Lateinische Lehrer Europas: Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam 9783412328405, 341214505X, 9783412145057


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Lateinische Lehrer Europas: Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam
 9783412328405, 341214505X, 9783412145057

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Lateinische Lehrer Europas

Lateinische Lehrer Europas Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam

Herausgegeben von

Wolfram Ax

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2005

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Vereins der Freunde und Förderer der Universität zu Köln e. V.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: Vorderseite: Ausschnitt aus den Sieben freien Künsten (Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik und Musik, von oben nach unten). Rückseite: Priscian und die Grammatica halten seine Instituttonesgrammaticae. Aus: Zucht und Schöne Sitte. Eine Tugendlehre der Stauferzeit mit 36 Bildern aus der Heidelberger Handschrift cod. Pal. Germ 38p „Der Welsche Gast" des Thomasin von Zerclaere. Wiesbaden 1977. © 2005 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Ursulaplatz 1, D-50668 Köln Tel. (0221) 913 90-0, Fax (0221) 913 90-11 [email protected] Gesamtherstellung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 3-412-14505-X

Vorwort

Der vorliegende Band geht auf die Idee zurück, den Bemühungen der Kölner Latinistik um eine moderne Konzeption des Faches erneut1 Ausdruck zu geben - einer Konzeption, die die klassische, mittelalterliche und neuere Latinität als Kontinuum versteht und in einen übergreifenden Fachverband zu integrieren versucht. Diese Idee ist von einigen Kolleginnen und Kollegen des Kölner Instituts für Altertumskunde (S. Daub, U. Kindermann, P. Schenk) und der Kölner Philosophischen Fakultät (von Hesberg, D. Gutknecht und G. Jenal) zustimmend aufgegriffen und durch Beiträge in diesem Band tatkräftig gefördert worden. Ihnen gilt mein erster Dank. Es konnten noch weitere zehn in- und ausländische Kollegen mit besonderer fachlicher Zuständigkeit für die übrigen Beiträge gewonnen werden, denen ich ebenfalls herzlich für ihre stets solidarische Mitarbeit danke: M. Ans (Bonn), M. Baratin (Lille), F. Bezner (Tübingen), A. Bühler (Düsseldorf), R. Glei (Bochum), S. Grebe (Detroit), L. Holtz (Paris), Ch. Kann (Düsseldorf), K. Sallmann (Mainz) und T. Schirren (Tübingen). Für einen großzügigen Druckkostenzuschuss habe ich dem Verein für Freunde und Förderer der Universität zu Köln herzlich zu danken, ebenso Dorothee Rheker-Wunsch und Sandra Hartmann vom Böhlau-Verlag für die Betreuung des Bandes auf dem Weg zur Publikation. Die Beiträge von Louis Holtz über Donat und von Marc Baratin über Priscian haben Britta Mardak und Sabine Gey aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Auch ihnen meinen Dank. Wolfram Ax

1

2005

Vgl. Ax, Wolfram (Hrsg.): Von Eleganz und Barbarei. Lateinische Grammatik und Stilistik in Renaissance und Barock. Wolfenbütteler Forschungen 95, Wiesbaden 2001.

Inhalt

Einleitung

IX

Marcus Terentius Varro Reatinus (116-27 v. Chr.) v o n WOLFRAM A X

1

Vitruvius (ca. 90/80-20/10 v. Chr.) v o n H E N N E R VON H E S B E R G

23

Plinius der Ältere (23/24-79 n. Chr.) v o n K L A U S SALLMANN

45

Marcus Fabius Quintiiianus (ca. 30-nach 96 n. Chr.) v o n THOMAS SCHIRREN

67

Aelius Donatus (um die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr.) v o n LOUIS HOLTZ

109

Martianus Min(n)e(i)us Felix Capeila (wahrscheinlich Ende 5. Jahrhundert n. Chr.) v o n SABINE G R E B E

133

Anicius Manlius Severinus Boethius (ca. 480-524/526 n. Chr.) Teil I: Leben - Werk - Logik v o n A X E L BÜHLER u n d CHRISTOPH KANN

165

Teil II: Über die Musik v o n DIETER GUTKNECHT

193

(Flavius) Magnus Cassiodorus Senator (ca. 485-ca. 580 n. Chr.) v o n GEORG JENAL

217

Priscianus Caesariensis (5./6. Jahrhundert n. Chr.) von Marc BARATIN

247

VIII

Inhalt

Isidor von Sevilla (560-636 n. Chr.) v o n U D O KINDERMANN

273

Alexander de Villa Dei (ca. 1170-1250), Doctrinale v o n REINHOLD F. GLEI

291

Albertus Magnus (ca. 1200-1280) v o n MARC-AEILKO ARIS

313

Johannes de Garlandia (ca. 1195-nach 1258) v o n SUSANNE DAUB

331

Lorenzo Valla (1400-1457) v o n FRANK BEZNER

353

Desiderius Erasmus von Rotterdam (28.10.1466/69 Rotterdam-ll./12.7.1536 Basel) v o n PETER SCHENK

391

Personenregister

423

Die Autoren des Bandes

430

Einleitung

In diesem Band werden Leben, Werk und Nachwirkung fünfzehn „Lateinischer Lehrer Europas" von Varro (116-27 v. Chr.) über Albertus Magnus (um 12001280) bis zu Erasmus von Rotterdam (1466/69-1536) porträtiert, um Wege der westeuropäischen lateinischen Lehrtradition von der Antike bis in die Renaissance und darüber hinaus aufzuzeigen. Die Bezeichnung „Lateinische Lehrer Europas" bedarf der Erläuterung. „Lehrer" heißen einige der hier porträtierten Autoren zunächst in einem ganz konkreten Sinn. Quintilian z. B. lehrte ab ca.70 n. Chr. Rhetorik in Rom als der erste öffentlich besoldete Professor überhaupt, Donat betrieb ebenda im 4. Jahrhundert n. Chr. eine renommierte Grammatikschule und Priscian war Professor für lateinische Grammatik im Konstantinopel des frühen 6. Jahrhunderts. Sie lehrten allerdings nicht nur, sondern schrieben in ihrer Disziplin auch höchst einflussreiche und wirkungsmächtige Fach- und Lehrbücher. Sofern andere Autoren dieses Bandes nicht Lehrer in diesem konkreten Sinne waren wie etwa Varro, Vitruv, Plinius oder Boethius, so sind sie es doch im erweiterten, übertragenen Sinn des Wortes, indem sie Werke von ähnlich großer Wirkung auf die Lehrtradition in den von ihnen gewählten Fachern verfassten, ohne selbst eine Lehrtätigkeit auszuüben. Bei allen hier vorgestellten Autoren handelt es sich also um Vertreter der sog. Fachliteratur oder Fachschriftstellerei mit allen derzeitig noch gegebenen Unscharfen dieses Begriffs1. „Fachliteratur"2 möchte ich als ein Schrifttum definieren, das, von bestimmten Autoren in belehrender oder zumindest informierender Absicht für bestimmte Adressaten verfasst, ein hinreichend spezialisiertes, fest umrissenes Fach, mehrere Fächer (Enzyklopädie) oder auch nur ein Teilfach überwiegend in normaler Prosa, jedenfalls nicht mit vorrangig kunstliterarischen Ansprüchen darstellt. Mit Hilfe dieses Definitionsrahmens kann man die Fachtexte der hier porträtierten Autoren typologisch leicht erfassen: Varro, zur politischen und literarischen Elite seiner Zeit zählend, schrieb z.B. Schriften über einzelne Fächer, aber auch eine Facherenzyklopädie, die Disciplinae, in belehrender Absicht für ein allgemein gebildetes Publikum. Der Rhetorikprofessor Quintilian beschrieb sein Fach curricular und systematisch, und dachte dabei an einen Leitfaden für künftige Studierende und Lehrer, schrieb also ein wissenschaftliches Handbuch für die Hochschule - wie das später auch Priscian ebenfalls Professor - für das Fach Grammatik tat. Aelius Donat war freiberufli-

X

Einleitung

eher Profi-Grammatiker und verfasste eine Grammatik für Anfänger (die ars minor) und eine für Fortgeschrittene (die ars maioi) und so fort. Probleme macht allerdings das Kriterium der schlichten Fachprosa mit nicht vorrangig kunstliterarischen Ambitionen. Hier gibt es fließende Übergänge zur Belletristik, denn Martianus Capellas neun Bücher „Über die Hochzeit der Philologie und des Merkur" sind z.B. eine menippeische Satire mit romanhaften Zügen, das Doctrinale des Alexander von Villa Dei ist ein grammatisches Lehrgedicht in Hexametern und Erasmus wählt wie schon Varro und Cicero für fachliterarische Stoffe häufig die Dialogform. Soviel zum Begriff des „Lehrers". „Lateinische Lehrer" bedeutet, dass die Autoren ihre Werke auf Latein schrieben und ihre langfristige Wirkung in der westlichen lateinischen Lehrtradition entfalteten. Doch ist hier im Einzelfall auch Vorsicht geboten. Priscian lehrte in der Hauptstadt der griechischen Reichshälfte und schrieb in erster Linie für Griechisch sprechende Studierende. Doch hatte er selbst bereits enge Kontakte zur Bildungselite in Rom. Vor allem aber wirkten seine Werke vom frühen Mittelalter bis in die Renaissance und darüber hinaus ausschließlich in der westlich-lateinischen Grammatiktradition, so dass er letztlich doch mit Fug und Recht zu den „Lateinischen Lehrern" zu zählen ist. „Lateinische Lehrer Europas" schließlich verweist auf die europaweite Wirkung der Autoren zum Teil bis in die Neuzeit. Die Wirkung z.B. von Donats ars grammatica, von Boethius' logischen oder musiktheoretischen Schriften, von Martianus Capellas Schrift über die artes liberales oder von Lorenzo Vallas Schrift Elegantiae war in Mittelalter oder Neuzeit nicht auf bestimmte Nationen beschränkt. Man kann also diesen lateinischen Schriften in ganz demselben Sinn eine europäische Wegweiserfunktion zuschreiben, in dem Michael von Albrecht von der römischen Literatur allgemein als einer „Lehrmeisterin der späteren europäischen Literaturen" gesprochen hat.3 Die hier porträtierten „Lateinischen Lehrer Europas" stellen also eine Auswahl solcher Schriftsteller dar, die die westeuropäische lateinische Lehrtradition von der Antike bis zur Renaissance und darüber hinaus bis heute entscheidend und nachhaltig geprägt haben. Dass es sich dabei in diesem Band nur um eine Auswahl handeln kann, muss sogleich betont werden. Vollständigkeit konnte und sollte nicht angestrebt, vielmehr musste aus Gründen praktischer Beschränkung exemplarisch verfahren werden: Die übergroße Vielzahl der hier in Frage kommenden Autoren lässt allein schon vom Umfang des Bandes her von vornherein nur eine sehr beschränkte Auswahl zu, die gleichwohl, wie ich hoffe, repräsentativ ist. Einschränkungen ergeben sich natürlich auch aus der Zahl der modernen Porträtisten, die aufgrund ihrer zeitlichen Möglichkeiten und ihrer besonderen

Einleitung

XI

Spezialisierung und Neigung für einen bestimmten „Lehrer" gewonnen und über längere Zeit auch im Autorenteam gehalten werden konnten. Der so letztlich zustande gekommenen Auswahl von Porträts muss daher, das sei durchaus zugegeben, zunächst der Eindruck einer gewissen Zufälligkeit und Lückenhaftigkeit anhaften, die eventuelle Hoffnungen des Lesers auf chronologische (von der Antike bis zur Neuzeit) oder sachsystematische Vollständigkeit (etwa das komplette System der Septem artes liberales) enttäuscht. „Ist denn nicht Cicero auch ein „Lateinischer Lehrer Europas?", höre ich schon jetzt so manchen Kritiker fragen. „Wo bleiben Seneca und Augustinus? Wo Beda Venerabilis, Alkuin, Hrabanus Maurus oder Thomas von Aquin? Gibt es denn nur Valla und Erasmus in der Renaissance und europaweit nicht auch zahllose andere Autoren, um für Deutschland nur den praeceptor Germaniae Melanchthon zu nennen? Und hat man nicht auch in der Neuzeit noch lateinischsprachige Autoren, denen man durchaus noch das Prädikat eines „Lateinischen Lehrers Europas" zuerkennen möchte wie z.B. dem auch im 18. und 19. Jahrhundert, noch viel gelesenen Enzyklopädisten Daniel Georg Morhof des 17. Jahrhunderts (1639-1691)?" Solchen kritischen Fragen, die sich jede Autorenauswahl gefallen lassen muss, hat sich schon Quintilian in seinem berühmten Uberblick über die lesenswerten Autoren der griechischen und römischen Literatur (Institutio oratoria 1,1, 37-131) gestellt (1,1,37-45; 56-58): „Doch wollte man sie (die Autoren) alle einzeln durchgehen, wäre es eine Arbeit ohne Ende." (37), "Nur wenige, und zwar die wichtigsten (Autoren) beabsichtige ich hervorzuheben. Für die Studierenden wird es dann ein leichtes sein zu entscheiden, wer diesen am ähnlichsten ist, damit sich niemand beklage, daß einige zufallig übergangen wurden, die er selbst besonders schätzt; denn ich gebe zu, daß eine größere Zahl zu lesen ist als die, welche ich nennen werde." (45)4. Genau auf dieser Linie liegt das Prinzip auch dieser Autorenzusammenstellung: Repräsentative Auswahl herausragender und für weit reichende Wirkungen besonders typischer lateinischer Lehrschriftsteller, um die eigene weiterführende Lektüre anzuregen. Die Prinzipien dieser Auswahl sind indessen im Einzelnen nicht ganz so regellos und willkürlich, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte. Die fünfzehn Autoren sind chronologisch angeordnet. Sie beginnen mit Varro (1. Jahrhundert v. Chr.) und enden mit Erasmus von Rotterdam (15./16. Jahrhundert n. Chr.). Dass Varro im Sinne der hier ausgewählten Lehrschriftsteller an den Anfang der „Lateinischen Lehrer Europas" zu stellen ist, wird im ersten Beitrag ausführlich begründet. Dass die Reihe jedoch mit Erasmus endet, ist ein durchaus willkürlicher Abbruch, der sich, wie schon bemerkt, allein aus dem zur Verfügung stehen Umfang des Bandes und der begrenzten Zahl der modernen

XII

Einleitung

Bearbeiter erklärt, die zur Verfugung standen. Dass es auch neben und nach Erasmus noch „Lateinische Lehrer Europas" gegeben hat, versteht sich von selbst. Die Antike ist dabei in diesem Band stärker repräsentiert als das Mittelalter und die Renaissance: Vier Beiträge gelten antiken (Varro, Vitruv, Plinius d. Ä. und Quintilian), sieben spätantiken (Donat, Martianus Capeila, zweimal Boethius, Cassiodor, Priscian und Isidor von Sevilla), drei mittelalterlichen (Alexander de Villa Dei, Albertus Magnus und Johannes de Garlandia) und zwei Renaissance-Autoren (Lorenzo Valla und Erasmus von Rotterdam). Der Band enthält also fünfzehn Lehrerporträts mit sechzehn Beiträgen. Eine sachsystematische Gliederung der „Lehrer" nach den von ihnen vertretenen Fachern, etwa nach dem Facherkanon der „Sieben freien Künste" (Septem artes liberales) wurde dagegen von vornherein nicht angestrebt. Dennoch liegt der Schwerpunkt inhaltlich unverkennbar auf den artes und hier insbesondere auf dem Trivium: Grammatik (Varro, Donat, Priscian, Alexander de Villa Dei, Johannes de Garlandia, Lorenzo Valla, Erasmus), Dialektik (Boethius) und Rhetorik, bzw. Poetik (Quintilian, Johannes de Garlandia, Lorenzo Valla). Von den Fachern des Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) wird nur die Musik (Boethius) behandelt. Der gesamte Facherkanon der artes spielt dagegen schon im Beitrag zu Varro, dann vor allem in den Beiträgen zu den für das Mittelalter so grundlegend wichtigen Enzyklopädisten der Spätantike Martianus Capeila, Cassiodor und Isidor von Sevilla und in dem Beitrag zu Albertus Magnus eine bedeutende Rolle. Außerhalb der Septem artes wird noch die Architektur (Vitruv) und die Naturwissenschaft (Plinius d. Ä.) einzeln behandelt, wobei in den Beiträgen zu Albertus und Erasmus auch theologische Themen zur Sprache kommen. Das Schrifttum von Lorenzo Valla und Erasmus ist so umfassend, dass sich beide Autoren nicht auf bestimmte Fächer festlegen lassen. Die siebzehn modernen Autoren dieses Bandes5 sind zum großen Teil ausgewiesene Spezialisten für das Fachgebiet ihres Lehrers oder zumindest sehr gut darin eingearbeitet. Sieben Autoren gehören der Kölner Philosophischen Fakultät an (Ax, Daub, von Hesberg, Gutknecht, Jenal, Kindermann und Schenk), die übrigen zehn stammen aus verschiedenen Orten des In- und Auslands (Aris, Baratin, Bezner, Bühler, Glei, Grebe, Holtz, Kann, Sallmann, Schirren). Ich stelle sie kurz in der Reihenfolge der Lehrer vor. Varro ist ein Schwerpunkt der Forschungen des Herausgebers und Kölner Latinisten Wolfram Ax (Institut für Altertumskunde Köln = IfA). Vitruv gehört als Basistext der antiken Architektur zur conditio sine qua non der Klassischen Archäologie und hat daher in dem Kölner Klassischen Archäologen Henner von Hesberg einen kompetenten Porträtisten gefunden, der sich dankenswerterweise

Einleitung

XIII

für diesen Band insbesondere in die mittelalterliche und neuzeitliche Vitruvrezeption eingearbeitet hat. Niemand hätte Plinius d. A. besser porträtieren können als Klaus Sallmann, emeritierter Latinist aus Mainz, der sich nicht nur als hochrangiger Spezialist der antiken Fachliteratur (Plinius, Varro u.a.), sondern auch als Vermittler antiker Autoren an ein breites Publikum einen bedeutenden Namen gemacht hat.6 Thomas Schirren, Klassischer Philologie in Tübingen und an sich eher Gräzist mit Schwerpunkt in der frühgriechischen Literatur, hat so lange und intensiv am Tübinger Seminar für Allgemeine Rhetorik in Lehre und Forschung gewirkt, dass er sich zu einem Porträt Quintilians auch in Zeiten großer Bedrängnis (seiner Habilitation) nicht lange bitten ließ. Louis Holtz, emeritierter Latinist aus Lyon und bis 1997 Direktor des renommierten Institut de Recherche et d'Histoire des Textes in Paris, ist weltweit einer der anerkanntesten Spezialisten für die antike und mittelalterliche lateinische Grammatik. Von ihm stammt die monumentale und wissenschaftlich maßgebliche Ausgabe der Grammatik des Donat, den er in diesem Band porträtiert.7 Martianus Capeila hat in der Heidelberger Latinistin Sabine Grebe, die nach Zwischenstationen in Cambridge (UK) und Hamilton (New York) zurzeit in Detroit lehrt, eine der (viele zu seltenen) Spezialistinnen gefunden, die nicht nur die deutsche Martianus-Forschung entscheidend gefördert hat.8 Boethius ist, wie schon gesagt, in zwei Beiträgen von drei modernen Autoren dargestellt worden: Teil I: Leben Werk - Logik haben Axel Bühler und Christoph Kann aus Düsseldorf geschrieben. Bühler ist Soziologe, Philosoph, Logiker und Philosophiehistoriker mit einem stark ausgeprägten Interesse an der griechisch-römischen Antike, das ihn zu einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Herausgeber veranlasst hat. Sein Düsseldorfer Kollege und Freund Christoph Kann ist ebenfalls Philosoph und ausgewiesener Spezialist für Logikgeschichte, insbesondere der Logik des Mittelalters. Wer hätte also eher über Boethius' Logik und ihre Wirkungsgeschichte schreiben können als er? Dagegen war der Kölner Musikwissenschaftler Dieter Gutknecht aufgrund seiner hervorragenden Kenntnisse in der Geschichte der Musiktheorie zweifellos der Richtige zur Darstellung der Schrift De musica des Boethius im Teil II. Cassiodors hat sich Georg Jenal, Mittelalterhistoriker in Köln, angenommen, für ihn eher ein Vergnügen als eine Last, für den Band ein unschätzbarer Vorteil, ist er doch einer der besten Kenner des antiken und spätantiken Mönchtums9. Dass er außerdem kurzfristig für einen zurückgetretenen Bearbeiter eingesprungen ist, dafür gebührt ihm ein ganz besonderer Dank. Marc Baratin lehrt in Lille, ist Latinist und einer der profiliertesten Vertreter der Geschichte der Sprachwissenschaften in der Antike. Sein besonderes Interesse gilt der römischen Syntax und Priscian10, und so war es eine besondere Freude,

XIV

Einleitung

ihn für den Priscian-Beitrag gewinnen zu können. Isidor von Sevilla als einen der Basisautoren des gelehrten Mittelalters hat der Mittellateiner Udo Kindermann, Kollege des Kölner IfA, Freund und ständiger Mitstreiter im Bemühen um die Kontinuität der Latinistik von der Antike bis zur Neuzeit, ohne Zögern übernommen. Ihm verdankt dieses Buch auch allgemein viel an beständiger mündlicher Förderung. Das Gleiche gilt - ich überspringe zwei Beiträge - für Susanne Daub, ebenfalls in der Mittellateinischen Abteilung des IfA tätig. Sie hat das Porträt von Johannes de Garlandia geschrieben. Alexander de Villa Dei war der passende Lehrer für Reinhold F. Glei aus Bochum. Er ist Latinist in der vollen Breite des Begriffs, indem er nicht nur das Klassische Latein, sondern in letzter Zeit auch das Neulatein besonders intensiv gefördert hat. Schon immer hat er aber auch das lateinische Mittelalter in Lehre und Forschung einbezogen, neben Alexander z.B. auch Thomas von Erfurt11. Im Fall von Albertus Magnus war natürlich Marc-Aeilko Ans aus Bonn die erste Adresse. Er gehört dem Direktorium des Albertus-Magnus-Instituts in Bonn an, das sich die kritische Edition der Werke Alberts und die Erforschung seines Denkens zum Ziel gesetzt hat. Frank Bezner aus Tübingen hat sich bisher als ein profunder Kenner des Lateinischen Mittelalters und seiner Geschichte ausweisen können. Mit seinem Habilitationsprojekt „Eine Genealogie der Vergangenheit in der Renaissance: der Fall Ferrara (1300-1598)" greift er jetzt auch bis zum Ende der Renaissance aus und nahm daher mit Zuversicht die große Herausforderung an, ein Portrait von Lorenzo Valla zu schreiben. Peter Schenk schließlich, Kollege des Kölner IfA und von Haus aus Latinist mit einem Schwerpunkt in der kaiserzeitlichen Epik, engagiert sich seit einiger Zeit in Forschung und Lehre immer mehr auch für neulateinische Autoren, weshalb ihm das Erasmus-Porträt trotz des allein schon von der StofFmenge her besonders hohen Anspruchs durchaus gelegen kam. Die Autoren sind am Schluss des Bandes noch einmal alphabetisch zusammengestellt. Alle Porträts sind original für diesen Band geschrieben und nirgendwo sonst veröffentlicht. Wenn irgend möglich, sollte Leben, Werk und besonders auch die Wirkung eines Lehrers dargestellt werden. Jedoch war dies nicht immer mit zufrieden stellender Ausführlichkeit machbar, weil bisweilen einfach zu wenig über das Leben eines Lehrers bekannt ist (z.B. bei Donat oder Priscian) oder die jeweilige Wirkungsgeschichte bisher wenig bis gar nicht erforscht ist (z.B. bei Martianus, Priscian oder Cassiodor). So mussten verschiedene Akzente gesetzt werden. Nicht immer wird ein Gesamtporträt geboten, sondern nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtwerk behandelt (z.B. im Fall von Johannes de Garlandia oder Erasmus) oder sogar nur ein einzelnes Werk vorgestellt (z.B. De musica des

Einleitung

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Boethius oder das Doctrinale Alexanders de Villa Dei). Manchmal steht auch nur ein besonders markanter Aspekt der Wirkung eines Lehrers im Vordergrund (wie z.B. bei Isidor). Trotzdem wurde auch bei diesen „Reduzierungen" stets daraufgesehen, einen repräsentativen Gesamteindruck von dem jeweiligen Lehrer zu vermitteln. Eine Vereinheitlichung der Beiträge, auch im Äußeren, wurde bewusst nicht angestrebt. Jeder Beitrag steht individuell für sich. M ö g e der Band dazu beitragen, Autoren wieder zu entdecken, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind, obwohl sie wesentlich dazu beigetragen haben, das lateinische Fundament unserer Kultur zu legen. Es ist wie in der Archäologie: Manchmal muss man eine nur dünne Humusschicht abtragen, um den Boden zu entdecken, auf dem wir wirklich stehen: ein Mosaik der „Lateinischen Lehrer Europas". Wolfram Ax

Köln

Anmerkungen 1 2

3 4 5 6 7 8 9

Vgl. dazu M. Horster, Ch. Reitz (Hrsgg.), Antike Fachschriftsteller: Literarischer Diskurs und sozialer Kontext, Stuttgart 2003. Die hier gegebene Definition wird in meinem demnächst erscheinenden Aufsatz: Typen antiker grammatischer Fachliteratur am Beispiel der römischen Grammatik, in: Th. Fögen (Hrsg.), Fachtexte und Fachsprachen in der Antike, Berlin. New York 2005/6, ausführlich diskutiert werden. Sie bezieht sich hier nur auf die antike Fachliteratur, lässt sich aber ohne weiteres auch auf die Fachliteratur späterer Epochen übertragen. M.v. Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Bern 1992, Band 1,11. Übersetzung von F. Loretto, Quintilian, Institutio oratoria X, Reclam, Stuttgart 1974 u.ö. Die beiden Beitrage zu Boethius werden von drei Autoren bestritten, also sind es insgesamt 15 Porträts, 16 Beiträge und 17 moderne Autoren. Vgl. B. Kytzler, J. Latacz und K. Sallmann, Kleine Enzyklopädie der antiken Autoren, insel taschenbuch 1996 L. Holtz, Donat et la tradition de l'enseignement grammatical, Paris 1981 Vgl. S. Grebe, Martianus Capeila, ,De nuptiis Philologiae et Mercuri', Darstellung der Sieben freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander, Stuttgart und Leipzig 1999. Vgl. G. Jenal, Italia ascetica atque monastica. Das Asketen- und Mönchtum in Italien von den Anfangen bis zur Zeit der Langobarden (ca. 150/250-604), 2 Halbbde. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 39) Stuttgart 1995.

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Einleitung

10 Vgl. M. Baratin, La naissance de la syntaxe à Rome, Paris 1989. 11 Vgl. R.F. Glei, Die Grammatica speculativa des Thomas von Erfurt (um 1300), in W. Ax (Hrsg.), Von Eleganz und Barbarei, Lateinische Grammatik und Stilistik und Renaissance und Barock, Wiesbaden 2001,11-27.

Marcus Terentius Varro Reatinus (116-27 v. Chr.) v o n WOLFRAM AX

Von Marcus Terentius Varro existiert kein Bild, obwohl er selbst als einziger noch lebender Autor in der ersten öffentlichen Bibliothek des Asinius Pollio in Rom 38 v. Chr. mit einem Portrait geehrt wurde und obwohl er selbst wie kein anderer mit seiner Portraitsammlung Hebdomades um die bildliche Uberlieferung anderer bemüht war. So konnte seine Heimatstadt Reate ihm nur ein frei erfundenes modernes Denkmal setzen und es musste auf der italienischen Briefmarke zu Ehren des zweitausendsten Todestages Varros vom 21.9.1974 das fehlende Portrait durch ein Zitat aus Varros Menippeischen Satiren ersetzt werden. Wenigstens sein Name schien inschriftlich auf einer zeitgenössischen Münze aus dem Jahre 49 v. Chr. festgehalten, aber auch in dieses Zeugnis hat man Zweifel gesetzt. Seinem literarischen Werk ging es kaum anders. Obwohl man schon in der Antike den gewaltigen Umfang seines Œuvre bewunderte, ist doch bis auf die 3 Bücher Res rusticae und die erhaltenen 6 von ursprünglich 25 Büchern De lingua Latina nur ein Trümmerfeld von Fragmenten übrig geblieben. Schließlich ist auch seine Vita - ganz anders als bei seinem Zeitgenossen Cicero - nur sehr bruchstückhaft nachzuvollziehen - und das, obwohl er am Erhalt seiner Lebensdaten durchaus interessiert war und deshalb im hohen Alter sogar eine leider ebenfalls verlorene Autobiographie schrieb (3 Bücher De vita sua). Warum ist Varro bei dieser Überlieferungslage dann nicht einfach in Vergessenheit geraten und nur noch für Experten der römischen Literaturgeschichte existent? Warum steht er vielmehr hier am Anfang einer langen Reihe Lateinischer Lehrer Europas? Die Antwort fallt leicht: Mögen die überlieferten Zeugnisse und Originaltexte auch noch so dürftig und fragmentarisch sein, - sie geben doch hinreichend und zweifelsfrei Auskunft über die überragende Bedeutung dieses Autors fur die römische Literatur seiner Zeit und seine große Wirkung auf die westliche, lateinisch geprägte Bildungstradition. Entsprechende Urteile reichen von Cicero über Quintilian bis zu Augustinus und weit darüber hinaus. Noch Petrarca nennt Varro „ilterzogran lume romano" und zählt ihn damit zu den drei wichtigsten Schriftstellern Roms neben Cicero und Vergil. Wir werden noch mehr davon im dritten

2

Wolfram Ax

Abschnitt über das Fortwirken Varros hören. Doch jetzt zunächst zu seiner Vita und dann zu seinem Werk.

1. Leben Varro ist im Jahre 116 v. Chr., also zehn Jahre vor Cicero (106-43 v. Chr.) geboren, aber schon der Geburtsort unterliegt Zweifeln. Sehr viel spricht für das sabinische Reate nordöstlich von Rom, das heutige Rieti. Varro kennt die Gegend um Reate genau, erwähnt sie des Öfteren in seinen Schriften und besitzt dort ein Landgut. Allerdings wird er erst von Symmachus (4. Jahrhundert n. Chr.) Reatinus genannt, während Augustinus ihn in Rom geboren und aufgewachsen sein lässt. Die heutigen Reatiner lassen sich aber deshalb ihren Beitrag zur Weltliteratur nicht nehmen. Es gibt das schon erwähnte moderne Varro-Denkmal, eine Strasse ist nach ihm benannt, und vor allem besitzt die Stadt das international renommierte Centro di Studi Varroniani. Auch die anfangs erwähnte Briefmarke spricht zuversichtlich vom Varrone Reatino. Völlig unbekannt sind allerdings seine Eltern und deren Standeszugehörigkeit, doch ist die Herkunft aus dem ordo equester, dem Ritterstand, mehr als wahrscheinlich. Das würde dann auch für sehr gute finanzielle Ressourcen seiner Familie sprechen. Aufgewachsen ist er allem Anschein nach dann doch in Rom, aber wir erfahren nur wenig über seine Erziehung und Ausbildung. Altrömisch streng soll er erzogen worden sein, wie er selbst bezeugt. Stark prägend ist für ihn der Stoiker L. Aelius Stilo (ca. 150-70 v. Chr.), bei dem er (wie auch Cicero) die stoische Sprachwissenschaft (Dialektik und Etymologie), vor allem aber römische Philologie und Altertumskunde studiert. Später wird er dessen fachliche Spezialisierung fortsetzen und zum unerreichten Höhepunkt fuhren. Wie damals üblich, unternimmt er - wahrscheinlich in den Jahren 84-82 v. Chr. - seine Bildungsreise nach Griechenland und hört in Athen den Akademiker Antiochos von Askalon (ca. 120-68 v. Chr.), der die akademische Skepsis zugunsten eines neuen, auch für andere Philosophenschulen offenen Dogmatismus ablösen wollte. Von ihm zeigt er sich später stark beeinflusst, ohne sich allerdings auf bestimmte philosophische Richtungen festlegen zu lassen oder wie Cicero primär ein philosophischer Schriftsteller werden zu wollen. Eine Karriere als Anwalt und Redner scheint Varro anders als Cicero nicht angestrebt zu haben. Etwas genauer sind wir über die militärische und politische Laufbahn Varros unterrichtet. Wohl 86 v. Chr. wird er Quaestor und damit Mitglied des

Varrò

3

Senats. 77 scheint er als Legat (d.h. als ein zur Unterstützung eines höheren Beamten Beauftragter) in Illyrien gewesen zu sein. In dieser Zeit macht er die Bekanntschaft des Pompeius (106-48 v. Chr.), dem er bis zu dessen Tod die Treue hält. Mit ihm nimmt er als dessen Legat am Krieg gegen den Marianer Sertorius in Spanien teil (77-72). 71 ist er wieder in Rom, wird 70 unter dem Konsulat des Pompeius Volkstribun und 68 wahrscheinlich Prätor. 67 begleitet er Pompeius als Legat und Flottenkommandant in den Piratenkrieg und wird von ihm für seine militärischen Verdienste mit der hohen Auszeichnung der corona navalis, der SchifFskrone, geehrt, die nach ihm nur noch Agrippa erhielt. Ein drittes Legat unter Pompeius hat Varro wahrscheinlich im dritten mithridatischen Krieg (74-64, ab 66 unter Pompeius) wahrgenommen. Unsicher ist, ob Varro in diesen Jahren auch eine Statthalterschaft als Proprätor in Kleinasien bekleidete. Der Zeitpunkt seiner Rückkehr nach Rom - Pompeius kam 61 zurück - ist unbekannt, doch scheint mit dem ersten Triumvirat des Jahres 60 seine administrative Tätigkeit zu Ende gegangen zu sein. Zwischen 59 und 49 ist jedenfalls keine weitere politische oder militärische Tätigkeit Varros bekannt. Er hat sich offenbar zu einer zehnjährigen wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit auf seine Landgüter zurückgezogen, eine erste Periode intensiver und kontinuierlicher Schriftstellerei, nachdem allerdings auch vorher schon in der Zeit seiner politischen und militärischen Beanspruchung eine Reihe von Schriften entstanden war. Auf der politischen Bühne erscheint Varro erst wieder 49 - weiterhin auf der Seite des Pompeius. Er übernimmt im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Caesar und den Legaten des Pompeius in Spanien ein Sonderlegat in der Hispania ulterior; ergibt sich aber Caesar ohne Kampf, nachdem sich die meisten Städte der Provinz für Caesar erklären (Vgl. Caesar, bell, civ. 1,38 und 2,17-20). Nach seiner Kapitulation begibt er sich nach Dyrrhachium, wo er mit Cicero und Cato bis zum August 48 die Entscheidung von Pharsalos abwartet. Die Versöhnung mit Caesar folgte bald darauf, denn schon 47 oder spätestens 46 widmete er ihm seine Antiquitates rerum drvinarum. Caesar beauftragte ihn seinerseits mit den bibliothekarischen Vorarbeiten zur Errichtung einer öffentlichen Bibliothek. Damit ist Varros politisch-militärische Laufbahn an ihr Ende gekommen. Es bleiben ihm ab 47 noch etwa 20 Jahre intensiver wissenschaftlicher und literarischer Tätigkeit, die allerdings einmal von den politischen Wirren jener bewegten Zeit auf das Heftigste unterbrochen wurde. Nach Caesars Ermordung stellt ihm Antonius nach und proskribiert ihn 43 vor allem seines Reichtums wegen. Seine Güter werden geplündert, seine Bibliotheken mit noch

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unpublizierten Werken vernichtet. Er selbst, schon dreiundsiebzigjährig, kann - anders als Cicero - nur durch die tatkräftige Hilfe eines Freundes mit knapper Not der Ermordung entgehen. Er lebt noch 16 Jahre, hoch geehrt und literarisch äußerst produktiv. Sicher hat er auch das Wohlwollen Oktavians gefunden, dem die antiquarische und nationalrömische Tendenz seiner Schriften sehr gelegen kommen musste. Varro starb fast neunzigjährig im Jahre 27 v. Chr., wie es heißt, beim Schreiben. Er ließ sich nach pythagoreischem Ritus bestatten, in einem tönernen Sarg auf Blättern der Myrte, Olive und Schwarzpappel. Wenn man Varros Leben überblickt, muss man ihm großes Glück bescheinigen. Mit einer fast neunzigjährigen Lebensspanne in einer streckenweise hoch exponierten militärischen und politischen Position unter häufiger Gefährdung seines Lebens überstand er sämtliche Phasen des Bürgerkriegs, insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen Caesar und Pompeius und die Proskriptionen nach Caesars Tod. Er erlebte damit die letzten siebzigJahre der ausgehenden römischen Republik von ca. 100 bis zur Entscheidung bei Aktium 31 v. Chr., und darüber hinaus sogar noch die ersten Jahre des Ubergangs zum Prinzipat. Für eine ungestörte, kontinuierliche literarische Produktion blieben ihm insgesamt fast 30 Jahre (59-49 und 47-27), ein Umstand, den man bedenken muss, wenn man die hohe Zahl seiner Schriften mit der Ciceros vergleicht, dem nur etwa 7 1/2 Jahre (55-51 und 46-44 v. Chr.) unter den gleichen Bedingungen zur Verfugung standen. Es folgt, wie angekündigt, ein kurzer Uberblick über das literarische Werk Varros.

2. Werk Varro war, wie anfangs angedeutet, ein außerordentlich produktiver Schriftsteller, und man hat diesen quantitativen Aspekt schon in der Antike im Lob der Schriften Varros deutlich herausgestellt, z.B. Augustinus, wenn er De civitate dei6,2 von Varro sagt: „DieserMann von so hervorragender, einzigartiger Wissensßille ... hat so viel gelesen, dass man sich wundert, dass er noch Zeit zum Schreiben fand, und er hat so viel geschrieben, wie viel, so möchte man glauben, kaum ein Mensch zu lesen imstande wäre." Die Frage allerdings, wie viel Werke Varro denn nun wirklich verfasst hat, kann wohl letztlich nicht beantwortet werden, aber eine ungefähre Vorstellung vom Ausmaß seiner literarischen Produktion haben wir doch. Hilfreich ist hier vor allem ein Katalog der Schriften Varros, den Hieronymus (4. Jh .n. Chr.) zusammenstellte, um sie mit dem Werk des Orige-

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nes (2./3. Jahrhundert n. Chr.) zu vergleichen. Nach diesem Katalog und anderen Zeugnissen ergibt sich eine Zahl von etwa 74 Schriften in rund 620 Büchern, ein Werk, das Klaus Sallmann zu Recht gigantisch genannt hat. Davon kann hier natürlich nur ein andeutender Uberblick gegeben werden. Varro war in erster Linie prosaischer Fachschriftsteller, aber er war auch ein zu seiner Zeit durchaus ernst genommener Dichter. Allerdings sind alle Dichtungen verloren gegangen, nur die von Varro selbst so genannten Menippeischen Satiren sind uns durch immerhin knapp 600 Fragmente aus ursprünglich 150 Büchern noch einigermaßen kenntlich. Diese nach dem Vorbild des kynischen Philosophen und Literaten Menippos von Gadara (325-270 v. Chr.) für römische Zwecke frei umgestalteten „Satiren" entstanden etwa zwischen 81 und 67 v. Chr., also lange vor seiner ersten literarischen Periode (59-49). Varro hat damit anerkanntermaßen (Quint. 10, 1, 95) eine zweite neue Untergattung der Satire neben der genuin römischen Verssatire des Ennius und Lucilius in Rom eingeführt. Ihr wichtigstes formales Kennzeichnen ist das Prosimetrum, eine Mischung von Prosa und Verspartien in den unterschiedlichsten Metren, ihre Themen sind vielfaltig (Gesellschaftskritik, Religion, Philosophie etc.) und ihre Tendenz ist konservativ-moralisierend und belehrend zugleich. Das Ganze ist natürlich - durchaus gattungsgerecht - mit einem kräftigen Schuss Phantastik und Humor gewürzt. Varros eigentliche Domäne aber war, wie schon gesagt, die gelehrte Fachprosa, und in der Tat hat er sich - anders als Cicero - nicht oder gewissermaßen nur auf dem Nebengleis um die drei quintilianischen Prosagattungen mit hohem literarischem Anspruch, die Historiographie, die Rede und die philosophische Schrift, bemüht. Vor allem interessiert ihn die Kulturgeschichte Roms, insbesondere die Kultur der römischen Frühzeit, weshalb man ihn auch einen Antiquar nennt und von seinen antiquarischen Schriften spricht. Schon Cicero bezeichnet ihn als einen diligentissimus investigator antiquitatis - einen überaus sorgfältigen Altertumsforscher (Brutus 60) und viele urteilen später ähnlich. Varros erste (nicht erhaltene) kulturhistorische Schrift war zugleich die bedeutendste und brachte ihm den Durchbruch zum literarischen Ruhm: die Antiquitates rerum humanarum etdivinarum - Menschliche undgöttliche Altertümer in 41 Büchern. Wir verdanken ihre Kenntnis vor allem Augustinus (civ. Dei 6, 3). In zwei Abteilungen publiziert (res humanae vor 49 v. Chr. und res divinae 47/46 v. Chr., Caesar gewidmet), legte Varro hier eine umfassende, handbuchartig nach Sachkriterien gegliederte Enzyklopädie römischer Altertümer vor, die sich zur Gliederung ihrer Materialfulle in genauer Zahlensymmetrie der Bücher eines stoischen Ordnungsschemas bediente, das auch anderen Schrif-

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ten zugrunde liegt: (1) Personen (2) Orte (3) Zeiten und (4) Sachen, bzw. Handlungen (vereinfacht: Wer tut wo wann was ?). Unter dieser Systematik werden die unterschiedlichsten kulturhistorischen Themen abgehandelt, z.B. in den res humanae (1) die Ureinwohner Italiens, (2) die Geographie Roms, (3) Jahr, Monat, Tag und (4) Krieg und Frieden und in den res divinae (1) Priester (2) Tempel (3) religiöse Feste und (4) religiöse Riten. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen. An wirkungsmächtigen Einzelheiten möchte ich nur festhalten, dass das 19. Buch der res humanae wahrscheinlich die varronische Berechnung des Gründungsdatums Roms, den 21. 4. 753 v. Chr., enthielt und das 1. Buch der res divinae die berühmte theologia tripertita, die vor allem Augustinus so beschäftigt hat (civ. Dei 6,5): die mythische Götterlehre der Dichter, die naturwissenschaftliche der Philosophen und die staatlich-zivile Theologie der Gemeinden und Priester, die den öffentlichen Staatskult der Götter regelt. Schon an den Antiquitates wird ein Grundzug der varronischen Fachschriftstellerei deutlich, der uns immer wieder bei ihm begegnen wird: die Neigung zur vollständigen enzyklopädischen Erfassung eines umfangreichen Sachbereichs, der Hang zu einem teilweise pedantischen, vor allem mit Zahlensymmetrien arbeitenden Schematisieren, und die werkzeugartig-dienende Verwendung der griechischen Theorie, die die theoretische und systematische Durchdringung dessen leistet, worauf es Varro vor allem ankommt: die Erforschung der res Romanae, des Römischen. In einer Kulturgeschichte werden nicht wie in der Historiographie die res gestae (die historischen Ereignisse), sondern die instituta (die öffentlichen und privaten Einrichtungen, Sitten und Gebräuche) beschrieben. Dies war mit den Antiquitates in Form einer systematischen Enzyklopädie eigentlich schon vollständig geleistet, aber Varro hat dem auch noch eine chronologisch verlaufende Kulturgeschichte des römischen Volkes an die Seite stellen wollen. Es sind die um das Jahr 43 v. Chr. erschienenen, eng zusammengehörenden Schriften De gente und De vita populi Romanijeweils in vier Büchern nach dem Vorbild vor allem der Schrift Bios Hellados des Aristotelesschülers Dikaiarch von Messene (geb. ca 376 v. Chr.). Beide Schriften sind leider nicht erhalten (Ax 2000). Diese Kulturgeschichte" im genauen Sinn des Wortes war zwar ebenso romzentriert wie die Antiquitates, aber sie beschränkte sich nicht auf die römische Frühzeit, sondern stellte die römische Kultur in einen universalhistorischen Rahmen, in dem sie am Leitfaden einer weltgeschichtlichen Epochengliederung von den Anfangen der Menschheit über die orientalische, griechische, trojanische, italische und römische Geschichte bis auf die Zeit des Autors eine vorwiegend aitiologisch orientierte Darstellung kultureller instituta lieferte. Von

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großer Wirkung bis heute war hier übrigens Varros wohl aus der zeitgenössischen griechischen Chronologie übernommene Dreigliederung der Menschheitsgeschichte in drei Epochen, eine unbekannte Urzeit (von den Anfangen bis zur ersten Sintflut 2376 v. Chr.), eine mythische Zeit (von der Sintflut bis zur ersten Olympiade 776 v. Chr.) und eine historische Zeit (von der ersten Olympiade bis auf die Zeit des Autors), eine Gliederung, die auf den hellenistischen Gelehrten Eratosthenes zurückgehen soll. Hier liegen also die Wurzeln unseres literaturhistorischen BegrifFpaars mythologisch-historisch, und es ist sehr gut möglich, dass Varro für den römischen Bereich statt der ersten Olympiade sein Gründungsdatum Roms als Grenze zwischen Mythos und Geschichte verwendet hat. Sinn der kulturgeschichtlichen Schriften Varros ist es zunächst, einem durch Unkenntnis drohenden Kulturverlust und damit auch einem Verlust der nationalen Identität durch Aufklärung und Belehrung entgegenzuwirken. Dies hat schon Cicero genau erkannt, wenn er Acad.post. I 9 lobend von den Antiquitates sagt: Deine Bücherhaben uns, die wir in unserer eigenen Stadt wie Fremde herumirrten, gleichsam nach Hause zurückgeßihrt, damit wir endlich einmal erkennen konnten, wer und wo wir waren. Aber Varro verbindet Kulturgeschichte zusätzlich noch mit einer moralisierenden Kulturkritik: Die Besinnung auf den altrömischen mos maiorum, auf die Tugenden der römischen Frühzeit, soll helfen, den von Varro und anderen (z.B. von Sallust) unterstellten allgemeinen moralischen Verfall der spätrepublikanischen Gegenwart des Autors aufzuhalten. Ich habe schon bemerkt, dass derartige moralkonservative Tendenzen der späteren augusteischen Restauration sehr gelegen kommen mussten. Neben die Kulturgeschichte tritt die Literatur- und Sprachforschung. Varro ist ohne Zweifel der bedeutendste Philologe und Sprachwissenschaftler seiner Zeit. Zu den literaturwissenschaftlichen Hauptwerken zählen zwei bis auf wenige Fragmente verloren gegangene Schriften Depoematis und Depoetis, beide wohl erst nach 43 v. Chr. geschrieben. Sie gehören eng zusammen und bilden „nach dem hellenistischen Schema ars (Kunst) und artifex (Künstler) eine nationalrömische Poetik in griechischer Systematik" (Sallmann). In De poematis behandelte Varro Definitionen und Einteilungen von Gattungen griechischer, vor allem aber wohl römischer Poesie, z.B. der dramatischen lateinischen Gattungen Tragoedia, Praetexta (Tragödie im römischen Milieu), Togata (Komödie im römischen Milieu) und Palliata (Komödie im griechischen Milieu). Für diese noch heute üblichen Gattungsbegriffe des römischen Dramas ist er ein wichtiger Zeuge, und es war vor allem Varros Poetik, die sie an die spätantike römische Philologie und Grammatik vermittelte. Mit De poetis

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legte Varro eine Biographiensammlung römischer Dichter von den Anfangen, also von Livius Andronicus (ca. 284-204), bis zu Accius (170 - nach 86 v. Chr.) vor. Hier muss Varro Bedeutendes insbesondere für die Chronologie der frühen römischen Dichtung geleistet haben. Bekannt ist bis heute vor allem seine Berechnung des „Gründungsjahres" der römischen Literatur 240 v. Chr., in dem Livius Andronicus erstmals dramatische Dichtungen in lateinischer Bearbeitung auf die Bühne gebracht haben soll. Weitere Schriften gelten der römischen Theatergeschichte und vor allem der Plautusforschung, mit deren Hilfe Varro die allein noch heute erhaltenen 21 Plautuskomödien, die sog. comoediae Varronianae, als echt bestimmen konnte. In der Sprachforschung hat sich Varro in allen damals gängigen Gebieten und Methoden führend hervorgetan, wobei auch hier sein antiquarisches Interesse am Frührömischen immer wieder deutlich spürbar wird. So hat er im Einklang mit griechischen Grammatikern wahrscheinlich im Werk De origine linguae Latinae (3 Bücher, Datierung unsicher) das Lateinische auf einen äolischen Ursprung zurückgeführt und mit der vor allem aus Vergils Aeneis bekannten Sage vom arkadischen König Euander auf dem Palatin verbunden, der das Aolische nach Rom gebracht haben soll. Das sind erste sprachgeschichtliche Ansätze, zu denen auch noch sprachvergleichende Methoden hinzukommen, denn Varro hat das Lateinische nicht nur mit dem Griechischen, sondern auch mit dem Sabinischen, Oskischen oder Etruskischen als verwandten Sprachen verglichen. Dass auch die Etymologie eine herausragende Rolle bei ihm spielt, kann bei dem Einfluss seines Lehrers Stilo nicht verwundern. Aber Varros linguistisches Interesse richtet sich durchaus auch auf Probleme seiner Gegenwartssprache, vor allem auf sprachnormative Fragen der Latinitas, d.h. des richtigen, korrekten Lateins. Die Sprachrichtigkeit, d.h. die Frage, welche Aussprache, Betonung, Schreibung oder morphologische Variante eines Wortes z.B. die richtige ist, wurde schon vor Varro, z.B. von Caesar mit der Schrift De analogia (54 v. Chr.), aber auch noch lange danach in Rom lebhaft und bis in die höchsten politischen Kreise hinein diskutiert. Varro hat ausfuhrlich an dieser Diskussion teilgenommen und diesem Komplex seine einflussreiche Schrift De sermone hatino in fünf Büchern (wohl vor 45 v. Chr.) gewidmet. Auch große Teile von De lingua Latina sind davon geprägt. Varros sprachwissenschaftliches Hauptwerk sind die 25 Bücher De lingua Latina, von denen, wie schon gesagt, nur die sechs Bücher 5-10 erhalten sind (Beginn der Abfassung ab 47 v. Chr., Publikationsdatum unbekannt, vielleicht sogar postum). Diese Schrift war, soweit wir das noch erkennen können, der große Wurf einer umfassenden Sprachenzyklopädie, dem in seiner Geschlos-

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senheit und perspektivischen Weite vor und zu seiner Zeit nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann - auch nicht in der griechischen hellenistischen Philologie oder Philosophie. Mag man auch manche Mängel, Unfertigkeiten und Abhängigkeiten feststellen und den Grad der Originalität Varros aus Quellenmangel nicht mehr recht einschätzen können, so bleibt doch Delingua Latina in der Geschichte der antiken Sprachwissenschaft etwas Besonderes und Einmaliges, nämlich der imponierende Versuch, auf der Grundlage einer jedenfalls in den Grundzügen eindrucksvoll kohärenten Sprachtheorie, die alle Aspekte der Sprache umfasst, die lateinische Sprache in ihren etymologischen, morphologischen und syntaktischen Eigenarten vollständig zu beschreiben. Dabei verwendet Varro wie schon bei den Antiquitates auf der obersten Gliederungsebene ein griechisches Ordnungsschema: die stoische Sprachentstehungstheorie. Den Dingen werden zunächst Wörter „auferlegt" (impositio verborum, z.B. Stein). Die dafür zuständige Disziplin ist die Etymologie (Bücher 2-7, B. 1 bot eine Einleitung). Von diesen „Primärwörtern" werden dann weitere Wörter abgeleitet (declinatio verborum, z.B. steinig, Steinmauer), die von der „Ableitungslehre" - wir würden heute sagen: von der Morphologie - behandelt werden (Bücher 8-13). Schließlich fugen sich die Primär- und Sekundärwörter zu Wortgruppen und Sätzen zusammen (coniunctio verborum, z.B. Steine fallen). Erscheinungen dieser Art gehören in die dritte Disziplin Syntax (Bücher 14-25). Etymologie, Morphologie und Syntax bieten nun ihrerseits den Rahmen für weitere Untergliederungen des Sprachmaterials, die allerdings nur für die ersten beiden Disziplinen klar erkennbar sind. Aufje einen Theorieteil, in dem das Pro und Contra der jeweiligen Disziplin diskutiert wurde (B. 2-4 Theorie der Etymologie; B. 8-10 Theorie der Morphologie), folgte ein Teil praktischer Anwendung (B. 5-7: Etymologie lateinischer Wörter; 8-10 Morphologie lateinischer Wörter). Erhalten haben sich aus Uberlieferungszufall nur der praktische Etymologieteil (B. 5-7) und die morphologische Theorie (B. 8-10). Neben der Abhandlung zur Latinitas-Frage und der umfassenden Sprachenzyklopädie hat Varro im Alter als erstes Buch der Disciplinae (davon später) auch noch eine echte ars grammatica in alexandrinischer Tradition vorgelegt, eine Darstellung der Sprachkonstituenten vom Wort bis zum Satz (Laute, Silben, Wortarten, Satz, Sprachfehler und -Vorzüge). Sie ist die erste sicher bezeugte römische Grammatik in einer langen Reihe lateinischer artes grammaticae. Leider ist sie fast vollständig verloren gegangen. Mit diesen Werken zur Geschichte, zur Struktur und zur Korrektheit der lateinischen Sprache wurde Varro zum eigentlichen Begründer der römischen Sprachwissenschaft

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und zugleich zum entscheidenden Vermittler der griechischen Sprachphilosophie und der griechischen technischen Grammatik an die römische Lehrtradition. Weitere Gebiete fachwissenschaftlicher Schriftstellerei Varros kann ich hier nur streifen. Er verfasste u.a. auch landwirtschaftliche, rhetorische, juristische und geographische (insbesondere meereskundliche) und natürlich auch philosophische Schriften. Ich habe allerdings schon einschränkend gesagt, dass Varro kein philosophischer Autor, sondern nur ein Schriftsteller sein wollte, dessen umfangreiches Œuvre auch eine Abteilung Philosophica aufzuweisen hat. So übergehe ich denn den noch fur Augustinus (civ. Dei 19,1-3) so wichtigen Uber dephilosophia und die 76 Bücher hogistorici. Aus diesem Schriftenkomplex möchte ich nur die Res rusticae herausgreifen, weil sie die einzige ganz erhaltene Schrift Varros darstellen. Die Res rusticae entstanden im Jahre 37 v. Chr. Sie sind eigentlich ein Unikum: eine stark, j a pedantisch durchsystematisierte, lehrbuchartige Darstellung der Landwirtschaft in drei Dialogen zu j e einem Buch mit z.T. längeren Lehrvorträgen (aristotelischer Dialogtyp), die mit ihrem Kontrast von vergleichsweise „niedrigem" Sujet (Schweinezucht z.B.) und hoher literarischer Einkleidung, mit humorvollen Rahmensituationen und sprechenden zum Dialogthema passenden Namen streckenweise fast wie eine Parodie des ciceronischen Dialogs wirkt. Trotzdem wurde die Schrift offenbar als literarischer Dialog und als Lehrbuch durchaus ernst genommen. Thematisch wird im ersten Buch die eigentliche Agrikultur, d.h. der Landbau, im zweiten Buch die Großviehzucht auf den Weiden des Landguts und im dritten die Klein - und Haustierzucht an der Villa selbst behandelt. Zum Schluss dieser kleinen Werkübersicht müssen wir noch zwei Schriften erwähnen, die wir aufgrund ihres enzyklopädischen Charakters eigentlich an die Seite der Antiquitates und von De lingua Latina hätten stellen müssen : die Hebdomades und vor allem die für die Wirkungsgeschichte Varros so überaus wichtigen Disciplinae. Die Hebdomades vel de imaginibus (Hebdomas = Siebenzahl) aus dem Jahre 39 v. Chr. waren eine Sammlung von 700 Portraitzeichnungen prominenter Persönlichkeiten in 15 Büchern, nach sieben Berufsgruppen wie Königen, Politikern, Dichtern, Prosaikern, Philosophen, Künstlern etc gegliedert, und dabei jeweils nach Griechen und Römern getrennt. J e d e m Portrait waren ein Epigramm und ein kurzer Prosatext beigegeben. Die Siebenzahl durchwaltete das Werk vollständig und ist eine weiteres Zeugnis für varronischen Schematismus und für seine Vorliebe für Zahlensymmetrie und -Symbolik, die sicher durch

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den zu seiner Zeit wieder aufkommenden Pythagoreismus genährt wurde. Offenbar waren die Hebdomades „das erste illustrierte römische Buch" (Dahlmann) und zugleich ein römisches Novum ohne griechisches Pendant. Die neun Bücher Disciplinae, vielleicht ein Alterswerk Varros aus dem Jahre 34/33 v. Chr., behandelten die artes liberales, „die eines freien Mannes würdigen Bildungsfacher", ein Terminus, den wir in der Latinität von Ciceros De inventione 1, 35 an verfolgen können. Varros Titel passt durchaus zum Gegenstand seiner Schrift, denn das auch ohne den Zusatz liberales gebräuchliche Disciplinae (= Studienfacher, Bildungsfacher, wiss. Disziplinen) war, wie Kühnert (1961, 5) gezeigt hat, nur eine synonyme Variante des Begriffs artes liberales. Die bildungsgeschichtliche Bedeutung der Disciplinae ist, wie wir später sehen werden, besonders in der deutschen Varro-Forschung außerordentlich hoch eingeschätzt worden. Umso bedauerlicher ist es, dass gerade dieser Schrift von der Uberlieferung besonders übel mitgespielt wurde. Entsprechend schwer ist die Aufgabe einer Fragmentsammlung, die bisher nur in Ansätzen und leider auch nur in schwer zugänglicher maschinenschriftlicher Form, aber trotzdem höchst verdienstvoll von Manfred Simon (Diss. 1963) in Angriff genommen wurde: Es existieren nur sehr wenige durch Autor - und Werkangabe wirklich gesicherte Fragmente. Wenn nur Varro erwähnt wird, könnte das Fragment auch aus anderen Schriften Varros stammen, und schließlich gibt es zahlreiche Passagen bei späteren Autoren, die zwar varronisches Gut vermuten lassen, die sich aber wegen völlig fehlender Identifikationshilfen nicht sicher den Disciplinae zuweisen lassen. Hinzu kommt, dass auch der Grossaufbau des Werks, insbesondere die Reihenfolge der neun Disziplinen und der Inhalt der einzelnen Bücher aufgrund der schlechten Uberlieferung starken Zweifeln unterliegt. Man hat trotzdem versucht, das Werk, so gut es geht, zu rekonstruieren. Die Disciplinae waren eine Darstellung von neun artes in jeweils einem Buch, die nach den Forschungen von Kühnert und Simon, wie folgt, angeordnet waren (s. = Buchzahl sicher) : 1. Grammatik (s.) 2. Rhetorik 3. Dialektik (Reihenfolge von 2. und 3. unsicher) 4. Musik 5. Arithmetik (s.) 6. Geometrie 7. Astronomie 8. Medizin (s.) und 9. Architektur (s.). Dieser Fächerkanon setzt sich aus den in der griechischen Tradition der Enkyklios Paideia, der propädeutischen Allgemeinbildung des freien Mannes, anerkannten sieben „Kernfachern" (Kühnert, 1961, 37) und der Medizin und Architektur zusammen. Die erst sehr viel später nachweisbare Binnengliederung der septem artes in ein sprachbezogenes Trivium (9. Jahrhundert n. Chr.) und ein mathematisches Quadrivium (Boethius) ist bei Varro noch nicht belegt. Uber den Inhalt der einzelnen Bücher kann man nur vermutende Rückschlüsse ziehen, die sich aus der thematischen Über-

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einstimmung der spätantiken Artes-Enzyklopädien von Augustinus, Martianus Capella, Cassiodor und Isidor ergeben (Simon 1963, 22ff). Die Fragmente lassen übrigens noch erkennen, dass es Varro auch hier nicht nur um die griechische Theorie, sondern immer wieder auch um die Anwendung der griechischen Theorievorgaben auf das Römische ging. Aus diesem Überblick ist hoffentlich ein Eindruck von Varros schriftstellerischem Profil vermittelt worden: Varro ist in erster Linie ein ungewöhnlich produktiver und vielseitiger wissenschaftlicher Fachschriftsteller mit dem Schwerpunkt in der römischen Kultur, Literatur und Sprache, insbesondere natürlich der römischen Frühzeit (antiquitas). Hier hat er entsprechende Ansätze seiner Vorgänger (bes. Aelius Stilos) fortgeführt und zum Höhepunkt gebracht. Belletristischen Ruhm in Dichtung und Kunstprosa hat er dagegen nur nebenbei gewinnen wollen, obwohl ihm dabei immerhin die Einfuhrung einer neuen Dichtungsgattung gelang (der Menippeischen Satire). Seine antiquarischen Forschungen hat er jedoch nicht aus akademisch-musealen Gründen unternommen, sondern sie mit Hilfe seiner moralisierenden Rückbesinnung auf den mos maiorum mit einer durchaus aktuellen Wirkungsabsicht verbunden: der Wiederherstellung der nationalen Identität und der Abwehr von moralischer Dekadenz in der durch die Bürgerkriege zerrütteten ausgehenden Republik. Unverkennbar ist sein Zug zum Enzyklopädischen, und hier sind ihm tatsächlich vier große Enzyklopädien mit Erstheitsanspruch und bedeutender Nachwirkung gelungen: die Antiquitates, De lingua Latina, die Hebdomades und die Disciplinae. Besonders hier wird allerdings auch sein Hang zum pedantischen Schematisieren und zur Zahlensymmetrie deutlich. Dem Griechischen hat er sich - anders als der ältere Cato - bereitwillig und weit geöffnet, aber nicht als dem Zielpunkt seiner Forschungen, sondern als dem willkommenen Werkzeug zur theoretischen Durchdringung und Disposition der res Romanae, um die es ihm eigentlich ging. Damit ist er aber zugleich auch ein bedeutender Vermittler griechischer Wissenschaft an den lateinischen Westen geworden. Damit sind wir schon beim dritten und letzten Punkt: der Wirkungsgeschichte unseres Autors.

3. Wirkungsgeschichte Von der Wirkung eines Autors spricht man bekanntlich schon zu dessen Lebzeiten, nach dessen Tod verwendet man eher den Ausdruck Fortwirken, Nachwirkung, Nachleben. Beides zusammen umfasst die Wirkungsgeschichte. Quellen

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für eine solche Wirkungsgeschichte sind zunächst explizite Testimonien von Zeitgenossen oder von späteren Zeugen, wie z.B. im Fall Varros das schon zitierte Urteil Ciceros (Acad. post. 1,9) über die politische Identitäts-Funktion der Antiquitates. Äußerungen dieser Art können die Person des Autors, einzelne Werke oder Werkteile betreffen, auch das Gesamtwerk, das allerdings in der Regel erst postum beurteilt werden kann. Die Wirkung eines Autors kann man aber auch ohne explizite Testimonien an dessen stillschweigender Verarbeitung, etwa an dem Einfluss varronischer Werke auf die augusteischen Dichter ablesen. Beide Wirkungstypen können, wie schon angedeutet, die Lebenszeit des Autors weit überschreiten bis hin zu modernen literaturwissenschaftlichen Werturteilen über Varro oder „Fern"Wirkungen Varros auf die Sprachwissenschaft der frühen Neuzeit. Ich werde im Folgenden Beispiele dafür geben. Dies alles ist eher vom Autor her gedacht. Geht man dagegen mehr vom Rezipienten aus, indem man sich fragt, welches Bild sich ein Folge-Autor vom Vorläufer-Autor machte oder welche Art produktiver Aneignung er wählte, spricht man eher von Rezeption. Im Fall Varros könnte man so z.B eine poetisch-literarische Varro-Rezeption bei Cicero (im Dialog Académica posteriora), oder bei Seneca und Petron (in der Menippeischen Satire) von einer wissenschaftlichen Varro-Rezeption z.B. bei Plinius dem Alteren oder Augustinus unterscheiden. Auch davon wird gleich die Rede sein.. Die Wirkungsgeschichte eines antiken Autors hängt allerdings entscheidend vom Uberlieferungsbestand seiner Werke zu einer bestimmten Zeit ab. Verfugte der Rezipient noch über das vollständige Werk, konnte er also direkt rezipieren oder war er auf indirekte Zitate bei späteren Autoren angewiesen? Gab es Wiederentdeckungen bestimmter Werke und demzufolge eine neue, „zweite" Rezeption? Wir werden sehen, dass alle drei Möglichkeiten in der Varro-Uberlieferung vorkommen. Für die moderne literaturwissenschaftliche Rezeption ist aber neben der Uberlieferungssituation auch noch die Quellenkritik besonders wichtig, sowohl beim Autor selbst als auch bei seinen späteren Rezipienten. Welche Quellen hat z.B. Varro selbst benutzt und was lässt sich daraus für seine schriftstellerische Technik und Qualität erschließen? Welchen Gebrauch haben die Rezipienten von Varros Schriften gemacht? In welchem Umfang stützt sich z.B. Martianus Capeila auf die varronischen Disciplinae} Hatten Autoren wie Boethius und Cassiodor die Disciplinae Varros noch zur Verfugung oder haben sie sie aus bestimmten Gründen (Bevorzugung anderer, z.B. griechischer Quellen) nicht oder nur nebenbei genutzt? Es wird am Beispiel von De lingua Latina und der varronischen Disciplinae deutlich werden, welche weit reichenden und völlig

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divergierenden Schlüsse für die Wirkungsgeschichte eines Autors aus den Resultaten der jeweiligen quellenkritischen Analyse gezogen werden. Doch zunächst zum Uberlieferungsbestand. Man kann zuversichtlich davon ausgehen, dass die bedeutendsten Schriften Varros, z.B. die Antiquitates, die Disciplinae, der Uber dephilosophia oder De lingua Latina mindestens noch bis zu Augustinus' Zeiten, also bis ins 4./5 Jahrhundert vollständig vorhanden waren. Für die ersten drei Schriften liefert Augustinus selbst den Beweis. Für De lingua Latina können wir sogar noch weiter bis ins frühe 6. Jahrhundert gehen, denn der zu dieser Zeit in Konstantinopel lehrende Grammatiker Priscian zitiert (Gramm.Lat.III 410, 9-411, 9) eine längere Passage aus diesem Werk (ling. Lat. 5,168-174), die sich eigentlich nur durch eine direkte Nutzung zumindest der Etymologiebücher erklären lässt. Danach muss man wohl mehr und mehr mit einem Schwinden der direkten Uberlieferung rechnen, denn die frühmittelalterlichen Varro-Zitate scheinen sämtlich indirekt der spätantiken enzyklopädischen, lexikographischen oder grammatischen Tradition entnommen zu sein. Die gesamte direkte Uberlieferung von Varro-Texten hing schließlich sogar, wie auch bei manchen anderen lateinischen Schriftstellern, Catull z.B., an einem seidenen Faden. Es wäre vielleicht sogar zum völligen Verlust gekommen, wenn nicht der vollständige Text der Res rusticae durch den verlorenen Codex Marcianus (Herkunft und Alter unbekannt) und die Bücher 5-10 von De lingua Latina durch den heute in Florenz liegenden Codex Laurentianus F (Montecassino, 11. Jahrhundert), also jeweils nur durch eine einzige Handschrift, von der die gesamte weitere Überlieferung abhängt, gerettet worden wären. Dass dies gelang, war natürlich das segensreiche Werk der Humanisten, die diese Handschriften „entdeckten", ihren Wert erkannten, Abschriften anfertigten, ihre Funde propagierten und für eine rege Herausgeber- und Kommentierungstätigkeit sorgten. Für die Res rusticae lag dieses Verdienst bei Niccolö de' Niccoli (1363-1437) und für De lingua Latinabex Boccaccio (1313-1375), der den Montecassiner Codex abschrieb und Petrarca 1355 mit dem Text bekannt machte (Vgl. Petrarca, Epist. rer. fam. liber 18,4, von 1355). Von da an war der Textbestand wenigstens dieser beiden Werke Varros gesichert, und unser Autor erlebte gewissermaßen einen „zweiten", humanistischen Frühling, wie er auch für andere römischen Schriftsteller (z.B. für Quintilian) typisch ist. Varro jedenfalls trat, als Autor wenigstens zum Teil wieder entdeckt, in eine rege, ungebrochene Rezeptionsperiode, die bis heute andauert. Vor dem Hintergrund dieser überlieferungsgeschichtlichen Grundzüge möchte ich die Wirkungsgeschichte Varros zunächst allgemein skizzieren und

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dann, wie schon angekündigt, an zwei Beispielen näher erläutern: an De Lingua Latina und an den Disciplinae. Dass Varro als literarischer und wissenschaftlicher Autor schon bei seinen Zeitgenossen Pompeius, Caesar, Cicero, Pollio etc. sehr hoch im Kurs stand, habe ich erwähnt. Von Anfang an werden seine schriftstellerische Produktivität, seine stupende Gelehrsamkeit, seine wissenschaftliche Kompetenz und vor allem seine überragenden antiquarischen Kenntnisse gelobt und mit Ehrenamt und Denkmal honoriert (Caesar, Asinius Pollio). Er ist eben der doctissimusRomanorum, der größte Gelehrte, den Rom, ja selbst Griechenland je gesehen hat, und so oder ähnlich hat man sich auch in den folgenden Jahrhunderten bis hin zu den Kirchenvätern und darüber hinaus über Varro geäußert (Seneca, Plinius d.A., Quintilian, Apuleius, Gellius, Terentianus Maurus, Tertullian, Laktanz, Augustinus u.a.). Stellvertretend sei hier das höchst treffsichere Lob Quintilians (10, 1, 95) zitiert: ... Terentius Varro, vir Romanorum eruditissimus. plurimos hic libros et doctissimos composuit, peritissimus linguae Latinae et omnis antiquitatis et rerum Graecarum nostrarumque, plus tarnen scientiae collaturus quam eloquentiae. - Terentius Varro, dergebildetste Römer. Er schrieb sehr viele gelehrte Werke, der beste Kenner der lateinischen Sprache, des gesamten Altertums und der griechischen und unserer eigenen Kultur, jedoch ertragreicher fiir das Wissen als fiir den rednerischen Stil. In dem letzten Zusatz steckt eine gewisse Einschränkung, die später auch Augustinus (civ. Dei 6, 2) macht: Das Lob gilt vor allem der wissenschaftlichen Leistung, nicht dem Sprachstil Varros, der weniger günstig beurteilt wird. Der Gegensatz vom großen Gelehrten und schlechten Stilisten hat Varro dann bis in unsere Tage begleitet und ist besonders pointiert von Eduard Norden (Antike Kunstprosa I 194) vertreten worden. Er gilt nach neueren Forschungen von Dahlmann, Traglia u.a., wenn nicht als überwunden, so doch zumindest als in dieser Schärfe nicht haltbar. Neben solche expliziten Würdigungen treten deutliche Spuren varronischer Wirkung auf die Literatur und Kultur seiner und späterer Zeiten ohne ausdrückliche Nennung des Autors. Dass er auf Cicero, die augusteischen Dichter und auf Livius einen bedeutenden Einfluss ausgeübt hat, ist inzwischen zweifelsfrei nachgewiesen (Baier 1997, Rösch-Binde 1998). Dass er aber darüber hinaus, wie schon früher gesagt, auch die allgemeinen kulturhistorischen Grundlagen für die augusteische (insbesondere die religiöse) Restauration gelegt hat, ist nicht direkt bezeugt, aber eine mehr als plausible Vermutung. Die literarische Gattungstradition der menippeischen Satire setzen Seneca und Petron fort, aber es überwiegt natürlich die wissenschaftliche Rezeption. Als Fachgelehrter ist Varro die Jahrhunderte über immer wieder von Grammatikern, Lexikographen, Philologen, Kulturhistorikern, Theologen u.a. als unbe-

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strittene Autorität und Informationsquelle herangezogen worden, wenn auch mehr und mehr über die indirekte Vermittlung durch spätere Fachautoren, was schließlich zum Verlust der meisten seiner Schriften geführt hat. Zwar war Varro durch die ungebrochene Kontinuität der Lehrtradition auch im Mittelalter durchaus noch präsent, aber sein Bild begann doch mehr und mehr zu verblassen, bis schließlich, wie schon bemerkt, die frühen Humanisten des Trecento aufgrund ihres brennenden Interesses an der verlorenen antiken römischen Literatur und aufgrund der neuen Handschriftenfunde den fast schon verloren geglaubten Autor wenigstens teilweise wieder ans Licht brachten und so die humanistische Varro-Renaissance einleiteten. Petrarca war übrigens schon vor der Wiederentdeckung von De lingua Latina durch Boccaccio (s.o.) so enthusiastisch vom Wert des Autors überzeugt, dass er Varro am 1. November 1350 einen fiktiven Brief (epist. rer. fam. 21.6) schrieb, in dem er bitter über den Verlust der Schriften Varros klagte. In seiner Dichtung Triumphus Famae III 37-39 hat er ihm dann das folgende, inzwischen berühmte und oft zitierte Lob gespendet, das Varro als dritten großen Schriftsteller Roms an die Seite Ciceros und Vergils stellt: Qui vid'io nostra gente aver per duce Varrone, il terzo gran lume Romano, che, quando il miri più, tanto più luce.

Dort sah ich unser Volk zum Fuhrer haben Varro, das dritte große Licht Roms, das, je mehr ich es betrachte, desto mehr leuchtet.

Dass Petrarca allerdings Cicero höher als Varro einschätzt, bringt er in dem schon erwähnten Dankesbrief an Boccacio (epist.rer.fam. 18, 4, 4) zwar mit zurückhaltendem Respekt, aber doch auch wieder deutlich genug zum Ausdruck. Soviel zunächst zur allgemeinen Wirkungsgeschichte Varros. Das Beispiel von De lingua Latina soll nun die zweite, humanistische Wirkungsperiode näher illustrieren, die im Grunde bis heute andauert. Ich stütze mich dabei vor allem auf das eindrucksvolle Bild, das Dieter Cherubim 1995 von der Rezeption der antiken Sprachwissenschaft in der frühen Neuzeit gezeichnet hat. Nach der Wiederentdeckung von De lingua Latina durch Boccaccio kam es im frühen 15. Jahrhundert zu einer beträchtlichen Anzahl weiterer Abschriften, ein deutliches Kennzeichen für das neu erwachte Interesse an Varro, das mit dem Erscheinen der editioprinceps von Pomponius Laetus (Rom 1471) und weiterer Frühdrucke zu einem ersten Abschluss kam. Cherubim nennt dies (1995, 134) die erste Phase einer materiellen Absicherung des Varrotextes. Ihr folgte eine

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zweite Phase der tiefer greifenden philologischen, d.h. textkritischen und kommentierend-exegetischen Erschließung des Varrotextes im 16. Jahrhundert, deren Höhepunkt die Coniectanea in Varronem {Notizen zu Varro) Joseph Justus Scaligers (Paris 1565) darstellen. Seit dieser Zeit gingen von Varros Schrift entscheidende neue Impulse in der Geschichte der Sprachwissenschaft aus, die sogar zu einer neuen Schwerpunktverschiebung führten: weg von der Wortartengrammatik Donats und Priscians und hin zu dem, was Cherubim eine „lexikalistische Wende" in der Grammatik nennt, die sich nun unter Varros Einfluss immer stärker wortsemantisch und -etymologisch orientierte (1995,137). Varro stand damals überhaupt - und weiter bis in das 17. Jahrhundert des Barock und darüber hinaus - in der gelehrten Welt wieder außerordentlich hoch im Kurs - insbesondere als umfassender Gelehrter, als Sprachkritiker, als Sprachpolitiker und Sprachpatriot, und so nimmt es nicht wunder, dass sein Name schließlich als lobendes Synonym für Leute verwendet wurde, die sich in ähnlich neu erschließender und patriotisch verdienstvoller Weise um ihre eigene Sprache, wie Varro um das Lateinische, bemüht hatten. So nannte man Justus Georg Schottel (1612-1676), den Initiator der Sprachwissenschaft des Deutschen im Barock, einen Varro Teutonicus (einen deutschen Varro) und in diesem Sinne wurde sogar noch Jakob Grimm 1869 mit Varro verglichen (1995, 132). Von der großen Hochschätzung Varros und besonders von De lingua Latina zeugt dann auch die Klassische Philologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die mit wissenschaftlichen Editionen, Kommentaren und Abhandlungen den entscheidenden Grund für die Varro-Forschung bis heute gelegt hat (Spengel, K.O. Müller, Goetz, Schoell, F.W. Ritsehl, Dahlmann). Da geschah in der Mitte des 20. Jahrhunderts etwas völlig Unerwartetes: Varro wurde höchst unsanft von seinem Thron gestoßen, und zwar von Detlev Fehling mit seiner Dissertation von 1956/7 über De lingua Latina. Aufgrund einer detaillierten Quellenanalyse kam er zu der Ansicht, dass Varro nicht über ausreichende geistige Kapazität verfügt habe, die linguistischen Theorien seiner griechischen Vorläufer zu verstehen. Er habe sie vielmehr bis zur Unkenntnis verballhornt, sein Material fehlerhaft und schludrig verarbeitet und dazu noch moderate hellenistische Diskussionen über morphologische Probleme der Flexionslehre in den Büchern 8 und 9 zu einem angeblichen „AnalogieAnomalie-Streit" aufgebläht, der so nie existiert habe. Varros Schrift habe demzufolge keinerlei Quellenwert für die Geschichte der hellenistischen Sprachwissenschaft. Varro also ein Dummkopf und Aufschneider? Das konnte natürlich nicht unwidersprochen bleiben. Nach überwiegend ablehnenden, aber durchaus auch zustimmenden Stellungnahmen schlug das Pendel wieder

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völlig in die positive Gegenrichtung um - und zwar 1975 in der Dissertation von Daniel J . Taylor. Hier ist nun Varro plötzlich der originelle, unabhängige Denker auf der vollen Höhe der linguistischen Theoriefahigkeit, der eine bewundernswert geschlossene und kohärente Sprachtheorie und eine entsprechende Beschreibungsmethode für das Lateinische erfand, die bisher unbekannt war und zum Modell für spätere Grammatiker wurde. Größere Gegensätze gibt es nicht: Varro - der linguistische Narr und Varro - das linguistische Originalgenie! Die Diskussion über diese beiden Extrempositionen, die eher auf eine vermittelnde Position hinauszulaufen scheint, ist in vollem Gange (Ax 1991 und Ax 1997, Calboli 2001). Ich kann hier leider nicht näher darauf eingehen und halte nur fest, dass wir seit Fehling ein polarisiertes, zwiespältiges Varrobild haben, das uns nicht mehr sicher sein lässt, ob Varro die rückhaltlose Verehrung, die er von Petrarca bis Dahlmann genossen hatte, auch heute noch verdient. Interessanterweise hat sich in der Forschung zu Varros Disciplinae etwas ganz Ahnliches abgespielt. Nach unserer Uberlieferungslage im Bereich der enkyklios paideia/artes liberales schien es zunächst so, dass Varro der erste, und zwar nicht nur der erste römische, sondern überhaupt der erste antike Autor war, der den griechischen Fächerkanon, der vor ihm weder der Zahl und Reihenfolge nach fest bestimmt, noch durch eine enzyklopädische Darstellung gewürdigt worden war, zu einer Enzyklopädie zusammenfasste. Diese These hat besonders Dahlmann mit der rhetorisch pointierten Formulierung vertreten: „Vor ihm (sc. Varro) gab es eine enkyklios paideia, aber keine Encyklopädie." (Dahlmann R E 1935, 1257). Allerdings läge Varros innovatorische Leistung dann nur in der Aneignung griechischen Bildungsgutes, nicht in der Wahl der literarischen Gattung, denn eine „Enzyklopädie" von Lehrfachern (der Landwirtschaft, Medizin, Rhetorik, möglicherweise auch des Kriegswesens und des Rechts) zum Zwecke praktischer Unterweisung hatte schon der alte Cato für seinen Sohn Marcus verfasst. Varro schrieb also, wenn wir Dahlmann einstweilen folgen wollen, nicht die erste römische Enzyklopädie, sondern die erste Enzyklopädie der griechischen artes liberales. Wenn wir mit diesem Ergebnis im Kopf den weiteren Verlauf der lateinischen Artes-Liberales-Literatur verfolgen, ergibt sich geradezu zwangsläufig eine außerordentlich positive bildungsgeschichtliche Aufwertung Varros, zumindest für die westliche, lateinsprechende Bildungstradition. Die spätantiken Artes-Enzyklopädisten Augustinus, Martianus Capeila, Cassiodor und Isidor, sie alle beschreiben zweifellos, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge, dieselben sieben Fächer wie Varro mit Ausnahme der Medizin und

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Architektur, die Martianus Capella, einer der wichtigsten Vermittler der Septem artes an das lateinische Mittelalter, unter eindeutigem Rückgriff auf Varros Disciplinae ausdrücklich ausschließt (9, 891). Da drängt es sich förmlich auf Varro zum entscheidenden Vermittler griechischer Bildung an das Abendland, zum Vater der Septem artes liberales und der Artistenfakultät, ja letztlich sogar der heutigen Philosophischen Fakultät avancieren zu lassen. In diese Richtung geht zuerst und vor allem das überaus positive Urteil Dahlmanns (RE 1935, 1256-8), das in der deutschen Varro-Forschung bis heute mit gewissen Modifikationen und Einschränkungen im Prinzip aufrechterhalten worden ist (Kühnert 1961, 66f, Simon 1963, lf, Simon 1966, 88, Sallmann 1975, 1137 und Cardauns 2001, 78). Aber auch hier ereilte Varro - nur zeitversetzt - dasselbe Schicksal wie in den fünfziger Jahren: Er wurde ein zweites Mal nachdrücklich und unbarmherzig vom Thron gestoßen - diesmal von Ilsetraut Hadot (1984, 1997). Für Hadot ist nicht Varro der Stammvater der septem artes. Nach ihren Forschungen besonders zu Augustinus' De ordine (386 n. Chr.) und zu Martianus Capella geht der Zyklus der sieben freien Künste vielmehr auf neuplatonische Quellen des 3. Jahrhundert n. Chr. zurück. Varros Disciplinae seien für uns weder der Reihenfolge der Bücher noch ihrem Inhalt nach greifbar, ein bloßer Schemen, dessen Rekonstruktionsversuche seit Ritsehl sich sämtlich als nicht haltbar erwiesen hätten. Ebenso könne die These von dem vermeintlich großen Einfluss des Werks auf die spätantiken Enzyklopädisten einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Das Bildungssystem des lateinischen Mittelalters ruht daher für Hadot auf spätantiken griechischen, nicht auf römischen Fundamenten der ausgehenden Republik. Damit wäre Varros bildungsgeschichtliche Rolle so sehr ausgespielt, dass er sogar völlig hinter den Kulissen zu verschwinden droht. Auch hier konnten kritische Reaktionen natürlich nicht ausbleiben. Zunächst ist Hadot zuzugeben, dass der Optimismus Dahlmanns und seiner Nachfolger in Bezug auf Varros Bedeutung für die mittelalterlichen artes liberales mit Sicherheit überzogen ist und einer einschränkenden Präzisierung bedarf. Diesen Weg ist aber schon 1966 M. Simon gegangen: Ein wirklich prägender Einfluss der Disciplinae, der über gelegentliche, wohl durchweg indirekt vermittelte Zitationen Varros hinausgeht, kann spätestens ab Boethius, Cassiodor und Isidor nicht mehr unterstellt werden. Boethius benutzt nachweisbar griechische Quellen und Cassiodor stützt sich auf „moderne" Autoren wie Boethius oder Marius Victorinus und steht damit ebenfalls indirekt in griechischer Tradition ohne Rückgriff auf Varro. Anders steht es mit Martianus Capel-

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la, dessen Nutzung der varronischen Disciplinae für Simon eine andere Qualität besitzt: Sie zeugt von einer durchgehenden inhaltlichen und strukturellen Prägung des Werkes durch Varros Enzyklopädie. Wenn das zutrifft, wäre doch wenigstens ein Teil des varronischen Einflusses gerettet, denn Martianus gehört immerhin zu den wichtigsten Quellen der mittelalterlichen Artes-liberales-Tradition. Hadot hat allerdings auch diese These Simons bestritten (1984, 167f), doch hat Sabine Grebe (1999, 28-30) weitere einleuchtende Argumente vorgebracht, die für Varros Einfluss auf Martianus sprechen, z.B. die Form der menippeischen Satire bei Martianus und die Neunzahl der Bücher beider Werke (s. auch Sabine Grebes Beitrag in diesem Band S. 133ff, bes. 138). Wie dem auch sei - die Situation von De lingua Latina hat sich hier, wie schon angekündigt, wiederholt. Wieder stehen wir vor einem stark polarisierten, widersprüchlichen Varrobild: Am positiven Ende steht der Dahlmannsche Vater des Abendlandes, am negativen der ephemere, für die abendländische Bildungstradition bedeutungslose Autor Ilsetraut Hadots, der in den undurchdringlichen Nebel der Uberlieferung zurücksinkt. Und auch hier scheint sich eine vermittelnde Position anzubahnen, die den Disciplinaeüber Martianus wieder eine größere Wirkung auf das lateinische Mittelalter zutraut, als Hadot ihnen zugestehen will. Also darf Varro in Zukunft vielleicht doch wenigstens einen Teil seines Thrones wieder einnehmen. Die Zeiten einer einhelligen Hochschätzung des Autors und Wissenschaftlers Varro und eines übereinstimmenden Urteils über die Reichweite und Bedeutung seiner Wirkungsgeschichte scheinen jedenfalls bis auf weiteres vorbei. Hier müssen weitere Forschungen ansetzen. Fest steht, dass man aufgrund seiner literarischen und wissenschaftlichen Leistungen, der zahlreichen positiven Urteile über ihn, der Wirkungen, die er - in welchem Maß auch immer - erzielt hat, und der nicht abreißenden wissenschaftliche Diskussion bis heute ihm wenigstens einen Titel nicht wird nicht versagen können: den eines Lateinischen Lehrers Europas.

Bibliographie Ax, Wolfram 1991: Sprache als Gegenstand der alexandrinischen und pergamenischen Philologie, in: P. Schmitter (Hrsg.), Sprachtheorien der abendländischen Antike, Bd. 2, Tübingen 1991, 275-301 (= Lexis und Logos 2000, 95-115) Ax, Wolfram 1995: Disputare in utramque partem. Zum literarischen Plan und zur dialektischen Methode Varros in D e lingua Latina 8-10, Rheinisches Museum 138, 1995, 146-177 (= Lexis und Logos 2000,140-163)

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Ax, Wolfram 1996: Pragmatic Arguments in Morphology. Varro's Defence of Analogy in Book 9 of his De lingua Latina, in : P. Swiggers, A. Wouters (Edd.), Ancient Grammar: Content and Context, Leuven 1996, 105-119 (= Lexis und Logos 2000, 164-175) Ax, Wolfram 2000: Dikaiarchs Bios Hellados und Varros De vita populi Romani, Rheinisches Museum 143 (2000) 337-369 (= W.W. Fortenbaugh, E. Schütrumpf (Edd.), Dicaearchus of Messana , RUSCH Vol. 10, New Brunswick 2001, 279-310) Ax, Wolfram 2000: Lexis und Logos, Studien zur antiken Grammatik und Rhetorik, hrsg. v. Farouk Grewing, Stuttgart 2000 Baier, Thomas 1997: Werk und Wirkung Varros im Spiegel seiner Zeitgenossen. Von Cicero bis Ovid. Hermes Einzelschriften 73, Stuttgart 1997 Calboli, Gualtiero 2001: (Ed.) Papers on Grammar VI, Bologna 2001 (Sämtliche Beiträge einer Konferenz über Varros De lingua Latina im Centro di Studi Varroniani im J. 2000) Cardauns, Burkhart 2001 : Marcus Terentius Varrò. Einfuhrung in sein Werk, Heidelberg 2001

Cherubim, Dieter 1995: Varrò Teutonicus. Zur Rezeption der antiken Sprachwissenschaft in der frühen Neuzeit, Zeitschrift für Germanistische Linguistik 23 (1995) 125-152 Dahlmann, Hellfried 1935: Terentius 84), RE Suppl.bd. VI 1935, 1172-1277 Fehling, Detlev 1956/7: Varrò und die grammatische Lehre von der Analogie und Flexion, I, Glotta 35 (1956 ) 214-270 und II, Glotta 36 (1957) 48-100 Grebe, Sabine 1999: Martianus Capella. „De nuptiis Philologiae et Mercurii". Darstellung der sieben freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander, Stuttgart und Leipzig 1999 Hadot, Ilsetraut 1984: Arts libéraux et philosophic dans la pensée antique, Paris 1984 Hadot, Ilsetraut 1997: Geschichte der Bildung; artes liberales, in: F. Graf (Hrsg.) Einleitung in die lateinische Philologie, Stuttgart und Leipzig 1997, 17-34 Kühnert, Friedmar 1961: Allgemeinbildung und Fachbildung in der Antike, Berlin 1961 Norden, Eduard 1909: Die antike Kunstprosa, 2 Bände, Leipzig und Berlin 1909 (ND Darmstadt 1974) Rösch-Binde, Christiane 1997: Vom òeivòg 0 V T ) O zum „diligentissimus investigator antiquitatis". Zur komplexen Beziehung zwischen M. Tullius Cicero und M. Terentius Varrò, München 1998 Sallmann, Klaus 1975:1. Marcus Terentius Varrò, in: Der Kleine Pauly V, München 1975, 1131-1140 Sallmann, Klaus 2002: Varrò [2] in: Der Neue Pauly XII, Stuttgart 2002, 1130-1144 Simon, Manfred 1963: Das Verhältnis spätlateinischer Enzyklopädien der artes liberales zu Varros Disciplinarum libri novem, Diss, (masch.), Jena 1963 Simon, Manfred 1966: Zur Abhängigkeit spätrömischer Enzyklopädien der artes liberales von Varros Disciplinarum libri, Philologus 110 (1966) 88-101 Taylor, Daniel J. 1975: Declinatio. A Study of the Linguistic Theory of Marcus Terentius Varrò, Amsterdam 1975 Traglia, Antonio 1993: Varrone prosatore, in: Cultura e lingue classiche 3, a cura di Biagio Amata, Rom 1993, 693-885

Vitruvius (ca. 90/80-20/10 v. Chr.) VON H E N N E R VON H E S B E R G

Der Schriftsteller Vitruv ist eine faszinierende Gestalt an der Wende von Republik zu Kaiserzeit, zugleich steht er für einen der Wendepunkte in der Geschichte der römischen Architektur. Sein Werk zählt zwar in literarischer Hinsicht nicht zu den überragenden Leistungen der Antike, aber zog in seiner Einmaligkeit Aufmerksamkeit auf sich, und besaß eine sehr unterschiedliche Wirkung. Während seine Schrift „De architectura" in den Jahrhunderten der Kaiserzeit selten zur Kenntnis genommen wurde und ihn nur wenige Autoren zitieren, setzt am Ende der Antike mit dem 3. Jahrhundert wieder ein stärkeres Interesse ein, das sich bis in das Mittelalter behauptet. Nachdem Gian Francesco Poggio 1415 eine wichtige Kopie von „De architectura" in St. Gallen wieder gefunden hatte und die Schrift 1486 zum ersten Mal in Rom gedruckt worden war, begann schließlich eine Rezeption, die ihresgleichen sucht. Die berühmtesten Architekten der Renaissance und der folgenden Jahrhunderte beschäftigten sich mit seiner Schrift, eine Wirkung, die er sich für seine eigene Zeit nur erträumen konnte. Dabei machte in der Moderne weniger der Text in seinen Details, sondern das Konzept die Faszination seines Werkes aus. Mit dem 18. Jahrhundert büßte der Autor endgültig seine Wirkung als Vorbild ein, aber das wissenschaftliche Interesse an seiner Schrift hielt unvermindert an. Sieht man in Vitruv einen Lehrer Europas, konnten seine Schüler von ihm lernen, ein so großes Gebiet wie die Architektur systematisch zu gliedern und darin eine eigene Terminologie zu entwickeln, aber im praktischen Bereich bei der Bewältigung der eigentlichen Bauaufgaben half er nur wenig.

1. Leben Die Daten zum Leben unseres Autors sind allein seiner Schrift „De architectura" zu entnehmen. Die Handschriften bringen nur das Nomen Gentile Vitruvius, aber nicht glaubwürdig seinen Vor- oder Beinamen. Das Cognomen Polio jedenfalls ist bei Faventin in einer nicht eindeutigen Weise aufgeführt. Auffallenderweise sind weitere Architekten mit dem Namen Vitruvius über Inschriften bezeugt, so der Baumeister des in der frühen Kaiserzeit errichteten Gavier-

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bogens in Verona, der Freigelassene Lucius Vitruvius Cerdo, und ein Architekt, - wohl ebenfalls ein Freigelassener - über eine allerdings deutlich spätere Grabinschrift in Baiae. Möglicherweise kommt auch der Feldmesser Vitruvius Rufus hinzu. Offenbar also hat zumindest im 1. Jahrhundert n. Chr. ein Zweig der Gens der Vitruvii die Ausbildung von Architekten generell gefördert. Seinen Eltern sagt er in der Vorrede zum 6. Buch (4) Dank, weil sie dafür Sorge trugen, dass er in einem Wissensgebiet ausgebildet wird, das man nur durch Kenntnis von Literatur und eine enzyklopädische Bildung bewältigen kann. Er besitzt deshalb nach seiner eigenen Einschätzung umfangreiches Wissen und Freude an literarischer und künstlerischer Beschäftigung. Nach den überlieferten Daten wird er um 90/80 v. Chr. wohl in Italien geboren. Mit ca. 20 Jahren tritt er in die Armee ein, denn in den Jahren um 57 v. Chr. begleitet er möglicherweise das Unternehmen eines Legaten Caesars gegen Völker in den Alpen und entdeckt bei der Gelegenheit die erstaunlichen Eigenart des Lärchenholzes (2,9,14). In den Jahren um 47 v. Chr. nimmt er an den Feldzügen Caesars in Afrika teil, wo er mit dem Sohn des Königs Masinissa im gleichen Quartier liegt und von ihm über die Eigenarten der Quellen in der Region belehrt wird (8,3,25). Nach der Ermordung Caesars 44 v. Chr. wechselt er in den Dienst Octavians. Als Agrippa 34 v. Chr. das Aedilenamt innehat, könnte er nach dem Zeugnis Frontins (de acqu. 25) zu dessen Stab an Architekten gehört haben. In den Jahren der Bürgerkriege 31 v. Chr. (2 paef. 4) ist er unter Octavian und Agrippa Mitglied in einem Vier-Männer-Kollegium für Bau und Wartung der Geschütze des Heeres, und wird daraus nach Prüfung seiner Amtsführung und auf Fürsprache der Octavia, der Schwester Octavians, bei fortlaufender voller Gehaltszahlung entlassen. Er hat also innerhalb des Heeres Karriere gemacht, aber kaum sehr weit, andernfalls hätte er das gewiss vermerkt. Als Architekt eines zivilen Projekts tritt er in seinem Werk nur einmal mit der Basilika in Fanum, einer Stadt in der Romagna, hervor (5,1,6). Deren Entwurf muss er wegen des darin enthaltenen Heiligtums für Augustus in den Jahren nach 27 v. Chr. verfertigt haben. Wie er den Auftrag erhalten hat, bleibt unklar. Im Anschluss daran oder möglicherweise auch schon gleichzeitig wird er sein Werk „De architectura" verfasst haben. Eine weitere literarische Tätigkeit ist nicht bezeugt. Um 20/10 v. Chr. dürfte er gestorben sein. Für die Zeit vor Vitruv sind im römischen Kulturkreis Architekten nicht als Literaten bezeugt. Die spärlichen biographischen Nachrichten geben uns keinen Hinweis, warum er als Schriftsteller tätig wurde. Er selbst begründet es mit dem belehrenden Gehalt seiner Schrift. Sein Œuvre an gebauten Werken wirkt

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nach der Überlieferung eher gering, seine Tätigkeit andererseits außerordentlich vielseitig, aber darin unterscheidet er sich kaum von seinen Kollegen. Wir können nicht ermessen, ob er tatsächlich nur wenige Bauten entwarf, oder ob er den Rest seiner Bauten der Erwähnung nicht für wert hielt. In den Äußerungen des Autors sind persönliche Erfahrungen vom Wissen, das er von dritter Seite bezogen hat, nicht immer deutlich zu trennen. So erwähnt er (2,l,4f.) verschiedene einfache Formen von Hütten in Gallien und auf der iberischen Halbinsel, ohne darauf zu verweisen, dass er sie selbst gesehen habe. Möglicherweise verrät die genaue Beschreibung der Lehmziegeldächer in Massilia eigene Beobachtung, sicher ist es aber nicht. Auch eine Episode in der Belagerung dieser Stadt 49 v. Chr., die bei Caesar nicht beschrieben ist, könnte für Teilname am Geschehen sprechen (10,16,11), Eine Kenntnis des Ortes legt die suggestive Beschreibung der Bildwerke von Ferentino in Südetrurien nahe (2,7,4). In jedem Fall können ihm jeweils Gewährsleute die genannten Dinge berichtet haben. Aus dem Werk lassen sich folglich keine sicheren Hinweise gewinnen, was von der damaligen Welt er kennen gelernt hat. Ein schwieriges Problem in dieser Hinsicht ist sein Verhältnis zur Architektur seiner Zeit, denn man könnte ihn geradezu als deren Antipoden ansehen (dazu 6 praef. 5f.). Obwohl er von den herausragenden Neubauten Roms in den Jahren zwischen 50-25 v. Chr. den Tempel der Venus auf dem Caesarforum, den des Divus Iulius auf dem Forum Romanum (3,3,2) und den des Apollon und der Diana auf dem Palatin (3,3,4) anführt, fehlt doch ein Blick auf das Ganze, also z.B. das Forum oder die Saepta Caesars, das Mausoleum des Augustus, das Restaurierungsprogramm der Tempel, die Neugestaltung des südlichen Marsfeldes oder die Vielzahl der Bauten in den Städten Italiens (Ausnahme Tempel in Nemi, 4,8,4). Stattdessen erwähnt er als Beispiel für bestimmte Typen z.T. obskure Bauten wie den Tempel bei den drei Fortunen an der Porta Collina (3,3,1), des Juppiter und des Faunus auf der Tiberinsel (3,2,3), der Fortuna Equestris am Pompejustheater (3,3,2), der Ceres, des Hercules des Pompejus (3,3,5), des Castor und Pollux am Circus Flaminius oder des Vejovis auf dem Kapitol (4,8,4), die - soweit überhaupt nachweisbar - tatsächlich die vom Autor beschriebene Form besessen haben. Außerdem nennt er den 146 v. Chr. errichteten Tempel des Juppiter Stator des Hermodor oder lobt überschwänglich (3,2,5. 7praef. 17) den Tempel für Honos und Virtus des Mucius, der um 100 v. Chr. erbaut sein muss. Er erwähnt knapp das Theater des Pompejus (3,3,2), den Cerestempel (3,3,5), der 31 v. Chr. abbrennt, und den Tempel des Quirinus (3,2,7), der 49 v. Chr. durch Feuer

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zerstört 16 v. Chr. von Augustus neu geweiht wird. Alle diese Bauten dienen ihm lediglich als Beispiele typologischer Kriterien, aber an keiner Stelle kommt - abgesehen vom Bau des Mucius - so etwas wie Begeisterung zum Ausdruck. Diese Haltung ist wohl nicht nur als Zeichen von Ablehnung zu verstehen, sondern ebenso als eine Art Selbstdisziplinierung, alles in gleicher Weise in ein System zu bringen. Denn die berühmten Bauten in Griechenland behandelt er kaum anders. Das Lob der Bauten verbindet sich denn auch ganz eng mit dem für ihre Architekten, wie seine Äußerungen zu Hermogenes belegen (3,3,9).

2. De architectura Schon seine Vita gibt sich nur schemenhaft zu erkennen. Mit dem Verständnis der Schrift und ihrer Funktion steht es nicht viel besser. Die Abfassungszeit seines Werkes wird über eine Notiz zur Portikus Metelli auf dem Marsfeld (3,2,5) eingegrenzt, die nach 33 v. Chr. die Bezeichnung Portikus Octaviae erhielt. Weitere Indizien legen eine Eingrenzung in die Jahre um 25/20 nahe. Insgesamt gliedert sich das Werk in zehn Bücher, deren Eigenständigkeit jeweils durch eine ausführliche Vorrede {praefatio) und eine in sich geschlossene Thematik und Komposition erzielt wird. Dabei umfassen die ersten sieben Bücher die in unserem Sinn eigentliche Baukunst. Die ersten beiden Bücher davon gelten im ersten den Vorbedingungen des Bauens, der Ausbildung des Architekten und den Grundlagen des Bauens, vor allem den Anhaltspunkten, die für die Wahl des Bauplatzes den Ausschlag geben, im zweiten der Entstehung der Baukunst und den Materialien. Die folgenden drei Bücher legen die Prinzipien dar, nach denen öffentliche Bauten zu gestalten sind. Das dritte behandelt die Tempel und das vierte im Wesentlichen die verschiedenen Säulenordnungen, aber auch andere Details der Gestaltung. Das fünfte Buch gilt den Bauten des zivilen Lebens, den Platzanlagen und zugehörigen Bauten, dann in einer langen Ausführung den Theatern und im Anschluss Bädern und Gymnasien und Häfen und verwandte Anlagen. Die anschließenden beiden Bücher legen Anleitungen zum Bau von Privatgebäuden nahe, vor allem der Stadthäuser im sechsten und von Formen der Wandmalerei und des Stucks im siebten. Die letzten drei Bücher umfassen Spezialgebiete des Architektenberufes, das achte den Wasserbau mit seinen verschiedenen Problemen, das neunte die Gestirne und den Uhrenbau und das zehnte schließlich mechanische Apparate, darunter vor allem Kriegsmaschinen.

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Zweimal betont er (lpraef. 3; 4praef. 1), dass er die umher irrenden Teile der Baukunst zu einem Ganzen zusammengetan habe. Seine Leistung, die ihn gegenüber allen früheren und - soweit überhaupt bekannt - allen späteren Schriften vergleichbarer Art der Antike auszeichnet, ist die Systematisierung und Abgrenzung der Architektur als eigenständiger Disziplin. Damit will er die Grundlage schaffen, dass der Kaiser selbst (lpraef. 3), vor allem aber die Öffentlichkeit (3praef.) allgemein stimmige Kriterien gewinnen kann, die Qualität eines Werkes und dadurch die Leistung eines Architekten möglichst objektiv zu beurteilen. Als Folge wird ein extrem weiter Bogen von der Auctoritas des Reiches bis hin zu den Interessen des Hausbauers gespannt. Dennoch versucht er übergreifend in verschiedener Hinsicht Kriterien zu gewinnen, die leicht nachzuvollziehen sind. Von der Konzeption her bildet das Fach flir ihn (1,1) eine Mischung aus praktischen {fabrica) und theoretischen Kenntnissen ( ratiocinatio ). Darunter gewinnt die ratiocinatio entscheidende Bedeutung, da sie den selbstständigen Wert der Disziplin ausmacht. Er sichert sie deshalb immer wieder mit Verweis auf die Autoritäten innerhalb der griechischen Literatur ab. In fast jedem der Bücher gibt es mindestens eine theoretische Passage, in denen er ganz unterschiedliche Gewährsleute zitiert. Im ersten Buch erscheint so nach dem ersten Abschnitt (1,1,7ff.) über die Ausbildung zum Architekten eine Fülle von Namen. In dem Abschnitt über die Bedeutung der Winde (1,6,4) tauchen Andronikos aus Kyrrhos auf, der ihn auch als Bauherr des sog. Turmes der Winde in Athen fasziniert hat, und später Eratosthenes von Kyrene (1,6,9). Dabei reicht das Spektrum von den eigentlichen Fachschriftstellern der Architektur wie Pytheos oder Hermogenes bis hin zu Musiktheoretikern wie Aristoxenos oder Philosophen wie Poseidonios. An lateinischen Autoren beruft er sich auf Lukrez, Cicero und Varro. Vielfach bleibt unklar, wieweit Vitruv dabei die Autoren exzerpiert hat oder sich lediglich Aussagen zu Eigen macht, die er aus dritter Hand bezogen hat oder mit ihren Namen verbindet. Jedenfalls hat er vieles verkürzt oder auch verfälscht wiedergegeben. Sein System ist nicht in sich geschlossen, sondern er verknüpft ganz unterschiedliche Aspekte, setzt immer wieder neu an und gerät dadurch bisweilen in Widersprüche. Eine Ebene der Ordnung und damit der Systematisierung wird aus dem Material vorgegeben, wie es sich allein schon in der Anordnung der Bücher manifestiert. Er unterscheidet (l,3,lfF.) zwischen Errichtung von Gebäuden ( aedißcatio ), dem Bau von Uhren (gnomonice) und dem Bau von Maschinen ( machinatio ). Die aedißcatio untergliedert sich in die Verdingung öffentlicher Gebäude {conlocatio) und die Ausfuhrung ( explicatio ) privater Bau-

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ten. Die conlocatio ihrerseits gliedert sich wieder in drei Bereiche, die Verteidigung (defensio), die Gottesverehrung (religio) und die der allgemeinen Versorgung (opportunitàs). Der Passus belegt zugleich, wie Vitruv nach geeigneten Begriffen sucht, diese jeweils von ihm abgesteckten Felder zu umschreiben. Seine Sprache zeichnet sich durch eine Fülle von Substantivierungen aus, die diesem Zweck dienen. Das Muster der Gliederung entspricht im Prinzip aber Vorgehensweisen, wie sie aus ähnlichen Werken, z.B. aus den Büchern der Institutionis Oratoriae des M.Fabius Quintiiianus, bekannt sind. Jener erwähnt in seinem Lehrbuch (3,7,27) über die Ausbildung des Redners auch die Lobreden auf öffentliche Bauten, in denen die Ehre (honos), der Nutzen (utilitàs), die Schönheit [pulchritudo) und der Erbauer (auctor) im Mittelpunkt stehen sollen. Weitere Untergliederungen der Materie bestimmen den Aufbau der einzelnen Passagen. So behandelt er den Formenapparat der architektonischen Ordnungen an Tempeln in der Abfolge dorisch, ionisch, korinthisch und tuskanisch. Sie ergibt sich einmal historisch als Abfolge der Entstehung der Formen, zum zweiten aber auch ethisch, indem er den Ordnungen verschiedene Charaktere - männlich, weiblich, jungfräulich - beimisst. Die tuskanische Ordnung ist fiir ihn dabei die eigenständige Leistung Italiens. Die Ausfuhrungen veranschaulichen wiederum sehr deutlich, wie sehr ihm die Systematik ein Anliegen ist. Denn im Grunde hat es zu jeder Zeit mehr Formen als nur die drei Ordnungen gegeben, was er für seine eigene Zeit durchaus anerkennend auch knapp erwähnt (4,1,12). Aber es geht ihm um die Stimmigkeit des Systems, nicht um ein Handbuch des Bauschmucks. In dieser Intention gibt es viele Klassifizierungen, so z.B. die Grundrisstypen von Tempeln, die Typen von Säulenjochen, von Türen und anderen Details mehr. Eine andere Form, die er gerne wählt, ist die Kontrastierung zwischen griechischer und römischer Architektur, so für Platzanlagen, Theater und Wohnbauten. Sie erlaubt es ihm, zum einen die spezifische Eigenart der eigenen, italischen Tradition gegenüber der übermächtigen griechischen zu betonen, zum anderen aber vor allem in einem dual aufgebauten Feld bestimmte Qualitäten der architektonischen Lösungen kontrastierend miteinander zu vergleichen.. Wichtiger noch als die pragmatische Unterteilung der Bereiche ist das Bemühen um eine systematische Begründung der Qualität von Architektur. Vitruv unterscheidet drei Kategorien (1,2): Festigkeit (firmitas), Zweckmäßigkeit (utilitàs) und gefalliges Aussehen (venustas), von denen diefirmitas sich aus ganz verschiedenen praktischen Faktoren zusammensetzt, die venustas aber aus weiteren abstrakten Qualitäten wie symmetria (richtige Maß Verhältnisse),

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eurythmia (Proportionsgefüge) und decor (Angemessenheit, das Schickliche). Das entscheidende Kriterium ist ihm dabei die Wahrheit (veritas). Sie ist entweder aus der Richtigkeit der Konstruktion (4,2,5 u.a.) oder der engen Anbindung an ein Vorbild in der Natur zu gewinnen. Die Wahrheit gewinnt in der Verankerung in der Tradition und in der Bindung an die früheren Generationen (antiqut) ihre unangreifbare Autorität (3,1 u.a.). Dass sich aus einer derartigen Haltung eine Reihe von Widersprüchen ergibt, belegt vor allem seine Rezeption in Renaissance und Barock, in der die Frage, ob Ornament Nachahmung der Natur sei oder reine Erfindung, sehr unterschiedlich beantwortet wurde. Vitruv selbst hat dazu keine klare Entscheidung getroffen. Während er ausgehend von den architektonischen Ordnungen eine Entwicklung von Formen billigend feststellt, ist er nicht Willens, Abweichungen von den aufgestellten Regeln anzuerkennen, wie sie sich z.B. bei der Vermischung von Ordnungen (4,2,5ff.) oder bei der Wandmalerei (7,5,3ff.) auftun, weil damit die Richtigkeit der Konstruktion oder das Vorbild der Natur in Frage gestellt wird. Trotz der Widersprüche lag hier in der Moderne ein starker Anreiz, sich immer wieder mit ihm zu beschäftigen, versprach doch sein Werk so etwas wie verbindliche Leitlinien für die architektonische Gestaltung aufzustellen. Ein zweites Anliegen neben der Systematik seiner Disziplin stellt für Vitruv die praktische Seite seines Berufs dar, die Entwurf, Kostenkalkulation, Kenntnis der Materialien, den Dialog mit Bauherrn und Handwerkern, Verträge und Bauausführung umfasst. Die Richtigkeit seiner theoretischen Überlegungen muss sich in der Praxis beweisen. Auch dieses ist ein durchgehender Zug antiker Lehrschriften und z.B. in Catos „De re rustica" oder in Columellas „De re rustica" zu finden. Seine Leser sollen nach seinen Vorstellungen nicht seine Fachkollegen sein, sondern alle, die Kriterien zur Hand haben wollen, einen Bau sachgerecht beurteilen zu können. Dazu gehört in solchen Werken die Polemik gegen Kollegen, um die Qualitäten des eigenen Werkes hervorzuheben, was bei Vitruv (1,1,2; 3 praef. 3) durch den Bezug auf die Praxis allerdings noch verschärft wird. Die enge Verbindung zur Praxis hat zu den viel diskutierten sprachlichen Besonderheiten geführt. So lassen sich eine Reihe von engen Bezügen zur Volkssprache nachweisen, aber auch der Wunsch, die fachliche Gegenstände in Begriffe umzusetzen, die literarische Qualität gewinnen, den griechischen Spezialausdrücken lateinische gegenüber zu stellen oder eben eine kohärente Systematik zu entwerfen.

