133 83 8MB
German Pages 214 Year 2012
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH · Zürich
Andreas Weigl
Bevölkerungsgeschichte Europas Von den Anfängen bis in die Gegenwart
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2012
Andreas Weigl ist Univ.-Doz. und lehrt am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.
© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: Dr. Volker Manz, Kenzingen Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany UTB-Band-Nr. 3756 | ISBN 978-3-8252-3756-1
5
Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................... 7 1. Bevölkerungsgeschichte – historische Demografie ................. 9 2. Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte .......... 13 3. Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus ................... 21 4. Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte .. .......... 35 5. Das Zeitalter der Pest .......................................................... 49 6. Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300) ... 61 7. Das European Marriage Pattern ........................................... 73 8. Der Demografische Übergang in Europa .............................. 91 9. Der epidemiologische Übergang .......................................... 113 10. Der social und der gender gap ............................................... 133 11. Die „stille Revolution“ . . ....................................................... 147 12. Europas Wandel vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent und die „dritte demografische Transition“ . . .................................................. 165 13. Europa und die Welt an der Jahrtausendwende ..................... 173 14. Verzeichnis der Quellen der Tabellen, Grafiken und Abbildungen ................................................................ 177 15. Literaturverzeichnis ............................................................. 179 Register .................................................................................... 201
7
Vorwort Der vorliegende Band baut auf universitären Vorlesungen zum Thema auf. Sein Anliegen ist es, einen für den Studienbetrieb geeigneten Überblick über die europäische Bevölkerungsgeschichte in ihren globalen Bezügen zu liefern. Europäische Spezifika wie beispielsweise das European Marriage Pattern, die Cholera als „Lehrmeisterin der modernen Hygiene“ oder aber auch die besondere Rolle der Überseewanderung im Industriezeitalter finden dabei eine entsprechend hervorgehobene Behandlung. Der Band soll aber auch zu weiterführender Beschäftigung mit dem Thema anregen. Ein kurzer Abriss zu den wichtigsten Quellen vermittelt einen Einblick in die Basis historisch-demografischer Forschung, für die Interdisziplinarität größer werdende Bedeutung besitzt. Bei grundsätzlicher Verortung der historischen Demografie in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte war es mir daher inhaltlich ein besonderes Anliegen, das nach wie vor in einem Teil der (angloamerikanischen) Fachliteratur verbreitete malthusianische Paradigma neben anderen ökonomistischen Ansätzen kritisch zu hinterfragen. Einer Bevölkerungsgeschichte zwischen „Kultur“ und „Natur“ dienen auch die Verweise auf Ergebnisse relevanter „Nachbardisziplinen“ wie der Klimageschichte, der Sozialgeschichte der Medizin und der Archäologie. Insofern beschränkt sich auch das Literaturverzeichnis keineswegs ausschließlich auf historisch-demografische Arbeiten im engeren Sinne. Methodisch ist die historische Demografie von der mit quantifizierenden Verfahren arbeitenden Bevölkerungswissenschaft nicht zu trennen, deren Indikatoren jedoch nicht unbedingt vertraut sein müssen. Um den Text nicht zu überladen, werden einschlägige Definitionen dieser Messzahlen und einiger anderer Fachbegriffe in den Anmerkungen gegeben. Am Zustandekommen dieser Einführung waren eine ganze Reihe von befreundeten Kolleginnen und Kollegen des Ludwig-Boltzmann-Instituts
8
Vorwort
für Stadtgeschichtsforschung in Wien und des Instituts für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien beteiligt. Wertvolle Literaturhinweise erhielt ich von Erich Landsteiner. Der gründlichen Durchsicht des Manuskripts durch Gerhard Meißl verdanke ich wertvolle Anregungen und Verbesserungsvorschläge. Nicht zuletzt möchte ich Susanne Claudine Pils erwähnen, die das fachkundige Endlektorat vorgenommen hat. Besonderer Dank gilt schließlich Alicja, Magda und Malgosia, die es geduldig ertragen haben, dass ich während des Schreibens weniger Zeit mit der Familie verbringen konnte. Wien, im August 2012
Andreas Weigl
9
1.
Bevölkerungsgeschichte – historische Demografie
Das 21. Jahrhundert ist schon des Öfteren als „demografisches Jahrhundert“ bezeichnet worden, und tatsächlich ist die Demografie auf dem Weg, zu einer der politischen Leitdisziplinen zu werden. Das ist eigentlich nicht verwunderlich. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erleben wir jenes Jahrhundert, in dem die Weltbevölkerung mit mehr als neun Milliarden ihren Höchststand in der Geschichte erreichen wird (Münz / Reiterer 2007: 32). Die daraus resultierenden gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen beschäftigen schon geraume Zeit die Entwicklungs- und Umweltpolitik, wobei den zu Beginn der 1970er-Jahre vom „Club of Rome“ präsentierten beängstigenden Szenarien eine wichtige Anstoßwirkung zukam. Demografische Veränderungen stellen sich jedoch keineswegs ausschließlich als Wachstumsproblem dar. In den entwickelten Industrie- und zunehmend auch in den „Schwellenländern“ ist der Umgang mit dem Altern der Bevölkerungen und dessen Konsequenzen für soziale Sicherungssysteme zu einer zentralen Agenda der Gesundheits- und Sozialpolitik geworden. Sie ist verknüpft mit potenziellen und schon gegenwärtig in ihrer Dimension anwachsenden globalen Süd-Nord-Migrationsbewegungen. Den Befunden der Bevölkerungsgeschichte bzw. der historischen Demografie kommt bei der Beurteilung der zukünftigen Entwicklung Europas und der Welt durchaus Bedeutung zu. Sie sind für eine Analyse der langfristigen Veränderungen nicht nur unabdingbar, sondern auch mit ihnen untrennbar verknüpft. „Voraussagen über die demografische Zukunft Europas konstituieren gegenwärtige Wissensbestände, die zugleich in der Vergangenheit verankert sind“ (Overath 2011: 9). Aus anthropologischer Perspektive beruhen demografische Veränderungen mit Ausnahme exogener Schocks (z. B. Kriege) auf Anpassungsleistungen
10
Bevölkerungsgeschichte – historische Demografie
menschlicher Populationen, die aus einem sich wandelnden ökologischen Umfeld resultieren. Dabei steht beim Menschen kulturelle Adaption im Vordergrund, während seine Umwelt sich biologisch anpasst (Ruffié / Sournia 2000: 229 – 239). Ökologische Herausforderungen bewirken also „kulturell“ bedingte Veränderungen der menschlichen Reproduktion, die gleichzeitig in einem kompetitiven Spannungsverhältnis zur biologischen Evolution der übrigen Organismen stehen. Dieses Verhältnis erfuhr durch die Neolithische Revolution eine erhebliche Intensivierung, wenngleich die ökologischen Effekte der Sesshaftigkeit menschlicher Populationen zunächst noch lokal begrenzt blieben. Diese Begrenzung traf jedoch auf nicht anthropogen verursachte Veränderungen der Umweltbedingungen nicht zu. Erdbeben oder Vulkanausbrüche stehen mit der Existenz der menschlichen Spezies auf der Erde in keinem Zusammenhang, beeinflussen diese jedoch durch ihre zerstörerische Wirkung unmittelbar, Letztere aber auch mittelbar durch ihren langfristigen Einfluss auf die klima tischen Bedingungen. Vor allem in ihrer auf Sonnenenergie beruhenden vorindustriellen Phase blieb die Bevölkerungs- von der Klimageschichte nicht unwesentlich mitbestimmt – und das auch durch menschliche Eingriffe in die Natur. Anthropogene Faktoren können nämlich auch schon für den vorindustriellen Klimawandel eine begrenzte Wirkung gehabt haben (Mauelshagen 2010: 77 f.). Im Lauf des 20. Jahrhunderts hatten sie mehr und mehr langfristige globale Konsequenzen. Aber nicht nur in der Moderne haben menschliche Gesellschaften auf ökologische Herausforderungen in einer Form reagiert, die entweder nicht nachhaltig war oder überhaupt deren kausaler Ursache nicht entsprach, da ihre Adaption ja nicht vorrangig genetisch erfolgt, sondern kulturell erlernt wird. In historischer Perspektive ist das Gesellschafts-Natur-Verhältnis demnach nicht zuletzt kultureller Evolution ausgesetzt (Sieferle 1997a: 37 – 53). Aus den „gesellschaftlichen Naturverhältnissen“ (Jahn /Wehling 1998: 75 – 93) lassen sich daher auch viele Befunde der historischen Demografie – Interdisziplinarität vorausgesetzt – erklären. Die sich im 20. Jahrhundert und da vor allem seit den 1970er-Jahren methodisch in vielfacher Weise weiterentwickelnde historisch-demogra fische Forschung hat ursprünglich ein wenig künstlich zwischen mikrohistorisch fundierter „moderner“ historischer Demografie und traditioneller,
Bevölkerungsgeschichte – historische Demografie
11
auf Makroebene argumentierender Bevölkerungsgeschichte unterschieden (Imhof 1977: 9 – 11). Diese begriffliche Unterscheidung erwies sich allerdings letztlich als nicht zielführend (Sokoll / Gehrmann 2003: 160 f.). Zum einen haben sich die Erwartungen an einzelne von der historischen Demografie entwickelte mikrohistorische Methoden nur zum Teil erfüllt. Ein Beispiel dafür ist die Methode der Familienrekonstitution. Dabei handelt es sich um aufwendige Rekonstruktionen von lokalen Populationen auf der Basis von Tauf-, Heirats- und Sterbematriken. Aus Familien rekonstitutionen gewonnene Ergebnisse sind nur für den immobilen Teil untersuchter Populationen repräsentativ. Da Befunde der historischen Migrationswissenschaft jedoch auch für vormoderne Bevölkerungen ein quantitativ bedeutsames Wanderungsgeschehen belegen (Hochstadt 1983), wird die Aussagekraft solcher Studien erheblich relativiert. Zum anderen ist die Frage der Repräsentativität von Mikrobefunden ohne Bezug zur Makroebene nicht zu beantworten. Vollständige Rekonstruktionen historischer Bevölkerungen mit den Methoden der Familienrekonstitution und der Bevölkerungsrückschreibung (backward projection) sind – abgesehen vom Problem der Wanderungen über territoriale Grenzen hinaus – meist arbeitstechnisch nicht zu bewältigen und mangels fehlender Quellen vielfach gar nicht durchführbar, wenn auch einzelne beeindruckende Gegenbeispiele wie die Population History of England zu nennen sind (Wrigley / Schofield 1989). Die angeführte Problematik der Erfassung von Migration macht es jedenfalls erforderlich, die historische Migrationsforschung in die Bevölkerungsgeschichte einzubeziehen, obwohl sich diese methodisch zum Teil von der (historischen) Demografie weit weg bewegt hat. Ergebnisse der historischen Migrationsforschung sind aber schon allein aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Migration neben der Fertilität und Mortalität um einen der drei demografischen Basisprozesse handelt und Migrationsbewegungen Einfluss auf Fertilität und Mortalität besitzen, für die Bevölkerungsgeschichte von Relevanz. Der Begriff „Bevölkerungsgeschichte“ sollte aber auch darum beibehalten werden, weil historisch-demografische Prozesse auch von exogenen Größen beeinflusst wurden und diese ohne Einbettung in allgemeine Ergebnisse der geschichtswissenschaftlichen Forschung nicht zu erklären wären. Bevölkerungsgeschichte hat also auch manches mit allgemeiner
12
Bevölkerungsgeschichte – historische Demografie
Politik, Wirtschafts, Sozial- und Kulturgeschichte zu tun. Dazu ein Beispiel: Der Dreißigjährige Krieg und seine Wirkungen kostete etwa ein Drittel der mitteleuropäischen Bevölkerung das Leben. Wiewohl diese drastische Konsequenz des Krieges auch mit Spannungen im System „Population“, nämlich mit Anzeichen einer „Überbevölkerung“, zu tun hatte, ist sie doch mit diesen endogenen Einflussfaktoren allein nicht zu erklären. Das heißt freilich nicht, dass traditioneller Bevölkerungs geschichte, wie sie zum Teil noch bis in die 1970er-Jahre betrieben wurde, das Wort geredet werden soll. Moderne Bevölkerungsgeschichte versteht sich als kritisch gegenüber Biologismen und „reinen“, in quantitativen Indikatoren gefassten „Wahrheiten“. Sie hat ein Quellenverständnis entwickelt, welches die gesellschaftliche Konstruiertheit einschlägiger Quellen bewusst macht (Rosental 2006). Quellenkritik bedeutet jedoch nicht den Verzicht auf verallgemeinerbare Aussagen und die interdisziplinäre Rezeption naturwissenschaftlicher Befunde.
13
2.
Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Grundsätzlich stützt sich die historisch-demografische Forschung vorrangig, wenngleich keineswegs ausschließlich, auf in der Vergangenheit durchgeführte Erhebungen der gesamten Bevölkerung oder von Teilbevölkerungen einer bestimmten territorialen Einheit nach verschiedenen Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Stand / Beruf etc. zu einem bestimmten Zeitpunkt als Bestandsgrößen und auf Erhebungen der Ergebnisse demografischer Prozesse (Geburten, Sterbefälle, Heiraten, Wanderungen) als Stromgrößen. Bestandserhebungen waren bekanntlich schon in der Antike verbreitet – eine relativ vollständig erhaltene „Volkszählung“ reicht in China sogar in das Jahr 2 n. Chr. zurück (Scharping 2005: 1). Von modernen Volkszählungen kann jedoch in der Regel erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesprochen werden. In den skandinavischen Ländern seit dem 18. Jahrhundert durchgeführte Erhebungen – im Jahr 1703 in Island, 1720 in Schweden, 1721 in Finnland und 1735 in Dänemark und Norwegen (Imhof 1976: 75, 267) – können als die frühesten Zählungen dieser Art angesehen werden. In Italien bis in das Spätmittelalter, in den meisten europäischen Ländern jedenfalls bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurück reichen regelmäßige Erhebungen der Geburten und Sterbefälle. Modernen Ansprüchen gerecht wurden sie jedoch zumeist erst im 18. Jahrhundert, da sie nun auch eine entsprechende Ausweitung auf alle Bevölkerungsgruppen, einschließlich konfessioneller Minderheiten, erfuhren und auch in den ersten Lebenstagen verstorbene Säuglinge vollständig erfassten. Hingegen stellt die Erfassung von Migrationsbewegungen zum Teil bis in die Gegenwart ein statistisches Problem dar, weil nicht gemeldete Wegzüge für eine systematische Untererfassung der Abwanderung sorgen. In der Vergangenheit lassen sich Migrationsbewegungen häufig überhaupt nur als Restgröße
14
Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
aus dem Bevölkerungssaldo 1 und indirekt über den Geburts- oder Herkunftsort von Einwohnern quantitativ fassen. Der Zusammenhang zwischen der Qualität der genannten Erhebungen und dem Entwicklungsstand der administrativen Durchdringung des Staatsgebietes wird bei den Vorläufern moderner Volkszählungen in Europa besonders deutlich. Dabei handelte es sich um Konskriptionen, die im Zusammenhang mit aufgeklärt-absolutistischen Staatsreformen in größerer Zahl durchgeführt wurden und den Anspruch der vollständigen Erfassung der Bevölkerung erhoben. Tatsächlich dienten sie jedoch mehr oder minder verdeckten militärischen und fiskalischen Zwecken. Zudem waren sie der fürstlichen Arkanpraxis unterworfen und ihre Ergebnisse daher einem breiteren Publikum nicht zugänglich. Ein gutes Beispiel solcher Konskriptionen sind die in der Habsburgermonarchie seit 1754 durchgeführten Zählungen, obwohl deren erste durch das Zusammenspiel und die Abgleichung parallel durchgeführter staatlicher und kirchlicher Erhebungen eine vergleichsweise hohe Qualität besitzt. Größter Mangel dieser Erhebungen ist die häufige Untererfassung von Frauen und Kindern und von umherziehenden, hochmobilen Bevölkerungsgruppen. Zudem hatten die zu erfassenden männlichen Personen im Rekrutenalter gute Gründe, sich der Zählung wenn möglich zu entziehen, ein Problem, welches die Durchführung der Konskriptionen bis zu ihrem Ende begleiten sollte (Tantner 2007: 202 – 219). Der enge Zusammenhang zwischen Staatsmacht, bürokratischer Durchdringung und Qualität der gewonnenen Daten zeigt sich auch in außereuropäischen Reichen und Staaten. In China fanden im betrachteten Zeitraum eine ganze Reihe von Bevölkerungserhebungen statt, wobei die Zahlen der Zählungen der Jahre 606, 742 und 1776 wahrscheinlich die Bevölkerungszahl mit einem Fehler von unter 10 % wiedergeben. Im krisenhaften 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erlauben hingegen die angesichts der schwachen Zentralmacht sehr lückenhaften Erhebungen nur mehr ganz grobe Schätzungen der chinesischen Bevölkerung. Die erste
1
Differenz zwischen der Bevölkerung zum Basis- und zum Endzeitpunkt des betrachteten Zeitraums.
Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
15
Volkszählung, die modernen Standards entsprach, stammt erst aus dem Jahr 1953 (Scharping 2005: 1 – 3). Im Zeichen von Reformation und Gegenreformation gingen den Konskriptionen des 18. Jahrhunderts aus militärischen, fiskalischen, kirch lichen, aber auch aus politischen und versorgungstechnischen Zwecken durchgeführte vorstatistische Erhebungen voran, die auch meist sekundärstatistischen Charakter trugen, d. h., sie werden erst durch moderne Bearbeitung und Aggregierung zu einer verwertbaren quantitativen Quelle. Ein prominentes Beispiel ist das Soupis poddaných podle víry, das „Untertanen-Verzeichnis nach dem Glauben“, aus dem Jahr 1651, welches etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung der böhmischen Länder erfasste (Cerman / Matušiková / Zeitlhofer 1999). Diese und andere Zählungen erfassten häufig nur Personen ab dem 8. oder ab dem 12. Lebensjahr. In Einzelfällen, wie z. B. im Herzogtum Steiermark, fanden jedoch auch kirchliche Erhebungen statt, die nahezu als Gesamterhebungen zu betrachten sind (Straka 1961). Das Problem der Untererfassung stellte sich organisatorisch in geringerem Ausmaß in überschaubaren territorialen Einheiten oder bei der Erfassung von Teilpopulationen. So wurde etwa die erste moderne Volkszählung im Jahr 1665 in Neu-Frankreich (Kanada) durchgeführt. Sie erfasste allerdings nur die nicht indianische Siedlerbevölkerung. Die ältesten dieser kleinräumigen Zählungen reichen aber wesentlich weiter zurück. Regelmäßige Bevölkerungszählungen fanden beispielsweise in Venedig spätestens ab dem Jahr 1509 statt (Cipolla 1988: 3). Die Ergebnisse der Zählung von 1509 haben sich aber nur teilweise erhalten (Beloch 1961: 5 – 7). Eine ganze Serie von Zählungen, die um die Mitte des 16. Jahrhunderts in verschiedenen italienischen Territorien durchgeführt wurden, erfasste immerhin schon erhebliche Teile des Landes, so etwa das Großherzogtum Toskana, zur Gänze. Überhaupt stellen die in der Folge auch im 17. und 18. Jahrhundert in den italienischen Territorien durchgeführten Zählungen eine Ausnahme dar, erlauben sie doch eine erstaunlich präzise Rekonstruktion der italienischen Bevölkerungsgeschichte, die auf echten Zählungsergebnissen beruht (Beloch 1961: 350 – 356). Eine frühe vollständige Erfassung einer größeren Stadtbevölkerung, die sich annähernd mit der Genauigkeit
16
Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
moderner Volkszählungen messen kann, liegt aber auch etwa für die Stadt Nürnberg für das Jahr 1449 vor (Rödel 1990: 17). Für kleine territoriale Einheiten lassen sich jedoch noch weiter in die Vergangenheit zurückreichende große sekundärstatistische Erhebungen anführen. Die frühesten stellen vier Güterverzeichnisse aus karolingischer Zeit dar, wobei das Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés (825 – 829) die größte Bedeutung besitzt. Dabei handelt es sich um ein grundherrschaftliches Güterverzeichnis von insgesamt 25 Villikationskomplexen des Klosters im Raum Paris, welches etwa 1.700 Bauernstellen und mehr als 10.000 Personen der dazugehörigen untertänigen Bevölkerung namentlich erfasst, nicht jedoch landlose ländliche Unterschichten, Lohnarbeiter und Freie (Verhulst 2002: 23 f.; Elmshäuser / Hedwig 1993: 1, 29, 31). Die natürliche Bevölkerungsbewegung dokumentieren in der europäischen Bevölkerungsgeschichte in erster Linie von den Kirchen geführte Tauf, Heirats- und Sterbematriken, die seit dem späten 14. Jahrhundert in Italien, Spanien und Städten des deutschen Sprachraums geführt wurden (Youngs 2006: 12). Die Matriken von Florenz sind sogar vollständig ab 1451 erhalten (Beloch 1965: 137). Im Allgemeinen wurde die Führung von Matriken in Europa jedoch erst im konfessionellen Zeitalter eingeführt. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts setzte sich die Matrikenführung im katholischen und protestantischen Europa weitgehend durch. Unschärfen und Untererfassungen begleiteten sie allerdings bis in das 18. Jahrhundert. In einzelnen Fällen haben sich auch Totenprotokolle, die zum Zweck der Seuchenprävention geführt wurden, in langen Zeitreihen erhalten. Die bedeutendsten sind wohl die bis in die Regierungszeit Heinrichs VIII. zurückreichenden Londoner Bills of Mortality und die Wiener „Totenbeschauprotokolle“ (erhalten ab 1648).
Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Abbildung 1 Die erste Seite des ersten erhalten gebliebenen Bandes der Wiener Totenschauprotokolle mit Eintragungen vom 22. August 1648
17
18
Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Für die vorstatistische Periode ist es möglich, in einer gewissen Bandbreite demografische Größen wie Einwohnerzahlen, Geburten- und Sterberaten 2 und ähnliche Indikatoren zu schätzen. Schon ab dem Hochmittelalter und dann vor allem im Spätmittelalter bieten Häuser- und Haushaltszahlen eine gewisse Orientierung, wenngleich die lediglich auf Annahmen beruhende Wahl des Multiplikators – Zahl der Bewohner pro Haus oder Haushalt – einen erheblichen Unsicherheitsfaktor darstellt. Es haben sich in Einzelfällen sogar fiskalisch motivierte Erhebungen erhalten, die eine umfängliche sekundärstatistische Auswertung erlauben. Über bloße Häuserzahlen hinaus bietet etwa das englische Domesday Book von 1086 für einen Großteil der nicht städtischen Bevölkerung Englands die Auflistung aller „Haushaltsvorstände“ und im Fall der Sklaven vermutlich sogar von Individuen. Trotz dieser ungewöhnlich guten Datenlage bewegen sich die Schätzungen der englischen Einwohnerzahl für das späte 11. Jahrhundert in einer Bandbreite von 1,4 bis 1,9 Millionen (Hinde 2003: 15 – 19), was auf die zahlreichen methodischen Probleme und Schwierigkeiten bei der Verwendung derartiger Quellen verweist. Noch ausführlichere Informationen enthält der in den Jahren 1427 – 1430 in Florenz erstellte Catasto, der rund 60.000 Haushalte mit 260.000 Personen erfasste (Herlihy / Klapisch 1985). Eine ungewöhnlich genaue Quelle stellt auch die Einhebung des Peterspfennigs als Kopfsteuer der gefirmten Bevölkerung im Königreich Polen dar, die zwar nicht wirklich als Kopfzählung durchgeführt wurde, aber eine sehr genaue Schätzung der Einwohnerzahl um die Mitte des 14. Jahrhunderts erlaubt (Kuhn 1973: 181 – 184). Eine ähnliche für großräumige Bevölkerungsschätzungen brauchbare demografische Quelle sind die anlässlich der osmanischen Bedrohung erfolgten Ausschreibungen des „Gemeinen Pfennigs“ für alle Einwohner über fünfzehn Jahre im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, die zwischen 1422 und 1551 elfmal durchgeführt wurden. Zählungen einzelner Stadtbevölkerungen, wenngleich nicht in der Vollständigkeit der Nürnberger Erhebung von
2
Geburten- und Sterberate beziehen die Zahl der in einem Jahr Lebendgeborenen bzw. Verstorbenen auf 1.000 der jeweiligen Bevölkerung.
Die Quellen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
19
1449, liegen seit dem Spätmittelalter in größerer Dichte vor, beispielsweise für Venedig für das Jahr 1338, Basel 1454 und Straßburg 1473/77. Auch für diese Zählungen ist jedoch von der Nichterfassung und / oder Untererfassung von Angehörigen der städtischen Unterschichten, von Frauen und von Kindern auszugehen (Kellenbenz 1986: 110 f.; Youngs 2006: 12). Zu diesen Quellen treten ergänzend Stadtbeschreibungen, diplomatische und chronikalische Berichte über Hungersnöte, Naturkatastrophen und Sittenbeschreibungen. Völlig außerhalb der Einwohnererhebungen stehen aus der Archäologie gewonnene Daten zur Größe von Siedlungen, Häusern und Wüstungen. In Verbindung mit dem Wissen über den Stand der Agrartechnologie lassen sich daraus für die Zeit geringer Siedlungsdichte und Urbanisierung sehr grobe Bevölkerungsschätzungen ableiten (Fehring 1987: 78 – 82). Aus der Paläopathologie können Rückschlüsse auf Morbidität und Mortalität von Populationen gezogen werden. Archäologische Befunde sind allerdings nur bedingt historisch-demografisch verwertbar, da zumeist keine geschlossenen Populationen ergraben werden können und es zumindest im Fall von Kindern zu häufigen Untererfassungen kommt, da ungetaufte Säuglinge manchmal außerhalb der Friedhöfe bestattet wurden oder sich Gräber von Säuglingen und Kleinkindern nicht erhalten haben. Insgesamt ist der Forschungsstand zur Bevölkerungsgeschichte der einzelnen Teile Europas quellenbedingt und aufgrund nationaler Forschungstraditionen recht unterschiedlich. Obwohl – nicht zuletzt aufgrund der dortigen liberalen Tradition (Glass 1973) – Volkszählungen in England und Wales erst relativ spät, nämlich seit 1801, durchgeführt wurden, erlaubte die hohe Dichte an Matrikendaten mittels der Methode der back projection die (eingeschränkte) Rekonstruktion der englischen Bevölkerungsentwicklung zurück bis um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Dabei wurden die Bevölkerungszahlen von der ersten verfügbaren Volkszählung rückgeschrieben, und zwar mithilfe von Tauf- und Sterbematrikdaten. Die große Unbekannte bei diesem Verfahren sind die Außenwanderungen, die allerdings zumindest für die nordamerikanischen Kolonien ebenfalls geschätzt werden konnten. Die Rekonstruktion der französischen Bevölkerung bis zum Jahr 1680 konnte sich im Gegensatz zum englischen Pendant auf Altersangaben in den Sterbematriken
stützen, die sich allerdings, was die Kleinkindersterbefälle anbelangt, als unvollständig erwiesen. Ein weiteres Problem bei der Rekonstruktion der französischen Bevölkerung stellten Migrationen vor allem der männ lichen Bevölkerung (napoleonische Kriege) dar, die eine nicht unerheb liche Lücke im Modell verursachten (Sokoll / Gehrmann 2003: 180 – 183). Das mit Abstand beste demografische Material bieten unzweifelhaft die skandinavischen Länder, die schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts so etwas wie laufend gewartete Bevölkerungsregister eingeführt und in einem im Jahr 1749 in Stockholm eingerichteten Zentralbüro verwaltet haben. Diese Register liefern Daten für das gesamte Staatsgebiet in sehr hoher Datenqualität nicht zuletzt deswegen, weil die skandinavischen Länder vergleichsweise isoliert waren und Wanderungsbewegungen eine verhältnismäßig geringe Rolle spielten. Aber auch in einigen anderen Ländern wie etwa der Schweiz, den Niederlanden und den böhmischen Ländern kann die Bevölkerungsgeschichte als gut aufgearbeitet bezeichnet werden. Am schwierigsten erweisen sich entsprechende Forschungen für jene Teile Europas, deren Rückständigkeit Zählungen behinderte oder deren Qualität beeinträchtigte. Dazu zählte vor allem der osmanische und russische Einflussbereich.
