die betreffende Identität tatsächlich mit jener determinierenden Macht ausgestattet wäre, die sie für sich in Anspruch nimmt und/oder die ihr zugeschrieben wird. In der flüchtig-modernen Konsumgesellschaft sind Identitäten keine in die Wiege gelegten Geschenke, es wird einem keine »gegeben«, geschweige denn ein für alle Mal und zuverlässig gegeben. Identitäten sind Projekte: Aufgaben, die erst noch angepackt, sorgfältig erledigt und in einer unendlich fernen Zukunft zu einem Abschluss 40 Vgl. Appiah, The Ethics of Identity.
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gebracht werden müssen. Selbst im Fall jener Identitäten, die vorgeben und/oder von denen man annimmt, dass sie »gegeben« und nicht übertragbar sind, wird die Verpflichtung, sich individuell zu bemühen, um sie sich anzueignen, und sich dann täglich anzustrengen, um sie festzuhalten, als die wichtigste Voraussetzung und notwendige Bedingung für ihr »Gegebensein« präsentiert und wahrgenommen. Den Nachlässigen, Halbherzigen und Trägen, ganz zu schweigen von den Zweifelnden, Unentschlossenen und Treulosen, wird das Recht verwehrt, ihr Geburtsrecht geltend zu machen. Identität ist kein Geschenk (und schon gar kein »Gratisgeschenk«, um an einen pleonastischen, von Werbestrategen geprägten Ausdruck zu erinnern), sondern eine Verurteilung zu lebenslanger, harter Arbeit. Für die Produzenten von eifrigen und unermüdlichen Konsumenten und für die Verkäufer von Konsumgütern ist sie zudem eine unerschöpfliche Geldquelle – eine Quelle, die mit jedem Knüller ergiebiger wird. Ist sie in früher Kindheit erst einmal in Gang gesetzt, wird das Zusammensetzen und die Demontage von Identitäten zu einer sich selbst antreibenden und sich selbst verstärkenden Aktivität. Erinnern wir uns, dass Konsumenten gedrängt werden, sich selbst zu »kommodifizieren« – sich selbst in attraktive Waren zu verwandeln – und zu diesem Zweck alle Strategien und Hilfsmittel einzusetzen, die in der Welt des Marketings üblich sind. Gezwungen, eine Marktnische für die Vorzüge zu finden, die sie besitzen oder zu entwickeln hoffen, müssen sie die Schwankungen dessen, was nachgefragt und was angeboten wird, genauestens beobachten und den Markttrends folgen: angesichts der notorischen Launenhaftigkeit von Konsumgütermärkten eine wenig beneidenswerte, oftmals furchtbar anstrengende Aufgabe. Die Märkte tun alles, was in ihrer Macht steht, damit diese Aufgabe immer entmutigender wird, während sie gleichzeitig alles tun, was in ihrer Macht steht, um (gegen Bezahlung) Abkürzungen, Bausätze und patentierte Formeln zu liefern, die den Kunden die Last abnehmen, oder um sie wenigstens davon zu überzeugen, dass die ersehnte Erleichterung tatsächlich da ist, zumindest für einen Augenblick. Vor allem zwei Hilfsmittel spielen eine zentrale Rolle bei den Versuchen, die Mühen des Aufbauens und Demontierens von Identitäten in der Konsumgesellschaft zu erleichtern. 145
Das erste ist das, was ich an anderer Stelle die cloakroom communities41 genannt habe (ähnlich dem Aufeinandertreffen von Theaterbesuchern in der Garderobe, wo sie für die Dauer der Vorstellung, die sie zusammengeführt hat und die sie allein oder in kleinen Gruppen anschauen werden, ihre Mäntel oder Jacken abgeben). Es handelt sich um Scheingemeinschaften, Phantomgemeinschaften, Ad-hoc-Gemeinschaften, Karnevalsgemeinschaften – jene Art von Gemeinschaften, von denen man den Eindruck hat, dass man sich ihnen einfach dadurch anschließt, dass man an einem Ort ist, an dem auch andere anwesend sind, oder indem man Abzeichen oder andere Kennzeichen für gemeinsame Ziele, Moden oder Vorlieben zur Schau trägt. Es sind zeitlich befristete Gemeinschaften, aus denen man »herausfällt«, sobald die Menge sich zerstreut, und denen man jederzeit auch schon früher den Rücken kehren kann, sollte das eigene Interesse abflauen. Cloakroom communities erfordern keine Zugangs- oder Austrittserlaubnis, haben keine Verkaufsstellen, die diese ausstellen könnten, und sind noch viel weniger berechtigt, verbindliche Kriterien für die Bewerbungsvoraussetzungen zu definieren. Die Modalität der »Gemeinschaftsmitgliedschaft« ist rein subjektiv; was zählt, ist die »momentane Erfahrung von Gemeinschaft«. In einem Dasein als Konsument, das unter der Tyrannei des Augenblicks leidet und sich nach pointillistischer Zeit bemisst, verleiht die Leichtigkeit, sich nach Belieben anzuschließen und wieder zu gehen, jener Erfahrung der Phantom- oder Ad-hoc-Gemeinschaft einen eindeutigen Vorteil gegenüber dem unangenehm soliden, einschränkenden und anspruchsvollen »Original«. Eintrittskarten zu den Vorstellungen, Abzeichen und andere öffentlich zur Schau getragene Kennzeichen von Identität werden allesamt vom Markt geliefert; das ist das zweite der beiden Hilfsmittel, die von der Modalität des konsumistischen Lebens bereitgestellt werden, um die Last der Konstruktion und Dekonstruktion von Identität zu erleichtern. Konsumgüter sind kaum je identitätsneutral; in der Regel werden sie »inklusive Identität« geliefert (genau wie Spielzeug und elektronische Spielereien, die »inklusive Batterien« verkauft werden). Die Arbeit der Konstruktion von Identitäten, die öffentlich zur Schau 41 Bauman, Flüchtige Moderne, S. 233ff.
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gestellt und anerkannt werden, können ebenso wie das Erwerben der begehrten »Gemeinschaftserfahrung« in erster Linie Fertigkeiten im Einkaufen erfordern. In Anbetracht einer schwindelerregenden Fülle von brandneuen, ins Auge springenden Identitäten, die nie weiter entfernt liegen als das nächste Einkaufszentrum, sind die Chancen, dass eine bestimmte Identität mit Gelassenheit akzeptiert wird als die endgültige, die nach keiner weiteren Überarbeitung oder Erneuerung ruft, ebenso gering wie die Überlebenschancen des sprichwörtlichen Schneeballs in der Hölle. Warum sollte man sich auch mit dem zufriedengeben, was man bereits fertig aufgebaut hat, mit allen Fehlern und Schwächen, wenn neue Bastelsätze einen nie da gewesenen Kick versprechen und – wer weiß? – Türen aufstoßen, die zu nie zuvor genossenen Freuden führen? »Wenn Sie nicht rundum zufrieden sind, können Sie die Ware zurückbringen«: Ist das nicht das oberste Prinzip der Strategie des Konsumlebens? Der russisch-amerikanische Dichter Joseph Brodsky hat das Leben, das die obsessive und zwanghaft einkaufsorientierte Suche nach einer ständig aktualisierten, neu geformten Identität in Gang gesetzt und befördert hat, mit ihren Neugeburten und Neuanfängen anschaulich beschrieben: »Als potentiell Besitzende werden sie Langeweile und Überdruß empfinden an: Ihrer Arbeit, Ihren Freunden, Ehepartnern, Liebhabern, am Blick aus Ihrem Fenster, an Mobiliar oder Tapeten Ihres Zimmers, an Ihren Gedanken, an sich selbst. Dementsprechend werden Sie versuchen, sich Fluchtwege auszudenken. Abgesehen von dem erwähnten Instrumentarium zur Selbstbelohnung greifen Sie vielleicht zu folgenden Maßnahmen: Wechsel von Job, Wohnung, Umgang, Land, Klima; Sie mögen es probieren mit Promiskuität, Alkohol, Reisen, Kochstunden, Drogen, Psychoanalyse. Tatsächlich können Sie all das auf einmal tun, und eine Weile mag das funktionieren. Bis zu dem Tag freilich, an dem Sie in Ihrem Schlafzimmer inmitten neuer Familie und neuer Tapeten aufwachen, in einem anderen Staat und Klima, mit einem Haufen Rechnungen Ihres Reisebüros und Therapeuten, doch mit demselben schalen Gefühl angesichts des Tageslichts, das in Ihr Fenster fällt.«42 42 Brodsky, Lob der Langeweile, S. 210f.
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Nach Auffassung von Andrzej Stasiuk, eines hervorragenden polnischen Romanciers und besonders scharfsinnigen Analytikers der Situation des modernen Menschen, ist in unseren Tagen »die Möglichkeit, jemand anders zu werden« der Ersatz für Konzepte wie Seelenheil oder Erlösung, die heute von den meisten abgelehnt oder gering geschätzt werden. Ein Ersatz, so möchte man hinzufügen, der dem Original haushoch überlegen ist, weil man sofort über ihn verfügen kann, anstatt quälend lange zu warten, und weil er in vielfachen Varianten daherkommt und rückgängig gemacht werden kann, statt der »Einzige« und Ultimative zu sein. »Mit Hilfe unterschiedlicher Techniken können wir unseren Körper verändern und nach einem ausgewählten Muster gestalten. […] Die Illustrierten, die wir durchblättern, scheinen uns vor allem von verschiedenen Arten der Verwandlung unserer Person zu erzählen, angefangen bei Diät, Umgebung, Wohnung bis zum Umbau unserer psychischen Struktur, der sich häufig unter dem verlockenden Mantel des Vorschlags versteckt, man selbst zu sein.«43 Dieser These stimmt auch Sławomir Mroz˙ ek zu, ein bekannter polnischer Autor, der viele Länder aus eigener Erfahrung kennt. Mroz˙ ek vergleicht die Welt, in der wir leben, mit einem »Marktstand mit schicken Kleidern, der umringt ist von Menschen, die ihr ›Selbst‹ suchen […]. Man kann die Kleider wechseln, sooft man will, also genießen die Suchenden eine herrliche Freiheit. […] Lasst uns weiter nach unserem wahren Selbst suchen, das ist ein Heidenspaß – vorausgesetzt, dass wir das wahre Selbst niemals finden. Denn wenn wir es finden würden, wäre der Spaß zu Ende […].«44 Im Zentrum der Obsession der Konsumenten mit der Manipulation von Identitäten steht der Traum, man könne der Unsicherheit etwas von ihrem Schrecken nehmen und das Glück vollkommener machen und dabei weniger Opfer bringen und sich die erschöpfenden Mühen tagein, tagaus ersparen, wenn man sich der Möglichkeit bedient, das eigene Ich zu wechseln. Dieser Ich-Wechsel lässt sich realisieren, indem man Kleidung anzieht, die nicht an der Haut kleben bleibt, sodass wenig Gefahr besteht, dass sie weiteren Änderungen im 43 Stasiuk, Das Flugzeug aus Karton, S. 66f. 44 Mroz˙ ek, Driadek Ignacy, S. 123.
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Wege stehen wird. Im Falle der Definition und Konstruktion des Selbst, wie bei allen anderen Lebenszielen, bleibt die Kultur des Konsumismus ihrer Natur treu und verbietet eine endgültige Festlegung und jedwede vollkommene, endgültige Befriedigung, die keiner weiteren Steigerung mehr bedarf. Beim Aufbau einer Identität ist der wahre, wenn auch geheime Zweck das Wegwerfen und Loswerden mangelhafter, nicht restlos zufriedenstellender Produkte. Und es ist die versprochene Leichtigkeit des Wegwerfens und Loswerdens, an der Produkte gemessen und für mangelhaft und nicht restlos befriedigend erklärt werden. Kein Wunder, dass in unserer Ära gilt, was Siegfried Kracauer schon im Voraus erahnte: »Die integrierte Persönlichkeit zählt zweifellos zum Lieblingsaberglauben moderner Psychologie.«45 Das Durchmischen von Identitäten, das Ablegen der zuvor konstruierten und das Experimentieren mit neuen sind eine unmittelbare Folge des Lebens in der pointillistischen Zeit, in der jeder Augenblick voller unerforschter Chancen ist, die wahrscheinlich ungewürdigt und ohne Nachlass sterben werden, wenn man sie nicht ausprobiert. Allerdings verwandeln sich diese Chancen zusehends in Aktivitäten, die um ihrer selbst willen begehrt und durchgeführt werden. Da auch noch so viele Experimente kaum die unendlich vielen Gelegenheiten erschöpfen werden, werden der Eifer des Erkundens und die Ungeduld angesichts der enttäuschenden Ergebnisse bisheriger Versuche wahrscheinlich niemals nachlassen. Die natürlichen Grenzen, denen die Dauer und der Spielraum des Experimentierens unterliegen – aufgrund der Endlichkeit des Lebens des Einzelnen, der Knappheit der für die Produktion neuer Identitäten erforderlichen Ressourcen, der begrenzten Größe der Lebensräume, in denen die allgemeine Anerkennung von Identitäten immer wieder auf die Probe gestellt wird, oder des Widerstands oder der Ungläubigkeit der signifikanten Anderen, deren Zustimmung entscheidend ist, damit die Anerkennung gewährt wird – diese limitierenden Faktoren werden meist als Ärgernis und als unzulässige und damit inakzeptable Beschränkungen der individuellen Wahlfreiheit betrachtet.
45 Kracauer, Geschichte, S. 140.
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Zum Glück für diejenigen, die süchtig sind nach Identitätsveränderungen, nach Neuanfängen und multiplen Wiedergeburten, eröffnet das Internet Möglichkeiten, die im »echten Leben« verwehrt werden oder versperrt sind. Der wunderbare Vorteil des virtuellen Lebensraums im Vergleich zum Lebensraum oder zu den Lebensräumen »offline« besteht in der Möglichkeit, eine Anerkennung der Identität zu erlangen, ohne sie tatsächlich auszuleben. Internetsurfer suchen, finden und genießen die Abkürzungen, die vom Spiel mit der Phantasie unmittelbar zur sozialen (allerdings ebenfalls lediglich virtuellen) Akzeptanz des Erfundenen führen. Verlagert man die Experimente mit der eigenen Identität in den virtuellen Raum, so Francis Jauréguiberry, so wird das erlebt wie eine Emanzipation von der Fülle lästiger Einschränkungen in der Offline-Welt: »Internetsurfer können, immer wieder von neuem beginnend, mit neuen Identitäten ihrer Wahl experimentieren – ohne Angst vor Sanktionen.«46 Kein Wunder, dass die Identitäten, die während eines Besuchs in der Welt des Internets angenommen werden – einer Welt, in der Verbindungen ebenso plötzlich hergestellt wie gelöst werden können –, von einer Art sind, die offline aus physischen oder sozialen Gründen unhaltbar wären. Es sind wahre »Karnevalsidentitäten«, aber dank Laptop und Mobiltelefon kann man Karnevalsfeste, und besonders die privatisierten, jederzeit genießen – und vor allem zu einem Zeitpunkt, den man selbst festlegen kann. Im karnevalesken Spiel der Identitäten wird der soziale Umgang mit anderen Menschen offline als das entlarvt, was er in der Welt der Konsumenten tatsächlich ist: eine eher beschwerliche und nicht sonderlich angenehme Last, die man toleriert und erträgt, weil sie unvermeidlich ist, da die Anerkennung der gewählten Identität in langen und möglicherweise endlosen Mühen errungen werden muss – mit allen Risiken, bei einem Bluff ertappt oder dessen bezichtigt zu werden, die Begegnungen von Angesicht zu Angesicht notwendigerweise mit sich bringen. Diesen belastenden Aspekt der Kämpfe um Anerkennung auszuklammern ist der wohl attraktivste Vorzug des Maskeradeund Hochstapeleispiels im Internet. Die »Gemeinschaft« der Internetnutzer, auf der Suche nach einer alternativen Form der Anerkennung, 46 Jauréguiberry, Hypermodernité, S. 158ff.