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3. Wirkung In der Antike hat Plinius d. Ä. in seiner Historia Naturalis wahrscheinlich auf Vitruv zurückgegriffen, ohne ihn namentlich aufzufuhren. Hingegen erwähnt ihn Frontin (de aquaed 25) in einem Zusammenhang, in dem es um die Normierung von Wasserrohren geht, ohne seine Schrift zu nennen. Im S.Jahrhundert gibt M.Cetius Faventinus eine Art Exzerpt der Ausfuhrungen über die Privatbauten. Im 4. Jahrhundert zieht Servius ihn in seinem Kommentar zur Aeneis (6, 43) für ein begriffliches Problem heran. Schließlich erwähnt ihn im 5. Jahrhundert Sidonius Apollinaris im Parallelisierung mit Columella und anderen Figuren der Mythologie oder der Wissenschaft, die für bestimmte Kenntnisse stehen (ep. 4,3,5. 8,6,10). Seit der Zeit reißt die Beschäftigung mit ihm nicht mehr ab, wie Cassiodor, Isidor von Sevilla oder eine Umsetzung des 6. Kapitels seines 1. Buches in Verse belegen . An dem Umgang mit Vitruv während der Kaiserzeit fallt auf dass er zwar vielleicht häufiger konsultiert wird, wobei man stillschweigend hinnimmt, dass es keine anderen Autoren oder Informationsquellen seiner Art gibt, aber im Kontrast zu vielen anderen Autoren untypisch zitiert wird. Denn wäre er tatsächlich die unangefochtene Autorität des römischen Altertums in Fragen der Architektur gewesen, hätte man seinen Namen ähnlich intensiv nennen können, wie z.B. den des Varro oder anderer Schriftsteller auf ihren jeweils spezifischen Gebieten. Allerdings bleibt festzuhalten, dass anders als z.B. Fragen der Rhetorik Probleme der Architektur kaum ein literarisches Thema bildeten. Wie es aber in der Praxis aussah, ob also z.B. ein Bauherr sich in Verhandlungen mit seinem Architekten auf die Schrift des Vitruv berief, wissen wir nicht. Sehr wahrscheinlich scheint es mir nicht zu sein, denn die Anforderungen im Baubetrieb unterschieden sich deutlich von seinen Ausfuhrungen. Seine Wirkung als Lehrer, selbst in dem weiteren Sinn als Stichwortgeber, war allein deshalb gering, weil sein Werk gar nicht einlösen wollte, was es versprach. Denn jemand, der sich ein Haus bauen wollte, wird schwerlich sonderlich viel Hilfe aus seinen Hinweisen gewonnen haben. Gleiches gilt für die politischen Instanzen einer Stadt, die über die Errichtung eines öffentlichen Baus zu befinden hatten. Schwerer wog da die am Ort präsente Kompetenz in Gestalt von Architekten oder Handwerkern jener Art, wie sie karikierend in der Gestalt des Habinnas im Petrons Satyricon vorgeführt werden (65,5ff.). Aber dabei handelte es sich um erfahrene Bauunternehmer. Die Gestaltung von Bauten war von einer steten Diskussion begleitet, in der gewiss auch Autoritäten angeführt wurden, wie es z.B. Cicero mit der Meinung seines Archi-

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tekten Cyrus tut (ad Att. 2,3,2fF.), aber sie bilden nur eine Position neben vielen. Für die Gestaltung der großen Kaiserbauten in Rom, der Fora, der Thermen, der Grabbauten oder auch später der Wohn- und Palastbauten hätte man bei Vitruv vergeblich nach Auskünften für eigentlich alle Fragen von der Fundamentierung bis zur Dachdeckung gesucht. Seine Hinweise auf die Richtigkeit einer Gestaltung blieben abstrakt, während die praktischen Erfordernisse ganz andere Lösungen notwendig machten. Das belegt sogar sein eigenes Werk, denn in gewisser Hinsicht war es natürlich auch nicht „richtig" an die Schäfte von Säulen im Innern der Basilika von Fanum ein Zwischengeschoss anzuhängen, wie er es beschreibt, jedenfalls ist es an den erhaltenen Monumenten sonst nicht überliefert. Er wählte aber die Lösung, weil dadurch die Säulen in ihrer Größe besser zur Wirkung kamen und ein Gebälk gespart wurde (5,1,6). Verbindliche Normen der Gestaltung aufzustellen, ist Vitruv nicht gelungen, denn er beschreibt mit den Proportionen der Ordnungen bestehende Regeln, aber er schafft sie nicht neu. Eher ging es ihm in der Systematisierung um die Art, wie über architektonische Probleme diskutiert werden sollte, und weniger um eine definitive Festschreibung. Auch die Villenbesitzer Italiens dürften sich von den Schriften über den Ackerbau nicht primär eine Steigerung ihrer Erträge versprochen haben, sondern eher eine Literarisierung eines bestimmten Sektors ihrer Tätigkeit, die auf diese Weise nobilitiert wurde. Das Gespräch über Architektur konnte mit Vitruv gleichsam eine neue Qualität gewinnen und das gilt auch für die Rezeption seines Werkes in der Folgezeit. Es ist wohl bezeichnend, dass der Autor der augusteischen Zeit entstammt, in einer Zeit also, die für Formgebung schlechthin neu sensibilisiert ist. Der Dialog mit Architekten gehörte - wie zahllose Äußerungen in der antiken Literatur belegen, etwa Horaz (sat. 2,3,308; 2,6,71)- zu einer wesentlichen Tätigkeit der Mitglieder der Führungsschichten Roms. Wie rhetorische Lehrbücher, stellte die Schrift Kriterien und Inhalte zur Verfügung, die bei solchen Gelegenheiten aktivierbar waren. Bedingt durch die Diskrepanz von Theorie und Praxis lässt sich kaum ermessen, wie sehr seine Schrift Resonanz gefunden hatte. Wenn man unter Theorie literarische Übernahme versteht, war die Wirkung gering, und auch in der antiken Baupraxis lässt sich trotz zahlloser gegenteiliger Ansätze in der modernen Forschung kein Beispiel nachweisen, in dem man seinen Vorgaben unmittelbar folgte. Der Autor erfreute sich in der Spätantike wachsender Beliebtheit. Das Interesse an ihm gründet in hohem Maß auf seinem Spezialwissen, z.B. über Astronomie. Daran knüpft das Mittelalter an. Der Text war gut bekannt, wie ca. 70 Abschriften bezeugen. Das spricht dafür, dass er gelesen und wahrge-

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nommen wurde. So teilte Alcuin, der Abt von Tours, in einem Brief an Karl d. Gr. die Anekdoten um Deinokrates und Aristipp mit. Einhard, der Biograph Karls d. Gr. und später Abt in Seligenstadt, fragte um 830/40 seinen Schüler Vussin nach der Bedeutung von Wörtern bei Vitruv. Unter anderem ging es um den Begriff scenografia. An der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert schuf Petrus Diaconus im Kloster Montecassino eine Kurzfassung von „De architectura" und Theoderich, der Abt von Saint-Trond bei Lüttich, eine Umsetzung der Beschreibung des sog. Turmes der Winde in Verse. Vitruv wurde im Mittelalter als vielseitig gebildeter Literat rezipiert, und als Architekt wurde ihm durch Albertus Magnus die Autorität über die anderen Künste zugemessen. Bei Thomas von Aquin vermittelt er dem Fürsten die Prinzipien der Baukunst. Analog dazu verläuft die Verbreitung des Textes. Die Schrift Vitruvs war im frühen Mittelalter in den großen Klosterbibliotheken präsent, später seit dem 12. Jahrhundert auch in denen bedeutender Kleriker und seit dem 14. Jahrhundert in denen der Herrscherfamilien. Der Architektur des Mittelalters hingegen war die Kenntnis unseres Autors nicht abzulesen und in den einschlägigen Texten zu Bauten jener Zeit oder zur Architekturtheorie wurde er nicht als Gewährsmann angeführt. Vielmehr wurden andere, von seinem Werk gelöste Proportionsregeln eingeführt, die sich auf neuartige Harmonien beriefen und gleichsam Architektur eingebunden in ein von Gott konzipiertes Weltgebäude verstanden. Es sind neben der Systematik des Buches deshalb wohl mehr spezielle Aussagen, die an dem Autor interessierten, einzelne Aspekte seines Schaffens, weniger aber das System als Ganzes oder gar der Wunsch, ein verbindliches Vorbild zu gewinnen. Als ein Wendepunkt in der Bedeutung des Autors wird die Entdeckung der Handschrift durch Gian Francesco Poggio 1415 in St.Gallen gesehen, der ursprünglich im Besitz des Klosters von Fulda war. Dadurch wurde eine neue, intensive Beschäftigung mit dem Text eingeleitet, der 1486 zum ersten Mal in Rom gedruckt vorlag. Eine erste fachkundige Ausgabe erschien 1511 in Venedig durch Fra Giocondo aus Verona, der über eine große Erfahrung in der Architektur verfügte. Cesare di Lorenzo Cesariano veröffentlichte 1521 in Como zum ersten Mal eine prächtig bebilderte Ubersetzung ins Italienische. Mit der Renaissance wuchs sprunghaft das Interesse an antiker Architektur und Vitruv konnte als ihr Hauptzeuge angesehen werden. Leon Battista Alberti begann 1432 die Arbeit an seinen „De re aedificatoria libri X", die 1485 gedruckt wurden und - wie schon die Untergliederung vermittelt - auch in literarischer Form deutlich Bezug auf Vitruv nahmen. Zugleich formulierte er deutlich Zweifel am Werk des antiken Autors, die für die Folge-

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zeit immer wieder die Diskussion bestimmten. Ugolino Verino konnte Alberti preisen, er habe sein antikes Vorbild besiegt (vincit et ipsum Vitruviurri). Vor allem ist er in der Systematisierung des SchönheitsbegrifFs weiter gegangen als Vitruv, indem er sich bemühte, einen übergreifenden Zusammenhang aller Proportionsregeln im menschlichen Körper, in der Musik und in den Gestirnen aufzuspüren. Mit dem antiken Autor hatte er deswegen Probleme, da jener in seinen Aussagen in vieler Hinsicht unklar und zwiespältig blieb. Wichtiger als Zeugnisse der Vergangenheit sind Alberti die Tempel und Theater selbst, d.h. die Ruinen der Antike, von denen man nach seinen Worten wie von den besten Lehrmeistern vieles übernehmen konnte. Deshalb grub er sie aus, vermaß und sammelte sie in zeichnerischen Aufnahmen. Die Ruinen der antiken Bauten boten den Architekten der Folgezeit eine wesentliche Richtschnur und deren Dokumentation war deshalb ein vordringliches Anliegen. Die Architekten in den Generationen nach Alberti näherten sich der Antike im direkten Studium der Vorbilder, während die Schrift Vitruvs ein Problem blieb und sein Name sich mit akademischen Bemühungen und Fixierungen verband. Etwa gleichzeitig mit Alberti nahm Antonio Averlino, gen. Filarete, in den Jahren zwischen 1461-1464 einen Architekturtraktat in Angriff, mit dem er in Mailand die neuen Ideen der Renaissance propagieren wollte. In 25 Büchern plante er in lockerer Folge die Bedeutung der Baukunst darzulegen, da sie für den modernen, auf den Fürsten ausgerichteten Staat eine eminente Bedeutung besitze. Entsprechend setzte er die Säulenarten nicht Vitruv folgend zu den Geschlechtern in Parallelen, sondern den Ständen. Die dorischen Säulen sind die größten, die ionischen die niedrigsten und entsprechen den niedrigsten Menschen, werden also dort eingesetzt, wo sie am meisten Mühe, d.h. im architektonischen Aufbau die meiste Last ertragen müssen. Allerdings sind seine Bestimmungen der Ordnungen nicht mit den antiken identisch, denn das, was er als dorisch bezeichnet, ist in der Antike die korinthische Ordnung. Ein gleiches, mit einer standesmäßigen Gliederung verbundenes Konzept sollte den Plan einer idealen Stadt bestimmen, die im Grundriss kreisförmig sich um einen zentralen Platz mit Kathedrale und den Sitz des Fürsten legte. Die Wohnbauten gaben in ihrer Gestalt den Rangordnungen der Stände Ausdruck. An anderer Stelle versuchte er, die biblische Uberlieferung mit den Vorstellungen von den Anfangen des Kunstschaffens in Einklang zu bringen, indem die ursprünglichen Maßverhältnisse von Adam selbst als einem schönen und großen Menschen abgeleitet wurden. Insgesamt aber ging es ihm um eine neue Art der Gestaltung, die sich nur allgemein in Proportionen und Zeichnung an die antike Praxis anlehnte. Das große Vorbild darin war ihm Filippo Bruneleschi, den

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er als Nachfolger des Dädalus ansah, weil er in Florenz die antike Bauart wiedererweckt hatte. Ähnlich wie bei Alberti kam Vitruv selbst in den Ausfuhrungen nicht eigens zu Wort, obwohl sich vieles in dem Konzept an dessen Gedanken anlehnte. Im Anschluss entstanden eine ganze Reihe ähnlicher Architekturtraktate, unter denen der von Francesco di Giorgio Martini in den Jahren zwischen 1465-1492 verfasst sein dürfte. Sie gliederten sich ähnlich der Schrift des antiken Vorbildes in Bücher, in denen den zeitgemäßen Aufgaben der Architektur breiter Raum gelassen wurde. Während Filarete eher ein Theoretiker war und als Goldschmied auch gar nicht aus dem Baufach stammte, war di Giorgio ähnlich wie Alberti ein viel beschäftigter Architekt. Insofern war er mit dem aktuellen Baubetrieb gut vertraut, aber er bemühte sich stärker um Vitruv, übersetzte ihn in einzelnen Bereichen und übernahm ihn in seine Schriften. Anders als Alberti bezeichnete er ihn als reine Quelle, aus der er besonders für seine Überlegungen zu Proportionen geschöpft habe. Voll Stolz aber betonte er zugleich, dass die Zeichnungen und Gestaltungen der Gebäude von ihm selbst stammten. Die Lehrbücher dieser drei Künstler enthalten zugleich mit den Entwürfen für Architektur auch das Konzept einer rational planbaren Gesellschaft, die sich z.T. konkret wie bei Filarete, z.T. abstrakt nach Analogie zur Proportionallehre bei Alberti oder zum Kosmos bei Francesco di Giorgio organisieren sollten. Die Architektur würde nach der Uberzeugung der Zeit ihre spezifische Qualität gewinnen, wenn sie diese abstrakten Prinzipien umsetzte und auf Anordnung der Bauten in einer Stadt und ihre Gestaltung übertrüge. In allen Fallen war das Verhältnis zwischen antikem Autor und seinen Lesern in dieser Zeit gebrochen. Damit bildete sich eine ganz eigentümliche Position als Lehrer aus, denn Vitruv galt nun als ein Vorbild, das es vor allem in der Systematik und auf literarischem Gebiet zu übertreffen galt. Mit dem Cinquecento begann unter veränderten Vorzeichen eine neue Hinwendung zu Vitruv. In dem berühmten, 1510 im Umkreis RafFaels verfassten Memorandum zum Schutz der Denkmäler Roms wurde eine besondere Fürsorge und zugleich auch ein Verfahren zu getreuen Dokumentation der Antiken propagiert. Die Stadt sollte als Ensemble geschützt werden, damit einen würdigen Sitz des neu erstarkten Papsttums abgäbe. Stärker noch als bei Filarete wurde die antike und antikisierende Weise des Bauens in Kontrast zur mittelalterlichen „deutschen" Bauweise gesetzt. Hier trat Vitruv wieder auf den Plan, da er den antiken Ursprung der Formen literarisch belegte. Die von ihm beschriebene Konstruktion der dorischen Ordnung konnten stabi-

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ler als die Spitzbögen der Gotik angesehen werden. Gerade über die Ordnungen, die bei Vitruv so hervorragend beschrieben wurden, konnte man die antiken Bauten von denen des Mittelalters eindeutig unterscheiden. Dennoch blieb das Verhältnis zu Vitruv zwiespältig, denn bei ihm waren die geeigneten Darlegungen zwar zu finden, aber sie trugen nicht unbedingt mehr zum Verständnis der eigenen Zeit bei. Raffael selbst schrieb 1518 an Baldassare Castiglione, den Verfasser des Corteggiano: „ich möchte die schönen Formen der antiken Gebäude aufspüren. Ich weiß, dass mein Flug darüber der des Ikarus sein wird. Dazu gewährt mir Vitruv einen starken Einblick, aber nicht so sehr, dass es reicht". Michelangelo äußerte sich wenig später nach dem Zeugnis bei Giorgio Vasari ungleich schärfer. Einen Architekten, der sich bei Neubau von St.Peter mit seinen Kenntnissen des Vitruv brüstete, kanzelte er mit dem Hinweis ab, jener habe ein schlechtes Urteil. Vasari rühmte denn auch an Michelangelo seine Kraft, über die traditionellen Formen der Architekturdekorationen hinaus, wie sie nach Vitruv und den Altertümern entwickelt waren, neue Muster entworfen und damit die ausgetretenen Pfade verlassen zu haben. In der Folgezeit setzte ein Prozess ein, in welcher der antike Autor dazu diente, die jeweiligen zeitgenössischen Systematisierungen antiker Architektur zu rechtfertigen, ohne dass er dabei selbst kritisch hinterfragt wurde. Seit dem Jahr 1537 erschienen in Venedig die sieben Bücher Sebastiano Serlios zur Architektur. Mit ihm wurde allein schon durch die beigegebenen reichen Illustrationen so etwas wie ein Musterbuch geschaffen, das für alle Bereiche des Bauens Details und Konzepte liefert, ohne allzu sehr auf eine theoretische Begründung abzuheben. Von Vitruv stammten zwar die Begriffe, aber die Formen waren in der Gestaltung völlig eigenständig ausgestaltet. Diese Künstler brachten sich damit in einen gewissen Gegensatz zu den Mitgliedern der 1542 in Rom gegründeten Accademia della Virtù, in deren Programm die Herstellung eines einwandfreien Textes Vitruvs stand. Damit verbunden sollte ein Lexikon seiner Sprache erstellt, vor allem aber alle vorhandenen Reste der römischen Antiken mit seinem Werk verglichen werden. In Verbindung mit dieser Aufgabe erstrebten die Mitglieder umfassende Corpora von Zeichnungen nach Antiken. Auf diese Weise veränderte sich der Anspruch an den Text, der nun nicht nur bestimmte Formvorstellungen absichern half, sondern zugleich auch Quelle flir antiquarische Untersuchungen bildete. Immer wieder kamen trotz allem skeptische Äußerungen hinzu. Vitruv bildete gleichsam den Einstieg in die antike Architektur, aber weder in sachlicher noch konzeptioneller Hinsicht die Grundlage. Dazu unterschieden sich die

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Bauaufgaben der Moderne allzu sehr von der Antike, womit auch für deren Schmuck andere Regeln zu finden waren. Den 1562 im Druck vorgelegten „Regole delle cinque ordini dell'architettura" des Giacomo Barozzi, gen. il Vignola, ist dieses Dilemma abzulesen. Vitruv begleitete den Text, aber nicht als zentrale Autorität, sondern kommentierend herangezogen für antike Bauwerke. Gleiches galt fiir die weiteren Architekturtraktate und Ubersetzungen, die in kurzem Abstand folgten, den „Dieci libri dell'architettura di Vitruvio", die von Daniele Barbaro übersetzt und kommentiert wurden, ferner für die „Quattro libri di architettura" des Andrea Palladio, die 1570 in Venedig erschienen, und in der 1615 gedruckten „Dell'Idea dell'architettura universale" des Vincenzo Scamozzi. Sie setzen sich alle mit dem Problem auseinander, wie Architektur als künstlerische Disziplin eigentlich zu verstehen sei. Denn die anderen Sparten ahmen nach, Architektur aber nach ihrer Auffassung, und - in gewissem Kontrast zu Vitruv - nicht. Sie beruht vielmehr auf abstrakten Erwägungen von Proportion und Gestaltung von einzelnen Formen. Immer mehr wurde dabei der eigene Anspruch der Architektur als gestaltender und nicht nachahmender Kunst betont. Besonders Palladio hatte mit seiner Gestaltungsweise nachhaltigen Erfolg. Ihn, aber auch die Architekten seiner Generation, kennzeichnete der Pragmatismus, wie er z.B. im Streit um die Gestaltung der Fassade von S.Petronio in Bologna deutlich wurde. Sie war in gotischen Formen begonnen worden, die Arbeiten hatten nach 1440 einen gewissen Stillstand erreicht und nun stellte sich die Frage, wie sie zu Ende zu führen seien. Palladio schlug in Berufung auf die Vorbilder in der antiken Architektur und auf Vitruv ein verändertes Konzept vor. In die Diskussion wurden in der Folge von anderen auch neue Argumente eingeführt, etwa dass die gotische Ordnung nicht so wirr wäre, wie es den Anschein habe, und dass die katholischen Traditionen nicht unbedingt eine Lösung nach antiken Vorbildern begünstige. Die Gegenreformation kündigte sich an. In der italienischen Renaissance waren somit Werk und Ideen Vitruvs präsent, aber nicht beherrschend. Seine Schrift bildete in der ersten Phase einen starken Impetus für eine eigenständige, rational und literarisch begründete Gestaltung, die sich gegen die traditionelle gotische Architektur stellte, in einer zweiten bot sie mehr den Beleg für eine Gestaltungsweise, die prinzipiell Nachahmung verdiente, im Einzelnen aber jeweils neu durchdacht werden musste. So stellte sie eine stete Herausforderung dar, sie in ihren Aussagen angemessen zu verstehen.

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Aber die Übersetzer und Kommentatoren sowie die Verfasser neuer Traktate verfugten von jetzt an überdies über ein Medium, das dem antiken Text im wahrsten Wortsinn abgegangen war, nämlich die Illustrationen, welche die mittelalterlichen Abschriften nicht überlieferten. Die Bilder traten von jetzt an dokumentierend, ergänzend und korrigierend hinzu, besaßen eine eigene unabhängige Aussage und machten nicht zuletzt den hohen Wert aller dieser Schriften jener Zeit aus. Der antike Text musste demgegenüber, da er allein auf das Wort beschränkt war, in einem Bereich wie der Architektur schnell zweifelhaft, dunkel und sogar missverständlich erscheinen. Faszinierend wirkte die Idee, ein komplexes Lehrsystem für eine Disziplin zu begründen, wohl aus zweierlei Gründen. Sie verhalf neuen Ideen zum Durchbruch und erklärte die Ablehnung mittelalterlicher, als nicht italienisch angesehener Formen. Im Kontrast dazu ermöglichte die Bevorzugung der antiken Vorbilder das Konzept einer neuen, auf den Fürsten ausgerichteten oder einer rational begründeten Bauweise für die Städte jener Zeit. Die Schrift Vitruvs diente dabei als eine Art Katalysator, mit dessen Hilfe sich diese Ideen ausprägen und Gestalt annehmen konnten. Innerhalb des 16. Jahrhunderts wurde Vitruv auch stärker wieder außerhalb Italiens wahrgenommen. Einen guten Einblick vermitteln die Tagebuchnotizen Albrecht Dürers von seiner Reise in die Niederlande. Im Aachener Dom notierte er, dass die dort vorhandenen, von Karl d. Gr. aus Italien herangeführten Säulen den Angaben Vitruvs entsprächen. In seiner Schrift über die menschlichen Proportionen verwies er wiederum auf den antiken Architekten, der die Verhältnisse mit denen in den Bauten in Beziehung brachte. An anderer Stelle aber räumt auch Dürer der neuen Zeit ihr Recht ein, wenn er akzeptierte, dass Vitruv die Regeln zu den Gebäuden vorbildhaft beschrieben habe, aber man auch das „Gemüt" seiner Landsleute bedenken müsste, die gerne eine andere Gestaltung wünschten. Nachdem schon 1514 die erste deutschsprachige Teilübersetzung in Basel vorgelegt worden war, brachte 1543 Walter Herrmann Riff (Rivius), ein Arzt und Mathematiker aus Straßburg, den lateinischen Text und 1548 eine vollständige deutsche Ubersetzung heraus. Sie wurde von einem Traktat begleitet, der die Aussagen Vitruvs auf die eigene Zeit bezog und erläuterte. Zu etwa gleicher Zeit erschien durch Diego de Sagredo in Toledo die erste Teilübersetzung ins Spanische (1542) und 1582 eine vollständige durch Miguel de Urrea, sowie 1539 eine Teilübersetzung ins Französische, der 1547 die vollständige durch Jan Martin folgte. Die Ubersetzungen belegen also ebenfalls sehr deutlich ein neuartiges Interesse an unserem Autor, das gleichzeitig in den verschiedenen Ländern Europas zu spüren ist.

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Etwa zur gleichen Zeit erschienen von der Hand Guilelmus' Philander aus Châtillon die „Annotationes" zu Vitruv, die mehrfach in ihren Neuauflagen erweitert wurden. An sie schlössen wiederum eine Reihe von Architekturtraktaten an, die sich von den Aussagen des antiken Autors lösten und die Eigenständigkeit der lokalen Entwicklungen hervorhoben. Offenbar bemühte man sich, entsprechende Musterbücher zu gewinnen. Zu ihnen gehörte das 1561 in Paris gedruckte „ Nouvelles inventions pour bien bastir et à petit fraiz" des Philibert Del'Orme, das 1567 erschienene Werk von J.Bullant, „Reigle générale des cinq manières des colonnes", die „Architecture" wiederum des Philibert Del'Orme aus dem gleichen Jahr, und ca. 10 Jahre später „Les plus excellens bastiments de la France" von Jacques Androuet de Cerceau d.A. Ihnen entsprach von der Intention her in England das Werk von John Shute, „The First and Chief Grounders of Architecture" (1563). Besonders Philibert Del'Orme berief sich zwar gerne auf Vitruv, was ihn aber nicht abhielt, sich in seinen Ausfuhrungen von ihm zu lösen, und sich in die gesicherte Position eines Hofarchitekten zu versetzen. Ausschlaggebend fur ihn waren seine praktischen Erfahrungen. Daraus entwickelte er ein gestuftes Bild von Baukunst. Bezeichnenderweise war für ihn, was die Vermittlung der Antike anging, Sebastiano Serlio die höhere Autorität, da jener mit eigenen Händen die Antiken aufgenommen und dokumentiert hatte. Die Auseinandersetzung mit Vitruv war in Italien wegen der gleichsam nationalen Komponente am stärksten. Seine Ausfuhrungen halfen aber - wie eigentlich überall deutlich wird - bei der Gestaltung der zeitgenössischen Architektur nur wenig. Vielmehr musste ein eigenständiges Studium der Antiken hinzukommen, um seinen Darlegungen überhaupt anschaulich zu machen. Allein dadurch kam es zu vielen offenen Fragen und Widersprüchen, denn jenseits des antiken Textes belegten die antiken Monumente eine große Fülle weiterer, von Vitruv nicht genannter Formen. Wichtig war es in diesem Zusammenhang, sich über die Proportionen Rechenschaft abzulegen, was zugleich zum Problem der Wahrheit des Disegno und der Begründung des Entwurfs führte. In den anderen Ländern Europas hingegen herrschten im 15. Jahrhundert noch andere Traditionen vor, so dass die Aussagen Vitruvs noch weniger programmatisch fur eine neue Formgestaltung angeführt werden konnten. Das Zeitalter des Barock führte eine neue Konstellation herbei. In Italien berief man sich einerseits in konventionellen Bahnen auf Vitruv, während andererseits Giovanni Pietro Bellori in seinem 1672 vorgelegten Werk „ Le vite de' pittori, scultori et architetti moderni" den von Scamozzi angedeuteten Gedanken der Idea zu einer komplexen Begründung des Kunstschönen weiter

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ausgestaltete und zu begründen versuchte. Vitruv figurierte dabei lediglich als Zeuge geeigneter Regeln. Hingegen führte der Antagonismus zwischen England und Frankreich auch zu unterschiedlichen Akzenten in der Architektur, in England zur Nachahmung der eher strengen Gestaltung Palladios durch Inigo Jones und Christopher Wren, in Frankreich zur Gründung einer vitruvianischen Bauakademie, die unter Colbert 1671 als dem Surintendant des bâtiments an der Académie française geschaffen wurde. Die lokalen Eigenheiten wurden stärker ausgeprägt, die Formen standen im Vordergrund, aber nicht mehr so sehr die Proportionierung. Die Schrift Henry Wottons, „Elementes of Architecture", veröffentlicht 1642, erkannte Vitruv zwar als einen wichtigen Autor an, wiederholte aber bekannte Kritikpunkte, vor allem das Dunkle seiner Ausdrucksweise, wie auch konkrete Vorgaben in seinen Proportionsregeln, das seine Übernahme verhinderte. Vielmehr hätten eher die modernen Architekten vor allem in Italien das Verständnis antiker Architektur gefördert. Durch Colin Campbells Schrift, „Vitruvius Britannicus" (1715-1731), wurde schließlich Inigo Jones zur neuen Richtschnur architektonischer Gestaltung erhoben. Vitruv figuriert nur noch als Etikett fur den Anspruch auf qualitätvolle Architektur. Zur gleichen Zeit (1730) erschien die erste englischsprachige Ubersetzung von Robert Castel. Auf französischer Seite legte Roland Fréart in seiner Schrift „Parallèle de l'architecture antique avec la moderne, avec un recueil des dix principaux auteurs qui ont écrit des cinq ordres, savoir Palladio et Scamozzi, Serlio e Vignola, D. Barbaro e Cataneo, L.B.Alberti e Viola, Bullant et De Lorme entre eux" den Kanon fest und demonstrierte zugleich, wie Frankreich gewillt war, Italien mit seinen herausragenden Architekten abzulösen. Vitruv war im Grunde nur noch Synonym fur einen anerkannten Architekten der Antike. Immerhin wurde in der vitruvianischen Akademie 1673 durch Claude Perrault eine neue Ubersetzung vorgelegt. Wie sehr dabei die Verehrung des antiken Meisters mit politischer Autorität und einer gewissen akademischen Fixierung einherging, machte das Supplement deutlich, das Perrault nach Colberts Tod herausgab und in dem er sich gegen eine allzu enge Festlegung durch Regeln wandte. Vielmehr schaffe die Anmut der Formen Schönheit. Die akademische Tradition wurde hingegen von Francois Blondel mit seinem „Cours d'architecture enseigné dans l'Académie Royale d'Architecture" (1675-83) und von André Félibien, „Dissertation touchant l'architecture antique et l'architecture gothique" fortgeführt, die sich beide wiederum auf Vitruv beriefen. Das 18. Jahrhundert führte in vielerlei Hinsicht zu einer Abkehr von Vitruv. Zwar wurde er gerne noch zitiert, aber Jean-Louis de Cordemoy propagiert in

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seinem 1706 erschienenen „Nouveau Traité de toute l'architecture" einer Architektur der Kolonaden, für die sich der antike Autor kaum als Beleg anfuhren ließ. Außerdem begründete er Schönheit des Bauwerks aus dem „bon sens" und dem „bon goût", die zusätzlich kritische Instanzen gegenüber möglichen Vorbildern darstellen. Die darin enthaltene Position kam in dem 1753 veröffentlichtem „Essai sur l'architecture" des Marc-Antoine Lugier noch deutlicher zum Vorschein, denn er erkannte zwar Vitruv als hervorragenden Autorität an, um mit seiner Hilfe die Architekten der Renaissance zu schmälern und seine regelhafte Architektur, für die er die Muster zu liefern hoffte, durchzusetzen, aber in seinen Ausfuhrungen zur Gestaltungsweise berief er sich kaum mehr auf ihn. Carlo Lodoli hatte in seinen in Venedig 1750/60 gehaltenen Vorlesungen offenbar eine Art historischen Relativismus zu begründen versucht. Wenn die Ägypter nach Griechen und Römern geherrscht hätten, würde man in ihrer Nachfolge Pyramiden und Hieroglyphen imitieren und nicht die fünf Ordnungen. Zugleich richtete er sich gegen die von Vitruv propagierte Vorstellung, die Formen entstünden aus der Nachahmung von Vorbildern in der Natur. Vielmehr verdankten sie ihre Existenz der Erfindung der Menschen. Hier hatte die alte Kontroverse um die Bedeutung der Nachahmung des Naturvorbildes eine neue Wendung erhalten, die stärker die schöpferische Kraft des Architekten in den Mittelpunkt stellte. Der Meister der „Revolutionsarchitektur", Etienne-Louis Boullée, führte diese Vorstellung weiter aus. Denn für ihn bildete Architektur eine konzeptionelle Kunst schlechthin. Erst entsteht die Idee, dann folgt das Bauen. Der Vorgang stellte nicht eine simple Nachahmung der Natur dar, wie es Vitruv in der Geschichte der Urhütte angedeutet hatte. Vitruv als Vorbild oder als Verkünder bestimmter unangreifbarer Regeln hatte seine verbindliche Kraft damit endgültig verloren. Zugleich wurde seine Autorität von anderer Seite grundlegend in Frage gestellt. Denn in dieser Zeit führten die Entdeckungen der Dilettanti in Griechenland zu einem tiefen Einschnitt. James Stuart und Nicholas Revett brachten 1762 den ersten Band der „Antiquities of Athens" heraus und ca. ein Jahrzehnt zuvor waren die Tempel in Paestum als eigenständige Leistungen der griechischen Kultur wahrgenommen worden. Damit tat sich auf einmal hinter der römischen Architektur ein neuer Horizont auf, auf den die Schrift Vitruvs bei aller Begeisterung fur die griechischen Vorbilder nicht hingeführt hatte. Seine Ausführungen mussten deshalb zunehmend problematisch erscheinen, zumal seine Autorität als Lehrmeister einer architektonischen Ästhetik in der

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steten Diskussion der Jahrhunderte zuvor gelitten hatte. Johann Joachim Winckelmann äußerte sich in einem viel zitierten Brief an dem Maler Heinrich Fuessli 1767 ganz abfallig über den antiken Architekturtheoretiker, und konstatierte „Schusterstil, Unordnung im Entwurf des Werkes, kindische Einfalt und wenig verdaute Kenntnis der Harmonie". Auch Johann Wolfgang Goethe griff im Grunde nur aus Begeisterung für Palladio zu Vitruv. Damit war der Ausgangspunkt fiir eine erneute Annäherung an dessen Werk gegeben. Wenn die „Architectura" nicht mehr primär als Richtschnur, Anhaltspunkt und Quelle für eine Theorie des Schönen in der Baukunst diente, öffnete sich der Weg fiir ein Verständnis, das ihn als historische Quelle verstand. In diese Richtung ging schon die 1836 in Rom erschienene Ausgabe von Aloisio Marini. Zu nennen wären in der Folge eine Fülle von Ausgaben, Kommentaren und Ubersetzungen, unter denen Francois-Auguste Choisy mit seiner 1909 in Paris erschienenen Ubersetzung und Kommentierung des Werkes einen entscheidenden Schritt trat. Die Schrift Vitruvs entfaltete ihre Wirkung immer dann am stärksten, wenn sie als Instrument gegen eine vorherrschende Tradition oder Doktrin diente und damit eine aufklärerische Wirkung gewann. Das Paradox aber lag darin, dass sie zu der Verteidigung einer bestimmten Gestaltungsweise zwar immer wieder angeführt wurde, aber dazu kaum taugte, weil ihr selbst zu viele Widersprüche und Mängel anhafteten und weil ihr Horizont in der Bindung an ein bestimmtes Repertoire an Bauten allzu beschränkt blieb. In diesem Spannungsverhältnis ist Vitruv sehr wohl als Lehrer zu verstehen, vielleicht deshalb gerade so stark, weil er klugen und selbst bewussten Schülern den Anstoß zur Formung eines eigenen intellektuellen und künstlerischen Profils verhalf.

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Plinius der Ältere (23/24-79 n. Chr.) VON KLAUS SALLMANN

Das Wort .Lehrer' verbindet sich in der Regel mit dem Begriff .Bücher'. Lehrer schreiben Bücher oder empfehlen sie oder benutzen zumindest Lehrbücher, am liebsten selbst verfasste, besonders wenn sich der Autor auch als Forscher fühlt und betätigt. Gelehrte Bücher der Forschung wollen ebenfalls gelesen sein. Aber wer liest und versteht sie - außer den Fachkollegen? Es ist fast paradox: je gelehrter Bücher sind, desto geringer ist die Zahl der Leser und desto weniger kann der Laie damit anfangen, selbst wenn er am Fortschritt der Wissenschaft interessiert ist. Alle reden von Albert Einsteins .Allgemeiner Relativitätstheorie' von 1915, aber wer hat den Text gesehen? Wer kann dem Inhalt folgen? Als Vermittler zwischen spezialisierter Forschung und allgemeinem Verständnis wurde der Wissenschaftsjournalismus erfunden. Hoimar von Ditfurth konnte die Kosmogonie so erklären, dass es der gebildete Interessent versteht und sogar das Gefühl bekommt, ganz dicht die moderne Forschung zu berühren. Allein, der Spezialist wird die Nase über derartige .Pädagogik' rümpfen. Wenn er weiterdenkt, wird er den Wert dieser Umsetzung des Kerns seiner Forschung in Allgemeinwissen schätzen, wie der Leser seinem Lehrer dafür dankbar bleibt, die Tür zu einem Wissen geöffnet zu haben, das ihm sonst immer verschlossen geblieben wäre. Ein solcher Lehrer war der römische Gelehrte, um den es hier geht. Seine Naturalis historia (Naturgeschichte, Naturkunde, im Folgenden abgekürzt Nat.) ist ein zunächst abschreckend dickleibiges Werk, das größte vollständig erhaltene aus der römischen Antike überhaupt; aber der mutige Leser wird für ihn Wichtiges darin finden. Plinius selbst untertreibt wohl beträchtlich, wenn er im Vorwort bekennt (Nat. Vw. 6), er schreibe für die unteren Volksschichten, für die Masse der Bauern und Arbeiter, und für Müßiggänger, die mit ihrer Zeit nichts besseres anzufangen wüssten. Und im gleichen Atemzuge widmet er sein Opus dem Sohn des Kaisers Vespasian, dem Prinzen Titus. Immerhin, der trivial-handfeste Stoff einer Naturbeschreibung setzt dem Schwierigkeitsgrad Grenzen, aber auch der Auswahl des Materials. Nicht Philosophie, Medizin oder Biologie will Plinius seine Klientel lehren, sie nicht mit Theorie versorgen; - das besorgen die Fachwissenschaften. Aber er möchte Lebenshilfe leisten und dem Römer dabei helfen, sich im praktischen Leben der Welt zurecht-

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zufinden, die Welt zu verstehen und angemessen zu nutzen. Dieses Ziel verleiht dem Werk ein Profil, das über die enzyklopädische Wissensvermittlung (die natürlich auch stattfindet) hinausgreift und zu einem hohen erzieherischen Ethos verpflichtet. Der Nutzen dieser Handreichung (utilitas iuvandi) müsse höher stehen, sagt er im Vorwort, als der Reiz, den Lesern zu gefallen (gratia placendi) und berühmt zu werden (Nat. Vw. 16). Dieser Verlockung sei z. B. der bekannte Rom-Historiker Livius erlegen, dessen gewaltiges Geschichtswerk, das unter Kaiser Augustus erschienen war, dem ,Naturalisten* vielleicht allzu elegant und poliert vorkam. Wie dem auch sei, ernstgemeinte Lehre ist nie spaßig, und ohne Geduld mit seinem Schüler, ohne eine gewisse Zähigkeit bei den Durststrecken wird ein Lehrer seine Mission kaum erfüllen können. Damit betritt Plinius geradewegs das Hauptproblem der Wissensvermittlung: Wie literarisch darfein Lehrbuch sein? Sollte es sein, muss es sein? Aber davon später. Die dem Ritterstand zugehörende Familie der Plinier war in Novum Comum (Como) am Corner See ansässig. Diese Region war damals im 1. Jahrhundert n. Chr. zur Zeit der Kaiser Tiberius, Claudius, Nero und Vespasian noch nicht Teil Italiens, sondern hieß, obwohl seit langem romanisiert, als Teil der Provinz Gallia citerior Gallia Transpadana. Ihre lateinisch sprechenden Bewohner galten als ehrliche, biedere und zuverlässige Staatsbürger. Dazu zählte auch der gescholtene Livius aus Patavium (Padua), dem man in der Tat schon zu Lebzeiten eine gewisse Provinzialität nach sagte {patavinitas). Aber auch der große Vergil kam aus dem Norden (Mantua), und Plinius selbst nennt den kraftvollen Dichter Catull, der aus Verona stammte, seinen Landsmann {conterraneus, Nat. Vw. 1). Aus dem im Jahre 23/24 n. Chr. unter Tiberius geborenen C. Plinius Secundus wird in der Tat ein tüchtiger Offizier, ein loyaler Höherer Verwaltungsbeamter - und ein engagierte Forscher von unendlichem Fleiß, und dazu Vermittler seines Wissens in zahlreichen Büchern. Eine derartige Persönlichkeit verdient es schon, als Lehrer Europas respektiert zu werden. Hinzu kommt eine kluge und zurückhaltende, politisch und sozial vernünftige Haltung als Mensch. Wir hören von keinen Feinden oder Machenschaften, wohl aber, dass es ihm gelang, anders als dem Philosophen Seneca, dem General und Politiker Afranius Burrus oder dem Feldherrn Domitius Corbulo, die gefährlichen Willkürjahre des exzentrischen Kaisers Nero, des .Feindes der Menschheit' (Nat. 7,46) unbeschadet durchzustehen. Gleichwohl war er kein leisetretender Hinterbänkler. Im Gegenteil, dem Kaiserhause wohlbekannt, lebte er im Umkreis des alten Claudius und des jungen Nero während dessen ersten fünf .Goldener

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Jahre', Dann aber pflegte er mit den Flaviern eine echte Freundschaft, war mit dem jungen Titus, Vespasians Sohn, der etwa fünfzehn Jahre jünger war, gemeinsam im Feldlager (contubernium, Nat. Vw.3), und ihm als dem Kaiser der Zukunft - von Titus' frühem Tode ahnte er nichts - schenkt er im Jahre 77 die 37 Bücher der Naturalis historia. Kennzeichnend für seine Menschlichkeit mag sein, dass er im Alter seine verwitwete Schwester Plinia und deren heranwachsenden Sohn, den jüngeren Plinius, in sein Haus aufnahm; er selbst, der fast ständig Dienst im Ausland tat, war offenbar nicht verheiratet. Den Neffen unterrichtete er, adoptierte ihn im Testament, erfuhr seine Verehrung und Dankbarkeit. Der jüngere Plinius setzte dem Leben und Sterben des Onkels in seinen berühmten Briefen (im Folgenden abgekürzt Epist.) ein lebensvolles Denkmal. Anschaulich schildert er den verhängnisvollen 25. August 79, als der große Mann bei einem Rettungsunternehmen mit 56 Jahren sein Leben ließ. Plinius' unauffällige Leistungsstärke, sein stilles Heldentum, sein unerschütterliches Pflichtbewusstsein erscheint heute den meisten als sympathisch, vielleicht sogar ideal, aber man muss wissen, dass dies die neue Tugend unter Roms neuen Herrschern war, die nicht duldeten, im Schatten der überdurchschnittlichen Erfolge anderer zu stehen. Das musste schon der Statthalter Britanniens Iulius Agricola erfahren, wie sein Schwiegersohn Tacitus einleuchtend dargestellt hat. Plinius war vermutlich schon in früher Jugend nach Rom gekommen, hatte den üblichen Bildungsweg durchlaufen und war standesgemäß etwa 20jährig Soldat geworden. Die dreijährige Militärzeit führte ihn als Anfuhrer einer Reiterabteilung nach Obergermanien, das sich damals von Koblenz über die Schweiz bis Burgund hinein erstreckte; Operationsgebiet war aber die Nordgrenze nach Hessen. Unter dem Feldherrn Cn. Domitius Corbulo kämpft er sogar gegen die Chauken in Ostfriesland. Das war im Jahre 47; 50/51 steht er mit dem kaiserlichen Legaten P. Pomponius Secundus im Chattenland (Hessen), lange vor der Errichtung des Limes. Der Traum von einem Römerreich bis zur Elbe war noch nicht ausgeträumt. Vielleicht hat es Plinius auch zum Lagerpräfekten gebracht; jedenfalls fand sich im Gelände von Castra Vetera (Xanten) auf dem Blechstück eines Pferdegeschirrs die Inschrift PLINIO PRAEF.

Danach arbeitet Plinius als Anwalt (patronus) in Rom und beginnt seine Karriere als Prokurator (Finanzverwalter in den Provinzen). Als Nero die Regierung 54 übernahm, ist Plinius als Prokurator in Afrika Nova (Tunesien), vielleicht dann auch in anderen Provinzen, mit Sicherheit aber wieder unter Kaiser

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Vespasian nach Neros erzwungenem Freitod im Jahre 69. Der berühmte Biograph Sueton, aus dessen Feder sich auch Reste einer Pliniusvita erhalten haben, erwähnt splendidissimas et continuas procurationes (glänzende Prokuratien in Folge), die er mit .äußerster Integrität' wahrgenommen habe. Einige Stationen sind zufallig bekannt: Narbonensis (Südfrankreich), Tarraconensis (Nordhälfte Spaniens), Belgica (Nordfrankreich bis nach Trier und zur Maas), aber wahrscheinlich waren es weitaus mehr. Die letzten drei Lebensjahre fungiert er, der ehemalige Reiteroffizier, als Kommandeur der römischen Westflotte mit Standort Misenum (Miseno) am Golf von Neapel, eine ehrenvolle Spitzenposition, deren es damals nur zwei gab. Von kriegerischen Unternehmen ist nichts überliefert; der ewig Wissbegierige setzte in seiner Dienstwohnung in Hausgemeinschaft mit der Schwester und deren Sohn seine Studien und seine Erziehungsarbeit fort. Die Anwesenheit des Neffen, der selbst ein großartiger Autor werden sollte, bedeutet für den modernen Biographen einen unglaublichen Glücksfall; er hat den Tod des Onkels und seine Geisteshaltung in höchster Gefahr genau beschrieben und diesen Text an den Historiker Tacitus zur Weiterverarbeitung geschickt. Aber der als Brief gestaltete Bericht (Epist. 6,16) ist so perfekt und, aus zwanzigjährigem Abstand heraus, so ausdrucksvoll gestaltet, dass Tacitus auf eine weitere Darstellung, wenn der jüngere Plinius denn wirklich eine solche intendiert hat, verzichtete. Der Ruhm des großen römischen Lehrers der Naturwelt, könnte man fast sagen, leitet sich von seinem Tod im Aschenregen des Vesuvs her. Die Legende, Plinius sei ein Opfer seines Forschungseifers geworden, spukt sogar noch im Internet. Richtig ist zwar, dass der Neffe zu Anfang seinen Onkel als aufmerksamen Betrachter der ungewöhnlichen Rauchwolke am Osthimmel von Misenum einfuhrt. Gleichwohl darf man sich den gelehrten Flottenadmiral nicht als notorischen Naturbeobachter im modernen Sinne vorstellen. Gelehrt wurde man damals - und weitgehend heute noch - durch Lesen. Als der Vulkan ausbrach, hatte Plinius tatsächlich auf seiner Kline gelegen und gelesen; erst seine Schwester hat ihn auf das bedenkliche Phänomen hingewiesen. Daraufhin zieht er sich die Schuhe an und nimmt von einem mit Bedacht gewählten Standpunkt aus den Eruptionspilz in Augenschein, eine baumförmige Wolke, die der Neffe gedanken- und detailreich beschreibt. Angst hat niemand, und Plinius meint, man solle sich das Wunder der Natur von Nahem anschauen. Er ordert ein schnelles Leichtboot (liburnica) und stellt dem 18-Jährigen frei, mitzukommen; der aber zieht es vor, seinen vom Onkel aufgetragenen Hausaufgaben nachzukommen, also zu studieren, wie es der Onkel selbst eben noch getan hatte, eben weil es, wie man damals glaubte, über Probieren geht. Als

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dieser mit seinem Schreibzeug an Bord gehen will, erreichen ihn Boten vom Küstenstrich unterhalb des Vesuvs mit der Aufforderung, Hilfe von der See aus zu leisten, da zu Land kein Fortkommen mehr möglich sei. Der Neffe konstatiert noch, dass der Onkel sofort seinen Plan ändert und seine Rolle tauscht: Aus dem wissbegierigen Beobachter der Natur wird der unerschrockene Helfer des Menschen, der nun mit einigen schweren Vierruderern die Evakuierungsmaßnahme einleitet. Mit dem Spruch „Dem Tapferen hilft das Glück!" nimmt er Kurs auf ein noch erreichbares Anwesen bei Stabiä, lässt dort alles Gepäck ins Schiff schaffen, kann aber bei widriger See nicht auslaufen. Der Neffe, der dies alles später erfahrt, malt Plinus als den weisen Herren der Lage und ruhenden Pol in der Panik. Plinius badet und speist, geht schlafen - man hört das Schnaufen des beleibten Mannes an der Tür. Von den Verängstigten geweckt, beruhigt er sie mit der Ausrede, die Brände ringsum seien von den Fliehenden verursacht, da sie die Küchenherde nicht gelöscht hätten, gibt aber schließlich die Anweisung, mit Kissen gegen den vulkanischen Niederschlag geschützt, den Strand aufzusuchen. Er selbst bricht, als er die Lage prüft, in den Armen seiner Begleiter zusammen und bleibt zurück. Drei Tage später findet man ihn, entspannt liegend wie einen, der ausruht, nicht gestorben ist. Der Berichterstatter hat sicher nichts verfalschen wollen; aber man kann nicht übersehen, dass hier ein pietätvoll überhöhtes Porträt vorgestellt wurde: Plinius der Nothelfer, der unerschütterliche Philosoph, der selbstlose Heros ohne Todesfurcht. Der Briefschreiber setzte ein Denkmal für einen großen Römer, einen idealen Staatsbürger, einen der großen Charaktere der Kaiserzeit, ein Bild, das auch zur Zeit Trajans, als der Neffe schrieb, hell aufleuchten musste, zumal bei diesem Kaiser vor allem soldatische Tugenden galten. Ein Bildnis des Plinius hat das Altertum nicht überliefert, nicht einmal auf einer Münze. So wirkt die Gloriole des literarischen Porträts bis heute, mit Recht, auch wenn das Werk dieses Mannes heutigen Ansprüchen nicht mehr genügt und sich selbst in der Philologie nur mit Mühe halten kann. Zu schämen braucht sich Europa eines solchen Lehrers nicht. Das besondere Profil dieses Lehrers gilt es nun, ehrlich und genau in den Blick zu nehmen. Wie kann überhaupt ein so vielbeschäftigter Offizier und Staatsdiener auch noch Gelehrter und Lehrer sein, Verfasser vieler z.T. dickleibiger Bücher? Derartige Doppelbegabungen sind heute selten und waren wohl nie sehr häufig. Der Komponist Heinrich Schütz war eigentlich Jurist, der Musiker Alexander Borodin Chemieprofessor. Wirklich vergleichbar sind sie als Künstler mit Plinius nicht, bei dem es auch weniger um Berufe als um Lebensformen geht. Man könnte an Varro denken, den Plinius sehr hoch

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geschätzt, vielfaltig literarisch verarbeitet hat und sicher als Geistesverwandten ansah. Tatsächlich feiert er Varro, dessen Statue als einzige eines Lebenden in der ersten öffentlichen Privatbibliothek Roms errichtet wurde (Nat. 7,115), der aber auch die hohe politische Ehre der corona navalis (.Schiffskranz') erhielt (Nat. 16,7). Aber Varros politische Tätigkeit war eher episodenhaft, er war mehr Forscher als Lehrer. Die Parallelisierung der frühen Kaiserzeit mit der ausgehenden Republik hat auch sonst ihre Schwierigkeiten. Vielleicht liegt Cicero noch näher, der, von der Mission der Vermittlung griechischer Philosophie durchdrungen, als hochrangiger Politiker zum bedeutendsten Lehrer Europas geworden ist. Plinius lobt Ciceros publizistische Ehrlichkeit bei der Angabe seiner literarischen Quellen (Nat. Vw. 22) - das war damals keineswegs selbstverständlich - und widmet ihm eine Eloge dort, wo er in der .Menschenkunde' als Teil der Naturkunde das Phänomen ,Ruhm' untersucht (Nat. 7,116- 117): Bei allem Gewicht der politischen und forensischen Leistung habe Cicero als höchsten Siegeskranz den der Wissenschaft errungen, da es viel mehr sei, die Grenzen des Geistes als die des Reiches erweitert zu haben. Mag sein, dass Plinius hierbei auch ein bisschen an sich selbst dachte oder wenigstens eine vergleichbare Anerkennung erhoffte. Auffallend auch, dass Augustus ausdrücklich dafür gerühmt wird, dass er entgegen der testamentarischen Anweisung des Verfassers Vergils ,Aneis' nicht vernichtete, sondern durch die Veröffentlichung die allzu große Bescheidenheit des Dichters in um so größere Beachtung verwandelte (Nat. 7,114). Hegte Plinius ähnliche Träume? Größeren Wert legt er jedenfalls auf die Feststellung, dass seine umfangreichen Studien niemals auf Kosten seiner professionellen Dienstpflichten gegangen seien. „Wir sind Menschen," bekennt er im Vorwort der Nat. (Vw. 18), „und von Pflichten beansprucht, und diese Arbeiten betreibe ich in ausgesparter Zeit, d. h. in der Nacht. Es soll also niemand am Kaiserhof auch nur meinen, ich hätte diese Stunden vertrödelt. Die Tage wenden wir für euch auf, mit dem Schlaf rechnen wir unsere Kondition auf. Ja, wir geben uns mit der einzigen Belohnung zufrieden, dass wir mehr Stunden leben, wenn wir geistig tätig sind, wie doch schon M. Varro sagte. Denn wirklich leben heißt wach sein." Was das praktisch bedeutet, beschreibt das andere Porträt, das der Neffe von seinem Wissen sammelnden Onkel in bewundernden Farben gemalt hat (Epist. 3,5). Danach war er ein studienbesessener Mensch, der las und las, vorlesen und notieren ließ und die Fähigkeit besaß, die Unmenge der Nótate auch zu verwalten und zu verwerten. Plinius ist der erste Lehrer Europas, der so offen Einblick in seine Arbeitstechnik gewährt.

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Er war also Nachtarbeiter, las und schrieb schon vor Tagesanbruch bei Lampenlicht. Weshalb man die Etikettierung der Nat. als .Studierlampenbuch' (Theodor Mommsen 1884) nicht so negativ verstehen muss, wie sie gemeint war. Feldforschung oder gar experimentelle Laborarbeit war damals und noch viele Jahrhunderte später unüblich und galten, wo sie doch einmal angewandt wurden, oft als ungelehrt und unwissenschaftlich. Die Folge war unausweichlich: ein positiver Wissenschaftsfortschritt stellte sich kaum ein, - bestenfalls in der geographischen Länderkunde, deren Horizont durch Feldzüge und Berichte von Handelsreisenden Erweiterung erfuhr. Vielmehr galt es, die reichen Quellen der griechischen Wissenschaft zu transkribieren, neu für eine römische Leserschaft zu arrangieren, aus verschiedenen Autoren zu kompilieren, - eine immense Arbeit, und Plinius nutzte jede Gelegenheit, wenn auch seine Arbeit heutigen Maßstäben nicht mehr genügt. Ein .liederlicher Kompilator' (Theodor Mommsen 1887) war er deswegen nicht, eher ein pedantischer Archivar. Wenn ihm vormittags nach der obligaten Aufwartung beim Kaiser und der Erledigung der Amtsroutine noch Zeit blieb, wurde studiert, ebenso nach dem - leichten! - Mittagsessen, beim Sonnenbad, dann wieder nach dem Kaltbad, Imbiss und Kurzschlaf bis zur Abendmahlzeit (cena), ja sogar während der Cena wurde der Vorleser bemüht und während des Abtrocknens nach dem Bade: stets war ein Schreibsklave zugegen, der die gewünschten Zitate in eine Art Kladde eintrug, auch auf Reisen, selbst im Winter mit Handschuhen im Reisewagen (Epist. 3,5,10-16). Deshalb bevorzugte Plinius in Rom den Luxus einer Sänfte, die Studieren ermöglichte. Eine manische Lesegier - falls der liebe Neffe nicht übertreibt -, die uns fast peinlich berührt und nicht unbedingt kritische Beurteilung des Gelesenen vermuten lässt. Und Plinius' Maxime scheint es zu bestätigen: „Kein Buch ist so schlecht, dass man nicht irgendetwas daraus lernen könnte." (Epist. 3,5,19) Aber ob ein Buch etwas taugt, weiß erst der, der es wirklich gelesen hat, und dieser Mühe wich der gewissenhafte Plinius nicht aus. Das war sicher eine arbeitsintensive Form des literarischen Wissenschaftspositivismus; aber sie ergab ein Datenarchiv, das in einer Zeit, die keine bürotechnischen Hilfsmittel, geschweige denn eine elektronischen Datenverwaltung kannte, eine geradezu revolutionäre Herausforderung gewesen sein muss, zumal die Abrufbarkeit des Inputs zu organisieren war. Nach dem Tode des Gelehrten übernahm der Neffe diese einmalige Datei von 160 commentarir. Schriftcorpora mit Exzerpten und Zitaten auf beidseitig eng beschriebenen Papyrusseiten, die wohl handlicher waren als traditionelle Rollen (volumina) oder Kladden (codices, Epist. 3,5,17). Für diesen geistigen Thesaurus bot ein Kollege während der Prokuratie in Hispania - Plinius nahm seinen Schreibtisch

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offenbar überall hin mit - eine Summe von 400 000 Sesterzen, - vergeblich! Allein für die Nat., sagt der Autor im Vorwort (Nat. Vw. 17), habe er 2000 z.T. sehr seltene Werke durchgearbeitet, davon hundert Autoren als Leitquellen bevorzugt. Entsprechend dem wissenschaftsorganisatorischen Sinn für das Praktische und Machbare, hatte Plinius ein Inhalts- und Quellenautorenverzeichnis dem Werk vorangestellt (Nat. 1), wie es in dieser Klarheit bisher niemand getan hatte, sortiert nach Römern und Griechen, und man zählt dort insgesamt etwa 426 griechische und römische Namen. Davon sind zweifellos viele nur indirekt zitiert, da sie bereits in neueren Werken verarbeitet und genannt waren; manche hat Plinius vermutlich nur .diagonal' überflogen. Gleichwohl ist die kompilatorische Leistung unglaublich und Irrtümer sind eigentlich selten, wenn man bedenkt, was im 1. Jahrhundert n. Chr. gewusst und begriffen werden konnte. Nicht selten äußert der Forscher selbst Zweifel an vorgefundenen Nachrichten oder stellt mehrere Möglichkeiten zur Disposition. Unkritisch sollte man ihn darum nicht schelten, da er in der Kette der Falsifikation älterer Erkenntnisse chronologisch doch tief unten steht und zum,Vater unsäglicher Irrtümer' nur dadurch wurde, dass seine Autorität bis ins 17. Jahrhundert hinein so viel gegolten hat. Man darf eben von ihm nicht die Lehre eines heliozentrischen Planetensystems verlangen, dessen Durchsetzung erst Jahrhunderte später und auf schmerzhaften Umwegen gelang. Immerhin ist die richtige Wiedergabe und Anerkennung der eratosthenischen Erdumfangsmessung (Nat.2, 247) ein Beispiel fiir einen entschlossenen Wirklichkeitssinn, und dass dieses Wissen, ja sogar die Kugelgestallt der Erde, bei solchen Leuten, die Nat. 2 nicht lasen, verloren ging, ist Plinius nicht anzulasten. Dass seiner Akribie dennoch manches entging, wusste er selbst und bekennt sich im Vorwort der Nat. zu seiner menschlichen Unzulänglichkeit, fugt aber nicht ohne Stolz hinzu, er habe den Wissensschatz der Menschheit durch manche Neuigkeit, meist aufgrund eigener Erfahrung, vermehren können. Hätte seine Methode doch Schule gemacht! Sechs Jahrhunderte später hat der Bischof Isidor von Sevilla (etwa 570-636) eine vergleichbare Datensammlung unter dem Titel „Ursprünge" (Etymologiae) vorgelegt und sich dabei beträchtlich auf Plinius gestützt. Nur: Isidor wollte nicht seine Zeitgenossen bilden, keinem künftigen Kaiser ein geistiges Vermächtnis übergeben, um ihn zu einem gelehrten Herrscher zu machen. Isidor schuf ein Museum, in dem er die begrifflichen Überreste der Antike sammelte, korrekt etikettierte und als Konservat ausstellte. Aus der Naturbeschreibung wurde Etymologie, aus einem Weltbild ein Archiv, aus lebendiger Philosophie formale Philologie, wie Seneca einmal in anderem Zusammenhang sagte (Epistulae morales 108,26).

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Nicht, dass man Plinius' Leistung verkannt hätte. Letztlich blieb er bis zur europäischen Aufklärung die maßgebliche, aber nur zögernd herangezogene Autorität für das Wissen um die Natur. Was ausblieb, war die Aneignung seines Wissenschaftsethos' und der Kapazität des Gesamthorizontes; so gab es keine Fortsetzung auf diesem Weg in die Naturerkenntnis. Statt dessen wurde sein Jahrhundertwerk gern als Lieferant für interessante Raritäten und sensationelle Absonderlichkeiten, z. B. „Paradoxa" von Völkern am Rand der Oikumene, missbraucht und in ein zweifelhaftes Licht gesetzt. Dieser Trend setzt schon früh ein. Etwa siebzigJahre nach Plinius' Tod veröffentlichte Aulus Gellius, ein römisch und griechisch belesener Literat mit Volksbildungsambitionen, ein Großwerk in 20 Büchern mit dem blumigen Titel „Attische Nächte". Darin versammelte er zahlreiche Leseproben aus Philosophie, Rechtskunde, Grammatik, Dichtung, Naturwissenschaft und anderen Disziplinen, deren Summe eine solide Allgemeinbildung des gehobenen Römers ergeben sollte. Im Grunde kein schlechter Gedanke, zumal Gellius die Auszüge mit ansprechenden Rahmenepisoden garnierte. Wo aber Plinius die Natur selbst erfassen und wirken lassen wollte - rerum natura, hoc est vita, narratur{Nat. Vw.13), bringt Gellius bare Literatur, angenehme Unterhaltung mit Niveau, und Plinius, den Gellius in höchsten Tönen rühmt, durfte dazu beisteuern, was man sich über die magische Augenkraft afrikanischer Völker erzählte, deren Blicke töten können, oder Unglaubliches von hundsköpfigen Indern, Einäugern, Knieläufern, Fellmenschen, Pygmäen, Hermaphroditen und transsexuellen Vorgängen. (Gell. 9,4,7-10; 13-16). Doch Plinius hatte, schon zum eigenen Schutz, seine Gewährsmänner angegeben; Gellius exzerpiert dies alles ohne Überprüfung aus „Plinius Buch 7" (der sog. Anthropologie), weil er wusste, dass solche Miraculosa stets offene Ohren finden, auch oder gerade weil sie als .unerhört' deklariert, aber genüsslich erzählt werden. Später behauptet er sogar, beim Schreiben habe ihn eine Abscheu vor solch ungeeignetem Stoff ergriffen, der nichts zur Steigerung der Lebensqualität beitrage; doch sei es unbedingt naheliegend, den großen Plinius ausführlich zu zitieren. So kann es ernsthaften Materialsammlungen ergehen; auch heute ist ein Autor in solchen Fällen noch weitgehend machtlos, etwa wenn aus einem guten Roman oder Drama ein Film gemacht wird, der die Handlung in Richtung Spannung, Popularität oder Erotik verschiebt. Ahnliches geschah ein Jahrhundert nach Gellius noch einmal, als ein nicht weiter bekannter Solinus ein nicht eben umfängliches Buch über „Denkwürdigkeiten" (Collectanea rerum memorabilium) zusammenschrieb, dessen zweiter .geographischer' Teil sich von der gesamten Nat. ernährt, ein billiges, leichtgestricktes Sensationsbuch, das im

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Mittelalter sogar vielfach an Plinius' Stelle trat. Das hat der Autor der Nat. sicher nicht verdient; aber man fragt sich, ob Plinius überhaupt jemals Leser gefunden hat, die in der Lage waren, auf die Idee seiner Lehre einzugehen, bis heute! In Wahrheit griff das Interesse des Mannes, der flir die Nachwelt als .Naturkundler' (engl, naturalist) geläufig wurde, viel weiter in fast alle Bereiche der Lebenspraxis. Als Reiteroffizier hatte er in seinen frühen Zwanzigern eine Lehrschrift über den .Speerwurf zu Pferde' (De iaculatione equestri) erscheinen lassen, und zu Recht wird die Erkenntnis des jungen Anfuhrers vermutet, dass die Auseinandersetzung mit den Germanen eine neue kavalleristische Taktik erzwungen hatte. Auf Germanien bezieht sich auch ein großes Geschichtswerk „Die Germanenkriege" (Bella Germaniae) in 20 Büchern, in welchen Plinius die Rehabilitierung des älteren (Claudius) Drusus betrieb, der 9 v. Chr. an der Elbe gefallen war und postum den Ehrennamen Germanicus erhalten hatte. Als Traumvision hatte er sich an den aufstrebenden und begabten Offizier Plinius gewandt, weil sein Ruhm als Eroberer Germaniens im weitesten Sinne durch seinen Bruder und späteren Kaiser Tiberius sowie durch dessen Söhne Drusus (den jüngeren) und Germanicus (eigentlich leiblicher Sohn des älteren Drusus, von Tiberius adoptiert) zu verblassen drohte. Um das Verdienst des Drusus in Relation zu anderen Feldherren zu setzen, rekapitulierte Plinius alle römischen Germanenkriege von Anfang, also von den Kimbern und Teutonen an, mehr als anderthalb Jahrhunderte zurück. Dieselbe pietätvolle Gewissenhaftigkeit wird ihm im Fall der Gedenkschrift für seinen älteren Freund, den dramatischen Dichter P. Pomponius Secundus, bescheinigt (De vita Pomponii Secundi, 2 Bücher), unter dessen Legat er in Germania Superior gedient hatte, der aber 51/52 gegen die Chatten gefallen war. Eine politische Mission, nämlich proflavische Werbung, verfolgten vermutlich auch die „Historien seit Aufidius Bassus" (Ab Aufidio Basso historiae) in 31 Büchern; vom Inhalt - die römische Geschichte seit 47 n. Chr., wo wahrscheinlich die Darstellung des Vorläufers Bassus aufgehört hatte - ist leider nichts bekannt, doch steckt von ihr vielleicht mehr in Tacitus' Historiae als wir ahnen. Als die Nat. im Jahre 77 herauskam, war dieses offenbar sehr persönlich konzipierte Geschichtswerk noch unveröffentlicht (Nat. Vw.20), da es erst vom Erben herausgebracht werden sollte. Vielleicht eine Vorsichtsmaßnahme des Staatsdieners, der sich nicht dem Verdacht aussetzen wollte, sich durch die Hervorhebung Vespasians Vorteile zu verschaffen. Eher objektiv gehaltene Fleißarbeiten waren die beiden sprachorientierten Werke. Sicher dienten auch sie dem plinianischen Bildungsideal, aber diese

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unverfänglichen technischen Schriften sollten auch die heikle Epoche Neros zu überdauern helfen. Da ist zum einen eine ausfuhrliche und vollständige Rhetorikschule „Der Wissbegierige" (Studiosus) in drei Büchern, die aber wegen ihres Umfangs auf sechs Rollen geschrieben werden mussten. Was Gellius (9, 16) daraus mitteilt, läßt u. a. auf verzwickte Rechtsfälle schließen; hier ein Beispiel: „Ein verdienter Mann soll eine Belohnung eigener Wahl erhalten. Der Hochverdiente fordert die Gattin eines anderen zur Ehefrau und erhält sie. Aber der andere, dessen Frau jene gewesen war, erwirbt ebenfalls hohe Verdienste und fordert sie zurück. Es erfolgt Einspruch." Plinius zitiert das Argument des zweiten Mannes: „Wenn die Regel gilt, gib sie zurück; gilt sie nicht, gib sie zurück." Allerdings setzt nun Gellius mit der Umkehrung des Arguments fort: „Der erste Mann hätte nun sagen können: Wenn die Regel gilt, gebe ich sie nicht zurück; gilt sie nicht, gebe ich sie nicht zurück." Aber auch minutiöse Vorschriften für die Äußerlichkeiten des Rednerauftritts finden sich, z. B. dass man darauf achten solle, sich beim Betupfen der schweißnassen Stirn mit dem Taschentuch nicht die Frisur zu beschädigen (Quintilian, Institutio 11,3,148). Das andere Werk lebte geradezu von Details, nämlich von der Erklärung gewisser Wörter mit unsicherer Bedeutung und von ungewisser Herkunft (Dubius sermo). Dazu muss man wissen, dass das Ringen um die eigene Sprachrichtigkeit spätestens seit Stilo und Varro eine lange Tradition in der römischen Grammatik und Rhetorik hatte, ja, schon fast ein Politikum war; selbst Iulius Caesar hatte versucht, eine eigene Sprachnorm durchzusetzen. Die späten Grammatiker, besonders Charisius Sosipater im 4. Jahrhundert, haben so viel aus Plinius' verlorenem Werk Dubius sermo entnommen, dass man sich ein gutes Bild davon machen kann, wie willkürlich die lebendige Rede in der Formenlehre, Semantik und Syntax verfuhr; ähnlich mag es im Deutschen vor Konrad Duden ausgesehen haben. Skrupulös versucht Plinius, Systematiken {analogia) aufzuspüren und anzuwenden, ohne pedantisch zu werden. Er lässt üblich gewordene Ausnahmen zu, sagt sogar einmal (beim Grammatiker Sergius, commentum, Kap. .Barbarismus'): „Es wäre ein Barbarismus, wenn eine Sprechweise gewaltsam der Natürlichkeit widerspricht." Das letzte und einzige erhaltene Werk legt nun von demselben vernünftigen Sinn für das Reale, Brauch- und Machbare Zeugnis ab. Die Nat. hat nicht die menschliche Geschichte und Kultur (zu der auch die Sprache gehört) zum Thema, sondern „die Natur der Welt (rerum natura), d. h. das Leben (vita, die Natur des Menschen) wird erzählt" (Nat. Vw.12). Kein Stoff, der Gelegenheit zu stilvoller Unterhaltung bietet, sondern oft auf Fremdwörter, Fachausdrücke und Volkssprachliches zurückgreifen muss. Die Gleichsetzung von natura und

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vita erstaunt und hat die Übersetzer verwirrt. Das gewaltige Werk in 37 Büchern durchzieht eben der Gedanke, dass unsere Erde und der Mensch symbiotisch aufeinander bezogen sind. Nicht, als lebte der Mensch in einer paradiesischen Goldenen Zeit. Es gibt naturgegebene Gefahren, Krankheiten, Mühsale; aber die Natur gewährt auch stets die erforderliche Abhilfe, sofern der Mensch diese nur erkennt, anerkennt und anwendet. Ein großer Teil des Gesamtwerks ist daher den Heilmitteln gewidmet, die in Pflanzen, Tieren, auch in Mineralien verborgen sind, sogar im menschlichen Organismus, ja, vielleicht gehört selbst die Sprache dazu (Nat. 28, 10-13), wenn auch Zweifel an der Macht der Magie bleiben (Nat. 30,1-18). Was hingegen die griechischen Arzte für teures Geld künstlich praktizieren, ist samt und sonders widernatürlicher Betrug; darin war sich Plinius mit dem verehrten alten Cato einig (Nat. 29, 1-27). Um so größere Hoffnung setzt er auf die Fortentwicklung der römischen Naturheilkunde. Neu ist daher die Lehre vom Missbrauch einer in ihrer Fürsorge völlig verkannten Natur. Statt mit Pharmaka zu heilen, vergiften die Menschen damit ihre Feinde, vergiften Flüsse (Nat. 18,3), sie bauen aus Balken drehbare Theater und machen die Zuschauer auf den Rängen zu naturentfremdeten Luftschiffern (Nat. 36,117), zerlöchern Mutter Erde beim Ausgraben der Verderben bringenden Metalle (Nat. 33,1-3). Es geht Plinius nicht um die .Bewahrung der Schöpfung', wie den heutigen Fundamentalökologen, sondern um die Feststellung der durch niedere Triebe irregeleiteten Intelligenz des Menschen, ein Faktum, dass den Stoiker zu Ausbrüchen moralischer Entrüstung treibt; weiß er doch um den .Zusammenhang aller Dinge' und um eine göttlichimmanente Natur, die alles um des Menschen willen schuf (Nat. 7,1). Darum verflucht Plinius den Erfinder des Geldes (Nat. 33,42), das zur Habgier verführt. Die SchiffFahrt müsste er in römischer Tradition eigentlich ablehnen, da das Meer keinen dem Menschen natürlicher Lebensraum gewährt; statt dessen feiert er das Wunder des Leinsamens (linum), der jene Fasern wachsen lässt, die, zu Segeln verarbeitet, die Schiffe rasch über das Wasser bewegen (Nat.19,3-5). Um das Wunder zu steigern, teilt er die Rekordzeiten der mittelmeerischen Fernschiffe mit, die er doch eigentlich verachten müsste. Oder spricht hier der stolze Admiral? Man sieht, was Plinius so nebenher mitteilt, ist oft von unschätzbarem Wert. Er liefert eine perfekte Anleitung zur Herstellung von Schreibpapyrus (Nat. 13, 68-83) und kennt das Format und die Qualität der zu verschiedenen Zwecken vorgesehenen Rollen. Beim Thema ,Metalle' schiebt er eine Kulturgeschichte des Fingerrings ein (Nat. 33,8-29), im Anschluss an diese wiederum die Geschichte des Ritterstandes, seines eigenen also, - die Ritter trugen erst eiser-

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ne Fingerringe, dann goldene (Nat. 33,29-36). Im Steinbuch verleitet der Marmor zu einer kunsthistorischen Darstellung der antiken Plastik (36,9-43), entsprechend las man vorher die Geschichte des Bronzegusses (Nat. 34, 15-93). Das Kapitel .Erden' fuhrt zur Farbe und damit zur Geschichte der Malerei (Nat. 35,1-149). Es gibt einen Abschnitt über die antiken Reb- und Weinsorten (Nat. 14, 20-43), einen kurzen Abriss der Geschichte der Medizin (Nat. 29, 2-28), der Geschichte des Geldes (Nat. 33, 42-56), einen Ausflug ins Nordmeer zu den Bernsteininseln (Nat. 37,30-51), ins Südmeer zu den Perlenfischern (Nat. 9,106-123) und vielerlei, was den klar konzipierten Bauplan der Nat. fast vergessen lässt. Der Aufbau ist aber sorgfaltig durchdacht. Dass erste (Register-)Buch nicht mitgerechnet, stehen sich 2 mal 18 Bücher gegenüber. Die erste Hälfte (2-19) gibt eine Beschreibung der Natur an sich (Kosmologie und Geographie 2-6) und ihrer pflanzlichen und tierischen Bewohner, angefangen beim Menschen (7) bis hin zu den kleinen Gewürzkörnern (19). Die andere Werkhälfte (20-37) begreift die Natur als Lebensraum des Menschen und legt das Gewicht auf das, was sie für Gesundheit und Heilung leistet: Pflanzenpharmazie (20-27), aber auch für die Kultur (Bodenschätze im weiteren Sinne bis hin zu dem Edelsteinen, 28-37). Das Werkganze bildet einen Kosmos, der vom Großen und Undifferenzierten (Weltall) fortschreitet zum Kleinsten und Kostbarsten (Gemme) und damit die Botschaft von der gütigen und menschenfreundlichen Natur verkündet, die am Ende emphatisch gegrüßt wird: „Heil dir, Natur, du Schöpferin aller Dinge, und sei mir gewogen, der ich als einziger von allen Menschen (römischen Bürgern) dich in allen Deinen Bestandteilen gefeiert habe!" {Salve, parens rerum omnium Natura, teque nobis Quiritium solis celebratam esse numeris omnibus tuis fave!). Die stoische Naturdeutung erhält hier ein religiöse Überhöhung und einen nationalen Anspruch zugleich. Denn das Schlusskapitel rühmt Italien als schönstes Land unter dem Himmelsgewölbe (Nat. 37, 201-202). Italien habe den Prinzipat der Natur inne als Herrscherin und zweite Mutter der Welt. Die folgende Aufzählung aller natürlichen und kulturellen Vorzüge will Vergils berühmtes Loblied auf Italien noch übertreffen (Georgica 2,136-176). Das sollte man nicht als chauvinistische Prahlerei abtun; denn den zweiten Rang erkennt Plinius neidlos Spanien zu, den dritten Indien außerhalb des Imperium Romanum. Auf dieses großartige Werk allein gründet sich Plinius Nachleben. Und damit geschieht ihm Unrecht, da es von seinem umfassenden geistigen Horizont nur einen Sektor beleuchtet, sicher einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten, da die Nat. das größte und reifste Werk dieses Mannes darstellt, Frucht

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einer lebenslangen Studienarbeit. Immerhin wird der gefestigte Erzieher sichtbar, der ehrliche Forscher, der detailgenaue Beschreiber, der bedächtige Quellenkritiker, der naturverehrende Philosoph, eben eine große Lehrerpersönlichkeit. Aber hat man sie sehen wollen? Hat man sein Werk schon in der Antike nicht eher ausgebeutet als aus ihm gelernt? Nun, dafür war er, so hat man gesagt, die naturwissenschaftliche Instanz schlechthin im Mittelalter. Das ist nicht ganz falsch, aber erheblich übertrieben, wie der Konstanzer Mediävist Arno Borst in seiner großartigen Studie von 1994 über „Das Buch der Naturgeschichte" erwiesen hat, und vieles vom Folgenden wird dieser Studie verdankt. Abgesehen von der Frage, ob die Größe einer Persönlichkeit an der Nachwirkung seiner Werke gemessen werden kann, spricht die Zahl der Abschriften des Nat.-Textes eine klare Sprache. Wegen des Umfangs macht die Nat. große Überlieferungsschwierigkeiten, und es grenzt an ein Wunder, dass sie gleichwohl lückenlos überliefert ist. Einen vollständigen und zuverlässigen Katalog der Plinius-Handschriften gibt es nicht; es dürften so um 150 sein, keineswegs immer vollständige, und die meisten sind spätmittelalterlich. Als Karl der Große einen Plinius komplett abschreiben ließ, war eine vollständige Vorlage offenbar zur Hand. In Bamberg wird noch heute ein Abkömmling der Karlsabschrift wenigstens als großes Fragment verwahrt. Schon über ein Jahrhundert zuvor hatte sich der englische Benediktinermönch Beda Venerabiiis (673-735) in der Abtei Jarrow (bei Newcastle) mit der Nat. so vertraut gemacht, dass man ihn als .wiedererstandenen Plinius' {Plinius redivivus) ehrte. Außer auf Isidor u.a. griff er immer wieder auf Plinius zurück, vor allem auf die Kosmologie (Nat. 2), um durch eine Revision des Zeitrechnungssystems Korrekturen an den Berechnungen des Mönches Dionysius Exiguus vorzunehmen, der im Auftrag des unglücklichen Papstes Johannes I (523-526) einen verbindlichen Kirchenkalender mit Jahresrechnung nach Christi Geburt erarbeitet hatte {De rationepaschae, 526). Bedas Schrift über das .Zeitsystem' {De ratione temporum, zuletzt 725) wurde die maßgebliche Quelle für die mittelalterlichen Umsetzungen des Kirchenkalenders, die sog. Computus-Literatur, und somit zu einem Transportmittel des Plinius. Dessen Name wurde allerdings von den Christen nicht gern genannt, aufgrund eines merkwürdigen Missverständnisses: man hielt ihn für einen Christenverfolger. Vielleicht war der Kirchenvater Hieronymus schuld, in dessen Chronik zum Jahre 108 der Briefwechsel des jüngeren Plinius mit Trajan eingetragen wurde und dessen Beschreibung der Christen von Bithynien, eine polemische Bemerkung Tertullians {Apologeticum 2,6-8, um 200) aufnehmend, als christenfeindlich

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interpretiert wurde. In Wirklichkeit hatte Trajan gerade die Duldung dieser neuen Religionsgemeinschaft empfohlen und angeordnet, nur bei erfolgter Anzeige gerichtlich z. B. gegen die Verweigerung des Kaiseropfers vorzugehen. Da nun Hieronymus zum Jahre 211 auf Plinius Secundus Novocomensis Bezug nimmt, verstand man unter dem vorher erwähnten eben den älteren oder identifizierte gar beide. So wurde ein Christenverfolger Plinius kreiert, unter dessen Namen der Verfasser der Nat. jedenfalls bei der Nachwelt völlig unschuldig litt. Gleichwohl war, vom Persönlichen abgesehen, die Nat. ein in Naturdingen unentbehrliches Quellenwerk, von dem freilich der christliche Philosoph Calcidius (4. Jahrhundert), der Kirchenvater Augustinus (354-430), der Senator Cassiodor (zwischen 490 und 590), Verfasser einer Enzyklopädie und einer Chronik (519), bis hin zu Gregor dem Großen (etwa 540-604) keinen oder nur vorsichtigen Gebrauch machten. Selbst Isidor übte Zurückhaltung, verschmähte aber Paradoxa der Nat. für die .Etymologien' (620/636) nicht. Sein Buch De natura rerum (615) nennt Borst (90) einen .Gegenentwurf zur Naturgeschichte des Plinius'. Nichtchristliche bzw. nicht pointiert christliche Autoren, wie Ambrosius Theodosius Macrobius (Saturnalia, um 430) oder Q. Aurelius Symmachus (etwa 345-405), als Senator politische Autorität in Rom, benutzten und zitierten das Großwerk des integren Gelehrten mit Unbefangenheit und Stolz. Symmachus (Brief 1,24, um 369) sendet seinen Pliniustext an den Rhetor, Dichter und Prinzenerzieher Decimus Magnus Ausonius (etwa 310-395) nach Trier. Auch der karthagische Enzyklopädist Martianus Capella (5. Jahrhundert) stützt sein Hauptwerk ,Die Hochzeit der Philologie und Merkurs' {De nuptiis Philologiae et Mercurit) dankbar auf Plinius' Kosmologie und Geographie. Dasselbe gilt für den Enzyklopädisten Manlius Anicius Severinus Boethius (480-524; De institutione rhetorica; inst, musica), den Theoderich aufgrund von Verleumdungen hinrichten ließ. Aber auch Bedas liberaler Plinianismus konnte die reservierte Haltung des Mittelalters gegenüber dem so diesseitigen, wenn auch immer wieder einschlägigen Werk über die Natur nicht brechen. Man vermisst Plinius' Namen beim Praeceptor Germaniae Hrabanus Maurus (776-856), bei dem frommen Theologie-Kritiker Abaelard (1079-1142), bei dem Pantheisten Bernhard Silvestris (gest. etwa 1160), bei der Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098-1179), bei Alexander Neckam (1157-1217, verfasste De naturis rerum\), bei Thomas von Aquin (etwa 1225-1274) und überhaupt in der Scholastik, bei dem Mitbegründer des Franziskanerordens Bonaventura (1221-1274), und selbst die Kreuzfahrer verzichteten auf die plinianische Geographie.

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Daneben stehen die leisen Stimmen derer, die Plinius schätzten. Bedas Enkelschüler Alcuin (etwa 730-804) empfahl am Hof Karl des Großen Plinius als .besten Lehrer des Reiches', nutzt ihn für seine kurzgefasste Chronik (.Annalis libellus, 789) und fordert ihn als Pflichtlektüre der Klosterschulen. Teils aus Beda zitiert, teils direkt ist plinianische Gelehrsamkeit in der Computus- (Kirchenkalender-) Literatur wirksam, so im Lorscher Reichskalender (Calendari um Laurishamense, 789) und der Aachener Enzyklopädie (Liber computi, 809) sowie in dessen Fortschreibung durch den gelehrten irischen Mönch Dicuil {Liber de astronomia etmensura orbis, 818); seine Schrift Liber de mensura Orbis terrae (825) spielt für die Textüberlieferung der Nat. eine wichtige Rolle. Aus Irland kam auch der in Paris und Laon lehrende Neuplatoniker und Pantheist Johannes Scotus .Eriugena' (etwa 810-877); er versuchte, den originalen Plinius von seinen Verwertern wie Martianus Capeila und Boethius zu scheiden, ein Versuch, der mitsamt Scotus' Werk durch kirchliche Indizierung stecken blieb. Erst im 11. Jahrhundert kommt Plinius wieder zum Vorschein, ganz deutlich in den Prognostica des Mönchs Hermannus Claudus (Hermann der Lahme, 1013-1054), im pharmazeutischen Lehrgedicht des französischen Mediziners Odo von Meung (Magdinensis, 1060) und in der Chronik des Benediktiners Frutolf (gest. 1103) als Quelle für Nordeuropa, vielleicht durch Dicuil vermittelt. Frutolf reinigte übrigens Plinius vom Verdacht der Christenverfolgung; philosophisch rückte aber der Lehrer der ewigen, ungeschaffenen Welt und der kugelförmigen Erde der Scholastik nicht näher. Im Didascalicon (1125) des Hugo von Sankt Viktor (1096-1141) kann er zwar als der Repräsentant der römischen Physik reklamiert werden, aber für Hugos .Beschreibung der Weltkarte' (Descriptio mappae mundi, 1135) wurde er noch gemieden, nicht aber für die Imago mundi {1110/1139) des Regensburger Mönchs Honorius Augustodunensis (1090-1150), der im einzelnen aber auch kritische Zweifel anmeldet. In dieser Zeit schwillt der Handschriftenbestand der Nat. deutlich an; auch Florilegien werden verfasst, so die ,Blütenlese aus der Naturgeschichte des Plinius' in neun Büchern des Augustinermönchs Robertus Crikeladensis in der Mitte des 12. Jahrhunderts {Deßoratio Naturalis Historiae Plinii Secundi). Neben Senecas Briefen exzerpiert der Klosterbibliothekar Wilhelm von Malmesbury (etwa 1080-1143) in seinem Polyhistor (1143) Plinius-Belege für die .Menschenkunde' als pädagogische Muster. Einen weiteren Schritt des Transfers von Frankreich auf die britischen Inseln tat der Sekretär des Bischofs von Canterbury Thomas Becket (1118-1170) und der spätere Bischof von Chartres Johannes von Salisbury (etwa 1110-1180) in seiner Schrift Polycraticus (1159), während der Waliser Walter Map (etwa 1140-1210), zuletzt Archidiakon in

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Oxford, die Nat. mal wieder für Kulturkuriosa plündert, ohne Plinius' Namen anzugeben. Bemerkenswert, dass der englische Bischof Giraldus Cambrensis im Fürstenspiegel Deprincipis instructione (1217) seinem König Heinrich II den Plinius Secundus orator ethistoriographus als Vorbild vorstellt, wobei unklar bleibt, welchen Plinius er meinte, - falls er die Plinii überhaupt unterschied. Im Süden Europas, im Umfeld des Urso von Salerno wird um 1200 ein hexametrisches Lehrgedicht Questiones phisicae (.Physikalische Probleme') verfasst, das sich neben Seneca und Macrobius vor allem der Nat. verpflichtet weiss. In Nordeuropa ist es der Oxforder Universitätskanzler und spätere Bischof von Lincoln Robert Grosseteste (1175-1253), dessen Decameron (1230) den Plinius zitiert, ebenso der Magdeburger Scholastiker Bartholomaeus Anglicus in der Schrift über die .Eigenart der Dinge' (Deproprietatibus rerum, 1245), und mehr noch der flämische Dominikaner Thomas von Cantimpre, dessen Buch .Uber die Natur' (De natura rerum, 1225) eine seltsame Theorie des Wilhelm von Malmesbury wieder aufleben Hess, Plinius' Nat. sei die verkürzte lateinische Ubersetzung einer Enzyklopädie Alexanders des Großen. Eine Art Enzyklopädie erarbeitete bald darauf der Dominikaner Vincent von Beauvais (Bellovacensis, gest. 1264) mit dem Titel Speculum maius (1244/54), die ähnlich mit der Nat. verfuhr wie Plinius selbst mit seinen Quellen: Das Material wurde exzerpiert, verzettelt und nach Sachgruppen geordnet, einschließlich der Briefe des (nicht unterschiedenen) jüngeren Plinius, der - und dies ist sachlich richtig - bei Trajan eine lange dauernde Sicherheit für die frühen Christen erwirkt habe. Man sieht, die Persönlichkeit des älteren Plinius bleibt nach wie vor im Halbdunkel seiner Identität. Das Werk war greifbar jedem, der es einsehen wollte. Auch der Dominikaner Albertus Magnus (1193-1280), .doctor universalis' der Kölner Universität seit 1248, später Bischof von Regensburg, verschmäht es nicht, die Nat. zur Aristoteleskommentierung heranzuziehen (Deanimalibus, 1258/63), sofern die plinianischen Nachrichten einer vernünftigen Naturanschauung nicht widersprachen. Ähnlich dachte Grossetestes Schüler, der Franziskaner Roger Bacon (1215-1294) bei der Benutzung der plinianischen Länderkunde im Opus maius (1276), doch orientiert er sich bei der mathematischen Geographie lieber an den arabischen Gelehrten. Die Präsenz des Plinius steigert sich im H.Jahrhundert. Der Benediktiner Pierre Becuire interpretiert Botanisches und Zoologisches aus Plinius zu erbaulichen Parabeln um (Reductorium morale, 1350), eine Methode, die Ende des 2. Jahrhunderts bereits der griechische Physiologus angewandt hatte und in lateinischer Ubersetzung ins christliche Mittelalter einbrachte. Der Florentiner Dante Alighieri (1265-1321) rühmt Plinius (den Jün-

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geren?) neben Livius und Fronto als Stilmuster. Die klare Trennung der beiden Plinii wird um 1350 dem Veroneser Giovanni Matocci verdankt, obwohl er, seltsame Ironie, die Nat. fur ein Werk des Jüngeren hielt. Der große Francesco Petrarca (1304-1374) erwarb in derselben Zeit eine ungekürzte Pliniushandschrift, deren textliche Fehlerhaftigkeit er rasch bemerkt; er fasst den Plan, den Text gemeinsam mit dem aus Paris eingewanderten Dichter und Gelehrten Giovanni Boccaccio (1313-1375) zu korrigieren und sucht eifrig, wie früher schon Symmachus, nach dem Text der Bella Germaniae; aber beide Vorhaben scheitern. Hier, zu Beginn der Renaissance, wird endlich ein persönliches Interesse am Menschen Plinius und seinem dramatischen Tod sichtbar, - nach mehr als 1200 Jahren! Plinius wird als großer Römer aus der christlichen Quarantäne in die Neuzeit entlassen. Sein Name erscheint jetzt in allen denkbaren Zusammenhängen. Die erbauliche Geschichtensammlung der Gesta Romanorum (um 1350) beruft sich bei Tier- und Naturnovellen gern auf ihn: Refert Plinius.., Plinius narrai.. Im Buch Dittamondo {Dicta mundi, 1343) des Fazio degli Uberti liegt Plinius in einem Schiff mit Kurs Afrika und erklärt sachkundig den Sternenhimmel. So war er auf dem besten Wege, noch zum Volkshelden zu werden. Verona und Como stritten sich um die Ehre, seine Vaterstadt zu sein; vorsichtshalber setzten ihm beide eine Ehrenstatue (1490/1491). 1476 wird die erste italienische Ubersetzung gedruckt (Cristoforo Landino). Auf den Erstdruck, die editio princeps (Venedig 1469; dann Rom 1470), folgte bald eine kommentierte Ausgabe des Ermolao Barbaro mit textkritischen Studien {Castigationes Plinianae et in Pomponium Melam, Aquileia 1493). Die von Guillaume Pellicier, Bischof von Montpellier, geplante Fortsetzung und Textedition ist zwar nie erschienen, verschaffte aber seinem Urheber den Titel .zweiter Plinius',- obwohl er nach Beda eigentlich der dritte war. Nach einer Explosion der Pliniusstudien im 16. Jahrhundert beginnt der Späthumanismus mit der Aufarbeitung. 1629 werden die Exercitationes Plinianae des Calvinisten Claudius Salmasius (Claude Saumaise) gedruckt, 1685 die kommentierte Ausgabe des Jesuiten Harduinus (Jean Hardouin). Die Neuzeit brauchte die Nat. aber auch sachlich. Nicht nur der Biologe Carl von Linné (1707-1778) konsultiert ihn fur seine botanische Nomenklatur (Systema naturae, 1735); noch Alfred Brehm (1829-1884) soll ihn fur sein ,Tierleben' eingesehen haben. Erst die umwälzenden Entdeckungen des Kopernicus, Galileis, schließlich der Evolutionismus Darwins, der Rationalismus der europäischen Aufklärung setzten dieser Spätblüte der Plinius-Rezeption ein Ende, das wissenschaftlich endgültig war und den biederen Datensammler buchstäblich alt aussehen ließ.

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Trotz der anerkennenden Worte Alexander von Humboldts war die Nat. nun das berüchtigte .Studierlampenbuch' eines Mannes, der „nicht imstande (ist), Wesentliches und Unwesentlichen in den Berichten auseinander zu halten und sich vor Missverständnissen zu bewahren" (Schanz-Hosius 2, 775); denn „wer so unendlich viel las der konnte nicht gut schreiben." urteilte Eduard Norden 1898 (Kunstprosa 1,314), ein Wort Arthur Schopenhauers variierend, und nach Norden gehört sein Werk, „stilistisch betrachtet, zu den schlechtesten, die wir haben." So wurde Plinius im 19. Jahrhundert zum rein philologischen Gegenstand und selbst von den Philologen wenig beachtet.. Immerhin schuf 1851 der Dresdner Lateinlehrer Julius Sillig die erste methodisch kritische Gesamtausgabe, die in der Bearbeitung des Bonner Philologen Ludwig Jan 1854/1865 bei Teubner herauskam. In der weiteren Überarbeitung von Karl Mayhoff (Leipzig 1892/1909) wird sie noch heute benutzt. Um Plinius wieder als großen Autor und Lehrer Europas zu sehen, bedurfte es einer neuerlichen Rehabilitation. Nicht mehr naturwissenschaftlich, aber literarisch und wissenschaftsgeschichtlich trat Plinius mehr und mehr in den Vordergrund. Einsamer Vorläufer dieser Wende war Alexander von Humboldt, die die Nat. „das größte römische Denkmal, welches der Literatur des Mittelalters vererbt wurde" nennt. Die kommentierenden Studien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so bahnbrechend sie oft waren, verblieben im akademischen Elfenbeinturm. Schließlich war es der Naturwissenschaftler Friedrich Dannemann, dessen Buch „Plinius und seine Naturgeschichte in ihrer Bedeutung für die Gegenwart" 1921 versuchte, das alte Werk des 1. Jahrhunderts wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dannemann gibt zwar im Vorwort zu: „Die 37 Bücher der Naturgeschichte enthalten eine Menge von wertlosen Dingen, die weiterhin in der Verborgenheit ruhen mögen". Aber die darauf folgenden, ins Deutsche übersetzten Abschnitte aus allen von Plinius behandelten Disziplinen haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Und es war der deutsche Chemiker Roderich König, der zusammen mit dem österreichischen Philologen Gerhard Winkler eine deutsch-lateinische Neuausgabe mit Kommentar und einschlägigem Beiwerk als praktischen Gebrauchstext an die Hand gab (seit 1973 in München, zunächst bei Heimeran, dann bei Artemis). Heute interpretiert die Fachwelt nicht nur den Enzyklopädisten bis in alle Verästelungen seines Wissens hinein, sondern auch den Forscher, Politiker, Moralisten, Naturverehrer, Helfer und Römer, kurz, den Menschen. Bedauerlich, dass eine monumentale Gesamtdarstellung noch nicht geschrieben ist. Arno Borst hat aber auch aufgedeckt, wie die plinianische Naturfaszination selbst in der .schönen Literatur' des 20. Jahrhunderts nachhallt. Er analysiert

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zum Beweis Texte des Franzosen Gustave Flaubert (1821-1880, Bouvart et Pécuchet, postum 1881), des Argentiniers Jorge Luis Borges (1899-1986, ,E1 libro de los seres imaginarios', 4 1986), des Italieners Italo Calvino (1923-1985, ,11 cielo, l'uomo, l'elefante, 1982) und noch des Deutschen Ernst Jünger (1895-1998, z. B. Maxima - Minima, 1964). Die Wiederentdeckung des philosophischen und praktischen Denkens über die Natur als Lebenselement des Menschen könnte bei Plinius Anker werfen: Er steht als Lehrer bereit. Welche Scheu den Zugang zu ihm erschwert, ist nicht leicht zu sagen; am ehesten ist es wohl die unübersehbare Materialfulle, die den Unerfahrenen schreckt. Es könnte sein, dass er im 21. Jahrhundert ebenso wenig verstanden wird wie in der eigenen Zeit, als er den Raubbau an der Natur durch Gier und Luxus nicht zu verhindern vermochte. Der britische Archäologe Andrew Wallace-Hadrill kommentierte 1990: „Pliny seems to have failed in his central purpose: Roman science never did take off. But is he to blâme for that?"

Bibliographie C. Plinius Secundus, Naturalis historiae libri XXXVII, edd. L. Ian, C. MayhofF, Leipzig 1906ff; Nachdruck Stuttgart 1967. C. Plinius Secundus d. Ä., Naturkunde lateinisch - deutsch, herausgegeben und übersetzt von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler, Buch 1 ff, München 1973 ff. (Tusculum-Bücherei). Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments. Heidelberg 1994. Sandra Citroni Marchetti, Plinio il Vecchio e la tradizione del moralismo romano, Pisa 1991. Alberto Cossarini, Plinio il Vecchio e l'ideologia della terra, in : P. Serra Zanetti, In verbis verum amare, 1980, 143-163. Friedrich Dannemann, Plinius und seine Naturgeschichte in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Jena 1921. Gerhart Grüninger, Untersuchungen zur Persönlichkeit des älteren Plinius, Diss. Freiburg 1976. Roderich König, Gerhard Winkler, Plinius der Altere, Leben und Werk eines antiken Naturforschers, München 1979. Alexander von Humboldt, Kosmos, Versuch einer physikalischen Weltbeschreibung 2, 1847, (Plinius 230-234). Thomas Köves-Zulauf] Reden und Schweigen, Römische Religion bei Plinius Maior, München 1972. Thomas Köves-Zulauf, Die Vorrede der plinianischen Naturgeschichte, in: Wiener Studien 7, 1973,134-184.

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Theodor Mommsen, Eine Inschrift des Älteren Plinius, Hermes 19,1884, 644-648 (Studierlampenbuch 648; Mommsens Bezug der Inschrift auf Plinius d. Ä. fand bald den heftigen Widerspruch der Fachkollegen; der Aufsatz wurde nicht in Mommsens Gesammelte Schriften aufgenommen; noch heute ist die Deutung der - im Original verlorenen - .Arados-Inschrift' umstritten); Römisches Staatsrecht 3/1, 1887, (Kompilator 684). Eduard Norden, Die antike Kunstprosa vom vi. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance 1, Darmstadt, 61971. Jackie Pigeaud (Herausgeber), Pline l'Ancien, témoin de son temps, Salamanca 1987 Plinio e la natura (Sammelband des Plinius-Kongresses 1979) Como 1982 Klaus Sallmann, Plinius Secundus (der Ältere), in: Der Neue Pauly 9, 2000, 1135-1141. Andrew Wallace-Hadrill, Pliny the Eider and Man's Unnatural History, in: Greece and Rome 37,1990, 80-96

Marcus Fabius Quintiiianus (ca. 30-nach 96 n. Chr.) Rhetorik als Menschenbildung

VON T H O M A S S C H I R R E N

1. Vorbemerkung Der Name Quintilians ist in ähnlicher Weise zum Synonym der rhetorischen ars geworden, wie dieser selbst von seinem erklärten Vorbild Cicero sagen konnte, dass .Cicero' nicht nur einen Menschen bezeichne (nomen hominis), sondern zum Inbegriff der Beredsamkeit selbst (nomen eloquentiaé) geworden sei (Inst. or. 10,1,112). So bekannt aber der Name durch die Tradition wurde, welcher Quintilian durch sein monumentales Hauptwerk imponierend erscheinen musste, das man mit Fug und Recht als die Summa der antiken Rhetoriktheorie bezeichnen kann, so spärlich fließen die Quellen, aus denen wir etwas über sein Leben erfahren. Seine Geburtsstadt, die uns durch Hieronymus überliefert ist (in seiner Bearbeitung zu Euseb. Chron. S. 190, 19-21, ed. Helm, GCS 47), war wohl die römische Munizipalstadt Calagurris nas(s)ica, das heutige Calahorra, auf der Westseite des Ebro gelegen, also nahe der Grenze nach Navarra, im heutigen Weinbaugebiet La Rioja. Die Stadt ist stolz auf ihren berühmtesten Sohn und hat ihm 1970 eine dem ,Arringatore' nachempfundene Statue aufgestellt; bezeugte antike Bildnisse gibt es nicht. Quintilian erwähnt von dieser .provinziellen' Herkunft nichts und scheint im Gegenteil bestrebt, sich als perfekten Römer zu geben, dem keineswegs der sapor hispanitatis anhaftet, den ihm maliziöse Nachrede aus dem Quattrocento bescheinigt (F. Filelfo in einem Brief von 1440). Die spanische Herkunft und ein der Literatur gewidmetes Dasein im Zentrum des Reiches teilt Quintilian mit seinem großen rhetorischen Kontrahenten L. Annaeus Seneca (1-65 n. Chr.), aber auch mit dem viel jüngeren Zeitgenossen Martial (40-103/4), der ihn eines Epigrammes würdigt (2, 90): „Quintilian!, höchster Lenker der umtriebigen Jugend, Ruhm, Quintilian!, der römischen Toga erlaube mir, mein Leben schnell zu leben, arm, wie ich bin und noch brauchbar an Jahren: niemand eilt sich beim Leben genug ..." Dieser Anrede, einer der wenigen expliziten bei Martial überhaupt, die nicht dem Princeps gelten, kann man entnehmen, dass

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Quintilian als ein hoch angesehener sittenstrenger Wächter galt, der die „umtriebige Jugend" zu zügeln suchte, und die persona Martials erbittet von ihm eine Entschuldigung für eine epikureische, auf höhere Erlebnisdichte zielende ,Schnelllebigkeit\ Quintilians Rhetorikunterricht, den er um das Jahr 85/86, dem ungefähren Publikationsdatum des 2. Epigrammbuches Martials, schon seit einigen Jahren als öffentlich besoldeter Lehrer versah - wahrscheinlich zählte sogar der junge spanische Landsmann zu seinen Hörern, sicher aber der jüngere Plinius -, blieb also nicht auf die ars oratoria beschränkt, sondern verstand sich und wurde verstanden als allgemeine Menschenbildung, als Erziehung zu einer Lebenshaltung, die eine bestimmte moralische Integrität impliziert. Uber die Gründe dieses moralisierenden Einschlages wird im Zuge der Darstellung noch zu sprechen sein.

2. Vita Für eine genaue Datierung bieten die antiken Nachrichten keinen Anhalt; doch lassen sich die Lebensdaten hypothetisch recht gut eingrenzen. Von Interesse sind insbesondere die Daten fiir die Abfassung der Institutio oratoria und für Quintilians Leben in Rom. Der Kaiserbiograph Sueton hatte ihn in seinen verlorenen Rhetorenbiographien an vorletzter Stelle behandelt; aus dieser schöpfte sicher Hieronymus (S. 187, 7 ed. Helm GCS 47), der für das Jahr 68 erwähnt, dass Galba Quintilian nach Rom (zurück-)brachte. Offenbar war Quintilian in seiner Heimat, wohl nicht in Calagurris, sondern in der Provinzhauptstadt Tarraco, dem Stadthalter von Hispania Tarraconensis, Galba, aufgefallen, der ihn nach seiner Ernennung zum Kaiser mit nach Rom nahm. Dort erhielt Quintilian unter Vespasian offenbar den ersten öffentlich besoldeten Lehrstuhl. Quintilian ist somit der erste öffentlich besoldete Professor überhaupt. Da Quintilian andererseits von sich sagt, dass er sich nach zwanzigjähriger öffentlicher Tätigkeit zurückzog, um die Institutio zu verfassen, die ihrerseits wegen der Huldigungen an Domitian (Inst. or. 10,1,91) vor 96 publiziert worden sein muß, ergibt sich, dass Quintilian von ca. 70-90 im öffentlichen Dienst stand. Wohl in dieser Eigenschaft wurde er auch mit der Erziehung der Neffen Domitians beauftragt (Inst. or. 4, pr. 2) und auf Antrag von Clemens, dem Vater der beiden Jungen, mit den ornamenta consularia geehrt (Ausonius, grat. actio 7,31). Hierauf mögen sich Äußerungen wie bei Sueton (gramm. 25, 7) oder bei Juvenal (7,197-198) beziehen: „Wenn es Fortuna will, wirst du aus einem Rhetor ein Senator, und, wenn dieselbe es will, wieder aus einem Senator ein Rhe-

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tor." Besonders pikant wäre die Bemerkung, wenn sie nicht nur auf den Erhalt der Ehrung, sondern eben auch auf deren Verlust gemünzt wäre, sei es, nachdem Clemens beim Princeps in Ungnade fiel, sei es nach der Ermordung des Domitian. Uber das Todesjahr Quintilians kann man nur spekulieren; man wollte aus zwei Pliniusbriefen schließen, dass hier (Ep. 2, 14, 9; 6, 6, 3) der Schüler über den bereits gestorbenen Meister spreche, aber einerseits sind diese Zeugnisse keineswegs so eindeutig, andererseits ist es auch nicht leicht, die Briefe zu datieren. Man käme in jedem Falle ans Ende des 1. Jahrhunderts. Das hieße, dass der Rhetor sein Hauptwerk nicht wesentlich überlebt hätte. Für die Geburt ist es ähnlich schwierig, genaue Daten zu ermitteln. Die Bemerkungen in der Institutio, er habe als aduluscentulus den Domitius Afer als sein Vorbild verehrt, der damals schon hochbetagt gewesen sei (5, 7, 7), und als puer bestimmte Reden des Domitius Afer und des Laelius Baibus bewundert, fuhren darauf, dass er wohl um das Jahr 30 n. Chr. geboren wurde. Autobiographische Zeugnisse finden sich immer wieder im Werk, insbesondere in den Proömien. Aus dem Proömium des 1. Buches und der Dedikation an den Buchhändler Tryphon, der übrigens auch der .Verleger' des Martial war (Ep. 4, 72, 2; 13, 3, 4), lässt sich auch die Datierung der Institutio erschließen: Quintilian beginnt nach seiner zwanzigjährigen Lehrtätigkeit auf Drängen der Freunde mit der Arbeit an einem Werk de ratione dicendi (also über die wissenschaftliche Methode der Rede) und nach zweieinhalb Jahren ist er soweit, dass die Fachliteratur durchgearbeitet ist und er den Rat des Horaz {Ars poeticai%%) befolgen will, das einmal Verfasste zunächst für eine weitere Redaktion liegen zu lassen. Nun drängt aber der Verleger auf eine (sukzessive?) Publikation des Werkes. Man hat daher mit gutem Grund das Werk zwischen 93 und 96 angesetzt. Die Huldigung an Domitian in 10, 1, 91 gibt 96 (die Ermordung des Princeps im September) als terminus ante quem des gesamten Werkes. Die Institutio ist dem Freund Vitorius Marcellus gewidmet (epist. ad Tryph. 1; 1 pr. 6), der damals ein bedeutender Redner war. Es zeigt sich aber bereits hier die pädagogische Zielsetzung des Werkes, wenn der Autor betont, dass das Buch auch dem jüngeren Sohn des Marcellus von Nutzen sein könnte - wie er es sich auch für den eigenen Sohn erhofft. Gerade diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen: das Proömium des 6. Buches schildert in bewegten Tönen den Verlust von Quintilians Familie. Um 90 stirbt seine kaum 19jährige Gattin, im gleichen Jahr der zweite Sohn mit fünfJahren und wohl 95 mit zehn Jahren der Erstgeborene. Da er von anderen Kindern schweigt, scheint er wie andere berühmte Rhetoren zunächst ganz den Studien gelebt und erst im Jahre 83 als Mitfünfziger eine sehr junge Frau von gerade 14 Jahren geheiratet zu haben.

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Quintilians lamentatio über die früh verstorbene Gattin vermag noch heute wie kein anderer Text der Antike anzurühren. Selbst wenn er dabei, wie nur natürlich ist für einen professionellen Autor, auf rhetorische Topoi zurückgriff, so zeugte es sicherlich von einem unzureichenden Rhetorikverständnis, wenn man daraus schließen wollte, es handele sich nur um eine mehr oder weniger kaschierte Deklamation. Vielmehr stellt hier die ars die Formen bereit, in denen sich Erfahrenes ausdrücken kann (Zinsmaier 2003).

3. Die echten und die zugeschriebenen Werke Quintilian hat vor der Institutio noch einen Traktat über die Ursachen des Verfalls der Beredsamkeit verfasst (6, pr. 3; 8, 3, 58). Ein Thema, das der Anonymus Über das Erhabene % 44 als ein heiß diskutiertes Thema (thryloumenon) bezeichnet. Im Dialogus de oratoribus läßt Tacitus die Frage des Verfalls von zwei Positionen aus beleuchten: Vipstanus Messalla macht für den behaupteten Niedergang vor allem die Deklamationspraxis verantwortlich und argumentiert technologisch, während Curiatius Maternus zu Bedenken gibt, dass die Ausbildung einer bestimmten Form von rhetorischer Kompetenz nicht ohne deren politische Ursachen zu sehen sei, nämlich die politischen Unruhen, in denen Oratoren agitatorisch-demagogisch aufträten. Der Niedergang dieser Form von Rhetorik sei daher auch Folge einer Konsolidierung, wo nicht Beruhigung des aufgewühlten Staatswesens durch den sich etablierenden Principat; es ist dies eben jene aurea aetas, die die Augusteischen Dichter besingen, weil sie ihnen trotz aller geforderten Loyalität gegenüber dem Machthaber eine gesicherte Existenz ermöglicht, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um einen gefahrlichen und unberechenbaren Despoten wie etwa Nero oder Domitian, sondern um den weisen Herrscher, von dem auch Maternus spricht. Man hat daher Messalla mit den kritischen Äußerungen Quintilians gegenüber der wirklichkeitsfernen Deklamationspraxis in den Rhetorenschulen verglichen und die Thesen des abgeklärten und hintergründigen Maternus, der sich ganz seiner politischen Dichtung widmet, als Manifest des angehenden Historiographien Tacitus gelesen, der sich von seiner viel versprechenden rednerischen Laufbahn abwendet. Wenn man auch sicherlich diese Parallelisierungen nicht pressen sollte, wird man kaum leugnen können, dass Tacitus in Messalla den Klassizisten und Ciceronianer Quintilian mitgemeint wissen will. Es versteht sich dabei von selbst, dass das Medium eines .lebendigen' Dialoges nicht auf ein einfaches Porträt des Quintilian durch die Figur des Messalla hinauslaufen

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kann, sondern in der Fiktion weitere Momente zur Sprache kommen, die zur Sache gehören mögen, ohne dass sie eins zu eins auf die gemeinte Person zu projizieren wären. Wegen des Todes von Quintilians zweitem Sohn (6, pr. 3) ist die Abfassung von De causis corruptae eloquentiae auf die Zeit seines öffentlichen Amtes zu datieren, nämlich wohl in das Jahr 88. Die chronologische Nähe dieser Schrift zum opus magnum läßt vermuten, dass sie als eine Art Bestandsaufnahme der Situation der Rhetorik zu verstehen ist und die Institutio dann als der engagierte und konstruktive Versuch anzusehen ist, diese Missstände nachhaltig zu beseitigen. Schließlich spricht Quintilian auch einmal von Büchern, die unter seinem Namen zirkulierten, aber nicht von ihm geschrieben worden seien (1 pr. 7-8); das eine Buch sei aus einer zweitägigen Vorlesung hervorgegangen, die die pueri, denen diese gehalten worden sei, zu einem Buch exzerpiert hätten, das andere hätten ihn leidenschaftlich verehrende Schüler verwegenermaßen zusammengestellt und publiziert. Quintilian erwähnt diese .Raubkopien', um die Dringlichkeit einer eigenen und autorisierten Publikation zu betonen. Das liest sich vor dem Hintergrund des beklagten Verfalls denn doch wie eine weitere Rechtfertigung und Begründung, eine umfassende ars als Bildungsprogramm zu konzipieren, da doch offenbar die Jugend danach strebt, solches Wissen in Händen zu halten. Unter dem Namen Quintilians sind ferner zwei Sammlungen von Deklamationen auf uns gekommen, die jedoch sicher nicht von ihm stammen, sondern Mustersammlungen von unbekannten Redelehrern sind. Gerade für die sog. kleineren Deklamationen kann man aber sinnvolle Bezüge zur Institutio herstellen (Dingel 1988). Die größeren Deklamationen sind mitunter gute Illustrationen der von Quintilian gerügten Künstlichkeit der Deklamationspraxis seiner Zeit (Häkanson 1986, Hömke 2002).

