Laurence Sterne im Lichte seiner Zeit [Reprint 2020 ed.] 9783112341308, 9783112341292

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Laurence Sterne im Lichte seiner Zeit [Reprint 2020 ed.]
 9783112341308, 9783112341292

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Britannica H e r a n s g e g e b e n vom S e m i n a r fiir e n g l i s c h e S p r a c h e und K n l t n r an der H a n s i s c h e n U n i v e r s i t ä t H e f t 10

Laurence Sterne im L i c h t e s e i n e r Z e i t

Von

Rudolf Maack

F r i e d e r i c h s e n , d e G r u y t e r & Co. m. b. H. / H a m b u r g

1936

Inhalt EINLEITUNG Grundlagen „Imitation" und „Imagination" am Ausgang der klassizistischen Ästhetik Neue Ziele Natur Einfachheit Neue Wege Neue Ausdrucksmittel in der Oper Neue Ausdrucksmittel im Tanz Neue Ausdrucksmittel im Schauspiel STERNES MENSCHENBILD Sternes Problem Die Mittel des einfachen Ausdrucks Der Wert des einfachen Ausdrucks Der doppelte Sinn des einfachen Ausdrucks Sterne und seine Geschöpfe Methode der Charakteristik Demut Einfachheit Zartheit Tapferkeit „Humour" „Sensibility" Empfindsamkeit („Sentimentality") Anempfindung („Sentimentalität") STERNES DENKEN Religion Religion und Moral Verhältnis zum Deismus Verhältnis zur Antike Philosophie Herz und Kopf Verhältnis zum Wissen Verhältnis zur Natur Bekenntnis zu Locke „Wit" und , J u d g m e n t " Psychologie des Charakters Körper und Seele Phantasie und Wirklichkeit Kunst Genie und Regel Gefühl und Verstand Originalität „Plagiate" Erhabene Einfachheit Kunst und Moral

7 7 13 14 18 18 21 23

29 29 31 32 34 34 38 42 44 46 50 53 a5 60

65 66 66 69 70 70 72 76 77 79 81 84 86 89 89 92 96 96 100 102

STERNES KUNST Stil

Das Problem des Ausdrucks Die Leistung des Ausdrucks Cesprächsstil Form Freiheit der Form Poetische und reale Zeit Die Digressionen Illusion und Wirklichkeit Verhältnis zu den literarischen Quellen Französische Vorbilder Shakespeare und Cervantes Zeitgenössische Literatur Englands Verhältnis zur Malerei Hogarth Reynolds Gainsborough Verhältnis zur Musik Balladen-Oper Singspiel Die neue Instrumentalmusik Verhältnis zum Schauspiel Wort und Geste Inneres und Äußeres Einheit und Mehrdeutigkeit Verhältnis zum Tanz Ballettreform in Frankreich Naturtanz bei Sterne Sterne und die Künste seiner Zeit

103 103 106 Hl 115 Hg 118 121 121 122 123 126 139 I45

155 I59 161

SCHLUSS Sterne, der Künstler und der Mensch

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LITERATURVERZEICHNIS

169

ANHANG: BELEGE DER ZITATE

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Yorik-Sterne war der schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn liest, fühlt Bich sogleich frei und schön; sein Humor ist unnachahmlich, und nicht jeder Humor befreit die Seele. G o e t h e in „Makariens Archiv" 1828.

Einleitung. Henry Fielding hat im „Tom Jones" den Eindruck festgehalten, den David Garrick als Hamlet in der Szene mit dem Geist gemacht hat. Er beschreibt, wie ein einfacher Mann im Publikum den Schrecken Hamlets auf das heftigste miterlebt. Dieser erschütterte Zuschauer, am Ende der Vorstellung um seine Meinung über die Leistung der Schauspieler gefragt, weiß gleichwohl an Garricks Darstellung nichts Rühmenswertes zu finden. Die laute Deklamation der anderen Spieler erntet sein Lob; aber Garrick ist ihm zu wenig theatermäßig, zu natürlich. „Why, I could act as well as he myself. I am sure, if I had seen a ghost, I should have looked in the very same manner, and done just as he did" 1 . Sir Joshua Reynolds hat diese Anschauung, daß Garricks Spiel täuschend natürlich gewesen sei, in der dreizehnten seiner Akademiereden ausdrücklich zurückgewiesen. „The world is filled with false criticism. Raffaelle is praised for naturalness and deception, which he certainly has not accomplished, and as certainly never intended; and our late great actor, Garrick, has been as ignorantly praised by his friend Fielding; who doubtless imagined he had hit upon an ingenious device, by introducing in one of his novels an ignorant man, mistaking Garricks representation of a scene in Hamlet for reality. . . . The merit and excellence . . . of Garrick . . . is of a different and much higher kind." Wenn Garricks Spiel von Fielding als wirklichkeitsnahe und von Reynolds als wirklichkeitsfern gepriesen wird, so drängt sich die Vermutung auf, daß Garrick einmal so und einmal anders gespielt habe oder daß Fielding, der 25 Jahre vor Garrick starb, und Reynolds, der Garrick um 13 Jahre überlebte, sich auf verschiedene Stadien von Garricks künstlerischer Entwicklung beziehen. Allerdings haben sie verschiedene Fassungen des Hamlet gesehen. Fielding schildert im „Tom Jones" noch die Totengräberszene, die Garrick in seiner eigenen Fassung von 1770 fallen ließ. Indessen ist Garricks Spiel vom ersten bis zum letzten Jahre

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K u n s t als N a c h a h m u n g und als V e r b e s s e r u n g der Natur

seines Auftretens in seiner künstlerischen Eigenart das gleiche geblieben, wie aus den Äußerungen der Zuschauer unten belegt werden soll. Wenn nun das gleiche Spiel Garricks für Fielding eine beängstigende Wirklichkeit, für Reynolds eine wirklichkeitsferne Kunstleistung bedeutete, so bleibt noch die Möglichkeit, daß gegenüber dem feurigen Fielding der beherrschte Reynolds ein kühlerer und weniger beeindruckbarer Zuschauer gewesen sei. Allein 6chon die Nachricht, daß Reynolds sich von Garricks Lear erst nach drei Tagen erholen konnte 2 , verbietet eine solche Annahme. Nicht also Unterschiede der Erfahrungen oder der Temperamente spiegeln sich in der verschiedenen Beurteilung von Garricks Spiel, sondern ein Unterschied in der Auffassung der Kirnst und ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit. Reynolds hat zu diesem Thema in seinen Akademiereden häufig Stellung genommen. Wenn er Garrick ein weit höheres Verdienst als das der Wirklichkeitsillusion nachrühmt, so stimmt das mit zahlreichen seiner Äußerungen überein, in denen er das Verhältnis der Kunst zur Natur zu bestimmen sucht. Die Malerei soll nicht die „external nature" nachahmen 3 , sondern die „general näture" und damit die „ideal beauty" anstreben 4 . Das ist dem Maler möglich, wenn er vom Zufälligen in der Natur absieht und ihren unvollkommenen Zustand in einen vollkommenen verwandelt 5 . „Nature to advantage dress'd" 6 ist ihm der Gegenstand der Kunst. Mit dieser Anweisung, die Natur auszuwählen und zu erhöhen, mit der Ablehnung der äußeren Natur, d. h. der Wirklichkeitsnachahmung, und nicht minder mit der stillschweigenden Zitierung Popes („Nature to advantage dress'd") greift Reynolds Problemstellungen und -formulierungen auf, die der englischen Ästhetik seit langem geläufig sind. Ebenso unauffällig, wie hier Pope zitiert ist, wird das Gedankengut anderer Kritiker und Ästhetiker übernommen, die das Verhältnis von Kunst und Natur, sei es im Sinne von Fieldings, sei es im Sinne von Reynolds' Äußerung über Garricks Spiel, erörtert haben. Die Frage nach der Aufgabe der Kunst und die Lösungen, die um die Begriffe der Naturnachahmung sich gebildet haben, sind allerdings nicht vom 18. Jahrhundert erst in Angriff genommen worden. Jedoch ist hier nicht die Geschichte der ästhetischen Begriffe selbst zu umreißen, sondern die Geschichte ihrer Auswirkung und Verarbeitung in einer bestimmten künstlerischen Sphäre und einer bestimmten Epoche. Deshalb soll von der Grundlegung der ästhetischen Begriffe abgesehen werden, die Aristoteles mit der Definition der Kunst als einer Nachahmung 7 , mit der Forderung der Darstellung des Wahrscheinlichen und Notwendigen^ und mit der Anweisung des Tragödiendichters zur Überhöhung des Individuellen ins Ideale 9 für alle Zeiten geliefert hat. Es darf vielmehr genügen, die Begriffe dort aufzusuchen, wo Fielding und Reynolds mit ihren Zeitgenossen sie aufgesucht haben, wenn sie sich auf ihre Quellen berufen wollten.

Die klassizistische Kunstauffassung

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Um die Mitte des 18. Jahrhunderts pflegten die englischen Künstler und Kunsttheoretiker sich auf Pope zu berufen, soweit sie Literaten waren, auf Batteux, soweit sie Musiker, auf De Piles, soweit die Maler waren. Sie taten das mit einer solchen Selbstverständlichkeit, daß sie in den meisten Fällen ihre Zeugen bei Namen zu nennen nicht für nötig befanden. Pope, De Piles und Batteux sind weder jeder für sich noch zusammengenommen eine ideelle oder gar systematische Einheit. Noch weniger sind sie originell. Pope ist Boileau und damit Horaz und Vida, De Piles ist Dufresnoy, Batteux ist Bouhours, Crousaz und Dubos tief verpflichtet. Aber jene drei jüngeren sind es, die den Problemen ihre faßlichste und sichtbarste Prägung verliehen und damit am stärksten gewirkt haben. Wir können ihre Vorstellung vom Verhältnis der Kunst zur Natur als durchgehendes Ganzes betrachten und behandeln. Ihnen gemeinsam ist der Kernbegriff der „belle nature", die die Kunst nachahmen soll, das aus vielen unvollkommenen Einzelfällen zusammengetragene Modell, mit dem wir uns über die gewöhnliche Natur erheben. Hierin ist die Antike dem Künstler das Vorbild. Sie ist ihm der Mittler zur Natur. In ihrem Sinne soll die Natur ausgewählt und erhoben werden 10 . Diesem künstlerischen Objekt entspricht das Subjekt. Der wahre Künstler erfindet nicht einen neuen Gegenstand, sondern er erkennt nur, wie er wirklich ist. Wie das Universum nur erschafft, was ihm als Same innewohnt, so entdeckt das „Genie" nur, was schon vorhanden ist 1 1 . Dazu helfen ihm Studium und Nachdenken, ohne die das Genie wild wuchert und keine Früchte trägt 1 2 . Glücklicher als das Genie selbst ist derjenige, der durch Kenntnisse seine Gaben sichert 1 3 . Das Genie bedarf zur Erkenntnis und Nachahmung des wahren Schönen allerdings der Hilfe der „Inspiration", d. h. einer lebendigen geistigen Vorstellung des Gegenstandes und einer ihm gemäßen Empfindung 1 4 . Aber auch die Einbildungskraft kann schließlich nur hervorbringen, was wir wissen und gesehen haben 1 5 . Und die erste und letzte Formel, die den künstlerischen Vorgang umfassen soll, lautet: „Le Génie n'a pu produire les arts que par l'imitation 1 6 ". So stellte sich die klassizistische Kunstauffassung den Nachfahren dar, und in diesem Sinne wurden Pope, De Piles und Batteux von ihnen gelesen. Es darf indessen nicht übersehen werden, daß das Bild der klassizistischen Ästhetik im Ganzen und im Einzelnen keineswegs so einheitlich und geschlossen ist wie es den Nachfahren erschien. Selbst von den drei zitierten Kronzeugen ist jeder so vieldeutig, daß man unter ihnen den reinen Fall eines „Rationalisten" vergeblich suchen würde. Bei allen dreien stoßen wir auf Äußerungen im Sinne der von der Renaissance entwickelten und unterirdisch immer fortlebenden Vorstellung von schöpferischer Spontaneität, die das Bild entscheidend beeinflussen. Wir begnügen uns mit je einem Beispiel. De Piles' Anweisung, die Begeisterung durch das Studium guter Vorbilder und guter Lektüre richtig anzuleiten, mündet

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A n t i r a t i o n a l i s t i s c h e Züge in d e r k l a s s i z i s t i s c h e n

Kunsttheorie

unversehens in den Ausspruch, daß eine Begeisterung mit Mängeln einem mittelmäßigen Richtigen immer vorzuziehen sei*. Bei Pope ist es der gleiche Begriff der Inspiration, der ihm aus dem klassizistischen System entschlüpft. In der Einleitung zu seiner Shakespeare-Ausgabe heißt es: „The poetry of Shakespeare was inspiration indeed: he is not as much an imitator as an instrument of nature." Bei Batteux endlich bekommt das kunstvoll aufgebaute System der Affektenlehre einen überraschenden Abschluß. Wir erfahren, daß im Gesang die Passions abgebildet sein sollen, daß aber nur wenige von ihnen klar zu erkennen sind. Bei den übrigen genügt es, sie zu fühlen, ohne daß man sie bezeichnen könnte. Denn das Herz versteht ohne Worte; „et quand il est touche, il a tout compris." So hilft, schließt Batteux ausdrücklich, keine geometrische Berechnung wenn die Musik nicht zum Herzen spricht 1 7 . Solche aus vielen Beispielen herausgegriffenen Fälle zeigen, daß die Vorstellung vom Künstlerischen auch bei den Klassizisten im Flusse geblieben ist; und wenn man die regelwidrigen Äußerungen nicht nach ihrer Zahl, sondern nach dem Gewicht bewertet, das sie in einer Zeit der klassizistischen Oberströmung besitzen, so stellt sich das Ergebnis noch bunter dar, und man erkennt, daß auch die bezeichnendsten Vertreter der klassizistischen Ästhetik das Geheimnis des Schöpferischen immer gewußt (und vielleicht nur desto sicherer geschützt) haben. Gewiß bleiben Unterschiede der Haltung bestehen. Aber sie reichen nicht aus, Fronten zu bilden; denn die Linien überschneiden sich schon innerhalb einer einzelnen Figur. Es ist bezeichnend, daß die zukunftskräftigsten Keime zur Überwindung der klassizistischen Kunstauffassung sich bei dem Autor einer klassizistischen Tragödie und eines klassizistischen Opernbuches entwickeln: bei Joseph Addison. In Addisons Essays „On the Pleasures of the Imagination", die sich über elf Nummern des Spectator erstrecken, sind die gleichen ästhetischen Fragen angeschnitten und auch hier unter den Begriffen von Naturnachahmung, Genius und Imagination. Die Kunst soll dasjenige in der Natur nachahmen, was „grand and august" ist, um „a nobler and more exalted kind of pleasure" zu erzeugen 1 8 . „It is the part of a poet to humour the imagination in its own notions, by mending and perfecting n a t u r e . . . and by adding greater beauties than are put together in nature" 1 9 . Wenn in dieser Auswahl und Vervollkommnung der Natur schon eine schöpferische Leistung der Imagination anerkannt zu sein scheint, so darf man darüber nicht vergessen, wie schwer es Addison wurde, ihr ausdrücklich eine derartige Vollmacht zuzugestehen. E r hat über die Kraft und das Recht der Imagination innerhalb dieser elf Essays verschiedene Meinungen geäußert, die sich in folgender Reihe vom mehr passiven zum mehr aktiven * De Piles a. a. O. 97. Angelehnt an den Satz des Longinus (itspi üiouc; Kap. 3 3 ) : eine Erhabenheit, die gelegentlich Fehler begeht, ist besser als eine fehlerlose Mittelmäßigkeit.

Addisons W ü r d i g u n g der

Imagination

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Begriff der Imagination anordnen lassen. Wir lesen zunächst von den „innocent pleasures of fancy", die „conducive to health" sind 2 0 . Diese Vergnügungen rühren daher, daß der „mind" die „ideas", die die Worte erregen, mit denen vergleicht, die die Gegenstände selbst erregen; „fancy" ist hier noch kaum von „understanding" getrennt 2 1 . Gegenüber der reichen Natur ist die Kunst „defective" 2 2 , wohl weil der Körper die Seele hindert, vielleicht weil das Gehirn zu eng ist oder die „animals spirits" zu unbeweglich sind 2 3 . Die Imagination selbst kann nichts erzeugen, was nicht vorher vom Auge aufgenommen wäre 2 4 . „Enlarge, compound and vary the ideas" 2 5 und „range them together" 2 6 ist ihre ganze Tätigkeit. Indessen bleibt es nicht bei dieser Auffassung. „The poet seems to get the better of nature; he takes the landscape after her, b u t . . . he heightens its beauty", ,,give9 us as free a view of it as he pleases", indem er uns entdeckt, was wir nicht beachtet haben 2 7 . Ja, die Imagination erregt in uns „many of those ideas which are different from anything that exists in the objects themselves (for 6uch are light and colours)" 2 8 . Wenn Addison mit den „animal spirits" noch in Descartes' Psychologie verharrte, so bedient er sich nun (und ausdrücklich) der Erkenntnisse Lockes. Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zu der Anerkennung: der Dichter „has tlife modelling of nature in his own hands and may give her what charms he pleases, provided he does not reform her too m u c h " 2 9 , eine Freiheit, die besonders für „the fairy way of writing" eingeräumt wird, wo der Künstler „no pattern to follow" hat und „altogether out of his own invention" schaltet und wo es dazu kommen kann, daß das Übernatürliche uns natürlich scheint, wie es bei Shakespeare der Fall ist 3 0 . Die Formulierungen Addisons verdienen nicht um ihrer selbst willen eine so ausführliche Zitierung. Addison ist in ihnen so wenig originell wie die anderen Ästhetiker um ihn. Er nimmt manches auf, was Rowe schon vorher gesagt h a t 3 1 , und auch Popes Essay on Criticism liegt vor den zitierten Essays Addisons. Nirgends erreicht er den freien Begriff der Dichtung, der die Renaissancetheoretiker noch ausgezeichnet hatte. Er bleibt weit entfernt von einem so mächtigen Worte wie etwa Drydens „Shakespeare . . . had the largest and most comprehensive soul" 3 2 . Und doch ist Addisons bunter und unterschiedlicher Auffassung der Imagination eine stärkere Wirkung vergönnt gewesen als Drydens größeren und tieferen Erkenntnissen. Denn Addison erschloß mit dem Spectator ein ganz neues Publikum. E r sprach zu den Gebildeten aller Stände, zu den Künstlern aller Gattungen. Von hier drangen die Probleme ins allgemeine Bewußtsein; und daß sie die philosophische Anlehnung an Locke bewahrten, sicherte ihnen den Anschluß an die allgemeinen Probleme der Zeit. Bis über die Mitte des Jahrhunderts hinaus werden dann die Fragen hin und her gewendet, und überall ist die Beziehung auf ihre Behandlung in den moralischen Wochenschriften fühlbar. Noch um die Mitte des Jahrhunderts finden wir in England kaum neue Gesichtspunkte; vielmehr

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Wendung gegen die Nachahmungstheorie. Burke: Erhabenheit, Young: Originalität

werden die Auffassungen Addisons nur nach den verschiedenen Richtungen hin ausgedeutet, die ihnen innewohnen. Es weitet sich die Spannung der Begriffe, es bilden sich Akzente heraus, ohne daß eine offene Trennung etwa des Begriffs der nachahmenden von dem der schöpferischen Imagination oder des Begriffs der schlichten von dem der erhabenen Naturnachahmung stattfände. Erst in Edmund Burke und Edward Young entscheiden sich die Fragen soweit, daß sich Ansätze zu verschiedenen Richtungen herausbilden. Burke und Young fordern gemeinsam gegenüber dem bloßen Nachahmen von Autoren die Nachahmung der Natur selbst*. Aber sie trennen sich sogleich bei der Frage, wie die Nachahmung der Natur zu verstehen sei. Burke drängt überall auf eine Erhöhung des Natürlichen zum Großen, Dunklen, Unklaren; Young sucht überall im Natürlichen das unbeschwerte und herzliche Einfache. Burke will die Natur zum Übernatürlichen hin gesteigert, Young sie zum gesunden Verstand hin gemildert sehen. Burke will das Erhabene, Young das Originale**. Schon hier, in dieser Gegenüberstellung, spiegeln sich die Auffassungen von Fiel ding und Reynolds über Garricks Spiel deutlich wider. Zwar bleibt auch jetzt noch vieles unentschieden; und manches Charakteristische ist nicht so sehr im Wortlaut der Begriffe zu fassen als in der menschlichen und künstlerischen Grundeinstellung, die sich hinter ihnen verbirgt. Wie bunt es sogar noch innerhalb des Bewußtseins des einzelnen Autors aussieht, davon geben etwa Burkes Äußerungen über den Begriff der Imagination eine Anschauung. In der Einleitung zu seiner Inquiry ist die Imagination „a sort of creative power"; aber das heißt nur, daß sie die Ideen, die uns die Sinne liefern, frei kombinieren und variieren kann; denn sie ist „incapable of producing anything absolutely new"***. Diesem von Locke beeinflußten Bild der Imagination tritt jedoch am Ende der Inquiry eine ganz freie Auffassung der Poesie entgegen, wo ihr zugestanden wird, daß sie, genau genommen, überhaupt keine Nachahmung der Natur sei, daß jedenfalls alle „descriptive poetry operates chiefly by substitution" 3 3 . Mit dieser Erkenntnis, daß Poesie nicht imitiert, sondern substituiert, dringt Burke * Burke. On the Sublime and Beautiful. Part. I. Sect. X I X : Er bedauert, daß die Künstler „have been rather imitators of one another than of nature". Young. On Original Compositions. 9 : „Imitations are of two kinds: one of nature, one of authors. The first we call originals and confine the term imitation to the second." ** Burke a . a . O . Part I. Sect. V I I : „Sublime" ist „the strongest emotion which the mind is capable of feeling." Part. II. Sect. I — X I V : Astonishment, Terror, Obscurity, Power, Greatness, Infinity, Difficulty, Magnificence, Darkness als Elemente des „Sublime". Young a. a. O. 22: „As far as a regard to nature and sound sense will permit a departure from your great predecessors: so far ambitiously depart from them." A. a. 0 . 85: „As what comes from the writer's heart, reaches ours; so what comes from hi9 head, sets our brains at work and our hearts at ease." *** Die Einleitung („On Taste") ist erst der 2. Ausgabe der Inquiry 1757 hinzugefügt, während die Inquiry 1756 veröffentlicht und wohl 1747 geschrieben wurde.

Erstarkung des Natur-Begriffes

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weit über seinen Begriff der bloß kombinatorischen Imagination zur Anerkennung des Schöpferischen in der Kunst vor. Wenn damit an einigen bezeichnenden Fällen daran erinnert sein möchte, daß die Problemstellungen und ihre Lösungen schon innerhalb der klassizistischen Auffassung sich in der Schwebe halten und daß erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts sich Fronten in England herausbilden, so soll nun ein ebenso flüchtiger Blick auf die Sphäre der eigentlichen künstlerisch-praktischen Auseinandersetzung darüber Aufschluß geben, wo und wie sich innerhalb der umrissenen Epoche und ihrer Ästhetik die neuen Elemente entwickeln, die den folgenden Jahrzehnten das Gepräge geben. Daß auch diese Vorgänge in ihren Einzelphasen häufig (unbewußt) unter verkehrten Zeichen geführt werden, macht das Bild nur reizvoller. Wie wenig befriedigend die ganze Nachahmungstheorie ihren eigenen Vertretern war, erhellt daraus, daß viele von ihnen versuchen, die ihnen ajn nächsten stehende Kunstgattung von ihr auszunehmen. Es wurde schon angeführt, daß Pope im Vorwort zur Shakespeare-Ausgabe von seinem Dichter sagt: „he is not as much an imitator as an instrument of nature" und daß Burke die ganze Poesie als nicht nachahmend empfindet. So ist bei Batteux die Lyrik nicht Nachahmung, sondern selbst Natur, stammt aus ihr und ist ihr Laut, so wie in Moses Gott widertönt34. Und für den Tänzer Noverre, der im übrigen mit Batteux Naturnachahmung fordert, ist das Ballett, als einzige unter den Künsten, keine Nachahmung, sondern Natur selbst, durch Reize der Kunst verschönt35. In diesen Einschränkungen kündigt sich zugleich der Wandel an, den der Begriff „Natur" durchmacht und der an einigen Äußerungen zu belegen ist, die im Kampf um die Kimstregeln geschehen. Eine der frühesten und die wirksamste dieser Formulierungen findet sich in Addisons Aufsatz über das Genie im Spectator, wo er die beiden Typen des „natural genius" und des „learned genius" aufstellt 36 . Zwar hat er weder die Freiheit des Blickes und das Vertrauen zum eigenen Urteil, noch ist die Stimmung der Zeit danach, daß er an Drydens einfaches und großes Wort heranreichte, das jener an das Ende einer verwandten Unterscheidung gesetzt: „I admire him [i. e. Ben Jonson], but I love Shakespeare"37. Addison bleibt äußerlich bei einer gleichen Bewertung beider Typen stehen, wenn auch seine Zuneigung zum „natural genius" fühlbar ist, dem etwas innewohnt, „that is infinitely more beautiful than all the turn and polishing of what the French call a bei esprit". Wie hier das Wort „nature" im Sinne von ungebändigter Urwüchsigkeit gegen eine nach Regeln zugestutzte Künstlichkeit ausgespielt wird, so wiederholt es sich in Addisons Eintreten für den regellosen französischen gegenüber dem geometrisch geschnittenen englischen Garten seiner Zeit38. Der Begriff von Natur wird immer kräftiger und selbständiger und wird schließlich im Sinne des unerschöpflichen Lebens selbst gebraucht und von den

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Forderung nach Einfachheit schon bei den Klassizisten

Werken getrennt, die dieses Leben einzufangen bemüht sind und von denen Pope noch sagen konnte: „to copy nature is to copy them." Nun spricht Henry Home, Lord Kames, es aus, daß wir nicht bei Aristoteles, Homer und Virgil, sondern nur in der Natur selbst Kunstgesetze suchen dürfen 3 9 . Und zur gleichen Zeit hat Young seinen Begriff der Originalität in diesem neuen Naturbegriff verankert, den seine Anweisung über die rechte Art der Nachahmung Homers zu erkennen gibt: „Drink where he drank . . . at the breast of nature" 4 0 . Die Natur, die damit hinter den Werken der Antike wieder heraustritt und unmittelbar angeschaut werden soll, dieser umfassende Inhalt, in dem Außen- und Innenwelt, der Kosmos und der Mensch mit seinem Denken und Fühlen, eingeschlossen sind, bleibt weiterhin Ziel und Vorbild aller Kunst und damit ein proteischer Begriff, der bei jedem Künstler etwas anderes bezeichnet. Werden die ästhetischen Schriften daraufhin betrachtet, was sie unter Natur verstehen, so findet sich ein wiederkehrendes Wort, an dessen Bedeutungswandel die weitere Entwicklung des Naturbegriffee mit zu fassen ist: das Wort „Simplicity". Das Wahre der Natur liegt in ihrer Simplizität — so behaupten die klassizistischen Theoretiker aller Künste; und fast überall folgt dem ein Hinweis auf das Vorbild der Antike. Indessen schon in John Richardsons „Essay on the Theory of Painting" und bei Batteux wird der Begriff der Simplizität mit einem neuen Unterton gebraucht, indem er der Pracht und dem Schmuck entgegengestellt wird; er nimmt neben der Bedeutung des Klaren, Einfachen die des Schlichten, Ungezierten an. Deutlicher noch als in Batteux' Widmung seines Werkes mit dem Satze „Tout s'y reduit au goüt du vrai, du simple, au goüt de la nature paree de ses graces, sans la moindre affectation" wird das in Richardsons Kapitel über das Erhabene mit seiner Wendung zu Knappheit und Schlichtheit: „Simplicity and brevity, even one word has sometimes more force and beauty than the most magnificent and sonorous language and the most harmonious periods"*. So wie Dichtung und Malerei das schmucklose Erhabene mit der Simplizität anstreben, so auch die Musik. Die früheste englische Musikästhetik dieser Epoche, der Essay von Charles Avison geht in seinem Kapitel über den musikalischen Ausdruck einen gleichen Weg: „A pompous display of art will destroy its own intentions. . . . One of the best rules, perhaps, that can be given for musical expression, is that which gives rules to the pathetic in every other art, an unaffected strain of * Richardson. Essay on the Theory of Painting. 238. Eine wörtliche Anlehnung an Longinus Kap. 31. Bei Richardson a . a . O . 235 lesen wir ferner: „The language of the sublime must be the most excellent; what this is, is the question: whether it be confined to the florid, to magnificent and sonorous words, ,tours', figures etc., or whether brevity, simplicity or even common and low words are the best on some occasions." Wie tief Richardson den Begriff des Klaren und Einfachen versteht, erhellt daraus, daß er al6 Beleg den Satz des Prospero aus Shakespeares Sturm heranzieht: „We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with u sleep."

jRousseaus F o r d e r u n g nach Einfachheit in K u n s t und L e b e n

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nature and simplicity"*. Es ist zugleich das Klare und Schlichte, zu dem noch Gluck sich bekennt, als er seiner Alceste-Partitur das Horaz-Motto „Simplex et unum" voranstellt. Neben diesem auch in seinen Ausweitungen immer noch klassizistischen Begriff der Simplizität entwickelt sich ein anderer, der aus nicht-antikischen und sogar aus nicht-ästhetischen Quellen fließt und der erst später die künstlerische Sphäre berühren und entscheidend beeinflussen soll. Es ist die Simplizität der Lebensart, deren Reiz in den moralischen Wochenschriften zuerst wieder geschildert und empfohlen wird. Richard Steele selbst hat über die Tendenz seines Tatler bekannt: „The général purpose of this paper is to expose the false arts of life, to pull off the disguises of cunning, vanity and affectation, and to recommend a général simplicity in our dress, our discourses and our behaviour" 4 1 . Und was Steele hier begonnen, hat neben ihm Addison entwickelt und vertieft. Sein Sir Roger de Coverley ist die Gestalt gewordene „Simplicity" und hat als solche auf den englischen Roman und seine Charaktere nachhaltend gewirkt. Später erst, aber schärfer und unvermittelter, setzt in Frankreich die Wendung zur Einfachheit ein, die in Rousseau auf der ganzen Breite vom moralischen Protest bis zur künstlerischen Reform-Tat ihren Wortführer findet. Sofort nach jener Krise, die die Dijoner Preisfrage nach dem moralischen Wert der Künste und Wissenschaften in ihm auslöst, bekennt er sich zur Idylle in der Wirklichkeit und in der Kunst. Daß Wirklichkeit und Kunst miteinander wieder in Einklang zu bringen sind, ist dabei schon Voraussetzung geworden. Er dringt auch in der Kunst zurück zur Natur, so in der Musik zum Pastorale, das er im Dictionnaire de musique definiert als „Opéra champêtre, dont les personnages sont des bergers et dont la musique doit être assortie à la simplicité de goût et de moeurs qu'on leur suppose". In der „Lettre sur la musique française" finden diese Ansätze ihre theoretische Ausführung: er wendet sich gegen die „contrefugues, doubles fugues, fugues renversées, basses contraintes et autres sottises difficiles que l'oreille ne peut souffrir et que la raison ne peut justifier". Sie sind ihm „évidemment des restes de barbarie et de mauvais goût, qui ne subsistent, comme les portails de nos églises gothiques, que pour la honte de ceux qui ont eu la patience de les faire" 4 2 . Nicht zwar gegen die eigentlichen Kontrapunktisten der niederländischen Schule oder gegen die italienische oder deutsche Barockmusik, die er nicht kannte, wendet sich Rousseau damit, sondern gegen eine verhältnismäßig so einfache Form wie die Oper Lullys und Rameaus. Ihre klassizistische Einfachheit wird von dem neuen Geiste schon wieder als Überfülle und als Starre empfunden. Rousseau erklärt, daß die französische Musik zu viele Melodien zugleich und darum keine einzige habe; denn * Avison. Essay on Musical Expression. 70. — Auch hier folgt sogleich der Hinweis auf die Antike: „The force and beauties of the ancient music" müssen in der „pure simplicity- of its melody" gelegen haben.

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Englische Forderungen nach Einfachheit in Kunst und Leben

das Ohr könne nur eine zur Zeit aufnehmen. Daß das französische Rezitativ sich von dem gesprochenen Wort weit entfernt, beweist ihm vollends, daß die französische Sprache zur Musik ungeeignet sei. Im Zusammenhang mit seinem Eintreten für die Melodie gegenüber der Harmonie fällt ein Wort, das seinen Begriff der Einfachheit kennzeichnet. E r bewundert die italienische Harmonie, die mit weniger Mitteln „plus sensible" ist als die französische. Man soll die leeren Linien in der Partitur, „les portées vides d'une partition", sagt er, nicht verachten; vielmehr soll man nach den Gründen dieser „simplicité trompeuse" spüren, die um 60 bewundernswerter ist, je mehr sie das Erstaunliche unter einer „feinte négligence" verbirgt 4 3 . Daß auch für ihn noch die antikische Erhabenheit in der neuen Einfachheit erhalten blieb, belegt ein Wort, das er zu einem sagte, der eine schlechte Oper wegen ihrer bloßen Natürlichkeit lobte. „Die Natur", sagte Rousseau, „ist einfach, aber sie ist nicht platt." In der englischen Kunsttheorie wird einer Verplattung des Begriffs der „Simplicity" mit der Forderung nach „Variety" begegnet. Einheit und Vielheit müssen sich auswiegen, wie in der Natur so in der Kunst. „Uniformity and variety are interwoven in the works of nature with surprising art"; dieser Satz Homes 4 4 kennzeichnet die englische Auffassung, die immer eine vermittelnde bleibt. Sie ist vermittelnd selbst noch in Högarths „Analysis of Beauty", in der „Variety" als der umfassendste ästhetische Begriff auftritt. „Simplicity without variety is wholly insipid" 4 5 . Hogarth will die „Variety" bis zur „Intricacy" gesteigert wissen4®, in der die „Grace" erst sich recht entfaltet*. Andererseits darf die „Variety" nicht zur „Confusion" ausarten; sie muß „composed variety" bleiben 4 7 . Spürbar wirken Hogarths Anschauungen und ihre Belege auf Homes spätere Kapitel seiner „Elements" ein und damit auf das Kapitel „Beauty", wo gleichfalls Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur als übereinstimmend gelten und wo die Schönheit der Kunst gleichfalls auf Nützlichkeit, Einheitlichkeit, Verhältnis und „Simplicity" beruhend gedacht wird**. Indessen legt Home das Gewicht wieder mehr auf die „Simplicity", im moralischen und ästhetischen Sinne. Sie wird gegen den wirren Schmuck ausgespielt: „Profuse ornament in painting, gardening or architecture, as well as in dress or in language, shows a mean or corrupted taste" 4 8 . „Simplicity in behaviour and manner has an enchanting effect and never fails to gain our affection: very different are the artificial manners of modern times" 4 8 . Die Kunst vollzieht „a gradual progress from simplicity to complex forms and profuse ornaments" und die Sitte „from original candor and simplicity into artificial refinements" 4 9 . „At * Von hier aus kommt Hogarth zu einer verhältnismäßig positiven Bewertung der gotischen Architektur: „Have not many gothic buildings a great deal of consistent beauty in them?" Analysis of Beauty. 45. ** Home a. a. O. 104. Allerdings dazu noch auf Ordnung und Regelmäßigkeit, die für Hogarth keine Eigenwerte bildeten.