21
3.
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
Die globale demografische Entwicklung lässt sich auf einer Zeitachse als ansteigende Kurve mit exponentiellem (geometrischem) Wachstum 3 darstellen. Die letzten beiden Jahrhunderte waren dabei durch eine besondere Steilheit der Wachstumskurve geprägt, die im öffentlichen Diskurs auch gern als Bevölkerungsexplosion bezeichnet wird, obwohl die Weltbevölkerung in diesem Zeitraum nicht plötzlich „explodierte“, sondern sehr stetig an Wachstumstempo zunahm, zumindest bis in die 1960er-Jahre. Während um 10.000 v. Chr. vielleicht 1 bis 10 Millionen Menschen die Erde bewohnten (U. S. Census Bureau 2011), erreichte nach der Neolithischen Revolution die nunmehr in weiten Teilen sesshaftere Weltbevölkerung um Christi Geburt vielleicht 225 bis 250 Millionen. Das erste nachchristliche Jahrtausend war dann von erheblichen demografischen Schwankungen gekennzeichnet, wobei um das Jahr 1000 in etwa wieder der Ausgangsstand erreicht, wahrscheinlich sogar überschritten wurde. Im Zeitraum von ca. 1000 bis 1340 kam es dann global zu einem ganz erheblichen Wachstumsschub auf vielleicht 440 Millionen. Nach einem erheblichen Rückschlag waren um 1650 rund 600, um 1800 950 Millionen, um 1900 1,65 und um 1950 2,5 Milliarden erreicht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kletterte die Weltbevölkerung schließlich auf mehr als 6 Milliarden. Gegenwärtig sind bereits 7 Milliarden erreicht. In durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten ausgedrückt, lag das globale Bevölkerungswachstum bis um das Jahr 1000 unter 0,05 %, dann bis Mitte des 18. Jahrhunderts in sehr bescheidenen Dimensionen von 0,1 bis 0,2 %. Erst danach stieg es erheblich an und erreichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im langjährigen Durchschnitt rund 1,8 %.
3
Wachstum mit einem bestimmten konstanten Prozentsatz.
22
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus Weltbevölkerung in Millionen: Schätzungen nach ... Biraben
McEvedy/Jones
Malanima/UN
1
255
170
250
1000
254
265
250
0,00
1340
443
440
0,17
600
0,10
Jahr
1650
545
JVR *
1750
770
720
770
0,25
1850
1.241
1.200
1.240
0,48
1950
2.527
2.500
2.532
0,72
2000
6.123
1,78
2010
6.892
1,19
Malanima Jahr
Europa **
Welt
Anteil Europas
1
43
250
17,2
500
41
200
20,5
1000
43
260
16,5
1340
87
440
19,8
1500
84
460
18,3
1700
125
680
18,4
1800
195
954
20,4
1900
422
1.650
25,6
2000
818
6.175
13,2
JVR * 1 – 2000
0,15
0,16
* JVR: durchschnittliche jährliche Veränderungsrate ** einschließlich Russland
Tabelle 1 Europäische Bevölkerung und Weltbevölkerung 1 – 2010
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
23
Welche Rolle spielte nun Europa im globalen Kontext? Ab wann kann von einer europäischen Bevölkerungsgeschichte eigentlich erst gesprochen werden, und was ist an ihr überhaupt „europäisch“? Wenn man vom geografischen Begriff Europa einmal abstrahiert, ist der Beginn einer im weitesten Sinne europäischen Bevölkerungsgeschichte frühestens etwa um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends anzusetzen, wenngleich der Entstehungsprozess die gesamte zweite Hälfte des ersten nachchrist lichen Jahrtausends zeitlich umfasste. Bis in das 5. Jahrhundert bildete das Imperium Romanum als mit Abstand bevölkerungsreichstes territoriales Gebilde auf heutigem europäischen Boden eine den gesamten Mittelmeerraum umfassende politische, ökonomische und bis zu einem gewissen Grad kulturelle Einheit, sodass es wenig Sinn macht, dessen europäische Bevölkerungsteile von den asiatischen und nordafrikanischen zu trennen, was auch aufgrund der dünnen Quellenlage kaum möglich wäre. Die mit hoher Unsicherheit zu schätzende Bevölkerungszahl des Imperiums dürfte wohl zu keinem Zeitpunkt deutlich über 50 Millionen gelegen haben (Van Houtte 1980: 15). Wie sich aus der politischen Geschichte unschwer ableiten lässt, war die Bevölkerung der in Europa gelegenen Teile des Imperium Romanum jedenfalls seit dem 5. Jahrhundert rückläufig, ohne dass die Rückgänge genau bezifferbar wären. Im späten 5. Jahrhundert zerfiel sein westlicher Teil, und auch wenn es im 6. Jahrhundert dem oströmischen Reich noch einmal für wenige Jahrzehnte gelang, einen großen Teil des Mittelmeerraums zurückzuerobern, verlor Ostrom endgültig in den Kriegen mit den Arabern seine imperiale Position und wurde zur Mittelmacht „Byzanz“. Damit zerbrach nicht nur eine romanisierte Mittelmeerwelt. „Die Untergangsphase des Römischen Reiches ist gleichbedeutend mit den Geburtswehen Europas. Am Ende des 1. Jahrtausends reichten das entwickelte Europa und der Club der christlichen Monarchien nicht mehr bis zur Elbe wie im Jahr 500 n. Chr., sondern bis an die Wolga.“ Das Ausmaß merkantiler, kultureller und demografischer Austauschbeziehungen hatte nun ein Niveau erreicht, das den Begriff „Europa“ in den Köpfen der Menschen mit Bedeutung erfüllte (Heather 2011: 349, 548). Ein größer werdender Teil der Bevölkerung des Kontinents lebte in diesem Europa in klimatisch weniger begünstigten, auch zum Teil sehr kleinteiligen Zonen. So etwas wie „das“ europäische Klima hat es nie
24
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
gegeben. Um die Spannweite der klimatischen Bedingungen Europas zu charakterisieren: Der Zeitraum zwischen dem letzten Frost des endenden und dem ersten des darauffolgenden Winters beträgt in Südeuropa mehr als 300 Tage, im nördlichen Russland zwei bis drei Monate (Livi-Bacci 1999: 31). Dennoch lässt sich ein langfristiger Trend der Klimakurve auf der nördlichen Hemisphäre festmachen, der in groben Zügen den Klima verlauf zutreffend beschreibt. Kühle Perioden waren die Spätantike und das Frühmittelalter und die Zeitspanne von etwa 1300 bis 1900, die sogenannte Kleine Eiszeit (Malanima 2010a: 102). Die kältesten und auch niederschlagsreichsten zehn der letzten 500 Jahre fielen in den Zeitraum 1592 bis 1601 (Mauelshagen 2010: 65 f.). Die Kleine Eiszeit fand im Zeitraum 1675 bis 1715 im sogenannten Late Maunder Minimum 4 ihren Höhepunkt. Während als primäre Ursache der Klimaschwankungen vor allem Veränderungen der Sonnenaktivität infrage kommen, erfuhr die globale Abkühlung während des Late Maunder Minimum durch heftige Vulkanausbrüche in Teilen Asiens eine Verschärfung (Mauelshagen 2010: 78 – 84; Geiss 2007: 31). Klimatischen Ungunstlagen kam nicht zuletzt darum erhöhte Bedeutung für das Leben und Überleben der zunächst in weiten Teilen des Kontinents auf kleinen Siedlungsinseln lebenden Menschen zu, weil sie entsprechende Auswirkungen auf die lange Zeit sehr bescheidenen Ernteerträge hatten, aus denen ein erheblicher Teil der menschlichen Nahrung hergestellt wurde. Zwar verdichteten sich im Lauf des Hoch- und Spätmittelalters und dann vor allem in der frühen Neuzeit die Austauschbeziehungen, doch blieb die Abhängigkeit von den Erträgen lokaler und regionaler Agrarproduktion ganz erheblich. Das hatte auch demografische Konsequenzen. Potenzielle Nahrungsmittelknappheit und Hunger beeinflussten den spezifischen gesellschaftlichen Umgang mit Geburt, Krankheit und Tod. Als historischdemografische Charakteristika Europas wären etwa das European Marriage Pattern, das extramediterrane europäische Agrarsystem oder aber auch der spezifische Verlauf des „Demografischen Übergangs“ zu nennen. Aus der weiten anthropologischen Perspektive unterschied sich die Wachstumskurve der europäischen Bevölkerung vom Frühmittelalter
4
Benannt nach dem Solar-Astronomen Edward W. Maunder (1851 – 1928).
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
25
bis in die jüngere Gegenwart von der globalen nicht wesentlich. Vermutlich mehr als 40 Millionen Menschen besiedelten den Kontinent einschließlich der asiatischen Gebiete der früheren Sowjetunion um die Jahre 500 und 1000, rund 100 um 1700, 360 um 1913, mehr als ein halbe Milliarde um die Jahrtausendwende. Die Ähnlichkeit der Kurven endet allerdings im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, denn nun zeigt die Wachstumskurve in Europa – und in den außereuropäischen Industrieländern – im Gegensatz zur Dritten Welt eine ziemlich deut liche Verflachung. Auf die demografische Entwicklung der letzten rund 60 Jahre geht auch der längerfristige Unterschied in den durchschnitt lichen jährlichen Wachstumsraten zurück. Die europäische Bevölkerung (einschließlich Russlands) ist in den letzten eineinhalb Jahrtausenden um 0,20 %, die Weltbevölkerung um 0,23 % jährlich gewachsen. Diese sehr langfristige Perspektive relativiert also die rezenten demografischen Wachstumsungleichgewichte zwischen Industrieländern und Dritter Welt und verweist darauf, dass sie keineswegs so festgeschrieben sind, wie das der entwicklungspolitische Diskurs der letzten Jahrzehnte suggeriert. Es mag beispielsweise überraschen, dass der Bevölkerungsanteil des „vormodernen“ Asien, das mit China und Indien in Vergangenheit und Gegenwart die mit Abstand bevölkerungsreichsten Reiche bzw. Staaten beheimatet, an der Weltbevölkerung um das Jahr 1800 mit über 70 % deutlich über jenem der Gegenwart mit knapp über 60 % lag (UN 2009: 4). Die rezent exponentiell steil nach oben zeigende hypergeometrische Wachstumskurve der Weltbevölkerung hätte ein Mann wohl als Bestätigung seiner „Theorie“ aufgefasst, der um das Jahr 1800 Bevölkerungswachstum in einem vieldiskutierten Essay problematisierte. Thomas Robert Malthus (1766 – 1834), ein anglikanischer Geistlicher aus Surrey, der gemeinsam mit Adam Smith und David Ricardo das Dreigestirn der klassischen Ökonomie bildete, postulierte, dass sich die Bevölkerungsentwicklung ohne bewusste menschliche Eingriffe mit geometrischem Wachstum, die Erhöhung der Bodenerträge jedoch nur linear 5 steigern würden. Menschen wären daher gezwungen, immer schlechtere (Grenz-)
5
Wachstum mit einem bestimmten absoluten Betrag.