4. Die Institutio oratoria als ars und Bildungsprogramm a) Auflau Uber die Disposition seines Lehrbuches äußert sich Quintilian in der Vorrede des 1. Buches 21-22: „ [. . .] Das erste Buch wird enthalten, was der Aufgabe des Lehrers der Rhetorik (des Rhetors) vorausgeht. Im zweiten werden wir die Anfangsgründe des Unterrichts beim Rhetor und was über das Wesen der Rhetorik selbst an Fragen besteht, behandeln. (22) Fünf weitere werden der Auf-

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findung der Gedanken - hierzu wird auch die Lehre von ihrer Anordnung gestellt -, vier dann der sprachlichen Darstellung, wozu auch die Lehre vom Gedächtnis und dem Vortrag tritt, gewidmet werden. Eins wird hinzukommen, in dem wir das Bild des Redners selbst gestalten wollen: hier werden wir, soweit es unsere schwache Kraft erlaubt, erörtern, wie seine Lebensführung sein soll, welche Gesichtspunkte für die Übernahme, Vorbereitung und Durchführung der Prozesse gelten, welches die wirkungsvollste Stilart ist, wann man der Gerichtspraxis ein Ende setzen soll und welche Studien sich anschließen" (Ubers. Rahn 3 1995, wie auch alle folgenden). Im zweiten Buch (2, 14, 5), im Zuge einer Begriffsbestimmung der Rhetorik als Fachdisziplin, gibt er eine Gliederung der Rhetorik als Fach, die sich im Aufbau der Institutio spiegelt, indem er jene in ars, artifex und opus unterscheidet. Demgemäß ist der ars Buch 2,15-11, dem artifex Buch 12,1-9 und dem opus Buch 12,10 gewidmet, 12,11 setzt dann einen Schlussstein mit Empfehlungen für den Ausscheiden des Redners aus dem .aktiven Dienst'. Vorangeschickt wird in Buch 1 der vorrhetorische Unterricht beim grammatiais sowie in 2,1-10 die rhetorische Propädeutik. Daran schließen sich allgemeine Gedanken zur Lehrbarkeit bzw. dem Nutzen rhetorischer Theorie für die Praxis an (2,11-12), Reflexionen über die Bedeutung von Regelhaftigkeit und konkretem rhetorischen Wirken (2,13) und schließlich über den Namen .Rhetorik' als griechisches Lehnwort statt des lateinischen oratoria oder oratrix (2,14). Das zeigt, dass Quintilian sich sehr bewusst für seine Großgliederung entschieden hat, auch wenn diese Einteilung zu sehr verschiedenen Umfangen der drei Teile führt. Auch ist dem opus der Abschluss des Werkes nicht ohne eine gewisse Willkür zugesprochen, da die hier behandelte Stillehre im Grunde in die elocutio gehört hätte, wo sie sich etwa in der Herennius-Rhetorik findet (4,11-14), und zwar um den Bereich der elocutio einzuleiten. Quintilian setzt die Stillehre (o/w-Aspekt) hinter das Thema artifex, das die Frage nach der moralischen Beschaffenheit des Redners aufwirft. Dem Autor scheint daran gelegen zu sein, die virbonus-Thematik nicht als eine Appendix zu handhaben, sondern vor das opus zu setzen, dessen Bezüge zur ¿zrj-Thematik offenbar sind: ohne den umseitig gebildeten und rechtschaffenen oratorsci auch kein kunstgemäßes opus möglich, so könnte man Grundlinien in der dispositio des großen Werkes erklären. Dieser Zusammenhang erhellt einen weiteren Aspekt des Werkaufbaus, nämlich dass Quintilian im Aufbau dem curricularen Werdegang des Redners folgt; im Proömium 1,4-5 hebt er diesen Gedanken als seine besondere Leistung hervor, nämlich dass er nichts von dem beiseite lasse, was für den späteren Redner notwendige Voraussetzung sei, auch wenn dies im einzelnen bei der rhetorischen Performanz des Redners nicht

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immer erkennbar bleibe; auch bei einem Haus seien ja die Fundamente nicht mehr sichtbar doch fallt ohne diese das ganze Gebäude zusammen. Wer hoch hinaus wolle, so das anschließende Bild, müsse seinen Aufstieg unten beginnen. Quintilian unterschlägt hierbei, dass ihm in dieser Verbindung von ars und institutio des Redners „von der Wiege an" bereits der ältere Plinius Secundus vorangegangen war, der nach Angabe seines Neffen (ep. 3, 5, 5) in 6 Volumina den studiosus (Redeschüler) ab incunabilis vollkommen ausgebildet habe (instituit etperficit). Die 12 Bücher Quintilians wird man daher als Geste der Uberbietung deuten können. Die Überlegungen von 1, 1 und das letzte Kapitel des Werkes, 12,11 sind also auch als Marker des lebensumspannenden oratorischen Programms zu sehen, dem der Autor sich verpflichtet fühlt. Die aus der hellenistischen Tradition bekannte Trias von ars - artifex - opus (vgl. zu Neoptolemos von Parion [3.-2. Jahrhundert v. Chr.] Fuhrmann [1992] 145-151) wird so mit dem praktischen Werdegang des Redners verknüpft.

b) Darstellungsform Quintilian schickt den Büchern 1-8 und dem abschließenden 12. Buch j e ein Proömium voraus, in dem er sich auktorial zur Darstellung seines Themas äußert und einmal, nämlich im Proömium zum 6. Buch, auch über den Verlust seiner ganzen Familie klagt. Aber auch sonst meldet sich immer wieder die persona des erfahrenen Redepraktikers und Redelehrers zu Wort und kommentiert die vorgestellte Theorie. So etwa seine Bemerkungen zur Status-Lehre: „Da nun jeder Fall auf einer Feststellung der Rechtsfrage (.status') beruht, glaube ich, bevor ich darangehe zu sagen, wie jede Art der Rechtsfalle zu behandeln ist, das betrachten zu müssen, was allen gemeinsam ist: was ein status ist [...]" Quintilian will sich nicht in Wortstreitereien verlieren, solange klar ist, worum es geht: „Sind die Benennungen auch verschieden, so ist die Bedeutung doch die gleiche, und es macht für den Schüler nichts aus, mit welchem Namen etwas bezeichnet wird, wenn nur die Sache selbst deutlich ist." (3,6,1-2). Nach der Vorstellung verschiedener Statuslehren äußert sich Quintilian schließlich selbst über seine eigene lange gepflogene Unterrichtspraxis: „Ich selbst bekenne, heute eine etwas andere Auffassung zu besitzen, als ich sie früher vertreten habe. Vielleicht wäre es ja für mich am sichersten, wenn es mir nur um meinen Ruhm ginge, nichts an dem zu ändern, was ich viele Jahre nicht nur für richtig gehalten, sondern auch verfochten habe. (64) Jedoch kann ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, [...] in einem Punkt mein eigenes Urteil zu ver-

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schleiern" (3,6,63-64). Er revidiert so ein überkommenes System, indem er es den faktischen Gegebenheiten anpasst und vereinfacht. Auch bei der schwierigen Frage, wie man die elokutionären Phänomene der ars systematisieren soll, gibt er sich undogmatisch und praxisnah: Nach der Definition des Tropus als einer Vertauschung der eigentlichen Bedeutung eines Wortes oder eines Ausdrucks (mutatio a propria signtßcatione verbi vel sermonis 8,6,1) beruhigt er etwa seine Leser (6,2): „Wir werden alle Spitzfindigkeiten, die nichts zur Ausbildung des Redners bieten, beiseite lassen und nur die notwendigsten und allgemein anerkannten [sc. Tropen] durchgehen, wobei wir uns hier auf die Feststellung beschränken, dass manche um der Wortbedeutung willen, manche um des schönen Ausdruckes willen in Anspruch genommen werden [...]". In 9,1,3 kommt er auf die schwierige Unterscheidung zwischen Tropen und Figuren zu sprechen: „Die Ähnlichkeit [JC. von Figuren und Tropen] ist so handgreiflich, dass sie auseinander zu halten gar nicht einfach ist. Denn wie in beiden Gruppen manche Arten weit voneinander abweichen, wenn auch die gattungsmäßige Verbindung bestehen bleibt, [...] so liegt andererseits zwischen manchen Arten nur eine recht schmale Trennlinie [...] (4) Um so mehr gilt es, den Unterschied der beiden Erscheinungen deutlich zu bezeichnen." Typisch ist auch eine Darstellungsform, die diepraecepta artis so präsentiert, dass sie sich in einer wohlverstandenen Mitte zwischen zwei Extremen halten müssen. Quintilian redet hierbei einem entschiedenen Einerseits - Andererseits das Wort, das nicht so sehr indifferent und medioker sein will, als dass die Gefahren eines einseitigen Regelkonformismus erkannt sind und vermieden werden sollten. Quintilian beweist so seine Affinität zu den Theodoreern (nach Theodoros von Gadara 1. Jahrhundert v. Chr.), die sich von den Apollodoreern (nach Apollodoros von Pergamon 1. Jahrhundert v. Chr.) durch eine flexible Handhabung des Regelsystems unterschieden. Sehr deutlich zeigt sich dies in seinen Ausfuhrungen zur rhetorischen imitatio, also dem Nachahmen anerkannter Vorbilder (gr. paradeigmata, lat. exempla). Der Vorstellung, man müsse sich nur einen großen Redner auswählen und alles daransetzen, diesen zu kopieren, dann würde man auch selbst Erfolg als Redner haben, hält er entgegen, dass zuvor klar sein müsse, was überhaupt zu imitieren sei, aber auch, was zu einem selbst passe; außerdem passe nicht jedes Muster zu jeder Situation (10,2,14 ff. vgl. auch apte dicere s. u. S. 80). Hiermit sind zentrale Kategorien rhetorischen Handelns benannt, die auch andernorts in der Institutio herausgehoben werden: nämlich das Geziemende und das rhetorisch Vorteilhafte, das der Redner stets zu beachten habe (res duas in omni actu spectet orator, quid

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deceat, quidexpediatl, 13,8). Von diesen Gesichtspunkten her betrachtet, ergibt sich für die imitatio, dass sie natürlich eine besondere Bedeutung für die Didaktik und Pädagogik hat, aber keineswegs zum sturen und kritiklosen Abkupfern der exempla maiorum fuhren darf, sondern eher ein geleiteter Wettkampf im Sinne der aemulatio sein sollte. Gerade die Fehler, die sich auch bei bedeutenden Rednern finden ließen, dürften nicht übernommen werden, sondern hier habe der Schüler sein iudicium zu betätigen und sorgfaltig auszuwählen, was er nachahmen will. „,Wie denn? Ist es also nicht genug, alles so zu sagen, wie es Cicero gesagt hat?' Nun, mir wäre es genug, falls ich es alles erreichen könnte. Doch was soll es schaden, die Wucht Caesars, das Geharnischte des Caelius, die Sorgfalt des Pollio, die Urteilskraft des Calvus an manchen Stellen dazuzunehmen?" (10,2,25). Ähnlich äußert er sich über die Stilübungen. Zwar müsse man mit äußerster Ausdauer am Schreibtisch arbeiten und immer wieder durch rhetorische compositio den Griffel schulen, aber man solle deshalb kein Stubengelehrter werden; vielmehr müsse man hinaus aufs Forum und sich ein persönliches exemplum suchen, diesem bei dessen Auftritten folgen und wenn das Vorbild eine Prozessrede zu halten habe, selbst zum selben Thema schreiben, um das Maß der Perfektion beurteilen zu können (10,5,19-20). Köstlich auch der Hinweis, wie man es mit der Ruhe am Arbeitsplatz halten sollte: „Dass die Abgeschiedenheit, die beim Diktieren verloren geht, und ein Ort, wo es keine Kritiker gibt, und die tiefste Stille beim Schreiben am besten tut, das wird niemand bezweifeln. Dennoch aber sollte man deshalb nicht gleich auf solche hören, die Haine und Wälder hierfür am passendsten finden, weil der herrliche freie Himmel und die schöne Landschaft das Gemüt erhebt und den Flug des Geistes aufs glücklichste bereichert. (23) [...] Denn gerade das, was solchen Genuss bereitet, muss ja von der Beschäftigung mit der geplanten Arbeit ablenken" (10, 3, 22-23). Eine Einsicht, der sich kaum einer, der beim Schreiben auf eine besonders .inspirierende' Atmosphäre glaubt Wert legen zu müssen, wird gänzlich verschließen können. „Deshalb ziehen die Lieblichkeit der Wälder, die vorbei gleitenden Flüsse, die Lüfte, die in den Zweigen der Bäume säuseln, wie auch der Gesang der Vögel und schon der freie Blick rings in die Weite mich so an, dass mir dieser Genuss eher eine Entspannung als eine Anspannung meines Denkens zu bringen scheint" (ebd. 24). Diese Absage ist nicht so sehr gegen .Romantiker' als gegen den Topos des otium des Dichters gerichtet, der insbesondere in augusteischer Zeit das weitabgewandte Dichten inmitten der Natur mit dem negotium des Stadtlebens kontrastiert. Quintilian will so den auf dem Forum tätigen Orator vom Dichter unterscheiden, der seine Existenz nicht in

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dieser Öffentlichkeit führte, sondern den secessus als notwendige Voraussetzung seines Schaffens ansah (vgl. Schirren 2000). Vom Orator verlangt Quintilian vielmehr die Fähigkeit der Konzentration auch inmitten des Betriebes einer Großstadt; denn wenn die erwünschte Abgeschiedenheit nicht zu erreichen ist, „wird man nicht gleich, wenn irgendein Geräusch ertönt, sein Schreibzeug hinwerfen und den verlorenen Tag beklagen dürfen, sondern es gilt gegen die Störungen anzukämpfen [...]" (10,3,28). Denn so übe sich der angehende Redner gerade darin, seine Gedanken auch in der angespannten Situation des Agons sammeln zu können und nicht aus dem Konzept zu geraten. Zwar verlangt Quintilian gerade auch einen selbstkritischen Umgang mit dem Verfassten, das noch der lima (Feile) bedürfe, ehe es wirklich präsentabel ist, aber er warnt auch davor, sein Werk „zu zerfeilen" (exterere), also durch zuviel Korrektur zu zerstören: temporis quoque esse debet modus (auch der Zeitaufwand muss sein Maß haben 10,4,4). Hierin spricht sich eine pragmatische Mäßigung aus, die bereits Lessing an berühmter Stelle hervorhebt und als typisch für das antike ¿zrj-Konzept ansieht: „Falls Apelles und Protogenes, in ihren verlorenen Schriften von der Malerei, die Normen derselben durch die bereits festgesetzten Regeln bestätigt oder erläutert haben, so darf man sicherlich glauben, dass es mit der Mäßigung und Genauigkeit wird geschehen sein, mit welcher wir noch jetzt den Aristoteles, Cicero, Horaz, Quintilian, in ihren Werken, die Grundsätze und Erfahrungen der Malerei auf die Beredsamkeit und Dichtkunst anwenden sehen. Es ist das Vorrecht der Alten, keiner Sache weder zu viel noch zu wenig zu tun". (Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 1-8, München: Carl Hanser, 1970ff.Bd. 6, S. 10; vgl. Seel, 1977, 37-38).

c) Die ars oratoria als systematisches Lehrgebäude in der Institutio Die Institutio ist mit einem Umfang von rund 750 Seiten (in der Oxforder Edition) in zwölf Büchern das umfassendste rhetorische Theoriewerk der Antike. Die sich in den Codices findenden Kapitelüberschriften scheinen sowenig original zu sein wie die Kapiteleinteilungen (Classen 1965). Quintilian passt das ihm durch die Tradition überlieferte rhetorische Theoriegebäude sorgfältig in seine eigene dispositio ein, indem er, orientiert an der Makrostruktur von ars, artifex, opus, die Redeteile und die Produktionsstadien der Rede entwickelt. Die inventio wird in den Büchern 3-7 abgehandelt. Dabei werden auch die Redeteile prooemium (4,1), narratio (4,2), egressio untersucht. Das prooemium dient der

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Herstellung des Kontaktes zum Publikum um dieses wohlwollend, aufmerksam und aufnahmebereit zu machen (benivolum, attentum, docilem), die narratio stellt den Sachverhalt nach Parteiinteresse dar und hat deutlich, kurz, wahrscheinlich zu sein und sollte ohne den Einsatz pathetischer Mittel auskommen. Die probatio (Beweisführung), unterteilt in die artifiziellen und nichtartifiziellen Beweise, nimmt dann das gesamt 5. Buch ein, nachdem in 4,4-5 propositio und partitio, die Ankündigung des Beweiszieles und die Gliederung des Beweises, vorbereitend besprochen worden waren. Zur probatio selbst äußert sich Quintilian im Proömium des 5. Buches. Manche Theoretiker seien der Ansicht, die rationale Beweismethode sei das eigentliche Zentrum rhetorischen Handelns, während die Erregung von Affekten und das Werben um die Gunst des Publikums eher geeignet sei, rhetorisches Handeln als unmännlich zu diskreditieren. Doch auch diejenigen, die grundsätzlich nichts gegen diese affektbetonte Rhetorik einzuwenden hätten, stimmten darin überein, dass die probatio ein proprium atque praecipuum opus (die eigentliche und vorzügliche Leistung) der Rhetorik sei. Die Betonung der probatio entspricht nun der Konzentration des Lehrbuches auf das genus iudiciale, also auf die Gerichtsrhetorik als denjenigen Bereich rhetorischen Handelns, der für die angehenden Redner im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit steht. In 3,9,1 hat er deren officio in Angriff und Verteidigung (intentio, depulsio) gesehen und deren partes in prooemium, narratio, probatio, refutatio, peroratio zerlegt. Und von diesen fünf Teilen gehörten die ersten beiden auch noch zur Beweisführung, „denn weder prooemium noch Erzählung haben einen anderen Zweck, als den Richter auf die Beweisführung vorzubereiten" (5 pr. 4), und so kann der Rhetoriktheoretiker festhalten, dass man zwar auf jeden anderen der fünf Teile wohl unter Umständen auch verzichten könnte, nicht aber auf die Beweisführung. Hierin wirkt sicherlich die aristotelische Rhetoriktradition fort, da Aristoteles die Sachbeweise als das eigentliche Kernstück der Rhetorik ansah (soma tés písteos, Körper der Glaubhaftmachung Rhet. 1,1). Die peroratio (Schluss der Rede, Epilog) beschließt die partes orationis-Serie. Der Epilog sei ähnlich wie das prooemium dazu geeignet, gerade Affekte zu erregen; und während sie im prooemium im Sinne des conciliare eher mäßig eingesetzt würden, habe der Redner in der peroratio die letzte Gelegenheit, die emotionale Disposition der Richter zu beeinflussen: „Denn die Hinneigung der Richter auf unsere Seite wird zu Beginn [also im prooemiuni\ mit größerer Zurückhaltung gesucht, wenn es hinreicht, Zugang zu finden, und die ganze Rede noch vor uns liegt. Im Epilog aber kommt es darauf an, welche Gesinnung der Richter zur Beratung mitnimmt, und nun werden wir nichts weiter

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sagen können, und es bleibt keine Stelle mehr, flir die wir etwas aufheben könnten" (6,1,10). In dieser Erklärung spricht sich die Erkenntnis aus, dass die Steigerung (,amplificatio) das wichtigste rhetorische Mittel zur Erlangung des Persuasionszieles ist. Die Wirkung von emotionalen .Argumenten' muss im prooemium noch zurückhaltend sein, um zunächst eine Verbindung mit dem Richter und dem Auditorium herzustellen, die ja emotional noch gar nicht tangiert sind. Der Einsatz der Affekte kulminiert, sich steigernd, aber am Ende der Rede, in der die Sachbeweise noch einmal aufgezählt werden {repetitio), um schließlich, indem die Konsequenzen des Sachbeweises verdeutlicht und vor Augen gestellt werden, das Auditorium emotional zu bewegen und für den Sprecher zu gewinnen. Gleichsam als Gegengewicht zur ausfuhrlichen Erörterung des Sachbeweises schließt Quintilian nach der letzten pars orationis zwei Appendices an, nämlich eine über die Affekte und deren Einteilung und eine über den Witz. Das 6. Buch endet mit der altercatio, der schnellen Wechselrede nach den Hauptreden der Prozessgegner. Die Stellung ans Ende bot sich wohl insbesondere deshalb an, weil in der altercatio der Redner aus dem Stegreif zu reden hat und durch witzige Bemerkungen oder Ironie Vorteile für seine Partei erringen kann (6,4,10 acumen. 12 urbanitas). Die erste Appendix behandelt das Pathos. Hier entwirft der Autor jene folgenreiche Konzeption einer Unterscheidung in leichtere und schwere Emotionen, die er mit Ethos und Pathos identifiziert. Damit ist die fundamentale Trias der rhetorischen Uberzeugungsmittel in Sachbeweis, Sprecherethos und pathetische Einwirkung auf die Zuhörer, wie sie Aristoteles entworfen hat, zugunsten einer rein .pathetischen' Interpretation von Ethos und Pathos aufgehoben. Das Sprecherethos vollzieht sich demgemäß als länger andauernder Affekt, der die Zuhörer im Sinne des Parteiinteresses vereinnahmen soll, während die eruptiven Emotionen auf bestimmte Momente in der Rede beschränkt bleiben, dort aber sehr wirkungsvoll sein können: „Ich fuge hier gleich an, dass pathos und ethos bisweilen ihrem Wesen nach gleich sind, und zwar so, dass das eine nur den stärkeren Grad bezeichnet, das andere den schwächeren, z. B. Liebe (amor) ein pathos, Wertschätzen (caritas) ein ethos, zuweilen aber auch einander entgegengesetzt, z. B. im Schlussteil der Rede, denn die Erregung, die das pathos verursacht hat, pflegt das ethos wieder zu besänftigen" (6,2,12). Die von Quintilian vertretene Vereinung von Ethos und Pathos als im wesentlichen nur quantitativ unterschiedenen pathetischen Überzeugungsmittel zeigt an, welche rhetorische Bedeutung Quintilian den Affekten beimisst: „Wo es aber gilt, dem Gefühl der Richter Gewalt anzutun

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und den Geist selbst von dem Blick auf die Wahrheit abzubringen, da liegt die eigentliche Aufgabe des Redners. Das lehrt ihn keine Prozesspartei, das steht nicht in den Prozessakten. Denn Beweise (probationes) bringen es j a freilich zustande, dass die Richter unsere Sache für die bessere halten, die Gefühlswirkungen ( affectus ) leisten es, dass sie das auch wollen; doch das, was sie wollen, glauben sie auch" (6,2,5). Aber wie können die Affekte am wirkungsvollsten erzeugt werden? „Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich, wenigstens nach meinem Empfinden, darin, sich selbst der Erregung hinzugeben" (6,2,26). Hier greift Quintilian auf eine schon von Cicero formulierte Metapher (De or. 2,189ff.) vom Brand zurück, das nur durch ein Feuer entfacht werden könne (6,2,28). Um selbst in die gewünschten Affekte zu kommen, helfen nur die visiones oder Phantasievorstellungen ( phantasiai 6,2,29), die man sich selbst erzeugen muss, um, diese vor dem inneren Auge, die entsprechenden Emotionen bei sich selbst auslösen zu können: „Ich habe Klage zu führen, ein Mann sei erschlagen. Kann ich da nicht all das, was dabei, als es wirklich geschah, vermutlich vorgefallen ist, vor Augen haben? [...] Werde ich nicht den Schlag fallen, das Opfer zusammenbrechen sehen? Wird sich nicht sein Blut, seine Blässe, sein Stöhnen und schließlich sein letzte Todes-seufzer meinem Herzen tief einprägen?" (6,2,31). Quintilian redet so einer Autosuggestion das Wort, die zur Voraussetzung eines wirkungsvollen Pathoseinsatzes wird. Die zweite Appendix handelt vom Witz bzw. dem Lachen, ein Thema, das Cicero in einem locus classicus in De oratore ausführlich behandelt hat (De or. 2,216-290). Natürlich ist das Lachen auch eine Gefühlsregung und hat ein ähnliches Potential in der Redepraxis vor Gericht. Daher ist der Ort dieser Ausführungen nach den Überlegungen zum Pathos kaum zufallig gewählt (anders Kroll 1934). Quintilian entdeckt beim Lachen drei rhetorisch relevante Aspekte: 1) Auflösung einer traurigen Stimmung, 2) Ablenkung von Sachaspekten, 3) Uberwindung von Desinteresse oder Ermüdung durch erholsame Unterhaltung. Die ersten beiden Momente dienen unmittelbar dem Parteiinteresse, indem die pathetische Einwirkung der Gegenpartei aufgelöst wird (solvit affectus), die Aufmunterung und Erfrischung des Geistes ist im Sinne des Herstellens von Aufmerksamkeit (attentum parare) auch eine Absicht des exordiums (4,1,5.33-39). Man könnte so destruktive (1 und 2) und konstruktive Momente des rhetorisch herbeigeführten Lachens feststellen. Es liegt durchaus in der Logik der Darstellung, wenn Quintilian den argumentativ nicht mehr beizukommenden Affekten, die die Gegenseite bewirkt hat, nur noch durch solche .Antiaffekte' wie das Lachen glaubt begegnen zu können.

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Das 6. Buch beschließt ein knappes, aber merkwürdiges Kapitel, das in seiner Bedeutung für die rhetorische Theorie kaum überschätzt werden kann. Was Quintilian über iudicium und consilium schreibt, verdient insbesondere modernes Interesse, da diese beiden Begriffe eine Verbindung zur philosophischen Hermeneutik und zu jeder .poietischen' Theorie herstellen können. Die Begriffe gehörten traditionell zur inventio, die mit dem 6. Buch abgeschlossen wird; doch Quintilian will sie keineswegs wie etwa Cicero (De or. 1,142) auf diese pars rhetorices beschränkt wissen, vielmehr seien „sie so sehr mit allen Bereichen unserer Aufgabe verbunden und verschmolzen, dass sie sich selbst von Sätzen oder auch nur von Einzelwörtern nicht trennen lässt, und sich sowenig in einer Kunstlehre vermitteln lässt wie der Geschmack oder der Geruch" (6,5,1). Die Regulative derpraecepta artiskönnen ihrerseits nicht artifiziell vermittelt werden, entscheiden aber über den Erfolg der angewandten Regeln. Quintilian unterscheidet die eng beieinander liegenden Begriffe nur dadurch, dass iudicium über Vorliegendes befindet, während consilium auch über Verborgenes nachdenkt (6,5,3). Urteil und Überlegung machen also den oratorpeifectus aus, der immer an das rhetorische setting denkt, in das er sich gestellt sieht: „Denn die Überlegung ergibt sich aus der Sachlage, wo ihr Platz häufig schon vor der Gerichtsrede ist [...], (5) weiter nimmt sie dann in den Verhandlungsreden selbst die erste und wichtigste Rolle ein; denn zu bestimmen, was man sagen, was verschweigen, was man hinausschieben muss, ist Sache der Überlegung: ob es besser ist, zu leugnen oder zu rechtfertigen, wo man ein Prooemium verwenden soll und welcher Art [...]" (6,5,4-5). Sie gehören so in den Bereich der aptum-Lehre oder der erwähnten Generalregel des Nützlichen und Geziemenden, die zum obersten Prinzip rhetorischen Handelns erhoben wird (s. S. 74). Es lässt sich von diesem Konzept der Angemessenheit auf die Aristotelische sophrosyne verweisen, die das ethisch richtige Handeln ermöglicht, indem sie die Handlungsoptionen aus der vorliegenden Situation umsichtig erschließt. Hans-Georg Gadamer hat seine Verstehens- und Auslegungslehre an dieses Konzept des Aristoteles angeschlossen, das indessen durchaus rhetorischer Provenienz ist, wie nicht nur Quintilian, sondern insbesondere Isokrates zeigen kann (Näheres unten unter Kap. 6, S. 103). Das 7. Buch ist formal der dispositio gewidmet, also der Anordnung des durch die inventio gefundenen Stoffes. Der Auetor ad Herennium handelt diese pars in zwei kurzen Paragraphen innerhalb der inventio ab (3,16-17), in denen er die Anordnung auf die partes orationis (Redeteile) bzw. die partes argumentationis (Teile der Argumentation) bezieht; darüber hinaus empfiehlt er aber, ad casum temporis (nach Maßgabe der Zeitumstände) auch ganze Redeteile weg-

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zulassen, wenn dies geboten erscheint. Quintilian dagegen stellt die dispositio im Horizont der Statuslehre dar, die er bereits in 3,6 angerissen hatte (s. o. Seite 73). Die Statuslehre ihrerseits ist ein vornehmlich für das genus iudiciale bestimmtes Raster zur Ermittlung der Prozessfrage. Seit seinem Erfinder Hermagoras von Temnos (2. Jahrhundert v. Chr.) ist dieses System immer wieder in Einzelheiten verändert und an die jeweiligen juristischen Gegebenheiten angepasst worden. Quintilian reduziert das ursprünglich in die genera rationale (Sachfragen) und legale (Gesetzesfragen) mit je vier status differenzierte System auf ein einziges mit vier status: Faktizität {status coniecturalis), Definition (status definitionis), Rechtfertigung {status qualitatis) Zuständigkeit {status translationis) (zur allgemeinen Lehre des Statussystems vgl. Calboli Montefusco 1986). Hierbei wird im Bilde einer Verteidigungsstellung betont, dass die Stärke der Ausgangsstellung für den Angeklagten abnehme: Leugnung der Tat, Bezeichnung des Geschehenen, Rechtfertigung des Bezeichneten und Eingestandenen, Bezweiflung der Zuständigkeit des Gerichts (3,6,83). Entsprechend seiner Konzentration auf die Gerichtsrede differenziert Quintilian den status coniecturae und qualitatis sehr weit aus, weil sich hier rhetorisch am meisten bewirken lasse (Indizien, Wahrscheinlichkeiten, Fragen übergeordneter Moral, Legalität versus Legitimität), dennoch will er das Modell keineswegs nur auf dieses genus causae beschränkt wissen. Es würde zu weit führen, die drei oder sogar vier Modelle, die er diskutiert, hier im einzelnen auszuführen (vgl. Adamietz 1986,2262; Kennedy 1969, 61-63), doch sei immerhin erwähnt, dass die Darstellung der Lehre nicht ganz widerspruchsfrei und luzide ist; so wird etwa nicht recht klar, was der genaue Unterschied zwischen quaestio (3,11) und status ist: denn einerseits dispensiert sich Quintilian von scholastisch anmutenden Begriffsunterscheidungen, solange nur klar sei, worum es gehe (s. o. Seite 73), andererseits aber widmet er der quaestio doch ein ganzes Kapitel. Geht man aber davon aus, dass quaestio zwar der Oberbegriff für jede prozessrelevante Frage sei und der status die Grundfrage bezeichne, von der aus die anderen Fragen diskutiert werden sollen, dann hätte er diese als das genommen, was der Auetor ad Herennium 1,26 iudicatio (gr. krinomenon) nennt (Quintilian aber in 3,11,1 wiederum als Grundlage der Frage bezeichnet). Die Darstellung der Statuslehre im Rahmen der dispositio hat zum einen den Grund, dass die erforderliche „nützliche Verteilung der Gegenstände und der Teile an die passenden Stellen" (7,1,1) von der Hauptfrage des Verfahrens aus vorgenommen werden sollte, die sich aus dem zugrunde gelegten status bzw. der iudicatio ergibt. Zum anderen aber ist es naturgemäß schwierig, die dispositio allgemein und abstrakt zu erörtern; um nun aber diese pars im Rahmen der ars nicht zu

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gering zu veranschlagen, verbindet er diese Aufgabe mit der Erläuterung der Statuslehre (vgl. Adamietz 1986, 2257, unbestimmter Inst. or. 7, pr. 4). Dabei lässt er jedoch die Fragen der dispositio in anderen Teilen der Rede (prooemium, narratio, peroratio) außer Acht, obwohl er in 7,1,1 sehr allgemein über verschiedene Formen der Anordnung von Teilen und Ganzem nachdenkt. Die Bücher 8-9 betreffen einen Kernbereich der rhetorischen ars, der sogar nach landläufiger Vorstellung das Wesen der ars überhaupt ausmache, nämlich den ornatus. Diesen erörtert Quintilian besonders ausfuhrlich und schickt dem ein einerseits rekapitulierendes, andererseits vorbereitendes Proömium voraus. Denn der ornatus sei das mit Abstand schwierigste Geschäft des Redners. Während inventio und dispositio noch von jedem klugen Mann geleistet werden könnten, sei der sprachliche Ausdruck (elocutio) dem Orator als eloquens vorbehalten (8 pr. 13. 14). Mit diesem Wortspiel weist Quintilian auf die Bedeutung von ,eloqm\ dieses heiße nämlich, „alles, was man in Gedanken erfasst hat, zum Vorschein bringen und es den Hörern übermitteln". Rhetorischer ornatus bedeutet also ein Zum-Vorschein-Bringen im emphatischen Sinne: „Deshalb wird dies vor allem gelehrt, dies vermag keiner ohne Kunstlehre zu erreichen, hieraufist der größte Eifer zu verwenden, dies sucht die Übung, dies die Nachahmung, hierin verzehrt man sich Zeit seines Lebens; hierdurch übertrifft vor allem der Redner den Redner, hierdurch erweisen sich die verschiedenen Redestile einander überlegen" (8, pr. 16). Doch unterbricht sich der Rhetor sogleich wieder: „Keineswegs darf deshalb jedoch die Sorge allein den Worten gelten". Die traditionelle res - wr^z-Dichotomie sah zunächst eine Art eineindeutige Relation von verbapropria und res (deren Namen die Wörter eigentlich seien) vor. Eine Änderung dieses Verhältnisses musste als mutatio, also als Austausch eines Wortes durch ein anderes, erscheinen. Dieses Abweichen von einer festen Relation, die sich im eigentlichen Ausdruck kundtut, fallt nun in den Bereich der ars, die die Form der erlaubten oder sogar angestrebten Abweichung regelt. Quintilian, der dieses Abweichen von der .natürlichen Sprachnorm' zunächst als eminent rhetorisch betrachtet, gibt aber andererseits wiederum zu bedenken, dass es zu seiner Zeit eine Modeerscheinung war, den abwegigsten ornatus anzubringen, um damit das Talent des Redners unter Beweis zu stellen: „Denn wir umschreiben aus Lust an Worten, was sich direkt sagen lässt, und wiederholen ferner, was hinreichend gesagt ist; sodann bürden wir dem, was mit einem Wort klar ist, die Last von mehreren auf" (8, pr. 24). Dem großen Kapitel über den Schmuck 8,3 (ornatus) gehen zwei über perspicuitas und latinitas voraus (8,1.;8,2), womit also drei der traditionellen vier

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aus dem Peripatos stammenden (nämlich aus der verlorenen Rhetorik-Schrift des Aristoteles-Schülers Theophrast) virtutes dicendibehandelt sind das apte dicere folgt in 11,1,1-93 (vgl. 8,2,1). Gerade nach der im Proömium zum 8. Buch aufgeworfenen Problematik scheint es sinnvoll, dass Quintilian vor der Darstellung der Figuren und bzw. Tropen auf die Regulative des Gebrauchs dieser durch die ars bereitgestellten sprachlichen Mittel hinweist. So steigert sich die Theoriehöhe in der Frage des Einsatzes sprachlicher Mittel von der Sprachrichtigkeit über die Deutlichkeit zum rhetorischen Schmuck. Das lange Kapitel 8,3 gibt hier grundsätzliche Hinweise, wie der rhetorische ornatus das Telos der Persuasion in Vermeidung der jeweiligen vitia (Fehler) erreicht. Die These, dass als „geschmückt" dasjenige zu gelten habe, „was mehr als deutlich und plausibel ist" (perspicuo ac probabiliplus est), wird durch den Hinweis auf die Emphase begründet, in der ein spezifisches Mehr an Bedeutung erreicht werde, das die eigentlich rhetorische Qualität des Signifikanten ausmache. Bereits Ps.-Demetrius hatte dieser Figur besondere rhetorische Schlagkraft zugesprochen (sog. Demadeische deinotes, vgl. Ps.-Demetrius, De elocutione § 282 ff.). Es folgen nach diesen Überlegungen die strategischen Operationen des Steigerns und Minderns, je nach Parteiinteresse. Sie können als der jeweilige Zweck der elokutionären Einwirkung gesehen werden: entweder etwas als besonders groß und bedeutend erscheinen zu lassen oder es im Gegenteil als unbedeutend und vernachlässigenswert. Für die Theorie der elocutio im allgemeinen wäre auf die von Quintilian benutzte Devianztheorie der so genannten Änderungskategorien (vgl. Lausberg 21990 und die Differenzierung von Knape HWRh 2 (1994) 1022-1082 s. v. elocutio) zu verweisen, die er in 1,5,38 als quadripertita ratio (vierfaches methodisches Prinzip) bezeichnet (zum Beschreibungssystem vgl. Ax [2000] 202 ff.). Hiernach wird von einer rhetorischen Nullstufe ausgegangen und die elokutionäre Veränderung als immutatio, transmutatio, adiectio und detractio beschrieben. Metapher ist so ein Austausch eines etablierten Wortes durch ein anderes (immutatio); Hyperbaton ist ein Versetzen des Wortes von einem gewöhnlichen Platz an einen anderen (itransmutatio); geminatio ist eine Hinzufugung {adiectio), Ellipse ein Fortlassen oder Wegnehmen eines sprachlichen Ausdruckes (detractio). Quintilian beginnt mit den Tropen, die er, wie oben S. 74 erwähnt, als mutatio definiert. Hier steht an erster Stelle natürlich die Metapher (8,6,4-18), die schon Aristoteles ausfuhrlich gewürdigt hat (Rhet. 3,2; Poet. 21); Synecdoche, Metonymie, Antonomasie, Onomatopoiie, Katachrese, Hyperbel sind die wichtigsten weiteren Tropen, die er knapper behandelt. Auch die Ironie findet

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Erwähnung, da sie, ähnlich wie die Allegorie, das Gegenteil von dem meint, was gesagt wird: „Diese erkennt man entweder am Ton, in dem sie gesprochen wird, oder an der betreffenden Person oder am Wesen der Sache; denn wenn etwas hiervon dem gesprochenen Wortlaut widerspricht, so ist es klar, dass die Rede etwas Verschiedenes besagen will" (8,6,54). Gerade das aber gelte von allen Tropen, also der signifikante Unterschied von Ausdrucksebene und Inhaltsebene. Nun sieht Quintilian noch Klärungsbedarf, um die Tropen von den Figuren zu unterscheiden. Daher erörtert er diese Problematik in einem eigenen Kapitel (9,1). Während der Tropus eine immutatio ist, bedeutetßgura eine Umgestaltung der Rede, die sich „von der allgemeinen und sich zunächst anbietenden Art und Weise" (9,1,4) unterscheidet, figura ist des weiteren nicht jede Gestaltung, sondern sie muss mit Strategie und Plan erfolgt sein, andernfalls wäre alles eine ßgura. „Aber falls bestimmte Haltungen und gleichsam Gebärden (gestus) so genannt werden müssen, so soll doch jetzt hier unter Schema (Figur) nur das verstanden werden, was eine Veränderung der einfachen, spontanen Ausdrucksweise im Sinne des Poetischen oder Rhetorischen darstellt" (9,1,13). Quintilian greift auf den griechischen Begriff des schema zurück, wenn er die Figur mit einer besonderen Körperhaltung vergleicht; natürlich ist jede körperliche Haltung irgendwie ein schema, aber nur die besondere, signifikante Haltung oder Gebärde ist rhetorisch bedeutsam. Ähnlich wie in der Kunst, wo der Betrachter bestimmte Schemata als Sinnträger des Dargestellten zu dekodieren weiß, funktionieren die rhetorischen Figuren durch ihre spezifische Form, um einen bestimmten Inhalt in der elocutio zu kodieren. Die Figuren werden in zwei Gattungen unterteilt, nämlich in die Sinnfiguren und die Wortfiguren. Zusammen mit den Tropen bilden sie so ein trichotomisches Ordnungssystem. Die Sinnfiguren sind unabhängig von der Wortwahl durch eine sprachliche Form bestimmt, Wortfiguren dagegen sind wesentlich von den einzelnen Ausdrücken bestimmt, in denen sie gefasst sind. Entweder greift die Figur also in die semantische Tiefenstruktur der Rede ein oder sie modelliert den sprachlichen Ausdruck an der textuellen Oberfläche (vgl. Knape in HWRh 3 [1996] 310). Entsprechend dem Schema der oratorischen Arbeitsschritte stellt Quintilian nun die Sinnfiguren vor die Wortfiguren, obwohl es letztere sind, die eigentlich enger zu den Tropen passen. Er behandelt insgesamt 14 Wortfiguren {rogare, respondere, fraesumptio, dubitatio, communicatio, exclamatio, Prosopopoiie, Apostrophe, subiectio sub oculos, Ironie, Aposiopese, Ethopoiie, Emphase, comparatio); das sind erheblich weniger als die 45 Figuren, die Cicero in De orato-

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re und im Orator nennt. Quintilian ist hier also restriktiver, was die Rhetorizität der Abweichung angeht. Zudem unterscheidet er in drei Hinsichten: Figuren, die die Beweisführung stützen ( rogare , vgl. 9,2,6), emotional wirksame Figuren {Prosopoiie, Ethopoiie, vgl. 9,2,26) und Figuren, die der Eleganz der Rede dienen (vgl. 9,1,96; vgl. auch 9,2,58 ff.), also dem Text Abwechslung und Ablenkung dem Rezipienten verschaffen. Quintilian gewinnt mit diesen drei Unterscheidungen einen funktionalen Aspekt der Figurenlehre, der von dem logisch-strukturalen Ansatz der ratio quadripertita (s. o. S. 83) zu differenzieren ist (Knape in HWRh 3 [1996] 310-312). Die Wortfiguren untergliedert Quintilian in grammatische Figuren (9,3,127) einerseits und rhetorische im engeren Sinne andererseits (9,3,28ff). Erstere sind im wesentlichen Solözismen, die allerdings bewusst eingesetzt werden (9,3,2): „Jede derartige Figur wäre ein Fehler, wenn sie nicht gesucht würde, sondern unterliefe". Für die aufgezählten sprachlichen Erscheinungen fehlen meistens Benennungen, und man kann vermuten, dass Quintilian der erste war, der sie überhaupt systematisierte. Er hält es für eine Leistung Sallusts, dass dieser in seiner gesuchten Knappheit beispielsweise visuros (,im Begriffe befindlich zu sehen') im Sinne von ad videndum missos (,zum Sehen/Spähen ausgeschickt') wie eine Figur verwendet hat, was indes solche Nachfolge gefunden habe, dass es nicht mehr als Figur wahrgenommen werde. Hier hält Quintilian also am Postulat der Verfremdung fest. Die rhetorischen Wortfiguren ergeben sich durch eine besondere Wortstellung (vgl. 9 , 3 , 2 collocatione exquisitum). Gemäß den Anderungskategorien nennt er unter adiectio elf Figuren, unter detractio fünf und schließlich eine Gruppe, die durch phonetische Ähnlichkeiten bestimmt sind, worunter sieben Figuren fallen (z. B. Paronomasie, reßexio, traductio). Es ist deutlich, dass Quintilian am Leitfaden der Anderungskategorien der systematischen Strukturierung der Figuren, die an einer bestimmten Vorstellung ihrer Generierung orientiert ist, den Vorzug vor der Darstellung ihrer rhetorischen Leistung und einer dementsprechenden Taxonomie gibt. Immerhin aber sieht er den Funktionsaspekt darin berücksichtigt, dass der richtige Einsatz der Figuren sich am aptum und der perspicuitas zu bemessen habe (Inst. or. 8 pr. 26; vgl. Knape HWRh 3 [1996] 320). Angesichts der Arbitrarität der heute kaum noch ernsthaft akzeptierten Anderungskategorien als genuiner Generierungsmodelle von Figuren kann es auch nicht verwundern, dass die Taxonomien der Figuren keineswegs widerspruchslos sind (Knape HWRh 1 [1992] 549). So würde man etwa das Hyperbaton eher unter die Wortfiguren rechnen dürfen als unter die Tropen (9,1,6). Quintilian begründet diese Klassifikation

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damit, dass es um eine commutatio ordinis (,Standortwechsel() gehe, und der Tropus war ja als eine mutatio definiert worden. Bei der Ironie gibt er zu, dass sie sowohl als Gedankenfigur (voluntatis fictio, Verstellung der Gesamtabsicht) aber auch als Tropus im Sinne der immutatio angesehen werden könne. Den Schluß des 9. Buches bildet die compositio (Wortfügung). Die Lehre der compositio gliedert sich in drei Bereiche: ordo, iunctura, numerus (9,4,22). „Das Prinzip, auf dem die Wortfügung beruht, liegt im Hinzufügen (adiectione), Weglassen (detractione) und Vertauschen (mutatione)" (9,4,147). Damit erklärt er die compositio wiederum durch die quadripertita ratio. Im ordo-Bereich geht es um (vermeintlich) natürliche Zusammenstellungen wie ,Tag und Nacht', .Männer und Frauen' (9,4,23), und die wirkungsvolle Abfolge der syntaktischen Bausteine eines Satzes; die Endstellung des Verbums ist dabei besonders signifikant. Unter iunctura fallt die nach den Regeln des Wohllautes zusammengestellte Wortverbindung einzelner Ausdrücke, also die Vermeidung des Hiatus (Aufeinanderstoßen zweier Vokale) und insbesondere der Zusammenstoß von Vokalen, „die mit am weitesten geöffneten oder gerundeten Munde gesprochen werden". Aber auch der Zusammenstoß von Konsonanten, die, hintereinander gesprochen, unschön wirken müssen (z. B. ars studiorum). Schließlich der numerus. Er betrifft die rhythmische, also von einer bestimmten Abfolge langer und kurzer Silben bestimmte Wortwahl, die vornehmlich am Schluss einer Periode als so genannte Klausel eingesetzt wird. Hierbei sind jedoch bestimmte Prinzipien zu wahren. So darf der Klauselrhythmus nicht wie ein Vers klingen (antimetrisches Prinzip), da die rhetorisch geformte Prosa nicht vollständig, sondern nur teilweise rhythmisiert ist. Es sollen daher nur einzelne pedes (also Elemente der Metren) verwendet werden. Es muss außerdem variiert werden, um Eintönigkeit zu vermeiden; auch dies widerspricht der poetischen Diktion, die ja gerade die Wiederkehr gleicher Metren erfordert. Das dritte Prinzip ist auch aus anderen rhetorischen Lehren bekannt: die dissimulatio curae, also das möglichst verdeckt zu haltende Arbeiten an der kunstvollen Wirkung. Der numerus soll so wirken, als habe er sich „von selbst eingestellt und sei nicht herbeigeholt oder erzwungen worden" (9,4,147). Der bekannte literaturgeschichtliche Überblick Quintilians im 10. Buch ist eigentlich in den Dienst der hexis des Redners gestellt (zur Literaturgeschichte vgl. Ax [2000] 209-229, Schwindt [2000] 153-173). Damit meint der Rhetor eine sichere Geläufigkeit im oratorischen Handeln. Er vergleicht das mit dem täglichen Training von Athleten (10,1,4), das für einen Sieg unabdingbar ist. Um einen sicheren Umgang mit der copia verborum zu bekommen, sollen hervorragende Schriftsteller und Dichter gelesen werden, und zwar nicht nur ein-

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mal, denn die Lektüre soll nicht „roh verschlungen werden, sondern durch vieles Wiederholen mürbe und gleichsam zerkleinert unserem Gedächtnis und Vorrat an Mustern (zur Nachahmung) einverleibt werden" (10,1,19). Nachzuahmende Muster finden sich bei den Dichtern (Epos, Tragödie, Komödie), den Historiographen und den Philosophen. Im Zuge einer kanonischen Darstellung griechischer und römischer Musterautoren verfallt der Autor indes immer mehr einer literargeschichtlichen Würdigung griechischer und römischer Größen, die von hohem Interesse für die Literarästhetik ist. Hieran schließen sich Kapitel über die imitatio (Nachahmung von Musterautoren) (10,2) und regelrechte Stilübungen an (10,3-5). Mit der cogitatio (10,6) und der Stegreifrede (10,7) als dem Höhepunkt dieser Übungen wird der Bereich der kompositorischen Übungen abgeschlossen, denn eine gute Rede aus dem Stegreif könne nur halten, wer durch lectio, consuetudo und exercitatio eine entsprechende facilitas erreicht habe. Komme es doch bei diesem officium multiplex darauf an, soviel in petto zu haben, dass einem der Stoff nicht bereits vor dem anvisierten Ende der Rede ausgehe. Hierbei spielen die imaginierten Vorstellungsbilder eine besondere Rolle, da sich der Redner von diesen leiten lässt gemäß der Einsicht: „Es ist nämlich das Herz, das beredt macht und die Macht des Geistes", pectus est enim, quod disertosfacit, et vis mentis (10,7,15). Die Überlegung und Planung der Rede (cogitatio) findet sich sonst nicht in den technischen Handbüchern. Die Berücksichtigung dieses .Arbeitsschrittes', von dem Quintilian betont, er stehe uns immer zu Gebote, wenn wir bei Tage oder Nacht eine Pause hätten, ist als Ausdruck der vollkommen auf den Orator zentrierten Lebensform zu sehen; dementsprechend wird Quintilian später betonen, dass nach Beendigung des öffentlichen Wirkens, keineswegs auch der Beschäftigung mit der Materie eine Grenze gesetzt ist (Inst. 12,11). Zudem dient die cogitatio der Ausbildung des iudicium, indem die rhetorische Strategie geübt wird. Das elfte Buch nimmt wieder den Faden der virtutes elocutionis/dicendi (Stilvorzüge s. o. S. 82f.) auf indem nun das aptedicere behandelt wird. Die Stellung ans Ende der elocutio empfahl sich in Quintilians Augen wohl deshalb, weil hier tatsächlich alle anderen ornatus-Aspekte auf ihr oratorisches Telos hin optimiert werden müssen. Das im Sinne des Parteiinteresses Nützliche ist zugleich dasjenige, was in der konkreten Situation ziemt. Das heißt, der Redner kann sein Ziel nur erreichen, wenn er sich an den vorherrschenden Normvorstellungen orientiert. Kommt es dabei zu einem Konflikt zwischen dem, was ihm als nützlich erscheint, und dem, was als Geziemend erachtet wird, so wird sich letzteres durchsetzen; daher muss der Redner sein Parteiinteresse im Zwei-

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felsfall zugunsten der Normvorstellungen zurückstellen oder bemänteln. Sokrates' rhetorische Niederlage ist, so betrachtet, das Festhalten an dem, was der Redner als nützlich ansah (Prinzipientreue), doch dem Konsens der Richter zuwiderlief (11,1,8-15). Die memoria ist nach der elocutio die vierte pars rhetorices. Zunächst spricht Quintilian der Fähigkeit des aneignenden Behaltens die größte Bedeutung für das Erlernen jeder ars zu: die ganze Institutio wäre ein sinnloses Unterfangen ohne den spiritus der memoria (11,2,1), der alles zusammenhält. Alle ars und disciplina beruhen auf memoria naturalis, und gerade die Rhetorik bedarf ihrer, da sich der Redner die dicta, facta und Gesetze einprägen muss. Daher ist die memoria recht eigentlich die „Schatzkammer der Beredsamkeit" (thesaurus eloquentiae,,vgl. Auct. ad Her. 3,28). Mit Hinweis auf die berühmte SimonidesAnekdote geht er auf die Lehre von den loca/loci (Gedächtnisorten) für die Gedächtniskunst ein. Das Einprägen von Text hat somit .topographisch' zu erfolgen, also anhand von wieder erinnerten Ortern (Haus, Stadt, Weg), indem an bestimmten prominenten Stellen Themen oder Formulierungen .abgelegt' werden; dabei werden die verba mit imagines und diese mit den loca verknüpft. Quintilian bemerkt, dass diese Methode eine doppelte Mühe erfordere (duplex curd), da wir uns ja Worte, Bilder und Orter merken müßten (11,2,23 ff.). Er scheint daher diese Methode als eher kurios denn praktikabel abtun und allein Merkzeichen am Textrand (z. B. den Anker für ein Schiff) für eine sinnvolle visuelle Methode halten zu wollen. Vielmehr empfiehlt er zur Stärkung des Gedächtnisses stufenweise schwieriger werdende Texte auswendig zu lernen (von Dichtung bis zu Gesetzestexten) und eine ruhig verlaufende, weitgehend enthaltsame Lebensform einzuhalten. Vor dem Hintergrund der antiken Mnemotechnik zeichnet sich somit ab, dass Quintilian die memoria artificialis auf ein Mindestmaß der exercitatio reduziert und mehr auf die memoria naturalis setzt (vgl. auch W. Neuber HWRh 5 [2001] 1037-1078). Die letzte pars ist die actio/pronuntiatio, nach einem bekannten Diktum des Demosthenes ist diese das Wichtigste der Rede überhaupt. Sie umfasst das körperliche Auftreten und die stimmliche Performanz. Aristoteles stellt Rhet. 3,1 fest, dass die bislang in der Rhetorik vernachlässigte hypokrisis nur in Bezug auf die Lexis (elocutio) technisch erfassbar sei, ansonsten aber nicht lehrbar, sondern eine Naturgabe. Demgegenüber räumt der römische Redelehrer zwar ein, dass die natürliche Veranlagung viel ausmache, wendet sich aber auch gegen diejenigen, die eine technische Unterweisung in der actio ablehnen, denn das seien dieselben, die auch das ganze Projekt der Institutio für überflüssig hielten, also die natura-Anhänger seiner Zeit. Der Orator sei aber kein Sänger, sondern

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gleiche vielmehr dem Soldaten, der nicht wie der Athlet körperliche Höchstleistungen in einer optimalen Wettkampfsituation vollbrächte, sondern Nächte durchwachen und auch bei widrigen Verhältnissen seinen Auftrag erledigen müsse. Der Orator hat sich dementsprechend trotz aller diätetischen Gebote unter den Bedingungen seiner Lebenswelt zu bewähren und kann mangelnde Leistung nicht mit äußeren Umständen entschuldigen. Diese Argumentation erinnert an das Ideal der eloquentia virilis, die Aper im Dialogus 5,4 vertritt (vgl. Schirren [2000] 238), von Quintilian indessen auf sein moralisches Programm des vir bonus bezogen wird. Aus einer durch geschlechtsspezifische Diskurse geschulten modernen Perspektive betrachtet ergibt sich, dass Quintilian die Modeströmungen seiner Zeit als verweichlichte und .weibliche' Entartung der Beredsamkeit überhaupt darstellen möchte, der er sein eigenes Ideal einer gemäßigten und .männlichen' Beredsamkeit gegenüberstellt (vgl. auch das Schlusswort in 12,11,31 pro viriliparte), eloquentia wird dadurch überhaupt zu einer Männersache erklärt, der man auch .männlich' zu entsprechen habe. Im einzelnen gliedert sich das Kapitel in die Bereiche Stimme und Körper (im Sinne des sermo corporis vgl. Cicero, De or. 3, 222); die Stimme sei eine Eigentümlichkeit des Redners, so unverwechselbar wie sein Gesicht (11,3,18) und könne in verschiedenen Tonhöhen (hoch, tief, Mittellage) modelliert werden. In Entsprechung zu den virtutes dicendi werden vier Forderungen erhoben: die pronuntiatio sei fehlerfrei (emendata), deutlich (dilucida), mit Ausdruckskraft (ornata) und schließlich passend (apta) (11,3,30). Ab §65 wendet sich Quintilian sodann dem gestus zu. Entscheidend ist hierbei, dass die Gebärde dem vorgetragenen Inhalt und der Stimme entspricht. Systematisch werden der Kopf, Nacken, Hände (sehr ausfuhrlich), Füße und auch der Anzug behandelt. Das Proömium des zwölften und letzten Buches ist wieder einmal der (topischen) Versicherung gewidmet, dass eine im Vergleich mit dem Vorangegangen weit schwierigere Materie zu behandeln sei. Der Autor sieht sich von den noch überschaubaren Anfangen der ars im Zuge seiner Darstellung gleichsam mit leichter Brise immer weiter hinausgetragen aufs weite Meer, und selbst Cicero, der ihm bisher Orientierung habe bieten können, könne ihm nun nicht mehr helfen: Die Frage nach dem artifex, insbesondere nach seinen mores (Verhalten) ist, so sieht es der Rhetor, vor ihm noch von keinem anderen Theoretiker behandelt worden. In der Tat hatte man im Horizont der Aristotelischen Trias der Uberzeugungsmittel (rationale Sachargumente, performiertes Ethos des Redenden, pathetische Einwirkung auf den Redenden), den Charakter des Redners immer nur als Funktion bzw. Folge von dessen rhetorischer Perfor-

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manz verstehen können. Nun glaubt sich aber Quintilian gezwungen, auch den tatsächlichen Charakter des artifex zu thematisieren (12, 1). Damit behauptet er, dass auch die von den Philosophen fiir sich reklamierten Gegenstände praktischer Philosophie für den artifex relevant seien. Ja, im Grunde seien sie sogar ursprünglich Sache von Oratoren gewesen, doch hätten sich die Philosophen des Bereiches bemächtigt, als die Redner diesen vernachlässigt hätten. Das war schon im Proömium des ersten Buches (§ 9-16) erörtert worden, als Quintilian auf die Vorstellung von den alten sapientes (Weisen) zurückgriff, die noch Beredsamkeit und moralische Integrität verbürgt hätten, während bereits Cicero das zwischen Rhetorik und Philosophie „zerrissene Studium" (scissum Studium) beklagt habe. Quintilian begründet so den folgenreichen Versuch, moralische Qualitäten in den Bereich der ars selbst zu rücken und als Lehrgegenstand bzw. technisches Erfordernis, dem sich der Redner zu stellen habe, zu etablieren. Die Rhetorik als ars bene dicendi wird so über die intrinsische Bestimmung des technisch guten Redens hinaus mit einer moralischen Anspruch belegt, indem das bene dicere zugleich ein Reden mit moralisch guten Absichten implizieren soll. So verständlich diese Überlegungen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen delatores sind, die in großen Schauprozessen reiche, aber dem Princeps missliebige Personen um deren Vermögen brachten, so problematisch ist die Forderung aber im Rahmen der ars. So können die Argumente, dass nur ein guter Mensch andere zu überzeugen vermag, kaum als zwingend erscheinen, da doch so über die rhetorische Situation hinaus der sonstige Lebenswandel zur Voraussetzung des Persuasionserfolges gemacht wird. Hier hatte sicherlich Aristoteles recht, wenn er betonte, dass es darauf ankomme, dass das Ethos des Redenden performiert werde - unabhängig davon, wie es tatsächlich um das Ethos stehe. Denn auch wenn dem römischen Theoretiker zuzugeben wäre, dass wir uns alle im täglichen Lebensvollzug mit moralphilosophischen Fragen beschäftigen, so ist dies eben ein allgemeiner Lebensaspekt, der jeden betrifft, und keineswegs ein proprium der rhetorischen ars. Die ars hat es vielmehr nur damit zu tun, dieses humanum rhetorisch angemessen zur Persuasion einzusetzen. Quintilian scheint das Problem erkannt zu haben, aber er beruft sich auf den Begriff orator; mit dem es nicht vereinbar sei, dass dieser nicht auch moralisch seine Mitmenschen überrage. Das sacrum nomen oratoris (12,1,24), von dem Quintilian spricht, erinnert an den Beginn des Dialogus des Tacitus, in dem beklagt wird, dass es keine Redner mehr gebe, die den Namen orator verdienten, und für Cicero ist der orator insbesondere durch dignitas ausgezeichnet (Cic. De orat. 1,64). Zwar ist Quintilians Argumentation zirkulär, aber sie zeigt doch, dass das rhetorische Programm der Institutio

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ein Bildungskonzept mit hoher gesellschaftlicher Relevanz sein will. Wollte man rhetoriktheoretisch dafür argumentieren, dann müsste man im Grunde den Fachcharakter der Rhetorik zugunsten eines Lebensideals philosophischer Provenienz aufgeben. Das folgende Kapitel (12,2) fragt nun, wie man nach der verhängnisvollen Trennung von Rhetorik und Philosophie die nötigen Kenntnisse erwerben könne. Es bleibt kein anderer Weg zur unabdingbaren doctrina als philosophische Studien, die in der gesamten traditionellen Dreiteilung von philosophia naturalis, rationalis, moralis Gegenstand für den Orator ist. Von den Philosophenschulen stehen dem Orator natürlich die Akademiker am nächsten, weil sie das in utramque partem disserere („für beide entgegengesetzte Seiten argumentieren") aufgebracht und kultiviert hätten. Quintilian hat bei diesen Forderungen aber keineswegs ein so unbedingt philosophisches Ideal im Kopf wie Crassus in De oratore, sondern denkt an den civis Romanus, der sein Wissen im Umgang mit den Dingen (experimenta verum) erwirbt. Dementsprechend sind die exempla römischer virtus, die man bei den Historiographien kennen lernt, wichtiger als die griechische Theorie. In den Kapiteln 3 und 4 werden weitere instrumenta des Redners behandelt, nämlich solide juristische Kenntnisse und noch einmal die Betonung der exempla. Die recht knappen Ausfuhrungen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die exempla gerade vor dem Hintergrund der praktischen Bewährung des Redners von Quintilian durchaus klar in ihrer rhetoriktheoretischen Relevanz erkannt sind (vgl. auch 5,11,1-44; 2,4,20; 3,8,36). Eine Folge des Primats der Praxis ist es schließlich, dass Quintilian auch darüber nachdenkt, wann der Rhetorikschüler aktiv auf dem Forum erscheinen sollte. Auch in dieser Frage entscheidet letztlich die natura des einzelnen, gleichwohl gibt es bestimmte Eckdaten, an denen man sich orientieren sollte. Wer zu früh beginne, könne die nötige Achtung vor dem Gericht verlieren, wer sein tirocinium fori zu spät antrete, dem fehle der souveräne Umgang mit der Redesituation. Zwar sei die Verteidigung grundsätzlich der Anklage vorzuziehen, aber der Orator könne seiner gesellschaftlichen Aufgabe nur gerecht werden, wenn er für das Gemeinwohl auch als Ankläger auftrete. Es gehe ihm hierbei natürlich nicht um die Strafe an sich, sondern um die Besserung der Delinquenten und um den Schutz des Staates. Dieser Standpunkt verweist auf das Rednerideal des Quintilian: der Orator als civis romanus. Fragen des Honorars und der Rückgabe des rhetorischen Beistandes schließen sich an. Der Orator dürfe sich auch nicht zu schade sein, den Sachverhalt mit seinem Klienten sehr genau durchzusprechen. Er könne sich nicht auf die schriftlichen Aussagen verlassen, sondern müsse den Klienten in der Rolle des Richters ins

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Verhör nehmen. Mit dem konkreten Auftreten vor Gericht (Kap. 9) kann der Autor nun die Vorschriften der ars um diejenigen des artifex ergänzen. Der Redner dürfe niemals über sein eigenes Wirken das Parteiinteresse aus dem Blick verlieren. Er müsse alles tun, damit der Zuhörer den Fall, aber nicht ihn als Redner beurteile. Hier kann sich Quintilian auf die alte Regel des dissimulare artem berufen, die darauf hinausläuft, die Spuren rhetorischer Strategie, die bisweilen sehr erheblich sein können, zu verbergen, um keinen Argwohn auf sich zu lenken. Ebenso dürfe der Orator sich nicht vom Zorn seines Klienten zu Ausfallen hinreißen lassen, die seinem eigenen Image schaden könnten. Der Redner solle sich vorbereiten, soweit dies möglich sei, und sich ansonsten auf seine Spontaneität verlassen, die ihm, je besser er den Fall kenne und je trainierter er sei, um so mehr zu Gebote stehe -, so selbstverständlich und natürlich wie dem Bürger sein Gespräch im täglichen Leben. Den letzten Punkt seiner Gliederung, das opus, behandelt Quintilian in 12,10 mit der Stillehre {genus dicendi/orationis). Seit der Rhetorica adHerennium wird im lateinischen Traditionszusammenhang die Frage des Stils in Form einer Dreistillehre dargestellt. Vergleichspunkte sind regelmäßig Körperformen, zunächst der natürliche menschliche Körper {Auct. ad Her. 4,15-16), bei Cicero und Quintilian treten an diese Stelle artifizielle Darstellungsformen entsprechend der antiken Stilentwicklung von der Archaik über die Klassik bis zum Hellenismus. Quintilian bringt zunächst einen Abriss der Malereigeschichte von Polygnot bis Euphranor (12,10,3-6), dann der Bildhauer (12,10, 7-9), von Kal(l)on bis Praxiteles. Hierbei wird eine zunehmende Expressivität und Vielgestaltigkeit konstatiert, gleichwohl betont, dass es für jeden Stil auch heute noch Anhänger gebe. Offenbar übernimmt der Rhetoriker diese historischen Abrisse der Kunstgeschichtsschreibung, wie sie Varro fortgesetzt hat. Neben der Anschaulichkeit, die die sinnenfalligen Formen bieten, tritt uns in der aufgewiesenen Parallelität jene Einheit der antiken Techne-Konzeption entgegen, die es wenig sinnvoll macht, danach zu fragen, wo die kunsttheoretischen Grundlagen für die Diversifizierung der Stile geschaffen wurden. Vielmehr ist von einer Art semiotischer Universalien auszugehen, die die Produkte verschiedener artes durch gleiche Begriffe kategorisieren. Aus heutiger Perspektive indessen mag man dazu neigen, hier Leitwissenschaften anzusetzen (etwa Rhetorik), deren Kategoriensysteme auf andere Technai übertragen werden; doch ist dies aufgrund der trümmerhaften Uberlieferung der anderen artes nicht überprüfbar. Bei der Darstellung der Stillehre folgt Quintilian zwei Wegen. Zunächst geht er von einer historischen Entwicklung aus, die in Cicero kulminiert. Sie habe ihre griechischen Ursprünge bei den attischen Rednern,

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und Cicero sei zu seinen Lebzeiten von den strengen Attizisten angefeindet worden, dass er zu asianisch spreche. Die Asianismus/Attizismus-Kontroverse der späten Republik finde im Rhodischen Stil ein Mittleres zwischen den Extremen größter sprachlicher Einfachheit einerseits und betontem, ja überbordenden ornatus andererseits (12,10,16-19). Quintilian sucht diesen zu seinen Zeiten längst zugunsten des Attizismus entschiedenen Streit durch eine grundsätzliche Reflexion über die Lautformen des Lateinischen gegenüber dem Griechischen zu entkräften, indem er resümiert: „Deshalb gebe mir, wer von dem Lateinischen die Anmut der griechischen Sprache verlangt, im Ausdruck den gleichen Liebreiz und eine eben solche Fülle" (12,10,35). Da dies nicht möglich ist, empiehlt er den Griechen die copia verborum zu überlassen, und nur auf dem Felde der inventio und des iudicium mit den übermächtigen Vorbildern zu wetteifern. Den römischen Attizisten hält er entgegen, dass sich stilistische Fragen nicht von der Nullstufe des sermo cotidianns her beantworten ließen, sondern Schriftlichkeit und Mündlichkeit ihre je eigenen elokutionären Formen hätten. Zudem forderten die oratorischen officia des docere, delectare, movere eine je besondere Wahl der einzusetzenden sprachlichen Mittel, wobei auch der Zeitgeschmack zu berücksichtigen sei. Auch fiir den zweiten Weg der Darstellung, die so genannte Dreistillehre, macht Quintilian den Grundsatz des aptum geltend, den schon Cicero betonte, und er will den einzelnen Redner nicht auf einen bestimmten Stil festlegen. Das hindert ihn freilich nicht, zu Demonstrationszwecken die homerischen Redner, Menelaos, Nestor und Odysseus mit den drei Stilen gleichzusetzen und in Odysseus die göttliche Beredsamkeit im genus grande verwirklicht zu sehen (12,10,64-65). Die Hauptformen der elocutio müssen nuanciert variiert werden (ebd. 66-68) und zwar auch innerhalb ein und derselben Rede, je nach den Redeteilen. Nachdem er so von einem normativen ästhetischen Standpunkt aus die Stillehre dargelegt hat, nimmt die Darstellung eine interessante Wendung, indem sich der Theoretiker fragt, warum die Menschen, ungeachtet der fragwürdigen sprachlichen Formen, von den .Konzertrednern' seiner Tage angezogen würden. Die rezeptionsästhetische Begründung lautet: „Sobald aber nun etwas Gesuchteres in der Rede sich findet, das auf das Ohr der ungebildeten Menge Eindruck macht, es sei, was es wolle, wenn die Zuhörer nur meinen, so etwas könnten sie selbst nicht, so findet es ihre Bewunderung - und gar nicht zu Unrecht; denn auch so etwas ist ja nicht leicht" (12,10,75). Die ungebildeten, d. h. ohne rhetorisches iudicium urteilenden Zuhörer lassen sich durch elokutionäre Extravaganzen und Verfremdungen anlocken und bewundern das Ungewöhnliche, da ihnen der Maßstab fehlt:

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„Wenn man jedoch mit schärferem Urteilsvermögen dieser verderbten Kunst zu Leibe geht wie den rot gefärbten Stoffen mit Schwefel, dann müssen sie gleich ihre erlogene unechte Farbe, mit der sie vorher hatten täuschen können, verlieren und in fast unbeschreiblicher Hässlichkeit verbleichen" (ebd., 76). Die similitudo mit der nur aufgetragenen (und nicht durchgefärbten) Farbe ist insofern aufschlussreich, als es uns zurückverweist auf den Grundaspekt des ornatus, der nicht als ein äußeres Accessoire angebracht werden dürfe, sondern im Dienste der Funktion stehe, die der Orator bezwecke. Es ist daher dem Rede1 ehrer darum zu tun, gerade solche Maßstäbe einsichtig zu machen und zu etablieren, um dem weiteren von ihm konstatierten Verfall der Beredsamkeit entgegenzuwirken. Den Abschluss dieses Kapitels bildet der Hinweis, dass der erfahrene Redner angesichts der vielen praecepta nie verunsichert werde, sondern nicht nur stets die beste Entscheidung treffe, sondern auch ganz leicht ifacillime), unbedrückt von jeglicher Sorge und Ängstlichkeit. Denn je höher der Orator in seiner Vollkommenheit gelange, desto weniger entziehe sich seinem sicheren Zugriff und Können, schließlich böten sich ihm die geeigneten Mittel wie von selbst dar: „So wird Großes zustande kommen, nicht zu Großes, Erhabenes, nicht Abschüssiges, Kühnes, nicht Verwegenes, Ernstes, nicht Düsteres [...] Ähnlich ist das Verhältnis bei den anderen Vorzügen, und am sichersten ist gewöhnlich der Mittelweg, weil das Äußerste nach beiden Seiten ein Fehler ist" (ebd. 80). Hiermit ist im Grunde das ganze Programm der Institutio zusammengefasst: Das aufgeführte Theoriegebäude lässt den Produzenten nicht skrupulös überlegen, welche Regel er befolgen soll, sondern es stellt ein Arsenal an Möglichkeiten dar, aus dem sich der artifex souverän bedient und das beliebig variierbar ist. Orientiert an der aurea mediocritas wird dieser treffsicher entscheiden, was ihm nützt und was nicht. Quintilian beschließt sein Werk mit Empfehlungen für den richtigen Zeitpunkt der Beendigung oratorischen Wirkens (12,11), doch bilden diese Ausfuhrungen eigentlich nur den Ausgangspunkt, denn des weiteren entwickelt Quintilian hier seine Lehre eines „livelong learning", das ja auch eine Voraussetzung seines in der Institutio vorgestellten Rednerideals ist. Der aktive Dienst sollte dann beendet werden, wenn der Redner aufgrund abnehmender Stärke hinter seinen eigenen Leistungen zurückbleibe. Quintilian erwähnt das Beispiel seines Lehrers Domitius Afer (12,11,3), über den man sich lustig machte, dass er eher schwächer werden wollte als der aktiven Beredsamkeit entsagen. Diese Schwäche ist unverzeihlich, nicht weil sie absolut betrachtet hinter anderen Redeleistungen zurückbliebe, sondern weil es von dem Bild des Orators abwei-

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che, das dieser von sich aufgebaut habe. Die große Menge des zu Lernenden, eignet sich der Orator als virbonus an, weil er, seiner Naturanlage folgend, sein eigentliches Menschsein verwirklicht. Wie auch der stoische Weise sieht der vir bonus in der virtus einen Selbstzweck und fragt nicht nach dem cui bono. Daher ist ihm die rednerische virtus als höchste Verwirklichung des Menschseins Ansporn zum lebenslangen Studium und, nach dem Ende der Rednertätigkeit, impliziert dies die Verpflichtung, das erworbene Wissen und die Erfahrung an die nächste Generation weiterzugeben. Man wird in dieser Huldigung an die eloquentia auch eine Begründung der eigenen schriftstellerischen Tätigkeit Quintilians nach dem aktiven Dienst als Lehrer sehen können. Mit dem Schlusswort ist denn auch die Auffassung ausgesprochen, dass das ganze vorliegende Werk in diesen allgemeinen Dienst am Menschen gestellt ist, da es nicht nur der utilitas diene, sondern der Ausbildung einer bona voluntas der Studierenden (12, 11, 31), es also zur Verbesserung einer moralischen Haltung fuhren soll.

5. Geschichte des Textes und Wirkung seiner Lehre Konnte Quintilian erwarten, dass sein großes Kompendium zur rhetorischen Wissenschaft ein Publikumserfolg werden würde? Wohl kaum, denn bereits sein Anspruch, durch dieses Bildungsprogramm den Stand der römischen eloquentia zu bessern, lässt erkennen, dass es durchaus auch Zeitgenossen gab, die diesem Anliegen keineswegs aufgeschlossen waren; immer wieder muss er ja Einwänden begegnen, die den Nutzen der ars für die Praxis überhaupt in Frage stellen. Für die Uberlieferungsgeschichte des Textes ergibt sich daraus, dass man die seltene Erwähnung Quintilians einerseits und einen schmalen Uberlieferungsstrang andererseits als Anzeichen eines geringen Interesses werten könnte; gleichwohl bleibt zu bedenken, dass die Institutio überhaupt überliefert und in den .dunklen Jahrhunderten' nicht einfach verschollen ist: manche werten das Faktum der puren Existenz durchaus als ein Anzeichen der Verbreitung. Immerhin hatte Cassiodor (485- 580) offenbar ein Exemplar der Institutio, auch wenn nicht sicher ist, wie umfangreich es war. Im Zuge seiner Darstellung über die Rhetorik (Inst. 2,2) folgt er der Quintilianischen Definition der Rhetorik als bene dicendi scientia, die der Orator als virbonus dicendiperitus beherrsche (vgl. Quint. 2,15. 38; 2,15,5). Später hebt er die Leistung Quintilians hervor, der als doctor egregius auch selbst zu erfüllen vermochte, was er lehrte und sich der rhetorischen Erziehung des Menschen von der Wiege an

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widmete, indem er zeigte, dass man den angehenden Redner „durch alle Künste und Disziplinen der höheren Wissenschaften" (litterae nobiles) erziehen müsse. Dann aber empfiehlt er, man müsse die Lehrschrift des Cicero (also die diesem zugeschriebene Herennius-Rhetorik) und die 12 Bücher des Quintilian verbinden (jungendos esse libros), da sonst die Handhabkeit der Codices allzu sehr leide und man nicht immer zu diesen greife, wenn es eigentlich erforderlich wäre. Vorbild sei hier Fortunatian, den Cassiodor selbst in einer Handausgabe {in pugillari codice) redigiert habe, um den „Überdruß des Lesers zu beseitigen und leicht zugänglich zu machen, was erforderlich ist" (ebd. 2,2,10). Hier wird die später im 9. Jahrhundert zunehmende Praxis des Epitomierens ausgesprochen. Man kann dem aber unzweifelhaft entnehmen, dass - entgegen der weit verbreiteten Vorstellung von der Bedeutung der Rhetorik im MA hier bei Cassiodor noch ganz klar ein pragmatischer Zugang zum antiken Erbe formuliert ist, d. h. der Autor hält es für unabdingbar, das überlieferte Bildungsgut den rhetorischen Bedürfnissen der Zeit anzupassen. Die HerenniusRhetorik bildet dabei in ihrer Knappheit gewissermaßen den eher technischen Teil, während die Institutio das über die ars im engeren Sinne hinausgehende Bildungsprogramm liefern soll. Möglicherweise hat Isidor von Sevilla (560-636) Quintilian benutzt (etym. 1,28; 3,17; 2,2,1), denn er könnte auch ein solches Kompendium, wie Cassiodor es vorschwebt, im Gebrauch gehabt haben. Eine Sammlung von wissenschaftlichen Exzerpten hat ein Codex, der in Montecassino angefertigt wurde (Paris, lat. 7530), er übernimmt die Figurenlehre aus Buch 8 und 9. Da uns keine antiken Reste von Handschriften erhalten sind, bilden Handschriften aus dem 9. Jahrhundert die ersten sichtbaren Zeugen von der Verbreitung der gesamten Institutio. Der Ambrosianus E 153 sup. muss zu dieser Zeit noch vollständig gewesen sein, blieb aber ohne Auswirkung auf die Uberlieferung. Das geht aus zwei berühmten Anfragen des Lupus von Ferneres an den Abt Altsig von York (ep. 62; 832) und später an den Papst Benedikt III. (ep. 111; zwischen 855 und 858; Brunhölzl, Lex. des MA s. v. Quintilian sp. 372 datiert den ersten Brief 849, den zweiten 856) hervor; in letzterem Brief beklagt sich der Gelehrte, dass er von Ciceros De oratore und der Institutio nurmehr Teile besitze, und wünscht, diese durch ein vollständiges Exemplar zu ergänzen. Diese Versuche blieben erfolglos, sei es, weil Lupus diese Handschriften nicht erhielt, sei es, weil auch die Angeschriebenen keine vollständigen Handschriften hatten; und so verbreiteten sich ab dem 9. Jahrhundert Handschriften mit größeren Lücken, bedauerlich insbesondere das Fehlen vom Proömium bis 1,1,6 und 9,3,2 bis 10,1,107, aber auch 5,14,12 bis 8,3,64; 8,6,17 bis 8,6,67 und der Schluss 12,10,43 bis zum Ende. In Deutschland da-

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gegen muss man vollständige Exemplare besessen haben, denn die Bamberger Handschrift wurde im 10. Jahrhundert nach einem vollständigen Exemplar ergänzt, das dem sonst unbekannten Ambrosianus E 153 sup., verwandt gewesen ist. Diese Vorlage ist verloren, aber der Bambergensis hat sich in einigen wenigen Exemplaren in Deutschland verbreitet. Eines von diesen muss es gewesen sein, das im Jahre 1416 von Poggio in St. Gallen entdeckt wurde. Doch dazwischen lag die lange Zeit der códices mutili, die von den Interessenten an diesem Werk immer wieder bedauert wurde. Andererseits gibt es in der Rhetorik des Ulrich von Bamberg (Codex Udalrici, ÖNB 2521) ein Exzerpt aus denjenigen Teilen, die in den mutili gerade fehlen (Abdruck bei Lehmann 1934, 375-380); ebenso in einer Erziehungsschrift eines Zwiefaltener Mönches aus dem 11. Jahrhundert (aus Inst. 1,1.3.11; 2,2. 4.5.91; Abdruck bei Lehmann 1934, 380-383). Beide Dokumente beweisen einen pragmatischen Umgang mit der Institutio, da nicht ein philologisches Interesse am Dokument leitend ist, sondern die Lehrschrift: an die Bedürfnisse der Zeit adaptiert wird. Petrarca (1304-1474) ist von dem entstellten und lückenhaften Exemplar, das in seine Hände fiel (der Codex Par. 7720 mit den Bemerkungen des Gelehrten ist noch vorhanden), sehr enttäuscht: „Ich wünsche dich, Quintilian, unversehrt zu sehen und wo immer du ganz liegst, bitte ich, dass du mir nicht länger verborgen bleibst.... zu spät habe ich dein Talent kennen gelernt, Buch von der Ausbildungen des Redners: es ist zerpflückt und versehrt in meine Hände gelangt!" Der sensationelle Fund des Handschriftenjägers Poggio Bracciolini in St. Gallen beendet diese Klagen über das übel zugerichtete Vermächtnis des römischen Redelehrers. Auf dem Weg von einem Badeurlaub in Baden-Baden nach Konstanz, wo von 1414-1418 das Konzil über das Schisma der Kirche beriet, nutzte der Sekretär des Papstes mit zwei weiteren italienischen Begleitern den Aufenthalt nicht nur zur Erholung in deutschen Bädern, er suchte auch in den deutschen Klöstern nach unbekannten Handschriften. In St. Gallen wurde er im September 1416 fundig, als er in einem nicht für Bücher geeigneten Turmverließ, das, wie er betont, selbst einem zum Tode Verurteilten nicht zugemutet werden könnte, die ganze Institutio entdeckte; die ungebildeten Mönche hatten offenbar keine Ahnung, welche Schätze sie in ihrem Kloster bewahrten. Zunächst schickt Poggio Kapitelanfange in die gelehrte Welt, um sie von dem unglaublichen Fund zu unterrichten, dann schreibt er eigenhändig in 54 Tagen den ganzen Codex ab. Dieser ist möglicherweise die Zürcher Handschrift 288, die ihrerseits auf den Bambergensis und letztlich den Ambrosianus zurückgeht. Von seiner Abschrift zirkulierten bald viele weitere Abschriften oder vorhandene Codices konnten ergänzt werden, so dass wir

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heute über 100 Codices aus dieser Zeit haben, deren Wert jedoch von Winterbottom geringer angesetzt wird als die älteste Überlieferung, wie sie im Ambrosianus und Bernensis vorliegt (Winterbottom 1970, vii-viii). Die nun breit einsetzende Rezeption wird von Humanismus- und Rhetorikforschern gern als Prozess der Synthese und Rekonstruktion des im Mittelalter fragmentierten Uberlieferungsgutes beschrieben. Dagegen hat man jüngst Einspruch erhoben und betont, dass die mittelalterlichen Interessen an der antiken Rhetorik pragmatischer Natur waren, während die Humanisten als erste Philologen die überlieferten Texte zugleich musealisierten und als Instrumente in ihrem Bildungskampf gebrauchten. Hiermit verbindet sich die Orientierung an Haupttexten bzw. die Etablierung von solchen wie der Aristotelischen Rhetorik, die auf Kosten der mittelalterlichen Konzeption der Rhetorik als einer praktisch ausgeübten Fähigkeit geht, indem sie sich ihr Fachwissen jeweils aus dem Uberlieferungsfundus kompiliert hatte (vgl. gegen Murphy 1974, 357-363 und Vickers 1988, 214-293 die provozierende These von Ward 1995). Interessanterweise illustriert Vickers die These von der Fragmentierung des antiken Wissens im Mittelalter mit Erwin Panofskys Behauptung, dass die mittelalterliche Kunst vom principle ofdisjunction bestimmt sei, während erst in der Renaissance literarische und Formtradition wieder zusammengeführt worden seien. Diese Interpretation ist neuerdings von Salvatore Settis korrigiert worden. Settis will nur noch verschiedene Sichtweisen auf die Antike unterscheiden; das Novum der Renaissance bestehe darin, nach der mittelalterlichen Kontinuität des antiken Formenschatzes ein Distanzverhältnis entwickelt zu haben, in welchem die Orientierung an den antiken Vorbildern erst nach einer Erhebung derselben zu einer Norm vollzogen werden könne. Das hieße, dass in ganz ähnlicher Weise, wie dies für die literarische Tradition gilt, in der Renaissance die auctoritas der antiqui nur um den Preis des Kontinuums zu haben gewesen sei, das freilich den pragmatischen Bedürfnissen der Zeit unterworfen ist (.Fragmentierung1). Die Fragmentierung weicht so der Musealiserung (Settis 1986). Zu den ersten humanistischen Rezipienten zählt der Protophilologe der Renaissance Lorenzo Valla (1407-1457); er versieht zwei in seinem Besitz befindliche Codices mit gelehrten Bemerkungen und Emendationen; einer davon, der Codex Parisinus lat. 7723, ist noch erhalten und die Noten des Gelehrten sind inzwischen kritisch ediert (Martinelli/Perosa 1996) und dokumentieren die Interessen dieses Lesers. Er scheint den Codex um 1443 erworben und bis zu seinem Tod 1457 daran gearbeitet zu haben (Marinelli/Perosa 1996, xii-xiii); postum erscheint in Venedig ein Kommentar mit Noten, der aber

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nur bis Inst. 2, 14 reicht. Valla findet in Quintilian die ihm willkommene Autorität gegen die mittelalterliche Bildungskonzeption, in der die Rhetorik eine nur dienende Funktion hatte. Er erneuert so den alten Streit zwischen Rhetorik und Philosophie, den Piaton im Gorgfas begonnen hatte; Cicero scheint einem der Dialogpartner, Vegio, in Vallas Schrift De verofalsoque bono sive De voluptate nicht weit genug gegangen zu sein, wenn er in jenen Fragen als Philosoph argumentiert habe und nicht als Orator, die doch das eigentümliche Gebiet der Rhetorik seien. Denn die Philosophie habe der Rhetorik zu dienen, nicht umgekehrt. Denn es seien die Oratoren, die dazu erkoren seien, in gesellschaftliche Führungspositionen zu gelangen, während die Philosophen „in den Winkeln" hockten und keine gesellschaftliche Aufgabe übernähmen. Die Argumente erinnern an Quintilians Kritik an den Philosophen und dem Lob des Orators als Agenten im gesellschaftlichen Interesse. Vickers, der diese Passagen als Marksteine im alten Konflikt zwischen Rhetorik und Philosophie betrachtet, erkennt hierin eine antiplatonische Wendung, die die von Piaton angegriffene Allkompetenz der Rhetorik positiv zu behauptet scheine, in ihrer Polemik jedoch unversehens der Megalomanie anheim falle (Vickers 1988,178-183). Valla beruft sich zudem in der Frage der richtigen Sprachnorm auf das Observationsprinzip Quintilians, das durch usus (Sprachgebrauch) und auctoritas (Musterautoren) konstituiert wird (zu den Elegantiarum linguae Latinae librivgl. Ax 2001, 48-49 mit Quint. 1,6,3; 1,6,16) und sich so von einer strengen Regelobservanz zu lösen strebt. Indem Valla Quintilian höher als Cicero stellt, provoziert er die Ciceronianer seiner Zeit. 1470 erscheint die editioprinceps von Giovanni Antonio Campano (1429-1477) in Rom, einem Schüler Vallas (informativer Überblick bei Classen 2003, 171-175). Die „Spachideologie" Vallas, der im antiken Latein das Fundament der humanitas und aller Wissenschaften sah, läßt sich in einer Linie mit dem von Quintilian vertretetenen Anspruch sehen, dass die Rhetorik den Menschen auszeichne, indem sie dessen kommunikative Fähigkeiten kultiviere. Wo Quintilian die ars lehrt und propagiert, da empfiehlt Valla das Studium des klassischen Lateins (Gerl 1985). Neben diesen philo-logisch ausgerichteten Rezeptionsformen ist auch in der Pädagogik ein Interesse für die Institutio zu konstatieren. Es ist einleuchtend, dass sich die Humanisten insbesondere der Erziehung der Jugend annahmen, um sie frühzeitig in den Geist der neuen Zeit zu fuhren (gute Vorstellung bei Messer 1897). So findet man bei Enea Silvio (1404-1464) in einem kurzen Traktat über die Erziehung die von Quintilian (1, 1, 1) betonte Trias von natura, disciplina und exercitatio, sowie die besondere Bedeutung der sprachlichen Erziehung; neben Quintilian ist zu dieser Zeit auch vielfach dessen griechischer

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Zeitgenosse Plutarch mit seiner Schrift über die Erziehung der Kinder {De liberis educandis) benutzt worden. Die Institutio wird insbesondere für die Grammatik und die elocutio {ornatus, Tropenlehre) ausgeschrieben. Guarino lehnt sich an die Überlegungen Quintilians zum Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler (2,2-3) und zum Anfangsunterricht an. Die Anweisungen zum Grammatikunterricht, mit dessen Bestandteilen der ratio loquendi und der enarratio poetarum (Inst. 1,9,1), entsprechen denen des römischen Redelehrers genau. Ebenso folgt er der Anthropologie Quintilians, der den Hang des Menschen zum Wissen und zur wissenschaftlichen Betätigung am Anfang (1,1,1) und am Ende (12,11,13) seiner Institutio betont. Eine ungleich anspruchsvollere Auseinandersetzung mit der Institutio dokumentieren einige Schriften des Erasmus. Er spottet bekanntlich über die grammatici seiner Tage, die regelversessen den Zögling die Freude am Lernen nehmen und einander sprachliche Fehler vorhalten. Die Schrift über die Erziehungsmethode {De ratione studii) verdankt insbesondere im zweiten pädagogischen Teil so viel dem römischen Vorbild, dass er selbst explizit sagt, er wolle nur mehr modifizieren und ergänzen, was schon vom großen Meister gesagt sei. A m interessantesten ist vielleicht in diesem Zusammenhang die Schrift über die Briefstellerei (De conscribendis epistulis). Denn in dieser während des Mittelalters durch Regelkonformismus gepflegten Disziplin erinnert Erasmus an das consilium und das iudicium, das allen praecepta voranzugehen habe. Noch deutlicher vielleicht in dem ironischen Lehrdialog Ciceronianus, in der ein an Cicero-Manie erkrankter durch Ratschläge geheilt wird, die auch Quintilian beim Thema stilusund imitatio gebraucht: man dürfe sich nicht an verba und numeri halten, sondern an die Sachen und die sententiae, denn im ingenium und im consilium zeige sich der wahre Redner. Urteilsloses Abkupfern dagegen sei fruchtlos und frustrierend. Der Reformator Martin Luther (1483-1546) lernte Quintilian bereits im Studium gründlich kennen und las später als Professor in Wittenberg selbst über die Institutio (Brief an J . L a n g vom 21.3.1518 Weimarer Ausgabe Briefe 1,154), also etwa zu der Zeit, als er seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg schlug (31.10.1517). A m 29.11.1519 schreibt er an den Freund Georg Spalatin (1484-1545), dass er den Aristoteles ruhig liegen lassen könne, wenn er nur Quintilian eifrig studiere: „Quintilian ist tatsächlich der einzige, der die Jugend zum besten fuhrt, ja, wirkliche Männer aus ihnen machen kann. Diesen mögest Du vor allem nicht vernachlässigen. [...] Ich ziehe Quintilian einfach allen anderen Autoren vor. Denn er bildet zugleich aus und reicht die Beredsamkeit dar, d. h. in Wort und Sache lehrt er auf das genaueste." Zur Form der Vermittlung äußert sich der Reformator auch an anderer Stelle {Rationis

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Latomianae confiitatio 1521): „Ich möchte von der Regel zum Exemplum gelangen, damit wir nicht wie die Stoiker sind, die den Weisen so definiert haben, dass sie dessen niemals ansichtig werden konnten. - So wie auch Quintilian seinen Redner formt" {qualem oratorem Quintiiianus quoqueformat Weimarer Ausgabe 8,110-111). Wenn sich hierin eine Billigung des Praktikablen und des dem Menschen Möglichen ausdrückt (und nicht gemeint ist, dass auch Quintilians oratorperfectusunerreichbar bleibe, ganz klar ist der Text hier freilich nicht), das sich als Exemplum manifestiert, dann hätte Luther in Quintilian den plastisch und anschaulich in exempla darstellenden Didaktiker gerühmt, wie er auch selbst in der einfachen Prosa von Traktat oder Fabel die allergrößte rhetorische Wirkung zu entfalten wusste. In diese Richtung geht wohl auch das Lob des an der Lebenswirklichkeit orientierten Rhetors, dessen SubstanzbegrifF im Horizont des disputare quid sit? der Statuslehre dem scholastisierten SubstanzbegrifF des Aristotelismus vorzuziehen sei (ebd. 8, 88,16ff.). Erasmus hält er in der Streitschrift De servo arbitrio vor, dass dieser sich in seiner Argumentation so lächerlich mache wie wenn Quintilian als Redelehrer nur die benedicendi peritia predigte, die fünf partes rhetorices dagegen als dumm und überflüssig abtun wolle (stulta et supervacud) (ebd. 18, 614, 34ff.). Die avancierte Stellung von Quintilian im Humanismus forderte aber auch die scharfe Kritik des Petrus Ramus (1515-1572) in seinem Anti-Quintilian von 1549 heraus: Er lehnt das integrative Rhetorikmodell entschieden ab und reduziert diese ars auf elocutio und actio, während er die inventio, dispositio, memoria als Teil der Dialektik ansieht, das korrekte Schreiben und Sprechen als Gegenstand der Grammatik. Für die inventio hält er eine Zehn-Topoi-Lehre bereit, nach der jedes Sachproblem zu erschließen sei, während man den Anweisungen des lateinischen Redelehrers niemals eine Ciceronische Rede schreiben könnte (Knape 2000b, 237- 259). Keineswegs unkritisch ist auch Gerardus Ioannes Vossius in seinen sechs Büchern der Oratoriae institutiones von 1630 (ND 1974; 2 Bd.); an den vielen Stellen, wo Quintilian namentlich erwähnt wird, korrigiert der neuzeitliche Theoretiker den römischen Redelehrer, meistens mit Berufung auf Aristoteles, den er als Autorität durchaus anerkennt. Es geht hier aber nicht wie bei der Fundamentalkritik von Ramus um die Umgestaltung der gesamten Wissenschaft nach neuen logischen Prinzipien, sondern es wird der Fachdisput gefuhrt: Quintilian habe einen falschen Begriff vom genos epideiktikon (1,43); er halte falschlich das genus iuridiciale für schwieriger als das genus negotiale, gebe eine falsche Definition der Metonymie (II 113) und Synekdoche (II 135), zähle falschlich die Ironie unter die Figuren (II 195) usw.

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In Johann Christoph Gottscheds Ansfiihrlicher Redekunst (1736) steht Quintilians Rednerideal für die Definiton Pate, indem Gottsched hier den Redner „einen gelehrten und rechtschaffenen Mann [nennt], der die wahre Beredsamkeit besitzt" (S. 46). Er fordert eine Weltweisheit für den Redner (S. 50) und hält mit Berufung auf Quintilian auch den Lebenswandel des Redners für persuasionsrelevant. Gerade das 2. Hauptstück des Werkes ist ganz deutlich von der Institutio geprägt. Vielleicht vermittelt durch solche Traditionszusammenhänge (vgl. grundlegend Barner 1970) kann es nicht wunder nehmen, wenn sich auch beim jungen Goethe ein Interesse an Quintilian niederschlägt, wie es frühe Exzerpte dokumentieren (in den Ephemerides von 1770-71). Sie zeigen das Interesse am Erzieher (1. und 2. Buch) und an einem ins Leben integrierten Umgang mit der Literatur (10. Buch), und sie lassen darauf schließen, dass der junge Goethe die Institutio als eine Art Vademecum für angehende Literaten las, wobei er offenbar eine dekonstruktivistische Lektüre bevorzugte (dazu Schanze 1995; Seel 1977,288-319). Für den Begriff der Weltliteratur, den Goethe verwendet, wäre auf dessen Erfahrungsbegriff zu verweisen, der sich mit derfacilitas Quintilians verbinden ließe: es geht hier um einen freien Austausch mannigfacher Stimmen, so wie der Redelehrer die Epochen in seiner Literaturgeschichte unter dem Aspekt der Textproduktion zusammenbrachte.

6. Epilog: Wo wären wir heute ohne Quintilian? In Manfred Fuhrmanns erfolgreicher und überaus verdienstvoller Einführung Die antike Rhetorik markiert Quintilian den letzten Posten einer langen und lebendigen Tradition des systematischen Lehrbuches in der Antike, die nach seinem opusmagnum nur mehr als Abbreviatur und Kompilat fortexistierte. Aus dem engeren Bedürfnis eines Lehrbuches wurde bei Quintilian ein Programm für die Lehrer, aber auch ein Manifest rhetorischer Erziehung. Diesen integralen Aspekt hat insbesondere Otto Seel in seiner postum erschienenen Monographie Quintilian oder Die Kunst des Redens und Schweigens (1977) herausgestellt. Hierin unternimmt er den Versuch, in Quintilian nicht nur eine Bündelung antiker Lebenskultur zu sehen, sondern einen bis in die Neuzeit reichendes Konzept humanistisch-besonnener Bildung, die erst in der Moderne verloren ging und deren Horizont nur mühsam wieder gewonnen werden könne. Im modernen Interesse an der Rhetorik hat man auf den Systematiker Quintilian zurückgegriffen, so etwa Heinrich Lausberg in seinem Handbuch der

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Literarischen Rhetorik (1960; 31990), das zu Recht in Quintilian ein antikes Gegenstück entdecken kann; immerhin formuliert Lausberg in seinem Vorwort programmatisch, sein Werk verfolge ein „pädagogisches Ziel", indem es dem Anfanger den Werk zur Literaturwissenschaft ebnen wolle. Damit verwirklichte Lausberg auch ein Anliegen seines Lehrer Ernst Robert Curtius, der in seinem epochalen Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) die Rhetorik als durchgängige Bildungsmacht und Strukturprinzip der europäischen Literatur erwies. Während Lausberg pragmatisch das rhetorische System illustrierend (insbesondere nach der Institutiö) darstellte, wollte Curtius die literarischen Topoi aufspüren, die das Kontinuum der europäischen Literatur konstituieren. Beide konnten in Quintilian einen Archegeten erkennen, der dadurch, dass er die Rhetorik als Verwirklichung der höchsten menschlichen Daseinsform begriff {vir-bonus-Ideal), auch der literarischen Bildung (Literaturgeschichte in 10,1) besonderen Wert beimaß. Auch die moderne lebensweltlich orientierte philosophische Hermeneutik kann an Quintilian anknüpfen. Nicht ohne tieferen Grund hat Klaus Dockhorn in seiner Rezension in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 218 (1966) von Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode auf Quintilian verwiesen, der für die hermeneutische Frage einschlägig sei, da in der Auslegung die Prinzipien des decorum leitend seien -, genau dieselben Prinzipien also, die auch für das apte adpersuadendum dicere gelten. Hermeneutik impliziert als Verstehenslehre zugleich Auslegung und somit Textproduktion; dieser Zusammenhang findet sich in der breit ausgeführten inventio- und dispositio-Lehre der Institutiö. Die rhetorische Anthropologie hat natürlich in Quintilian einen ihrer beredtesten Anwälte, aber auch moderne Versuche, den ,Orator' als Textinstanz und universalen Kommunikator wiederzugewinnen, können an die ars - artifex - opus-Trias anschließen (Kopperschmidt 2000, Knape 2000a). Man hat auch das pädagogische Interesse Quintilians gewürdigt und versucht, seine Pädagogik zum Gegenstand einer Schullektüre zu machen (Nickel 1976). Vor dem Hintergrund der Rezeptionsgeschichte ist das sehr nahe liegend, und auch Goethe hatte sich ja als junger Literat gerade für die pädagogischen Aspekte der Institutiö interessiert. Man kann daher Quintilians Institutiö auch als ein Dokument des literarischen Lebens, also eines Lebens, das ganz der Literatur und literarischer Produktion gewidmet ist, begreifen. Denn indem die Rhetorik als höchste Verwirklichung des Menschen verstanden wird, scheint es gerechtfertigt, wenn das ganze Leben diesem Ziel zu dienen hat. Gemessen an dieser großen Bedeutung Quintilians ist dessen philologische Erforschung bzw. Kommentierung sehr lückenhaft. Zwar liegen gute englische,

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französische und deutsche Übersetzungen vor, aber ausfuhrliche Stellenkommentare nur zu den Büchern 1,3,10 und 12. Die große Ausgabe von Jean Cousin bei Budé bietet zwar gute Einfuhrungen zu den einzelnen Büchern und zusätzlich zu einzelnen Erklärungen aufschlussreiche „notes complémentaires", aber sie können einen ausfuhrlichen Kommentar nicht ersetzen. Seine Etudes sur Quintilien (1935, N D 1967) sind durchweg nützlich und berücksichtigen insbesondere rhetorische Themen. Unter den vorliegenden Kommentaren ist sonst nur derjenige von Adamietz zum 3. Buch auch in Fragen der rhetorischen Theorie hilfreich, während Colson (xviii-lxxxix) immerhin eine ausführliche Wirkungungsgeschichte bringt und auch Grundsätzliches über die didaktische Darstellungsform (xxix-xl).

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Aelius Donatus (um die Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr.) VON

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Als Donat geboren wurde, irgendwo in Nordafrika, woher viele Grammatiker seiner Zeit stammten, in den letzten Jahren des 3. Jahrhunderts oder gleich am Beginn des 4. Jahrhunderts - man weiß nicht, wann genau -, hatte die römische Welt, dank der energischen Führung des Kaisers Diokletian und der Tetrarchen, bereits binnen einer Generation ihre politische Einheit rund um die Ufer des Mittelmeers wiedererlangt, das für die Römer wieder „unserMeer", mare nostrum geworden war. Trotz der Bürgerkriege, die das Ende der Tetrarchie bedeuteten, wurde diese Einheit dank der Persönlichkeit Konstantins, des ersten christlichen Kaisers, gefestigt. Und doch machte die Gründung Konstantinopels im Jahre 325, an der Stelle des antiken Byzanz, die Vorherrschaft des Ostteils dieses Imperiums unumkehrbar kenntlich, zu einer Zeit, in der die Stadt Rom ihre Rolle als Hauptstadt und kaiserliche Residenz verloren hatte, ohne jedoch ihr Ansehen als Gründungsstadt verloren zu haben. Der Name Donat wurde von Tausenden von Afrikanern getragen; er ist verknüpft mit den Auswirkungen des Edikts von Caracalla, durch das im Jahre 217 alle freien Bürger des Imperiums mit der römischen Staatsbürgerschaft beschenkt (donati) wurden. Es ist der Name mehrerer Bischöfe, unter ihnen auch jenes Bischofs, auf den das donatistische Schisma Anfang des 4. Jahrhunderts zurückgeht. Mehrere Heilige hießen so und mindestens auch zwei gleichnamige Lehrer, nämlich der Grammatiker, mit dem wir uns hier beschäftigen, und der Rhetor Tiberius Claudius Donatus (5.Jahrhundert), dessen Kommentar zur Aeneis uns erhalten geblieben ist. Und man musste warten, bis man in der Renaissance Handschriften des Terenz-Kommentars unseres Grammatikers wieder entdeckte, um zu erfahren, dass er sich tatsächlich Aelius Donatus nannte.

Donat, der Grammatiker der Stadt Rom Mitten im Herzen Roms, auf dem Trajansforum, erteilte Donat, vermutlich gut drei Jahrzehnte lang, etwa von 330 bis 360, als grammaticus urbisRomae, Grammatiker der Stadt Rom, Unterricht in der lateinischen Literatur, wie es uns die ältesten Handschriften seiner grammatischen Traktate zuverlässig überliefern.

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Die einzig sichere Jahreszahl, die wir zur Orientierung haben, nämlich 354, ist durch das Zeugnis eines außergewöhnlich begabten Schülers Donats und besonders zuverlässigen Chronisten, des heiligen Hieronymus, belegt. Als dieser um 378 sich der Aufgabe annahm, die Chronik des Eusebius von Caesarea zu übersetzen, vervollständigte er diese durch die geschichtlichen Ereignisse nach 325, wo die Aufzeichnungen des griechischen Autors geendet hatten, und fugte Geschehnisse hinzu, die die abendländische Welt näher interessierten, besonders auf dem Gebiet der Literatur. Das Jahr 354 wird von dem jungen Hieronymus als der Höhepunkt zweier berühmter Persönlichkeiten aus Rom angegeben, des Rhetors Marius Victorinus, dem man bereits in diesem Jahr, schon zu seinen Lebzeiten eine Statue auf dem Trajansforum setzte, und seines Meisters, des Grammatikers Donat, beide vom hl. Hieronymus unter einer Rubrik zusammengefasst. Es war Donats Verdienst, dass der junge Hieronymus, der von der adriatischen Küste nach Rom kam, um seine Studien zu vollenden, eine Vorliebe für Literatur und Philologie gewann. Allein dieser Schüler hätte Donats Ruhm sichern können, da er in seinem gigantischen Werk den Lateinern, ausgehend vom Griechischen und Hebräischen, den im Abendland seit der Antike bis zur Neuzeit gebräuchlichen Bibeltext schenkte, jedes Buch des Alten Testaments kommentierte, dem Abendland die Werke des Orígenes, des großen Theologen aus Alexandria, und der anderen griechischen Kirchenväter näher brachte und die Chronik des Eusebius von Caesarea ins Lateinische übertrug, in dessen Bibliothek er, der vieler Sprachen mächtig war, gearbeitet hatte. Wie vollzog sich der Unterricht des grammaticus in dem damaligen pädagogischen System, von dem, mehr als jeder andere, der musterhafte Schüler Hieronymus profitierte? Der junge Knabe hatte in seinem Land durch den häufigen Besuch der Elementarschule des litterator die Grundkenntnisse des Lesens, Schreibens und Rechnens erworben; möglicherweise wurde ihm auch von einem Privatlehrer Unterricht erteilt, da er aus einer begüterten Familie stammte. Als Heranwachsender machte er sich in Rom bei Donat, dem angesehensten Grammatiker seiner Zeit, mit der Literatur vertraut und entdeckte die großen römischen Autoren: die Dichtungen Vergils, die Komödien des Terenz, und sicher auch, aber in Auszügen, die anderen klassischen Dichter wie Horaz, Lukan und auch bestimmte historische Werke, in erster Linie Sallusts ,Die Verschwörung Catilinas', ,Derjugurthinische Krieg\ die ,Historiae', aber auch Suetons Werk. Das Programm konnte variieren, aber Vergil mit seinen ,Bucólica, den, Geórgica 'und vor allem mit der yAeneis'und, in einem geringeren Maße, auch Terenz mit seinen sechs Komödien stellten seit der Mitte des ersten Jahr-

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hundert unserer Zeit die beiden grundlegenden Autoren der literarischen Kultur in Rom dar, deren Werke die Schüler vollständig studierten. Sie lernten lange Abschnitte auswendig und kannten die wichtigsten Episoden. Der hl. Augustinus, um einige Jahre jünger als Hieronymus, hat uns in seinen Bekenntnissen das Milieu seiner Klasse in Thagaste geschildert, als er noch ein Kind war, und lange, nachdem er aufgehört hatte, sich mit den Autoren seiner Jugend zu befassen, konnte er noch manche Verse von Vergil oder diese oder jene Textpassage von Terenz rezitieren. War doch auch er eine Zeit lang ein Literaturlehrer gewesen. Besonders die intensive Beschäftigung mit Vergil hat dem Kind nicht nur die Feinheiten der poetischen Sprache vermittelt, sondern auch die Legenden, Mythen, die politischen und geographischen Umrisse der Welt, in der es lebte, die nationalen Werte und einen Abriss der antiken Geschichte Roms: Die Bildung des jungen Römers geht somit weit über die bloße Textkenntnis hinaus. Daraus resultiert die bedeutende Rolle, die der grammaticus in der Bildung der Bürger des Imperiums einnimmt. Danach kamen die jungen Schüler in die Schule des Rhetors, der aus ihnen Redner machen sollte, fähig, öffentlich vor Publikum zu reden, eine Argumentation aufzubauen und ein Thema zu beherrschen. Kurzum, diese jungen Leute bekamen eine höhere Allgemeinbildung, wie sie z.B. bei Anwärtern auf verantwortungsvolle öffentliche Amter vorausgesetzt wurde, ob es sich nun um Munizipien, Verwaltung von Provinzen, von Diözesen (im profanen Sinn dieses Wortes in der spätantiken Kaiserzeit), Präfekturen des Prätoriums, oder um die zentrale Verwaltung der Kaiser, der Armee oder der Justiz handelte. Die beiden Lehrtätigkeiten des Grammatikers und des Rhetors gingen in dem Maße ineinander über, als der erste seine Schüler bereits mannigfaltig an Begriffe heranführte, die ihnen später in der Rhetorikschule von Nutzen sein würden. Diese Verbindung ist ganz besonders sichtbar in Donats gesamtem Werk.

Donats Berühmtheit seit der Antike An Donat schätzten die zeitgenössischen Römer vor allem, dass er sich fähiger als jeder andere darin erwies, dem Literaturunterricht die Größe wiederzugeben, die er in der hohen Kaiserzeit hatte, indem er die beiden großen Autoren der klassischen Literatur wieder in ihre bedeutende Stellung hob. So hatte Donat einen vollständigen Kommentar von Vergils Werk verfasst und veröffentlicht, der leider heute verloren ist, und der rasch zu einem gefragten Werk wurde, ebenso einen Kommentar zu den sechs Komödien des Terenz, der zum

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größten Teil erhalten geblieben ist. Augustinus bestätigt, so ganz nebenbei, die Bekanntheit dieses literarischen Teils von Donats Werk, als er in einer kleinen Schrift mit dem Titel ,Vom Nutzen des Glaubens', die er im Jahre 393 seinem Freund Honoratus gewidmet hatte, schrieb: „Man wird schon auf Asper, Cornutus, Donat und andere unzählige Autoren zurückgreifen müssen, um einen Dichter interpretieren zu können, dessen Verse die Herzen rührt oder den Beifall im Theater entfesselt". Den Menschen kennen wir nicht, oder vielmehr das Wenige, das wir über ihn wissen, reicht nicht aus, um ein Porträt zu erstellen. Eine einzige, etwas konkretere Anekdote stammt aus der Feder des hl. Hieronymus, als er eine sprichwortartige Passage aus dem ,Ecclesiastes' (Buch der Prediger Salomons) kommentiert: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne". Darin beschreibt er, wie er sich an einen Gedanken erinnert, den Donat äußerte, als er einen Prologvers aus dem Eunuch des Terenz kommentierte („Nichts ist gesagt, was nicht schon gesagt worden wäre"), in dem ein ähnlicher Gedanke zum Ausdruck kam. „Mögen die verschwinden", kommentierte Donat, „die vor uns das gesagt haben, was wir sagen". Ich würde diesen Satz gern - ein wenig provozierend - nicht auf anachronistische Art und Weise als eine zynische Rechtfertigung des Plagiats interpretieren, sondern, da es sich um das Verhältnis des lateinischen Komödienautors zu seinen griechischen Quellen handelt, als die Forderung nach höchster Treue zur schulischen und literarischen Tradition. "Das, was wir schreiben, ist auf den Einfluss unserer Lektüre zurückzufuhren" oder auch „Wir sind das, was die anderen aus uns gemacht haben". Dieser Gedanke schließt eine Einschätzung Donats über seinen Platz in der grammatischen und pädagogischen Tradition ein, die sehr gut mit seinen Ansichten übereinstimmt, die er in der Widmung zu seinem glücklicherweise erhalten gebliebenen Kommentar zu Vergil zum Ausdruck bringt. Wenn auch Donat späterhin als der Lehrer des europäischen Mittelalters galt, dem er die strikten Regeln des Lateins, der lange Zeit einzigen Schrift und Kultursprache, nahe brachte, so ist dies nicht auf die Bekanntheit seiner beiden literarischen Kommentare zurückzufuhren, die ja am Ende des 6. Jahrhunderts, nachdem die traditionelle Schule vom hellenistischen Typ aufgelöst worden war, an Bedeutung verloren hatten, sondern auf seine beiden Grammatik-Lehrbücher, die im Laufe der Zeit die gesonderten Titel Ars minor und Ars maiortmgen, von denen aber weder der hl. Hieronymus noch der hl. Augustinus berichteten. Der Ausdruck „grammatisches Lehrbuch" ist hier ein wenig irreführend. Im Altertum entstehen solche Grammatik-Lehrbücher in der Folge der Texterläuterung, um dem Schüler zur Kenntnis dessen zu verhelfen, wie

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die Sprache der großen Dichter funktioniert. Dies zeigt sich in der Tatsache, dass nahezu alle Beispiele zur Stützung der Definitionen, die sie enthalten, der Sprache der Dichter entlehnt sind und nicht der Alltagssprache oder der Sprache der Prosaschriftsteller. Es ist nicht das pädagogische Bestreben dieser Werke, dem Schüler seine eigene Sprache beizubringen (die er ja kennt), sondern die Technik beherrschen zu lernen, sich über seine eigene spontane Ausdrucksweise hinaus auszudrücken. So lernt der Schüler an Hand von Definitionen, Untergliederungen und Beispielen, die veränderlichen von den unveränderlichen Wortarten zu unterscheiden, die Eigennamen von den Gattungsnamen (den so genannten Appellativa), den Singular und den Plural, die Genera, die Arten der Deklination, die Kasus, die Tätigkeit des Verbs nach Personen, Zahl (Singular, Plural), die Zeiten und die Formen. Der Plan ist einfach: für jede Wortart eine Definition, die Angabe der „Akzidentien" (Modalitäten) und manchmal, aber nicht zwingend, auch ein oder zwei Beispiele. Die Zahl der Grammatiken und Grammatiker nahm in diesem 4. Jahrhundert stark zu, das im Westen eine große Erneuerung des literarischen Schaffens in der lateinischen Sprache, sowohl in der Dichtung als auch in der Prosa aufweist. Dieses Phänomen, das sich entfernt als Folge aus dem wieder gewonnenen politischen Frieden erklären lässt, und das jegliches Schrifttum hat aufblühen lassen, scheint in einem engen Zusammenhang mit dem Aufschwung der Schule zu stehen. Viele Sachbücher, die zu dieser Zeit erscheinen, wie Textkommentare oder grammatische Abhandlungen, greifen auf ältere Traktate zurück, die noch aus der hohen Kaiserzeit datieren. Man darf keine große Erneuerung der Theorien und der Unterrichtsfacher in diesen Lehrbüchern suchen. Diese Erneuerung wird erst sehr viel später kommen, zu Beginn des 6. Jahrhunderts, und zwar von Konstantinopel, dem neuen Rom, aus Priscians Feder. Und doch, nach Aussagen der Lehrer, die ihren eigenen Unterricht am frühesten an Donats Grammatiken orientierten, galt diese .Anhanglehre', die sich am Rande der Texterläuterung ergab, als neu, weil sie sich auf die Wortarten konzentrierte, die nach einer spezifischen Ordnung behandelt wurden: Nomen, Pronomen, Verb, Adverb, Partizip, Konjunktion, Präposition und Interjektion. Und wir stellen fest, dass es darüber hinaus in der Formulierung der Definitionen selbst und dem Ablauf der beiden Lehrbücher eine strenge Systematik gibt, die aus ihnen eine Art Auszug oder Resümee des traditionellen Unterrichts machen. Die Ars minor, in Frage- und Antwortform, behandelt nur die Wortarten. Die Ars maior umfasst die drei üblichen Teile: Der erste ist den Sprachelementen,

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wie der Stimme, dem Buchstaben, der Silbe, den Akzenten, der metrischen Einheit oder dem Fuß und den Pausen gewidmet; der zweite wiederholt, ja erweitert die Lehre der Redeteile, von denen die Ars minor im Gedächtnis des Schülers zunächst das Grundschema und die Definitionen festlegt; der dritte Teil, bunt gemischt, ist der sprachlichen Reinheit und den Verschönerungen der Sprache gewidmet. In drei Kapiteln werden die Fehler der Sprache, die Barbarismen, die Solözismen, die übrigen Fehler aufgezählt und in drei weiteren Kapiteln die Vorzüge der Sprache, die Metaplasmen, die Wortfiguren und die Tropen. Dies ist bereits der erste Schritt zur Rhetorikschule. Den Einbezug dieser letzten Kapitel in die theoretischen Grammatiken stammt nicht aus Donats Zeit. Wir finden sie vom Ende des 3. Jahrhunderts an in der ars des Sacerdos, der zur Zeit Diokletians schrieb, in dem man jedoch nicht den Urheber dieser rhetorischen Erweiterung der traditionellen Grammatikmaterie vermuten kann. Es ist eher wahrscheinlich, dass die Erneuerung aus der hohen Kaiserzeit stammt. Sie ist bereits im Ansatz bei Quintilian zu finden, und möglicherweise beim Autor der Rhetorikschrift ad Herennium, zu Beginn des 1. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. Handelte es sich womöglich um eine römische Erneuerung? Man kann sich fragen, was eigentlich die beiden artes von Donat über die zeitgenössischen Traktate stellt und was erklärt, dass sie die Klassiker schlechthin geworden sind, die die konkurrierenden Grammatikbücher in Vergessenheit geraten ließen. Die Antwort darauf lässt sich zum einen durch das Renommee geben, dessen sich dieser Lehrer zu seinen Lebzeiten erfreute, indem er das Signal zu einer Art Wiedererstehen der großen römischen Literatur gab: diese Berühmtheit übertrug sich auf seine beiden Grammatiklehren, die sich durch eine Meisterschaft des Stils und ihr pädagogisches Konzept auszeichneten. Zum anderen ergibt sich die Antwort aus der Tatsache, dass diese Lehre als normativ angesehen wurde, da sie aus Rom selbst, der Wiege der lateinischen Sprache, stammte. Von den Jahren um 370 an kennen zwei lateinische Grammatiker, Dositheus und Diomedes, die im Ostteil des Reiches lehrten, dort wo Griechisch gesprochen wurde, aber wo auch das Latein zur offiziellen Sprache geworden war, Donats Lehrbücher.

Donat im 5. und 6. Jahrhundert Zu Beginn des 5. Jahrhunderts, ebenfalls in Rom, trug auch der große Grammatiker Servius Honoratus, der mit der römischen Aristokratie zusammenarbeitete, um die großen Autoren des klassischen Rom, Titus Livius, Lukan und

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Horaz, herauszugeben, den Titel des grammaticus urbis Romae\ Er hatte sich die Lehrbücher Donats zu eigen gemacht und kommentierte seinerseits Vergil, indem er sich von Donat, der ihm ein halbes Jahrhundert vorausgegangen war, inspirieren ließ. In der Tat, seit Ende des 4. Jahrhunderts, zu einer Zeit, in der sich einerseits die Aristokratie zum Sprachrohr des heidnischen Roms machte und andererseits die christliche Literatur, nämlich die der Kirchenväter, ihre volle Entfaltung erfuhr, genoss Donat sowohl die Anerkennung der Traditionalisten wie auch die der christlichen Kreise, die ihm in der Person des hl. Hieronymus, des großen christlichen Philologen, zu Dank verpflichtet waren, der stolz darauf war, ein Schüler Donats zu sein. Im 5. Jahrhundert sind trotz der barbarischen Invasionen, die das westliche Reich nach und nach destabilisieren und es schließlich gänzlich niederschlagen, die Grammatikschulen noch existent, und Donat triumphiert. Consentius in der Provinz Gallia Narbonensis unterliegt seinem Einfluss, während der Grammatikunterricht der vergangenen Jahrhunderte sich auf seine Lehrbücher fixierte, in den großen Kommentaren, die Servius in Rom, Pompejus in Afrika und Cledonius in Konstantinopel verfassten. Man könnte auch sagen, dass sich seine beiden Traktate in allen Teilen des Reichs als der offizielle römische Text der lateinischen Grammatik durchgesetzt haben. Im 6. Jahrhundert, also ganz am Ende des Altertums, wird wiederum Donat, sowohl von Boethius als auch von Cassiodorus, als der lateinische Grammatiker schlechthin bezeichnet, zu einer Zeit, in der über Rom und Italien barbarische Könige herrschten, die sich fiir eine Zeitlang zu Vasallen des Ostkaisers machten. So ergab es sich, dass Donats Lehre in den Schulen vorherrschte, in denen Latein gelehrt wurde, ob im Westen oder im Osten, weit vor der Zeit, als Priscian, der in Konstantinopel unter den Kaisern Justin und Justinian eine Professur für lateinische Grammatik innehatte, die lateinische Grammatik von Grund auf erneuerte, indem er, unter dem Einfluss zweier griechischer Grammatiker des 2. Jahrhunderts, Apollonios und Herodianos, die lateinische Syntax schuf. Die Präsenz Donats im Hintergrund des Werks von Priscian zeigt sich durch die vielfachen Anspielungen auf seine Lehre. Priscian hat ihn oft in seinen Institutiones grammaticae namentlich kritisiert. Im Jahre 526 wurde dieses immense, 18 bändige Werk, eine wahrlich stattliche Anzahl, dem Konsul und Patrizier Julianus gewidmet, einem Freund der Senatoren Roms, die vom Gothenkönig Theoderich angeklagt worden waren, mit Konstantinopel gegen ihn zu intrigieren und seine Macht zu bedrohen. Priscian war mit der römischen Senatorenschaft sehr liiert, besonders mit Sym-

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machus d.J., dem er seine opuscula widmete, einige Jahre vor der politischen Krise, die den Untergang Italiens ankündigte. In diesen Wirren starb der große Philosoph Boethius, und alles endete mit dem furchtbaren gotischen Krieg, der zwanzigjahre lang die Halbinsel mit Blut übergoss. Nach vielen Schlachten war es Byzanz schließlich gelungen, Italien wieder von den Goten zurückzuerobern. Das Land jedoch war wirtschaftlich und kulturell ruiniert und somit eine leichte Beute für die Langobarden, die 568, von den Alpen einfallend, die Poebene einnahmen. An diesen ununterbrochenen Tragödien hatte alles zu leiden: Mensch und Ernte, das urbane Netz und die Verbindungswege, in einem von jetzt an zerstückelten Land, das die Schulen und Bibliotheken früherer Zeiten verschwinden sah. Der einzige Hort des Wissens und der Pädagogik war von nun an die Kirche; auf deren Initiative erstanden während des gesamten hohen Mittelalters vereinzelt wieder Schulen innerhalb der Klöster und der Bistümer. Denn das Christentum ist eine Buchreligion, die lediglich die Lehre der Schriftsprache zum Nutzen der Geistlichen und zum Wohl des christlichen Volkes aufrechterhalten konnte. Als Cassiodorus, der mehr als 30 Jahre der Vertrauensmann der ostgotischen Könige gewesen war, nach zehnjährigem Exil in Konstantinopel, wo er eine echte religiöse Umorientierung vorgenommen hatte, um 550 wieder in sein Land kam, konnte er nur noch die Zerstörung Italiens feststellen. Seiner Meinung nach musste sogar um die Botschaft des Evangeliums gefürchtet werden, sofern sich nicht mehr kompetente Menschen finden ließen, die die Heilige Schrift lesen und abschreiben konnten. Auch wollte er in Kalabrien, seinem Geburtsland, ein Kloster gründen, welches den Mönchen eine vorbildliche Bibliothek bieten sollte, die alles enthielt, was nötig war, um ein gewisses kulturelles Niveau aufrecht zu erhalten. Die Institutiones (Die göttlichen und menschlichen Institutionen) muten wie der wohldurchdachte Katalog dieser Bibliothek an. In dem zweiten Buch, das den „artes liberales" gewidmet ist, ist die Grammatik die Einleitung zu den anderen artes. Cassiodorus empfiehlt darin nicht Priscians Lehre, dessen Namen er kaum kennt, aber, getreu seinen eigenen Studienjahren, rät er den Mönchen, um eine korrekte Sprache zu lernen, sich Donat zuzuwenden, dessen Text er, mit einem Doppelkommentar versehen, hinterlässt.

Donat im hohen frühkarolingischen Mittelalter Donats Berühmtheit, die gefördert wurde durch die Empfehlungen des hl. Hieronymus und des Cassiodorus, überstand unbeschadet dieses eiserne Zeit-

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alter: Als, am Ende des 6. Jahrhunderts, Papst Gregor d. Gr. in dem Widmungsbrief seiner Schrift Moralia in lob (seines Hiobkommentars) erklärt, dass er es nicht zulasse, dass das göttliche Orakel (die Heilige Schrift) Donats Regeln unterworfen werde, erkennt er an, dass für ihn von nun an allein der Name des Grammatikers für die Grammatik steht, so wie Vergil für die Poesie und, später im Mittelalter, Aristoteles für die Philosophie. Und wieder sind es die beiden Traktate von Donat, die dem Buch I der Etymologien des Isidoras von Sevilla, einer richtigen Einführung in die Grammatik, zugrunde liegen, dieser Enzyklopädie, die im Laufe der Jahrhunderte in mannigfachen Exemplaren kopiert worden ist. Und wieder ist es Donats Lehre, die als Muster für die Grammatik von Asperius dient, die in diesen Jahren in mönchischem Umfeld von Aquitanien oder Irland entstanden ist. Das hohe Mittelalter konnte nicht ohne Schulen auskommen, aber die lateinische Kultur schien sich in die angrenzenden Länder verlagert zu haben, und zwar nach Spanien, und vor allem auf die Britischen Inseln, nach Irland und England. Grammatik zu unterrichten bedeutete zu jener Zeit, Zeile um Zeile, Wort für Wort Donats Lehrbücher, und nur diese, zu kommentieren. Dieser Aufgabe unterzogen sich in der kirchlichen Hierarchie hochgestellte Männer wie Julian Erzbischof von Toledo am Ende des 7. Jahrhunderts. Die Tätigkeit der insularen Missionare auf dem Kontinent, ab Ende des 6. Jahrhunderts, beginnt mit dem irischen Missionar, dem hl. Kolumban, dem Begründer großer Klöster wie Luxeuil, Sankt Gallen (auf Initiative einer seiner Mitbrüder) und vor allem Bobbio. Dieses Kloster wurde mit dem Ziel gegründet, die Langobarden zum Katholizismus zu bekehren; es war aber auch als Einkehr für die Pilger aus Irland auf ihrem Weg nach Rom gedacht. Bobbio war ein Ort des intellektuellen Austauschs und der Buchkopie. Es hielt ständig Kontakt zu den Inselländern, besonders zu Northumbrien. Zwei der hier im 7./8. Jahrhundert entstandenen Grammatiken, die so genannte Ars Ambrosiana oder „die ambrosianische Grammatik" (irische anonyme Bezeichnung nach dem derzeitigen Aufbewahrungsort des einzigen Manuskripts, der ambrosianischen Bibliothek in Mailand) und die ebenfalls anonyme Abhandlung, die vor dem Jahre 727 dem Abt Cuimnan zugeeignet worden ist, sind wörtliche Kommentare der Lehrbücher von Donat. Ebenfalls aus Bobbio stammt die etwas später erschienene so genannte Berner Grammatik (Ars Bernensisj, einer der ersten Texte, der Donats Lehre nicht nur die von Priscian beifugt, sondern auch die der anderen antiken lateinischen Grammatiker, mit deren Werken die klösterliche Bibliothek reich bestückt war. Das 7. Jahrhundert war für die grammatischen Studien alles andere als eine Wüste: Es ist das Jahrhundert des Isidoras von Sevilla, dessen Etymologien in

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Irland einige Jahre nach seinem Tod bekannt wurden, aber auch das Jahrhundert des Grammatikers Virgilius (um 650-680), dessen Identität undurchsichtig bleibt, wohingegen seine handschriftliche Uberlieferung völlig insulär ist: Donat ist in seinem ganzen Werk, das nur eine umfangreiche „Parodie der grammatischen Lehren" ist (Ahlquist), zwischen den Zeilen spürbar. Indessen wird England, das seit Beginn des Jahrhunderts auf Initiative von Gregor d. Gr. und der irischen Missionen in Northumbrien evangelisiert worden ist, von den Lehren zweier Gesandter des Papstes, Theodorus und Hadrian, profitieren. Benedictus Biscopus hingegen wird von seinen vielfachen Reisen nach Rom Bücher mitbringen, die die Bibliothek des Beda Venerabiiis, des größten englischen Schriftstellers des hohen Mittelalters, bilden werden. Die kleine Abhandlung von Beda Über die Figuren und die Tropen, für exegetische Ziele verfasst, um eine Methode zu liefern, die es ermöglicht, über die wörtliche Auslegung der Bibel hinauszugehen, beruht gänzlich auf den Definitionen, die in den beiden letzten Kapiteln des dritten Buchs der Ars /«¿wor enthalten sind. Auch England macht sich erstmals, zunächst zaghaft, Priscian zunutze, der im Denken aller Pädagogen des Mittelalters mit Donat verknüpft wird und der bis zur Epoche des Aldhelm (um 690) sozusagen unbekannt war, aber dessen Lehren über das Nomen, das Pronomen und das Verb, ein elementares Lehrbuch, das er einige Zeit nach den Institutiones Grammaticae veröffentlicht hatte, von den englischen Lehrern dieser Epoche genutzt wurden, die darum bemüht waren, den Grammatikunterricht den Bedürfnissen ihrer Schüler anzupassen, besonders was das Deklinationssystem betrifft. In dieser Zeit bedient sich die Pädagogik auf den Britischen Inseln zweier Methoden: Die Iren unterrichten Grammatik, indem sie den Text des Donat, den Leitfaden der Grammatiklehre, kommentierten, so der Kettenkommentator Donatus ortigraphus, auf dem Kontinent bekannt in den ersten Jahren des 9. Jahrhunderts, während bei den Engländern vielmehr die Tendenz vorherrscht, eigene Traktate zu verfassen, die unter einer neuen Form die Unterrichtslehre des antiken Grammatikers wieder aufnimmt, so die Grammatiken von Tatwine und Bonifatius.