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entbindet von der lästigen Pflicht, soziale Kontakte zu pflegen, und ist dadurch vergleichsweise frei von Risiken, jenem notorischen und weithin gefürchteten Fluch der offline geführten Kämpfe um Anerkennung. Eine weitere Offenbarung ist, dass die »Anderen«, abgesehen von ihrer Rolle als Mittel der Bestätigung und Anerkennung, überflüssig werden. Im Online-Spiel der Identitäten werden die »Anderen« (die Adressaten und Sender von Botschaften) auf den harten Kern leicht manipulierbarer Instrumente der Selbstbestätigung reduziert, ohne die meisten oder sogar alle unnötigen Teile, die in der Offline-Interaktion (wie widerwillig und widerstrebend auch immer) noch geduldet, für diese Aufgabe jedoch irrelevant sind. Um noch einmal Jauréguiberry zu zitieren: »Auf der Suche nach einer zufriedenstellenden Identität unterhalten die sich selbst manipulierenden Individuen eine stark instrumentelle Beziehung zu ihren Gesprächspartnern. Letztere sind vor allem dazu da, die eigene Existenz zu bestätigen – oder, genauer, um das eigene ›virtuelle Selbst‹ in die Realität hinüberzuwälzen. Die Anderen dienen keinem anderen Zweck, als das virtuelle Selbst der Internetsurfer zu bestätigen, es zu bestärken und ihm zu schmeicheln.«47 Im vom Internet vermittelten Identitätsspiel sind die Anderen gewissermaßen entwaffnet und unschädlich gemacht. Die Anderen werden durch den Internetsurfer auf das reduziert, was wirklich zählt: auf den Status eines Werkzeugs zur eigenen Selbstbestätigung. Die wenig verlockende Notwendigkeit, die Autonomie und Originalität der Anderen anzuerkennen und ihre Ansprüche auf eine eigene Identität zu billigen – ganz zu schweigen vom abschreckenden Bedürfnis nach tragfähigen Bindungen und Verpflichtungen, die in den offline stattfindenden Kämpfen um Anerkennung unvermeidlich sind –, werden allesamt eliminiert oder zumindest für den Moment auf Distanz gehalten. Virtuelle Kontaktpflege funktioniert nach dem Muster von Marketing, und die elektronischen Werkzeuge für diese Art des sozialen Lebens sind dem Vorbild von Marketingmethoden nachempfunden.
47 Ebenda.
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Seine große Anziehungskraft bezieht das Identitätsspiel aus der ungetrübten Freude daran, sich eine Scheinwelt vorzumachen, wobei den Bewohnern der Scheinwelt der lästige Teil des »Vormachens« verborgen bleibt und deshalb auf ihrer Liste von Sorgen gar nicht mehr auftaucht.
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4 Kollateralschäden des Konsumismus
Der neu geprägte und umgehend populär gewordene Begriff »Kollateralschaden«1 gehört dem Vokabular von Rechtsanwälten an und ist in der Pragmatik der Rechtsverteidigung verwurzelt, auch wenn er erstmals in Pressekonferenzen von Militärsprechern eingesetzt wurde und von da aus über die Sprache der Journalisten in die Umgangssprache gelangt ist. »Kollateralität« spielt zwar auf das vielbeschriebene Phänomen der »unvorhergesehenen Konsequenzen« menschlicher Handlungen an, allerdings mit einer subtilen Verschiebung des Schwerpunktes. Der Begriff entschuldigt Handlungen, die Schaden verursachen, rechtfertigt sie und nimmt sie von der Bestrafung aus, weil sie unbeabsichtigt sind. Stanley Cohen würde sagen, sie gehören zum linguistischen Arsenal der »Verdrängungszustände«:2 der Verdrängung der Verantwortung – der moralischen ebenso wie der juristischen. Nehmen wir beispielsweise den Fall (und in jüngster Zeit häufen sich Beispiele dieser Art), dass eine Lenkrakete, die einen einzigen Mann treffen sollte, der im Verdacht stand, andere für Selbstmordattentate auszubilden oder sich selbst ausbilden zu lassen, das Leben von etwa einem Dutzend Frauen und Kindern gewaltsam beendet oder sie für den Rest ihres Lebens verstümmelt. In der nächsten Pressekonferenz beschreibt der Militärsprecher detailliert den Schlag gegen die anvisierten Ziele und erwähnt dann den Tod der Frauen und Kinder als »Kollateralschaden« – als einen Schaden, für den niemand vor Gericht gestellt werden könne, da die Bewohner oder Passanten vor Ort, die getötet oder verletzt wurden, nicht zu den Zielen gehörten, die von denjenigen, die die Rakete abgefeuert haben, und den1 2
Im Englischen sind neben »collateral damage« auch die Begriffe »collateral casualties« und »collateral victims« gebräuchlich. Cohen, States of Denial.
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jenigen, die den Abschuss befohlen haben, ins Visier genommen wurden. Die strittige Frage ist natürlich, ob »unvorhergesehen« notwendigerweise »auf keinen Fall vorhersehbar« heißt und, wichtiger noch, ob »unabsichtlich« für »auf keinen Fall kalkulierbar« und damit für »auf keinen Fall bewusst vermeidbar« steht oder für bloße Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit auf Seiten derer, die die Berechnungen durchgeführt haben und denen das Vermeiden nicht wichtig genug war. Wird eine solche Frage explizit gestellt, so wird deutlich, dass es unabhängig davon, welche Antwort die Untersuchung eines Einzelfalls nahelegt, gute Gründe für den Verdacht gibt, dass das, was mit der Zuflucht zum Argument der »fehlenden Absicht« geleugnet oder entschuldigt werden soll, ethische Blindheit ist, sei sie willkürlich oder unwillkürlich. Einige ausländische Frauen und Kinder zu töten wurde schlicht und einfach nicht als überhöhter Preis dafür betrachtet, einen Terrorverdächtigen in die Luft zu sprengen oder auch nur zu versuchen, ihn in die Luft zu sprengen. Wenn Elefanten miteinander kämpfen, kann einem das Gras leidtun, aber die Letzten, denen das Gras leidtun wird, sind die Elefanten. Wenn sie sprechen könnten und man sie zur Rede stellte, würden sie darauf hinweisen, dass sie nichts gegen das Gras hätten und dass nicht sie es gewesen seien, die das Gras just an jenem Ort hätten wachsen lassen, an dem zufällig Elefantenkämpfe ausgetragen würden … Martin Jay hat uns das fast vergessene, scharfe Urteil in Erinnerung gerufen, das George Orwell in seinem einflussreichen Aufsatz über Politik und die englische Sprache gefällt hat: »In unserer Zeit wird in politischen Reden und Schriften hauptsächlich das Unentschuldbare entschuldigt. […]. Die politische Sprache – und das gilt in Variationen für alle politischen Parteien, von den Konservativen bis zu den Anarchisten – soll dafür sorgen, dass Lügen wahrhaftig klingen und Mord salonfähig wird und dass heißer Luft der Anschein von Solidität verliehen wird.«3 Nach seiner eigenen eingehenden Analyse des politischen Diskurses 50 Jahre später konnte Jay die »Meinungsmache, Übertreibungen, Ausflüchte, Halbwahrheiten und dergleichen mehr« nicht mehr als 3
Orwell, Politics and the English Language, S. 363 und 367.
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vorübergehendes, heilbares Leiden behandeln, noch konnte er sie als etwas Fremdes ansehen, das in den Kampf um die Macht eingedrungen ist und mit entsprechenden Anstrengungen durch »aufrichtiges Sprechen aus tiefer Überzeugung« ersetzt werden könnte: »[A]nstatt zu glauben, dass der Großen Lüge der totalitären Politik die von liberalen Demokratien angestrebte ganze Wahrheit gegenübersteht, eine Wahrheit, die auf jener Suche nach einer transparenten und klaren Sprache beruht, die Orwell und seinen ernsthaften Anhängern vorschwebte, wären wir besser beraten, wenn wir Politik als einen endlosen Kampf zwischen einer Menge Halbwahrheiten, geschickten Auslassungen und konkurrierenden Erzählungen betrachten würden, die sich gegenseitig aufwiegen mögen, die aber niemals einen einheitlichen Konsens hervorbringen können.«4 Bei dem Neusprechbegriff »Kollateralschaden« gibt es ganz gewiss die eine oder andere »geschickte Auslassung«. Was man raffinierterweise auslässt, ist die Tatsache, dass der »Schaden«, ob »kollateral« oder nicht, die Folge der Art und Weise war, in der der Angriff geplant und ausgeführt wurde, da diejenigen, die den Angriff planten und ausführten, sich nicht allzu sehr dafür interessierten, ob der Schaden über die angenommene Grenze des eigentlichen Ziels hinausschwappen würde, in den verschwommenen (weil nicht in den Fokus gerückten) Bereich der Nebenwirkungen und unvorhergesehenen Konsequenzen. Vermutlich enthält der Begriff außerdem eine Halbwahrheit oder sogar eine glatte Lüge: Aus der Perspektive des erklärten Ziels der Aktion kann man einige der Opfer in der Tat als »kollateral« klassifizieren, aber es wird nicht leicht sein zu beweisen, dass die offizielle und explizite Darstellung nicht »an der Wahrheit gespart« hat; dass sie, wie sie beharrlich behauptet, tatsächlich die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit über die Gedanken und Motive erzählt, die sich in den Köpfen der Planer eingenistet haben oder die bei Planungstreffen diskutiert werden. Man hegt zu Recht den Verdacht, dass (um Robert Mertons Unterscheidung zwischen den »manifesten« und »latenten« Funktionen routinemäßiger Verhaltensmuster und konkreter Unternehmen aufzugreifen) das, was in diesem Fall »latent« ist, nicht notwendigerweise »unbewusst« oder »unerwünscht« 4
Jay, The Ambivalent Virtues, S. 101f.
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bedeutet; stattdessen könnte es auch »geheim gehalten« oder »vertuscht« heißen. Und eingedenk der Warnung Martin Jays ob der scheinbar nicht reduzierbaren Vielzahl der Erzählungen sollten wir besser die Hoffnung aufgeben, dass wir die eine oder andere Interpretation »ohne jeden vernünftigen Zweifel« verifizieren oder widerlegen können. Bislang stand die politische Lüge im Zentrum unserer Aufmerksamkeit, eine Lüge, die in den Dienst eines explizit politischen Machtkampfes und der politischen Effizienz gestellt wird. Doch »Kollateralschaden« ist ein Begriff, der keineswegs auf die politische Bühne im engeren Sinn beschränkt ist und die »geschickten Auslassungen« und »Halbwahrheiten«, die in ihm endemisch sind, sind es ebenso wenig. Machtkämpfe werden nicht nur unter Berufspolitikern geführt und nicht nur Politiker beschäftigen sich in ihrem Beruf mit der Suche nach Effizienz. Die Art und Weise, in der vorherrschende Erzählungen oder solche, die es werden wollen, die Grenze ziehen zwischen einer »absichtlichen Handlung« und den »unvorhergesehenen Konsequenzen« dieser Handlung, ist auch für die Förderung wirtschaftlicher Interessen und für die Bemühungen, sich im Kampf um wirtschaftliche Profite einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen, von großer Bedeutung. Meine These lautet, dass der größte (obgleich beileibe nicht der einzige) »Kollateralschaden«, der von dieser Förderung und von diesem Kampf verursacht wird, eine allgemeine und umfassende Kommodifizierung des menschlichen Lebens ist. In den Worten von J. Livingstone »dringt die Warenform in Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens vor, die bisher von ihrer Logik ausgenommen waren, und gestaltet sie so grundlegend um, dass die Subjektivität selbst zu einer Ware wird, die auf dem Markt als Schönheit, Sauberkeit, Aufrichtigkeit und Autonomie ge- und verkauft wird«.5 Für Colin Campbell ist die Aktivität des Konsumierens »zu einer Art Schablone oder einem Modell dafür geworden, wie die Bürger heutiger westlicher Gesellschaften all ihre Aktivitäten zu betrachten gewohnt sind. Da […] immer mehr Bereiche der heutigen Gesellschaft sich an das ›Konsummodell‹ angepasst haben, ist es vielleicht 5
Livingstone, Modern Subjectivity, S. 416.
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gar nicht so überraschend, dass die zugrundeliegende Metaphysik des Konsumismus im Zuge dessen zu einer Art Standardphilosophie für das gesamte moderne Leben geworden ist.«6 Arlie Russell Hochschild fasst den größten »Kollateralschaden«, der im Zuge der Invasion des Konsumismus verursacht wurde, in dem ebenso scharfen wie prägnanten Ausdruck »Verdinglichung der Liebe« zusammen: »Der Konsumismus zielt darauf ab, die emotionale Umkehrung von Arbeit und Familie aufrechtzuerhalten. Arbeiter, die durchschnittlich drei Stunden pro Tag (die Hälfte ihrer Freizeit) vor dem Fernseher dem Bombardement mit Werbespots ausgesetzt sind, werden dazu gebracht zu glauben, dass sie mehr Dinge ›brauchen‹. Um das zu kaufen, was sie nunmehr brauchen, brauchen sie Geld. Um Geld zu verdienen, arbeiten sie länger. Und weil sie so wenig zu Hause sind, machen sie ihre Abwesenheit mit Geschenken wett, die Geld kosten. Sie verdinglichen ihre Liebe. Und so dreht sich der Kreis immer weiter.«7 Aufgrund der neuen geistigen Distanziertheit und der körperlichen Abwesenheit von der häuslichen Sphäre, so kann man hinzufügen, reagieren Arbeiter und Arbeiterinnen in den großen, kleinen oder geradezu lächerlichen Konflikten, die das Leben unter einem Dach unweigerlich mit sich bringt, mit Ungeduld. Im gleichen Maße, in dem die Fähigkeiten schwinden, die nötig sind, um sich unterhalten zu können und Einvernehmen herzustellen, werden Dinge, die einst Herausforderungen waren, denen man sich offen stellen und mit denen man umgehen musste, zusehends zu einem Vorwand für die Entscheidung, die Kommunikation zu beenden, zu fliehen und alle Brücken hinter sich abzubrechen. Damit beschäftigt, mehr zu verdienen, für Dinge, die sie zu brauchen glauben, um glücklich zu sein, haben Männer und Frauen weniger Zeit für gegenseitige Empathie und für intensives, manchmal schwieriges und schmerzliches, immer jedoch langwieriges und kraftraubendes Aushandeln, ganz zu schweigen von der Auflösung von Missverständnissen und Meinungsverschiedenheiten. Das setzt einen weiteren Teufelskreis in Gang: Je erfolgreicher sie ihre Liebesbeziehung »verding6 7
Campbell, I Shop Therefore I Know That I Am, S. 41f. Hochschild, The Commercialization of Intimate Life, S. 209.
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lichen« (was der endlose Strom der Werbebotschaften ihnen nahelegt), desto weniger Gelegenheiten bleiben ihnen für jenes mitfühlende, gegenseitige Verständnis, das die notorische Macht-Fürsorge-Ambiguität der Liebe voraussetzt. Familienmitglieder sind versucht, Konfrontationen zu vermeiden und eine Ruhepause von (oder besser noch eine dauerhafte Zuflucht vor) häuslichen Kämpfen zu suchen; dadurch erhält das Bedürfnis, die Liebe und liebevolle Fürsorge zu »verdinglichen«, einen zusätzlichen Schub, während die zeitaufwendigeren und kraftraubenderen Alternativen immer unerreichbarer werden – und das zu einer Zeit, da sie aufgrund der stetig zunehmenden Zahl der Anlässe für Streit, der Menschen, die Groll hegen und besänftigt werden müssen, und der Meinungsverschiedenheiten, die nach einer Lösung schreien, immer dringender gebraucht werden. Hochqualifizierten Fachkräften, den Augäpfeln jedes Firmenchefs, wird an ihrem Arbeitsplatz allzu oft ein angenehmer Ersatz für die traute Heimeligkeit geboten, die zu Hause so schmerzlich vermisst wird (wie Hochschild anmerkt, hat sich für sie die traditionelle Rollenaufteilung zwischen Arbeitsplatz und familiärer Heimstätte umgekehrt), wohingegen Angestellten in niedrigeren Positionen, die weniger hoch qualifiziert und leicht ersetzbar sind, nichts dergleichen geboten wird. Während einige Unternehmen, namentlich die von Hochschild eingehend untersuchte Firma Amerco, »einer Elite von Wissensarbeitern auf der höchsten Ebene eines zunehmend gespaltenen Arbeitsmarktes die alte sozialistische Utopie bieten, dürften andere Firmen gering oder unqualifizierten Arbeitern zunehmend Frühkapitalismus von der übelsten Sorte zumuten«. Im letzteren Fall »findet der Einzelne weder im Familienverband emotionale Zuflucht noch bei Arbeitskollegen, sondern vielmehr in Gangs, in den Trinkgesellen von der Eckkneipe oder in ähnlichen Gruppen«.8 Die Suche nach individuellem Vergnügen, die ihren Ausdruck in den derzeit angebotenen Waren findet, eine Suche, die von aufeinanderfolgenden Werbekampagnen gelenkt und ständig umgeleitet und neu ausgerichtet wird, stellt den einzigen akzeptablen – ja, dringend nötigen und willkommenen – Ersatz sowohl für die erhebende Solidarität von Arbeitskollegen dar als auch für die wohlige Wärme des 8
Ebenda, S. 211, 210.