E i n f a c h h e i t als Waffe gegen Ü b e r f e i n e r u n g in Kunst u n d Leben

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present literary productions are crowded with words, epithets, figures; in music, sentiment i6 neglected for the luxury of harmony and for difficult movement" 49 . Wenn „Simplicity" zunächst die Parole gegen das Überladene und Schwierige ist, so ist sie zugleich — und dies in steigendem Maße — die Parole gegen das, was mit „Affectation" und „Refinement" bezeichnet wird. Schon einige der zuletzt angeführten Stellen deuten „Simplicity" als Bollwerk gegen die Überfeinerung. Batteux' Einschätzung seiner Methode: „sans la moindre affectation", Avisons Empfehlung des „unaffected strain of nature and simplicity", Steeles Kampf gegen die „disguises of cunning, vanity and affectation" und Homes Warnung vor „artificial refinements" dürfen in Erinnerung gebracht werden. Andere Äußerungen in verwandter Richtung kommen hinzu. Sie alle fassen die „Affectation" als späte Entartungsstufe der künstlerischen und der Lebensformen. In diesem Sinne einer kunst- und sittengeschichtlichen Warnung findet sich die Abwehr gegen die „Affectation" bei Batteux, wo die „affectation" gegenüber der „grossièreté" und die „beaux esprits" gegenüber den Goten als die größere Gefahr bezeichnet werden 50 . So findet 6ie sich in Homes „'distaste of affectation, which consists in making a show of greater delicacy and refinement, than is suited either to the character or circumstances of the person" 51 . So findet sie sich später bei Reynolds: „Simplicity is our barrier against that great enemy of truth and nature, affectation" 52 . Ihm ist „Affectation" „the most hateful of all hateful qualities" 53 . So findet sie sich endlich bei Johnson in seinem Essay „Progress of Arts and Language": „Every man now endeavours to excel others in accuracy, or outshine them in splendour of style, and the danger is, lest care should too soon pass to affectation" 54 . In David Humes Essay „Of Simplicity and Refinement in Writing" laufen alle Fäden, die hier verfolgt wurden, zusammen. Kunst ist ihm Nachahmung, aber Nachahmung einer hergerichteten Natur. „Nothing can please persons of taste but . . . la belle nature". Schon die Ausnahme des Sancho Pansa in seiner „absurd naivete" rechtfertigt sich nur durch die Kunst der Darstellung. Zwischen solcher reinen Simplizität und einer geistreichen Überladung liegt die Bahn des rechten Autors in der Mitte. Während Hume zwar beide Extreme zu meiden vorschreibt, bewertet er sie sehr verschieden; denn er fordert, „that we ought to be more on our guard against the excess of refinement than that of simplicity; and that because the former excess is both less beautiful and more dangerous than the latter." Indessen ist mit der Anführung von Reynolds und Johnson schon der Zeitraum überschritten, der bisher innegehalten war; und es gilt, wieder zu ihm zurückzukehren, um die Auseinandersetzung, die in der Kunsttheorie sichtbar wurde, auch in der Kunstausübung, in der Sphäre des Ausdrucks, zu verfolgen.

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Das Problem des Ausdrucks in der klassizistischen Ästhetik

Das Problem des Ausdrucks bestand für die klassizistische Ästhetik darin, ob der Charakter des dargestellten Menschen durch die ihm zugehörigen Leidenschaften eindeutig bestimmt war und ob diese Leiden-: Schäften wieder den ihnen zugehörigen Ausdruck fanden. Die Einheit von „Character", „Passion" und „Expression" sicherte ihr die Wahrheit des Ausdrucks*. Wenn noch ein Wunsch offen blieb, so war es der, daß der Ausdruck wohl dem Charakter entsprechen, aber nötigenfalls zum Wohlanständigen hin umgefärbt werden sollte**. Der Grundgedanke, daß der Ausdruck die Leidenschaften des Charakters wiedergeben solle, bleibt auch in der Wandlung erhalten, die 6ich nun vollzieht; denn der neue Ausdruckswille fußt auf einer entsprechenden neuen Vorstellung von Charakter und Leidenschaft, die die bis dahin herrschenden, vorwiegend auf Descartes' „Des passions de l'âme" beruhenden Begriffe zersetzt und überwindet. Daß allerdings gerade bei Descartes schon die Keime des Neuen liegen, daß er etwa hinter seinem Schema der sechs Grundleidenschaften auf ihre Verbindung bedacht ist, daß er den Ausdruck der Leidenschaften grundsätzlich als gemischten Ausdruck erkennt; und daß er nur der richtigen Mischung, nicht aber der ungemischten Leidenschaft, die Möglichkeit der Äußerung zubilligt, ist aus den Artikeln 69, 112, 117 zu ersehen und am deutlichsten aus Artikel 128, der damit beginnt, daß wie Lachen nie aus einer heftigen Freude entstehe, sa „Tränen nicht von einer sehr großen Traurigkeit, sondern nur von einer mäßigen, die von einem Gefühl der Liebe oder auch der Freude begleitet oder gefolgt ist". Die Mischung und der Übergang der Empfindungen, die hier erkannt sind, werden nun die Grundelemente der neuen Vorstellung von Charakter und Ausdruck. Der neue Ausdruck bahnt sich auf allen Gebieten an. Indessen ist er am deutlichsten nicht in der Dichtung oder der Malerei zu verfolgen, wo jeder Wandel im Stillen vor sich gehen kann, sondern auf dem Gebiet des Theaters und damit der Oper, des Tanzes und des Schauspiels, wo in dem (hier allein notwendigen) Vorgang der „Aufführung" die Probleme handgreiflich werden, wo das Neue sich einer Überlieferung gegenüber findet und wo es zu einer Auseinandersetzung kommt, deren theoretische Niederschläge und praktische Lösungen erhalten sind. Im Kampf des Theaters allein erwachsen jene Männer, die als die „Reformer" gelten können: in der Oper Rousseau, im Tanz Noverre, im Schauspiel Garrick.

* Richardson a.a.O. 93: „All the expressions of the several passions and sentiments must be made with regard to the characters of the persons moved by them." Home fordert a. a. O. 215, „that a Passion be adjusted to the character, the sentiments to the passion, and the language to the sentiments." * * De Piles a.a.O. 128: „Ausdruck ist jene Darstellung, die dem Charakter und dem guten Anstand gemäß ist". Pope, Essay on Criticism: „Expression is the dress of thought, and still appears more decent as more suitable."

Neuer Ausdruckswille in der Oper — Streit um das Rezitativ

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Der Kampf gegen die französische Oper, der in Paris*, und der Kampf gegen die italienische Oper, der in London** geführt wird, sind zwei Phasen eines gemeinsamen Vorganges: der Abwehr gegen eine Form, der man Unnatürlichkeit, Ausdrucksmangel und Empfindungsarmut vorwirft. In Paris geht der Kampf gegen die französische zugunsten der „natürlicheren" italienischen Oper, in London (wo man nur die italienische kannte) gegen die Oper überhaupt. Beide Kämpfe werden mit einem Sieg der neuen Kräfte entschieden. In London siegt die „Beggar's Opera" über die italienische Oper und damit über Händel und Buononcini, in Paris siegt Rousseau theoretisch mit der „Lettre sur la musique française" und praktisch mit dem „Devin du village" über die Tragédie lyrique und damit über Lully und Rameau. Hier kann die verzweigte und vielfältige Entwicklung, die sich in ihren verschiedenen Stadien überdies gegenseitig beeinflußt und schließlich vermischt, nicht in ihrem Ablauf verfolgt werden; es darf genügen, die leitenden Motive zu nennen, die sie vom Kampf der „Italiens" gegen die „Français" (Raguenets Parallèle 1703) über den Kampf gegen die Oper („Beggar's Opera" 1728) bis zum Kampf der „Buffonisten" gegen die „Antibuffonisten" („Devin du village" 1752) durchziehen. Eine der wesentlichsten und immer wiederkehrenden Fragen ist die, ob das Rezitativ eine zulängliche Ausdrucksform sei. Auch hier muß zwischen dem italienischen und dem französischen Rezitativ unterschieden werden; und danach regelt sich zumeist die Lösung der Vorfrage, ob das Rezitativ überhaupt dem betreffenden Sprachakzent gemäß sei. Raguenet hat in seiner „Parallèle" dem französischen Rezitativ natürliche Deklamation eingeräumt und dennoch das italienische wegen seiner reizvollen Begleitung vorgezogen 55 . Addison gesteht in seinen Spectator-Aufsätzen über die italienische Oper sowohl dem französischen als dem italienischen Rezitativ natürlichen Akzent zu. Aber sein Mißtrauen gegen die Oper als Kunstform bleibt daneben fühlbar. Er spricht im Namen des englischen Geschmacks überhaupt, wenn er sich wundert, Generäle ihre Befehle und Liebhaber ihre Liebesbriefe singen zu hören 5 6 . Rousseaus Angriff endlich auf das Rezitativ der französischen Oper gipfelt in seiner Kritik von Lullys Vertonung des Monologs aus Quinaults „Armide": „Enfin il est en ma puissance". Hier finden wir das Problem in seinem ganzen Umfang aufgerollt. Dieser Monolog, der allgemein für ein Meisterwerk von Deklamation, für ein Vorbild des französischen Rezitativs gehalten und von Rameau als ein Beispiel genauer und gut verbundener Modulation angeführt wurde 5 7 , ist für Rousseau das Paradigma von dramatischer Leblosigkeit und „régularité scholastique". „Armide furieuse vient poignarder son ennemi. A son aspect, elle hésite, elle se laisse attendrir, le poignard lui tombe des mains; elle oublie tous ses projets de vengeance, et n'oublie * Seit Abbé Raguenets „Parallèle des Italiens et des Français". * * Seit ihrem dortigen Auftreten.

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Kampf gegen die alte Oper: Rousseaus Singspiel und die -,Begg a r ' s Opera"

pas un seul instant sa modulation". Weder in der Tonart noch in der Melodie, weder in der Deklamation noch in der Begleitung findet Rousseau etwas von dem inneren Vorgang, von dem Umschwung im Herzen der Armida 5 8 . Dieser Monolog — „rempli de sons filés (langen Schwelltönen), de trilles et autres ornements du chant ridicules" — ist ihm weder Arie noch Rezitativ; für jene fehlen „mesure", „caractère" und „mélodie", für dieses „naturel" und „expression". Rameaus Preis dieser Szene ist ihm „une véritable satire" 5 9 . Die Natürlichkeit des Ausdrucks, die Rousseau hier am französischen Rezitativ vermißt und die er samt Einfachheit, Klarheit und Charakter ebenso an der französischen Arie vermißt, hat er selbst der Oper zu geben versucht, als er nach dem Erlebnis der ersten italienischen Buffo-Oper sein Singspiel „Le devin du village" verfaßte und komponierte. Der außerordentliche Erfolg des Stückes beweist, daß der „Devin du village" einer Epoche das Zeichen gab. Schon seine erste Szene offenbart alle jene Reize, die das ganze Werk auszeichnen. Sie umfaßt die Auftrittsarie und zwei Rezitative der Colette. Ihre Arie („J'ai perdu mon serviteur") hat nur einen engen melodischen Umkreis, nach Umfang und nach Zahl der Motive; 9ie wiederholt eine einfache Phrase, die, vom Grundton zur Quart aufsteigend und zum Grundton zurücksinkend, durch ihre Nähe zum natürlichen Sprachakzent die Grenzen des ungezwungenen Ausdrucks innehält. Ein Mittelsatz stellt zwischen mehrfache ,,Hélas"-Rufe noch einmal die gleiche melodische Phrase. Nach der Reprise kommt ein Rezitativ, ihm folgt wieder die zweite Hälfte des Arien-Hauptteils und noch ein Rezitativ. Solche Unterinischung der Formen dient der neuen Biegsamkeit des Ausdrucks. Denn wenn auch über Arie und Rezitativ die gleiche Anmut liegt, so bringt das Rezitativ mit der genauen melodischen Nachzeichnung der Empfindungskurve eine dramatische Zuspitzung in das Bild. Das Vorspiel der Arie, dessen Motive in ihr selbst fortklingen, betont die psychologische Dramatik noch mit Forte-Piano-Wechseln innerhalb eines Taktes, die als Affektmalereien zu lesen, als Schluchzer zu verstehen sind. So bekommt die Szene jene geheimnisvolle Verbindung von Einfalt und Beweglichkeit, von Gelassenheit und Empfindlichkeit, die, in Rousseaus Natur begründet, dem neuen Bilde vom Menschen entgegenkommt. Mit dem „Devin du village" hat die ältere „Beggar's Opera" außer dem verwandten Ziel des Angriffs manches Grundsätzliche gemein. Wenn schon Rousseau (fälschlich) verdächtigt wurde, sein Werk nicht selbst komponiert, sondern französische Volkslieder und -tänze benutzt zu haben, so besteht die „Beggar's Opera" nun wirklich fast ganz aus englischen und keltischen Volksliedern und -tanzen. Zwar ist 6ie nur zu einem Teil Opernparodie und zum andern Teil politische Satire*, Sitten* Allerdings politische Satire mit musikalischen Mitteln. Denn das alte Volkslied „Walpole or the happy clown", das als Air 47 der Oper unter einem neuen Texte mit

Reform des Balletts: Noverre

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bild, Räuberroman, aktuelle Kriminalgeschichte und Liebesabenteuer. Aber gerade daß ihre musikalische Richtung sich mit der nationalen Richtung verband, daß der Angriff gegen die Oper zugleich ein Angriff auf den fremdländischen Geist und ein Rückgriff auf englische Sprache und altenglisches Melodiengut war, besiegelte ihren Erfolg*. Sie ist nicht, wie der „Devin du village", ein Vorstoß zu der neuen Natürlichkeit, Einfachheit und Beweglichkeit, sondern eine Abwendung von der pathetischen Form der Oper zu der alten Natürlichkeit und Einfachheit** hin***. Neben der Oper steht das Ballett — nicht nur die Operneinlage, sondern auch die selbständige Tanzhandlung, wie sie sich in Paris ausgebildet hatte — als Form des klassizistischen Theaters. Rousseau hat das Ballett in jeder Form bekämpft. „Les plus graves actions de la vie se fönt en dansant", klagt er in dem Brief über die Pariser Oper in der „Nouvelle Heloi'se"; „les pretres dansent, les soldats dansent, les dieux dansent, les diatles dansent: on danse jusque dans les enterrements, et tout danse ä propos de tout." Weil der Tanz, entgegen den anderen Künsten, nichts nachahmt und nur sich selbst demonstriert, billigt Rousseau ihm als Gattung keine Berechtigung zu 6 0 . Als dies Urteil gefällt wird, ist schon der Reformator des Balletts am Werke, Jean Georges Noverre, der, gerade weil der Tanz nichts nachahmt, ihn als Natur selbst gepriesen hat. „Expression" ist auch in Noverres „Lettres sur la danse et les ballets" das Wort, an dem das Neue ansetzt. Ihm ist das virtuose Ballett ein kaltes und wirres Gemälde, ohne Geschmack, ohne Anmut und Harmonie, „alles Ausdrucks beraubt, der allein die Kunst verschönert, indem er ihr Leben und Empfindung erteilt" 6 1 . Der neue Ausdruck setzt eine neue Empfindung voraus. „Wir müssen unsere Seele die Leidenschaften zu empfinden gewöhnen, und die Schwierigkeit, sie auszudrücken, wird verschwinden". Dann werden wir „mit feurigen Zügen die Verwirdreimaligem „Revenge!" erscheint und das die Zielscheibe des Angriffs, eben Walpole, zu erkennen gibt, wird von Pepusch (der außer der Ouverture die Bässe für die Airs geschrieben und die Weisen, wohl mit Gays Hilfe, ausgesucht hat) schon in der Fuge der Ouverture als Thema verarbeitet, so daß der musikalische Hörer von der ersten Nummer an die Tendenz des Stückes fühlte. * Daß Händeis Marsch aus seinem „Rinaldo" als Air 20 harmlos übernommen wird und also mit dazu beitragen muß, Händel, den Komponisten von italienischen Opern, zu ruinieren, ist eine bittere Ironie. * * Daß sie so verstanden wurde und daß schließlich ihre volkstümlichen musikalischen Werte ihre politischen Absichten überlebten, spiegelt sich nicht zuletzt darin, daß Haydn, Beethoven, Weber und andere die Weisen der „Beggar's Opera" für Klavier, Geige und Violoncello einzurichten von einem schottischen Verlag beauftragt wurden. (Siehe Georgy Calmus. Zwei Opernburlesken aus der Rokokozeit. p. X X X I I . ) *** Daß vor der bewußten Reformtat Rousseaus manche Vorläufer (die er nicht kannte) in gleicher Richtung gewirkt haben, darf hier vernachlässigt werden. Es wäre sonst vor allem auf die Opern Reinhard Keisers hinzuweisen, die seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts in die Hamburger Barockoper den neuen Geist hineingetragen haben.

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Reform ties Balletts: Noverre

rung der Sinne und den inneren Tumult unserer Seelenkräfte schildern". Darum gebietet er: „Weg mit den Kapriolen, den Entrechats und den allzu verwickelten Schritten! Weg mit diesen liebäugelnden Grimassen, um euch ganz den Empfindungen, den ungekünstelten Reizen und dem Ausdruck zu überlassen!" „Leget die frostigen Larven ab . . . werfet die großen, gräßlichen Perücken weg . . . schaffet den Gebrauch der runden, steifen Fischbeinröcke a b ! " „Seid original, sucht euch nach euren eigenen besten Einsichten eine neue Gattung zu machen; kopieret, aber kopieret nichts als die Natur; die Natur ist das beste Muster, das keinen, der ihm genau folgt, irre leitet." „Das Herz muß gerührt und die ganze Seele in Bewegung sein; die Leidenschaften müssen donnern, und das Genie muß leuchten" 6 2 . Damit verläßt Noverre den Boden des klassischen Balletts und dringt auf das getanzte Drama, zu der Form der Pantomime, wie er sie in seinen großen Werken für Wien verwirklicht hat. Dieses getanzte Drama ist ganz auf Ausdruck der Empfindung gestellt, einer Empfindung, die, wie man sieht, sowohl in ihrem ungekünstelten Reiz wie in ihrem Tumult der Seelenkräfte das Herz rühren soll. Diese Elemente: Einfachheit, Beweglichkeit und Herzlichkeit sind es, die mehr und mehr das neue Kunst- und Ausdrucksideal bezeichnen. Das Rätsel liegt in ihrer Verbindung, in einem Ausdruck, der zugleich schlicht und vielfältig und dabei immer rührend ist. Das entwicklungsfähigste dieser drei Elemente ist die neue innere Beweglichkeit, die denn auch mit vielen Mitteln angestrebt wird. Das stärkste Mittel erwächst aus der Musik. Sie erfindet in jener Zeit zu dem dynamischen Wechsel den dynamischen Übergang: Crescendo und Decrescendo; und damit gewinnen Oper und Tanz jene neue Biegsamkeit des Ausdrucks, die ihr Wesen bis nahe an die Gegenwart heran weitgehend bestimmt hat. Die englische Ästhetik hat in den gleichen Jahren die gleichen Probleme. Homes „Elements" richten sich sowohl gegen die italienische und französische Oper, die außerstande seien, die Leidenschaften wirklich wiederzugeben 63 , als auch gegen das französische Ballett. Rousseaus (oben angeführte) Klage aus der „Nouvelle Heloi'se", daß alles und jedes im Ballett getanzt werde, ist hier ohne Nennung der Quelle als die Äußerung eines „celebrated writer" wörtlich angeführt 6 4 . Zugleich aber wendet sich Home gegen die französische Tragödie und gegen die Form ihrer Darstellung auf der Bühne. Er gibt dem „formal" und „pompous declamatory style" Corneilles und seiner Leidenschaftslosigkeit die Schuld an dem zu raschen französischen Deklamieren und sieht in der Schulung an Shakespeares „more natural language" und ihrer Leidenschaftlichkeit den Grund für die gewichtigere „slow pronunciation" der englischen Schauspieler 6 5 . Dabei gibt er eine Analyse der Schlußszene von Corneilles „Cinna", in der Emilie von Augustus begnadigt wird, und weist daran das bloß Beschreibende, Empfindungslose des Stils in fühlbarer Anlehnung an Rousseaus Armiden-Kritik nach 8 6 .

Reform des Schauspiels: Garrick — Garricks Verhältnis zu Musik und Tanz

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Dieser neuen Haltung der englischen Ästhetik entspricht eine neue Haltung des englischen Theaters. Sie beide sind nicht durch eine langsame Wandlung, sondern durch das Wirken eines einzigen Mannes hervorgerufen, der, ohne Vorbilder zu kennen, von sich aus einen neuen Schauspielstil erschuf: David Garrick. Daß er die oben angeführten reformierenden Kräfte für sich einspannte, war selbstverständlich; aber von der „Beggar's Opera" abgesehen, die er häufig spielen ließ, traten sie erst nach ihm hervor. Rousseaus „Devin du village" hat er sich von Burney als „The Cunning Man" übersetzen und einrichten lassen und ihn in seinem Theater aufgeführt 67 . Den jungen Noverre hat er 1751 in Paris gesehen und sogleich nach London zu engagieren versucht. Als Noverre endlich im November 1755, in der Zeit der Spannung zwischen Frankreich und England (wegen der Kolonialfrage), mit seiner Truppe kam und sein „Ballet chinois" in Garricks Theater, in Drury Lane, aufführen wollte, brach trotz der Vorankündigungen Garricks, daß Noverre Schweizer und seine Gattin Deutsche sei, und trotz der Anwesenheit König Georgs II., den Garrick eingeladen hatte, ein Theaterskandal los, in dem der Mob nicht nur das Bühnenhaus, sondern auch Garricks Wohnung stürmte 68 . Ein späterer, beiderseitiger Versuch zu einem Engagement Noverres an Drury Lane, 1767, führte zu keinem Ergebnis 69 . Daß indessen durch die Berührung mit Garrick die Reformideen Noverres eine entscheidende Beeinflussung, wenn nicht überhaupt ihre Weckung, erfuhren, ist nach dem persönlichen und künstlerischen Verhältnis der beiden Männer mit Sicherheit anzunehmen. Eine persönliche Berührung mit Rousseau hatte Garrick erst 1766, als er den berühmten Gast nach seiner Ankunft, wieder bei Anwesenheit eines Königs, Georgs III., ins Theater einlud. Garrick hat an den Künsten Rousseaus und Noverres, an Musik und Tanz, nicht bloß als Liebhaber teilgenommen; sein musikalisches Urteil wurde von Komponisten angerufen 7 " und er hat einen „countrydance", den seine Rolle in Mrs. Centlivres „Wonder" ihm anzudeuten vorschrieb, stets mit größter Grazie und Lebhaftigkeit bis zu Ende getanzt 71 . Solche Volks-, Landschafts- und Ständetänze wurden damals gegen das Ballett ausgespielt, so von Hogarth, der sie dem „pompous" und „unmeaning" „grand ballet" gegenüber für die Bühne empfiehlt 72 . In der Frage des Rezitativs und dessen Verhältnis zum natürlichen Sprechakzent endlich hat Garrick eine Lösung gefunden, die als einzigartig galt. Auf dem Stratforder Shakespeare-Jubilee 1769 wurde eine Ode aufgeführt, deren Text von Garrick und deren Musik von Dr. Arne war. Während der Chor die Arien sang, wurde das Rezitativ von Garrick einfach gesprochen 73 . Damit war der letzte Schritt in der Richtung auf Ausdruckswahrheit des Rezitativs vollzogen, ein Schritt, der das Rezitativ durch eine völlige Umdeutung innerlich überwand. Garrick hat wenig theoretisiert. Neben seinen Schauspiel-Anweisungen an William Powell 74 , in denen er die Lektüre Shakespeares über alles

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Garricks Vereinigung von Tragödie und Komödie

stellt, gibt es indessen ein Wort von ihm, das viele Theorien aufwiegt. „I pronounce that the greatest strokes of genius have been unknown to the actor himself, tili circumstances and the warmth of the scene have sprung the mine, as it were, as much to his own surprise as that of the audien-ce"75. In diesem Sinne war Garrick selbst ein Genie, das aus dem Unbewußten schuf. Schon der Anfang seiner Laufbahn belegt das: sein heimliches Einspringen für einen erkrankten Schauspieler des „Harlekin" in „Harlequin Student" im Goodman's Fields Theater (1741) und ein halbes Jahr später sein Auftreten als Richard III. und in 18 anderen, zur Hälfte tragischen und zur Hälfte komischen Rollen ebendort. Er war Weinhändler gewesen und ohne irgendeine Schulung für das Theater — wenn man seine hohe und gepflegte mimische Imitationsbegabung nicht rechnet — auf die Bühne gesprungen. Bei seinem ersten Auftritt schon brachte er das Neue mit, das er nirgends gelernt haben konnte. Pope, der dem Betterton, einem Schauspieler der alten Schule, zugeneigt war, kam, krank und s c h w a c h ™ , u m Garrick als Richard III. zu sehen, und sagte: „That young man never had his equal, and never will have a rival" 77 . Quin, der berühmteste und bestbezahlte Schauspieler der alten Schule, sagte, als er Garrick sah: „If this young fellow be right, then we have been all wrong" 78 . Alle empfanden sofort das Epochale an Garricks Spiel*. Wenn sie ihren Eindruck davon wiedergeben sollten, so stellten sie meistens fest, daß das Wunderbare darin liege, wie Garrick sowohl Tragisches als Komisches beherrsche. Daß Tragöden auch in Komödien spielten, war damals üblich; aber dann hatten sie für beides ein festes Schema, das von vornherein das jeweilige Fach eindeutig bezeichnete 79 . Garrick aber behauptete, daß in jedem Tragöden Komödie stecken müsse; das war etwas wesentlich anderes. Die zeitgenössischen Maler haben diese Verbindung an ihm darzustellen versucht. Reynolds hat Garrick gemalt: zwischen Tragödie und Komödie, nach dem Bildtypus der Entscheidung des Herkules 80 ; Schritt- und Blickrichtung Garricks scheinen zu besagen: ich gehe zwar mit der Komödie, aber ich komme zur Tragödie zurück 81 . Carmontelle hat Garrick auf seinem Bilde** doppelt dargestellt: erstens auf der Bühne in pathetischer Geste, zweitens in der Kulisse als komische Figur, die jene andere prüfend beobachtet. Wie stark tragisches und komisches Spiel für Garrick innerlich verknüpft waren und wie sehr er des Ausgleichs der Stimmungen bedurfte, erhellt daraus, daß er in Dublin unmittelbar nach dem „Lear" oder einer anderen Tragödie noch seine eigene Farce „Lying Valet" zu spielen pflegte 82 . Garrick, der nicht zufällig mit dem „Harlekin" den Sprung auf die Bretter gewagt hatte, gewann aus dem komischen Spiel eine Intensität, eine Beweglichkeit und * Mit Ausnahme von Horace Walpole und Gray. *'* Bei Garricks Rückkehr von Italien in Paris 1764/65 für die Sammlung des Herzogs von Orleans eemacht.

Garricks Vereinigung von W o r t und Geste

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eine Vieldeutigkeit, die ihm im tragischen Spiel zustatten kamen. Nicht nur die neue Natürlichkeit und Ungezwungenheit, auch die Verfeinerung und Differenzierung des Ausdrucks, die sein Komödienspiel auszeichneten, bewahrte er in der Tragödie. Von der Differenzierung, der Teilung und Einzelbehandlung der Mittel, vor allem von dem Miteinander und Gegeneinander von Wort und Geste geben die Beschreibungen seines Spieles ein anschauliches Bild. Von Garricks erstem Auftreten an richtete sich die allgemeine Bewunderung auf das Zusammenwirken der sichtbaren und der hörbaren Vorgänge. Garrick spielte aus einem neuen organischen Gesamtgefühl heraus. Seine einzigartige mimische Gewalt, mit der er in jungen und alten Jahren freiwillige und unfreiwillige Wirkungen suggestiven Charakters erzielte, kam ihm dabei zugute. Die Gefühle Richards III., so wird es beschrieben, waren in seinem Gesicht zu lesen, ehe er 6ie aussprach 83 . Der Laut war bei ihm nur eine — und zwar die späteste — unter den übrigen mimischen Äußerungen. „The features of his face seem to drop upon his tongue" 8 4 heißt es über seinen Abel Drugger in Ben Jonsons „Alchymist". Beides sind Nachrichten aus den ersten beiden Jähren seines Spiels. Aus der gleichen Zeit auch stammen schon die Einwände begeisterter Zuschauer gegen gewisse Einzelheiten seiner Darstellung, vor allem gegen seine langen Pausen, seine ungewohnten Zusammenziehungen und seine Verletzungen des deklamatorischen Ebenmaßes. Daß er in der Geisterszene des Hamlet erst nach einer langen Pause das „Angels and ministers of grace defend us!" hervorbringt und es in einem Ton mit dem folgenden „Be thou a spirit of health" zusammenfaßt 8 5 , wird in einem Brief an Garrick gerügt. Diese Beschreibung der Hamletszene aus dem Jahre 1742, in dem Garrick zum ersten Mal den Hamlet spielte, stimmt in allen Einzelzügen mit jener überein, die Lichtenberg im ersten seiner „Briefe aus England" 1775, in Garricks letztem Jahr auf der Bühne, von der gleichen Szene gibt. „In seiner Miene ist das Entsetzen so ausgedrückt, daß mich, noch ehe er zu sprechen anfing, ein wiederholtes Grausen anwandelte. . . . So spricht er endlich, nicht mit dem Anfange, sondern mit dem Ende eines Atemzugs und bebender Stimme: Angels and ministers of grace defend us! Worte, die alles vollenden, was dieser Szene noch fehlen könnte, um sie zu einer der größten und schrecklichsten zu machen, deren vielleicht der Schauplatz fähig ist." Vom ersten bis zum letzten Jahre seines Spiels also hat Garrick das Wort in einem neuen Sinne behandelt, hat über die Zeilenabschlüsse hinweg gesprochen und die „proper stops and pauses" nicht beachtet 8 6 ; statt dessen gehorcht er seinem dramatischen Empfinden. „Though it might appear that I stopped . . . yet my intention was . . . to . . . keep the voice suspended a little, which it will naturally be in such a Situation". Und „I really could not from my feelings act it otherwise". So antwortet er einem seiner kritischen Korrespondenten 87 .

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Ersatz des Wortes durch die Geste: Garrick

Lichtenberg hat von allen am deutlichsten erkannt, daß die Pausen im Wort durch Gesten ausgefüllt waren, ja daß das Erscheinen der Geste statt des Wortes eine besonders tiefe Wirkung tat. In seinem zweitön Brief aus England schreibt er über Garricks Darstellung des Monologes „O that this too, too solid flesh would melt": „Einmal, da sein Arm heftig, wie mit einem Streich, herunterfällt, um einem Wort im Unwillen Nachdruck zu geben, bleibt dieses Wort, unerwartet für die Zuhörer, von Tränen aufgehalten aus, und kommt erst nach einigen Augenblicken mit den Tränen zugleich nach. Ich und mein Nachbar, mit dem ich noch kein Wort gesprochen hatte, sahen uns hier einander an, und sagten etwas. Es war unwiderstehlich." Diese feinsinnige Bemerkung erfaßt das Wesentliche: Garrick dringt hinter die Hülle des Wortes und gestaltet aus dem eigentlichen Lebenskern des Dramas heraus, so daß die hörbaren und sichtbaren Zeichen als gleichwertige Äußerungen von innen her neu geschaffen und von einem dramatischen Grundgefühl gelenkt werden, das frei mit ihnen schaltet. Daß die Geste mit dem Wort übereingehen müsse, daß sie dieses sogar ersetzen könne und daß das stärkste Gefühl sich gerade nicht des Wortes bedienen kann, sind Erkenntnisse, die in jener Zeit an mehreren Orten auftauchen. Diderots „Lettre sur les Sourds et Muets", die grundsätzlich die Sprache von der Geste her beurteilen und korrigieren will, zeigt an dem Beispiel der Szene in Corneilles „Heraclius" (IV, 4), in der Phocas sich an Heraclius und Martian mit der Frage wendet, wer von ihnen sein Sohn sei, daß in dem Schweigen der beiden etwas liege, „que le papier ne peut jamais rendre; voilä oü le geste triomphe du discours" 88 . Rousseau sieht in der zweiten Vorrede zur „Nouvelle Heloise" in der Schwäche der Sprache die Stärke des Gefühls bewiesen. Und Homes Wort „a passion, when in extreme, is silent" 89 trifft genau das, was an Garricks Spiel sichtbar wurde. Aber Diderots Lettre ist 1751, Rousseaus Roman 1760 und Homes Ästhetik ist 1762 erschienen, während Garrick schon 1742 seinen Hamlet spielt. Wenn bei ihm das Mimische in das Sprachliche hineingreift, wenn es zu dem Verhalten und Nicht-Reden-Können, zum Beschleunigen und zu den affektiven Silbenwiederholungen kommt (in denen er manchen seiner Freunde zu weit ging), so stammen diese neuen Mittel des Tempos und der Dynamik aus einer neuen Intensität der Darstellung. Garricks Hamlet wird in einer Zuschrift als „overacted" bezeichnet, als „having generally too much fire" 9 0 . In einem anderen Briefe beschwört ihn ein junger Offizier, der ins Feld zieht (und damit in die verhängnisvolle Schlacht bei Fontenoy an der Scheide) aus „inexpressible grief . . . to see you exhaust your spirits so much", nicht öfter als dreimal die Woche zu spielen, da keine Natur solche „shocks" aushalten könne 91 . Garricks einzigartiges Vermögen nun bestand darin, diese glühende Intensität mit dem Schlichten, Gefälligen und Schönen zu vereinen, „the substaining with füll power,

Neue Wandlungsfähigkeit im Schauspiel: Garrick

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to the last, . . . without ever departing once . . . even in the quiekest transitions and the fiercest paroxysms, from the simplicity of nature, the grace of attitude, or the beauty of expression" 9 2 . Wenn man dazu den persönlichen Typ Garricks sich vergegenwärtigt, der f ü r Hotspur zu wenig heldisch, f ü r Romeo zu wenig lieblich, f ü r Othello zu wenig gewichtig war und der den Macbeth ganz geschleppt und überschattet gab, so wird aus allem deutlich, daß seine Natur und seine Kunst zum Labilen drängten. Die Labilität im Nacheinander und im Zugleich: der Übergang und die Vieldeutigkeit gaben seinem Spiel die unvergleichliche Lebendigkeit; sie verliehen dem Komischen jene innere Spannung, die ins Tragische übernommen werden durfte, übernommen werden mußte, und sie hielten den weiten Umkreis seiner Mittel und seiner Formen zusammen, indem sie immer eine in der anderen fühlen ließen. Dieses Spiel war so weit über jede Manier oder Schule hinaus, daß ein jeder es auf seine Weise ausdeuten konnte. Alle anderen Schauspieler seiner Zeit waren in das Begriffsnetz der Kritik an bestimmter Stelle einzuordnen. In Garricks Kunst aber war alles zugleich; sie war so umfassend, so unbegreiflich und so vieldeutig wie das Leben selbst. Wenn Fielding von der Illusion erschüttert, Reynolds von der „belle nature" erhoben wurde, so hatten beide Recht; denn Garricks Spiel war wie die große Natur geworden, die er zu gestalten suchte. Die Begriffe von Naturnachahmung und von ihren Mitteln, der Einfachheit, Leidenschaft und Herzlichkeit, lösen sich vor seinem Spiele auf, das sie nur in ewig sich wandelnder Verbindung kennt und sie von einem lebendigen Mittelpunkt her neu erfüllt. Nicht nur über die Begriffe seiner Freunde ging Garricks Genie hinaus, sondern auch über seine eigenen. E r hat sich der alten Formeln bedient, wenn er über seine Kunst gefragt wurde. So glaubte er, seinen wahnsinnigen Lear einem alten Manne nachzuspielen, der einst vor seinen Augen sein Kind zu Tode stürzen sah und darüber den Verstand verlor 9 3 . So suchte er das horazische „Simplex et u n u m " auch in Shakespeare und fand es „never more verified than in Shakespeare's ^ i m o n ' " * . Ein Wort, mit dem er in den Streit um Regelbefolgung oder Eigenschöpfung eingriff, klingt fortschrittlicher: „Shakespeare was a writer not to be confined by rule. . . . His royal word was not only absolute but creative"**. Aber daneben dürfen seine zum Wohlanständigen und Klaren, zum Verständigen und Freundlichen hin glättenden Shakespeareeinrichtungen nicht vergessen werden. Im ganzen war der Schauspieler Garrick freier und größer als der Ästhetiker und Bearbeiter Garrick. Als Schauspieler war er sich selbst ein Wunder wie den anderen. Johnsons Ausspruch „Garrick was no declaimer; yet he was the only actor I ever saw * Der damit zurückgewiesene Verfasser einer Ginrichtung des „Timon" konnte (1768) noch antworten: „I shall be glad to see the time when simplicity is a recommendation to any dramatic piece." Priv. Corr. I. 284. ** Ein Ausspruch von 1744! Priv. Corr. I. p. XIII.

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Überwindung der Begriffe von nachgeahmter und verbesserter Natur

whom I could call a master both in tragedy and in comedy"* bezeichnet dies Wunder vom Gesichtspunkt eines Klassizisten und Deklamatoren aus der einst Garrick das achte Gebot aufzusagen befohlen und ihm sodann die Fehler vorgezählt hatte, die er dabei gegen die rechte Deklamation begangen 94 . Und Goldsmiths Nachruf nennt das Wunder mit drei Worten 95 , die zugleich den Wandel deutlich machen, den die Begriffe des Natürlichen, des Einfachen und des Ergreifenden bis zu Garrick hin und bei ihm selbst erfahren haben: „He was natural, simple, affecting".

* Boswell. Life of Johnson. II. 485. Johnson sagte es zu Mrs. Siddons.

Sternes

Menschenbild. In diesem Sinne mache ich aufmerksam auf einen Mann, der die große Epoche reinerer Menschenkenntnis, edler Duldung, zarter Liebe in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zuerst angeregt und verbreitet hat. G o e t h e in „Über Kunst und Altertum" 1826.