Donat in der karolingischen Zeit Diese beiden Methoden finden aufjeden Fall ihre Anwendung auf dem Kontinent, als Karl der Große sich, sehr wahrscheinlich unter dem italienischen Einfluss, des Zustandes der Unkultur der Geistlichkeit in seinem Reich bewusst wird und er daraufhin beschließt, im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts, an sei-

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nem Hofe die angesehensten Intellektuellen seiner Zeit zu versammeln, Italiener wie Peter von Pisa und Paulus Diakonus, Angelsachsen, Alkuin und dessen Schüler, Irländer wie Dikuil und viele Vertreter der spanischen Kultur, wie Theodulf und Benedikt von Aniane, den großen Reformator aus dem Benediktinerorden. Paulus Diakonus hat uns eine um die Quellen erweiterte Ausgabe von Donat hinterlassen, von denen er am Hofe Kenntnis bekommen hat, und von Peter von Pisa haben wir zwei Versionen ein- und derselben Grammatik, die ebenfalls den Unterricht widerspiegelt, der den jungen Franken des Pfalzischen Hofes erteilt wurde. Das Wort Grammatik selbst erscheint in den amtlichen Erlassen und die Regierung ordnet die Gründung von Schulen in jedem Bistum, in jedem Kloster an und fördert die Buchkopie. Tatsächlich ist der Angelsachse Alkuin (um 730-804), der sich zwischen 782 und 786 am Hofe niederlässt, der Vertrauensmann und der erste Berater Karls des Großen, ein Mann der durch seine Kultur, seine Intelligenz, sein Vorbild seine Zeit beherrscht. In diesem großen Aufschwung, den Karl d. Gr. dem Wissen, den literarischen Bestrebungen und dem Buch gibt, nimmt die Grammatik eine Vorrangstellung ein, denn ihr Wissen ist notwendig, um die Dekadenz des Lateins, der Kirchen-, aber auch der Verwaltungssprache, und noch zu jener Zeit einzigen Schriftsprache, aufzuhalten. Und wer von Grammatik spricht, spricht von Donat: Aus dieser Epoche stammen, bis auf einige wenige Ausnahmen, die ersten Manuskripte aus der direkten Uberlieferung unseres Grammatikers, mit dem Bestreben, von einigen Kopisten dieser Zeit gut zum Ausdruck gebracht, aus diesen beiden Traktaten alle Unreinheiten, alle nicht authentischen Elemente, mit denen sie langsam überladen wurden, auszumerzen; in diesem Sinne kann man von wirklichen, echten karolingischen Donat-Ausgaben reden. Aber in den letzten Jahren des 8. Jahrhunderts und während des ganzen 9. Jahrhunderts sieht man auch eine große Anzahl von Traktaten aufblühen, die den Schülern dieser Zeit die lateinische Grammatik verständlich machen. Diese Traktate sind, von welcher Form auch immer, alle von Donat beeinflusst, was den Plan, was die Beispiele anbelangt, aber sie sind in zunehmendem Maße auch von Priscians Lehre durchdrungen, der die Thesen seines Vorgängers erweitert, ihnen manchmal sogar widerspricht. So hat Alkuin selbst uns als Resonanz auf die Ars minor von Donat eine durch Priscians Unterricht erweiterte Grammatik hinterlassen, die in Dialogform geschrieben ist und die zwei Schüler, Franco und Saxo, im Beisein ihres Lehrers auftreten lässt, deren Namen allein Symbol für das Doppelauditorium ist, welches auch das seinige war, vor und nach seiner Ansiedlung auf dem Kontinent.

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Dasselbe gilt für die Traktate des Clemens, Alkuins Nachfolger in der Schule am Palast, und des Hrabanus Maurus von Fulda, seines besten Schülers aus seiner Zeit in Tours, die die Lehre der beiden antiken Grammatiker verbinden. Dies ist auch der Fall in den meisten karolingischen Grammatiken, außer dass unter Ludwig d. Gläubigen und seinen Söhnen die irische Methode des linearen Kommentars, der Satz für Satz den Text von Donat erklärt und ausschmückt, die Methode des eigenständigen Traktats überwiegt: Da schleicht sich Priscians Lehre in Donats Lemma ein. Ähnlich geht auch der Septimanier Smaragdus von St. Mihiel in seinem Kommentar der Redeteile von Donat (Ars maior) vor, den er mit Lehnwörtern aus der Heiligen Schrift ausschmückt, und vor allem der irische Meister Murethach, der dem Bischof von Metz Drogon, einem unehelichen Sohn Karls d. Gr., seinen Kommentar widmet, den er, um 840, in Saint-Germain d'Auxerre lehrt. Dieser Kommentar bezieht sich nicht nur ausschließlich auf die Redeteile, sondern auf die drei Bücher der Ars maior, was eine bemerkenswerte perspektivische Erweiterung bedeutet. Dieselbe Erweiterung findet man in den Kommentaren des Sedulius Scottus, eines Vertrauten Karls des Kahlen, des Bischofs Erchanbert von Freising und ebenfalls eines berühmten Professors, dessen Name das Mittelalter niemals vergessen wird, nämlich Remi, der zunächst in Saint-Germain d'Auxerre lehrt, dann in Paris und der uns einen Kommentar beider Traktate von Donat hinterlassen hat. Remis Kommentar der Ars minor wird eine beachtliche Verbreitung erfahren: es ist das grammatische Basis-Lehrbuch des 10. bis 12. Jahrhunderts, seine Bekanntheit geht jedoch weit darüber hinaus. All diese Grammatik-Lehrbücher zeugen von den gewaltigen Anstrengungen der Schriftgelehrten des 9. Jahrhunderts, das Erbe der sowohl geistlichen als auch profanen antiken Literatur Wiederaufleben zu lassen. Aber in den Manuskripten jener Zeit findet man auch häufig Ansätze praktischer Übungen, die uns sozusagen einen direkten Einblick in die Grammatikklasse der Klosterschule verschaffen. Sie sind quasi als Anhang zum Handbuch des Donat angelegt, so z.B. mit Deklinations- und Konjugationstabellen, auch wird das Rezitieren von Fragen und Antworten ( Parsing Grammari) praktiziert, in denen die gesamte Ars maior abgespult wird, nach der analytischen Methode, die das lateinische Altertum partitio nannte: „ Zu welcher Wortart gehört poeta? Das ist ein Nomen. Wie lauten die Akzidentien des Nomen? usw.": Ein wahrer Katechismus der Grammatik, der das Gedächtnis des Schülers schärft und für immer in ihm die Grundstruktur der Sprache fixiert. Die karolingischen Reformatoren hatten begriffen, dass sie zu den Normen des Lateins zurückfinden mussten, wenn nicht der klassischen Epoche, so doch

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wenigstens der Zeit der Kirchenväter, deren Werke mehr noch als die großen Schriftsteller Roms von dieser großen Rückkehr zur Schule profitierten. Mit demselben Elan wurde unter Karl d. Gr. und seinen Nachfolgern alles, was man aus der Vergangenheit an Texten finden konnte, abgeschrieben, so die Werke von Tacitus, Titus Livius, Lukrez, Horaz, Terenz, Cicero, die nur noch in einigen alten Exemplaren zu finden waren und manchmal auch nur in einem einzigen, mehrere Jahrhunderte alten Exemplar. In den zahlreichen kirchlichen Bibliotheken, die zu jener Zeit errichtet oder deren Bestände erweitert werden, sind die Grammatikautoren - an deren Spitze Donat - überall präsent; wenn wir heute noch die großen Autoren des Altertums lesen können, so ist dies Karl d. Gr. und Alkuin zu verdanken, aber auch Donat, dessen Lehrbücher in dieser Epoche der Wiederbelebung der Studien an vorderster Stelle standen.

Donats Lehrbücher und deren mittelalterliche Konkurrenten Die große Tat in der Entwicklung der linguistischen Studien im Mittelalter ist zu Beginn der karolingischen Epoche die fortschreitende Entdeckung der Originalität des Priscian, des Schöpfers der lateinischen Syntax. Es scheint, dass der erste, der die Bücher 17 und 18 der Institutiones grammaticae, die diese Disziplin begründeten, aber auch Zielpunkte der phonetischen und morphologischen Studien der ersten 16 Bücher waren, Alkuin selbst war. Aber wie lässt sich dieses umfangreiche Werk, welches zwei Quartbände ausfüllt, mit dem dünnen Büchlein, das die beiden Traktate des Donat enthält, vergleichen? Weder der Preis, noch das Gewicht, noch weniger der Gebrauch sind dieselben. Mehr als 60 Handschriften vom Ende des 8. und des 9. Jahrhunderts der Institutiones grammaticae sind uns erhalten geblieben, die meisten von ihnen mit Glossen und Anmerkungen versehen, aber von Donat sind es höchstens dreißig Handschriften aus derselben Zeit. Die Nutzung dieser beiden Werke ist so unterschiedlich, dass der Zahlenvergleich nichts beweist. Im 9. Jahrhundert muss es wohl wesentlich mehr Handschriften von Donat gegeben haben als von Priscian, aber erstere sind - ständig durchblättert wie ein Gebetbuch - zum größten Teil durch Abnutzung verschwunden. Das umfangreiche Buch des Priscian hingegen war die Lehrerausgabe, die man so nicht in die Hände der Schüler legen konnte. Denn Priscians Traktat verlangte Vereinfachung, Donats Traktate dagegen Erweiterungen. Vom ersten erwartet man Zusammenfassungen oder Exzerpte, über die zweiten schrieb man Kommentare. Im äußersten Fall konnte der

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Schüler des Mittelalters, mit Hilfe von Täfelchen, Donat auswendig lernen, aber bei Priscian war das ausgeschlossen. Im 11. u. 12. Jahrhundert wurden durch die ständigen Zusammenfassungen in der Phonetik und Morphologie des Priscian die Bücher I und II von Donats Ars maior eine Zeit lang nicht mehr benötigt, da sie dieselben Gegenstände behandelten, aber in knapperer Form. Von der Ars maior blieb nur der dritte Teil, der der Sprachverbesserung und den Figuren gewidmet ist, Fragen, die Priscian nicht behandelt hatte. Es gibt zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert etwa 50 solcher Manuskripte, in denen dieser De barbarismo (der erste Titel dieses dritten Buches diente zur Bezeichnung des gesamten Buches) den Institutiones grammaticae als eine Art Appendix beigefugt und manchmal sogar namentlich Priscian zugeordnet ist. Jedenfalls werden mehrere Kommentare zu De barbarismo verfasst, von denen einer Robert Kildwarby (13. Jahrhundert) zugeschrieben. Was jedoch zu diesem Zeitpunkt die beiden ersten Bücher der Ars maior ins Abseits drängte (sie werden erst wieder in der Renaissance erscheinen), war zweifelsohne eine neue pädagogische Methode, nämlich die der in Hexametern verfassten Handbücher, deren fester Rhythmus es erlaubte, sich nicht nur den Inhalt des Lehrstoffs einzuprägen, sondern auch die Prosodie. Das Phänomen ist nicht nur auf eine Disziplin beschränkt; So haben die in Versform geschriebenen Medizintraktate dieser Zeit großen Erfolg. In der Grammatik sind es - auf antike Quellen gegründet (was manchmal im gegensätzlichen Sinn erklärt wird) - zwei zeitgenössische Lehrbücher, die sich in der Tat an die Stelle der ersten beiden Bücher der Ars maior des Donat setzen, das Doctrinale des Alexander von Villa Dei und der Graecismus des Eberhard von Bethune. Der Erfolg, vor allem für den ersten, war immens und zeigte sich in einer Fülle von Glossen und Kommentaren. Die Grammatiktraktate in Versform des Engländers Johannes de Garlandia, eines strengen Kritikers dieser beiden Werke, erfuhren eine weniger erfolgreiche Verbreitung.

Das Schicksal der Ars minor im späten Mittelalter Indessen behielt Donats Ars minor neben diesen neuen Lehrbüchern weiterhin ihren praktischen Nutzen, da sie den Schülern das Gerüst des stets so wesentlichen Studiums der Redeteile ins Gedächtnis rief. Es war dieser kleine Traktat, der künftig Donats Uberleben sichern sollte. Man muss unterstreichen, dass selbst in dem Moment, als dank der Gründung der Universitäten der schola-

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stische Gedanke, der auf Aristoteles' logica ntrva basiert, alle Disziplinen durchdrang und als die Grammatik, unter dem Impuls der aus dem Norden gekommenen Meister, sich zur spekulativen und modistischen Grammatik entwickelte, als die grammatische Reflexion sich den Büchern 17 und 18 der Institutiones grammaticae zuwandte, dem „kleinen" Priscian und seiner Syntax, sich der bescheidene Traktat mit den Fragen und Antworten des Lehrers des hl. Hieronymus in den Schulen unerschütterlich behauptete. In der Tat war dieser Traktat vielseitig verwendbar: Den Anfangern vermittelte er die Grundzüge des Lateins, doch in den Universitäten des Nordens und des Osten diente er als Basis zum Sprachstudium und machte sich zum Echo aller Arten von Theorien. Aus dem 14. u. 15. Jahrhundert liegen uns Dutzende von Handschriften aus diversen Universitäten vor, vor allem aus den Universitäten Zentraleuropas (Nürnberg, Prag, Krakau), in denen die schlichten Definitionen der Ars minor des Donat Diskussionen und Kommentare auslösen, ob es sich nun um die Lehrerausgaben oder die Bücher der Studierenden handelt, die die reportatio praktizieren (Diktat des Basistextes durch den Lehrer, der ihn kommentiert), wo der kleinere Donat eine gute Mischung mit der Logik und dem Gedankengut des Aristoteles eingeht. Die Ars minorhat anlässlich der Erfindung des Buchdrucks sogar noch einen Höhepunkt erfahren. Dieses Buch ist, neben der Bibel, eins der ersten, das gedruckt wurde. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts war es eins der Bücher mit der höchsten Auflage: Den 320 Wiegendrucken, die im Band VII des Gesamtkatalogs der Wiegendrucke, herausgegeben 1938, erfasst worden sind, muss man mehrere Dutzend anderer hinzufugen, die von Miroslav Flodr entdeckt worden sind, was bedeutet, dass es eine enorme Zahl an Exemplaren in weniger als 50 Jahren gab, und vor allem beweist es den täglichen und intensiven Gebrauch des Traktats in allen Ländern Europas. Es ist eine Tatsache, dass sich unter diese Donat-Texte so manche grammatische Texte eingeschlichen haben, die nur sehr indirekt etwas mit unserem antiken Grammatiker zu tun haben: Anfanglich handelte es sich nur um Appendizes, von denen wir schon sprachen, also Deklinationen und Konjugationen. Tatsächlich gab der antike Autor, um zu veranschaulichen, was man unter diesen Begriffen (der Deklination und Konjugation) zu verstehen hat, nur ein einziges Beispiel, wohingegen die Schüler des Mittelalters, deren Muttersprache nicht Latein war, alle Deklinationen und Konjugationen auswendig lernen mussten, weil sie Donats Handbuch nicht benutzten, um über das Funktionieren der Sprache nachzudenken, sondern um sie zu lernen. Hinzu kamen zu dem ursprünglichen Lehrbuch lexikalische Listen, Listen mit Aus-

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nahmeregeln und alle Arten von Zusammenfassungen. Zwangsläufig nahm das Donat-Material an Umfang zu, und man war sich nicht mehr so richtig sicher, was nun von Donat selbst stammte und was ihm hinzugefügt wurde, aber man bemühte sich auch nicht sehr darum, es zu unterscheiden. Diese Verwirrung war nicht ganz neu: Schon Pompejus im 5. Jahrhundert glaubte manchmal Donat zu kommentieren, obwohl er den Donat-Kommentar des Servius kommentierte. Aber am Ende des Mittelalters ist die Verwirrung total, als einige Appendizes der Ars minor eine richtige Autonomie angenommen haben. Nichts veranschaulicht diese Verwirrung besser als der kleine Traktat mit Fragen und Antworten, den man die Janua nennt, abgeleitet vom ersten Wort der vier Distichen, die als Einführung stehen, (d.h. die Tür... die zu den grammatischen Kenntnissen führt und dadurch zu den höheren Studien) und der sich unter dem Titel Donatus in ganz Italien vom 13. Jahrhundert an ausdehnt. Die Janua ist eine Erbin der „Parsing Grammars", Grammatiken vom Typ „Partitiones", aus karolingischer Zeit (Poeta quaepars?), aber Priscians Anordnung der Redeteile hat sich an Donats Stelle gesetzt; es gibt die Inteijektion, aber wie bei Priscian, als Annex zum Adverb. Hier und da erinnert noch etwas an Donat, z.B. in der Wahl bestimmter Details oder Beispiele, aber nicht diese Spuren sind es, die die Benennung Donatus rechtfertigen, sondern die Tatsache, dass diese Grammatikausgaben mit ihren Fragen und Antworten wie die Ars minor über Jahrhunderte hinweg natürliche Ergänzungen der Ars minor waren, auch sie eine auf Fragen und Antworten angelegte Grammatik, nur, dass hier Donats Traktat verschwunden ist und die Janua sich seines Namens durch eine Art widerrechtlicher Aneignung bemächtigt hat, die die Form des Traktats selbst und seine Geschichte begünstigt hatten. So zeigt es sich, durch welchen Mechanismus der Eigenname Donat in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters zum Gattungsname wurde als Bezeichnung für jegliche lateinische Grammatik, und diese Übernahme ist nur die logische Konsequenz der Allgegenwart des Grammatikers in den Bibliotheken, den Schulen und in dem Gedächtnis des Mittelalters. Seit dem Altertum haben die Grammatiksammlungen gerne Donats Grammatiken an die oberste Stelle gesetzt. Und es ist üblich, ein Manuskript nach dem Autor zu bezeichnen, der die ersten Seiten einnimmt: so viele Traktate in einer Sammlung dieser Art, so viele Werke, die Donat zugeschrieben werden.

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Donat und die ersten Grammatiken der Volkssprachen Ein weiterer Schritt ist gewagt, als man in Sprachen wie dem Provenzalischen, dem Französischen oder dem Anglo-Normannischen mit den Gattungsnamen „donait", „doneit" oder „donats" die Grammatik einer Volkssprache bezeichnete. Der Ausgangstext dieser volkssprachlichen Dónate kann die Ars minor sein oder einer der Traktate, die ihm angehängt sind, oder sogar Traktate, die nur eine vage Beziehung oder auch in keiner Beziehung zu Donats Werk stehen, so wie der Donatz Proensals d'Uc Faidit (13. Jahrhundert) oder auch das Handbuch mit dem Titel Uber Donati, herausgegeben von Merrilees, das in Wirklichkeit ein zweisprachiges Konversations-Handbuch (Latein/AngloNormannisch) für ein englisches Publikum ist, und mit sechs Manuskripten aus dem 14. und 15. Jahrhundert überliefert worden ist. Die Banalisierung des Namens Donat als Bezeichnung dieser Texte, erklärt sich sehr gut aus der Tatsache, dass die Struktur und die Fachbegriffe, die die Ars minor enthält, oft die ersten Grundbegriffe (Elemente) der linguistischen Reflexion über diese Sprachen geliefert haben. In älteren Zeiten, vom 7. Jahrhundert an, konnten die volkssprachlichen Glossen, die in die lateinischen Grammatiken eingefügt sind, unter die ersten Zeugnisse vom Zugang einer Sprache zu ihrer literarischen Bestimmung gerechnet werden: so wie die altirische in den Kommentar der Redeteile der Ars maior.; die so genannte Ars Ambrosiana, integrierte Glosse oder die Glossen in der Priscian -Handschrift 904 von St. Gallen. In jedem Fall hat die linguistische Reflexion, gestaltet nach den Begriffen wie sie in den Grammatiken von Donat und besonders in der Ars minor enthalten sind, zunächst die nicht-romanischen (keltischen und germanischen) Landessprachen betroffen, dann die romanischen Sprachen (erst die provenzalische und französische, dann viel später die italienische, spanische und portugiesische Sprache), und schließlich alle Sprachen Europas, einschließlich der Sprachen der zuletzt hinzugekommenen Völker, der Slawen, und dazu einige andere Sprachen wie das Hebräische. Anfangs spiegelte diese auf Fragen und Antworten angelegte Grammatik durch ihre landessprachlich gefärbten Glossen die Nation wider, der die Schüler angehörten. In der Tat half der Lehrer in dieser elementaren Einfuhrungsphase den Schülern beim wörtlichen Ubersetzen des Donat-Textes in ihre Sprache, um ihnen das Verständnis und das Memorieren des lateinischen Textes zu vereinfachen. So kommt es, dass wir schon sehr früh mehrere Fassungen devArsminorm verschiedenen europäischen Sprachen besitzen. So hat

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uns ein Briefpartner des Notker Balbulus (10. Jahrhundert), des Mönchs von St. Gallen und einer der Begründer der deutschen Literatur, kurze Abschnitte einer wörtlichen Ubersetzung der Ars minor ins Althochdeutsche erhalten. Ebenso sind uns Bruchstücke von Übersetzungen dieses Werks in Isländisch und Norwegisch erhalten geblieben, und wahrscheinlich hat es sie auch in Dänisch und Schwedisch gegeben. In Alt- und Mittelfranzösisch liegt uns der vollständige Traktat durch acht handschriftliche Ubersetzungen der Ars minor vor, gestaffelt vom 13. bis ins 15. Jahrhundert. Gleichsam haben wir Übersetzungen der Ars minor in das Deutsche, die aus dem 15. Jahrhundert stammen. Dieser wörtliche Umgang mit dem Text des lateinischen Grammatikers fuhrt hier und da zu einer Festsetzung der Terminologie in den Zweitsprachen und bereitet die nächste Etappe vor, nämlich die der Abfassung von Traktaten, die der Beschreibung einer jeden Sprache gewidmet sind, nicht nur in Latein, wie es früher manchmal der Fall war, sondern in der eigenen Sprache selbst. Dieser zweiten Etappe begegnen wir vom Beginn des 11. Jahrhunderts bei Aelfric, dem Begründer der altenglischen Grammatik. Aelfric nimmt als Vorlage nicht die Ars minor; sondern eine anonyme Sammlung von Auszügen aus Priscian, die übrigens überdauert hat; Es ist noch die Epoche, in der, gemäß der Tradition von Alkuin, sich die beiden Grammatiker des Altertums in den Gedanken der Pädagogen ergänzen. Um die Redeteile zu behandeln, lässt Aelfric in Altenglisch Priscians Lehre in Donats Schema einfließen, von dessen Ars maior er ebenfalls Kenntnis hat. In diesem Stadium erforderten solche Schritte natürlich vielfache Adaptationen und sogar vielfache Kompromisse. Sie beruhten jedoch auf der Illusion, dass alle Sprachen dieselbe Struktur aufweisen und dass die Analyse von Donat (und von Priscian) auf alle Sprachen anwendbar sei. Und doch trug das unvermeidliche Bewusstwerden der Funktionsunterschiede zwischen der Mustersprache Latein und den diversen Volkssprachen zur Entwicklung der sprachlichen Reflexion bei. Dies geschah zu unterschiedlichen Zeiten, je nach Sprachen oder Regionen. Nehmen wir einige Beispiele außerhalb des romanischen Sprachraums. So hängt die Grammatikalisierung der slawischen Sprachen im Kontakt zum Latein von dem späten Zeitpunkt der Migration dieser Völker in Osteuropa ab. Bei den Westslawen (Böhmen, Polen) war die lateinische Grammatik durch die Bettelorden von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an eingeführt worden, aber ihr Beitrag zu der Grammatikalisierung der Volkssprachen stammt tatsächlich erst aus dem 16. Jahrhundert: z.B. die erste tschechische Grammatik, die von Optat, Gzel und Philomates, wahrscheinlich eine Adap-

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tation des Donat (fîir die Anordnung der Redeteile, die Bezeichnung der Kasus, der Zeiten), stammt aus dem Jahre 1533. Man kann in Polen beobachten, wie sich zur selben Zeit die zweisprachigen Versionen {Barbarismus Donati, 1523, Elementa Donati, 1583) vervielfachen und wie allmählich daraus eine Terminologie durch Nachahmung erarbeitet wird, die auf die Eigenarten der polnischen Sprache anwendbar ist. Bei den Ostslawen gibt es eine Konkurrenz zwischen dem griechischen Modell (Ps. Damascenus, der Dionysios Thrax adaptierte) und dem lateinischen Modell (Donat) zugunsten des ersten, abgesehen davon, dass die slawische Adaptation des Donat durch Dimitrij Gerasimov, die 1522 in Nowgorod entstand, und die beiden Ars minor und Ars maior miteinander verband, der russischen Grammatik, so scheint es, wertvolle Elemente zur Definition des verbalen Aspekts geliefert hat. Und schließlich ist es ebenfalls nicht verwunderlich, dass Donats Handbücher die Basis einer hebräischen Grammatik lieferten, in Gegenden wo Juden und Christen im engen Kontakt miteinander standen, während, wie es J.-P. Rothschild unterstreicht, diese Grammatik gewöhnlich von der arabischen Tradition bestimmt ist. Der Re'shit ha-leqah („Beginn der Erlangung" ), überliefert durch vier ausschließlich italienische Handschriften, stammt aus der Zeit vor 1287: Es handelt sich dabei nicht um eine Donat-Ubersetzung, sondern um „eine systematische Anwendung der Schemata der lateinischen Grammatik zur Beschreibung des Hebräischen", die von Donat und auch von Priscian beeinflusst worden sind. Von diesem Text sind zwei Rezensionen vorhanden, von der die eine indirekt den Verweis auf die Janua gibt.

Donat in der Renaissance und der Neuzeit Trotz des Erfolgs der Inkunabeln, durch die die Ars minor und ihre Surrogate überall verbreitet wurden, hatten die italienischen Humanisten nur Geringschätzung fur dieses Buch übrig, das in ihren Augen den scholastischen Geist und die finsteren Jahre repräsentierten. Folglich schließen sie dieses Buch aus den grammatischen Sammlungen ihrer Epoche aus. Dafür fanden sie Donat zweifach wieder: zum einen gewannen sie aus der Lektüre der karolingischen Handschriften die Ars maior m drei Teilen wieder, wenn auch die Ars maior Rix sie lediglich ein Grammatiktext unter vielen war, in dem Maße, wie die Grammatiker des Altertums wieder entdeckt wurden, und andererseits durch die Recherchen in den Klosterbibliotheken, die ihnen, wenn nicht gar den Vergil-

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Kommentar von Donat (er überdauerte vielleicht noch im 9. Jahrhundert, dann verliert sich seine Spur), so doch zumindest den Terenz-Kommentar wiedergaben. Es war Aurispa, der iJ.1430 das Commentum Terenti in einer Mainzer Handschrift entdeckt hatte. Von diesem Text wurden im 15. Jahrhundert Dutzende von Kopien gemacht. Durch eine gerechte Umkehr der Dinge, ist es dieser Text, auf dem sich Donats Renommee in Italien begründete. Außerhalb der Wiege der Renaissance, war die Ars minor lange Zeit, wie wir feststellen konnten, das Basiswerk der Pädagogen bis sogar ins 17. Jahrhundert hinein, obwohl die linguistische Reflexion die grammatischen Theorien verfeinert und neue Lehrbücher hervorgebracht hatte.

Ein außergewöhnliches Schicksal Ja, Donats Werk hat ein außergewöhnliches Schicksal erfahren, was die Dauer seines Uberlebens, die geographische Ausdehnung seiner Rezeption, seine funktionale Vielseitigkeit, die Möglichkeit seiner Anwendbarkeit, alle die Lehrer, die abwechselnd Donats Assistenten gewesen sind, und was seine Rolle als treibende Kraft in der linguistischen Reflexion anbelangt. Nur zu Beginn dieses „Epos" im wahrsten Sinn des Wortes, vom 4. bis 6. Jahrhundert, und auch noch kurz vor Ende des 15. Jahrhunderts, entsprach Donats Werk der Doppelfunktion des antiken grammaticus, der zugleich Literaturlehrer und Grammatiklehrer im modernen Sinn des Wortes war. Aber vom Ende des 6. bis zu Beginn des 15. Jahrhundert wurde sein Name nur noch mit der Grammatik verbunden. Und unter diesem Etikett dominierte er nicht nur das Erlernen des Lateins, sondern auch die Entwicklung des sprachwissenschaftlichen Bewusstseins, indem er Schritt für Schritt in alle Länder Europas vordrang. Sein Lehrbuch ermöglichte es allen europäischen Gebildeten, das Latein zu erlernen, aber auch, vom ausgehenden hohen Mittelalter bis zur Neuzeit, über das Funktionieren der eigenen Sprache nachzudenken. Das gesamte Korpus Donats bleibt verbunden und lebendig vom 4. Jahrhundert bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts, also über das ganze hohe Mittelalter hindurch. Der Text der Ars minor ist vielleicht der einzige profane Prosatext, der ohne Unterbrechung von der späten Antike bis zur Neuzeit benutzt wurde. Das bedeutet aber nicht, dass er von allen Benutzern von Jahrhundert zu Jahrhundert gleichermaßen verstanden wurde: In der Antike wurde die Ars minor als bloße einleitende Zusammenfassung der Begriffe verstanden, die das Funktionieren der Sprache erklärt, dann hat sich der Text zum Handbuch im

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Dienste der Schüler erwiesen, die eine andere Muttersprache als das Latein sprachen, aber bestrebt waren, die Regeln der universellen Schriftsprache im Westen zu erlernen. Infolge dieser Verlagerungen in der Funktionalität hat das donatische Schema Elemente aufgenommen, die der Autor bei der Abfassung seines Werks nicht vorgesehen hatte, sowohl was das Vokabular anbelangt als auch die Flexion. Dann kam eine Zeit, in der dieses bescheidene Lehrbuch wie eine Stütze der sprachwissenschaftlichen Reflexion erschien und schließlich haben sich die Volkssprachen davon inspirieren lassen, ihr eigenes System zu beschreiben. Jedes Mal hat dieser kleine grammatische Katechismus sich als genügend flexibel erwiesen, um den diversen Bedürfnissen zu entsprechen und seine Form des Dialogs hat zu seinem Uberleben beigetragen. Nicht geringer waren die Wirkungen der Ars maior. Ihr pädagogischer Wert wurde eher noch vergrößert durch die Tatsache, dass im hohen Mittelalter die ursprüngliche Reihenfolge der ersten drei Bücher geändert wurde. Die Pädagogen dieser Zeit ließen auf die Ars minor unmittelbar das zweite Buch der Ars maior folgen. Dies hatte den Effekt, zwei Ebenen des Fortschritts für das Studium der Wortarten, das immer als das Wichtigste betrachtet wurde, einzurichten. Das erste Buch der ars maior findet vielfache Verwendungen: Zum Beispiel kommt es durch die Bezugnahme auf das kurze Kapitel De distinctione (Uber die Interpunktion) dazu, dass sich seit dem 9. Jahrhundert eine lesbare Form der drei Interpunktionszeichen herausbildete, die bis dahin eher theoretisch und keinesfalls systematisch war. Und wenn wir ebenso vom 9. Jahrhundert an eine Renaissance der Dichtung erleben, die sich auf die quantitative Metrik gründet, so ist dies auch den Regeln der Gemeinsilben (lange und kurze Silben zugleich) zuzuschreiben, wie sie im ersten Buch der Ars maior beschrieben sind, und deren Anwendung es erlaubte, die Prosodie geschmeidiger zu handhaben. Aber selbst das dritte Buch (der Ars maior) über die Vorzüge und Fehler bot die Möglichkeit, sich neuen Bedingungen anzupassen, die sich durch die Vorrangstellung der Heiligen Schrift und ihrer Kommentare über jede andere Art von Literatur im frühkarolingischen Mittelalter zwingend stellten; dieses Buch war im 4. Jahrhundert mit der vor allem rhetorischen Perspektive verfasst worden, die das System der Antike erforderte, das von der Literatur zur Ausbildung zum Redner übergeht. Nun aber wurde es in den Dienst der Hermeneutik gestellt, zuerst unter dem Impuls der Kirchenväter, danach unter dem des Cassiodor in seinem Psalmenkommentar und des Beda in seinem kleinen Buch über die Figuren und die Tropen: Es dient künftig der Interpretation der verschiedenen Bedeutungsebenen des Bibeltextes und in dieser Eigenschaft

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begleitet es vom 12. bis 15.Jahrhundert Priscians Institutionesgrammaticae. Auch das dritte Buch der Ars maior, - eine weitere Metamorphose - das im 13. Jahrhundert ins Isländische übertragen wurde, wird mit Beispielen aus der Skaldendichtung veranschaulicht und in die Dienste des dichterischen Schaffens in einer Volkssprache gestellt. Aber vor allem hatte man es mit einem Masseneffekt zu tun, was die Menge der Benutzer und Nachahmer dieser Handbücher betraf. Mehrere Jahrhunderte hindurch haben Donats Grammatiken keine ernsthaften Konkurrenten gekannt und das Denken der Menschen geprägt dank der mannigfachen Metamorphosen, die sie von denen erfahren haben, die man von Jahrhundert zu Jahrhundert als Donats „Assistenten" bezeichnen würde und die allesamt von ihm inspiriert oder unter Bezugnahme auf ihn - Lehrbücher geschrieben haben, mit oder ohne Satz für Satz-Präsenz des Donat-Textes selbst. Und dies hat zu seinen Lebzeiten angefangen mit Dositheus und Diomedes, und in fortlaufender Kette kamen dann Consentius, Servius, Sergius, Pompejus, Isidorus, Julian, Beda, Tatwine, Bonifatius, Peter von Pisa, Paulus Diakonus, Alkuin, Clemens, usw. Die Liste nimmt bis ins späte Mittelalter stetig zu, von einer Menge anonymer Autoren gebildet, deren Traktate noch da sind, von denen manche allerdings noch darauf warten, eines Tages wieder aufgeschlagen zu werden. Donat, ein Lehrer, der eine Kolossalstatue verdiente, dessen Stimme wir aber kaum wahrnehmen, da sie von der seiner Schüler übertönt wird, ein Meister, der sich hinter seinem Werk versteckt und hinter einer Menge von Assistenten, ein Autor, dessen Leser sich zu Millionen zählen ließen, all diejenigen, die vom 4. Jahrhundert an bis zu den gebildeten Menschen der Neuzeit in Latein gedacht, gesprochen, geschrieben, gebetet haben, und somit Europa zugleich in seiner Einheit und Verschiedenheit erbaut haben.

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Martianus Min(n)e(i)us Felix Capeila (wahrscheinlich Ende 5. Jahrhundert n. Chr.) Ein Gelehrter an der Schwelle zwischen Spätantike und Mittelalter

VON S A B I N E G R E B E

Martianus Capella steht an der Schwelle von der Antike zum Mittelalter. Sein Werk, De nuptiis Philologiae et Mercurii {Uber die Hochzeit Philologias und Merkurs)I, enthält den Schlüsseltext für das mittelalterliche Bildungswesen der westlichen Zivilisation, insbesondere für die Artistenfakultät. De nuptiis ist die einzige aus der Antike überlieferte Enzyklopädie, welche die Sieben Freien Künste detailliert darstellt.

1. Leben Das Leben des Martianus liegt für uns weitgehend im Dunkeln. Sein Werk ist nahezu unsere einzige Quelle für seine Biographie. Die oft schwierige Sprache und die schlechte handschriftliche Uberlieferung öffnen Spekulationen Tür und Tor. Den vollständigen Namen erfahren wir aus den Subskriptionen einiger Handschriften: Martianus Min(n)e(i)us Felix Capella. Er selbst nennt sich Felix (6,576; 8,806) und Felix Capella (9,999 vers.). Felix Capella heißt er auch bei dem Mythographen Fabius Fulgentius Planciades (um 500 n. Chr.) und bei Cassiodor (ca. 485-ca. 580), nur Martianus bei Gregor von Tours (538/39-594) sowie in den aus dem 9. Jahrhundert stammenden Kommentaren des Johannes Scottus Eriugena und des Remigius von Auxerre. Ob Martianus Christ war, wissen wir nicht. Martianus wurde wahrscheinlich in Karthago geboren und verbrachte dort den größten Teil seines Lebens. Ungewiß ist sein Beruf. Die Meinungen reichen von einem armen, gelehrten Bauern bis zum Proconsul in Afrika. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte zwischen diesen Extremen. Martianus war entweder Lehrer der Rhetorik oder Grammatik, oder, was am wahrscheinlichsten ist, Jurist. Für die Tätigkeit eines Rechtsgelehrten sprechen die

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Verwendung juristischer Fachausdrücke, die Worte forensis rabulatio (6,577) gerichtliche Rabulisterei und die sehr schlecht überlieferten Verse ... indocta rabidum quem (sc. Martianum Capellam) videre saecula/iurgis caninos blateratus pendere (9,999 vers.) - ... den (sc. Martianus Capella) ungebildete Generationen rasend hündisches Geschwätz mit Streit beurteilen sahen. Die Ansichten über die Datierung Martians und seines Werkes gehen ebenfalls weit auseinander (Ende des 3. bis Anfang des 6. Jahrhunderts). Die von Martianus benutzten Quellen helfen nicht weiter, da auch ihre zeitliche Einordnung unsicher ist. Die communis opinio datierte Martianus lange Zeit zwischen 410 und 429/439 (so auch Cameron 1986 in seinem materialreichen, jedoch teilweise recht spekulativen Artikel). Die Mehrheit der jüngeren Forschung favorisiert das späte 5. Jahrhundert. Verschiedene Gründe sprechen für diesen Spätansatz, d.h. für die Regierungszeit der Vandalenkönige Gunthamund (484-496) und Thrasamund (496-523). Beide Vandalen förderten Kunst und Kultur und schufen somit in Nordafrika ein kulturelles Klima für die Entstehung einer Enzyklopädie. Während ihrer Regierungszeit erlebt die lateinische Literatur in Afrika noch einmal eine Renaissance, die mit den Namen des in Karthago geborenen Dichters Blossius Aemilius Dracontius sowie des Grammatikers und Mythographen Fabius Planciades Fulgentius verbunden ist. Etliche Gedichte der in Afrika entstandenen Anthologia Latina sind zur Zeit Gunthamunds und Thrasamunds geschrieben. Wir kennen auch mehrere in dieser Epoche in Karthago wirkende Lehrer namentlich. Thrasamund war mit Amalafrida verheiratet, der Schwester des ostgotischen Königs Theoderich d.Gr. (493-526), zu dessen Regierungszeit das geistige Leben in Italien noch einmal aufblühte. Im allgemeinen Untergang des spätantiken weströmischen Reiches ist also das Afrika Gunthamunds und Thrasamunds neben Italien eine Bildungs- und Kulturoase. Nach seinen eigenen Worten schrieb Martianus De nuptiis als alter Mann: ... respersum capillis albicantibus verticem incrementisque lustralibus decuriatum (1,2) - ... ein mit weißem Haar bedecktes Haupt und ein Ruheständler in vorgerücktem Alter und anilem fabulam (9,997 vers.) - die Geschichte eines alten Mannes. Dies bedeutet, daß Martianus in den 20er oder 30er Jahren des 5. Jahrhunderts geboren sein könnte.

2. Werk Wie Cato Censorius (234-149 v. Chr.) seine Praecepta ad Marcum so widmet auch Martianus De nuptiis seinem Sohn Martianus. Die in De nuptiis geschilderte

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Geschichte von der Hochzeit zwischen Philologia und Merkur hat ihm Satura in einer Winternacht erzählt. Das Werk hat neun Bücher. In den ersten beiden Büchern, die den mythisch-allegorischen Rahmen enthalten, beschreibt Martianus die Hochzeit zwischen Merkur (als Hermes Logios) und Philologia, der Königin der Wissenschaften. Die Bücher 3 bis 9 sind den Sieben Freien Künsten gewidmet, die in späterer Zeit unter den Begriffen Trivium (Wortwissenschaften: Grammatik, Dialektik, Rhetorik) und Quadrivium (Zahlwissenschaften: Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik) zusammengefaßt werden. Die Eheschließung zwischen Merkur und Philologia symbolisiert die Vereinigung von Göttlichem und Sterblichem, von Seele und Körper. Nuchelmans (1957) interpretiert Philologia als studiosa rerum und Merkur als studiosus verkomm, deren Hochzeit die harmonische Verbindung von ratio (Philo-/ogrä) und oratio sei. Gersh (1986,2, 603-605) zufolge verkörpert Philologia den menschlichen und Merkur den göttlichen Intellekt; beider Hochzeit sei die Vergöttlichung des Menschen aufgrund seines Intellekts. Dagegen glauben Ferrarino (1969) und Lenaz (1975,101), Philologia und Merkur seien ein und dieselbe Person. Relihan (1993,143) bezeichnet Philologia und Merkur als „descended and undescended aspects of the soul." Merkur begibt sich zusammen mit seinem Halbbruder Apoll auf Brautschau und erfahrt, daß eine Heirat mit Sophia, Mantice und Psyche aus verschiedenen Gründen nicht in Frage kommt. Daher rät ihm Apoll, Philologia zur Frau zu nehmen. Der auf Athenes Wunsch hin einberufene Götterrat ist mit der Hochzeit einverstanden (Buch 1). Als Sterbliche muß Philologia für ihre Hochzeit mit Merkur und fur ihr künftiges Leben im Kreis der Götter vorbereitet werden. Die zu ihrer Apotheose fuhrenden Maßnahmen erinnern an Initiationsriten verschiedener Mysterien (Turcan 1958. Préaux 1974. Lenaz 1975, 9-26. Hadot 1984,142-146. Shanzer 1986). Ein von Athanasia verabreichtes Getränk läßt Philologia ihre Gelehrsamkeit erbrechen, die von den Artes und Disciplinae sowie den Musen Urania und Kalliope aufgelesen und in die Sieben Freien Künste eingeteilt wird. Anschließend trinkt Philologia den Becher der Unsterblichkeit. Iuno Pronuba begleitet die Braut durch die verschiedenen Himmelsregionen in die Götterversammlung, wo nach dem Eintreffen Merkurs die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfinden. Merkurs Hochzeitsgeschenk sind sieben Jungfrauen, welche die Sieben Freien Künste verkörpern (Buch 2). In den allegorischen Rahmen der Hochzeit zwischen Merkur und Philologia setzt Martianus die Beschreibung der Sieben Freien Künste. Nacheinander erscheinen Grammatik (Buch 3), Dialektik (Buch 4), Rhetorik (Buch 5), Geo-

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metrie (Buch 6), Arithmetik (Buch 7), Astronomie (Buch 8) und Musik (Buch 9) im Götterrat. In langen, gelehrten Reden legen sie - gelegentlich bis zum Überdruß ihres göttlichen Publikums - das Lehrgebäude ihrer Wissenschaften dar. Schließlich fuhrt Harmonia, ein Schlaflied singend, das Hochzeitspaar ins Schlafgemach. Inhaltlich und formal bietet De nuptiis eine bunte Melange. Schon die Sieben Freien Künste allein beweisen die große inhaltliche Bandbreite. Außer den fachwissenschaftlichen Teilen enthält De nuptiis viele philosophische und religiöse Themen. In die Prosa sind zahlreiche Verspartien in 15 verschiedenen Metren (vor allem Hexameter, elegisches Distichon, iambischer Senar) eingestreut. Somit gehört das Werk in die Gattung der Menippeischen Satire und steht seiner Form nach in einer Reihe mit Varros Saturae Menippeae, Senecas Apocolocyntosis, Petrons Satyricon und mit der Consolatio Philosophiae des Boethius. Die poetischen Einlagen erfüllen mehrere Funktionen: Sie dienen erstens der Gliederung. Häufig beginnt oder endet nämlich ein Buch mit einem Gedicht; Verspartien stehen auch an thematischen Schnittstellen im Lehrgebäude der einzelnen Künste und strukturieren somit den Inhalt der jeweiligen ars. Zweitens kann Martianus in den poetischen Partien sein dichterisches Talent entfalten. Drittens erfüllen die Verseinlagen auch einen pädagogischen Zweck; mit ihrer gebundenen Sprache und den verschiedenen Metren lockern sie die Darlegung der trockenen Wissenschaftsmaterie auf und sorgen auf diese Weise für Farbigkeit und eine willkommene Abwechslung. Auch sprachlich-stilistisch zieht Martianus viele Register. Neben die trockene technische Sprache tritt eine barocke Rhetorik. Die Lehrbuchpartien zeichnen sich durch eine schmucklose, überwiegend klare Sprache aus, während dunkle, schwer verständliche Formulierungen häufig in den narrativen und poetischen Teilen anzutreffen sind. Typisch für Martians Stil ist eine barocke Wortfulle, die im Deutschen nicht adäquat wiedergegeben werden kann. Die Sprache von De nuptiis ist oft als schwülstig, manieriert und abstoßend kritisiert worden. Zu bedenken ist jedoch, daß Martianus Afrikaner ist und in der Spätantike lebt. Geographische Herkunft und Epoche haben natürlich einen Einfluß auf Sprache und Stil, so daß die Unterschiede zwischen Martianus einerseits und Cicero, Caesar, Vergil und Ovid andererseits nicht überraschend sind. Auch wir empfinden das Deutsch Luthers, der zeitlich von uns so fern ist wie Martianus von der lateinischen Klassik, oft als befremdlich und derb. Wie bereits gesagt, gehört De nuptiis in das literarische Genos der Menippeischen Satire, deren gattungstypische Elemente u.a. die Vereinigung von Gegensätzen und die Parodie sind. Die Menippeische Satire hat ihren Ursprung

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bei den Kynikern, die anerkannte Werte anzweifelten. Diese genrespezifischen Merkmale und der kulturhistorische Hintergrund haben ihre Spuren in De nuptiis hinterlassen. Einerseits erfüllt das Werk die für die römische Satire typische Forderung, belehren zu wollen. De nuptiis ist zweifelsohne ein didaktisches Werk. Andererseits scheint es den Anspruch, im Besitz einer umfassenden Bildung und der letztendlichen Wahrheit zu sein, in Frage zu stellen. Z.B. wird Philologias irdische Bildung als Ballast für ihren Aufstieg in den Himmel empfunden. Daher muß sie vor ihrer Apotheose ihre Gelehrsamkeit erbrechen (2,134-149). Philologia erhält jedoch später im Himmel die Septem artes liberales als Brautgeschenk Merkurs zurück. Ein weiterer Widerspruch zwischen didaktischem Anspruch und Anzweiflung von Bildung findet sich am Ende von De nuptiis. Nachdem Martianus ausführlich die Lehrinhalte der Freien Künste in sieben Büchern dargelegt hat, scheint er sich am Ende seines Werkes in einer aufgrund der schlechten Textüberlieferung kaum übersetzbaren Passage von seinen wissenschaftlichen Ausführungen zu distanzieren. Hier wendet er sich an seinen Sohn, dem er De nuptiis gewidmet hat, und stellt sich als einen geschwätzigen Greis hin, der das bunte Gemisch von Saturas Erzählung nachgeplappert hat. Schließlich entschuldigt sich Martianus Sr. bei Martianus Jr. für all seine Possen (9,1000 [vers.]: nugisr, 9,997 [vers.]-1000 [vers.]). (Zur Vereinigung von Gelehrsamkeit und deren Parodie vgl. Relihan 1993, 3f.; 28-30; 140; 146f. Cizek 1992, 201f.; 211.) Können diese offensichtlichen Widersprüche gelöst werden und wenn ja, wie können sie bereinigt werden? Ganz im Stil der Menippeischen Satire verbindet Martianus Gegensätze miteinander, nämlich den Anspruch, Bildung zu vermitteln, und die scheinbare Anzweiflung dieses Anspruchs. Das Wort 'scheinbar' ist hier hinzugefügt, da Martianus die Gelehrsamkeit nicht wirklich in Frage stellt. Hätte er sonst soviel Ernsthaftes über die Septem artes liberales geschrieben ? Die oben erwähnte Schlußpartie von De nuptiis ist als 'Understatement' des Autors zu verstehen, das parodistische Züge aufweist und somit ausgezeichnet in das literarische Genos der Satire paßt. Wir werden später (Abschnitt 2c) sehen, daß Martianus belehren (docere) und unterhalten (delectare) will. Er vereinigt den Lehrer und den Entertainer in seiner Person.

a) Quellen De nuptiis ist ein im Stil der Kompilationsliteratur geschriebenes Lehrbuch, für das Martianus zahlreiche, ganz unterschiedliche Quellen verwendet hat. Die

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Schilderung der Hochzeitshandlung in den ersten beiden Büchern erinnert an die Vermählung Amors mit Psyche in den Metamorphosen (4,28-6,24) des Apuleius (2. Jahrhundert n. Chr.), der wie Martianus aus Afrika stammte. Dieses Werk mag auch das Vorbild für die in De nuptiis durchgeführte Verbindung von Allegorie und Menippeischer Satire gewesen sein (Westra 1981, 199). Neuplatonische, neupythagoreische, orphische und chaldäische Elemente sind in Philologias Apotheose zu beobachten. Die von den Sieben Freien Künsten handelnden Bücher 3 bis 9 enthalten überwiegend griechisches Gedankengut, das den Römern vor allem dank M. Terentius Varro (116-27 v. Chr.) bekannt war. Varro schrieb die erste römische Enzyklopädie der griechischen artes liberales (Disciplinarum libri novem, s. den Varro-Artikel von Wolfram Ax in diesem Band auf S. IfF). Leider ist dieses wichtige Werk nicht erhalten; vermutlich behandelte hier Varro Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Geometrie, Arithmetik, Astronomie, Musik, Medizin und Architektur. Da die Disciplinae verloren sind, können wir nichts Genaues über ihr Verhältnis zu De nuptiis sagen. Die schlechte Uberlieferungslage sollte jedoch nicht dazu fuhren, Varros Bedeutung für Martianus zu bestreiten, wie es Ilsetraut Hadot tut (1984, 156-190; 1987, 110-113; 1997, 32-34. Zu Hadots Ansicht über Varros Disciplinae s. den Varro-Artikel von Wolfram Ax in diesem Band auf S. 18ff). Hadot zufolge hat sich der Kreis der Septem, artes liberales in der neuplatonischen Philosophie des 3. Jahrhunderts n. Chr. etabliert. Ihrer Meinung nach beruhen die meisten Bücher von De nuptiis auf späten Autoren und Handbüchern. Dies mag so sein; aber welche Quellen liegen diesen späten Schriftstellern und Handbüchern zugrunde? Berechtigt uns die von Hadot angeführte Tatsache, daß keine antike Schrift etwas über den Inhalt der varronischen Disciplinae berichtet - mit Ausnahme der Architektur und Medizin -, Varros Einfluß auf Martianus Capella auszuschließen? Mehrere Gründe sprechen meiner Ansicht nach jedoch dafür, daß Martianus entweder direkt oder, was wohl eher anzunehmen ist, indirekt an Varros Disciplinae anknüpft (so auch Shanzer 1986, 37; Schievenin 1998). In 9,891 schließt Martianus expressis verbis die Medizin und Architektur aus seiner Enzyklopädie aus. Beide Fächer behandelte Varro in seinen Disciplinae. Ist dies nicht ein direkter Hinweis auf Varro? Wie die Disciplinae zählt auch De nuptiis neun Bücher. Diese Beobachtung ist nicht unerheblich, da die Buchzahl in der Antike von Bedeutung war. Wie Varros literarisches Hauptwerk, die Saturae Menippeae, ist auch De nuptiis formal eine Mischung aus Prosa und Poesie; Shanzer (1986,37-42) glaubt an einen Einfluß von Varros Saturae Menippeae auf De nuptiis. Außerdem betont Martianus mehrmals Varros Rolle bei der Ver-

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mittlung griechischen Gedankengutes in Rom: Einfuhrung der Dialektik in Rom durch Varro (4,335), Varros Beschäftigung mit Philosophie (6,578), Varros geographische Entfernungsangaben (6,639; 6,662), varronische Etymologien (8,817) und Varro als Augenzeuge für die Macht der Musik (9,928). Dies alles sind gute Gründe, von einer Verbindung zwischen Varro und Martianus auszugehen. Die Verifizierung der in den Büchern 3 bis 9 verwendeten Quellen ist bis auf wenige Ausnahmen schwer, wenn nicht gar unmöglich. Martianus gibt nämlich traditionelles Bildungsgut wieder, das von Generation zu Generation tradiert wurde. Im Zusammenhang von Lehrbüchern sind Inhalt und pädagogische Aufbereitung des Lehrmaterials, nicht jedoch die Quellen wichtig. Wir kennen ja auch nicht die Quellen unserer eigenen Schul- und Lehrbücher. In nur wenigen Fallen kann für De nuptiis eine bestimmte Vorlage aus dem Dickicht der Bildungsliteratur herausgefiltert werden. Z.B. unterscheidet sich der Inhalt des 3. Buches (Grammatik) kaum von den Grammatiktraktaten des 4. und 5. Jahrhunderts. Buch 4 (Dialektik) enthält Material des Aristoteles (384-322 v. Chr.), Apuleius (2. Jahrhundert n. Chr.), Porphyrios (234-ca.305 n. Chr.) und Augustinus (354-430). Die Rhetorik (Buch 5) basiert, wie zu erwarten, auf Cicero (106-43 v.Chr.) samt den zu seinen rhetorischen Werken verfaßten Kommentaren des Marius Victorinus (4. Jahrhundert n. Chr.) sowie auf Aquila Romanus (2. Hälfte 3. Jahrhundert n.Chr.?) und Fortunatianus (4. Jahrhundert n.Chr.). Buch 6 (Geometrie), das überwiegend der Geographie gewidmet ist, enthält Material aus Plinius d.A. (23-79 n. Chr.) und Solinus (3. Jahrhundert n. Chr.). Die Arithmetik (Buch 7) knüpft an Euklid (ca. 4./3. Jahrhundert v. Chr.), den Neupythagoreer Nikomachos von Gerasa (um 100 n. Chr.) und Theon Smyrnaios (hadrianische Zeit) an. Der Inhalt des 8. Buches (Astronomie) geht, wohl über die Vermittlung Varros, auf Poseidonios (2./1. Jahrhundert v. Chr.) und den Stoiker Geminos (1. Jahrhundert v. Chr.) zurück. Buch 9 (Musik) ist ein Exzerpt aus Aristeides Quintiiianus (3. Jahrhundert n. Chr.?). Die Liste der Quellen enthält zahlreiche griechische Autoren, von deren Werken wir keine lateinische Ubersetzung haben. Dies kann kaum mit den Launen der Uberlieferung erklärt werden, die aus unerfindlichen Gründen für den einen Autor besser, für den anderen schlechter ist. Vielmehr müssen wir annehmen, daß es für viele von Martianus benutzten griechischen Schriften keine lateinische Ubersetzung gab und daß Martianus in der Lage war, diese Werke im Original zu lesen. Die vielen wörtlichen Ubereinstimmungen zwischen Martianus einerseits und Nikomachos, Geminos und Aristeides Quintiiianus andererseits führten Shanzer (1986, 4) zu der berechtigten, allerdings

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nicht beweisbaren, Vermutung, daß Martianus die Werke der genannten Autoren sogar selbst übersetzt haben muß.

b) De nuptiis als in sich geschlossene Einheit De nuptiis ist eine bunte Melange aus wissenschaftlichem Lehrbuchmaterial, mythisch-allegorischen Partien, Prosa und Poesie, aus nüchternem und barockem Stil, aus Ernsthaftem und Parodistischem. Ab und zu treten auch der Autor selbst und Satura, die personifizierte Satire, auf. De nuptiis ist in drei konzentrischen Kreisen aufgebaut: Der innerste von den Sieben Freien Künsten gebildete Kreis ist auf das Wissenschaftliche beschränkt. Der mittlere Kreis besteht aus der Schilderung der Hochzeit und verschmilzt Wissenschaftliches und Mythisch-Allegorisches. Der äußerste Kreis schließlich wird von Martianus und Satura eingenommen. Beginnen wir mit dem innersten Kreis der Septem artes. Die drei Künste des Triviums arbeiten mit demselben Material, nämlich mit der Sprache. Grammatik (Buch 3) und Dialektik (Buch 4) berühren sich auf dem Gebiet der Sprachphilosophie. Sie geht der Frage nach, ob die Sprache spontan, auf natürliche Weise (physei) oder durch Konvention und Vereinbarung (thesei) entstanden sei. Die physei-thesei - Debatte ist mit der Kontroverse zwischen Analogie und Anomalie verbunden. Diese Streitfrage betrifft vor allem die Formenlehre und erörtert das Problem, ob Sprache einem Regelwerk {ratio, ars, Analogieprinzip) oder dem Sprachgebrauch (consuetudo, Anomalieprinzip) folgt. Außerdem beschäftigt sich die Sprachphilosophie mit der Etymologie. Martianus behandelt all diese Fragen im 3. und 4. Buch, ohne jedoch explizit auf die Verbindungen zwischen Grammatik und Dialektik hinzuweisen. Ausdrückliche Bezugnahmen auf die Grammatik kommen jedoch im Rhetoriktraktat vor (5,508; 5,511). Grammatik und Rhetorik überschneiden sich in der Lehre von den rhetorischen Figuren und Tropen, die dem Redeschmuck dienen. Martianus behandelt sie im 3. und im 5. Buch (3,326; 5,512; 5,523-537) und weist dabei auf die Verwandtschaft beider Fächer hin. Einen weiteren Schnittpunkt bildet die Frage der Sprachrichtigkeit (Hellenismos bzw. Latinitas), d.h. das Problem, was korrektes Griechisch bzw. Latein ist. Martianus erörtert die Kriterien für die Sprachrichtigkeit in den Büchern 3 und 5 (3,295; 3,303; 3,308; 3,324; 5,509-511) und betont die Verwandtschaft von Grammatik und Rhetorik (5,508 weist zurück auf3,326). Beide Fächer überlappen sich auch im Klauselrhythmus, der zwar nur in Buch 5 analysiert wird (5,519-522); Martia-

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nus hebt aber im Grammatiktraktat die Bedeutung rhythmischer Kenntnisse zweimal hervor (3,227; 3,326). Die zahlreichen Wechselbeziehungen zwischen Grammatik und Rhetorik, der ersten und letzten ars in Martians Trivium, verzahnen beide Fächer miteinander und erzeugen somit einen festen Ring, der sich um die Dialektik legt. Wie sieht es mit der Verwandtschaft von Dialektik (Buch 4) und Rhetorik (Buch 5) aus? Als Kunst des Disputierens überschneidet sich die Dialektik mit der Beredsamkeit. Die Dialektik ist auf die Wahrheit, die Rhetorik auf die Überredung gerichtet. In beiden Künsten hat die Gesprächsfuhrung von Anfang an das Ende im Auge; d.h. die am Ende stehende Schlußfolgerung bestimmt von Anfang an die Wahl der Prämissen und Argumente. Sie müssen von dem einen Gesprächspartner so ausgesucht werden, daß der andere Gesprächspartner zu dem gewünschten Schluß kommt. Der dialektische Syllogismus korrespondiert also mit der rhetorischen Beweisführung. Beide Künste sind durch die Topik, die Suche und das Auffinden von Prämissen und Argumenten, miteinander verbunden. Martianus behandelt die Topik im 4. und im 5. Buch (4,344-348; 5,476-497; 5,557-559); inhaltliche und wörtliche Parallelen sind in 4,344-348 und 5,476-480 zu beobachten. Im Rhetoriktraktat weist er auf Dialektik hin (5,475). Ein weiterer Schnittpunkt sind die verba prüpria und verba aliena, die Wörter in eigentlicher und übertragener Bedeutung, die Martianus im Dialektik- und Rhetoriktraktat untersucht (4,358-360; 5,509-512). Beide Wissenschaften berühren sich schließlich auch in der Lehre von den Gegensätzen (4,384-387; 5,488). Wie die Fächer des Triviums so sind auch die vier Künste des Quadriviums miteinander verwandt. Sie basieren alle auf dem numerischen Element, der Zahl. Zwischen Geometrie (Buch 6) und Arithmetik (Buch 7) bestehen folgende Entsprechungen: Figur - Zahl; Verhältnis von Strecken, Flächen und Körpern - numerische Proportionen; perfekte Figuren (z.B. Kreis) - perfekte Zahlen. Alle diese Themen werden in De nuptiis erörtert (7,754-756: Figur und Zahl; 6,717-720 und 7,757-767: Proportionen von Figuren und Zahlen; 6,722: perfekte Figuren; 7,753: perfekte Zahlen). Martianus spricht von den Schwestern Geometrie und Arithmetik (6,706; 7,725 [vers.]; 7,746; 7,802 [vers.]). Geometrías Peplos ist u.a. mit Abbildungen von Zahlen verziert (6,581). Im Zusammenhang mit den Figurierten Zahlen - dies ist die visuelle Darstellung von Zahlen als geometrische Figuren - weist Martianus auf die Verwandtschaft zwischen beiden Künsten hin (6,706; 7,754-756). Das 6. Buch ist nicht nur mit der Arithmetik (Buch 7), sondern auch mit der Astronomie (Buch 8) verknüpft. Ein großer Teil des 6. Buches ist der Geogra-

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phie gewidmet, die sich in ihrem mathematisch-astronomischen Teil mit der Sternenkunde überschneidet: Gestalt der Erde, ihre Größe, ihre Lage im Kosmos, Bewegung bzw. Ruhelage der Erde, die Übertragung der Himmels- auf die Erdzonen sowie die Berechnung der geographischen Breite und Länge. Die Verwandtschaft von Geometrie und Astronomie ergibt sich aus den in beiden Wissenschaften vorkommenden Kreisen, Kurven und Kugeln sowie auf der Teilung des Kreises in 360°. Die Erklärung der Planetenbewegungen mit Hilfe homozentrischer Sphären sowie die Theorie der Epizyklen und Exzenter erfordern geometrische Kenntnisse. Den zeichnerischen Mittelpunkt für die fünf parallelen Himmelskreise - diese sind der arktische Kreis, Sommersonnenwendekreis, Äquinoktialkreis, Wintersonnenwendekreis, antarktischer Kreis bildet der Himmelspol (8,827). Mit Hilfe des Erdumfangs wird die Größe der Planeten und ihrer Kreisbahnen berechnet (8,858); hier betont Martianus, daß in der Astronomie geometrisches Wissen unerläßlich für die Größenbestimmungen ist. Auf all diese Gemeinsamkeiten macht Capeila zwar im fachwissenschaftlichen Teil nicht aufmerksam. Er arbeitet jedoch in der allegorischen Rahmenhandlung die Verwandtschaft zwischen Geometrie und Astronomie heraus. Beide tragen nämlich denselben Peplos, der u.a. mit Symbolen der Meßkunst und mit astronomischen Motiven verziert ist (6,580f.), und beide artes verwenden den Rechentisch, in dessen sandiger Oberfläche geometrische Figuren und die Himmelskreise gezeichnet werden können (6,579). Die die Geometrie personifizierende allegorische Figur trägt in der linken Hand einen Globus, auf dem die Himmelskreise, -zonen und die Planeten dargestellt sind (6,583-585). Die Astronomie (Buch 8) ist auch mit der Arithmetik (Buch 7) verwandt. Z.B. bezeichnet sich Arithmetik als die Mutter der Sterne (7,730). Die Entfernungen zwischen den oben erwähnten fünf parallelen Himmelskreisen werden mit Hilfe einer aus 36 Einheiten bestehenden Meßlatte berechnet. Auf ihr liegt der arktische Kreis bei 8, der Sommersonnenwendekreis bei 14, der Äquinoktialkreis bei 18, der Wintersonnenwendekreis bei 24 und der antarktische Kreis bei 32 (8,837). Diese Distanzangaben beruhen auf arithmetischen Vorstellungen, die an die in 7,757-767 behandelte Proportionslehre beliebiger Zahlen erinnern. Martianus arbeitet weitere Wechselbeziehungen zwischen beiden Künsten heraus, indem er mehrfach im astronomischen Traktat auf den arithmologischen Teil der Arithmetik anspielt (7,738 und 8,864; 7,740 und 8,824; 8,828; 8,829; 8,830; 8,876). Die Nähe von Arithmetik (Buch 7) und Musik (Buch 9) basiert auf der pythagoreischen Entdeckung, daß, wie im Kosmos, so auch in der Musik die

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Zahl der grundlegende Baustein ist. Pythagoras soll die Töne mathematisch berechnet haben und aus diesen Überlegungen die den musikalischen Intervallen zugrunde liegenden Zahlenproportionen gefunden haben. Der arithmologische Abschnitt des 7. Buches enthält zahlreiche Hinweise auf die Musik (7,733; 7,736; 7,737; 7,741). Im Musiktraktat hebt Martianus die Bedeutung der Zahl für die Musik hervor (9,921-929). Die Zahl sorgt für die harmonische und rhythmische Struktur (9,922). Die Musik (Buch 9) ist auch mit der Astronomie (Buch 8) verwandt. Als Wissenschaften von den optisch bzw. akustisch wahrnehmbaren, sich bewegenden Dingen haben es beide Fächer mit den verschwisterten Sinnen des Sehens und Hörens zu tun. Beide Künste überschneiden sich in der Sphärenharmonie, auf die Martianus in der Einleitung des 9. Buches mehrmals hinweist (9,909; 9,921; 9,922). Harmonia bezeichnet sich als Astronomies Zwillingsschwester (9,922). Der Zwillingsstatus verleiht beiden artes einen nicht zu überbietenden Grad an Ähnlichkeit und Nähe. Harmonia singt zu Ehren Jupiters ein Lied, das von den Planeten und ihren Bewegungen, von den vier die Erde umgebenden Elementen sowie von den Achsen und Polen der Erde handelt (9,911f. [vers.]). Alle diese Dinge hat Martianus bereits im Astronomietraktat behandelt (8,853f. und 872; 8,872-878; 8,862-871; 8,838; 8,814; 8,815f.). Bisher haben wir paarweise Verbindungen zwischen den Künsten genannt. De nuptiis enthält aber auch Verknüpfungen zwischen drei artes. Z.B. weist Martianus auf Wechselbeziehungen zwischen Geometrie (Buch 6), Arithmetik (Buch 7) und Astronomie (Buch 8) hin. Er bezeichnet die Geometrie als Schwester der Astronomie (6,581) und der Arithmetik (6,706). Ebenso überschneiden sich Geometrie (Buch 6), Arithmetik (Buch 7) und Musik (Buch 9). Was der Ton für die Harmonik und der chronos protos = erstes Zeitmaß für die Rhythmik sind, das sind der Punkt für die Geometrie und die Monade für die Arithmetik (9,939; 9,971). Aus diesen Grundeinheiten gehen alle weiteren Elemente hervor: Ton/Intervall/System/Melos; chronos/w/ar/Fuß/rhythmisches System; Punkt/Linie/Fläche/Körper; 1 / 2 / 3 usw. Alle drei Wissenschaften haben mit der sogenannten Mittellehre zu tun. Dies ist die Theorie von der geometrischen, arithmetischen und harmonischen Reihe, in der das Verhältnis von mindestens drei aufeinanderfolgenden Zahlen betrachtet wird. In der geometrischen Reihe ist die Proportion zweier Glieder stets gleich; z.B. ist die Zahlenfolge 1, 2, 4, 8, 16, 32 usw. dadurch gekennzeichnet, daß das größere Element zum unmittelbar vorhergehenden kleineren im doppelten Verhältnis steht. In der arithmetischen Reihe besteht zwischen zwei direkt aufeinanderfolgenden Gliedern immer dieselbe Differenz; in der Serie 1, 2, 3, 4, 5 usw.

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beträgt die Differenz zwischen zwei benachbarten Elementen stets 1. In der harmonischen Reihe ist das dritte Glied um denselben Teil von sich größer als das zweite, um den das erste kleiner ist als das zweite. In der Zahlenfolge 3, 4, 6 gibt es die Differenzen 1 und 2 zwischen zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Elementen; 1 und 2 betragen jeweils ein Drittel der beiden Randzahlen. Wie die 6 die 4 um ein 1/3 von sich größer ist, so ist die 3 um 1/3 von sich kleiner als die 4. Martianus behandelt die arithmetische und harmonische Reihe im 7. Buch (7,737). Die Mittellehre konnte auch in einem Musiktraktat dargestellt werden, wie es z.B. Aristeides Quintiiianus tut (3,5 p.100,17-101,23 Winnington-Ingram). Es gibt nicht nur Verknüpfungen innerhalb des Triviums und Quadriviums, sondern auch zwischen Trivium und Quadrivium. Die Dialektik (Buch 4) bildet die Grundlage für die Geometrie (Buch 6) (4,336f.). Beide «/to beweisen eine aufgestellte Behauptung mit Argumenten. Martianus erwähnt im 6. Buch die Theoreme (schemata apodictica) und verweist fiir deren Behandlung auf die Dialektik (6,716). Beide Künste verwenden teilweise dieselben Fachausdrücke: forma ist in der Dialektik eine der Prädikabilien (3,345 u.ö., = Art, Spezies) sowie eine Figur des prädikativen und konditionalen Syllogismus (4,408-413; 4,420-422) und in der Geometrie eine geometrische Figur (6,710 u.ö.);propositio bedeutet in der Dialektik Vordersatz oder erste Prämisse im konditionalen Syllogismus (4,414 u.ö.) und in der Geometrie den ersten Teil eines Problems oder Theorems, d.h. die Ankündigung der gegebenen Dinge (6,716); conclusio bezeichnet in der Dialektik die Schlußfolgerung, bei der ein Schritt ausgelassen wird (4,343; 4,407), und in der Geometrie ebenfalls die Schlußfolgerung, den fünften und letzten Teil eines Problems oder Theorems (6,716). Auch zwischen Rhetorik (Buch 5) und Geometrie (Buch 6) gibt es Gemeinsamkeiten. Der Redner muß z.B. über geometrisches Wissen verfügen, wenn es vor Gericht um Streitfragen über Grundstücksgrenzen und -Vermessungen geht. Martianus bezeichnet Rhetorik und Geometrie als Töchter der Dialektik (4,336f.). Beide Künste beweisen oder widerlegen mit Argumenten eine Behauptung unter Berücksichtigung gegebener Dinge und durch stufenweises Voranschreiten. Martianus zählt in 6,716 fünf Schritte für geometrische Probleme und Theoreme auf: allgemeine Ankündigung (protasis, propositio), Spezifikation der Frage (diorismos, determinatio), Konstruktion {kataskeue, dispositio), Beweis (apodeixis, demonstratio comprobatioque) und Schlußfolgerung (symperasma, conclusio). Diese stufenweise Arbeitsmethode erinnert an die Gliederung einer Rede, die in 5,544-565 behandelt wird: Einleitung (prooimion, exordium), Erzählung (diegesis, narratio), Feststellung des Streitpunktes und Ankündigung

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des Beweiszieles (prothesis, propositio), Gliederung der Streitpunkte (diairesis, partitio), Beweisführung (pistis, argumentatio) und Schluß {epilogos, peroratio). Die Rhetorik (Buch 5) hat nicht nur Verbindungen mit der Geometrie, sondern auch mit der Musik (Buch 9). Beide Künste sprechen mit ihren klanglichen und rhythmischen Elementen den Hörsinn an und können Emotionen beim Zuhörer auslösen. Wie musikalische Klänge und Rhythmen auf die menschliche Psyche einwirken können (9,921-929), so kann auch der Redner durch eine klangvolle Wortwahl und -anordnung sowie durch den Prosarhythmus sein Publikum manipulieren (5,427; 5,502-5,505; 5,545; 5,565). Musik und Rhetorik überschneiden sich also auf dem Gebiet der Ethos- und AfFektlehre. In De nuptiis gibt es allerdings keinen Hinweis auf diese Gemeinsamkeit. Was in der Musik der musikalische Rhythmus ist (9,967-9,995), das ist in der Rhetorik der Prosarhythmus mit seinen Satzklauseln (5,519-5,522; leider bricht der Text in 522 ab). Den drei rhetorischen Stilarten, schlichter, mittlerer und erhabener Stil (5,428: exilis, facilis, flammatrix), entsprechen die drei musikalischen Stilarten in der Melodiebildung: tragisch, dithyrambisch und nomisch (9,965: hypatoeides oder tragica, mesoeides oder dithyrambica, netoeides oder nomica). Die Nähe von Rhetorik und Musik kommt auch durch die Regeln, die für eine gute Stimme und die Gestik gelten, zustande (5,442; 5,540-543; 9,969; 9,971). Eines der wichtigsten Arbeitsinstrumente für den Musiker und den Redner ist die Stimme, für deren Pflege und Training es besondere Vorschriften gab. Den musikalischen Körperbewegungen des Tänzers, die zum Musizieren in der Antike gehörten, entspricht die rednerische Gestik. Schließlich gibt es mehrere Verbindungen zwischen der ersten und letzten Kunst in De nuptiis, zwischen der Grammatik (Buch 3) und der Musik (Buch 9). Beide Wissenschaften legen sich wie ein fester Ring um die anderen artes. Die Nähe von Grammatik und Musik gründet sich darauf, daß Sprache und Musik ursprünglich eine Einheit bildeten (vgl. 9,936). Vor allem der Sprachrhythmus, d.h. der Klauselrhythmus in der Prosa und der Versrhythmus in der Poesie, verbindet beide Künste. Als Grammatik am Ende ihres Traktates noch die Rhythmen darlegen will, wird sie von Minerva mit der Warnung, nicht das Gebiet der Musik zu betreten, zum Schweigen gebracht (3,227). Martians Lehre vom musikalischen Akzent (3,268; 3,269; 3,271; 3,272; 3,273) und seine Untersuchungen zu den Silbenquantitäten (3,274-278; 3,279-288) zeigen die Wechselbeziehungen zwischen Grammatik und Musik. Im 9. Buch betont Martianus, daß es nicht nur im Tanz und in Liedern, sondern auch in Wörtern und in der Rede einen musikalischen Rhythmus gibt (9,969). Metrische und rhythmische Vorstellungen greifen in der Behandlung der Rhythmusge-

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schlechter ineinander, wo neben dem tempus primum — erstes Zeitmaß immer wieder auch die Silbe als rhythmisches Grundelement betrachtet wird (9,977-993). Die Gemeinsamkeiten zwischen Grammatik und Musik kommen auch durch den gleichen, stufenweise vom kleinsten bis zum größten Baustein voranschreitenden Aufbau beider Traktate zum Ausdruck: Buchstaben (3,232-261), Silben (3,262-278), Wörter bzw. Redeteile (3,279-325) und Verbindung mehrerer Worte (3,326) in der Grammatik; Ton (9,939-947), Intervall (9,948-953), System und Melos (9,954-966) in der Harmonik; chronos protos (9,971), Fuß (9,974-976) und rhythmisches System (9,977-995) in der Rhythmik. Neben den fachlichen und strukturellen Verbindungen verknüpft auch die in beiden Traktaten vorkommende Medizin die Grammatik und Musik miteinander. Martianus vergleicht Grammatice mit einer Medizinerin, die mit Medikamenten und einem Skalpell die Sprachfehler therapiert und Sprachkrankheiten heilt (3,223-225). Die Verwandtschaft von Musik und Medizin ergibt sich durch die Verwendung der Musik zur Therapie psychischer und physischer Krankheiten (9,923; 9,926); in 9,968 setzt Martianus den Pulsschlag zum Rhythmus in Beziehung. Bisher haben wir die Verbindungen zwischen den Sieben Freien Künsten auf fachwissenschaftlicher Ebene untersucht. Die herausgearbeiteten Wechselbeziehungen bilden den innersten der drei oben genannten konzentrischen Kreise im Aufbau von De nuptiis. Im folgenden soll der zweite Kreis, die Verknüpfungen auf allegorisch-wissenschaftlicher Ebene, dargestellt werden. In der Beschreibung des Aussehens der die Septem artes liberales repräsentierenden Frauen verschmelzen der allegorische und der wissenschaftliche Teil von De nuptiis. Rhetorica und Harmonia erzeugen bei jedem ihrer Schritte Töne. Rhetoricas Waffen bringen lautes, ihre Redegewalt symbolisierendes Dröhnen und Krachen hervor (5,427), während dünne Metallblättchen an Harmonias Gewand für ein leises, wohl temperiertes Klimpern sorgen (9,909). Musikbegleitung kündigt den Auftritt Rhetoricas und Harmonias an (5,425 [vers.]; 9,905). Bei allen sieben Frauen betont Martianus deren stattliche Erscheinung und glänzende Schönheit und verwendet teilweise dieselben Vokabeln: decus = Zierde (5,426; 7,728), luculentus = stattlich (6,586; 8,803), maiestas = Erhabenheit (5,426; 6,586) und splendor= Glanz (8,803; 8,811). Diese Wortwiederholungen haben einen Echoeffekt und erzeugen Fernverbindungen. Sie erinnern den Leser an das, was er bereits zuvor in De nuptiis gelesen hat (ein déjà luErlebnis). Zahlreiche Anspielungen auf die Sieben Freien Künste, besonders auf Astronomie und Musik, befinden sich in den Büchern 1 und 2. Z.B. erwähnt

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Martianus in 1,36 die Stillstände und Rückläufe des Planeten Merkur, die er später in 8,879-881 genauer beschreibt. Daß Merkur die Sonne umkreist, wird in 1,92 und 8,854; 8,857; 8,879 gesagt. Im 2. Buch bezeichnet PhilologiaJupiter als Wandelstern, der auf einer mittleren Bahn laufe und eine gemäßigte Temperatur habe (2,186 [vers.]). Sie spielt hier auf den Planeten Jupiter an, dessen Bahn zwischen der des kalten Saturns und der des heißen Mars verläuft und daher eine gemäßigte Temperatur hat (8,885). Iuno sagt in ihrem Loblied auf Philologia, daß sie sich auch mit dem Weltenbau, den parallelen und schrägen Himmelskreisen, den Koluren, Polen, Klimata, Drehungen der Achsen und den Sternen beschäftige (1,37). All dies sind astronomische Fachtermini, die auf den Inhalt des 8. von der Astronomie handelnden Buches vorausdeuten. Das 1. und 2. Buch enthalten Hinweise auf die Sphärenmusik (l,llf.; 2,169-199), die in 9,921f. dargestellt ist. Als sich Merkur bei seiner Brautschau hilfesuchend an Apoll wendet, schickt dieser ihm die Musen ratis incessibus = mit berechneten Schritten (1,20) entgegen. Der Ausdruck ratis incessibus spielt auf die in der Harmonie vorherrschenden Zahlenverhältnisse an, die Martianus in 9,933f. und 9,951-953 untersucht. Die ersten beiden Bücher enthalten auch Hinweise auf die Arithmetik, genauer gesagt auf deren arithmologischen Teil (1,40; 2,102f.; 2,105f.; 2,108; 7,731-742). Die meisten der Sieben Künste werden von Apoll oder Paedia in den Götterrat hineingeführt. Martianus schildert oft, wie Apoll oder Paedia die Hochzeitsversammlung verläßt (2,218; 7,725 [vers.]; 9,901) und dann mit der nächsten an zurückkehrt (3,223; 4,328; 7,728; 8,803; 9,909). Auf diese Weise erzeugt Martianus die Illusion, daß im Hintergrund ein Faden läuft, der die sieben Traktate über die artes liberales zusammenhält. Die kleinen Episoden, die sich um Apoll und Paedia in ihrer Funktion als Eskorte der Künste spinnen, geben De nuptiis ein unsichtbares, aber stets präsentes Gerüst. Auch die Hochzeitshandlung wird während aller sieben Traktate stets im Hintergrund fortgesponnen und tritt, je weiter die Enzyklopädie voranschreitet, desto öfter in den Vordergrund. Der Leser wird also immer wieder zum Anfang von De nuptiis, nämlich den Hochzeitsfeierlichkeiten, zurückgeführt. Die langen, gelehrten Reden der Sieben Künste stellen die Gottheiten, die endlich zum fröhlichen Feiern übergehen wollen, auf eine harte Geduldsprobe. So ist es kein Wunder, daß gegen Ende von De nuptiis die Spannungen zwischen Athene als Patronin der artes auf der einen Seite sowie Venus, Voluptas und Juno als Vertreterinnen der Liebe, Vergnügungen und Ehe auf der anderen Seite immer intensiver werden. Bereits Grammatik, die erste der Sieben Künste, wird zur Kürze ermahnt (3,326). Auch Dialektik wird daraufhingewiesen, sich kurz

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zu fassen (4,423). Geometrie zieht sich wegen ihrer allzu ausfuhrlichen Darlegungen den Unmut der Venus, Voluptas und Juno zu (6,704f.). Etwas später beschimpft Voluptas Merkur als einen marcentem maritum = matten Bräutigam (7,725 [vers.]), der die Freuden der Liebe unnötig lange hinausschiebe. Sie kritisiert außerdem, daß bei der Hochzeitsfeier nicht Venus regiere, sondern Athene, die doch für ihre negative Haltung der Ehe gegenüber bekannt sei (7,725 [vers.]). Zu Beginn des 9. Buches sind Venus, Voluptas, Cupido und Juno angesichts der langen gelehrten Reden überaus verärgert (9,888 [vers.]). Angesichts der allgemein miesen Stimmung versucht Harmonia, entsprechend ihrem Fachgebiet, die Festversammlung mit ihren Liedern zu besänftigen und aufzuheitern (9,913 [vers.]). Sie singt von Liebesabenteuern der Götter (9,915 [vers.]; 9,916 [vers.]; 9,917 [vers.]; 9,918 [vers.]; 9,919 [vers.]) und gewinnt das kiteresse der Himmlischen an ihrer Kunst. Die captationes benevolentiae wirken wie appetizer, so daß Harmonia anschließend ihre Wissenschaft darlegen kann. Am Ende von De nuptiis sind also Gelehrsamkeit und Vergnügen dank Harmonias Bemühungen miteinander versöhnt. All diese Textstellen zeigen, daß sich die Haltung der Götter gegenüber den Septem artes liberales wie ein roter Faden durch De nuptiis zieht und das ganze Werk zusammenhält. In den im vorigen Abschnitt angeführten Texten bildet die Vermählung von Philologia und Merkur stets das Gegenstück zu den Sieben Künsten. Daneben gibt es auch die von den artes unabhängige Hochzeitshandlung, die während des ganzen Werkes im Hintergrund weitergesponnen wird und gelegentlich in den Vordergrund tritt. Sie bildet den Rahmen und zugleich ein weiteres Band, das die Sieben Künste zusammenhält. Ein Hymnus auf Hymenaeus, den Gott der Hochzeit, eröffnet De nuptiis (1,1 [vers.]). In 1,4 werden mehrere Götterehen aufgezählt, die Merkur dazu veranlassen, sich nach einer Braut umzusehen (1,5-7). Im 2. Buch beschreibt dann Martianus einige Hochzeitsriten und -Zeremonien. Z.B. nimmt Philologias Mutter, Phronesis, ihrer Tochter die Kleidung und Schmuckstücke weg, die Philologia bisher getragen hat, und kleidet sie in ein weißes Gewand aus feiner Wolle (2,114f.). Das Wegnehmen der Kleidung spielt auf die Sitte der Braut an, ihre Kleider und Spielsachen am Vorabend der Hochzeit den Laren ihres Hauses zu weihen. Das weiße Wollgewand war das traditionelle Brautkleid. Philologias Himmelfahrt in ihr neues Heim (2,117-200) erinnert an die in der Antike übliche Prozession der Braut zum Haus des Bräutigams. Die Philologia begleitenden Knaben Labor und Amor (2,143f.) sind das allegorische Pendant zu den Knaben, die bei einer wirklichen Hochzeit der Braut auf ihrem Weg in das Haus ihres künftigen Gatten Schutz gewähren sollten. Nach Philologias Ankunft im Götterrat schlägt ihre

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Mutter Phronesis den Austausch der Hochzeitsgeschenke und die Verlesung der Lex Papia Poppaea vor (2,217). Augustus hatte 9 n. Chr. dieses Gesetz zur Erhöhung der Ehemoral und Bekämpfung der Kinderlosigkeit erlassen. Auch in den Büchern 3 bis 9 scheint die Hochzeitshandlung immer wieder zwischen den langen Reden der Sieben Künste hervor. Braut und Bräutigam werden des öfteren am Anfang oder Ende der Bücher genannt (5,565 und 8,813: nubens = Philologia; 8,803; 9,921 und 9,929: nuptura virgcr, 3,326: sponsus= Merkur). Auch Hymenaeus (oder Hymen) taucht gelegentlich auf (4,23 [vers.]; 9,904; 9,914 [vers.]) und stimmt in 9,902f. ein Hochzeitslied an. Zu einer Hochzeit gehören natürlich Lieder, Scherze und ausgelassene Heiterkeit. All dies ist in De nuptiis reichlich vorhanden und trägt zur weiteren Verklammerung der einzelnen Teile des Werkes bei. Die Musen singen Preislieder auf Philologia (2,118-126), Philologia wendet sich mit einem Hymnus an Jupiter (2,185-193), das Quadrivium beginnt mit einem Loblied auf Athene (6,567-574), Orpheus, Amphion und Arion treten als Sänger auf (9,907f.), und Harmonia eröffnet ihren Traktat und beschließt das ganze Werk mit Gesängen (9,911-919; 9,997-1000). Die in De nuptiis vorkommenden Scherze erinnern an die bei Hochzeiten üblichen Fescennina carmina, an Spottlieder mit aggressivem Witz. Bacchus macht sich über Dialektik lustig und sorgt mit seinen Spötteleien für Heiterkeit unter den versammelten Göttern (4,331f.). Der in seiner Trunkenheit vor sich hinprustende und torkelnde Silen, dem Cupido keck einen schallenden Schlag mit der flachen Hand auf die Glatze versetzt und der schließlich wie ein nasser Sack aus der Versammlung weggetragen wird, erregt berstendes Lachen unter den Himmlischen (8,804f.). Martianus stellt die Handlung von De nuptiis in einen engen Zeitrahmen, der das ganze Werk ebenfalls wie eine Klammer zusammenhält. Zwischen der Zustimmung der Götter zur Hochzeit im 1. Buch bis zum Ende der Rede Harmonias in Buch 9 vergehen zwei Tage. Immer wieder weist Martianus auf das Verstreichen der Zeit hin (2,98 [vers.]; 2,99; 2,116 [vers.]; 9,897f.). Soviel zum zweiten der konzentrischen Kreise, aus denen De nuptiis aufgebaut ist. Nun soll der dritte und äußerste Rahmen kurz betrachtet werden, der von Martianus, dem Autor, und Satura, der personifizierten literarischen Gattung von De nuptiis, eingenommen wird. Zu Beginn und am Ende des Werkes wendet sich Martianus an seinen Sohn (1,2; 9,997 [vers.]; 9,1000 [vers.]). Im Prolog und Epilog tritt auch Satura auf; Martianus berichtet, daß sie ihm bei Kerzenschein die ganze Geschichte von der Vermählung zwischen Merkur und Philologia erzählt habe (1,2; 9,997 [vers.]). Saturas Erscheinen in 1,2 erinnert an die den Dichter inspirierende Muse. Martianus porträtiert sich selbst in den

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Anfangs- und Schlußparagraphen als alten Mann mit weißem Haar (1,2; 9,997 [vers.]), der alberne Nichtigkeiten daherschwatzt (1,2; 9,1000 [vers.]). Anfang und Ende von De nuptiis sind also aufeinander bezogen; die hier vorkommenden Personen spinnen feine Faden, die das ganze Werk zusammenhalten.

c) Martians pädagogische Methode Ziel des Martianus ist einerseits die Belehrung (docere), andererseits die Unterhaltung (delectare) des Lesers. Jene erfolgt in den langen, trockenen Wissenschaftspartien, diese hat ihren Platz in der mythisch-allegorischen Rahmenhandlung. Für das docere und delectare verwendet Martianus verschiedene Methoden. Die Belehrung findet in den Büchern 3 bis 9 statt und nimmt den weitaus größten Teil von De nuptiis ein. Hier sind Gliederung und Sprache dem Inhalt untergeordnet. Der Inhalt muß systematisch und gut gegliedert präsentiert werden. Horizontale und vertikale Verästelungen erleichtern die übersichtliche Darstellung des Lehrstoffes. Das docere erfordert eine klare, eindeutige Sprache und eine einfache syntaktische Struktur. Rhetorischer Schmuck darf, wenn überhaupt, nur äußerst sparsam verwendet werden. Das Vokabular und die stilistische Ausgestaltung sind sachlich, funktional, nüchtern und oft trocken. Ein typisches Merkmal des wissenschaftlichen Arguments ist ein standardisiertes und konventionelles Vokabular. Obwohl De nuptiis Ende des 5. Jahrhunderts n. Chr. entstanden ist, weisen die technischen Teile nur wenige spätlateinische Wörter auf. Die Sprache der Lehrbuchpartien zeigt, wie jede Fachsprache, eine starke Tendenz zum Konservativismus und Traditionalismus, die einflußreicher sind als die zeitgenössische Sprache. Lehrbuchinhalte, wie wir sie in De nuptiis finden, sind trocken und monoton. Es besteht daher die Gefahr, daß Martianus die Aufmerksamkeit des Lesers verliert. Er muß also einen Weg finden, das Interesse seines Publikums zu gewinnen und - was noch wichtiger ist - es während der langen, trockenen Wissenschaftspartien zu behalten. Dies gelingt ihm durch die Verwendung von zahlreichen verschiedenen Themen, unterschiedlichen Sprach- und Stilebenen sowie heiteren Szenen. Wie oben gesagt, enthält De nuptiis gelehrte, mythischallegorische, philosophische und religiöse Partien. Die im Hintergrund stets weiterlaufende Hochzeitshandlung charakterisieren heitere, lebhafte Szenen. Das Aussehen der personifizierten Sieben Künste ist oft überaus farbig beschrieben. In diesen Ekphraseis scheint die verbale Kommunikation zwischen Autor und Publikum in eine visuelle Kommunikation überzugehen. Mar-

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tianus visualisiert seine Geschichte. In den Büchern 1 und 2 sowie in den Einleitungen zu den Büchern 3 bis 9, welche die Hochzeitshandlung, einen Uberblick über die jeweilige ¿mund deren Lob enthalten, sind Sprache und Stil so bunt und gelegentlich überquellend, daß eine adäquate Ubersetzung oft unmöglich ist. Hier sind Wortschatz und Stil individuell geprägt, d.h. sie zeigen die für einen spätantiken Autor übliche Wortfiille. In diesen Partien begegnen wir einer rhetorischen Hyperstilisierung, die alle Mittel des rednerischen Schmucks verwendet. Hier finden wir auch zahlreiche für das Spätlatein typische Wörter und stilistische Phänomene. Des weiteren helfen heitere Episoden und burleske Szenen wie die oben erwähnten Spötteleien des Bacchus über Dialektik (4,331f.) und Silens Trunkenheit (8,8D4f.) Martians Publikum, die „Durststrecken" der technischen Partien zu überstehen. Die langen, gelehrten Ausfuhrungen der Sieben Künste ermüden und langweilen Martians Leser. Eine humorvolle Unterbrechung ist höchst willkommen und dient dazu, die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu erhalten. In 8,809 betont Martianus, den Leser durch heitere Geschichten erfreuen zu wollen. Der Einschub der lustigen Episoden bietet eine gute Gelegenheit, die Vermittlung des trockenen Lehrbuchmaterials durch Scherze aufzulockern. Solche heiteren Geschichten wirken wie ein „Köder". Sie sorgen für das delectare und bilden das pädagogisch geschickte Pendant zum trockenen docere. Die heiteren Szenen sind ein unverzichtbarer Bestandteil der pädagogischen Methode Martians (zur Verbindung von Ernsthaftem und Heiterem in De nuptiis siehe Westra 1981). Der Autor von De nuptiis ist also nicht nur ein guter Lehrer, sondern auch ein einfallsreicher Entertainer, der es versteht, sein Publikum über lange, wissenschaftliche Passagen hinweg nicht zu verlieren. Die Verbindung von trockener Gelehrsamkeit (docere) und literarischer Unterhaltung (delectare) ermöglicht es Martianus, den Leser bei der Stange zu halten. De nuptiis ist das einzige aus der Antike überlieferte Werk, das diese verschiedenen Methoden und sprachlichen Ebenen für die Kommunikation mit dem Leser verwendet. Martianus entwickelt seine eigene pädagogische Methode, die so eigenartig ist wie De nuptiis.

d) Geschlechterrollen in De nuptiis Da in De nuptiis die Sieben Freien Künste von Frauengestalten verkörpert werden, ist es interessant, die Geschlechterrollen bei Martianus Capella zu untersuchen. Die relevanten Texte befinden sich in der mythisch-allegorischen Rah-

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menhandlung, d.h. in den ersten beiden Büchern sowie am Anfang und Ende der Bücher 3 bis 9. Natürlich dürfen wir kein getreues Abbild der Wirklichkeit erwarten. Das Frauenbild in De nuptiis ist von einem Mann gezeichnet und ist durch den Filter der über Jahrhunderte hinweg geprägten, maskulinen Sichtweise gegangen. Außerdem handelt es sich in erster Linie um Mythologie und Allegorie, nicht um die Realität. Allerdings spiegelt das Frauenbild des Marianus bis zu einem gewissen Grad die wirklichen Verhältnisse der (Spät)Antike wider. Pauschalurteile über die von Frauen in De nuptiis gespielten Rollen können aus zwei Gründen nicht gefallt werden. Erstens sind die bei Martianus auftretenden Frauen eine in sich differenzierte Gruppe und erfordern daher eine individuelle Betrachtung. Die Septem artes liberales, Philologia und Athene sind mit Bildung und Wissen assoziiert. Ihnen gegenüber stehen Venus, Voluptas und Iuno Pronuba, die alle die Liebe und Hochzeit repräsentieren. Zweitens begegnen wir bei Martianus im Gegensatz zu den meisten antiken Texten, die ein klares Bild der Geschlechter vermitteln, einem mehrdimensionalen Konzept, das in einer doppelten Asymmetrie im Verhältnis zwischen Mann und Frau besteht. Einerseits finden wir die in der griechisch-römischen Literatur verbreiteten traditionellen Vorstellungen von männlicher Überlegenheit und weiblicher Unterlegenheit sowie die mit Vorurteilen behaftete Typisierung der Geschlechter. Andererseits kehrt Martianus die Konventionen um und stellt in der Geschlechterhierarchie die Frauen zuweilen über die Männer. Frauen nehmen männliche Funktionen wahr und erfüllen nicht die von ihnen erwartete Rolle als Gattin und Mutter. Sie dringen in das über Jahrhunderte hinweg von Männern eifersüchtig bewachte maskuline Machtmonopol ein und übertreten dabei die von Generation zu Generation tradierten und als unverrückbar angesehenen Geschlechtergrenzen. Ganz im Stil der Menippeischen Satire, zu deren genretypischen Eigenheiten die Vereinigung von Gegensätzen gehört, stellt Martianus traditionelle und unkonventionelle Ansichten nebeneinander. Beginnen wir mit den traditionellen Vorstellungen. Die in De nuptiis vorkommenden Frauen werden mit mehreren positiven und negativen Stereotypen assoziiert. Philologia, Athene und Sophia vertreten die weibliche Tugend schlechthin, nämlich die Keuschheit. Weitere Tugenden sind Bescheidenheit und Zurückhaltung, beides Eigenschaften der Grammatik (1,229: cum modestia verecundiaque - mit Bescheidenheit und Zurückhaltung), sowie weibliche Schönheit (Sophia [1,6], Mantice [1,6], Psyche [1,7], Venus [1,85], Diana [1,85]). Bei Rhea erwähnt Martianus die Mutterrolle (1,71). Alle diese Eigenschaften spie-

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geln das männliche Ideal der Frau wider. So idealisierte Frauen spielten in der Geschlechterhierarchie die zweite Geige. Sie rebellierten nicht gegen die ihnen von den Männern zugedachte Unterordnung, sondern akzeptierten - vielleicht sogar bereitwillig - die soziale Ungleichheit der Geschlechter. Somit hatten die Männer leichtes Spiel, über die Frauen zu herrschen. Es lag daher ganz im Interesse der Männer, dieses Idealbild der Frau so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Neben den Tugenden kommen in De nuptiis auch einige der üblichen, in der Regel unbegründeten Vorurteile gegenüber Frauen vor. Zu ihnen zählen Junos und Dialektiks Launenhaftigkeit (1,67; 5,437) sowie die Assoziierung Dialektiks mit Falschheit und einer Marktschreierin, d.h. mit einem vulgären, keifenden Weib (4,423). In der männlichen Perzeption der Frau gehört deren angeblich unausgeglichenes, hinterlistiges Wesen zu ihren Kardinallastern und erscheint als charakterlicher Mängel der Frau. Mit all diesen Tugenden und Lastern zeichnet Martianus im Positiven wie im Negativen ein Zerrbild der Frau, das eine Schöpfung maskulinen Wunschdenkens und männlicher Voreingenommenheit gegenüber dem weiblichen Geschlecht und von der Realität weit entfernt ist. Er übernimmt die über Jahrhunderte hinweg tradierten moralischen Werte und Normen und gibt das klischeehafte Bild der Römerin wieder, das in Inschriften und literarischen Zeugnissen seit zahllosen Generationen weit verbreitet war. Die positiven und negativen Eigenschaften der Frau lassen sie als schwaches Wesen erscheinen, das im Falle der Tugenden geschützt und im Falle der Laster bekämpft werden muß. In beiden Fallen dominiert der Mann die Frau. Wir finden in De nuptiis aber auch weibliche Dominanz. Mit gutem Zureden, Umarmungen und Befehlen stimmt Juno Jupiter milde (1,3). Jupiter erliegt dem Charme und den Verfuhrungskünsten seiner Frau. Diese Machtverteilung zwischen Jupiter und Juno macht sich Apoll zunutze, der für seinen Bruder Merkur die Zustimmungjupiters zur Hochzeit einholen will und aus Furcht vor seinem mächtigen Vater den Zugang zu ihm über Juno Pronuba sucht. Apoll weiß nämlich, daß Jupiter seine Entscheidungen nach dem Willen seiner Frau trifft (1,30) und daß Juno mit Schmeichelworten und gutem Zureden Jupiter um den kleinen Finger wickeln kann (1,31 [vers.]: blanda, suade). Dies sind zwei Beispiele für die Umkehrung der Machtverteilung zwischen Mann und Frau. Mit den Waffen einer Frau beherrscht Juno ihren Ehemann. Jupiter ist also nicht nur ein Schürzenjäger, sondern auch ein Pantoffelheld. Hier ist die Frau überund der Mann unterlegen. Die oben beschriebene Hierarchie der Geschlechter, in der die Frau als das schwache und der Mann als das starke Wesen er-

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scheinen, ist diametral umgekehrt. Seine Machtstellung gründet sich auf physische Stärke, die ihrige auf weibliche Raffinesse. Wir finden in De nuptiis nicht nur die Stereotypisierung des weiblichen Geschlechtes, sondern auch diejenige des Mannes. Z.B. wird dem Mann selbstverständlich der erste und der Frau der zweite Rang zugewiesen. Diese vertikale Gliederung der Geschlechter kommt in der unterschiedlichen Thronhöhe und Kleidung des königlichen Götterpaares zum Ausdruck. Jupiters Thron ist natürlich höher als Junos Sitz (1,39; 1,67). Juno muß also zu Jupiter aufblicken, während Jupiter auf seine Frau hinabsehen kann. Die psychologische Wirkung dieser Blickrichtung gibt ihm das Gefühl der Superiorität und ihr das Gefühl der Inferiorität. Die unterschiedliche Thronhöhe ist ein unmißverständlicher visueller Indikator für die geschlechtsspezifische Hierarchie. Wie heute so sandte auch in der Antike die Kleidung Signale für den Betrachter aus und machte sozialen Stand, finanzielle Möglichkeiten, Macht und Einfluß sowie Wünsche und Absichten ihres Trägers bzw. ihrer Trägerin deutlich. Jupiters Gewandung ist prachtvoller und majestätischer als diejenige Junos (1,66). Zu seiner Kleidung gehören Flammenkrone, roter Schleier, des weiteren ein weißes Gewand und ein glasgrüner, mit Sternen besetzter Mantel aus Pfauenfedern. Die Vogelfedern verleihen Jupiter eine gehörige Portion Extravaganz. Juno hat einen weißen Schal um ihr Haupt geschlungen, das ein mit kostbaren Edelsteinen besetztes und in grünen, schwarzen und blauen Farben schimmerndes Diadem ziert. Auch Juno trägt ein grünes Gewand und darüber einen dunkelfarbigen Mantel, auf den in Kniehöhe eine bunte Bordüre appliziert ist (1,67). Neben Jupiter mit seiner exotischen, in leuchtenden Farben prangenden Kleidung verblaßt Juno. Jupiters Gewandung bringt den Rangunterschied der Geschlechter visuell zum Ausdruck und fuhrt jedem Betrachter vor Augen, dass Jupiter unangefochten die erste Position unter den Göttern einnimmt. Sein äußeres Erscheinungsbild drückt Macht und Überlegenheit aus. Martianus legt das Lehrgebäude der Septem artes liberales im Rahmen der Hochzeit zwischen Philologia und Merkur dar. Alles, was mit einer Hochzeit zusammenhängt, steht im Zentrum der Geschlechterforschung. Obwohl die Vermählung von Philologia und Merkur im mythisch-allegorischen Rahmen stattfindet, trägt ihre Beschreibung viele Züge einer wirklichen Hochzeit. Es würde zu weit fuhren, das Thema in einer Monographie zu den lateinischen Lehrern zu behandeln (vgl. Grebe 2005 und 2003, 218-222). Nur ein für das traditionelle Geschlechterbild typischer Punkt soll kurz erörtert werden. Bei den arrangierten Hochzeiten der Oberschicht „wählte" der Bräutigam, sich

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dem väterlichen Wunsch beugend, die Braut. Diese mußte sich zwar d e m Willen ihres Vaters fugen, die Mutter hatte aber ihr Vertrauen und sorgte dafür, daß ihr E h e m a n n sie, die Mutter, in die Wahl des Bräutigams mit einbezog. Die Braut hatte also kaum ein Mitspracherecht und konnte ihre Wünsche nur indirekt über die Mutter als Mittelsperson äußern. Eine sehr ähnliche Situation liegt in De nuptiis vor. Merkur, nicht Philologia, faßt den Entschluß zu heiraten, und Philologia ist auch nur Merkurs vierte Wahl. Sein Bruder Apoll rät ihm die Vermählung mit Philologia (1,22). Jupiter, J u n o und die versammelten Gottheiten stimmen dieser Wahl zu (l,37f.; 1,91-96). Philologia wird überhaupt nicht gefragt. Ihr Einverständnis wird als selbstverständlich vorausgesetzt. Andere entscheiden über sie und ihr künftiges L e b e n . Sie wird nicht wie ein Individuum mit eigenen Rechten, sondern wie eine Sache behandelt. Allerdings ist sie schon vor der Hochzeit Merkur in tiefer Liebe zugetan (2,100). D a ß Philologia kein Selbstbestimmungsrecht hat, ist angesichts der patriarchalischen Gesellschaftsordnung R o m s nicht verwunderlich. Ein weiterer und im vorliegenden mythologischen Z u s a m m e n h a n g sogar gewichtigerer Grund ist die zwischen Göttern (Merkur, Jupiter, J u n o usw.) und Menschen (Philologia) bestehende Hierarchie. Philologias Selbstbestimmungsrecht erfahrt also eine doppelte Beschränkung. Als Frau muß sie sich der männlichen Vorrangstellung unterordnen, und als Sterbliche muß sie sich d e m Willen der Götter beugen. Ihre Unterlegenheit hat mit männlicher Dominanz und göttlicher Machtfülle zu tun. Aber auch im Olymp herrschen patriarchalische Verhältnisse. Obwohl J u n o die erste Göttin ist, die der Heirat zustimmt, ist es Jupiters Entscheidung, der sich die anderen Götter anschließen. Jupiter ist die höchste Entscheidungsinstanz, von der alles Weitere abhängt (1,31-34; 1,91-97). Fama unterrichtet Philologia v o m Beschluß der Götter über ihre bevorstehende Vermählung mit Merkur (2,98f.). Philologia wird also vor vollendete Tatsache gestellt, und ihr bleibt nur übrig, sich d e m göttlichen Beschluß zu fügen. Dies ist ein weiterer Hinweis auf ihre Rechtlosigkeit und Unselbständigkeit als Frau und als Sterbliche. Soviel zu den von Martianus vertretenen traditionellen Ansichten v o m Verhältnis zwischen M a n n und Frau. De nuptiis enthält aber auch zahlreiche unkonventionelle Auffassungen. Die Septem artes liberales werden, in Übereinstimmung mit ihrem grammatischen Geschlecht (z.B. techne grammatike/ars grammatica, techne dialektike/ars dialecticä) von Frauengestalten verkörpert. Frauen erscheinen als Trägerinnen und Vermittlerinnen von Wissen. Auch zahlreiche andere mit Bildung und Wissen assoziierte Allegorien in De nuptiis sind weiblich, weil die entsprechenden Substantive im Griechischen und Latei-

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nischen Feminina sind: a) Sophia (Weisheit) und Mantice (Weissagung) (l,6f.), b) Philologia (Liebe zur Gelehrsamkeit und Literatur), c) deren Mutter Phronesis (das Denken, Verstand; 2,113; 2,115; 9,893), d) Prudentia (Klugheit), Vires (geistige Kräfte) und Philosophia (2,127; 2,130; [2,131;] 6,576; 7,729) sowie e) Paedia (Erziehung, Bildung; 6,578; 7,728). Athene, Tochter der Metis (= Klugheit) und Göttin der Weisheit, muß natürlich in einer Enzyklopädie über die Sieben Freien Künste auch auftreten. Vor allem Philologias und Athenes Bildung wird gerühmt (Philologia: 1,22; l,37f.; 2,117-126; 2,135-138. Athene: 6,567-575). Bei Philologia weist bereits der Name auf ihre Gelehrsamkeit hin, und aufgrund ihres umfassenden Wissens kann die sterbliche Philologia Merkur heiraten und unter die Götter aufgenommen werden. Die Mehrheit der in De nuptiis vorkommenden Frauen ist überaus gelehrt. Sie sind weder verheiratet noch haben sie Familie und agieren außerhalb der den Frauen zugewiesenen häuslichen Sphäre. Sie übertreten die Geschlechtergrenzen und stehen im Gegensatz zu den meisten Römerinnen, die ungebildet waren und als Ehefrauen und Mütter im privaten, häuslichen Bereich agieren mußten. Philologia vereinigt jedoch beides: Gelehrsamkeit und Ehe. In ihr sind die gegensätzlichen Lebensbereiche der in De nuptiis als Rivalinnen erscheinenden Göttinnen Athene und Venus versöhnt. Das Pendant zu dieser umfassenden Bildung der Frauen ist auf männlicher Seite gelegentlich Wissensmangel und Ignoranz. Dialektik zeigt eine gewisse Vertrautheit mit der sich um Merkurs Heroldstab ringelnden Doppelschlange und mit Gorgo (4,331). Ihr gelocktes Haar erinnert an Schlangen, und sie selbst bringt eine Schlange und einen Haken in die Götterversammlung mit (4,328; 4,333). Dies sind Metaphern für die verschlungenen Argumentationsweisen des dialektischen Syllogismus und den Trugschluß (Remigius, 2, p.12,20-22 Lutz). Bacchus hat von all diesen Dingen nicht den blassesten Schimmer (4,331 \penitus nesciebat - er war in völliger Unkenntnis und macht sich in seiner Ignoranz auch noch über Dialektik lustig. Er mockiert sich über sie als „ränkevollste Gauklerin" (4,331: circulatrixpellacissimd) und reimt sich in seiner Unkenntnis eine abenteuerliche Lösung des Puzzles zusammen. Er meint, Dialektik sei eine Zaubertrankhändlerin aus dem in der Antike für seine Zauberer, Giftmischer und Schlangenbeschwörer bekannten Marsien (4,331). Seine dümmlichen Spötteleien erregen zwar bei einigen Göttern verhaltene Heiterkeit, aber auch den erbitterten Zorn Athenes (4,332). In strenger, schulmeisterlicher Art weist sie Bacchus zurecht und sagt, Dialektik sei überaus scharfsinnig und dürfe von niemandem verlacht werden. Hier ist ein Bildungsgefalle von Mann und Frau zu beobachten, welches das konventionelle Bild der Geschlechter auf den Kopf

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stellt. Das übliche Rollenverhältnis von belehrendem Mann und belehrter Frau ist umgekehrt. Statt der üblichen Lehrer/Schülerin-Rolle finden wir die für antike Verhältnisse ungewöhnliche Lehrerin/Schüler-Rolle. Es ist jedoch nicht Martians Absicht, die althergebrachte Geschlechterhierarchie neu zu interpretieren. Er verfolgt hier einen pädagogischen Zweck. Die ganze Episode entbehrt nicht der Komik, die, wie wir oben gesehen haben, einen willkommenen Ausgleich zu der in reicher Fülle gebotenen trockenen Wissensmaterie bildet. Martianus verbindet das delectare mit dem docere. Zudem gehören Lachen und Ausgelassenheit zu einer Hochzeit. Ein weiteres Beispiel für den Kontrast von männlicher Unwissenheit und weiblicher Gelehrsamkeit ist am Anfang von Buch 7 (Geometrie) zu finden. Einige Götter und insbesondere Jupiter bitten Geometrie, die die ganze Erde durchwandert hat, um geographische Auskünfte (6,589). Die Antwort der Geometrie ist eine sehr lange Darlegung der mathematisch-astronomischen Geographie und der Länderkunde (6,590-703). Hier handelt es sich jedoch nicht um eine revolutionäre Neuinterpretation der althergebrachten Positionen von Mann und Frau des Martianus. Der Rollentausch von Lehrer/Schülerin zu Lehrerin/Schüler hat damit zu tun, daß das grammatische Geschlecht der die Septem artes liberales personifizierenden Figuren Martianus dazu zwingt, Frauen als Lehrmeisterinnen auftreten zu lassen. Zu Martians unkonventionellen Ansichten zählen auch die für eine Frau untypischen Eigenschaften und Verhaltensweisen in De nuptiis. Eine der zentralen Frauengestalten in De nuptiis ist Athene, eine für antike Verhältnisse ganz und gar unweibliche Vertreterin ihres Geschlechtes, die in mehrfacher Weise die als unabänderlich betrachteten Geschlechtergrenzen überschreitet. Als Göttin der Weisheit und des Krieges ist sie mit zwei männlichen Lebensbereichen verbunden. Sie ist von keiner Frau geboren und hat sich ewiger Jungfernschaft verschrieben. Diese Eigentümlichkeiten betont Martianus immer wieder. Athene dringt in zwei von Männern dominierte Sphären ein und verweigert sich der von einer Frau erwarteten Rolle als Gemahlin und Mutter. Dies ist natürlich nicht Martians Idee, paßt aber sehr gut zum Inhalt seiner Enzyklopädie. Als Göttin der Weisheit ist Athene mit den Sieben Freien Künsten verbunden und als Patronin der Jungfernschaft bildet sie den Gegenpol zur Hochzeit zwischen Merkur und Philologia. Auch Rhetorik agiert in den ausschließlich Männern vorbehaltenen Lebensbereichen. Ihre Waffen dröhnen bei jedem ihrer Schritte, sie stachelt Heere zum Kampf an und kontrolliert politische und juristische Debatten (5,427). All dies sind Metaphern für die Macht der Redekunst, ihre Zuhörer zu

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manipulieren und auf diese Weise zu beherrschen. Rhetorik tritt aus dem mit der Frau assoziierten häuslichen Lebensbereich heraus und dehnt ihre Aktivitäten auf die Hochburgen männlicher Macht aus: Militär, Politik und Justiz. Ihre politische und juristische Tätigkeit ist besonders hervorzuheben. Das Gesetz untersagte es nämlich Frauen, öffentliche Amter wahrzunehmen, sich an öffentlichen Entscheidungen zu beteiligen und vor Gericht als Anklägerinnen oder Verteidigerinnen zu erscheinen (Codex Theodosianus 9,1,3; Ulp.D.50,17,2). Rhetorik ist in Militär, Politik und Justiz auf höchster Ebene tätig. Sie übt nämlich Kontrolle aus, d.h. daß sie trotz ihres weiblichen Geschlechts Macht über die Männer hat. Sie überschreitet also nicht nur die Grenze zwischen weiblichem und männlichem Aktionsfeld, sondern sie herrscht auch in der von Männern dominierten Welt. Hier sind das Rollenverständnis und die Geschlechterhierarchie umgekehrt. Zusammenfassend können wir über die in De nuptiis anzutreffende doppelte Asymmetrie im Geschlechterverhältnis folgendes sagen. Neben dem traditionellen Frauenbild stehen zahlreiche unkonventionelle Auffassungen, in denen die Frau die althergebrachten Geschlechtergrenzen übertritt. Die für die (Spät) Antike revolutionären Anschauungen dürfen jedoch nicht als eine frühe Form des Feminismus und als Propagierung radikaler Ideen interpretiert werden. Martians Umkehrung der Geschlechterhierarchie und Rollenverteilung von Mann und Frau hängt mit der allegorischen und mythologischen Tradition der in De nuptiis vorkommenden Personen zusammen. Seine inkonsistente Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau paßt hervorragend zum literarischen Genre der Menippeischen Satire, zu deren Eigentümlichkeiten die Vereinigung von Gegensätzen und die Parodie gehören. De nuptiis ist in formaler und inhaltlicher Hinsicht ein buntes Potpourri. Daher ist die doppelte Asymmetrie der Geschlechter nicht überraschend. Ganz im Sinne des literarischen Genres stellt Martianus das traditionelle und das unkonventionelle Bild von Mann und Frau nebeneinander.