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Familienheims und seiner unmittelbaren Nachbarschaft, wo man sich um die Nächsten und Liebsten sorgt und von ihnen umsorgt wird. Politiker, die nach der Wiederbelebung der sterbenden oder schwerkranken »Familienwerte« rufen und denen es mit den Implikationen ihrer Aufrufe ernst ist, sollten sich vorrangig Gedanken machen über die konsumistischen Wurzeln des Verkümmerns der sozialen Solidarität am Arbeitsplatz und der nachlassenden Bereitschaft, innerhalb der Familie füreinander da zu sein und miteinander zu teilen. Und genauso sollten sich Politiker, die ihre Wähler aufrufen, sich gegenseitig mit Respekt zu begegnen, und denen es mit den Implikationen ihrer Aufrufe ernst ist, intensiv mit der immanenten Tendenz der Gesellschaft von Konsumenten befassen, ihren Mitgliedern die Bereitschaft einzuflößen, anderen Menschen den gleichen – und nicht mehr – Respekt zuzugestehen, wie man ihnen im Umgang mit Konsumgütern zu empfinden und zu zeigen beigebracht hat, jenen Objekten, die für die sofortige und möglichst unbeschwerte Befriedigung entworfen wurden und die dafür bestimmt sind – ohne weitere Bedingungen. Die Kollateralschäden, die der Konsumismus auf seinem triumphalen Siegeszug hinterlässt, verteilen sich auf das ganze soziale Spektrum heutiger »entwickelter« Gesellschaften. Allerdings gibt es eine neue Bevölkerungskategorie, die auf der geistigen Landkarte von gesellschaftlichen Kategorien bislang nicht zu finden war und die sich als ein kollektives Opfer des »vielfachen Kollateralschadens« des Konsumismus beschreiben lässt. In den letzten Jahren wurde für diese Kategorie die Bezeichnung underclass geläufig. Der einst weitverbreitete, jetzt aber immer seltener benutzte Begriff »Arbeiterklasse« gehörte einer Sichtweise von Gesellschaft an, in der die Aufgaben und Funktionen der Besser- und der Schlechtergestellten zwar unterschiedlich und in entscheidenden Punkten gegensätzlich waren, sich jedoch gegenseitig ergänzten. Der Begriff beschwor das Bild von einer Klasse von Menschen herauf, die im Leben der Gesellschaft eine bestimmte, unverzichtbare Rolle zu spielen haben; Menschen, die einen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten und dafür entsprechend entlohnt werden wollen. Der Begriff lower class, der damals ebenfalls geläufig war, jetzt aber vermieden wird, unterschied sich davon insofern, als er zum Bild einer von sozialer 159
Mobilität geprägten Gesellschaft gehörte, in der die Menschen in Bewegung waren und jede Position nur eine vorübergehende war und sich prinzipiell ändern konnte. Jener Begriff beschwor das Bild einer Klasse von Menschen herauf, die ganz unten auf einer Leiter stehen, die sie (mit Glück und Fleiß) möglicherweise erklimmen konnten, um so ihrer derzeitigen untergeordneten Stellung zu entkommen. Der Begriff underclass dagegen gehört einer ganz anderen Sichtweise von Gesellschaft an: Er impliziert eine Gesellschaft, die alles andere als gastfreundlich ist und in der keineswegs alle ihren Platz haben, eine Gesellschaft, die sich stattdessen der Mahnung Carl Schmitts erinnert, dass das entscheidende Kennzeichen der Souveränität das Vorrecht ist, Menschen auszuschließen und damit eine Kategorie von Menschen zu bilden, der man die Anwendung des Gesetzes verweigert. Die underclass beschwört das Bild einer Ansammlung von Menschen herauf, die in Bezug auf alle Klassen und die Klassenhierarchie selbst für ausgeschlossen erklärt worden sind, mit wenig Chancen auf und ohne Notwendigkeit der Wiederaufnahme: Menschen, die keine Rolle spielen, keinen sinnvollen Beitrag zum Leben der anderen leisten und denen grundsätzlich nicht zu helfen ist. Menschen, die in einer in Klassen aufgeteilten Gesellschaft keine eigene Klasse bilden, sondern sich von den Lebenssäften aller anderen Klassen ernähren und damit die auf Klassen gegründete Gesellschaftsordnung unterminieren; genau wie in der nationalsozialistischen Sichtweise einer in Rassen aufgeteilten menschlichen Spezies Juden nicht vorgeworfen wurde, eine andere, feindlich gesinnte Rasse zu sein, sondern eine »Rasse ohne Rasse«, ein Parasit auf dem Körper aller anderen, »richtigen« Rassen, eine erosive Kraft, die die Identität und Integrität aller Rassen schwächt und dadurch die auf Rassen basierende Ordnung des Universums untergräbt und aushöhlt. Der Begriff underclass, so möchte ich hinzufügen, ist außerordentlich geschickt gewählt. Er ruft Assoziationen mit der underworld, dem Hades, dem Scheol hervor, jenen tiefverwurzelten, uralten Archetypen der Unterwelt, jener düsteren, feuchten, moderigen und formlosen Dunkelheit, die jene umfängt, die sich aus dem wohlgeordneten, sinngetränkten Land der Lebenden entfernen. Die summarisch in die underclass verbannten Individuen kann man sich beim besten Willen nicht als ein sinnvolles, integriertes »Ganzes« 160
vorstellen. Man kann sie nur deshalb in einer Schublade und auf einer Liste zusammenfassen, weil man Ähnlichkeiten in ihrem Verhalten unterstellt. Was dem Leser an der Bestandsaufnahme aller unter dem Oberbegriff der underclass zusammengedrängten Menschen, so wie Herbert J. Gans sie beschreibt, am deutlichsten ins Auge springt, ist die verwirrende Vielfalt: »Diese vom Verhalten ausgehende Definition bezeichnet arme Menschen, die die Schule abbrechen, nicht arbeiten und, wenn sie junge Frauen sind, ohne Absicherung durch eine Ehe Kinder bekommen und Sozialhilfeempfängerinnen werden. Zu dieser nach dem Verhalten definierten underclass gehören außerdem Obdachlose, Bettler und Almosenempfänger, mittellose Alkohol- und Drogenabhängige sowie Straßenkriminelle. Da der Begriff dehnbar ist, werden oft auch Arme, die in ›sozialen Brennpunkten‹ leben, illegale Ausländer und Mitglieder von Jugendgangs der underclass zugerechnet. Gerade die Dehnbarkeit der am Verhalten festgemachten Definition führt dazu, dass der Begriff zu einem Etikett wird, das man unabhängig vom tatsächlichen Verhalten zur Stigmatisierung von armen Menschen benutzen kann.«9 In der Tat eine völlig heterogene und außerordentlich vielfältige Ansammlung. Wie könnte man dem Akt, sie alle zusammenzufassen, auch nur den Anschein von Sinnhaftigkeit geben? Was haben alleinerziehende Mütter mit Alkoholikern gemeinsam oder illegale Einwanderer mit Schulabbrechern? Eine Eigenschaft, die ihnen tatsächlich gemeinsam ist, ist, dass andere, diejenigen, die die Liste zusammenstellen und die zukünftigen Leser der Liste, keinen vernünftigen Grund für ihre Existenz sehen und glauben, dass sie selbst wesentlich besser dran wären, wenn es sie nicht gäbe. Menschen werden der underclass zugeschlagen, weil man sie für völlig nutzlos hält, für ein einziges Ärgernis, etwas, ohne das wir anderen sehr gut auskommen würden. In einer Konsumgesellschaft – einer Welt, die alles und jeden nach seinem Warenwert beurteilt – sind sie Menschen ohne einen Marktwert; sie sind die nicht kommodifizierten Männer und Frauen, und ihr Versagen, den Status ordentlicher Waren zu erwerben, fällt zusammen mit (ja, beruht auf) ihrem Unvermögen, sich an einer echten Konsumaktivität zu beteiligen. Sie sind gescheiterte Konsumenten, wandelnde Symbole für das Fiasko, das gefal9
Gans, The War against the Poor, S. 2.
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lene Konsumenten erwartet, sowie für das Schicksal, das letztlich alle trifft, die ihren Pflichten als Konsumenten nicht nachkommen. Summa summarum sind sie die Sandwichmänner auf den Straßen, die die vollwertigen Konsumenten mit der Botschaft »Das Ende ist nahe« oder »Memento mori« warnen oder ihnen Angst einjagen sollen. Sie sind das Garn, aus dem Albträume gesponnen werden oder, in der offiziellen Version: Sie sind hässliches, aber unersättliches Unkraut, das zur harmonischen Schönheit des Gartens nichts beiträgt, sondern dafür sorgt, dass die anderen Pflanzen hungern, indem es einen Großteil der Nährstoffe aufsaugt und verschlingt. Da sie alle nutzlos sind, bestimmen die Gefahren, die sie heraufbeschwören und für die sie stehen, die Art, wie sie wahrgenommen werden. Alle anderen Mitglieder der Gesellschaft von Konsumenten würden profitieren, wenn Sie verschwänden. Bedenke: Alle anderen profitieren, wenn du aus dem Konsumspiel ausscheidest und für dich der Zeitpunkt gekommen ist, zu verschwinden. »Nutzlosigkeit« und »Gefahr« gehören zur großen Familie der »grundsätzlich umstrittenen Begriffe«.10 Wenn sie als Werkzeuge eingesetzt werden, um Dinge zu benennen, legen sie daher jene Dehnbarkeit an den Tag, durch die sich die resultierenden Klassifikationen außerordentlich gut eignen, um den unheimlichsten unter all jenen Dämonen Unterschlupf zu bieten, die eine Gesellschaft heimsuchen, die von Zweifeln an der Dauerhaftigkeit jeder Art von Nützlichkeit geplagt wird, sowie von diffusen, nicht genau festzumachenden und doch allgegenwärtigen Ängsten. Die mit ihrer Hilfe gezeichnete geistige Landkarte der Welt ist eine unendlich große Spielwiese für eine moral panic nach der anderen. Die so geschaffenen Kategorien lassen sich leicht ausdehnen, um neue Bedrohungen zu absorbieren und zu domestizieren, und ermöglichen zugleich die Konzentration diffuser Ängste auf ein Ziel, das schon allein deshalb beruhigend ist, weil es konkret und greifbar ist. Dies, so kann man mit guten Gründen behaupten, ist ein ungeheuer wichtiger Nutzen, den die Nutzlosigkeit der underclass einer Gesellschaft bietet, in der sich kein Berufszweig und kein Gewerbe mehr seiner langfristigen Nützlichkeit und damit seines garantierten Markt10 Gallies, Essentially Contested Concepts.