Laurence Sterne hat, sobald er Garricks Spiel gesehen, ihm eine Huldigung im „Tristram Shandy" bereitet. In dem Kapitel über das Original und über die Kunstregeln der Connoisseurs verteidigt er Garrick gegen die Vorwürfe der falschen Deklamation: „And how did Garrick speak the soliloquy last night? Oh, against all rule, my lord, — most ungrammatically: betwixt the substantive and the adjective . . . he made a breach thus, — stopping, as if the point wanted settling. . . . He suspended his voice . . . a dozen times. . . . — But in suspending his voice, — was the sense suspended likewise? Did no expression of attitude or countenance fill up the chasm? — Was the eye silent? — Did you narrowly look? — I looked only at the stop-watch, my lord. — Excellent observer!" 1 Das steht in enger wörtlicher Beziehung zu Garricks eigenen Erklärungen über seine Deklamation: „If I stop . . . it is a glaring fault, for the sense is imperfect; but my idea of that passage is: Macbeth is absorbed in thought and struck with the horror of the murder, . . . and it naturally gives him a slow tremulous under-tone of voice; . . . my intention was far from dividing the substantive from its adjective, but to paint the horror of Macbeth's mind, and keep the voice suspended a little" 2 . Den Begriff „suspend" allerdings gebraucht er in einem anderen Sinne als Sterne: „ I suspend my voice, by which your ear must know that the sense is suspended too; for Hamlet's grief causes the break, and, with a sigh, he finishes the sentence" 2 . Diese Verschiedenheit der Auslegung des Kernbegriffes „suspend", der bei Sterne „unterbrechen", bei Garrick aber „in der Schwebe halten" bedeutet, macht es unwahrscheinlich, daß eine bewußte Anlehnung der einen Äußerung an die andere vorliegt. Vielmehr werden beide auf Unterhaltungen zurückgehen, die Sterne bei seinem ersten Londoner Aufenthalt im Frühjahr 1760 mit Garrick geführt hat.

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Wort und Geste bei Garrick und bei Sterne

Daß Sternes Verteidigung Garricks schon im Januar 1761 gedruckt vorlag und daß Garricks eigener Wortlaut erst in einem Brief vom 24. 1. 1762 steht, macht die Unabhängigkeit beider Äußerungen nur noch wahrscheinlicher : Garrick wird nicht über seine Angelegenheiten dem „Tristram Shandy" eine Formulierung entnommen und sie anders verwendet, sondern auf eine eigene alte Formulierung zurückgegriffen haben, die Sterne von ihm entlehnt, aber nicht genau innegehalten hatte. Das Umschlagen des Wortes in die Geste, der „voice" in die „attitude", das Sterne hier sogleich begriff und würdigte, war ihm ein vertrautes Mittel. Er begrüßte an Garrick etwas eigenes. Schon in seinen Predigten wird er nicht müde, auf jene Vorgänge in der biblischen Geschichte zu verweisen, in denen das Gefühl das Ausdrucksmittel der Sprache hinter sich läßt: „a silence infinitely more eloquent and expressive than anything else" 3 , „tears, which spoke what no language could attempt" 4 , „in this case, silence was truly eloquent and natural, and tears expressed what oratory was incapable of" 3 . Und im „Tristram Shandy" findet sich — allerdings schon aus der Zeit nach der Begegnung mit Garrick — an einem bemerkenswerten Punkt eine verwandte Szene, die das Problem der stummen gestischen Äußerung nach allen Seiten durch die ganze Tiefe des Sterneschen Menschen- und Weltbildes aufrollt: die Szene von Trims Rede auf den Tod. „,Are we not here now?' continued the Corporal; ,and are we not —' (dropping his hat plumb upon the ground, — and pausing, before he pronounced the word) — ,gone! in a moment?' There was nothing in the sentence . . . and if Trim had not trusted more to his hat than his head, he had made nothing at all of it." Aber er warf den Hut auf eine erschütternde Art. „Nothing could have expressed the sentiment of mortality . . . like it; — his hand seemed to vanish from under it; — it fell dead; — the Corporal's eye fixed upon it as upon a corpse; — and Susannah burst into a flood of tears." Neben der Schilderung läuft die Interpretation, eine Interpretation, für die besondere Aufmerksamkeit erbeten wird: „Of all the senses, the eye has the quickest commerce with the soul, —• gives a smarter stroke, — and leaves something more inexpressible upon the fancy than words can either convey, — or sometimes get rid of." Dreimal wird Trims Ausspruch angeführt, und dreimal wird die Bewegung und ihre Wirkung ausgemalt. Und endlich ergeht ein dreifacher Anruf an die großen Redner der mächtigen Welt: „meditate, — meditate, I beseech you, upon Trim's hat" 5 . Trims Geste in der Pause zwischen seinen wenigen Worten, die stumme Gebärde in ihrer Gewalt über die Gemüter, gewinnt erst die rechte Beleuchtung neben der Beredsamkeit des Vaters Shandy. „My father, — a man of deep reading, — prompt memory, — with Cato, and Seneca, and Epictetus, at his fingers' ends: — T h e Corporal, — with nothing — to remember; — of no deeper reading than his muster-roll. . . . The one

Das Problem des Ausdrucks als Grundthema des „Tristram Shandy''

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proceeding from period to period, by metaphor and allusion, and striking the fancy as he went along (as men of wit and fancy do) with the entertainment and pleasantry of his pictures and images. The other, without wit or antithesis, or point, or turn, this way or that; but leaving the images on one side, and the pictures on the other, going straight forwards, as nature could lead him, to the heart" 6 . Das ist das Grundproblem des „Tristram Shandy", ein Problem, das sich hier als ästhetisches darstellt, das daneben als ethisches erscheint und das auf seinem Grunde ein psychologisches ist: das Problem des Ausdrucks selbst, das sich — wie es der englichen Denkweise jener Jahrzehnte entspricht —- im Künstlerischen und im Sittlichen zugleich spiegelt. Der Ausdruck, der einfache seelische Ausdruck zunächst, ist hier ganz in jenem neuen Sinne gesehen, den die Entwicklung 6eit dem Auagang des Klassizismus mehr und mehr eröffnet hat: die neue Einfachheit, die neue Natürlichkeit, die neue Herzlichkeit werden gegen die alte Eloquenz gestellt. Der biedere Trim trauert ebenso tief wie der überlegene Vater Shandy. Dieser psychische Sachverhalt führt nun eine ästhetische Unterscheidung herbei: der beredte Vater Shandy kann sein Gefühl aussprechen; Trim aber muß sich mit einfachen Worten und Gesten behelfen. Und daran schließt sich die ethische Forderung: laßt uns gut auf die stummen und hilflosen Äußerungen der einfachen Menschen achten; denn sie sind die echte Sprache der großen Empfindung. Der „Tristram Shandy" verweist also im Psychologischen auf die Art des Gefühls, im Ästhetischen auf die Möglichkeit seiner Äußerung und im Ethischen auf deren moralische Bedeutung. Sternes Kernthema, sowohl im „Tristram Shandy" wie in der „Sentimental Journey" und in den Predigten, handelt von der sittlichen Bedeutung der verschiedenen Gefühlsäußerungen. Im „Tristram Shandy" scheint das Moralische zurückzutreten; aber von den Predigten her gesehen, bekommen die wenigen offenen und die vielen verborgenen moralischen Hinweise des „Tristram Shandy" ihr rechtes Gewicht, und auch Sternes Roman erscheint als ein „moral work", das die Geheimnisse des Menschlichen verkünden und achten lehren will. Der Sieg des Einfachen, das sich im wortlosen Ausdruck kundgibt, ist immer zugleich ein Anruf an das Gewissen; der schlichte, zartfühlende Mensch in seiner stummen Äußerung, Onkel Toby, ist der sittliche Held. Viele Gedanken der Zeit führen auf dieses Ziel zu. Sowohl die seelische Einfalt wie der einfache Ausdruck und die moralische Auszeichnung des schlichten Ausdrucks sind von manchen gefordert worden, wenn auch, von Rousseau abgesehen, kaum in der grundsätzlichen Verbindung aller drei Momente. Seit den moralischen Wochenschriften ist in England der Ruf nach „Simplicity", nach der Einfachheit des Herzens, nicht verstummt. Zugleich auch werden die künstlerischen Formen daraufhin überprüft, wie weit sie die neue seelische Einfalt darstellen können. Die Auseinandersetzung darüber findet in Oper und Tanz statt, wo die pasto-

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Rousseau und Sterne

ralen Figuren einen neuen, kunstlosen Ausdruck fordern. Der Zusammenhang endlich von ästhetischen und moralischen Wirkungen ist der englischen Kunstauffassung immer gegenwärtig gewesen. Shaftesburys Vorstellung von der Einheit des künstlerischen und des sittlichen Empfindens wird von Hutcheson (ausdrücklich) aufgegriffen; und bis zu Home hin erhält sich der Gedanke, daß eine Verfeinerung des Geschmacks immer zugleich eine Verfeinerung des „moral sense" sei. Rousseau als einziger hat wie Sterne das Problem als Ganzes gesehen. Er hat, wie dieser, sich bewußt der künstlerischen Form bedient, um die sittliche Forderung nach Einfalt des Herzens und nach ihrer Würdigung wirksam verkünden zu können. Er verwendet, wie dieser, Gestaltung und Interpretation, Empfindung und Abstraktion durcheinander, um das neue Menschentum zu lehren. Er hat, wie dieser, das Pathos des Gefühls als moralisches Pathos. Allein gerade neben Rousseau wird Sternes Eigenwert greifbar deutlich. Auch Sterne feiert die Empfindung; auch er feiert sie in ihrer zartesten Erscheinung und in ihrem einfachen und verschwiegenen Ausdruck. Aber während in Rousseaus Roman der Gefühlsausdruck in pathetische Einsamkeit ausläuft, öffnet er bei Sterne, noch in seinen verhüllten Formen, die Beziehung von Mensch zu Mensch. Wo die Ausdruckszeichen sich bei Rousseau verdichten und festigen, werden sie bei Sterne weit und durchsichtig. Wenn Rousseau die Welt meidet, die ihn mißversteht, so dringt Sterne in der gleichen Welt der Mißverständnisse zur Freiheit des Allverstehens durch. Während Rousseau mit seinen Pariser Freunden, den Atheisten um Holbach, bricht, predigt Sterne vor ihnen und scherzt bei ihnen über seinen Wunderglauben. Denn Sterne verharrt nicht im Pathos der Empfindung und nicht in der Enge ihrer hilflosen Äußerung, sondern er geht frei um seine Gestalten herum und fügt sie, die sich nicht rühren können, gütig zueinander, daß sie sich verstehen und lieben. Wo ihre Beweglichkeit aufhört, fängt die seine an. Die Einfachheit, die sie haben, ist eine höchst subtile. Schlichtes und Kompliziertes durchdringen sich; das ist der Reiz des Natürlichen, wie Sterne es sieht. „In one sense, our family was certainly a simple machine"; aber „though it was a simple machine, it had all the honour and advantages of a complex one" 7 . Eines liebäugelt mit dem anderen, wie der komplizierte Vater Shandy mit der „foolish scullion": „My father, I think, kept her for her simplicity" 8 . Diese innere Spannweite ist immer offen; sie gibt dem Werk den seelischen und geistigen Spielraum. Vater Shandy hat an ihr teil; über die anderen Figuren geht sie hinweg. Aber sie hält sie alle zusammen, und sie ist das Medium der Verständigung von Mensch zu Mensch. In der hilflosesten Form noch und durch alles Mißverständnis und Unverständnis hindurch finden die einfachen Wesen zueinander. „And trust me, Susy, added the Corporal, turning to Susannah, whose eyes were swimming in water, — before that time comes round again, — many a bright eye will be dim. — Susannah

Innere Verbindung von Pathos und Humor bei Sterne

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placed it to the right side of the page; she wept, — but she curt'sied too." „What is the finest face that ever man looked at! — I could hear Trim talk so for ever, cried Susannah, — what is it! — (Susannah laid her hand upon Trim's shoulder) — but corruption! — Susannah took it off. — Now I love you for this; and 'tis this delicious mixture within you which makes you dear creatures what you are" 9 . So findet durch Begreifen und Nichtbegreifen hindurch das Herz seinen schnurgeraden Weg. Und wo die Kette der Mißverständnisse ins Leere zu laufen droht, wird sie von höherer Warte noch übersehen, wie am Schluß der Rede über den Tod des Sohnes, die Vater Shandy dem Onkel Toby hält: „ I have three desolate children — says Socrates. — Then, cried my mother, opening the door, — you have one more, Mr. Shandy, than I know of. By heaven! I have one less, — said my father, getting up and walking out of the room. — They are Socrates's children, said my uncle Toby. — He has been dead a hundred years ago, replied my mother. My uncle Toby was no chronologer . . ." 1 0 . So treten sie, wo einer immer noch weniger begreift als der andere, in das Licht einer Gerechtigkeit, die sie alle in der Würde ihrer Unwissenheit gleich sicher und unbeschadet erhält; sie treten in das Licht des Humors. Sternes Pathos und Sternes Humor gehen ineinander über. Soweit der menschliche Ausdruck reicht, wird er pathetisch vorgetragen; wo er versagt, wird er vor dem großen Mißverstehen der Welt begnadigt und in einer höheren Weisheit aufgenommen. Ob aber eine Äußerung ihr Ziel erreicht oder nicht, das liegt nicht bei ihr allein, sondern bei den tausend Umständen der Welt, in die sie eintritt. So stehen immer Pathos und Humor, in geheimer Verknüpfung, zugleich bereit und geben dem inneren Vorgang im voraus seine Mehrdeutigkeit. Noch hinter dem dichtesten Ernst der Empfindung wartet die Entlarvung. Das macht die Empfindung, wo sie ungestört bleibt, noch kostbarer, noch dringlicher und gibt dem Gefühl jene Reizbarkeit und Hellhörigkeit, die Sterne mit „sensibility" und „sentimentality" bezeichnet hat. Und so zart die Empfindung in ihrer ungestörten Äußerung ist, so zart ist die Entlarvung, die den Widerspruch von Gefühl und Ausdruck zugleich aufdeckt und versöhnt und die das Mißverhältnis in seinem ganzen rührenden Reiz auffängt und verklärt. Diese Durchdringung von Pathos und Humor gibt Sternes gesamtem Werk das persönliche Zeichen. Hier ist er ganz er selbst, und mit der Grazie des Schwebens auf der Schwelle von Lachen und Weinen gibt er der Kunst einen Wert zurück, den sie seit Shakespeare nicht mehr besessen hatte und den der Umschwung am Ausgang des Klassizismus nur in seinen Elementen, nicht in der Form ihrer Verbindung, vorbereiten konnte. Auch in Sterne selbst hat sich diese letzte seelische und geistige Freiheit vorbereiten müssen. Auch auf seinem Wege, von den politischen Artikeln und den Brautbriefen der Frühzeit über den „Tristram Shandy" und die

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Naturnachahmung und Naturverbesserung, vom Moralischen her gesehen: Johnson

„Sentimental Journey" durch die Briefe bis zum „Journal to Eliza", lassen sich die Elemente verfolgen, die sich zum bunten Ganzen seines Lebens und seines Werkes verbinden. *

Sterne war Geistlicher. Er war es nicht aus freien Stücken geworden; aber er wandte es, so wie er es verstand, zum Guten: er lehrte von der Kanzel sein neues Menschenbild. Die Eigenart und der Wert seiner Predigten liegen nicht im Theologischen, sondern im Psychologischen. Die Bibel ist ihm eine künstlerische Offenbarung des menschlichen Herzens. Seine erste und letzte Mahnung ist die zur Selbsterkenntnis. Sein höchstes Gut ist demütige Gelassenheit, sein sicherster Weg dahin das Suchen nach den verborgenen Quellen unserer Wünsche und Leidenschaften. Soweit spricht Sterne die Sprache seiner Zeit. Das moralische Ziel der Demut und die moralische Pflicht der Selbstprüfung wurden überall verkündet. Nur verstand jeder das Moralische auf seine Weise. Fielding hatte gegen Richardsons „models of perfection" seine Charaktere entwickelt. Im „Tom Jones" lehnt er sowohl die „angelic perfection" wie die „diabolical depravity" der Romanfiguren als psychologisch unzweckmäßig ab, weil der Leser vor dem Bilde des Vollkommenen und vor dem des Niedrigen gleichermaßen erschrecken müsse. Viel klarer, sagt er, heben sich Tugend und Laster voneinander ab, wenn man sie gemischt zeige, wie sie die Natur liefere 11 . Diese Aufforderung zur Mischung von Gut und Böse im Roman hat Samuel Johnson bei der ersten Gelegenheit angegriffen: „It is justly considered as the greatest excellency of art to imitate nature; but it is necessary to distinguish those parts of nature, which are most proper for imitation." „It is not a sufficient vindication of a character, that it is drawn as it appears, for many characters ought never to be drawn" 12 . Der ästhetische Angriff von Reynolds gegen Fielding spiegelt sich hier im Moralischen wieder. Wie Reynolds im Streit um Garricks Darstellung seinen ästhetischen Begriff der „improved nature" verwendet, so spielt nun Reynolds' Freund Johnson seinen moralischen Begriff der auszuwählenden Natur gegen Fielding aus. ,.Many writers, for the sake of following nature, so mingle good and bad qualities . . . , that they are both equally conspicuous"*. Johnson fordert statt dessen, daß das Laster in seiner reizlosen Nacktheit, ohne alle mildernden Züge gezeigt werde**; denn „vice should always disgust" 13 . Auf der * Rambler Nr. 4. Wie weit eine solche Forderung aus Johnsons psychischer Verfassung abzuleiten wäre, darf in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden; denn Johnsons literarisches und moralisches Urteil blieb nicht sein privates, sondern wurde von einer starken Partei geteilt und befolgt. ** Johnson selbst hat in den Essays „The History of Misella debauched by Relation" und „Misella's Description of the Life of a Prostitute" (Rambler Nr. 170 und Nr. 171) ein solches ernüchterndes Bild des Lasters gezeichnet.

Mischung von Gut und Böse in der K u n s t : F i e l d i n g

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anderen Seite verlangt er vom Roman „the most perfect idea of virtue; of virtue not angelical, nor above probability . . ., but the highest and purest that humanity can reach" 13 . Wenn Sterne gegen irgendeine Anschauung vom Menschen und von Charaktergestaltung ein abgründiges Mißtrauen hegte, so gegen diese, deren moralisches Pathos ihm unnatürlich, ja heuchlerisch erschienen wäre. Sein ganzer Grimm galt der künstlichen Würde, sein ganzes Streben der Entlarvung des Scheins durch die kleinen Wirklichkeiten des Lebens. Hier hätte er beides, den Schein der Würde, beispielhaft vor Augen gehabt. Auch Johnson litt unter dem Abstand seines Ideals von der Wirklichkeit. Er hielt dafür eine stoische Lösung bereit, die das Ideal nur noch entschiedener zur Abstraktion machte und die Wirklichkeit mit Resignation abspeiste. Das Ideal, sagte er, darf überhaupt nicht an der Wirklichkeit geprüft werden; daß man es nicht erreicht, sagt nichts gegen seine Richtigkeit. „Argument is to be invalidated only by argument" 14 . Die Anspannung des Idealischen ermattet naturgemäß im häuslichen Leben. „Domestic greatness" ist „unattainable" 15 . Zwar müssen wir das höchste Ziel der Tugend aufrichten, dürfen aber im Leben „sink down to humbler virtue" 15 . Seine Resignation begnügt sich endlich mit dem bescheidensten Maß: der Autor „shall not act worse than others because he writes better" 16 . Diese Verbindung von höchstem Ideal und dürftigster Wirklichkeit, von theoretischem Anspruch und praktischem Verzicht auf das oberste moralische Gut, mußte schon Fielding fragwürdig erscheinen, der die ideellen Grenzfälle des Moralischen wegen ihrer praktischen Unwahrscheinlichkeit von der künstlerischen Darstellung auszuschließen empfohlen hatte 17 . Indessen glaubte Fielding immerhin noch an die Möglichkeit, Gut und Böse in jedem Falle zu unterscheiden. Sterne dagegen würde das Schwanken zwischen moralischem Pathos und moralischer Resignation als das natürliche Ergebnis nicht nur eines überspannten, nämlich innerlich unwahren moralischen Anspruchs, sondern sogar eines psychologischen Irrtums gehalten haben. Denn wenn Fielding die Tugenden und Laster gemischt dargestellt wissen will, um sie desto deutlicher voneinander abzuheben, so will Sterne sie gemischt darstellen, um zu zeigen, daß sie überhaupt nicht zu trennen sind und daß wir die menschlichen Regungen nicht bewerten können, wenn wir versuchen, Gut und Böse gegeneinander abzuwägen, sondern nur wenn wir hinter die Schemen von Tugend und Laster zu den wahren Quellen des Seelischen vorstoßen und von dort aus erkennen, daß Gut und Böse Werte sind, die nicht nur grenzenlos ineinander überfließen, sondern vor dem tiefer dringenden Blick ihre Merkmale verlieren. In der Predigt „The Character of Herod" zeichnet Sterne „a bad man . . . with a mixture of good qualities". „Now, in all such complex charac-

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Verbindung von Gut und Böse in der K u n s t : Sterne

ters* as this, — the way the world usually judges is — to sum up the good and the bad against each other." Das aber ist, fürchtet Sterne, „often a fallacious reckoning"; und er empfiehlt statt dessen, man solle „distinguish . . . the principal and ruling passion which leads the character . . . and then take notice how far his other qualities, good and bad, are brought to serve and support that. . . . All the variety of shapes and contradictory appearances we put on are, in truth, but so many different attempts to gratify the same governing appetite." Damit ist die Frage nach den Werten der Leidenschaften verabschiedet und die nach ihrem Wirken grundsätzlich gestellt. Der Begriff der „ruling passion"** rückt nun in den Mittelpunkt von Sternes Psychologie; vor ihm hören Gut und Böse auf, zunächst isolierbare, dann auch überhaupt eindeutig faßbare Werte zu sein. Die Predigt „Evil Speaking" geht davon aus, daß kein Charakter mit sich selbst in Einklang ist und daß Lebensalter, Erfahrung und Nachdenken die menschliche Seele verändern. Nachdem die innere Einheitlichkeit und die Beständigkeit des Charakters damit aufgehoben sind, können seine moralischen Eigenschaften nicht mehr als abgegrenzte Einzelwerte gelten; Gut und Böse treten nur noch in Mischungen auf, und „there are no alliances too strange for this world." Die Predigt „The Ways of Providence justified to Man" greift noch darüber hinaus: „The characters of men are not easily penetrated, as they depend often upon the retired, unseen parts of a man's life". „These hints may be sufficient to show how hard it is to come at the matter of fact; — but one may go a step further, — and say even that, in many cases, could we come to the knowledge of it, it is not sufficient by itself to pronounce a man either good or bad." Fielding hatte im „Tom Jones" den Ansatz dazu gemacht, das Moralische auf das Psychologische zu beziehen und es dadurch umzuwerten. „That virtue is the certain road to happiness, and vice to misery", hält er für „a very wholesome and comfortable doctrine, and to which we have but one objection, namely, that it is not true" 18 . Sterne geht noch einen Schritt weiter. Er bezweifelt, daß man überhaupt zu erkennen vermag, wie weit die Vorsehung gerecht sei, ob also die Guten glücklich und die Bösen unglücklich seien, weil man beides nicht mit Sicherheit unterscheiden kann: „the good from the bad and secondly, the respective state of their enjoyments or sufferings" 19 . Denn zum ersten sind Gut und Böse im Menschen und in der Welt „oddly perplexed" 1 9 ; und zum zweiten hat jeder eine andere Vorstellung vom Glück. Der Mensch steht innen und außen vor Rätseln. „Man surely is a compound of riddles and contradictions" 20 und „We live amongst mysteries and riddles" 21 sind Sternes Worte dafür, die formelhaft in seinen Werken immer wiederkehren. Die * „Complex character" ist der Terminus, den Sterne auch in der Predigt vor Hume später gebraucht. *•* Popes „Master-Passion" ist daneben noch psychologisch u n e n t w i c k e l t .

Johnsons moralisches Urteil ü b e r Fielding und ü b e r Sterne

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Folgerung ist eine doppelte. Einerseits eine Mahnung zu immer neuer Bemühung, die „dark corners and recesses of the heart" zu erforschen 22 und nicht mit oberflächlichen Ergebnissen sich zu begnügen; denn „the first springs and motives . . . lie deeper still". Andererseits eine Mahnung zum Verzicht auf moralisches Urteilen überhaupt; denn so wie etwa die Verleugnung des Herrn durch Petrus zugleich als ein Fehler und als die Folge eines guten, wenn auch vorschnellen Entschlusses angesehen werden kann 2 3 , so wechseln Tugend und Laster nach dem Gesichtspunkt, den man an den Vorgang heranträgt. „Every thing has two views — . . . truth lies betwixt — or rather, good and evil are mixed up together; which of the two preponderates, is beyond our inquiry" 2 4 ; das ist der Verzicht auf das Urteil über die Welt. Und der Verzicht auf das Urteil über den Menschen schließt sich ihm an: „So strange and unaccountable a creature is man!" 2 5 Die zeitgenössischen Urteile über Sternes Predigten und über seinen „Tristram Shandy" sind zumeist nicht ästhetischer, sondern moralischer Natur. Die Gruppe Richardson, Goldsmith, Johnson war sich einig in der moralischen Ablehnung der beiden Neuerer Fielding und Sterne. Johnson sah bei Richardson „characters of nature", bei Fielding nur „characters of manners" 26 . Er nannte Fielding „a blockhead", „a barren rascal" und fand „more knowledge of the heart in one letter of Richardson's than in all Tom Jones" 27 . Er sprach schließlich Richardsons Satz über Fielding gerne nach: „The virtues of Fielding's heroes were the vices of a truly good man" 28 . Das wendet sich ausdrücklich gegen die Vermischung von Gut und Böse, die Fielding vornahm. Sir John Hawkins, der Musikhistoriker, zugleich Johnsons Nachlaßverwalter und Biograph, tritt JohnBon zur Seite, wenn er von Fielding behauptet: „He has done more towards corrupting the rising generation than any writer we know of" 29 . Und noch Boswells Ehrenrettungsversuch, der immerhin den Fielding-Leser „by more regulated instructors to a higher state of ethical perfection" hinaufzuführen für möglich hält 30 , bekundet, daß man Fieldings Werk vom Moralischen her sah. Vom Moralischen her, allerdings in einem noch engeren Sinne, sah man auch Sterne; und auch hier zeichnen sich die gleichen Fronten ab. Richardson ruft über die ersten beiden Bände des „Tristram Shandy" aus: „Execrable I cannot but call them" 31 . Goldsmith verurteilt den „Tristram Shandy" wegen seiner „baudry and pertness" 32 und überschreibt 6eine Kritik am „Tristram Shandy": „The absurd taste for obscene and pert novels, such as Tristram Shandy, ridiculed" 33 . Johnson maß Sternes Predigten an ihren Vorbildern und sagte mit Bezug auf diese: „There you drink the cup of salvation to the bottom" und auf die Sternes: „Here you have merely the froth from the surface" 34 . Sternes Predigten las er „in a stagecoach; I should not even have deigned to have looked at them had I been at large" 35 . Den „Tristram Shandy" schwieg er tot. Sterne

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Demut bei Sterne und bei Johnson

selbst begegnete ihm ein einziges Mal, bei Reynolds im Winter auf 1762, und verletzte ihn sogleich in seinen beiden Grundtugenden: als Moralisten und als Stilisten. Sterne brachte eine Zeichnung mit, die nach Johnson „too indecently gross" war „to have delighted a brothel". Ferner las Sterne eine Widmung an Lord Spencer vor. Nach kaum sechs Zeilen 6agte ihm Johnson, das sei kein Englisch; und angesichts der Zeichnung verließ er das Haus, entschlossen, lieber die Gesellschaft Reynolds' zu entbehren, als Sterne noch einmal sehen zu müssen 36 . Indessen gibt es ein verräterisches Wort des alten Johnson, das anzeigt, wie sehr zwei seiner nächsten Freunde unter Sternes Einfluß standen: Johnson bekennt, daß er seine ganze Kraft habe aufbieten müssen, um der Wirkung, die Sternes faszinierender Umgang auf sie ausübte, zu begegnen. Diese beiden waren Reynolds und Garrick 37 . Sternes Verzicht auf ein Urteil über die Menschen und die Welt und sein faszinierender Umgang waren verwandte Tugenden; es waren seine beiden Mittel, die „riddles und contradictions" zu überwinden: Demut und Humor. Die Demut Sternes vor den tausend kleinen Erscheinungen der Vorsehung ist wohl zu unterscheiden von der „Patience" und „Submission", die Johnson empfahl 38 . Johnsons Fassung behält immer einen stoischen Zug. Einer seiner Rambler-Aufsätze greift schon im Titel „The frequent contemplation of death necessary to moderate the passions" den stoischen Begriff der zund%-e.ia auf und lehnt sich mit der Formulierung „The disturbers of our happiness are our desires, our griefs, and our fears" 39 unmittelbar an die stoische Affektenlehre an. Wenn der Tod für Johnson so auf der einen Seite eine Mahnung ist, die Leidenschaften zu dämpfen, so ist er ihm andererseits eine Mahnung zur Tat. „We are not to repine, but we may lawfully struggle; for the calamities of life, like the necessities of nature, are calls to labour and exercises of diligence" 40 . Johnsons geduldige Fassung ist eine tätige Haltung. Sternes demütige Schickung ist eine lässige Haltung. Ihm ist der Tod eine Mahnung, die Empfindungen nur noch stärker zu kosten; aber die letzte Waffe gegen das Übel ist ihm die „ease and indifference of mind" 41 . Beide, Johnson und Sterne, weisen das Stoische von sich ab: Johnson die „vanity of stoicism" 42 , die, indem sie den Schmerz verleugnen will, „opinions opposite to nature" aufstellt; Sterne die „stoical stupidity" 43 , die eine bloße äußerliche Unempfindlichkeit gegen das Übel ist. Beide auch setzen Tugend und Glauben als Wege zur Glückseligkeit über die Philosophie. „If instead of wandering after the meteors of philosophy which fill the world with splendour for a while, and then sink and are forgotten, the candidates of learning fixed their eyes upon the permanent lustre of moral and religious truth, they would find a more certain direction to happiness" heißt es bei Johnson 44 . Und auch Sterne erblickt in den „philosophic consolations" eher „good sayings than good remedies; so that, if a man was bereaved of a promised child, in whom all his

Demut bei Sterne und bei H u m e

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hopes and expectations centered, . . . Seneca or Epictetus would tell the pensive parent . . . that to die was the necessary and unavoidable debt of nature" 4 5 . Einen wirklichen Schutz gegen das Übel aber bietet nur ,,a just sense of God's providence" und nicht „all the heroic precepts which the pedantry of philosophy has to offer" 4 5. Bei allem Gleichlaut der Worte ist jedoch Johnsons Demut im Grunde ein Ausdruck philosophischer Resignation, Sternes Demut ein Ausdruck der menschlichen Offenheit und Empfindlichkeit, die ihm angeboren waren. Wenn Johnsons stoische Bescheidung in Don Quixotes Hoffnungen auf die Insel für Sancho Pansa nur bedauernswerte kindliche Einbildungen sehen kann, die ebenso lächerlich wie unsere eigenen Wünsche sind, nur noch sonderbarer im Gegenstand und noch unpassender in den Mitteln, ihn zu erreichen 4 6 , so weiß sich Sterne gerade darin Don Quixote verwandt, daß er den Schmerz und die Enttäuschung immer wieder auf sich nimmt und doch stets neu auf „melancholy adventures" auszieht 47 . Sternes Bescheidung vor der Wirklichkeit weicht in die Phantasie aus, wenn die Last zu schwer wird, in eine Welt der Unwirklichkeit, die ihm immer offenstand, ja, in der er zeitlebens für jeden verhüllt war, der ihn zu kennen glaubte. Wie Sternes Haltung sich von der Johnsons unterscheidet, so ist sie auch von der Humes zu trennen, dessen Äußerungen sich mit denen Sternes gelegentlich berühren. Wenn Hume „tranquillity and indifference" als höchstes Gut 4 8 , wenn er „benificence and humanity" als die wertvollsten Tugenden preist 4 9 , so scheinen wir mit dieser Sehnsucht nach Frieden und Wohlwollen (aus der Humes gesamte Moralphilosophie entwächst) auf Sterneschem Boden zu stehen. Nicht zufällig sind nacheinander Garrick, Sterne und Hume in Paris als die Gipfel der Urbanität bezeichnet worden. Und gerade Sterne hat in Hume den „man of excellent heart" verehrt, der in Paris auf die Frage eines Marquis, ob er Home, der Dichter, sei, „mildly" verneinte — „tant pis, replied the Marquis" — und nach der Aufklärung von dritter Seite: er sei Hume, der Historiker, — „tant mieux, said the Marquis" — ebenso freundlich wie vorher dankte 5 0 . Jedoch Humes „indifference" gegen Verkennung und Mißverständnis, seine gelassene Liebenswürdigkeit, ist der Ausfluß einer Menschenliebe, die sich von der Sternes greifbar unterscheidet. Während Sternes Wohlwollen und Empfindlichkeit uferlos sind, empfiehlt Hume darin — wie überall — Mäßigung. „Benevolence" wirkt nur dort Gutes, wo sie nicht übertrieben wird. „In a kind of blame we say, a person is too good when he . . . carries his attention for others beyond the proper bounds 5 1 . Und auch die Empfindlichkeit ist ihm ein zweideutiger Wert. Zwar „delicacy of taste" erhebt die Menschen; aber „delicacy of passion, which makes them extremely sensible to all the accidents of life" . . . „is to be lamented and to be remedied if possible" 5 2 . Wo Sternes „delicacy of passion" zur christlichen Demut der Selbstverleugnung führt, wahrt

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Demut als V e r h ä l t n i s zu G o t t : F r ö m m i g k e i t und S i c h e r h e i t

Hume, dem „the whole train of monkish virtues" als wertlos erscheint 511 , bei aller Höflichkeit seine Selbstbehauptung und sein Selbstbewußtsein: „Modesty . . . excludes not a noble pride and spirit" 5 4 . Sternes Demut dagegen ist eine grenzenlose Hingabe an die kleinsten wie an die größten Dinge der Welt. Sie ist die Ehrfurcht vor dem Bettler, von dem er eine Prise Tabak annimmt, um den Wert der Sous, die er ihm gegeben, zu erhöhen 5 5 . Sie ist die Geborgenheit in der großen Natur. „We cannot reason upon it, yet we find the good of it, . . . and that's enough for us" 5 3 . Sternes Demut ist der Kern seiner Frömmigkeit. „Time and chance", die tausend Umstände, die über unsere Vernunft hinweg den Lauf der Dinge lenken, sind ihm Zeichen der göttlichen Vorsehung 57 . Die Schrecken des Lebens erträgt nur, wer in ihnen die Schickungen Gottes erkennt 5 8 . Die Erziehung zur Demut ist Sternes, des Predigers, großer Plan 5 8 . E r gipfelt in jenem schönen Wort, das das Verlangen nach Einsicht in die Vorsehung zurückweist: „Does not the meanest flower in the field, or the smallest blade of grass baffle the understanding of the most penetrating m i n d ? " 5 9 Es ist diese ganz undogmatische, rein menschliche Frömmigkeit, die Christus als das Vorbild der Demut sieht: „so great and yet so humble a Master, whose whole course of life was a particular lecture to this one virtue" 6 0 . Das neue Menschenbild, das Sterne verkündet, ist ohne christlichen Einfluß nicht zu denken. Es hat etwas von dem Ethos der Erniedrigung, das die Bibel an Christus rühmt: „as the prophet had foretold in that mournful description of him: having no form nor comeliness, nor any beauty that we should desire h i m " 6 1 . Wenn die Demut in solcher Duldsamkeit geläutert wird, erwächst dem Menschen eine unbesiegliche innere Kraft und Festigkeit. „Where real fortitude and true personal courage are wanted", da ist der Demütige „much more likely to give proof of it, and I would sooner look for it in such a temper than in that of his adversary. Pride may make a man violent, but Humility* will make him firm"62. Demut hebt den Helden aus der Masse empor. „Humility . . . is in life what the clear obscure is in painting; it makes the hero step forth in the cansas" 6 3 . Die Demut, die hier als ein Merkmal des neuen Begriffs vom Helden auftritt, bezeichnet Sternes Verhältnis zu seiner Umwelt. Sie ist die Grundlage der „mutual toleration" und der „mutual love", zu der ihm alles Reisen dienen soll 6 4 . Denn das „Savoir vivre" löst die Vorurteile gegen fremde Menschen und Sitten a u f 6 4 ; und „in pursuit of Nature and those affections, which arise out of her, which makes us love each other, — and the world, better than we d o " 6 5 lernen wir empfinden, daß „whatsoever has the character of man, and wears the same image of God that he does, is truly his brother" 6 6 . So ist Demut vor dem Nächsten und seiner * „ P r i d e " und „Humility", bei H u m e das oberste Begriffspaar seiner L e h r e von den „Passions", heißen dort etwas anderes: „ P r i d e " ist bei H u m e e t w a : Sicherheit, „Humility" etwa: Niedergeschlagenheit. Siehe: Hume, Dissertation on the Passions.