3. W i r k u n g Der Mythograph Fabius Fulgentius Planciades (um 500 n. Chr.) und Boethius (480-524) kannten De nuptiis (zu Boethius und Martianus s. Shanzer 1986, llf.). Cassiodor (ca. 490-ca. 585) empfiehlt das Werk als geeignete Anfangslektüre für das Studium der septem artes liberales (Inst. 2,130 Mynors). Auch bei Gregor von Tours (538/39-594) genießt Martianus den Ruf eines Schulautors (Histo-

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ria Francorum 10,31 MG Script, rer. Mer. 1,1). Schon zur Zeit Gregors d. Großen (Papst 590-604) galt Denuptiis als das maßgebliche Lehrbuch und wurde z.B. von Isidor von Sevilla (ca. 560-636) für seine eigene Enzyklopädie benutzt. De nuptiis erfreute sich einer überaus großen Beliebtheit im Mittelalter, was z.B. die fast 250, meist mit Glossen versehenen, Handschriften beweisen (9.-15. Jahrhundert). 55 Handschriften enthalten nur die Bücher 1 und 2. Martians Werk war das grundlegende Lehrbuch für die karolingischen Schulen. Seit der Mitte des 9. Jahrhunderts ist er einer der meistgelesenen und meistkommentierten Schulautoren. Stahl schreibt: „It would be hard to name a more popular textbook for Latin readers of later ages. It had to withstand keen competition from Boethius, Cassiodorus, and Isidore of Seville, but it had the salient advantage of offering a well-proportioned and comprehensive treatment of all the liberal arts in the compass of one comfortable-sized book. The De nuptiis was the foundation of the medieval trivium and quadrivium. Since it recapitulated the fundamentals of the Roman academic curriculum and transmitted them to later generations of students, the book must be regarded as the key work in the history of education, rhetoric, and science during this period" (1971, vol. 1,22). Die enorme Popularität von De nuptiishsX mehrere Gründe: 1. Martianus behandelte alle Septem artes liberales; 2. De nuptiis vermittelte Elementarwissen und war daher für den Schulunterricht geeignet; 3. mit seiner Vorliebe für die Allegorie war das Mittelalter besonders an der allegorischen Erzählung von der Hochzeit zwischen Merkur und Philologia interessiert. Johannes Scottus Eriugena (f um 877) und der Ire Dunchad von Reims (9. Jahrhundert, Martin von Laon?, f um 875 oder Heiric von Auxerre, f um 876) machten durch ihre Kommentare den schwierigen Text für Anfanger zugänglich. Sie erweiterten auf diese Weise das in Ermangelung eines geeigneten Lehrbuchs eingeschränkte Unterrichtsprogramm auf alle Sieben Freien Künste. Eriugena interpretiert die Hochzeit von Philologia und Merkur als die Vereinigung von wissenschaftlichem Weisheitsstreben und sprachlichem Ausdrucksvermögen. Eriugenas und Martins Beschäftigung mit De nuptiis führte zu einem wissenschaftlich bedeutsamen Ergebnis im Verständnis der Sieben Freien Künste. Hatten sie bis zu Eriugena und Martin lediglich als Instrument zur Erklärung der christlichen Wahrheit der Bibel gedient, so erhielten sie nun den Status autonomer Wissenschaften. Den für das ganze Mittelalter maßgeblichen Kommentar zu De nuptiis verfaßte Remigius von Auxerre (f um 908). Des weiteren kommentierten Alexander Neckam (1157-1217) und vielleicht Wilhelm von Conches (ca. 1100-

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1154) De nuptiis. Der Bernardus Silvestris (12. Jahrhundert) zugeschriebene Kommentar ist nur für die ersten beiden Bücher von De nuptiis überliefert. Er interpretiert die Hochzeit zwischen Merkur und Philologia als die höchst willkommene Vereinigung von Rede und Denkvermögen. So wird Merkurs Brautschau zur Suche nach dem Wissen dieser Welt. Eine kommentierende Ubersetzung der ersten beiden Bücher ins Althochdeutsche stammt von dem Benediktinermönch Notker Labeo (ca. 9501022) von St. Gallen. Er wollte mit seiner Übertragung den Klosterschülern den Zugang zu den artes liberales ermöglichen, die in seinen Augen für das vollständige Verständnis der kirchlichen Schriften unerläßlich sind. Sein besonderes Augenmerk galt den mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen. Der Scholastiker, Philosoph und Historiker Johannes von Salisbury (seit 1176 Bischof von Chartres) stellt Martianus neben Vergil und sagt über Vergil, er sei non inferior Marciano. Die von Martianus beschriebene Himmelfahrt der Philologia wirkt bei Alanus ab Insulis (Alain de Lille, ca.1128-1202) in seinem allegorischen Epos Anticlaudianus und in einigen Passagen des Paradieses in Dantes (1265-1321) Divina Commedia nach. Ein beliebtes Thema im Mittelalter ist die allegorische Interpretation der Hochzeit zwischen Merkur und Philologia (Nuchelmans 1973). Besondere Erwähnung verdient die Rezeption des 8. von der Astronomie handelnden Buches. Hier beschreibt Martianus das helio-geozentrische Weltbild, in dem die Planeten Venus und Mars die Sonne umkreisen und diese drei Himmelskörper zusammen mit den anderen Planeten um die Erde laufen. Martians Erklärungen sind so klar, daß sich Illustrationen dieses Schemas sogar in Handschriften (9.-12. Jahrhundert) zu anderen Autoren, wie Piaton, Plinius, Macrobius und Beda, finden (Eastwood 1993). Dies beweist, daß Martianus bis zum 12. Jahrhundert als Autorität in der Astronomie angesehen wurde. Selbst zu Beginn der Neuzeit findet das 8. Buch Beachtung; Nikolaus Kopernikus (1473-1543) zitiert Martians heliozentrisches Konzept in seinem Werk De revolutionibus orbium caelestium (1,10 p.23,32-24,1 Zeller). Martians lebhafte Beschreibung des Aussehens der die septem artes liberales repräsentierenden Frauen hat zu einer großen Nachwirkung von De nuptiis in der Bildenden Kunst gefuhrt. Die bildlichen Darstellungen der artes im Hortus Deliciarum, dem „Bilderbuch" der Äbtissin Herrad von Landsberg (12. Jahrhundert), gehen auf Martianus zurück. Der um 1200 entstandene Quedlingburger Knüpfteppich, der älteste Knüpfteppich des Abendlandes, zeigt in fünf Streifen die Hochzeit Merkurs mit Philologia. Das Vorbild für die allegorischen

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Figuren der Septem artes liberales an den Fassaden der Kathedralen von Laon, Chartres, Sens, Auxerre, Clermont, Rouen und Notre Dame in Paris ist ebenfalls Martians Beschreibung der sieben Brautjungfern. Auch in der Neuzeit wird Denuptiis zunächst noch gelesen. Die Editio princeps wurde 1494 in Vicenza gedruckt. Bedeutende Textverbesserungen nahm 1577 Bonaventura Vulcanius vor. Der niederländische Gelehrte und Staatsmann Hugo Grotius (1583-1645) edierte bereits im Alter von 16 Jahren mit der Hilfe Joseph Scaligers das Werk, und Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibniz (1646-1716) dachte an eine Neuausgabe. 1836 edierte Ulrich Kopp De nuptiis-, der die Ausgabe begleitende Kommentar enthält zahlreiche Parallelstellen aus anderen griechischen und lateinischen Autoren. Dreißigjahre später erschien die Teubner-Ausgabe Franz Eyssenhardts. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Martianus überwiegend negative Kritik erfahren. Sein Stil galt als staubtrocken in den wissenschaftlichen Partien und als geschmacklos und unerträglich überladen (Africitas, afrikanischer Barock) in der mythisch-allegorischen Rahmenhandlung. Martianus wurde als verschrobener Schulmeister abgestempelt. Lange Zeit war er ein nahezu vergessener Autor. Für die negative Beurteilung gibt es mehrere Gründe: Das 19. und frühe 20. Jahrhundert war der Spätantike gegenüber i.a. nicht aufgeschlossen. Ästhetische Urteile wurden gerade im 19. Jahrhundert oft mit weniger Zurückhaltung gefallt als heute. Die teilweise sehr schlechte Uberlieferung von De nuptiis, die schwierige und trockene Wissenschaftsmaterie sowie die zuweilen dunkle Sprache erschweren den Zugang zum Werk und fuhren entweder zu negativen Urteilen oder zur völligen Nicht-Beachtung Martians. Auch die formale und inhaltliche Fülle mag auf manch einen Leser abschreckend wirken. Aus all diesen Gründen wurde die Bedeutung von De nuptiis fur die westliche Bildungstradition lange Zeit verkannt. In jüngerer Zeit erfahrt De nuptiis zum Glück wieder mehr Aufmerksamkeit und gerechtere Urteile. Es gibt zwei (!) kritische Teubner-Ausgaben (Adolf Dick/Jean Préaux, Stuttgart 1978 [1. Aufl. 1925]; James Willis, Leipzig 1983) und Kommentare zu einzelnen Büchern (Buch 1: Danuta Shanzer 1986; Buch 2: Luciano Lenaz 1975 [+ italienische Ubersetzung] ; Buch 4: Heinrich W. Pauli 1984; Buch 6: G. Gasparotto 1983 [+ italienische Übersetzung]; Buch 7: Luigi Scarpa 1988 [+ italienische Übersetzung]; Buch 8: André LeBoeuffle 1998 [+ französische Übersetzung]; Buch 9: Lucio Cristante 1987 [+ italienische Übersetzung]). Es existiert eine englische Gesamtübersetzung (William H. Stahl/Richard Johnson/E.L. Bürge 1977). Die erste deutsche Gesamtübersetzung mit Anmerkungen wird zurzeit von Sabine Grebe vorbereitet.

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Sabine Grebe

Die überaus reiche Nachwirkung von De nuptiis, vor allem im Mittelalter, und die grundlegende Bedeutung des Werkes fur das mittelalterliche Bildungswesen zeigen, daß Martianus Capella im wahrsten Sinne des Wortes ein lateinischer Lehrer Europas ist, der mehr Aufmerksamkeit verdient, als es bisher der Fall war.

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Martianus Capeila

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Anicius Manlius Severinus Boethius (ca. 480-524/526 n. Chr.) Teil I: Leben - Werk - Logik

VON A X E L B Ü H L E R U N D C H R I S T O P H

KANN

Die langen Gotenkriege (535-552) und die zwölfjahre später erfolgende Invasion der Langobarden in Italien führten dazu, dass sich im lateinischen Westen die traditionellen römischen Eliten auflösten und es damit auch zum weit gehenden Verschwinden der römischen Institutionen der Weitergabe und Pflege des Wissens kam. So gelangte ein politisch-gesellschaftlicher Erosionsprozess zum Abschluss, der bereits zu Beginn des 5. Jahrhunderts mit der Besetzung Roms durch die Westgoten im Jahre 410, einer politisch ebenso wie gesellschaftspsychologisch folgenreichen Zäsur, wirksam geworden war, den aber der ostgotische König Theoderich der Große in seiner Regierungszeit aufhalten konnte. Während der 33 Jahre dauernden Herrschaft Theoderichs widmeten sich Angehörige der römischen Oberschicht dem Studium und der Weitergabe antiken Wissens, unter ihnen insbesondere der römische Adlige Anicius Manlius Severinus Boethius. Dieser bemühte sich im ersten Viertel des 6. Jahrhunderts darum, griechisches Denken der Antike, insbesondere zur Logik und zu mathematischen Disziplinen, der damaligen lateinischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Boethius war noch ganz den verbliebenen Strukturen des römischen Reichs verhaftet, sah sich als später Vollender Ciceros, dessen lateinische Rezeption der griechischen Philosophie er zum Abschluss bringen wollte, und besaß eine zu jener Zeit selten gewordene, außergewöhnliche Bildung einschließlich gründlicher griechischer Sprachkenntnisse. Er war aber auch ein gläubiger Katholik, beschäftigte sich mit Problemen der Theologie, stand in engem Kontakt mit dem ranghohen katholischen Klerus und war somit stark mit dem Christentum verbunden, welches das Mittelalter nachhaltig prägen sollte. Insofern kann Boethius als Figur des Ubergangs zwischen zwei Epochen angesehen werden. Seine Schriften und Ubersetzungen zur Logik blieben, soweit sie nicht verloren gingen, auch in der Folgezeit maßgeblich. Sie bildeten den Ausgangspunkt neuer Entwicklungen lateinisch-mittelalterlichen Den-

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kens und deuten bereits auf den besonderen Stellenwert hin, den die scholastischen Autoren dieser Disziplin als Kunst der Künste (ars artiurri) oder Wissenschaft der Wissenschaften ( scientia scientiarurri) zuweisen sollten. Nicht zuletzt deswegen ist Boethius den bedeutendsten lateinischen Lehrern Europas zuzurechnen. Der hauptsächliche Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist die Logik des Boethius. Zunächst skizzieren wir den geschichtlichen Hintergrund, Boethius' Lebensgang und Persönlichkeit sowie seine philosophisch-wissenschaftliche Orientierung. Dann geben wir einen Uberblick über seine Arbeiten zur Logik, auf die wir uns auch in dem wirkungsgeschichtlichen Schlusskapitel konzentrieren werden.

1. Zeitumstände und Person a) Geschichtlicher Hintergrund Boethius lebte von ca. 480 bis 524/526 in Italien, vor allem in Rom. Zu Beginn dieser Zeitspanne herrschte in Italien der germanische Militärfiihrer Odoaker (ca. 433-493), der von Ostrom faktisch als Herrscher Italiens anerkannt wurde. Odoaker war um die Koexistenz von Germanen und Römern innerhalb seines Herrschaftsgebiets bemüht. In den frühen neunziger Jahren des 5. Jahrhunderts war Odoakers Regime dem oströmischen Kaiser Zeno wohl nicht mehr genehm, und es scheint, als habe Zeno den König der im Balkan lebenden Ostgoten, Theoderich (ca. 453-526), dazu ermutigt, mit seinem Volk nach Italien aufzubrechen, um dort die Macht zu erobern. Nach längeren Kämpfen einigte Theoderich sich am Anfang des Jahres 493 auf eine gemeinschaftliche Herrschaft mit Odoaker, den er jedoch kurz darauf, am 15. März 493, offenbar eigenhändig ermordete. Wie schon seit dem Anfang des 5. Jahrhunderts war Ravenna unter Theoderich das eigentliche Machtzentrum Italiens. Hier residierte Theoderich zumeist, und von hier aus wurde die militärische Organisation gelenkt. In Rom selbst blieb ein weit gehend auf die Kontrolle der Stadt selbst beschränkter Senat bestehen, weiterhin befanden sich dort die mächtigsten Bischöfe der katholischen Kirche. Der eng mit dem hohen katholischen Klerus verbundene römische Senatsadel verfugte nach wie vor über ausgedehnte Besitzungen in verschiedenen Teilen Italiens und war außerordentlich wohlhabend. In Ubereinstimmung mit dem oströmischen Kaiser wurden jährlich zwei Konsuln

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bestimmt. Das römische Amt des Konsuls hatte noch hohes Prestige, war aber vorwiegend mit zeremoniellen Funktionen und mit der Finanzierung öffentlicher Spiele verbunden. Für die zivile Verwaltung zog Theoderich Angehörige der italienisch-römischen Bevölkerung heran und übertrug vor allem Mitgliedern des senatorischen Adels höhere Ämter. Die Armee und ihr Offizierskorps dagegen bestanden vorwiegend aus Ostgoten und anderen Germanen. Theoderichs Regierungspraxis war römisch geprägt. In vielen Dingen zollte er dem römischen Senat Respekt, bediente sich einer Verwaltung nach römischem Muster und adaptierte römisches Recht. Theoderichs Herrschaft war weit gehend erfolgreich. Ihm gelang es, seinen Herrschaftsbereich bis nach Spanien und bis nach Südosteuropa auszudehnen. Innerhalb Italiens selbst herrschten friedliche Zustände, es kam zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Eine anonyme Quelle aus dem 6. Jahrhundert vermerkt über Theoderich: „Er war also hochberühmt und guten Willens in allem (gegenüber allen) [...]. Zu seiner Zeit herrschte in Italien dreißig Jahre lang ein glücklicher Zustand, so dass auch unter seinen Nachfolgern Frieden bestand. Er unternahm auch nichts Unrechtes. So regierte er zwei Völker gleichzeitig, die Römer und die Goten; während er selbst ein Angehöriger der arianischen Sekte war [die eine der nachhaltigsten Häresien des frühen Christentums vertrat], unternahm er doch nichts gegen die katholische Religion, so dass er sogar von den Römern Traian oder Valentinian genannt wurde, deren Zeiten er sich zum Vorbild nahm. Bei den Goten galt er [...] als der kraftvollste König auf allen Gebieten. [...] Freigebig verteilte er Geld- und Getreidespenden, ließ im Zirkus und im Amphitheater Spiele veranstalten, und obschon er die Staatskasse völlig erschöpft vorgefunden hatte, füllte er sie durch eigenes Bemühen wieder auf und machte sie wohlhabend." (Theodericiana XII, 59, 60) Gleichwohl gestalteten sich die letzten Jahre von Theoderichs Regierungszeit problematisch: Theoderich gelang es nicht, die Frage seiner Nachfolge zufrieden stellend zu lösen; eine wirkliche Annäherung zwischen den katholischen Römern und den arianischen Ostgoten kam nicht zustande; das mit Sorgfalt aufgebaute außenpolitische Bündnissystem begann auseinander zu brechen; auch kam es zu Spannungen mit dem neuen oströmischen Kaiser Justin I., der auf Italien stärker Einfluss zu nehmen suchte und beabsichtigte, sich dabei die westliche Kirche zum Verbündeten zu machen. Von diesen Problemen sollte das Leben des Boethius nicht unberührt bleiben.

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b) Das heben des Boethius Anicius Manlius Severinus Boethius stammte aus der zu den vornehmsten und reichsten römischen Adelsfamilien gehörenden GensAnicia. Nach dem frühen Verlust des Vaters, der hohe politische Amter innegehabt hatte und bald nach 487, dem Jahr, in dem er Konsul war, starb, fand Boethius in dem einflussreichen und hoch gebildeten Politiker Quintus Aurelius Memmius Symmachus, Konsul im Jahre 485, einen Pflegevater, dessen Tochter Rusticiana er später heiratete. Symmachus genoss hohes Ansehen für seine wissenschaftlich-literarische Kompetenz und stand im Austausch mit Geistesgrößen seiner Zeit, u.a. mit dem Grammatiker Priscian, der, ebenso wie Boethius, Symmachus sogar einige seiner Schriften widmete. Symmachus selbst verfasste eine (nicht mehr erhaltene) Geschichte Roms in sieben Büchern. Er konnte Griechisch und war mit der neuplatonischen Philosophie vertraut. In Symmachus' Haus erhielt Boethius eine gründliche philosophische Ausbildung und eine Erziehung in lateinischen Klassikern. Auch wird er dort Griechisch gelernt haben, mit Hilfe eines muttersprachlichen Griechischlehrers, wie es damals in wohlhabenden Verhältnissen üblich war. Boethius hielt sich nicht nur während seiner Kindheit und Jugend, sondern auch später zumeist in Rom auf. Im Wesentlichen führte er ein zurückgezogenes Leben und widmete sich seinen Studien und seiner Schriftstellerei, wobei entsprechend dem damaligen philosophischen Curriculum die Schriften des Aristoteles und Piatons im Zentrum standen. Da Boethius an Theoderichs Hof hohes Ansehen genoss, erhielt er mehrere öffentliche Ehrungen. Im Jahre 510 wurde Boethius Konsul, im Jahre 522 waren seine beiden noch jugendlichen Söhne aus der Ehe mit Rusticiana gleichzeitig Konsuln. Beim Amtsantritt der Söhne hielt er im Senat eine Lobrede auf Theoderich. Auch während seines Konsulats konnte Boethius seinen intellektuellen Interessen nachgehen. In dieser Zeit arbeitete er an seinem Kommentar zu den Kategorien des Aristoteles. Von Theoderich erhielt er kleinere offizielle Aufträge, etwa den des Konstruktionsplans eines Zeitmessers für den burgundischen König. Im Jahre 522 stand Boethius auf dem Höhepunkt seines Einflusses und wurde in das Amt des Magister officiorum berufen. Dieses hohe Staatsamt stellte Boethius sowohl vor administrative wie auch vor judikative Aufgaben. Es sah vor, den Zugang zum König zu kontrollieren, den Gesandtschaftsverkehr zu organisieren und Aufgaben an die Gouverneure der Provinzen zu übertragen. Boethius entschied sich zur Übernahme des Amtes, weil er nach eigener Auskunft in seinem berühmtesten Werk, der Consolatio Philosophiae, von Piatons

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Idee der Philosophenherrschaft bewegt war. Es sei „zwingender Grund für die Weisen [...], die Staatsleitung zu ergreifen, damit sie nicht Schurken und Verbrechern das Steuer der Städte überlassen und dadurch den guten Bürgern Unheil und Verderben bereitet werde. Diesem Geheiß bin ich gefolgt [...]: nichts anderes hat mich zum Amte geführt, als das Streben, das allen Guten gemein ist." (DeconsolationePhilosophiae, 1,4,6-8; Ubers. E. Gothein) Doch sollte Boethius schnell in politische Intrigen hineingezogen werden. Noch in Boethius' erstem Amtsjahr wurde der angesehene Senator und Konsular Albinus, Konsul im Jahre 493, mit dem Vorwurf belastet, er habe dem oströmischen Kaiser Justin in einem Brief seine Feindseligkeit gegenüber Theoderichs Herrschaft zum Ausdruck gebracht. Albinus wurde vor den König gerufen und wies die Anschuldigung zurück. Boethius stellte sich hinter Albinus und bezichtigte den Ankläger Cyprianus der Lüge. Dieser soll daraufhin sowohl gegen Albinus als auch gegen Boethius falsche Zeugen aufgeboten haben. Wohl aufgrund deren Aussage wurde Boethius gefangen gesetzt und des Verrats angeklagt sowie der Verwendung von Magie, um an sein öffentliches Amt zu gelangen. Boethius wurde in einem regulären Gerichtsverfahren - mit Billigung des römischen Senats - zum Tode verurteilt. Während der Zeit seiner Gefangenschaft in Pavia schrieb Boethius die erwähnte Consolatio Philosophiae, den Trost der Philosophie. Er erzählt dort, teilweise in Versen, teilweise in Prosa, wie ihn die personifizierte Philosophie in seinem Kerker besucht. Gleich einer Arztin und Ratgeberin heilt sie allmählich die Verzweiflung über Gott und das Schicksal, an der die Seele des Gefangenen leidet. Sie belehrt ihn über das wahre Glück, über die Zwecke aller Dinge und leitet ihn zur Selbsterkenntnis an. In ausführlichen Reflexionen auf die Ewigkeit wird versucht, die Vereinbarkeit des göttlichen Vorherwissens mit der menschlichen Handlungsfreiheit zu erweisen, ohne aber auf christliche Heilsversprechen zu rekurrieren. Die Consolatio ist aufgrund ihres autobiographischen Charakters eine wichtige Quelle für das Leben des Boethius und die Umstände seiner Verurteilung. Boethius' Hinrichtung erfolgte nach unterschiedlichen Angaben zwischen 524 und 526. Nach Schilderung der bereits oben zitierten anonymen Quelle starb er unter schlimmen Foltern: „Man legte ihm ein Seil um die Stirn und marterte ihn damit sehr lange, so daß ihm die Augen hervortraten. Schließlich wurde er auf der Folter mit einem Knüppel totgeschlagen." (Theodericiana XIV, 87) Nach anderen Berichten, welche laut der neueren historischen Forschung vertrauenswürdiger sind, wurde er mit dem Schwert geköpft - die einem Delinquenten aus dem Senatorenstand zugedachte Hinrichtungsart.

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Die Hintergründe für Anklage und Verurteilung von Boethius sind in der Literatur ausfuhrlich diskutiert worden, einer letztlichen Aufklärung entziehen sie sich aber. Verschiedene Faktoren werden neben der Auseinandersetzung um Albinus eine Rolle gespielt haben: Spannungen im Verhältnis zwischen Theoderich und dem oströmischen Kaiser Justin, ein möglicherweise altersbedingt erhöhtes Misstrauen des über siebzigjährigen Theoderich seiner Umwelt gegenüber - vielleicht unterstellte er Albinus und Boethius eine Versöhnungspolitik zwischen dem katholischen römischen Senat und Ostrom, die den arianischen Ostgoten schaden könnte aber auch Boethius' Selbstgerechtigkeit und seine in starrer Orientierung an Piaton begründete realpolitische Ungeschicklichkeit. Boethius selbst sah sich jedenfalls als Opfer eines durch Intrigen ausgelösten politischen Mordes an, wie aus seinen eigenen Schilderungen in De consolatione Philosophiae I, 4 hervorgeht.

c) Philosophisch-wissenschaftliche Orientierung Im Kontext der Denktraditionen der lateinischen philosophischen Schriftsteller und Kirchenväter sowie der griechischen christlichen Literatur war es vor allem der Neuplatonismus, welcher Boethius zutiefst beeindruckte und prägte. In der späten Antike war der von Plotin (ca. 205-270) begründete, sich selbst als Fortführung des platonischen Philosophierens verstehende Neuplatonismus die dominierende philosophische Strömung. Plotin, der in Rom lehrte, verstand sich selbst als Bewahrer einer Wissenstradition, die in Piaton kulminiert hatte. Er entwickelte ein Stufenmodell der Wirklichkeit mit religiös-theologischem Charakter. Alles hat Ursprung in dem Einen oder dem Guten, der obersten Wirklichkeitsstufe. Das Eine kann jedoch nur mit negativen Begriffen gekennzeichnet werden, da es selbst unbeschreibbar ist. Die unterste Stufe der Wirklichkeit bildet die Materie. Plotins Griechisch schreibender Schüler Porphyrios (ca. 233-ca. 304) ordnete und veröffentlichte dessen Werke in sechs Abteilungen, sog. Enneaden (d.h. Neunergruppen), und popularisierte das Denken seines Vorgängers. Boethius dürfte die Schriften Plotins wenigstens teilweise im Original gekannt haben. Zur Zeit der philosophischen Ausbildung von Boethius war der dritte bedeutende Neuplatoniker Proklos (ca. 411-485), dessen Philosophie in Athen und Alexandria gelehrt wurde, besonders einflussreich. Anders als Plotin hatte Porphyrios eine Vorliebe für die aristotelische Logik. Er schrieb Kommentare zu Aristoteles' logischen Schriften und verfasste zu dessen Kategorienschrift eine Einleitung (griech.: Isagoge), die in den neupla-

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tonischen Schulen zur Standardeinführung in die Philosophie wurde. Geprägt vom aristotelischen Vorbild enthielt sich Porphyrios' Zugangsweise zur Logik der für den Neuplatonismus allgemein charakteristischen metaphysischen Spekulationen. Dieses metaphysikfreie Logik-Interesse blieb im neuplatonischen Denken bis zur Zeit von Boethius bestimmend, der sich seinerseits eng an den logischen Abhandlungen des Porphyrios orientierte und die Isagoge ins Lateinische übersetzte. Die wissenschaftliche Arbeitsweise des Boethius ist durch die alexandrinische Auffassung geprägt, nach der ein genaues Textstudium die unverzichtbare Grundlage für das Verfassen verlässlicher Kommentare und Kompendien bildet. Ihr Ausgangspunkt, die 332/331 v. Chr. in Ägypten gegründete Metropole Alexandria, war bis in die spätere Antike eines der bedeutendsten geistigen Zentren der griechischsprachigen Welt. Die dort in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten wirkenden überwiegend platonisch orientierten Alexandriner, als deren Hauptvertreter Philo (ca. 20/10 v. Chr.-45/50 n. Chr.), Clemens (ca. 140/150-ca. 215) und Origenes (ca. 185-254) gelten, verknüpften jüdische und christliche Theologie mit der griechischen Philosophie. Sie maßen der allegorischen Schriftauslegung, die Texte auf ihren sinnbildlichen, gleichnishaften Gehalt hin interpretiert, besondere Bedeutung bei. Charakteristisch für die alexandrinische Arbeitsweise ist die Tendenz zur Synthese und Harmonisierung im Umgang mit tradiertem Wissen, aber auch philologische und hermeneutische Sorgfalt. Die Frage, ob Boethius sich diese alexandrinische Arbeitsweise sowie seine Kenntnisse des Griechischen und der griechischen Philosophie durch ein Studium in Alexandria oder durch Unterweisung und Bibliotheksstudien in Rom aneignete, ist aufgrund der überlieferten Nachrichten nicht definitiv zu beantworten. Für eine angemessene Bewertung von Boethius' Leistungen ist es aber wichtig, die alexandrinische Methode, wie sie sich in seinen Werken widerspiegelt, richtig einzuschätzen. Boethius wurde immer wieder kritisch nachgesagt, dass er die Inhalte seiner Kommentare und Handbücher einfach von griechischen Autoren übernommen habe. Einzelne Texte, die als Schriften des Boethius gelten, könnten, so wurde vermutet, lediglich Ubersetzungen inzwischen verlorener griechischer Quellen ins Lateinische sein. Der Originalitätsmaßstab, der in dieser Kritik zugrunde gelegt wird, war indessen für die Alexandriner keinesfalls verbindlich. Ihnen ging es weniger um Originalität als vielmehr um eine Fortschreibung von Wissen, und für diesen Zweck kann auch eine Ubersetzung ein grundlegender Beitrag sein. In der alexandrinischen Tradition, welche die nachfolgenden Jahrhunderte bis zur sog. Karolingischen Renaissance (8./9. Jahrhundert) bestimmte, wurde überliefer-

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tes Wissen in Handbüchern zusammengefasst und in eine didaktisch geeignete Form gebracht. Entsprechend ist bei Boethius oft zu erkennen, dass er nicht jeweils nur auf eine einzige Quelle zurückgreift, sondern, wenngleich bestimmte Autoren oder Schriften als Leitfaden fungiert haben mögen, in der Regel auf mehrere, die er in selbständiger Weise einander gegenüberstellt oder synthetisiert. Auch in seiner Sicht des Verhältnisses von Piaton und Aristoteles stand Boethius der Einschätzung der alexandrinischen Gelehrten nahe und meinte, ähnlich wie etwa Porphyrios, die Lehren der beiden Denker stimmten in wesentlichen Hinsichten überein. Unter anderem wegen dieser Tendenz, Piaton und Aristoteles einander anzugleichen und Aristoteles geradezu als Platoniker anzusehen, erreicht die Aristoteles-Exegese bei den Neuplatonikern ihren Höhepunkt. Neben Proklos verfassen auch Simplikios (6. Jahrhundert) und Johannes Philoponos (spätes 5. Jahrhundert-2. Hälfte 6. Jahrhundert) zahlreiche griechische Kommentare, in denen zum Teil Harmonisierungen der Lehren von Piaton und Aristoteles vorgenommen werden. Mit seinem Projekt, Piaton und Aristoteles vollständig ins Lateinische zu übertragen, will Boethius die offenbar als gleichermaßen bedeutsam erkannten und eine einheitliche Wissenstradition repräsentierenden Zentralfiguren der Geistesgeschichte einer breiteren Leserschicht zugänglich machen. Eine seiner wesentlichen Aufgaben sah Boethius, wie schon angesprochen wurde, im Ubersetzen. Dies ist mit einem zentralen Aspekt seiner Bildungsvorstellung verbunden. Boethius betrachtete sich selbst als Teil der langen römischen Tradition von Ubersetzern und Kommentatoren griechischer Philosophie, zu der vor allem auch Cicero gehörte. In früheren Jahrhunderten waren Griechischkenntnisse unter philosophisch Interessierten noch so verbreitet gewesen, dass in Ubersetzung und Kommentar auf griechische Fachtermini zurückgegriffen werden konnte. Das Erfordernis der Ausbildung einer lateinischen philosophischen Fachterminologie stellte sich nicht. In der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, zur Zeit des Augustinus, bedeutete eine solide Schulbildung in der Regel jedoch nicht mehr die Fähigkeit, griechische Texte zu lesen und griechische Termini zu verstehen. Zugleich stand aber noch keine etablierte lateinische Terminologie der Philosophie zur Verfugung, so dass uns insbesondere bei Augustinus ein kaum fachsprachlich gefestigtes Latein begegnet. Boethius unterschied sich von Augustinus und zahlreichen anderen, weniger bekannten Vertretern einer Kultur, die philosophische Inhalte vorwiegend in literarisch und gelegentlich rhetorisch gefärbter Gebrauchssprache niederschrieben, durch die alexandrinisch geprägte Arbeitsweise, die eine vor-

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mals fehlende unmittelbare Zuordnung griechischer und lateinischer Fachbegriffe ermöglichte. Damit hat Boethius, dem terminologische Festlegungen von „Subjekt", „Prinzip", „Definition" usw. zu verdanken sind, einen wesentlichen Beitrag zur eigentlichen philosophischen Wissenschaftssprache geleistet. Dass er gleichwohl die literarische Präsentation philosophischen Wissens nicht ablehnte, sieht man an seiner Consolatio Philosophiae. Zugleich wird an einer Gegenüberstellung dieses Werks mit seinen Schriften insbesondere zur Logik der Kontrast deutlich, der zwischen einer literarischen Vermittlung und einer genuin wissenschaftlichen Darstellung besteht, die Boethius durch seine terminologische Grundlegungsleistung selbst erst ermöglicht hat. Vielleicht begann Boethius mit dem Vorhaben, Piaton und Aristoteles ins Lateinische zu übersetzen, ohne ausführlichen Plan, formulierte aber etwa im Jahre 516, in seinem zweiten Kommentar zu Aristoteles' De lnterpretatione, explizit das Projekt, welches freilich unvollendet blieb. Was Boethius realisieren konnte, war die Ubersetzung, Kommentierung und lehrbuchartige Bearbeitung der Logik des Aristoteles, seiner Schule und späterer Nachfolger. Die Kommentare zu Aristoteles verfasste Boethius in Berücksichtigung der kanonischen Reihenfolge ihres Erscheinens im Organon, welche zugleich die Abfolge ihres Studiums im Schulbetrieb vorgeben sollte. Er widmete sich dem anspruchsvollen Projekt, wie wir annehmen dürfen, zum einen deswegen, weil er offenbar an der Logik großen Gefallen fand. Zum anderen mag er vermisst haben, dass innerhalb der lateinischen Welt die Logik weniger rezipiert worden war als andere philosophische Disziplinen. Entscheidend war ferner seine Uberzeugung, dass die Logik unverzichtbare Voraussetzung für theologische Argumentation sei. Boethius trat nicht nur als Ubersetzer und Kommentator logischer Schriften hervor, sondern leistete auch eigene, teils durchaus originelle Beiträge zur Logik. Außerdem verfasste er Textbücher über Disziplinen, die man damals unter dem Gesichtspunkt mathematischer Fertigkeiten zusammenfasste, nämlich zur Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Für die Gesamtheit dieser vier Disziplinen ist erstmals bei Boethius der Name „quadruvium" (d.h. „quadrivium") belegt (lnstitutio arithmetica 1, 1, 1.7). Hiermit soll der vierfache Weg von den Sinnen zu den gewisseren Dingen des Geistes bezeichnet werden. Nur die Prinzipien der Arithmetik und teilweise die Prinzipien der Musik (De

institutione musica) sind erhalten geblieben. Boethius setzte sich auch mit theologischen Fragestellungen auseinander und verfasste fünf Opuscula sacra, kürzere (teils nur fragmentarisch erhaltene) theologische Abhandlungen, in denen er den orthodoxen Katholizismus verteidigt. Dabei versuchte er wiederum, die

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aristotelische logische Tradition, wie sie im Neuplatonismus fortgeführt wurde, auf die Behandlung theologischer Probleme anzuwenden.

2. Boethius' Logik a) Die aristotelischen Voraussetzungen Um des besseren Verständnisses von Boethius' Arbeiten zur Logik willen ist es notwendig, zunächst den Inhalt von Aristoteles' logischen Schriften zu skizzieren und auch zu klären, was mit „Logik" im Rahmen unserer Darstellung eigentlich gemeint ist. Hierbei fassen wir uns kurz und gehen umstrittenen und problematischen Punkten nicht in Einzelheiten nach. Aristoteles' logische Schriften sind hauptsächlich drei Themenbereichen gewidmet: erstens der Entwicklung einer formalen Logik als einer Theorie deduktiven Schließens, zweitens der Ausarbeitung einer Lehre über Arten der Verwendung deduktiver Schlüsse - einerseits beim wissenschaftlichen Beweis, andererseits in verschiedenen Kontexten, in denen Argumente an andere Personen gerichtet und entsprechende Fragen gestellt werden. Den dritten Themenbereich der aristotelischen Logik bilden grundlegende Fragestellungen der Sprachtheorie, vor allem im Hinblick darauf, wie sprachliche Einheiten aufgebaut sind und inwiefern mit ihnen verschiedene Arten von Bedeutung verbunden sein können. Die Gesamtheit dieser drei Themenfelder wurde in der späteren Antike, auch von Boethius, als der Bereich der Logik angesehen. Aristoteles' logische Schriften sind in der als Organon (Werkzeug) bekannten Schriftensammlung enthalten, die so genannt wird, weil man die Logik als nützliches Instrument in allen Disziplinen betrachtete. Zum Organon gehören die folgenden unter ihren lateinischen Titeln kurz vorgestellten Schriften: (A) Die Abhandlung De Interpretatione untersucht in weitem Sinne sprachtheoretische Fragestellungen. Hier behandelt Aristoteles die Semantik der verschiedenen Typen sprachlicher Ausdrücke (Nennwörter, Aussagewörter, Kopula), die Zusammenhänge sprachlicher Ausdrücke mit den Gedanken einerseits und der außersprachlichen Wirklichkeit andererseits, differenziert Aussagen hinsichtlich ihrer Quantität (universell, partikulär, indefinit) und Qualität (bejahend, verneinend), erläutert verschiedene Weisen der Entgegensetzung von Aussagen und diskutiert Aussagen über zukünftige kontingente Ereignisse.

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(B) Auch die Schrift Categoriae kann als sprachtheoretisches Grundlagenwerk gelten. Ausgehend von der Unterscheidung von Wörtern außerhalb und innerhalb der Satzverbindung teilt Aristoteles die Wörter innerhalb des Satzes in zehn Kategorien oder Prädikatsklassen ein: Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Tun, Leiden, Lage, Haben (die genaue Anzahl variiert in verschiedenen aristotelischen Schriften). Aristoteles behandelt Haupteigenschaften und Differenzen dieser Kategorien, die scholastisch auch „Prädikamente" genannt werden. Die Kategorien haben sowohl eine logische als auch eine ontologisch-metaphysische Bedeutung, insofern sie nicht nur die möglichen Weisen, das Seiende anzusprechen oder auszusagen, sondern auch die Arten des Seins als solche repräsentieren. Weiterhin diskutiert Aristoteles in den Categoriae abstraktere logisch relevante Prädikate, u.a. vier Arten von Gegensatz (Relation, Kontrarietät, Privation und Kontradiktion), fünf Arten von Früher bzw. von Priorität, sechs Arten von Bewegung bzw. von Veränderung, usw. Diese Prädikate wurden später „Postprädikamente" genannt. Der aristotelischen Kategorienschrift wurde im Mittelalter als Einleitung die Isagoge des Porphyrios vorangestellt, in der die fünf Begriffe Gattung, Differenz, Art, Proprium und Akzidens behandelt werden. Diese Einleitungsschrift hatte erheblichen Einfluß auf das Mittelalter, und das verdankt sich vor allem der schon erwähnten lateinischen Ubersetzung des Boethius. (C) Eine formale Logik als Theorie deduktiven Schließens ist der Gegenstand der Analyticapriora. Dort entwickelt Aristoteles mit hoher mathematischer Präzision die so genannte Syllogistik, ein formales System, mit dem er das deduktive Schließen vollständig zu erfassen sucht. Ein deduktiver Schluss bzw. Syllogismus ist für Aristoteles ein Argument, in dem bestimmte Annahmen gemacht werden und aus dem Angenommenen etwas von ihm Verschiedenes mit Notwendigkeit folgt {Analyticapriora 1,1, 24 b 18-22). Deduktive Schlüsse bestehen aus Aussagen zweier Arten, Behauptungen und Verneinungen. In einer Behauptung wird etwas von etwas anderem behauptet, in einer Verneinung wird etwas von etwas anderem verneint. In „Pferde sind Tiere" wird Tiersein von Pferden behauptet, in „Pferde sind keine Pflanzen" wird Pflanzesein von Pferden verneint. Jede Aussage besteht somit aus zwei Teilen, einem Prädikat, das von etwas behauptet oder verneint wird, und einem Subjekt, fiir welches das Prädikat behauptet oder verneint wird. Beide Ausdrücke heißen „Termini". Behauptungen und Verneinungen können universell („alle ...", „kein ...") oder partikulär („einige ...", „einige ... nicht ...") sein. Wenn wir die Termini von Aussagen mit den Variablen A und B bezeichnen, erhalten wir vier Aussageformen, die Formen der sog. kategorischen (d.h. einfachen behauptenden) Aussagen:

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A A A A

kommt kommt kommt kommt

allen B zu (Alle B sind A). keinem B zu (Kein B ist A). einigen B zu (Einige B sind A). einigen B nicht zu (Einige B sind nicht A).

Aristoteles betrachtet in seiner Syllogistik Argumente, die aus drei kategorischen Aussagen, d.h. zwei Prämissen und einer Konklusion, bestehen. Die Prämissen haben einen Terminus gemeinsam, der in der Konklusion nicht vorkommt. Ein Beispiel: „Sterblich (A) kommt allen Sinnenwesen (B) zu. Sinnenwesen (B) kommt allen Menschen (C) zu. Also kommt sterblich (A) allen Menschen (C) zu." Drei Arten der Konfiguration der Termini in den Prämissen sind möglich: Subjekt einer Prämisse kann das Prädikat der anderen Prämisse sein, die Prämissen können das gleiche Prädikat haben, und die Prämissen können das gleiche Subjekt haben. Diese unterschiedlichen Konfigurationen der Termini in den Prämissen heißen „erste Figur", „zweite Figur" und „dritte Figur":

1. Prämisse 2. Prämisse

1. Figur A B B C

2. Figur A B A C

3. Figur A B C B

Nunmehr kann man fragen: Welche Kombinationen kategorischer Aussagen in jeder dieser Figuren implizieren logisch eine Konklusion, die (wie in unserem Beispiel) nur die Termini enthält, welche die Prämissen nicht gemeinsam haben? Aristoteles beweist für jede Konfiguration der Termini in den drei Figuren, ob aus den Prämissen eine Konklusion logisch folgt oder nicht, und unterscheidet so gültige und ungültige syllogistische Modi. Im technischen Sinn ist also ein Syllogismus ein gültiges Argument der 1., 2. oder 3. Figur. Aristoteles zeigt, dass gültige syllogistische Modi der 2. und 3. Figur auf solche der 1. Figur zurückgeführt werden können. Syllogismen der 1. Figur gelten ihm als vollkommen, weil ihre Notwendigkeit unmittelbar einsichtig sei. In den Analyticapriora entwickelt Aristoteles neben der kategorischen Syllogistik auch eine Modalsyllogistik. In dieser geht es um Syllogismen aus Aussagen, die durch die Modalausdrücke „notwendig" und „möglich" bestimmt werden. Wesentlich weniger ausführlich behandelt Aristoteles sog. hypothetische Syllogismen, auf die wir noch näher eingehen werden, da sie für Boethius von besonderem Interesse sind. Aristoteles' Anspruch und metalogische Zielsetzung besteht in dem Nachweis, dass sich alle gültigen Schlüsse überhaupt als gültige Syllogismen darstellen lassen.

Boethius

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(D) Eine besondere Art der Verwendung der Syllogistik liegt in Aristoteles' Lehre vom wissenschaftlichen Beweis vor, die er in den Analyticaposteriora entwickelt. Seiner Konzeption des wissenschaftlichen Beweises liegt der Begriff des deduktiven Schlusses zugrunde. Wissenschaftliche Beweise sind deduktive Schlüsse, die uns Wissen vermitteln, - gültige Argumente mit wahren Prämissen, derer wir uns gewiss sind. Die Prämissen müssen dabei einsichtiger als die Konklusion und selbst von Beweisen unabhängig sein. (E) In der Schrift Tópica fungiert die Syllogistik als Methodenlehre der Dialektik, d.h. der argumentativen Gesprächsflihrung in der platonischen Akademie, wobei auch auf Techniken richtiger Begriffsbildung und Definition eingegangen wird. Im Gegensatz zur Syllogistik innerhalb wissenschaftlicher Beweise geht die Lehre der Topik nicht von notwendigen, sondern von plausiblen Prämissen aus und fuhrt nicht zum Wissen im strengen Sinn, sondern zur begründeten Meinung. Plausibel ( endoxa ) sind nach Aristoteles solche Aussagen, die allen oder einer qualifizierten Mehrheit wahr zu sein scheinen. Die Topik wird da relevant, wo notwendige Aussagen, d.h. die einer beweisenden Wissenschaft j e eigenen ersten Sätze oder Prinzipien, nicht zur Verfugung stehen und wo dennoch argumentiert bzw. geschlussfolgert wird. Hierbei greift man auf einen Vorrat von Argumenten zurück, die man aus allgemeinen Regeln erhält oder aus Gesetzmäßigkeiten, gleichsam Bezugspunkten oder Ortern {topoi) der Rede. Diese Orter sollen im Gedächtnis aufbewahrt werden, wo sie als Versatzstücke der Argumentation abgerufen werden können. Beispiele werden wir im Kontext der boethianischen Topik nennen. (F) Die von Aristoteles selbst als Fortsetzung der Tópica betrachtete Schrift SophisticiElenchi stellt den Versuch einer systematischen Behandlung und Auflösung von Fehlschlüssen bzw. Trugschlüssen dar, derer sich die Sophisten beim Disputieren bedienten.

b) Boethius' Konzeption der Logik In der über Jahrhunderte kontroversen Frage nach dem Status der Logik im Zusammenhang der Wissenschaften vertritt Boethius eine für den Neuplatonismus charakteristische Vermittlungsposition. Er greift sowohl auf die aristotelische Auffassung zurück, wonach die Logik organon oder Instrument der Wissenschaften ist, dem aber kein eigener Gegenstand zukommt, als auch auf die Auffassung der Philosophenschule der Stoiker, wonach die Logik (neben Physik und Ethik) ein eigenes Sachgebiet der Philosophie darstellt (In Isagogen

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Porphyrii, ed. secunda, 1,3; 140-143). Entsprechend vergleicht er die Logik mit der Hand und den Augen, die sowohl ein Teil des Körpers sind als auch Nutzen für den ganzen Körper haben. In Anlehnung an Cicero unterteilt Boethius die Logik in zwei Teile, die Analytik, die das Urteil .reinigt' bzw. die Urteilsbildung methodisch fundiert, und die Topik, die zur Entdeckung von Argumenten oder Begründungen anleitet. Boethius' Arbeiten zur Logik bestehen, wie schon bemerkt, aus Ubersetzungen von logischen Schriften des Aristoteles, aus Kommentaren zu diesen Schriften und aus Lehrbüchern über die aristotelische Logik. Dabei orientiert sich Boethius weit gehend an seinen griechischen Vorgängern, insbesondere an Porphyrios. Ihm und anderen Vorgängern folgt Boethius zunächst darin, dass er besonders im Rahmen der Aristoteles-Kommentare den eigentlichen Sacherörterungen die Behandlung verschiedener Vorfragen nach Ziel, Nutzen, systematischem Ort oder Authentizität der jeweiligen Schrift voranstellt. Die eigentlichen thematischen Erörterungen sind von besonderer Ausführlichkeit. Deshalb wurde ihm in der Logikgeschichtsschreibung der Vorwurf einer „Dressur" seiner Leser gemacht sowie eine „widerlichste Breite und Geschwätzigkeit" nachgesagt, die daraufhinziele, „selbst den dümmsten Köpfen eine gewisse Anzahl von Regeln einzubläuen" (Prantl, 681 f.). Dieses Urteil übersieht aber, dass Boethius sich bestimmten Gepflogenheiten des Schulunterrichts seiner Zeit verpflichtet gesehen haben dürfte und offenbar aus didaktischen Gründen zu ausführlicher Wiederholung und besonderer Materialfülle neigte. Die harsche Kritik vernachlässigt weiterhin die Tatsache, dass Boethius für ein philosophisch vergleichsweise wenig gebildetes Publikum schrieb, welchem er sich anpasste, indem er in bewusster Folge bestimmte Werke für Anfanger und andere für Fortgeschrittene konzipierte. Seiner zuweilen als umständlich oder ausschweifend empfundenen Darstellungsweise verdankt sich nicht zuletzt der Erfolg und Anklang bei Zeitgenossen sowie Nachfahren, aufgrund dessen Boethius als einer der herausragenden Lehrer des mittelalterlichen Europa gelten kann. Neben dem dominierenden Einfluss des Aristoteles sind, wie erwähnt, in Boethius' Logik auch Auswirkungen der Logik der Stoiker präsent. (Die stoische Logik kann als Vorläuferin der heutigen Aussagenlogik gelten, die aristotelische Logik hingegen als Vorläuferin der Prädikatenlogik.) Porphyrios hatte in seinen Schriften mehrfach Verbindungen zwischen aristotelischer und stoischer Logik hergestellt, indem er beide Konzeptionen etwa hinsichtlich Terminologie und Zielsetzungen miteinander verglich. In der Zeit zwischen Porphyrios und Boethius waren jedoch nicht zuletzt im Bereich der Logik Teile

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des Wissens verloren gegangen. Eine nennenswerte Kenntnis der stoischen Logik lässt sich für die Zeit des Boethius nicht mehr feststellen. Während also bei Porphyrios ein informierter Umgang mit aristotelischer und stoischer Logik und dem Verhältnis beider zueinander festzustellen ist, standen bereits in der Einßihrung in die Logik (Institutio lógica) des griechischen Mediziners und Philosophen Galenos (ca. 130-ca. 200) Elemente beider Formen der Logik eher unvermittelt nebeneinander. Eine ähnliche Sachlage zeigt sich bei Boethius, der keinen wirklichen Zugang zur stoischen Logik mehr zu haben scheint. In seinen Abhandlungen De syllogismis hypotheticis und De dijferentiis topicis, auf die wir noch näher eingehen werden, sowie in seinem Kommentar zu Ciceros Tópica tritt das letztlich unvermittelte und unentschiedene Nebeneinander von aristotelischer und stoischer Tradition deutlich hervor. Dass er beide Logiktraditionen letztlich nicht miteinander zu vermitteln weiß, manifestiert sich auch in Boethius' wissenschaftstheoretischer Einordnung der Logik, wonach diese zugleich Teil und Werkzeug der Philosophie ist.

c) Boethius'logische Werke Boethius fertigte Ubersetzungen aller Schriften des aristotelischen Organon an, teilweise in mehreren oft erheblich abweichenden Versionen. Außer der Ubersetzung der Analytica posteriora, die entweder nicht zustande gekommen oder im frühen Mittelalter verloren gegangen ist, sind diese Texte bis heute erhalten. In seinem Bemühen um größtmögliche Genauigkeit sah sich Boethius zur wörtlichen Ubersetzung, phasenweise zur strikten Wort-für-Wort-Wiedergabe, veranlasst. Von besonderer Bedeutung war auch seine Ubersetzung der Isagoge des Porphyrios, die Voraussetzungen der Kategorien von Aristoteles erläutert. Am Anfang der Isagoge erwähnt Porphyrios drei Fragen zu Gattung und Art, die er aber in einem an Anfanger adressierten Werk nicht lösen will: Existieren Gattungen und Arten, d.h. (exemplarisch erörterte) Allgemeine bzw. Universalien, als solche, oder haben sie nur ein sprachlich-begriffliches Sein? Sind sie, falls sie selbständig existieren, körperlich oder nicht-körperlich? Und wenn sie nicht-körperlich sind, sind sie dann von sinnlichen Dingen getrennt, oder existieren sie in bzw. in Verbindung mit ihnen? Diese Fragen, bei Porphyrios in Griechisch formuliert und von Boethius ins Lateinische übersetzt, führten zum so genannten Universalienstreit in der mittelalterlichen Philosophie. In diesem Streit standen unterschiedliche Auffassungen zu dem ontologisch-metaphysi-

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sehen Status der Universalien oder, aus logisch-semantischer Perspektive, zur Referenz von Allgemeinbegriffen in Konkurrenz. Boethius verfasste jeweils zwei Kommentare zu Porphyrios' Isagoge, zu Aristoteles' De Interpretatione, einen Kommentar zur Kategorienschrift, einen zu Ciceros Tópica und wahrscheinlich einen zu Aristoteles' Tópica, der aber seit der Antike verloren ist. Sehr wahrscheinlich gab es vor Boethius keine lateinischen Kommentare zum Organon. In seinen Kommentaren zur Isagoge und auch in dem zur Kategorienschrift geht Boethius selbst auf das Universalienproblem ein, ohne jedoch zwischen den Auslegungen der Universalien als selbständig seienden Wesenheiten, als reinen Gedankenprodukten oder als Namen von Namen (nominum nomind) zu einer entschiedenen, geklärten Position zu gelangen. In seinem Kommentar zu De Interpretatione nimmt er Stellung zu Aristoteles' berühmter Erörterung der morgigen Seeschlacht, d.h. der Frage der Wahrheitsfahigkeit von Aussagen über zukünftige Ereignisse. Zu Themen der Logik schrieb Boethius fünf Lehrbücher: Dedivisione, Introduetio ad syllogismos categóricos, De syllogismo categorico, De syllogismis hypotheticis und De dijferentiis topicis. Nicht erhalten ist ein Lehrbuch über die Systematik der aristotelischen Disziplinen, in dem Boethius u.a. erörtert, in welcher Reihenfolge das Studium der Logik erfolgen sollte. In dem Lehrbuch De divisione, das thematisch eng mit der Isagoge des Porphyrios und somit auch mit Aristoteles' Kategorienschrift verbunden ist, behandelt Boethius logisch-philosophische Begriffseinteilungen. Dieses Werk unterscheidet sich von den vier anderen Lehrbüchern dadurch, dass es als einziges nicht der umfassenden Theorie verschiedener Argumentationstypen gewidmet ist. Im Zentrum stehen vielmehr zwei Arten der Unterscheidung von Dingen, erstens die dijferentiae per accidens, d.h. verschiedene Arten zufalliger Unterschiede von Dingen, und zweitens die dijferentiae per se, d.h. intrinsische oder innere Unterschiede. Hierbei geht es darum, wie sich eine Gattung in Arten sowie ein Ganzes in Teile gliedern lassen und wie mehrere Bedeutungen von Wörtern unterschieden werden können. In den beiden sich teilweise überschneidenden Lehrbüchern zum kategorischen Syllogismus stellt Boethius unter Rückgriff auf die aristotelische Aussagenlehre in De Interpretatione die Syllogistik des Aristoteles dar. Zwei weitere Lehrbücher behandeln die hypothetische Syllogistik und die Topik. Diese beiden Bücher, denen wir uns im Folgenden näher zuwenden, sind von besonderem Interesse, weil sie in ihrer Eigenständigkeit am eindeutigsten von den aristotelischen Theoriebildungen abweichen und außerdem wohl die einzigen überlieferten Beiträge der Spätantike zu diesen Themen darstellen.

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Boethius' Schrift über die hypothetischen Syllogismen findet in der Forschungsliteratur besondere Beachtung. „Hypothetisch" heißen solche Syllogismen, in denen mindestens eine Prämisse eine hypothetische Aussage ist und keine kategorische. Hypothetische Aussagen bestehen aber aus zwei oder mehr kategorischen Aussagen, die mit „wenn" oder „oder" verknüpft sind. Unter hypothetischen Aussagen sind hier also nicht allein Konditionalsätze (verknüpft mit „wenn") zu verstehen, was der Ausdruck „hypothetisch" nahe legen könnte, sondern auch Disjunktionen (im ausschließenden Sinne). Die mittelalterliche Logiktradition wird dementsprechend zwei Bedeutungen von „hypothetisch" ausdrücklich unterscheiden: Hypothetisch im weiten Sinn sind solche Aussagen, in denen die Setzung (thesis) eines Satzes unter {hypo) einen anderen erfolgt, wobei auch die konjunktiven Aussagen als hypothetisch gelten, während als hypothetisch im engen Sinn allein die konditionalen Aussagen verstanden werden. Das Ziel der hypothetischen Syllogistik ist die Erstellung eines formalen Systems, welches das deduktive Schließen mit hypothetischen Aussagen erfassen soll (und nicht nur mit kategorischen Aussagen wie in der kategorischen Syllogistik). Boethius gibt eine Klassifikation verschiedener Arten hypothetischer Aussagen und verschiedener Arten hypothetischer Syllogismen, die mit ihnen gebildet werden können. Er konzentriert sich auf Konditionalsätze (Disjunktionen erfasst er dadurch, dass er sie auf Konditionale zurückfuhrt) der folgenden Art: „Wenn es Tag ist, ist es hell", „Wenn es ein Mensch ist, dann ist es nicht ein Pferd". Allgemein gibt es vier Konditionalsätze dieser Art mit zwei Termini a und b: Wenn es a ist, ist es b. Wenn es a ist, ist es nicht b. Wenn es nicht a ist, ist es b. Wenn es nicht a ist, ist es nicht b. Boethius untersucht zunächst, welche Syllogismen gebildet werden können, wenn zwei hypothetische Prämissen vorliegen, die aus je zwei Teilsätzen bestehen, und wenn in den Prämissen drei Termini vorkommen, wie in folgendem Fall: Wenn es a ist, ist es b; und wenn es b ist, ist es c. Ein gültiger Schluss, der sich hier ergibt, hat die Konklusion: Wenn es a ist, ist es c. Boethius variiert dabei systematisch die Qualität (bejahend, verneinend) der die Konditionale konstituierenden Teilsätze. Sodann betrachtet er hypothetische Aussagen, die aus drei Teilsätzen gebildet sind (z.B.: „Wenn es a ist, dann,

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wenn es nicht b ist, ist es c"), und untersucht daraus gebildete Syllogismen. Schließlich untersucht er Syllogismen, die aus hypothetischen Aussagen mit vier Teilsätzen und vier Termini bestehen. Der größte Teil der umfangreichen Abhandlung besteht in der langen und aufwendigen tabellarischen Auflistung der gültigen Syllogismen verschiedener Art. Während Aristoteles sich in seiner kategorischen Syllogistik auf eine Logik der Termini in Aussagen der einfachen Subjekt-Prädikat-Form beschränkt hatte, betrachtet Boethius in der hypothetischen Syllogistik also auch aus Teilsätzen zusammengesetzte Aussagen. Da Folgerungen mit aus Teilsätzen zusammengesetzten Aussagen in der Aussagenlogik untersucht werden, hat man traditionellerweise in der hypothetischen Syllogistik von Boethius eine Form der Aussagenlogik gesehen - im Sinne der stoischen oder der modernen Logik. Diese Auffassung wird auch dadurch begünstigt, dass Boethius von ihm so genannte akzidentelle hypothetische Aussagen diskutiert, z.B. „Wenn Feuer heiß ist, ist der Himmel sphärisch". Die hypothetische Aussage könne, meint Boethius, wahr sein, wenn die Teilsätze wahr sind, unabhängig davon, ob eine kausale Verbindung zwischen dem besteht, was die Teilsätze behaupten. Da nun in den Teilsätzen der hypothetischen Aussage kein gemeinsamer Begriff vorkommt, der zwischen dem Vordersatz und dem Hintersatz im Sinne eines syllogistischen MittelbegrifFs eine Verbindung herstellt, liegt die Annahme nahe, dass der Ausdruck „wenn" Vorder- und Hintersatz als Teilaussagen verbindet; und dies stützt eine aussagenlogische Interpretation des boethianischen Beispiels. Darüber hinaus präsentiert Boethius zwei für die hypothetische Syllogistik fundamentale Regeln, die offenbar das Verhältnis von Vordersatz und Hintersatz in einem Konditionalsatz betreffen: „Wenn das Erste, dann das Zweite" und „Wenn das Zweite nicht, dann notwendig das Erste nicht". Diese beiden Regeln (die den logischen Schlussregeln modusponens und modus tollens entsprechen) repräsentieren zwei der insgesamt fünf Prinzipien der stoischen Aussagenlogik, der sog. Unbeweisbaren (oder Unbewiesenen): Wenn das Erste, dann das Zweite. Nun aber das Erste. Also das Zweite. Wenn das Erste, dann das Zweite. Nun aber nicht das Zweite. Also nicht das Erste. Die Ordnungszahlen (das Erste, das Zweite) sind Variablen wie in der aristotelischen Syllogistik die Buchstaben. Allerdings sind die Buchstaben bei Aristoteles Begriffsvariablen, die von Boethius verwendeten stoischen Ordnungszahlen hingegen Satzvariablen. Auch deshalb scheint es nahe liegend, in der hypothetischen Syllogistik des Boethius eine Aussagenlogik zu sehen.

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Gegen eine Interpretation der hypothetischen Syllogistik als einer Aussagenlogik spricht jedoch, dass Boethius die Konditionale oft so zu verstehen scheint, als würden sie prädikative Termini und nicht Aussagen verbinden, wie etwa in „Wenn es ein Mensch ist, dann ist es nicht ein Pferd". Weiterhin scheint Boethius die Negation nicht als einen Aussageoperator aufzufassen, der, auf eine Aussage angewendet, eine weitere Aussage, die Negation der ursprünglichen, hervorbringt („Es ist nicht der Fall, dass p", wo p für eine Aussage steht). Er sieht in der Negation vielmehr die Verneinung der Zuschreibung einer Eigenschaft zu einer Sache, also eine Operation, die innerhalb einer kategorischen Aussage durchgeführt wird und das zugeschriebene Prädikat negiert („a ist nicht-P", wo P für ein Prädikat steht). Das Problem einer sicheren Einordnung der hypothetischen Syllogistik des Boethius in die heutige Dichotomie von Aussagen- und Prädikatenlogik beginnt schon mit den Fragen danach, wie hier die verwendeten Variablen letztlich zu verstehen sind und ob überhaupt von einer kohärenten Lehre hypothetischer Syllogismen ausgegangen werden kann. Es handelt sich jedenfalls um ein Problem, das sich für Boethius selbst in dieser Weise nicht gestellt haben dürfte und das im vorliegenden Zusammenhang keiner abschließenden Lösung zugeführt werden kann. Zur Lehre der Topik verfasste Boethius neben dem erwähnten verlorenen Kommentar zu der auch von ihm übersetzten Topica des Aristoteles zwei weitere Schriften, einen im Mittelalter wenig beachteten Cicero-Kommentar und die wirkungsmächtige Abhandlung De differentiis topicis. Diese Abhandlung bietet eine Systematisierung und Synthese der antiken Topik, insbesondere der Beiträge Ciceros sowie des einflußreichen Rhetors und Aristoteles-Kommentators Themistios (ca. 317-ca. 388), und wurde zur wesentlichen Quelle der späteren scholastischen Topiktradition. Boethius leitet von Themistios und Cicero seine Bestimmung des dialektischen Ortes her, wonach dieser der Sitz eines Arguments [sedes argumenti) ist oder dasjenige, dem ein zu einer gestellten Frage passendes Argument entnommen wird (De differentiis topicis I; MPL 1174CD). Diese Bestimmung wird im Mittelalter zur Standarddefinition und zum Gegenstand ausfuhrlicher Erläuterungen, die auch darauf eingehen, dass der dialektische Ort in Analogie zum natürlichen Ort zu verstehen ist: So wie einem natürlichen Ort physische Dinge entnommen werden können, so können einem dialektischen Ort Argumente entnommen werden. Dialektische Örter sollen nach Boethius dazu dienen, Argumente zu finden (im Sinne der später gebräuchlichen Charakterisierung der Logik als ars inveniendt), tragen seinen sonstigen Ausführungen nach aber eher zu deren Sicherung bei, wie noch deutlich wird.

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Als einfaches Beispiel kann die Schlussfolgerung „Sokrates ist ein vernünftiges sterbliches Sinnenwesen; also ist Sokrates ein Mensch" dienen, ein sog. Enthymem, welches aus nur einer Prämisse und aus einer Konklusion besteht und von Boethius auch als unvollständiger Syllogismus bezeichnet wird. Diese Schlussfolgerung erhält ihre Gültigkeit aus der definierenden Bestimmung von „Mensch" als „vernünftiges sterbliches Sinnenwesen", weshalb man hier von einem Ort aus der Definition (locus a definitioné) spricht. Mittels eines Arguments a definitione, d.h. unter Rückgriff auf die definierende Bestimmung von „Mensch", kann die prinzipiell bezweifelbare Aussage „Sokrates ist ein Mensch" (die auch als die Frage „Ist Sokrates ein Mensch?" formulierbar ist) in eine argumentativ gestützte Aussage bzw. in die Konklusion eines Schlusses überfuhrt werden. Der schlussfolgernde Ubergang von „vernünftiges sterbliches Sinnenwesen" zu „Mensch" verdankt sich einer sog. topischen Maxime, und zwar der Maxime „Wovon eine Definition ausgesagt wird, davon wird auch das Definierte ausgesagt". Eine topische Maxime ist für Boethius eine evidente, höchst allgemeine Aussage über logische Eigenschaften bestimmter Begriffe oder Relationen. Da eine Maxime nicht mittels anderer Aussagen zu beweisen ist, umgekehrt aber andere Aussagen mittels der Maxime beweisbar sind, hat sie den Charakter eines Axioms. Als weitere Beispiele für Orter seien der Ort aus konträr Entgegengesetztem {locus a contrariis) und der Ort aus Zusammengehörigem (locus a coniugatis) genannt. Die Schlussfolgerung „Sokrates ist weiß; also ist Sokrates nicht schwarz" enthält ihre Gültigkeit aufgrund des Ortes aus konträr Entgegengesetztem, wonach die Maxime gilt, dass, wenn von einer Sache etwas ausgesagt wird, das dazu Konträre nicht ausgesagt wird. Die Schlussfolgerung „Ein Gerechter ist gut; also ist Gerechtigkeit gut" enthält ihre Gültigkeit aufgrund des Ortes aus Zusammengehörigem, wonach die Maxime gilt, dass, wenn zwei Dinge zusammengehören und von einem etwas ausgesagt wird, dasselbe von dem anderen ausgesagt wird. Mit Boethius wird eine zweifache Bedeutung des dialektischen locusBegriffs begründet, einerseits die der einem aristotelischen topos entsprechenden topischen Maxime (maxima propositió), andererseits die der Differenz einer solchen Maxime (dijferentia maximaé), d.h. des jeweiligen BegrifFspaars, durch das sich Maximen voneinander unterscheiden. Die Differenzen der Maxime, in unseren Beispielen „Definition/Definiertes", „Entgegengesetztes/Entgegengesetztes", „Zusammengehöriges/Zusammengehöriges", dienen der Klassifikation der Maximen und gleichzeitig der Differenzierung des Reservoirs von Ortern, denen Argumente zu entnehmen sind. Boethius gibt eine dem Anspruch nach vollständige Liste von 28 Differenzen, die er von Themistios

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übernimmt, wobei allerdings der Anspruch der Vollständigkeit letztlich unklar bleibt. Diese Liste bildet bei geringfügigen Abweichungen das Kernstück der meisten mittelalterlichen Topik-Abhandlungen.

d) Zur Wirkungsgeschichte Die Wirkung des Boethius auf das Denken des Mittelalters war gewaltig. Sie beginnt schon im 8. Jahrhundert mit der lobenden Erwähnung von Boethius durch karolingische Autoren wie Alkuin. Während des ganzen Mittelalters war die Consolatio Phihsophiae das meistgelesene Buch, zu dem ab dem 9. Jahrhundert zahlreiche Kommentare entstanden. Aber auch die theologischen Schriften des Boethius fanden große Beachtung. So zitiert der Philosoph und Theologe Alanus ab Insulis (ca. 1117/1128-1203) in seinen Distinctiones dictionum theologicalium Boethius sogar häufiger als Augustinus. Die berühmten Libri quattuor sententiarum des Petrus Lombardus (ca. 1095-1160), die zahlreiche Autoren bis ins 17. Jahrhundert zu Kommentaren und zu systematischen Darstellungen der Glaubenslehre anregten, enthalten Rückgriffe auf Boethius' theologische Werke. Insbesondere wurde die boethianische Theologie in der das Denken des 12. Jahrhunderts prägenden Schule von Chartres rezipiert. Gilbert von Poitiers (ca. 1080-1154) verfasste einen selbst wiederum einflußreichen, auf die damalige Sprachlogik zurückgreifenden Kommentar zu den Opuscula sacra. In den lectiones des Thierry von Chartres (spätes 11. Jahrhundertca. 1155) über die Opuscula sacra wird mehrfach auf Boethius' Kommentare zu den aristotelischen Kategorien und zur Topik Ciceros zurückgegriffen. Thierrys Schüler Clarembaldus von Arras (gest. ca. 1187) setzt sich kritisch mit der Boethius-Interpretation Gilberts von Poitiers auseinander. Für Peter Abaelard (1079-1142) war Boethius „der größte der lateinischen Philosophen" (Introductio ad theologiam 1,25, II 10; MPL 178,1034A, 1059A). Außer den Opuscula sacra und der Consolatio zitierte Abaelard ausgiebig Werke und Kommentare des Boethius zur Logik und verfasste Glossen zu den boethianischen Schriften De divisione und De syllogismo categorico. Im 13. Jahrhundert kommentiert Thomas von Aquin zwei der Opuscula sacra {De trinitate, De hebdomadibus), wobei er besonders De trinitate zur Grundlage wissenschaftstheoretischer Reflexionen macht. Von grundlegender wirkungsgeschichtlicher Bedeutung ist die Tatsache, dass die das Mittelalter prägenden Philosophien Piatons und Aristoteles' bis ins 12. Jahrhundert wesentlich in ihrer durch den Neuplatonismus vermittelten

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Version rezipiert wurden, und hierbei kommt Boethius eine Schlüsselstellung zu. Hätte er seinen eingangs erwähnten Plan zur Ubersetzung und Kommentierung des ganzen Piaton und des ganzen Aristoteles umgesetzt, dann „hätte schon das frühe Mittelalter eine ausreichende Kenntnis aristotelischer und platonischer Werke erhalten, und der Gang der mittelalterlichen Wissenschaft wäre wenigstens seit der karolingischen Zeit in etwas höhere Bahnen gelangt." (Manitius, 29) Indessen gingen von dem, was Boethius tatsächlich leisten konnte, erhebliche Impulse aus, und zwar insbesondere auf dem Gebiet der Logik. Alles, was bis zum 12. Jahrhundert in Westeuropa von Aristoteles' Logik bekannt war, verdankte man den umfangreichen Arbeiten des Boethius, deren Einordnung in „dürftige Überbleibsel der römischen Welt" in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (Philosophie des Mittelalters, 2. Abschnitt, A.) wenig angemessen erscheint. Auf die aristotelische Organon-Konzeption und auf Augustinus' Charakterisierung der Logik als „disciplina disciplinarum" (De ordine XIII, 38) geht der nicht zuletzt von Boethius zur Geltung gebrachte Sonderstatus zurück, den man dieser Disziplin aufgrund ihres universellen Anwendungsbereichs im Mittelalter zuerkannte und nie nachhaltig anzweifelte. Dies gilt bereits für die Karolingische Renaissance, der das Wiedererstarken der artes liberales und speziell der Triviums-Facher Grammatik, Rhetorik und Logik ein zentrales Anliegen war. Die bis in die frühe Neuzeit verbreitete formelhafte Charakterisierung als ars artium und scientia scientiarum betont kontinuierlich die besondere Bedeutung der Logik. Boethius' einflußreiche Schriften und Ubersetzungen zu dieser Disziplin repräsentierten die Grundlage für ein selbständiges, von Autoritäten und Offenbarungsinhalten unabhängiges Aufgabengebiet der Philosophie. Zugleich boten diese Schriften und Ubersetzungen ein Instrumentarium für die argumentative und rationale Ausarbeitung anderer Wissenschaftsbereiche, insbesondere der christlichen Theologie, die aufgrund des Rückgriffs auf die Logik ihre spezifisch abendländische Prägung erhielt. Wenn man für die mittelalterliche Philosophie und Theologie auch vor der Aristoteles-Rezeption des 12. und 13. Jahrhunderts eigenständige Rationalitätsstandards aufweisen will, dann sind solche wesentlich der Nachwirkung der Schriften des Boethius zur Logik zuzuschreiben. Dieses Bild resultiert nicht allein aus der heutigen logikgeschichtlichen Perspektive, sondern ist fraglos auch den mittelalterlichen Denkern selbst, etwa Abaelard und Thomas von Aquin, bewusst gewesen. Die Wirkung der boethianischen Logik im Mittelalter entfaltet sich allerdings nicht kontinuierlich. Dies trifft insbesondere für die hypothetische Syl-

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logistik zu. Eine ausgiebige Beschäftigung mit den logischen Werken des Boethius im Mittelalter beginnt mit Abbo von Fleury (ca. 940/945-1004) und Gerbert von Aurillac (ca. 940/950-1003). Während zu Gerberts Beschäftigung mit der Logik von Boethius nur allgemeine, ungesicherte Kenntnisse vorliegen, lässt die Syllogismorum categoricorum et hypotheticorum enodatio Abbos eine niveauvolle Verwendung und Weiterbearbeitung der Schriften des Boethius erkennen, die auch über den späteren Beitrag Abaelards zur hypothetischen Syllogistik hinausgeht. Abaelard widmet den hypothetischen Syllogismen in seiner Dialéctica einen ausfuhrlichen eigenen Traktat, wobei er sich eng an Boethius als Vorlage hält, sich teilweise aber auch kritisch mit ihm auseinandersetzt. Ein weiterer Traktat zu den hypothetischen Syllogismen, der Abaelards Einfluß dokumentiert, findet sich in der Summa dialecticae artis des Wilhelm von Lucca (gest. 1178). Abbo von Fleury gibt nicht nur den disjunktiven hypothetischen Syllogismen wesentlich mehr Raum als Boethius und Abaelard. Er bringt auch die hypothetische Syllogistik, wie er sie in Boethius' De syllogismis hypotheticis vorfand, mit der Auflistung hypothetischer Syllogismen in Verbindung, die die lateinische Tradition von Ciceros Tópica her kannte. Diese Liste findet sich im fünften Buch von In Ciceronis Tópica des Boethius, der selbst aber noch keinerlei Verbindung zwischen seinen beiden Traktaten herstellt. Anders als bei Abbo von Fleury, Peter Abaelard und Wilhelm von Lucca finden sich in den repräsentativen Logik-Kompendien des 13. Jahrhunderts von Petrus Hispanus, Wilhelm von Sherwood und Lambert von Lagny (überliefert als Lógica des Lambert von Auxerre) keine Traktate zur hypothetischen Syllogistik. Der Grund liegt wohl darin, dass die im 13. Jahrhundert stattfindende Rezeption der logischen Werke des Aristoteles, die ja keine explizite Behandlung der hypothetischen Syllogismen enthalten, dieses traditionelle Lehrstück in Vergessenheit geraten ließ. Im Zuge der Aristoteles-Rezeption und der zunehmenden Dominanz der aristotelischen Schriften scheinen die Logiker des 13. Jahrhunderts vernachlässigt oder übersehen zu haben, dass Boethius Gebiete der Logik behandelt hatte, die bei Aristoteles allenfalls ansatzweise entwickelt waren. Die Aristoteles-Rezeption wird von dem Prozess des Zurücktretens durchaus bedeutender Lehren bis hin zu ihrem völligen Vergessen begleitet. So sucht man auch in den Logik-Kompendien des 14. Jahrhunderts vergeblich nach Abhandlungen über die hypothetischen Syllogismen. Obgleich die im 14. Jahrhundert dominierenden Traktate De consequentiis Berührungspunkte mit der hypothetischen Syllogistik aufweisen, bedeuten sie keine Wiederaufnahme dieser bei Boethius, Abbo und Abaelard präsenten

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Lehre, sondern sind entstehungsgeschichtlich eher mit der Topik von Boethius in Verbindung zu bringen. Das mittelalterliche Topik-Verständnis beruht bis zur ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts hauptsächlich auf den Topica Ciceros bzw. auf den weitgehend hieran orientierten Kompendien des 5., 6. und frühen 7. Jahrhunderts von Martianus Capella, Cassiodor und Isidor von Sevilla, die aber ebenso wie ihr Vorbild Cicero der Sache nach kaum über eine Auflistung der topischen Differenzen hinausgehen. Danach gewinnen Boethius' Beiträge zur Topik an Einfluß und werden verstärkt in den Schulen verwendet, während die Bedeutung Ciceros und der von ihm abhängigen Kompendien schwindet. Die früheste erhaltene Topik-Abhandlung des Mittelalters findet sich in dem wohl vor 1040 entstandenen Logik-Kompendium des Garlandus Compotista. Deutliche Affinitäten zu Boethius betreffen vor allem Grundstruktur, Definitionen und Beispiele, die Abweichungen vor allem die nähere Funktionsbestimmung des dialektischen Ortes, wonach dieser bei Garlandus anders als bei Boethius insbesondere fiir den hypothetischen Syllogismus wichtig ist. Ein dialektischer Ort sichert demnach hier nicht eine Argumentation in der traditionellen Form eines Enthymems, sondern die mittels der Konjunktion „wenn" gebildete konditionale Prämisse eines hypothetischen Syllogismus. Die Differenz der Maxime hilft, Konditionale aufzufinden bzw. zu konstruieren, deren Wahrheit durch die Maxime, verstanden als Generalisierung der Konditionale, gesichert bzw. bewiesen wird, wobei Garlandus die genaue Funktion der Maximen aber uneinheitlich, im Sinne von Regeln oder Prämissen, beschreibt. Alle Orter sichern nach Garlandus hypothetische Syllogismen, während kategorische Syllogismen nur durch einige bestimmte Orter - aus dem Ganzen (a toto), aus dem Teil (a parte) und aus Gleichem (a pari) - gesichert werden. Das 11. und vor allem das 12. Jahrhundert sind geprägt von wachsendem Interesse an der Topik, was u.a. in den mindestens 13 Kommentaren des 12. Jahrhunderts zu Boethius' De dijferentiis topicis - auch nach der Einfuhrung der Topica des Aristoteles als Unterrichtstext in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts weiterhin die bestimmende Lehre - zum Ausdruck kommt. Näher untersucht wurden hier unter anderem der ontologische Status der Differenzen und die Funktion der Maximen. Hinsichtlich des Status der Differenzen diskutierte man, ob es sich um sprachliche Entitäten (voces), Teile der außersprachlichen Wirklichkeit (res) oder Relationen im Sinne eines sog. topischen Verhältnisses (habitudo localis) handelt, wie es durch jede Differenz (z.B. Definition/Definiertes) ausgedrückt wird. Bezüglich der Funktion der Maximen

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wurde untersucht, ob diese als innerhalb der zu sichernden Argumentation, d.h. als Bestandteil bzw. Prämisse, oder als außerhalb der Argumentation, d.h. als Regel oder metasprachliche Aussage, angesehen werden können. Im 13. Jahrhundert wurde die aristotelische Syllogistik maßgeblich als fundamentale Schlusslehre eingestuft - bei gleichzeitiger deutlicher Trennung vom Beweis ( demonstratio ) und der epistemologisch zweitrangigen Topik. Die Phase des Ubergangs zum 14. Jahrhundert ist geprägt von einem Nachlassen dieser Aristoteles-Orientierung und einer Annäherung von demonstratio und Topik bzw. Dialektik, wobei man versuchte, einerseits kategorische Syllogismen auf topische Verhältnisse und andererseits topische Argumentationen auf syllogistische Modi zurückzufuhren. Im 14. Jahrhundert schließlich verlagert sich das Interesse vom kategorischen Syllogismus und vom topischen Verhältnis auf die Lehre der Schlussfolgerungen {consequentiae), die dann syllogistische und nicht-syllogistische Schlüsse umfasst. Hiermit tritt auch die boethianische Topik in ihrer Bedeutung zurück. Gleichwohl bleiben Bezugnahmen auf die logischen Schriften des Boethius in der Spätscholastik üblich und verbreitet, etwa in der Logica Magna des Paulus Venetus (ca. 1370-1429), die als Summe der Logik des 14. Jahrhunderts gelten kann. Die Tatsache, dass die Logik im Mittelalter eine besondere Blütezeit hatte und ihr Sonderstatus durch die auszeichnende Bestimmung einer ars artium oder scienta scientiarum betont wurde, ist auch dem richtungsweisenden Beitrag zu verdanken, den Boethius zu dieser Disziplin leistete. Wenn die mittelalterliche Logik sich als ein autonomes Gebiet von herausragender Bedeutung entwickeln und behaupten konnte, so liegt das nicht zuletzt an der Stellung, die Boethius ihr gegeben hatte.

Auswahlbibliographie I. W E R K E D E S B O E T H I U S

Übersetzungen: Isagoge Porphyrii, hg. L. Minio-Paluello, Bruges-Paris 1966 (Aristoteles Latinus I, 6-7) 1-31. Liber Aristotelis de d e c e m praedicamentis, hg. L. Minio-Paluello, Bruges-Paris 1961 (Aristoteles Latinus I, 1-5) 1-41. Liber Periermenias Aristotelis, hg. L. Minio-Paluello, Bruges-Paris 1965 (Aristoteles Latinus II, 1-2) 1-38.

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Axel Bühler und Christoph Kann

Priorum Analyticorum Aristotelis libri, hg. Minio-Paluello, Bruges-Paris 1962 (Aristoteles Latinus III, 1-4) 1-191. Topicorum Aristotelis libri, hg. L. Minio-Paluello, Bruxelles-Paris 1969 (Aristoteles Latinus V, 1-3) 1-179. De Sophisticis Elenchis Aristotelis, hg. B.G. Dod, Bruxelles-Leiden 1975 (Aristoteles Latinus VI, 1-3) 1-60. Kommentare. In Isagogen Porphyrii (ed. prima, ed. secunda), hg. G. Schepss/S. Brandt, Wien/Leipzig 1906 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 48). In Categorias Aristotelis (ed. prima), Migne Patrologia Latina (=MPL) 64, 159-294. In Aristotelis De Interpretatione (ed. prima, ed. secunda), hg. C. Meiser, Leipzig 1877/80. In Ciceronis Topica, hg.J.C. Orelli/J.G. Baiter, Zürich 1833 (in: M. Tulli Ciceronis opera quae supersunt omnia, Bd. V, 1, 269-395). Schrtßen zur Logik: De divisione, Migne Patrologia Latina (=MPL) 64, 875-892. Introductio ad Syllogismos categoricos, Migne Patrologia Latina (=MPL) 64, 761-794. De syllogismo categorico, Migne Patrologia Latina (=MPL) 64, 793-832. De syllogismis hypotheticis, hg. L. Obertello, Brescia 1969. De differentiis topicis, Migne Patrologia Latina (=MPL) 64, 1173-1216. Andere Schriften: De consolatione Philosophiae, hg. L. Bieler, Turnhout 1984 (2. Aufl.) (Corpus Christianorum Latinorum 94). Institutio arithmetica, hg.J.-Y. Guillaumin, Paris 1995. De institutione musica, hg. G. Friedlein, Leipzig 1867 (Nachdr. Frankfürt 1966). Opuscula sacra, hg. H.F. Stewart/E.K. Rand/SJ. Tester, Cambridge, Mass./London 1973.

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Schupp, Franz: Geschichte der Philosophie im Überblick, Bd. 2, Hamburg 2003. Smith, Robin: „Logic", in Jonathan Barnes (Hg.): The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge 1995, 27-65. Theodericiana primum ab Henrico Valesio edita, in: König, Ingemar: AusderZeit Theoderichs des Großen. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar einer anonymen Quelle, Darmstadt 1997, 69-95. Zu Boethius und seiner Logik. Chadwick, Henry: Boethius. The Consolations of Music, Logic, Theology and Philosophy, Oxford 1981. Dürr, Karl: The Propositional Logic of Boethius, Amsterdam 1951. Fuhrmann, Manfred/Gruber, Joachim (Hg.): Boethius (Wege der Forschung, Bd. 483), Darmstadt 1984. Gibson, Margaret (Hg.): Boethius. His Life, Thought and Influence, Oxford 1981. Marenbon, John: Boethius, Oxford 2003. Schupp, Franz: Vorwort und Einleitung in: Abbo von Fleury: Desyllogismishypotheticis, textkrit. herausgegeben, übers., eingeleitet und kommentiert von Franz Schupp, Leiden 1997, bes. V-X; XXXI-LVI. Stump, Eleonore: Boethius's,De topicis differentiis', Ithaca/London 1978.

Anicius Manlius Severinus Boethius (ca. 480-524/526 n. Chr.) Teil II: Uber die Musik (De Institutione musica)

VON D I E T E R G U T K N E C H T

Es stellt keinerlei Übertreibung dar, wenn man Boethius als den Musiktheoretiker bezeichnet, der wie kein zweiter im Verlaufe der Musikgeschichte über mehr als ein Jahrtausend Bedeutsamkeit und Beachtung gefunden, in einer Art und Weise gewirkt hat wie kein anderer in der genannten Zeit und nachher. Sein „Ruhm" setzt, aus welchen Gründen auch immer, erst in karolingischer Zeit, also im 9. Jahrhundert ein - demnach 300-400 Jahre nach Fertigstellung seiner zentralen Arbeit über die Musik De institutione musica, die wohl im Jahr 500 erschien. Von der karolingischen Renaissance (Mitte 9. Jahrhundert) an erinnerten sich einige Gelehrte seiner Schriften. Nach dieser Wiederentdeckung setzten sich in der Folge ungezählte Theoretiker mit seinem musikalischen Hauptwerk, aber auch mit den auf die Musik bezogenen Gedanken in seinen anderen Veröffentlichungen bis ins 18. Jahrhundert hinein auseinander. Die Institutio musica, die bis ins 12./13. Jahrhundert gewissermaßen als ausschließliche musiktheoretische Lektüre und Diskussionsgrundlage galt, erfuhr später immer noch eine erwähnenswerte Würdigung. Man könnte nun Vermutungen darüber anstellen, weshalb Boethius nicht zu seinen Lebzeiten, sondern erst im 9. Jahrhundert die überragende Anerkennung erhielt. Eine mögliche Erklärung könnte in dem Umstand liegen, dass die Überlieferung seiner Werke in vorkarolingischer Zeit unterbrochen war, sei es, weil der Traktat verschollen war, sei es aus dem Grunde, dass man ihn und ihren Autor einfach vergessen hatte. Aus dieser Zeit sind uns auch keinerlei Nachrichten über Boethius überliefert, sein Zeitgenosse Cassiodor (490-580) war der letzte, der von ihm berichtete. Umso erstaunlicher ist daher die schlagartig einsetzende Wiederentdeckung in karolingischer Zeit, die durch Aurelianus Reomensis (9. Jahrhundert) angestoßen wurde, wenn er einerseits das eifrige Lesen des hochgelehrten Boethius empfiehlt (Gerbert, S I 41/b 11), andererseits damit beginnt, was nach ihm Jahrhunderte lang in Gebrauch bleiben sollte: er entlehnt Sätze, verändert,

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formuliert um, ja schreibt ganze Passagen vom verehrten Vorbild ab (aus De institutione arithmetica II 48, aus De institutione musica 1,2,4,7,10,34). Diese Praxis setzt sich bei ungezählten Theoretikern bis zur kompletten Kopie bei Hieronymus de Moravia im 13. Jahrhundert fort. Eine ungeheuere Flut von Abschriften mit mehr oder weniger Veränderungen des Originals setzt ein, so dass ein unverletztes Corpus der ursprünglichen Fassung durch Rückverfolgung wohl nur schwerlich zu erstellen ist. Der eigentliche Grund für die einsetzende Boethius-Renaissance in karolingischer Zeit dürfte im Lehrcharakter der Schriften liegen, wodurch sie schnell zur Grundlage eines in dieser Zeit nach antikem Vorbild etablierten Bildungskanons avancierten. Daraus ließe sich rückfolgern, dass dieser Ansatz in den vorherigen Jahrhunderten und selbst zu Lebzeiten von Boethius nicht hauptsächlich gegeben war, man in den fünf Büchern über die Musik lediglich ein Kompendium antiken Gedankenguts sah, das zu erhalten sich lohnte, aber zur eigentlichen „zeitgenössischen" Musik antiquiert wirkte. (Nach Meinung einiger Musikforscher wäre es vielleicht exakter von „Musiktheorie" [Hentschel, S. 7/178, Krischer, S. 211] zu reden anstatt von „Musik", aber die Institutio enthält auch andere Aspekte, so dass „Musik" als Terminus allgemein verstanden umfassender erscheint). Und es ist auffallend, dass Boethius die Musik seiner Zeit unbeachtet ließ, nämlich die hauptsächlich liturgisch-einstimmige Musik, die wir heute als „Gregorianischen Choral" zu bezeichnen uns gewöhnt haben. Es war auch wohl überhaupt nicht seine Absicht, darüber zu reflektieren, denn ihm ging es um die Betrachtung der Musik als „scientia", wie sie ungefähr hundert Jahre vor ihm Aurelius Augustinus (354-430) in guter antiker Tradition in seiner Betrachtung „De musica" (387-389) bereits vorgegeben hatte. Damit ist gemeint, dass Musik nicht von allen „Gelehrten" als klangliches Ereignis betrachtet wurde. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen standen die naturwissenschaftlichen Grundlagen, nämlich z. B. die durch Zahlen darstellbaren Verhältnisse der Töne zueinander. Es ging vornehmlich um proportionale Verhältnisse, die sich im Vergleich der Töne untereinander Natur bedingt einstellen. Aus den Berechnungen ergaben sich die Klassifizierungen konsonanter und dissonanter Verhältnisse in der Musik, die nicht als nur der Musik zugrunde liegende Gesetzmäßigkeiten erkannt wurden. Uber den Einzelbereich der Musik hinaus vermutete man seit Pythagoras' Zeiten die umfassende Kongruenz gesamtkosmischer Ubereinstimmungen, was sich im utopischspekulativen Terminus „Sphärenharmonik" niederschlug. Diese Gesamtschau kosmischer Gesetzmäßigkeiten und ihre reale Darstellungsmöglichkeit und Nachvollziehbarkeit in der Musik gehört mit zu einem in allem waltenden

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„Harmonia"-Verständniss, das die wesentliche Grundlage einer Welt- und Kosmos-Sicht des antiken und mittelalterlich-christlichen Denkens darstellt. Von dieser wundervollen „Musik- oder kosmischen Welt-Sicht" handelt Boethius in seinen scheinbar ausschließlich naturwissenschaftlich-mathematischen Überlegungen, bei denen man bei der mühsamen Lektüre schnell vergessen könnte, dass es vornehmlich um den Gegenstand „Musik" geht. Aber seine Institutio musica beinhaltet weitere Aspekte einer Musikauffassung, die man im Gegensatz zu dem bisher Ausgeführten als „Boethius-originär" bezeichnen muss. Ich meine die Stellung der Musik in einem Bildungskanon von vier Fachern, obwohl bereits in der Antike vorgegeben, deren Anzahl man seit Boethius als Quadrivium bezeichnet, wobei in der festgelegten Reihenfolge von Arithmetik, Geometrie und Astronomie die Musik die zweite Stelle einnimmt. Übrigens stammt auch der Terminus - Quadrivium - von Boethius (De institutione arithmetica I, S. 7, 25 und S. 9,28 Ausg. Friedlein: Hoc igitur illud quadrivium est ... Dies also istjenes Quadrivium, in dem diejenigen voranschreiten müssen, deren herausragender Geist von den uns angeborenen Sinnen zu einer Erkenntnis von höherem Grade der Gewissheit gelangen soll). Mit diesen vier Disziplinen ist der naturwissenschaftlich-mathematische Bereich der Septem artes liberales bezeichnet, zu dem des weiteren Grammatik, Rhetorik und Dialektik hinzutreten, der der mittelalterlichen geistigen Erziehung ausschließlich zu Grunde lag. Und die Musik nimmt hierbei nach der Arithmetik die zweite oder zweitwichtigste Position ein, wobei betont werden muss, dass es sich nicht um die tönende Musik oder das Klangphänomen Musik handelt, sondern vielmehr um den Bereich innerhalb der Musiktheorie, der die auf Zahlen aufgebaute Proportionslehre umfasst. Von Boethius stammt ebenfalls eine Dreiteilung der Musik, wobei es sich eigentlich nicht um drei unterschiedliche Arten/Gattungen handelt, wie seit langem (Paul, S. 7) übersetzt wird, sondern um drei Bereiche, in denen Musik bzw. musikalische Gesetzmäßigkeit und Eigenart wirksam und erkennbar werden (Tres esse musicas; in quo de vi musicae - es bestehen drei Bereiche, in denen Musik wirksam ist, Inst. Mus. II, S. 187, 17). Diese drei Wirkungsbereiche der Musik, in denen einerseits die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der Musik, andererseits ihre Klanglichkeit beobachtet werden können, bezeichnet er adjektivisch als (Musica) mundana, humana und instrumentalis bzw quae in quibusdam constituta est instrumentis, ut in cithara vel tibiis ceterisque, quae cantilenae famulantur - (die Musik) des Kosmos, diejenige, die im Menschen wirksam ist und (Musik), „die auf bestimmten Instrumen-

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ten ausgeführt wird, wie Kithara oder Tibien, also auf Melodieinstrumenten" (Inst. Mus. II, S. 187, 20fl> All das bisher Gesagte könnte als überblicksartige Erläuterung des boethianischen Musikbegriffs gelten. Natürlich müssen zu allen Detailbereichen ausführliche Erläuterungen und Beispiele beigebracht werden. Dies soll in der Reihenfolge der 5 „Bücher" (Kapitel) geschehen, weil sich durch dieses Vorgehen meiner Ansicht nach schon eine von Boethius beabsichtigte Hierarchisierung erkennen lässt, woraus man vielleicht einfacher ein detailliertes Bild seiner Musikauffassung erkennen kann.

I Das erste Buch der boethianischen Institutio musica enthält insgesamt 15 Kapitel, denen ein Proemium vorangeht, dessen Inhalt davon berichtet, dass jeder Mensch irgendwie mit der Musik in Berührung steht. Dann folgt ein Gedanke, der aus der platonisch-aristotelischen „Musik-Ästhetik" herrührt: Musik hat die Macht, die Menschen sittlich zu veredeln (honestare), aber auch zu vernichten [evertere). Hier knüpft Boethius an die utopische Ansicht Piatons an, dass bestimmte Tonarten positiv pädagogisch eingesetzt werden können (z. B. Politeia III, 398 d-e, 399 a-e) - oder aber negative Wirkungen zeigen. Anders ausgedrückt und verallgemeinert: von der Musik geht auf Menschen eine bestimmte Wirkung aus, die durchaus dazu angetan ist, Stimmungen, Gefühle zu ändern, eine Tatsache, die an die alttestamentarische Episode David - Saul erinnern mag. Hiernach kann Boethius konstatieren, dass Musik im Unterschied zu den vier mathematischen Wissenschaften (quattuor mattheseos disciplinac, natürlich zählt Boethius die Musik ebenfalls zu ihnen) folgendes Charakteristikum hat, das ausschließlich über das Gehör aufgenommen und erkannt wird („das für die Seele Lehrreichste erfahrt sie über das Hören" Nulla enim magis ad animum disciplinis via quam auribuspatei): ist den vier mathematischen Disziplinen das Streben nach der Wahrheitserkenntnis gemeinsam, so wirkt die Musik darüber hinaus in Beziehung auf den Charakter (erste Bedeutung der moralitas) durch das Empfinden und Gefühl (Inst. Mus. I, 1,28). Da Boethius nun diese Eigenart der Musik dargestellt hat, geht er sofort mit Piaton einen entscheidenden Schritt in der Charakterisierung der Musik weiter. Da alle Menschen, gleichgültig welchen Alters, durch Musik in so umfassender Weise ergriffen werden können, muss die „Weltseele" in gleicher Harmonie gestaltet sein wie die Musik (mundi animam musica convenientia fuisse

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coniunctam, Inst. Mus. I, S. 180, 5). Boethius bezieht sich auf die berühmte Stelle aus Piatons Timaios 36e-37c: Und der Körper des Himmels ward ein sichtbarer, die Seele aber ward unsichtbar, doch des Denkens und der Harmonie teilhaftig, indem der Beste aller mit der Vernunft eifassbaren und immer seienden Dinge sie zum besten aller erschaffenen Dinge werden ließ (Piaton, Timaios, 37a, Ubersetzung Fr. Schleiermacher). Mit dieser von Piaton vor gedachten Hypothese reiht sich Boethius in die in der Antike entstandene Vorstellungs-Tradition ein, nach der der gesamte Schöpfungsplan, um es in christlicher Vorstellung auszudrücken, nach einer alles durchwaltenden HARMONIA gestaltet wurde, die in mathematisch-naturwissenschaftlicher Grundlegung erkenn- und klanglicher Wirkung in der Musik erfahrbar vom Weltenschöpfer eingerichtet wurde. Im folgenden referiert Boethius traditionelles griechisches Gedankengut beispielsweise von Pythagoras, Piaton, Terpander, Arion bis Hypokrates und noch weit mehr „Zeugen" von der Wirksamkeit der unterschiedlichen Modi (modern würde man „Tonarten" sagen) der Musik in „privaten" und „öffentlichen" Bereichen wie z.B. der Nutzbarmachung einiger für die Erziehung der Jugend, aber auch der gesamten Bürger in einem „Idealstaat". Gerade dieser Gedanke, der Musik als Ethospolitikon, mag uns heute befremden, da diese Auffassung doch recht utopisch anmutet und von einer für uns kaum vorstellbaren Fähigkeit der Musik ausgeht. Aber auch diese z. T. weitschweifigen Beispiele der Wirkung der Musik auf den Menschen dienen lediglich dazu zu belegen, dass die Musik von Natur aus im menschlichen Wesen vorhanden ist (ita nobis musicam naturaliter esse coniunctam). Das bedeutet für Boethius, dass dieses Phänomen wissenschaftlich erforscht werden muss, wodurch er sich mehr den naturgesetzlichen Grundlagen als den psychologischen Wirkungen der Musik zuwendet. Hierauf lässt Boethius die bereits angesprochene Dreiteilung der Musik folgen, nämlich in eine música mundana, humana und eine, „die durch Instrumente ausgeführt wird" {constituía est instrumentis). In der folgenden Erläuterung der música mundana, der Musik der Sphären, die durch die Bewegung der Planeten im Weltall entsteht, sagt Boethius, dass sie zwar nicht hörbar ist, aber trotzdem existent, da sich eine so große „Maschinerie" nicht geräuschlos bewegen kann. Und die Gestirne erzeugen durch ihre Bewegung nicht nur ein Geräusch, sondern ein „harmonisches" Klanggefüge, da sie sich in ihrem Lauf nach einer harmonischen Ordnung bewegen (cum tanta coaptione = mit großer genauer Zusammenfügung als lat. Übersetzung des griechischen harmonía). Und da einige Lauf-Bahnen der Planeten höher, ande-

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re tiefer angenommen werden, entstünden auf diese Weise auch höhere und tiefere Töne, alles aber in einer solchen zusammenhängenden harmonischen Ordnung, in der keinerlei Störung möglich ist. Der gesamte Weltenplan wird als harmonisch gestalteter Gesamtkörper verstanden, in dem die festen Himmelskörper, aber auch die Elemente und die zeitlichen Abläufe, wie die Jahreszeiten, der großen Einheit genügen. Und alles zusammen klingt wie ein großer harmonischer „Akkord". Boethius veranschaulicht diese große Weltenharmonie, die durch das kleinste störende Element vernichtet werden kann, wiederum an einem musikalischen Bild: die Tiefe des Klanges überschreitet nicht den Umfang der menschlichen Stimme bis zum Schweigen (taciturnitas) und geht zur Höhe hin nicht so weit, dass die höchste Saite beim Stimmen reißen würde. Es ist alles so gefügt - was auch an der Musik des Weltalls abzulesen sei -, dass es maßvoll geregelt abläuft. Der Abschnitt, der die Erläuterung der musica humana enthält, beginnt scheinbar lapidar: Boethius meint, um diese zu erkennen, braucht man nur in sich selbst hinein zu hören - eigentlich: „in sich selbst hinab zu steigen" (.Humanam vero musicam quisquis in sese ipsum descendit intelligii). Tut man dies, erkennt man dieselbe Harmonie im menschlichen Körper walten, nämlich das Verhältnis der einzelnen Seelenteile untereinander - eine Vorstellung, die er von Piaton (Timaios, 35a) und, wie er selbst angibt, von Aristoteles übernahm - und von der Seele zum Körper insgesamt. Der dritte Bereich meint die Instrumentalmusik, die Musik in moderner Terminologie würde man sagen: Musik der Chordophone, Aerophone und Membranophone (Percussions-Instrumente) usw.. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Boethius auch ausdrücklich die Musik der Instrumente erwähnt, die durch Wasser betrieben werden wie die Wasserorgel (quae ad aquam moventur). Dieser Musikbereich wird am kürzesten behandelt, sicherlich auch deswegen, weil ein jeder Leser diese aus eigener Erfahrung kennt. Die boethianische Einteilung hatte im Mittelalter langen Bestand. In einer Abschrift der Institutio musica mit Glossen und Kommentaren, um 1200 wahrscheinlich in Südfrankreich entstanden (Smits van Waesberghe, S. 148), findet man die originäre Klassifikation in folgender kommentierender Form: Musica mundana - Consonantia coeli et planetarum (Harmonie der Sphären); Consonantia elementorum (Feuer, Wasser, Luft, Erde); Consonantia temporum (Jahreszeiten); Musica humana - Consonantia partium animae [Harmonisches Zusammenklingen der drei (nach Piaton) Seelenteile]; Consonantia partium id est elementorum corporis (Zusammenklang, Harmonie der Körperteile); Con-

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sonantia animae et corporis (Harmonie von Seele und Körper); Musica instrumentorum - In intensione [Saiteninstrumente, die „gespannte" (intensio) Saiten haben]; In spiritu (Blasinstrumente); In percussione (Schlaginstrumente). Es fallt die konsequent beibehaltene Gliederung in jeweils drei unterschiedliche Charakteristika auf, ein typisch mittelalterlicher Hinweis auf die Trinitas Gottes den Weltenschöpfer, von dem alles in dieser „harmonischen" Weise angelegt worden ist. Nach dieser grundlegenden Klassifizierung seines Musikbegriffs wendet sich Boethius im dritten Kapitel „Den Stimmen und den Elementen der Musik" zu {De vocibus ac de musicae elementis). Zu Beginn steht die Definition des Konsonanz- oder Harmoniebegriffs in der Musik, der für die Interpretation der boethianischen Auffassung von besonderem Interesse ist: „Die Konsonanz (Harmonie), die das gesamte proportionale Maß (modulatio) der Musik lenkt {regit), kann außerhalb des Klanges nicht entstehen ißert)". Demnach versteht er „Musik" - und das wohl zu aller erst als auf der mathematisch-nachvollziehbaren und darstellbaren Basis gegründet, aber dann auch als klangliches Phänomen, da im Klingen die Proportionen sinnlich wahrgenommen werden. Was nun folgt, ist eine Definition des Tones, der nach alter Lehre - nach Wille lateinische Grammatiker, besonders Varro (Wille, S. 663) - stets einen Schlag voraussetzt, dieser wiederum eine körperliche Bewegung. In dieser TonErklärung folgt Boethius des weiteren Nikomachos (um 100 n. Chr), seinem Gewährsmann in fast sämtlichen physikalisch-musikalischen Grundfragen. Der Klang entsteht nach ihm allein durch Bewegung, was unmittelbar an die Vorstellungen der „Weltharmonie" anschließt, und gelangt als „unaufgelöster Stoß der Luft an das menschliche Gehör" (percussio aeris indissoluta usque ad auditurri). Die Bewegungen, die er alsbald als Schwingungen sei es der Luft oder einer Saite deutet, sind es letztendlich auch, die über die Tonhöhe entscheiden: eine langsamere erzeugt einen tiefen, eine schnellere einen hohen Ton. Aber auch die Häufigkeit spielt nach Boethius eine Rolle, da wenige langsame Bewegungen zu den tiefen und viele schnellere zu den hohen Tönen fuhren, was er an einer schlaff- und straff gespannten Saite verdeutlicht. Dass man trotz der vielen Saiten- oder Luft-Schwingungen nur einen Ton hören kann, erklärt Boethius mit dem schönen Bild des mit roten Streifen bemalten Kreisels, der in der Schnelligkeit der Umdrehung wie farblich einheitlich aussieht. Nach dieser Darstellung beginnt Boethius, nachdem er erläuterte, dass durch Addition der tiefen Klänge die höheren entstehen - und umgekehrt eben eine numerische Differenz in den Schwingungen der einzelnen Töne zwi-

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sehen Tiefe und Höhe festzustellen ist, diese einzelnen TondifFerenzen zahlhaft zu betrachten, um festzustellen, welche Zahlen (Töne) sich durch Gleichheit oder Ungleichheit zueinander auszeichnen. Man kann sich das Gesagte an den einzelnen Tönen der Naturtonreihe (ein Glockenton z.B. ist zusammengesetzt aus den Intervallen der Oktav (1:2), der Quinte (2:3), der Quarte (3:4) usw.) vergegenwärtigen, wenn man die Töne durchnummeriert. Man erhält auf diese Weise gerade und ungerade Zahlen. Um diese Verhältnisse untereinander geht es nun Boethius im verbleibenden Teil seiner Institutio musica. Denn auf diese Weise erkennt man, durch Zahlen ausgedrückt, konsonante oder dissonante Klangverhältnisse, die es zu erforschen galt. Den Schluss des Kapitels findet man in kaum verständlicher Ubersetzung des Konsonanz-Begriffs ((Paul, S. 10; Wille, S. 664), was an dem schwer zu deutenden Original liegt. Konsonanz (Harmonia) ist zwar „das einheitliche Zusammenstimmen unter sich verschiedener Töne" (Wille, S.664.. .consonantia dissimilium interse vocum in unum redacta concordia), was der allgemeinen Definition des „Harmonia"-Begriffs entspricht. Aber nur wenige verschiedene Töne (oder Proportionen), wie wir sehen werden, wurden tatsächlich toleriert, da nur eine bestimmte Anzahl als konsonant galt. Die Schwerverständlichkeit entsteht durch die Negativ-Definition derjenigen Proportionen bei Boethius, die keine Konsonanz (Harmonie) sein können: „Aber in den Stimmen, die durch keinerlei Ungleichheit disharmonieren, besteht überhaupt keine Konsonanz" (Sed in his voeibus, quae nulla inaequalitate discordant, nulla omnino consonantia est), was ins Positive gekehrt und auf dem Hintergrund der „Harmonie"-Definition deutlich wird: Harmonie ist der Ausgleich von zwei Ungleichheiten. Boethius gibt zunächst Definitionen von Ton, Intervall und Harmonie. Die Definition des Tones erscheint in den Ubersetzungen unterschiedlich. Während Paul (Paul, S.13) ihn als den „Fall der Stimme, wie er für den Gesang passend ist, auf eine einzige Tonhöhe" übersetzend definiert, schreibt Wille (Wille, S. 665): er sei der „emmelische, d.h. zur Mitwirkung an einer Melodie brauchbare, Fall der Stimme in eine einheitliche Spannung" {Sonus igiturest vocis casus emmeles, id est aptus melo, in unarn intensionem). Boethius schränkt die Definition des Tones dadurch ein, dass er nur den beschreiben möchte, der im griechischen phthoggos heißt, der beim Sprechen phtheggesthai genannt wird. Also meint er wohl den Einzelton, der Bestandteil einer gesungenen Melodie ist, wobei eine gesungene Melodie wie das artikulierte Sprechen nur dann klingen, wenn man - so heißt es im heutigen Gesangsunterricht die Stimme „stützt", womit eine Spannung (intensio) angesprochen wird, die sowohl

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Sprech- wie Sington voll erklingen lässt. Dieser Klang kann auf allen der menschlichen Stimme erreichbaren Tonhöhen produziert werden, wie man ihn zur Gestaltung von melodischen Verläufen benötigt. Aber die Definition könnte noch eine weitere Nuance besitzen. Man spricht in der Musik von „Spannungsbogen", also von einem agogischen Charakteristikum, das einer Melodie oder ihre Teilen inne wohnt. Ahnlich verhält es sich auch beim gestalteten Sprechen. Das Intervall wird nach Nikomachos (Wille, S. 665) als Abstand zwischen einem hohen und einem tiefen Ton definiert. Eine Konsonanz ist die angenehme klangliche Mischung eines hohen mit einem tieferen Ton, wohingegen Dissonanz als unangenehmes Zusammenprallen zweier miteinander vermischter beschrieben wird (duorum sonorum permixtorum iniucunda percussio Inst. Mus. 1,8, S. 195), aber nicht zusammen passender T ö n e (Klänge) - im harmonischen Sinne der Konsonanz! Die Kontrolle über kon- und dissonante Klänge vollzog sich allein über die akustische Wahrnehmung und die psychologische Bewertung. Aber im unmittelbar anschließenden Kapitel IX fordert Boethius, dass mehr der ratio als dem sensus zu folgen sei, da das Gehör leicht getäuscht werden kann, aber die durch das mathematische Darstellen gewonnenen Ergebnisse stets zweifelsfrei zu nennen seien, wenn sie denn logisch exakt durchgeführt werden. Wie Pythagoras schlägt Boethius für den passabelsten Weg eine Kombination von beidem vor: mathematische Berechnung kombiniert mit Uberprüfung durch das Ohr. Ab Kapitel X beruft sich Boethius fast ausschließlich auf die rationale Methode des Pythagoras, wenn es darum geht, Musik als akustisch-naturwissenschaftliches Phänomen zu betrachten (was wir heute in der musikwissenschaftlichen Unterscheidung der Disziplin der Systematik zurechnen würden). Hier folgt nun der berühmte „Schmiedemythos" des Pythagoras- vor Boethius bereits von Varro, Censorinus, Chalcidius und Macrobius erwähnt-, der in Erzählungen und bildlichen Darstellungen bis weit ins 17. Jahrhundert lebendig blieb. Hiernach soll Pythagoras „auf göttlichen Wink" {cum divino nutu, Inst. Mus. I, 10, 5, S. 197) an einer Schmiede vorbeigekommen sein und gehört haben, dass aus den verschiedenen Hammerschlägen ein konsonanter Zusammenklang (Lex. Mus. Lat. Med. aevi, Sp. 595), also ein „Wohlklang" entstand. Zunächst nahm er an, die verschiedenen Hammertöne entstünden durch das unterschiedlich kräftige Schlagen der Schmiede auf den Amboss. Diese Vermutung verwarf er und erkannte, dass die unterschiedlichen T ö n e durch die verschiedenen Gewichte der Hämmer entstanden. Durch Wiegen erhielt das

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Ergebnis, dass von den fünf Hämmern einer das doppelte Gewicht eines anderen hatte und diese somit in der Oktave (1:2) erklangen, von diesen ertönte derjenige, der das doppelte Gewicht hatte, mit einem anderen in der Sesquiterz, also in der Quarte (3:4) und wiederum zu einem anderen in der Proportio sesqualtera, also in der Quinte (2:3). Die beiden Hämmer, die in der doppelten Quarte und Quinte standen, bildeten im Zusammenklang eine Sesquioctave, die Proportion 8:9, was den „ominösen" Ganzton ergibt, der in der klassischen Antike bis einschließlich Boethius und darüber hinaus nicht in zwei gleiche Teile zerlegt werden konnte, wovon noch zu sprechen sein wird. Den fünften Hammer schied Pythagoras nach der Sage jedoch aus, da er mit den anderen keinen konsonanten Zusammenklang ergab. Es ist des öfteren angemerkt worden, dass Boethius zwar den Ganzton aus den Proportionen ableitet, ihn jedoch als Konsonanz nicht gelten lässt (Wille, S. 666). Der Grund mag vielleicht darin gesehen werden, dass er diesen für seine späteren Berechnungen benötigt, weshalb er ihn in diesem Zusammenhang zwar ableitet, ihn aber sofort wieder aussortiert. Als Konsonanzen lässt Boethius somit nur die Oktave (1:2), Quinte (2:3) und Quarte (3:4) gelten, deren „Gewichte", um im Schmiedebild zu bleiben, er durch folgende Zahlen ausdrückt: 12, 9, 8, 6. Diese Tetraktys (Vierzahl-Folge) enthält die Oktave 12:6=1:2,12:9 und 8:6=4:3 ergeben die Quarte und 9:6 und 12:8=2:3 die Quinte und die verbleibende Proportion 9:8 ergab den Ganzton. Boethius berichtet nun weiter, wie Pythagoras nach Hause zurückgekehrt die Gewichte der unterschiedlichen Hämmer proportional auf Saiten, ebenso auf unterschiedlich lange Rohrpfeifen (calamus) übertrug. Aber auch seine Versuche mit Gefäßen wie Trink- und Essigbechern und unterschiedlich langen und dicken Saiten verfestigten seine ursprünglichen Beobachtungen bzw. Ergebnisse. Nach Barbara Münxelhaus beruht diese schöne Legende jedoch auf einem physikalischen Irrtum (Münxelhaus, S. 37: „Die für die Schmiedehämmer genannten Relationen stimmen zwar für die Verhältnisse von Saitenlängen, nicht aber für die Proportionen der spannenden Gewichte und der Körpermasse der Hämmer. Für sie müssten jeweils die Quadratzahlen stehen: um die Schwingungszahl auf das 2 3-, 4-fache zu erhöhen, müssen die spannenden Gewichte auf das 4-, 9-, 16-fache gebracht werden"), was Anfang des 17. Jahrhunderts Marin Mersenne (Harmonie universelle, 1636, Nachdruck Paris 1963 III, S. 25) bereits nachwies (Möller, S. 185). Boethius folgt in der Nacherzählung der pythagoreischen Legende nicht streng seinem sichersten Gewährsmann Nikomachos, der noch weit mehr Ver-

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suche anstellte, aber letztlich vom Monochord ausging, diesem auch heute noch anzutreffenden Demonstrationsinstrument, auf dem man durch Verschieben des beweglichen Stegs oder leichtes Auflegen eines Fingers (so erzeugt der heutige Streichinstrumenten-Spieler die sog. natürlichen Flageolett-Töne) sämtliche proportionalen Verhältnisse rechnerisch exakt und zwar an der klingenden Saite demonstrieren kann. Das Monochord wurde in unzähligen Abbildungen (daneben auch mit Glocken und Orgelpfeifen, wie im gesamten Mittelalter dargestellt) bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zum Symbol pythagoreischer Erkenntnis nicht nur innerhalb der musikimmanenten „akustischen" Forschung, sondern auch zur Verdeutlichung musikalisch-kosmischer Übereinstimmungen [Fludd (1574-1637), 1617, Bd. I, S. 90; Gutknecht, Abb. 24, S. 108] verwendet. In der Folge fuhrt Boethius drei unterschiedliche Stimmtypen vor, die eigentlich drei verschiedene Weisen darstellen, mit der Stimme Töne/Klänge zu artikulieren. Die erste Art nennt er synechés {continuò), also stetig, andauernd. Damit bezeichnet er die normale Sprechstimme. Die Singstimme bezeichnet er als diastematiké. Diente die erstere ganz dem Wortinhalt, der Höhen und Tiefen, aber auch das Tempo des Vortrags bestimmt, so kam sie bei melodischer, „intervallartiger" Singweise ganz dem Ausdruck der Melodie oder des Tonstücks insgesamt zugute. Nach Albinus existiert noch eine dritte Art, die zwischen den beiden genannten liegt und die man als Sprechgesang im modernen Sinne des vokalen Vortrags - z. B. in Schönbergs „Pierro lunaire" - charakterisieren könnte. Sie wurde vor allem beim epischen Vortrag eingesetzt. An den griechischen Termini ist zu erkennen, dass Boethius auch hierbei Nikomachos zitiert, wie beim Folgenden, bei dem es um die Begrenzung des menschlichen Stimmumfangs geht. Die Sprech- und Singstimmen sind in ihrem Umfang unbegrenzt zu denken, jedoch werden sie durch die eingeschränkten Möglichkeiten der menschlichen Stimme (Höhe, Tiefe, Atemkapazität) nur innerhalb eines bestimmten Umfangs verwendbar. Des weiteren stellt Boethius dar, wie das Hören von Tönen/Klängen geschieht, wie der Schall sich ausbreitet. Hier benutzt er das Bild von dem Stein, der, ins Wasser geworfen immer, größere, weitere Kreise bildet. So geschieht es auch mit der Erschütterung der Luft. Beide sich ausbreitende Wellenkreise kommen, wenn sie nicht gebrochen werden, in größerer Entfernung zur Ruhe. Nach Wille (Wille, 669) existierte diese Vorstellung bereits vor Nikomachos in der pseudoaristotelischen Schrift „Uber das Hörbare", die Porphyrios überlieferte. Die Teilung des Ganztons untersucht er an der verdoppelten Proportion (von 9:8 zu 18:16, da zwischen 9:8 keine andere ganze Zahl liegt) eines solchen.

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Er bewies an der Ganzton-Proportion 18:16, dass 17 nicht die Mitte sein kann, weil in der 17 die Zahl 16 ganz enthalten ist und die „Einheit", nämlich die geradzahlige 16 plus den 16. Teil von ihr. Bei der Proportion 18:17 ist es aber nun so, dass die Zahl 18 zwar die Zahl 17 enthält, zusätzlich den 17. Teil von 17, der aber kleiner ist als der 16. Teil. Hieraus folgt, dass der Ganzton nicht in gleiche Teile geteilt werden kann, sondern lediglich in einen größeren und in einen kleineren Halbton (Willes Erklärung ist nicht nachvollziehbar, wenn er lediglich darlegt, dass 17:16 nicht die Mitte zwischen 16:16 und 18:16 ist! Wille 669). An einer neuen Tetraktys-Folge - 192,216,243 und 256 (sie ist lediglich ein Vielfaches der Tetraktys 6, 8,9,12) - stellt nun Boethius zahlenmäßig die unterschiedlichen Halbtöne dar, wobei es auch um die Errechnung des vollkommenen Halbtons geht (Kap. XVII).Aus diesen Berechnungen ergibt sich, dass die Proportion 192:256 die Quarte (Diatesseron 3:4), 216:192 den Ganzton (Sesquioctave 9:8), ebenso 243:216 ergibt. Die Proportion 256:243 weist als Differenz 13 auf. 13 mit 8 multipliziert ergibt aber nicht 243, es ist also der kleine Halbton, der das Verhältnis 256:243 aufweist. Bei den anderen Konsonanten weist Boethius nach, dass Diatesseron (Quarte) um einen Ganzton überschritten die Diapente (Quinte) entstehen lässt, und die Oktave (Diapason) aus fünf Ganztönen und zwei Halbtönen in unterschiedlicher Größe besteht, also nicht aus sechs Ganztönen gebildet sein kann. In den folgenden Kapiteln befasst sich Boethius mit der Geschichte der griechischen Instrumentalmusik. Im Mittelpunkt steht die Vermehrung der Saitenanzahl an der von Merkur und Orpheus erfundenen viersaitigen Leier (Kithara) bis hin zum Endstadium ihrer Entwicklung, in dem sie einen Umfang von wohl 11 Saiten oder Tönen aufweist, die einer bestimmten Ordnung in Tetrachorden (Vierton-Umfang) unterliegen. Bereits in der Antike erfolgte durch die zeitweilige Anzahl 7 der Kithara-Saiten die Parallelisierung mit der Sphärenharmonik (Kap. XXVII), Boethius spricht von einer „Kopie" (exemplar; Nikomachos). Der tiefste Ton - hypate meson - wurde dem Saturn zugeordnt, Parhypate dem Jupiter, Lichanos meson dem Mars, Mese der Sonne, Trite synemmenon der Venus, Paranete synemmenon dem Merkur, Nete als der höchste Ton dem Mond (Cicero vertrat die gegensätzliche Auffassung: äußerster Kreis=Fixsternhimmel höchster, innerster Mondkreis = tiefster Ton). Die den Planeten zugeordneten griechischen Termini (Tonnamen) sind von der Tiefe nach der Höhe steigend und umfassten zuletzt eine Summe von 15 Tönen: Proslambanomenos oder Prosmelodos, Hypate hypaton, Parhypate hypaton, Lichanos hypaton, Hypate meson, Parhypate meson, Lichanos

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meson, MESE, Paramese, Trite diezeugmenon, Paranete diezeugmenon, Nete diezeugmenon, Trite hyperbolaeon, Paranete hyperbolaeon, Nete hyperbolaeon. Das bedeutet eine bestimmte Abfolge von Ganz- und Halbtönen innerhalb von fünf Tetrachorden oder zwei Oktaven, nämlich der Tetrachorde hypaton, meson, diezeugmenon, synemmenon und hyperbolaeon. Hiernach referiert Boethius die drei griechischen Tongeschlechter, das diatonische, das als zu hart und zu natürlich, das chromatische, das als von dem Natürlichen abweichend, als weich und das enharmonische, das als schön und geschmackvoll verbunden charakterisiert wird. Eine diatonische Melodie weist in ihren Tetrachorden zwei Ganztöne und einen Halbton auf, eine chromatische (von chroma - Farbe) besteht aus fünf unterschiedlich großen Halbtönen (zwei und drei Halbtönen) und die enharmonische ist noch kleinteiliger, da sie aus einem Ditonus (Zweiton oder große Terz) und zwei Diesen bestehen, wobei eine Diesis die Hälfte eines Halbtons ausmacht. In die heutige Tonsprache übersetzt würde man z. B. sagen: diatonisch = d-e-fis-g; chromatisch = d-es-e-f-fis-g und enharmonisch = d-fis-zwei Vierteltöne bis g. Von den nun folgenden Kapiteln nimmt Wille (Wille, S. 673) an, dass sie ganz nach dem verlorenen Musik-Traktat des Nikomachos gebildet seien. Nochmals verweist Boethius in den verbleibenden Kapiteln des ersten Buches darauf, dass man eine Konsonanz zwar mit dem Ohr wahrnehmen kann, aber nur die Berechnung Klarheit verschafft. Dann geht er kurz auf das Zustandekommen der Konsonanz ein, wie es Piaton in seinem Timaios (80ab) darlegte. Der platonischen Beweisführung kann er jedoch nicht folgen, da dieser von einem anderen Harmonie-Begriff ausgeht, der aus einer Mischung des Ahnlichen besteht und nicht wie bei Nikomachos, woran sich Boethius anschließt, aus einer Zusammenfügung von Ungleichem. Im Kapitel XXXII fügt Boethius nach Nikomachos eine Reihenfolge der Konsonanzen auf, nach der an erster Stelle die Oktave steht, der Quinte und Quarte folgen. Im folgenden Kapitel resummiert Boethius das bisher Dargelegte und stellt fest, dass noch nicht alle Probleme hinreichend behandelt seien. Hierzu zählt er Unteilbarkeit des Ganztons, die überteiligen Proportionen, die Zusammensetzung der Quarte, die zwei Größen der Halbtöne, die Zusammensetzung der Quinte und der Oktave, die nicht aus sechs Ganztonschritten bestehen kann. All das will er in den Folgenden Büchern näher erläutern. Das letzte Kapitel des ersten Buches geht der berühmten Frage nach: Quid sit musicus, was ein wirklicher Musiker sei. Ähnlich wie Augustin (Wille, S. 677) hebt Boethius die Vorrangstellung des Wissens um die Musik gegenüber ihrer praktischen Ausführung hervor.