26
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
Böden zu erschließen und zu bewirtschaften. Der geringere Ertrag dieser Anbaugebiete drücke die entsprechenden Einkommen, mit der Konsequenz multipler Anstiege der Sterblichkeit, die Malthus als positive checks bezeichnete. Die demografische Wirkung dieser positive checks ebenso wie jene vorbeugender Maßnahmen (preventive checks) – Einschränkung der menschlichen Reproduktion durch „Enthaltsamkeit“ – könnten aber mittel- und langfristig den Lauf des demografischen Wachstums nicht aufhalten. Zu stark sei der menschliche Vermehrungstrieb, zumindest bei den Armen und damit bei der überwiegenden und, wie Malthus mutmaßte, aufgrund ihres generativen Verhaltens zunehmenden Mehrheit der Bevölkerung (Malthus 1985: 59 – 218). Nach Malthus würde jedenfalls der Storch den Wettlauf mit dem Pflug gewinnen, wie es ein deutscher Demograf anlässlich des 200. Jahrestages der Veröffentlichung des Essays on the Principle of Population pointiert formuliert hat (Schmid 1999: 81 – 86). In den folgenden, stark erweiterten und veränderten Ausgaben seines Werkes relativierte Malthus seine pessimistische Prognose bis zu einem gewissen Grad, gestand der Industrialisierung eine mildernde Wirkung und der Auswanderung die Funktion eines Bevölkerungsventils zu. Im Kern hielt er aber weiterhin den vorindustriellen Bevölkerungszyklus weder für überwunden noch für überwindbar (Winkler 1996: 127, 207). Der Zeitpunkt des Erscheinens von Malthus’ Essay im ausgehenden 18. Jahrhundert war keineswegs zufällig. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erlebte der eurasische Kontinent ein anhaltendes Bevölkerungswachstum bei sich verschlechternden Überlebensbedingungen (Pomeranz 2000: 211 – 242). Diese von Zeitgenossen wie Malthus als bedrohlich wahrgenommene demografische Situation beförderte in England eine Debatte über das System der vergleichsweise großzügigen englischen Armengesetze, die noch aus elisabethanischer Zeit stammten (Old Poor Law). Im Gegensatz zu einigen philanthropischen Aufklärern agitierte Malthus gegen die Armenhilfe, würde sie doch die Armen seiner Meinung nach nur zur Zeugung und Gebärung weiterer Kinder ermuntern (Sieferle 1990: 81 – 111). Malthus war allerdings keineswegs der Erste, der sich mit demogra fischen Fragen beschäftigte, und er war auch nicht der Erste, der im ausgehenden 18. Jahrhundert vor der sich abzeichnenden Dynamik des
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
27
Bevölkerungswachstums warnte. Aber keiner seiner Vorläufer und Zeitgenossen malte ein derartig apokalyptisches Bild der zukünftigen Entwicklung an die Wand, und vielleicht gerade darum blieb er bis heute der einflussreichste „Demograf“ in der Wissenschaftsgeschichte. Vorerst stießen Malthus’ Thesen allerdings nicht auf breite Akzeptanz. In einer späteren Ausgabe seines Essays bemerkte Malthus lakonisch: „Norwegen ist, glaube ich, das einzige Land in Europa, wo ein Reisender Ansätze der Besorgnis wegen einer überschüssigen Bevölkerung hören wird […]“ (Malthus 1900: 209). Tatsächlich herrschte in Kontinentaleuropa im Geist merkantilistischer Populationistik die Idee einer „volkreichen Gemein“ als ein bevölkerungspolitisch anzustrebendes Ziel vor, wie es der „österreichische“ Merkantilist Johann Joachim Becher (1635 – 1682) mehr als ein Jahrhundert davor formuliert hatte. Dieser pronatalistische Diskurs wurde im 18. Jahrhundert in den Rahmen einer göttlichen Ordnung – so der preußische Geistliche und Demograf Johann Peter Süßmilch – gestellt. Süßmilch und andere Vertreter der optimistischen Naturtheorie des 18. Jahrhunderts gingen davon aus, dass dieser Ordnung ein Gleichgewichtszustand zwischen Bevölkerung und Ernährungsbasis entspreche, der sich langfristig immer wieder einstelle (Sieferle 1990: 68 f.). In den 1830er- und 1840er-Jahren gewann malthusianisches Denken jedoch immer mehr Anhänger, die Malthus’ Prognosen durch das Elend des frühen Industrieproletariats und dessen sprunghafter Vermehrung bestätigt sahen. Aber viele seiner Epigonen propagierten nicht laissez-faire, wie jedenfalls noch der frühe Malthus, sondern aktive Bevölkerungspolitik (Rainer 2005: 78 – 81). Damit war der Weg zum Neomalthusianismus gewiesen, der den „späten“ Malthus insofern rezipierte, als er auf Familienplanung und Heiratsverbote setzte. Im Lauf des 19. Jahrhunderts wurde Malthus’ Prognose jedoch mehr und mehr von den Fakten widerlegt, zunächst weniger, weil er die Bevölkerungsdynamik, als vielmehr, weil er die Möglichkeiten der Ausweitung der landwirtschaftlich genutzten Flächen und die Erhöhung der landwirtschaftlichen Erträge durch Steigerung der Arbeitsproduktivität unterschätzt hatte. Die Versorgungslage blieb jedoch noch einige Jahrzehnte – vor allem aufgrund der hohen Transportkosten – prekär. Im Rahmen der Ernährungsgeschichte Europas reicht das 18. Jahrhundert,
28
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
wie treffend formuliert wurde, bis in die 1840er-Jahre. Die letzten schweren durch Ernteausfälle verursachten Hungersnöte in Europa westlich von Russland fielen in die ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts: in Deutschland in die Jahre 1816/17 und 1846/47, in Irland in die Jahre 1845 bis 1848. In Finnland ereignete sich im Jahr 1867 die letzte große Subsistenzkrise (Osterhammel 2009: 302). Aber schon in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts war das Wachstum des agrarischen Outputs in einem großen Teil der werdenden Industrieländer deutlich über dem Bevölkerungswachstum gelegen, besonders in Nordamerika und Australien. Auf der Basis dieser Outputüberschüsse sorgte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die „Delokalisation des Hungers“ durch die Einführung neuer Transport- und Konservierungstechniken für das Ausbleiben von Hungersnöten (Montanari 1993: 188 – 192). Die Ackerfläche wurde im Zeitraum von ca. 1860 bis 1910 in Europa, Russland und den westlichen „Außenposten“ (Nordamerika, Australien u. a.) von 255 Millionen auf 439 Millionen ha erweitert, vor allem in den USA und Russland (Grigg 1992: 19). Auf die übrige Welt traf das freilich nicht zu. Im Zeitraum von 1870 bis 1913 stieg die Agrarproduktion pro Kopf in den Industrieländern um 0,55 % jährlich, während sie im Rest der Welt stagnierte (Federico 2009: 16 – 19). Das hatte nicht zuletzt mit den jeweils gebräuchlichen und verbreiteten Anbauformen zu tun. Der etwa in Süd- und Mittelchina betriebene arbeitsintensive Nassreisanbau erlaubte keine vergleichbare „Agrarrevolution“. Außerdem bestanden keine mit Europa und seinen Außenposten einschließlich Sibiriens vergleichbaren Reserven an kultivierbarem Land, zumindest wenn man den damaligen Stand der Agrartechnologie berücksichtigt. Zudem fehlte es etwa in China im späten 19. Jahrhundert am Zugang zu Kunstdünger (Osterhammel 2009: 318 f.). Ähnliche Einschränkungen lassen sich auch für den indischen Subkontinent und Südostasien treffen. Im 20. Jahrhundert ergriff eine auf den Einsatz von Kunstdünger basierende echte Agrarrevolution allerdings immer größere Teile Erde. Die globale Dimension dieser Ausweitung wird u. a. daraus ersichtlich, dass gegenwärtig 80 – 90 % des kultivierbaren Landes auf der Welt auch tatsächlich genutzt werden (Persson 2010: 44). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schien sich zunächst das Malthus’sche Szenario in der Dritten Welt nachträglich zu bestätigen.
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
29
Malthus fand wieder Beachtung vor allem im angloamerikanischen Raum (Coleman / Schofield 1988), manchmal in einer evolutionsbiologistischen Form (Galor 2011: 232-284). Seine Wiederentdeckung verdankte Malthus der Kritik an der Entwicklungshilfe. Schon um 1970 sprachen sich Einzelne, wie der englische Mediziner Maurice King, für ein laissez-faire in der Entwicklungspolitik aus (Rainer 2005: 170). Bevölkerungspolitische Programme traf der – nicht immer ungerechtfertigte – Vorwurf, dass sie keine Wirkung zeigten, also letztlich wie die Armenunterstützung zwei Jahrhunderte davor angeblich reine Geldverschwendung seien (Connelly 2008). Darüber hinaus ging diese Denkrichtung so weit, Entwicklungshilfe als unmoralisch zu diskreditieren, da die begrenzten Ressourcen der Erde das Erreichen des Entwicklungsniveaus der Industrieländer durch große Teile der Dritten Welt ohnehin nicht zulassen würden (Birg 1996: 132). Auch das klassische malthusianische Argument, Bevölkerungswachstum erzeuge unausweichlich Hunger, tauchte im Überbevölkerungsdiskurs erneut auf (Rainer 1995: 207). Mittlerweile gibt es allerdings massive Hinweise, dass Malthus auch diesmal irren könnte, da sich auch in zahlreichen Teilen der Dritten Welt, ob nun mit west licher Hilfe oder ohne sie, Anzeichen einer langfristigen demografischen Wachstumsverlangsamung zeigen. Das Wachstum der Weltbevölkerung erreichte in absoluten Zahlen 1989/90 seinen höchsten Wert und die Wachstumsrate schon 1963/64. Seitdem sinken beide Größen kontinuierlich (Münz / Reiterer 2007: 114). Ein Rückzugsgebiet fanden Anhänger des malthusianischen Modells jedoch in der Behauptung, es sei jedenfalls das klassische Erklärungsmuster für das demografische Geschehen in der vorindustriellen Welt. Das englische Bevölkerungswachstum im Zeitraum von 1680 bis 1820 schien diese Annahme zu untermauern. Nach einschlägigen Berechnungen waren dem Sinken des Heiratsalters im ökonomisch prosperierenden vor- und frühindustriellen England rund 80 % des Wachstums zuzuschreiben. Das Reproduktionsverhalten der englischen Unterschichten entsprach also dem malthusianischen Modell (Boyer 1989). Für andere Perioden der englischen Bevölkerungsgeschichte ist dieser Zusammenhang aber nicht in der gleichen Weise zu belegen (Wrigley 2004: 348 f.).
30
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
Nun soll keineswegs behauptet werden, Malthus’ Beobachtungen wären völlig unzutreffend gewesen. Beispielsweise erbrachte eine ökonometrische Analyse für Frankreich im Zeitraum von 1677 bis 1734, dass Schwankungen der Getreidepreise immerhin 46 % der Schwankungen aller Sterbefälle mit Ausnahme der Kleinkinder erklären können. Für einen vergleichbaren Zeitraum in England betrug der Prozentsatz jedoch nur 24 % (Galloway 1988: 275 – 304). Aber abgesehen davon, dass solche Modellrechnungen von der gewählten Methode und den berücksichtigten intervenierenden Variablen abhängen, wird aus diesen Beispielen allein ersichtlich, dass sich die als checks beschriebenen Mechanismen nicht in diesem Ausmaß generalisieren lassen, wie das Malthus und seine Apologeten suggerieren. So bewirkte beispielsweise die Verdoppelung der Getreidepreise in Nordfrankreich infolge des Jahrtausendwinters von 1709 wohl eine Verdoppelung der Sterberate, im englischen Winchester blieb hingegen die Sterblichkeit konstant, und in der Toskana ging der Anstieg der Sterblichkeit dem Preisanstieg voran. Überhaupt hatten schon im frühneuzeitlichen England Preisanstiege und damit verbundene sinkende Reallöhne nur sehr begrenzte Auswirkungen auf die Sterblichkeit. Weder 1647 noch 1649 oder 1710 kam es zu einem nennenswerten Anstieg der Mortalität (Livi-Bacci 1999: 74 – 76). Positive checks fanden also nicht im erwarteten Ausmaß statt, nicht zuletzt, weil Hunger und Unterernährung nicht nur ein Problem des Nahrungsmittelangebots, sondern auch eines der Verteilung sind. Indirekte Effekte von Ernteausfällen wie durch sie verursachte Migrationsbewegungen bei unterentwickelten Märkten trugen oft eher zu Mortalitätsanstiegen bei als Folgen von Unterernährung (Walter / Schofield 1991: 53 f.). Die „Verwundbarkeit“ einer bestimmten Population (Mauelshagen 2010: 95 – 97) ist also mit Bezug auf die Mortalität das eigentliche Kriterium, wie auch eine vergleichende Studie zur Ernte- und Teuerungskrise der frühen 1770er-Jahre in der Schweiz und in Böhmen belegt. Letztere sorgte in Böhmen für einen demografischen Einbruch, in der Schweiz jedoch nicht (Pfister / Brázdil 2006).