Demut als Verhältnis zu den Menschen: Menschlichkeit und Menschenliebe

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Eigenart die Voraussetzung der „social virtue" und des „public spirit" 6 6 , die zur Menschenliebe im weitesten Sinne führen. Menschenliebe zu lehren ist Sternes höchstes Ziel. Vor den beiden Schöpfungen, die ihm moralisch die wichtigsten waren, bekennt er sich zu ihm: vor den Predigten, die die Menschenliebe fordern, und vor der Gestalt Onkel Tobys, die sie verkörpert. „The Sermons turn chiefly upon philanthropy", sagt Sterne im Vorwort zu den Predigten; und von der „Sentimental Journey" aus blickt er auf Onkel Toby zurück als auf den liebsten Freund, „whose philanthropy I never think o f . . . but my eyes gush out with tears" 6 7 . Die bewegende Kraft, die zur „Philanthropy" führt, ist „Humanity", jene Eigenschaft der Witwe Wadman, die Onkel Toby oben links auf den Bogen schreiben läßt, der ihre tausend Tugenden aufzählen soll 6 8 , jener ursprünglichste Trieb, der schon in seiner Bezeichnung ausdrückt, daß er dem Menschen eingeboren ist: „We express that sensation by the word Humanity, as if it was unseparable from our nature" 6 9 . Sternes Weisung durch „Humanity" zur „Philanthropy" ist weitgehend Gemeingut seiner Zeit. Auch die Vorstellung vom Menschen, die ihr zugrundeliegt, ist nicht sein Eigentum allein. Der Mensch ist von Natur gut, aber in der schlechten Welt verdorben. „Nature never made an unkind creature — ill usage and bad habits have deformed a fair and lovely creature" 7 0 . „Man as fashioned by his Maker" ist „innocent and upright, full of the tenderest dispositions, — with a heart inclining him to kindness and the love and protection of his species." Aber wenn wir ihn betrachten „not as he was made, but as he is", so finden wir „a creature by the violence and irregularity of his passions, capable of being perverted from all these friendly and benevolent propensities, and sometimes hurried into excesses so opposite to them as to render the most unnatural and horrid accounts of what he does but too probable" 7 1 . Sterne bleibt nicht bei der Betrachtung dieses Wandels stehen; er dringt auf eine Wiederherstellung der verlorenen Werte, ja er wendet sich mit Nachdruck gegen die „horrid accounts", ob er sie schon als „but too probable" empfindet. E r bedauert die „frequent representations of human nature under this hideous picture of deformity, by leaving out all that is generous and friendly in the heart of m a n " 7 2 und tadelt die „satirical pens of so many of the French writers, as well as of our own country, who, with more wit than well meaning, have fallen upon the whole species as a set of creatures incapable either of private friendship or public spirit" 7 2 . Dem setzt Sterne seine Methode zur Besserung des Menschen entgegen: „The way to make a man honest is to suppose him so and treat him as such" 7 2 . Dadurch gewinnt seine Anschauung vom Menschen ihre innere Weite. In dem Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung erhält sie vom Moralischen, ja vom Pädagogischen her immer wieder neue Spannung und neuen Auftrieb. Dieser moralische Auftrieb erscheint noch größer, wenn man ihn gegen das düstere Weltbild hält, das Sterne zeitlebens eigen war. „On the fifth

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Demut v o r dem Schicksal.

Ihr K e n n z e i c h e n : der e i n f a c h e A u s d r u c k

day of November, 1718 . . . was I, Tristram Shandy, Gentleman, brought forth into this scurvy and disastrous world of ours" 73 ; so beginnt die Lebensgeschichte seines Helden; das gibt den Auftakt zu zahllosen, häufig biblisch gefärbten Klagen über die Schlechtigkeit der Welt. Weisheit, Verstand und Tüchtigkeit werden zunichte vor den Zufällen der Zeit und der Umstände 74 ; und nicht einmal der Glaube hilft gegen die allgemeine Verderbtheit. „If, after all, the Christian religion has not left a sufficient provision against the wickedness of the world, the short und true answer is this, that there can be none" 75 . Dieser abgründige Pessimismus Sternes ist der beständige Untergrund seiner Demut und seines Humors, der ihnen erst ihren Wert und ihre Würde gibt. Wenn das Weltunglück einen Sinn für ihn hat, so ist es der, den Menschen durch Trauer zur Tugend zu lenken 7 6 ; nur das Schreckliche kann „eure his pride and clothe him with humility" 77 . „Humility" ist die wahre Haltung vor den Schickungen, die uns treffen. Nun werden die beiden Reden über den Tod, die Reden von Vater Shandy und die von Trim, von einer neuen Seite her verständlich. Trims einfaches Wort und seine einfache Geste, die das Unsagbare ausspricht, kommen aus der Demut; Vater Shandys Beredsamkeit aber bemüht sich um philosophische Rechenschaft. Sie müht sich vergebens; die Befreiung dringt nicht nach innen. Es sind die gleichen Stoiker, die Sterne in einer Predigt 78 als schlechte Helfer zurückgewiesen hat, deren sich nun Vater Shandy bedient. Ja, das gleiche stoische Argument, „that to die was the necessary and unavoidable debt of nature" 78 , das Sterne in der Predigt als ungenügenden Trost beim Tode eines geliebten Kindes abgelehnt hat, kehrt in der großen Rede Vater Shandys beim Tode seines Sohnes wieder: „To die is the great debt and tribute due unto nature" 79 . Der Zusammenhang lehrt uns verstehen, daß Vater Shandys Eloquenz, die neben dem einfachen Worte Trims an Kraft des Ausdrucks zurückstand, auch an Kraft des Inhalts neben ihr nicht ausreicht. Beides: philosophischer Inhalt und gewandte Form sind schwach, gemessen an dem Inhalt und der Form, die die Demut eingibt. Sterne hat als Yorick dem gelehrten Prunken vor der Gemeinde die einfache Predigt entgegengestellt: „For my own part . . . I had rather direct five words point-blank to the heart" 80 . Eben dies leistet hier Trim. Während Vater Shandy auf höchst umständliche Weise hinter einer Fülle von philosophischen Zitaten, die mit einer obszönen Anekdote enden, eine Äußerung seines Gefühls anstrebt, spricht Trim wortlos und unmittelbar, „as nature could lead him, to the heart" 81 . Es ist ein Sieg des Einfachen über das Komplizierte, den Sterne hier schildert und auf den er in dem Appell an die Mächtigen der Erde so nachdrücklich verweist. Die Würdigung des Einfachen gehört zu seiner moralischen Mission. „Simplicity is the great friend to Nature, and if I woüld be proud of anything in this silly world it should be of this honest alliance" 82 .

Einfachheit und Natur - - Menschliche Einfachheit

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„Nature and Simplicity", die seit dem Spectator wieder im Leben und in der Kunst zu Ehren gebrachten, sind auch bei Sterne die obersten Werte des Menschlichen. In welchem Sinne er die vielgebrauchten Worte versteht, wird aus dem ersten seiner Briefe an die Braut, die im Frühjahr 1741 geschrieben sind, schon erkennbar. In der paradiesischen Einsamkeit, die er für sich und die Geliebte erträumt, wollen sie „learn of Nature how to live"; und „simplicity shall not be tortured by a r t " 8 3 . Es ist das Ideal des naturverbundenen Lebens in der Unschuld der Einfalt, das er ersehnt. Es kehrt zwanzig Jahre später, weniger abstrakt geworden, als natürliche Einfalt des Charakters in seinem Roman wieder. Onkel Toby und der Korporal Trim sind seine Verkörperungen. Wie Trim beim Tode des Sohnes seines Herrn zu den Herzen predigt, ob er schon die Mittel der Rhetorik nicht kennt, so ist es Trim, der christlich handelt, ob er schon die Gebote nur an Hand des Exerzierreglements aufsagen kann. „Prithee, Trim, quoth my father, turning round to him, — what dost thou mean by ,honouring thy father and thy mother?' — Allowing them, an' please your honour, three half-pence a day out of my pay, when they grow old. — And didst thou do that, Trim? said Yorick. — He did indeed, replied my uncle Toby. — Then, Trim, said Yorick, springing out of his chair, and taking the Corporal by the hand, thou art the best commentator upon that part of the Decalogue; and I honour thee more for it, Corporal Trim, than if thou hadst had a hand in the Talmud itself" 8 4 . Und ebenso bewährt sich Onkel Tobys Einfachheit; sie bewährt sich vor den zwei stärksten Mächten, die ihm entgegen treten, der Liebe und dem Tod. Beim Tod Le Fevers zeigt sich Onkel Tobys ganze Kernhaftigkeit. Sein Mitgefühl und seine Hilfe wählen den schlichtesten und geradesten Ausdruck. Als er die ergreifende Geschichte Le Fevers aus Trims Munde erfährt, ist seine erste Äußerung ein einfaches Zeichen der Erschöpfung. „I wish, said my uncle Toby, with a deep sigh, — I wish, Trim, I was asleep" 8 5 . Als aber Trim den Zustand Le Fevers als hoffnungslos bezeichnet, rafft Onkel Toby sich auf zum Befehl der Gesundung. „He shall not die, by G—, cried my uncle Toby" 8 6 . Und sogleich bereitet er die einfachste Hilfe vor, „put his purse into his breeches-pocket, and, having ordered the Corporal to go early in the morning for a physician, — he went to bed, and fell asleep." 8 7 So einfach Onkel Toby hier handelt, von dem ersten Schreck über das Gegenkommando bis zur zweckmäßigsten Tat, so einfach empfindet und handelt er auch in seiner Liebe. „When he felt he was in love with Widow Wadman, he had no conception that the thing was any more to be made a mystery of, than if Mrs. Wadman had given him a cut with a gaped knife across his finger. . . . ,1 am in love, Corporal!' quoth my uncle Toby. In love! — said the Corporal, — your honour was very well the day before yesterday . . . " 8 8 . Dieser ersten Äußerung Onkel Tobys folgt eine zweite vor seinem Bruder, der eben eine Untersuchung darüber anfangen will, ob Onkel Tobys Liebe nach Piaton die irdische

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E i n f a c h h e i t , in doppeltein S i n n e verstanden

oder die himmlische sei. „What signifies it, . . . replied my uncle Toby, which of the two it is, provided it will but make a man marry, and love his wife, and get a few children?" 8 9 Und dem entspricht seine Erklärung vor der Witwe Wadman: „He marched up abreast with her to the sofa, and in three plain words . . . told her, ,he was in love'" 9 0 . Die schlichte Einfalt des Herzens indessen, die hier waltet und die Sterne in den Predigten und Briefen gerne um ihrer selbst willen preist, tritt da, wo er eine lebendige Welt gestaltet, immer in einem zweideutigen Sinne auf: zugleich in ihrer Weite und in ihrer Enge. Es gehört zu Sternes persönlichstem Reiz, diese beiden Werte beständig gegeneinander auszuwiegen und ineinander fühlen zu lassen. So steht er als Betrachter immer hinter seinen Gestalten und blickt ihnen über die Schulter. Als es herauskommt, daß Onkel Toby und die Witwe Wadman in der Einfalt ihres Gemütes von der Liebe des anderen nichts ahnen, entfährt ihm der Ausruf: „Precious souls" 9 1 . Und wenn Onkel Toby und Trim mit Zeitung und Spaten in ihre Welt hinein marschieren und die Geschichte Europas nachleben, sitzt er hinter der Taxushecke und genießt die Seligkeit ihrer Beschränktheit. Diese Spannung zwischen Gebundenheit und Beweglichkeit durchzieht das ganze Werk, und immer ist es eine Form der wechselseitigen Zuneigung, ja des Neides: jedes möchte am anderen teilhaben. Sogar die einfachen Gestalten Onkel Toby und Trim kommen für Augenblicke zum Bewußtsein ihrer selbst und können darüber scherzen. So unterbricht Onkel Toby die Geschichte Trims von der Begine, die seine Wunde am Knie heilte, und macht ihn lächeln. „ I shall never, an' please your honour, behold another hand so white whilst I live. — Not in that place, said my uncle Toby. Though it was the most serious despair in nature to the Corporal, — he could not forbear smiling" 9 2 . Und so stehen die beiden alten Soldaten in ihrer Attacke auf die Frauen vor dein Hause der Witwe Wadman still und genießen ihre militärischen Gleichnisse: „And whilst your honour engages Mrs. Wadman in the parlour, to the right, — I'll attack Mrs. Bridget in the kitchen, to the left". „ I wish — I may but manage it right, said my uncle Toby; — but I declare, Corporal, I had rather march up to the very edge of a trench. — A woman is quite a different thing, said the Corporal. — I suppose so, quoth my uncle Toby" 9 3 . Doch bleiben diese Züge des ironischen Selbstbewußtseins den beiden Soldaten eigentlich fremd und treten auch nur zu Ende des „Tristram Shandy", als die Umrisse der Charaktere nachgeben, an ihnen auf. Im Ganzen sind es nicht die einfachen Menschen, die von sich selbst wissen, sondern Sterne, der sie liebt und verehrt, schafft um sie herum eine Gegenwelt, zu der sie immer in der Spannung des Humors gehalten werden. Nicht erst vor dem Hintergrund der Gegenwelt werden Sternes Menschen durchsichtig; sie sind es schon dank ihrer eigenen Zartheit. Gerade die einfachen Wesen in ihrer schlichten Sicherheit haben an der hohen seelischen Empfindlichkeit teil, die Sterne selbst eigen war. „My feelings

Zartsinn und Demut

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are too nice for the world I live in" 9 4 . Sterne hegt seine Feinheit als das überzüchtete Organ seiner Wahrnehmung und seines Ausdrucks. Er sah die Welt so zart wie er war und suchte sie in ihren verborgenen Reizen aufzuspüren und zu erfassen. „Nature is shy and hates to act before spectators; but in such an unobserved corner you sometimes see a single short scene of hers, worth all the sentiments of a dozen French plays compounded together" 9 5 . So werden alle menschlichen Vorgänge heimlich und delikat. Die Fingerspitze der Begine, die um Trims verwundetes Knie herum reibt, entfacht in ihm jene Liebe, über die Onkel Toby zu scherzen wußte 96 . Die erste und einzige körperliche Begegnung von Onkel Toby und der Witwe Wadman ist die Berührung ihrer Zeigefinger auf der Landkarte 9 7 . Und die Deutung ihrer Spuren und der fast unsichtbaren Stiche der zwei Nadeln, an denen sie hing 9 8 , steigert das Zartgefühl bis ins Minutiöse. Diese Subtilität erleuchtet die einfachen Menschen von innen her. Es war zum einen Teil Sternes Abneigung gegen das Elementare der Liebe, die solche Verfeinerung bewirkte, gegen jene „passion, which couples and equals wise man with fools", gegen die Leidenschaft, vor der sich „the delicacy of Diogenes and Plato" sträubte: „Wherefore when we go about to make and plant a man, do we put out the candle?" 9 9 Es war zum anderen Teil seine Demut vor den Geschöpfen der Welt, seine Grazie des Herzens gegen die Mitmenschen, die ihm eine aufdringliche Äußerung versagte. Er gewinnt die Seelen auf behutsame und zwanglose Art: das Kammermädchen legt gerade in dem Augenblick ihre Hand in seinen Arm, da er diesen ihr anbieten will 1 0 0 . Sterne nimmt nur, was sich ihm willig schenkt. Und schließlich gehört dieser Zartsinn bei ihm zu den Voraussetzungen des Moralischen. Sterne hat von der „Sentimental Journey" bekannt: „My design in it was to teach us to love the world and our fellow-creatures better than we do — so it runs most upon those gentler passions and affections, which aid so much to i t " 1 0 1 . Sternes ethisches Ideal, die Zartheit aus der Demut und die Demut aus der Zartheit, hat in seinen obersten Menschenbildern Gestalt angenommen: in Yorick und Onkel Toby. Der Pfarrer Yorick vereint auf sich alle jene Tugenden, die in Sternes Predigten empfohlen sind. Aus Mitleid hat er seine guten Pferde solange verliehen, bis sie aufgebraucht sind. Um seine Wohltätigkeit überhaupt noch ausüben zu können, hat er den letzten Klepper behalten. Aus Demut kleidet er ihn so dürftig wie er ist. Ruhe und Gleichmut sichern ihn dabei vor den Meinungen der Leute. Humor läßt ihn über diesen Zustand und über sich selbst mit lachen 1 0 2 . Humor allerdings ist keine von den Tugenden, die die Predigten ausdrücklich empfehlen. Aber er ist das geheime Zeichen, unter das die Selbsterkenntnis, zu der die Predigten immer mahnen, schließlich gestellt wird. Wenn in den Predigten der Vorgang der Selbsterkenntnis ein Suchen nach der herrschenden Leidenschaft ist, so wird er im „Tristram Shandy" zu einer Form der Selbstentlarvung, die immer den Wider-

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Tapferkeit und Zartsinn

spruch von Tatbestand und Vorstellung öffnet und ihn im Humor versöhnt. Gerade mit der gelassenen Heiterkeit aber, die Yorick und damit Sterne auszeichnet, der sich in seiner Figur hat darstellen wollen, ist er einer Welt wehrlos ausgesetzt, die zwischen boshaftem Witz und harmlosem Scherz nicht unterscheiden kann oder will 1 0 3 . So gehen Demut und Zartheit, Ergebenheit und Schutzlosigkeit auch hier zusammen, und die innere Spannkraft und Bewegungsfreiheit, der Humor, bleibt das letzte Mittel, mit der Welt fertig zu werden. Jede der drei Figuren, Vater Shandy, Yorick und Onkel Toby, charakterisiert sich selbst mit ihrem Begriff vom menschlichen Vorbild, als sie ihre verschiedenen Bedingungen bei der Wahl eines Erziehers für Tristram aussprechen. Vater Shandy verlangt: „He shall be wise and judicious, and learned." Diesen geistigen Werten stellt Yorick die seelischen entgegen, die er selbst in so hohem Maße besitzt: „And why not humble, and moderate, and gentle-tempered, and good?" Als dritter fragt Onkel Toby: „And why not free, and generous, and bountiful, and b r a v e ? " 1 0 4 Damit kommt ein neuer Zug in das Bild vom Menschen, das Sterne aufgestellt hat. Onkel Toby ist Soldat. Er ist ein verwundeter und verabschiedeter Offizier, der die Schlachten, die eben von Marlborough gegen die Franzosen geschlagen werden, aus ganzer Seele miterlebt. Wenn Sterne in Yorick ein Selbstporträt entworfen hat, so hat er zugleich für Onkel Toby aus Eigenem schöpfen können. Und nicht zuletzt jenes Bekenntnis zum Soldatenstand, das Onkel Toby einmal abgibt, spiegelt eine Seite Sternes, der einen Offizier zum Vater und eine Marketendertochter und einstige Hauptmannswitwe zur Mutter hatte und der seine eigenen Knabenjahre zwischen Kasernen verbracht hat: „If, when I was a schoolboy, I could not hear the drum beat but my heart beat with it, — was it my fault? •— Did I plant the propensity there? — Did I sound the alarm within, or N a t u r e ? " 1 0 5 Die soldatische Natur Onkel Tobys und seine Zartheit und Empfindlichkeit stehen nicht nur in keinem Widerspruch zueinander, sondern sie gehören untrennbar zusammen. „Pity", „love" und „bravery" sind in ihm vereint und geben mit der „singleness of heart", der „plainness and simplicity of thinking" und der „modesty of nature" 1 0 6 das Charakterbild, in dem Sterne sein menschliches Ideal gezeichnet hat. In der Predigt „Joseph's History considered" ist dies Ideal der Verbindung von Milde und Stärke, von Großmut und Tapferkeit schon entworfen. „The brave only know to forgive!" heißt es dort, als Josephs Brüder in Ägypten vor ihm Verzeihung finden. „It is the most refined and generous pitch of virtue human nature can arrive at. — Cowards have done good and kind actions; cowards have even fought, nay sometimes even conquered; but a coward never forgave; it is not in his nature; — the power of doing it flows only from a strength and greatness of soul, conscious of its own force and security." So gewinnt Josephs Charakter für Sterne mehr „in

Tapferkeit und Großmut

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generously forgiving an enemy, than if he had taken a city." Das ist der Begriff vom Helden, der im Schlußsatz der Widmung des „Tristram Shandy" an Pitt anklingt: „I am, great sir, (and what is more to your honour), I am, good sir, . . ."107 und der in der Gestalt Onkel Tobys lebendig wird: „There never was a better officer in the king's army — or a better man in God's world, for he would march up to the mouth of a cannon . . .; and yet, for all that, he has a heart as soft as a child for other people: — he would not hurt a chicken" 1 0 8 . So schildert ihn Trim, sein Bursche, der in den flandrischen Schlachten an seiner Seite gefochten hat. „The best hearts, Trim, are ever the b r a v e s t " 1 0 9 ; so antwortet Onkel Toby selbst. Erst die christliche Tugend der Vergebung also erhöht den Kämpfer zum Helden. Nur aus der Sicherheit und der Kraft der Seele fließt die größte Tapferkeit: der Mut zur Gnade. Dies hohe Ideal gewinnt in Onkel Toby alle Züge des Menschlichen und damit eine sprechende Wahrhaftigkeit. „He was a man of courage. . . . I know no man under whose arm I would have sooner taken shelter." „But he was of a peaceful, placid nature" 1 1 0 . Immer wieder stellt Sterne die Verbindung dieser Werte her. Wie nur die Demut die wahre Kraft und den wahren Mut erteilt, so ist der sicherste Schutz bei dem Sanftmütigen, der noch die Fliege, die ihn beim Essen quält, verschont: „Why should I hurt thee? This world surely is wide enough to hold both thee and m e " 1 1 0 . Und wiederum fließt nur aus der Sicherheit des Selbstgefühls die Duldsamkeit gegen den Mitmenschen und dessen Grenzen. Onkel Toby ist es, der seinen Korporal noch da ernst nimmt, wo die andern über ihn lächeln. E r weist Vater Shandys Zweifel, ob Trim die Predigt so gut lesen könne wie er wohl möchte, vornehm zurück: „He can read it as well as I c a n " 1 1 1 . Mit der Tapferkeit des Helden paaren sich der Zartsinn einer Schamhaftigkeit, die jedem obszönen Worte ausweicht oder es mit Pfeifen übertönt 1 1 2 , und eine Hingabe an das Gefühl, die sich der Tränen nicht scheut: „Tears are no proof of cowardice, Trim. — I drop them ofttimes myself, cried my uncle T o b y " 1 1 3 . Damit wandelt sich die Vorstellung vom Helden überhaupt. E r verliert seine starre Würde und gewinnt durch die Vermenschlichung eine neue innere Lebendigkeit. An die Stelle der Unfehlbarkeit im Großen und Kleinen tritt eine Summe von widersprechenden Zügen: ein Charakter in seiner ganzen Spannweite. Und selbst die sonderbarsten Eigenheiten sind dem großen Menschen erlaubt. „Did not Dr. Kunastrokius, that great man, at his leisure hours, take the greatest delight imaginable in combing of asses' tails, and plucking the dead hairs out with his teeth ? " 1 1 4 Das neue Bild des Menschen, das hier sich abzeichnet, darf an der verwandten Entwicklung bei den Nachbarkünsten gemessen werden. Wenn bei Rousseau in der Musik, bei Noverre im Tanz und bei Garrick im Schauspiel die Züge des Einfachen, des Beweglichen und des Rührenden gewonnen waren, so nimmt nun Sterne diese Werte in sich auf und verleiht

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Ideal und Wirklichkeit bei Johnson und bei Harris

ihnen eine neue Vieldeutigkeit und eine neue wechselseitige Verknüpfung. Er macht ihr Pathos durchsichtig und hält alle Gewichte in der Schwebe. Er hat nirgends Rousseaus Schärfe oder Garricks Feuer. Er ersetzt ihre Kraft durch seine Biegsamkeit. Er ersetzt ihren Ernst durch seinen Humor. Die Vorstellung vom heldischen Menschen, die mit Onkel Toby in die Welt tritt, bereitet sich in den Zweifeln am heroischen Ideal vor, die im 18. Jahrhundert, meist in Anlehnung an die Stoa, neu belebt werden. Dabei ist „heroic" der Ausdruck für jede angespannte Lebenshaltung überhaupt, sowohl für die theoretische Anspannung des Philosophen als auch für die praktische des sittlichen oder kriegerischen Helden. E r darf also in dem ganzen Umfang seiner Bedeutung genommen werden, wenn wir den Wandel seines Inhalts bei drei Autoren verfolgen, die sich unmittelbar vor dem „Tristram Shandy" dazu geäußert haben: bei Johnson, Harris und Hume. In allen Fällen geht es um die Frage nach dem Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit. Johnsons bescheidene Antwort darauf war, daß man das Höchste immer anstreben, aber beim Mißlingen nicht verzagen solle 1 1 5 . Das Leben war für ihn ein Auf und Ab zwischen Anspannung und Ermattung; er griff auf dem Höhepunkt mit Warnung, in den Niederungen mit Trost ein. So verweist er darauf, daß „in the ancient celebration of victory a slave was placed on the triumphal car by the side of the general, who reminded him by a short sentence, that he was a m a n " 1 1 6 ; l und er erklärt die Ermattungen des häuslichen Lebens für die natürlichen Rückschläge nach den Anstrengungen im öffentlichen Leben 1 1 7 . Beiden Extremzuständen, der Hybris und der Verzweiflung, begegnet er mit der Mahnung zum Natürlichen: „He that strives against nature, will forever strive in vain" 1 1 7 . Dennoch bleibt für ihn der immer neue Anlauf zu den Zuständen der Anspannung möglich, ja erforderlich. Und beides, der hohe und der niedrige Zustand, ist in seiner Art berechtigt; das erdichtete Leben und das wirkliche Leben, die Haltung der Schriftsprache und der Umgangston sollen nicht an einander gemessen werden. „The graces of writing and conversation are of different kinds" 1 1 8 . Harris bescheidet sich endgültig dabei, daß der „moral standard of perfection" nur „as an exemplar of imitation" aufgerichtet ist, das der Einzelne nie erreicht 1 1 9 . Seine Vorstellung vom vollkommenen Leben will sich der Wirklichkeit annähern. „The true idea of right conduct is to live consistently with nature"; und das heißt: „to live agreeable to a just experience of those things which happen around u s " 1 2 0 . Aber selbst das geht über unsere Kraft; es bleibt beim Vorsatz 1 2 1 . Hieraus nun zieht Harris seine eigene Folgerung: während in der Kunst die Bemühung nichts, die Erreichung des Ziels alles bedeutet, ist im Leben die Bemühung selbst schon alles. „In the moral art of life the very conduct is

Ideal und Wirklichkeit bei Hume und bei Sterne

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the e n d " 1 2 2 . Wir leben wie Spieler in einem Drama; unser Glück liegt in „the just, the decent and the natural performance"*. Wenn Johnson das hohe und das niedrige Leben gegeneinander abgrenzt, wenn Harris den Abstand zwar anerkennt, aber den Blick auf das Streben richtet, das ihn überbrückt, so geht Hume noch weiter, indem er alle Extremzustände überhaupt als moralisch zwecklos ablehnt: „A due medium . . . is the characteristic of virtue. This medium is chiefly determined by utility" 1 2 3 . Damit wird die Wirklichkeit nicht mehr am Ideal gemessen, sondern liefert selbst den höchsten Maßstab: den der „public utility". Wenn Johnson mit dem Wort, auch Dichter und Helden seien „men like other mortals" 1 2 4 , neben dem erhabenen Leben das gewöhnliche Leben in Erinnerung bringen wollte, so will Humes Wort „Philosophers . . . in all the active parts of life are, in the main, the same with the vulgar, and are governed by the same maxims" 1 2 5 das hohe Leben gerade an der Wirklichkeit messen und bewerten; es will den allzu kritischen Philosophen danach fragen, „what he proposes by all these curious researches" 1 2 6 . Humes Mittel ist im Theoretischen: die „sublime imagination" durch „mitigated scepticism" zum „judgment" zurückzubringen. „A correct judgment . . . avoiding all distant and high enquiries, confines itself to common life and to such subjects as fall under daily practice and experience; leaving the more sublime topics to the embellishments of poets and orators, or to the arts of priests and politicians" 1 2 7 . Und seine Forderung im Praktischen ist an der „public utility" und am „common sense" ausgerichtet. Nur was der Allgemeinheit dienlich ist, ist gut. In diesem Weltbild hat das Heroische im Sinne der künstlichen Anspannung so wenig einen Platz mehr wie sonst eine künstliche Haltung: „Nature is always too strong for principle" 1 2 8 . Von hier aus wird Sternes Stellungnahme erkennbar. Auch er führt den Kampf gegen den „Standard", er führt ihn im Ästhetischen zugleich für das Moralische. Wie er die „heroic loftiness" der Rede Vater Shandys auf den Tod seines Sohnes dem einfachen, aber wirksamen Ausdruck Trims gegenüberstellt 1 2 9 , wie ihm nur die Demut zum Schutz vor den Übeln taugt und nicht „all the heroic precepts which the pedantry of philosophy has to offer" 1 3 0 , so wendet er sich ausdrücklich gegen die moralische und geistige Ausrichtung an der Norm des Ideals. In den alten Ausgaben des „Tristram Shandy" zeigt eine Hand auf diesen Satz: „A dwarf who brings a standard along with him to measure his own size, is a dwarf in more articles than o n e " 1 3 1 . Dort ist die Rede von dem Kapitel, das Sterne ausgelassen hat, weil es so gut war, daß es das ganze Werk beschattet hätte. Wichtiger als eine Höchstleistung ist ihm die Erhaltung * Harris a. a. 0 . 210. Epiktet schimmert durch. „Du hast eine Rolle in einem Stück zu spielen, das der Direktor bestimmt. . . . Deine Aufgabe ist, die erhaltene Rolle gut durchzuführen; die Rolle auszuwählen kommt einem andern zu." Handbüchlein der Moral. Kap. 17.

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Harmonie des Charakters — Heroismus der Gelassenheit

der „necessary equipoise and balance (whether good or bad) betwixt chapter and chapter, from whence the just proportions and harmony of the whole work results" 1 3 1 . Und die Proportion und Harmonie eines Buches erwachsen aus der Einheitlichkeit des Charakters, den es darstellt. „In my opinion, to write a book is for all the world like humming a song — be but in tune with yourself, madam, 'tis no matter how high or how low you take i t " 1 3 1 . Damit ist jedem moralischen oder ästhetischen Standard der Gehorsam gekündigt. Die innere Wahrheit und Einheit des Charakters, ob gut oder schlecht, bestimmen den Aufbau eines Liedes, eines Romans, eines Lebens. Von allen Leistungen Sternes ist dies die zukunfthaltigste. Sie öffnet das Tor zu einer Auffassung vom Menschen, vom Denken und von der Kunst, die weit über seine Zeit hinaus weist. Wenn der „heroic standard" also abgetan wird, so ist der Sinn für das Heroische damit doch keineswegs verloren. Zwar die Anspannungen des Lebens und des Denkens werden nicht mehr als heldisch empfunden; sie sind Störungen an der Harmonie der inneren Wahrheit. Aber im Mittelpunkt von Sternes moralischer Welt taucht der Begriff des Heroischen wieder auf: als der Heroismus der heiteren Duldsamkeit. Yorick hebt die heiße Kastanie vom Boden auf, die dem Phutatorius ins Beinkleid gefallen war. Sogleich entsteht der Verdacht, daß Yorick der Anstifter des Unheils gewesen sei. „This . . . was as groundless as the dreams of philosophy. Yorick, no doubt, as Shakespeare said of his ancestors, — ,was a man of j e s t ' " 1 3 2 ; aber nicht alles, was ihm angedichtet wurde, hatte er begangen. E r besaß jedoch die zugleich tadelns- und liebenswerte Eigenheit, die Welt im Irrtum über sich zu lassen. „He could have explained it to his honour, but his spirit was above it; . . . he would not stoop to tell his story to them; — and so trusted to time and truth to do it for him. — This heroic cast produced him inconveniences in many respects.. , " 1 3 2 . Es ist das Heroische der vornehmen Gelassenheit, die Verkennung lächelnd auf sich nimmt und auf ihr Recht warten kann. Daß die Rechtfertigung, hier wie sonst, immer ausbleibt, verleiht auch diesem humorigen Zug Yorick-Sternes einen melancholischen Unterton, der ihn noch edler macht. Es ist der Heroismus des stolzen Verzichts, der ungezwungene Ausdruck einer vollkommenen seelischen Größe und Freiheit. Yorick ist der Name geblieben, unter dem Sterne auftrat. Als Yorick geht er durch den „Tristram Shandy" und die „Sentimental Journey", als Yorick gibt er seine Predigten heraus, als Yorick erscheint er für alle seine Freunde und für Eliza. Am Wandel der verschiedenen Bilder Yoricks ist der Wandel Sternes selbst zu fassen. Der Weg von dem Yorick des „Tristram Shandy" zu dem Yorick der „Sentimental Journey" und der Briefe an Eliza geht vom „man of jest" zum „man of sentiment" 1 3 3 . Zwar bleibt er immer beides zugleich: heiter und gefühlvoll, aber im Laufe seiner Entwicklung wird ihm das „sentiment" wichtiger als der „humour".

Sternes „Shandyism" — „Humour"

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Und schon innerhalb des „Tristram Shandy" kündigt sich der Wandel an: von den ersten zu den letzten Bänden verschiebt sich das innere Gewicht von dem heiteren Vater Shandy zu dem gefühlvollen Onkel Toby. „Shandyism" wird noch in den Jahren der ersten Frankreichreise als die beste Lebenshaltung gefeiert. „True Shandyism . . . opens the heart and lungs,... it makes the wheel of life run long and cheerfully round" 134 . Walter Sichel glaubt, das Eigenschaftswort „shandy" als Yorkshire-Bezeichnung für „a wee bit draft" nachweisen zu können 1 3 5 . Das mag stimmen oder nicht, — Sterne brauchte es in einem weiteren Sinne. „To shandy" ist für ihn: lustig sein, unbeschwert, gedankenlos sein, scherzen, geistreichein, schwatzen. So braucht er das Wort in zwei Briefen an Garrick 136 . Es ist jene Neigung zum ausgelassenen Unsinn (und sie allein), die Sterne mit den „Demoniacs", dem Kreis um „Crazy Castle" und um Hall-Stevenson verbindet. An Hall gehen denn auch manche Bekenntnisse zum „spirit of Shandyism . . ., which will not suffer me to think two moments upon any grave subject" 13 ? und zum „nonsensical life": „I am most unaccountably nonsensical" 138 . Der „Tristram Shandy" selbst ist ihm noch in seinem sechsten Band „a careless kind of a civil, nonsensical, good humoured book, which will do all your hearts good. — And your heads too, — provided you understand it" 1 3 9 . Und diese gelassene Verspieltheit sichert ihm die Seelenruhe: „In short, we must be happy within — and then few things without us make much difference. — This is my Shandean philosophy" 140 . Sternes „Shandyism", der Begriff des närrischen Lebensüberschwanges, steht in der Nachbarschaft des „Humour", gibt aber der Bedeutung dieses Wortes einen weiteren Sinn. „Humour" war im 18. Jahrhundert eine Eigenschaft mit überwiegend negativen Bestimmungen. Fielding beruft sich auf Ben Jonsons* und Congreves** Definitionen und erklärt „humour" für „a violent impulse of the mind, determining it to some one peculiar point, by which a man becomes ridiculously distinguished from all other men" 141 . Ein erzogener Mensch darf keinen „humour" haben; denn „humour soars above all the rules of civility" 14 2, s o daß „good breeding is little more than the art of rooting out all those seeds of humour . . ," 1 4 3 . Schon bei Dryden ist die „oddness" des „extravagant habit" das Kennzeichen des „humour" 144 . Und Home beschränkt Congreves Definition ausdrücklich auf die negativen Aussagen: „Nothing just or proper is deno* Ben Jonson (in „Every Man out of his Humour" Act I ) : „When some one peculiar quality doth so possess a man, that it doth draw all his affects, his spirits and his powers, in their confluxions all to run one way, this may be truly said to be a Humour." ** Congreve: „I take humour to be a singular and unavoidable manner of saying or doing anything peculiar and natural to one man only; by which his speech and actions are distinguished from those of other men."