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Für Boethius gibt es danach drei Genera von Musikern: Instrumentalisten, Komponisten und diejenigen, die Vokal- und Instrumentalmusik richtig beurteilen (diiudicarej können. Also ist für Boethius - wie es abschließend heißt nur derjenige ein Musiker, der mit theoretischem Wissen über Tonarten, Rhythmus, Liedformen, die Klangmischungen, aber auch über poetische Texte, die vertont werden sollen, und sämtliche noch verbleibende theoretische Probleme der Musik urteilen kann. Eine solche Auffassung der Musik, auch in dem Verhältnis von Wissendem und Praktiker (Musicus und Cantor), wird das gesamte Mittelalter hindurch Bestand haben. Die beiden folgenden Bücher lösen das ein, was Boethius am Ende des ersten angekündigt hatte. Nochmals geht er auf alle im ersten Buch kurz angerissenen Phänomene ein, jetzt aber gründlicher und ausfuhrlicher. Er leitet das neue Buch mit einer kurzen Vorstellung des pythagoreischen PKilosophieansatzes ein. Er sieht in ihm den ersten Philosophen, der von der unveränderlichen Idee ausging und erkannt hat, dass diese in Verbindung mit der Körperwelt durchaus veränderlich oder wandelbar wird. So unterscheidet Boethius nach dessen Lehre vier Disziplinen, die er nach deren Wandelbarkeiten folgendermaßen anordnet:: das Forschungsgebiet der unbeweglichen Menge (inmobilis magnitudo) weist er der Geometrie zu, der beweglichen der Astronomie; das Gebiet der absoluten Vielheiten wird der Arithmetik zugerechnet discretae quantitatis arithmetica), die Kenntnis jedoch von den „relativen Vielheiten" (Wille, S. 678), die „Kenntnis der Beziehungen der einzelnen Größen zu einander" (Paul, S. 39) zeichnet die Musik aus. Nach dieser Klassifizierung wird deutlich, dass die Musik mit allen quadrivialen Disziplinen kommuniziert, da sie in sich z. T. all die Merkmale vereinigt, durch die die anderen einzeln charakterisiert sind. An dieser Stelle hat Boethius - und so geschieht es mit allen anderen im ersten Buch angesprochenen musikalisch-mathematischen Phänomenen exakt die unterschiedliche Größe der beiden Halbtöne errechnet.: 1944 : 2048 : 2187. Die Ganztonteilung (1944 : 2187) ist von besonderer Wichtigkeit, weil von ihr die Definition der anderen Intervalle in gewisser Weise abhängt, was Boethius im Folgenden an allen konsonanten Klängen verdeutlicht. Bereits an dieser Stelle verweist Wille (Wille, S. 682) darauf, dass Boethius sein Werk in pädagogischer Absicht geplant haben muss, was er vor allem an der Einlösung der am Ende des ersten Buches gemachten Versprechungen in den folgenden Büchern zu erkennen meint. Das Buch III wiederholt zum Teil die im vorherigen niedergelegten Beweise, sicher vor allem zur Rekapitulation, da Boethius nun beginnt, diese gegen

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die in den Schriften von Aristoxenos, Philolaos und Archytas gemachten z. T. gegenteiligen Beobachtungen zu verteidigen. Wesentlich ist noch eine terminologische Besonderheit, die von Pythagoras stammend von Boethius übernommen worden ist. Es geht um den Uberhang, den sechs Ganztöne bilden, die bekanntlich den Umfang einer Oktave überschreiten. Dieser Uberhang wurde Komma genannt, ein Terminus, der noch heute gebräuchlich ist. Das IV. Buch beginnt mit einem Repetitorium altgriechischer Akustik-Lehre (Eukleides), nach der ohne Bewegung und Schlag kein Schall entstehen und sich ausbreiten kann (Busch, S. 14: „Wenn irgendetwas gehört werden soll, müssen vorher Schlag und Bewegung entstanden sein"). Den größten Raum nimmt die Vorstellung des Monochords als Forschungsinstrument zur Darstellung von proportionalen Verhältnissen ein, was eine der klingenden Musik nahe Demonstration physikalisch akustischer Gesetze ergibt. Mit Hilfe dieses „Instruments", das aus einer gespannten Saite - manchmal über einem Resonanzkörper - mit einem beweglichen Steg besteht, lassen sich mannigfache Untersuchungen durchfuhren und gleichzeitig sichtbar und akustisch nachvollziehbar machen. Mit dem Steg kann man an die verschiedenen Positionen rücken, die bestimmte Saitenteilungen und damit Intervalle zu jeder Stegseite ergeben, wodurch Proportionen im Verhältnis von Gesamtsaite und Unterteilungen ablesbar werden. Die Skalierung erforderte eine genaue Bezeichnung nach den in der griechischen Antike üblichen Notenzeichen. Die jeweiligen Stufen wurden mit Zeichen versehen, die den griechischen Buchstaben des Alphabets nachgestaltet wurden, was Boethius eigentlich als antiquiert auffasst. Wille (Wille, S. 687) deutet dessen bewusstes Festhalten daran als eine Reverenz an die ehrwürdige Tradition. Aber Boethius „übersetzte" die Notenzeichen auch in lateinische Buchstaben, bestimmt um der Verbreitung seiner Schrift sicher sein zu können (Inst. Mus. IV, 3, S. 308 und besonders IV, 14, S. 337f). Durch die Kompliziertheit der drei Klanggeschlechter und das Vorkommen von mindestens drei Gattungen (bedingt durch die zwei unterschiedlichen großen Halbtöne) der Quarte und Quinte und den sieben der Oktave bedingt, erscheint das Notenzeichensystem für uns heute wenig übersichtlich. Aus den sieben Oktavgattungen bildet Boethius nun fälschlicherweise (Wille, S. 690) die Transpositionsskalen [in der Folge von Ganz- und Halbton auf allen Stufen (allen Lagen) gleich bleibende Tonfolge], die er ohne Unterscheidung als Modi, Tropi (Gesangsweise) und Toni bezeichnet. Er behandelt also Transpositionsskalen und Oktavgattungen (Tonfolgen mit

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wechselnder Anordnung der Tonschritte, wenn in anderer Lage musiziert wird) gleich. Nach Ptolemaios bezeichnet Boethius nun die sieben Modi - charakterisiert durch die Lage der Ganz- und Halbtöne - in der Weise, wie sie im gesamten Mittelalter Bestand haben sollten, allerdings nicht mehr auf dem Hintergrund der drei griechischen Tongeschlechter: Hypodorisch - die Hypo-Modi unterschreiten den Schlußton -, Hypophrygisch, Hypolydisch, Dorisch, Phrygisch, Lydisch und Mixolydisch. Das Hypomixolydisch fiigt Boethius nachträglich an, obwohl Ptolemaios diesen Modus als Wiederholung des Hypodorischen nicht beachtete (Inst. Mus. IV, 17, S. 343). Das V. Buch ist unvollständig überliefert, es fehlen die letzten elf Kapitel (19-30), die aber leicht rekonstruiert werden können, da Boethius insgesamt der Harmonik des Ptolemaios folgt. Weil Boethius expressis verbis keine eigene Musikdefinition liefert, halten einige Forscher (Wille, S. 691) dessen Harmonik-Erklärung für einen zwar nicht gleichwertigen, aber informativen Ersatz. Harmonische Regeln ergeben sich demnach durch die Berechnung von Differenzen der Töne/Klänge (Paul, S. 151; Inst. Mus. V, 3, S. 354; in quo rationis adhibito modo sonorum dijferentiae perquiruntur), worüber es unterschiedliche Ansichten unter den Gelehrten gibt. Nach den Pythagoräern könnte man nur den exakten Berechnungen trauen, wohingegen Aristoxenos meinte, der Verstand könnte nur Begleiter sein, da alles nach der Entscheidung des Gefühls (Gehörs) beurteilt werden müsste. Ptolemaios nimmt eine Stellung ein, die gewissermaßen als Synthese dieser beiden Ansichten angesehen werden kann, wenn er meint, dass sie zusammen Gehör und Berechnung - zur umfassenden Erkenntnis des harmonischen Befundes führen. Die intensive Anlehnung des Boethius an Ptolemaios ist zweifelsfrei. Mit dem Kapitel 19 bricht die Abhandlung des Boethius ab. Erhalten aber ist die Gesamtkonzeption in insgesamt 30 Kapitel durch ihre Überschriften, die zu Beginn des V. Buches wie eine Inhaltsangabe stehen (Inst. Mus. V, S. 350/351), und in der Vorgabe des Ptolemaios. Oscar Paul hat in seiner verdienstvollen, wiewohl heute in vielen Ubersetzungsdetails nicht mehr genügenden Übertragung ins Deutsche im Anhang den ptolemaiischen griechischen Originaltext der Harmonik (II, Kap. 5-11) angeführt und übersetzt, so dass auf diese Weise die Boethius-Schrift thematisch komplettiert ist. Die erhaltenen Überschriften machen noch einmal deutlich, dass Boethius dem Ptolemaios nicht blindlings folgte, sondern den vorgefundenen Stoff für sein Konzept umformte. Das ist das Ende der rekonstruierten Fassung. Die

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Überschriften, die Boethius wählte, machen eine andere thematische Schwerpunktsetzung deutlich. Boethius fuhrt in jeder Kapitelüberschrift den Namen Ptolemaios, zeigt aber an Einzelphänomen, was dieser in seinen genannten Kapiteln in größerem Zusammenhang behandelte. So untersuchte Boethius die Tetrachord-Teilungen, um die vergleichbaren überteiligen Verhältnisse herauszuarbeiten. Desweiteren befasste er sich u. a. mit der „Verwandlung gleicher in ungleiche Proportionen" (Wille, S. 696). Was mag Boethius bewogen haben, mit Ptolemaios' Schrift sein Lehrbuch griechisch antiker Musiktheorie zu beenden? Ist es nur die historische Folge oder auch Autorität, da Ptolemaios derjenige ist, der als letzter „großer" griechischer Musiktheoretiker (Geburt nach 83, Tod nach 161 n. Chr., Kraft, S. 420) die auctoritas besaß, die dazu angetan war, einen solchen Traktat ehrenvoll zu beenden? Es dürfte wohl noch etwas anderes sein, das deutlich werden wird, wenn wir die Institutio musica als Gesamtes betrachten.

II In der älteren Literatur machte sich verstärkt eine Tendenz breit, die Institutio musica des Boethius mehr unter dem von Leo Schrade vorgegebenen Aspekt des „propädeutischen Ethos" (Schrade, S. 35) zu interpretieren, worin ihm auch Wille folgt (Wille, S. 699). Mit zwei umfangreichen Essays bereicherte Schrade anfangs der dreißiger Jahre (1930 und 1932) die spärliche Sekundärliteratur zu Boethius, engte aber die Sicht auf ihn meiner Ansicht nach durch diesen Ansatz zu sehr ein. Vielleicht sah ihn Schrade so, weil die Institutio musica in den nachfolgenden Zeiten ungeheuere Verbreitung und fast ausschließliche Verwendung als „Lehrbuch" in Kathedralschulen, Klöstern oder Universitäten fand. Dreihundert, vierhundert Jahre nach seinem Tod erlangte Boethius' Schrift solche Bedeutung, die aber in keiner Weise der Institutio von Anfang an eingegeben war. Eine andere Sicht wäre ferner möglich, die den pädagogischen Aspekt aber nicht aus dem Auge verliert. Denn man muss sich doch fragen, weshalb Boethius eine „Musiktheorie" verfasst, die mit der real praktizierten Musik seiner Zeit in vielen Belangen nur noch die Nomenklatur, aber nicht mehr das Verständnis gemein hatte. Welchem Leser soll das „propädeutische Ethos" zugute gekommen sein, für wen schrieb Boethius eigentlich dieses Werk, darf gefragt werden? Es ist für ein solches „Lehrbuch" (noch) keine Musiker-Klientel vorhanden, da die Musik-Ausübenden eine andere Musiktheorie lernten. Die gleichzeitige

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sog. Gregorianik, der einstimmige liturgische Gesang (Choral) kannte als Bezeichnung seiner unterschiedlichen Modi die griechischen Landschaftsnamen, ebenso nach griechischer Musiktheorie die Umfangsbezeichnungen mit Unterschreitung des Schlußtons (hypo) oder als authenticus, aber die Tongeschlechter (diatonisch, chromatisch, enharmonisch) wurden nicht übernommen. Anders war es mit dem Aufkommen der Mehrstimmigkeit im neunten Jahrhundert, da nun die Konsonanz-, Dissonanzlehre, also die Regeln für das Zusammenklingen zweier Stimmen Bedeutsamkeit erhielten. Diese Tatsache mag auch ein Grund dafür gewesen sein, dass man sich erst zu dieser Zeit (karolingische Renaissance, beginnende Mehrstimmigkeit) wieder an Boethius erinnerte (Aurelianus Reomensis - Musica disciplina, Mitte 9. Jahrhundert) und von da an die Institutio zum wichtigsten Lehrwerk wurde. Es scheint nicht nur die von vornherein beabsichtigte pädagogische Zielsetzung gewesen zu sein, obwohl die Musik zum Kanon des Quadriviums gehört und vor der Musik die Institutio arithmetica verfasst wurde, die Boethius zur Darstellung der Institutio musica trieb. Der Traktat erscheint vielmehr darüber hinaus als ein modifiziertes Repertorium und Kompendium der gesamten griechischen Musiktheorie von den pythagoreischen Anfangen bis in die unmittelbare Gegenwart, was primär erst einmal eine prachtvolle Leistung ist, dann auch pädagogisch genutzt worden ist. Die Institutio musica ist hiernach eine viele Jahrhunderte umfassende Darstellung griechischer Musiktheorie, aber auch Musikauffassung, die Boethius in einen geschichtlichen Uberblick brachte, indem er sie nach den vorgegebenen Problemen ordnete und in die lateinische Sprache übersetzte (Aertsen, S. 309). Boethius ist derjenige, der die Kenntnis der antiken Theoretiker ins Mittelalter „exportierte". Ohne seine Arbeiten wäre das Wissen um die griechisch-antike Musik nicht so umfassend, ohne Boethius hätte die pythagoreische Stimmung, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht die jahrhundertlange Vorherrschaft durch das Mittelalter behaupten können (Walker, S. 84f). Sie wurde übrigens erst mit Aufkommen einer unabhängigen Instrumentalmusik im 14./15. Jahrhundert von einer Kompromisslösung, der sog. mitteltönigen Temperatur, abgelöst, die eine andere Verteilung des Komma-Uberhangs auf die Intervalle vorsieht. Die Erinnerung an Boethius' Schrift De institutione musica beginnt in den dreißiger Jahren des 9. Jahrhunderts einzusetzen (Möller, S. 168). Aus dieser Zeit stammen die ersten Abschriften (10 in Frankreich, eine in Freising), die mit Glossen (Erläuterungen) versehen wurden. Im 11. und 12. Jahrhundert nahmen

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diese Glossierungen in besonderem Maße zu, es erschienen daneben Kommentare ohne den originalen Text und Zusammenfassungen (Bernhard, Bower, Glossa maior in institutionem musicam Boethii, III, München 1993-1996). Nach Huglo, der den Einsatz der Institutio musica, die Verwendung als Lehrbuch in der mittelalterlichen Universität (hauptsächlich Paris) untersuchte, lässt sich ein rapides Ansteigen bis ins 12. Jahrhundert feststellen, dem dann ein noch stärkeres Abfallen bis zum 14. Jahrhundert folgt. Das Uberraschende mag sein, dass bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts eine wieder häufigere Beachtung zu beobachten ist, die aber bescheiden wirkt gegen die explosionsartige Beliebtheit des Macrobius (um 400), der durch seinen Kommentar zu Ciceros VI. Buch De re publica (Somnium Scipionis), in dem kosmologisches, astronomisches, mathematisches und musikalisches Wissen ausgebreitet wird, offensichtlich zu einem der am meist beachteten lateinischen Autoren im 12. und 15. Jahrhundert avancierte. Aber Macrobius wurde bald vergessen, Boethius wurde weiterhin zitiert, sei es, dass man ihn als den „Transporteur" der pythagoreischen Lehre anführte oder sich seiner im Zusammenhang mit der Einteilung der Musik erinnerte, wie es zu Beginn des 17. Jahrhunderts noch Robert Fludd tat, der in seinem großen enzyklopädischen Werk (Utriusque cosmi... HISTORIA, Oppenheim 1617) z. B. noch ein eigenes Kapitel über die musica mundana brachte (Fludd I, S. 78-106) und die Monochord-Lehre erneut zitierte. Auf die Konsonanz- bzw. Proportionslehre, wie sie bei Boethius überliefert ist, kommt zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch Kepler in seiner Harmonice mundi (Linz 1619) zurück, wenn er durch Kombination von Geometrie (eben nicht ausschließlich durch Zahlen!) und Musik die Bewegungen und Proportionen der Planeten zu berechnen unternimmt (Dostrovsky, S. 14). Für ihn bestehen die Konsonanten auch nicht mehr ausschließlich nur in den von Boethius überlieferten von Oktave, Quinte und Quarte, sondern er sieht gleichfalls die Terzen und Sexten als konsonant an (Walker, S. 92). Auch René Descartes wird zur Darstellung der musikalischen Proportionen in seinem Musicae compendium (1650) auf das bei Boethius eingehend behandelte Hilfsmittel des Monochords zurückgreifen (Dostrovsky, S. 12). Seit sich Aurelianus Reomensis im 9. Jahrhundert wieder an Boethius erinnerte, hat dessen auctoriale Präsenz mehr oder weniger bis ins 18. Jahrhundert nichts an Attraktivität eingebüßt. Vor allem die Tatsache, dass die zahlhafte „harmonische" Deutung der Musik und ihre Darstellung in konsonanten Proportionsverhältnissen durch Pythagoras von Boethius „gerettet" worden war, machte ihn für die christliche Interpretation des gesamten Seins, von der Ord-

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nung der Welt, die durch Gott in einer durchgängigen Harmonie geschaffen wurde, unverzichtbar. Das Maßhafte der harmonischen Ordnung von „Himmel und Erde" fand man in Übereinstimmung mit dem alttestamentlichen Zusammenhang des „Aber Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" (Weisheit 11, 21) wieder, wodurch Musik/spekulative Musiktheorie zum Medium gedieh, durch das die große Weltenordnung des Schöpfers verdeutlicht werden konnte. Noch zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte Johannes de Muris (* vielleicht um 1290 - = nach 1351) in seiner Musica speculativa, eine späte Boethius-Bearbeitung verfasst. Boethius' De Institutione musica fand nicht nur auf dem europäischen Kontinent Verbreitung, sondern wurde auch an den mittelalterlichen Universitäten Englands gelesen, glossiert und kommentiert, wie späte Handschriften aus der Mitte des 15. Jahrhunderts aus Cambridge (Oxford) belegen mögen (Hochadel, S. XI). Selbst zu Beginn der Aufklärung war die Musikauffassung des Boethius noch so präsent, dass Johann Mattheson 1739 schreiben konnte, nachdem er vorher des öfteren auf ihn zu sprechen gekommen war: „Den alten Weltweisen muß man bey dieser Gelegenheit so gewogen seyn, dass ihn im Unterschied inter musicam mundanam, musica humanam & instrumentalem ohne den geringsten Abbruch, erb u. eigen verbleibe. § 22 Durch die erste Art, nehmlich die so genannte Welt=Music, verstunden sie die Zusammenfugung aller sichtbare himmlische Cörper; Sonne, Mond, Sterne (usw) die Vermischung der Elementen, ja, den ganzen Welt=Bau. Die zweite Art, nehmlich die Mensch=Music, bedeutete die Vereinigung menschlicher Seelen u. Leiber, die Verhältnisse eines Gliedes mit dem anderen; die Ordnung und Kreis=Kette aller Wissenschaften und Künste, aller Reiche, Stände, Staaten u.s.w."(Mattheson, S. 6). Mattheson hatte sich zwar recht ablehnend gegenüber den Lehren des Boethius geäußert, auseinandergesetzt hat er sich jedoch eingehend mit ihm, wie das Zitat belegt.

Bibliographie Aertsen, Jan A.: „Speculum Musicae" als Spiegel der Philosophie, in: Musik - und die Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaften im Mittelalter. Fragen zur Wechselwirkung von ,musica' und .philosophia' im Mittelalter, hg. V. Frank Hentschel, Leiden, Boston, Köln 1998, S. 305

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Dieter Gutknecht

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Boethius

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(Flavius) Magnus Cassiodorus Senator (ca. 485-ca. 580 n. Chr.) VON

GEORGJENAL

1. Leben Familie, Jugend, Ausbildung Magnus Aurelius Cassiodorus Senator - so die Uberlieferung des Namens in den zuverlässigsten Handschriften - war Angehöriger eines syrischen Geschlechtes, das gegen Mitte des 5. Jahrhunderts nach Italien eingewandert war und nahe dem heutigen Squillace (Scyllaceum) seinen Wohnsitz genommen hatte. Die Vorfahren Cassiodors hatten hohe öffentliche Amter inne, sein Vater sogar den Rang eines praefectus praetorio. Die Lebensdaten Cassiodors lassen sich nicht genau ermitteln. Anhand seiner Laufbahn (cursus honoruni) allerdings wird wahrscheinlich, dass er zwischen 485/490 das Licht der Welt erblickt und - nach einer Bemerkung in seinem letzten Werk (De orthographia) - mindestens das 93. Lebensjahr erreicht hatte, was etwa auf578/583 als Todesjahr verweist. Cassiodors Leben lässt sich in mehrere, allerdings ungleich dokumentierte, Perioden aufteilen. Zu Jugend und Ausbildung findet sich lediglich ein indirekter Hinweis in seinen Schriften, die Erwähnung nämlich, zusammen mit dem skythischen Landsmann Dionysius Exiguus - und das heißt dann vermutlich in Rom - Dialektik studiert zu haben. Behält man jedoch die Laufbahn Cassiodors sowie Anzahl und Qualität seiner Werke im Auge, so steht außer Zweifel, dass er alle Stufen der Schulausbildung durchlaufen und eine sorgfaltige Erziehung erhalten hatte (Jenal 162, 644; O'Donnell 13 ff).

Im Dienste der Gotenherrscher Wie in Familien, deren männliche Mitglieder hohe Staatsämter bekleideten, üblich, strebte Cassiodor nach seiner Ausbildung die öffentlichen Amter an. Den Zeitverhältnissen entsprechend bedeutete dies allerdings eine Laufbahn nicht in römischen, sondern in ostgotischen Diensten unter den Königen der Amaler-Dynastie. Von seinem Vater - dem praefectus praetorio der Jahre 503-506 - schon 503 zum consiliarius (Amtshelfer) herangezogen, bot sich

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Cassiodor in dieser Funktion, die er bis 506/507 wahrnahm, die Möglichkeit, mit einem Panegyricus auf Theoderich die Aufmerksamkeit des Königs auf sich und sein rhetorisches Talent zu lenken mit der Folge, dass er 506/507 zum quaestor sacripalatii ernannt wurde. Nicht zufallig war die Wahl Theoderichs auf Cassiodor gefallen, denn dem quaestor oblag innerhalb der Kanzlei die Redaktion der amtlichen königlichen Schreiben, eine Verantwortlichkeit, für die rhetorische Begabung unabdingbare Voraussetzung war. Nach Ablauf der Quaestur bekleidete Cassiodor zunächst kein öffentliches Amt mehr, hielt sich aber weiterhin im Umfeld der Residenz in Ravenna auf. (Der Titel consul Ordinarius, für 514 belegt, bezeichnet vermutlich nur eine Ehrenstellung; und eine Amtsperiode als corrector hucaniae et Bruttiorum lässt sich in diesem Zeitraum wohl noch nicht belegen). Im Jahre 523 trat Cassiodor als magister officiorum die Nachfolge des Boethius an, ein Amt, das er über Theoderichs Tod (526) hinaus im ersten Jahre der Vormundschaftsregierung der Amalasuntha noch bekleidete. Vermutlich infolge eines zeitweiligen Ubergewichts romfreundlicher Hofkreise schied Cassiodor zum Jahre 527 aus diesem Amte und sah sich gezwungen, eine Statthalterschaft mit militärischem Kommando über eine gotische Truppe zu übernehmen, jene Zeitspanne vermutlich, in welcher er als corrector hucaniae et Bruttiorum fungierte. Infolge erneuter Machtverschiebungen am Hofe zu Ravenna - Amalasuntha, römischen Traditionen gegenüber aufgeschlossen, war es gelungen, zwischen 531-533 der Gegenpartei Herr zu werden - wurde Cassiodor am 1. Sept. 533, in einer Phase hoher politischer Instabilität zum praefectuspraetorio ernannt. Als Vormundschaftsregentin sah sich Amalasuntha dem Rivalen Theodahat gegenüber, mit dem sie nach dem Tode ihres unmündigen Sohnes gezwungen war, die Herrschaft zu teilen. Dieser setzte bereits im folgenden Jahre Amalasuntha gefangen und ließ sie schließlich ermorden, Vorgänge, die Kaiser Justinian willkommenen Anlass boten zu dem Versuch, die Reichseinheit von Konstantinopel aus wieder herzustellen. Es begannen nun die verheerenden Rückeroberungsfeldzüge des Kaisers gegen die Ostgoten, zunächst unter der Führung Beiisars, später unter Narses, eine Periode unermesslichen Elends, die sich über zwanzig Jahre hinzog und Italien an den Rand des Ruins brachte. Mit der Ernennung eines neuen praefectus praetorio nach der Eroberung Roms durch Beiisar (537), hatte Cassiodor sein Amt verloren, blieb aber weiter in Ravenna und hielt Verbindung zu den Hofkreisen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ihm gegen Ende seiner weltlichen Laufbahn noch der Ehrentitel eines patricius verliehen worden ist (Jenal 644 ff; O'Donnell XV und 19 ff; Krautschick 118, 161).

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Die Schriften Cassiodors, soweit sie dieser Lebensphase zuzurechnen sind, standen ohne Ausnahme im Zusammenhang mit seiner öffentlichen Tätigkeit. Das Korpus dieser Jahre umfasst: Panegyriken ( Laudes) auf Mitglieder der Königsfamilie der Amaler (nur fragmentarisch überliefert); die weitgehend als Kompilation angelegten Chronica; die profundere Historia Gothorum bzw. Historia Gothica (nur noch in der Epitome des Jordanes [Getica] zu fassen); die berühmten Variae, eine Auswahlsammlung amtlicher Schreiben aus der eigenen Feder; die Abhandlung De anima - vom Autor als 13. Buch der Variae bezeichnet - sowie der Ordogeneris Cassiodorum, ein nur fragmentarisch erhaltener autobiographischer Text. Cassiodor als Person des öffentlichen und politischen Lebens blieb im Urteil der Nachwelt von dem Verdacht nicht frei, sich den gotischen Herrschaftsträgern allzu opportunistisch gezeigt zu haben. Unter Theoderich ins Amt gekommen, habe er sich nicht gescheut, 533 die Amtsnachfolge des (möglicherweise gar verwandten) Boethius anzutreten, der Opfer eines - vermutlich auf falschen Verdacht hin inszenierten - Hoch Verratsprozesses geworden war. Auch machte man Cassiodor zum Vorwurf, trotz seiner Bewunderung und Sympathie für Amalasuntha, unter deren Mörder und Nachfolger Theodahat in seiner Position verblieben zu sein und auch unter Vitigis (Witigis) - der seinen Vorgänger ebenfalls ermordet hatte - das Amt nicht verlassen, vielmehr zu dessen Vermählung mit Malasuntha, einer Tochter der Amalasuntha, gar noch ein Preislied verfasst zu haben. Aus Mangel an detaillierten Nachrichten sowie in Anbetracht der späteren monastischen Phase im Leben Cassiodors scheint es allerdings geraten, von moralischen Verdikten dieser Art Abstand zu nehmen (Jenal 646 f; O'Donnell 13 ff, 36 ff, 43 ff, 55 ff, 103ff)-

Die Zeit der „conversio "

Mit dem Verlust seines Amtes (praefectuspraetorio) infolge der Eroberung Roms durch Beiisar (537) zog sich Cassiodor aus der Öffentlichkeit zurück, eine Phase seines Lebens, die er später als conversio bezeichnet hat. Es deutet nichts in der Überlieferung darauf hin, dass es sich hierbei um ein Damaskuserlebnis gehandelt habe mit unmittelbarem Ubergang in einen kirchlich-geistlichen Stand etwa. Und so wird Cassiodor zu dieser Zeit in einem Brief des Papstes Vigilius denn auch als vir religiosus und nicht als presbyter oder monachus tituliert. Die Zeit des Rückzuges aus Amt und Öffentlichkeit wird - nicht anders als in den Fallen eines Ambrosius, Augustinus, Hieronymus, Rufinus oder Pau-

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linus von Nola etwa - zu verstehen sein als langsamer Übergang vom praktischen, aktiven zu einem in Muße und Ruhe geführten, geistiger Beschäftigung zugewandtem Leben. Es handelt sich bei solch freiwilligem Rückzug auf die eigenen Landgüter (secessus in villam) um ein Phänomen, das sich bei zahlreichen intellektuellen Großgrundbesitzern der Spätantike seit dem 4. Jahrhundert nachweisen lässt. Hierbei scheinen sich bisweilen Ideale spätantiker Philosophenschulen mit solchen eines asketischen christlichen Lebens vermischt zu haben, so dass sich nicht nur allmähliche Ubergänge, sondern auch Phasen persönlicher Unentschiedenheit beobachten lassen. Die Beschäftigung mit dem traditionellen Kulturgut - der paganen Dichtung, Philosophie, Mythologie wie dem gesamten naturkundlichen Wissen - konnte dabei durchaus noch einträchtig einhergehen mit der Einübung christlich-asketischer Lebensformen und der allmählichen Aneignung christlichen Wissens durch Beschäftigung mit der Hl. Schrift und den Werken der Väter. Zu den Aufenthaltsorten Cassiodors während seiner conversio finden sich nur Andeutungen. Nach seinem Rückzug aus den Amtern scheint er zunächst noch eine Weile in Ravenna geblieben zu sein. Es bleibt aber unsicher, ob dieser Aufenthalt über den Fall der Stadt hinaus (540) währte. Um 550 taucht er dann - möglicherweise als Exulant - mit seinem Freund Cethegus im Umfeld einer päpstlichen Gesandtschaft in Konstantinopel auf. Wie lange er hier weilte, bleibt ebenfalls dunkel, vermutlich aber kehrte er nicht vor 554 zurück, jenem Jahr, in dem Justinian durch seine Sanctiopragmatica Italien neu zu ordnen begann und die päpstliche Gesandtschaft den Kaiserhof verließ. Man darf annehmen, dass Cassiodor sich bereits als praefectus praetorio der Schriftlesung (lectio divina) gewidmet und - wie unter vermögenden Mitgliedern der Aristokratie, die einem asketischen Leben zuneigten, nicht unüblich - schon Teile seines Vermögens als Almosen verschenkt hatte. Mit dem Rückzug aus Amt und Öffentlichkeit wandte er sich jedenfalls einer entschieden christlichen Lebensform zu. In dieser Ubergangsphase scheint er bereits mit seinen commentapsalterii- der Erklärung der Psalmen - begonnen zu haben, eine Arbeit, die allerdings zehn Jahre später erst vollendet wurde und unter dem Titel Expositio Psalmorum an die Öffentlichkeit trat (Jenal 648 f; O'Donnell 107 ff).

Die Jahre in Vivarium Mit dem Rückzug auf die Familiengüter bei Squillace (Scyttaceum) und der Gründung des monasterium vivariense, fand die Zeit der conversio ihr Ende. Um

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Vivarium im Kontext der zeitgenössischen Klostergründungen Italiens besser einschätzen zu können, um das Besondere wie das Übliche an dieser Gemeinschaft sichtbar werden zu lassen, ist die Vorgeschichte kurz zu erwähnen. Um 535/536, zu Zeiten, als Cassiodor noch das Amt eines praefectuspraetorio bekleidete, hatte er bereits den Plan verfolgt, zusammen mit dem damaligen Papst Agapet I. (535/536) in Rom einen Ort zum Studium der Bibel und der Vaterschriften, eine Schule für christliche Wissenschaften also, ins Leben zu rufen. Als Vorbilder für Art und Niveau des Unterrichts galten ihm dabei die weltlichen Hochschulen Italiens, die teilweise noch in Funktion waren, vor allem aber die östlichen Katechetenschulen von Nisibis und Alexandrien. Und dies bedeutete u.a., dass an öffentlich besoldete magistripublici gedacht war. Infolge der einsetzenden Rückeroberungsfeldzüge Konstantinopels gegen die Ostgoten aber - Beiisar besetzte 535 Sizilen, 536 Süditalien, 537 bereits Rom - kam das Projekt über erste Anläufe, d. h. über den Grundstock einer Bibliothek, vermutlich nicht hinaus. Erst zwanzigjahre später konnte Cassiodor mit der Gründung seiner Asketengemeinschaft in Vivarium dann seinen alten Plan verwirklichen. Das Unternehmen stand nun allerdings unter anderen Vorzeichen, war von bescheidenerem Umfang und ging auch auf ein etwas anderes Ziel aus. Denn hier handelte es sich nicht mehr um eine Art „christlicher Hochschule" oder um eine Katechetenschule, wie man sie aus den großen Städten des Ostens kannte, sondern um einen besonderen Typus von asketischer Gemeinschaft mit Schwerpunkt auf dem Studium der Hl. Schriften und den Werken der Väter. Damit aber war eine programmatische Voraussetzung gegeben, die der Mehrzahl der Gemeinschaftsmitglieder nicht allein ein asketisches Leben abverlangte, sie vielmehr in ein Bildungskonzept einband, das in dieser Art im zeitgenössischen monastischen Kontext einmalig war und aus der Interdependenz von äußeren Umständen und jenen Zusammenhängen resultierte, die Cassiodor zwischen weltlichem und kirchlichem Wissen gegeben sah. Das Gründungsjahr der Gemeinschaft von Vivarium wird nicht genau bekannt. Der Rückzug auf die Familiengüter aber dürfte - wie erwähnt - dem Abschied aus Konstantinopel gefolgt, d.h. kaum vor 554 anzusetzen sein. Auch die topographische Lage der Gemeinschaft wird nicht exakt beschrieben. Die Erwähnung des Flüsschens Pellena (heute Alessi), das Gärten und Kloster bewässerte sowie die Bemerkung, dass nahe der Gemeinschaft künstlich angelegte, mit Seewasser gespeiste Fischteiche (vivaria) unterhalten wurden - sie waren Namen gebend für die Gemeinschaft -, lassen in Übereinstimmung mit archäologischen Grabungen in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts

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darauf schließen, dass die Gründung etwa 5 km Luftlinie südöstlich von Squillace am Meer lag (heute S. Martino di Copanello/Sta. Maria di Vetere). Unweit der Hauptanlage des Klosters, auf dem nach Südwesten gelegenen Monte Castello, ließ Cassiodor eine weitere Gemeinschaft für Eremiten einrichten, eine Besonderheit, die der Forschung lange Rätsel aufgab und zu vielfaltigen Spekulationen geführt hat. Die Lösung des Problems indes ist wohl in Cassiodors Absicht zu suchen, dem Zönobiten den Aufstieg zu ermöglichen zum strengeren Leben des Anachoreten außerhalb, aber doch stets in Reichweite der Hauptgemeinschaft, ein Ideal, das im frühen Mönchtum seinen Platz hatte, dessen Praxis sich noch im Justinianischen Recht bestätigt findet und das Cassiodor vermutlich durch die Schilderungen, die Johannes Cassianus über die östlichen Anachoreten- und Klosterlandschaften (De institutis coenobiorum; Conlationes XXIIII) entworfen hatte, vertraut war. Auch praktische Gründe vor Ort mögen im Falle von Vivarium die Verwirklichung dieses besonderen Konzeptes empfohlen haben. Die Gebäude der Hauptgemeinschaft nämlich erstreckten sich in einer fruchtbaren, klimatisch angenehmen, verkehrsgünstigen Landschaft, die sich Erholung Suchenden und Genesenden als Aufenthaltsort anbot. Und da sich das Kloster den Möglichkeiten, die sich hier boten, keineswegs verschloss, waren Umstände gegeben, die - wie Cassiodor warnend erkannte - stets geeignet waren, den asketisch-monastischen Alltag zu gefährden und die Mönche von ihren eigentlichen Aufgaben abzubringen. Erfahreneren, reiferen Gemeinschaftsmitgliedern - solchen, die „den Aufstieg im Herzen" bereits vollzogen hatten - sollte daher die Möglichkeit geboten sein, das Hauptkloster und seine Ablenkungen zu verlassen, in die abseits gelegene und ruhigere Einsiedelei auf den tnons castellum zu wechseln, um das asketische Ideal dort in reiner und höchster Form leben zu können. Über die inneren Verhältnisse von Vivarium werden nur wenige Details bekannt. Die Gemeinschaft war auf dem Familienbesitz Cassiodors gegründet worden, er selbst also blieb der Eigentümer (Eigenklosterherr) und bezeichnete - wenn auch in seiner letzten Schrift erst - die Gemeinschaftsmitglieder zu Recht als „meine Mönche" (monachi met). Leider bleibt das Verhältnis des Gründers und Eigentümers zu seiner Gemeinschaft in vielen Punkten unklar. Sicher allerdings ist, dass Cassiodor nicht die Würde des Abtes in seiner Gemeinschaft beansprucht hat, eine Praxis, die in asketischer Bescheidenheit gründend, aber auch bei andern Gemeinschaftsgründern zu finden ist - so etwa im Fall Gregors d. Gr. - und somit nicht als spektakuläre Ausnahme gesehen werden kann. Doch sollte man in Cassiodor, dem Eigenklosterherrn, deswegen nicht schon einen einfachen monachns vermuten. Zwar nahm er wie die

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übrigen Gemeinschaftsmitglieder an gewissen Stunden des Offiziums teil, scheint aber doch einen Sonderstatus beansprucht zu haben, wie etwa aus dem Umstand hervorgeht, dass er neben der umfangreichen Gemeinschafts- noch eine Privatbibliothek besaß. Und dies wiederum legt die Vermutung nahe, dass er im Kloster zwar, doch abgeschieden von der Gemeinschaft lebte. Cassiodor teilte seine Mönche - sie waren ausschließlich lateinischer Zunge - ihrem Bildungsgrad entsprechend in zwei Kategorien ein: solche, die weltliche Schulen durchlaufen hatten und jene, denen dies, aus welchen Gründen auch immer, verwehrt geblieben war. Ohne Einschränkung genossen erstere die höhere Wertschätzung, und ihnen wies Cassiodor als Hauptbeschäftigung die Betrachtung und das Studium der Hl. Schriften sowie der Werke der Väter zu. Letztlich war es seine Vorstellung, dass alle Mönche mit entsprechenden Bildungsvoraussetzungen in der Lage sein sollten, selbst die Schrift auszulegen und tiefer zu verstehen. Da aber in Vivarium hierfür anfanglich weder eine Bibliothek noch ausgewiesene Lehrer zur Verfügung standen, griff Cassiodor zur Selbsthilfe und verfasste als Leitfaden für seine Mönche Buch I seiner Institutiones {Liberprimus divinarum litterarum). jenen Mönchen aber, die keine oder nur eine unzureichende Schulausbildung aufzuweisen hatten, versuchte Cassiodor darüber hinaus die Möglichkeit an die Hand zu geben, das Versäumte nachzuholen, um so die Voraussetzungen zu einer sinnvollen Beschäftigung mit der Schrift erst zu schaffen. Als Ergebnis dieser Bemühungen liegt uns Buch II der Institutiones vor (Liber secundus saecularium litterarum), wesentlich ein kompilatorischer Abriss des Schulkanons der septem artes liberales (Jenal 163 ff; Pricoco 179 ff, 192 ff; Troncarelli 12 ff, 79 ff). Vivarium war zu Cassiodors Zeiten in vieler Hinsicht noch ein Provisorium. So kann von einem institutionalisierten Unterricht mit Lehrern und Schülern im strengen Sinne nicht ausgegangen werden. Eher handelte es sich um ein Selbststudium, um eine formlose, improvisierte Unterweisung der Jüngeren durch die Alteren, derjenigen, die weniger wussten durch die im Wissen und Können schon Fortgeschrittenen. Ausgebildete Lehrer, die nicht zur Hand waren, sollten durch die von Cassiodor verfassten Institutiones (sowie die anderen Werke dieser Epoche) ersetzt werden. Die so beschaffene Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden - die zum Schreiben und Studieren weniger geeigneten Mönche sollten sich der Handarbeit in den Gärten und auf den Feldern widmen - wird als schola Christi („Schule Christi"), ihre Mitglieder als milites und tyrones Christi („Soldaten" und „Rekruten Christi") bezeichnet, was einen Ort für monastisch-asketische Gesamterziehung meint, keinesfalls aber als Terminus technicus für einen Schulbetrieb im spätantiken, profanen Sinne

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zu verstehen ist. Die in der Forschung immer wieder auftauchende Bezeichnung für Vivarium als „Hochschule", „Akademie" o.ä. geht von modernen Vorstellungen aus und trifft die Verhältnisse nicht. Der Tages- und Nachtverlauf der Gemeinschaft wurde durch den Wechsel zwischen gemeinsamen liturgischen Feiern (opus divinum) und sonstigen Betätigungen strukturiert. Ohne allerdings eine der frühen Gemeinschaftsregeln Italiens für Vivarium in Anspruch nehmen zu können - weder die Regula Magistriund noch weniger die Regula Benedict kommen in Frage - wird offensichtlich, dass man Matutin, Terz, Sext, Non, Vesper, Complet und die nächtlichen Vigiliae kannte. Um zu einem tieferen Verständnis der Psalmen zu gelangen, denen innerhalb des monastischen Offiziums bekanntlich eine zentrale Stellung zukommt, entschloss sich Cassiodor dann zur Abfassung eines eigenen Psalmenkommentars (Expositio Psalmorum). Die Zeiten außerhalb des opus divinum verbrachten die des Lesens und Schreibens kundigen Mönche mit Schriftbetrachtung und Schriftstudium, einige auch mit der Ausarbeitung von Bibelkommentaren oder mit Ubersetzungsarbeiten, nicht wenige aber - die notarii, librarii, scriptores und antiquarii- mit dem als qualifizierte Handarbeit gewerteten Kopieren und Bearbeiten von Schriften und Büchern, ganz in der Absicht Cassiodors, zum Studium der christlichen Wissenschaften erst einmal eine brauchbare Bibliothek zu organisieren. Wer zu solch qualifizierten Arbeiten nicht in der Lage oder nicht Willens war, sollte den einfachen Handarbeiten nachgehen, was Garten- und Feldarbeit, die Wartung der Fischteiche, möglicherweise auch der Bäder für die Genesung und Erholung Suchenden sowie Gästebetreuung im weiteren Umfange bedeutete (Jenal 171 ff; Pricoco 179 ff). Vivarium stellt den klassischen spätantiken Typus der asketischen Gemeinschaftsgründung auf dem Privatgrund eines Großgrundbesitzers dar. Es gehörten folglich zum gesamten Klosterverband - in späteren Zeiten dann als familia bezeichnet - neben den Mönchen ifratres/monachi) auch Landarbeiter (;rustici), die zur Sicherung der materiellen Grundlage der Gemeinschaft die Felder außerhalb des Klosterareals bestellten. Die Seelsorgepflicht für diese rustici, aber auch die Aufsicht über eine geordnete Wirtschaftsführung derselben lag in den Händen der Mönche, die zur allgemeinen Kontrolle diese rustici öfters im Hauptkloster zur Versammlung zu rufen hatten (Jenal 173 f). Das Besondere an Vivarium lag in Cassiodors hauptsächlicher Absicht, mit Hilfe seiner Klostergemeinschaft die Voraussetzungen zu einem Studium in den kirchlichen Wissenschaften bereitzustellen. In der Aufbauphase der dringlich notwendigen Bibliothek bedeutete dies für die Gemeinschaftsmitglieder - jen-

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seits der selbstverständlichen Verpflichtung jedes Asketen zu beständiger Beschäftigung mit der Hl. Schrift - vornehmlich, Handschriften zu sammeln, Abschriften herzustellen (eventuell auch auf Bestellung von außen und zum Tausch), Manuskripte kunst- und sachgerecht zu binden, in selteneren Fallen sicher auch, Übersetzungen aus dem Griechischen anzufertigen oder selbst Kommentare zu einzelnen Bibelbüchern zu verfassen. Cassiodor leitete und organisierte das gesamte Unternehmen, gab die Richtung an und war bis in sein hohes Alter selbst sammelnd, schreibend - schließlich nur noch kompilierend - rastlos tätig, um dem ehrgeizigen Projekt zum Erfolg zu verhelfen. Hilfreich waren ihm dabei auch seine Verbindungen zu bedeutenden, dem asketischen Milieu angehörenden gelehrten Persönlichkeiten seiner Zeit in Italien, zu Eugippius von Lucullanum, Dionysius Exiguus und zu seiner Verwandten Proba in Rom, allesamt Persönlichkeiten, die umfangreiche Bibliotheken in ihrem Umfeld zur Verfügung hatten (Jenal 175 f; Troncarelli 12 ff). Der glückliche Umstand, dass Cassiodors Institutiones gleichzeitig eine Art Bibliothekskatalog bieten, hat zur Folge, dass über die Bibliotheksverhältnisse und den Handschriftenbestand in Vivarium ausfuhrlichere Informationen vorliegen als zu jeder anderen Bibliothek Italiens - j a sogar des gesamten lateinischen Westens - in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts. Dieser erfreuliche Umstand bleibt allerdings mit einem nicht kleinen Problem verbunden. Da die Institutiones in didaktisch-normativer Absicht Studienanleitung und Studienprogramm zugleich sein wollen, werden zwar zahlreiche Werke und Autoren mit dem ausdrücklichen Hinweis, bereits in der Bibliothek vorhanden zu sein, genannt; daneben aber ist, ohne klare Scheidung, häufig, auch von solchen Texten und Autoren die Rede, die erst zu erwerben - also noch Desiderata - waren. Andere sollten nach Möglichkeit erst einmal ausfindig gemacht werden oder finden nur deswegen Erwähnung, weil ihnen im Kontext bestimmter Probleme besondere Bedeutung zukam. Und an diesem Dilemma mangelnder Eindeutigkeit leiden die Versuche, den Handschriftenbestand von Vivarium näher bestimmen zu wollen. Mit Sicherheit und im Überblick lässt sich immerhin festhalten, dass neben Cassiodors eigenen Werken und zahlreichen Bibelhandschriften in Vivarium vornehmlich lateinische Autoren, griechische nur in geringer Zahl und meist in Übersetzungen, existierten. Zu finden waren Autoren der Septem artes, christliche Historiker, einige Geographen, medizinische und landwirtschaftliche Schriftsteller, aber auch Cicero. Möglicherweise - Sicherheit ist hier aber nicht zu erreichen - waren auch Horaz und Vergil vertreten. Den Kern der Biblio-

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thek aber machten Werke christlicher Väter aus, vornehmlich die exegetischen Werke eines Ambrosius, Johannes Chrysostomus (in Ubersetzung) und Hilarius. Der mit Abstand am vollständigsten vertretene Autor aber scheint Cassiodors grosser Lehrmeister Augustinus gewesen sein. Behält man im Auge, dass es sich hier um eine Bibliothek handelte, die noch im Aufbau war, so legt die Dimension des Unternehmens es nahe, zumindest im Zeithorizont von einem Ausnahmefall zu sprechen. Und dieses Urteil kann selbst dann aufrechterhalten werden, wenn die Zahl von mehr als 180 Manuskripten, die bisweilen fiir Vivarium angenommen wird (Franz 79 ff; Mynors 184-193), einer kritischen Rückkontrolle anhand der Institutiones nicht ganz stand hält (Jenal 176 f; Troncarelli 25 ff 33 ff, 39 ff, 95 f).

2. Werke D e m Lebensgang Cassiodors entsprechend lassen sich auch seine Werke eindeutig zwei unterschiedlichen Perioden zuteilen: der Zeit, in welcher er öffentliche Ämter wahrnahm und jener weitaus längeren Spanne seines Lebens, die er als Mönch in der Abgeschiedenheit seiner Klostergemeinschaft Vivarium verbrachte. Am Beginn der schriftstellerischen Tätigkeit Cassiodors stand ein heute verlorener Panegyrikus auf Theoderich aus den Jahren 503-506, eine Probe der rhetorischen Fähigkeiten des jungen consiliarios, die in der Absicht auf ein künftiges, öffentliches Amt abgegeben war, die Aufmerksamkeit Theoderichs erweckte und dem Aspiranten den Weg in die öffentliche Laufbahn ebnete. Auch in den folgenden Jahren verfasste Cassiodor - bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, der ständigen Königsnähe sowie seiner Begabung eher eine Selbstverständlichkeit - mehrfach noch panegyrische Reden auf Mitglieder der Amalerdynastie, Texte, die - ohne Autorenname und teils als Palimpsest - lediglich fragmentarisch erhalten sind (Ed. L. Traube, Orationum reliquiae, M G H A A 12, Berlin 1894, 465-484) (O'Donnell 34 ff). Das älteste, vollständig erhaltene Werk Cassiodors, seine Chronica, sind in das Jahr 519 zu datieren und weisen in das Umfeld Eutharichs, des Schwiegersohns und präsumptiven Nachfolgers König Theoderichs. Im Jahre 519 zum Konsul fiir den Westen ernannt, gab Eutharich anlässlich dieses Ereignisses den Auftrag an Cassiodor, eine historisch-chronologische Tafel zu entwerfen, die sein Konsulat - durch Einbettung in die Kontinuität römischer Geschichte verherrlichen und legitimieren sollte. In Art einer Weltchronik mit Adam und Eva beginnend beschreiben die Aufzeichnungen des ersten Teils die Sintflut,

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die assyrischen, lateinischen und römischen Könige. Das Schema der Weltchronik verlassend folgen dann in einem zweiten Teil lediglich noch dürre Konsulartafeln, die bis zum Jahre 519, dem Erscheinungsjahr der Schrift, hoch geführt sind. Gegen Ende der Chronik finden sich neben den Konsulnamen bisweilen dürftige Notizen, die einzigen originären Beiträge Cassiodors. Als Vorlage für den ersten Teil der Aufzeichnungen ist die Chronik des Eusebius (in Ubersetzung und Bearbeitung des Hieronymus) nachgewiesen. Der zweite Teil, die Konsulartafeln, ruhen auf Livius, Aufidius Bassus, Victorius Aquitanus, Prosper sowie italischen Chroniken. Dieser politischen Auftragsschrift, adressiert an das stadtrömische Publikum, attestierte die gelehrte Kritik seit Th. Mommsen Oberflächlichkeit und Mangelhaftigkeit, wertete sie als „dürftiges, ungeschickt zusammengestoppeltes Machwerk", letztlich gar als „eine Art Panegyrikus" mit der deutlichen Tendenz, wo immer möglich, die Goten in ein gutes Licht zu setzen (Schanz-Hosius IV, 2, 95 f; O'Donnell 36 ff, 42). Den Charakter einer Auftragsarbeit in politisch-legitimatorischer Absicht trug auch die zweite größere Arbeit aus der Feder Cassiodors, seine Historia Gothica. Von Theoderich selbst in Auftrag gegeben (Cassiod, anecd. Hold), scheint Cassiodor dieses umfangreiche, 12 Bücher umfassende Opus um 519, kurz nach Veröffentlichung der Chronik begonnen, aber erst unter Theoderichs Nachfolger Athalarich (526-534) vollendet zu haben. In einem Schreiben des Jahres 533 ist das Werk bereits erwähnt (Cassiod., var. IX, 25) und eine Anspielung im Vorwort der Variae (Cassiod., var., praef.W) lässt vermuten, dass es um 537/538 vollendet war. Die Schrift in ihrer ursprünglichen Form ist nicht erhalten. Lediglich ein flüchtiger Auszug, den der Gote (Alane) Jordanes unter Verwendung weiterer Vorlagen 551 in Konstantinopel anfertigte {De origine actibusque Getarum [Getica]), kann einige Hinweise auf Art und Absicht des Werkes geben. Im Bemühen, dem Auftrag Theoderichs gerecht zu werden - was bedeutete, dessen Vision von der Gleichrangigkeit zwischen Goten und Römern historisch zu belegen -, versuchte Cassiodor, den Goten einen würdigen Platz in der Weltgeschichte zuzuweisen, indem er sie mit Geten und Skythen verknüpfte. Besondere Erhöhung erfuhren dabei die gotischen Königsgeschlechter, allen voran die herrschenden Amaler, deren Ursprünge bis in die ältesten Zeiten zurückverfolgt wurden. An Vorlagen für Cassiodor lassen sich u.a. Dexippos und Priscus, hauptsächlich aber der gotische Geschichtsschreiber Ablavius nachweisen (Schanz-Hosius IV, 2, 96 f; Manitius 43; Bardenhewer 267; O'Donnell 43 ff). Unter den Werken, die Cassiodors erster Lebensphase zuzuordnen sind, kommt den Variae ohne Zweifel die größte Bedeutung zu. Will man der teils

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topischen Einleitung Glauben schenken, wurde Cassiodor von Freunden aufgefordert, die Schreiben, welche er als quaestor, magister officiorum und praefectuspraetorio ausgefertigt hatte, zu sammeln und an die Öffentlichkeit zu geben. Nach eigenem Bekunden verfolgte er damit schließlich zwei Absichten; zum einen, sich selbst und die vielen anderen in den Schriftstücken lobend erwähnten Personen dem Vergessen zu entreißen; zum anderen, ein Musterbuch für künftige Kanzlei- und Verwaltungstätigkeiten zu schaffen. Die Sammlung, im Jahre 537 erschienen, besteht aus 12 Büchern mit insgesamt 468 Nummern und kennt eine allgemeine Vorrede für die Bücher 1-10 sowie zwei separate Vorworte zu den Büchern 11/12 jeweils. In den Büchern 1-5 finden sich die Erlasse Theoderichs (f 526); in den Büchern 6 - 7 (Bestallungs-) Formulare; in den Büchern 8-9 die Erlasse Athalarichs (f534); in Buch 10 die Erlasse Amalasunthas (f 535), Theodahats (f 536), der Gudelina und des Vitigis; die Bücher 10-11 enthalten die Amtsschreiben Cassiodors als praefectus praetorio. Es handelt sich hier weniger um eine unter historischen als stilistischen Gesichtspunkten angelegte, in der Tradition der Rhetorik stehenden Sammlung zum Verwaltungsgebrauch. Und so spielt der Titel Variae auch nicht auf die Inhalts, sondern die Formenvielfalt der Reskripte an. Dennoch bleiben viele Stücke als historische Quellen von Bedeutung. Nicht selten nämlich finden sich in diesen Texten bemerkenswerte, längere Exkurse über Moral, Politik und Recht, über Wissenschaft, Kunst und Handwerk, aber auch über Ortlichkeiten, Bauwerke, Kunstgegenstände oder Tiere, Ausfuhrungen, die das außergewöhnliche enzyklopädische Wissen Cassiodors ins Licht rücken. Vor allem aber zeigen die Variae auch Cassiodors Formtalent in klarem Lichte. Auf der Grundlage sorgfaltig ausgearbeiteter Texte, erstrebt der Autor, unter Verwendung einer reich ausgebildeten Phraseologie, einen eleganten Ausdruck, dem Stand und Bildungsniveau des Adressaten entsprechend. Die Grenzen dieses Talents allerdings deuten sich dort an, wo die Formulierungen gesucht und dunkel werden, wo der Autor etwas „schulmeisterlich", „hohl", „phrasenhaft" (Manitius I, 40), ja „geschwätzig" wird und sich der „Charakter des Kabinettsekretärs" zeigt (Mommsen XXII ff; Schanz-Hosius IV, 2, S. 97 fF; O'Donnell 55 fT; Fridh X; Krautschick 48 fT). Im Zeitraum, als Cassiodor sein letztes öffentliches Amt bereits verloren hatte, sich aber noch in Ravenna bei den alten Freunden aufhielt - d.h. zwischen Abschluss der Variae und deren Veröffentlichung ca. 537/538 (Halporn 505.) - verfasste er, ebenfalls auf Bitten seiner Freunde, die Schrift Deanima (ed. C.W. Halporn, CCL 96 [1973] 533 ff), die, von ihm selbst als 13. Buch der Variae bezeichnet (Cassiod., in psalm. CXLV, 30), 537 bzw. 538 zur Veröffentlichung

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kam. Es handelt sich bei diesem Werk, das den Abschluss der weltlichen Laufbahn Cassiodors markiert, um eine Abhandlung, die nach dem Zeugnis der ältesten Manuskripte - und durchaus entgegen den älteren Editionen 18 Bücher umfasst und sich mit der Substanz (substantia) und den Tugenden (•virtutes) der Seele beschäftigt. So wird hier eine etymologische Erklärung von „Seele" gegeben (lib. 1), eine Definition derselben versucht (/. 2), über die „Qualität", die Form, die moralischen und natürlichen Tugenden gehandelt (/. 3-6); Fragen nach Ursprung und Sitz der Seele (/. 7-8), nach der Harmonie des Körpers, der Erkennung von bösen und guten Menschen (/. 9-11) sowie nach dem Leben der Seele nach dem Tod (/. 12) werden erörtert. Seinen Abschluss findet das Werk in einem längeren Gebet. An Vorlagen lassen sich außer der Hl. Schrift - diese ist häufig nach Augustinus und somit nicht nach der F a l z t e zitiert - kirchliche und weltliche Autoren nachweisen. Am ausfuhrlichsten und als einziger namentlich genannter kirchlicher Gewährsmann ist Augustinus benützt (u.a. De quantitate animae; De civitate Dei; Confessiones; De Trinitate). Die Ubereinstimmungen zwischen Cassiodor und Claudianus Mamertus (De statu animae) wird neuerdings - da kein wörtliches Zitat Claudians bei Cassiodor nachweisbar ist - nicht mehr als Abhängigkeit verstanden, sondern besser mit der Hypothese erklärt, dass beiden Autoren eben Augustinus als Quelle zugrunde liegt (Halporn 508f; O'Donnell, S. 103 ff, 118 ff). Was die weltlichen Vorlagen betrifft, so hat sich Cassiodor - ohne dass präzise Identifikationen möglich wären - wesentlich neuplatonischer Vorstellungen bedient wie sie sich etwa bei Cicero, Augustinus, Macrobius und Chalcidius finden. Cassiodor strebte auch in dieser Schrift nicht nach Originalität, es genügte ihm, seinen Freunden zur Antwort zu geben, was er aus anderen Autoren zusammengetragen hatte (Cassiod., anim. 14,2: Respondemus ut diversa lectione coJlegimus), ein Umstand, der ihn aber nicht daran hinderte, stilistische Sorgfalt walten zu lassen und sein rhetorisches Können unter Beweis zu stellen. Zwar kennt der Text keine langen Perioden, doch finden sich durchaus rhetorisch differenzierter Gebrauch von Konjunktionen und Adverbien, rhythmische Prosa mit Kadenzen, Klausulae - vornehmlich des cursusplanus -, die Periphrasis, das Hyperbaton sowie Wortspiele jeder Art (Halporn 513ff). Dass De anima dennoch erheblich weniger stilistischen Aufwand zeigt als die Variae, versteht sich aus Gattungsgründen zunächst von selbst. Aber auch die Tatsache, dass dieses Werk die Brücke bildete zwischen Cassiodors öffentlicher Laufbahn und seiner conversio, d. h. der Umkehr zu einem asketisch-monastischen Leben, wo rhetorischer Glanz um seiner selbst Willen keinen Platz mehr hatte, wird hier

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offensichtlich. Nicht zuletzt das Christusgebet am Ende der Schrift (Cassiod., anim. XVIII, 574: Tu ergo, Domine Iesu Christe.) verweist auf diesen Zusammenhang (Schanz-Hosius IV, 2, 100 f; Manitius I, 41 f; Halporn 503 ff; Fridh X). Der Phase von Cassiodors öffentlichem Wirken ist auch eine kürzere Schrift in Briefform zuzuordnen, die seinerzeit offensichtlich an den Staatsmann Rufinus Petronius Nicomachus Cethegus gerichtet war. Obgleich von diesem Werk lediglich noch ein Exzerpt des 10. Jahrhunderts in fragmentarischer Form existiert (Cassiod, anecd. Hold. [= Ordogeneris Cassiodorum\), liegt hier ein Uberlieferungsrest von bemerkenswertem Gewicht vor. Wie aus der Uberschrift des Exzerptes noch zu erkennen, handelte es sich bei diesem Text um genealogische Aufzeichnungen zur weiteren Verwandtschaft Cassiodors, verbunden mit literaturgeschichtlichen Bemerkungen. Den Epitomator des 10. Jahrhunderts interessierten in diesen Ausführungen leider nur drei Persönlichkeiten, von denen er sich seine Notizen machte: Symmachus, Boethius und Cassiodor selbst. Cassiodor betreffend werden hier nicht nur die Stufen seiner öffentlichen Laufbahn aufgezählt (cursus honorum), sondern auch zwei seiner Werke, die Historia Gothorum und die Variae, erwähnt. Aus der Zuweisung der Variae ergibt sich, dass der Ordo generis']e.d&ni2Xis nach Veröffentlichung derselben, also nach 537, verfasst sein muss (Schanz-Hosius IV, 2, 99; Bardenhewer 270; Fridh XI). Die beinahe vollständige Liste der Werke Cassiodors, die der Zeit in Vivarium zuzuordnen sind, findet sich im Vorwort seiner letzten, im 93. Lebensjahr zusammengestellten Schrift De orthographia (ed. Keil, Grammatici VII, 144; Jenal 649). An erster Stelle sind hier die commenta psalterii genannt - später unter dem Titel Expositiopsalmorum geläufig - , eine Arbeit, die, wie erwähnt, offensichtlich zu Beginn der conversio (ca. 537) bereits in Angriff genommen, erst zehn Jahre später aber in Vivarium beendet und veröffentlicht worden ist (ca. 548) und mit Abstand das umfangreichste Werk aus Cassiodors Feder darstellt. Die Aufforderung zu dieser Arbeit kam von einem paterapostolicus, womit vermutlich Papst Vigilius (537-555) gemeint ist, dem er das Werk später auch gewidmet hat (Cassiod., inpsalm. praef. S. 6). Bei seinen Erklärungen folgt Cassiodor einem methodischen Viererschritt (Cassiod., expos. 14, praef.): 1. Erläuterung der Psalmenüberschrift (inscriptio titulorurri)\ 2. Klärung der Psalmeneinteilung (divisio)\ 3. Auslegung des Psalmentextes (expositio) nach geistlichem (secundum spiritalem sensurri), nach historischem (secundum historicam lectionerri), nach mystischem (secundum mysticum sensurri), und falls erforderlich, nach moralischem Sinn (secundum virtuterri). Zusätzlich sind Zahl und Nummer des Psalms gewürdigt.

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Dass sich Cassiodor vornehmlich Augustins Ennarrationes in psalmos zum Vorbild genommen hatte, wird ausfuhrlich offen gelegt: Seinerzeit, in Ravenna noch, während der ersten Beschäftigung mit dem Buch der Psalmen von zahllosen Schwierigkeit umstellt, habe er Zuflucht zu den Psalmenerklärungen Augustins genommen und dort überreiche Erklärungen gefunden. Und diese Erfahrung habe ihn „daher eingedenk der eigenen Unzulänglichkeit, dazu bewogen, das Meer augustinischer Psalmenerklärungen durch Zusammenfassungen in seichtere Flüsschen abzuleiten" (Quocirca memor infirmitatis meae, mare ipsius quorundam psalmorum fontibus profusum.. .in rivulos vadosos compendiosa brevitate deduxi...\ praef. S. 3). Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Cassiodors Werk in starkem Maße ausgustinische Züge trägt, sichtbar u.a. in der Vernachlässigung des Literalsinns, in der Vorliebe für Typologie, in der Neigung zur Zahlensymbolik wie in der Manie, in jedem Psalm prophetische oder sonstige Hinweise auf den Messias zu finden. Doch sollte die im Vorwort demonstrierte Autorenbescheidenheit des Autors dem Vorbild Augustin gegenüber - ein geläufiger Fall von Exordialtopik - nicht dazu verleiten, den an gleicher Stelle gegebenen Hinweis Cassiodors zu übersehen, er habe in seinen Kommentar auch neue Erkenntnisse eingefugt, die über Augustin hinausgingen (praef., S. 3:...quaedam vero noviter inventa.. .subieci). Nachweislich nämlich begnügt sich Cassiodor nicht einfach mit Ausschreiben, Simplifizieren oder Imitieren der augustinischen Vorlage. So werden zum einen mindestens ein halbes Dutzend weiterer Autoren neben Augustinus als Autoritäten herangezogen: Hilarius (v. Poitier), Prosper (v. Aquitanien), Cyprian, Dionysius Exiguus, Primasius (v. Hadrumetum), Pelagius, Leo d. Gr. [O'Donnell 139]. Zum anderen fuhrt Cassiodor - in grundlegendem Unterschied zu Augustinus, dessen Ennarrationes in die Form von Homilien gekleidet sind unpolemisch und fern jeden apologetischen Eifers vor, wie die Psalmen unter Anwendung der Septem artes enzyklopädisch-wissenschaftlich ausgelegt, und wie „theologische und profane Wissenschaft ihrerseits durch den Text erschlossen und eingeübt werden" können. Dem Psalmenkommentar, der hinsichtlich des methodischen Zugriffs das augustinische Vorbild hinter sich lässt und „insgesamt .. .eine völlig selbständige Leistung" darstellt, kommen damit Funktion und Charakter eines Lehrbuches zu, in dem die artes „als das sachgemäße und unentbehrliche Handswerkszeug für Exegese und Dogmatik" vorgeführt werden (Schlieben [1974] 109, 114, 131ff; [1979] 171,189ff, 237ff). Und vor diesem Hintergrund ist dann auch Cassiodors Bemühen zu verstehen, in den Psalmen die Kunstgriffe der Rhetorik aufzuspüren und solche Fälle mit Finderstolz darzulegen. So zeigt er in Ps. 3 den Unterschied von „Klimax" und „Auxesis" auf,

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erklärt den Begriff „Tropus" (Cassiod., infsalm. 3, 4 u. 8; C C L 97, S. 52 u. 54) und findet zu der Feststellung den Lehrern weltlicher Wissenschaften gegenüber: Alle rhetorischen Schemata und Figuren, jede Art von Argument, alle Typen von Definitonen, ja die Regeln aller Schumacher hätten bereits in den Psalmen Anwendung gefunden (Cassiod., in psalm. 23, 10; C C L 97, S. 219: Cognoscite, magistri saecularium

litterarum, hinc Schemata, hinc diversigeneris

menta, hinc definitiones, hinc disciplinarum

argu-

omnium proßuxisse doctrinas, quando in

his litteris posita cognoscitis quae ante scholas vestras longeprius

dicta fuisse

sentitis).

Hier scheint ein Grundanliegen des Autors auf, das Bemühen nämlich um Vermittlung seiner - im Kern von Augustin übernommenen - Auffassung über das Verhältnis von weltlichem und kirchlich-biblischem Wissen, ein Konzept, das in unsystematischer Weise noch, aber wiederholt im Psalmenkommentar (und deutlicher noch in den Institutiones) formuliert, dessen Brauchbarkeit und Richtigkeit schließlich in der Interpretation der Psalmen praktisch vorgeführt wird und sich auf die kurze Formel bringen lässt vom propädeutischen Charakter allen weltlichen Wissens und Könnens allein zum tieferen Verständnis der Schrift. Alles Wissen, das zu diesem Ziele fuhrt, soll erworben, was solchem Zweck nicht dient, muss als unnütze, ja schädliche curiositas gemieden werden. Die Schrift als der Kosmos alles Wissenswerten bestimmt die Grenzen, sie erweist Sinn und Ziel aller Wissensbemühungen (Schlieben 1974, 94 ff; Jenal 651 ff; Hahner 3 ff, Pricoco 192 ff; O'Donnell 153ff). Nach den Psalmenerklärungen hat Cassiodor - so ein Vermerk in De orthographia

- seine Institutiones

(divinarum

et saecularium

litterarum [duobus

libris])

in Angriff genommen, die vermutlich gegen 562 abgeschlossen und veröffentlicht wurden. (Die Bezeichnug Institutio entspricht dem griechischen „Eisagoge", meint also soviel wie „Einführung" [Brüsgens 48 ff.]). Buch I der Institutiones, in Anspielung auf das Alter Christi in 33 Kapitel geteilt, beschreibt zunächst die Autoren und literarischen Hilfsmittel, mit denen sich die Mönche seines Klosters in den göttlichen Wissenschaften {divinae litterae) unterrichten konnten. Es handelt sich dabei um lateinische - oder doch ins Lateinische übertragene - Autoritäten, die sich großenteils, aber keineswegs vollständig, in der eigenen Bibliothek befanden. Wie für ein Studium in christlichen Wissenschaften zu erwarten, stand ganz selbstverständlich die Bibel im Mittelpunkt der Bemühungen. Folglich wird zunächst über die lateinischen wie die ins Lateinische übertragenen griechischen Kommentatoren zu den einzelnen Bücher des Alten und des Neuen Testaments gehandelt (cap. 1-9), dann über die Arten der Texterkenntnis (cap. 10), die vier anerkannten Konzilien (cap. 11), die Einteilung der Schrift nach Hieronymus, Augustinus und der Septuaginta

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(cap. 12-14), weiter über die Vorsicht, mit der die Schrift zu lesen und zu verbessern sei (cap. 15), schließlich über den Nutzen der Schriftlesung (cap. 16). Es folgt eine Aufzählung der zum Studium empfohlenen christlichen Historiker, von den (in Vivarium übersetzten) Antiquitates des Josephus und der Historia tripartita (Sokrates, Sozomenos und Theodoret) bis hin zu den literaturgeschichtlichen Übersichten (de vir. ill.'.) bei Hieronymus und Gennadius (cap. 17). Die cap. 18-23, erheblich kürzer gehalten, haben die bedeutenderen Kirchenschriftsteller zum Gegenstande (Hilarius, Cyprian, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus sowie die Abte Eugippius v. Lucullanum und Dionysius Exiguus). Nach einem Hinweis auf den rechten Eifer, in dem die Schrift zu lesen sei (cap. 24), werden die empfehlenswerten Kosmographen genannt (cap. 25), die distinguierenden Zeichen und die rhetorischen Figuren erklärt (cap. 26-27), die Schriftsteller für Garten- und Landbau jenen unter der Mönchen empfohlen, die nur zur Handarbeit taugen (cap. 28), ein topographischer und organisatorischer Blick auf Vivarium und Monte Castello gegeben (cap. 29), die Aufgaben der Kopisten und der Sinn orthographischer Regeln erörtert (30), einige Autoren medizinischer Schriften empfohlen (cap. 31), um dann mit einer - für die Lebens- und Wirtschaftsweise der Gemeinschaft außerordentlich erhellenden, weil detaillierten - Ermahnung an Abt und Gemeinschaft (cap. 32) und einem Gebet (cap. 33) Buch I der Ausfuhrungen zu beenden (Bürsgens, Einleitung 50 ff). Es handelt sich bei Inst., Hb /, dies sei nochmals hervorgehoben, nicht nur um eine Aufzählung bzw. Charakteristik einzelner Autoren und ihrer Werke. Vielmehr finden sich in den cap. 10, 15, 26, 27 und 30 Erörterungen zur philologisch-textkritischen Arbeit, womit zum ersten Mal das im Umgang mit der Profanliteratur bekannte System der Interpunktion und der textkritischen Siglen für die Arbeit am Bibeltext empfohlen wird (Bürsgens 55 ff). Buch II der Institutiones (liber secundus saecularium litterarum), geschrieben als „Lehrerersatz" für diejenigen unter den Mönchen, die ihre Schulausbildung nachholen sollten, stellt in Form von komprimierten Kompilationen eine Einfuhrung in die weltlichen Wissenschaften vor, wobei hier eines der frühen Zeugnisse dafür vorliegt, dass - wie aus Martianus Capeila bekannt - dem „Viererweg" der „Dreierweg" hinzugefügt wird und somit das System der Septem artes (bzw. disciplinae) liberales erscheint. Ohne dass bisher geklärt werden konnte, welche Vorlage hier direkt eine Rolle spielte - möglicherweise war es die „Isagoge des alexandrinischen Neuplatonikers Ammonius Hermeiu (5./6. Jahrhundert) zum Aristoteleskommentar des Porphyrius" -, bleibt es Cassiodors Verdienst, damit für den lateinischen Westen einen „Wissenschaftskanon

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formuliert zu haben, der erst im Jahrhundert der Aufklärung seine beherrschende Rolle" verloren hatte (Bürsgens 34 ff; Courcelle 326). Neben einem Vor- und Schlusswort finden sich in Buch II sieben meist sehr knappe Kapitel über Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie in der Weise, dass der meist kurzen Einführung Cassiodors eine Kompilation von Exzerpten aus bedeutenden Autoren der jeweiligen Disziplin folgt. Ausnahmen innerhalb der durchweg bescheidenen Darlegungen machen die Kapitel 2 (Rhetorik) und 3 (Dialektik), in welchen ausfuhrlicher über die Gegenstände gehandelt wird, was wohl die Bedeutung der beiden artes für das öffentliche Leben auch noch in der Spätantike spiegelt. Im Kapitel De rhetorica schöpft Cassiodor u.a., aber vornehmlich aus Cicero (De inventione), Quintilian (Institutio oratoria) und Fortunatianus (Ars rhetoricd). An Vorlagen und Gewährsleuten für das Kapitel De dialectica werden u.a. genannt: Varro (Disciplinae) und die Ubersetzung der Eisagoge des Porphyrius durch Marius Victorinus sowie der Kommentar des Boethius dazu; die Übersetzung der Categoriae des Aristoteles durch Victorinus sowie des letzteren Kommentar dazu; die Ubersetzung des LiberPerihermenias (sie!) des Aristoteles durch Victorinus sowie des Boethius Kommentar dazu; Ciceros Übersetzung der aristotelischen Topik sowie des Victorinus Kommentar dazu (Bürsgens 74 ff). Jenseits der handbuchartigen Kompilation des Wissensstoffes entfalten die Institutiones, die als Einfuhrungen (libri introduetorii) gemeint waren, vornehmlich in Buch I ausfuhrlich Cassiodors Vorstellung über die Zuordnung von weltlichem zu biblischem Wissen. Dem Konzept Cassiodors liegt dabei, wie bereits im Psalmenkommentar ausgeführt, die Überzeugung zugrunde von der Hl. Schrift: als Sinneinheit ohne innere Widersprüche, als dem Hort allen notwendigen und möglichen Wissens. Das so genannte weltliche Wissen kann also keine Eigenständigkeit beanspruchen, da es lediglich von den (weltlichen) Lehrern aus der Schrift abgezogen und auf eigene Regeln gebracht worden sei. Folglich könne es auch keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen biblischgöttlichem und weltlichem Wissen geben. „Denn zur Kenntnis der Schrift dem einzigen Weg, auf welchem das Heil erreicht werden könne - darf und muss folglich alles Wissen herangezogen werden, das Einsicht verschaffen kann. Weltliches Wissen erhält so den Stellenwert propädeutischer Kenntnisse, ist in dieser Funktion nicht nur geduldet und gestattet, sondern notwendig gefordert. So wird zugleich das weltliche Wissen aus der Verirrung gelöst und in seinen ursprünglichen Sinnzusammenhang zurückgeführt" (Jenal 652). Alle hermeneutisch-didaktischen Anweisungen und Ratschläge sowie die Präsentation des gesamten Sachwissens in den beiden Büchern der Institutiones - und

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in Buch II handelt es sich immerhin um eine Kurzfassung der Septem artes - lassen sich als Konsequenz dieser Grundposition lesen. Bekanntlich stellt dieses Konzept - das übrigens die Institutiones eng mit der Epositio Psalmorum verbindet (Bürsgens 73 f) - keine originäre Leistung Cassiodors dar. Wie er freimütig offengelegt, hat hier vielmehr Augustins theoretische Schrift De doctrina christiana Pate gestanden, eine Abhandlung, in der sich sämtliche heuristischen und didaktischen Positionen Cassiodors denn auch finden lassen. Indem Cassiodor, der Praxis weit näher als der Theorie, die komplexen Ausfuhrungen Augustins für seine Mönche in Vivarium vereinfachte so wie er auch der Not seiner Zeit gehorchend, bewährte Autoren der Septem artes in Buch II zu einer übersichtlichen Kompilation zusammenfasste -, hatte er aber ein Hilfsmittel geschaffen, dem auch im Mittelalter ein langes Nachleben als handliche Einfuhrung in die Septem artes beschieden war (O'Donnell S. 202 ff). Den späten Jahren von Vivarium bleiben ferner zwei Werke Cassiodors zuzuweisen, die sich mit der Hl. Schrift beschäftigen, jedoch in unterschiedlicher Weise. Im Falle der Expositio S. Pauli epistulae ad Romanos - erwähnt in den Institutiones und in De orthographia - handelt es sich um die Bearbeitung eines häretischen Kommentars zum Römerbrief aus der Feder des Pelagius, genauer um die Reinigung dieses Kommentars von seinen pelagianischen Irrtümern. Die Complexiones in Epistolas Apostolorum, Actuum Apostolorum et Apocalypsis Ioannis bieten gegen alle Erwartung keine Interpretationen oder Worterläuterungen, beschränken sich vielmehr auf schlichte, kurze Notizen, welche die biblische Vorlage in Abschnitte zergliedern. Das Werk blieb im Mittelalter ohne Bedeutung (O'Donnell 218, 225 ff). Das letzte Werk Cassiodors schließlich fasst man in De orthographia, einer Unterweisung zur Verbesserung der offensichtlich verwilderten Rechtschreibung, verfasst von Cassiodor auf Verlangen seiner Schreibermönche im hohen Alter von 93 Jahren. Es handelt sich auch bei dieser Schrift nicht so sehr um originäre Ausfuhrungen des Autors, sondern lediglich um eine geordnete Exzerptensammlung, geschöpft aus acht älteren, auf diesem Felde bewährten Autoren. Mönche, denen diese Exzerpte nicht genügten, sollten die Schriften der Autoren selbst studieren, die sich wohl in der Klosterbibliothek befanden. Bei der Aufzählung seiner Werke übergeht Cassiodor - warum bleibt offen - seine Bearbeitung der drei Kirchenhistoriker Sokrates, Sozomenos und Theodoret, eine Arbeit, die die Chronik des Eusebius (in der lateinischen Bearbeitung des Rufinus) ergänzen und fortsetzen sollte. Nach Auskunft der Praefatio ließ Cassiodor die griechischen Geschichtswerke der drei genannten Kirchen-

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historiker durch einen seiner Übersetzer {Epiphanias scolasticus), ins Latein übertragen und verschmolz Auszüge dieser Ubersetzungen zu einem Ganzen, indem er mal den einen, mal den anderen Autor als Leittext heranzog und diesen dann durch Parallelen aus den der beiden anderen Autoren ergänzte. Das Unternehmen umfasste 12 Bücher, führte den Titel Historia ecclesiastica tripertita und wurde im Mittelalter - trotz mancherlei Fehler in Ubersetzung wie Redaktion - eines der am meisten benützten kirchenhistorischen Werke (Bardenhewer; O'Donnell 229 ff).

3. Wirkungsgeschichte/Nachleben Bei dem Versuch, Cassiodors postumen Einfluss zu beleuchten, ist vorab zu konstatieren, dass eine detaillierte und fundierte Wirkungs- oder Rezeptionsgeschichte dieses Autors für das Mittelalter bis heute fehlt. Die Überlieferungsgeschichte der Texte scheint zwar im Großen und Ganzen geklärt, die inhaltliche Rezeption Cassiodors aber ist nur punktuell erhellt. Über diesen Tatbestand hinaus gilt es hier, noch weitere Aspekte zu unterscheiden. Die Frage, ob dem Klostertypus von Vivarium zu irgendeiner Zeit Modellcharakter zukam oder nicht, ist zu trennen von jener nach dem Schicksal der Gemeinschaftsbibliothek in späteren Zeiten; und das Nachleben der Werke Cassiodors (sowie der in seiner Gemeinschaft erstellten Übersetzungen) wiederum bleibt zu scheiden von der Bedeutung seines Wissenskonzeptes für das Mittelalter. Gegenüber einer älteren, nicht selten noch wenig differenzierten und fast schwärmerischen Hochschätzung seitens einiger Paleographen und Kulturhistoriker, die in Cassiodor einen frühen „Humanisten", den Gründer einer christlichen „Hochschule" oder „Akademie", einen Retter des klassischen literarischen Erbes oder zumindest doch einen Vorläufer der karolingischen Renaissance feierten, fallen die Ergebnisse der jüngeren Forschung weniger euphorisch aus. Die Untersuchungen der letzten Jahre bemühen sich um eine historisch-realistischere Bewertung, was in mancher Hinsicht auch auf eine Redimensionierung von Person und Wirkung des Gründers von Vivarium hinausläuft. Als ein wesentliches Ergebnis dieser Neueinschätzung gilt zunächst festzuhalten, dass Vivarium keineswegs jene monastische Gemeinschaft war, in der man zum ersten Mal Studien betrieben, den Umgang mit Texten pflegte und sich um den Aufbau einer Bibliothek bemüht hat. Denn die Gemeinschaften in Lucullanum (Severin), Cagliari (Fulgentius), Nola (Paulinus) sowie St. An-

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dreas in Rom (Gregor d. Gr.) und vermutlich auch Montecassino - um nur im etwa zeitgleichen italischen Umfeld zu bleiben - waren Orte, wo ebenfalls und teils früher schon als in Vivarium, studiert, gelesen und geschrieben wurde (Jenal 157 ff, 631 ff; 180 ff, 639 ff; 98 ff, 609 ff; 266 ff, 665 ff; 196 ff). Dennoch haben als Besonderheiten der Gemeinschaft in Vivarium der gleichsam systematisch betriebene Aufbau einer Bibliothek exzeptionellen Umfangs sowie das zugrundeliegende Bildungskonzept ihres Begründers zu gelten. Für beides aber lässt sich eine unmittelbare Wirkung auf das zeitliche Umfeld und die folgenden Generationen weder für Italien, noch für andere Regionen des lateinischen Westen nachweisen. Denn nach Cassiodors Tod finden sich nur noch zwei Nachrichten zu Vivarium (im Registrum Gregors d. Gr.), beide lediglich Besitz- und Rechtsstreitigkeiten mit dem Ortsbischof betreffend und keine über das Jahr 600 hinausreichend. Danach verschwindet die Gemeinschaft aus den Quellen, und es muss offen bleiben, ob sie infolge der verheerenden Rückeroberungskämpfe Ostroms in Bedeutungslosigkeit versunken oder gar vollständig untergegangen ist. Es lässt sich nicht sagen, wo man im 7. und 8. Jahrhundert in Italien oder sonst wo im lateinischen Westen überhaupt noch etwas von Vivarium wusste. Von einer Modell- oder auch nur Vorbildfunktion der Gründung für die unmittelbar folgenden Jahrhunderte kann also nicht die Rede sein. Im Kontext mit dem ungewissen Schicksal Vivariums bald nach Cassiodors Tod stellt sich unvermeidlich die Frage nach dem Verbleib der großen Bibliothek. Die These von einem völligen Untergang der Bibliothek wie jene von einer kompletten Ubersiedlung nach Bobbio oder Verona, sind aufgegeben, da nicht zu belegen. Statt dessen vermutet man mittlerweile - und besser begründet dass ein Teil der Manuskripte nach Cassiodors Tod in die päpstliche Bibliothek im Lateran gelangte, von wo sie unter den Päpsten des 7.-9. Jahrhunderts, teils in Originalen, teils in Abschriften, dann über ganz Europa verstreut wurden (Courcelle, Les lettres 343 ff). Eine andere Seite in der Wirkungsgeschichte Vivariums schlägt man auf, wenn man sich dem Nachleben der einzelnen Schriften aus Cassiodors Feder sowie jener unter seiner Leitung angefertigten Ubersetzungen zuwendet. Das älteste unter den vollständig erhaltenen Werken Cassiodors, seine Chronica, gelten seit Th. Mommsens Urteil als Dokumente von historisch wie literarisch geringem Wert, eine Einschätzung, die sich grosso modo auch in der Uberlieferungs- und Wirkungsgeschichte widerspiegelt. Die Überlieferung dieses Werkes ins Mittelalter scheint hauptsächlich nur über eine - heute verlorene Abschrift gelaufen zu sein, die sich bereits 842 auf der Reichenau befand, von den Chronisten Hermann d. Lahmen (Reichenau) und Bernold (Konstanz)

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benützt wurde und heute in zwei Abschriften des 10./11. Jahrhunderts erhalten ist. Aus einer dieser Handschriften schöpften später Marianus Scottus (f 1082) und die Annales Disibodenbergenses. Im weiteren Verlauf des Mittelalters hat die Chronik keine bedeutenden Spuren hinterlassen, verschwand dennoch nicht völlig aus der Erinnerung. Sigebert von Gembloux (De vir. ¿11), der Anonymus Mellicensis (Prüfening), der englische Chronist Ranulph Higden (f 1363), einige Chronisten Italiens des 15. Jahrhunderts sowie Johannes Trithemius (f 1516) erwähnen das Werk zumindest noch, wenn auch vermutlich kaum einer von ihnen „Cassiodors Schrift wirklich in Händen gehabt" hat (Lehmann 40). Nachweislich herangezogen hat die Chronik erst wieder der Humanist und Diplomat Johannes Cuspinianus in seinem - 1535 in Basel postum erschienenen Werk über die römischen Konsuln. Seither gilt die Handschrift auf der Reichenau übrigens als verschollen (Brunhölzl 29; O'Donnell 242 f). Die ursprünglich 13 Bücher umfassende Historia Gothica Cassiodors, von ihm selbst später nicht mehr erwähnt, hat keine direkten Spuren hinterlassen; sie scheint seit dem 8./9. Jahrhundert verschollen und findet sich in keinem Bibliothekskatalog des Mittelalters mehr. Indirekt überlebt und die Geschichtsschreibung auch stark beeinflusst hat sie allerdings in einem etwas dürren Auszug des Jordanes (De origine actibusque Getarum). In Form dieser Epitome ist Cassiodors Werk bereits im frühen Mittelater benützt worden, auch im Karolingerreich durchaus bekannt geblieben und seit Paulus Diaconus (f ca. 799) und Frechulf von Lisieux (1. Hälfte 9. Jahrhundert) immer wieder von den Historikern herangezogen worden, wenn es um die Geschichte der Goten ging. Seit dem 12. Jahrhundert war die Arbeit des Jordanes auch in England bekannt, und selbst für die heutige Forschung bleibt die Epitome des Jordanes als Quelle zur Geschichte der Goten noch von Bedeutung (Mommsen, MG AA V (1882), Proemium VII-XXX; Brunhölzl 31). Als das erste, auch hinsichtlich seiner Wirkungsgeschichte bedeutende Werk aus der Feder Cassiodors, gelten seine Variae, deren Nachleben allerdings von zwei bemerkenswerten Umständen begleitet war. Zum einen findet sich bis zur Karolingerzeit kaum eine Spur dieses Werkes, seit dem 11. Jahrhundert aber eine außergewöhnliche dichte Uberlieferung von mehr als 100 Manuskripten, eine Uberlieferung, die für die älteren Zeiten allerdings nur „an einem Faden" gehangen hat, wie es scheint. Denn die späteren, zahlreichen Manuskripte gehen auf einen Archetypus zurück, der nicht vor dem 11. Jahrhundert erstellt worden ist. Und in ihrer Mehrzahl gehören die erhaltenen Abschriften gar der Zeit zwischen dem 12. bis 14. Jahrhundert erst an. Offensichtlich hatte der Text erst im 12. Jahrhundert vor allem in Frankreich und Süddeutschland,

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seit dem 13. Jahrhundert dann im gesamten lateinischen Westen Verbreitung gefunden (Mommsen, M G H AA 12, Proemiuni). Zum anderen existieren trotz der beachtlichen Menge an Manuskripten seit dem 11. Jahrhundert nur drei Exemplare, die alle Bücher, und damit den vollständigen Text der Variae enthalten. Zwei dieser Exemplare sind dem 14., eines gar erst dem 15. Jahrhundert zuzuordnen. Alle übrigen Textzeugnisse überliefern nur einzelne Bücher der Variae, ein Hinweis wie er nicht deutlicher sein könnte für die Tatsache, dass Cassiodors Text im Hoch- und Spätmittelalter kaum als ganze Sammlung interessiert hat, vielmehr selektiv als Gebrauchstext benützt worden ist (O'Donnell 242). Die Gründe, warum erst das Hoch- und Spätmittelalter die Variae zur Kenntnis genommen hat, werden einmal in dem Umstand gesehen, dass seit dem 11. Jahrhundert ein - in Italien erwachtes - neues Interesse an geschliffener Briefliteratur entstanden sei mit der Folge, dass Cassiodors Mustersammlung zum Vorbild mittelalterlicher Formelbücher werden konnte (Brunhölzl 29). Zum andern erklärt man das Phänomen vor dem Hintergrund einer im Hochmittelalter zu beobachtenden intellektuellen Emanzipation, der allmählichen Lösung des politischen Denkens von ethischen Vorgaben nämlich, eine Entwicklung, in deren Folgen sich die Variae dann als handliche Sammlung von Beispielen für politisches Handeln nach christlichen Moralvorstellungen angeboten hätten (Ulimann 119). In diesem Sinn erkläre sich beispielsweise auch die ausdrückliche Berufung Joachims von Fiore (fl202) in seinem Defensorpacis auf Variae 1,1 (Theoderichs Bitte an Anastasius 508, ihre bisherigen freundschaftlichen, politischen Beziehungen zu bekräftigen). [Die Editio princeps des vollständigen Textes erschien 1533 zu Augsburg (zusammen mit De anima). Enthalten sind die Variae dann in der Gesamtausgabe vonjoh. Garetius, Rouen 1679. Modernen Anforderungen entsprechen die Editionen von Th. Mommsen (MGH AA 12) und die jüngste von Á. J. Fridh], Ein bemerkenswertes Nachleben ist für Cassiodors Schrift De anima - vom Autor als Buch 13 seiner Variae bezeichnet, häufig aber getrennt von diesen überliefert - zu konstatieren, belegt durch eine stattliche Zahl von Manuskripten sowie zahlreiche Eintragungen in mittelalterliche Bibliothekskataloge. Etwa 170 Manuskripte sind auf uns gekommen, davon ca. 120 dem 9.-15. Jahrhundert zugehörig und De anima alleine überliefernd; weitere 50 etwa werden dem 12.-15. Jahrhundert zugeschrieben und bieten den Text zusammen mit den Variae. Darüber hinaus liegen ca. 40 Erwähnungen in mittelalterlichen Bibliothekskatalogen des 9./10. Jahrhundert vor. Ausdrücklich auf De anima

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zurückgegriffen haben Hrabanus Maurus, Hinkmar von Reims, Aelred von Rievaulx, Albertus Magnus und Johannes Pechem (f 1292) (Halporn, CCL 96, 516fF; O'Donnell 243). Obgleich Cassiodor in De anima wenig originäre Gedanken bietet, sich vielmehr thematisch wie inhaltlich ganz an der Tradition sowie an älteren Vorgängern orientiert und dabei vornehmlich aus Augustinus schöpft, lassen sich die Spuren seiner Schrift von der Karolingerzeit bis zur Hochscholastik verfolgen. (Von dann ab läuft die Diskussion über das Problem der Seele allerdings in anderen Bahnen). Ganz offensichtlich aber gelang es Cassiodor mit seinem, wenn auch in diesem Sinne bescheidenen Werk doch, „die reife Frucht der Väterzeit dem kommenden Jahrtausend" zu übermitteln (Brunhölzl 35, O'Donnell 243). - [Editioprinceps-. Mariangelo Accursio, Augsburg 1533 (bei H. Siliceus); mehrere Edd. im 16./17. Jahrhundert; Joh. Garetius, Opera ommnia, Rouen 1679 (Reprint Venedig 1729; Migne 69/70,1865); neueste Ed .von J. E. Haipom]. Der Psalmenkommtar Cassiodors, die Expositio psalmorum, unter seinen Werken fraglos das umfangreichste und vermutlich auch das bedeutendste, erfreute sich breiten Interesses auch im Mittelalter, wie die außergewöhnliche Uberlieferungssituation zu erkennen gibt. Mindestens 18 Bibliothekskataloge zwischen dem 9.-12 Jahrhundert erwähnen diesen Kommentar - darunter die Kataloge der Klöster St. Gallen, Murbach, Lorsch, Bobbio (9. u. 10. Jahrhundert), Cluny, St. Aper in Toul, St. Laurentius Leodiensis (11. Jahrhundert), St. Bertin, St. Michael in Bamberg, Corbie und Stablo-Malmedy (12. Jahrhundert). Einige weitere Katalogeinträge existieren für das 14. u. 15. Jahrhundert. Das Vorwort der jüngsten Edition zählt 85 Handschriften zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert (Adriaen, VIII-XI), außerdem sind 30 Exzerpte und Fragmente des Kommentars bekannt (Hahner 9). Der Uberlieferungssituation entsprechend lassen sich auch zahlreiche Erwähnungen dieses Werkes bei mittelalterlichen Autoren finden. Die stattliche Reihe eröffnet Beda (8. Jahrhundert), gefolgt dann u.a. von Alcuin, Amalarius, Hildemar, Hinkmar v. Reims, Notker Balbulus (9. Jahrhundert), Flodoard v. Reims, Bern von der Reichenau (10./ 11.Jahrhundert), Abaelard. Und im Decretum Gratianum (12.Jahrhundert) nicht weniger als in den Glossa ordinaria, dem berühmten Kommentar des Mittelalters, finden sich häufig Bezugnahmen zu diesem Psalmenkommentar. Des weiteren lassen sich zahlreiche Nennungen von Cassiodors Werk in mittelalterlichen Kommentaren und Glossen zum Buch der Psalmen nachweisen (Adriaen, V-VIII). - Dass eine solch beeindruckende überlieferungsgeschichtliche Statistik schließlich für die Bedeutung des Textes im Mittelalter spricht, versteht sich von selbst. Unterstrichen werden kann diese Bilanz nur noch durch den

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vergleichenden Hinweis, dass die Zahl der erhaltenen Manuskripte von Cassiodors Werk jene der Psalmenkommentare eines Ambrosius, Hilarius, Arnobius jun., Prosper und sogar eines Hieronymus übersteigt. Übertreffen wird diese exzeptionelle Überlieferungssituation lediglich im Falle von Augustins Enarrationes, dem Vorbild, zu dem sich Cassiodor ausdrücklich und wiederholt bekennt (Adriaen VIII; O'Donnell 243 f). Cassiodors Psalmenkommentar zusammen mit Augustins Werk die einzigen Gesamtkommentare des Psalters in der Antike - steht zwar im Schatten des großen Vorbildes, bleibt aber durchaus von Bedeutung für die mittelalterliche Exegese eines der populärsten Bücher der Schrift. [Die Editioprinceps erschien, von Ioannes a Lapide besorgt, 1491 zu Basel, gefolgt von fünf weiteren Ausgaben im Verlauf des 16. Jahrhunderts. Die Cassiodorausgaben des 17. Jahrhunderts sind dann z.T. selektiv. Konfessionsgeschichtlich interessant bleibt die Tatsache, dass die vier Cassiodorausgaben von Genf (1601,1609,1622,1650) den Psalmenkommentar nicht enthalten. Die bedeutende Ausgabe der Neuzeit findet sich in der Cassiodorgesamtausgabe von J. Garetius, Rouen 1679 (Nachdrucke: Venedig 1729, Migne, PL 70, Paris 1868). Die letzte Ausgabe wurde von M. Adrien besorgt, entspricht offensichtlich aber nicht in allen Belangen den Vorstellungen einer modernen, kritischen Edition (Hahner 11 ff)]. Für das Mittelalter kaum weniger bedeutend als Cassiodors Psalmenkommentar waren seine zwei Bücher umfassenden Institutiones. Obwohl ursprünglich für die Mönche in Vivarium zur Einführung in das Studium der Hl. Schriften gedacht und daher auch als Einheit verstanden, wurde Cassiodors Werk im Mittelalter kaum als Einheit wahrgenommen. Sehr früh schon wurden die beiden Bücher der Schrift zu unterschiedlichem Gebrauch voneinander getrennt und gingen so jeweils eigene Wege der Uberlieferungs- und Wirkungsgeschichte. Nur vier Handschriften zwischen dem 8.-12. Jahrhundert überliefern beide Bücher der Institutiones gemeinsam. Buch I allein ist dagegen in ca. 15 Manuskripten des 9.-12. Jahrhunderts, in mehr als 30 aus späteren Zeiten auf uns gekommen. Daneben finden sind zahlreiche Einträge in Bibliothekskatalogen (Mynors, X-XIV, XXXIX). - Komplizierter allerdings verlief die Überlieferungsgeschichte von Buch II, das in drei Versionen, d.h. in unterschiedlichen Überarbeitungen, die Zeiten überdauert hat: Erstens in der als „authentisch" eingeschätzten, kürzeren Form (ca. acht Manuskripte des 9./10. Jahrhunderts neben mehreren, auf diesen fußenden Exzerptsammlungen); zweitens in einer ersten interpolierten Fassung (drei Manuskripte des 8./9. und eines des 15. Jahrhunderts); drittens in der zweiten interpolierten Version (dreizehn

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Manuskripte des 9.-11. Jahrhunderts und zahlreiche, davon abhängige Exzerptsammlungen des 9.-11. Jahrhunderts) (Mynors, XVIII-XXXIX). Man muss wohl davon ausgehen, dass Cassiodor das Werk mehrfach selbst überarbeitet und es erst gegen Ende seines Lebens gänzlich aus der Hand gelegt hat. Diese Sachlage vorausgesetzt, könnte sich die erstaunliche Subscriptio eines Manuskriptes des 8. Jhs. erklären, die daraufhinweist, vorliegender codex sei „der Archetypus, nach dessen Vorbild die anderen zu berichtigen seien" (Codex archetypus ad cuius examplaria sunt reliqui corrigendi) (Brunhölzl 39). Allerdings wird auch die nahe liegende These vertreten, diese Subscriptio gehe nicht auf den Autor Cassiodor, vielmehr auf einen Schreiber aus späteren Zeiten zurück, als bereits variantenreiche Abschriften in Umlauf waren (Mynors X). Da die handschriftliche Uberlieferung der Institutiones nicht vor dem 9. Jahrhundert greifbar wird, ist nicht davon auszugehen, dass erst Cassiodors Schrift das Studium in den Klöstern des Abendlandes grundgelegt hat. Dies war unter irisch-angelsächsischem Einfluss längst geschehen, ohne dass wir einen Hinweis dafür besitzen, Cassiodors Schrift sei Iren und Angelsachsen vor der Karolingerzeit schon bekannt gewesen. Während sich die erste deutliche Spur einer Rezeption der Institutiones, allerdings nur in Form von Buch II, bei Isidor von Sevilla findet - Hinweise für eine Kenntnis bei Gregor d. Gr. und Leander bleiben äußerst vage (Holtz 531 ff) kannte Beda die Schrift Cassiodors offensichtlich noch nicht. Als erster Angelsachse hat vermutlich Alkuin sporadisch aus Buch II geschöpft. Mit dem 9. Jahrhundert erst setzte dann die weitere Verbreitung der Institutiones ein, zunächst aber auch lediglich mit der Rezeption von Buch II. Dieses Buch wurde seit dem 9. Jahrhundert allerdings häufig interpoliert, mit verwandten Texten (vornehmlich aus Boethius) angereichert und diente als eine Art Unterrichts- und „Schulbuch" zur Einfuhrung in die Septem artes. (O'Donnell 244; Brunhhölzl 40; Mynors IX f). Buch I hingegen erscheint in ganz anderen Funktionen. Nicht selten wurde es in den Klöstern als Anschaffungsliste für den Bibliotheksbestand und als literaturgeschichtliches Übersichtswerk in der Art von De viris illustribus verwendet. Im Ganzen lag der Vorzug von Cassiodors Institutiones - bis hin zur Scholastik - aber eher darin, dass sie eine geordnete Sammlung von Wissensstoff boten, der aus älteren, bewährten Vorbildern zusammengetragen, bequem und handlich zu benützen war. Die - zumindest für uns - interessanteren, theoretischen Ausfuhrungen in Buch I, die von Cassiodor dort erläuterten methodischen und heuristischen Anweisungen, waren für die Lese- und Schreibkun-

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digen des Mittelalters offensichtlich kaum von Interesse. (O'Donnell 245; Brunhölzl 40). Ein Fall nur (Benevent) ist belegt, der zeigt, dass die Ausfuhrungen in Buch I zum Ausgang für eigene, weitere Bemühungen genommen worden sind (Lehmann 60; Brunhölzl 40). [Zur Editioprinceps-. Inst. /: Jac. Pamelius, Antwerpen 1566 (bei Christopher Plantin); Inst. I/II: Wilh. Fornerius, Paris 1579 (bei Sebastian Nivellius). Spätere bedeutende Editionen: Gesamtedition Cassiodors von Joh. Garetius, Rouen 1679 (Reprint Venedig 1729; Migne 70 [1865]); moderne Ausgabe: R.A.B. Mynors]. Von den Altersschriften Cassiodors hat die Mehrzahl - Expositio epistulae ad Romanos", Complexiones; Liber memorialis - kaum oder gar keine Spuren im Mittelalter hinterlassen. Lediglich für Cassiodors letzte Arbeit De orthographia lässt sich in spätkarolingischer Zeit noch ein gewisses Echo in Frankreich feststellen. Von weit größerer Bedeutung hingegen waren die Ubersetzungen und Bearbeitungen aus dem Griechischen, die in Vivarium angefertigt worden sind und Cassiodor zum gewichtigen Vermittler griechischen Buchwissens an den lateinischen Westen werden ließen. Neben den Instituto des Junilius (Iunillus), den Antiquitates Judaicae sowie der Apología contra Apionem des Flavius Josephus bleibt hier vor allem auf die Historia tripartita (Sozomenos, Sokrates und Theodoretus) zu verweisen, deren Redaktion, d.h. deren Textauswahl und -Zusammenstellung auf Basis jener von Epiphanius übersetzten Vorlagen, Cassiodor selbst vorgenommen hatte. Mit dieser Arbeit - Cassiodor überging sie erstaunlicherweise später bei der Aufzählung seiner Werke, möglicherweise, weil es sich „lediglich" um eine Redaktion handelte - fassen wir immerhin eines der meist benützten Bücher der Kirchengeschichte im gesamten lateinischen Westen von der Karolingerzeit bis zum Spätmittelalter (Brunhölzl 41; O'Donnell 246 f). Versucht man, Cassiodors Bedeutung für das Mittelalter nach heutiger Forschungslage zusammenfassend zu skizzieren, so ist zunächst festzuhalten, dass es sich hier um einen häufig genannten, durchaus geschätzten und in einigen seiner Werke auch stets gelesenen Autor handelte. Dennoch, Cassiodor galt dem Mittelalter nicht als „Kirchenvater" (O'Donnell 249). Offensichtlich war Vivarium für die Zeitgenossen wie für die unmittelbar folgenden Jahrhunderte nicht Modell, aufgrund besonderer Bedingungen eher der Sonderfall einer asketischen Gemeinschaft. Und soweit für Cassiodors Schriften ein Nachleben zu belegen ist, setzte dies nicht vor dem 9. Jahrhundert ein. Cassiodor war weder ein Retter klassischer Autoren - kein bedeutender Text der Antike ist

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nur durch ihn überliefert -, noch der Begründer monastischer Studien. Dennoch haben mindestens vier seiner Schriften zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert eine wesentliche Rolle für die Ausbildung und Bildung im Mittelalter gespielt. Dass Cassiodor kein großer Denker und origineller Ideengeber war, und sein Einfluss - vornehmlich auch sein von Augustinus geborgtes Konzept des propädeutischen Charakters allen weltlichen Wissens für die Bibelkenntnis seit der Scholastik zu verblassen begann, kann seine Bedeutung für die Zeit zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert nicht schmälern. Es bleibt daran zu erinnern, dass Cassiodor - ganz ähnlich wie Gregor d. Gr. - ein Mann jener Umbruchzeiten war, die unter den incursiones barbarorum zu leiden hatten, Zeitläufte, wo es weniger um große theoretische Entwürfe als um Erhalt und Rettung des Bestandes ging. Für solch konkrete Bedürfnisse waren seine Schriften einst verfasst worden. Und nichts könnte seinen Rang als Lehrer Europas besser unterstreichen als die Tatsache, dass dennoch einige seiner Schriften zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert - und partiell darüber hinaus - eine zentrale Rolle in der Unterweisung von Mönchen und Klerikern spielten, und dass Buch II der Institutiones nicht nur zum Rang eines „Schulbuches" in den Klöstern des Mittelalters aufgestiegen war, sondern mit den Grund gelegt hat für einen Wissenschaftskanon, der für das Abendland bis in die Neuzeit von Bedeutung geblieben ist.

Bibliographie Editionen Cassiodorus Ordogeneris Cassiodorum, ed. Ä.J. Fridh, CCL 96 (1973), S. V f. De anima (= Variarum Uber XIII), ed. J.W. Halporn, CCL 96 (1973), S. 533 ff. Chronica, ed. Th. Mommsen, M G H A A 11 {Chronica minorall), Berlin 1894, S. 130-161. Complexiones in Epistolas Apostolorum, Actuum Apostolorum et Apocalypsis Ioannis, PL 70, Sp. 1319-1418. De orthographia, ed. H. Keil, Grammatici latini VII, Leipzig 1880, S. 143-210. Historia ecclesiastica tripartita, ed. W.Jacob, R. Hanslik, CSEL 71 (1952). Expositiopsalmorum, ed. M. Adrien, CCL 97/98 (1958). Expositio S. Pauli epistulae ad Romanos, PL 68, Sp. 415 ff. Institutiones divinarum et humanarum lectionum, ed. R. Mynors, Oxford 1937. Orationum reliquiae, ed. L. Traube, M G H A A 12, Berlin 1894. Variarum libriXII, ed. A. J Fridh, CCL 96 (1973).

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Literatur Bardenhewer, Otto: Geschichte der altkirchlichen Literatur, Bd. V: Die letzte Periode der altkirchlichen Literatur mit Einschluss des ältesten armenischen Schrifttums. Freiburg 1932 (ND 1962). Brunhölzl, Franz: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Bd. I: Von Cassiodor bis zum Ausklang der karolingischen Erneuerung, München 1975. Bürsgens, Wolfgang: Einleitung (in: Cassiodor, Institutiones divinarum et saecularium litterarum (Fontes Christiani 39/1), S. 9-88, Freiburg 2003. Courcelles, Pierrre: Le site du monastère de Cassiodore, in: Mélanges H e l m , der französisch .heaume' heißt. Die cassis, Genitiv cassidis, ist ein < E i s e n - > H e l m , der französisch auch so heißt. Der cassis, Genitiv cassis, ist < h i n g e g e n > ein Netz. Die lorica, Genitiv lorice, ist ein Panzerhemd, das französisch .haubert' heißt. Das lorale ist das Zaumzeug, das französisch .lorein' heißt. Das lorum, Genitiv lori, ist der Riemen, der französisch ,reyne' heißt. Die habetia ist der Zügelriemen, der französisch ebenso heißt.

Johannes verfasst noch ein drittes Lehrbuch, das der Erweiterung und Vertiefung des Wortschatzes dient: den Unus omnium. Dieses Vokabelbuch enthält viele seltene Wörter, und mit über dreitausend Versen ist es auch umfassender als die beiden ersten (Prosa-)Textbücher. Vermutlich war es für Fortgeschrittene gedacht. Im Unus omnium ordnet Johannes die zu lernenden Begriffe nicht nach inhaltlichen Gesichtspunkten, sondern dem Alphabet nach. Allerdings berücksichtigt er dabei, wie zu seiner Zeit meist noch üblich, nur den jeweiligen Anfangsbuchstaben der Wörter. Innerhalb der alphabetischen Ordnung gruppiert er um ein Grundwort die entsprechenden Ableitungen (derivata und composita), zum Beispiel (Vers 25, Hunt 1991, Bd. I, S. 397): Ars componit iners, -tifex, sollercia, sollers. Kunst steckt in kunstlos, Künstler, Kunstfertigkeit, kunstfertig.

Prosodische Abweichungen (in diesem Fall: die Längung des Buchstaben „i" in artifex) rechtfertigt Johannes: Das Werk solle Wörter in geordneter Darstellung vermitteln, demgegenüber sei Prosodie nachrangig (Vers 1-3, Hunt 1991, Bd. I, S. 397). Das Zusammenstellen von Wortfamilien (nomina, verba und adverbia bzw. composita und derivata) verrät den Grammatiker in Johannes. Es hat sich aber auch unter didaktischen Gesichtspunkten und speziell als mnemotechnische Hilfe im Unterricht bis heute bewährt. Die alphabetische Ordnung wiederum wurde im lexikalischen Bereich schon in spätantiken Glossaren, dann im 7. Jahrhundert von Isidor im zehnten Buch seiner Etymologien und im 11. Jahrhundert von Papias in seiner großen, wörterbuchähnlichen lateinischen Enzyklopädie benutzt.

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Während Papias und seine Nachfolger Huguccio von Pisa (12. Jahrhundert) und Johannes Baibus (13. Jahrhundert) in Prosa schreiben und die einzelnen Begriffe durch längere oder kürzere Einträge erläutern, stellt Johannes de Garlandia lediglich die Wörter nach den genannten Prinzipien listenartig zusammen, und zwar in Hexametern. Das mag aus heutiger Sicht seltsam anmuten. Im Mittelalter ist es jedoch durchaus üblich, alle möglichen Handbücher in gebundener Sprache zu schreiben, z.B. Grammatiken und medizinische Traktate und vieles mehr, denn Verse gelten damals als schönere Form für nahezu einen jeden Inhalt. Hinzu kommt eine mnemotechnische Funktion: Nicht wenige dieser umfangreichen Werke werden bis in die frühe Neuzeit hinein schlicht auswendig gelernt, und dabei dienen die Verse als Memorierhilfe. Heute wird in der Schule und an der Universität nicht mehr seitenweise auswendig gelernt. Abstrakte Beschreibungsmodelle haben Wortlisten abgelöst, und sie haben unbestritten ihren didaktischen Wert. Andererseits kommt man beim Erlernen einer Fremdsprache nicht um ein gewisses Maß an Pauken vorbei, und in der Praxis haben sich die kodierten, sprachlich extrem verknappten und oft gereimten Memorialverse zumindest auf dem Gebiet der Grammatik bis heute gehalten. So heißt es im Lateinunterricht noch immer: A und ab, e, ex und de, cum und sine, pro und prae.

(Diese Präpositionen stehen mit dem Ablativ.)

Oder: Nach st, nisi, ne und num, fallt das ¿z/z um.

(Gemeint ist das ali- von aliquis.)

Nach solchen Merkversen kann man nicht die Grammatik lernen, wohl aber kann man mit ihrer Hilfe das Gelernte memorieren. Wer den Unterricht verschlafen hat und nur mit den Versen konfrontiert wird, wird verständnislos den Kopf schütteln, ähnlich wie der moderne Leser bei der Lektüre des Unus omnium, wo wir nur noch die Merkverse haben und den dazugehörigen Unterricht höchstens an den Glossen erahnen können. In Versform sind schließlich eine Reihe weiterer Vokabelbücher geschrieben, deren Echtheit heute umstritten, z.T. sogar widerlegt ist, die aber unter dem Namen des Johannes von unzähligen Schülern bis in die Frühe Neuzeit hinein auswendig gelernt werden. Der Dictionarius metricus etwa, der nach seinen Anfangsworten auch Ollapatella (das heißt: „Topf, Schale, ...") oder nach seinem Umfang schlicht „12x10" (Duodecim decad.es) genannt wird, ist ein kleines Verzeichnis zum Thema De utensilibus domi, das in 120 Hexametern etwa

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700 Substantive, inhaltlich gruppiert und zusätzlich durch das Versmaß in eine memorierfahige Form gebracht, aufzählt. Schwierige und seltene Wörter werden in den Handschriften glossiert, wieder erhält der Schüler also Verstehenshilfen, und zwar auch hier nicht nur auf Lateinisch, sondern auch in seiner Muttersprache, und es gibt sogar ganze Paraphrasen auf Altfranzösisch, Englisch und Deutsch. Ganz besonders auf Verstehenshilfen angewiesen war der Schüler beim Distigium, das heißt übersetzt „Doppelvers" (Distichon). Diese kleine, lediglich aus 42 paarigen Hexametern bestehende Schrift, die auch unter dem Namen Cornutus oder Cornutus antiquus bekannt ist, enthält allgemeine Sprüche und Lebensregeln in gesuchter, überwiegend griechisch-lateinischer Sprache. Es ist anzunehmen, dass sie eher der lexikalischen als der moralischen Belehrung diente. Ihre Zuschreibung an Johannes gilt heute als widerlegt, doch zeigt ihre reiche Überlieferung, wie gerne sie unter seinem Namen gelesen wurde, vor allem im deutschsprachigen Raum: Vier Fünftel der über hundert erhaltenen Manuskripte sind deutscher Herkunft, und es gibt mehrere deutsche Versübersetzungen. Eine Fortsetzung erfuhr das Werk im Nervus Cornutus des Otto von Lüneburg (13./14. Jahrhundert), der denselben Aufbau (21 Hexameter-Paare), einen ähnlichen Inhalt und vergleichbares Sprachmaterial (schwierige Wörter oft griechischen Ursprungs) hat und wie der Cornutus des Johannes durchgängig lexikalisch glossiert und kommentiert und ebenfalls ins Deutsche übersetzt worden ist. In den Handschriften werden beide Werke oft gemeinsam überliefert. Damals wie heute im Unterricht beliebt sind Synonyma-Sammlungen, denn sie tragen zur stilistischen Wortfulle bei. Schon Isidor stellt sie daher für seine Schüler zusammen. Das unter dem Namen des Johannes laufende Heft Synonyma ist aus mnemotechnischen Gründen wieder in Versform. Uber 80 Handschriften und 13 Frühdrucke lassen erahnen, wie verbreitet es gewesen ist. Auch zwei Zusammenstellungen von gleich lautenden und ähnlich lautenden Wörtern mit unterschiedlichen Bedeutungen wurden dem Johannes zugeschrieben. Solche Wörter haben den Schülern schon immer Schwierigkeiten bereitet. Seit dem 12. Jahrhundert setzen sich an den Schulen von Paris und anderswo spezielle Lehrbücher dafür durch, z.B. die Versus de dijferenciis des Serlo von Wilton (1110-81), eines Engländers, der in Paris studiert und eine Zeitlang unterrichtet. Dass auch die Johannes zugeschriebene Sammlung Equivoca fleißig benutzt wurden, zeigt die reiche Uberlieferung und Glossierung der ersten, mit den Worten A nomen signatbeginnenden Sammlung (mindestens 55 Handschriften und 19 Frühdrucke).