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus 3000000
2500000
2000000 Böhmen
1500000
1000000
500000
90 17
88 17
86 17
84 17
82 17
80 17
78 17
76 17
74 17
72 17
70 17
17
68
0
Grafik 1 Bevölkerung in Böhmen 1768 – 1790 (nach Konskriptionen)
Die unterschiedliche Verwundbarkeit von Gesellschaften verweist auf einen weiteren Kritikpunkt: den postulierten Mechanismus zwischen Bevölkerungswachstum und Realeinkommen. Ganz im Gegensatz zu den Annahmen von Malthus konnte empirisch gezeigt werden, dass Bevölkerungswachstum langfristig keineswegs notwendigerweise zu sinkenden Realeinkommen führt. “This is the crucial criticism because it suggests that a positive shock to technology and wages can have permanent effects not on population but on real wages as well” (Persson 2010: 49). Die Unterschätzung des Einflusses des technologischen Fortschritts und zudem auch der positiven Effekte der internationalen Arbeitsteilung bei Malthus überrascht. Vor allem Letztere hätten Malthus, den Augenzeugen des Aufstiegs Großbritanniens zum „Exportweltmeister“, nicht entgehen dürfen. Aber selbst wenn man die genannten Einflussfaktoren beiseite lässt, stellt sich die Frage der Relevanz des von Malthus beschriebenen Krisen mechanismus im vorindustriellen Europa, in Nordamerika und Australien. Ganz abgesehen davon, dass ungeklärt bleibt, ab welchem Zeitpunkt die Qualität der Grenzböden zu sinkenden Einkommen führt, spielte deren Bewirtschaftung in Europa lediglich in der ersten Hälfte des 14., gegen Ende des 16. Jahrhunderts oder aber auch im 18. Jahrhundert eine gewisse, gleichwohl regional begrenzte Rolle, in den von
32
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
europäischen Auswanderern besiedelten Überseegebieten aber praktisch überhaupt nicht. Und auch in Europa gab es Landreserven: Im 18. Jahrhundert waren in Ostpreußen, in der pannonischen Tiefebene und in Südrussland ganz erhebliche Neubesiedlungsgebiete mit sehr ertragreichen Böden verfügbar. Über weite Strecken der europäischen Bevölkerungsgeschichte war der Kontinent ohnehin dünn besiedelt und der Mangel an ertragreichen Böden nicht das zentrale Problem, sondern viel eher ein Mangel an Menschen. Waren diese in genügender Zahl vorhanden, so produzierten die in der Landwirtschaft Tätigen in steigendem Maße und mit erhöhter Effizienz für den Markt. In Norditalien, den Niederlanden, in Südostengland und im Pariser Becken entwickelten sich schon im Spätmittelalter Zonen hoher agrarischer Produktivität. Es gab genug Dünger aufgrund der hohen urbanen Bevölkerungsdichte, und agrartechnische Fortschritte verbreiteten sich rasch (Persson 2010: 51). Eine Grundannahme der klassischen Ökonomie erweist sich demnach für die vorindustriellen Verhältnisse als ziemlich unerheblich (Grantham 1999). Die Kritik an Malthus geht jedoch über seine fragwürdigen ökonomischen Annahmen hinaus. Wer die europäische wie auch die globale Bevölkerungskurve bis weit in das 19. Jahrhundert betrachtet, dem fallen auf den ersten Blick jene tiefen demografischen Einschnitte auf, die die großen Seuchenbewegungen – in Eurasien und Nordafrika vor allem die Pest – erzeugten. Ab der Neolithischen Revolution waren menschliche Gesellschaften bis weit in das 19. Jahrhundert primär Agrargesellschaften, die durch das enge Zusammenleben von Menschen und Tieren gekennzeichnet sind. In solchen entstehen Zoonosen, von Tier zu Mensch wechselseitig übertragbare Infektionskrankheiten. Die Erreger von Zoonosen können mutieren und von Parasiten der Tiere zu Parasiten des Menschen werden, so etwa im Fall der Rinder die Tuberkulose, im Fall der Schweine die Grippe. Über das Wasser, die Luft oder die Blutbahn verbreiten sie sich endemisch und nicht zuletzt epidemisch. Nun ist die Letalität bei manchen dieser Infektionskrankheiten von den materiellen Lebensverhältnissen – Ernährung, Wasserversorgung, Wohnbedingungen – abhängig. Unterernährte Menschen fielen bestimmten Seuchen, vor allem jenen, die die Verdauungsorgane angriffen, viel eher zum Opfer als andere. Infektionen beschleunigten auch im Lebenslauf
Europas Bevölkerungsentwicklung und Malthus
33
den Ausbruch degenerativer Erkrankungen, die in den modernen Industriegesellschaften in der Regel auf das höhere Alter beschränkt bleiben (Fogel 2004: 32). Es gibt aber eine Reihe von Infektionskrankheiten, deren Morbidität und Letalität nur wenig vom Ernährungszustand des infizierten Individuums abhängt (Lunn 1991: 137). Dazu zählen mit der Pest und den Pocken zwei epidemisch auftretende Infektionskrankheiten, von denen erstere die Bevölkerungsentwicklung Europas im Früh- und Spätmittelalter und im 16. und 17. Jahrhundert ganz entscheidend beeinflusste, während letztere im 18. Jahrhundert eine wichtige, wenngleich mit der Pest nicht ganz vergleichbare Rolle spielte. Damit werden dem Erklärungsgehalt der Malthus’schen checks deutliche Grenzen gesetzt, die in der Epidemiologie sowie in der Klimageschichte und nicht in der Wirtschaftsgeschichte zu suchen sind (Lee / Anderson 2002: 217). Auch der Zusammenhang zwischen materiellen Lebensverhältnissen und Sterblichkeit ist keineswegs so einfach, wie das Malthus dachte. Der Ernährungszustand kann einerseits durch Veränderungen in der Verfügbarkeit der Nahrungsmittel, andererseits aber auch infolge von Änderungen des menschlichen Energiebedarfs durch Schwankungen von Arbeitsintensität, Klima und Krankheiten beeinflusst werden. Im Extremfall führt dauernde Unterversorgung menschlicher Populationen zum Bevölkerungsrückgang durch den mittel- oder unmittelbaren Hungertod. Leichte Unterernährung kann jedoch das Immunsystem sogar stärken (Walter / Schofield 1991: 18 f.). Um die Sache noch komplizierter zu machen, gibt es historisch und gegenwärtig zudem unterschiedliche Niveaus des Ernährungszustandes mit gleichem relativen Sterberisiko (Fogel 2004: 23 – 27).
35
4.
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Bei der Betrachtung der europäischen Bevölkerungsentwicklung lassen sich zwei voneinander grundlegend zu trennende Phasen unterscheiden. Während die „vormoderne“ Bevölkerungsgeschichte durch ein hohes Maß an Bestimmtheit durch die natürlichen Rahmenbedingungen menschlicher Reproduktion geprägt war und der Einfluss der in Agrargesellschaften verbreiteten Zoonosen zu einem Auf und Ab der demografischen Entwicklung beitrug, hat sich im 19. und 20. Jahrhundert die Industriegesellschaft von dieser Abhängigkeit gelöst, wenngleich Infektionskrankheiten als stille, häufig allerdings nicht letale Bedrohung bestehen geblieben sind. Malthusianisch ist die „vormoderne“ Phase nur insofern zu nennen, als in ihr auch die von Malthus beschriebenen preventive checks und positive checks eine gewisse Rolle gespielt haben, nicht jedoch im Sinne eines allgemein gültigen demografischen Regimes. Gemäß dem Gewicht biologischer Einflussgrößen und als positive checks interpretierbarer Krisenmortalität und -fertilität 6 unterschied sich die vormoderne von der modernen Phase der europäischen Bevölkerungsgeschichte durch den Gegensatz zwischen einem Auf und Ab und einem mit Ausnahme der beiden Weltkriege kontinuierlichen, wenngleich im 20. Jahrhundert sich verlangsamenden Wachstum. Die erste demografische Auf- und Ab-Phase erlebten und erlitten die in Europa lebenden Menschen im Frühmittelalter. Das 6. Jahrhundert stand in Europa eindeutig im Zeichen sich verschlechternder Lebensbedingungen, die allein bereits einen Bevölkerungsrückgang bewirkt hätten (McCormick 2001: 38 – 40). Den nachdrücklichsten Einfluss hatten jedoch die
6
Das durch ökonomische, politische oder andere Krisen unmittelbar ausgelöste Ansteigen der Sterblichkeit und Sinken der Fertilität.
36
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
sogenannten justinianischen Pestwellen. Diese Pestwellen erreichten Europa um das Jahr 540 und hielten bis Mitte des 8. Jahrhunderts an. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts dürfte ein Tiefpunkt mit Bevölkerungsverlusten von rund einem Drittel bis zur Hälfte der Ausgangsbevölkerung erreicht worden sein. Nach einer Schätzung von J. C. Russell schrumpfte im Zeitraum von ca. 500 bis 650 die Bevölkerung in Südeuropa von 13 auf 9 Millionen, in West-, Mittel- und Nordeuropa von 9 auf 5,5 und in Osteuropa von 5,5 auf 3,5 (Russell 1983: 21). Die folgende „karolingische“ Aufschwungphase konzentrierte sich auf West- und (Ost-)Mitteleuropa. Sie wurde getragen von einer Siedlungsbewegung gegen Osten und ist in erster Linie siedlungsgeschichtlich und hinsichtlich der wachsenden Größe von Siedlungseinheiten zu fassen. Archäologische und einzelne demografische Befunde lassen auf eine Verdopplungszeit der Bevölkerung im 8. und 9. Jahrhundert von 50 bis 150 Jahren schließen (Verhulst 2002: 25; Toubert 1997: 102). Der Aufschwung wurde allerdings durch Hungersnöte und die politische Destabilisierung der späten Karolinger- und frühen Ottonenzeit (Wikinger, Sarazenen- und Magyareneinfälle) unzweifelhaft gebremst. Im langfristigen Vergleich dürfte der Bevölkerungsstand der Spätantike um die Jahrtausendwende wieder erreicht, vielleicht sogar leicht überschritten worden sein. In Italien um die Mitte des 10. Jahrhunderts, im übrigen Europa etwa ein halbes Jahrhundert später, setzte nun ein wesentlich länger anhaltender demografischer Aufschwung erheblichen Ausmaßes ein. Die Bevölkerung Europas ohne Russland dürfte sich im Zeitraum von ca. 1000 bis 1300 mehr als verdoppelt haben. Der breite demografische Anstieg bildete sich in einer höchst dynamischen Städtegründungsphase und verschiedenen Kolonisationsbewegungen siedlungsgeschichtlich ab, wobei der sogenannten deutschen Ostkolonisation die größte Bedeutung zukam. Die Bevölkerung der Mittelmeerländer wuchs unterdurchschnittlich, während jene West- und Mitteleuropas sich annähernd verdreifacht haben dürfte. Nur in Teilen Osteuropas verursachte der Mongolensturm von 1241 einen temporären demografischen Rückschlag. So ist die Bevölkerung des Königreich Ungarns, die um 1240 etwa 1,2 bis 1,5 Millionen umfasste, wahrscheinlich um rund 200.000 geschrumpft (Russell 1983: 21; Kristó 2007: 49). Die von 1300/50 bis 1450/1500 reichende, nicht nur demografische spätmittelalterliche Krise stand am Beginn der Kleinen Eiszeit, einer
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
37
Verschlechterung der klimatischen Bedingungen in weiten Teilen E uropas in Form von niedrigen Temperaturen und Niederschlagsarmut (in Osteuropa). Hungersnöte erschütterten im zweiten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts weite Teile Europas. Der fundamentale Schock der großen Pestwelle von 1348/53, gefolgt von weiteren Wellen, stellte aber das zentrale demografische Ereignis dar, sodass zu Recht vom Zeitalter des „Schwarzen Todes“ gesprochen werden kann. Der ersten Pestwelle fiel ein Drittel, wenn nicht möglicherweise die Hälfte der europäischen Bevölkerung zum Opfer, die folgenden Wellen verhinderten für etwa ein Jahrhundert eine entsprechende demografische Erholung. Verschärft wurden die Bevölkerungsverluste durch langwierige kriegerische Auseinandersetzungen, insbesondere den Hundertjährigen Krieg in Frankreich und die Hussitenkriege in (Ost-)Mitteleuropa. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mehrten sich Anzeichen eines Aufschwungs, sodass nach 1500 zum Teil annähernd wieder das Ausgangsniveau von vor der großen Pest erreicht wurde, nicht jedoch in den Mittelmeerländern und in England. Das 16. Jahrhundert war dann von einem sehr ausgeprägten und breiten Bevölkerungsboom gekennzeichnet. Insgesamt dürfte die europäische Bevölkerung in diesem Jahrhundert nach einer plausiblen Schätzung von rund 70 auf 90 Millionen gewachsen sein. Das entsprach einer Wachstumsrate von 0,25 % (ohne das Gebiet der späteren Sowjetunion). Nicht ganz zufällig waren die wirtschaftlich entwickelten Gebiete auch die Hauptgewinner dieses Aufschwungs. Im späteren Großbritannien nahm die Bevölkerung von etwa 4 auf 6, in den Niederlanden von etwa 0,95 auf 1,5 Millionen zu, was jährlichen Wachstumsraten von etwa 0,45 % entsprach. Auch im deutschsprachigen Raum war das Wachstum ausgeprägt. Diese Wachstumspole verweisen auf die steigende demografische Bedeutung der großen urbanen Gewerbe- und Handelszentren und damit auf ein demografisches Wachstum, welches aus dem allmählichen Entstehen einer rudimentären Weltwirtschaft zumindest teilweise erklärt werden kann. In den schon zuvor vergleichsweise dicht besiedelten Regionen Italiens und in Frankreich fiel das Wachstum etwas schwächer, in absoluten Zahlen allerdings ebenfalls durchaus beträchtlich aus (Maddison 2001: 241).