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Abwendung vom „ H u m o u r "

minated humour; nor any singularity of character, words, or actions, that is valued or respected". Vielmehr ist „humour" für Home immer „risible and improper" und setzt seinen Träger herab. Die großen Humoristen der Literatur werden ihm erst dann bewundernswert, wenn sie „not a humourist in character" sind 1 4 5 . „Humour" als literarisches Mittel wird auch von Fielding ausdrücklich empfohlen, ja vom Genius erfleht: „Come, thou that hast inspired thy Aristophanes, thy Lucian, thy Cervantes, thy Rabelais, thy Moliere, thy Shakespeare, thy Swift, thy Mariveaux, fill my pages with humour; till mankind learn the good-nature to laugh only at the follies of others and the humility to grieve at their own" 1 4 7 . „Humour" steht also bei Fielding zugleich für die Untugenden selbst und für die literarische Spiegelung, die zu ihrer Beseitigung führen soll. „I have employed all the wit and humour of which I am master in the following history; wherein I have endeavoured to laugh mankind out of their favourite follies and vices" 1 4 8 . Wenn Fielding von „follies and vices" spricht, so kennt Sterne nur „hobby-horses". Schon dieser Wortgebrauch für die Eigenschaften des „Humour" bezeichnet den Abstand zwischen Fielding, der den poetischen „Humour" als Waffe gegen den realen „Humour" verwenden will, und Sterne, der hier wie sonst Dichtung und Wirklichkeit nicht unterschied und der den „Humour" in jedem Sinne meinte, wenn er noch einen Monat vor seinem Tode bekannte: „It is not in the power of every one to taste humour, however he may wish it; it is a gift of G o d " 1 4 9 . Dennoch dringt Sterne schon im „Tristram Shandy" bei wesentlichen Anlässen bewußt hinter die Ebene des Originellen zum menschlichen Ernst vor. So heißt es am Schluß der ganz ernst erzählten Geschichte von Onkel Toby und der Fliege: „I could not give the reader this stroke in my uncle Toby's picture by the instrument with which I drew the other parts of it, — that talking in no more than the mere Hobby-Horsical likeness: — this is a part of his moral character" 1 5 0 . Und schon zur Zeit des „Tristram Shandy" äußert er gelegentlich, sein Roman sei nur „for the laughing part of the world — for the melancholy part of it, I have nothing but my prayers" 1 5 1 . In dem Testament, das er bei Mrs. Montague, der Cousine seiner Frau, hinterlegt, als er nach Frankreich fährt, bittet er, seine Briefe auf ihren Wert für eine Veröffentlichung hin durchzusehen „in search for some either wit or humour, or what is better than both — of humanity and good-nature" 1 5 2 . Kurz vor seinem Ende möchte er seinen „Humour" bloß als literarisches Mittel betrachtet wissen: „The world has imagined, because I wrote ,Tristram Shandy', that I was myself more Shandean than I really ever was" 1 5 3 . Und im achten der erhaltenen Briefe an Eliza heißt es über die Briefe selbst: „I have not had power, or the heart, to aim at enlivening any of them with a single stroke of wit or humour; but they contain something better: . . . a long detail of much advice, truth, and knowledge" 1 5 4 .

.Sensibility": Empfindungsgabe

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Der neue Ernst, den Sterne sucht, der Ernst der Empfindung, ist bei ihm wieder moralisch tief begründet. Wenn sein Zartgefühl ihn das Fernste u n d Leiseste mitempfinden läßt, so ist ihm das eine Regung allgemeiner Menschenliebe. „Dear Sensibility ! . . . Eternal fountain of our feeling ! . . . That I feel some generous joys and generous cares beyond myself; all comes from thee, great, — great sensorium of the world, which vibrates, if a hair of our heads but fall upon the ground, in the remotest desert of thy creation"*. Er stimmt in die zeitgenössische Abwehr gegen Hobbes' Lehre vom Egoismus ein, wenn er im Mitleid ein spontanes Gefühl erkennt, das ohne Willens- und Verstandesanteil unmittelbar sich regt und aus einem „principle of humanity and goodness" 155 genährt wird**. Hegen und Pflegen hält die Welt zusammen; und eine Wohltat erzeugt die andere: „You take a withering twig, and put it in the ground; and then you water it, because you have planted it" 1 5 6 . Je empfindlicher das Herz, desto feiner und wertvoller ist es: „My ,Sentimental Journey' will convince you that my feelings are from the heart, and that that heart is not of the worst of moulds — praised be God for my sensibility!" 1 5 7 Es ist das wechselseitige Sich-Überbieten im Feingefühl, das in dem 25jährigen Kampf zwischen Onkel Toby und Trim u m das größere Opfer die treibende Kraft ist: Trim, der wegen seines lahmen Knies beim Essen sitzen soll, steht immer wieder als Diener hinter Onkel Tobys Stuhl 1 5 8 . Es ist das schamhafte Mitleid des Soldaten Trim, der mit dem Sohne Le Fevers weint. „What could be the matter with me? Nothing in the world, Trim, said my uncle Toby, but that thou art a good-natured fellow" 1 5 9 . Es ist endlich die Liebe selbst, die Fähigkeit zu immer neuen Zuneigungen, die den Beweis für den sittlichen Wert in sich tragen soll: „Having been in love with one princess or other almost all my life, . . . I hope I shall go on so till I die, being firmly persuaded that, if ever I do a mean action, it must be in some interval betwixt one passion and another" 1 6 0 . „Sensibility" ist also zunächst einfach die Gabe der lebhaften Empfindung, im Sinne der neuen Einfachheit, Unmittelbarkeit und Herzlichkeit. So hat sie Voltaire an Sterne gesehen: „La sensibilité la plus naïve, la plus prompte et la plus touchante" 1 6 1 . Sie ist die Empfindungsgabe, die Gerard zur Beurteilung des Pathetischen in der Kunst für nötig * S. J. The Bourbonnois. Ebenso ist für Hume die Sensibility ein moralisches Organ: „If any man, from a cold insensibility or narrow selfishness of temper, is unaffected with the images of human happiness or misery, he must be equally indifferent to the images of vice and virtue". Enquiry concerning the Principles of Morals. Sect. V. Part II. 252. ** Hutcheson hatte das Urteil des moralischen Gefühls ebenso als spontan, aller Reflexion vorangehend und unabhängig vom Interesse erklärt. Enquiry into the Origin of our Ideas of Beauty and Virtue. 2. Abhandl. 1. Abschnitt. Hume schloß sich ihm an: „The social virtues . . . have a natural beauty and amiableness, which . . . antecedent to all precept or education, recommends them to the esteem of uninstructed mankind." Enquiry concerning the Principles of Morals. Sect. V. Part I. 242.

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,Sensibility" : Empfindlichkeit

erklärte* und die er bei Longinus im höchsten Maße zu erkennen glaubte 1 6 2 . Sie ist die seelische Empfindlichkeit, die Diderot, unter Sternes französischen Freunden ihm der nächste, zwar sowohl für den Künstler als auch im Leben für hinderlich hält, die ihm aber doch ein sicheres Zeichen der Herzensgüte ist: „La sensibilité est le caractère de la bonté de l'âme" 1 6 3 und die er für sich selbst in Anspruch nimmt: „Si la nature a fait une âme sensible, . . . c'est la mienne" 1 6 3 . Sie ist der Zustand einer ganz geöffneten und wehrlosen Seele, wie sie Sterne sein eigen nannte: „I am as weak as a woman; and I beg the world not to smile, but pity m e " 1 6 4 . ^ • :> „Sensibility" ist jedoch nicht nur die Kraft zur Empfindlichkeit, sondern zugleich — die Bitte um Mitleid bezeugt es — die Schwäche der Empfindlichkeit, die Zersplitterung durch die überstarke Reizbarkeit des Gefühls. „The heart is tender, and the passions in these tides ebb and flow ten times in a minute" 1 6 5 . So treibt Sterne planlos von Wunsch zu Wunsch, aus Zartgefühl gegen die Zufälle, die die Vorsehung ihm in den Weg 6tellt, und folgt jeder neuen Regung. „I generally act from the first impulse" 1 6 6 . „I think there is a fatality in it; — I seldom go to the place I set out f o r " 1 6 7 . „I am governed by circumstances; — I cannot govern t h e m " 1 6 8 . Sein Gefühl ist unendlich teilbar. Der Satz, den er über das Denken geschrieben hat: daß „the grains and scruples were as much a part of it as the gravitation of the whole world" 1 6 9 , gilt auch von seinem Fühlen. E r ergötzt sich am Kleinsten und Zartesten; denn je winziger der Gegenstand, desto tätiger fühlen sich Phantasie und Empfindung, — so wie das kleine Wörtchen „Bravo", das Yorick-Sterne unter seine Predigt zur Trauerfeier für Le Fever geschrieben und wieder durchgestrichen hat, gerade in seiner Unscheinbarkeit den Geist zur eingehenden Untersuchung und (Selbst-)Deutung treibt 1 7 0 . „Sensibility" preßt dem kurzen Leben jeden teuren Augenblick ab. Und „what a large volume of adventures may be grasped within this little span of life, by him who interests his heart in every thing" 1 7 1 . Die Hellhörigkeit und Empfindlichkeit des Herzens macht es unfähig, das große Gefühl in seiner elementaren Gewalt auf sich zu nehmen. Dem dichten und ernsten Schmerz weicht Sterne aus. So überspringt er den Augenblick der Trennung von Hall-Stevenson, seinem Eugenius, als er, den Tod auf den Fersen, nach Frankreich entflieht: „'twas a vile moment to bid adieu in: he led me to my chaise. Allons! said I " i 7 2 . Nicht das eine große Empfinden beglückt ihn, sondern die Summe der vielen kleinen Empfindungen, nicht das Empfindungsstarke, sondern das Empfindungsvolle, nicht das Kräftige, sondern das Sanfte, Hinschmelzende, Verhauchende, das Onkel Toby an dem Auge der Witwe Wadman bezaubert: * Gerard. An Essay on Taste. Part II. Sect. I. „Since the pathetic is a quality of so great moment in works of taste, a man, who is destitute of sensibility of heart, must be a very imperfect judge of them."

„Sentiment" : Empfindung

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„'twas an eye full of gentle salutations, — and soft responses, — speaking . . . whispering . . ., — like the last low accents of an expiring saint" 173 . Ebenso zart ist Sternes eigene Liebe und ihre Art, sich zu äußern, — eine fast stumme Sprache der Zuneigung, die Kunst der Nuancen auf der schmalen Bahn zwischen Zuwenig und Zuviel: „A course of small, quiet attentions, not so pointed as to alarm — nor so vague as to be misunderstood — with now and then a look of kindness, and little or nothing said upon it" 1 7 4 . Das Gegenbild zu der überempfindlichen Scheu, in der Sterne vor der fremden Schönen verharrt, bietet ihm jener Offizier, der auf die gleiche Dame losgeht, sie heiter anspricht, ausfragt und dann fröhlich weiter tänzelt 175 . Diderots fünf Jahre später verfaßte Schilderung der Nachteile seiner „sensibilité" drängt sich hier auf. „La sensibilité est aussi nuisible dans la société. . . . Voilà deux amants, ils ont l'un et l'autre une déclaration à faire. Quel est celui qui s'en tirera le mieux? Ce n'est pas moi. Je m'en souviens, je n'approchais de l'objet aimé qu'en tremblant; le coeur me battait, mes idées se brouillaient; ma voix s'embarassait; . . . j'étais ridicule de la tête aux pieds. . . . Tandisque, sous mes yeux, un rival gai, plaisant et léger, se possédant, jouissant de lui-même, . . . amusait, plaisait, était heureux" 176 . Aber wenn Diderots „Sensibilité" eine Befangenheit und Unbeherrschtheit ist, die er abstreifen möchte, so ist Sternes „Sensibility" die ungezwungene Form seiner seelischen Äußerung, die er für keine Sicherheit und Stärke der Welt eintauschen würde. Diesen Zustand der zarten und innigen, wechselnden, aber immerwährenden seelischen Erregung hat Sterne „sentimental" genannt. Er hat das Wort nicht (wie Lessing — und noch Sichel — meinte*) neu gebildet, wohl aber in seinem besonderen Sinne zuerst gebraucht. Es ist von „sentiment" abgeleitet. Was „sentiment" bei Sterne heißt, geht aus wenigen Belegen schon hervor. Das oben angeführte Wort, das liebeleere Augenblicke als güteleere Augenblicke bezeichnet — „if I ever do a mean action, it must be in some interval betwixt one passion and another" — lautet weiter: „therefore I always get out of it as fast as I can . . . and would do anything . . . if they will but satisfy my thirst after sentiment" 177 . Hier bedeutet „sentiment": Empfindung, Liebe. In dem Satz „an injury sharpened by an insult, . . . makes every man of sentiment a party" 1 7 8 bedeutet es: Empfindung, Zartsinn. Ferner begegnet es in einer Kladde zu einem Brief an Eliza: „Did it ever enter your head what a visionary, romantic kind of being you had hold of? . . . did she dream of a man of sentiments?" 179 Dieser Zusammenhang beleuchtet das Phantastische, Schwärmerische, das Sterne an sich liebte und das seinen „sentiments", seinen Empfindungen, die Farbe gibt. Heißt also „sentiment": Empfindung, so heißt „sentimental": mit Empfindung, aus Empfindung, voll Empfindung. Es tritt bei Sterne zuerst * Nicolai hat Lessings Irrtum in der Berlinischen Monatsschrift vom Februar 1795 berichtigt. Vgl. Thayer. Laurence Sterne in Germany. 43 f.

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„Sentimental" : „empfindsam" : empíindungsvoll

in einem seiner Briefe an die Braut auf, wo er der „sentimental repasts" gedenkt, die sie zusammen gehalten haben 1 8 0 . Im „Tristram Shandy" haucht der ergebene Onkel Toby, anstatt sich aufzulehnen, „a sentimental heigh-ho" 1 8 1 . Ebendort gedenkt Sterne eines Tête-à-tête und nennt das gegenseitige In-die-Augen-blicken „the sentimental part of i t " 1 8 2 . Dann erscheint das Wort im Titel seines zweiten Werkes und in der Einteilung der Reisenden, die darin vorgenommen wird: „a sentimental journey", „the sentimental traveller" 1 8 3 . Einmal noch gebraucht er es in der Reise, als er sich beklagt, daß der „sentimental commerce", der Austausch der Eindrücke und Empfindungen, immer zu Ungunsten des Landfremden geschehe 183 . In seinen Briefen kommt das Wort häufiger vor. E r beneidet von London aus seine Tochter Lydia um ihren Aufenthalt in Südfrankreich: „Petrarch's tomb I should like to pay a sentimental visit t o " 1 8 4 . Mrs. James, eine Freundin, der er die Bekanntschaft mit Eliza verdankte und die seine Angelegenheiten mütterlich mit ihm besprach, nennt er in seinem „Journal to Eliza" : „our worthy sentimental friend" 1 8 5 . Elizas Porträt, das er als besonders ungeziert und natürlich preist, heißt im „Journal to Eliza": „your sweet sentimental picture" 1 8 6 . Mit dem 85jährigen Lord Bathurst, der einst Addison, Steele, Swift und Pope um sich gehabt und schon mit der Welt der Bücher abgeschlossen hatte, als er Sterne zu sich einlud, verbringt dieser in Gesprächen über Eliza „a most sentimental afternoon" 1 8 7 . Und endlich findet sich sogar eine Begriffsumschreibung in einem Brief an Woodhouse: „I am in love —• but carry on my affairs quite in the French way, sentimentally — ,l'amour' (say they) ,n'est rien sans sentiment'" 1 8 8 . In allen Fällen bedeutet „sentimental": empfindungsvoll. Auch Lessings Übersetzung von „sentimental", die er Bode empfahl, nachdem dieser es zunächst mit „sittlich" hatte wiedergeben wollen, auch Lessings Übersetzung „empfindsam" meint das gleiche, wie aus seiner Definition hervorgeht, die Bode im „Vorbericht" seiner Übertragung mitteilt. „Die Engländer hatten gar kein Adjectivum von „Sentiment"; wir haben von Empfindung mehr als eines: empfindlich, empfindbar, empfindungsreich; aber diese sagen alle etwas anderes. Wagen Sie: empfindsam! Wenn eine mühsame Reise eine Reise heißt, bei der viel Mühe war, so kann ja auch eine empfindsame Reise eine Reise heißen, bei der viel Empfindung war." Sternes „sentimental" und Bode-Lessings „empfindsam" bedeuten also so viel wie das moderne „empfindungsvoll", nicht wie das moderne deutsche „sentimental" oder „gefühlsselig", mit dem sie häufig für verwandt oder gar für identisch gehalten werden. Sternes überschwängliche Äußerung ist noch kein Beweis für sentimentales Empfinden. Dazu war sie in zu hohem Maße Ausdrucksform der Zeit. Wenn der Kranke aus York nach Paris schreibt: „I have a thousand things to say to you, and would go half way to Paris to tell them you in your e a r " 1 8 9 , so geht das nicht an seine Geliebte, sondern an seinen

Sternes Empfindsamkeit

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Bankier. Hogarth, gewiß von allen Zeitgenossen Sternes der Sentimentalität a m wenigsten verdächtig, schreibt an einen B e k a n n t e n , der i h m Stiche n a c h Darstellungen von botanischen Gegenständen gesandt h a t t e : „ W h e n I h a v e t h e pleasure of seeing you next, we will sit down — nay kneel down if you will — a n d a d m i r e these t h i n g s " 1 9 0 . Der Überschwang ist nicht o h n e weiteres ein Zeichen persönlicher Sentimentalität, sondern das Zeichen einer allgemeinen Ausdrucksrichtung. Sternes menschliche u n d künstlerische N a t u r allerdings u m f a ß t beides, o h n e d a ß die Grenze i m m e r zu e r k e n n e n wäre. Auch wenn wir das h u m a n e Pathos, das seinem Überschwang die F a r b e gibt, mit dem ganzen moralischen Schwergewicht uns gegenwärtig m a c h e n , so flackert die Ä u ß e r u n g , so schwebt die flüchtige E m p f i n d u n g , die sie eingibt, vor unseren Augen. Sterne geht — nicht zwar i m „ T r i s t r a m S h a n d y " , aber schon in der „Sentimental J o u r n e y " u n d vor allem in den B r i e f e n u n d dem „ J o u r n a l to Eliza" — ü b e r das Empfindungsvolle, das E m p f i n d s a m e , hinaus bis z u m Gefühlsverlorenen, G e f ü h l s v e r h a f t e t e n , Sentimentalen. D a ß seine E m p f i n d u n g niemals ein Genüge findet, d a ß sie sich keinem Gegenstand ganz hingibt u n d an k e i n e m Ziel a u s r u h t , sondern i m m e r an ihn selbst gebunden bleibt, ist das kenntlichste Zeichen von Sternes Art zu lachen, zu t r a u e r n , zu lieben. In seinen Zuneigungen genießt er sich selbst; in seiner Liebe schwingt viel Ichliebe, in seinem Mitleid viel Ichleid mit. Die ganze Welt steht i h m i m K o n t a k t der zartesten Teilnahme. Das Tastsystem der E m p f i n d u n g hält sie zusammen. Das Köstlichste am G e f ü h l ist, d a ß es grenzenlos mitgeteilt werden k a n n ; in seinem Überstrom bestätigt es sich selbst. E i n e m Dasein, das so in Geben u n d N e h m e n sich erschöpft, wird schließlich die Mitteilung zum Wesen selbst; es belebt sich am Reiz der B e r ü h r u n g , es f ü h l t u m des F ü h l e n s willen. Bis zu diesem sentimentalen Verhältnis reicht Sternes Ausdruck u n d seine E m p f i n d u n g . Aber, von seltenen Fällen abgesehen, er v e r h a r r t nicht d o r t ; sondern in j e d e m Augenblick schwebt er zwischen den Zonen der Äußer u n g u n d schillert zwischen E m p f i n d u n g u n d Bewußtsein, zwischen Zwang u n d F r e i h e i t ; u n d gerade die G i p f e l des Gefühlsausdrucks ragen am höchsten in den H i n t e r g r u n d des H u m o r s hinein, der u m die ganze Welt Sternes ausgespannt ist. Sternes E m p f i n d s a m k e i t , dieser vieldeutige I n h a l t u n d seine b u n t e Ä u ß e r u n g zwischen den Bezirken des dichten G e f ü h l s u n d der verspielten Anempfindung, trägt ü b e r a l l die M e r k m a l e seines gesamten Menschenu n d Weltbildes. Sie ist nicht zu lösen von dem F u n d a m e n t seines Glaubens u n d Denkens; seine D e m u t vor dem Kleinsten u n d Schwächsten, seine Zartheit i m V e r h a l t e n gegen die Welt, die sittliche K r a f t , die gerade aus Demut u n d Zartheit i h m quillt, mit einem W o r t : seine „ H u m a n i t y " bestimmt die F o r m seiner Empfindsamkeit. Die n a m h a f t e s t e n Belege des E m p f i n d s a m e n aus seinem literarischen W e r k , alle aus den letzten Lebensj a h r e n , k ö n n e n d a f ü r als Zeugen gelten.

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Sternes Empfindsamkeit als Ausdruck seines Menschentums

Da ist zunächst die Begegnung mit dem Esel in der Haustür und Sternes Unterhaltung mit diesem ergebensten Dulder. „Now 'tis an animal (be in what hurry I may) I cannot bear to strike; — there is a patient endurance of sufferings, wrote so unaffectedly in his looks and carriages, which pleads so mightily for him, that it always disarms m e " 1 9 1 . Es ist der Sieg der Demut, die überwindende Kraft der Ergebenheit, die hier sogleich anklingt und der Szene ihre menschliche Bedeutung sichert. Auf dieser Ebene wird Sternes vielbelächeltes „With an ass I can commune for ever" zu einem Bekenntnis der Verbundenheit mit einem verwandten Geschöpf. Und nicht zuletzt die biblische Anlehnung des „Don't thrash me . . . , but if you will, you may" beleuchtet an der empfindsamen Geschichte die Verankerung im Sittlichen. So wenig Sterne dem Esel praktisch hilft, wenn er ihn ins Zimmer nötigt und ihn mit einer Makrone füttert, so wenig hilft er dem gefangenen Staren, wenn er ihn nach England, in seine Heimat, verkauft 1 9 2 . Jedoch das Verweilen im Mitgefühl, das nicht zur Tat kommt, ist auch hier nicht bloße Verlorenheit in der Empfindung. Vielmehr geht ja Sterne zunächst mit beiden Händen an die Befreiung des angstvoll flatternden Vogels; aber „the door was twisted and double twisted so fast with wire, there was no getting it open without pulling the cage to pieces. . . . I fear, poor creature, said I, I cannot set thee at liberty. — ,No' said the starling; ,1 can't get out — I can't get out'. I vow I never had my affections more tenderly a w a k e n e d . . . " Die drahtumwickelte Tür des Käfigs ist allerdings nicht der Grund, warum Sterne den Staren nicht in Freiheit setzt. Der Grund liegt sicherlich tiefer; aber nicht in einem Gefallen am untätigen Mitleid, sondern in der Überzeugung, daß auch die Freilassung keine wahre Hilfe ist. Der kleine Star und sein „ I can't get out" werden zum Sinnbild einer Gefangenschaft, die weiter reicht als Mauern und Ketten. Sternes „ I fear I cannot set thee at liberty" ist nicht der Ausdruck eines sentimentalen Verzichtes, sondern einer Einsicht in den Weltzustand. Die Befreiung, die er dem Staren beschert, ist eine höhere als die Freilassung gewesen wäre: er verleiht ihm poetisch-heraldische Unsterblichkeit. „From that time to this, I have borne this poor starling as the crest to my arms." Wenn die Demut vor dem Übel und die Zartheit des Mitgefühls dem empfindsamen Verhalten vor den hilflosen Tieren sein sittliches Gewicht verleihen, so sind es die Zartheit und die Offenheit des Herzens, die dem rührenden Bilde der Maria von Moulines den eigentlichen Sinn geben. Das schöne verwirrte Mädchen, das Sterne in einer idyllischen Szene, mit ihrer Flöte unter einer Pappel am Bach, antrifft 1 9 3 , ist nicht eine kranke, sondern eine übermäßig geöffnete Seele; ihre natürlichen Reize sind nicht zerstört, sondern ins Überirdische erhoben. Ihre wenigen Worte sind von einer letzten Einfachheit und Verklärung, ihre Geste von jenem vollkommenen Tiefsinn, der aus dem Unbewußten schöpft; es ist die unmittelbare Zeichensprache des Herzens. In dem Wort „thou shalt not leave me,

Grenzfälle zwischen E m p f i n d s a m k e i t und A n e m p f m d u n g

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Sylvio", das sie an ihr Hündchen richtet, sind alle eingeschlossen, die sie verlassen haben: der Vater und der Geliebte. In der stummen Duldung des wechselweisen Tränentrocknens mit dem gleichen Taschentuch ist die Verbindung von Herz zu Herz geschaffen, die Wort und Tat nicht mehr bezeichnen könnten. Wo noch Sprache auftritt, hat sie an der Entrücktheit des Vorganges teil und nimmt biblischen Ton an. „How she had borne it and how she had got supported, she could not tell; — but God tempers the wind, said Maria, to the shorn lamb. Shorn indeed! and to the quick, said I : — and wast thou in my own land, where I have a cottage, I would take thee to it and shelter thee; thou shouldst eat of my own bread, and drink of my own cup." Und wo das Wort nichts mehr sagen kann, spricht die Geste, die Szene, wie in jenem Bewegungsbild, das den Ausklang gibt: „And where are you going, Maria? said I. — She said, to Moulines. — Let us go, said I, together. — Maria put her arm within mine, and lengthening the string to let the dog follow — in that order we entered Moulines." Dieses „we" fügt die drei Wesen, die nicht voneinander wissen, in der rührenden Grazie des zartesten Humors zusammen. Die empfindsamen Äußerungen Sternes kommen aus dem Grunde seines Weltgefühls; sie predigen auf ihre Weise das große „let us go together". Gleichwohl sind Unterschiede der Dichte und des Gewichts in ihnen zu fassen; und schon in den Geschichten von dem Staren und von Maria tauchen Züge auf, die über das Empfindsame hinaus zum Sentimentalen weisen. Angesichts des Staren nämlich malt sich Sterne die ausführliche Szene eines Gefangenen aus; aber sie ist so traurig, daß er sich schließlich von ihr losreißen muß: „ I could not sustain the picture of confinement which my fancy had drawn." Dieses Sich-fallen-lassen in die selbstgeschaffene schmerzliche Vorstellung und das Verweilen in ihr bis an die Grenze des Erträglichen sind Zeichen der Anempfindung, des affektierten Gefühls. Und vor Maria enthüllt sich die Empfindung selbst in ihrer Unstetigkeit, ihrer Vielgerichtetheit und ihrer Komplexität. „Maria, though not tall, was nevertheless of the first order of fine forms: — affliction hat touched her looks with something that was scarce earthly; — still she was feminine; and so much was there about her of all that the heart wishes, or the eye looks for, in woman, that, could the traces be ever worn out of her brain, and those of Eliza out of mine, she should not only eat of my bread and drink of my cup, but Maria should lie in my bosom, and be unto me as a daughter. Adieu, poor luckless maiden! — Imbibe the oil and wine which the compassion of a stranger, as he journeyeth on his way, now pours into thy wounds; — the Being who has twice bruised thee can only bind them up for ever." Das Ganze der Sterneschen Empfindung, das Ineinander von Liebe und Mitleid, von Nähe und Ferne, von Sinnlichkeit und Frömmigkeit, offenbart sich in diesem letzten Gruß an Maria. Es ist das gleiche Schweben zwischen Genuß und Entsagung, das ihn vor der trauernden Schönen befällt, die die

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Klare Fälle von Anempfindung

(„Sentimentalität")

empfindsamen Minuten vor der Remisentür mit ihm geteilt hat. „With what a moral delight will it crown my journey, in sharing in the sickening incidents of a tale of misery told to me by such a sufferer! To see her weep, and, though I cannot dry up the fountain of her tears, what an exquisite sensation is there still left in wiping them away from of the cheeks of the first and fairest of women, as I'm sitting with my handkerchief in my hand in silence the whole night beside her !"194 Das „moral delight", das dem Kreisen zwischen Leiden und Genießen, zwischen Wunsch und Verzicht, zwischen Mitgefühl und Selbstgefühl entspringt und das in seiner Wortverbindung schon die Verquickung des Sittlichen und des Sinnlichen bezeichnet, wurzelt in einem persönlichen Zustande Sternes, der hier nur in seinen Auswirkungen auf sein sittliches und seelisches Ideal und dessen künstlerische Gestaltung, nicht aber in seine psychischen Ursachen zurück verfolgt werden soll. In Sternes literarischem Werk sind die Niederschläge des eigentlich sentimentalen Verhaltens sehr selten; zu den aufgeführten nennen wir zwei weitere, die es eindeutig kundgeben. In der einen rühmt er seine Kraft zur Affektation eines Gefühls. „Was I in a desert, I would find wherewith in it to call forth my affections: — if I could not do better, I would fasten them upon some sweet myrtle, or seek some melancholy cypress to connect myself to; I would court their shade and greet them kindly for their protection; — I would cut my name upon them, and swear they were the loveliest trees throughout the desert" 1 9 5 . In der anderen schildert er einen Vorgang, den er von sich selbst gewohnt ist, an dem verwundeten Korporal, dem die schöne Begine um das Knie reibt. „As she continued rub-rubrubbing — I felt it spread from under her hand, an' please your honour, to every part of my frame. The more she rubbed, and the longer strokes she took, the more the fire kindled in my veins, — till at length, by two or three strokes longer than the rest, my passions rose to the highest pitch. — I seized her hand — And then thou clappest it to thy lips, Trim, said my uncle Toby, and madest a speech" 1 9 6 . Die grenzenlose Empfindung, die in der Wüste sich ihren Gegenstand erschüfe, und die ziellose Empfindung, die den ewigen Reiz sucht und vor der Lösung abbricht, —- das ist die Doppeläußerung des Sterneschen Gefühls, es ist die Seligkeit der Unbefriedigung, der die Erfüllung nichts, die Regung der Triebe alles bedeutet, ,,'tis going, I own, like the Knight of the Woeful Countenance in quest of melancholy adventures; I know not how it is* but I am never so perfectly conscious of the existence of a soul, within me, as when I am entangled in t h e m " 1 9 7 . Dies Wort, das Sterne auf dem Wege zu Maria zu sich selbst spricht, steht über seiner späten Liebe zu Eliza, die seinem verlöschenden Leben noch einen letzten Halt gegeben hat. Wenn das tiefste Bedürfnis Sternes nicht Liebe, sondern Sehnsucht nach Liebe war, so reicht doch das Verhältnis zu Eliza in die Zone des großen und unmittelbaren Gefühls

Der Ausdruck überwuchert das Gefühl

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hinauf. Nicht die häufigen, von Sterne völlig ernst gemeinten* und von der jungen Frau ebenso ernst verstandenen 198 Wünsche nach einer rechtmäßigen Verbindung und nach einem neuen Anfang ihres Lebens sind dafür die stärksten Zeugnisse, sondern Äußerungen wie jene aus dem „Journal to Eliza": „Doubt! did I say — but I have none — and as soon would I doubt the Scriptures I have preach'd on. . . . For if thou art false . . ., — the whole world — and nature itself are liars" 1 9 9 . Indessen diese echte Leidenschaft, die dem Lebenshunger eines vom Tode Gezeichneten entwächst, so ernst und so dicht sie einsetzt, klingt nach den ersten Wochen des schwersten Trennungsschmerzes ab, sinkt schon im „Journal" ins Sentimentale nieder und wird bald zum literarischen Stoff; sie endet in der reinen Phantasie und mündet auf der Ebene der „Sentimental Journey". Dieser sentimentale Vorgang der Auflösung eines Gefühls ist schrittweise an den Eintragungen der ersten fünf Tage im „Journal" zu verfolgen. „Worn out both in body and mind." „A day dedicated to abstinence and reflection." „Passed the whole day with my head upon my band, sitting most dejectedly at the table with my Eliza's picture before me". „Dined alone again to-day; and begin to feel a pleasure in this kind of resigned misery" 2 0 0 . Nachdem der Schmerz über Selbstbetrachtung in Selbstgenuß verwandelt ist, setzen alle Mittel zu seiner Förderung ein, voran die gegenseitige Versicherung der Leidensverbundenheit und Mitleidensseligkeit. Wenn das Dienstmädchen Molly „never passed by the door, but she heard me sigh heavily", so soll das „draw a sigh, Eliza, from thy feeling heart — and yet, so thy heart would wish to have it — 'tis fit in truth we suffer equally" 2 0 1 . So kreist der Schmerz im Wohlgefühl seiner eigenen beständigen Vergegenwärtigung. „The whole day — tormenting! had not Molly all the time talk'd of poor Mrs. Draper and recounted every visit she made me and every repaat she had shared with m e " 2 0 2 . Es hat etwas Unheimliches, wie schnell die Äußerungen rein literarischer Natur und von Eliza ablösbar werden. Schon im „Journal to Eliza" ist ein langer Satz mit den Worten „ I sit down alone . . . , a bottle of wine on my right hand to drink your health" aus einem zwei Wochen älteren Brief an A. L—e (wohl Arthur Lee) getreu übernommen 2 0 3 . Umgekehrt schreibt Sterne dem A. L—e vier Monate später lange Sätze, die im „Journal" an Eliza gerichtet waren. „ I have had an offer of exchanging two pieces of preferment I hold here, for a living . . . in Surry . . . , but I will not I cannot take any steps, unless I had thee, my Eliza, for whose sake I live, to * 8. Brief an Eliza. — Auf ein mündliches Versprechen bezieht sich schon das „Steadily pursue the ends we proposed" Melville a. a. 0 . II. 149. — Im nächsten Brief: J design to marry you myself. — My wife cannot live long." Melville a. a. 0 . II. 151. —• Im „Journal to Eliza" kündet Sterne an, daß er sie beide als nach dem Tode ihrer Ehegatten verheiratet in der S. J. dargestellt habe (ein in der S. J . nicht ausgeführter Entwurf) Melville a. a. 0 . II. 222.