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Last but not least werden mehrere Hefte mit Zusammenstellungen von Verben und Verbklassen unter dem Namen des Johannes überaus populär. Die Verba deponentialia beispielsweise, eine etwa 240 Hexameter lange Liste von Deponentien, werden allein in den Jahren 1483-1504 mindestens vierzig Mal aufgelegt, im Schnitt also zweimal pro Jahr. Immerhin fünf Inkunabeln gibt es von einer Sammlung Nomina et verba defectiva, die neben indeklinablen Substantiven und defektiven Verben auch einige griechische und hebräische Wörter erklärt. Die größte Verbreitung im Druck erfahrt die erste von zwei umfangreichen Sammlungen mit dem selbsterklärenden Titel Composita verborum (über fünfzig Auflagen in den Jahren 1480-1504). Die knappe Ubersicht hat gezeigt: Wollte, sollte oder musste im Hohen Mittelalter oder in der Frühen Neuzeit jemand lateinische Vokabeln lernen oder lehren, fand er unter dem Namen Johannes de Garlandia sowohl für den Anfangsunterricht als auch für die Erweiterung und Vertiefung des Wortschatzes die geeigneten Hilfsmittel: für Anfanger Prosa-Lesebücher, die die Grundlage für eine aktive Sprachbeherrschung legen und auf den Alltag zugeschnitten sind oder auch auf eine spezielle Zielgruppe (die Höflinge), und für Fortgeschrittene Vokabellisten unterschiedlicher Art: knapp gehaltene und umfangreiche, Zusammenstellungen von schwierigen Substantiven oder unregelmäßigen Verben, Synonymen oder Homonymen, mit oder ohne kommentierenden Zusatz, inhaltlich gruppiert, nach Wortfamilien geordnet oder auch dem Alphabet nach. Die in Verse gefassten Vokabellisten bedurften noch der Erläuterung durch den Lehrer, sie hatten eher mnemotechnische Funktion, während der Dictionarius mit seiner szenenhaften Einkleidung der Wörter und Wortfamilien als Lesetext für sich verständlich ist. Der Erwerb eines hinlänglich großen Wortschatzes ist aber nur eine Voraussetzung für die Beherrschung einer Fremdsprache, die Kenntnis der Grammatik ist eine weitere. Auch dafür schreibt Johannes mehrere Unterrichtswerke, wenn er auch auf diesem Gebiet weniger Erfolg hat als mit seinen Vokabelbüchern. Zu verbreitet waren bereits zwei Versgrammatiken, das Doctrínale seines Zeitgenossen Alexander von Villedieu und der Grecismus des Eberhard von Béthune. Daher seien die drei Grammatiken des Johannes hier nur erwähnt. Die umfangreichste trägt den Titel Compendium grammatice und umfasst mehr als viertausend Verse und 18 Druckseiten Prosa. Die zweite Grammatik des Johannes, die Clavis compendii, soll - glaubt man ihrem Titel dieses Monstrum an grammatikalischer Gelehrsamkeit dem Benutzer „erschließen", braucht dafür aber immer noch über zweitausend Verse. Beide

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Grammatiken stellen die Formenlehre und Syntax im Wesentlichen nach Donat und Priscian dar. Eine dritte, die Ars lectoría ecclesie, die auch den Titel Accentarium trägt, behandelt in anderthalbtausend Versen vor allem Prosodie und Metrik. Von den drei Schriften ist sie die beliebteste. Schließlich Überarbeitetjohannes noch das von ihm selbst heftig kritisierte Doctrínale, doch auch diese Überarbeitung wurde nicht nennenswert rezipiert. Auch auf dem Gebiet der Stillehre muss sich Johannes einem Konkurrenten geschlagen geben, denn die Poetria nova des Galfred von Vinsauf verdrängt damals alle anderen Poetiken. Aber die sieben Bücher umfassende Parisiana poetria des Johannes wird immerhin in den Meisterautorenkatalog des Hugo von Trimberg (1280) aufgenommen, und heute ist sie das meist beforschte und meist zitierte Buch aus der Feder des Johannes. Entstanden ist die Schrift bereits um 1220. Johannes überarbeitet sie nach seiner Zeit in Toulouse allerdings nochmals in den Jahren 1231/1235. Der Titel Parisiana poetria ist aus der Anfangszeile des Werks gewonnen und bedeutet zunächst einmal: Dies ist die Poetik, die mit dem Wort Parisiana beginnt. Er bedeutet aber auch: Dies ist die „Poetik von Paris", das heißt: die Poetik, nach der an „der" Universität unterrichtet wird, und zumindest bei Johannes de Garlandia wird das auch wirklich geschehen sein. Es lohnt sich, ihren Inhalt etwas näher zu betrachten, denn an ihm kann man bis zu einem gewissen Grade ablesen, was die Studenten in Paris nach der Meinung des Johannes auf dem Gebiet der Poetik lernen sollten. Zu Beginn des Werks nennt Johannes sein Programm: Er wolle sowohl die Kunst der Prosa lehren als auch die Dichtung behandeln, und zwar die Silben messende (metrische) ebenso wie die Silben zählende (rhythmische) Dichtung. Vermittelt werden sollen also Regeln für den gesamten schriftlichen Diskurs. Wie schon ein kurzer Blick in das Lehrbuch zeigt, geschieht das in Form kleiner, lose verknüpfter „Lehreinheiten" . Sie sind nicht scharf gegeneinander abgegrenzt, was sachangemessen ist, denn zum Beispiel lässt sich die Figurenlehre sowohl unter Prosa als auch unter Dichtung abhandeln, und auch die Stoff-Findung (inventio), der sich Johannes intensiv widmet, ist nicht einem der Bereiche allein zuzuordnen. Johannes scheint in der Poetik zwei große Stoffkomplexe gesehen zu haben: zum einen den Stoffkomplex, der die poetischen Regeln für die Prosaschriftstellerei und die Schriftstellerei in den alten, metrischen Maßen aufstellt, und zum anderen einen Stoffkomplex mit den formalen Einteilungen der neuen, der rhythmischen Dichtung nach ihren Versmaßen. Diese beiden großen Stoffbereiche sind nicht ineinander integriert, ja sie sind so schwach

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aneinander angebunden, dass man vermutet hat, der Bereich Rhythmik sei ursprünglich ein eigenes Werk gewesen. Dieser Auffassung muss man wohl zustimmen, denn in diesem Buch werden die schon in der Poetik behandelten alten metrischen Arten des Dichtens Versmaß für Versmaß nochmals aufgezählt und formal definiert. Aufstellungen von Versmaßen nach ihren (äußerlichen) Merkmalen scheinen schon im Spätmittelalter ähnlich beliebt gewesen zu sein wie die Versmaßlisten in modernen Grammatiken. So wird die Ars rhythmica des Johannes noch im 15. Jahrhundert exzerpiert, und schon im 13. (oder frühen 14.) Jahrhundert fügt ihr ein Benutzer noch die Namen von über zwanzig metrischen Versfüßen einschließlich ihrer Auflösungen und Kontraktionen vom Pyrrichius bis zum Päan und eine Liste von über vierzig zur Beschreibung rhythmischer Gedichte geeigeneten Fachbegriffe an (PP 7,1929-2031): Rithmus monomicus. Dispondeus. Trispondeus. Tetraspondeus bimembris. Tetraspondeus trimembris. Tetraspondeus quadrimembris. Rithmus iambicus bimembris. Iambicus trimembris. Iambicus quadrimembris. etc.

Vers aus einem (trochäischen) Fuß. Zweifüßiger Trochäus. Dreifußiger Trochäus. Vierfußiger trochäischer Zweizeiler. Vierfußiger trochäischer Dreizeiler. Vierfußiger trochäischer Vierzeiler. Jambischer Zweizeiler. Jambischer Dreizeiler. Jambischer Vierzeiler, usw.

Wenn, wie hier, von einem Trochäischen Fuß gesprochen wird, ist darunter nicht mehr eine lange Silbe gefolgt von einer kurzen zu verstehen, sondern eine betonte Silbe (die grundsätzlich lang oder kurz sein kann) gefolgt von einer unbetonten (die grundsätzlich lang oder kurz sein kann). Wie heute noch werden also Bezeichnungen für Längen messende Füße und Metra auch für Einheiten akzentuierender Verse benutzt. Johannes bevorzugt es, seine Poetik-Regeln möglichst an einer, und zwar an einer einfachen Gattung aufzustellen und zu exemplifizieren: am sachlich und quantitativ überschaubaren Brief. Die Auswahl des Briefes als hauptsächlicher Beispielsgattung hatte für Johannes nicht zuletzt auch deshalb nahe gelegen, weil schon seit etwa zwei Jahrhunderten in den Artes dictaminis Form und Struktur und in geringem Umfang auch die Poetik von Prosabriefen behandelt worden waren.

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Vom allgemeinen Rhetorik-Unterricht konnte Johannes den schon in der Antike üblichen Einstieg in die Materie mit einem Kapitel über die Stoff-Findung übernehmen. Er unterteilt die Stoff-Findung jedoch in zwei Schritte, die etwas an das erinnert, was die Sprachwissenschaft mit ihrem Modell des Zusammenhangs von Paradigma und Syntagma beschreibt. Johannes geht nämlich von einer Reihe von Kategorien aus, die im Rhetorik-Unterricht seit der Antike benutzt wurden {quis, quid, übt\ quibus auxiliis, cur.; quomodo, quando\ variiert bei Johannes zu ubi, quid, quäle, qualiter und ad quid), und schlägt vor, dass man diese Kategorien zunächst auffüllt (inventio), um dann bei der praktischen Anwendung aus diesen aufgefüllten Kategorien eine Auswahl (electio) für ein konkretes Syntagma - natürlich noch nicht unter diesem Begriff durchzuführen. In Buch II zeichnet er dafür ein Modell, das die Herstellung eines aktuellen Syntagmas erleichtern soll. Dieses Modell (PP 2,87-115) wird von Johannes als virtuelle Lokalität im Gedächtnis beschrieben und mit dem Wort memoria benannt. Memoria bezeichnet bei Johannes aber etwas anderes als das ebenfalls durch virtuelle Lokalbilder unterstützte Memorieren einer bereits fertig gestellten Rede in der antiken Rhetorik: Bei ihm ist das Memorieren eine Vorstufe zu einem Selektionsprozess, der erst zur Herstellung einer Rede oder eines Briefes oder eines Gedichtes führt. In dieser Vorstufe soll das Wissen, das nicht durch eigenes Nachdenken und Sammeln, sondern im Unterricht bei Johannes und seinen Kollegen erworben wurde, zunächst geordnet und dadurch leichter abrufbar werden. Dafür soll sich der Schüler ein dreispaltiges Diagramm vorstellen und darin vielleicht auch realiter - eintragen, was im Unterricht behandelt wurde. In die erste Spalte soll er Personen und Personengruppen eintragen, geordnet nach drei Ständen (curiales, civiles und rurales), sowie Mittel und Motive, die zu diesen Personen bzw. Personengruppen passen. In der zweiten Spalte soll er konkrete (Beispiels-)Erzählungen und Aussprüche festhalten, also im Unterricht zur Sprache gekommene Prätexte, und sich als Gedächnishilfe Notizen machen zu ihrer Vermittlung: Namen des Lehrers soll er sich merken und Titel der Bücher, aus denen der Schüler das Wissen bezogen hat, wann und wo das geschah und unter welchen Umständen, er soll sich die Kleidung und Gestik des Lehrers notieren, die Farben der Buchstaben und ihre Anordnung auf dem Blatt, die Farbe des Blattes usw. Die dritte Spalte schließlich ist dem Sprachmaterial vorbehalten, z.B. Etymologien, sachlichen Erklärungen und semantischen Abgrenzungen von Homonymen, möglichst wieder mit Eselsbrücken, die das Aufrufen der Begriffe erleichtern. Johannes empfiehlt, diese Wortlisten alphabetisch anzuordnen, also wie in seinem großen Wörterbuch Unus omnium.

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Die erste Spalte mit ihrer Einteilung der Personen in curiales, civiles und rurales und der Zuordnung passender Wortfelder (Mittel und Motive) erinnert an die im Anschluß an das dreispaltige Diagramm beschriebene Rota Virgilii, die vergleichbare Wortfelder aus den drei Werken Vergils den drei Stilen zuordnet: Held, Schwert, Pferd, Soldatenlager, Lorbeerkranz aus der Aeneis dem hohen Stil; Landmann, Pflug, Rind, Feld, Apfel- oder Birnbaum aus den Geórgica dem mittleren Stil; und schließlich Hirte, Hirtenstab, Schaf, Weide und Buche aus den Eklogen dem niedrigen Stil:

Aus der Parisiana poetria des Johannes de Garlandia, umgezeichnet aus Oxon. Bod. Lat. misc. 66, fol. 8r, durch Paul Klopsch: Einfuhrung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters, Darmstadt 1980, S. 151.

Ob die viel zitierte Rota Virgiliiwirklich von Johannes selbst stammt, sei dahingestellt, denn es heißt bei ihm lediglich „das vergilische Rad, das wir vor uns haben" {rota Virgilii, quampre manibus habemus\ PP 2,116f). Immerhin hat sie das Interesse der modernen Forschung aufJohannes gelenkt und seinen Namen über den Kreis der Mittellateiner hinaus bekannt gemacht. Für die Didaktik des Johannes interessanter ist allerdings das erste, zuvor beschriebene Memorierschema, mithilfe dessen der Schüler das im Unterricht erworbene Wissen jederzeit aufrufen und passende Einheiten daraus auswählen und in sein Schriftstück einsetzen kann. Das skizzierte Sammeln und Ordnen und Memorieren von inhaltlich zusammengehörigen Begriffen ist für Johannes ein wichtiger vorbereitender Arbeitsschritt beim Abfassen von Briefen und anderen schriftlichen Arbeiten

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(in Buch I folgt als Beispiel fiir die Verwendung der Elemente „Hirte mit Weide, Herde, Schaf und Wolf" eine ausgearbeitete Ekloge). Die schon für das Vokabellernen erprobte Methode, Begriff zu Wortfeldern zusammenzustellen und Sprachmaterial zu ordnen, erweist sich also auch hier beim Entwurf von Texten als hilfreich, und man versteht nun gleichsam nachträglich, wie das im Dictionarius geforderte in cordis armariolo retinere der Begriffe (vgl. S. 334) erreicht werden kann (beide Werke, die Poetik und das Lesebuch, entstehen im selben Jahr). Der fortgeschrittene Schüler lernt in der Poetik, wie er Wortfelder und Ableitungen anwenden und vor allem: wie er sie selbst erstellen und memorieren kann. Die Methode ist erstaunlich modern: statt sturen Auswendiglernens von Zusammenhanglosem und Vorgegebenem ein lernpsychologisch effizienteres eigenständiges Zusammenstellen und Memorieren von sinnvoll Zusammengehörigem. Inhaltliches Ordnen, das herkömmlicherweise in nicht-alphabetischen Enzyklopädien zum Tradieren und Archivieren von Wissen benutzt wurde, findet als Methode für den Sprachenerwerb und seine Umsetzung in die Praxis eine neue Verwendung. Das Memorierschema in der Poetik des Johannes erlaubt einen seltenen Blick in ein imaginäres (und vielleicht als Memorierhilfe auch tatsächlich erstelltes) Kollegheft eines mittelalterlichen Studenten. Es ist, wie das ganze Dichtungslehrbuch, sicherlich aus dem Unterricht erwachsen, und es ist fiir das aktive Gestalten von Sprachmaterial, fiir konkretes Aufsetzen von Briefen besser zu gebrauchen als die zur damaligen Zeit vielleicht geläufigere, aber literarisch kodierte Einteilung in Soldat, Landmann und Hirte, die man als Rota Virgilii aus dem Werk Vergils ableitete und die eher zur nachgängigen Klassifizierung von gestaltetem Sprachmaterial nützlich ist. Für einen Praxisbezug der Poetik sprechen auch die etwa dreißig ModellBriefe, die Johannes in das Dichtungslehrbuch integriert, für einen unterrichtsnahen Entwurf die zahlreichen Wiederholungen, die fürs Mittelalter überraschend gründliche Behandlung literarischer Gattungen, die fiir eine Konversation über die Schulautoren im Unterricht wichtig war, und die ausfuhrliche und mit vielen Beispielen versehene Auflistung der Stilfiguren in Buch VI, die sich eng an die pseudo-ciceronianische Rhetorik Ad Herennium anlehnt. Welcher Stellenwert der Figurenlehre im Unterricht zukam, erkennt man unter anderem daran, dass sie Johannes noch einmal in einem Extraheft behandelt, das den etwas irreführenden Titel Exempla honestae vitae trägt (122 Distichen). Die Pariser Poetik fand unter den Kollegen des Johannes Anerkennung. Schon 1276 zählt Konrad von Muri, langjähriger Leiter der Stiftsschule am Zürcher Großmünster, in seiner Summa de arte prosandi Johannes de Garlandia

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unter die großen Lehrer der Stilkunst, er nennt ihn in einem Atemzug mit den italienischen Meistern Boncompagno aus Signa und Guido Faba, und nur vier Jahre später nimmt Hugo von Trimberg den Johannes wegen der Parisiana poetria in sein berühmtes Autorenverzeichnis Registrum multorum auctomm auf. Johannes bleibt ein beliebter und viel gelesener Schulbuchautor. Mitte des 14. Jahrhunderts finden die kleinen Vokabelhefte, die unter dem Namen des Johannes kursieren, besonderen Anklang. Einer der Hauptgründe dafür ist darin zu vermuten, dass Bildung im Späten Mittelalter nicht mehr nur der Geistlichkeit vorbehalten ist, sondern immer breitere Bevölkerungsschichten erfasst und unter anderem zu einem gesteigerten Bedürfnis nach kurz gefassten Lehrschriften fuhrt (vgl. Worstbrock 1983, Sp. 614). Die kleinen Kompendien, die damals unter dem Namen des Johannes kursieren, kommen diesem Bedürfnis entgegen. Mit ihrem überschaubaren Umfang und ihrer inhaltlich spezifischen Ausrichtung auf bestimmte Bereiche der Sprache (einfache oder schwierige Substantive, bestimmte Verben und Verbklassen, Synonymik und Homonymik) sind sie für den Unterricht besonders geeignet, und weil sie im Gegensatz zu den beiden Lesebüchern alle in Versform geschrieben sind, kann man sie zudem leicht auswendig lernen. Vor allem im deutschsprachigen Raum werden die Schriften unter dem Namen des Johannes daher zu einem festen Hilfsmittel im Lateinunterricht. Sie verbreiten sich rasch und nachhaltig und werden häufig gedruckt, am häufigsten in Köln, Antwerpen und Deventer, dem großen Buchdruckzentrum der Niederlande. Dort, in Deventer, gibt es eine Lateinschule, die zu dieser Zeit unter dem Rektorat des Alexander Hegius (1433-98) europaweit bekannt wird. Einer der Lehrer, Johannes Synthen (ca. 1450-1533), ein enger Mitarbeiter des Rektors, gibt einige der Johannes zugeschriebenen Lehrbücher heraus und versieht sie mit einem Kommentar. Besonderen Erfolg hat Synthen mit den Verba deponentialia und der ersten Sammlung Composita verborum. Allein in den letzten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts werden diese beiden Büchlein insgesamt fast hundertmal aufgelegt, in der Regel zusammen mit dem frühneuzeitlichen Kommentar ihres Herausgebers. Es wäre mehr als seltsam, wenn Johannes Synthen die Schulbücher, mit deren Herausgabe und Kommentierung er so großen Erfolg hatte, nicht auch im Unterricht benutzt hätte. Und tatsächlich wird das von einem seiner ganz großen Schüler, von Erasmus von Rotterdam, bezeugt, dessen Talent von eben diesem Johannes Synthen entdeckt und gefördert wurde. Rückblickend schreibt der holländische Humanist in einem Brief (ed. R S. Allen, Bd. I, S. 57 Z. 23ff.):

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Praelegebatur Ebrardus et Joannes de Garlandia, nisi quod Alexander Hegius et Zinthius coeperant aliquid melioris invehere. Es wurde aus Eberhard von Bethune vorgelesen und aus Johannes de Garlandia, außer wenn Alexander Hegius und Zinthius etwas Besseres herbeischaffen konnten.

Johannes de Garlandia liegt ein gutes Latein am Herzen. Immer wieder beklagt er bei seinen Zeitgenossen die kunstlose Verwahrlosung im Umgang mit der Sprache, er spricht von einer neuen Geschwätzigkeit (garrulitas novo) und kritisiert die ungebildete Ausdrucksweise (barbaries, barbarolexis). Man sollte annehmen, ein um Sprache bemühter Humanist wie Erasmus würde die Sorge eines mittelalterlichen Lehrers um den richtigen Ausdruck seiner Schüler teilen und sein Engagement im Unterricht und in der Bereitstellung didaktisch wertvoller Schulbücher anerkennen. Doch ganz im Gegenteil: Erasmus und seine Zeitgenossen missachten nicht nur das Bemühen des Johannes um sprachliche Korrektheit, sie beschimpfen ihn gar als einen Unheil stiftenden Barbaren, dessen Schulbücher nichts als Schaden anrichten (vgl. Habel 1909, S. 121-23): Die Schriften des selbst verwirrten Johannes über die Verba composita, Synonyme, Homonyme und Deponentien würden den Geist vergiften und verwirren, empört sich Heinrich Bebel (ca. 1472-1518) und mit ihm Johannes Murmellius (1480-1517), Jakob Wimpfeling (1450-1528) und andere. In besonderem Verruf steht der schwierige Cornutus. Der Tübinger Historiograph Michael Coccinius, ein Schüler Bebels, sieht in ihm die sprachliche Barbarei schlechthin, Hermann Torrentinus (ca. 1450-1520), ein Freund des Murmellius, meint, durch den Cornutus würde man nur dümmer werden als zuvor, und Erasmus stöhnt entsetzt: Deum immortalem! Quäle saeculum erat hoc, quum magno apparatu Disticha Johannis Garlandini adolescentibus operosis et prolixis commentariis enarrabantur! Mein Gott! Was war das für eine Zeit, als man den Schülern die Disticha des Johannes de Garlandia umständlich nach aufwendigen und weitschweifigen Kommentaren vortrug.

Die Abneigung der Humanisten gegen Johannes de Garlandia ließe sich psychologisch vor dem Hintergrund verstehen, dass sie in ihrer Jugend Seiten-, ja bücherweise seine Texte auswendig lernen mussten. Geistesgeschichtlich lässt sie sich ganz sicher dadurch erklären, dass die langen Vokabellisten nichts zum Verständnis der so glühend verehrten antiken Texte beitrugen. Denn das durch

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sie vermittelte Vokabular deckt sich nicht im geringsten mit dem eines Vergil, Lucan oder Statius. Die Ablehnung der Humanisten ist also verständlich. Sie verkennt aber die positive Leistung des Johannes: dass er die Menschen seiner Zeit (zumindest diejenigen, die in den Genuss einer Schulbildung kamen) diskursfahig machen wollte und dass er damit lange Zeit großen Erfolg hatte. Er lehrte Studenten unterschiedlichster Nationen und unterschiedlichster Fachrichtungen in dem für alle obligaten Grundstudium an der Artistenfakultät und später die Schüler in den Lateinschulen der Frühen Neuzeit, sich auf lateinisch zu unterhalten, einkaufen zu gehen und ganz allgemein die Umwelt wahrzunehmen und zu beschreiben. Gerade im Paris des 13. Jahrhunderts, wo Lehrer und Studenten aus ganz Europa zusammenkamen und sich verstehen mussten und wo noch keine Volkssprache die Rolle der lingua franca übernommen hatte, war das Erlernen einer gemeinsamen Sprache schlicht eine Notwendigkeit. Das negative Urteil der Humanisten führte dazu, dass die Ende des 15. Jahrhunderts noch so zahlreich gedruckten Werke des Johannes rasch vom Büchermarkt verschwanden. Und es hat sich bei den meisten humanistisch gebildeten Forschern des 19. und 20. Jahrhunderts gehalten mit der Folge, dass die Schulschriften des Johannes kaum untersucht wurden (die Arbeiten von Edwin Habel und Louis John Paetow sind rühmliche Ausnahmen). Erst in jüngster Zeit wird den Schriften des Johannes in der Forschung eine größere Aufmerksamkeit zuteil, und es findet seine Leistung als Lehrer der Lateinischen Sprache die gebührende Anerkennung. Nach Franz Joseph Worstbrock ist Johannes de Garlandia „einer der wichtigsten Schulschriftsteller des späteren Mittelalters" (1983, Sp. 612), andere preisen ihn als „eine zentrale Gestalt in der Geschichte des spätmittelalterlichen Bildungswesens" (Cizek 2000, S. 545; ähnlich Haye 1995, S. 2), und der englische Forscher Tony Hunt, der sich vor allem um die volkssprachige Glossierung der Texte des Johannes und seiner Kollegen verdient gemacht hat, kommt zu dem Urteil (1991, S. 398-99): „the Unus omnium is of the greatest value to lexicologists", und er zitiert das vorausschauende Urteil Paetows (1927, S. 130): „A new era will open in medieval Latin lexicography and in comparative studies of medieval Latin and Old French and English when the Dictionarius o f j o h n of Garland, in one sense the first of all dictionaries, and his other wordbooks receive the attention of modern scholares which they deserve." Doch bis dahin bleibt viel zu tun. Nicht einmal die Hälfte aller Johannes zugeschriebenen Texte sind kritisch ediert, von den Glossen ganz zu schweigen, und so kann man sich nur dem Anliegen Paetows anschließen: „Here as eise-

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where in the intellectual history of the middle ages our cry must be for texts and ever more good texts which satisfy all the requirements of modern scholarship."

Bibliographie Blatt Rubin 1981: Barbara Blatt Rubin: The Dictionarius ofjohn de Garlande, Lawrence, Kan., 1981. - (Abdruck und Übersetzung der Ausgabe von Thomas Wright, 1857.) Bursill-Hall 1976, 1979: Geoffrey L. Bursill-Hall: „Johannes de Garlandia - Forgotten Grammarian and the Manuscript Tradition", in: Historiographia Linguistica 3 (1976), S. 155-177 und 6 (1979), S. 77-86. - (Übersicht über die handschriftliche Überlieferung.) Cizek 2000: Alexandru Cizek: „Voraussetzungen und Eigenart der .Parisiana poetria' des Johannes von Garlandia", in: Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln, Bd. 27: Geistesleben im 13. Jahrhundert, hrsg. von Jan A. Aertsen, Berlin und New York 2000, S. 454-66. - (Knapper inhaltlicher Überblick über die „Pariser Poetik ".) Habel 1909: Edwin Habel: „Johannes de Garlandia, ein Schulmann des 13. Jahrhunderts", in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 19 (1909), S. 1-34 und S. 118-30. - (Ausführlicher Überblick überheben, Werk und Wirkung des Johannes; mit vielen Textproben.) Habel 1910: Edwin Habel: „Die Exempla honestae vitae des Johannes de Garlandia, eine lateinische Poetik des 13. Jahrhunderts", in: Romanische Forschungen 29 (1910), S. 131-54. - (Edition.) Haye 1995: Thomas Haye (Hrsg.): Johannes de Garlandia. Compendium Gramatice, Köln 1995. - (Edition.) Hunt 1991: Tony Hunt: Teaching and Learning Latin in 13th-Century England, 3 Bde, Cambridge 1991. - (Editionen des Dictionarius, Commentarius und Distigium sowie Textproben aus dem Unus Omnium und anderen Wörterbüchern; mit wertvollen Hinweisen zu ihrer Glossierung.) Lawler 1974: Traugott Lawler: The Parisiana Poetria ofjohn of Garland, New Häven und London 1974. - (Edition mit englischer Übersetzung und einem kurzen Einzelkommentar.) Marguin-Hamon 2003: Elsa Marguin-Hamon: l'Ars lectoria Ecclesie de Jean de Garlande. Une grammaire versifiée du XlIIe siècle et ses gloses, Turnhout 2003. - (Edition mitfranzösischer Übersetzung, Einleitung und Kommentar.) Meyer 1998: Christian Meyer: Musica plana Johannis de Garlandia, Introduction, édition et commentaire, Baden-Baden & Bouxwiller 1998. - (Zu musiktheoretischen Stücken, die unter dem Namen des Johannes laufen.) Paetow 1927: Louis John Paetow: Morale scolarium ofjohn of Garland. A Professor in the Universities of Paris and Toulouse in the Thirteenth Century, Berkeley 1927. (Zum Leben und Werk des Johannes; Edition des Morale scolarium.)

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Saiani 1995: Antonio Saiani: Giovanni di Garlandia, Epithalamium Beate Virginis Marie, Florenz 1995. - (Edition und Untersuchung.) Scheler 1878: A. Scheler: „Olla Patella. Vocabulaire latin versifié", in: Revue de l'instruction publique en Belgique 21 (1878), S. 17-30; 104-15; 268-77; 22 (1879), S. 116-26; 182-88. - (Edition.) Schmidt 1998: Paul Gerhard Schmidt: „Johannes de Garlandia. Zur Biographie eines christlichen Humanisten des 13.Jahrhunderts", in: Gli umanesimi medievali. Atti del II Congresso dell' .Internationales Mittellateinerkomitee', Firenze, Certosa del Galluzzo, 11-15 settembre 1993, Florenz 1998, S. 617-23. Worstbrock 1983: Franz Joseph Worstbrock: „Johannes de Garlandia", in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4, 2. Auflage, Berlin und New York 1983, Sp. 612-23. - (Zur Überlieferung im deutschsprachigen Raum.) Wright 1856: Thomas Wright Johannis de Garlandia, De triumphis Ecclesiae libri octo. A Latin poem of the Thirteenth Century Edited from the Unique Manuscript of the British Museum, London 1856. - (Edition.)

Lorenzo Valla (1407-1457) VON FRANK B E Z N E R

1. Valla Criticus In der Vorrede zu einer seiner berühmtesten (und einflussreichsten) Schriften unterzog sich Lorenzo Valla einer flammend-prägnanten Selbstanalyse. „Von mir," so schrieb er, sind bereits in nahezu jedem Bereich der Disziplinen eine Reihe von Büchern veröffendicht worden - und dabei recht viele, in denen ich eine Unzahl bedeutender und seit langem einschlägiger Autoren kritisiere. Wenn es nun aber Leute gibt, die sich deswegen über mich ärgern und mich als vorlaut und Lästermaul zeihen, was wird man dann jetzt an Reaktionen zu erwarten haben? Wie sehr werden sie gegen mich rasen? Und wie gierig und eilends mich zu meiner Hinrichtung schleppen? Mich, der ich jetzt nicht mehr nur wider Tote anschreibe, sondern gegen die Lebenden, nicht wider diesen oder jenen, sondern gegen eine Masse, nicht allein wider Privatleute, sondern gegen die Inhaber von Amtern! Wen ich meine? Den Papst!

Immer wieder stilisiert sich Valla in Briefen, Vorreden, Invektiven oder Exkursen zum polemischen Enzyklopädisten, dessen grammatisch-rhetorische Argumentationen, moralphilosophische Reflexionen und philosophisch-theologische Analysen Etablierte(s) und Autoritäten in Frage stellen: „ich bin es, der die Weisheit der Alten umstürzt"; „ich bin anderer Meinung als alle anderen"; dissentio, denn weil „Kritik stets das wichtigste Anliegen der gelehrtesten Autoren war, weiß ich nicht, warum ich sonst überhaupt schreiben sollte." Freunde warnen Valla vor seiner Streitlust. Gegner attackieren ihn, intrigieren und lassen sich im besten Fall nur satirisch darüber aus, dass der scharfzüngige Humanist „gewohnt, keinen zu schonen, nunmehr auch der Erde zusetze, in der er begraben liegt." Humanistische .Biographien' oder Legenden notieren seine widerständige Korrekturlust; spätere Rezipienten (wie Pierre Bayle) schätzen sie als freigeistige Konfliktfahigkeit, während andere (wie etwa Jakob Burckhardt oder L. Pastor) sie als Arroganz verdammen. Zu guter Letzt schließlich

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hat auch die moderne Forschung zur .Signatur' Lorenzo Vallas deklariert, was sein Leben und Œuvre defacto prägte und ihn zu einem Humanisten machte, der sich von Interessen und gedanklichem Stil Petrarcas, Coluccio Salutatis oder Leonardo Brunis ebenso unterschied wie vom revival des Neuplatonismus im Florenz der Medici: ein Hang zu Streit, Polemik, Ikonoklasmus; ein rebellisches non serviam, das freilich untrennbar mit einem konsequent durchgeführten philologischen Anspruch verbunden ist: dem Anspruch, über eine philologische Perspektive „in nahezu jedem Bereich der Disziplinen" kompetent zu sein (vgl. z. B. Mancini 1891, di Napoli 1971, Gerl 1974, Kristeller 1986 etc.). Auch im folgenden Portrait Lorenzo Vallas wird sich dieses Ineinander von umfassendem Wissensanspruch und polemisch-engagiertem Denkstil immer wieder zeigen. Freilich weder im Sinne eines personalen .Charakterzuges' noch als Konsequenz einer Methode allein. Beim Versuch, sein Leben und Werk in den Grundzügen darzustellen und vor allem auch in seine historischen und intellektuellen Kontexte einzuordnen, wird vielmehr deutlich: in Vallas widerständigem Geist liegen die Anfange einer für die nachantike Vormoderne grundlegenden intellektuellen Praxis, kommunikativen Strategie und Auffassung von Gelehrsamkeit, nach der Identität und Selbstbild, Distinktion und symbolisches Kapital, ,Macht' und Legitimität, ja die soziale .Möglichkeit' des Wissens untrennbar mit einer radikal praktizierten Fähigkeit zu Kritik und Widerspruch verbunden waren (vgl. ansatzweise Jaumann 1995, auch Grafton 1991).

2. Alle Wege fuhren nach Rom. Vallas Leben Dass Lorenzo Valla sein Leben als päpstlicher Sekretär am Hof des Papstes in Rom beenden sollte, mag kaum verwundern. Wohl aber, dass er diese für die Humanisten des Quattrocento so prestigeträchtige (und wohldotierte) Stellung erst sehr spät in seinem Leben (1447) zu erringen vermochte: Ego certe et natus at alitus Romae atque in Romana (ut vocant) Curia, schreibt er in einem autobiographischen Abriss - und stellt damit neben der Stadt Rom programmatisch die päpstliche Kurie als Ort seiner .Geburt' {natus) und ,Erziehung' (alitus) heraus: am päpstlichen Hof arbeitete Vallas Vater Luca, ein Jurist aus Piacenza, als Konsistorialadvokat; sein Onkel Melchior Scrivani fungierte als päpstlicher Sekretär und stand in engem Kontakt mit führenden Humanisten der Kurie wie Poggio Bracciolini oder Antonio Loschi.

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Derart platziert, erwarb sich der ehrgeizige junge Lorenzo schnell einen Ruf als ingeniöser Gelehrter: mit „unglaublicher Leidenschaft" (Panormita) hatte er sich - wegen der Schließung der Universität überwiegend autodidaktisch den studiahumanitatiszugewandt; Giovanni Aurispa lehrte ihn Griechisch; mit den päpstlichen Sekretären diskutierte er die Meriten lateinischer Autoren; später traf er den Florentiner Kanzler Leonardo Bruni, der ihn nachhaltig beeindruckte. Gleichwohl: Vallas Versuch, nach dem Tode seines Onkels (1430) dessen Nachfolge als päpstlicher Sekretär anzutreten, scheiterte, und vermutlich waren dafür weder allein seine Jugend (so die offizielle Begründung) noch Intrigen (so Vallas eigene Analyse) verantwortlich. In seinem ersten Werk De Comparatione Ciceronis Quintilianique hatte sich vielmehr erstmals Vallas Lust an der Provokation gezeigt - und zur nachhaltigen Entfremdung, ja lebenslangen Feindschaft, mit einer Reihe einflussreicher Humanisten am päpstlichen Hof geführt. Obgleich Vallas Vergleich zwischen Cicero und Quintilian verloren (oder noch nicht wieder aufgefunden) ist, lassen sich Inhalt und methodisches Ziel dieser Schrift dabei im Ansatz, ihre Provokanz mit Sicherheit aus Erwähnungen, Briefen und den heftigen Gegenreaktionen rekonstruieren (Camporeale 1972; Cesarini-Martinelli/Perosa 1996). So schreibt Vallas (zeitweiliger) Freund und Verbündeter Panormita in einem Brief, der Vallas Comparatio dem Florentiner Humanisten (und Kanzler) Carlo Marsuppini empfehlen sollte: „[Valla stellt in dem Werk] einen haßerfüllten (odiosam), aber doch zugleich legitimen Vergleich (excusandam comparationem) an - und zwar sowohl, um sich selbst im Schreiben zu üben als auch um gewisse Leute aus ihrem Schlaf zu rütteln." Was Humanisten wie Poggio Bracciolini an Vallas Vergleich irritierte, war dabei nicht die von Valla proklamierte Relevanz Quintilians an sich: schliesslich hatte Poggio 1417 selbst eine vollständige Quintilian-Handschrift entdeckt und „aus ihrem Schlaf gerissen." Doch Valla ging über eine derartige .Reintegration' der {defacto im Mittelalter bekannten) Institutio oratoria in den Kanon des Relevanten hinaus und spielte das Werk in scheinbar paradoxer Logik gegen den von den zeitgenössischen Humanisten (und Quintilian selbst) zum Modell stilisierten Cicero aus: ohne Ciceros stilistische Brillanz und Exemplarizität zu leugnen, wird ihm ein Autor zur Seite gestellt, ohne den sich die lateinische Sprache schlicht nicht verstehen lasse: „zwar vermag niemand Quintilian ohne profunde Kenntnis Ciceros adäquat zu verstehen, doch umgekehrt ebensowenig Cicero adäquat zu imitieren, ohne Quintilian zu folgen: denn Eloquenz nach Quintilian gab es niemals (und wird es niemals geben), wenn man sich nicht ganz der Kunst Quintilians überantwortet und sich durch seine Nachahmung unterweisen läßt."

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Bereits in dieser ersten Schrift zeigt sich damit die fundamentale Rolle, die Quintilian für Vallas Werk im ganzen spielen sollte: ein „Orakel auf Erden" (terrestre oraculum), das Vallas „nahezu auswendig kannte" und ausgiebig annotierte. Mehr noch (und wie ein fast unmerklicher Vorklang des Vallaschen Ansatzes im ganzen): in die humanistische (und von Zeitgenossen ebenso überhöhte wie praktizierte) Praxis der imitatio schiebt sich durch die Aufwertung der (nicht literarischen) Institutio oratoria die Perspektive des Theoretikers der Sprache, dessen Maßstab kein einzelnes Modell, sondern ein aus mehreren Autoren erhobenes .Funktionieren' der Sprache ist. Uber Vallas erste Jahre nach seiner gescheiterten Bewerbung ist nicht viel (und wenig Präzises) bekannt. Sicher ist, dass er sich in Piacenza aufhielt, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln; dort verfasste er auch eine erste Fassung seiner später mehrfach umgearbeiteten Schrift Devoluptate. Auf der Suche nach einer Anstellung hielt er mutmaßlich Vorlesungen in Mailand, bis er schließlich 1431 als Nachfolger Giusepe Barzizzas auf den Lehrstuhl für Eloquenz an der Universität von Pavia berufen wurde. Anders als seine dortigen Kollegen und Freunde, Piercandido Decembrio oder MafFeo Vegio, hielt er sich dabei nicht nur damit auf, in Vorlesungen römische und griechische Autoren zu kommentieren, (mehr oder weniger verspielte) Gedichte, Ubersetzungen oder moralphilosophische Traktate zu verfassen. In einer heftigen Polemik (1433) attackierte er mit Bartolus von Sassoferrato vielmehr eine der wichtigsten juristischen Autoritäten des Spätmittelalters und ridikülisierte dessen Schrift De armis et insigniis: die Kritik am optisculum des berühmten Kommentators weitet sich dabei zur Fundamentalkritik an den mittelalterlichen Juristen im ganzen aus, denen Valla sowohl mangelnde Sprachkompetenz wie methodische Fehler bei der Interpretation des römischen Rechts vorwirft (Regoliosi 1997). Zur Invektive wider die Juristen und ihre auctoritates kam die stete Polemik wider Aristoteles; und so ist es kaum verwunderlich, dass Valla die Universität Pavia, eine der Hochburgen des Aristotelismus im 15. Jh., bereits 1433 wieder verlassen musste. Kürzere Aufenthalte in Ferrara, Mailand, Verona, Genua schlössen sich ohne längerfristiges Engagement Vallas an Hof oder Universität an; der Versuch, sich in Florenz dem neu gewählten Papst Eugen IV. als Sekretär zu empfehlen, scheiterte. Erst nach vier Jahren sollten Vallas Irrfahrten zu einem (vorläufigen) Ende kommen: vielleicht traf Valla in Mailand auf den (dort kurzfristig als Geißel festgehaltenen) König von Sizilien, um 1437 jedenfalls nahm Alfonso V. den herrenlosen Humanisten in seine Dienste auf. Und so wurde Valla zum königlichen secretarius mit gesichertem Salär, der freilich - anders als gleichfalls berufene Humanisten - weder diplomatische

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noch administrative Tätigkeiten versah. Was es dabei defacto hieß, Tutor eines Herrschers zu sein, der zunächst damit beschäftigt war, Krieg gegen seinen französischen Rivalen Louis von Anjou zu fuhren und die aragonesischen Ansprüche auf Sizilien und Unteritalien zu verteidigen, ist nicht recht bekannt - und Vallas Bekundungen, immer wieder in Lebensgefahr geraten zu sein, nicht echt zu trauen. Doch spätestens seit 1442 wurde Valla Teil und Motor eines kulturellen Revivals: die Herrschaft Alfonsos hatte sich nach militärischen Erfolgen, dem Tod seiner Gegner, konsequenter Klientelpolitik und dem Ausgleich mit dem Papst konsolidiert (Ryder 1976) - und der König begonnen, dem „Stil" (Gundersheimer 1973) der Territorialherren des restlichen Italiens zu folgen und seine Macht auch symbolisch, durch die leidenschaftliche und großzügige Förderung einer prächtigen Hofkultur, zum Ausdruck zu bringen (hierzu Santoro 1988). Für Valla stellten die insgesamt dreizehn Jahre am Hof (zunächst in Gaeta, dann in Neapel) die fruchtbarste Schaffensperiode seines Lebens dar: aus seinem intensiven Studium der auctores und den Vorlesungen in Pavia entstanden die Elegantie-, der Groll gegen die Aristoteliker führte zu den Dialecticae Disputationen, dazu kamen (als sein einziges historiographisches Werk) die GestaRegis Ferdinandi, Ubersetzungen der Ilias, Asops, Demosthenes' sowie seine berühmte Schrift über die .Konstantinische Schenkung'. Auch in Neapel kam es dabei zu Kontroversen, etwa mit Bartolomeo Fazio, der als offizieller historiographus des Hofes Vallas historisches Elaborat heftig (und mit durchaus überzeugenden Gründen) ablehnte - und gegen den Valla seinerseits ein Antidotum in Facium verfasste. Als weit bedrohlicher sollte sich für Valla indes eine Intrige erweisen, deren Urheber sich für ungerecht behandelte Opfer seiner Streitsucht hielten: so hatte er einem (namentlich nicht bekannten) Bischof und Kanonisten in einer Reihe juristischer Fragen heftig widersprochen; der Theologieprofessor (und Bischof von Pozzuoli) Giovanni Garsia hatte in einer öffentlichen Diskussion sein Gesicht verloren, als Valla die Authentizität eines von ihm angeführten Brief Christi (!) destruierte; der Minorit Antonio da Bitanto schließlich musste sich von Valla darüber belehren lassen, dass seine Uberzeugung, die zwölf Versikel des Credo seien jeweils von einem der zwölf Apostel verfasst worden, ebenso wenig der historischen Kritik standhalte wie seine Behauptung, Hieronymus sei Römer gewesen. (Valla hatte dem Collegium der kirchlichen Juristen Neapels überdies eine - heute verlorene - provokante Aufforderung zukommen lassen, mit ihm über die im Streit mit dem Bettelmönch vertretene notwendige Korrektur Gratians (!) zu disputieren). Gemeinsam alarmierte man 1444 die Inquisition, bezichtigte Valla der

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Häresie, und es kam zu einer - in dieser Form singulären - Vorladung Vallas, bei der er sich erklären und rechtfertigen sollte: wie man Vallas Schriften, der einzigen Quelle für die Vorgänge, entnehmen kann, warf man ihm dabei überwiegend einzelne Passagen seiner philosophischen Schriften vor (Fois 1969, di Napoli 1971, Zippel 1967 und 1970, Wesseling 1978). Obgleich der Prozess nach der Intervention Alfonsos nicht weiter getrieben wurde und die - insgesamt „seltsame" (di Napoli 1971) - causa im Sande verlief, beschloss der erzürnte Valla, sich Papst Eugen IV. gegenüber zu verteidigen, bei dem ihn seine Gegner durch ein Schreiben denunziert hatten; selbst nachdem ihm der Papst schriftlich versicherte, dass bei der (gerade gegründeten) Römischen Inquisition nichts gegen ihn vorliege, ließ ihm Valla eine Apologia zukommen, die auf einer unmittelbar nach dem Prozess verfassten Defensio basierte: vermutlich auch deshalb, weil er es seit einiger Zeit (und wegen finanzieller Engpässe) aktiv plante, nach Rom an die päpstliche Kurie zu wechseln, und die Vorwürfe seiner Gegner im Kardinalskollegium bekannt geworden waren. Die Rückkehr nach Rom gelang Valla indes erst nach Eugens Tod. Knapp zwanzig Jahre nach seinem ersten Versuch (und dank der Fürsprache einflussreicher Kardinäle wie Bessarion oder Nikolaus von Kues) hatte er 1448 sein Ziel erreicht und wurde päpstlicher Schreiber unter Nikolaus V., der die studia humanitatis als ehemaliger Humanist in besonderer Weise förderte und Vallas Werk gut kannte; Calixtus III. schließlich beförderte ihn zum päpstlichen Sekretär. (Dazu hielt Valla seit 1450 Vorlesungen als Professor fiir Eloquenz an der Universität von Rom, nachdem er sich gegen seinen Konkurrenten Georg von Trebizond durchgesetzt hatte). Vallas römische Jahre waren dabei vor allem von Revisionen früherer Werke geprägt; dazu kam auf Bitten des Papstes die Ubersetzung der Werke Herodots und Thukydides'. Doch nach Rom zurückzukehren, hieß im Falle Vallas auch: zu alten Feinden zurückzukehren. Auch nach zwanzig Jahren war die anticiceronianische Comparatio nicht vergessen und insbesondere das Verhältnis zum ebenso berühmten, eine Generation älteren Poggio Bracciolini hatte sich nie wieder erholt (und auch nach 1430 immer wieder zu kleineren Scharmützeln geführt). Als sich im ohnehin angespannten Klima ein Schüler Vallas über den Stil und die grammatischen Kenntnisse Poggios mokierte und dem allseits venerierten Humanisten Verstöße gegen sprachliche Normen nachwies, die in Vallas Elegantie aufgestellt worden waren, kochte der schwelende Konflikt über (Wesseling 1978): Poggio vermutete Valla (falschlich) als Urheber dieser correctio und lanzierte im Februar 1452 eine Invectiva in Laurentium Vallam (Oratio I), in der er nicht nur Vallas Elegantie, sondern auch seine philosophischen und histori-

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sehen Werke angriff; Valla reagierte darauf mit seinem Antidotum primum (Juli 1452), das Poggio mit den Orationes II-V {November 1452) konterte; gegen sie wiederum verteidigte sich Valla mit einem Apologus, dessen ersten Teil Poggios Oratio ^umgehend attackiert; die Kontroverse endete mit Vallas gegen die Rede gerichtetem Antidotum //(April 1453) - und dem Schweigen Poggios, der Ende April 1453 zum Kanzler von Florenz gewählt worden war und Rom kurz darauf verließ. Inhaltlich kreiste die Auseinandersetzung, die auch außerhalb Roms (in Ferrara, Bologna, Vendig, Mailand, Neapel und Florenz) Aufmerksamkeit erregte und die humanistische Welt in zwei Lager spaltete, nicht nur um philologische - etymologische, semantische, syntaktische, stilistische Spezialprobleme; sie lässt sich vielmehr auch als Debatte um den methodischen Ansatz Vallas lesen, in dem sein Anspruch auf umfassende Korrektur (nicht zuletzt antiker Autoren) in Frage gestellt wird (Wesseling 1978, Camporeale 1972, Cesarini-Martinelli 1980). Lorenzo Valla starb am 1. August 1457. Als (nicht geweihter) Kanoniker von San Giovanni in Laterano wurde er dort mit großen Ehren begraben. Sein Grabmal, das wegen Renovierungsarbeiten um 1600 verlegt (und dessen Grabplatte im Straßenbau Verwendung fand) wurde 1825 von Niebuhr wieder entdeckt und kurz darauf an seinen Ursprungsort zurückversetzt (Kraye 2001); ursprünglich trug es die Aufschrift sua aetate omnes eloquentia superavit - und fomulierte damit, was Valla selbst vermutlich weniger als Feststellung denn als Plädoyer für legitime aemulatio oder als Variation jenes Mottos verstanden hätte, das er selbst immer wieder anführte: „Der Streit mag schändlich sein - doch dem Gegner zu weichen ist noch schändlicher."

3. Valla und die studia humanitatis Dass Lorenzo Valla entscheidend dazu beitrug, die im Quattrocento bereits fest etablierten studia humanitatis noch vor deren nächstem Wendepunkt - der Entstehung und Verbreitung des Buchdrucks - zu radikalisieren und zu transformieren, hat vor allem zwei Gründe. Zum einen die Konsequenz, mit der er (s)eine philologisch-humanistische Rationalität (und ihre Methoden) auf zumeist vernachlässigte Bereiche, insbesondere die höheren Disziplinen, anwandte und diese damit zugleich auf neue Fundamente zu stellen versuchte: ein AusgrifF, der am Anfang der pervasiven Macht (und Aura) steht, mit der eine humanistische Episteme die frühneuzeitliche Wissenskultur immer stärker beeinflussen sollte (Kristeller 1974/1976, Vasoli 1988, Copenhaver/Schmitt

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1992, vgl. u. IV). Dazu tritt zum anderen die Brillanz und Schärfe, mit der Valla drei Kernbereiche der studia humanitatis weitertrieb: die Textkritik und Emendation der auctores-, die Grammatik und Stilistik der lateinischen Sprache; sowie seine Auffassung der historia (dazu vgl. 5).

Valias Textkritik Textkritik war für Lorenzo Valla primär eine basale Form der Lektüre. Zahlreiche von ihm gelesene Handschriften - oft mehrere desselben Autors - verzeichnen am Rand alternative Lesarten, emendieren oder stellen den Text erst im eigentlichen her. (Ein jüngst ediertes Beispiel sind die Anmerkungen zu Quintilian). Zu einem eigenen Werk vereinigt hat Valla derartige Beobachtungen vor allem in einem (berühmten) Fall: seinen Emendationes in Titum Livium. In fast allen Livius-Editionen bis ins 18. Jh. abgedruckt, erschienen Vallas (vor allem für die dritte Dekade) revolutionäre Bemerkungen ursprünglich als .integriertes Addendum' in Vallas Invektive gegen Bartolomeo Fazio. Dass dabei gerade Livius der Autor war, dessen Bearbeitung Vallas Triumph über seinen Gegner sichern sollten, war dabei kein Zufall: seit Petrarca (und weit über Machiavelli hinaus) war gerade Livius eines der prominentesten Exerzierfelder humanistischer Kompetenz (Billanovich 1981) - und gerade im Neapel der vierziger Jahre hochaktuell geworden: Cosimo de Medici hatte Alfonso ein prächtiges Exemplar zukommen lassen (Pfeiffer 1982) und Fazio wie Panormita hatten sich dem Text bereits zugewandt. Vallas Emendationes beruhten dabei auf seinen ausgiebigen Adnotationen zu einer der einschlägigsten Handschriften der Uberlieferungsgeschichte des römischen Autors: der Aginensis (jetzt British Museum, Harley 2493) enthält als einer ersten Codices die ersten drei Dekaden von Ab urbe condita und wurde von Petrarca selbst zusammengestellt, reichlich kommentiert und emendiert (Billanovich 1951). Am Unterschied zwischen seinen und Vallas Randbemerkungen zeigt sich dabei deutlich ein Wandel in der philologischen Praxis des Humanismus. Während Petrarcas Adnotationen zwischen grammatisch-rhetorischen Beobachtungen, angeführten Parallelstellen, moralischen Urteilen, Selbststilisierung und (für ihn charakteristischen) .Dialogen' mit dem römischen Historiker oszillieren, beschränkt sich Valla nahezu ausschließlich auf die Verbesserung des Textes. Anders als die Kommentare späterer Humanisten zeigt Valla überdies keine enzyklopädischen oder antiquarischen Interessen; Nicht-Sprachliches (wie etwa Chronologie, historischer Kontext, Inschriften) wird nur angeführt,

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wenn es zur Herstellung des Textes beiträgt (Ijsewin 1975). Besonders wichtig ist dabei Vallas methodisches Differenzierungsvermögen: so unterscheidet er einerseits Varianten, die durch Schreiber verursacht wurden {vitio librariorum), dabei nicht selten aufgrund paläographischer Faktoren zustande kamen und somit als Fehler erklärt werden können (vgl. Rizzo 1973); davon grundsätzlich zu trennen sind Interpolationen, die von Valla zumeist auf die (teils korrekten, teils verfehlten) Versuche von grammaticae professores zurückgeführt werden, den ihnen vorliegenden Text zu verbessern. Valla zieht für seine Analysen überdies (signifikante) Parallelstellen heran, unterscheidet grundsätzlich zwischen der sprachlichen Dynamik prosaischer und poetischer Texte und ist sich überdies der Relevanz bewusst, die der personale Stil eines Autors für die Bewertung von Varianten besitzt (Ijsewin 1975). So unbestreitbar Vallas Bedeutung für die Entwicklung einer textkritischen Methode avantla lettre (Timpanaro 1981) dabei auch ist: gerade in jüngster Zeit wurde immer wieder betont, dass Vallas Stärke darin lag, Konjekturen vorzuschlagen, die von brillanter Einsicht (und Ahnung), aber auch Prätention und Widerspruchslust motiviert waren; derart von persönlich-idiosynkratischer Sensibilität der lateinischen Sprache gegenüber getragen, ließ sich sein Ansatz oder ,Stil' indes nicht in eine Methode überfuhren: dies geschah erst mit Angelo Poliziano, der anders als Valla eine systematische Kollationierung der Uberlieferungsträger forderte (und in Ansätzen auch selbst praktizierte) (Grafton 1983).

Vallas,Elegantiarum linguae Latinae librisex' Die Elegantiae sind Vallas philologisches Hauptwerk - und doch zugleich mehr denn eine bloße Einzelschritt-, sowohl von ihm selbst als auch von seinen Editoren und Lesern immer wieder ergänzt und umgearbeitet, ist diese Sammlung von Analysen lateinischer Wortbedeutungen ein Versuch, jene,Sprachkritik' zu systematisieren, die von ihm kontinuierlich an den Rändern seiner Manuskripte praktiziert wurde und auch die Argumentation seiner Werke im ganzen prägt (Gaeta 1955, Regoliosi 1993). Die komplexe Entstehungsgeschichte des Werkes, das noch nicht in einer kritischen Edition vorliegt (vgl. Lopez-Moreda 1999) lässt sich aufgrund der Selbstaussagen Vallas (wenngleich nicht zur Gänze) rekonstruieren (Besomi/ Regoliosi 1987, Lopez Moreda 1999). Eine erste Version schickt Valla am 18. März 1441 an Giovanni Tortelli; wie aus seinem Begleitbrief hervorgeht, ist

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das dem Freund und Patron gesandte Exemplar mit (eigenen) Anmerkungen und Ergänzungen versehen und überdies nicht zur Gänze akkurat geschrieben. Tortelli schickt das Exemplar gleichwohl an den gemeinsamen Freund Aurispa, der es weiter zirkulieren lässt. (Auf Abschriften dieser - nicht von Valla selbst - divulgierten Fassung sollten später eine Reihe von Editionen basieren.) Valla, der Tortelli bereits in Aussicht gestellt hatte, eine Reihe neuer (teils neu entdeckter) Quellen - etwa die Komödien des Plautus oder Donats Terenzkommentar - einzuarbeiten, arbeitet weiter an dem Werk; ungefähr zwei Jahre später ist eine neue Fassung fertig gestellt. Auch diese ist vorläufig, denn Valla ist sich unschlüssig, ob er dem Werk ein siebtes Buch hinzufügen - und wem er es widmen - soll. Erst 1448 sind diese Zweifel endgültig überwunden: Valla widmet das in sechs Büchern verfasste Werk Giovanni Tortelli - mit der Bitte, es auch Papst Nikolaus V. vorzulegen, der ihn kurz zuvor zum päpstlichen Schreiber ernannt hatte. Besonders eng mit der Entstehung dieses Werks verbunden, sind dabei zwei thematisch verwandte Schriften, die Valla ursprünglich zusammen mit den Elegantiae .publizieren' wollte: die Adnotationes in Raudensem, die die Lemmata und Analysen eines lexikographischen Werkes Antonios da Rho kritisieren, korrigieren, ergänzen; sowie das Antidotum in Factum, in dem sich Valla gegen die Vorwürfe verteidigt, die Fazio wider Vallas eigenen Sprachgebrauch und Stil erhoben hatte (Regoliosi 1993). Struktur und Aufbau des umfangreichen Werkes erschließen sich nicht auf den ersten Blick, da die knapp 500 Kapitel nach Art einer Kasuistik einzelne Phänomene behandeln und ebensowenig wie die sechs Bücher systematische Titel tragen. Freilich wird bei genauerem Hinblick deutlich, dass das Werk durchaus einer - teils gar tradierten - übergreifenden Struktur folgt (Gavinelli 1988, 1991; Ax 2001). So behandelt ein erster Teil (Bücher 1-3) morphologische und syntaktische Probleme, die zweite Hälfte des Werkes semantische Zweifelsfalle (Einzelwörter und sinnverwandte Wörter). Wichtigstes Aufbauprinzip innerhalb dieser beiden Teile ist eine Systematik der Wortarten: im ersten Teil folgt Valla dabei ganz dem Schema Priscians (Gavinelli 1988, 1991; Ax 2001); in ähnlicher Weise behandelt der - im ganzen indes unsystematischer angelegte - zweite Teil zunächst separat die Bedeutungen von Nomina und Adjektiven (Buch 4) bzw. Verben (Buch 5), während das abschließende sechste Buch einschlägige Lemmata erörtert, die der antiken glossographischen Tradition, aber auch Kommentaren und juristischen Werken entstammen. Die praefationes zu den einzelnen Büchern entwickeln allgemeinere Thesen: Valla postuliert eine grundlegende Funktion der Sprache für Kultur und Politik (I); stellt sein Werk in die Tradition der antiken Grammatik und polemisiert gegen

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die Barbarei mittelalterlichergrammatici(II); er betont die Relevanz der Sprachanalyse für die höheren Disziplinen der Jurisprudenz (III) und Theologie (IV); gibt einen autobiographischen Abriß (V); und skizziert abschließend eine Theorie des Fortschritts in den studia humanitatis, in der sein eigenes Werk zur Grundlage weiterer Entwicklungen deklariert wird. Welche Fragen stellt Valla in den Elegantiaéï Er diskutiert etwa (um einige Beispiele zu nennen) die Legitimität der Dativbildung auf -abus, die Klassifikation von Adjektiven auf -bundus-, Spielarten des Komparativs und des Superlativs (auch im Vergleich miteinander); die Genitive der Personalpronomina (mei, tui, sui)\ die Bedeutung von Präpositionen; quod\ Zahlwörter; die Differenz zwischen videtur tibi quodfaciam. und videortibifacere-, die semantische Differenz zwischen murus, paries und moenia oder lux und tenebrac, Bedeutung und Stillage von Einzelwörtern wie invertere oder descendo, vacillatio, servus, situs. Vallas Bezugspunkt (oder Quellenraum) ist dabei überwiegend die spätantike grammatische Tradition, insbesondere Priscian, Donat und Servius, denen im Laufe der Überarbeitungen weitere Grammatiker wie Ascanius Pedanus oder Diomedes hinzugefügt werden (Gavinelli 1988,1991); mittelalterliche Quellen werden dagegen fast ganz ignoriert. Der eigentliche Inhalt der insgesamt knapp fünfhundert Kapitel ist dabei noch immer „substantiell unerforscht" (Cesarini-Martinelli 1980, Ax 2001). Dass eine Aufarbeitung dabei nicht nur die Quellenwelt Vallas weiter präzisieren (und eine genauere Einordnung in die grammatische und stilistische Tradition der Frühen Neuzeit ermöglichen) würde, zeigt sich in einer Reihe jüngerer Arbeiten: so wurde etwa bei der Aufarbeitung von Vallas Theorie des Komparativs und der Personalpronomina (dazu jeweils: Gavinelli 1988, 1991, Cesarini-Martinelli 1980, Ax 2001) eine für das Werk im ganzen grundlegende - und spannungsreiche - Dialektik in Vallas Ansatz deutlich. Auf der einen Seite: Vallas „induktiver Empirizismus" (Marsh 1979). Nicht anders als für Quintilian steht auch für Valla der Gebrauch (usus, consuetudo), die (in seinem Fall freilich tradierte, nicht zeitgenössische, vgl. Ax 2001) Sprachwirklichkeit einer prinzipiell lebenden lateinischen Sprache im Vordergrund und nicht ein theoretisches System. Wichtigstes analytisches Korrelat dieser Perspektive ist dabei Vallas Sensibilität für die historische Dimension der lateinischen Sprache: sie führt ihn nicht nur dazu, verschiedene Perioden in der Entwicklung des Latein zu unterscheiden und zu beschreiben (Casacci 1926, Marsh 1979), sondern lässt ihn die Wichtigkeit von historischem Kontext und Realien für die Erklärung von semantisch-stilistischen Fragen erkennen. Konsequent für Vallas a-systematischen Zugang ist zudem seine Kritik Varros und

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der Etymologie; ebenso folgerichtig wird die „Analogie" - methodischer Fluchtpunkt jeder antiken grammatischen Systematik - unter Berufung auf Quintilian abgelehnt. Wie es zunächst scheinen könnte, ist sogar Vallas Vorstellung .korrekten' Lateins - also eine Norm - ganz an den usus gebunden: mit Cicero und Quintilian privilegiert Valla zwei Autoren, macht ihren Sprachgybrauch zum - im Ansatz nicht systematisch gewonnenen - Maßstab für ein grammatisch korrektes und stilistisch treffliches Latein. Doch bei genauerem Hinblick zeigt sich, dass Valla auf der anderen Seite den normativen Anspruch seiner Elegantiae über den usus setzt und nicht nur aus ihm gewinnt (Cesarini-Martinelli 1980, vgl. Ax 2001): immer wieder versucht er nämlich - teils sogar weniger aus stilistischer als vielmehr logisch-systematischer Perspektive (Cesarini Martineiii 1980) - die Regel oder ratio korrekten Lateins aufzustellen: folgerichtig (aber für Zeitgenossen wie Poggio schwer erträglich) unternimmt es Vallas von daher, nicht nur mittelalterlich depravierte Sprachbarbaren, sondern eben die antiken Autoritäten zu korrigieren, die er selbst privilegiert. Es gilt, so Valla selbst, stets der ratio in der auctoritas, nicht der auctoritas als auctoritas zu folgen: ein Anspruch, als Experte über die Richtigkeit des Sprachgebrauchs an sich befinden zu können, der sich im gesamten Werk Vallas zeigt und nicht zuletzt seinem Versuch zu Grunde liegt, die zeitgenössische Wissenschaftssprache zu reformieren. Valla selbst hielt sein philologisches Hauptwerk fiir das „Beste, was in den letzten 600 Jahren grammatischer Tradition geschrieben worden sei"; die Forschung betont eher die Ubergangsfunktion, die die Elegantiae bei der Entwicklung einer nachantiken und nachmittelalterlichen Grammatik und Stilistik besaßen: denn so sehr sie auch (wie andere humanistische Grammatiken) Terminologie, Ansätze und Strukturen mittelalterlicher Grammatiken faktisch hinter sich lassen (Percival 1976): Valla steht weder die Fülle der grammatischen Literatur der Antike zur Verfugung, die am Ende des Quattrocento bekannt war; noch entwickelt er eine philosophisch-systematische Grammatik, wie sie vor allem im 16. Jh. etwa von Scaliger entworfen werden sollte (Jensen 1990). Da bei Valla zudem keine eigentlich sachliche Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Tradition zu finden ist, sollte man auch nicht von deren .Überwindung' durch Valla sprechen (Ax 2001).Jenseits der Disziplin der Grammatik, ließe sich sein Werk auch als Teil jener .Suche nach Signifikationen' verstehen, die nicht aufgrammatische Traktate beschränkt ist, sondern eine für die Wissenskultur der Renaissance im ganzen zentrale Denkform darstellt (Keßler 1981). Über Vallas konsequent .philologischer' Auffassung der studia humanitatis sollte dabei nicht vergessen werden, was eben dieser Ansatz exkludiert: anders

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als zeitgenössische Humanisten war Valla kein Dichter oder subtiler Prosastilist; Reden hat er kaum verfasst; seine Briefe stellte er nicht zu einem epistolographischen Corpus zusammen; und die Volkssprache stiess bei ihm auf kein Interesse (Tavoni 1997).

4. Der Humanist, das Wissen und die Religion. Vallas Philosophisch-Theologische Schriften Philosophie, Theologie und die studia humanitatis, ein schwieriges Verhältnis, ja zunächst, wie es scheint, ein radikaler Gegensatz: zwischen differenten Traditionen, Leittexten, Methoden, Paradigmen zweier differenter intellektueller Stile; aber vor allem auch: zwischen den sozialen und institutionellen Milieus zweier differenter Gruppen, den scholastici der Universität und den .Humanisten', die als Rhetorik- und Grammatiklehrer die niedrigsten Disziplinen vertraten, an Höfen protegiert wurden oder sich auch politisch betätigten. So unabweisbar die faktische Differenz dabei ist: als analytischer Horizont versagt der Eindruck eines clash zweier Kulturen, den die Humanisten immer wieder mit ihrer ubiquitären (und primär identitätsstiftenden) Polemik wider sprachunfahige, abstraktionshungrige und praxisferne Scholastiker entwerfen (Schmitt/Keßler 1988, Kristeller 1986 und 1974/1976, Vasoli 1968, Kraye 1988, Grafton 1991, Copenhaver/Schmitt 1992). Denn einerseits endet die aristotelisch-scholastische Tradition der Universitäten mit dem Aufkommen des Humanismus gerade nicht, im Gegenteil (Schmitt 1983). Und andererseits zeigt sich schon seit den Anfangen des Humanismus der programmatische Versuch, auf den epistemischen, methodologischen und textuellen Grundlagen der studia humanitatis eine alternative Philosophie und Theologie zu entwickeln: im Vordergrund steht dabei zunächst die Moralphilosophie, in der es oft zu einer eklektischen Fusion stoischer, ciceronianischer und aristotelischer Ansätze und Gedanken kam (Kraye 1988); dazu treten der Versuch, die Texte der scholastischen Tradition (insbesondere Aristoteles) durch elegante Übersetzungen in den humanistischen Kanon zu integrieren (Garin 1947-50) - und umgekehrt den der Philosophie durch neu entdeckte Texte und Traditionen zu erweitern (zum Neuplatonismus: Hankins 1990; zum Skeptizismus: Schmitt 1967, 1972; Jardine 1983). Überdies wurde deutlich, dass die Schriften der Humanisten zwar gegen die Scholastik polemisieren, bei der die Deutungshoheit über den christlichen Glauben lag; aber gleichwohl gerade nicht eine (ihnen lange unterstellte) anti-kirchliche oder gar

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säkulare Tendenz zeitigten, sondern versuchten, die studia humanitatis mit den studio divinitatis zu verbinden (Trinkaus 1970). Zusammengenommen, kam es dabei zu einer Transformation, bei der humanistische Methoden, Prämissen, Texte die philosophisch-theologische Reflexion hin zu einer postscholastischen intellektuellen Kultur zu dynamisieren begannen (Schmitt/Copenhaver 1992). Lorenzo Valla spielt in diesem Prozess eine doppelte Rolle: denn zum einen attackiert er die aristotelische Metaphysik und Logik; versucht sie durch Rekurs auf die Tradition der Rhetorik auf eine fundamentale Weise neu zu dimensionieren. Doch diese Reinterpretation des Philosophischen impliziert zugleich die Qualifizierung bisheriger humanistischer Ansätze: sowohl, weil eben dieser AusgrifF, die konkrete Auseinandersetzung mit metaphysischen und logischen Problemen eine Erweiterung der Interessen (und Kompetenzen) der Humanisten darstellt (Kristeller 1986); aber auch, weil Valla deren moralphilosophische Entwürfe entscheidend radikalisiert.

Vallas Radikalisierung der Moralphilosophie Bereits in Rom hatte Lorenzo Valla mit der Arbeit an einem moralphilosophischen Werk begonnen: wie seine Gegner suggerieren, stark unter dem Einfluß seines Onkels. In Piacenza redigierte Valla um 1431 diese (nicht erhaltene) „Skizze" (Panizza Lorch 1970, 1985) und gab dem Dialogtraktat den provokanten Titel De voluptate\ nach seiner Flucht aus Pavia kam es 1433 (vermutlich in Mailand) zu einer fundamentalen Umarbeitung: das Werk, das nun den Titel De vero falsoque bono trug, spielte nun nicht mehr in der Welt der römischen Kurie, in die Valla in Piacenza noch zurückzukehren hoffte, sondern unter Gelehrten der Universität; statt Leonardi Bruni und Niccolo als Rednern (und Poggio Bracciolini als Zuhörer) traten nun Vallas Freunde aus Pavia auf (etwa Catone Sacco). In einer weiteren Überarbeitung (1444/49) änderte er den Titel erneut (De vero bono) und fugte eine Reihe von Überlegungen hinzu, die er in seinen bis dahin entstandenen Werken entwickelt hatte; vermutlich kam es schliesslich gegen Ende seines Lebens zu einer weiteren Überarbeitung (Panizza Lorch 1970, 1985). Thema des Vallaschen Dialoges ist die Frage nach dem Summum Bonum eine tradierte Thematik, die kurz vor Vallas Werk von jenem Humanisten traktiert wurde, den er in der ersten Fassung des Werkes auch auftreten lässt: im Zusammenhang mit seiner Übersetzung der Nikomachischen Ethik (1417) und

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in seiner Isagogia moralis disciplinae (1424) hatte Leonardo Bruni für einen Ausgleich stoischer, ciceronianischer und aristotelischer Position plädiert. Anders Valla. Zu Beginn des ersten Buches wird zunächst die .stoische' Position dargelegt, die - wie auch die folgende .epikureische' - keine eigentliche Rekonstruktion der antiken Philosophenschule darstellt, sondern deren (teils durch die Rezeption gefilterte) Kernbegriffe und Grundüberlegungen zu einer (derart nicht fassbaren) .Position' kristallisieren lässt: das höchste Gut ist hier stets das honestum, das zu erreichen indes schwierig ist; denn statt tugendhaft secundum naturam zu leben, folgen die meisten Menschen falschen Gütern und Lastern, die - ganz aristotelisch als extreme Entartung gemässigt-mittlerer Tugenden gedacht - angenehm scheinen (bzw. sind), während Tugend stets Selbstdisziplinierung impliziert. Auf diese Position antwortet der (jeweilige) Advokat des Epikureismus in der (jeweils) längsten Reflexion des gesamten Dialoges. In einem für Valla charakteristischen Gedankenschritt versucht er dabei zunächst, den Begriff des honestum als leere Worthülse zu demaskieren, da er nur tautologisch auf die Frage antworte, was wahre Tugend sei: denn tugendhaft handle man in stoischer Sicht allein um des Rechten, des Höchsten Gutes, willen - doch eben dieses honestum bestehe selbst darin, tugendhaft zu handeln. Überdies, so Vallas anthropologisches Argument, vermögen die Menschen - anders als von den Stoikern vorausgesetzt - überhaupt nicht selbstlos zu handeln, sondern immer nur im Horizont eines für sie Nützlichen (utilitas). Eben dieses unausweichliche, naturgegebene, von daher ,gute' Streben definiert Valla als voluptas\ nicht „Lust" also, sondern eher ein (teils als Selbsterhaltung verstandener) An-Trieb nach einem jeweils Besten zu streben. Konsequent werden die Kardinaltugenden als voluptates animi redimensioniert, tradierte Konzepte wie die contemplatio oder das Ideal der Glückseligkeit umgedeutet, ja der Tugendbegriff im ganzen dynamisiert: Tugend wird als tugendhaftes Handeln begriffen {actio) und kann nicht an sich, sondern allein im spezifischen Kontext und am Maßstab eines jeweils (nicht) erzielten Vorteils bemessen werden. Der abschliessende Redner, der die christliche Position vertritt, „widerlegt und verdammt" die Auffassungen seiner beiden Vorrednerfreilich nicht in gleichem Masse. Grundlegender Ausgangspunkt ist dabei eine Kritik an einem zu imitativen, allzu,nahen' Antikeverständnis des Stoikers und Epikureers: Zugegeben: die Antike ( antiquitas ) verfugt über Kenntnisse, Wissenschaften, Doktrinen und insbesondere sprachliche Kompetenz, doch zur wahren Weisheit und zur wahrhaften Tugenderkenntnis ist man nicht gelangt.

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Wie bereits Valla selbst in der Vorrede, ist eine moralphilosophische Position ohne Rekurs auf den - allen und allein - verbindlichen Horizont des Christlichen nicht möglich. An der stoischen Position kritisiert der christianus im Anschluss die Annahme, die Tugenden würden um ihrer selbst willen - und nicht um Gott zu gefallen - erstrebt. Allerdings wird das honestum, so die Kritik an den Epikureern, auch nicht aus allein diesseitsbezogener Selbsterhaltung oder Nützlichkeit angestrebt, sondern als Moment der christlichen Suche nach eben der beatitudo, an der sich Geist und Seele - von den körperlichen Gliedern befreit - [...] erfreut: eine Glückseligkeit, die man (wer würde daran zweifeln oder einen besseren Namen finden!) voluptas nennt - und derart benannt auch bereits vorfindet, etwa in der Genesis, wo vom Paradies als voluptas die Rede ist.

Konsequent redimensioniert der Christ damit die epikureische Position: das dem Christen aufgegebene Streben nach Gott - ja die Caritas selbst - ist ,als Streben' voluptas. ,Gut' ist dabei jedes Streben, das explizit oder implizit auf das jenseitige Leben ausgerichtet ist; schlecht, was allein im Horizont des Irdischen verbleibt. Folgerichtig mündet die Argumentation des Christen in einen hymnischen Preis des Paradieses: eine Evokation, die sich als dichtungsgleiche, der Rätselhaftigkeit und Dunkelheit der Allegorie verpflichtete Imagination versteht - und damit einerseits eine (im Humanismus verbreitete) Aufwertung eines dichterischen modus loquendi als Medium des Theologischen spiegelt (Panizza Lorch 1985). Zugleich verdankt sich der poetische Abschluss der argumentativ angelegten Erörterung des Christen der grundlegenden Annahme Vallas, dass es bei der Vermittlung des Wahren - hier: des Strebens nach dem jenseitigen Glück - nicht nur schlussfolgernd-spekulativer Argumente, sondern auch rhetorisch angelegter Uberzeugungsmodi bedarf. Die Spekulation, welche der verhandelten Positionen die authentische Lorenzo Vallas sei, setzte bereits zu seinen Lebzeiten ein und sollte die Rezeption des Werks lange prägen. Nicht selten sah man dabei in der Einfuhrung einer christlichen Position den Versuch des Autors, der,Zensur' oder Kritik zu entgehen, aber gleichzeitig ein von ihm selbst vertretenes (oft missverstandenes) immoralisches Plädoyer für die voluptas zu promulgieren. (Insbesondere die Überlegungen des Epikureers zum - nicht als immoralisch zu verdammenden - Ehebruch leisteten dabei dem Vorurteil eines freigeistig-rebellischen Valla Vorschub.) Gerade die jüngere Forschung hat demgegenüber gezeigt, dass diese Frage kaum weiterfuhrt und die Komplexität des Dialoges schon im Ansatz aus dem Blick geraten lässt. Vallas Werk spiegelt vielmehr

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einerseits die Karrierestrategie seines Autors: nicht nur im Versuch, sich über das jeweilige settmgdcs Dialoges der kurialen bzw. universitären Elite zu empfehlen, sondern auch in der Aufwertung seines (Noch-)Freundes Panormita, der für Valla lange Zeit das zentrale Bindeglied zu einer Reihe intellektueller Milieus darstellte (Fubini 1990a). Sich im Feld zu etablieren, hieß für Valla andererseits auch stets, in Differenz zu teils übernommenen Traditionen und zeitgenössischen Kontexten zu treten - und so erweist sich der Dialog als .Arbeit' an einer Reihe von virulenten - inhaltlichen und strukturellen - Problemen, die die moralphilosophische Spekulation der Humanisten (Kraye 1988) schon seit ihren Anfangen geprägt hatte: Valla radikalisiert die seit Petrarca ambivalente Einschätzung einer den Menschen überfordernden stoischen Lehre; er kritisiert scharf die aristotelische - gerade von vielen Humanisten geteilte - Konzeption der Tugend als Mitte zwischen Extremen; er integriert die - seit der Entdeckung des Lukrez (1417) und Diogenes Laertius' verstärkte - Diskussion (und Bewertung) des Epikureismus; und adressiert insbesondere die Frage, wie sich im Horizont der studia humanitatis - und im Widerstand gegen scholastische Entwürfe - eine gleichwohl christliche Ethik entwickeln Hess. (Kraye 1988, Panizza Lorch 1985).

Die Sprache als Fundament des Denkern. Vallas Kritik der aristotelischen Metaphysik Vallas philosophisches Hauptwerk ist seine Repastinatio dialecticae etphilosophiae (die Bezeichnung Dialecticae Disputationes geht auf Editionen des 16. Jh. zurück). Die im eigentlichen Titel niedergelegte Intention, die Philosophie und Dialektik .umzupflügen', weist dabei nicht nur auf den fundamentalen Anspruch des Werkes, die vorherrschende aristotelisch-scholastische Philosophie an ihren Wurzeln zu revolutionieren, sondern auch auf den Entstehungskontext: Ursprung wie Impetus auch dieses Werkes liegen in der Zeit, als Valla wegen seiner Auseinandersetzungen mit dem universitären Establishment die Universität Pavia verlassen musste. Eine erste Version wurde freilich erst fünfJahre später abgeschlossen (1439); um 1448 war eine revidierte, erheblich erweiterte und im Aufbau veränderte zweite Fassung vollendet; auf deren Basis entstand schließlich um 1450 in Rom eine weitere Version, von der allerdings (trotz des vollständigen Textes) nicht sicher ist, ob Valla sie für abgeschlossen hielt: anders als die beiden ersten Versionen (und die meisten seiner vollendeten Werke) ließ er sie nämlich nicht in der respublica litterarum zirkulieren (Zippel 1982, Camporeale 1972, Mack 1993, Vasoli 1968).

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Bereits die oft zitierte Vorrede zum ersten Buch schlägt dabei hohe Töne an. Valla stilisiert Pythagoras zum exemplarischen Weisen, der die Philosophie - anders als Aristoteles und die peripathetisch-scholastische Tradition - nicht als Besitz wahrer Einsichten, sondern als nie abgeschlossenes Streben nach Wahrheit verstand - und damit auf einer grundsätzlich antidogmatischen Freiheit ( libertas ) der Denkenden basiert sein ließ. Darüber hinaus wird an Aristoteles ein Ubermaß an Theorie und Mangel an praktischer Erfahrung kritisiert - und einem Großteil der einschlägigen philosophisch-theologischen Tradition eine fehlende Kenntnis der lateinischen und griechischen Sprache unterstellt: weniger im Sinne eines ästhetisch-stilistischen Mankos und nicht lediglich als Kritik einer barbarischen (mittelalterlichen) Ubersetzungspraxis, sondern vielmehr als Vorwurf, durch sprachliche Inkompetenz das Denken selbst entscheidend zu verwirren. Was eine derartige Aufwertung der sprachlichen Sensibilität und Kompetenz in philosophicis heißt, zeigt Buch I, das mit einem gedanklichen Paukenschlag beginnt. Statt der sechs Transzendentalien ens, essentia, quiditas, unum, bonum, verum, über die sich in der scholastischen Tradition sämtliche Kategorien fassen lassen, ist nur ein derartiges transgenerisches Prädikat anzusetzen: die res. Für Valla ist eine derartige Reduktion dabei nicht nur geboten (ja notwendig), weil die tradierten Transzendentalien, ohne die die metaphysischen und theologischen Entwürfe der Scholastik defacto nicht denkbar sind (vgl. z.B. Pickave 2003), in sprachlicher Hinsicht anstößig sind: So hält er Begriffe wie ens oder quiditas für ,unklassisch' bzw. falsch gebildet. Die für die Repastinatio charakteristische sprachliche Analyse philosophischer Begriffe zeigt vielmehr, dass sie ,leer' sind und von daher Scheinprobleme generieren: so erweisen sich etwa vertraut-unumstössliche Begriffe wie bonitas oder veritas aus grammatischer Perspektive als Substantivierungen der Adjektive bonum bzw. verum, Adjektive indes bezeichnen, so Valla, stets Qualitäten, nie Substanzen, und das heisst: die durch die philosophische Begriffsbildung auf -itas suggerierte - ja produzierte - Existenz einer .Sache' Wahrheit (an sich) erweist sich als Hirngespinst. Sprachkritik - für Valla: die von Quintilian geforderte Analyse der consuetudo der Schreibenden - ist Metaphysikkritik (Kondylis 1990). Die Transzendentalien sind, aus dieser Perspektive betrachtet, somit weit weniger fundamental, als sie es vorgeben: als weit basaler erweist sich vielmehr das Wort (!) res, ohne Rekurs auf das sich die vermeintlichen Transzendentalien nicht denken lassen. Auf vergleichbare Weise unternimmt es Valla, die Prädikabilien zu analysieren: anders als in der philosophischen Tradition (insbesondere seit Porphy-

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rius Isagoge), lassen sich in Vallas Augen die existierenden res nicht über fiinf, sondern über drei Kategorien - substantia, qualitas, actio - erfassen. Besonders wichtig ist bei dieser zweiten Reduktion dabei zum einen Vallas Substanzbegriff {oder besser, die Bedeutung des Wortes Substanz): Valla lehnt den tradierten aristotelisch-scholastischen Hylemorphismus ab, denn Substanzen als eine - im Modus der Abstraktion aufhebbare - Zusammengesetztheit von Substanz und Form zu denken, scheint ihm unsinnig; körperliche und geistige Substanzen stellen vielmehr eine prinzipielle, geschlossene, individuell gegebene Einheit dar, die (auch gedanklich) nicht aufgehoben werden kann (Mack 1993, Keßler 1988): eine klare Deprivilegierung der Abstraktion als grundlegender philosophischer Technik. Äußerst folgenreich ist zum anderen Vallas Reflexion über die qualitas: da Qualitäten für ihn konstituieren, was an Individuen direkt wahrnehmbar oder wissbar ist, entwickelt er eine selbständige Theorie der Wahrnehmung und Erkenntnis, in der ein geistiger oder „gemeiner" Sinn die dem Menschen unmittelbar gegebenen nicht-körperlichen Qualitäten erfasst (Keßler 1988, Gerl 1974). Spätestens an dieser Stelle zerfallt die moderne Interpretation der Vallaschen Grundlegung in Buch I der Repastinatio in zwei Lager. Streitpunkt ist dabei die Einschätzung (oder ,Tiefe') der grundsätzlichen Aufwertung der Sprache in der Philosophie. Unumstritten ist Vallas Ansatz, nicht nur schlicht Sprachkritik zu betreiben, sondern prinzipiell an der sprachlichen Verfasstheit des philosophischen Denkens anzusetzen: schließlich hatte Valla Transzendentalien und Kategorien grundsätzlich nicht ontologisch als Strukturmomente des Wirklichen, sondern als prinzipielle Diskursweisen im Rahmen eines Bezeichnungsaktes begriffen {appellationes quedamprincipales in signißcando): ein Perspektivwechsel, der nicht zuletzt daran deutlich wird, dass Valla das Transzendentalwort res programmatisch nicht als Ding oder Begriff, sondern als jenes „Wort aller Wörter [versteht], das in seiner Bedeutung umfassend ist." Doch ist dies alles bei einem Denker, der die Wahrheit selbst als nur über die Sprache zugänglich zu bezeichnen scheint (Camporeale 2002)? Denkt Valla nicht vielmehr die Wirklichkeit selbst als fundamental sprachlich konstituiert? (Kristeller 1986, Gerl 1976, Waswo 1987). Und würde dies nicht weiterhin, aus historisch-systematischer Perspektive betrachtet, eine „Transformation", ja Radikalisierung des spätscholastischen Nominalismus eines Ockham implizieren (Keßler 1988)? Ja erweist sich Valla gar als Vorläufer Wittgensteins (Kristeller 1986, Camporeale 2002 und insbesondere Waswo 1987)? In den Augen anderer erweist sich eine derartige interpretative Tendenz als - von der ,Aura' des linguistic turn - induziertes (anachronistisches) Missverständnis, das durch

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die in einigen Beiträgen unübersehbare Montage Vallascher Zitate ,zur Theorie' auch methodisch sehr angreifbar ist (Monfasani 1989) - und überdies völlig übersieht, dass Vallas Position, philosophisch betrachtet, aristotelische Positionen oft verzeichnet, selbst voller Widersprüche ist und fundamentale Implikationen verkennt (Mack 1993). Wenn die Bücher II und III der Repastinatio nach dieser Reflexion über Transzendentalien und Kategorien zunächst die Aussage (propositio), dann den Syllogismus und die Formen des Schließens behandeln, dann zeigt diese Abfolge, dass Vallas Werk bewusst der Struktur des aristotelischen Organon folgt, die auch für die mittelalterlichen logischen Textbücher grundlegend war. Doch die formale Homologie verbindet sich erneut mit einer fundamentalen Transformation und lässt die Repastinatio von daher als bewusste aemulatio der bestehenden philosophischen Episteme erscheinen. Für Valla ist nämlich der Syllogismus nicht die grundlegende (oder gar einzige) Form valider philosophischer Argumentation, sondern nur eine Denkform unter vielen; zu ihm treten, ja ihm weit überlegen, weil praxisnäher und in actu überzeugender sind eben die Beweisformen und Argumentationstechniken, über die der Rhetoriker verfugt (etwa Induktion, Enthymem, exempluni). Folgt man der oben skizzierten Interpretation, nach der Valla die Sprache als constituens des Seienden begreift, erscheint dies als schlüssige Folge dieser Auffassung: denn wenn Wirklichkeit apriorisch versprachlichte Wirklichkeit ist und umgekehrt die Sprache selbst zum entscheidenden Ansatzpunkt der Reflexion avanciert, dann verkennt philosophische System, das allein einen sprachlichen Modus (etwa den Syllogismus) privilegiert, ebenso notwendig die Realität wie jede falsche Verwendung der Sprache. Historisch (und im Horizont der Transformation der Renaissancephilosophie) betrachtet, weist Vallas Aufwertung nicht-demonstrativer Modi des Argumentierens indes auf einen für die (folgende) humanistische Logik im ganzen fundamentalen Gedankenschritt (Jardine 1988): Vallas Logik steht damit am Beginn einer auch curricular umgesetzten humanistischen Neudefinition der Logik (Jardine 1977), die vor allem im 16. Jh. (und teils als Folge der Rezeption der antiken Skepsis) weitergeführt werden sollte (Popkin 1960, Ong 1958). Unmittelbar gewirkt hat Vallas Repastinatio - gerade im Vergleich zu seinen anderen Werken - indes kaum. (Zur Kritik durch Agostino Nifo, Jardine 1981). Zusammen mit den Werken Rudolph Agricolas gehört sie zu den eher seltenen humanistischen Versuchen des Quattrocento, das von Humanisten üblicherweise kategoriell abgelehnte (und zumeist nicht einmal im Ansatz verstandene) Fundament der vorherrschenden scholastischen Episteme - die

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aristotelische Logik - in Frage zu stellen. Über ein identitätsstiftend-polemisches Plädoyer für die Wichtigkeit der artes sermocinales geht Valla somit weit hinaus: sein philosophisches Hauptwerk lässt sich (ohngeachtet interpretatorischer Differenzen) als radikaler Versuch sehen, die im Humanismus allgemein angelegte Aufwertung oder Privilegierung der verba in einer Fundamentalreflexion zum Horizont oder Prinzip des Philosophischen und der Metaphysik an sich zu machen (Vasoli 1968).

Vallas theologisches Programm Lange Zeit galt Lorerizo Valla als Ikone (oder umgekehrt Schreckgespenst) eines Renaissancehumanismus mit antikirchlicher, ja säkularer Stoßrichtung; war Apologet eines diesseitigen Epikureismus, häresieverdächtiger Freigeist und vehementer Kritiker kirchlicher Machtansprüche. Nicht zuletzt im Zuge einer allgemeinen Neuinterpretation des Verhältnisses zwischen Humanismus und Christentum haben demgegenüber eine Reihe jüngerer Studien seine Auseinandersetzung mit der Theologie seiner Zeit herausgearbeitet (Fois 1969, di Napoli 1971), ja gar ein theologisches Programm als Strukturmoment seines gesamten Werkes zu isolieren versucht (Camporeale 1972 und 2002). Einschlägig dabei zunächst, was man als Vallas .philologischen Ausgriff' auf die Schlüssel-Texte der christlichen Tradition bezeichnen könnte: die zuerst von Erasmus (1505 Paris) herausgegebenen Adnotationes in Novum Testamentum, die indes - wie die erst jüngst kritisch aufgearbeitete Uberlieferungsgeschichte zeigt (Perosa 1970) - auf eine zweite Fassung das Werks zurückgehen, das den Titel Collatio Nervi Testamenti trug. Zumindest in groben Zügen lag das Werk um die Jahreswende 1443/44 vor, ungefähr ein Jahr später stellte Valla es mehreren Freunden zur baldigen Lektüre in Aussicht: aus seinen Briefen wird dabei klar, dass er das Werk einem hochgestellten römischen Prälaten zu widmen gedachte, um seine Rückkehr nach Rom zu betreiben. Durch Unachtsamkeit eines Freundes in Rom, so Valla, sei das Manuskript indes verloren gegangen: eine Behauptung, die Poggio Bracciolini mit der Unterstellung in Frage stellte, Valla habe die Zirkulation des Werkes aus Angst, erneut der Häresie verdächtigt zu werden, mit einer derartigen Schutzbehauptung maskiert. Jedenfalls ließ es sich wieder auffinden; Valla widmete es Nikolaus V. (der ihn nach Rom berief); und schnell baten ihn andere Gelehrte, wie etwa Nikolaus von Kues, um Kopien des Werkes, das durch zahlreiche Anspielungen bereits berühmt geworden war wie auch ohnehin viel versprach: bereits im Rahmen seiner phi-

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lologischen Schriften hatte sich Valla immer wieder mit dem grundlegende Thema der Collatio, der Textkritik und Kommentierung des Neuen Testaments, auseinandergesetzt. Warum Vallas Werk dabei als „Paradigmenwechsel im der Erforschung des neuen Testaments" bezeichnet wurde (Bentley 1983 mit Kraye 2001), vermag selbst eine knappe Skizze zu erhellen: Valla sucht nach Textzeugen von griechischem .Original' und seiner lateinischen Ubersetzung; er kollationiert die gefundenen Handschriften - zumeist stellenbezogen, aber in der zweiten Redaktion bereits systematisch und unter präziserer Benennung der codices\ er unterscheidet zwischen intentionalen Varianten (kompetenten oder ignoranten Korrekturen, Glossen, Harmonisierungen) einerseits und eigentlichen Fehlern andererseits (Lesefehler, Schreibfehler, Augensprünge); und vergleicht die lateinische Vulgata mit dem griechischen Neuen Testament, um nicht zuletzt Hieronymus Übersetzungsfehler nachzuweisen (vgl. Garofalo 1946, Camporeale 1972). Doch Textkritik und Kommentar der Offenbarung sind nicht alles. Denn bei unbefangener Lektüre seines Werks zeigt sich, dass Valla häufig theologische Probleme erörtert, ja in seinen Schriften programmatisch die causa Dei selbst zu vertreten sich anschickt: seine Schrift über die Konstantinische Schenkung enthält eine Theorie des Papsttums (vgl. unten); De voluptate/De verofalsoque bono entwickelt eine christliche Ethik im Widerstreit zu antiken Entwürfen; die Repastinatio Dialectiae erörtert trintätstheologische Spezialfragen (Camporeale 1972); die Schrift De professione religiosorum (1441) kritisiert die - in Vallas Augen verfehlte - privilegierte Stellung (resp. besondere Spiritualität), die religiöse Orden gegenüber Laien beanspruchen (Cortesi 1986; Trinkaus 1970). Insbesondere das - lange vernachlässigte - Encomium Sancti Thomae stellt dabei einen Fluchtpunkt der theologischen Spekulation Vallas dar (Camporeale 1972, 2002). Der vehemente Kritiker der Transzendentalienlehre und barbarischen Sprachlichkeit der Scholastik, hielt diese Lobrede auf Thomas von Aquin am 7. März 1457 vor den Dominikanerkolleg von San Giovanni in Laterano, wo ihm Papst Calixtus III. eine wohldotierte Pfründe als Kanoniker verschafft hatte. In dem (teils hagiographischen Mustern folgenden) (Nicht-) Panegyrus stellt Valla den scholastischen Theologen zunächst programmatisch als Schutzpatron der Dominikaner heraus und lobt seine scientia - um ihm (sowie implicite dem zeitgenössischen Thomismus) darauf Paulus (sowie die Patristik) gegenüberzustellen: statt metaphysisch-philosophischer Theoriegebäude (und abstrakt-korrupter Sprachlichkeit) bedarf es nach Valla einer Rückkehr zu einer „rhetorischen Theologie", die kommunikative, nicht philosophische Grundlagen besitze (Camporeale 1972, 2002).

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Die von überwiegend katholischen (zumeist postkonziliaren) Theologen betriebene Neubewertung hat zu einer wichtigen Korrektur des verzerrten Bildes Vallas als theologiefeindlichen Freigeistes geführt. Freilich sollte sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine theologische Reflexion aus historischsystematischer Perspektive anderen nicht widerspruchsfrei, ja bisweilen oberflächlich erscheint (Monfasani 2000). Überdies ist wichtig, nicht aus dem Auge zu verlieren, dass Valla (im Kontext seiner Zeit betrachtet) weit davon entfernt war, eine orthodoxe Theologie vorzulegen, sondern de facto kirchliche Autoritäten, Institutionen und Uberzeugungen - z.B. auch die Identifikation von Dionysius Areopagita mit dem Verfasser des Corpus Dionysiacum - als Folge seiner historisch-kritischen Perspektive vehement kritisierte (Fubini 1990b): eine Tendenz, der sich indes entgegenhalten ließe, dass eben diese Kritik selbst als derart motivierte Kritik vor dem Hintergrund einer sich anbahnenden Reformation eine theologische Dimension besitzt (implizit Camporeale 2002, Trinkaus 1970).

5. Rekonstruktion und Dekonstruktion. Vallas historischpolitische Schriften Nicht anders als die Rhetorik, ist auch die historia im Rahmen der studia humanitatis mehr als nur eine Disziplin oder Gattung (Cochrane 1981, Kelley 1970): so galt die antike historiographische Literatur den Humanisten als exemplarisches Demonstrationsfeld politischen Handelns und wird darin überdies zum Ursprungsraum politischer Theoriebildung; für die Rekonstruktion antiker Textualität und Kultur wurden Ansätze einer historisch-kritischen Rationalität entwickelt, die nicht zuletzt um Fragen der Authentizität oder Chronologie kreiste und immer stärker auch nicht-sprachliche Evidenz in die Argumentation einführte; man begann die historia als Denkform zu theoretisieren (Cotroneo 1971); und schließlich stellte die eigene historiographische Praxis - das Verfassen von Stadt- oder übergreifenderen ,National'-Geschichten - eine wichtige Legitimationsweise politischer Ansprüche dar, die sich umso valider formulieren ließen je stärker die technische Kompetenz ihres Verfassers den Anspruch auf Wahrheit des Erzählten unterstützte.

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Historische Kritik: ,Defalso credita et ementita ConstantiniDonatione' Am 25. Mai 1440 sandte Lorenzo Valla seinem Freund Tortelli ein kurz zuvor verfasstes opusculum, dessen provokante Eingangsworte zu Beginn dieses Portraits bereits zitiert wurden: es handelt sich dabei um ein streng nach den Kriterien einer antiken Gerichtsrede aufgebautes opus oratorium, das eine „Angelegenheit aus dem Bereich des kanonischen Rechts und der Theologie" behandele: das (sogenannte) Constitutum Constantini -jenes für die Begründung eines päpstlichen Machtanspruches wichtige Privileg also, in dem ein von der Lepra geheilter, dankbarer, bekehrter Kaiser Konstantin Papst Silvester (und seinen Nachfolgern) das imperium über das Abendland übertrug. Vallas These, dass sich hinter der Urkunde kein spätantikes Dokument, sondern eine mittelalterliche Fälschung verbarg, war dabei nicht neu: kurz vor Vallas Schrift hatte bereits Nikolaus von Kues den apokryphen Charakter des Dokuments betont; und auch im Mittelalter selbst gab es Zweifel, vor allem aber auch qualifizierende Interpretationen des Dokuments, das als frühe Ergänzung zum Decretum Gratiani Teil des Kirchenrechts war (Setz 1975). Neu war indes Vallas Methode der Argumentation und allgemeine Perspektivierung der Problematik (Setz 1975). In einem ersten Schritt versucht er zunächst die historische Unwahrscheinlichkeit der Schenkung eines römischen Kaisers an den Papst zu erweisen. Nicht plausibel ist, ein derartiger Akt, so Valla, schon vor dem Hintergrund des psychologischen und machtpolitischen habitus eines antiken Herrschers, dessen Kalkül es ist, stets seine Herrschaft zu erweitern - auch um den Preis moralischer Verfehlung oder gar durch Verbrechen: eine Überlegung, die nicht nur dazu führte, in Valla einen Vorläufer Machiavellis zu sehen, sondern deutlich macht, dass sich in der oratio eine implizite Theorie politischer Herrschaft findet (Gaeta 1952, Setz 1975). Mit der Lizenz und persuasiven List des Rhetorikers lässt Valla darauf die von der Schenkung Betroffenen (u.a. die Söhne des Kaisers) auftreten und die Problematik einer Schenkung in fiktiven Reden diskutieren; dabei argumentiert etwa der Vertreter des römischen Volkes, dass der römische Kaiser überhaupt kein Recht besitze, die - ihm nur geliehene - Macht Dritten zu übertragen. Das letzte Argument wider die Plausibilität einer derartigen Schenkung schließlich ist ein argumentum e silentio\ keine der bekannten historischen Quellen erwähnt das vermeintliche Faktum. Der sich anschließende Hauptteil des Werkes analysiert nach dieser Evokation des historischen Kontexts die Uberlieferung und Textgestalt des zur Debatte stehenden Dokuments: dabei verweist Valla darauf dass nicht Gratian selbst, sondern erst sein Schüler ,Palea' {rede Paucapalea) die

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Schrift in das Decretum Gratiani aufgenommen habe; daraufhin analysiert er den Wortlaut der Urkunde und kommt zu dem Schluß, dass sie wegen ungeschickter und teils anachronistischer Formulierungen (etwa: papa für Papst) sowie interner Widersprüche zur Sylvesterlegende mit Sicherheit eine Fälschung darstelle. Freilich: inwiefern vermögen alle diese Argumente überhaupt die Relevanz des Privilegs zu erschüttern - wo seine Geltung doch aus kanonistischer und theologischer Perspektive weniger in seiner Authentizität denn an der durch kontinuierliche Weitergabe generierten Tradäwnah'tätbegmndet liegt? Im subtilen Abschlussteil des Werkes attackiert Valla eben diesen Modus der Authentifizierung qua Tradition, indem er dessen faktische Voraussetzung, die Weitergabe und Anerkennung des Dokuments, aus moralisch-ekklesiologischer Perspektive, in Frage stellt. Aus ignorantia und unverantwortlicher Leichtgläubigkeit haben die Päpste zunächst die Fälschung nicht durchschaut - und im Laufe der Geschichte ihre manifesten Zweifel hintangestellt, da sie das Dokument in ihren Auseinandersetzungen mit dem Kaiser taktisch einsetzen und aus ihm auch materiellen Profit ziehen konnten. Die Tradition des Dokuments erweist sich damit auf einer theologischen Ebene als Folge einer simonistischen Verfehlung des Papsttums, das seinen spirituellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommt, oder anders: die durch Weitergabe generierte Traditionalität des Dokuments impliziert eine unchristliche Praxis des Papsttums. Nach dem Rhetoriker und Historiker hat damit auch der Dogmatiker dem Dokument seine Geltung entzogen. Nicht zuletzt wegen der politisch-militärischen Auseinandersetzungen zwischen Alfonso V. und Papst Eugen IV. wurde die Schrift lange Zeit als Versuch Vallas interpretiert, den Ansprüchen seines Mäzens durch eine Attacke gegen den päpstlichen Herrschaftsanspruch humanistische Schützenhilfe zu leisten. Schon die frühe Rezeption, während der selbst am päpstlichen Hof keine Einwände gegen Vallas These laut wurden (Setz 1975), spricht indes für eine komplexere Deutung. Konkrete Anhaltspunkte liefert dabei bereits das Vorwort, in dem Valla die von ihm verfochtene causa veritatis (bzw. iustitie) zugleich als causa theologie fasst. Insbesondere in der fiktiven Rede des Papstes wird dabei deutlich, dass Valla neben einer politischen Theorie auch eine Theorie des Papsttums entwickelt und dabei zwar nie an dessen Primat zweifelt, den Papst indes primär als christianus /foflzo versteht, der weniger auf einen Herrschaftsanspruch als vielmehr auf eine exemplarische Spiritualität im Rahmen einer libertas ecclesie verpflichtet ist (Camporeale 2002). Vallas Traktat erscheint damit als Teil (s) eines theologischen Programms, nicht als politische Propagandaschrift.

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Warum Vallas Schrift als .Gründungsurkunde' moderner historischer Kritik verstanden wurde (Kelley 1970), ist offensichtlich: Valla begreift die Konstantinische Schenkung erstmals nicht aus einer systematischen - theologischen, juristischen oder ekklesiologischen - Perspektive, sondern als historischen Akt und als historisches Dokument. Misst man freilich die Schrift selbst an diesem Anspruch, zeigen sich Brüche in Stringenz, Konsequenz und Stichhaltigkeit von Vallas Argumentation: so verschleiert Valla systematisch die hypothetische Natur seine Argumentation, wenn er die von ihm erfundenen Reden unmerklich zu Fakten werden lässt (Setz 1975); dazu kommen sachliche Fehler und Selbstwidersprüche, etwa wenn Valla .historische' Dokumente anfuhrt, die bereits als nicht-authentisch entlarvt waren. Beiden Auffassungen ließe sich freilich entgegenhalten, dass die Annahme einer .historischen Objektivität und Unparteilichkeit' selbst eine Illusion darstellt. Gerade dass Valla im Raum des Hypothetischen versucht, die Handlung, Intentionen, Zwänge, Konstellationen, ja Mentalitäten historischer Subjekte in ihren Kontexten zu analysieren; dass dazu sprachliche Analyse sowie die Berücksichtigung der Uberlieferung tritt; und sich damit schließlich normative moralische Ansprüche verbinden, die aus dem „Wunsch recht zu behalten" (Foucault) und Werte durchzusetzen, entstehen: eben dieses Ineinander von Rationalisierung und Politik macht Vallas Werk zu einem Kristallisationspunkt dessen, was „Geschichte zu schreiben" bedeutet.

Die ,historia'als Denkform. Vallas Prooemium zu den ,Gesta Ferdinandi' Zur Seite zu stellen ist all dem Vallas Reflexion über die .Geschichte'. Nicht anders als die Humanisten seiner Zeit hat auch Valla zwar keine autonomsystematische Ars historica verfasst - eine Gattung, die sich erst im 16. Jh. findet; sich aber gleichwohl immer wieder zu Begriff und Absicht der historia geäußert: so etwa im Prolog zu seinem Kommentar zu Sallust, in Briefen, seinen Streitschriften, vor allem aber im Prooemium zu seinen Gesta Ferdinandi (Kelley 1970, Ferrau 1997). Ebenso wie Petrarca, Guarino da Verona oder Angelo Decembrio ordnet Valla dabei die historia zunächst grundsätzlich der Rhetorik zu (Landfester 1972) und fasst sie als Textsorte, die es aus der Perspektive des „Nutzens für den Leser" (utilitas lectoris) und der „Schwierigkeit ihrer Komposition" (difficultas scribentis) theoretisch zu fassen gelte. Bald wird indes deutlich, dass Valla die historia über eine stilistisch-mediale Dimension hinaus als spezifische Form der

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Rationalität begreift. Eben dies führt ihn dabei zur Kritik an der einschlägigsten Abwertung der Historiographie (als Denkform), der (noch selten rezipierten) aristotelischen Poetik. Anders als im berühmten neunten Kapitel der Poetik ist die historia in Vallas Augen sowohl der Dichtung als auch der Philosophie überlegen. Denn einerseits kümmere sie sich gerade nicht nur um partikulare Einzelfakten: als exemplarischer Raum (oder Träger) moralischen Wissens enthält sie vielmehr universale Wahrheiten, die zudem - anders als im Falle der Dichtung - auf Tatsachen, nicht auf Fiktionen beruhen; überdies lassen sich die figmenta der Dichter überhaupt nur fabrizieren (bzw. denken), wenn ihnen eine - dann fiktional zu verbrämende - Wirklichkeit vorliegt. Dass die Historie (wie auch die Poesie) indes auch der Philosophie überlegen sei, begründet Valla pragmatisch mit der persuasiven Macht erfundener Reden, deren Charisma und paränetische Kraft der diskursiven Dürre moralphilosophischer Präzepte weit überlegen sei. Auch Vallas Diskussion der Komposition historiographischer Werke geht weit über stilistische Ratschläge hinaus. Immer wieder auf Thukydides' Prooimion anspielend, kreisen seine Überlegungen vielmehr um die notwendige Mentalität des Historikers: Geschichte gilt es (mit Tacitus) ohne Mißgunst und Ambition, aber auch ohne Aussicht auf materielle oder symbolische Vorteile zu schreiben. Vor allem aber muss der Verfasser einer historia die Fähigkeit zum unabhängigen, sorgfaltigen und scharfsinnigen Urteil besitzen: programmatisch (und lange vor Marc Bloch) vergleicht er den Historiker dabei mit einem Richter. Diese Aufwertung der magistra vitae zur Richterin über die Wirklichkeit verbindet sich damit mit der Abwertung einer tradierten Trägerin von Authentizität: die Macht der - vermeintlich Faktizität (und damit historische Wahrheit) garantierenden - .Autopsie' erweist sich als Fiktion; denn die Zeitzeugen selbst sind nicht in der Lage, die Wirklichkeit widerzugeben, sondern verzerren und verkürzen sie: aus psychologischen Gründen (Neid, Eitelkeit); aus Macht und Interesse; aber auch wegen der unhintergehbaren Begrenzung der menschlichen Sinneswahrnehmung. Valla plädiert damit deutlich für die historische Kritik der Quellen als Voraussetzung der Geschichtsschreibung (Ferrau 1997).

6. Zwischen Rezeption, Transformation und Konstruktion: Vallas Wirkung Eine .Schule' hat Lorenzo Valla nicht begründet - trotz einiger (eher unbekannter) Humanisten, die sich seine Schüler nannten (oder als solche gelten):

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sein Ansatz war zu personal, um sich methodisieren oder griffig reduzieren zu lassen (Grafton 1983); sein intellektueller Stil zu polemisch, um aus ihm eine weit ausstrahlende Persönlichkeit (etwa nach Art Guarinos da Verona) werden zu lassen, deren gediegene Autorität in litteris und persönlicher Einfluss andere Humanisten dazu bewegt hätten, sie zur Leitfigur zu stilisieren. Valla war kein legitimitätsstiftender Ideologe wie Coluccio Salutati, Leonardo Bruni (oder auch die zahlreichen Verfasser von Stadtgeschichten), der im Rahmen lokaler politischer Ansprüche und Traditionen rezipiert worden wäre; kein Ficino, der schon durch seine Ubersetzung vergessener oder ignorierter philosophischer Hauptwerke einschlägig gewesen wäre; kein (gar volksprachiger) Dichter wie Petrarca oder auch Angelo Poliziano, der zum Teil literarischer Traditionsbildung und Kanonisierung hätte werden können. Vallas Wirkung war gleichwohl enorm - quantitativ und qualitativ: gerade wegen seiner Vielfalt hat das umfangreiche und pluridisziplinäre Werk des bereits zu Lebzeiten notorischen Humanisten in den verschiedensten Feldern der europäischen intellectualhistory deutliche Spuren hinterlassen (Materialien bei Mancini 1891; Gerl 1974; Kraye 2001). Der Versuchung, seine (oft berühmten) Leser schlicht aufzuzählen, gilt es dabei indes zu widerstehen - und dies aus einer Reihen von Gründen:,Traditionen' sind selten selbstverständlich und werden von kommunikativen und institutionellen Faktoren getragen (die es aufzuweisen gilt), nicht von zwangsläufigen Teleologien; Rezeption ist grundsätzlich nur aus den für sie unmittelbaren Kontexten, Motiven, Problemen verständlich - und mehr denn nur .sachliche Auseinandersetzung' mit einer .Quelle': es kommt zu Transformationen und Missverständnissen, zu Konstruktion, Auratisierung, Symbolisierung; und schließlich gehört zurfortunaeines „Lehrers Europas" auch ihr Gegenteil: die Nicht-Rezeption, das Scheitern der Leser, die schwindende Relevanz - Aspekte, die (in einer für die Rezeptionsforschung charakteristischen .dialektischen Volte') umgekehrt Aporien, Spannungen eines Werks oder Autors sichtbar zu machen vermögen. Gerade Lorenzo Valla stellt dabei einen exemplarischen Gegenstand einer derart differenzierten Wirkungsgeschichte dar, deren Moment stets auch die Wissenschaftsgeschichte sein muss. So kreist etwa eine erste wichtige Phase des Nachlebens Vallas eben um die Grenzen seines Ansatzes. Im Horizont eines neu aufflammenden Ciceronianismus in Rom, aber auch im Rahmen der post-Vallaschen neapolitanischen Hof,Akademie' wurde nämlich gegen Ende des Quattrocento deutlich, dass Vallas sprach- und stilkritischer Ansatz der Elegantiae mit ihrer Verknüpfung von usus und ratio eine grundlegende Dimension humanistischer Praxis nicht nur nicht

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adressierte, sondern verunmöglichte\ die imitatio (Cesarini-Martinelli 1980). Denn einerseits, so etwa die Kritik Paolo Cortesis, berücksichtigte Vallas Auffassung der Sprache keine ästhetischen Kriterien wie den Rhythmus (concinnitas). Vor allem aber wurde deutlich, dass sein analytisch-deskriptiver Ansatz keinerlei Raum für eine Form des kreativen Schreibens ließ, das bewusst den Bruch mit Traditionalem suchte, Inhalte verschlüsselte, intertextuelle Welten, hybride Texte konstruierte - und für das Selbstverständnis (und die Reputation) von Humanisten wie Cortesi, Giovanni Pontano, Angelo Poliziano (dazu: Godman 1997) grundlegend war. Freilich sollten die intellektuellen Bedürfnisse der poetae docti des ausgehenden Quattrocento die durchschlagende Wirkung der Elegantiae nicht aufhalten: das Werk ist in zahlreichen Handschriften, Inkunabeln und (zwischen dem 16. und 18. (!) Jh.) mindestens 168 Drucken überliefert (Ijsewin/Tournoy 1969 und 1971). In seiner komplexen fortuna ist es dabei ein Beispiel für eine auch nachmittelalterliche .Offenheit' (auch) des gedruckten Textes: so entstehen bereits früh Editionen auf der Basis der unfertigen ersten Fassung; und schon früh setzt die zunächst handschriftliche, dann gedruckte Uberlieferung von Bearbeitungen - Zusammenfassungen, Exzerpten, Paraphrasen - ein: insbesondere in didaktischen Kontexten verfasst (Jensen 1997, Gavinelli 1991), wählen derartige Elegantiolae, Compendia Elegantiarum oder Epitomai Elegantiae einschlägige Stellen aus, reduzieren Vallas theoretische Überlegungen oder versuchen - wie etwa die von Erasmus verfasste Paraphrasis - die Benutzung des Werkes durch (auch alphabetische) Indizes zu erleichtern; dazu kommen zahlreiche Kommentare und Ergänzungen, die mit den Elegantiae gedruckt oder auch in selbständigen Editionen zusammengefasst werden. Eben diese produktiv-weiterfuhrende Rezeption setzt nicht nur das .philologische Kontinuum' der Vallaschen Praxis fort, in dem das Werk entstanden war: sie zeigt vielmehr, dass die Elegantiae, die zudem selbst früh zum Materialgeber systematischer grammatischer Traktate wurden, zum grundlegenden Referenzwerk, ja -räum der frühneuzeitlichen respublica litterarum im ganzen wurden; Grammatik und Stilistik zu betreiben hieß: sich mit Valla auseinander zu setzen; ihn zu ergänzen oder gar kritisieren zu können, wurde zum Gradmesser von Einschlägigkeit und Kompetenz. Von Vallas Ruf als praeceptor linguae zeugen dabei sowohl zahlreiche Anekdoten und Legenden, die bereits früh (insbesondere in Deutschland) zu zirkulieren beginnen (Sottiii 1986); als auch zahlreiche Travestien und Parodien wie etwa die (oft für ein authentisches Werk gehaltenen) Emendationes in Alexandrum, in denen ,Valla' das Doctrinale Alexanders von Villa Dei attackiert (Cesarini Martinelli 1980).