38
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Territorium
Zeitraum
um 1500
um 1600 Zähleinheit
Königreich Neapel *
1501 – 1595
254.380
540.090 besteuerte Feuerstätten
Sizilien
1501 – 1607
490.000
831.944 Einwohner
Sardinien
1485 – 1603
26.263
Schweiz
1500 – 1600
582.000 – 605.000
895.000 – Einwohner 940.000
Herzogtum Steiermark
1528 – 1617
373.000
478.000 Einwohner
66.669 Feuerstätten
* Ohne Neapel Stadt
Tabelle 2 Bevölkerungswachstum im 16. Jahrhundert in ausgewählten Territorien
Um 1600 befand sich Europa in etwa in jener Situation, wie sie um 1300 bestanden hatte. Das 17. Jahrhundert kann dann nicht nur in Europa, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt als Krisenjahrhundert bezeichnet werden. Es wurde geprägt von Krieg, Hungersnöten und erneut schweren Pestausbrüchen, die bis zu einem gewissen Grad durchaus in einem systemischen Zusammenhang standen (Parker 2008). Dennoch war die Wirkung dieser apokalyptischen Plagen nicht mit jener des „Zeitalters des Schwarzen Todes“ zu vergleichen. Das lag vor allem daran, dass Pestepidemien nicht flächendeckend auftraten, nicht die Stärke der Epidemie von 1348/53 hatten, aber auch an der raschen ökonomischen und demografischen Regenerationsfähigkeit der boomenden atlantischen Ökonomien. Besonders stark betroffen von der Krise waren Norditalien und Spanien, vor allem durch die Folgen der schweren Pestepidemie von 1630/31 und 1647/52, und Mitteleuropa, das im Dreißigjährigen Krieg rund ein Drittel seiner Bevölkerung verlor. Hingegen kompensierten die aufsteigenden westeuropäischen Mächte nicht nur die durch (Bürger-) Kriege verursachten Bevölkerungsverluste, sondern verzeichneten trotz mancher Einbrüche insgesamt eine positive Bevölkerungsbilanz. Nordund Osteuropa waren hingegen ebenfalls durch krisenhafte politische Entwicklungen, die in eine Serie von Kriegen mündeten, in ihrer demografischen Wachstumsdynamik gehemmt. Insgesamt nahm im 17. Jahrhundert die europäische Bevölkerung daher nur leicht zu. Das „lange“ 18. Jahrhundert (1700 – 1820) sah wieder einen beträcht lichen Bevölkerungsanstieg von rund 100 auf 170 Millionen. Das entsprach
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
39
einer Wachstumsverdopplung im Vergleich zum 16. Jahrhundert. Das durchschnittliche jährliche Wachstum in Europa lag nun auf einem Niveau, wie es in England und den Niederlanden im 16. Jahrhundert bestanden hatte, in Osteuropa sogar etwas darüber. Der demografische Aufschwung des 18. Jahrhunderts wurde durch eine noch vornehmlich auf dem Arbeitseinsatz beruhende Steigerung der Agrarerträge und durch Ansätze von Massenfertigung in der Produktion (Verlag, Manufaktur), die mit der Verbreitung von Lohnarbeit verbunden waren, begleitet. Dies ließ das durchschnittliche Heiratsalter sinken und die Fertilität ansteigen. Sieht man von Großbritannien ab, kam die größte Bedeutung jedoch dem Ausbleiben der Pestepidemien ab etwa 1720 zu. Lediglich der Balkan und das Russische Reich wurden auch noch danach von Pestepidemien heimgesucht. Der demografische Schwerpunkt des Wachstums lag weiter im Nordwesten, auf den Britischen Inseln und in den Niederlanden. Nach dem Zeitalter der napoleonischen Kriege, die den Wachstumspfad für rund zwei Jahrzehnte unterbrachen, erlebte Europa von etwa 1820 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs seine größte demografische Expansion. Im langjährigen Durchschnitt betrug die Wachstumsrate 0,75 %, etwas mehr in Ost, etwas weniger in Westeuropa. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden in Teilen Nordwesteuropas, in England, Irland und Norwegen, sogar durchschnittliche Wachstumsraten um 1,5 % und darüber erreicht (Grigg 1980: 237; Wrigley 2004: 348). Die Expansionsphase war zunächst in den 1820er- bis 1840er-Jahren durch ein Aufgehen der Schere zwischen den Geburten und Sterbefällen in vielen Teilen Europas geprägt, was sich aus einem noch nicht sehr ausgeprägten Rückgang der Sterblichkeit erklärt (Chesnai 1992: 54 f.). Unterbrochen wurde diese Wachstums- durch eine Krisenphase um die Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Phase sanitärer Not, vor allem in den wachsenden Großstädten. Die Überlebensverhältnisse waren dort nun so schlecht, dass man von einem urban penalty 7 (Gerry Kearns) sprechen kann. Ab etwa 1870 setzte dann auf breiter Ebene jene transitorische Phase des
7
Der Begriff bezeichnet die (groß)städtische Übersterblichkeit im Vergleich zu den Sterblichkeitsverhältnissen in ländlichen Zonen.
40
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Demografischen Übergangs ein, die durch einen dauerhaften, lediglich durch den Ersten Weltkrieg und dessen unmittelbare Nachkriegsjahre unterbrochenen Rückgang der Mortalität und einen verzögerten, phasen verschobenen der Fertilität gekennzeichnet war. Wesentlicher Wachstumsmotor war nun der enorme Anstieg der Lebenserwartung 8, vor allem infolge der sanitären Revolution, dem nach der Jahrhundertwende eine breite Medikalisierung 9 und ein von der größeren biografischen Planbarkeit getragener Wandel des generativen Verhaltens in Richtung Kleinfamilie folgte (Leonard / Ljungberg 2010).
Land/Region
1
1000
JVR *
1500
JVR
1600
JVR
1700
JVR
in 1.000 Westeuropa
25.050
25.560
0,00
57.332
0,16
73.778
0,25
81.460
0,10
4.750
6.500
0,03
13.500
0,15
16.950
0,23
18.800
0,10
Europa (ohne SU)
29.800
32.060
0,01
70.832
0,16
90.728
0,25
100.260
0,10
früh. Sowjetunion
3.900
7.100
0,06
16.950
0,17
20.700
0,20
26.550
0,25
USA, Kanada etc.
1.120
1.870
0,05
2.800
0,08
2.300
-0,20
1.750
-0,27
Osteuropa
Lateinamerika
5.600
11.400
0,07
17.500
0,09
8.600
-0,71
12.050
0,34
Asien
168.400
182.600
0,01
283.800
0,09
378.500
0,29
401.500
0,06
Afrika
17.000
32.300
0,06
46.610
0,07
55.320
0,17
61.080
0,10
Welt
225.820
267.330
0,02
438.492
0,10
556.148
0,24
603.190
0,08
* JVR: durchschnittliche jährliche Veränderungsrate
Tabelle 3 Bevölkerungsentwicklung in Europa und anderen Weltteilen 1 – 2003
8
9
Die Lebenserwartung bei der Geburt bezeichnet die durchschnittliche Zahl von Lebensjahren, die ein bestimmter Geburtsjahrgang unter der im Beobachtungsjahr gemessenen altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeit durchlebt. Letztere wird auf der Basis sogenannter Periodensterbetafeln berechnet. Rationalisierung des gesellschaftlichen Umgangs mit Gesundheit und Krankheit auf der Basis der Ergebnisse (sozial)medizinischer Forschung.
41
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
In der Weltkriegsepoche kam es zu einer Halbierung des demografischen Wachstums, das sich nun im langjährigen Durchschnitt zwischen 0,3 und 0,4 % bewegte. In den entwickelten Industriestaaten schloss sich die Schere zwischen Geburten und Sterbfällen wieder und ein posttransitorischer Zustand gemäßigten Wachstums trat ein. In Deutschland und Österreich führte eine Geburtendepression zu ungewöhnlich niedrigen, bis in die Gegenwart nicht mehr unterschrittenen Fertilitätsniveaus. Diese Geburtendepression wurde durch eine „Abtreibungsrevolution“ verstärkt, wahrscheinlich sogar wesentlich mitbestimmt.
1820
JVR
1870
JVR
1913
JVR
1950
JVR
2003
JVR
in 1.000 133.040
0,41
187.504
0,69
260.975
0,77
304.941
0,42
394.604
0,78
36.457
0,55
53.557
0,77
79.530
0,92
87.637
0,26
121.434
0,80
169.497
0,44
241.061
0,71
340.505
0,81
392.578
0,39
516.038
0,79
54.765
0,61
88.672
0,97
156.192
1,33
179.571
0,38
287.601
1,16
11.231
1,56
46.088
2,86
111.401
2,07
176.457
1,25
346.233
2,16
21.591
0,49
40.399
1,26
80.935
1,63
165.938
1,96
541.359
3,65
710.375
0,48
765.233
0,15
977.361
0,57
1.382.777
0,94
3.733.967
2,56
74.236
0,16
90.466
0,40
124.697
0,75
228.181
1,65
853.422
3,70
1.041.695
0,46
1.271.919
0,40
1.791.091
0,80
2.525.502
0,93
6.278.620
2,39
Die fatalen Wirkungen beider Weltkriege sorgten für eine zusätzliche Wachstumsbremse. Dass trotz der gefallenen Soldaten und zivilen Opfer – im Ersten Weltkrieg ohne Zivilopfer unter der russischen Bevölkerung vielleicht 12 bis 13 Millionen Europäer (Overmans 2009: 664 f.), im Zweiten Weltkrieg mindestens 50 Millionen, davon rund 18 Millionen nicht sowjetische und bis zu 37 Millionen sowjetische Opfer (einschließlich der asiatischen Teilrepubliken) (Overmans 1990: 103 – 121; Ehmer 2004: 14; Rianovosti vom 7.5.2009) – die Bevölkerung Europas langfristig weiter zunahm, lag an der angesichts der schwierigen ökonomischen
42
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Rahmenbedingungen erstaunlichen Fortsetzung des rasanten Anstiegs der Lebenserwartung, zum Teil auch an der noch relativ hohen Fertilität in Ost, Südost- und Südeuropa. Kurzfristig nach 1945 und vor allem seit den späten 1950er-Jahren erlebte Europa einen Babyboom bei anhaltendem kontinuierlichen Anstieg der Lebenserwartung. Dieser Anstieg wurde nun durch materiellen und medizinischen Fortschritt – Verbreitung von Antibiotika und Immunisierung – getragen. Der Aufbau von Wohlfahrtsgesellschaften und ein Revival traditioneller Familienbilder schufen ein pronatalistisches gesellschaftliches Klima, welches durch einen fortschrittsoptimistischen Mainstream zusätzlichen Auftrieb erhielt. Das demografische Wachstum lag nun wieder bei den vor 1914 erreichten Werten – in Westeuropa im Zeitraum von 1950 bis 1973 bei 0,7 %, in Osteuropa bei 1 %, in der Sowjetunion sogar bei 1,4 % (Maddison 2007: 376). Der bereits vor der massenhaften Verbreitung der Antibabypille einsetzende, aber durch sie massiv verstärkte „Pillenknick“ beendete jedoch den Babyboom ziemlich abrupt und endgültig. Vor dem Hintergrund eines säkularen Wandels von Familienleitbildern und -funktionen kam es zu einer neuerlichen Halbierung des Wachstums bei einer annähernden Stagnation der Geburtsbevölkerung. Zuwächse ergaben sich jedoch direkt durch außereuropäische Zuwanderung, indirekt durch die überdurchschnittliche Fertilität dieser Zuwanderergruppen aus der Türkei, den ehemaligen Kolonien der europäischen Großmächte sowie nach und nach auch aus anderen Teilen der Dritten Welt. Seit den 1970er-Jahren mutierte Europa endgültig zum Einwanderungskontinent. Der Anstieg der Lebenserwartung setzte sich in dieser Phase kontinuierlich fort. Eine Ausnahme bildeten lediglich kurzfristig die ehemaligen Sowjetrepubliken, die von einer ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationskrise betroffen waren. Dort sank sogar zumindest temporär die Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung. Insgesamt erreichte das Bevölkerungswachstum in Europa nur noch relativ bescheidene Dimensionen, in Europa außerhalb der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten rund 0,3 % jährlich (Maddison 2007: 376). Im kontinentalen Vergleich stellte sich die Entwicklung nach groben Schätzungen wie folgt dar: Im Zeitraum von ca. 500 bis 1000 stagnierte
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
43
die eurasische Bevölkerung, jene Nordafrikas schrumpfte sogar beträchtlich. Hingegen erlebte das tropische Afrika vermutlich eine Verdoppelung seiner Bevölkerung und jene der beiden Amerikas nahm vielleicht um rund ein Drittel zu (McEvedy / Jones 1978: 206 – 317; Russell 1983: 22). Von etwa 1000 bis 1500 war erstmals eine Sonderentwicklung Europas festzustellen, die von der hochmittelalterlichen Expansionsphase bestimmt wurde. Das Wachstum bis etwa 1300, vor allem das im 13. Jahrhundert, war so ausgeprägt, dass trotz der Pestwelle von 1348/53 die durchschnittliche Wachstumsrate mit 0,16 % fast doppelt so hoch ausfiel wie in Asien. In der frühen Neuzeit bis etwa 1820 lagen Europa und Asien vom demografischen Wachstumstempo her wieder gleich auf. In der Phase der Industriellen Revolution(en) und danach wich das Bevölkerungswachstum in Europa und seiner transatlantischen Außenposten in Amerika und Australien wieder stärker vom Rest der Welt ab. Im Zeitraum von 1820 bis 1913 betrug die Wachstumsrate in Europa 0,75 %, in Asien 0,34 %, weltweit rund 0,6 %. Im 20. Jahrhundert kehrte sich dieses Verhältnis um, wobei die Unterschiede immer größer wurden. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung in Teilen der Dritten Welt erheblich zu. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts war das asiatische Bevölkerungswachstum etwa sechs Mal so hoch wie das europäische. Der demografische Aufstieg Europas fand also vor allem im 19. Jahrhundert statt (Osterhammel 2009: 184 f.) und war von sinkender Mortalität bestimmt. Lediglich Japan, dessen Entwicklung zunächst relativ isoliert von der asiatischen verlief und welches nach der MeijiRevolution einen der europäischen Entwicklung ähnlichen Wandel zu einer Industriegesellschaft erlebte, bildete eine Ausnahme. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Japan lag um 1820 und auch um 1900 nahe bei der westeuropäischen (Maddison 2001: 30).