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werts sicher sein kann. Und die Gefährlichkeit der underclass leistet in einer Gesellschaft, die von zu vielen Sorgen erschüttert ist, als dass sich mit der geringsten Bestimmtheit sagen ließe, wovor man eigentlich Angst haben muss, und was getan werden muss, um diese Angst zu beschwichtigen, einen ähnlich wichtigen Dienst. Alles bisher Gesagte bedeutet natürlich keineswegs, dass es keine Bettler, Drogenabhängigen oder ledige Mütter gibt, jene Art von elendigen und daher abstoßenden Menschen, die gerne als unwiderlegbare Argumente angeführt werden, wann immer die Existenz einer underclass in Frage gestellt wird. Dagegen bedeutet es sehr wohl, dass ihr Vorhandensein in einer Gesellschaft nicht im Entferntesten ausreicht, um die Existenz einer underclass zu beweisen. Sie alle in eine Kategorie zu stecken, ist eine vom Buchhalter oder seinen Vorgesetzten getroffene Entscheidung, nicht das Urteil der »objektiven Tatsachen«. Sie zu einer Einheit zusammenzufassen, ihnen kollektiv vorzuwerfen, dass sie Schmarotzer sind, die dem Rest der Gesellschaft böswillig gesinnt sind und unaussprechliche Gefahren bergen, ist das Ergebnis einer wertegeleiteten Entscheidung, keine Beschreibung. Vor allem jedoch: Beruht die Vorstellung einer underclass auf der Annahme, dass die eigentliche Gesellschaft (das heißt, eine Totalität, die alles in sich birgt, was notwendig ist, um ihre Lebensfähigkeit zu sichern) möglicherweise kleiner ist als die Summe ihrer Teile, so ist die Ansammlung, die mit dem Begriff der underclass bezeichnet wird, größer als die Summe ihrer Teile. In ihrem Fall kommt durch den Akt der Inklusion eine neue Qualität hinzu, die keiner der Teile von sich aus besitzen würde. Eine »alleinerziehende Mutter« ist nicht das gleiche wie eine »Frau aus der underclass«. Es bedarf erheblicher Anstrengungen (wenngleich weniger Überlegungen), um Erstere zu Letzterer zu recyceln. Die heutige Gesellschaft interagiert mit ihren Mitgliedern hauptsächlich in ihrer Eigenschaft als Konsumenten und erst in zweiter Linie, und das nur teilweise, als Produzenten. Um die Anforderungen der Normalität zu erfüllen, um als vollwertiges, echtes Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden, muss man auf die Versuchungen des Konsumgütermarktes prompt und effizient reagieren; man muss regelmäßig zu einer »Nachfrage« beitragen, die »das Angebot über163
steigt«, und in Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs beziehungsweise der Stagnation beim »konsumgestützten Aufschwung« mithelfen. All das können die Armen und Untätigen, Menschen, die weder ein anständiges Einkommen noch Kreditkarten, noch Aussichten auf bessere Tage haben, nicht leisten. Die Norm, die von den Armen von heute verletzt wird und deren Verletzung sie von anderen abhebt und ihnen den Stempel »anormal« aufdrückt, ist dementsprechend die Norm der Kompetenz oder Eignung als Konsument, nicht diejenige, Arbeit zu haben. Die Armen von heute (das heißt, Menschen, die für alle anderen ein »Problem« darstellen) sind zuallererst »Nicht-Konsumenten«, nicht »Arbeitslose«. Sie sind in erster Linie dadurch definiert, dass sie fehlerhafte Konsumenten sind, denn die wichtigste der gesellschaftlichen Pflichten, die sie nicht erfüllen, ist diejenige, aktive und effektive Käufer der Güter und Dienstleistungen zu sein, die auf dem Markt angeboten werden. In den Geschäftsbüchern einer Konsumgesellschaft sind die Armen eindeutig eine Verbindlichkeit, und man kann sie beim besten Willen nicht auf der Seite gegenwärtiger oder zukünftiger Vermögenswerte aufführen. In ihrer neuen Rolle als Kollateralschaden des Konsumismus sind die Armen heute, und zum ersten Mal in der Geschichte, nichts anderes als eine Plage und ein Ärgernis. Sie haben keine Vorzüge, die ihre Fehler abmildern, geschweige denn aufwiegen könnten. Sie haben für die Aufwendungen des Steuerzahlers keine Gegenleistung zu bieten. Ihnen Geld zukommen zu lassen ist eine schlechte Investition, und es ist unwahrscheinlich, dass sie je zurückgezahlt wird, geschweige denn sich auszahlt. Die Armen stellen ein schwarzes Loch dar, das alles verschluckt, was ihm nahe kommt, und nichts ausspuckt als vage, aber düstere Vorahnungen und Schwierigkeiten. Die Armen der Konsumgesellschaft sind völlig nutzlos. Anständige und normale Gesellschaftsmitglieder – vollwertige Konsumenten – brauchen sie nicht und erwarten nichts von ihnen. Niemand (vor allem niemand, der wirklich wichtig ist, sich zu Wort meldet und Gehör findet) braucht sie. Für sie gilt: null Toleranz. Die Gesellschaft wäre sehr viel besser dran, wenn die Armen ihre Zelte niederbrennen und sich selbst gleich mit verbrennen würden – oder einfach verschwänden. Die Welt wäre ohne sie so viel liebenswerter und wohn164
licher. Die Armen werden nicht gebraucht, und somit sind sie unerwünscht. Die Leiden der Armen von heute, der Armen der Gesellschaft von Konsumenten, ergeben zusammengenommen keine gemeinsame Sache. Jeder fehlerhafte Konsument leckt einsam seine Wunden, bestenfalls in Gesellschaft seiner noch nicht auseinandergefallenen Familie. Fehlerhafte Konsumenten sind einsam, und wenn sie lange einsam bleiben, werden sie in der Regel zu Einzelgängern; sie sehen nicht, wie die Gesellschaft oder irgendeine gesellschaftliche Gruppe (außer einer Verbrecherbande) ihnen helfen kann, sie erwarten keinerlei Hilfe, und sie glauben nicht, dass irgendwelche legalen Mittel mit Ausnahme eines Lottogewinns etwas an ihrer Lage ändern können. Überflüssig, unerwünscht, im Stich gelassen – wo gehören sie hin? Die kürzeste Antwort lautet: aus unseren Augen. Als Erstes müssen sie von den Straßen und anderen öffentlichen Orten entfernt werden, die von uns, den legitimen Bewohnern der »schönen konsumistischen Welt«, benutzt werden. Falls sie zu den neu Angekommenen gehören und ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht über jeden Zweifel erhaben ist, können sie abgeschoben und damit körperlich aus dem Bereich der Pflichten entfernt werden, die die Inhaber von Menschenrechten beachten müssen. Wenn sich keine Rechtfertigung für eine Abschiebung findet, kann man sie trotzdem in abgelegenen Gefängnissen oder gefängnisähnlichen Lagern einsperren, idealerweise in der Wüste von Arizona, auf Schiffen, die weitab von Schifffahrtsrouten vor Anker liegen, oder in komplett automatisierten Hightech-Gefängnissen, wo sie niemand sehen kann und wo es unwahrscheinlich ist, dass irgendjemand, selbst ein Gefängniswärter, ihnen allzu oft von Angesicht zu Angesicht begegnet. Um die physische Isolation narrensicher zu machen, kann man sie durch geistige Isolation verstärken, was dazu führt, dass die Armen aus der Welt der moralischen Empathie verbannt werden. Die Armen werden nicht nur von den Straßen verbannt, sie können auch aus der erkennbar menschlichen Gemeinschaft verbannt werden: aus der Welt der ethischen Pflichten. Dies geschieht durch das Umschreiben ihrer Geschichten, weg von der Sprache der Entbehrung und hin zu der der Verderbtheit. Die Armen werden dargestellt als undisziplinierte, sündhafte Menschen ohne sittliche Maßstäbe. Die Medien machen mit der 165
Polizei freudig gemeinsame Sache, indem sie der sensationslüsternen Öffentlichkeit schaurige Bilder von »kriminellen Elementen« präsentieren, die mit Verbrechen, Drogen und sexueller Promiskuität verseucht sind und die in der Dunkelheit ihrer unwirtlichen Schlupfwinkel und schäbigen Straßen Zuflucht suchen. Die Armen stellen die »üblichen Verdächtigen«, die jedes Mal unter lautem öffentlichen Geschrei und Getöse zusammengetrieben werden, wenn ein Fehler in der gewohnten Ordnung entdeckt und öffentlich bekannt wird. Auf diese Weise wird deutlich gemacht, dass die Frage der Armut zuallererst, vielleicht ausschließlich, eine Frage von law and order ist, und dass man in der gleichen Weise darauf reagieren sollte, wie man auf andere Arten des Rechtsbruchs reagiert. Ausgeschlossen aus der menschlichen Gemeinschaft, ausgeschlossen aus der öffentlichen Wahrnehmung. Wir wissen, welche Folgen es haben kann, wenn das geschieht. Die Versuchung ist groß, ein Phänomen, das in den Rang eines bloßen Ärgernisses herabgewürdigt worden ist, ohne den Ausgleich oder wenigstens die Entlastung durch ethische Überlegungen, die man einem verletzten, gekränkten und leidenden Anderen zugestehen würde, ein für alle Mal loszuwerden; einen Schandfleck aus der Landschaft zu entfernen, einen Schmutzfleck auf der ansonsten angenehm reinen Leinwand einer geordneten Welt und einer normalen Gesellschaft auszulöschen. Alain Finkielkraut ruft uns in Erinnerung, was geschehen kann, wenn ethische Überlegungen wirkungsvoll zum Schweigen gebracht, die Empathie ausgelöscht und moralische Schranken aufgehoben werden: »Die nationalsozialistische Gewalt darf nicht aus Neigung, sondern muß aus Pflicht vollbracht werden, nicht aus Sadismus, sondern aus Tugendhaftigkeit, nicht aus Freude, sondern methodisch, ebensowenig aus der Entfesselung wilder Triebe und der Aufgabe von Bedenken, sondern im Namen von höheren Bedenken, mit beruflicher Sachkenntnis und in der ständigen Bemühung um das auszuführende Werk.«11 Jene Gewalt, so möchte ich hinzufügen, wurde unter dem eisigen Schweigen von Menschen verübt, die sich selbst als anständige und ethische Geschöpfe betrachteten, aber keinen Grund sahen, warum 11 Finkielkraut, Verlust der Menschlichkeit, S. 84.
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die Opfer der Gewalt, die schon seit langem nicht mehr zu den Mitgliedern der Menschheitsfamilie gerechnet wurden, Objekte ihrer moralischen Empathie und ihres Mitleids sein sollten. In Anlehnung an Gregory Bateson kann man sagen: Wird der Verlust der moralischen Gemeinschaft erst mit fortschrittlichen Technologien kombiniert, die zur Lösung jedes als ärgerlich empfundenen Problems bereitstehen, »dann wird die eigene Überlebenschance der eines Schneeballs in der Hölle entsprechen«.12 Wird moralische Gleichgültigkeit mit rationalen Lösungen für menschliche Probleme gekoppelt, so entsteht eine wahrlich explosive Mischung. Bei der Explosion mögen viele Menschen ums Leben kommen, doch das Opfer, das am deutlichsten ins Auge springt, ist die Menschlichkeit derer, die dem Untergang entgehen. Die menschliche Vorstellungskraft ist bekanntlich selektiv. Ihre Selektivität beruht auf Erfahrungen, vor allem auf dem Unbehagen, das sie erzeugt. Jeder Typus eines gesellschaftlichen Umfelds bringt seine eigenen Visionen von den Gefahren hervor, die seine Identität bedrohen, Visionen, die an jene Art von Gesellschaftsordnung angepasst sind, die er erreichen oder deren Bestand er sichern möchte. Wenn man sich die Selbstdefinition, die Beschreibung und Postulat zugleich ist, als fotografische Abbildung des Umfelds vorstellt, so sind Visionen von Bedrohungen in der Regel Negative jener Fotografien. Oder, in psychoanalytischen Begriffen ausgedrückt: Bedrohungen sind Projektionen der eigenen inneren Ambivalenz einer Gesellschaft sowie der aus dieser Ambivalenz geborenen Ängste bezüglich ihrer eigenen Mittel und Wege und bezüglich der Art und Weise, wie diese Gesellschaft lebt und zu leben beabsichtigt. Eine Gesellschaft, die sich des Überlebens ihrer Lebensweise nicht sicher ist, entwickelt die Mentalität einer belagerten Festung. Die Feinde, die diese Festung belagern, sind ihre ureigensten »inneren Dämonen«: die verdrängten unterschwelligen Ängste, die ihren Alltag, ihre »Normalität« durchdringen, die jedoch, damit die tagtägliche Realität erträglich wird, aus der durchlebten Alltäglichkeit herausgepresst 12 Bateson, Ökologie des Geistes, S. 593.
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und hinausgedrängt und zu einem fremden Körper geformt werden müssen – einem greifbaren Feind, der einen Namen trägt, einem Feind, den man bekämpfen und immer aufs Neue bekämpfen, vielleicht sogar besiegen kann. Derartige Tendenzen sind nicht spezifisch für die heutige, flüchtigmoderne Gesellschaft von Konsumenten, sondern immer und überall anzutreffen. Das Neuartige wird jedoch deutlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass die Gefahr, die den »klassischen«, Ordnung schaffenden und auf Ordnung fixierten modernen Staat heimsuchte, der die Gesellschaft von Produzenten und Soldaten leitete, die der Revolution war. Die Feinde waren die Revolutionäre oder vielmehr die »hitzköpfigen, verrückten, allzu radikalen Reformisten«, die subversiven Kräfte, welche die bestehende staatlich überwachte Ordnung durch eine andere staatlich überwachte Ordnung zu ersetzen versuchten, eine Gegenordnung, die jedes einzelne Prinzip, nach dem die derzeitige Ordnung lebte oder zu leben bestrebt war, in sein Gegenteil verkehrte. Genau wie sich das Selbstbild einer geordneten, ordnungsgemäß funktionierenden Gesellschaft seit jenen Zeiten verändert hat, hat auch die Vorstellung von der Bedrohung eine völlig neue Form angenommen. Was im Lauf der letzten Jahrzehnte als steigende Kriminalität registriert wurde (ein Prozess, so ist festzuhalten, der zufällig parallel zum Schrumpfen der Mitgliedschaft kommunistischer und anderer radikaler, »subversiver« Parteien verlief, die eine »alternative Ordnung« anstrebten), ist nicht das Produkt einer Fehlfunktion oder von Nachlässigkeit, sondern ein Produkt der Konsumgesellschaft selbst, das logisch (wenn auch nicht juristisch) legitim ist. Es ist sogar ein unvermeidliches Produkt, auch wenn es der Autorität offizieller Qualitätskommissionen zufolge nicht als solches in Betracht kommt. Je stärker die Konsumnachfrage (das heißt, je effektiver die Verführung möglicher Kunden durch den Markt), desto sicherer ist die Konsumgesellschaft und desto mehr floriert sie, während gleichzeitig die Kluft zwischen jenen, die Wünsche haben und in der Lage sind, sich diese Wünsche zu erfüllen (jenen, die verführt worden sind und anschließend so handeln, wie es dem Zustand, verführt worden zu sein, entspricht), und jenen, die ordnungsgemäß verführt worden, aber nicht in der Lage sind, so zu handeln, wie es von ordnungsgemäß Verführ168
ten erwartet wird, immer größer und tiefer wird. Zu Recht gepriesen als ein großer Gleichmacher, ist die Verführung durch den Markt zugleich ein außerordentlich und unvergleichlich effektiver Spaltungsmechanismus. Eine der meistkommentierten Eigenschaften der Konsumgesellschaft ist die Aufwertung des Neuen und die Abwertung der Routine. Konsumgütermärkte sind äußerst erfolgreich, wenn es darum geht, bestehende Routinen zu demontieren und die Einführung und Etablierung von neuen zu verhindern, wenn man von der kurzen Zeitspanne absieht, die nötig ist, um die Bestände an Werkzeugen loszuwerden, die entworfen wurden, um sie instand zu halten. Die gleichen Märkte bewirken allerdings noch etwas Grundlegenderes: Für ordnungsgemäß geschulte Mitglieder der Konsumgesellschaft wird jegliche Routine und alles, was mit routinemäßigem Verhalten (Eintönigkeit, Monotonie) assoziiert wird, unerträglich, ja, unvorstellbar. »Langeweile«, das Versiegen oder die auch nur kurzzeitige Unterbrechung des beständigen Stroms von aufregenden Neuheiten, die die Aufmerksamkeit bannen, wird zu einem ärgerlichen und gefürchteten Schreckgespenst der Konsumgesellschaft. Um Wirkung zu entfalten, muss der Anreiz, zu konsumieren und immer mehr zu konsumieren, in alle Himmelsrichtungen verbreitet und wahllos an jeden adressiert werden, der zuhören will. Doch die Zahl derer, die zuhören können, übersteigt die Zahl derer, die auf die von der verführerischen Botschaft intendierte Weise reagieren können. Jenen, die nicht so handeln können, wie es den solchermaßen geweckten Wünschen entspricht, wird tagtäglich das atemberaubende Schauspiel derer vor Augen geführt, die es können. Verschwenderischer Konsum, so sagt man ihnen, ist das Kennzeichen von Erfolg, eine Schnellstraße, die ohne Umwege zu öffentlichem Beifall und Ruhm führt. Außerdem lernen sie, dass der Besitz und Konsum bestimmter Gegenstände und das Praktizieren bestimmter Lebensstile die notwendige Voraussetzung sind, um glücklich zu sein. Und da »glücklich sein« – als würde man verspätet den Vorahnungen Samuel Butlers folgen – das Kennzeichen für menschlichen Anstand und den Anspruch auf menschlichen Respekt geworden ist, wird es zunehmend auch zur notwendigen Vorbedingung für menschliche Würde und Selbstachtung. Dadurch wird »gelangweilt sein«, zusätzlich zu 169
dem Unbehagen, das es auslöst, zu einem beschämenden Stigma, einem Beweis für die eigene Nachlässigkeit beziehungsweise das eigene Scheitern, der zu einem akuten Zustand der Depression sowie zu sozio- und psychopathischer Aggressivität führen kann. Wie jüngst Richard Sennett festgestellt hat: »Was asoziales Verhalten betrifft, so glaube ich, dass das für Arme ein echtes Problem ist […]«, vielleicht ganz besonders für die »armen Jugendlichen, die sich in der Grauzone befinden, wo sie so abrutschen könnten, dass sie Verbrecher werden«. Ob das geschieht, ist laut Sennett eng verbunden »mit Dingen wie Langeweile, ob man etwas zu tun hat, sich irgendwo zugehörig fühlt […]«.13 Wenn der Maßstab für ein erfolgreiches Leben, für Glück und sogar für menschlichen Anstand das Privileg ist, »niemals gelangweilt zu sein«, und wenn intensive Konsumaktivität das Wichtigste, der Königsweg zum Sieg über die Langeweile ist, dann sind menschlichen Sehnsüchten keine Grenzen mehr gesetzt; unwahrscheinlich, dass noch so viele befriedigende Anschaffungen und verlockende Sinneseindrücke je die gleiche Genugtuung verschaffen, die einst das »Einhalten der Standards« versprach. Es gibt keine Standards, die man einhalten könnte – oder vielmehr gibt es keine Standards, die das Recht auf Anerkennung und Respekt verbriefen und deren Dauerhaftigkeit garantieren könnten. Die Ziellinie bewegt sich ebenso schnell wie der Läufer, die Ziele sind stets ein oder zwei Schritte voraus. Ständig werden Rekorde gebrochen, und für das, was ein Mensch sich wünschen mag, scheint es keine Grenzen zu geben. »Anerkennung« (deren Fehlen Pierre Bourdieu, wie wir wissen, als die schlimmste aller möglichen Entbehrungen definiert hat) wird immer schwieriger zu erlangen, und noch schwieriger, nein, unmöglich ist es, sich ihrer dauerhaft sicher zu sein. In Ermangelung unerschütterlicher Autoritäten neigen Menschen dazu, sich an persönlichen Vorbildern zu orientieren, die gerade öffentlich gefeiert werden. Doch wenn sie das tun, müssen sie zu ihrer Verwirrung und Verblüffung erfahren, dass in kürzlich privatisierten (deregulierten, »outgesourcten«) und damit »liberalisierten« Unter13 Leighton, Interview mit Richard Sennett, The Culture of the New Capitalism, S. 47.