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Grundlegend für die Rezeption des weiteren Werk Vallas war die Ausgabe der Opera Omnia, die 1540 in Basel gedruckt (und 1543 wiederaufgelegt) wurde. Dazu traten zahlreiche Drucke einzelner Schriften Vallas, deren Überlieferung meistens dadurch kompliziert wird, dass sie - wie die Elegantiae oder De voluptate/De vero falsoque bono - jeweils auf verschiedenen Fassungen Vallas basieren. Eine besonders nachhaltige Wirkung zeitigten seine Ubersetzungen, die nicht nur im Rahmen der humanistischen respublica litterarum rezipiert wurden, sondern auch die Antikerezeption in volkssprachigen Bereichen und Milieus prägten: einschlägig für die deutsche (Übersetzungs-) Literatur ist etwa die Rezeption von Vallas (als Facetiae Morales überlieferter) Asopübersetzung durch Heinrich Steinhöwel (Dicke 1994), sowie vor allem die deutsche Ubersetzung Herodots und Thukydides durch Hieronymus Boner (1532 bzw. 1537), denen jeweils die Vallasche Übertragung zu Grunde lag (Worstbrock 1976, Klee 1990, M. Keßler 2001). Eine vergleichbare Wirkung zeigt sich bei italienischen volgarizzamenti (Klee 1990) sowie in England und Frankreich: so basierte etwa die selbst sehr wirkmächtige - .Thukydides'-Übersetzung Claude de Seyssels (1527) nicht auf dem Text des griechischen Historikers, sondern auf Vallas Übertragung. In den Augen eines seiner berühmtesten Rezipienten, hat eben diese Präponderanz und durchschlagende Wirkung des Philologen Vallas dazu geführt, seine anderen Qualitäten ungebührlich in den Hintergrund treten zu lassen: il n' etoit moins Philosophe qu'Humaniste, schreibt G. W. Leibniz in einer (vielzitierten) Passage seiner Theodizee. Sein Urteil basierte dabei auf der Lektüre des bislang unerwähnten Dialoges Vallas ,Über den freien Willen' {De libero arbitrio) von 1437 (Keßler 1987). In dem Werk versucht Valla (ganz zu Leibniz's Zufriedenheit) zu zeigen, dass die göttliche Providenz - als göttlicher Wille verstanden - nicht im Gegensatz zur Willensfreiheit des Menschen stehe; und erzählt dabei in einer (von Leibniz ebenfalls besonders herausgestellten) Weise einen griechischen Mythos, um die komplexe Differenziertheit seiner Position zu erläutern. Leibniz' Lob stellt dabei den Abschluss einer reichen Wirkung des Dialogs dar, der insbesondere während der Reformation zu den Schlüsseltexten der Frage über die Willensfreiheit zählte und von Melanchthon, Luther und Calvin intensiv rezipiert wurde (Keßler 1987). Überhaupt sind das intellektuelle Milieu und die kirchenpolitischen Kontroversen der Gegenreformation - neben der frühneuzeitlichen Philologie und der im 19. Jahrhundert einsetzenden modernen Forschung - die dritte wichtige Phase der Valla-Rezeption im ganzen: nicht zuletzt deshalb, weil sie die zukünftige Wahrnehmung des Humanisten nachhaltig prägten, indem sie ihn ganz aus der Logik und Polemik der konfessionellen Spannungen heraus ver-

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standen. So macht sich etwa Ulrich von Hutten in seiner Vorrede zu der von ihm besorgten Edition von Vallas Schrift über die Konstantinische Schenkung dessen philologische und kirchenkritische Argumentation zu eigen (Setz 1975); Luther und andere zitieren ihn in Polemiken wider den Machtanspruch der von ihnen kritisierten Päpste (Fois 1969, Keßler 1987): Valla, der überdies durch seine Collatio Novi Testament! Aas protestantische Plädoyer für ein philologischlitterales OfFenbarungsverständnis avant la lettre umgesetzt hatte, wird zum praecursor Lutheranae factionis (Robert Bellarmin) - und eben deshalb vehement attackiert. Es kommt zu sachlicher Kritik, etwa durch Augustino Steuco (an De donatione) oder Kardinal Sirleto, der Hieronymus gegen die in Vallas Collatio Novi Testamentierhobenen Vorwürfe verteidigt. Dazu tritt - oft im selben Atemzug - persönliche Diffamierung: was fiir humanistische Biographen wie Paolo Giovio noch ein besonders auffälliger Charakterzug war - der aggressiv-polemische Gestus Vallas - wird nun zum verräterischen Anzeichen einer zur Gänze immoralischen, nicht vertrauenswürdigen, diabolischen Figur (vgl. Setz 1975 zu Steucos Diffamierung). Kaum verwunderlich, dass eine Reihe seiner Schriften postwendend auf den Index der verbotenen Bächer (Bujanda 2002) gelangten. Umgekehrt wird Valla in häretischen Milieus der Spätrenaissance wichtig: nicht anders als bei Giovanni Pico della Mirandola, lassen sich auch seine Methoden, Argumente und Attacken gegen die Scholastik in eine radikale Kritik der Kirche und ihrer Tradition(en) einbinden, ja vermögen ihr ein rationales Fundament zu verleihen (Cantimori 1949). Philologie und polemische Polarisierung sollten das Verständnis Lorenzo Vallas weiterhin bestimmen - gerade auch im Rahmen seiner Historisierung und Erforschung als historischen Subjekts. Kaum verwunderlich begreifen ihn Enzyklopädien der Aufklärung (etwa Pierre Bayle) sympathetisch als Freigeist; im 19. Jh. deklariert ihn umgekehrt Ludwig Pastor zum Adepten eines humanistischen Heidentums, während „Laurentius Valla der Zweite" - Johann Friedrich Schröder - auf der Grundlage von De donatione „zur Belehrung von Jedermann, der es noch nicht weiss," erläutert, „wie aus den römischen Bischöfen Päpste geworden." Auch für die zwei eigentlichen Begründer einer historischkritischen Erforschung Vallas ist der Humanist mehr denn blosses Forschungsobjekt: Sein (immer noch einschlägiger) Biograph G. Mancini, begriff ihn, aus dem Horizont des italienischen Risorgimento heraus, als Freigeist im Kampf gegen die Päpste. Johannes Vahlen (und auch G. Voigt) machten ihn zu einem der Gründungsvater jener historisch-kritischen Methode, resp. (deutschen) Altertumswissenschaft, die sich gerade an den Universitäten professionalisierte und nach Gründungsheroen suchte. Auch das für die Renaissancefor-

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schung wegweisende Postulat einer kritischen, ideologiefreieren Erforschung des Humanismus (Kristeller 1974/1976) sollte daran nicht ändern: der Humanist wird zum prä-postkonziliaren Theologen einer libertas ecclesiae-, zum Vertreter eines proto-modernen linguistic turn\ zum dankbaren Objekt einer „Rhetoromanie" in der Renaissanceforschung (Kraye 2001); zum Vorläufer des deutschen Idealismus (Gerl 1974 mit der Kritik von Monfasani 1989). Bis in die Gegenwart hinein erweist sich sein Nachleben somit weniger als Faszinations- denn als Konstruktionsgeschichte. Sollte dies auch seine zukünftige Wahrnehmung prägen, böte es sich an, ihn als Prototypen einer dynamisierten intellectual history zu begreifen, an dem sich in nuce das unaufhebbare Ineinander von Rationalität(en), Interessen, habitusund symbolischem Kapital - die Funktionslogik eines .humanistischen Feldes' - zeigen Hesse.

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Desiderius Erasmus von Rotterdam (28.10.1466/69 Rotterdam - 11./12.7.1536 Basel) VON P E T E R S C H E N K

Erasmus - ein Lehrer Europas! Der Titel des vorliegenden Buches gibt das Selbstverständnis der darzustellenden Persönlichkeit mit einer Genauigkeit wieder wie bei vielleicht keiner anderen. Von Geburt ein Niederländer verstand er sich doch als Weltbürger. Dabei bestand diese Welt weniger aus den einzelnen Nationen als aus einer Art idealer Gelehrtenrepublik. Die Universalität des Erasmus manifestiert sich schon an zwei Äußerlichkeiten: Europa, damals noch gleich bedeutend mit der Welt, kannte er nicht nur aus der Stube des Gelehrten, sondern aus eigener Anschauung; sein Lebensweg führte ihn durch die politischen und geistigen Metropolen Europas. Das zweite Indiz ist sein wahrlich internationaler Bekanntenkreis. Wie nicht nur seine Schriften, sondern vor allem auch seine Briefe belegen, stand Erasmus mit allen wichtigen und vielen weniger wichtigen Persönlichkeiten des damaligen Europa in Verbindung. Hierbei handelte es sich nicht nur um Humanisten, sondern auch um gekrönte Häupter, hohe Würdenträger des Klerus und Päpste. Schon zu Lebzeiten galt Erasmus als der führende Vertreter eines christlichen Humanismus, der durch die Verbindung von Antike und Christentum die Kirche reformieren und die geistigen Gegensätze der Epoche miteinander versöhnen wollte. Eine solche Karriere war dem aus einer unehelichen Beziehung hervorgegangen Erasmus nicht gerade in die Wiege gelegt worden.

1. Leben Für eine Lebensbeschreibung des Erasmus steht vielfaltiges Quellenmaterial zur Verfugung. Zu nennen sind neben der umfangreichen Korrespondenz vor allem die eigenen Werke, Äußerungen von Zeitgenossen und frühe Biographien wie z. B. die Skizzen des Beatus Rhenanus aus den Jahren 1536 und 1540. Eine Lebensbeschreibung („compendium vitae"), die bis zum Jahre 1524 reicht, wird Erasmus zugeschrieben, könnte aber auch im 17. Jahrhundert entstanden sein.

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Für die Herkunft und die Jugendzeit ist das Quellenmaterial allerdings äußerst dürftig. Zwar steht der 28. Oktober als Geburtstag fest, doch bleibt das Jahr unsicher. Erasmus selbst gibt 1469 an, doch werden auch die Jahre 1466 oder 1467 genannt. Seine uneheliche Abstammung, die Erasmus Zeit seines Lebens als Makel empfunden hat, sucht er zu verschleiern. Glaubt man dem „Compendium vitae", so ist eine romantische Liebesgeschichte der Kern der Sache: Seine Mutter Margareth, eine Arzttochter, war mit einem jungen Mann mit Namen Gerard oder Gerrit verlobt. Die Beziehung blieb nicht ohne Folgen. Aus Furcht vor seiner Familie setzte sich der junge Mann nach Rom ab, wo ihn die Nachricht vom angeblichen Tod seiner Verlobten erreichte. Aus Erschütterung wurde er Priester und erfuhr erst nach seiner Rückkehr von der Geburt eines Sohnes, um den er sich in den nächsten Jahren kümmerte. Die Wirklichkeit stellt sich erheblich prosaischer dar: Erasmus wie auch sein drei Jahre älterer Bruder Pieter, der in dem,Roman' erst gar nicht vorkommt, stammen aus einem langjährigen Verhältnis des Priesters Rotger Gerard mit einer Arzttochter aus Gouda. Aus dem Taufnamen und dem Geburtsort ergibt sich der Name Erasmus Roterodamus, dem später (erstmals 1496) zur Ausschmückung Desiderius vorangestellt wird. Die Kindheit ist nicht glücklich. Die Eltern sterben früh. Die Vormünder bringen die Brüder im Augustiner-Kloster Steyn bei Gouda unter (1487). Im Rückblick hat Erasmus in der Einweisung eine Willkürmaßnahme gesehen; wahrscheinlich zwangen die finanziellen Verhältnisse einfach zu dieser Lösung, durch die die Jungen versorgt waren. Für Erasmus eröffnet das Kloster mit seiner guten Bibliothek einen weitgehend ungestörten Zugang zu den Klassikern. Er ist für Erasmus weiteren Lebensweg bestimmend geworden. Einen weiteren Faktor bildet die Devotio moderna, eine auf konkreter Frömmigkeit und persönlicher Nachfolge Christi basierende Reformbewegung. Seine Studien verschaffen ihm erste Freundschaften, wovon die Briefe aus der Zeit beredtes Zeugnis ablegen; auch die ersten Schriften entstehen in dieser Zeit. Im Jahr 1492 empfangt Erasmus die Priesterweihe, verlässt aber das Kloster schon im Jahr darauf, um als Privatsekretär in den Dienst Heinrichs von Bergen, des Bischofs von Cambrai, zu treten. Dieser schickt Erasmus zum Studium der Theologie nach Paris (1495-99). Die dortige Universität ist die Hochburg einer inzwischen in ihren Regularien erstarrten Scholastik; dieser kann Erasmus wenig abgewinnen. Vielmehr sind es Humanisten wie Robert Gaguin, die ihn beeindrucken. Die persönlichen Lebensumstände sind nicht zuletzt wegen der katastrophalen hygienischen Verhältnisse eine Belastung für Erasmus, der sein Leben lang unter einer schwachen Konstitution leidet und häu-

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fig kränkelt. Hinzutreten finanzielle Sorgen. Sie haben Erasmus auch später begleitet, so dass er ständig auf der Suche nach einem Mäzen ist. Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, erteilt Erasmus vermögenden jungen Leuten Unterricht. Mit einem dieser Schüler, Lord Mountjoy, geht er 1499 nach England. Damit beginnt die Zeit des steten Umherreisens in Europa. Letztlich ist Erasmus nirgends mehr wirklich heimisch geworden. Sein Aufenthalt richtet sich häufig genug nach seinen wissenschaftlichen Interessen oder den Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt finanzieren zu können. Vor allem im Hinblick auf sein Aufgehen im kulturellen Diskurs seiner Zeit hat man ihn nicht ohne Berechtigung als ersten Europäer bezeichnet. Während des ersten Aufenthalts in England (1499/1500) kommt er in engen Kontakt mit Thomas More und John Colet. Die Begegnung mit deren christlich-biblischem Humanismus erweckt sein Interesse an der Theologie und ist fiir seine weitere Entwicklung entscheidend gewesen. Erasmus erkennt die Notwendigkeit, die Bibel in ihrer Ursprache lesen zu können, und beginnt Griechisch zu lernen. Nach Frankreich zurückgekehrt, begibt sich Erasmus bald in die südlichen Niederlande. Ein Angebot des Adrian von Utrecht, des späteren Papstes Hadrian VI., auf einen Lehrstuhl in Löwen lehnt er ab, um sich ungestört seinen Studien widmen zu können. Weitreichende Folgen hat die Entdeckung einer Handschrift von Lorenzo Vallas „Annotationes" („Anmerkungen") zum Neuen Testament (Sommer 1504): Erasmus nimmt die langwierige Aufgabe in Angriff, die griechische Urfassung des Neuen Testaments von Fehlern zu reinigen und eine zuverlässige Textgrundlage herzustellen. Uber Paris fiihrt ihn sein Weg erneut nach England, wo sich überraschend die Möglichkeit eröffnet, einen alten Traum zu verwirklichen, eine Reise nach Italien. Als Lehrer der Söhne des Leibarztes Heinrichs VII. gelangt Erasmus nach Italien. In Turin erwirbt er am 4.9.1506 den Grad eines Doktors der Theologie. In Rom wird Erasmus als gefeierter Autor von den geistlichen Würdenträgern mit großem Respekt empfangen Die Zeit in Italien mit Aufenthalten in Bologna, Venedig, Padua, Rom und Neapel erschließt ihm zahllose Werke der griechischen und lateinischen Antike; auch empfangt er neue Anregungen durch den italienischen Humanismus. Im Juli 1509 verlässt Erasmus Italien, um abermals nach England zu seinen Freunden More und Colet zu reisen. Er hofft aber auch auf Förderung durch Heinrich VIII., den jungen, an den humanistischen Studien interessierten Monarchen. Auf dieser Reise entsteht der Plan zu dem wohl berühmtesten Werk des Erasmus, dem „Lob der Torheit" („Moriae encomium"). In Cambridge hält Erasmus Vorlesungen über Theologie und griechische Grammatik, arbeitet aber vor allem an der Edition des Neuen Testaments und des Kir-

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chenvaters Hieronymus. Kleinere Arbeiten, wie Übersetzungen antiker Autoren, dienen dazu, die finanziellen Grundlagen seines Lebens zu verbessern. Die nächste Station seines Lebensweges ist Basel (1514-1516). Auf dem Weg dorthin erreicht Erasmus die Aufforderung des Priors von Steyn, in das Kloster zurückzukehren. Erasmus weigert sich; er sei, so lässt er den Prior brieflich wissen, der ehrlichen Uberzeugung, seine Studien beriefen ihn zu Höherem. In Deutschland wird er von den deutschen Humanisten mit großem Jubel empfangen. Sie betrachten ihn als einen Deutschen, und Erasmus, für dessen Seele der Ruhm großen Balsam bedeutet hat, revanchiert sich mit warmen Worten über das Germanien, das er ,zu seinem Bedauern und zu seiner Scham erst spät kennengelernt' habe. So wetteifern die Nationen schon zu seinen Lebzeiten um das Privileg, den großen Humanisten zu den Ihren zählen zu können. Im Jahre 1516 erscheint neben der neunteiligen Edition der Schriften des Kirchenvaters Hieronymus die bahnbrechende Ausgabe des Neuen Testaments in der griechischen Ursprache („Novum Instrumentum"). Sie umfasst neben dem griechischen Urtext die lateinische Ubersetzung des Erasmus. Die Ausgabe macht Erasmus endgültig zu einer Autorität der theologischen Wissenschaft und damit zum fuhrenden Intellektuellen in Europa. Seine finanzielle Basis ist jedoch nach wie vor schwankend. Im Jahr 1516 wird er in den großen Kreis der Ratgeber des späteren Kaisers Karl V. berufen. Erasmus revanchiert sich für die Ehre mit dem Fürstenspiegel „Erziehung des christlichen Fürsten" („Institutio principis christiani"), auch wenn das versprochene Salär nicht immer regelmäßig gezahlt wird. Anfang 1517 erreicht ihn in England der Dispens des Papstes von seinen klösterlichen Pflichten. Sein Leben ist an einem entscheidenden Punkt angelangt: Er ist von allen Bindungen frei und steht im Zenit seines Ruhms. Gekrönte Häupter und hohe kirchliche Würdenträger bieten ihm verlockende Arbeitsmöglichkeiten, die Intellektuellen suchen voller Verehrung seine Nähe. Erasmus jedoch möchte die Hand frei behalten. Nach seiner Rückkehr aus England hält er sich eine Zeitlang in den Niederlanden am Hofe Karls auf, geht dann an die Universität in Löwen, wo er bis zum Jahre 1521 bleiben wird. Diese Jahre vergehen nicht zuletzt mit heftig ausgetragenen Kontroversen, die sich bis zu persönlicher Verunglimpfung und Verleumdung steigern. Auslöser ist der Widerstand der konservativen Theologen gegen die Ausgabe des Neuen Testaments. Aus deren Sicht handelt es sich keineswegs um eine auf philologischen Erwägungen beruhende Reinigung des Textes, sondern um einen Eingriff in den sakrosankten Wortlaut der Heiligen Schrift. Die Philolo-

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gie beansprucht den Vorrang und kommt in Konflikt mit einem kirchlichen Dogma. Die Frage ist von ungeheurer Brisanz, zumal durch das Auftreten Martin Luthers der Kampf um eine Reformierung der Kirche eine völlig neue Qualität gewonnen hat. Während Erasmus glaubt, Fehlentwicklungen und Missstände innerhalb der Kirche durch das Walten der klassischen Bildung korrigieren zu können, sieht Luther das Problem in den Strukturen der römischen Kirche selbst. Die immer radikaler werdenden Positionen Luthers bieten zudem den Gegnern des Erasmus die Chance, ihn als Anhänger Luthers und als Feind der Kirche hinzustellen. Erasmus verhält sich daher gegenüber den Annäherungsversuchen Luthers ausweichend, sucht aber auch zwischen Luther und seinen Gegnern zu vermitteln. Diese Haltung hat Erasmus den Vorwurf eingetragen, gegenüber dem großen Reformator zweideutig und unehrlich gewesen zu sein. Er suchte jedoch auch früher schon Festlegungen und enge Bindungen möglichst zu vermeiden. Zudem zeigte er sich stets radikalen, nicht auf Ausgleich bedachten Positionen gegenüber reserviert. In dem Maße, in dem Luthers Forderungen massiver werden, sein Anhang wächst und auch die politischen Auswirkungen immer deutlicher werden, ist Erasmus Lage immer schwieriger. Beide Parteien versuchen, die unzweifelhafte Autorität des Erasmus für ihre Interessen zu instrumentalisieren, beide fühlen sich vom zaudernden Erasmus getäuscht. Der Reichstag in Worms (1521), auf dem es zum Bruch Luthers mit Kirche und Kaiser kommt, erlaubt aber kein weiteres Zaudern mehr. Die Kollegen in Löwen setzen Erasmus mächtig unter Druck, endlich eindeutig Stellung zu beziehen. Im Oktober 1521 reist er flir die dritte Auflage des Neuen Testaments nach Basel zu Froben, doch anstatt nach Löwen zurückzukehren, zieht er es vor, in Basel zu bleiben. Die Jahre in Basel (1522-1529) zählen zu den besten Zeitabschnitten in seinem Leben. Von Freunden umgeben und finanziell erstmals unabhängig, kann er sich voll auf seine Arbeit konzentrieren. Zahlreiche Ausgaben von Kirchenvätern und klassischen Autoren, Neuauflagen des Neuen Testaments und der „Adagia", Kommentare und verschiedene Traktate sind die Frucht dieser Jahre. Vor allem aber erhalten die „Colloquia familiaria" („Vertrauliche Gespräche"), ein zweiter Beitrag zur Weltliteratur, in dieser Zeit ihre letztendliche Form. Die satirische Schärfe dieses Werkes richtet sich auch gegen die Kirche und ihre Institutionen. Hieraus resultieren erbitterte Fehden, vor allem mit den Mönchsorden und seinen Gegnern in Löwen. Dennoch ist der Einfluss des Erasmus auf den Katholizismus in diesen Jahren erheblich. Auf der anderen Seite eskaliert der Streit mit Ulrich von Hutten und Luther. Hutten hat in dem von ihm verehrten Erasmus zunächst einen Verbündeten gesehen. Als dieser jedoch auf

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Huttens Vorstellungen eines bewaffneten Kampfes abwehrend reagiert und sich nach dessen Niederlage weigert, den Kranken überhaupt zu empfangen, wird er in einem Beschwerdebrief („Expostulatio") mit Hasstiraden überzogen und als Feigling verleumdet (1523). Erasmus revanchiert sich mit einer heftigen Polemik mit dem Titel „Spongia" („Schwämme"), die unmittelbar nach dem Tode Huttens erscheint. Diese unglückliche Uberschneidung hat viel zu einem ungünstigen Erasmusbild beigetragen. Von erheblich größerer Bedeutung ist jedoch die endgültige Auseinandersetzung mit Luther. Diese nimmt ihren Ausgang bei den nie verstummten Vorwürfen, Erasmus habe sich nicht eindeutig genug von dem Reformator distanziert und sei in Wirklichkeit Lutheraner. Um diese Vorwürfen endlich zu widerlegen, verfasst er im Jahre 1524 die Schrift „De libero arbitrio diatribe" („Abhandlung über den freien Willen"). Luther kontert mit der Abhandlung „De servo arbitrio" („Uber den unfreien Willen"). Damit sind die Fronten klar: Erasmus hat sich gegen die Position der Reformatoren und für die Autorität und die Tradition der Kirche ausgesprochen. Aber auch die Anhänger der alten Kirche hat er nicht zu überzeugen vermocht. Werke wie die "Colloquia" fuhren dazu, dass man ihm mit großem Misstrauen begegnet, ja ihn geradezu zum geistigen Wegbereiter der Reformation erklärt. Seiner vermittelnden Position ist Erasmus jedoch treu geblieben. Während des Reichstages von Augsburg (1530), an dem er selbst nicht teilnimmt, empfiehlt er nachdrücklich ein Gleichgewicht zwischen den beiden Parteien. Ein Jahr zuvor (1529) hat sich Erasmus, da in Basel die Reformatoren gesiegt hatten, ins katholische Freiburg begeben. Von Alter und Krankheit zusehends beeinträchtigt, arbeitet er unermüdlich an weiteren Ausgaben und Neuauflagen früherer Werke. Seine erlahmende Schaffenskraft richtet sich auf die Behandlung moraltheologischer Fragen, denen sein letztes großes Werk, der „Ecclesiastes" („Uber die Art des Predigens"), gilt (1535). Erasmus will die Schrift seinem alten Freund John Fisher widmen, doch war dieser wie auch Thomas More kurz zuvor auf Befehl Heinrichs VIII. enthauptet worden. Der Tod der beiden Freunde trifft Erasmus tief; es beginnt einsam um ihn zu werden. Ein letzter Trost ist die noch im selben Jahr erfolgte Rückkehr nach Basel; doch seine Kraft ist dahin. Eine Aufforderung von Papst Paul III., an einem Konzil mitzuarbeiten, wo ihn die Ernennung zum Kardinal erwartet hätte, empfindet Erasmus als ehrenvoll, bittet aber darum, ihn nicht mehr zu berücksichtigen. Nach monatelangen Leiden stirbt Erasmus in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli 1536. Seine letzten Worte sollen „Lieve God" gewesen sein. Im Münster zu Basel wird er begraben; er ruht dort noch heute.

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2. Charakterisierung einiger Hauptwerke a) Adagiorum collectanea (Sprichwörtersammlung); Kurztitel: Adagia Die Sammlung sollte als Hilfsmittel für den täglichen Umgang mit der lateinischen Sprache dienen, indem prägnante Formulierungen fiir die verschiedensten Situationen zur Verfügung gestellt und kurz kommentiert wurden. Auf die erste Auflage aus dem Jahr 1500, die 818 Sprichwörter, Redewendungen und Metaphern enthält, folgten weitere mit jeweils erweitertem Umfang (zuletzt ca. 3300) und verändertem Titel („Adagiorum chiliades" - „Tausende von Sprichwörtern"). Jetzt wurden auch griechische Beispiele und Bibelzitate berücksichtigt. In der Auflage von 1515 lässt Erasmus die Kommentierung einiger Sprichwörter in die Darstellung allgemein gesellschaftlicher Fragen einmünden, z.B. nach der Notwendigkeit von Kirchenreformen. Einige dieser Darlegungen erfuhren getrennte Ausgaben und wurden in mehrere Volkssprachen übersetzt. Besondere Bedeutung erlangte das Adagium „Dulce bellum inexpertis" („Lustig ist der Krieg für den Unerfahrenen"). Erasmus bezieht deutlich Stellung gegen einen Türkenkrieg, wobei er die Unterschiede zwischen Christen und Türken in einer Weise relativiert, die aktuelle Diskussionen vorwegzunehmen scheint. Die „Adagia" sind insofern mehr als eine reine Materialsammlung. Weitergewirkt haben die Sprichwörter der „Adagia" in allen europäischen Sprachen.

b) Enchiridion militis Christiani (Handbüchlein oder Handdolch des christlichen Soldaten) Die Schrift, verfasst im Jahre 1501 auf Bitten der Frau des Waffenmeisters am burgundischen Hof, erschien 1503 in einer überarbeiteten Fassung. Es handelt sich um eine pädagogisch-theologische Unterweisung zu einem christlichen, den Weisungen der Heiligen Schrift verpflichteten Leben. Die Auftraggeberin erhoffte sich eine Besserung im Lebenswandel ihres Mannes. Ob das Ziel erreicht wurde, darf bezweifelt werden; der Adressat revanchierte sich bei Erasmus durch die Ubersendung eines Schwertes. Der Titel ist ein Wortspiel mit dem griechischen Begriff „Enchiridion"; er kann zugleich ein Handbuch wie auch einen Handdolch bezeichnen, so dass der Titel auf den Beruf des Adressaten und auf die Intention der Schrift bezogen werden kann. Die publizierte Fassung wurde ein Erfolg, die über das Todesdatum

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des Erasmus hinaus zahlreiche Auflagen erlebte und in 8 Sprachen übersetzt wurde. Das Buch fand zunächst Zustimmung sowohl bei Lutheranern wie bei Katholiken. Es begründete den Ruhm des Erasmus als eines hervorragenden Exponenten einer katholischen Reformbewegung, wodurch er „zum Ratgeber der Päpste und Mentor Europas" (M. Bainton) wurde. Im Verlauf der Gegenreformation landete die Schrift jedoch auf dem Index. Verantwortlich dafür war die deutlich geäußerte Abneigung des Erasmus gegen die Vordergründigkeiten der Religionsausübung, wie der im Formalen erstarrte Ritus, die zahllosen Vorschriften und die Sonderstellung des geistlichen Standes. c) Morias encomium, id est stultitiae laus (Lob der Torheit) Erasmus verfasste die Schrift im Jahre 1509 im Haus des Thomas Morus zum Zeitvertreib und ohne weitere Hilfsmittel innerhalb einer Woche - ein beeindruckender Beweis seiner überragenden Gelehrsamkeit. In Paris 1511 publiziert, wurde sie schon 1514 überarbeitet. In dieser Fassung wurde das „Lob der Torheit" das erfolgreichste Buch des Erasmus, das zu seinen Lebzeiten 36 Auflagen bei 21 Druckern erfuhr. Der Titel ist ein Wortspiel mit dem Namen seines Freundes und Widmungsempfangers More (lat. Morus, griech. Moros [Narr] > Moria). Das Thema „Wahn" hatte zu dieser Zeit Konjunktur. In dem Buch „Das Narren Schyff" (1494) von Sebastian Brant warnt die Allegorie der Narrheit vor ihrer Sündhaftigkeit. Erasmus lässt die Torheit in einer declamatio, der antiken Form der Übungsrede, ihr Eigenlob verkünden und wendet das Thema damit ins Ironisch-Satirische; ein Beispiel: Welcher Mann ertrüge für das kurze Vergnügen des Koitus die lebenslange Fessel der Monogamie und welche Frau die Schmerzen von Schwangerschaft und Geburt, wenn es die Torheit nicht gäbe; ihr verdankt die Menschheit also ihr Sein und ihre Fortexistenz. Dieser karnevaleske Charakter prägt die ganze Schrift, in der der schöne und weniger schöne Schein der gesellschaftlich relevanten Gruppen der damaligen Zeit und schließlich der menschlichen Existenz schlechthin gnadenlos demaskiert wird. In besonderem Maße gilt dies für die Vertreter der Kirche und die Theologen. In solchen Passagen ist die ironische Distanz aufgehoben und die Ablehnung des Erasmus bricht sich unverhohlen Bahn. Solche Töne trugen der Schrift die Kritik konservativer Theologen, aber auch Luthers ein, so dass sich Erasmus einmal mehr zwischen den Stühlen wiederfand. Bald nach dem Tode ihres Verfassers wurde die Schrift auf den Index gesetzt. Von ihrem Nachruhm und ihrer literarischen Wirkung zeugen zahllose Ubersetzungen in alle wichtigen europäischen Sprachen und Imitationen in Werken anderer Autoren, wie z. B. Rabelais.

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d) Institutioprincipis christiani (Die Erziehung des christlichen Fürsten) Die im Jahre 1516 erschienene Gelegenheitsschrift, gewidmet dem späteren Kaiser Karl V., gehört zur Gattung der Fürstenspiegel. Mit ihrer Kernaussage rezipiert die Schrift die platonische Vorstellung, nach der der Fürst ein Freund der Philosophie sein müsse. In der christlichen Deutung des Erasmus tritt Gott an die Stelle der Philosophie. Da Gott aber die höchste Form von Macht, Weisheit und Güte verkörpert, so hat auch der Fürst nach diesen drei Werten zu streben. Der schlechte Fürst tut dies nicht und wird zwangsläufig zum Inbegriff des Bösen. Ein guter Fürst wird seine Untertanen also nicht wie Sklaven behandeln, und im Gegenzug werden diese gerne und im eigentlichen Wortsinn freiwillig gehorchen. Mit diesem Konzept steht Erasmus in deutlichem Kontrast zum wenige Jahre zuvor (1513) erschienen „II principe" („Der Fürst") des Florentiner Staatstheoretikers Niccolò Machiavelli.

e) Novum instrumentum Unter diesem Titel publizierte Erasmus im März 1516 erstmals seine Edition des Neuen Testaments. Den Kern bilden der griechische Text und eine lateinische Ubersetzung, präsentiert in zwei nebeneinander stehenden Kolumnen. Vorangestellt sind drei Einleitungsschriften, die „Ermahnung an den frommen Leser" („Paraclesis ad lectorem pium"), der „Weg zur Lektüre" („Methodus") und die „Verteidigung des Vorhabens" („Apologia"). Den letzten Abschnitt bilden die Annotationes, Anmerkungen zum Text, die so umfangreich sind wie Text und Ubersetzung zusammen. Im Verlauf der weiteren Auflagen (1519 mit Änderung des Titels in „Novum Testamentum") nahm Erasmus an den Einleitungsschriften umfangreiche Veränderungen vor: Er erweiterte z.B. die „Methodus" und publizierte sie schließlich unter dem Titel „Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam" („Ein kurzer Weg zur wahren Theologie") als eigene Schrift. In ihr konkretisiert Erasmus seine Vorstellungen einer richtigen Bibeldeutung. Die eigentliche Textausgabe erfuhr nur einmal, in der Auflage von 1527, eine Erweiterung, als Erasmus eine dritte Kolumne mit dem Wortlaut der Vulgata beifugte. Von dieser hatte er sich bereits in der zweiten Auflage von 1519 noch weiter entfernt als in der Erstedition. Die Anmerkungen sollten an den Stellen, an denen Erasmus es für notwendig erachtete, seine Ubersetzung stützen und rechtfertigen. Ihr Umfang nahm im Verlauf der folgenden Auflagen stetig zu,

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da Erasmus zu Kritik Stellung nahm und weiteres Material einarbeitete. Beschränkten sich seine Ausführungen in der ersten Auflage noch streng auf die sprachliche Erklärung, so arbeitete Erasmus später richtige Essays aus, in denen er sich zu Fragen von allgemeinem Interesse äußerte, wie z.B. zur Erbsünde, zu Ehe und Ehescheidung, zu den kirchlichen Geboten, zur Auferstehung der Gläubigen u.a.m. Manche dieser Essays wurden separat in Ubersetzung publiziert und häufig nachgedruckt. Das Ziel des Unternehmens besteht nicht bloß in der Edition des griechischen Textes. Erasmus wollte auch eine lateinische Ubersetzung des NT bieten, um ein Hilfsmittel fiir das Studium des griechischen Bibeltextes bereit zu stellen. Dieser machte Epoche. Luther legte die Ausgabe des Erasmus seinen Vorlesungen, Publikationen und auch seiner Ubersetzung zu Grunde; ebenso verhielten sich Calvin und seine Nachfolger. Daher blieb der Bibeltext des Erasmus bis in das 19. Jahrhundert hinein der Referenztext der Lutherischen Kirche. Seine lateinische Ubersetzung verstand Erasmus jedoch nicht als Konkurrenzunternehmen zur Vulgata, die in der Liturgie und an den Schulen weiterhin die Grundlage bilden sollte. Dennoch erntete Erasmus neben begeisterter Zustimmung auch massive Kritik. Nicht nur war Erasmus an zahlreichen Stellen von der als kanonisch betrachteten Vulgata abgewichen, vor allem behandelte er in der Nachfolge Lorenzo Vallas das Neue Testament wie ein literarisches Werk, das philologischer Kritik unterzogen werden konnte. In diesem Punkt sahen die Kritiker die kirchliche Autorität an ihrer Wurzel in Frage gestellt. Auf der anderen Seite wurde Erasmus Ausgabe zur Basis für die folgende Zeit und bildet einen „Markstein in der Geschichte der Bibelwissenschaft" (M. Bainton). Dieses Urteil gilt jedoch eher für die philologischen Erläuterungen. Die Konstitution des griechischen Textes stützt sich auf eine mangelhafte Auswahl der Manuskripte. Die Bedeutung der Ausgabe des Erasmus liegt vor allem darin, die Richtigkeit von Text, Übersetzung und Interpretation problematisiert und den Weg für eine kritische Beschäftigung mit den biblischen Texten eröffnet zu haben. Wenn man heute über einen gesicherten Bibeltext verfügt, ist dies auch das Verdienst des Erasmus, der trotz aller Ungenauigkeiten erst den Weg zu dem modernen Kenntnisstand eröffnet hat. Ohne Zweifel handelt es sich um das Werk des Erasmus mit der größten Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte.

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f ) Querela pacis (Klage des Friedens) Erasmus verfasste 1517die Klage des personifizierten Friedens auf Ersuchen des Kanzlers von Burgund, Jean le Sauvage. Die Schrift sollte die Idee eines allgemeinen Frieden zwischen den Herrschern des Heiligen Römischen Reiches, Spaniens, Englands und Frankreichs publizistisch begleiten. Die Begebenheit wirft ein erhellendes Licht auf die Bedeutung, die politische Entscheidungsträger dem Wort des Erasmus zu dieser Zeit beimaßen. Der politische Erfolg blieb jedoch aus, die Schrift aber war mit 26 Drucken sehr erfolgreich. Ubersetzungen in verschiedene Volkssprachen schlössen sich an und auch heute spielt sie in der Friedensdiskussion eine wichtige Rolle. Erasmus erteilt dem Krieg und inbesondere der von Cicero entwickelten und später von Augustinus christlich umgedeuteten Theorie vom gerechten Krieg eine klare Absage. Deutlich hat er die Realitäten seiner Zeit gesehen: Der aufkommende Nationalismus lässt die Christen unter dem Zeichen des Kreuzes und mit Kanonen, die die Namen von Aposteln tragen, grausam gegeneinander kämpfen. Mögen auch die jungen Herrscher, insbesondere Heinrich (England), Franz (Frankreich) und Karl (Spanien), Anlass zu Hoffnungen geben, so kann wahrer Frieden nur durch Christus geschenkt werden, der alleine alle Menschen, Christen wie Nicht-Christen, zueinander fuhrt. In der Praxis schlägt Erasmus die Einsetzung von Schiedsgerichten vor, um zwischenstaatliche Konflikte beizulegen.

g) De libero arbitrio diatribe (Abhandlung über denfreien Willen) Mit der im September 1524 erschienenen Schrift bezieht Erasmus theologisch eindeutig Position gegen Luther, indem er betont, dass die Bibel dem Menschen einen freien Willen zubillige. Er geht jedoch nicht auf den Streit Luthers mit der Amtskirche ein und auch sein Ton ist immer noch zurückhaltend. Der letzte Teil der Schrift rezipiert die antike Diatribe, den philosophischen Lehrvortrag, der Raum für die Darstellung beider Positionen lässt; das Urteil möchte Erasmus allerdings dem Leser überlassen. Diese Publikation wurde zum Anlass einer heftigen Auseinandersetzung, da es hier um eine zentrale Frage des lutherschen Heilsverständnisses geht. Eine entsprechend scharfe Entgegnung Luthers folgte im Dezember 1525 unter dem Titel „De servo arbitrio" („Uber den unfreien Willen"). Luther unterstreicht seine Auffassung, dass der Mensch unfrei und auf die Gnade Gottes angewiesen sei. Satz für Satz sucht er

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Erasmus Aussagen zu widerlegen. Den sachlichen Dissenz hätte Erasmus bestimmt aushalten können, aber die herabsetzende Art, mit der Luther über ihn herzog, ließ ihn nicht ruhen. Schon im Februar 1526 publizierte Erasmus des ersten Teil des „Hyperaspistes" („Der Schildträger"), im September 1527 den zweiten. Es handelt sich um eine nicht gerade kurzweilige Widerlegung der Schrift Luthers, die von Verbitterung und Klage über Luthers Beleidigungen zeugt. Nach diesem Schlagabtausch war die unversöhnliche Gegnerschaft der beiden bedeutenden Männer nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Sie ist bis ins 20. Jahrhundert hinein die Hauptursache für negative Bewertungen des Erasmus durch protestantische Autoren geblieben.

h) Ciceronianus Kernthema dieses im Jahre 1528 entstandenen Dialogs ist der Streit um das richtige Latein. Erasmus polemisiert mitunter recht heftig („Affen Ciceros") gegen einen in Humanistenkreisen verbreiteten dogmatischen Sprachpurismus, der nur das Latein Ciceros anerkennt und unverändert ins 16. Jahrhundert übertragen möchte. Eine solche Einengung der lateinischen Sprache bedeutete fiir Erasmus die Aufgabe der kulturellen Einheit Europas. Wenn die lateinische Sprache in weiten Bereichen des Lebens Anwendung finden soll, dann muss deren gesamtes Potenzial genutzt werden und nicht nur das einer zudem kurzen Epoche. Hinter der philologischen Frage stand für Erasmus zudem eine theologische: Er sieht die Gefahr, dass die Sprache einer paganen Zeit zum Trojanischen Pferd für heidnische Inhalte werden könnte. Statt „Gott Vater" hätte es in ciceronianischem Latein „Iupiter Optimus Maximus" heißen müssen. In diesem Zusammenhang lässt es sich Erasmus nicht nehmen, ein christliches Glaubensbekenntnis im Latein seiner Zeit und im Stile Ciceros karikierend einander gegenüberzustellen.

i) Colloquiafamiliaria (Vertrauliche Gespräche) Für lateinische Sprachübungen hatte Erasmus einfache Gespräche verfasst, an denen sich seine Schüler im lebendigen Umgang mit der lateinischen Sprache schulen sollten. Die kleinen Szenen gewannen immer weiter an Umfang, so dass schließlich ganze Dialoge unterschiedlichster Länge und verschiedensten Inhalts entstanden. Im Jahre 1518 veröffentlichte Beatus Rhenanus diese

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Zusammenstellung ohne Wissen des Erasmus. Das Buch wurde ein Erfolg, so dass Erasmus im folgenden Jahr eine umgearbeitete Fassung erscheinen ließ. In den Jahren 1522-26 folgten weitere erweiterte Editionen, wobei 1524 der Titel in „Familiarum Colloquiarum Opus" geändert wurde. In dem Werk entfaltet sich vor den Augen des Lesers ein Kaleidoskop zahlreicher Typen und Standesvertreter der bürgerlichen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts. Der eigentlichen Zielgruppe entsprechend treten viele junge Menschen in Erscheinung. Hervorzuheben ist die Darstellung der Frauen: Sie treten nicht nur als Gattin, Mutter und Hure in Erscheinung; häufig genug sind sie gescheit, gebildet und ihren Gesprächspartnern geistig überlegen. Weitere Charakteristika der Texte sind die scherzhaft-satirische Uberzeichnung und die heftige, von Hohn und Spott getragene Kritik, die sich vor allem gegen geistlichen Stand richtet und die Institution als solche in Zweifel zieht. Innere Frömmigkeit ist Erasmus wichtiger als deren äußerliche Zeichen, wie Pilgerfahrt, Ablass, Heiligenkult u.a.m. Die Reaktionen auf die „Colloquia" waren zwiespältig. Luther wollte die Lektüre seinen Kindern untersagen, da das Werk gottlose Dinge enthalte. Die theologische Fakultät der Sorbonne verurteilte zuerst einzelne Passagen, dann 1526 das ganze Werk. Dennoch wurden im 16. und 17. Jahrhundert die „Colloquia" zur bekanntesten Schrift des Erasmus, ja zu einem verbreiteten Schulbuch. Man behalf sich nicht selten durch Kürzungen oder Tilgung des Namens Erasmus, so dass die „Colloquia" auch katholischen Schülern zugemutet werden konnten. Der Grund für diese positive Aufnahme des Werkes liegt in dem Motto, das Erasmus in seiner Vorrede zur Auflage von 1524 formuliert hatte: Das Buch habe viele zu besseren Latinisten und besseren Menschen gemacht. Diese Verbindung von Erziehung und Sprachbeherrschung sah so mancher Schulmann als den wesentlichen Verdienst der „Colloquia" an.

j) De recta pronuntiatione (Uber die richtige Aussprache) Erasmus bekämpft in dieser Schrift eine Aussprache des Griechischen und Lateinischen, die von den Lautgesetzen der Volkssprachen bestimmt wird. Maßstab sollten vielmehr die Ausspracheregeln der griechischen und römischen Klassik sein. Gerade das Latein bedurfte, wenn es seine Bedeutung als allgemeine Verständigungssprache der Christenheit behalten sollte, einer einheitlichen Aussprache. Die Regeln, die Erasmus in seiner Schrift befürwortet, sind bis in unsere Tage im altsprachlichen Unterricht gebräuchlich geblieben. Der Griechenlandurlauber, der noch Altgriechisch auf der Schule gelernt hat,

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kann daher das moderne Griechisch zwar lesen, versteht aber das gesprochene nicht mehr.

3. W i r k u n g Zu seinen Lebzeiten galt Erasmus als der führende Kopf Europas, als das Idealbild eines Humanisten und verfugte über eine entsprechende Autorität. Seine Stellungnahmen zu den großen Fragen der Zeit, wie der Reform der Kirche und dem friedlichen Ausgleich zwischen den europäischen Mächten, verschafften ihm Gehör. Durch sein Streben nach Eigenständigkeit erschien er vielen als Einzelgänger („Erasmus est homo pro se" - „Erasmus steht für sich"). Daher geriet er, als er in der Frage der Kirchenreform zu vermitteln suchte, fast zwangsläufig zwischen die Fronten. Da er aus innerer Uberzeugung eine Glaubensspaltung ablehnte, kam es zum Zerwürfnis mit Luther. Zwar hat vor allem in Deutschland der direkte Vergleich mit Luther das Erasmusbild maßgeblich beeinflusst, doch ist die persönliche Glaubensrichtung generell für die Bewertung des Erasmus ein entscheidender Faktor geworden. Dennoch hat sich die Idee des Erasmus, ein Lehrer Europas zu sein, über seinen Tod hinaus fortgesetzt. Dies betraf nicht nur die Länder, in denen Erasmus sich längere Zeit aufgehalten hatte (Deutschland, England, Frankreich, Italien). In Spanien war sein Ansehen zeitweise sehr groß, seine Schriften wurden eifrig ins Spanische übersetzt. Er hoffte daher, eine Erneuerungsbewegung befördern zu können, ja man hat geradezu von einer „erasmianischen Revolution" (M. Bataillon) in Spanien gesprochen. Selbst in Ländern am Rande des christlichen Europas ist der Einfluss des Erasmus spürbar. Im ersten Dezennium des 16. Jahrhundert werden in Ungarn zuerst die philologischen, bald aber auch seine theologischen Werke rezipiert. Vergleichbares gilt für Länder wie Portugal, Polen und Rumänien und schließlich erreichten seine Ideen auch die Neue Welt. Wichtig für die unmittelbare Wirkung des Erasmus auf die europäische Geistesgeschichte ist die enge Zusammenarbeit mit seinen Verlegern. Nur der Buchdruck konnte ihm, der mit wenigen Ausnahmen nie an einer Universität oder anderen Institutionen beheimatet und daher von finanzkräftigen Gönnern abhängig war, eine weite Verbreitung seiner Schriften ermöglichen. Eine Beschränkung auf die humanistisch gebildete Schicht ergab sich zwangsläufig durch das Medium der lateinischen Sprache. Einen weiteren Wirkungskreis erschlossen erst die zahlreichen Ubersetzungen in die Volkssprachen, die schon zu seinen Lebzeiten einsetzen. An erster Stelle sind hier Deutschland und die

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Niederlande zu nennen; dort waren z.B. von den 358 Drucken des 17. Jh mehr als die Hälfte Übersetzungen. Der erhebliche Einfluss des Erasmus in Spanien ist ebenfalls den volkssprachlichen Ubersetzungen geschuldet. In England entstanden im Verlauf des 16. Jahrhundert zahlreiche, von offizieller Seite beauftragte Übersetzungen. Dabei ergibt sich nicht nur durch den Wechsel der Sprache, sondern auch durch die Auswahl der übersetzten Schriften ein jeweils verengtes Bild vom Denken des Erasmus. Die Übersetzungen sind insofern ein wesentlicher Faktor für das sich im Laufe der Zeit wandelnde Erasmusbild. Über diese Entwicklung urteilt der profunde Erasmus-Kenner Cornelis Augustijn: „Von einer direkten Wirkung des Erbes des Erasmus ist keine Rede. Eine Erasmusrenaissance hat niemals stattgefunden. Wohl haben sich Menschen auf Erasmus berufen, wenn sie bei ihm auf etwas trafen, was sie selbst bewegte. In diesen Fallen handelt es sich nicht um eine integrale Übernahme von erasmischem Gedankengut, vielleicht in einer gewissen zeitbedingten Modifizierung. Eher findet dabei ein Wiedererkennen statt, und zwar das Wiedererkennen einer bestimmten Form von Frömmigkeit." Im ungünstigen Fall bedeutete das, Erasmus „um jeden Preis auf eine bequeme Formel zu bringen" (Wullschner). Diese Form der Erasmus-Rezeption soll auf den folgenden Seiten in ihrer Entwicklung nachgezeichnet werden. Dabei ist es unumgänglich, sich auf die Hauptströmungen zu konzentrieren. Für eine detailgenauere Darstellung sei vor allem auf die in der Bibliographie genannten Abhandlungen von Augustijn, Flitner, Mansfield und Wullschner verwiesen, deren Ergebnisse die Grundlage der folgenden Übersicht geliefert haben.

a) Reformation und Gegenreformation Bald schon nach Ausbruch der Reformation hatte Luther wie auch seine Gegner in der römischen Kirche versucht, die überragende Autorität des Erasmus für die jeweils eigene Sache zu gewinnen. Dieses Bestreben kennzeichnet den Blick, den Katholiken und Protestanten während der gesamten Zeit der Glaubensauseinandersetzungen auf Erasmus haben. In den seltensten Fallen wurde man dabei Erasmus und seinen Vorstellungen von einer Reform der Kirche wirklich gerecht. Das in dieser Epoche entstandene Bild wurde für die folgenden Jahrhunderte prägend. Zunächst hatten die Katholiken in Erasmus einen Neuerer gesehen. Mit großer Freunde ziehen katholische Autoren Argumente und Urteile des Erasmus über Luther heran. Erasmus erscheint als Held, der den Häretiker mit sei-

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ner Gelehrsamkeit niedermacht. Seine Ideen stellen zeitweise sogar eine eigene Kraft dar, wenn sich z.B. im Herzogtum Kleve Reformen vollziehen, zu denen Erasmus noch selbst Anregungen gegeben hatte (1532/33). Schnell schleicht sich jedoch ein zweiter Aspekt in die Bewertung des Erasmus ein: Er wird zwar als willkommener Zeuge missbraucht, selbst aber nicht mehr für einen hundertprozentigen Katholiken gehalten. Schon zu Lebzeiten steht er unter dem Verdacht, eigentlich ein Lutheraner zu sein. Bereits 6 Jahre nach Erasmus Tod sieht sich Beatus Rhenanus zu einer Verteidigung genötigt. In einer Biographie versucht er, Erasmus zu entlasten, indem er dessen Treue zur Kirche betont und problematische Schriften wie die „Moria" und die „Colloquia" verschweigt. Erasmus habe nur vorsichtige Reformen beabsichtigt und hätte sich, so gibt er ihn wieder, in seinen Schriften gemäßigt, wenn er die jetzt entstandene Unordnung hätte vorhersehen können. Dennoch nehmen im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts in allen katholischen Ländern Europas die Vorwürfe gegen Erasmus, seine Ideen untergrüben die Fundamente der Kirche und ebneten der Reformation den Weg, immer mehr zu. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Jesuiten - der Ordensgründer Ignatius von Loyola hatte die Lektüre des Erasmus in seinem Orden strikt untersagt - wandelt sich das Bild des Eramus hin zum Häretiker, dessen Schriften verurteilt und indiziert werden. Die im Jahre 1540 von Beatus Rhenanus publizierte Ausgabe der Gesammelten Werke des Erasmus wird bereits am 19.1.1543 in Mailand zusammen mit den Werken Luthers öffentlich verbrannt. Im Jahre 1559 wird das gesamte Werk des Erasmus, also auch die nicht-theologischen Schriften, in den Index Papst Pauls IV. aufgenommen. Dieses Urteil wird durch den Index Pius IV., dem Index des Konzils von Trient (1564), nur teilweise gemildert; einige Schriften, darunter die „Moria" und die „Colloquia" bleiben verboten, die theologischen Schriften bis zu einer Reinigung durch die Theologischen Fakultäten der Universitäten Paris oder Löwen. Ein entsprechender Index expurgatorius erscheint auf Betreiben des spanischen Herzogs von Alba bereits 1571 in Antwerpen; er ist für alle weiteren Indices bestimmend geworden. Abweichend davon verläuft die Entwicklung in Frankreich und England. In Frankreich werden die Bestimmungen des Trientiner Index erst im 17. Jahrhundert umgesetzt, so dass noch gegen Ende des 16. Jahrhundert Erasmus als Streiter gegen Luther erscheint. England sagt sich unter Heinrich VIII. von Rom los und in der anglikanischen Kirche beruft man sich dabei auch auf Erasmus. Dessen Bild in England ist jedoch stark von seinem Verhältnis zu Thomas Morus geprägt. Dieser gilt als großzügiger Förderer, von dem Erasmus in erheblichem Maße profitiert habe.

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Auch wenn Erasmus vielen Katholiken nicht mehr als zuverlässiger Katholik galt, so zählten ihn die Protestanten noch lange nicht zu den Ihrigen. Drei Hauptvorwürfe, die im Einzelfall mehr oder minder nachdrücklich erhoben werden, kehren immer wieder: Erasmus ist ein Verräter an der Sache der Protestanten. Die Ursache hierfür ist Feigheit vor den persönlichen Konsequenzen. Dabei hätte Erasmus, wenn er ein richtiger Reformator geworden wäre, die protestantische Bewegung in entscheidendem Maße fordern können. In Deutschland, stellt für diese Bewertung Martin Luther das entscheidende Kriterium dar. Erasmus gilt ohne Zweifel als großer Gelehrter, Edition und Erklärung des Neuen Testaments als Meilensteine der Bibelforschung. Zunächst sehen die Protestanten in dem Kämpfer gegen die Auswüchse von Scholastik und Mönchtum einen Weggefahrten Luthers; doch nach dem Zwist der beiden Männer über den freien Willen mutiert Erasmus vom Paulus zum Saulus. Ulrich von Hutten zeichnet Erasmus in seinem Beschwerdebrief („Expostulatio") von 1523 als intriganten Opportunisten. Für Luther ist Erasmus ein Skeptizist, dessen Werk von subjektiver Kritik, Negation und Destruktion gekennzeichnet ist. Damit ist die grobe Richtung vorgegeben. Jetzt lassen sich auch Personen wie der Schweizer Reformator Zwingli, der Erasmus zunächst bewundert hatte, zu schärferen Attacken hinreißen. Zwar bleibt mitunter das Bild des großen Gelehrten noch bestehen, doch treten Vorwürfe wie Unentschlossenheit und mangelnde Zuverlässigkeit in den Vordergrund. Danach wusste Erasmus eher, wogegen als wofür er war. Erklärungen für dieses Verhalten bemühen die Psychologie: Erasmus wolle von allen geliebt werden, und so könne keiner seiner Unterstützung letztlich sicher sein. Charakterschwäche ist ein beliebter Vorwurf gegen anders Denkende, und die protestantische Kritik an Erasmus geht schließlich so weit, sich zugleich auf den Reformator Luther und den Jesuiten Bellarmin zu berufen. Es gab aber auch gemäßigtere Stimmen. Ein Beispiel hierfür ist die Schilderung des Johannes Sleidan (1505-1556), der die offizielle Beschreibung der Reformation im Namen des Schmalkaldischen Bundes schreibt. Er sieht in Erasmus weniger den Gegner Luthers, als vielmehr einen Wegbereiter der Reformation. Dazu relativiert er die ablehnende Tendenz der „De libero arbitrio diatribe". Erasmus habe sie nur auf Druck anderer hin verfasst. Hier wird dasselbe Schema einer Exkulpierung deutlich, dem auf katholischer Seite Beatus Rhenanus gefolgt war. Die Differenzen mit Luther relativieren möchte auch Melanchthon, der die Bedeutung des Erasmus für die Reformation durch Hinweise auf die philologischen, erzieherischen und editorischen Arbeiten, (besonders das NT) unterstreicht. In den Niederlanden, d.h. in den protestantisch orien-

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tierten Nördlichen Niederlanden (im Gegensatz zum habsburgisch-katholischen Süden) tritt gegen Ende des 16. Jahrhundert Martin Lydius (1539/40-1601) mit einer dem Rat von Rotterdam gewidmeten Verteidigung des Eramus hervor („Apologia pro D. Erasmo Roterodamo; 1606 posthum publiziert"). Die Wertungen sind bekannt: Der große Gelehrte Erasmus habe durch seine Kritik an der Kirche den Weg für Luther bereitet, mit dem ihn viele Gemeinsamkeiten verbänden. Von Natur aus jedoch vorsichtig und wohl vom Verhalten mancher Reformatoren auch irritiert, habe er Sympathie und Unterstützung nur insgeheim gewährt und einen Mittelweg gewählt. Dieses Verhalten sucht Lydius aus den damaligen Verhältnissen zu verstehen. Dieser Ansatz macht seine Darstellung bemerkenswert, auch wenn Lydius aus der Perspektive seiner eigenen Zeit dann doch zu dem Urteil gelangt, dass Erasmus am Ende des 16. Jahrhundert auf der Seite der Protestanten gestanden hätte. Lydius steht mit dieser Bewertung und seinem Interesse an der historischen Gestalt Erasmus nicht allein. Leidener Professoren, wie Paul Merula (15581607), Joseph Justus Scaliger (1540-1609) und Dominicus Baudius (1561-1613) tragen erheblich zu einer Verteidigung des Erasmus bei. Scaliger relativiert deutlich die sprachlich-philogische Kritik seines Vaters Julius Caesar Scaliger (1484-1558) am „Ciceronianus" des Erasmus, Merula erschließt neue biographische Quellen - bis ins 20. Jahrhundert die umfangreichste Neupublikation -, Baudius wendet sich gegen die zeitgenössische Erasmuskritik. Sie begrüßen die aufklärerischen Fortschritte, die Erasmus in Wissenschaft und Religion erreicht hat, würdigen den Beitrag des Erasmus zur Reformation und sind nicht bereit, Fehler, wie sie allen großen Männern unterlaufen können, zur Häresie hochzustilisieren. Nach ihrem Urteil verdankt die Nachwelt einem Erasmus viel. Von hier fuhrt ein direkter Weg zu Hugo Grotius (1583-1645), der voller Stolz auf den Landsmann Erasmus als bedeutenstens Geschenk Hollands an die Menschheit preist. Dessen Reformansätze schienen ihm eine Wiedervereinigung der Konfessionen möglich zu machen.

b) Von den Glaubenskriegen zur Aufklärung Im 17. Jahrhundert tritt der Humanist Erasmus stärker in den Vordergrund. Die „Adagia" und die sprachlichen Schriften erleben zahlreiche Neuausgaben, aber auch die „Colloquia" werden häufig gedruckt bzw. übersetzt. Nicht sehr überrascht, dass während des 30 jährigen Krieges die „Querela pacis" und die „Institutio" eine Blüte erleben.

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Nach dem Ende der Glaubenskriege beginnt sich die Diskussion um Erasmus etwas zu entkrampfen. In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts etabliert sich vor allem im katholischen Frankreich eine veränderte Sicht des Erasmus. Als treuer Sohn der Kirche sei er fur eine eher moderate Reform eingetreten, die der Kirche viel Ungemach erspart hätte. Zwar habe er Luthers Ideen zuerst durchaus begrüßt, sich einer Radikalisierung aber verweigert (so z.B. Abbé Jean Richard 1688). Methodisch herausragend ist die Leistung von Claude Joly, Kanoniker von Notre Dame, der die Quellen erstmals einer vergleichenden Kritik unterzieht (1699). Für ihn ist Erasmus ein Gelehrter, ein Moralist und Pazifist, der bei aller Toleranz den Glauben wirksam verteidigt hat. Einen Höhepunkt der Verteidigung bildet das Buch „Apologie, ou justification d'Erasme" (1713) des Abbè Jacques Marsollier (1647-1724). Er widerlegt weniger die einzelnen Kritikpunkte, sondern hält den Kritikern des Erasmus die positiven Urteile von Päpsten, christlichen Königen und Würdenträgern entgegen. Erneut wenden sich die Jesuiten gegen diese Apologeten des Erasmus. Wie zu Lebzeiten des Erasmus sind es im Prinzip dieselben Fronten und dieselben Fragestellungen: die Kritik des Erasmus an der katholischen Kirche, sein Verhältnis zu Luther, die Inhalte seiner Schriften, sein Austritt aus dem Kloster, sein Tod ohne katholischen Beistand in Basel, einer Stadt der Reformation u.a.m. Aber immerhin beginnt sich die Ansicht auszubreiten, dass man Erasmus aus seiner historischen Situation verstehen müsse. Für eine veränderte Sicht im protestantischen Teil Deutschlands steht Veit Ludwig von Seckendorf (1626-1692). Zwar beschreibt er Erasmus erneut als Wegbereiter der Reformation, der seine Augen vor der Wahrheit letztlich verschlossen habe, doch räumt er immerhin ein, man könne jetzt, da der religiöse Streit ein Ende gefunden habe, dessen Schriften mit Gewinn lesen. Noch weiter geht Johannes Klefeker in seiner „Exercitatio critica de religione Erasmi" („Kritische Betrachtung der Religion des Erasmus"). Erstmals wird auf protestantischer Seite Erasmus eine eigenständige, nicht an der Person Luthers zu messende Position zugewiesen. Klefeker erkennt an, dass Erasmus auf Grund seines Bewusstseins und der damaligen Umstände nicht anders handeln konnte. Die Art, in der Klefeker die historische Stellung und die Unabhängigkeit des Erasmus würdigt, ist bis dahin singulär. Ein eigenes Bild des Erasmus zeigt sich in den biographischen Lexika und Enzyklopädien, da die theologischen Kontroversen oft keine große Rolle spielen. Erwähnenswert ist der Artikel über Erasmus im „Dictionnaire historique et critique" des Pierre Bayle (1697). Im biographischen Teil entlarvt er einige Begebenheiten im Leben des Erasmus als reine Legenden. Erasmus wird vor

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allem als großer Literat und Denker gewürdigt. Dessen Rolle im Zeitalter der Reformation beweist geistige Unabhängigkeit. Der Katholik Erasmus habe nicht ohne Genugtuung Luthers Anfange verfolgt, in der stärkeren Radikalisierung zunehmend die Rückkehr zu der Tyrannei gesehen, die er auf katholischer Seite überwinden wollte. Insofern sei die Stellung zwischen den Parteien eine bewusste Entscheidung gewesen, die nicht als Schwäche, sondern als Beweis für seine Wahrheitsliebe zu werten sei. Einen Meilenstein der Erasmus-Rezeption stellt die große Leidener Ausgabe seiner Werke dar, publiziert 1703-1706 in 10 Foliobänden durch Jean Le Clerc (1657-1736). Sie ist auch heute noch nicht vollständig ersetzt. Abgesehen von dem Text stellt ein biographischer Abriss, der auf der Kommentierung der chronologisch angeordneten Briefe beruht, einen wichtigen Fortschritt dar. Erstmalig werden nicht alle Äußerungen des Erasmus ohne Rücksicht auf ihren Zeitbezug über einen Kamm geschoren, sondern es wird eine Entwicklung seines Denkens aufgezeigt. Le Clerc übernimmt hierbei in Teilen die protestantische Position. Die Missstände in der Kirche selbst anprangernd, habe Erasmus den Inhalten der Reformation aufgeschlossen gegenübergestanden, das gewaltsame Vorgehen jedoch abgelehnt. Bis zu diesem Punkt sei Erasmus sich selbst treu geblieben. Als aber die Anfeindungen von katholischer Seite einsetzten, habe er aus Furcht, die inzwischen erreichte Stellung zu gefährden, die Kräfte angegriffen, mit denen er eigentlich sympathisierte. Diese Kritik, und darin besteht das Verdienst der Arbeit Le Clercs, gründet sich nicht auf konfessioneller Voreingenommenheit, sondern auf biographischer Analyse. Die Herausgabe der Briefe führte zu einer fundierteren Beschäftigung mit der Biographie des Erasmus. Von den zahlreichen Lebensbeschreibungen, die im Gefolge der Leidener Ausgabe während des 18. Jahrhundert erschienen, gilt die Biographie von Jean Levesque de Burigny als die wissenschaftlichste (1757). Dabei greift de Burigny aber nicht nur auf die Leidener Ausgabe, sondern auch auf Briefe zurück, die im Vatikan neu entdeckt worden waren. Außerdem setzt er sich kritisch mit den Quellen und den früheren Biographen auseinander, deren Vorzüge und Nachteile gegeneinander abgewogen werden. Insgesamt entsteht ein sehr anschauliches und lebendiges Bild des Erasmus. Große Verdienste werden ihm auf den Feldern der Bildung und der wissenschaftlichen Erschließung von Texten zugeschrieben. Unter seinen Charakterzügen hebt de Burigny die Friedensliebe hervor, die Erasmus auch den Reformatoren gegenüber gezeigt habe. Die Anfeindungen von katholischer Seite erklärt er durch die besonderen Umstände der Reformationszeit, in der jede Kritik an den bestehenden Verhältnissen verdächtig sein musste. Erasmus wird dabei eine

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gewisse Mitverantwortung zugeschrieben, da er sich nicht immer, wie z. B. in den „Colloquia", mit der nötigen Zurückhaltung geäußert habe. Insgesamt aber hält de Burigny Erasmus fur einen guten Katholiken und guten Lehrer seiner Kirche.

c) Von der Aufklärung bis zur Nachrevolutionszeit In diesen Biographien des 18. Jahrhundert, in denen Erasmus von Autoren wie dem Engländer Samuel Knight (1675-1746) als Freidenker bezeichnet wird, der außer dem Gewissen keinen Herren mehr über sich habe, kündigt sich bereits das Erasmusbild der Aufklärung an. Beleg hierfür ist auch der Artikel über Erasmus in der „Grande Encyclopédie" (1751-72), verfasst von Louis, Chevalier de Jaucourt (1704-1780), dessen Kern aus dem „Dictionnaire" von Pierre Bayle genommen ist. Kein vollständiges Porträt von Erasmus entwirft Voltaire, der oft mit Erasmus verglichen worden ist. Bestimmend fur sein Erasmusbild ist dessen satirisch-ironische Polemik gegen Unbildung, Dogmatismus und Tyrannei sowie der Kampf gegen die Leidenschaften der verfeindeten religiösen Parteien. Dabei ist Erasmus für Voltaire mehr als ein begnadeter Meister der Ironie und Satire (so in der „Conversation de Lucien, Erasme et Rabelais dans les champs élysées von 1765). In der „Anecdote sur Bésilaire" (1767) wird Erasmus gegen einen eifernden Mönch, der ihn als Irrlehrer diffamiert, von dem Protagonisten des Toleranzgedankens als einer der Seinen verteidigt. Erasmus erscheint als Vorläufer der Aufklärung. Ahnlich äußert sich auch Edward Gibbon in seinem monumentalen Werk „History of the Décliné and Fall of the Roman Empire" (1776-88). Danach bricht Erasmus entschiedener als die Reformation mit der mittelalterlichen Auffassung von Religion. Im Gegensatz zu Reformatoren wie Luther und Calvin hätten seine Reformbestrebungen, vor allem in den Kirchen Englands und Hollands, freiheitliches Denken und religiöse Toleranz zur Folge gehabt. Ein ausgeprägter Skeptizismus habe Erasmus für die Gefahren sensibilisiert, die aus orthodoxem Denken und revolutionärem Enthusiasmus erwüchsen, und ihn Distanz zu Luther wahren lassen. Scharf jedoch ist Gibbons Urteil über den Charakter des Erasmus. Häufig umschleiche er in den Briefen schmeichlerisch seine Adressaten, seine Haltung wirke parasitär. In Deutschland setzt sich vor allem die protestantische Geschichtsschreibung der Aufklärung mit Erasmus auseinander. Dabei beruft man sich auf frühere Urteile über Erasmus, die ihm einen wichtigen Platz bei der Vorbereitung der Reformation zuweisen und den einsamen Rang seiner Bibelstudien

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hervorheben. Verständnis wird laut für einen Mann, der aus seiner eigenen Uberzeugung heraus nur im kleinen Kreis offen an der Kirche Kritik übte, in der Öffentlichkeit jedoch diplomatisch und in kleinen Schritten zu einer Kirchenreform kommen wollte. Das Zerwürfnis mit Luther ist nicht mehr das entscheidende Kriterium, ja in der Debatte um den freien Willen neigen Historiker wie Gottlieb Jakob Planck (1751-1833) und Matthias Schröckh (1733-1808) eher der Seite des Erasmus zu. Einen Schritt weiter gehen Heinrich Philipp Konrad Henke (1752-1809),Johann Salomo Semler (1725-1791) und der Historiker Michael Ignaz Schmidt (1736-1794), indem sie sich bemühen, die Motive des Erasmus zu verstehen. Nicht Aufruhr, sondern Uberzeugung sei seine Devise gewesen; damit sei er weniger revolutionär als Luther, habe jedoch die Gedankenfreiheit der Aufklärungszeit vorweggenommen; daher könne er nicht nur als Quelle der Reformation, sondern auch der Aufklärung verstanden werden. Diese Auffassung schlägt sich auch in der Erasmus-Biographie von Salomon Hess (1763-1837) nieder, die zu einem der Standardwerke des 19. Jahrhundert über Erasmus wurde. Hess, reserviert gegenüber Erasmus schwankendem, auf Vorsicht bedachtem Wesen, charakterisiert ihn dennoch als Befreier von den Fesseln mittelalterlichen Denkens. Aufklärung, Toleranz, Freiheit und Humanität sind dabei die zentralen Stichworte. Der Streit mit den Reformatoren wird auf die Frage reduziert, wie man die Sache der Reformation am besten fördern könne. Bei aller Sympathie für die Sache der Reformatoren wird Erasmus der schärfere Blick auf die notwendigen Veränderungen der Kirche zugestanden und auch der Ton Luthers als unangemessen kritisiert. Dieses positive Bild der Aufklärung wirkte auch während der Französische Revolution weiter, obwohl der eher vorsichtige und einer Evolution zuneigenden Erasmus nicht hierhin zu passen schien. Da man jedoch die Revolution gerne mit der Reformation verglich, rückte Erasmus an die Seite der intellektuellen Vorbereiter der Revolution wie z.B. Voltaires. Auf dem Hintergrund der Gewaltexzesse der Jahre 1793/94 bekamen wiederum die Mahnungen des Erasmus zur Vorsicht und seine Eintreten für eine intellektuelle Auseinandersetzung beklemmende Aktualität. Gleichzeitig wurden die Friedensschriften des Erasmus von dem englischen Essayisten Vicesimus Knox (1752-1821) herangezogen, um gegen den Krieg zu polemisieren, den die europäischen Mächte nach der Hinrichtung Ludwig XVI. gegen das revolutionäre Frankreich führten. Erasmus wird hier nicht nur (zu Recht) zum Archegeten des modernen Pazifismus, sondern zum Befürworter progressiver, auf Reformen zielender politischer Ansichten. Erasmus mutiert zum politischen Autor, ein Bild, das im 19. Jahrhundert wichtig werden wird.

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Im Deutschland der Befreiungskriege und der sich anschließenden Restauration spielte das Bild des Erasmus noch eine besondere, den Nationalgedanken aufnehmende Rolle. Den Ausgangspunkt bildet ein Vergleich zwischen Erasmus und Ulrich von Hutten, über den Johann Gottfried Herder (1744-1803) in eine heftige Auseinandersetzung mit Christoph Martin Wieland (1733-1813) geraten war. Für Herder (Teutscher Merkur von 1776) ist Hutten ein Held, ein Vorkämpfer der Reformation und kompromissloser Streiter für eine bessere Welt, Erasmus dagegen ein furchtsamer, doppelzüngiger auf seine Sicherheit bedachter, blutleerer Intellektueller. Wieland bestreitet die Legitimation eines solchen Vergleichs angesichts der so unterschiedlichen Naturen und fordert eine Beurteilung ein, die die Lebensumstände angemessen berücksichtigt. Danach handelte Erasmus, wie es ihm nach seiner Uberzeugung vertretbar erschien. Diese Überzeugung habe ihn jedoch zur Neutralität gefuhrt, was gewiss nicht zu tadeln sei. Wieland fordert nichts weniger, als den Menschen Erasmus als Menschen zu würdigen. Der nationale Aspekt dieser Auseinandersetzung ist bereits in der Gestalt Huttens angelegt, der sich als deutscher Reformator und Patriot gegen das römische Papsttum gewandt hatte. Diesen national-patriotischen Zug an Hutten betont Herder ganz im Sinne des Sturm und Drang. In dieselbe Richtung weist der Kontrast zwischen Luther, der einen schlafenden Riesen, die deutsche Sprache, geweckt habe, und Erasmus, der dem Lateinischen als dem Inbegriff römischer Religion und mittelalterlicher Scholastik treu geblieben sei. Später (seit 1793) hat Herder sein Urteil über Hutten und Erasmus gründlich revidiert. Er nennt diesen sein Idol, das er zum Vorgänger des eigenen Bildungsgedankens und zum Vertreter einer Humanitätsreligion erklärt. In der Zeit der Befreiungskriege und während der sich anschließenden Restauration, die die Hoffnungen auf einen deutschen Nationalstaat unerfüllt ließ, sind Herders Bild von Hutten, der als nationaler Held gegen fremde L'nterdrückung aufbegehrt, und die Auffassung, die Reformation sei auch ein Akt nationaler Befreiung gewesen, auf fruchtbaren Boden gefallen. Den Verteidigern Huttens, die dessen Kampf gegen Erasmus auf die eigenen Zeitumstände übertragen, erscheint der Rotterdamer als zu skeptisch, zu gemäßigt und tolerant. So schildert Gottlob Heinrich Adolf Wagner (1774-1835) in seiner Biographie (1802), die eher eine Polemik ist, einen Erasmus, der im Gegensatz zu Luther und Hutten nicht die Sache der Humanität und der Nation vertritt. Wäre Luther den Vorschlägen des Erasmus gefolgt, hätte es keine Reformation, keine Aufklärung und auch keine Befreiung der Nation gegeben. Aber auch die Anhänger der Restauration, die sich vor neuen Umbrüchen

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fürchteten, verfugen über ihren Erasmus; es ist der auf Mäßigung drängende Reformer, der durch Vernunft und Uberzeugung wirken wollte.

d) Das ig. Jahrhundert Zu Beginn des 19. Jahrhundert zeigt das Bild des Erasmus bei aller individuellen Differenzierung vier Hauptrichtungen: Die Auffassungen auf katholischer und protestantischer Seite gehen direkt auf die Reformationszeit zurück. Beide kritisieren den Skeptizismus, mit dem Erasmus die dogmatischen Strukturen untergraben habe. Protestanten kritisieren seine Weigerung, sich ihnen anzuschließen, Katholiken seine Angriffe gegen die religiösen Autoritäten. Die dritte Richtung betrachtet Erasmus als Quelle, ja manchmal sogar als Hauptquelle für eine zunehmende Aufklärung, die Intoleranz und Aberglauben zerstöre. Die Vertreter der vierten sehen in Erasmus den schwachen Charakter, den Schatten einer Person, wenn man ihn mit den wirklichen Helden seiner Zeit wie Hutten vergleicht. Entsprechend der zunehmenden Bedeutung der politischen Presse wird der Journalist, Kommentator und Publizist in Erasmus entdeckt. Die Vorstellung, Erasmus habe als liberaler Publizist maßgeblich die öffentliche Meinung seiner Zeit beeinflusst, führt unwillkürlich zu der Frage, wie überhaupt der Liberalismus des 19. Jahrhundert zu Erasmus stand. Die Kernfragen waren schon früher deutlich geworden: Ersetzten nicht Luther und die Reformatoren den alten Dogmatismus mit seiner Intoleranz durch einen neuen? War die Reformation daher wirklich als Fortschritt und Vorbereitung der Aufklärung anzusehen? Bot sich nicht in den Reformbestrebungen des Erasmus, der auf Uberzeugung durch Bildung und nicht auf Spaltung setzte, eine bessere Alternative? Anknüpfungspunkte wie Skeptizismus, Betonung der Vernunft, Toleranz und die freie Diskussion religiöser Themen ließen sich leicht für Erasmus ins Feld fuhren. Seit der Aufklärung waren sie immer wieder bemüht worden, um die Rolle des Erasmus innerhalb eines historischen Prozesses zu größerer Freiheit und zu einer toleranten Gesellschaft zu definieren. Manche Liberale sind dieser Auffassung gefolgt. Zwar gestand man zu, dass zur praktischen Durchsetzung einer Reformation eine radikale Figur wie Luther erforderlich war, doch überwog die Uberzeugung, für die Entwicklung von Fortschritt und Liberalität sei der zu Toleranz neigende Erasmus die wichtigere Gestalt gewesen (so z.B. J.A. Froude, Oxford 1893/94). Von seinen Ansätzen zu einer kritischen Bibelwissenschaft schien ja ein direkter Weg zur modernen kritischen Wissenschaft zu führen. Natürlich gab

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es auch Gegenstimmen, die mit Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten die Gewichte anders verteilten. Für sie weist der Reformansatz des Erasmus zwar auf die Ideen der Aufklärung und des Liberalismus voraus, jedoch bestreiten sie seine Durchsetzbarkeit im historischen Kontext des 16. Jahrhundert und werfen Erasmus vor, die Wirkung von Bildung und die Macht des geschriebenen Wortes überschätzt zu haben. Ein typischer Vertreter dieser Auffassung ist der bedeutende Erasmus-Biograph R.B. Drummond (1833-1920), der Erasmus geradezu als einen Liberalen der Viktorianischen Epoche zeichnet, ihm aber zugleich das Verständnis für den befreienden Akt der Reformation abspricht. Trotz dieser Differenzen war sich der Liberalismus des 19. Jahrhunderts aber darin einig, dass Erasmus einige seiner grundlegenden Ideen nachdrücklich vertreten hatte und daher als ihr legitimer Vorgänger gelten konnte. Neben dem Liberalismus prägen im 19. Jahrhundert die beiden großen christlichen Konfessionen das Bild des Erasmus. Dabei sind die Grundprinzipien ihrer Auseinandersetzung mit dem Humanisten bereits aus früheren Epochen bekannt. Die katholische Kirche befindet sich im 19. Jahrhundert in einer ähnlichen Lage, wie sie bereits im Gefolge der Reformation bestanden hatte. Nach dem Zeitalter der Revolutionen, das zu einer verstärkten Liberalisierung und Säkularisierung der Gesellschaft gefuhrt hatte, ist sie in eine Verteidigungsposition gedrängt, aus der sie sich durch Angriffe auf ihre Gegner zu befreien sucht. Die bekanntesten Vorgänge sind die Verkündigung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes während des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) und die Verdammung des Liberalismus als Irrlehre. Der Auffassung des Liberalismus vom fortwährenden Fortschritt gesellschaftlicher Entwicklung wurde die Vorstellung vom Verfall der christlichen Kultur des Mittelalters entgegengesetzt. Von seinen katholischen Kritikern wurde Erasmus zu einem Mitverantwortlichen für diesen Verfall gestempelt. Er habe, eitel, charakterlich schwach und ohne festen Glauben, durch seine Kritik und theologischen Irrtümer die Position der Kirche untergraben. In manchen Darstellungen wird Erasmus zum Typus des Kirchenkritikers ohne feste kirchliche Bindung. Damit tritt die alte Streitfrage „War Erasmus wirklich (noch) ein Katholik?" wieder auf den Plan. Im Gegensatz dazu sieht H. Durand de Laur in seinem monumentalen Werk „Erasme: Précurseur et initiateur de l'esprit moderne" (1872) die Leistung des Rotterdamers gerade darin, Katholizismus und modernes Denken miteinander verbunden zu haben. Ein prominentes Beispiel bilden die Schriften zum Neuen Testament, die Durand als Ausgangspunkt modernen kritischen Denkens ansieht. Andererseits habe Erasmus anders als Voltaire Christ und im Gegensatz zu Luther Katholik bleiben wollen. Außerdem verweisen die

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Verteidiger des Erasmus wie schon in früheren Zeiten sehr gerne auf den engen Kontakt des Erasmus mit fuhrenden Vertretern der Kirche. All dies wird als Beleg dafür angesehen, dass Erasmus mit seiner Kritik eine Erneuerung der Kirche und des religiösen Lebens aus dem Geist des Katholizismus angestrebt habe. In diesen Kontext ordnen sie seine Toleranz und seine Vorbehalte gegenüber jeder Form institutionalisierter Autorität ein. Dies geschieht aber nicht nur um eines korrekten Erasmusbildes willen, sondern häufig genug wird der direkte Zeitbezug deutlich: Wenn betont wird, Erasmus habe den Papst stets als Stellvertreter Christi betrachtet und die Entscheidungsgewalt von Konzilien nie in Zweifel gezogen, ist als Subtext der Streit um das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes aus dem Jahre 1870 mitzulesen. Wenn die Gegner dieses Dogmas sich in der aktuellen Debatte auf Erasmus als Zeugen berufen, belegt das dessen ungebrochene Autorität am Ende des 19. Jahrhunderts. Der Protestantismus folgte ebenfalls bekannten Schemata. Für die Beurteilung des Erasmus waren nach wie vor zwei Faktoren entscheidend, sein Charakter mit all seinen Stärken und Schwächen und seine Reaktion auf Luther und die Reformation. Dabei stehen sich jedoch wie bei den Katholiken, grob gesagt, zwei Fraktionen gegenüber. Eine eher orthodoxe Richtung zeigt die traditionell ablehnende Haltung, auch wenn Erasmus mit wenigen Ausnahmen als Vorbereiter der Reformation akzeptiert wird, da er sich gegen Papst und Mönchstum gewandt habe und durch seine kritischen Arbeiten am Text des Neuen Testaments hilfreich gewesen sei. Dennoch wird zugleich sein vermeintlicher Rationalismus getadelt, den der Liberalismus an Erasmus so schätzt. Entscheidend aber ist letztlich, dass dieser furchtsame und skeptische Charakter sich von der Reformation abgewandt und sie damit verraten habe. Dieses Urteil wird nicht nur theologisch, sondern auch durch die Sichtweise des Historismus begründet. Danach vollzieht sich historischer Fortschritt durch die Einsicht der handelnden Gestalten in die historischen Notwendigkeiten. Indem Erasmus sich der Notwendigkeit der Reformation verweigert, stellt er sich dem historischen Fortschritt entgegen. Seine isolierte Stellung zwischen Katholiken und Protestanten ist die konsequente Folge. Dieser Sicht widerspricht eine eher liberalere Denkschule, die die Reformation als Vorbereitung von Aufklärung und Liberalismus ansieht. Erasmus als einem Gegner der Scholastik wird die Funktion eines Vermittlers zwischen der aufklärerischen Renaissance und der Reformation zugesprochen. Auf diese Weise erhält er eine von Luther unabhängige Position als christlicher Reformer; dies bindet ihn in die Notwendigkeiten des historischen Prozesses ein und entlastet ihn gleichzeitig. Zwar sehen auch diese Protestanten eine

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tadelnswerte Vorsicht bei Erasmus, die ihn in Gegensatz zu Luther und (natürlich) Hutten bringt. Ein objektiveres Bild aber entsteht dadurch, dass sie seine fehlende Bereitschaft zum Bruch mit Rom auf aufrichtigen Respekt vor der Kirche zurückfuhren. Auf die Seite des Erasmus schlagen sich sogar manche Stimmen beim Vergleich mit Luther, indem dessen illiberale und gefahrliche Züge deutlicher akzentuiert werden; dies gilt besonders für die Auseinandersetzung um den freien Willen. Bei Wilhelm Dilthey (1833-1911), wird Erasmus gar zum Voltaire des 16. Jahrhundert und Wegbereiter moderner Religiosität. Vor allem aber werden erste Ansätze sichtbar, Erasmus nicht als isolierte Erscheinung zu betrachten. Beziehungen zu anderen Denkern der Zeit, wie z.B. Colet werden aufgezeigt und seine Wirkung auf die Entwicklung z.B. in Basel oder den Niederlanden betont. Einen entscheidenden Durchbruch in dieser Frage wird aber erst die wissenschaftliche Forschung des 20. Jahrhundert erreichen.

e) Ausblick aufdas 20. Jahrhundert Nach Ende des 1. Weltkriegs wird Erasmus zu einem Weltbürger und Denker der Moderne. Seine Toleranz, seine Einsicht in die Berechtigung unterschiedlicher Ansichten, assoziiert man mit der Relativität modernen Denkens, die den überparteilichen Intellektuellen auszeichnet. In diesem Bewusstsein findet die unentschlossene Haltung des Erasmus gegenüber der Reformation ihre Erklärung. Sie scheint in einer Zeit des Umbruchs und der Neuorientierung als gar nicht so ungewöhnlich. Diese Sicht läßt zumindest die simplifizierenden Charakterzeichnungen verschwinden. Die konfessionelle Kritik an Erasmus bleibt bestehen, auch wenn die zunehmende Entpersonalisierung historischer Prozesse die lange Zeit entscheidende Frage relativiert, wie Erasmus zu Luther gestanden habe. Eine der bekanntesten Darstellungen dieser Zeit lieferte im Jahre 1924 der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945). Für ihn ist Erasmus ein Mensch mit einem unbedingten Drang nach Freiheit, der ihn alle Abhängigkeiten, Autoritäten und endgültige Festlegungen meiden lässt. Diese Haltung ist schon in der Biographie des Erasmus angelegt. Sie befördert auch die Ablehnung der Scholastik, die sich unter dem Einfluß Lorenzo Vallas und der englischen Humanisten vollzog. Diese Konditionierung ließ Erasmus nicht zum reinen Katholiken, aber eben auch nicht zum großen Veränderer werden, sondern zaudernd, wankelmütig oder gar doppelzüngig erscheinen. Diesem

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menschlich kleinen Erasmus steht der große Intellektuelle gegenüber, wie er sich für Huizinga vor allem in Schriften wie den „Adagia", dem „Morias Encomium" und den „Colloquia" zeigte. Die hier zum Ausdruck kommende Gesinnung mache Erasmus zum Wegbereiter der Aufklärung und sei letztlich für seine weltweite Wirkung verantwortlich. Bei seiner Darstellung stützte sich Huizinga bereits auf die zunehmende wissenschaftliche Beschäftigung mit Erasmus und seinem Werk. An Bedeutung gewonnen hatte vor allem die Frage nach dem intellektuellen Beziehungsgeflecht, dem Erasmus angehörte, nach den für ihn maßgeblichen theologischen und literarischen Diskursen seiner Zeit und nach dem Einfluss, den er auf Zeitgenossen ausgeübt hat. Schon gegen Ende des 19. Jahrhundert hatte Wilhelm Maurenbrecher (1838-1892), der ausfuhrlich die Einwirkung von Zeitgenossen auf Erasmus, aber noch deutlicher dessen Einfluss auf die intellektuelle Elite Europas herausarbeitete, von Erasmus als einer europäischen Macht gesprochen. Als Beispiele werden gerne Vives, Rabelais und die englischen Literaten dieser Zeit genannt. So kann Conrad Busken Huet (1826-1886) die Behauptung aufstellen, nur Petrarca und Voltaire hätten in vergleichbarer Weise eine ganze Epoche der europäischen Geistesgeschichte geprägt und Friedrich Nietzsche bezeichnet eben diese Trias (Petrarca, Erasmus, Voltaire) als „Fahne der Aufklärung". Damit sind alle Vorstellungen, die in Erasmus den einsamen und letztlich gescheiterten Humanisten sahen, obsolet geworden. Einen wichtigen Fortschritt stellte die Untersuchung von P. Mestwerdt zu den Anfangen des Erasmus (1917) dar. Danach bildet sich das Denken des Erasmus im Kontext der Diskurse seiner Zeit, der Devotio moderna und dem italienischen Humanismus, heraus. Im Spannungsfeld von christlichem Glauben und antiker Bildung gelingt es Erasmus, stark beeinflusst von Colet, die beiden geistigen Strömungen harmonisch zusammenzufuhren. Dies habe Erasmus befähigt, zum Lehrer seiner Generation zu werden. Erasmus als zentrale Figur der geistigen Debatten seiner Zeit, seine Versuche, im Religionsstreit ausgleichend zu wirken, all das lässt kaum auf einen furchtsamen Charakter schließen. Dies gilt umso mehr, wie Huet schon am Ende des 19. Jahrhundert bemerkt, da Erasmus einzige Waffe der Stift gewesen sei, und die großen Helden Luther und Calvin friedlich in ihren Betten gestorben seien - im Unterschied zu Erasmus mit dem Blut Unschuldiger auf dem Gewissen. Endgültig hat dann im Jahr 1926 A. Renaudet mit dem Bild eines wankelmütigen Erasmus aufgeräumt. In Deutschland erfolgt nach dem verlorenen 1. Weltkrieg eine Neubewertung in der zutiefst deutschen Debatte um den Vergleich zwischen Hutten und Erasmus. Paul Kalkhoff (1858-1928)

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kommt in seiner Analyse der Vermittlungspolitik des Erasmus in den Jahren 1520/21 zu dem Schluss, dass sich die Hetze und Agitation Huttens als wenig hilfreich fiir die Sache der Reformation erwiesen habe. Der ungeschminkte analytische Blick auf die historischen Realitäten erweist Huttens vorgebliches Heldentum als historisch bedeutungslos und als romantisierende Vorstellung. Es blieb dem Nationalsozialismus vorbehalten, das „Völkische" an Hutten neu zu entdecken und in ihm einen Vorläufer Hitlers zu sehen (Alfred Rosenberg). Für Erasmus blieb nur die Verunglimpfung als undeutscher Feigling und „kaffeetrinkender Voltaire" (O. Flake 1929). Von grundlegender Bedeutung für die um Wahrheit bemühten Darstellungen war die konsequente Aufarbeitung der umfangreichen Korrespondenz des Erasmus, die ihren Ausdruck in der monumentalen Edition der Briefe durch P.S. Allen seit 1906 gefunden hat. Die chronologische Anordnung der Briefe ermöglicht es, ein exakteres Bild vom Leben des Erasmus zu zeichnen und lange tradierte Irrtümer zu revidieren. Viel deutlicher als bisher wird jetzt auch das geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Umfeld, in dem Erasmus sich bewegt und in dem seine Schriften entstehen. So hat z.B. Mestwerth vom Erscheinen des ersten Bandes (1906) in nicht unerheblichem Maße für sein Bild des jungen Erasmus profitiert. Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert hat das Bild des Erasmus als eines christlichen Denkers und Humanisten weitere Konturen gewonnen. Seit den 30er Jahren hat die Rolle, die Erasmus in der kulturellen Entwicklung einzelner Länder gespielt hat, besondere Aufmerksamkeit gefunden. Als Epoche machendes Werk sei hier die Untersuchung von M. Bataillon „Erasme en Espagne" (Paris 1937) genannt. Die Vorstellung eines liberalen und toleranten Erasmus prägt vor allem drei Schwerpunkte inhaltlicher Auseinandersetzung: Die ökumenische Dimension erasmianischen Denkens wird nicht zuletzt im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils stärker betont. In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts hat das unbedingte Eintreten des Erasmus für die Friedensidee große Resonanz gefunden. Das letzte Gebiet bilden die pädagogischen Vorstellungen des Erasmus, die schon gegen Ende des 19. Jahrhundert Interesse erweckt hatten. Für Erasmus stellte die Erziehung einen wichtigen Ansatz zur Lösung der Probleme seiner Zeit dar. Der ausschließlich sprachlichliterarische Bezug auf die Vorstellungswelt der Antike muss uns wegen der fehlenden Berücksichtigung der Naturwissenschaften einseitig erscheinen. Die Hinweise zur Förderung und Motivation von Kindern, die Berücksichtigung lernpsychologischer Faktoren sowie die Gedanken zu den notwendigen Voraussetzungen für eine gute Erziehung muten streckenweise geradezu modern

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an. Anregungen für eine aktuelle Debatte liefert Erasmus, wenn er Kulturverfall vom Sprachverfall herleitet. Inzwischen hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit Erasmus eine kaum mehr überschaubare Flut von Publikationen hervorgebracht. Hervorzuheben ist die Arbeit an einer neuen textkritischen Gesamtausgabe, die seit dem Jahre 1969 in Amsterdam erscheint. Angesichts der immer geringeren Verbreitung von Lateinkenntnissen, auch innerhalb des wissenschaftlichen Personals, stellt sich die Frage, ob nach Vollendung der Ausgabe noch genügend Menschen Erasmus im lateinischen Original werden lesen können. Einer der niederländischen Mitherausgeber gab, getreu der Devise des Erasmus, zur Antwort, „dass unsere Ausgabe eines der Mittel ist, um diesem drohenden Verfall unserer Kultur zu begegnen." Dennoch ist die Notwendigkeit moderner Ubersetzungen wie der seit 1974 in Toronto erscheinenden „Collected Works of Erasmus" nicht zu leugnen. Bei beiden Projekten hat sich durch die weltweite Beteiligung ganz im Sinne des Erasmus eine internationale Gelehrtengemeinde zusammengefunden. Insofern ist Erasmus mit Fug und Recht der Lehrer Europas, aber eben nicht mehr nur Europas. Wenn es dazu noch eines Beweises bedurft hätte, so liefern ihn die ca. 300000 Eintragungen einer oberflächlichen Suchanfrage „Erasmus von Rotterdam" bei Google, dem Kommunikationsorgan des globalen Dorfes.

Bibliographie Augustijn, Cornelis, Erasmus von Rotterdam. Leben - Werk - Wirkung, München 1986 ders. Erasmus von Rotterdam. Sein Erscheinungsbild in Deutschland und den Niederlanden, Bad Honnef 1988 Bainton, Roland H., Erasmus of Christendom, N e w York 1972 Flitner, Andreas, Erasmus im Urteil seiner Nachwelt. Das literarische Erasmus-Bild von Beatus Rhenanus bis zu Jean le Clerc, Tübingen 1952 Huizinga, Johan, Erasmus. Deutsch von W. Kaegi, Basel 1928 Kaegi, W., Erasmus im achtzehnten Jahrhundert, in: Gedenkschrift zum 400. Todestag des Erasmus von Rotterdam, hrsg. von der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft zu Basel, Basel 1936, 205-227 ders., Erasmus ehedem und heute (Basler Univ. Reden 61), Basel 1969 Mansfield, Bruce E., Erasmus in the nineteenth Century: the liberal tradition, Studies in the Renaissance 15, 1968, 193-219 ders., Phoenix of his Age. Interpretations of Erasmus c. 1550-1750, Toronto/Buffalo/London 1979 ders., Erasmus in the Age ofRevolutions, in: Erasmus of Rotterdam: the man and the scholar: proceedings of the symposium held at the Erasmus University, Rotterdam

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9-11 November 1986, ed. by Sperna Weiland Jan & Frijhoff Willem Th.M., Leiden & New York 1988, 228-239 ders., Interpretations of Erasmus c.1750-1920. Man of his own, Toronto 1992 Wulschner, Hans-Joachim, Erasmus von Rotterdam im 19. Jahrhundert Sein Bild in der deutschen Literatur, Diss. Berlin 1955

Personenregister

Das Register enthält nicht sämtliche Namen der neueren Wirkungsgeschichte eines Lehrers. Personen der modernen Forschungsliteratur sind ebenfalls nicht aufgenommen worden. Die Seitenzahlen der Beiträge zum jeweiligen Lehrer sind kursiv herausgehoben.

Abaelard, Petrus (Peter) 59, 185, 186, 187, 240, 313 Abbo von Fleury 187 Ablavius 227 Accius 8 Adam von Balsham 334 Adolphus 293 Aelfric 126 Aelius Donatus (s. Donat) AeliusStilo 2,8,12,55 Afranius Burrus 46 Agricola (Iulius Agricola) 47 Agrippa 3, 24 Alanus ab Insulis 160, 185 Alberti, Leon Battista 32, 33, 34, 39, 43 Albertus Magnus (Albert) 61, 240, 313-329 Albinus (Musiktheoretiker) 203 Albinus (Zeitgenosse des Boethius) 169, 170 Alcuin (Alkuin) 32,60,119,120,121,126, 130,185,240, 242,268, 269 Aldhelm von Malmesbury 268 Alexander de Villa Dei 122, 270, 291-312,342,381 Alexander der Große 61 Alexander Hegius 348,349 Alexander IV. (Papst) 322, 323 Alexander Neckam 59, 159, 334 Alfonso V. (König von Sizilien) 356, 357, 358,360,377 Amalasuntha 218,219,228 Ambrosius 219, 226, 233, 241, 274

Ammonius Hermeiou 233, 250 Anastasius (oströmischer Kaiser) 239, 247, 249 Andronikos aus Kyrrhos 27 Antiochos von Askalon 2 Antonio Averlino (genannt Filarete) 33 Antonio da Bitanto 357 Antonius 3 Apelles 76 Aper 89 Apollodoros von Pergamon 74 Apollonios Dyskolos 115, 249, 251, 256, 257 Apuleius 15,138,139, 260 Aquila Romanus 139 Archytas 207 Arion 149, 197 Aristeides Quintiiianus 139,144 Aristoteles 6,10, 61, 76-78, 80, 83, 88-90, 98,100,101,117,123,139,168, 170-180,182-189,196,198,203,233, 234,250,260,314,316-320, 322-325, 327,331,356,357, 365,366, 369-373, 379 Aristoxenos 27,207,208 Ascanius Pedanus 363 Asinius Pollio 1, 15, 75 Äsop 357,382 Asper 112,117 Auetor ad Herennium (Herenniusrhetorik; Rhetorica ad Herennium) 72, 80, 81, 88, 92,96,114,347 Aufidius Bassus 54,227

424 Augustinus 1,2, 4, 5, 6,10,12,13,14,15, 18,19, 59,111,112,139,172,185,186, 194, 205,219,226, 229, 231,232,233, 235,240,241,244,274,275,281,399 Augustus (s. auch Oktavian) 24, 25, 26, 46, 50,149 Aurelianus Reomensis 193, 210, 211 Aurispa, Giovanni 128, 355, 362 Ausonius (Decimus Magnus Ausonius) 59, 68 Aymer 338 Barbaro , Daniele 36,39 Barozzi, Giacomo (il Vignola) 36, 39 Bartholomeus Anglicus 61 Bartolus von Sassoferrato 356 Barzizza, Giusepe 356 Beatus Rhenanus 391,402,406, 408 Bebel, Heinrich 349 Becuire, Pierre 61 Beda Venerabiiis 58, 59, 60, 62, 118, 129, 130,160,240,242 Beiisar 218,219,221 Bellarmin 407 Berhard Silvestris 59, 160 Bernhard von Castaneto 326 Bessarion 358 Boccaccio 14,16, 62 Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius) 11,13,19, 59, 60,115,116, 136,158,159,165-191,193-215,218, 219, 230,234,242, 248,314, 317 Bonaventura 59 Boncampagnano von Florenz 315 Boncompagno aus Signa 348 Bonhomme Brito 322 Bonifatius 118, 130, 268 Borges, Jorge Luis 64 Brant, Sebastian 398 Brehm, Alfred 62 Bruneleschi, Filippo 33 Bruni, Leonardo 354, 355, 366, 367, 379, 380 Burckhardt, Jakob 353 Caesar 3, 4, 5, 8, 15, 24, 25, 55, 75, 136, 307

Personenregister

Calcidius (s. Chalcidius) Calixtus III. (Papst) 358,374 Calvin 382,400,411,418 Calvino, Italo 64 Caper (Flavius Caper) 249 Caracalla 109 Cassian 274 Cassiodor (Flavius Magnus Cassiodorus Senator) 12,13,18,19,30, 59, 95, 96, 115,116,129,133,158,159,188,193, 217-246,247,267 Cassius Felix 279 Cato (der Ältere, Censorius) 12,18, 29, 56,134 Cato (der Jüngere) 3 Catull 14,46 Censorinus 201 Cesare di Lorenzo Cesariano 32 Cethegus 220,230 Chalcidius 59,201,229 Charisius (Flavius Charisius Sosipater) 55, 249,250,281 Cicero (Marcus Tullius Cicero) 1-5, 7,10, 11,13,15,16,27, 30, 50, 67, 70, 75, 76, 79, 80, 84, 89, 90, 92,93,96,99,100, 101,121,136,139,165,172,178,179, 180,183,185,187,188,204, 211, 225, 229, 234,306, 307,309, 317,347,355, 358, 364,365, 367,380, 401,402, 408 Claudianus Mamertus 229 Claudius (der Kaiser) 46 Cledonius 115 Clemens (der Alexandriner) 171 Clemens (Nachfolger Alkuins) 120, 130 Coccinius, Michael 349 Colet,John 393,417,418 Columella 29,30 Consentius 115,130 Corbulo (Cn. Domitius Corbulo) 46, 47 Cornutus 112 Cortesi, Paolo 381 Cosimo di Medici 360 Crassus (L. Licinius, Redner vor Cicero) 91 Cyprian 169,231,233

Personenregister

Dante Alighieri 61, 160 Darwin 62 Decembrio, Piercandido 356 Del'Orme, Philibert 38 Descartes, René 211 Dexippos 227 Dikaiarch von Messene 6 Dilthey, Wilhelm 417 Diogenes Laertios 369 Diokletian 109 Diomedes (Grammaticus) 114,130, 249, 250,281,363 Dionysios Thrax 127 Dionysius Areopagita (Pseudonym) 318, 375 Dionysius Exiguus 58, 217, 225, 231, 233 Dithfurth, Hoimar von 45 Domitian 68,69,70 DomitiusAfer 69,94 Donat (Aelius Donatus) 17,109-131, 249,250, 265,267,269, 270, 279, 281, 282,294,302,343, 362, 363 Dositheus 130 Dracontius 134 Drusus (der Altere, Bruder des Tiberius) 54 Dürer, Albrecht 37 Eberhard von Béthune 122, 342, 349 Einhard 32 Einstein, Albert 45 Enea Silvio 99 Engelbert II. von Falkenburg 326 Ennius 5 Erasmus von Rotterdam (Desiderius Erasmus Roterodamus) 100, 101,348,349,373,391-421 Eratosthenes 7,27,52 Euander 8 Eugen IV. (Papst) 356, 358,377 Eugippius von Lucullanum 225, 233 Euklid 139 Euphranor 92 Eusebius von Caesarea 110, 227 Eutharich 226

425 Faventinus (M. Cetius Faventinus) 23, 30, 279 Fazio degli Uberti 62 Fazio, Bartolomeo 357, 360, 362 Filarete (s. Antonio Averlino) Fisher, John 396 Flaubert, Gustave 64 Flavius Theodorus (Schüler Priscians) 248,271 Florentinus von Hesdin 322 Fortunatianus 139,234 Fra Giocondo aus Verona 32 Freart, Roland 39 Frontin (Sextus Iulius Frontinus) 30 Fronto 62 Fulgentius (Bischof, Bruder von Isidor) 273 Fulgentius (Fabius Planciades Fulgentius) 133,134,158,274 Gaguin, Robert 392 Galba 68 Galfred von Vinsauf 343 Galilei 62 Garlandus Compotista 188 Garsia, Giovanni) 357 Gellius (Aulus Gellius) 15, 53, 55 Geminos 139 Gennadius von Marseille 276, 277 Gerbert von Aurillac 187 Gerhard von Zutphen 311 Gibbon, Edward 411 Giorgio Martini, Francesco di 34 Giovio, Paolo 383 Goethe, Johann Wolfgang von 41,102, 103,106 Gottsched, Johann Christoph 102 Gratian 357, 376 Gregor der Große 59, 117,118, 159, 222, 236,237,242, 244,274 Gregor von Tour 158 Grimm, Jakob 17 Grotius Hugo 406 Guarino von Verona (Guarinus da Verona) 271,378,379 Guido Faba 348

426 Gunthamund (Vandalenlönig) 134 Hadrian VI. (Adrian von Utrecht, Papst) 393 Hegel 186 Heinrich (Bruder Alberts) 324 Heinrich VII. 391 Heinrich VIII. 391,396,406 Heinrich von Bergen 392 Helinand von Froidmont 285 Henri d'Andeli 313,314,328 Herder, Johann Gottfried 413 Hermagoras von Temnos 81 Hermannus Claudus 60 Hermogenes (von Priene, Architekt) 26, 27 Hermogenes von Tarsos, Rhetor) 267 Herodian 115,249 Herodot 358,382 Heymericus de Campo 327 Hieronymus 4, 58, 59, 67, 68,110,111, 112,115,116,123, 219, 227,232,233, 241,267, 274,276, 277, 285, 357,374, 382, 383,394 Hieronymus de Moravia 194 Hilarius 226,231,233,241 Hildegard von Bingen 59 Honorius Augustodunensis 60 Horaz 31, 69, 76,110,115,121,225,338 Hrabanus Maurus (Rhabanus Maurus) 59,120,240,284 Hugo Ripelin von Straßburg 327 Hugo von Sankt Viktor 60 Hugo von St. Cher 320 Hugo von Trimberg 343, 348 Huguccio von Pisa 340 Huizinga,Johan 417, 418 Humbertus de Romanis 321, 322, 323 Humboldt, Alexander von 63 Hypokrates 197 Ignatius von Loyola 406 Isidor von Sevilla 12, 18, 19, 30, 52, 58, 59,96,117,130,159,188, 273-290, 339,341 Ivo 293 Jean IV de la Mouche 294

Personenregister

Johannes Baibus 340 Johannes Cassianus 222 Johannes Chrysostomus 226 Johannes de Garlandia 122, 310, 331-352 Johannes de Muris 212 Johannes de Nova Domo 327 Johannes Murmellius 349 Johannes Philoponos 172 Johannes Scottus Eriugena 60,133,159 Johannes Synthen 348, 349 Johannes von Salisbury 60, 160 Johannes von Vercelli 326 Johannes von Wildeshausen 317 Joly, Claude 409 Jones, Inigo 39 Jordan von Sachsen 316 Jordanes 219,227,238 Josephus (Flavius Josephus) 233, 243 Justin I. (oströmischer Kaiser) 167,169, 170 Justinian 218,222,273 Juvenal 265,338 Karl der Große 37, 58, 60,118,119,120, 121, 268 Karl V. (Kaiser) 394, 399,401 Kepler 211 Klefeker, Johannes 409 Kolumban 117 Konrad von Hochstaden 320, 322, 326 Konrad von Muri 347 Konstantin (der Große, römischer Kaiser) 109,357, 374,376, 378,383 Kopernikus, Nikolaus 62, 160 Laktanz 15 Lambert von Auxerre 187 Landino, Cristoforo 62 Le Clerc, Jean 410 Leander (Bruder Isidors) 273 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 161, 382 Lessing, Gotthold Ephraim 76 Lévesque de Burigny.Jean 410 Linacre 271 Linné, Carl von 62 Livius (Titus Livius) 15, 46, 62,114,121, 227, 360

Personenregister

Livius Andronicus 8 Lorenzo Valla ( s. Valla) Loschi, Antonio 354 Louis von Anjou 357 Lucilius 5 Lukan 110,114,350 Lukrez 27,121,369 Lupus von Ferneres 96 Luther, Martin 100,101,136, 382, 383, 395, 396,398,400-418 Lydius, Martin 408 Machiavelli 360,376,399 Macrobius (Ambrosius Theodosius Macrobius) 59, 61,160,201,211,229, 314 Marius Victorinus 19, 110,139, 234, 274 Marsollier, Jacques 409 Marsuppini, Carlo 355 Martial 67,68 Martianus Capeila (Martianus Min(n)e(i)us Felix Capeila) 12,13,18,19,20, 59, 60,133-163,188, 233, 260 Martin Luther (s. Luther) Masinissa 24 Matemus 70 Matocci, Giovanni 62 Mattheson, Johann 212 Matthias von Vendóme 313 Maximian 296,297 Melanchthon 382,407 Menippos von Gadara 1, 5, 12, 13, 20, 136,137,138,152,158 Merula, Paul 406 Messalla 70 Michelangelo 35 Mirandola, Giovanni Pico della 383 Mommsen, Theodor 51, 227, 228, 237 More, Thomas, (Thomas Morus) 393, 396, 398, 406 Mountjoy (Lord) 391 Mucius 25,26 Narses 218 Nero 46,47,48,55,70 Nietzsche, Friedrich 418

427 Nikolaus V. (Papst) 358,362,373 Nikolaus von Kues 358, 373 Nikomachos von Gerasa 139,199, 201, 202,203,204, 205 Notker Balbulus (von Sankt Gallen) 126, 160,240 Ockham 371 Octavia 24,26 Odo von Meung 60 Odoaker (Odoakar) 166,248 Oktavian (Octavian) 4, 24 Origenes 110,171,274 Otto von Lüneburg 341 Ovid 136,295,333 P. Pomponius Secundus 47 Palladio, Andrea 36,39,41 Panormita 355,360,369 Papias 339,340 Paucapalea (Schüler Gratians) 376 Paul III. (Papst) 396 Paul IV. (Papst) 406 Paulinus von Nola 21% 236 Paulus Diakonus 119,130,238 Paulus Venetus 189 Pelagius 231,235 Perrault, Claude 39 Persius 338 Peter von Pisa 119,130 Peter von Tarentaise 322 Petrarca 1,14, 16, 18, 62, 97,354, 360, 369, 378,380,418 Petron 13, 15, 30, 136 Petrus Diaconus 32 Petrus Hispanus 187 Petrus Lombardus 185, 317,318, 327 Petrus Ramus 101 Petrus Riga 299 Petrus von Dacien 327 Philander, Guielmus 38 Philo (s. Philon) Philolaos 207 Philon 171,283 Pius IV. (Papst) 406 Piaton 99, 160, 168,170, 172, 173, 185, 186,196,197,198,205,283,302,325

428 Plautus 8,265,362 Plinius (der Ältere) 13,15,30, 45-65, 73, 139,160,249,279,338 Plinius (der Jüngere) 47, 48, 49, 50, 61f, 68, 69, 73 Plotin 170 Plutarch 100 Poggio Bracciolini, Gian Francesco 23, 32, 97,354,355,358,359, 364,366, 373 Poliziano, Angelo 361,380,381 Polygnot 92 Pompeius (der Grammatiker) 115,124, 130, 269 Pompeius (der Politiker) 3, 4,15, 25 Pomponius Laetus 16 Pomponius Secundus 54 Pontano, Giovanni 380 Porphyrios (Porphyrius) 170,171,172, 175,178,179,180,203,233,234,314, 370f Poseidonios 27,139 Praxiteles 92 Priscian (Priscianus Caesariensis) 14, 17, 113,115-127,130,168, 247-272, 293, 294,295,300,303,304, 307,343,362, 363 Priscus 227 Proba 225 Probus 249 Proklos 170,172,325 Prosper 227,231,241 Pseudo-Demetrius 83 Ptolemaios 208,209 Pythagoras 4, 11, 142, 143, 194,197, 201, 202, 203,206,207,208, 210,211,370 Pytheos 27 Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus) 1, 5,14,15,28, 55, 67-107,114,234, 281, 355,356,360,364,370 Rabelais 391,411,418 Raffael 34,35 Raoul le Breton 270 Remi 120 Remigius von Auxerre 133,159

Personenregister

Rho, Antonio da 362 Riff, Walter Hermann (Rivius) 37 Robert Grosseteste 61 Robertus Crikeladensis 60 Roger Bacon 61 Rotger Gerard 392 Rufinus 219 Sacerdos 250 Sagredo, Diego de 37 Sallust 7,85,110,378 Salutati, Coluccio 354,380 Scaliger .JosephJustus 17,161, 408 Scaliger, Julius Caesar 364, 408 Scamozzi, Vincenzo 36, 38, 39 Schopenhauer, Arthur 63 Schottel, Justus Georg 17 Scrivani, Melchior 354 Seckendorf, Veit Ludwig von 409 Sedulius Scottus 120, 269 Seneca ( L. Annaeus Seneca, der Jüngere) 13,15,46, 52, 60, 61, 67,136 Serlio, Sebastiano 35, 38, 39 Serio von Wilton 341 Sertorius 3 Servius 30,114,115,124,130,249,281, 363 Sidonius Apollinaris 30 Siegfried von Westerburg 326 Silvester (Papst) 376 Simplikios 172 Sisebut (König der Westgoten) 273, 276, 278 Sleidan, Johannes 407 Smaragdus 120 Sokrates (ein Kirchenhistoriker) 233, 235, 243 Solinus 53,139 Sozomenos 233, 235,243 Statius 350 Stilo (s. Aelius Stilo) Sueton 48,68,110 Symmachus (Quintus Aurelius Memmius Symmachus) 2, 59, 62,115£ 168, 230, 248,249,268,271

Personenregister

Tacitus 47, 48, 54, 70, 90,121 Tatwine (Tatuinus) 118,130, 268 Terentianus Maurus 15 Terenz 109, 110,111,112, 121,128, 248, 266,362 Terpander 197 Tertullian 15,58 Themistios 183,184 Theoctistus 247 Theodahat 218,219,228 Theoderich (Abt von Saint-Trond) 32 Theoderich der Große (König der Ostgoten) 59,115,134,165,166,167, 168,169,170, 218, 219, 226, 227, 228, 239,248 Theodoret 233,235,243 Theodoras von Gadara 74 Theodosius II. 247 Theon Smyrnaios 139 Theophrast 83 Thomas Becket 60 Thomas Morus (s. More) Thomas von Aquin 32, 59,185.186,317, 318, 322,327,374 Thomas von Cantimpre 61, 321, 322 Thrasamund (Vandalenkönig) 134 Thukydides 358,379,382 Tiberius 46,54 Tiberius Claudius Donatus 109 Titus 45,47 Torrentinus, Hermann 349 Tortelli, Giovanni 361, 362, 376 Trajan 49, 58, 59, 61,109,110,167 Ulrich von Bamberg 97 Ulrich von Hutten 383,395, 396, 407, 413, 414,417, 418, 419 Ulrich von Straßburg 326, 327 Urban IV. (Papst) 323

429 Urso von Salerno 61 Valentinian 167 Valla, Lorenzo 98, 99,353-389,393,400, 417 Varrò (Marcus Terentius Varrò Reatinus) 1-21, 27,30, 49, 50, 55, 92,136,138, 139,199,201,234,285, 363 Vasari, Giorgio 35 Vegio, Maffeo 356 Vergil ( P. Vergilius Maro; Virgilius) 1, 8, 16, 46, 50, 57,110,111,112,115,117, 127,136,160,225,259, 279,287,338, 346, 347, 350 Verino, Ugolino 33 Vespasian 45, 46, 47, 48, 54, 68 Victorius Aquitanus 227 Vigilius (Papst) 230 Vinzenz (-ent) von Beauvais 61, 327 Virgilius Maro (der Grammatiker) 118 Vitigis (Witigis) 219,228 Vitorius Marcellus 69 Vitruv (Vitruvius) 23-43 Vitruvius (Lucius Vitruvius Cerdo) 24 Vitruvius Rufas 24 Voltaire 411,412,415,417,418,419 Vossius (Gerardus Ioannes) 101 Walter Map 60 Wieland, Christop Martin 413 Wilhelm Lamp 311 Wilhelm von Lucca 187 Wimpfeling,Jakob 349 Winckelmann (Johann Joachim) 41 Wittgenstein 371 Wilhelm von St. Amour 321 Wren, Christopher 39 Zeno (oströmischer Kaiser) 166 Zenon (der stoische Philosoph) 283 Zwingli 407

Die Autoren des Bandes

PD Dr. M A R C - A E I L K O

Albertus-Magnus-Institut, Bonn

ARIS,

Prof. Dr. WOLFRAM Ax, Professor fur Klassische Philologie (Latein), Universität zu Köln Prof. Dr. Lille III

MARC

PD Dr. FRANK Tübingen Prof. Dr. AXEL

BARATIN,

BEZNER,

BÜHLER,

PD Dr. SUSANNE

DAUB,

Prof. Dr. R E I N H O L D versität Bochum

Langues et Littéraires Anciennes, Université de

Mittel- und Neulateinische Philologie, Universität

Professor für Philosophie der Universität Düsseldorf Mittellateinische Philologie, Universität zu Köln

F. G L E I ,

Professor fur Klassische Philologie (Latein), Uni-

PD Dr. SABINE G R E B E , Klassische Philologie (Latein), Universität Heidelberg, zurzeit in Detroit lehrend Prof. Dr. Köln

D I E T E R GUTKNECHT,

Prof. Dr. H E N N E R sität zu Köln

Professor für Musikwissenschaft, Universität zu

VON H E S B E R G ,

Professor für Klassische Archäologie, Univer-

Prof. Dr. Louis HOLTZ, em. Professeur à l'université de Lyon II, Directeur de 1' Institut de Recherche et d'Histoire des Textes (bis 1997), Paris Prof. Dr. G E O R G Köln Prof. Dr.

JENAL,

Professor für Geschichte des Mittelalters, Universität zu

CHRISTOPH KANN,

Professor für Philosophie, Universität Düsseldorf

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Die Autoren des Bandes

Prof. Dr. UDO KINDERMANN, Professor fiir Mittellateinische Philologie, Universität zu Köln Prof. Dr. KLAUS SALLMANN, Professor fiir Klassische Philologie (Latein), Universität Mainz Prof. Dr. PETER SCHENK, Professor fiir Klassische Philologie (Latein), Universität zu Köln P D Dr. THOMAS SCHIRREN, Klassische Philologie, Universität Tübingen

Kontakte über den Herausgeber: Prof. Dr. WOLFRAM

AX

Institut für Altertumskunde Klassische Philologie Albertus Magnus Platz D - 5 0 9 2 3 Köln + 4 9 221 4703049 +49 221 4705931 (Fax) E-Mail: [email protected]

B Ö H L A U BEI

UTB

- Eine Auswahl Friedrich B e c k / Eckart Henning (Hg.): Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften. 4., durchges. Aufl. 2004. XII, 405 S. mit 122 s/w-Abb. u. 8 Taf. mit 10 färb. Abb. Br. € 29.90/SFr 50,30 ISBN 3-8252-8273-2 UTB 8273 Margot B e r g h a u s : L u h m a n n leicht gemacht. Eine Einführung in d i e Systemtheorie. 2., durchges. Aufl. 2004. 302 S. Ca. 180 s/w-Abb. Br. € 19,90/SFr 34,90 ISBN 3-8252-2360-4 UTB 2360 Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung - P r o b l e m e — Aufgaben. 2. durchges. Aufl. 2001. VI, 150 S. Br. € 14,90/SFr 25,80 ISBN 3-8252-2254-3 UTB 2254 Horst Gies: Geschichtsunterricht. Ein H a n d b u c h zur Unterrichtsplanung. 2004. 307 S. Br. € 19,90/SFr 34,90 ISBN 3-8252-2619-0 UTB 2619

Martin Krieger: Geschichte Asiens. Eine Einführung. (Geschichte der Kontinente. Band 1) 2003. VIII, 317 S. 16 Karten. Br. € 19,90/SFr 33,50 ISBN 3-8252-2382-5 UTB 2382 Michael Kunczik: Public Relations. K o n z e p t e und Theorien. 4., völlig Überarb. Aufl. 2002. 473 S. Br. € 19,90/SFr 33,50 ISBN 3-8252-2277-2 UTB 2277 W o l f g a n g Kunkel/ Martin S c h e r m a i e r : R ö m i s c h e Rechtsgeschichte. 13. Aufl. 2001. XIV, 335 S. Br. € 19,90/SFr 33,50 ISBN 3-8252-2225-X UTB 2228 Olaf Hildebrand (Hg.): Poetologische Lyrik v o n Klopstock bis Grünbein. Texte und Interpretationen. 2003. VII, 354 S. Br. € 19,90/SFr 33,50 ISBN 3-8252-2383-3 UTB 2383 Ulrich Hufeid (Hg.): Der Reichsdeputationshauptschluss v o n 1803. Eine Dokumentation zum Untergang des Alten Reiches. 2003. VI, 144 S. Br. € 17,90/SFr 30,50 ISBN 3-8252-2387-6 UTB 2387

Martha Howell, Walter Prevenier: Werkstatt d e s Historikers. Eine Einführung in die historischen Methoden. Hg. von Theo Kölzer. 2004. VI, 261 S. Br. € 17,90/SFr 31,70 ISBN 3-8252-2524-0 UTB 2524 URSULAPLATZ I,

D-50668

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