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Der Ausdruck ersetzt das Gefühl

consult with" 2 0 4 . Das gleiche steht im Brief am A. L—e; nur achließt es dort: „but I will not, cannot come to any determination, till I have consulted with you and my other friends" 2 0 5 . Der Brief an Eliza lautet weiter: „ . . . my Eliza, for whose sake I live . . . with thy eweet light burden in my arms, I could get up fast the hill of preferment, if I chose it, — but without thee I feel lifeless, and if a Mitre was offer'd me, I would not have it, till I could have thee too, to make it sit easy upon my brow." In dem Brief an A. L—e stehen fast die gleichen Worte; aber für die ferne Eliza ist Sternes Tochter Lydia eingesetzt, die ihm im letzten Halbjahr seines Lebens sein ganzer Inhalt wurde: „ I live for the sake of my girl, and with her sweet light burden in my arms, I would get up fast the hill of preferment, if I chose it, — but without my Lydia, if a mitre was offered me it would sit uneasy upon my brow." Das Ineinanderwachsen der Bilder der Geliebten und der Tochter beruht auf der Natur von Sternes Liebe; schon in dem (gleichzeitig geschriebenen) Abschied von Maria klang das an: „Could the traces be ever worn out of her brain, and those of Eliza out of mine, . . . Maria should lie in my bosom, and be unto me as a daughter" 2 0 6 . Aber nicht nur mit Lydia und mit Arthur Lee ist Eliza austauschbar, sondern im „Journal to Eliza" finden sich ausführliche Parallelen mit den 26 Jahre älteren Briefen Sternes an seine damalige Braut, seine jetzige Frau, die in Frankreich zur Kur weilt und über die er sich zu Eliza sehr scharf geäußert hat. Schon die große Szene der schweren Liebeskrankheit und ues tiefen Mitleids der Mrs. James im „ J o u r n a l " 2 0 7 hat ihre genaue Entsprechung in einem der Brautbriefe, wo eine Miß S— den Liebeskranken betrauert 2 0 8 . Beidemale soll das Mitgefühl der entfernten Geliebten durch das Mitgefühl der nahen Helferin erzwungen werden; das Leiden mit dem Leiden des andern ist die Seligkeit des frühen und des späten Sterne. Der gleiche Brautbrief enthält Sätze für Elizabeth Lumley, die im Tagebuch für Eliza Draper fast wörtlich wiederkehren. „Poor Fanny was all attention to me since your departure — contrives every day bringing in the name of L. She told me last night . . ., she had observed my illness began the very day of your departure for Staffordshire; that I have never held up my head, had seldom, or scarce ever, smiled, had fled from all society, that she verily believed I was broken-hearted, for 6he had never entered the room, or passed by the door, but she heard me sigh heavily — that I neither ate, or slept, or took pleasure in any thing as before" 2 0 9 . Diese Worte des 27jährigen Sterne an seine Braut tauchen im „Journal to Eliza" ein Jahr vor seinem Tode wieder auf: „Poor Molly who is all attention to me and every day brings in the name of Mrs. Draper, told me last night, that she and her Mistress had observed, I had never held up my head, since the day you last dined with me, that I 6eldom laugh'd or smiled . . . that they thought I was broken-hearted, for she never enter'd the room or passed by the door, but she heard me sigh

Anempfindung im eigentlichen W e r k Sternes selten

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heavily — that I neither eat or slept or took pleasure in any thing as before"210. Es hieße Sternes eigenen Mahnungen in Dingen der Seelenkenntnis zuwiderhandeln, wenn man diese Erscheinungen moralisch zu werten versuchte. Und es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, sie psychologisch abzuleiten. Sie erklären sich hinreichend aus ihrem Zusammenhang mit den menschlichen und künstlerischen Tendenzen, die Sternes Wesen bestimmen. Sie bezeichnen den letzten Grad jener Fähigkeit zur Anempfindung, deren Sterne sich gerne rühmte. Sie besagen, daß seine Äußerungen an kein Gegenüber gebunden sind, daß der Angeredete nichts, die Anrede selbst ihm alles ist. Sie verraten, wie weit der Ausdruck rein literarisches Handwerksmittel ist und bloßes Material für die Regie eines ungebundenen Geistes. Wie das Bewußtsein den Gefühlsausdruck als virtuose Technik handhabt, wird aus einem Brief deutlich, der die Annäherungen an eine Dame, das stufenweise Einsinken in das „Sentiment", schrittweise kommentiert und genießt: „ . . . for the first, dear Lady (for we are beginning to be a little acquainted) you must . . . so fair a Princess — (freer und freer still) . . . my dear Creature ( — we shall soon be got up to the very climax of familiarity) . . . my dear Angel (for you may feel I am creeping still closer to you and before I get to the end of my letter I foresee the freedom betwixt us will be kept within no decent bounds) . . ."2ii. Das alles gehört zum Bilde des Menschen Sterne. Und man muß es in seiner ganzen Künstlichkeit und Leere sehen, um zu prüfen, wie weit es in seinem Werk Niederschlag gefunden hat. In diesem nimmt das Sentimentale im modernen Sinne kaum einen Platz ein; der „Tristram Shandy" ist völlig, die „Sentimental Journey" fast ganz frei davon. Allerdings ist es derselbe Mensch Sterne, der die Briefe und die Bücher schreibt, und mit Recht würde man die gleiche seelische Grundlage für beides ansetzen. Die seelische Grundlage für sein literarisches Schaffen mag eine sentimentale sein, — im Werk selbst tritt sie als solche nicht hervor. Der Humor verwandelt sie. Die Empfindung, die in den Briefen und im Tagebuch so dringlich und so überschwänglich, zugleich so gefesselt und so schweifend sich zeigt, tritt in den literarischen Werken weder mit solcher Schärfe noch mit solcher Unstetigkeit und Verspieltheit auf. Sie wird in ihnen mehrdeutig: zugleich ernster und lockerer. Das Pathos der „Sentimental Journey" läßt immer den Humor, der Humor des „Tristram Shandy" läßt immer das Pathos dahinter spüren. Wenn das Gefühl in den Briefen vom Bewußtsein geschürt wird, so wird es in den Werken von ihm durchleuchtet. Die Komplexität der Sterneschen Empfindung, die sich im Leben in einem Nacheinander, im dauernden Umschlagen des Ausdrucks kundtat — „I laugh till I cry, and in the same tender moments cry till I laugh" 2 1 2 —, äußert sich im Werk in einem Zugleich, in der

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Vereinigung von Pathos und Humor bewahrt vor Anempfindung

wechselseitigen Durchdringung von Gebundenheit und Freiheit, in der latenten, Spannung, die das unauflösbare Ganze durchzieht: im empfindsamen Humor. Hall-Stevensons Nachruf*, die kürzeste und beste aller Würdigungen seines Freundes, hat dieses Verhältnis der Kräfte erkannt und ausgesprochen: „Delightful Humourist: thine were unaccountable faculties. Thy Muse was the Muse of joy and sorrow — of sorrow and joy. Thou didst so exquisitely blend fancy with feeling, mirth with misfortune; thy laughter was so laughable; and thy sighs so sad; that — thou never wast, never wilt be equalled. — Thou hadst the Key of the Heart."

* Am Beginn seiner Fortsetzung der S. J., zu der er sich für halb ermächtigt halten konnte. Melville a. a. 0 . I. 115.

Sternes Denken. Ich habe diese Tage wieder in Sternes Tristram hineingesehen, der, gerade als ich ein unseliges Studentchen war, in Deutschland großes Aufsehen machte. Mit den Jahren nahm und nimmt meine Bewunderung z u ; denn wer hat Anno 1759 Pedanterey und Philisterey so trefflich eingesehen und mit solcher Heiterkeit geschildert. Ich kenne noch immer seinesgleichen nicht in dem weiten Bücherkreise. Goethe

an Zelter 1830.

Laurence Sternes „Tristram Shandy" gab seine Auskunft über die Fragen des Leben9 in einer verhüllten Form, die keiner, dem nicht die Sprache des Humors offen war, verstehen konnte. Wer aber den Inhalt, die Lehre und die Moral eines Buches nur in einer ausdrücklichen Darlegung und Erörterung zu finden wußte, der konnte sich an Yoricks Predigt „The Abuses of Conscience considered" halten, die Sterne, nachdem er mit ihrer ersten Veröffentlichung keinen Erfolg gehabt, — nicht ohne mancherlei Absichten — in seinen Roman eingefügt hatte. In der Tat haben sowohl der bissige Horace Walpole als auch der trockene Samuel Richardson die Predigt von ihrer Verurteilung des „Tristram Shandy" ausgenommen*. Hier fanden sie, was sie in den anderen Teilen des Werkes vermißten: klare Form und klaren Inhalt. Hier fanden sie Gedanken geäußert. Auch Voltaire mußte, bei aller Anerkennung der „originalité piquante" 1 , die Bedeutung Sternes in seiner gedanklichen Leistung sehen; er hielt diese für wert, in seinem „Dictionnaire philosophique" einen eigenen Platz auszufüllen. Die Section III. des Artikels „Conscience" besteht unter dem Titel „De la Conscience trompeuse" aus einer Inhaltsangabe und Würdigung der Predigt im „Tristram Shandy" und beginnt: „Ce qu'on a peut-être jamais dit de mieux sur cette question importante se trouve dans le livre comique de Tristram Shandy, écrit par un curé nommé Sterne, le second Rabelais d'Angleterre**" 2 . Yoricks * Cross a. a. O. I. 216. Richardson empfand Sterne als zu wirr und zu schamlos: „the indelicately witty Yorick". Auch Walpole empfand Sterne als zu wirr; für ihn allerdings, der an Hall-Stevensons sehr derben „Crazy T a l e s " größten Gefallen fand (vgl. Melville a. a. O. I. 117), konnte Sterne höchstens zu schamhaft sein. * * Der erste englische Rabelais war ihm Swift.

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Religion und Moral bei Sterne

Predigt muß hier dazu dienen, die Notwendigkeit der Gewissensschulung zu erweisen, einer Erziehung, in der nach Lockes Ablehnung angeborener Grundsätze für Voltaire die letzte Sicherheit gegeben war. Es ist gewiß eine Verkennung des „Tristram Shandy", ihn nach seinen unmittelbaren Niederschlägen des Denkens zu durchsuchen und zu bewerten. Gleichwohl ist es keine Verkennung Sternes, wenn man das Gedankliche an ihm ernst nimmt. Und es ist nur natürlich, daß man bei der Suche danach auf die Predigt kam. Denn in den Predigten steckt Sternes Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der Zeit, soweit es ihn beschäftigte. Yoricks Predigt im „Tristram Shandy" weist über das trügerische Gewissen hinaus auf Moral und Religion als auf den Doppelanker des Menschen bei seiner gefährlichen Reise. Moralisches und religiöses Leben ist für Sterne das gleiche. „Religion and morality can never be set at variance without the mutual ruin and dishonour of them both." Diese Versicherung der Predigt im „Tristram Shandy" kehrt bei Sterne häufig wieder. „ I firmly deny that religion and morality are independent of each other" 3 . Und wo immer er die „arguments of religion" aufstellt, ohne die „the best moral discourse may prove little better than a cold politician lecture" 4 , da ist die Abwehr gegen die Verselbständigung des Moralischen und gegen seine Begründung im rein Sozialen fühlbar, denen er in der Predigt des „Tristram Shandy" die unlösbare Verknüpfung von Moral und Religion entgegenhält: „You cannot divide these two tables, even in imagination (though the attempt is often made in practice)". Dieses Zusammenfallen des Moralischen mit dem Religiösen bezeichnet Sternes Glauben. Ihm war das Christentum wahres Menschentum. „The great end and design of our holy religion, next to the main view of reconciling us to God, was to reconcile us to each other" 5 . Seine Predigten lehren eine ganz undogmatische, freie Religiosität der Menschlichkeit und ihre einfache Äußerung in jenen schlichten Worten Trims — „When a soldier gets time to pray, — he prays as heartily as a parson, — though not with all his fuss and hypocracy" 6 — und in jener tätigen Güte, die der Vater des verlorenen Sohnes übt, als er den Wiedergefundenen mit Freuden aufnimmt: „When the affections so kindly break loose, joy is another name for religion" 7 . Ja, sie fordern in der Predigt „The Levite and his Concubine" das Recht des Menschen auf Liebe: „Let me be wise and religious -— but let me be man." Die fromme Menschlichkeit Sternes, die so tief im Christentum wurzelte, daß dessen Ende ihm das Ende der Seelen überhaupt bedeutete 8 , sieht dennoch in ihren rein theologischen Belegen recht bunt und widerspruchsvoll aus. Das zeigt 6ich am deutlichsten an dem Problem der „Reasonableness" der Religion. Es gibt Äußerungen Sternes, die durchaus deistische Färbung haben. So fordert er vom Menschen, daß er sich unvoreingenommen prüfe, „with a view to Scripture, which is the rule in this case, — and to reason, which is the applier of this rule in all cases" 9 .

Dcistische W e n d u n g e n bei Sterne

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So will er das Christentum verstanden wissen „as, on one hand, to make the gospel of Christ consistent with itself — and on the other, to make it consistent with reason and common sense" 1 0 . So will er vom äußerlichen Befolgen der Religion zum wahren Glauben zurück „and place it upon its true bottom, which we can only do by bringing back religion to that cool point of reason, which first shewd us its obligation — by always remembering that God is a spirit — and must be worshipped suitable to his nature, i. e. in spirit and in truth" 1 !. Und die „reasonableness of Christianity" äußert sich für ihn „in governing us by such laws as do most apparently tend to make us happy and . . . in making that to be our duty, which . . . he knows to be our interest" 1 2 . Indessen die geforderte Übereinstimmung von Religion, Reason und Commonsense ist weniger deistisch gemeint als sie klingt. „Reason", der Maßstab oder doch das Gegenbild für die Offenbarung bei Locke und bei den Deisten, die sich auf ihn berufen, ist bei Sterne nicht deren newtonisch-mathematische Vernunft, sondern eher eine Commonsense-Vernünftigkeit. Sie ist ihm keine letzte Quelle der Einsicht. „Revelation" muß ihr zuströmen, wenn sie ans Licht brechen soll 1 3 . „Reason" kann dem Petrus wohl beweisen, daß Christus das ewige Leben ausspricht; aber nur eine „illumination" kann ihm sagen, daß Christus der Messias ist 1 4 . Andererseits ist „Reason" der „Inspiration" des bloßen „Enthusiasm" vorzuziehen, der die Quaker und die Methodisten erfüllt 1 5 . Im Ganzen überschreiten Sternes Äußerungen kaum die Grenzen, innerhalb deren die Anglikaner seiner Zeit sich bewegten. Gewiß geht er den Kernfragen der zeitgenössischen Orthodoxie ganz aus dem Wege; das Problem der Hölle und das der Unsterblichkeit der Seele spielen bei ihm keine Rolle. Dafür treten die wesentlichen Themen der Deisten, der Nachweis der Existenz Gottes, die Bestätigung der Offenbarung durch die Vernunft, bei ihm auf. Aber gerade von denjenigen Deisten, an die er sich mit langen Auszügen in seinen Predigten anschließt, weicht er in seiner Grundhaltung wieder ab. So viel er von Tillotson übernimmt, so wenig verlangt er — wie jener es tat 1 6 — eine „natural religion", die klar und einleuchtend wäre und deren Offenbarungen aller Schwierigkeiten und Einwände Herr würden. So sehr er von Clarke abhängig ist, so fremd bleibt ihm dessen Methode des mathematischen oder pseudo-mathematischen Beweises für die Grundlagen der Moral und die Existenz Gottes 1 ", in denen jener den Anschluß an Descartes und Spinoza aufnahm. Sternes Naturreligion ist nicht mathematisch, sondern psychologisch begründet; und sie hütet das Rätsel der Offenbarung wie die Geheimnisse der Seele. In dieser Ehrfurcht vor den Rätseln der Natur gemahnt er eher an den großen Deistenfeind Sherlock, in dessen „Trial of the Witnesses" sich drei Jahrzehnte vor dem „Tristram Shandy" der demütige Verzicht auf Einsicht in die Vorsehung mit der Sterneschen Begründung schon findet: da wir so wenig von den einfachsten Lebensgeheimnissen wissen, wie

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Sternes Wunderglaube

dürfen wir erwarten, die Auferstehung beurteilen zu können? 1 8 Nicht in den abstrakten Argumenten schließt sich Sterne den Deisten an, eher schon in ihren historischen Argumenten. Wenn er in seinen Predigten die geschichtlichen Umstände des erwählten Volkes schildert und jede seiner Figuren ihnen einfügt, so sind das Ansätze zu einer historisch-kritischen Methode. Aber Sterne geht sofort vom Geschichtlichen ins Menschliche weiter; er analysiert nicht Epochen, sondern Charaktere. Und seine psychologische Charakteristik ist so gänzlich unhistorisch, daß er etwa in den Worten Christi die dialektische Methode der Moderne nachzuweisen sich nicht scheut 19 . Ihm war die historische Erweiterung des Gesichtsfeldes im Grunde eine Bereicherung der Bilderfolge vom immer gleichen Menschen. Er war auch als Theologe Fürsprecher und Gestalter des Seelischen. Es ist ein sonderbares Bild, Sterne mit dem Rüstzeug Lockes und der Deisten die zartesten Geheimnisse der Schöpfung hüten zu sehen. Wie sollte er, der in der Natur das Sonderbare und im Herzen das Rätselvolle suchte, von der Religion Vernünftigkeit fordern? Wenn irgend etwas ihn von den Deisten trennte, so war es sein Sinn für das Wunderbare. Sterne, der sich vor seiner Gemeinde mit einer sehr milden Orthodoxie begnügte, predigte in der englischen Gesandtschaftskapelle zu Paris vor dem englischen Gesandten Lord Hertford und dessen Sekretär, dem „infidel" Hume, über die Geschichte von Hiskias Lebensverlängerung, die kein geringeres Wunder als den Rücklauf der Sonne enthält 2 0 . Hume unterließ nicht, beim gemeinsamen Essen über Sternes Wunderglauben zu scherzen. „David was disposed to make a little merry with the parson, and in return the parson was equally disposed to make a little mirth with the infidel; we laughed at one another, and the company laughed with us both" 2 1 . Der vornehmen Grazie dieser Darstellung Sternes entspricht seine Zurückweisung der Vermutung, er habe sich mit Hume gestritten*. Er rühmt Davids Liebenswürdigkeit: wer je eine unfreundliche Auseinandersetzung mit ihm haben könnte, sei sicher selbst im Unrecht; „for in my life did I never meet with a being of a more placid and gentle nature" 2 1 . Hume mußte für Sterne die Erfüllung seines menschlichen Ideals sein. Wie tief der Zauber seiner Persönlichkeit auf ihn gewirkt hat, verrät Sternes Brief in einem bezeichnenden Satz: „And it is this amiable turn of his character that has given more consequence and force for his scepticism than all the arguments of his sophistry" 2 1 . Sterne hat niemals Philosophie um ihrer selbst willen getrieben. Erst wo sie ihm als Ausdruck einer menschlichen Haltung entgegentrat, konnte er sie fassen. Auch Philosophie war ihm im Grunde eine Äußerung des Seelischen. * Der Verkehr zwischen den beiden spiegelt sich in Sternes ein Jahr später geschriebenem Brief an Foley, in dem er diesen bittet, dafür zu sorgen, daß Hume auf seine „Sermons" subskribiert. „I will quarrel with Mr. Hume, and call him Deist, and what not, unless I have his name too." Melville a. a. O. II. 66.

Sterne und die Antike

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Ihre gedanklichen Beweise berührten ihn nicht; aber ihre menschliche Bewährung überzeugte ihn. Wie er sich zur Philosophie verhielt, so auch zu den Problemen der Religion. Neben Mme. de Vence auf dem Sofa sitzend, hemmt er mit wenigen liebenswürdigen Worten ihren Übertritt von der ersten zur zweiten Lebensepoche der französischen Damen, von der Koketterie zum Deismus. „She affirmed to Möns. Diderot and the Abbé Morellet, that in one half hour I had said more for revealed religion than all their Encyclopedia had said against i t " 2 2 . Auch die religiösen Fragen lösen sich vor den menschlichen Wirkungen auf. Ein Unglaube, der dem Angriff jedes Beweisganges standgehalten hätte, schmilzt vor der zarten Sprache des Herzens. Wie Sterne zu der Naturreligion der Moderne nicht im festen Verhältnis des theoretischen Grundsatzes, sondern im wechselnden des menschlichen Einflusses stand, so hat er sich zur Naturreligion der Alten ebenso unterschiedlich verhalten. Daß er im „Tristram Shandy" den heidnischen Götterhaufen verspottet 23 und in den Predigten die goldene Kette Homers zitiert*, daß er in einer Predigt Epikur als einen „professed sensualist" bezeichnet und gerade darum dessen Zeugnis für die Uneigennützigkeit des Tugendhaften an Beweiskraft über das Zeugnis Salomos stellt 2 4 , verdeutlicht sein Verhältnis zu den „heathen poets and philosophers", die seine Predigten so gerne anführen. Sterne sah in der Antike ein Zeitalter der „good nerves and spirits" 2 5 und einer seelischen Unempfindlichkeit, die ihm in Piatons Meinung, daß Liebe „all of it one great devil" sei 2 6 , gipfelte, einer Meinung, die er, bei aller Ehrfurcht vor dem göttlichen Plato, für „damnable and heretical" erklärte 2 7 . Sterne, der aus den vielen Altertümern Lyons das Grabmal der liebenden auswählt und es sogleich lyrisch besingt: „Amandus — He, Amanda — She, — He — east, She — west" 2 8 , sucht in der Antike nach „Sentiment". Die römische Liebeslyrik mußte ihm vom ganzen Altertum am nächsten stehen; und wirklich ist sein Sinn für sie offen gewesen. In den Tagen, da er in Paris vor Hume und vor einem „concourse of all nations, and religions t o o " 2 9 über ein astronomisches Wunder gepredigt hat, schenkt er John Wilkes einen schönen Catull 3 0 . Und in seiner Wohnung hingen Wiedergaben von Skulpturen am Grabmal Ovids, die er in Rom gesehen hatte 3 1 . Denen, die daran Anstoß nahmen, hat Sterne gesagt: „it was to do honour to the memory of a man who had written so well on the art of love" 3 2 . Das ist der Steme, der von den rauhen und steilen Wegen der Wirklichkeit sich zu den sanften Pfaden der antikischen Phantasie emporhebt und statt der Bibel den Virgil zum Führer wählt: „When evils press upon me and there is no retreat from them in this world, then I take a new course — I leave it — and as I have a clearer idea of the Elysian Fields than I have of Heaven, I force myself like Aeneas into t h e m " 3 3 .

*

* Predigt „The Parabel of the Rich Man and Lazaru6 considered": „When the great chain at length is let down, and all that has held the two worlds in harmony is seen."

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Empfindung gegen Beweis

Nicht im theologischen Argument, sondern in der frommen Haltung des Menschen ist der Glaube zu fassen. Die ersten Bücher des „Tristram Shandy" belegen das an vier Fällen, wo jeweils eine religiöse Erklärung durch eine philosophische entwertet wird. Daß wir genügend „wit" und „judgment" haben, beweist Sterne nacheinander auf gelehrte und auf fromme Art 3 4 . Ebenso gebraucht Vater Shandy für seine Frau beide Beweisgänge 35 . Onkel Toby ist es, der zweimal den philosophischen Argumenten Vater Shandys ein religiöses entgegensetzt, einmal für die Erklärung der verschiedenen Längen der Nasen 3 6 , sodann für die der verborgenen Seelenkräfte zur Abwehr des Übels 3 7 . Beide Male lehnt Vater Shandy das religiöse Argument ab: ,,'tis a pious comment, but not philosophical" und „that is cutting the knot, instead of untying it". Wenn dennoch Onkel Tobys Erklärungen als die tieferen auf uns wirken, so nicht kraft ihres religiösen Beweisganges, sondern kraft der frommen Gesinnung, die sie enthüllen. Sternes Frömmigkeit ist die Demut vor den Rätseln der Welt; sie ist die einfache Bescheidung des Herzens gegenüber den komplizierten Spekulationen des Kopfes. Herz und Kopf sind für Sterne selbst die Sinnbilder der beiden Lebensarten, deren Auseinandersetzung sein gesamtes Werk bestimmt. „There 's often no good understanding betwixt 'em" 3 8 . Die Beziehung zwischen Onkel Toby und Vater Shandy ist in hohem Maße der Niederschlag dieses Spannungsverhältnisses. Sterne steht auf beiden Seiten zugleich. Der beredte und witzige Vater Shandy, spekulativ und systematisch, originell und skeptisch, hat den ganzen Reiz seiner geistigen Beweglichkeit, der stille und ernste Onkel Toby, züchtig und bescheiden, tapfer und fromm, hat den Gehalt seiner Menschlichkeit mitbekommen. Daß sie Brüder sind, deutet auf den Zusammenhang ihrer beider Wesen in dem einen Sterne. Auch im Roman verbindet sie so vieles, daß sie immer zueinander finden; sie treffen sich auf dem Boden ihrer beider Menschlichkeit und Rechtschaffenheit. Ihre stillen Kämpfe enden stets mit einer offenen Lösung: Vater Shandy siegt mit dem treffsicheren Wort, Onkel Toby siegt mit dem schlichten Gefühlslaut. Aber wenn Vater Shandy die religiösen Argumente Onkel Tobys vor seinen eigenen philosophischen nicht gelten läßt, so unterwirft er sich nach dem letzten Triumph seiner Gedanken doch willig der Empfindung, die Onkel Toby ausströmt. Die Herzlichkeit überwindet am Ende immer den Verstand; jedoch es wäre kein Kampf, wenn Sterne nicht beide Seiten stark gemacht hätte: es ist ein Geist von hoher Freiheit und Regsamkeit, der endlich dem schlichten Gefühl unterliegt und sich ihm öffnet. Und keiner kommt zu einer Erkenntnis der Sachlage. Der Humor hält nicht nur die Kräfte im Gleichgewicht, sondern bindet auch den Brüdern die Augen, so daß sie einander nicht sehen; sie wissen kaum, wann sie siegen, wann sie unterliegen; sie fühlen nur, daß sie einander mißverstehen.

.Humour" und Humor

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Das große Mißverstehen der Welt spiegelt sich in ihren Unterhaltungen. Die kleinen Grundsätze des einen, die kleinen Liebhabereien des anderen, ihre „hobby-horses", ihre „humours" werfen ihre Schatten auf einen unendlichen Hintergrund. In diesem Ineinandersehen des Kleinen und des Großen beruhte für Sterne der „humour". „ I am persuaded that the happiness of the Cervantic humour arises from this very thing, — of describing silly and trifling events with the circumstantial pomp of great ones" 3 9 . Und „that very thing should constitute the humour, which consists in treating the most insignificant things with such Ornamenta ambitiosa, as would make one sick in another place" 4 0 . Diese Erklärungen bleiben, wie das Wort „humour" selbst, noch einen Schritt vor dem Humor stehen; sie bezeichnen das technische Verfahren, das auf seine Vorstufe, auf die große Ausstattung des Kleinen, abzielt. Sterne war tiefer als er wußte oder sagen konnte. Er gab dem Kleinen nicht nur die Ausstattung, sondern auch den Wert des Großen; die kleinen Begebenheiten und Herzensgeschehnisse, die Gespräche und ihre Schwierigkeiten scheinen nicht nur, sie sind eine ganze erfüllte Welt. Indem er das Unbedeutende wirklich bedeutend — und das Bedeutende wirklich unbedeutend machte, drang er über den „humour" hinaus zum Humor. Das Widerspiel von Herz und Kopf, das mit dieser Durchsichtigkeit vonstatten geht, zieht sich durch alle Gespräche der beiden Brüder. Vater Shandy mit seinen Prinzipien und seiner Eloquenz räumt Schritt für Schritt den Boden vor der Gegenwelt Onkel Tobys und Trims, die am Ende das ganze Buch für sich besitzt. Die Herzenssicherheit, die Gemütsstetigkeit, die Kraft zu blinden Zu- und Abneigungen, die Liebenswürdigkeit und die Großmut Onkel Tobys, ob sie schon alle nur mühsam sich äußern können, siegen über den freien und ungebundenen Geist des Bruders, auch wenn dieser das letzte Wort behält. Die Taufnamenspekulationen Vater Shandys werden wesenslos vor dem einfachen Ernst Onkel Tobys, der vor Namur nicht tapferer hätte fechten können, und hätte er Alexander gehießen. Vor der Dichte dieses Charakters halten Vater Shandys Theorien innerlich nicht stand; und es bleibt ein zweifelhafter Triumph, wenn er, nach Hause kommend, Onkel Toby und Trim mit Krücke und Stuhl Namur erstürmen sieht 4 1 . Zweifelhaft bleiben alle Ergebnisse des Denkens und des Fühlens, zu denen Sterne kommt, schon wegen der Zartheit ihrer Erscheinung; sie werden es noch mehr, weil jedes sich vor dem andern aufhebt. Der Humor sieht eines durchs andere und gibt keinem eine letzte Sicherheit. Die Triumphe des Gefühls sind am tiefsten von ihm beschattet. Das Rührende und das Komische sind im Kreise herum verknüpft. Wo eben die Ironie Vater Shandys von dem stummen Pathos Onkel Tobys überwunden ist, tritt dieses wieder in seiner eigenen Beschränktheit in das Licht einer höheren Ironie. Diese Auseinandersetzung, die Sternes Humor bis in ihre unendliche Tiefe spiegelt, ist in ihrem sachlichen Kern eine dreifache: die zwischen

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Herz gegen Kopf

Gefühl und Gedanken, die zwischen Einfachem und Schwierigem und die zwischen Handeln und Untätigkeit. Das Gefühl Onkel Tobys und Trims, seine einfache Äußerung und seine einfache Auswirkung in der Tat, stehen dem komplizierten Denken des Vaters Shandy, das nie zum Handeln kommt, gegenüber. Onkel Tobys zarte Herzensrücksicht auf die Tante Dinah, die einen Kutscher heiratete, ist dem Bruder fern; seine Namenstheorie muß er an ihr bestätigen 4 2 . Trims einfache, innige Worte auf den Tod überragen des Vaters umständliche und äußerliche Rede 4 3 . Trims praktische Weisheit, die die Gebote befolgt, ohne ihren Wortlaut zu beherrschen, hebt sich von Vater Shandys Theoretisieren ab, das hinter der Wirklichkeit ebenso zurückbleibt wie sein Erziehungsbuch über Tristram hinter dessen Leben herhinkt 4 4 . Gefühl und Gedanke, die einander in Kampf und Freundschaft vergeblich zu begegnen suchen, sind so geschlossen auf die Brüder verteilt, daß gegenüber dem Vater Shandy, der im Kummer nur denken und nicht fühlen kann, Onkel Toby im Kummer nur fühlen und nicht denken kann: „My uncle Toby could not philosophise upon it; — 'twas enough he felt it was so" 4 5 . Auch außerhalb des „Tristram Shandy" wird die Auseinandersetzung von Kopf und Herz fortgesetzt. Die Geschichte des gefangenen Staren schildert einen Sieg des Gefühls über das Denken. Sterne ist dabei nacheinander Vater Shandy und Onkel Toby: als er sich eben die Vorstellung der drohenden Bastille fortgeredet hat, trifft ihn der Notschrei des Vogels und weckt eine Empfindung, die die Syllogismen des Trostes sogleich entlarvt und zerstreut 4 6 . Lebendige Erfahrung macht die systematische Theorie zunichte. Und auch außerhalb des eigentlichen literarischen Werkes beschäftigt Sterne die Fragestellung unter der Formel Herz und Kopf. So schreibt er an Eliza: „The sermons came all hot from the heart. The others [i. e. „Tristram Shandy"] came from the head" 4 7 . Und Yorick verurteilt eine Predigt, indem er feststellt: „It came from my head instead of my heart" 4 8 . Was in den Werken als endloses Ringen zwischen Herz und Kopf gestaltet ist, ist außerhalb ihrer auf die eindeutige Entscheidung einer moralischen Forderung gebracht: Herz statt Kopf. Damit nimmt Sterne den Anschluß an ganz bestimmte Zeitprobleme auf, an die hier nur mit zwei Hinweisen auf Humes verwandtes Denken erinnert werden soll. Humes Wendung von der Theorie zur Praxis, seine Forderung nach der Bewährung der Philosophie am Leben könnte nicht besser formuliert werden als in jener Anekdote, die Sterne der Geschichte von Vater Shandys nie fertig werdendem Erziehungsplan anfügt. Darin wird dem siebzigjährigen Xenokrates, der über die Weisheit disputiert, entgegengehalten: „If the old man be yet disputing and inquiring concerning wisdom, what time will he have to make use of i t ? " 4 9 Und Onkel Tobys Erfahrung, daß keine Philosophie die Empfindung beheben kann, gehört ebenso zum Grundstock der Lehre Humes: „Sentiments are not to be controlled or altered by any philosophical theory or speculation

K r i t i k de6 Wissens bei Hume und bei Sterne

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whatsoever" 5 0 . In der zeitgenössischen Problemstellung geht es um Wert oder Unwert des vom Leben losgelösten Wissens, um den Geltungsanspruch zunächst der Form, die das Wissen der Zeit besaß: der Gelehrsamkeit, des „Learning", sodann um den Sinn des Wissens, der „Knowledge", selbst. Diese Fragen greift Sterne auf und behandelt sie in immer neuen Wendungen. Wenn Vater Shandy sich den Erzieher seines Sohnes „wise, judicious and learned" wünscht 5 1 , so stehen auf der Gegenseite Onkel Toby, „who (honest man!) generally took everything as it happened, — and who of all things in the world troubled his brain the least with abstruse thinking", der aber dennoch aus seinem einfachen Denken heraus die (Lockesche) Antwort auf die Frage nach dem Grunde unserer Zeitvorstellung dem gelehrten Bruder wegschnappt 52 , und Trim, der die Gesetze der Schönheit und Mechanik, ohne von ihnen zu ahnen, genau befolgt und die ideale Lösung der 8 5 1 / 2 ° in seiner Haltung beim Lesen der Predigt trifft, ohne einen spitzen von einem stumpfen Winkel unterscheiden zu können 5 3 . Der Abwehrkampf gegen die Überschätzung der Gelehrsamkeit, der von der Renaissance gegen die Scholastik geführt wird, der Rabelais den Gargantua fern von den Universitäten aufwachsen läßt, tritt an einem der moralisch wesentlichsten Punkte des „Tristram Shandy" heraus: bei der Geschichte von Onkel Toby und der Fliege. Tristram Shandy-Sterne hat als Knabe die großmütige Tat Onkel Tobys gesehen und zeitlebens im Herzen bewahrt: „Though I would not depreciate what the study of the literae humaniores, at the university, have done for me . . . yet I often think that I owe one half of my philanthropy to that one accidental impression." Und wieder zeigen die alten Ausgaben eine Hand, die auf diese Anmerkung weist: „This is to serve for parents and governors instead of a whole volume upon the subject" 5 4 . Die Satire Sternes gegen die leere Gelehrsamkeit wählt, auch dies in fühlbarer Anlehnung an Rabelais, zumeist die Form der Parodie. Die natürlichsten Dinge der Welt, Liebe 5 5 und Tod 5 6 , werden auf die umständlichste Weise belegt und abgeleitet. Vater Shandys Theorie vom hohen Bildungswert der Hilfsverben, seine Wortjagd auf den braunen Bären, ist eine blühende Satire auf die bloß formale Logik, die aus nichts alles macht, gegen den wissenschaftlichen Leerlauf, der sich aus sich selbst e r h ä l t " . Auch die Geschichte der Nasen hat Sterne, unter Zurückweisung einer weniger harmlosen Deutung, als eine „satire" gegen „those learned blockheads who, in all ages, have wasted their time and much learning upon points as foolish" bezeichnet 5 8 . Als Onkel Toby in der grotesken Gelehrten-Debatte über die Blutsverwandtschaft von Mutter und Kind eine einfältige Zwischenfrage stellt, die das Problem vom Natürlich-Menschlichen her erfaßt, bleibt er unverstanden allein. Nur Yorick gibt ihm zu, daß, entgegen den „learned", die „vulgär" seine einfache Meinung teilten 5 9 . Aber „read, read, read, read, my unlearned

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Wissen und Handeln bei Hume und bei Sterne

reader", die ewige Mahnung der gelehrten Autoren, in die Sterne ironisch einstimmt 60 , läßt den einfachen Menschenverstand nicht aufkommen. Und schließlich erhebt sich Sternes Klage über die tote Gelehrsamkeit zu jenem tiefsinnigen Bilde, in dem die wahre menschliche Aufgabe und die schöpferische Natur des Wissens ausgesprochen werden: „Shall we be destined to the days of Eternity, — to be showing the relics of learning, as monks do the relics of their saints, — without working one, — one single miracle with them?" 6 1 Humes Grundsatz „Abstruse philosophy . . . cannot enter into business and action, . . . nor can its principles easily retain any influence over our conduct and behaviour" 62 scheint diesen Einwand Sternes gegen die Reliquien der Gelehrsamkeit zu bekräftigen. Wenn Hume hierbei Philosophie und Leben voneinander trennt, so entspricht das der Scheidung des Logischen und des Moralischen überhaupt, die er als Hutchesons Leistung rühmt 62 und selbst wieder vollzieht: „Reason . . . is not alone sufficient to produce any moral blame or approbation. . . . It is requisite a sentiment should here display itself" 6 3 . Demgegenüber hat Johnson — mit dem Nachdruck, den die Abwehr gegen die „wicked wits" ihm eingab — an der Verbindung von Verstand und Tugend festgehalten: „Virtue is the highest proof of understanding . . . ; vice is the natural consequence of narrow thoughts, . . . it begins in mistake, and ends in ignominy" 64 . Fielding hat eine gemäßigtere Haltung eingenommen; indessen stehen Güte und Klugheit auch für ihn im Zusammenhang: „It is much easier to make good men wise, than to make bad men good" 6 5 . Und nur Unbesonnenheit und Gedankenlosigkeit können die Tugend gefährden; „imprudence" ist der einzige Fehler des Tom Jones 6 6 ; denn: „virtue and innocence can scarce ever be injured but by indiscretion" 87 . In dieser Fragestellung, hinter der die sokratische Antwort der Einheit von Denken und Tun — einer Einheit indessen, die von einer Trennung noch nichts wußte oder doch in einer Zeit der Auflösung von ihr nichts wissen wollte — immer fühlbar ist^ hat Sterne eine seiner doppelten Antworten erteilt, die das Problem nicht im Sinne einer theoretischen Entscheidung, sondern im Sinne einer praktischen Forderung behandeln. Zwar ist die Kenntnis der Tugendpflichten nötig, um nach ihnen zu handeln; aber wir Menschen wissen alle Kenntnisse, die uns der Verstand gibt, nicht richtig zu benutzen; und also schadet uns das Wissen am Ende mehr als es uns nützt. Zwar stehen Wissen und Handeln in notwendigem Zusammenhang: „Wrong notions produce wrong actions" 68 . Zwar sind das rechte Leben und die rechte Weisheit eines: „Strange souls that we are! as if to live well was not the greatest argument of wisdom; and — as if what reflected upon our morals, did not most of all reflect upon our understandings" 68 . Aber wir bedienen uns des Wissens nur zu unserem Unglück: „Inconsistent soul that man is! . . . his whole life a contradiction to his knowledge! — his reason, that precious gift of God to him —