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nehmen – Unternehmen, die sie noch als unter Geldknappheit leidende, vorsichtig wirtschaftende öffentliche Institutionen in Erinnerung haben – die heutigen Manager Gehälter in Millionenhöhe beziehen, während diejenigen, die wegen Unfähigkeit von ihren Vorstandsposten gefeuert werden, für ihre Pfuscherei und ihre nachlässige Arbeit großzügig entschädigt werden, wiederum mit Millionen von Pfund, Dollar oder Euro. Aus allen Ecken, über alle Kommunikationskanäle tönt laut und deutlich die Botschaft: Es gibt keine Prinzipien, außer immer mehr zusammenzuraffen, und keine Regeln, abgesehen von dem Gebot, »seine Karten geschickt auszuspielen«. Aber wenn das einzige Ziel des Spiels darin besteht zu gewinnen, dann sind diejenigen, die eine Runde nach der anderen ein schlechtes Blatt bekommen, versucht, sich auf ein anderes Spiel zu verlegen, bei dem sie andere Ressourcen einsetzen können, alles, was sie aufzubieten haben. Aus Sicht der Kasinobesitzer sind einige Ressourcen – jene, die sie selbst verteilen oder in Umlauf bringen – zulässige Zahlungsmittel; alle anderen Ressourcen, insbesondere solche, auf die sie keinen Einfluss haben, sind verboten. Ganz anders sieht die Grenze zwischen fair und unfair jedoch aus Sicht der Spieler aus, besonders aus Sicht von hoffnungsvollen Spielanwärtern, und ganz besonders aus Sicht von hoffnungsvollen Spielanwärtern mit schlechten Voraussetzungen, die keinen oder nur begrenzten Zugang zu zulässigen Zahlungsmitteln haben. Ihnen bleibt nur, entweder auf die Ressourcen zurückzugreifen, die sie haben, ob sie nun als legal anerkannt oder für illegal erklärt sind, oder ganz aus dem Spiel auszuscheiden, wobei die Verführung durch den Markt dafür gesorgt hat, dass letztere Möglichkeit geradezu undenkbar ist. Die Entwaffnung, Entmachtung und Unterdrückung von glücklosen und/oder gescheiterten Spielern ist daher in einer marktorientierten Konsumgesellschaft die unverzichtbare Ergänzung der Integration durch Verführung. Unfähige, träge Spieler müssen vom Spiel ausgeschlossen werden. Sie sind das Abfallprodukt des Spiels, ein Abfallprodukt, das vom Spiel ständig ausgeschieden werden muss, wenn es nicht ins Stocken geraten und Konkurs anmelden will. Würde die Ausscheidung von Abfall stocken oder sich auch nur verlangsamen, würde den Spielern nicht mehr der schreckliche Anblick der Alterna171
tive (der einzigen Alternative, wie man ihnen sagt) zum Weiterspielen vor Augen geführt. Solche Anblicke sind unverzichtbar, damit sie in der Lage und willens sind, die Härten und Spannungen zu ertragen, die ein innerhalb des Spiels gelebtes Leben hervorbringt – und diese Anblicke muss man den Spielern immer wieder zeigen, damit das Bewusstsein, wie furchtbar die Strafen für Trägheit und Nachlässigkeit in der Regel sind, und damit auch die Bereitschaft der Spieler, weiterzuspielen, ständig erneuert und bekräftigt wird. So wie das heute gespielte Spiel beschaffen ist, muss das Elend der Ausgeschlossenen, einst als kollektiv verursachte Misere betrachtet, der man mit kollektiven Mitteln begegnen und abhelfen musste, neu interpretiert werden als Beweis für eine Sünde beziehungsweise ein Verbrechen, das individuell begangen wurde. Die gefährlichen (weil potentiell aufständischen) Klassen werden somit neu definiert als Ansammlungen von gefährlichen (weil potentiell kriminellen) Individuen. Nun treten Gefängnisse an die Stelle der stufenweise abgebauten und verschwindenden Wohlfahrtsinstitutionen, und aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sich wohl weiter an die Erfüllung dieser neuen Funktion anpassen müssen, da die Sozialleistungen weiter ausgedünnt werden. Weiter verschlechtert werden die Aussichten dadurch, dass die zunehmende Häufigkeit von Verhaltensweisen, die als kriminell klassifiziert werden, auf dem Weg zu einer voll ausgebildeten und allumfassenden konsumistischen Gesellschaft kein Hindernis ist; sie ist, ganz im Gegenteil, ihre natürliche und vielleicht unverzichtbare Begleiterscheinung und Vorbedingung. Dafür gibt es mehrere Gründe, aber der wichtigste ist wohl die Tatsache, dass die vom Spiel Ausgeschlossenen (die fehlerhaften Konsumenten, deren Ressourcen nicht mit ihren Wünschen mithalten können und die deshalb wenig bis keinerlei Chancen haben, zu gewinnen, wenn sie sich an die offiziellen Regeln halten) die wandelnden Inkarnationen der für das Leben als Konsument charakteristischen »inneren Dämonen« sind. Ihre Ghettoisierung und Kriminalisierung, die Schwere des ihnen zugemuteten Leids und die Grausamkeit des ihnen aufgebürdeten Schicksals sind – metaphorisch gesprochen – die wichtigsten Methoden, diese inneren Dämonen auszutreiben und sie symbolisch zu verbrennen. Die kriminalisierte Peripherie dient angeblich der Hygiene: als Abwasserkanal, 172
über den die unvermeidlichen, aber giftigen Ausflüsse der konsumistischen Verführung abgeleitet werden, sodass die Menschen, die im konsumistischen Spiel verbleiben, sich keine Sorgen um ihre Gesundheit machen müssen. Falls dies jedoch der wichtigste Grund für die derzeitige Blüte der »Kriminalitätskontrolle als Industrie« ist, wie der herausragende norwegische Kriminologe Nils Christie sie genannt hat, dann sind die Hoffnungen, dass der Prozess verlangsamt, geschweige denn angehalten oder umgekehrt werden kann in einer durch und durch deregulierten und privatisierten Gesellschaft, die sich vom Konsumgütermarkt antreiben und leiten lässt, gelinde gesagt, gering. Geprägt und erstmals benutzt wurde der Begriff underclass 1962 von Gunnar Myrdal.14 Myrdal wies damit auf die Gefahren der Deindustrialisierung hin, die seiner Befürchtung nach dazu führen werde, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung dauerhaft arbeitslos und unvermittelbar sein werde – nicht aufgrund von Defiziten oder moralischen Mängeln der Menschen, die keine Arbeit hätten, sondern schlicht und einfach, weil es nicht genügend Stellen für all jene geben werde, die arbeiten müssten, wollten und könnten. Myrdal zufolge würde die bevorstehende Herausbildung dessen, was später »strukturelle Arbeitslosigkeit« genannt werden sollte, und damit auch einer underclass, keine Folge der mangelnden Inspiration der Lebenden durch die Arbeitsethik sein, sondern der Unfähigkeit der Gesellschaft, Bedingungen zu garantieren, unter denen die Art von Leben gelebt werden konnte, das das Arbeitsethos nahelegt und inspiriert.15 So wie Myrdal den Begriff verstand, würde die zukünftige underclass aus denen bestehen, die der Exklusion von produktiver Aktivität zum Opfer fallen würden; sie würden ein kollektives Produkt der ökonomischen Logik sein, einer Logik, die von den für die Exklusion vorgesehenen Teilen der Bevölkerung nicht kontrolliert werden könne und auf die sie wenig bis keinen Einfluss hätten. Myrdals Hypothese erregte kaum öffentliche Aufmerksamkeit, und seine Warnungen gerieten weitgehend in Vergessenheit. Als die Idee 14 Myrdal, Challenge to Affluence, S. 19. 15 Vgl. Myrdal, Ökonomische Theorie.
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einer underclass viel später, in Form einer Titelgeschichte des Magazins Time am 29. August 1977, erneut der Öffentlichkeit präsentiert wurde, wurde sie mit einem deutlich veränderten Sinn erfüllt: Es ging nun um »eine große Gruppe von Menschen, die renitenter, aus sozialer Perspektive fremdartiger und feindseliger sind, als die allermeisten gedacht hatten. Sie sind die Unerreichbaren: die amerikanische underclass.«16 Dieser Definition folgte eine lange und ständig erweiterte Liste mit allen möglichen Kategorien. Dazu gehörten jugendliche Straftäter, Schulabbrecher, Drogenabhängige, von Sozialhilfe lebende Mütter, Plünderer, Brandstifter, Gewaltverbrecher, ledige Mütter, Zuhälter, Dealer, Bettler: ein Inventar der inneren Dämonen einer reichen, gutsituierten Gesellschaft auf der Suche nach Vergnügen und Glück – die Bezeichnungen für die offenen Ängste ihrer Mitglieder und für die verborgenen Lasten ihres Gewissens. »Renitent«, »fremd«, »feindselig«. Und, als Konsequenz aus alldem, unerreichbar. Es lohnt sich nicht, die Hand auszustrecken, um ihnen zu helfen: Sie würde im Nichts baumeln oder – schlimmer noch – gebissen werden. Diesen Leuten kann man nicht mehr helfen, und man kann ihnen deshalb nicht helfen, weil sie ein Leben in Krankheit gewählt haben. Als Ken Auletta 1981/82 eine Reihe von Erkundungsexpeditionen in die Welt der underclass unternahm (seine Berichte für den New Yorker wurden später in einem vielgelesenen und äußerst einflussreichen Buch veröffentlicht), da waren die Ängste der meisten seiner Mitbürger, zumindest behauptete er das, der Auslöser: »Ich fragte mich: Wer sind diese Menschen hinter den anschwellenden Verbrechens-, Sozialleistungs- und Drogenstatistiken und dem deutlich sichtbaren Anstieg des asozialen Verhaltens, von den die meisten Städte in Amerika betroffen sind? […] Wie ich bald erfuhr, sind sich diejenigen, die sich mit Armut beschäftigen, weitgehend einig, dass es tatsächlich eine ziemlich klar umschriebene underclass von Schwarzen und Weißen gibt; dass sich diese underclass generell aus der Gesellschaft ausgeschlossen fühlt, allgemein akzeptierte Werte ablehnt und sowohl an Verhaltensals auch an Einkommensdefiziten leidet. Diese Menschen sind nicht ein-
16 Compton, »The American Underclass«, Time vom 29. August 1977.
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fach nur in der Regel arm; nach Ansicht der meisten Amerikaner ist ihr Verhalten abweichend.«17 Man beachte das Vokabular, die Syntax und die Rhetorik des Diskurses, innerhalb dessen das Bild der underclass entstand und etabliert wurde. Der Text von Auletta ist vielleicht das beste Beispiel, um sie zu studieren, weil Auletta im Gegensatz zu den meisten seiner weniger gewissenhaften Nachfolger darauf bedacht war, sich nicht dem Vorwurf bloßen »Einschlagens auf die underclass« auszusetzen; er tat alles, um seine Objektivität zu betonen und zu zeigen, dass er die Antihelden seiner Geschichte ebenso sehr bedauerte wie er sie tadelte.18 17 Auletta, The Underclass, S. xiii. In Amerika liegt die aktuelle Diskussion bezüglich des Phänomens der underclass in weiten Teilen sehr viel stärker auf der Linie der kompromisslosen Rhetorik Edward Banfields: »Ein Individuum aus der Unterschicht lebt von einem Augenblick zum nächsten […]. Sein Verhalten ist impulsiv, entweder, weil er nicht die Disziplin aufbringen kann, eine gegenwärtige Befriedigung einer zukünftigen zu opfern, oder weil er gar keinen Sinn für Zukunft hat. Vorausschauendes Handeln ist ihm daher völlig fremd; was er nicht sofort konsumieren kann, hat für ihn keinerlei Wert. Seine Vorliebe für ›Action‹ hat Vorrang vor allem anderen« (Banfield, The Unheavenly City, S. 53). Halten wir fest, dass die gegen die underclass gerichtete Tirade Banfields wie eine sehr genaue Beschreibung des »idealen Konsumenten« in einer Konsumgesellschaft klingt. Die underclass dient in dieser Erörterung, wie in den meisten anderen, als Abladeplatz für die Dämonen, von der die gequälte Seele des Konsumenten heimgesucht wird. 18 Durch seine Feldforschungen kam Auletta den als eine Einheit behandelten Objekten zu nahe, als dass er die empirischen Mängel von pauschalen Etiketten und generalisierenden Klassifizierungen hätte übersehen können. Am Ende seines Buches, das nichts anderes darstellt als eine einzige lange Vereinheitlichung der underclass aus einer überlegenen Position heraus, stellt er fest: »Das Wichtigste, was ich aus meinen Reportagen über die underclass und die Armen gelernt habe, ist, dass Generalisierungen – pauschale Etikettierungen – die Feinde des Verstehens sind. Es ist gefährlich, pauschal von ›der Unterschicht‹ […] oder ›den Opfern‹ […] zu sprechen oder davon, dass die Armut ›praktisch ausgerottet‹ […] oder dass der Staat ›das Problem‹ ist. Aus einer Höhe von 30000 Fuß sieht alles und jeder aus wie eine Ameise« (Auletta, The Underclass, S. 317). Erwartungsgemäß fand diese Warnung keinerlei Gehör. Die journalistische, politische und öffentliche Rezeption der Studie Aulettas lief auf eine weitere Bestätigung des einheitlichen Bildes der underclass hinaus.
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Man beachte zunächst, dass die »anschwellenden Verbrechens-«, die »anschwellenden Sozialleistungs-« und die »anschwellenden Drogenstatistiken« in einem Atemzug genannt und auf der gleichen Ebene angesiedelt werden, bevor die eigentliche Darstellung und Argumentation beginnt. Impliziert ist, dass kein Argument, ganz zu schweigen von einem Beleg, nötig sei, geschweige denn vorgebracht würde, um zu erklären, warum diese Phänomene hier nebeneinandergestellt und als Beispiele für ein und dasselbe »asoziale« Verhalten eingestuft werden. Ebenso wenig wird der Versuch unternommen, explizit zu begründen, warum das Handeln mit Drogen und das Leben von Sozialhilfe miteinander vergleichbare asoziale Phänomene sein sollen. Man beachte außerdem, dass die Menschen in der underclass in der Beschreibung Aulettas (und der seiner zahlreichen Nachfolger) allgemein anerkannte Werte ablehnen, sich jedoch nur ausgeschlossen fühlen. Der Eintritt in die underclass ist eine aktive Handlung, die weitere Handlungen nach sich zieht, ein bewusster Schritt, sich in einem zweiseitigen Verhältnis auf der einen Seite zu positionieren, während »die meisten Amerikaner« sich am anderen, passiven Ende wiederfinden: dem einer schikanierten und leidenden Zielscheibe. Ohne die asoziale Mentalität und das feindselige Verhalten der underclass gäbe es keine öffentliche Anklage, ebenso wenig wie einen Fall, über den man nachdenken müsste, ein Verbrechen, das bestraft werden, oder eine Fahrlässigkeit, die wiedergutgemacht werden müsste. Auf die Rhetorik folgte die Praxis, die im Nachhinein den »empirischen Beweis« erbrachte und aus der Argumente abgeleitet wurden, die die Rhetorik selbst nicht geliefert hatte. Je zahlreicher und verbreiteter die praktischen Beispiele wurden, desto selbstverständlicher erschienen die Diagnosen, die sie ausgelöst hatten, und desto geringer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass die rhetorische Täuschung je durchschaut, geschweige denn entlarvt und widerlegt werden würde. Den Großteil seines Stoffes bezog Auletta aus dem Wildcat Skills Training Center, einer Institution, die mit der ehrenwerten Absicht gegründet wurde, Individuen zu rehabilitieren und in die Gesellschaft zurückzuführen, denen vorgeworfen wurde, dass sie sich von den in der Gesellschaft geschätzten Werten verabschiedet oder vielmehr, dass sie sich selbst jenseits ihrer Grenzen positioniert hätten. Was waren die Zugangsvoraussetzungen für das Center? Kandidaten mussten 176
in jüngerer Zeit im Gefängnis gewesen oder ehemalige Drogenabhängige sein, die noch in Behandlung waren, es konnten von Sozialhilfe lebende Frauen ohne Kinder unter sechs Jahren sein oder Jugendliche zwischen 17 und 20 Jahren, die die Schule abgebrochen hatten. Wer auch immer diese Kriterien aufgestellt hat, muss von vornherein entschieden haben, dass diese »Typen«, so unterschiedlich sie für das ungeübte Auge sind, an der gleichen Art von Problem litten, oder vielmehr die Gesellschaft mit der gleichen Art von Problem konfrontierten – und daher der gleichen Art von Behandlung bedurften und dafür teilnahmeberechtigt waren. Doch was als eine Entscheidung derer begann, die die Regeln vorgeben, wurde für die Insassen des Wildcat Center zur Realität: Über geraume Zeit wurden sie zusammengebracht, wurden den gleichen Regeln unterworfen und tagtäglich darin geschult, ihr Schicksal als etwas Gemeinsames zu akzeptieren. Insasse des Wildcat Center zu sein, war vorerst die einzige soziale Identität, die sie brauchten, und die einzige, auf die sie vernünftigerweise hinarbeiten konnten. Einmal mehr wurde eine gewagte These dank der Handlungen, die sie ausgelöst hatte, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung; einmal mehr war das Wort Fleisch geworden. Auletta war bemüht, seine Leser immer wieder daran zu erinnern, dass der Zustand, underclass zu sein, keine Frage von Armut war, oder zumindest nicht ausschließlich damit erklärt werden konnte. Er wies darauf hin, dass 25 bis 29 Millionen Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze lebten, doch nur »etwa 9 Millionen Menschen entkommen der Armut nicht« und »bewegen sich außerhalb der allgemein akzeptierten gesellschaftlichen Grenzen«, da sie sich »durch ihr ›abweichendes‹ oder asoziales Verhalten« abheben.19 Damit implizierte er, dass die Beseitigung der Armut, sofern diese überhaupt vorstellbar war, dem Phänomen der underclass kein Ende bereiten würde. Wenn man arm sein und sich dennoch »innerhalb der akzeptierten Grenzen« bewegen kann, dann kann man die Schuld nicht der Armut geben, und andere Faktoren müssen für den Abstieg in die underclass verantwortlich sein. Als solche Faktoren galten subjektive, individuelle psychische Probleme und Verhaltensstörungen, die bei jenen, die in Armut leben, möglicherweise häufiger anzutreffen, aber nicht von ihr ausgelöst sind. 19 Ebenda, S. 27, 28.