44
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Jahr Europa JVR* 0
31
China ** 59 – 71
China *** Indien **** CH + Ind 50
35
85
60
41
101
50
JVR*
Eur = 100
50 100
37
0,18
44
0,17
40
-0,10
36
-0,11
30
-0,18
22
-0,31
22
0,00
25
150 200
49 – 56 0,09
230
47
97 -0,02
269
45
53
98
0,01
445
0,13
56
43
99
0,01
396
28
0,11
48
38
86 -0,14
307
1000
30
0,07
59
40
99
0,14
330
1050
32
0,13
1100
35
0,18
73 – 108
83
48
131
0,28
374
1150
42
0,37
1200
49
0,31
98 – 123
115
69
184
0,34
376
1250
57
0,30
1300
79
0,65
96
100
196
0,06
248
1350
54
-0,76
1400
57
0,11
72
74
146 -0,29
256
1450
60
0,10
1500
70
0,31
103
95
198
0,31
283
1550
73
0,08
1600
91
0,44
160
145
305
0,43
335
1650
90
-0,02
1700
102
0,25
150
175
325
0,06
319
1750
121
0,34 267 – 274
1800
154
0,48
330
180
510
0,45
331
1850
218
0,70 380 – 435
412
236
648
0,48
297
250 300 350 400 450 500 550 600
46 – 54
650 700 750 800
45 – 56
850 900 950
57 – 80
45
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte Jahr Europa JVR*
China **
China *** Indien **** CH + Ind
JVR*
Eur = 100
1900
295
0,61 341 – 500
415
290
705
0,17
239
1950
395
0,59
547
444
991
0,68
251
2000
510
0,51
1.264
1.280
2.544
1,90
499
* JVR: durchschnittliche jährliche Veränderungsrate ** Bandbreite der Schätzungen nach den Originalangaben der Zählungen von 2, 141, 606, 742, 1086, 1195, 1391, 1776, 1851 und 1911 *** Schätzung nach Malanima **** Einschließlich Pakistan und Bangladesch
Tabelle 4 Bevölkerung Europas (ohne Russland), China und Indiens 0 – 2000
In der vormodernen, sonnenenergiebasierten Periode der globalen Bevölkerungsgeschichte unterschieden sich die Ausgangsbedingungen Europas von jenen Asiens nicht unerheblich. Mit Blickrichtung auf die sich im 19. und 20. Jahrhundert stellende Problematik hoher demografischer Wachstumsraten könnte man etwas simplifizierend formulieren: Das Problem der demografischen Entwicklung in Asien lag darin begründet, dass etwa China und Indien in ihren Kernzonen schon vor 1.500 bis 2.000 Jahren wesentlich dichter besiedelt waren als der europäische Kontinent. Tatsächlich lässt sich für das vorindustrielle Europa und Asien für die Zeit um 1600, die man auch für den Zeitraum davor als repräsentativ ansehen kann, ein enormer Unterschied in den Landreserven zeigen. Um 1600 betrug die Zahl der Menschen pro km2 kultivierbarem Land in Japan 856, in China 477, in Indien 269, in Europa jedoch nur 60. Diesem Vorteil stand im extramediterranen Europa ein klimatischer Nachteil, das raue Klima, gegenüber. Dementsprechend entwickelte sich in diesem Teil Europas in weit größerem Ausmaß als in Asien ein synergetisches Zusammenspiel zwischen Ackerbau und Viehzucht. Die geringen Erträge des Brotgetreides bedurften der Ergänzung durch tierisches Eiweiß, mangels menschlicher Arbeitskraft war der Einsatz des Viehs im Ackerbau unbedingt erforderlich. Im 11. Jahrhundert stammten bereits 70 % der in Europa eingesetzten Energie von Tieren und Wassermühlen, nur 30 % von Menschen (Malanima 2010a: 31, 85 f.; Landsteiner 2011: 182). Die mit hohem menschlichem Arbeitseinsatz betriebenen Monokulturen in den großen asiatischen Reichen erwiesen sich mit wachsender Bevölkerungsdichte als krisenanfälliger als die
46
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
kleinteiligere, „gemischte“ landwirtschaftliche Produktion in Europa. Dementsprechend war im Zeitraum von 1400 bis 1800 die Zahl der Opfer von Naturkatastrophen und daraus resultierenden Hungersnöten in China und Indien weit höher als in Europa (Jones 1991: xxviii, 30 – 35; Sieferle 2002: 176 – 183). Es bleibt allerdings festzuhalten, dass die dichtbevölkerten ökonomischen Kernzonen Ostasiens und Nordwesteuropas Ende des 18. Jahrhunderts unter ganz ähnlichen ökologischen Stressfaktoren litten und sich der durchschnittliche Ernährungszustand der Bevölkerung auch in der Folge im krisenhaften 19. Jahrhundert in Asien nicht entscheidend verschlechterte (Pomeranz 2000: 241), ebenso wie er sich in Europa bei der überwiegenden Mehrheit nicht entscheidend besserte. Der Einsatz fossiler Energie in Form von Kohle erhöhte das Energie potenzial dramatisch und leitete in den werdenden Industrieländern den Abschied von den Sonnenenergiesystemen ein, die einer positiven Energiebilanz bedurften, um eine für das Überleben ausreichende Nahrungsmittelproduktion sicherzustellen. Seit Ende des 16. Jahrhunderts wurde Kohle verstärkt in England und den Niederlanden als Energieträger eingesetzt, hatte aber selbst Ende des 18. Jahrhunderts im übrigen Europa noch geringe Bedeutung (Malanima 2010a: 79 – 82). Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war jedoch ein auf fossiler Energie beruhendes Energiesystem in Europa in voller Entfaltung. Im 19. Jahrhundert verdreifachte sich durch den Einsatz von Kohle und Dampfmaschinen die weltweite Energiegewinnung, im 20. Jahrhundert wuchs sie dann um das Dreizehnfache, weil nun auch Erdöl und Erdgas als Energieträger eine zunehmende Rolle spielten (McNeill 2003: 29). Das heißt nicht, dass das Problem der ausreichenden Versorgung der europäischen Bevölkerungen mit Nahrungsmitteln damit mit einem Schlag gelöst gewesen wäre. Es dauerte noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts, bis das der Fall war. Immerhin sorgte bis dahin auch die Überseewanderung von Europäern für eine gewisse Entlastung. Im Zeitraum von 1841 bis 1915 reduzierte sie das Bevölkerungswachstum Westeuropas um 25 bis 30 % (Livi-Bacci 1999: 175 f.). In Summe sollte die Wirkung der Überseewanderung als Wachstumspuffer allerdings nicht überschätzt werden. Selbst am Höhepunkt der Auswanderungswelle um 1900 lag die jährliche
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
47
Emigrationsrate 10 bei 3 Promille, in den südeuropäischen Ländern allerdings bei 5 (Chesnai 1992: 183). Berücksichtigt man die Rückwanderung, wird der langfristige Entlastungseffekt weiter relativiert. Aufgrund ihres technologischen Vorsprungs konnten Europa und seine Außenposten jedoch ihren Vorsprung in der Nutzung von Energie in einen industrielltechnologischen Vorsprung verwandeln, der weit über die unmittelbare Sicherung der Subsistenz der europäischen Bevölkerungen hinaus die Basis für jene technophysio evolution (Robert W. Fogel)11 lieferte, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den „biologischen Lebensstandard“ (John Komlos) in immer neue Höhen trieb. Diese Evolution, von der in den letzten Jahrzehnten auch Teilbevölkerungen in den Schwellenländern und der Dritten Welt profitierten, hatte allerdings ihren demografischen Preis: Im 20. Jahrhundert dürften schätzungsweise 25 bis 40 Millionen Menschen weltweit der Luftverschmutzung zum Opfer gefallen sein (McNeill 2003: 120 f.). Die moderne Bevölkerungsgeschichte der außereuropäischen Welt war allerdings keineswegs eine reine blood, sweat and tears story, wie das im entwicklungspolitischen Diskurs manchmal scheinen mag. Nach 1750 und dann vor allem nach 1800 wurden in Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bereits sehr hohe Wachstumsraten erreicht. So vervierfachte sich die Bevölkerung Mittelamerikas im Zeitraum von 1825 bis 1900 (Grigg 1980: 238). Der Wachstumspfad wurde jedoch in diesen Teilen der Welt durch innere und äußere Krisen immer wieder unterbrochen. Ein Beispiel für solche demografischen Schocks aus der rezenteren Bevölkerungsgeschichte Chinas sind etwa die Folgen des „Großen Sprungs“ von 1958/62. Die Lebenserwartung bei der Geburt sank in der Volksrepublik China aufgrund einer brachialen Industrialisierungspolitik im Eiltempo, die deren Folgen auf den Einbruch der landwirtschaftlichen 10 Auswanderer bezogen auf 1.000 der Herkunftsbevölkerung. 11 Der Begriff bezeichnet physische Veränderungen menschlicher Bevölkerungen, die nicht als Ergebnis der biologischen Evolution, sondern durch Umwandlung von Energie in Form von Ernährung und Wärme in Arbeit zum Zweck des Wachsens, Überlebens (auch im Sinn der Stärkung der Immunabwehr) und der menschlichen materiellen und geistigen Weiterentwicklung entstanden sind.
48
Die Phasen der europäischen Bevölkerungsgeschichte
Produktion ignorierte, kurzfristig von 43 auf 27 Jahre (Banister 1987). Erst als durch den Import westlicher Technologien, die im Rahmen der sanitary revolution entwickelt worden waren, Mortalitätskrisen seltener und in ihrer Wirkung schwächer wurden, begründete dies ab der Mitte des 20. Jahrhunderts den Wachstumsvorsprung, ja die Bevölkerungsexplosion der Dritten Welt. Westliche Technologien sorgten auch dafür, dass die Sterblichkeit in vielen Schwellenländern rasch unter die vergleichbare der Industrieländer, bezogen auf den Zeitpunkt, an dem diese ein bestimmtes wirtschaftliches Entwicklungsniveau erreicht hatten, fiel (Mercer 1990: 151). Dieser Import leitete den Mortalitätsrückgang in der Dritten Welt ein, dem ein Fertilitätsrückgang in den Schwellenländern und seit Kurzem auch in Teilen der Dritten Welt gefolgt ist. Der besonders junge Altersaufbau dieser Populationen, der als „Python-Effekt“ 12 noch zwei bis drei Generationen die absoluten Geburtenzahlen nach oben drückt, obwohl die Fertilität bereits gesunken ist, hat jedoch zur Folge, dass auch in diesen Schwellenländern – mit Ausnahme einiger entwickelter Industrienationen wie Japan, Südkorea und Taiwan – die Schere zwischen Geburten- und Sterbefällen sich noch nicht geschlossen hat. Die ökologischen Rahmenbedingungen des Demografischen Übergangs in der Dritten Welt sind zudem auch deutlich schlechter, als das in Europa der Fall war. Die Fläche des bebaubaren Landes pro Kopf liegt in weiten Teilen der unterentwickelten Länder deutlich unter jener Europas im 19. Jahrhundert (Grigg 1980: 250). Dennoch ist auch in weiten Teilen der Dritten Welt an der Wende zum 3. Jahrtausend eine demografische Wachstumsverlangsamung auf Basis eines Rückgangs der Fertilität unverkennbar. Im Besonderen trifft das auf die jungen Industrienationen China und Indien zu, die mit Abstand bevölkerungsreichsten Länder der Gegenwart. So betrug das Bevölkerungswachstum in China im Zeitraum von 1990 bis 2010 durchschnittlich nur noch 0,9 % jährlich, jenes in Indien im Zeitraum von 2000 bis 2010 1,5 % (UN 2009).
12 Dieser Effekt bezeichnet das Nachrücken starker Geburtenjahrgänge in einer Alterspyramide, ein Prozess, der optisch Ähnlichkeit mit dem Verdauungsprozess einer Python nach erfolgreicher Jagd aufweist.
49
5.
Das Zeitalter der Pest
Um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends bildete der mediterrane Raum eines jener durch intensive Handelsbeziehungen konstituierten Krankheitssammelbecken, welche epidemisch und endemisch auftretenden Infektionen sehr günstige Verbreitungsbedingungen boten. Besonders viele Opfer forderten diese Krankheiten, wenn sie in ihrer epidemischen Form erstmalig auf nichtimmune Bevölkerungen stießen. Solche Seuchenkatastrophen waren der antiken römischen Welt und auch dem fernen China der Han-Dynastie, den beiden damals bevölkerungsreichsten Imperien, keineswegs fremd. Keine dieser Seuchen sollte jedoch für die weitere Bevölkerungsgeschichte des eurasischen und nordafrikanischen Raums jene singuläre Bedeutung erlangen wie die Pest. Der Überträger der gegen Ende des 19. Jahrhunderts bakteriologisch als Yersinia pestis identifizierten Krankheit Pasteurella pestis existierte wohl zumindest seit den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in den unterirdischen Höhlensystemen am Fuß des Himalajas, in Ostafrika und vielleicht auch schon in den eurasischen Steppengebieten als stabile, unter Nagetieren verbreitete Infektion. Über diese Nagetiere wurde er auf Rattenpopulationen übertragen, für die er ebenso letale Wirkung zeigte wie für nicht immunisierte Menschen. Durch Schiffsratten und deren Flöhe gelangte er um 540 über die ägyptische Landbrücke in den östlichen Mittelmeerraum (McNeill 1978: 128 – 148). Damit war mit dem Ausbruch der „justinianischen Pest“ ein neues epidemiologisches Zeitalter eingeläutet. Die außerhalb des indischen Subkontinents und Mesopotamiens in der Regel epidemisch auftretende Pest wird durch den Biss eines Rattenflohs von Ratte zu Ratte übertragen. Über den Rattenfloh gelangt sie an Menschen, bei denen infolge der Übertragung bestimmte Lymphknoten zu Beulen anschwellen, daher auch die Bezeichnung „Beulenpest“. Kommt
50
Das Zeitalter der Pest
es dabei zu einer Blutvergiftung (Septikämie), verbreitet sich der Erreger auch über Menschenflöhe. Pestseptikämien, die zu Lungenentzündungen führen, werden als „Lungenpest“ primär durch Tröpfcheninfektion übertragen (Winkle 1997: 422). Die Letalität bei historischen Ausbrüchen der Beulenpest betrug zwischen 20 und 75 %, während die Erkrankung an den übrigen Pestarten mit dem nahezu sicheren Tod gleichzusetzen war (Bulst 2005: 146). Überlebende erlangten lediglich eine begrenzte Immunisierung, die auch genetisch nicht weitergegeben werden konnte. Die Pest suchte daher nach ihrem Erstauftreten zunächst nach einem Schachbrettmuster nicht betroffene Gebiete, dann in etwa zehnjährigen Wellen die betroffenen Bevölkerungen heim. Nicht immunisierte Kinderpopulationen zählten während der Folgewellen zu den bevorzugten Opfern. Möglicherweise entsprang der Ausbruch der justianischen Pest einer meteorologischen Anomalie. Im Jahr 536 verursachte der sogenannte dust-veil-event 13 eine sehr starke Abkühlung auf der nördlichen Erdhalbkugel (Baillie 1994). Das könnte eine biologische Kettenreaktion in den unterirdischen Verbreitungsgebieten des Pesterregers ausgelöst haben (Campell 2010: 14). Vermutlich aus dem äthiopischen Hochland eingeschleppt, nahm die justinianische Pest im Jahr 541 ihren Ausgang im antiken Pelusium in Ägypten. Durch zahlreiche zeitgenössische Berichte ist sie eindeutig als Beulenpestepidemie zu identifizieren. Ihre verheerende Wirkung erklärt sich aus zwei Faktoren: Sie traf auf eine nicht immunisierte Bevölkerung, und ihre Verbreitung wurde durch den Niedergang der römischen Zivilisation begünstigt. In den spätantiken Städten hatte sich die Entsorgungssituation dramatisch verschlechtert. Seit dem 6. Jahrhundert fanden daher schwarze Ratten hier ideale Lebensbedingungen vor (Mc Cormick 2007: 307 f.). Über den Handelsverkehr im Mittelmeerraum gelangte der Erreger in alle städtischen Zentren dieses Raumes. Innerhalb der Städte verbreitete sich die Pest über die stark angewachsenen Rattenpopulationen (Sallares 2007: 267).