Neugeburt des Wissens

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(instead of pouring in oil) serving but to sharpen his sensibilities, — to multiply his pains, and render him more melancholy and uneasy under t h e m ! " 6 9 Den Widerspruch zwischen „life" und „knowledge" schaffen wir uns selbst. Am glücklichsten ist, wer dieser Schwierigkeit sich ganz entzieht; aber das kann nur, wer stark und sicher genug ist, auf Wissen überhaupt zu verzichten. „Stop, my dear uncle Toby! . . . intricate are the troubles which the pursuit of this bewitching phantom, Knowledge, will bring upon thee. — 0 my uncle, — fly, — fly, — fly from it as from a serpent!" 7 0 Für alle Denkenden jedoch lautet die Aufgabe anders; zwar „endless is the search of truth" 7 0 , aber vor ihnen steht als letztes Ziel das Ende der Wissenschaft, das zugleich ein neuer Anfang ist. Alle Arten von „knowledge" „have, for these two last centuries and more, gradually been creeping upwards towards that ax|iT; of their perfections, from which . . . we cannot possibly be far off. When that happens, it is to be hoped, it will put an end to all kind of writings whatsoever, — the want of all kind of writing will put an end to all kind of reading; and that . . . must . . . put an end to all kind of knowledge, — and then — we shall have all to begin over again; or in other words, be exactly where we started. — Happy! thrice happy times! I only wish that the aera of my begetting . . . had been a little altered, — or that it could have been put off . . . for some twenty or five-and-twenty years longer, when a man in the literary world might have stood some chance" 7 1 . Dieses Zukunftsbild vom Ende der Wissenschaften bezeichnet Sternes geistesgeschichtliche Stellung. Es macht vor allem seinen Abstand von der Romantik deutlich. Denn trotz des Anklanges an Kleists Wortlaut im „Marionettentheater" ist das „Von-vorne-Anfangen" bei Sterne ein anderes, er erhofft nicht die Unschuld aus der Befreiung von der Erkenntnis — durch ihre Erfüllung —, sondern die Unschuld der frischen, neuen, unbelasteten, aufkeimenden Erkenntnis. Der Reiz des Neuanfangs, in dem er mittun möchte, die Einfachheit eines Denkens, das ganz eng dem Leben verbunden sein soll, sind das Glück Roueseaus und der Enzyklopädisten. Gerade der Anklang an die Romantik zeigt, wie tief Sterne in der Aufklärung verhaftet ist. Die Vorstellung vom Ablauf der Wissenschaften gründet sich auf die Anschauung von den Lebensaltem der Geschichte, die Sterne überall vorfand, auf die Theorie von den Phasen der Kultur. Wir treffen sie bei Hume: „When the arts and sciences come to perfection in any state, from that moment they naturally or rather necessarily decline, and seldom or never revive in that nation" 7 2 . Wir treffen sie bei Johnson: „Language proceeds, like every thing else, through improvement to degeneracy" 7 3 . Wir treffen ebenso, im Erscheinungsjahr des „Tristram Shandy", bei Gerard, der als wenig originaler Kopf desto bezeichnender für die Zeitmeinung ist, die Auffassung, daß jede Generation nach der „perfection" in „affectation" falle 7 4 . Aber Sterne.begnügt

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Neue Natürlichkeit

sich nicht mit der Theorie vom Ableben der Kultur, sondern glaubt an einen Neuanfang und lebt ihm entgegen. Sein Denken über die Kunst, über die Wissenschaften, ja über die Volkswirtschaft ist immer an dem Ideal einer unbelasteten, heiteren und friedlichen Welt ausgerichtet, in der „the arts and sciences mutually befriend each other", wie er es in Trims Stellung bei der Verlesung der Predigt symbolisch verkündet hat. Daß Trim von ihrer Grazie nichts weiß, gibt ihr den Adel der vollkommenen Natürlichkeit. Er steht „as to fall within the limits of the line of beauty, — and I add, of the line of science too"*. Das Unbewußte führt zur Schönheit; Schönheit und Wissenschaft aber fallen zusammen: das Ideal des Natürlichen im Sinne der Enzyklopädisten — und wieder mit einem Vorklang an die Romantik — ist damit aufgestellt. Ist es nur ein Zufall des Wortgebrauchs, daß Sterne die geheimen Ursachen von Trims Stellung gerade in einer „Cyclopaedia of Arts and Sciences" behandeln will? Die unverdorbene Natürlichkeit, die Verbindung von Schönheit und Naturgesetzlichkeit, die wiedergewonnen werden muß, glaubt man auch jetzt schon dort zu finden, wo die Zivilisation ihr gefährliches Wirken noch nicht vollendet hat: auf dem Lande. Wenn im „Tristram Shandy" die Natur nur theoretisch gewürdigt, nur durch den grilligen Vater Shandy Einhalt gegen die Abwanderung in die Stadt 7 5 und gegen die Überhandnähme der Maschine 70 gefordert wird, wenn in Sternes frühen Brautbriefen die Natur nur allegorisch als abstraktes Idyll erscheint, als Versteck „on the side of a romantic hill", das vom Echo nicht verraten, von Liebe und Freundschaft nicht verlassen werden soll 7 7 , so öffnet sich für Sterne im Süden die Natur in ihrem unmittelbaren, lebendigen Reiz. Er atmet in „frankness" und „simplicity" 7 8 und lebt in einer Anspruchslosigkeit, mit der er Rousseau zu überbieten glaubt 7 9 . Hier — am Ende des „Tristram Shandy" — tritt zum ersten und einzigen Male der Name des Mannes auf, in dessen Landschaft Sterne nun weilt. Er sieht sie noch nicht mit den Augen des Künstlere, wie der Verfasser der „Nouvelle Heloi'se" es konnte, aber doch mit den Augen des Genfer Moralphilosophen. Damit steht er auf der Linie seiner Zeitgenossen. Ebenso sollte Fieldings „Tom Jones" „represent human nature at first in that more plain and simple manner in which it is found in the country" 8 0 . Und Johnson hatte bestätigt, „that the country, and only the country, displays the inexhaustible varieties of nature . . . ; but my curiosity is very little attracted by the colour of a flower, the anatomy of an insect, or the structure of a nest; I am generally employed upon human manners" 8 1 . * T. S. B. 2. Ch. 17. Hogarth selbst, dessen „Line of Beauty" hier zitiert ist, hat in der Illustration, um die ihn Sterne in London (für die 2. Auflage) hatte bitten lassen, die Szene in seinem Sinne dramatisiert: Trims Stellung ist gespreizter und erregter ausgefallen als Sterne sie gewünscht haben mag.

Preis des natürlichen Lebens

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Auch Sterne sucht in der Natur die menschliche Natur und redet mit allen, die ihm begegnen 82 . Auch Sterne hat noch keinen Sinn für die Landschaft als solche; im Gebirge fühlt er sich „in the midst of . . . disorders" 8 3 . Aber desto heller leuchten ihm die menschlichen Werte des ländlichen Lebens, voran die Freiheit, die er mit Rousseauischem Ton anruft: „With thee, to smile upon him as he eats his crust, the swain is happier than his monarch, from whose court thou art exiled" 8 4 . Und die letzten drei Kapitel, die er geschrieben hat, der Ausklang der „Sentimental Journey", stehen ganz im Frieden des Lebens mit der Natur. Es ist die Geschichte von jener Bauernfamilie in Südfrankreich, die so viel an Wein und Korn, Gemüse und Feuerholz vor ihrem Hause hat wie sie bedarf. Im Glück der seligen Einfachheit gedeihen fromme Dankbarkeit und Gastfreundschaft; man nimmt und gibt mit Freuden. Der Mensch in der Natur ist gut 8 5 . „Poverty, the treasure of your simple virtues, will not be envied by the world" 8 6 . Armut erzeugt Tugend. Und dieses Dasein gipfelt in den stillen Freuden von Musik und Tanz, die — fern aller städtischen Kunstübung — als Ausdruck des erhöhten Lebens selbst zu Gott gesandt werden 8 7 . „Why could not a man sit down in the lap of content here, — and dance, and sing, and say his prayers, and go to heaven with this nutbrown m a i d ? " 8 8 So klingt die schönste Szene aus, die Sterne gestaltet hat, der flüchtige Tanz mit dem Gascogner Mädchen auf dem Felde nach Sonnenuntergang. Es ist der Ruf nach der neuen Lebenseinheit, die er ersehnt, nach ihrer natürlichen Grazie und Heiterkeit. Das Rondell, bei dessen Klängen er unter dem südlichen Himmel von Mädchen zu Mädchen tanzt, gibt dieser Sehnsucht Laut und Wort: „Viva la joya! Fidon la tristessa!" Es läge nahe zu vermuten, daß Sterne, wo er so tief in die Sphäre des neuen französischen Geistes, seiner Einfachheit und Empfindungszartheit, eingedrungen war, die Verwandtschaft zu den Männern der Enzyklopädie empfunden hätte, die jene Natürlichkeit auch im Denken zum Sieg führen wollten. Es gehört jedoch zum Wesen Sternes, daß er davon nichts wußte, daß er mit seinem Schulwissen auskam, daß er auch hier Altes und Neues naiv überbrückte und verband. E r schenkte seinem Freunde Diderot, als er Frankreich verließ, eine Gesamtausgabe von Locke 8 9 . Die Bibel und Locke hat Sterne in jener höchst aufschlußreichen Selbstbetrachtung, die er vor Jean Baptiste Suard angestellt hat, als die Quellen seines Denkens und seines Ausdrucks bezeichnet. Diese Äußerung ist nur in der Niederschrift Suards, nicht in Sternes eigenen Worten erhalten. Danach nannte er Lockes Werk „a philosophy which never attempts to explain the miracle of sensation; but reverently leaving that miracle in the hands of God, it unfolds all the secrets of the mind; and shunning the errors to which other theories of knowledge are exposed, it arrives at all truths accessible to the understanding", „a sacred philosophy, which

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Sternes Bekenntnis zu Locke

the world must heed if it is to have a true religion, a true science of morals" 9 0 . Das sind fraglos Sternes eigene Gedanken. Die Verankerung der Moral in der Religion, die im demütigen Verzicht auf die Erklärung des Wunderbaren und in der frommen Beschränkung auf die Entschleierung der Seele gesichert ist, findet in Sternes Denken und Glauben überall eine Bestätigung. Im „Tristram Shandy" hat er sich ausdrücklich zu Lockes „Essay" bekannt. „It is a history-book, sir, . . . of what passes in a man's own mind" 9 1 . Es war im Grunde ein psychologisches Interesse, das Sterne lebenslang über dem „Essay" hielt. Es trieb ihn zu erfahren, wie der menschliche Geist als Werkzeug der Seele arbeitet. Und es waren eigentlich die Grenzfälle und die Ausnahmen, die ihn beschäftigten, die Fehlleistungen und die Störungen des geistigen Ablaufes; denn an ihnen faßte er, hier wie sonst, das Seelische in seinem lebendigen Wirken. Nicht der normale, sondern der abwegige Gedankengang, nicht das freie Denken, sondern der Assoziationszwang fesseln ihn, „which strange combination of ideas the sagacious Locke, who certainly understood the nature of these things better than most men, affirms to have produced more wry actions than all other sources of prejudice whatsoever"*. In einer der Parodien auf die umständliche Wissenschaft lenkt die Untersuchung der Frage, warum Onkel Toby seine Kriegsgeschichte nie klar zu Ende erzählen kann, in Lockesche Bahnen. „The causes of obscurity and confusion in the mind of a man is threefold. Dull organs, in the first place. Secondly, slight and transient impressions made by the objects, when the said organs are not dull; and thirdly, a memory like unto a sieve"**. Aber nach ausführlicher Prüfung dieser drei Ursachen — „after the manner of great physiologists — to show the world, what it did not arise from" — zeigt sich, daß die wahre Ursache eine vierte ist: „the unsteady use of w o r d s " * * * ; „'twas not by ideas, — by Heaven: his life was put in jeopardy by words." So liest Sterne seinen Locke daraufhin, wo die Mittel der Verständigung von Mensch zu Mensch nicht ausreichen. „Well might Locke write a chapter upon the imperfections of words", heißt es, als Susanna bei der Nachricht vom Tode des jungen Herrn nur den „green satin night gown" vor Augen sieht*"**. Und alle jene Fälle von Fehlassoziation, in denen die „Approchen" 9 2 , die „himmlischen Heerscharen" 9 3 , die „Subordination" 9 4 oder die „Brücke" 9 5 den Onkel Toby sofort aufs militärische Gebiet verschlagen, belegen jene eine Ursache der Verwirrung: Worte ohne Vorstellung. Diese Entgleisungen des Denkens sind nun aber immer Enthüllungen des Gefühls und des Charakters; an den Störungen des bewußten Vorganges zeichnet Sterne das Walten * T. S. B. 1. Ch. 4. Das bezieht sich auf Locke, Essay . . . B. 2. Ch. 33. §§ 6 ff. * * T. S. B. 2. Ch. 2. Das gibt, samt der Fortsetzung von Dollys Wachs, Satz für Satz Lockes Essay . . . B. 2. Ch. 29. § 3 humoristisch wieder. * * * T. S. B. 2. Ch. 2. Das ist bei Locke a. a. 0 . B. 2. Ch. 29. § 6. * * * * T. S. B. 5. Ch. 7. Lockes Essay B. 3. Ch. 9 ist gemeint.

,Wit" und . J u d g m e n t " bei Locke

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der unbewußten Vorgänge im Menschen. Onkel Toby ist in hohem Maße durch solche Mittel charakterisiert; er, der schlecht sich äußern und schlecht verstehen kann, offenbart sich eben in der Fehläußerung und im Mißverständnis. Und wenn Sterne gerade bei Trims mächtiger, aber fast wortloser Rede über den Tod Lockes Kapitel „The Imperfections of Words" anführt, so weist er damit in seinem Sinne über die Zone des Verstehens durch Worte hinaus auf die Ausdrucksform des Schweigens und der Geste, die ihm die tieferen und wirksameren Mittel sind. Damit aber ist das Gegenteil von dem erreicht, was Locke gemeint hatte. Und es wird sich zeigen, daß Sterne auch sonst gelegentlich bei der Anführung Lockes in bezeichnender Richtung von ihm abweicht. Er tat es bewußt im Falle von „Wit und „Judgment", bei einem Problem, das durch die englische Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts hindurch überall auftaucht. Hobbes hatte es auf englischem Boden entfacht 9 6 . Im „Leviathan" hatte er die beiden Begriffe definiert als zwei verschiedene Verhaltungsweisen vor den Gegenständen: „Those that observe their similitudes . . . are said to have a good wit, by which, in this occasion, is meant a good fancy. But they that observe their differences and dissimilitudes, which is called distinguishing and discerning and judging between thing and thing, in case such discerning be not easy, are said to have a good judgment". Und nun prüft er diese Fähigkeiten auf ihre Verwendbarkeit in den Gattungen der Dichtkunst. „In a good history the judgment must be eminent, because the goodness consists in the method, in the truth, and in the choice of the actions that are most profitable to be known. Fancy has no place, but only in adorning the style" 9 7 . Locke verschärft diese Gegenüberstellung noch: „Men who have a great deal of wit . . . have not always the clearest judgment or deepest reason. For wit lying most in the assemblage of ideas, and putting those together with quickness and variety, wherein can be found any resemblance or congruity, thereby to make up pleasant pictures and agreeable visions in the fancy; judgment, on the contrary, lies quite on the other side, in separating carefully, one from another, ideas wherein can be found the least difference, thereby to avoid being misled by similitude, and by affinity to take one thing for another. This is a way of proceeding quite contrary to metaphor and allusion; wherein for the most part lies that entertainment and pleasantry of wit, which strikes so lively on the fancy, and therefore is 90 acceptable to all people, because its beauty appears at first sight, and there is required no labour of thought to examine what truth or reason there is in it. The mind, without looking any further, rests satisfied with the agreeableness of the picture and the gaiety of the fancy. And it is a kind of affront to go about to examine it, by the severe rules of truth and good reason; whereby it appears that it consists in something that is not perfectly conformable to them" 9 8 .

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,Wit" und .Judgment" bei Sterne

Es mußte einen Menschen von der geistigen Beschaffenheit Sternes beunruhigen zu hören, daß der Witz vor der Wahrheit nicht standhielte. In der Vorrede zum „Tristram Shandy" verwahrt er sich gegen Lockes Meinung: „The great Locke, who was seldom outwitted by false sounds, was nevertheless bubbled here. — The cry, it seems, was so deep and solemn a one, and what with the help of great wigs, grave faces, and other implements of deceit, was rendered so general a one against the poor wits in this matter, that the philosopher himself was deceived by i t " 9 9 . Die Trennung von „wit" und „judgment", die Locke vollzogen, war in der Tat allgemein angenommen worden. Home hatte es wiederholt: „wit and judgment are seldom united" 1 0 0 und dazu Lockes Begründung, schon ohne Nennung der Quelle, gegeben. An anderer Stelle bildet Home eine eigene Definition für „wit" im Anschluß an die von Locke, die auch Addison übernommen hatte 1 0 1 . Zwei Jahre vor dem „Tristram Shandy" tritt es bei Burke mit einem Hinweis auf Locke auf: „A perfect union of wit and judgment is one of the rarest things in the world" 1 0 2 . Die Formulierung hatte allgemeinen Eingang gefunden. Fielding allerdings hatte sich offenbar gegen sie aussprechen wollen, wenn er „invention" und „judgment" für stets miteinander verbunden erklärte. „And yet some few men of wit have agreed with all the dull fellows of the world in representing these two to have been seldom or never the property of one and the same person" 1 0 3 . Indessen trifft seine Definition von „invention" — „a quick and sagacious penetration into the true essence of all the objects of our contemplation" — nicht das, was seit Locke unter „wit" verstanden wurde; und darum deckt seine Verteidigung nicht den angegriffenen Punkt. Wo dieser lag, sah Sterne wohl; und er wandte sich mit Nachdruck gegen die Leugner der Verbindung von „wit" und „judgment" und gegen den Vorwurf, den er bei ihnen heraushörte. Er nahm die Begriffe in dem Sinne wie sie zu ihm kamen: „judgment" trennt, „wit" verbindet das mehr oder minder Benachbarte. Allerdings neigt Sterne dazu, den Begriff des „wit" über das Charakteristische der geistigen Beweglichkeit hinaus zum Moralischen hin zu erweitern. Er setzt die „festivity of wit" gegen die „malignity" der „satire" ab, die „void of humanity" ist 1 0 4 . Und er bringt den „wit" in eine unmittelbare Beziehung zum Moralischen mit einem Wort, das seine Anschauung über das Verhältnis der geistigen und sittlichen Werte nach beiden Seiten hin schlagartig erhellt: Predigen und Mahnen sind unnötig, „where men have wit enough, to be honest. This makes for my hypothesis of wit and judgment" 1 0 5 . Sterne erkennt auch das Problem selbst an und übernimmt sogar die Lockesche Trennung der Fähigkeiten, wo es ihm richtig scheint. So fängt Vater Shandys Taufnamentheorie als Spaß an und endet als Ernst; „his judgment, at length, became the dupe of his wit"*. So erfährt * T. S. B. 1. Ch. 19. in fühlbarer Anlehnung der Formulierung an La Rochefoucaulds Wort: „L'esprit est toujoure le dupe du coeur."

Harmonie zwischen „Wit" und „Judgment"

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Sterne es an sich selbst, in Südfrankreich, im „clear climate of fantasy and perspiration"; „the judgment is surprised by the imagination" 1 0 6 . Aber er hält solche Trennung nicht für notwendig und sieht das Heil vielmehr in einer ausgewogenen Verbindung von „wit" und „judgment" 1 0 7 . Seine Argumentation ist keine philosophische, sondern eine psychologische. Sie trifft den menschlichen Kern der Sache. Immer schon hatte er die Herren von der „gravity" ingrimmig gehaßt. Yoricks „invincible dislike and opposition . . . to gravity; not to gravity as such — b u t . . . to the affectation of i t " 1 0 8 war Sternes eigener Verdacht gegen die Unehrlichkeit der gewichtigen Würde. Wenn nun die „Perücken" sich gegen „wit" und für „judgment" erklären, so durchschaut Sterne den Vorgang: sie ärgern sich über den „wit" der andern, weil sie selbst keinen haben; und sie hüllen sich in „judgment", um nicht ohne alles dazustehen 109 . So wenig dies eine philosophische Antwort ist, so wenig ist es jene andere, mit der Sterne die Notwendigkeit beider Fähigkeiten für den Menschen erweisen will. „Wit" und „judgment" gehören so untrennbar neben einander wie die beiden Knäufe eines Stuhles oder wie die Ohren eines Schweins; es sähe lächerlich aus, wenn eines fehlte. „They are . . . indubitably both made and fitted to go together, in order, as we say in all such cases of duplicated embellishments, — to answer one another" 1 1 0 . Mit diesem Begriff der Entsprechung* verläßt Sterne den Boden Lockes und zieht sich auf den Kreis seiner eigenen psychologischen Vorstellungen zurück, die alle — das Wort „embellishment" bestätigt e6 — eine Färbung vom Ästhetischen her aufweisen. Die Entsprechung von „wit" und „judgment", das Ebenmaß der progressiven und der digressiven Teile eines Buches — „the just balance betwixt wisdom and folly, without which a book would not hold together a single y e a r " 1 1 1 — und die Harmonie des Ganzen, „whether good or bad", im Roman und im Leben: sie kennzeichnen Sternes Vorstellung vom Menschen als eine, die nicht mehr auf das Einzelne ausgeht, sondern es nur noch im Zusammenhang des harmonischen Ganzen betrachtet. Sternes Psychologie sieht überall Entsprechungen und übergreifende Ordnungen, vor denen der Einzelfall seine Bestimmungen verliert: „tant pis . . . tant mieux . . . it comes to the same thing" 1 1 2 . Seine Charakteristik sucht ein Gesamtbild und dringt auf dessen letzten Grund — „we must go up to the first springs" 1 1 3 —, vor dem alle Einzeleigenschaften der Menschen durchsichtig werden und ins Gleiten geraten. Vater Shandys „eloquence" „was his strength — and his weakness t o o " 1 1 4 . „The transitions of his passions were unaccountably sudden" 1 1 5 . Die Mehrdeutigkeit und die Verwandlungsfähigkeit alles Menschlichen sind die Voraussetzungen dieser Psychologie. In einem Leben der schwankenden Augenblicksneigungen und der wechselnden Bewertungen ist jeder dem anderen, noch viel mehr 6ich selbst ein Ge* Popes „For wit and judgment often are at strife, though meant each other's aid, like man and wife" (Essay on Criticism) hat vermutlich eingewirkt.

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Mehrdeutigkeit und Verwandlungsfähigkeit der Seele

heimnis. „My good friend, quoth I, — as sure as I am I, — and you are you, — And who are you? said he. — Don't puzzle me, said I"*1®. Die Selbsterkenntnis indessen, die schwierigste Aufgabe — „For who can search the heart of man? — it is treacherous even to ourselves" 117 — bleibt zugleich die höchste Aufgabe. „Hypocrisy" ist ihr gefährlichster Feind11**. Gegen ihn richtet sich die Entlarvung, jene Form der Selbstenthüllung, die Sterne an sich vollzieht, — so als er, scheinbar offen und gebefreudig, den bettelnden Mönch abgewiesen hat, der ihn beim Wort nahm 11 9. Die Einheit des Charakters ergibt sich aus einer durchsichtigen Vielschichtigkeit. Yorick führt fünfzig Ursachen für die Magerkeit seines Pferdes an, die alle etwas Wahres in sich haben, und verbirgt dahinter die eine ganz wahre, die ihn ehren würde 120 . Diese innere Vielfältigkeit und Verwicklung ist bei jedem Menschen eine andere, — „such a variety of strange principles and impulses" und „so many different springs" wirken schon in der einen Shandyschen Familie 1 2 1 . Wohl lassen sich Unterschiede in Haltung und Auffassung von Mensch zu Mensch erkennen, wohl lassen sich zumindest Grenzen des Urteilsvermögens ziehen, durch die der einzelne charakterisiert ist — wie wir die Köchin und das Kammermädchen kennen, wenn sie meinen, Trim könne wohl so gut wie sein Herr selbst eine Festung erstürmen 122 —; aber über alle Abstände und Schranken hinweg geht die Verständigung, — eine ebenso einfache wie schwierige Verständigung, die, zugleich unzulänglich und vollkommen, nur noch unter einer doppelten Bewertung zu fassen ist: unter dem Humor. Vor ihm fallen die Schranken der menschlichen Eigenarten und Neigungen nieder; die Seelen finden sich durch das Mißverständnis hindurch. „He was a very great man! added my uncle Toby, (meaning Stevinus). — He was so, brother Toby, said my father (meaning Peireskius)" 1 2 3 . An die Mehrdeutigkeit der menschlichen Natur hat Sterne in wiederholten Rufen gemahnt: „Inconsistent soul that man i s ! " 1 2 4 Wenn diese Gesamtwürdigung am Ende einer Betrachtung steht, so steht am Anfang die differenzierte Untersuchung eines Einzelfalles. Wie Sternes schlüpfrige Doppelsinnigkeiten gerade aus der genauesten Sinnbestimmung aufwachsen — wenn er die Nase haarscharf als solche definiert, ist sie schon keine mehr 1 2 5 —, so gewinnt er seine Vieldeutigkeit aus der Übergenauigkeit der gedanklichen und seelischen Analyse. Sterne, der Meister des „poco più" und des „poco meno", des „insensible more or less" 1 2 6 , für den kein Ding einen festen Wert hat — „the circumstances with which every thing in this world is begirt, give every thing in this world its size and shape" 1 2 7 —, verzichtet auf eine feste Bestimmung der kleinsten Einheiten im Denken und Fühlen. Wo er dennoch die Untersuchung des Kleinsten betreibt, dient sie dazu, es in sich selbst zu verflüchtigen. Dem skeptischen Vater Shandy ist diese Methode zugewiesen, die auf die „minutiae of philosophy, which would always turn the balance" ausgeht 128 . „Knowledge, like matter, he would affirm, was divisible in

Betrachtung des Kleinsten: Würdigung des lebendigen Ganzen

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infinitum; — that the grains and scruples were as much of it, as the gravitation of the whole world" 1 2 9 . Das bezeichnet Sternes eigene Methode, das Gesamte vom Kleinsten her zu erfassen. Es beleuchtet seinen Weg: von der minutiösen Überdifferenzierung des Winzigen, das sich ins Infinitesimal auflöst, zur Mehrdeutigkeit des Ganzen, das sich aus solchen unbestimmten Werten aufbaut, und zur höheren Einheit des Humors. George Berkeley, der im „Alciphron" den „minute philosopher" bekämpfte, hatte sich in den „Principles of Human Knowledge" gegen die abstrakte Teilung der Linie in infinitum gewendet. Wo die sinnliche Vorstellung nicht mehr folgen kann, verliert für ihn das Denken seinen Wert 129 . Diese Berufung auf die Evidenz und die — im Grunde fromme — Bescheidung, die sie predigt, ist auch der Sinn von Sternes Differentialmethode. Die Fluxion des kleinsten Wertes zum Nichts, die Verflüchtigung der Grane und Skrupel sollen uns auf die demütige Würdigung des wunderbaren Ganzen weisen und auf die Einfachheit und Gelöstheit, die das Seelische und Geistige im lebendigen Gesamten genießen. Wenn allerdings Berkeley die minutiöse Philosophie völlig ablehnt, vollzieht Sterne — auch hier — keine Entscheidung. Er hält die Spannung vom Minutiösen zum Großen, vom Subtilen zum Einfachen immer offen; und gerade aus der Durchdringung beider gewinnt seine Haltung die innere Beweglichkeit, die Labilität zwischen Ironie und Pathos: den Humor. Wie aber soll der Charakter eines Menschen überhaupt noch erfaßt und erkannt werden? Seine tiefere Einheit wird in einer bloßen Einheitlichkeit nicht mehr gesucht. „The bulk of mankind live in such a contradiction to themselves, that there is no character so hard to be met with as one which, upon a critical examination, will appear altogether uniform, and in every point consistent with itself" 1 3 0 . Was leitet uns angesichts solcher „Strange compounds of contradictory qualities" 1 3 1 zu den „ruling passions", den „first springs", die sie im Grande bewegen? Wie sollen wir auch nur erkennen, welche „passions" die bedeutenden sind, wenn die Empfindungen selbst in ihrer Stärke wechseln, „after the manner of the gentle passion, beginning in jest, but ending in downright earnest" 13 2? Vor diesen Verwirrungen aller Werte und aller Größen weist Sterne auf die Methode, die er selbst befolgt hat: auf die Beobachtung der scheinbar unbedeutenden Handlungen. Unsere Unwissenheit kommt „from the neglect . . . of our pence and our half-pence" 133 ; die Scheidemünze des Denkens und Handelns müssen wir ausdeuten lernen, wollen wir die Menschen erkennen. Eine belanglos scheinende Tat wie die Fußwaschung Petri gibt uns einen wirklichen Einblick; die unbedachten Kleinigkeiten verraten den Charakter. „I would sooner form a judgment of a man's temper from his behaviour on such little occurences of life as these than from the more weighed and important actions, where a man is more upon his guard" 1 3 4 .

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Charakterdeutung aus kleinen Äußerungen — Körper und Seele

Damit greift Sterne ein altes Problem auf. Hinter jeder Frage nach der Charakterbeschreibung war immer noch Plutarchs Unterscheidung der bloßen Taten- und der Lebensgeschichte fühlbar. In der Einleitung zu dessen Lebensbeschreibung des Alexander steht das Wort, er wolle die Aufführung der großen Begebenheiten anderen überlassen und statt dessen die Merkmale seiner Helden sorgfältig schildern; denn oft bezeichne eine unbedeutende Handlung (7tpxy|xa ¡Spayjj), ein Ausspruch (pfj|ia) oder ein Scherz (raecSiä) den Charakter eines Menschen besser als die größten Schlachten. Johnson hatte — wohl in Erinnerung an diesen Satz — auf die „details of daily life" als auf die Anzeichen des „private and familiar character" hingewiesen und auf die „invisible circumstances, which . . . are more important than public occurences. Thus Sallust . . . has not forgot in his account of Catilina to remark, that his walk was now quick and again slow, as an indication of a mind revolving with violent commotion" 1 3 5 . Er hatte daran erinnert, daß „more knowledge may be gained of a man's real character, by a short conversation with one of his servants, than from a formal and studied narrative" 1 3 5 . Diese beiden Beispiele, der schwankende Gang Catilinas, den Johnson als Zeichen eines erregten Denkens auslegt, und die Unterhaltung mit dem Diener, machen den Abstand der an der Antike geschulten Charakteristik von der Sternes deutlich. Wie anders würden die gleichen Elemente bei Sterne aussehen! Die kleinen Züge bei Johnson erläutern, die Sternes entlarven den Charakter. Eine Bewegung und ein kleines Gespräch stehen bei Johnson auf der Linie der sonstigen Worte und Taten seiner Helden; sie dringen bei Sterne immer hinter die Ebene der Worte, und sie ersetzen die Taten. Die kleinen Begebenheiten, „little incidents, cursory conversation, slight business", die Johnson in der Biographie berücksichtigt wissen will, da aus ihnen ein wichtiger Teil unsres Lebens besteht 1 3 6 , liegen bei ihm in einer Richtung mit den großen Begebenheiten. Bei Sterne gibt es nur noch kleine Begebenheiten, die sich alle entgegenstehen und deren jede die Würde einer großen hat. Das Problem der Charakteristik war für Sterne das Problem des Verhältnisses des Körpers zur Seele. Der Körper war ihm nicht ein Werkzeug, sondern ein Gefäß; es galt nicht, ihn in Zustand und Bewegung nur zu beschreiben, sondern ihn in dieser Beschreibung durchsichtig zu machen. Viel eher als die antikischen Hinweise auf die Bedeutsamkeit auch der kleinen Äußerungen steht das Talmud-Wort „Willst du das Unsichtbare erkennen, so achte sehr genau auf das Sichtbare" über Sternes Schilderung des Körperlichen. Die jüdisch-biblische Würdigung des Äußeren um des Inneren willen hat den frommen Wundergläubigen in ihre Schule genommen. Seele und Körper leben für ihn in einem engen, aber gespannten Verhältnis. „I love the Pythagoreans for their ,^tüpta|xöv aiiö toö a(I)(iato;, ei? xö cptXoaoifeiv'. No man thinks right, whilst he is in it; blinded, as he must be, with his congenial humours" 1 3 7 . Der Geist

Körper und Seele

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ist an den Körper gefesselt. „Reason is, half of it, sense" 1 3 7 . Erst der Chorismos, die Trennung von Leib und Seele, gestattet das rechte Denken. Gleichwohl ist die Beziehung zwischen dem Inneren und dem Äußeren eine so enge, daß beide immer gleiches erleiden. „We find such a strong sympathy and union between our souls and bodies that the one cannot be touched or sensibly affected without producing some corresponding emotion in the other" 1 3 8 . Die „external helps" sind uns als „interpreters of our thoughts" nötig 1 3 8 . „A man's body and his mind . . . are exactly like a jerkin and a jerkin's lining" 1 3 9 ; darum muß man schon ein gutes Wams haben, um die Hiebe so abzuhalten, daß das Futter heil bleibt. Denn „soul and body are jointsharers in everything they get" 1 4 0 . Die „correspondence" zwischen Leib und Seele wirkt sich nach beiden Seiten aus. Der Geist lenkt nicht nur den Körper, sondern die körperliche Haltung und der körperliche Zustand beeinflussen auch Haltung und Zustand der Seele. So ist für Sterne die äußere Abhaltung des Gebetes eine Hilfe zur inneren Frömmigkeit 1 4 1 ; und so kleidet er sich sauber an, um die Phantasie beim Schreiben zu erfrischen 1 4 2 . Die Frage nach der Erkenntnis des Charakters war für Sterne eine Frage nach der Sichtbarwerdung des Seelischen im Körperlichen. „Our minds shine not through the body" 1 4 3 . Da wir das Seelische nicht unmittelbar erkennen, können wir es nur mittelbar an den körperlichen Äußerungen ablesen; sie sind die „interpreters of our thoughts". Die Schwierigkeiten der Interpretation beruhen darauf, daß der Geist sich des Körpers zu falschem Ausdruck bedienen kann. Das Innere kann sich hinter dem Äußeren verbergen. „Even in laughter the heart is sorrowful"i44. Und di e gehaßte „gravity" ist nichts als „a mysterious carriage of the body to cover the defects of the m i n d " 1 4 5 . Wo aber kein Vorsatz waltet, ist die Seele im Gehaben des Körpers zu erkennen. „See Monsieur le Due's face first; — observe what character is written in it; — take notice in what posture he stands to hear you; — mark the turns and expressions of his body and limbs" 1 4 6 . Solche Physiognomik des Körpers als Ganzen ermächtigte Sterne, Haltung und Bewegung als Ausdruck zu lesen. An drei Schritten La Fleurs, die seine Hilfsbereitschaft bezeugen, erkennt er den ganzen Menschen. „The fellow won my heart by it; from that single trait, I knew his character as perfectly, as if he had served me with fidelity for seven years" 1 4 7 . Die Ausdrucks- und Bewegungslehre, die diesen Interpretationen zugrunde liegt, ist mit ihrem Glauben an den natürlichen Einklang des Äußeren und des Inneren in den Anschauungen verankert, die seit Shaftesburys Verknüpfung des Ästhetischen und des Moralischen in England wieder Zugang gefunden hatten. Hutcheson begriff in dem Werk, das er der Erläuterung dieser Verknüpfung widmete, die Schönheit immer als ein Zeichen der Tugend 1 4 8 . Und Home hat das bekräftigt: „The character of a man can be read in his face; and beauty, which makes so deep an