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Noch einmal: Dieser Sichtweise zufolge war der Abstieg in die underclass eine Frage der Wahl: einer bewussten Wahl im Falle des offenen Infragestellens gesellschaftlicher Normen oder einer unbewussten Wahl, die sich aus der Unaufmerksamkeit für Normen ergibt oder daraus, dass man sie nicht eifrig genug befolgt. Zugehörigkeit zur underclass war eine Wahl, selbst wenn man einfach deshalb in die underclass abrutschte, weil man es versäumt hatte oder zu faul war, das zu tun, was man tun konnte und wozu man verpflichtet war und was von einem erwartet wurde, um den Absturz abzuwenden. Die Entscheidung, nicht zu tun, was nötig gewesen wäre, um bestimmte Ziele zu erreichen, wird in einem Land der Entscheidungsfreiheit geradezu automatisch und ohne weitere Überlegungen als Entscheidung für etwas anderes interpretiert; im Falle der underclass wurde die Entscheidung getroffen, sich unsozial zu verhalten. Der Absturz in die underclass geschah in Ausübung von Freiheit. In einer Gesellschaft von freien Konsumenten ist es unzulässig, die eigene Freiheit zu beschränken; genauso unzulässig ist es jedoch, es zu versäumen, jenen die Freiheit vorzuenthalten oder sie zu beschneiden, die ihre Freiheit dazu nutzen, die Freiheiten anderer Menschen zu beschneiden, indem sie sie anbetteln, sie belästigen oder ihnen drohen, indem sie ihnen den Spaß verderben, ihr Gewissen belasten und ihnen sonst wie das Leben schwermachen. Mit der Entscheidung, das »Problem der underclass« von der »Frage der Armut« zu trennen, wurden mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen. In einer Gesellschaft, die für ihren Glauben an Gerichtsverfahren und Wiedergutmachung berühmt ist, bestand die unmittelbarste Konsequenz darin, dass der underclass zugerechneten Menschen das Recht verweigert wurde, Anzeige zu erstatten und »Schadensersatz zu verlangen«, indem sie sich als Opfer (und sei es nur als Opfer eines »Kollateralschadens«) einer Funktionsstörung oder eines Rechtsbruchs der Gesellschaft darstellten. In einem Prozess, der sich mit ihrem Fall beschäftigen würde, würde die Beweislast voll und ganz den Klägern aufgebürdet. Sie wären es, die die Beweislast schultern – die ihren guten Willen und ihre Entschlossenheit demonstrieren müssten, »wie wir anderen« zu sein. Alles, was zu tun wäre, müsste, zumindest zunächst einmal, von den Mitgliedern der underclass selbst getan werden (obwohl es natürlich nie einen Mangel an ernannten 178
Aufsehern und selbsternannten juristischen Beratern gab, die ihnen sagten, was genau von ihnen erwartet wurde). Wenn nichts geschah und das Schreckgespenst der underclass einfach nicht verschwinden wollte, so gab es dafür eine einfache Erklärung. Und es war offensichtlich, wer daran die Schuld trug. Wenn der Rest der Gesellschaft sich irgendetwas vorzuwerfen hatte, dann nur ihre mangelnde Entschlossenheit, die ungeheuerliche Wahl der Mitglieder der underclass zu verhindern und den Schaden zu begrenzen, den sie verursachten. Die naheliegenden Mittel, um diesen Fehler wiedergutzumachen, waren mehr Polizei, mehr Gefängnisse und immer schwerere, schmerzhaftere und gefürchtetere Strafen. Vielleicht noch entscheidender war ein anderer Effekt: Durch die Abnormität der underclass wurde das Vorhandensein von Armut normal. Die underclass wurde zu einer Gruppe außerhalb der akzeptierten gesellschaftlichen Grenzen erklärt, aber sie stellte, wir erinnern uns, nur einen Bruchteil der »offiziell Armen« dar. Gerade deshalb, weil die underclass als das wirklich große und dringende Problem bezeichnet wurde, stellte das Gros der in Armut lebenden Menschen ein Problem dar, das nicht groß genug war, als dass man es dringend hätte in Angriff nehmen müssen. Vor dem Hintergrund der einheitlich hässlichen und abstoßenden Landschaft der underclass ragten diejenigen, die »nur arm« waren, als Menschen heraus, die – anders als die Mitglieder der underclass – am Ende von sich aus die richtigen Entscheidungen treffen und ihren Weg zurück in den akzeptierten gesellschaftlichen Rahmen finden würden. So wie es eine Frage der Wahl war, in die underclass abzustürzen und dort zu verbleiben, so war auch die Rehabilitierung aus dem Zustand der Armut eine Frage der Wahl – diesmal der richtigen Wahl. Die Vorstellung, dass der Abstieg der Armen in die underclass das Ergebnis einer Entscheidung ist, geht von der stillschweigenden Annahme aus, dass eine andere Entscheidung das Gegenteil bewirken und den Armen aus ihrer gesellschaftlichen Schande heraushelfen könnte. Ein wichtiges und, da ungeschriebenes, selten in Frage gestelltes Gesetz einer Konsumgesellschaft ist, dass Wahlfreiheit Kompetenz erfordert: das Wissen, die Fähigkeiten und die Entschlossenheit, die Entscheidungsfreiheit zu nutzen. 179
Wahlfreiheit bedeutet nicht, dass jede Option richtig ist – Optionen können gut oder schlecht, richtig oder falsch sein. Die Wahl, die am Ende getroffen wird, ist ein Beweis der Kompetenz oder eines Mangels an derselben. Von der underclass der Konsumgesellschaft, den »fehlerhaften Konsumenten«, wird angenommen, sie seien eine Ansammlung individueller Opfer individueller falscher Entscheidungen; sie werden als lebender Beweis dafür betrachtet, dass die Katastrophen und Niederlagen des Lebens persönlicher Natur und immer das Ergebnis inkompetenter persönlicher Entscheidungen sind. In einer sehr einflussreichen Abhandlung über die Wurzeln der Armut unserer Tage kam Lawrence C. Mead zu dem Schluss, dass der wichtigste Grund für den Fortbestand der Armut inmitten des Wohlstands und für das klägliche Scheitern aller staatlichen Versuche, sie zu beseitigen, die Inkompetenz einzelner Akteure sei.20 Den Armen fehle schlicht und einfach die Kompetenz, die Vorteile von Arbeit-auf-dieKonsum-folgt zu erkennen; sie treffen die falschen Entscheidungen, indem sie »Nicht-Arbeit« über Arbeit stellen und sich so selbst von den Vergnügungen echter Konsumenten abschneiden. Diese Inkompetenz, so Mead, ist der Grund, weshalb die Beschwörung der Arbeitsethik (und damit indirekt, aber unweigerlich auch die Verlockungen des Konsumismus) auf taube Ohren stößt und die Entscheidungen der Armen nicht beeinflusst. Der Dreh- und Angelpunkt ist dieser Darstellung zufolge daher die Frage, ob die Bedürftigen Verantwortung für sich selbst übernehmen können, und vor allem, ob sie über die nötige Kompetenz verfügen, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Egal, welche externen, überindividuellen Ursachen herangezogen werden, »Nicht-Arbeit« – die bewusste, aktiv gewählte Passivität der wirklich Armen, ihr Unvermögen, jene Chancen zu nutzen, die andere, normale Leute wie wir, freudig begrüßen – bleibt im Kern ein Rätsel. »Nicht-Arbeit«, so Mead, »kann man meiner Meinung nach nicht gänzlich ohne Rekurs auf Psychologie oder Kultur erklären. In den meisten Fällen scheinen sehr arme Erwachsene Arbeit zu vermeiden: nicht aufgrund ihrer ökonomischen Situation, sondern aufgrund ihrer Überzeugungen […].«21 »Auf der 20 Mead, The New Politics of Poverty, S. 261. 21 Ebenda, S. 12.
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Suche nach Ursachen für geringen Arbeitseinsatz ist die Psychologie die letzte Hoffnung. […] Warum nutzen die Armen [Chancen] nicht so begierig, wie die Kultur es von ihnen erwartet? Wer sind sie eigentlich? 22 Der Kern der Kultur der Armut scheint die Unfähigkeit zu sein, das eigene Leben zu kontrollieren – das, was Psychologen geringe Selbstwirksamkeit nennen.«23 Die Chancen sind da; sind wir nicht alle wandelnde Beweise dafür? Aber man muss Chancen auch als das erkennen, was sie sind, nämlich Gelegenheiten, die man ergreifen muss, Chancen, die man nur auf eigene Gefahr auslassen kann – und dazu sind Kompetenzen nötig: ein gewisses Maß an Verstand, Willen und Anstrengung. Den Armen, den »fehlerhaften Konsumenten«, mangelt es offenbar an allen dreien. Meads Leser werden die Neuigkeit als alles in allem gute, beruhigende Nachricht begrüßen: Wir sind anständige, verantwortliche Leute, wir bieten den Armen Chancen, wohingegen sie unverantwortlich handeln und sich unanständigerweise weigern, sie wahrzunehmen. Genau wie Ärzte widerwillig das Handtuch werfen, wenn ihre Patienten sich hartnäckig weigern, bei der verordneten Behandlung aktiv mitzuarbeiten, so ist es jetzt an uns, angesichts des sturen Widerwillens der Armen, sich den Herausforderungen, aber auch den Bereicherungen und Freuden des Lebens als Konsument zu öffnen, unsere Bemühungen aufzugeben, die fehlerhaften Konsumenten aus ihrem Schlummer zu reißen. Allerdings lässt sich zeigen, dass die »psychologischen Faktoren« sich möglicherweise genau umgekehrt auswirken; dass das Unvermögen der »fehlerhaften Konsumenten«, legitime Mitglieder der Konsumgesellschaft zu werden, von ganz anderen Ursachen herrührt als von ihrer angeblichen Entscheidung, »nicht zu partizipieren«. Zusätzlich zu ihrem Leben in Armut, oder zumindest unterhalb des geforderten Wohlstandsniveaus, werden der underclass zugerechnete Menschen gerade deshalb zur gesellschaftlichen Exklusion verdammt und der Mitgliedschaft in einer Gesellschaft für unwert befunden, die von ihren Mitgliedern erwartet, sich an die Regeln des konsumistischen Spiels zu halten, weil sie, genau wie die Reichen und Begüterten, für 22 Ebenda, S. 133. 23 Ebenda, S. 145.
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die machtvollen Verführungen des Konsumismus allzu empfänglich sind – auch wenn sie es sich, im Gegensatz zu den Reichen und Begüterten, nicht wirklich leisten können, sich verführen zu lassen. So oder so, die Armen sind die Verlierer. Wenn sie das konsumistische Lebensmodell nicht übernehmen, führt das zu Stigmatisierung und Exklusion, und wenn sie es übernehmen, bedeutet das die Fortsetzung der Armut, die die Aufnahme unmöglich macht. »Angesichts des steigenden Bedarfs an staatlicher Unterstützung befürworten es amerikanische Wähler zunehmend, die vom Staat angebotene Fürsorge zu kürzen, und viele hoffen stattdessen auf die bedrängte Familie als Hauptquelle der Fürsorge«, beobachtet Arlie Hochschild.24 Doch wie sie feststellen mussten, kamen sie so vom Regen in die Traufe. Die gleichen konsumistischen Zwänge, die die Idee der »Fürsorge« mit einem Inventar an Konsumgütern wie »Orangensaft, Milch, Tiefkühlpizza und Mikrowellenherd« assoziiert, berauben Familien ihrer sozialethischen Fähigkeiten und Ressourcen sowie ihrer Waffen im mühsamen Kampf, mit den neuen Herausforderungen fertig zu werden, Herausforderungen, die von Gesetzgebern verschärft werden, die Staatsdefizite zu reduzieren versuchen, indem sie das »Fürsorgedefizit« vergrößern (»durch Leistungskürzungen für alleinerziehende Mütter, Behinderte, Geisteskranke und Alte«). Ein Staat ist »sozial«, wenn er das Prinzip der gemeinschaftlich organisierten, kollektiven Versicherung gegen individuelles Unglück und seine Konsequenzen vertritt. Es ist in erster Linie dieses Prinzip – seine Deklarierung, Inkraftsetzung und das Vertrauen auf seine Funktionsfähigkeit –, das aus der ansonsten abstrakten Idee der »Gesellschaft« die Erfahrung einer gefühlten und gelebten Gemeinschaft macht, indem es (um die Begriffe John Dunns zu verwenden) die »Ordnung des Egoismus«, die zwangsläufig eine Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens und Argwohns erzeugt, durch die »Ordnung der Gleichheit« ersetzt, die Vertrauen und Solidarität hervorruft.25 Es 24 Vgl. Hochschild, The Commercialization of Intimate Life, S. 213ff. 25 Dunn, Setting the People Free, Kap. 3.
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ist das gleiche Prinzip, das die Mitglieder der Gesellschaft in den Status von Bürgern erhebt, sprich, sie nicht nur zu Anteilseignern, sondern zu Teilhabern macht: Zahlungsempfänger, aber auch Akteure – Aufseher und Schutzbefohlene des Systems der »Sozialleistungen« zugleich, Individuen mit einem ureigenen Interesse am Gemeinwohl, das verstanden wird als ein Netzwerk gemeinsamer Institutionen, auf die man sich verlassen und von denen man realistischerweise erwarten kann, dass sie die Solidität und Verlässlichkeit der staatlichen »Politik der kollektiven Absicherung« garantieren. Die Anwendung eines solchen Prinzips mag Männer und Frauen vor der Seuche der Armut beschützen, und oft tut sie das auch. Vor allem jedoch kann sie eine ergiebige Quelle der Solidarität sein, die in der Lage ist, die »Gesellschaft« zu einem »gemeinsamen Gut« zu recyceln, das von allen geteilt und gemeinsam besessen wird und um das sich alle gemeinsam kümmern, weil es einen Schutz darstellt vor dem doppelten Schrecken des Elends und der Demütigung: das heißt, vor den Schrecken, ausgeschlossen zu sein, über Bord zu gehen, aus dem immer schneller fahrenden Zug des Fortschritts geschubst zu werden, den Respekt vorenthalten zu bekommen, der jedem Menschen zusteht, oder sonst wie dem »menschlichen Abfall« zugerechnet zu werden. Der »Sozialstaat« war, seiner ursprünglichen Intention zufolge, eine Einrichtung, die genau diesen Zielen dienen sollte. Lord Beveridge, dem wir den Entwurf für den britischen »Wohlfahrtsstaat« der Nachkriegszeit verdanken, glaubte, dass seine Vision einer umfassenden, kollektiv gebilligten Versicherung für alle die zwingende Konsequenz, oder vielmehr das unverzichtbare Gegenstück zum liberalen Gedanken der individuellen Freiheit, sowie eine unumgängliche Voraussetzung für eine liberale Demokratie sei. Auf der gleichen Annahme beruhte auch Franklin Delano Roosevelts Kriegserklärung an die Angst. Die Annahme war vernünftig: Schließlich ist Wahlfreiheit nicht ohne ungezählte und unzählbare Risiken des Scheiterns zu haben, und viele Menschen werden derartige Risiken unerträglich finden, aus Angst, sie könnten ihre persönlichen Fähigkeiten übersteigen, mit ihnen fertig zu werden. Für viele wird Wahlfreiheit ein schwer zu greifendes Phantom und ein bloßer Traum bleiben, wenn die Angst vor dem Scheitern nicht durch eine im Namen der Gemeinschaft ausgestellte Versicherungspolice abgemildert wird, einer Absicherung, auf die sie vertrauen 183
und auf die sie sich im Falle des persönlichen Scheiterns oder eines unerwarteten Schicksalsschlags verlassen können. Wenn Wahlfreiheit in der Theorie gewährt wird, in der Praxis aber unerreichbar ist, dann kommt zu den Qualen der Hoffnungslosigkeit auch noch die Schmach der Glücklosigkeit hinzu – denn die jeden Tag aufs Neue auf die Probe gestellte Fähigkeit, mit den Herausforderungen des Lebens fertig zu werden, ist die eigentliche Werkstatt, in der das Selbstvertrauen von Individuen und damit auch das Bewusstsein von ihrer Menschenwürde und ihre Selbstachtung geformt oder zerstört werden. Außerdem wird ohne ein kollektives Sicherungssystem wohl kaum ein großer Anreiz bestehen, sich politisch zu engagieren – oder gar an dem Spiel demokratischer Wahlen teilzunehmen, ist die Rettung doch kaum von einem politischen Staat zu erwarten, der nicht gleichzeitig ein Sozialstaat ist beziehungsweise sich weigert, ein solcher zu sein. Ohne soziale Rechte für alle wird eine große und aller Wahrscheinlichkeit nach steigende Anzahl von Menschen ihre politischen Rechte für nutzlos und ihrer Aufmerksamkeit nicht wert erachten. Sind politische Rechte notwendig, um soziale Rechte zu etablieren, so sind soziale Rechte unerlässlich, damit die politischen Rechte weiterhin wirksam bleiben. Die beiden Rechte brauchen einander, um zu überleben; nur gemeinsam können sie ihren Fortbestand sichern.26 Der Sozialstaat ist die ultimative moderne Verkörperung der Idee der Gemeinschaft: das heißt, die institutionelle Inkarnation einer solchen Idee in ihrer modernen Form einer abstrakten, imaginierten Totalität, die gewoben ist aus gegenseitiger Abhängigkeit, Verbindlichkeit und Solidarität. Soziale Rechte – das Recht auf Respekt und Würde – verbinden diese imaginierte Totalität mit der alltäglichen Realität ihrer Mitglieder und verankern diese Vorstellung im festen Grund der Lebenserfahrung. Diese Rechte verbriefen die Aufrichtigkeit und die Verlässlichkeit des gegenseitigen Vertrauens und zugleich des Vertrauens auf das gemeinsame institutionelle Netzwerk, das die kollektive Solidarität bekräftigt und rechtswirksam macht. Das Gefühl der »Zugehörigkeit« lässt sich übersetzen als Vertrauen auf den Nutzen menschlicher Solidarität und auf die Institutionen, die aus dieser Solidarität geboren werden und versprechen, ihr zu dienen 26 Vgl. auch Baumann, Flüchtige Zeiten, S. 99f.
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und ihre Verlässlichkeit zu garantieren. All diese Wahrheiten wurden im Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Schwedens von 2004 dargelegt: »Jeder ist irgendwann einmal schwach. Wir brauchen einander. Wir leben unser Leben im Hier und Jetzt, in Gemeinschaft mit anderen, inmitten ständiger Veränderungen. Wir werden alle bereichert, wenn alle sich einbringen können und niemand außen vor bleibt. Wir sind alle stärker, wenn es Sicherheit für alle gibt und nicht nur für einige wenige.«27 So wie sich die Tragfähigkeit einer Brücke nicht nach der durchschnittlichen Belastbarkeit ihrer Pfeiler bemisst, sondern nach der Belastbarkeit des schwächsten Pfeilers, und mit der steigenden Belastbarkeit dieses Pfeilers zunimmt, so bemisst sich das Vertrauen und der Einfallsreichtum in einer Gesellschaft nach der Sicherheit, dem Einfallsreichtum und dem Selbstvertrauen ihrer schwächsten Gruppen, und sie nehmen insgesamt zu, wenn diese bei den Schwächsten zunehmen. Entgegen den Annahmen der Befürworter des »Dritten Weges« müssen sich soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Effizienz, Loyalität gegenüber den Traditionen des Sozialstaats und die Fähigkeit zur raschen Modernisierung (vor allem einer Modernisierung, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Solidarität kaum oder gar nicht beschädigt) nicht ausschließen und tun es auch nicht. Im Gegenteil: »Das Streben nach mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt« ist, wie die sozialdemokratische Praxis in den skandinavischen Ländern deutlich zeigt und bestätigt, »die notwendige Vorbedingung für eine einvernehmlich gestaltete Modernisierung.«28 Anders als in den eindeutig verfrühten Nachrufen derer, die den »Dritten Weg« propagieren und ankündigen, ist das skandinavische Vorbild heute alles andere als ein Relikt aus der Vergangenheit, eine Erinnerung an mittlerweile enttäuschte Hoffnungen; es ist keine bloße Blaupause, die heute allgemein als überholt verworfen wird. Wie aktuell und lebendig die ihm zugrundeliegenden Prinzipien und wie groß seine Chancen, die menschliche Vorstellungskraft zu beflügeln, in Wirklichkeit sind, zeigen die jüngsten Triumphe der entstehenden oder wiederbelebten Sozialstaaten in Venezuela, Bolivien, Brasilien 27 Taylor, Sweden’s New Social Democratic Model, S. 27. 28 Ebenda.
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oder Chile, die langsam, aber unermüdlich die politische Landschaft und die öffentliche Meinung auf der südlichen Hälfte des amerikanischen Kontinents verändern und die alle Anzeichen jener »entscheidenden Schläge« aufweisen, die, wie Walter Benjamin feststellte, in der Geschichte der Menschheit stets »mit der linken Hand geführt werden«.29 So schwer es sein mag, diese Wahrheit inmitten des täglichen Flusses konsumistischer Routinen zu erkennen, so ist es doch die Wahrheit. Um Missverständnisse zu vermeiden, muss deutlich gesagt werden, dass der »Sozialstaat« in der Gesellschaft von Konsumenten weder als Alternative zum Prinzip der freien Wahl des Konsumenten gedacht ist noch als solche praktiziert wird, ebenso wenig wie er in der Gesellschaft von Produzenten als Alternative zur »Arbeitsethik« gedacht war oder gedient hat. Die Länder mit fest etablierten Prinzipien und Institutionen eines Sozialstaats sind zufällig auch die Länder mit einem beeindruckend hohen Konsumniveau, genau wie in Gesellschaften von Prozenten die Länder mit fest etablierten Prinzipien und Institutionen eines Sozialstaats gleichzeitig die Länder waren, deren Industrie florierte. Der Sinn des Sozialstaats ist in einer Gesellschaft von Konsumenten, genau wie er es in einer Gesellschaft von Produzenten war, die Gesellschaft vor dem »Kollateralschaden« zu beschützen, den das Leitprinzip des gesellschaftlichen Lebens verursachen würde, wenn es nicht überwacht, kontrolliert und im Zaum gehalten würde. Sein Zweck besteht darin, die Gesellschaft davor zu bewahren, dass es eine Vervielfachung der Zahl der Menschen gibt, die als »Kollateralschäden« dem Konsumismus zum Opfer fallen: die Ausgeschlossenen, die Außenseiter, die underclass. Seine Aufgabe besteht darin, die Erosion der menschlichen Solidarität und das Dahinschwinden der Gefühle ethischer Verantwortung zu verhindern. In Großbritannien wurde der Nation der neoliberale Angriff auf die Prinzipien des Sozialstaats mit einem Slogan von Margaret Thatcher verkauft, der wörtlich aus dem Handbuch des Konsumgütermarktes zitiert schien und der dem Ohr jedes Konsumenten schmeicheln 29 Benjamin, Einbahnstraße, S. 89.
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musste: »Ich will den Arzt meiner Wahl und zum Zeitpunkt meiner Wahl.« Die Tory-Regierungen, die nach Margaret Thatcher kamen, folgten getreu dem von ihr gegebenen Vorbild, beispielsweise mit der »Bürgercharta« John Majors, in der die Mitglieder der nationalen Gemeinschaft als zufriedene Kunden neu definiert wurden. Von der »New Labour«-Regierung wurde die Konsolidierung der neoliberalen »Ordnung des Egoismus« unter dem Decknamen der »Modernisierung« durchgeführt. Im Laufe der Jahre haben nur wenige bis gar keine Objekte, die bis dahin der Kommodifizierung entgangen waren, den Modernisierungseifer unversehrt überstanden. Angesichts des Mangels an noch nicht betroffenen Objekten (das heißt, an Lebensbereichen, die noch außerhalb der Grenzen des Konsumgütermarkts lagen) wurden die »modernisierten« Bereiche von gestern zunehmend zum Objekt neuer Modernisierungsrunden, indem mehr privates Kapital und noch mehr freier Wettbewerb zugelassen wurden. »Modernisierung« wurde nicht mehr als einmaliger Vorgang betrachtet, sondern wurde zum Dauerzustand sozialer und politischer Institutionen, was den Wert der Beständigkeit und die Klugheit langfristigen Planens weiter aushöhlte und die Atmosphäre der Ungewissheit, des Übergangs und den Zustand des »bis auf weiteres«, in dem Konsumgütermärkte bekanntlich prächtig gedeihen, weiter untermauerte. Das dürfte der größte Dienst gewesen sein, den das Regierungshandeln der Sache der neoliberalen Revolution und der unangefochtenen Herrschaft der »unsichtbaren Hand« des Marktes erwiesen hat (»unsichtbar«, weil sie sich allen Bemühungen entzieht, ihre Bewegungen zu überwachen, zu erraten oder vorherzusagen, geschweige denn zu beeinflussen oder zu korrigieren; eine »Hand«, von der jeder Pokerspieler träumt, weil er sie zu Recht für unbezwingbar hält). Ungeachtet ihrer Unterschiede haben die aufeinanderfolgenden Modernisierungsrunden die unsichtbare Hand noch unsichtbarer werden lassen, indem sie sie immer endgültiger aus der Reichweite der verfügbaren politischen, öffentlichen und demokratischen Interventionsinstrumente entfernt haben. Ein besonders wichtiges Opfer unter den Kollateralschäden derartigen Regierungshandelns war paradoxerweise (oder vielleicht gar nicht so paradoxerweise) die politische Sphäre selbst, die unablässig beschnitten und ausgezehrt wurde, indem immer mehr ehemals poli187
tisch geregelte und verwaltete Funktionen zugunsten explizit unpolitischer Marktkräfte »subsidiarisiert« und »outgesourct« wurden. Und als die Deregulierung und Privatisierung der Wirtschaft mit Höchstgeschwindigkeit voranschritt, die nominell im Staatsbesitz befindlichen Vermögenswerte einer nach dem anderen aus der politischen Aufsicht entlassen wurden, die kollektiven Bedürfnissen dienende, individuelle Besteuerung eingefroren wurde – was zur Austrocknung kollektiv verwalteter Ressourcen führte, die zur Befriedigung derartiger Bedürfnisse nötig sind –, verwandelte sich die alles erklärende und alles verzeihende Beschwörungsformel »Es gibt keine Alternative« (ein weiteres Vermächtnis Margaret Thatchers) unaufhaltsam in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung (genauer: sie wurde in eine solche verwandelt). Diese Entwicklung ist eingehend erforscht, ihre Stoßrichtung dokumentiert worden, insofern erübrigt es sich, noch einmal darzustellen, was allgemein bekannt ist, oder was zumindest allgemein bekannt sein könnte, sofern ein entsprechendes Interesse vorhanden war. Was jedoch eher wenig öffentliche Beachtung gefunden hat, obwohl es so viel Aufmerksamkeit verdient, wie nur aufzubringen ist, ist die Rolle, die nahezu jede einzelne »Modernisierungsmaßnahme« bei der fortschreitenden Zersetzung und Auflösung der sozialen Bindungen und des gemeinschaftlichen Zusammenhalts gespielt hat – eben jener Errungenschaften, die Männer und Frauen in Großbritannien in die Lage versetzen könnten, sich den alten und neuen, vergangenen und zukünftigen Herausforderungen des konsumistischen »Einheitsdenkens« zu stellen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und mit ihnen fertig zu werden. Zu den vielen gescheiten und weniger gescheiten Ideen, wegen deren Margaret Thatcher in Erinnerung bleiben wird, gehört ihre Entdeckung der Nicht-Existenz der Gesellschaft: »So etwas wie ›Gesellschaft‹ gibt es nicht! Es gibt nur individuelle Männer und Frauen und es gibt Familien«, verkündete sie.30 Aber es bedurfte noch einiger Bemühungen von ihr und ihren Nachfolgern, bis aus dieser Ausgeburt von Thatchers blühender Phantasie eine ziemlich präzise Beschreibung der 30 Thatcher, Interview for Women’s Own, www.margaretthatcher.org/speeches (22. 7. 2008).