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Bewegung als Ausdruck der Empfindung

impression, is known to be the result . . . from good nature, good sense, 6prightliness, sweetness or other mental quality, expressed upon the countenance" 1 4 9 . Für Sterne allerdings kann es sich nicht darum handeln, durch ein eindeutiges Äußeres ein einheitliches Inneres zu kennzeichnen. So wenig ihm Schönheit und Tugend, jedes für sich, noch feste Begriffe sind, so wenig genügt ihm eine bildhafte Darstellung der einen durch die andere. Wie für ihn der Charakter seine eindeutige Bestimmtheit verloren hat, so weist auch sein körperlicher Ausdruck nicht auf einen ruhigen inneren Zustand, sondern auf eine innere Bewegung, auf eine Spannung, auf eine Verwicklung. Nicht das stehende Bild, sondern die flüchtige Geste ist ihm darum das Mittel, das Innere in seiner Vielfältigkeit zu erhellen. Und gerade in ihrer Flüchtigkeit öffnet die Geste den Blick in die „sudden transitions" der „passions"; in ihrer Vieldeutigkeit spricht sie aus, was Worte nicht vermögen. „Whilst a man is free, cried the Corporal, giving a flourish with his stick. . . . A thousand of my fathers most subtle syllogisms could not have said more for celibacy" 1 5 0 . Schneller und leichter als das begriffliche Denken es deuten könnte, erkennt das fühlende Auge in jeder Bewegung das Innere. „A man of sense does not lay down his hat in coming into a room, or take it up in going out of it, but something escapes which discovers h i m " 1 5 1 . Der Charakter verrät sich in einer Zeichensprache, die der Kundige zu lesen weiß. Ein eigenes Kapitel der „Sentimental Journey" ist dieser Kunst der „Translation" gewidmet und preist sie als Beförderin der menschlichen Beziehungen. So dient auch die Geste schließlich dem Ausdruck der neuen Herzensoffenheit. Denn es gehört zum Bilde des hellhörigen und feinfühligen Menschen, daß die Äußerungen um ihn immer zarter werden und daß zu dem Empfindsamen die Seele in den stummen Winken einer geheimen Sprache redet. „There is no secret so aiding to the progress of sociality as to get master of this short-hand, and to be quick in rendering the several turns of looks and limbs, with all inflections and delineations into plain words. For my own part, by long habitude, I do it so mechanically, that . . . I go translating all the way" 1 5 2 . Wenn Sterne in der Kenntnis der menschlichen Seele und ihrer Äußerungen einen eigenen Weg gefunden hat, der ihn von der Lockeschen Grundlage seines Denkens schließlich weit ab führt, so hat er auch da, wo er diese Grundlage genau innezuhalten bestrebt war, in der Untersuchung des menschlichen Verstandes, die Formulierungen Lockes auf eine sehr persönliche Art umgedeutet. Hierfür ist der greifbarste Beleg in seinen Äußerungen über die Zeitvorstellung gegeben, „'tis owing entirely to the succession of ideas", war Onkel Tobys Antwort gewesen 1 5 3 . Die Erklärung, die Vater Shandy ihm dafür zu liefern versucht, trägt die Fußnote „Vide Locke" zu Recht. Sie ist eine getreue Wiedergabe von Lockes Satz, daß wir die Zeit an der Abfolge unserer Ideen wahrnehmen. Was Sterne daran beschäftigt, ist die Abhängigkeit unseres Begriffs des äußeren Zeit-

Lockes objektiver Zeitbegriff

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Verlaufes von dem inneren Seelenvorgang, ist die Erfahrung, daß Freude oder Kummer die Zeit uns angenehm oder unangenehm verlängern. Für beides gibt er Beispiele. Neben der unbekannten Schönen mit dem Gesicht vor der Remisentür stehend, fühlt er: „A colloquy of five minutes, in such a situation, is worth one of as many ages, with your faces turned towards the street" 154 . Und nach ihrer Abreise klagt er: „My time seemed heavy upon the loss of the lady"; denn er weiß, daß „every moment of it would be as two, till I put myself into motion" 1 5 5 . Locke hatte der Zeitvorstellung durch die Verankerung in der Sinneswahrnehmung eine größere Sicherheit geben wollen; Sterne umgekehrt gibt ihr durch die Abhängigkeit von unseren Sinnen eine größere Unsicherheit. Wenn Vater Shandy in der Ungeduld des Wartens ausruft: „It is two hours and ten minutes, but to my imagination it seems ages" 1 5 6 , so ist damit ein Widerspruch zwischen objektiver und subjektiver Zeitmessung geöffnet, dem Locke gerade begegnen wollte. Es war Locke darum zu tun gewesen, den Begriff der Zeit in der Erfahrung zu befestigen. Nicht aus der Bewegung der Gestirne, sondern aus unseren Sinneseindrücken gewinnen wir nach ihm die Vorstellungen der Dauer und ihrer Maße. Aus diesen Maßen, die die Erfahrung gewisser regelmäßiger Perioden von Vorstellungen uns liefert, können wir sodann durch beliebige Aneinanderreihung nach rückwärts oder vorwärts den Begriff jeder Zeitspanne, ja der Ewigkeit selbst aufbauen. Sterne liegt nichts an diesem Aufbau des Zeitbegriffs, sondern er bleibt an dem Punkte stehen, wo die Erörterung um die Meßbarkeit der Zeit geht. Das ist in Lockes Untersuchung des Zeitbegriffes die einzige Wendung, die einer relativistischen Auslegung entgegenkommt. „Duration, in itself, is to be considered as going on in one constant, equal, uniform course; but none of the measures of it which we make use of can be known to do so" 1 5 7 . Dieser Satz bestreitet die Angemessenheit unserer Mittel zur Messung der Zeit, aber er stellt ausdrücklich die innere Einheit und Geltung der Zeit selbst außer Frage. Der Begriff der Dauer leidet nicht darunter, daß unsere Vorstellungsfolgen uns keine Maße von letzter Genauigkeit liefern. „The notion of duration still remaining clear, though our measures of it cannot (any of them) be demonstrated to be exact" 1 5 7 . Hier setzt Sternes Auslegung ein. Sie soll ihm dazu dienen, ein ästhetisches Problem zu lösen, das Problem der Einheit der Zeit im Kunstwerk. „It is about an hour and a half's tolerable good reading since my uncle Toby rung the bell, when Obadiah was ordered to . . . go for Dr. Slop . . . , so that no one can say, with reason, that I have not allowed Obadiah time enough, poetically speaking . . ., both to go and to come. . . . If the hypercritic will go upon this; and . . . after finding it to be no more than two minutes, thirteen seconds, and three-fifths, should take upon him to insult over me for such a breach in the unity, or rather probability of time, — I would remind him, that the idea of duration,

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Sternes relativistische Auslegung von Lockes ZcitbegrifF

and of its simple modes, is got merely from the train and succession of our ideas" 1 5 8 . Das Wort „merely" verrät, wie Sterne seinen Locke liest. Die Zeit ist für Sterne nicht fest zu bestimmen, weil sie „bloß" das Ergebnis unserer sehr wandelbaren Vorstellungsfolgen ist. Und daß Sterne in der gleichen Zeit, wo Obadiah nur wenige Meilen geritten ist, seinen Onkel Toby im Fluge der Phantasie von Namur nach England gebracht hat, beweist ihm die verschiedene Wertigkeit der Zeit. Geht er damit schon von dem Sinn des Lockeschen Gedankenganges ab, so führt seine Leugnung eines objektiven Zeitmaßes — „if my hypercritic is untractable, alleging that two minutes and thirteen seconds are no more than two minutes and thirteen seconds" — in der Richtung auf eine Relativierung der Zeit noch weiter; und wenn er endlich den Kritiker damit zufriedenstellen will, daß er Obadiah dem Dr. Slop entgegenreiten und ihn unterwegs treffen läßt, so ist diese humoristische Lösung sogar ein Schritt zur Relativierung des Zeitbegriffs auf den Raumbegriff. Wenn man Sternes Formulierungen nicht auf ihre Konsequenzen, sondern nur auf ihren eigenen Sinn hin liest, so besagen sie, daß die Zeit, die poetische wie die reale, ihm so sehr von unseren Vorstellungsfolgen und deren Inhalten abhängig ist, daß er ihr, abgelöst von diesen, keinen festen Wert zusprechen kann. Man darf diese Auffassung eine skeptische nennen. Und es liegt nahe, darauf zu verweisen, daß, wenn Sterne seinen Locke sich skeptisch interpretierte, er ihn unbewußt im Sinne Berkeleys las, dessen Zeitbegriff sich denn auch in der Tat die Sternesche Formulierung stark annähert. „For my own part", hatte Berkeley bekannt 1 5 9 , „whenever I attempt to frame a simple idea of time, abstracted from the succession of ideas in my mind, . . . I am lost and embrangled in inextricable difficulties. I have no notion of it at all. . . . Time therefore being nothing, abstracted from the succession of ideas in our minds . . . whoever shall go about to abstract the existence of a spirit from its cogitation, will, I believe, find it no easy task." Berkeley vollzieht den philosophischen Schritt, zu dem Sterne unbewußt ansetzt. Er erklärt, unter .Bezugnahme auf sein „esse est percipi", daß es eine abstrakte Zeit nicht gibt. In einem Brief an seinen Freund Johnson hat er seinen Schritt über Locke hinaus noch einmal gekennzeichnet: „A succession of ideas I take to constitute time, and not to be only the sensible measure thereof, as Mr. Locke and others think" 1 6 0 . Dieser Wortlaut trifft die Meinung Sternes vollkommen. Es ist nicht anzunehmen, daß Sterne sich mit Berkeleys Denken befaßt hat, ob er schon dessen Predigten gut kannte. Und jedenfalls hat er hier, wo er in Berkeleys Richtung tastet, sich auf Lockeschem Boden geglaubt und Locke ausgeschrieben. Sterne war kein originaler Denker. Nirgends hat er Theoretisches um seiner selbst willen betrieben. Aber wo immer er es aus fremder Hand aufnimmt, gewinnt es seine eigene Farbe, die Farbe des Zweifels an der Gewißheit des gegebenen Maßstabes. Wie

Phantasie und Wirklichkeit

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ihm der Standard im Moralischen verdächtig erschien, so griff er ihn auch im Psychologischen an; und als Psychologie hat er Lockes Essay gelesen. Das Reizvolle des Sterneschen Denkens liegt in dem Widerspruch von Ausgangsstellung und Ergebnis. Überall beginnt es auf dem Boden der Tatsachen und endet in einem Rätsel, das nur noch im Humor zu lösen ist. Wie er unter Berufung auf seine Commonsense-Vernünftigkeit zum Verteidiger des religiösen Wunders und des Schöpfungsgeheimnisses wird, wie er beim Verfolgen der Gedankenentgleisungen aus der Sphäre des bloßen „humour" in den Humor des Allverstehens hinaufwächst, so mündet nun seine Erfahrungsphilosophie im Zweifel an der Eindeutigkeit der objektiven Inhalte und im Hinweis auf die Macht der Imagination, die frei mit ihnen schaltet. Dieser Widerspruch zwischen Wirklichkeitsglauben und freier Phantasie spiegelt sich noch einmal angesichts des „Tristram Shandy" als Ganzem. Kein anderer Roman der Epoche hat so wenig Wirklichkeit und so viel wuchernde Phantasie. Alle diese Phantastik aber soll nur dazu dienen, die wahre Wirklichkeit zu erschließen; die Subtilität soll am Ende das Einfache aus sich erzeugen. Und wirklich war Sterne des Glaubens, daß er durch den Nebelschleier der Vorstellungen hindurch zu den Dingen selbst leite. Das Motto, das er dem „Tristram Shandy" vorangestellt hat, ein Wort des oft von ihm geschmähten Epiktet, soll seinen Kampf gegen die Dogmen, die die Menschen beunruhigen, und seine Führung zu den Pragmen, die zu erkennen ihnen not tut, bezeugen. Auch dies Wort hat er wieder im Lockeschen Sinne der Berufung auf die Wirklichkeit gelesen. Der „Tristram Shandy", der phantastischste Roman der Zeit, bekennt sich unter einer stoischen Formel zur Aufklärung: "xapiaoe.i xoûç avO-pwitou; où xà 7xpay|i.aia, àXAa xà rapt xûv Tcpay^âxwv 5ôy|xata." Nicht die Dinge selbst, sondern die Vorstellungen der Dinge sind es, die die Menschen beunruhigen*. *

Sternes Kampf gegen die Gültigkeit eines objektiven Zeitmaßes war ein Kampf für die Freiheit der Imagination im Bereiche des Seelischen und seiner Äußerung, der Kunst. Wie sein Denken überall nur dazu diente, theoretische Bindungen, die ihm das Menschliche zu beengen schienen, zu meiden oder zu lösen, so benutzte er auch auf dem Felde der Kunst die Mittel, die sich ihm boten, zur Befreiung von dem Zwang der Regeln. Die englische Ästhetik seiner Zeit stand im Wandel der Begriffe. Das Verhältnis von Imitation und Imagination hatte sich zugunsten des Inspiratorischen verschoben. Ein freierer Naturbegriff und eine kräftigere '* Epiktet. Handbüchlein der Moral. Abschnitt 5. An der Spitze von Montaignes Essay „Que le goût des biens et des maux dépend, en bonne partie, de l'opinion que nous en avons" (Livre 1. Chap. 40) konnte Sterne das gleiche Wort (allerdings nicht in seiner griechischen Fassung) finden. Er wird unter Montaignes Essays gerade diesen, schon wegen des ihm entgegenkommenden Themas, besonders gut gekannt haben.

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Sternes Kampf für Freiheit der Imagination

Vorstellung vom Genie hatten Platz gegriffen. Indessen war diese Entwicklung erst im Anfange, als Sterne schrieb. Beim Erscheinen des „Tristram Shandy" waren weder Young, der sich für das Recht der schöpferischen Originalität einsetzte, noch Home, der — gleich Young — die Kunstgesetze nicht auf die Alten, sondern auf die Natur selbst gegründet wissen wollte, schon mit ihren Erkenntnissen hervorgetreten. Sterne mußte auch hier seinen eigenen Weg finden. E r bedurfte der Anlehnung an Zeitgenössisches nicht. Seine Vorstellung von künstlerischer Gestaltungsfreiheit entwuchs einem unmittelbaren Verhältnis zur Dichtung der Renaissance; über die klassizistische Kunst und ihre Theorie hinweg griff er in den lebendigen Schatz der Vergangenheit und hat aus ihm geschöpft und sich zu ihm bekannt. Rabelais, Cervantes und Shakespeare sind ihm die Zeugen für seine Kunstauffassung. Seine eigene Leistung lag darin, jene in ihrer Fülle und Lebendigkeit zu erkennen. Schon damit stand er, ohne daß er es wußte, neben den unbefangensten Denkern und Künstlern seiner Zeit. Es bedurfte nur der Berührung, und er fand sich mit ihnen im Einklang. Die Freundschaft zu Garrick und zu Diderot war eine Gemeinschaft der Geister. Sterne hat einmal der Herkunft der originalen Charaktere in Leben und Kunst aus dem unbeständigen Wetter eine genealogische Untersuchung gewidmet. E r fand dabei, daß die Einsicht „that there was great inconsistency in our air and climate" sehr alt sein müsse, daß die Folgerung „that it is this which has furnished us with such a variety of odd and whimsical characters" offenbar schon jünger sei, daß die Bemerkung „that this copious store-house of original materials is the true and natural cause that our comedies are so much better than those of France" wiederum neuer sei und vermutlich von Dryden stamme, daß sodann „the great Addison" das alles zusammen im Spectator aufgegriffen und ausgeführt habe und daß endlich er, Sterne, hinzugefunden habe, daß die „irregularity in our characters" bei schlechtem Wetter sehr unterhaltsam sei 1 6 1 . Dieser ironische Stammbaum gibt einen wahren Sachverhalt wieder: durch Dryden und mehr noch durch Addison hat Sterne in die lebendige und originale Vergangenheit Einblick gehabt. Zwischen Dryden und Addison liegt der Sieg des französischen Klassizismus in England. Dryden hatte noch, Addison hat schon wieder eine Tür zur Freiheit geöffnet. Beide beriefen sich dabei auf Shakespeare. Ob Drydens Essay mit seiner Ablehnung der unbeseelten, statuarischen französischen Tragödie zugunsten der „masculine fancy and greater spirit" bei den elisabethanischen Dichtern Englands, mit seiner Rechtfertigung Shakespeares vor dem Vorwurf der Ungelehrtheit: „He was naturally learned; he needed not the spectacles of books to read Nature; he looked inwards, and found her there", — ob Drydens „Essay of Dramatic Poesy" Sterne bekannt war, ist nicht leicht zu ermitteln. Aber was Addisons Spectator für die Befreiung der Geister geleistet hat, ist gerade an Sterne, an seinen

Sternes Kampf gegen die Kunstregeln

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Inhalten und an ihrer Form, zu spüren. Indessen war auch Addisons Eroberung im Ästhetischen (wie die im Moralischen), war der freie Begriff der Inspiration (wie die einfache Menschlichkeit seines Sir Roger de Coverley) zu Sternes Zeit noch durchaus nicht durchgedrungen. Wohl hatte Burke die Imagination „a sort of creative power" geheißen; aber das bedeutete für ihn nur, daß sie, was die Sinne ihr liefern, frei verbinden kann. Diese Auffassung der Imagination, die Auffassung Lockes, beherrschte die Meinungen weithin; und noch Reynolds' akademischer Eklektizismus sollte dessen Formulierung einen Platz einräumen: „Imagination is incapable of producing anything originally of itself" 162 . Eine einzige Stimme erst war aufgetreten, die mit vollem Nachdruck sich für das Recht der Imagination einsetzte und diese geradezu für das Kennzeichen des wahren Dichters erklärte: Joseph Warton in dem „Essay on the Writings and Genius of Pope", den er Young gewidmet hatte. Aber noch war der Bann Popes, des „poete de la raison" 163 , nicht gebrochen. Noch war der Eingebung die Beherrschung des Materials vorgeschrieben; und noch nach Jahren hielt der Akademiedirektor Reynolds der freien Imagination sein „nothing can come of nothing" entgegen 164 . Addisons Unterscheidung zwischen dem „learned genius" und dem „natural genius" muß Sterne, der sie aus dem Spectator gekannt haben wird, als etwas Verwandtes berührt haben. Was er dort zwischen den Zeilen las, war ihm aus dem Herzen gesprochen. Er ging darüber hinaus weiter, vollzog die Entscheidung, die Addison vermieden hatte, und brauchte den Begriff des Genies nur noch im Sinne des „natural genius". Sein Kampf für die Freiheit des Genies äußerte sich in der Ablehnung aller künstlerischen Regeln. „In writing what I have set about, I shall confine myself neither to his [i. e. Horazens] rules, nor to any man's rules that ever lived", heißt es schon im vierten Kapitel des ersten Bandes vom „Tristram Shandy". Und das Recht des Genies gegenüber den Regeln wird erneut verteidigt, als er an Garricks Spiel eine Bestätigung für seine Überzeugung gefunden hatte. Das Kapitel über Garricks ungewohnte, aber sinnvolle Deklamation ist ein Kapitel gegen die Regeln und gegen deren Vertreter, die „Connoisseurs". „Their heads, sir, are stuck so full of rules and compasses, . . . that a work of genius had better go to the devil at once, than stand to be pricked and tortured to death by 'em" 165 . „Against all rule" spricht Garrick seinen Monolog — und ebenso soll ein Roman, ein Epos, ein Bild gegen alle Regel ausfallen dürfen, fordert Sterne. Das Feuer Apolls macht Merkurs „rules and compasses" entbehrlich 1 6 5 . Garricks Spiel, diese lebendige Einheit von Sprache und Bewegung, ist mit dem Begriff der grammatischen Richtigkeit nicht zu fassen. Ebensowenig kann ein Epos nach dem Maßstabe des Bossu bewertet werden. Und ein Gemälde ist damit nicht gewürdigt, daß man es auf pyramidalen Aufbau und auf „the colouring of Titian — the expression of Rubens — the grace of Raphael — the purity of Dominichino — the cor-

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K a m p f gegen die K u n s t r e g e l n bei Sterne u n d bei D u b o s

regiescity of Corregio — the learning of Poussin — the airs of Guido — the taste of the Carrachis — or the grand contour of Angelo" hin untersucht. Gegen diesen ästhetischen Formalismus wendet sich Sternes ganzer Haß. „Of all the cants which are canted in this canting world, though the cant of hypocrites may be the worst, the cant of criticism is the most tormenting!"* Nicht mit dem Quadranten soll man die Kunstwerke messen, sondern unmittelbar, „fiddlers and painters judging by their eyes and ears . . . — trusting to the passion excited, — in an air sung, or a story painted to the heart" 1 6 6 . Der Mensch sei Herr der Regeln. „Is a man to follow rules, — or rules to follow h i m ? " 1 6 7 Sterne antwortet: „ I care not what Aristotle, or Pacuvius, or Bossu, or Ricaboni [ ! ] say" 1 6 8 . Und im Leben wie in der Kunst hat er sich zu dem Wort gehalten: „ I do all things out of all rules" 1 6 9 . Es ist unmöglich, hier die Anklänge an denjenigen französischen Ästhetiker zu überhören, der die Raison aus ihrem Richteramt für die Kunst verjagte und das Sentiment an ihre Stelle setzte, an denjenigen unter den Kunsttheoretikern, dem Sterne, ohne daß er ihn je genannt hätte, am nächsten steht: an Jean Baptiste Dubos. Die „Réflexions critiques sur la poésie et la peinture", die 40 Jahre vor dem „Tristram Shandy" erschienen, stehen in ihrer eigentlichen Poetik noch im Schatten des Klassizismus, fordern Heroisierung der tragischen Figuren, lehnen die Mischgattung der Tragikomödie (und damit Shakespeare) ab, sprechen der Genre-Malerei und der Pastoral-Dichtung die künstlerische Gleichberechtigung noch ab und deuten gar die kathartische Aufgabe der Tragödie (unter Berufung auf Racines Phèdre-Vorwort) als eine Abwehr gegen die Übermacht der Leidenschaften. Vor diesem klassizistischen Hintergründe hebt sich die eigene Leistung des Dubos desto klarer ab. Sie beginnt mit der Zurückweisung der Regeln für das Genie. Wohl gedeiht auch das größte Genie nur bei fleißigem Studium nach der Natur und den Mustern. Aber keine Regel kann über den Gang des Studiums oder über den Wert eines Werkes etwas aussagen. „Les règles . . . sont des guides qui ne montrent le chemin que de l o i n " 1 7 0 und „Un ouvrage peut être mauvais, sans qu'il ait des fautes contre les règles, comme un ouvrage plein des fautes contre les règles peut être un ouvrage excellent" 1 7 1 . Diese Ab* Wenn i r g e n d einer unter den M a l e r n a u s Sternes Zeit in d i e s e m Sinne a u ß e r h a l b der R e g e l n stand, so war es der A u t o d i k t a t G a i n s b o r o u g h , der sich selbst ein „ o r i g i n a l " zu nennen pflegte. G e r a d e ihm a b e r sollte einst, 19 J a h r e nach S t e r n e s T o d , dessen Satz v o m „ C a n t of c r i t i c i s m " entgegengehalten werden. In e i n e m P r o z e ß u m d i e Echtheit eines P o u s s i n z u g e s c h r i e b e n e n G e m ä l d e s hatte G a i n s b o r o u g h als S a c h v e r s t ä n d i g e r ein eindeutiges Gutachten a b g e g e b e n , d a s v o n d e r Z u r ü c k h a l t u n g der Mit-Gutachter abstach. G a i n s b o r o u g h sagte, er sei zwar „ n o j u d g e of the h a n d s of m a s t e r s , h a v i n g no opportunity f o r the s t u d y " , a b e r d a s umstrittene B i l d sei f r a g l o s unecht. S e i n b l o ß e r Augene i n d r u c k sage ihm d a s ; u n d er halte „ t h e eye of a p a i n t e r " f ü r „ e q u a l to the t o n g u e of a l a w y e r " . D a r a u f zitierte der Anwalt des B e k l a g t e n , u m G a i n s b o r o u g h s A u s s a g e zu erschüttern, Sternes „Of all the cants . . .". Vgl. Whitley. G a i n s b o r o u g h . 279 f.

Trennung von Sentiment und Raison durch Dubos

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lehnung der Regeln entspringt aus der Abneigung gegen jede Abstraktion, aus einem neuen Sinn für das einmalig Gewordene und Gewachsene, für den lebendigen Einzelfall, den jedes Werk darstellt. Alle Umstände der Entstehung und des Inhalts müssen berücksichtigt werden; diese „causes morales" sind ihrerseits aus den „causes physiques" abzuleiten, unter denen das Klima und sein Einfluß auf den Einzelmenschen und auf ganze Nationen an oberster Stelle steht. Ist schon in dieser Würdigung des lebendigen Zusammenhanges aller Ursachen, denen ein Kunstwerk sein Leben verdankt, die Verwandtschaft mit Sterne deutlich, so ist sie es nicht minder auf dem eigentlichen Felde der Ästhetik, der Begründung unseres Geschmacksurteils. Dubos behauptete: alle Kunst, die uns rührt, ist gut. „Le premier but de la poésie et de la peinture est de nous toucher." „Un ouvrage qui touche beaucoup, doit être excellent à tout prendre." Ob aber ein Kunstwerk uns rührt, darüber entscheidet nicht der kritische Verstand, sondern das Sentiment. „Le sentiment enseigne bien mieux si l'ouvrage touche et s'il fait sur nous l'impression qu'il doit faire, que toutes les dissertations composées par les critiques, pour en expliquer le mérite et pour en calculer les perfections et les défauts" 1 7 2 . Der Raison bleibt nur die Aufgabe, dies Urteil des Sentiment zu begründen; ändern kann sie es nicht mehr. Damit ist in der französischen Ästhetik nach langer Vorbereitung die Trennung von Sentiment und Raison endgültig vollzogen. Schon Pascal hatte ausgesprochen, daß Coeur und Esprit verschiedenen Ordnungen zugehörig sind. La Rochefoucauld hatte gar den Esprit den Narren des Coeur genannt. Bouhours suchte jedem sein Recht zu geben, wenn er das Geschmacksurteil auf eine Verbindung beider Vermögen gründen wollte, die er mit dem Paradoxon des „instinct de la droite raison" andeutete. Crousaz wollte die Trennung von Esprit und Coeur, den Sündenfall des Menschen, durch eine nachträgliche Überbrückung aufheben : zwar vollzieht das Coeur sein Geschmacksurteil unmittelbar; aber es bedarf einer nachträglichen Bestätigung durch die Raison. Dubos erst versagt der Raison jeden Anteil am ästhetischen Urteil. „La décision de la question n'est point du ressort du raisonnement. Il doit se soumettre au jugement que le sentiment prononce. C'est le juge compétent de la question" 1 7 3 . „Les beautés qui . . . font le plus grand mérite, se sentent mieux qu'elles ne se connaissent par la règle et par le compas" 1 7 4 . Nicht nur Sternes Abweisung der „rules and compassés", auch seine Berufung auf das unmittelbare Urteil von „eyes and ears" findet sich schon in Dubos' Kapitel über das Sentiment. „II est en nous un sens destiné pour juger du mérite de ces ouvrages. . . . Ce sens est le sens même qui aurait jugé de l'objet que le peintre, le poète ou le musicien, ont imité. C'est l'oeil, lorsqu'il s'agit du coloris d'un tableau. C'est l'oreille, lorsqu'il est question de juger si les accents d'un récit sont touchants. . . . Lorsqu'il s'agit de connaître si l'imitation . . . est capable d'exciter la compassion et

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Dubos' Sentiment als Urteilsvermögen — Reynolds' Geniebegriff

d'attendrir, le sens destiné pour en juger est . . . le sixième sens qui est en nous, sans que nous voyions ses organes. C'est la portion de nous-mêmes qui juge sur l'impression qu'elle ressent, et qui . . . prononce sans consulter la règle et le compas. C'est enfin ce qu'on appelle communément le sentiment" 1 7 5 . So immittelbar wie Auge und Ohr den Eindruck aufnehmen, so unmittelbar empfindet der sechste Sinn, das Sentiment. Und es urteilt mit absoluter Sicherheit. „Dans les choses qui sont du ressort du sentiment, comme le mérite d'un poème, l'émotion de tous les hommes . . . et leur vénération pour l'ouvrage sont ce qu'est une démonstration en géométrie" 1 7 6 . Der greifbare Zusammenhang, der hier zwischen Sterne und Dubos waltet, ob jenem bewußt oder nicht, erweist sich am Schluß des Werkes von Dubos noch einmal mit voller Deutlichkeit. Auch Dubos schon vollzieht nämlich die Entscheidung, die bei Addisons Einteilung des Genies in die zwei Arten, „natural genius" und „learned genius", wohl fühlbar, aber nicht ausgesprochen war, und redet von Genie nur noch im Sinne des „natural genius". Und an gleicher Stelle führt er endlich Addisons Preis der orientalischen Dichtung, seine Erhebung Homers über Vergil und die des Alten Testaments wieder über Homer, in vollem Umfang a n 1 7 7 . Dubos blieb nicht unwidersprochen. Die „Dissertation" des Jean Jacques Bei versuchte, Dubos mit dessen eigenen Mitteln zu widerlegen. Von der Seite des Cartesianismus kam ein Angriff durch André: „J'appelle beau . . . ce qui a droit de plaire à la raison et à la réflexion" 1 7 8 . Voltaire, in seinem Artikel über den Goût für die Encyclopédie, und d'Alembert, in seinen „Réflexions", haben da6 Geschmacksurteil gleichfalls wieder auf Raison gegründet. Und noch Diderot hat in seinem Artikel „Beau" für die Encyclopédie den „rapport", kraft dessen ein Kunstwerk lebt und wirkt, „en général . . . une opération de l'entendement" genannt. England stand in Sternes Mannesjahren unter der Einwirkung aller dieser Einflüsse. Sie spiegeln sich am deutlichsten in der Kunsttheorie des Londoner Akademie-Präsidenten Sir Joshua Reynolds. Die drei Aufsätze, die dieser im Erscheinungsjahr des „Tristram Shandy" für Johnsons „Idler" schrieb, scheinen sich in manchem Wortlaut mit Sterne zu berühren. Indessen gerade den Satz : „The work of genius . . . implies excellence out of the reach of rules" 1 7 9 hat Reynolds später einschränkend ausgelegt: „What we now call genius begins, not where rules, abstractly taken, end; but where known vulgär and trite rules have no longer any p l a c e " 1 8 0 . Das Genie hat für Reynolds durchaus seine Regeln, nur sind sie nicht leicht in Worte zu fassen 1 8 1 . Die Berufung auf Reynolds in der Frage nach der Freiheit der Kunst ist immer eine problematische; denn Reynolds' Äußerungen schwanken zwischen Empirismus und Idealismus, zwischen Locke, der die Epoche beherrscht, und Piaton, in dessen Anschauung Reynolds (unter Mudge in Exeter) aufgewachsen war. Wie er beides zu verbinden suchte, zeigt einer der Idler-Aufsätze, in dem er den Begriff der Schönheit zu-

Reynolds' akademisch-klassizistische Ästhetik

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gleich aus der Idee und aus der Erfahrung ableiten will. „The Italian painter attends only to the invariable, the great and general ideas, which are fixed and inherent in universal nature". Das gilt auch für die Idee der Schönheit. „The most beautiful is the most general form of nature". Denn „perfect beauty is oftener produced by nature than . . . any one kind of deformity". So daß „though habit and custom cannot be said to be the cause of beauty, it is certainly the cause of our liking it; and I have no doubt but that, if we were more used to deformity than beauty, deformity would then lose the idea now annexed to it, and take that of beauty" 1 8 2 . So wird die große, unwandelbare Idee des Schönen, die die von Reynolds gepriesenen Italiener zu gestalten wußten, dem Zufall von „custom and habit" ausgeliefert und mit der Begründung nicht mehr auf den Wert, sondern auf die Zahl der Eindrücke ihrer Unwandelbarkeit und ihres Inhalts beraubt. Dieser Rückführung des Ideellen auf die Erfahrung, die Reynolds sein Leben lang betrieb und die in den letzten Akademie-Diskursen noch resignierter wird, entspricht auch seine Vorstellung vom „Genius". „Even genius, at least what generally is so called, is the child of imitation" 1 8 3 . Und „rules . . . are fetters only to men of no genius" 1 8 4 . Nicht also in der „Invention" liegt das Heil für den Künstler, sondern im Studium der Vorbilder. „Invention is one of the great marks of genius; but if we consult experience, we shall find, that it is by being conversant with the inventions of others, that we learn to invent" 1 8 5 . Der Weg zum Können geht durch Studium und Wissen. Und „there is no danger of the mind's being overburdened with knowledge, or the genius extinguished by any addition of images" 1 8 5 . So hatte die klassizistische Genielehre in den» Akademiedirektor Reynolds noch über Sternes Lebenszeit hinaus einen ihrer stärksten Vertreter. Sterne stand gewiß ebenso sehr in der Erfahrungsphilosophie seiner Zeit wie Reynolds; „custom" und „habit" waren auch ihm grundlegende Begriffe. Aber er bewahrte sich innerhalb und außerhalb des Lockeschen Rahmens seine Bewegungsfreiheit. Daß die Eingebung des Genies durch Erfahrungen an Mustern gefördert werden, daß der Künstler durch Wissen und Denken gewinnen könne, lehnte er ab. Dabei durfte er kaum auf zeitgenössische Unterstützung hoffen. In Frankreich hatte selbst der fortschrittlichste Ästhetiker, Dubos, dem größten Genie das umfassendste Studium der Natur und der Muster angewiesen. In England hatte Fielding die ersten wissenschaftfeindlichen Regungen der Zeit noch niederzuhalten versucht; für ihn gehörte neben „genius" „a good share of learning" zum Dichter; und schon „genius" war ihm „invention and judgment" 1 8 6 . Warton hatte in 6einem Angriff auf Pope, der „a little learning" „a dangerous thing" geheißen hatte 1 8 7 , dem Denken wenigstens den Rang einer Bedingung für das künstlerische Schaffen abgesprochen: „A clear head and acute understanding are not sufficient alone to make a poet" 1 8 8 . Erst Young hatte im Jahr des „Tristram Shandy" das entscheidende Wort ge-

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Sternes Forderung nach Originalität

funden: „Genius is a master-workman, learning is but an instrument" 189 , „many a genius, probably, there has been, which could neither write nor read" 1 9 0 , „genius is from heaven, learning from man" 1 9 1 . Diese Zurückweisung der Gelehrsamkeit in ihre Grenzen ist auch Sternes Entscheidung. Er führt die Grazie und die Leichtigkeit der Phantasie, die zum guten Schriftsteller gehören, geradezu auf die Gedankenlosigkeit zurück: „I do not know what envy is; . . . willing that all mankind should write as well as myself: — which they certainly will, when they think as little" 1 9 2 . Die Naturbegabung, die über den akademischen Formalismus der Gelehrsamkeit erhaben ist, hat Sterne in seinem Vater Shandy gefeiert, der Logik und Rhetorik beherrschte, ohne ihre Methoden auch nur dem Namen nach zu kennen 193 . „My father set out upon the strength of these two following axioms: — first, that an ounce of a man's own wit was worth a ton of other people's; and, secondly, . . . that every man's wit must come from every man's own soul, — and no other body's" 194 . Die Originalität, die in Vater Shandy gegeben ist, ist eine doppelte: eine des Charakters und eine des Geistes. Wenn seine geistige Originalität, seine Ablehnung des Schulwissens, von Rabelais befruchtet ist, so zeigt seine charakterliche Originalität den Einfluß von Addisons Sir Roger de Coverley. Aber Vater Shandy ist mehr als ein originaler Einzelfall. Er ist die Person gewordene Forderung nach Originalität überhaupt. Keiner von Sternes Menschen ist weniger eigenwüchsig angelegt. „All the Shandy family were of an original character throughout" 195 . Es ist das bewußt Englische an Sterne, das diese menschliche Eigenprägung geschützt wissen möchte. „Should it ever be the case of the English, in the progress of their refinements, to arrive at the same polish which distinguishes the French, . . . we should . . . lose that distinct variety and originality of character, which distinguishes them not only from each other, but from all the world besides" 196 . Und der Forderung nach der Originalität des Charakters entspricht seine Forderung nach der im Geistigen — wie Sternes eigener persönlichen Ungebundenheit und Unbelastetheit eine geistige Unbefangenheit und Bewegungsfreiheit entsprach. Ihn beleidigte die Einfallslosigkeit, mit der einer dem andern nachspricht und nachschreibt. Youngs Wort „born originals, how comes it to pass that we die copies?" 197 klingt in dem Kapitel gegen die Connoisseurs wider, in dem die Originalität auch nur unserer Flüche abgestritten wird. Zu glauben „that we have had the wit to invent them" 1 9 8 ist ein Irrtum. Sie sind bloße Kopien von Ernulphus' großem Originalfluche; und „like all other copies, how infinitely short of the force and spirit of the original!" 1 9 8 Am Anfang des fünften Bandes vom „Tristram Shandy" holt Sterne zu einer großen, bewegten Klage gegen „every imitator" aus: „Shall we for ever make new books, as apothecaries make new mixtures, by pouring only out of one vessel into another? Are we for ever to be twisting and untwisting the same rope? for ever in the same track, — for ever at the

Sternes „Plagiate"

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same p a c e ? " 1 9 9 Daß diese Klage über das Abschreiben selbst aus Burtons „Anatomy of Melancholy" 2 0 0 ihre beiden Bilder entlehnt — wie Ferriar feststellte — ist zwar ein Beweis dafür, daß Sterne sich fremdes Material unbedenklich aneignete, zugleich aber dafür, daß er diese Aneignung ironisierte. Der nächste Satz lautet bei ihm: „Shall we be destined to the days of eternity . . . to be showing the relics of learning, as monks do the relics of their saints, — without working one, — one single miracle with them?" Das ist von Sterne. Wer dieses tiefsinnige Bild prägte, war nicht auf Entlehnungen angewiesen. Wie Sterne übernommenen Stoff verwandelte, zeigt der anschließende Satz: „Who made man, with powers which dart him from earth to heaven in a moment; — that great, that most excellent, and most noble creature of the world, — the miracle of nature, as Zoroaster, in his Ttept