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realen Welt wurde, so wie sie sich von innen, aus der Sicht ihrer Bewohner darstellt. Der Triumph des zügellosen, individuellen und individualisierenden Konsumismus über die »moralische Ökonomie« und die gesellschaftliche Solidarität stand keineswegs von vornherein fest. Es wäre unmöglich gewesen, eine zu Individuen und brüchigen Familien pulverisierte Gesellschaft aufzubauen, wenn Mrs. Thatcher nicht zuerst die Baustelle komplett freigeräumt hätte. Sie hätte unmöglich aufgebaut werden können ohne die Erfolge Thatchers: die Selbstverteidigungsmechanismen derjenigen außer Kraft zu setzen, die auf eine kollektive Verteidigung angewiesen waren; die so Geschwächten eines Großteils der Ressourcen zu berauben, die sie nutzen konnten, um als Kollektiv die Kraft zurückzugewinnen, die ihnen als Individuen verwehrt worden war oder die sie verloren hatten; in der Praxis der lokalen Selbstverwaltung sowohl das »Selbst« als auch die »Verwaltung« eheblich zu beschneiden; viele Ausdrucksformen der unvoreingenommenen Solidarität zu einer Straftat zu erklären; das Personal von Fabriken und Büros, einst Treibhäuser gesellschaftlicher Solidarität, zu Ansammlungen von Individuen zu »deregulieren«, die sich gegenseitig mit Argwohn betrachten und im Stil von Big Brother oder »Jeder für sich, und die Letzten beißen die Hunde« miteinander konkurrieren; oder die verbleibenden Leistungsansprüche, die jedem stolzen Bürger zustehen, zu Stigmata von Untätigen und Außenseitern zu verwandeln, die beschuldigt werden, »auf Kosten des Steuerzahlers« zu leben. Die Innovationen Mrs. Thatchers überlebten nicht nur die Nachfolgeregierungen – sie wurden selten in Frage gestellt und blieben im Großen und Ganzen bis heute unangetastet. Was ebenfalls überlebt hat und gestärkt aus diesen Jahren hervorgegangen ist, sind viele Innovationen Margaret Thatchers in der Sprache der Politik. Heute wie vor zwanzig Jahren tauchen Individuen und ihre Familien im Wortschatz britischer Politiker ausschließlich als Subjekte mit Pflichten und als Objekte berechtigter Besorgnis auf, während sie unter »Gemeinden« hauptsächlich Orte verstehen, an denen von der Great Society auf Geheiß der Regierung vernachlässigte Probleme in Heimindustriemanier angepackt werden müssen (wie etwa im Fall der geistig Behinderten, die aus dem System der staatlichen Gesundheitsversorgung herausgefallen sind, oder im Fall der Notwendigkeit, 189
arbeitslose oder teilzeitbeschäftigte, schlecht ausgebildete Jugendliche ohne Perspektive, denen jegliche Würde verweigert wird, daran zu hindern, »abzudriften« und auf die schiefe Bahn zu geraten). Und je mehr Zeit vergeht, desto stärker gerät die Welt vor der Revolution Thatchers unter älteren Menschen in Vergessenheit, während die Jungen sie nie erlebt haben. Für diejenigen, die ein Leben in dieser anderen Welt nie gekannt haben oder vergessen haben, wie es sich angefühlt hat, scheint es in der Tat, als gäbe es zum heutigen keine Alternative oder als sei jegliche Alternative unvorstellbar geworden. Unter dem Beifall einiger begeisterter Beobachter der neuen Trends wird das Vakuum, das Bürger hinterlassen, die sich in Scharen von den derzeitigen politischen Schlachtfeldern zurückziehen, um als Konsumenten wiedergeboren zu werden, von betont überparteilichem und streng unpolitischem »Verbraucheraktivismus« ausgefüllt. Der Haken ist allerdings, dass diese Art von Ersatz die Zahl der »gesellschaftlich engagierten« Männer und Frauen, die sich mit öffentlichen Problemen befassen und sich engagieren (das heißt, die Eigenschaften haben, die als entscheidende Merkmale von Bürgern einer Polis gelten), nicht erhöht. Die neue Form des Aktivismus mobilisiert einen kleineren Teil des Wahlvolks, als es die traditionellen politischen Parteien – von denen man nicht mehr erwartet, geschweige denn ihnen zutraut, die Interessen ihrer Wähler zu vertreten, und die daher die Gunst der Öffentlichkeit verlieren – in der Hitze von Wahlkampfveranstaltungen derzeit können. Und, so die Warnung Frank Furedis, »Verbraucheraktivismus gedeiht vor dem Hintergrund der Apathie und des Rückzugs aus der Gesellschaft«. Aber kann er die um sich greifende Politikmüdigkeit bekämpfen? Ist er ein Gegenmittel gegen die neue öffentliche Gleichgültigkeit gegenüber Dingen, die einst als gemeinsame und geteilte Probleme betrachtet wurden? Man muss sich klarmachen, so Furedi, dass »die konsumistische Kritik der repräsentativen Demokratie grundsätzlich antidemokratisch ist. Sie basiert auf der Prämisse, dass nicht gewählte Individuen, die ein hochfliegendes moralisches Ziel verfolgen, eher berechtigt sind, im Namen der Allgemeinheit zu handeln, als durch einen fehlerbehafteten politischen Prozess gewählte Politiker. Umweltaktivisten, die ihr Mandat von einem 190
selbstgewählten Netz von Interessengruppen ableiten, repräsentieren einen viel kleineren Kreis als ein gewählter Politiker. Den bisherigen Erfahrungen nach zu urteilen besteht die Antwort des Verbraucheraktivismus auf das reale Problem der demokratischen Rechenschaftspflicht darin, ihm komplett auszuweichen und sich stattdessen für Lobbyismus durch Interessengruppen zu entscheiden.«31 »Es besteht kaum ein Zweifel, dass die Zunahme des Verbraucheraktivismus eng verknüpft ist mit dem Niedergang traditioneller Formen der politischen Partizipation und des gesellschaftlichen Engagements«, urteilt Furedi auf der Basis seiner gründlich dokumentierten Studie. Durchaus bezweifeln kann man dagegen, ob dieser Aktivismus ein gesellschaftliches Engagement in einer neuen Form hervorbringen kann – und zwar in einer Form, die ebenso effektiv die Grundlagen gesellschaftlicher Solidarität aufbauen kann wie es die »traditionellen Formen« vermochten, trotz all ihrer gut dokumentierten Schwächen. »Verbraucheraktivismus« ist ein Symptom der zunehmenden Politikverdrossenheit. Um Neal Lawson zu zitieren: »[D]a sie auf nichts anderes zurückgreifen können, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Leute dann die ganze Idee des Kollektivismus und damit jeden Sinn einer demokratischen Gesellschaft aufgeben und auf den Markt als Vorsorgeinstanz zurückgreifen«32 (und, so möchte ich hinzufügen, auf ihre eigenen Fähigkeiten und Aktivitäten als Konsumenten). Die Indizien sind bisher sicherlich uneindeutig. Einer zu Beginn des Wahlkampfs von 2005 durchgeführten Umfrage zufolge ist »die britische Öffentlichkeit entgegen der allgemeinen Wahrnehmung keineswegs politikmüde. Zu diesem Schluss kommt ein aktueller Bericht der Wahlkommission und der Hansard Society, wonach 77 Prozent der von MORI 33 Befragten Interesse an nationalen Problemen gezeigt haben.« Allerdings, so der Bericht weiter, steht »diesem hohen Niveau an grundsätzlichem Interesse eine Minderheit von 27 Prozent gegenüber, die das Gefühl hat, tatsächlich Einfluss darauf zu haben, wie das 31 Furedi, Consuming Democracy. 32 Lawson, Dare More Democracy, S. 18. 33 MORI (Market & Opinion Research International) ist das zweitgrößte Markt- und Meinungsforschungsinstitut in Großbritannien (Anm. d. Übers.).
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Land regiert wird«.34 Ausgehend von anderen Fällen konnte man daher (zu Recht, wie die Wahlen nach der Umfrage gezeigt haben) mutmaßen, dass die Anzahl der Menschen, die tatsächlich zu den Wahlurnen gehen würden, sich irgendwo zwischen diesen beiden Zahlen einpendeln würde, und zwar näher an der niedrigeren. Die Anzahl derer, die Interesse an einem beliebigen Thema bekunden, das in den Schlagzeilen der Zeitungen oder der Fernsehnachrichten zum »nationalen Problem« stilisiert worden ist, ist sehr viel größer als die Zahl der Menschen, die es der Mühe wert befinden, zum nächsten Wahllokal zu gehen, um ihre Stimme einer der politischen Parteien zu geben, die sich zur Wahl stellen. Und da Schlagzeilen in einer mit Informationen übersättigten Gesellschaft in erster Linie (und wirkungsvoll!) dazu dienen, die Schlagzeilen des Vortags aus dem öffentlichen Gedächtnis zu löschen, haben all die Probleme, die in den Schlagzeilen als von »öffentlichem Interesse« dargestellt werden, eine sehr geringe Chance, vom Zeitpunkt der letzten Meinungsumfrage bis zum Zeitpunkt der nächsten Wahlen zu überleben. Vor allem passen in der Ära der pointillistischen Zeit diese beiden Dinge – das Interesse für »nationale Probleme«, die man im Fernsehen oder auf den Titelseiten der Tageszeitungen findet, und die Teilnahme am derzeitigen demokratischen Prozess – in den Köpfen der steigenden Anzahl von in Konsumenten verwandelten Bürgern einfach nicht zusammen. Letztere, eine langfristige Investition, die Zeit braucht, um zu reifen, erscheint nicht als relevante Reaktion auf Ersteres, ein weiteres »Infotainment-Event«, das weder Wurzeln in der Vergangenheit hat noch einen festen Halt in der Zukunft. Die Website des Guardian teilte am 23. März 2004 unter der Rubrik »Studenten« mit, dass »der Studentenredaktion der Lloyds TS B / Financial Mail on Sunday zufolge drei Viertel (77 Prozent) der Universitätsstudenten im ersten Jahr kein Interesse zeigen, an politischen Protesten teilzunehmen […] während 67 Prozent der Studienanfänger glauben, dass Studentenproteste ineffektiv sind und nichts bewirken«. Jenny Little, Herausgeberin der Studentenseite der Financial Mail on Sunday, wird mit den Worten zitiert: »Studenten müssen heute mit einer Menge Schwierigkeiten zurechtkommen – mit dem Druck, 34 Vgl. www.politics.co.uk (1. März 2005).
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einen guten Abschluss zu machen, mit der Notwendigkeit, nebenher zu arbeiten, um sich zu finanzieren, und Praxiserfahrungen zu sammeln, um sicherzustellen, dass sich ihr Lebenslauf von der Masse abhebt […]. Es ist wenig überraschend, dass Politik in dieser Generation auf der Liste der Prioritäten ganz unten landet, obwohl sie in Wirklichkeit nie wichtiger gewesen ist.«35 In einer Studie, die sich mit dem Phänomen der politischen Apathie beschäftigt, äußert Tom DeLuca die Ansicht, dass diese Apathie nicht für sich genommen ein Problem ist, sondern »eher ein Hinweis auf andere: wie frei wir sind, wie viel Macht wir wirklich haben, wofür man uns zu Recht verantwortlich machen kann, ob unsere Politiker gute Dienste leisten […]. Sie impliziert einen Zustand, unter dem man leidet.«36 Politische Apathie »ist ein Geisteszustand oder ein politisches Schicksal, das von Kräften, Strukturen und Institutionen oder von der Manipulation durch Eliten verursacht ist, auf die man wenig Einfluss hat und über die man vielleicht auch nur wenig weiß«. DeLuca analysiert alle diese Faktoren genau, um ein realistisches Porträt davon zu zeichnen, was er »das zweite Gesicht der politischen Apathie« nennt – wobei das »erste Gesicht« verschiedenen Politologen zufolge ein Ausdruck der Zufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation beziehungsweise mit der Ausübung des Rechts der freien Wahl ist, und (wie Bernhard Berelson, Paul Lazarsfeld und William McPhee in ihrer klassischen Studie »Voting« von 195437 festgestellt haben, die später von Samuel Huntington aufgegriffen wurde) generell ein Phänomen, das »gut für die Demokratie« ist, weil es »dafür sorgt, dass die Massendemokratie funktioniert.« Wenn man jedoch die gesellschaftlichen Realitäten, auf die die zunehmende politische Apathie hinweist und die sie anzeigt, vollständig entschlüsseln wollte, dann müsste man selbst hinter dieses »zweite Gesicht« blicken, das, wie Tom DeLuca zu Recht moniert, vom Mainstream der politischen Wissenschaften in unangemessener Weise vernachlässigt oder nur flüchtig skizziert worden ist. Man müsste sich der früheren Bedeutung von »Demokratie« erinnern, die sie einst zu 35 Guardian, 23. 3. 2004. 36 DeLuca, The Two Faces, S. 8, 11. 37 Berelson/Lazarsfeld/McPhee, Voting.
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einem Schlachtruf eben jener »benachteiligten und leidenden Massen« machte, die sich heute von der Ausübung ihrer mühsam erkämpften Wahlrechte abwenden. Sie sind zuallererst Konsumenten – Bürger (wenn überhaupt) nur an weit abgeschlagener zweiter Stelle. Um Ersteres wirklich zu werden, bedarf es eines Ausmaßes von permanenter Wachsamkeit und Anstrengung, das für die Aktivitäten, die Letzteres erfordern würde, kaum Zeit lässt. Filip Remunda und Vit Klusák, Studenten der vom tschechischen Kulturministerium finanzierten Prager Filmhochschule, haben vor einigen Jahren einen höchst ungewöhnlichen Film mit dem Titel »Tschechischer Traum« gedreht und produziert: eigentlich nicht nur ein Dokumentarfilm, sondern ein großangelegtes soziales Experiment und ein Versuch der Abbildung der gesellschaftlichen Realität, der gewissermaßen die Fiktion enthüllt, die sich hinter den berüchtigten »RealityTV-Shows« verbirgt. Remunda und Klusák kündigten im Rahmen einer intensiven, landesweiten Werbekampagne die bevorstehende Einweihung eines neuen Supermarkts an. Die Kampagne, mit deren Planung und Durchführung eine Werbeagentur beauftragt wurde, war für sich genommen ein Meisterstück der Vermarktungskunst. Sie begann mit der Verbreitung von Gerüchten über ein angeblich streng gehütetes Geheimnis: Ein mysteriöser, außergewöhnlicher Konsumtempel, der derzeit an einem geheimen Ort gebaut werde, werde demnächst für Konsumenten zugänglich sein. In den folgenden Phasen störte und unterbrach die Kampagne bewusst die Einkaufs-/Konsumroutine der Zuschauer, indem sie sie dazu aufrief, über ihre tagtäglichen, stumpfsinnigen und monotonen Einkaufspraktiken nachzudenken, und verwandelte dadurch diese bislang unhinterfragten und gewohnheitsmäßigen Aktivitäten in Dinge, über die man sich Gedanken machen sollte. Dies wurde erreicht, indem die »Zielgruppe« der Werbekampagne dazu veranlasst wurde, innezuhalten und nachzudenken, und indem mit Slogans wie »Hör auf, Geld auszugeben!« oder »Kauf das nicht!« angedeutet wurde, dass der Augenblick gekommen sei, die Bedürfnisbefriedigung hinauszuzögern (wie ungewöhnlich!); und indem anschließend nach und nach die Neugier angefacht und die Spannung aufgebaut wurde, indem man immer verlockendere Informations194
schnipsel über die Freuden durchsickern ließ, die jene erwarteten, die bereit waren, die Erfüllung ihrer Wünsche bis zur Eröffnung des mysteriösen, brandneuen Supermarkts zu verschieben. Der Supermarkt, das dahinterstehende Unternehmen samt Logo und die Wunder, die dieses Unternehmen anbieten sollte, waren alles reine Erfindungen der Filmemacher. Aber die Spannung und Gier, die sie auslösten, waren absolut real. Am angegebenen Morgen und am angegebenen Ort, der schließlich auf Hunderten von Plakaten in der ganzen Stadt enthüllt wurde, versammelten sich Tausende von Konsumenten, bereit, in Aktion zu treten, nur um einen langen Streifen verwahrlosten, ungemähten und ungepflegten Rasen vorzufinden, an dessen Ende der Umriss eines bunt und kunstvoll bemalten Gebäudes zu sehen war. Da jeder der Tausenden von gierigen Kunden den Eingang unbedingt als Erster erreichen wollte, rannte die Menge keuchend durch das feuchte Gras – nur um an einer gemalten, von einem riesigen Gerüst aufrecht gehaltenen Fassade anzulangen, die offensichtlich provisorisch errichtet worden war und hinter der sich nichts weiter verbarg als ein weiterer Streifen von ebenso ungemähtem, ungepflegtem, wild wucherndem und verwahrlostem Gras … Als hätte er eine plötzliche Vision gehabt, hielt Günther Anders vor 50 Jahren fest: »Vielmehr gibt es keinen Zug, der für uns Heutige so charakteristisch wäre wie unsere Unfähigkeit, seelisch ›up to date‹, auf dem laufenden unserer Produktion zu bleiben, also in den Verwandlungstempo, das wir unseren Produkten selbst mitteilen, auch selbst mitzulaufen und die in die (›Gegenwart‹ genannte) Zukunft vorgeschossenen oder uns entlaufenen Geräte einzuholen. […] Es wäre ja durchaus nicht unmöglich, daß wir, die wir diese Produkte herstellen, drauf und dran sind, eine Welt zu etablieren, mit der Schritt zu halten wir unfähig sind, und die zu ›fassen‹ die Fassungskraft, die Kapazität sowohl unsere Emotionen wie unserer Verantwortung überforderte.«38
38 Anders, Antiquiertheit des Menschen, S. 15, 17f.
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