13 Dabei handelte es sich um eine Naturkatastrophe, die sich in Form eines außergewöhnlichen Anstiegs der Säureablagerung im arktischen Eis um die Jahre 533 und 534 nachweisen lässt.
Das Zeitalter der Pest
51
Die demografische Situation im mediterranen Raum stellte sich damals recht unterschiedlich dar. Während die asiatischen Teile des oströmischen Reiches noch florierten, hatten die von germanischen, hunnischen und anderen Invasoren heimgesuchten, in Europa gelegenen Teile des Römischen Reiches, im Besonderen sein Westteil, schon schwere materielle und demografische Einbußen erlitten. Erst das 7. Jahrhundert brachte dann auch für den byzantinischen Raum einen starken Rückgang der Zahl der Siedlungen und Bewohner (Mc Cormick 2001: 33). Dieser Rückgang war vorrangig eine Folge der Pest. Ihren Namen erhielt sie von Kaiser J ustinian, dessen Residenz- und Hauptstadt sie schwer heimsuchte. Von Konstan tinopel aus verheerte sie große Teile des Mittelmeerraumes, in erster Linie natürlich die Handelszentren. Allein die erste Pandemie erstreckte sich über die Jahre 541 bis 544. Bis Mitte des 8. Jahrhunderts erreichten mindestens weitere 15 Pestzüge größere Teile Europas. Sie hinterließen in den Kernzonen einen demografischen Trümmerhaufen. Konstantinopel, vor dem ersten Pestausbruch noch eine Stadt mit vielleicht einer Million Einwohner, war in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts auf maximal 40.000 bis 50.000 Einwohner geschrumpft (Brandes 2005: 202). Viele byzantinische und andere mediterrane Großstädte verdienten ihren Namen nicht mehr. Auch periphere Teile des Kontinents wie die Britischen Inseln blieben nicht verschont. Das angelsächsische England war, wie die Chronisten Adomnán und Beda Venerabilis berichteten, von zwei schweren Ausbrüchen der Jahre 664 bis 666 und 684 bis 687 hart betroffen. Diese erstreckten sich auf Gebiete ganz unterschiedlicher Bevölkerungsdichte: Die Pestopfer fanden sich nicht nur in den größeren Klostergemeinschaften, sondern auch in vielen kleinen ländlichen Siedlungen (Maddicott 2007: 173 – 177). Es gibt allerdings deutliche Hinweise, dass bestimmte Teile West- und Mitteleuropas von der Pest im 6. und 7. Jahrhundert weitgehend verschont blieben. In Südwestfrankreich und im südlichen Burgund dürfte sich die Bevölkerung vom Beginn des 6. bis zur Mitte des 7. Jahrhunderts verdoppelt haben (Verhulst 2002: 26), in Teilen Mitteleuropas erhöhte sie sich, wenn man die Zahl der Bestatteten als Schätzmaßstab nimmt, um das Drei- bis Fünffache. Mit Blick auf die Neugründung von Friedhöfen wurde sogar von einer frühmittelalterlichen Bevölkerungsexplosion in diesem Raum gesprochen (Jankuhn 1977).
52
Das Zeitalter der Pest
Um die Mitte des 8. Jahrhunderts verschwand die Pest aus Europa, und ihr Verschwinden stellt noch immer ein Rätsel dar. Es könnte durch einen drastischen Rückgang der Rattenpopulation oder durch die Entwicklung einer Immunität der Ratten gegenüber dem Pesterreger zu erklären sein (Mc Cormick 2007: 310). Denn obwohl die schwarze Hausratte archäologisch seit dem 11. Jahrhundert in den westeuropäischen Städten wieder nachweisbar ist (Jankrift 2003: 77), sollte es rund sechs Jahrhunderte dauern, ehe die Pest nach Europa zurückkehrte. Über die Rahmenbedingungen dieser Rückkehr sind wir weit besser informiert als über ihr Verschwinden im quellenarmen Frühmittelalter. Die demografische Expansionsphase des Hochmittelalters ging gegen Ende des 13. Jahrhunderts zu Ende. Dank der günstigen klimatischen Bedingungen waren in einem außergewöhnlichen Ausmaß periphere Lagen wie alpine Almen oder sogar Teile Grönlands besiedelt worden. Die damalige Bevölkerungsdichte in diesen Regionen wurde zum Teil erst im 20. Jahrhundert wieder erreicht und übertroffen (Cipolla 1988: 160). Doch nun mehrten sich Zeichen eines demografischen Patts (Herlihy 2007: 30 – 37), welches in Jahren klimatischer Ungunst in Hungerkatastrophen großen Ausmaßes kippen konnte. Und gerade die Klimabedingungen verschlechterten sich erheblich. In Westeuropa kühlte es merklich ab, verbunden mit sehr viel mehr Niederschlägen, in Osteuropa nahm dagegen die sommerliche Hitze und Dürre zu. Es war daher kein Zufall, dass die größte, nahezu ganz Europa erfassende Hungerkatastrophe des Mittelalters in die Jahre 1315/22 fiel (Behringer 2007: 142). Diese Katastrophe dämpfte das vorangegangene Bevölkerungswachstum, ja führte da und dort sogar zu Bevölkerungsrückgängen, die jedoch in keiner Weise vergleichbar waren mit dem, was drei Jahrzehnte später eintrat: die Pestkatastrophe von 1348 bis 1353. Auffällig an der Vorgeschichte des neuerlichen Einbruchs der Pest war erneut das Auftreten ungewöhnlicher Klimaanomalien in Form enormer Schwankungen, die die Krankheitserreger vermutlich zu höchster Virulenz trieb (Campell 2010: 15 – 20). Im Sommer 1342 ereignete sich das „Jahrtausendhochwasser“. Besonders schwer betroffen war Mitteleuropa. Die Wasserstände lagen ca. 1,5 Meter über den heutigen Markierungen. Weitere Flutkatastrophen folgten (Glaser 2001: 66). Als schließlich die Pest
Das Zeitalter der Pest
53
ausbrach, war das am Höhepunkt einer fast ein Jahrhundert andauernden globalen Abkühlungshase (Campell 2010: 23 f.). Mit verschlechterten Lebensbedingungen hatte der Ausbruch der Seuche jedoch nur sehr indirekt zu tun. Unter den hygienischen und materiellen Verhältnissen des 14. Jahrhunderts war die Übertragung nicht aufzuhalten, aber dies hätte auch für die Jahrhunderte davor gegolten, zumal es den Menschen an einem wie immer gearteten Problembewusstsein, zumindest was die weltlichen Dinge anbelangte, ohnehin mangelte. Da die Pestepidemien des Frühmittelalters aus dem kollektiven Ge dächtnis verschwunden waren, erhielt die plötzlich hereinbrechende Seuche einen neuen Namen: der „Schwarze Tod“. Neuere molekularbiologische Untersuchungen lassen jedoch keinen Zweifel, dass es sich erneut um Yersinia pestis handelte (Schuenemann 2011). Ihren Ausgang nahm die Pest dieses Mal vom Schwarzen Meer. Im Zuge der Belagerung der damals genuesischen Kolonie Kaffa (heute: Feodossija) wurde die Pest, die unter den mongolischen Belagerern ausbrach, in die Stadt eingeschleppt. Noch 1347 gelangte sie nach Konstantinopel, eine Stadt, die sie in der Folge noch mehrmals schwer heimsuchen sollte (Brandes 2005: 220 – 222). Beim Entladen einer aus Kaffa kommenden genuesischen Galeere in Messina wurde sie nach Italien eingeschleppt. Von Messina verbreitete sich die Seuche über das Festland, Ende 1349 nach Frankreich, England, Süddeutschland, die Schweiz und Österreich, Ende 1350 nach Schottland. Verschont blieb mit Sicherheit nur die europäische Peripherie (Island, Finnland). Im Königreich Polen und in Böhmen fehlt es an direkten Zeugnissen ihres Auftretens, was allerdings auch am Chaos liegen kann, welches der „Schwarze Tod“ auslöste (Benedictow 2006: 216 – 224). In jenen Ländern, von denen einigermaßen valide Daten zur Verfügung stehen – England, Frankreich, Spanien und Italien –, kostete die erste Epidemie einschließlich der Todesfälle infolge sekundärer Lungenentzündungen durchwegs rund 60 % der Bevölkerung das Leben (Benedictow 2006: 382 f.). Über Europa hinaus verbreitete sie sich über den eurasischen Kontinent auch wieder nach Nordafrika. Im Jahr 1353 erreichte sie China (Malanima 2010a: 44) – mit ebenso fatalen Konsequenzen. Bewegte sich der Bevölkerungsstand des Chinesischen Reiches um das Jahr 1200 noch etwa zwischen 98 und 123 Millionen, so
54
Das Zeitalter der Pest
war er um 1390 auf 57 bis 80 Millionen zurückgegangen. Das entsprach einer Abnahme von rund 30 bis 40 % (Scharping 2005: 2). Der Pest von 1348 bis 1353 folgten weitere, weniger heftige spätmittelalterliche Pestwellen. Am besten dokumentiert sind ihre demografischen Folgen in der Toskana. In der Stadt Florenz lebten im Jahr 1338 rund 120.000 Einwohner, nach dem Pestausbruch von 1348 etwa nur noch 42.000. Weitere Pestwellen sorgten dafür, dass sich an dieser Einwohnerzahl bis Ende des 15. Jahrhunderts kaum etwas änderte, auch wenn es zwischen den Epidemien zu temporären Erholungsphasen kam. Stadt und ländliches Umland mit seinem Gebietsstand von 1338 beheimateten vor dem Ausbruch des „Schwarzen Todes“ vielleicht 400.000 – 440.000 Menschen, im Jahr 1427 jedoch nur noch 140.000 (Herlihy / KlapischZuber 1985: 68 – 70, 74). Die periodische Wiederkehr der Pestepidemien lässt sich an den in Italien in einigen Städten schon sehr früh geführten Sterbematriken ablesen. Sterbegipfel finden sich etwa in Siena wie in einigen anderen Städten der Toskana in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts und im 15. Jahrhundert alle neun Jahre (Livi-Bacci 1999: 109 – 111). Die Apenninen-Halbinsel mit ihrer Einbettung in den Handelsverkehr des Mittelmeerraumes scheint von den Pestwellen besonders häufig betroffen gewesen zu sein. Immerhin auch im „Deutschen Reich“ trat der „Schwarze Tod“ im Spätmittelalter mindestens noch viermal auf (Jankrift 2003: 196 f.). Im 15. Jahrhundert wurden die Epidemien lokaler, ihre demografische Wirkung begrenzter. Sie stoppten den demografischen Aufholprozess, sorgten jedoch langfristig für keinen weiteren Rückgang (Benedictow 2006: 382). Wie schon im Zuge der justinianischen Pestwellen trafen sie nun im überproportionalen Ausmaß nicht immunisierte Kinder und Jugendliche, die auch indirekt betroffen waren, wenn sie als Waisen durch Unterversorgung an Mangelkrankheiten starben. Das hatte entsprechende Folgen für die Altersstruktur vieler Bevölkerungen. Die spätmittelalterliche Pest hinterließ zumindest temporär eine ageing society (Youngs 2006: 25 f., 32), vor dem Industriezeitalter etwas völlig Ungewöhnliches.
55
Das Zeitalter der Pest Jahr
Stadt
Contado
1338
120.000
1374
60.000
1380
54.747
1427 *
Gesamt
280.000 – 320.000
400.000 – 440.000
37.144
104.000
141.000
1427 **
37.144
128.370
165.514
1480-90
41.590
136.900
178.490
1552
59.191
226.698
285.889
* Gebietsstand 1338 ** Gebietsstand 1427
Tabelle 5 Bevölkerung von Florenz (Stadt und Land) 1338 – 1552
In einigen Teilen Europas waren die langfristigen Folgen des „Schwarzen Todes“ besonders gravierend. Die norwegische Bevölkerung sank im Zeitraum vom Ausbrechen des „Schwarzen Todes“ bis 1450/1500 um 62,5 bis 64 %, in ähnlichen Dimensionen die Bevölkerung Englands und Kataloniens (Benedictow 2006: 383). Die Bevölkerung Deutschlands fiel von rund 11 bis 14 auf 7 bis 10 Millionen (Rösener 1996: 63). In England war der enorme Bevölkerungsverlust durch die erste Epidemie erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder völlig kompensiert (Hatcher 1996: 18; Wrigley / Schofield 1989: 531; Hinde 2003: 2), in Norwegen selbst in der frühen Neuzeit noch nicht ganz. Im späten 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts trat nur eine relativ kurze Atempause ein. Schon im Zeitraum von 1560 bis 1640 wurde Mitteleuropa wieder etwa alle zehn Jahre von Epidemien heimgesucht (Mauelshagen 2005: 238). Wie auch schon im Spätmittelalter schwankte die Pestmortalität erheblich. Im Zeitraum vom Ende des 16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts bewegte sie sich bei Epidemien im deutschsprachigen Raum zwischen rund 15 und 50 % (Ulbricht 2004a: 17 f.). Frankreich verlor in seinen heutigen Grenzen von 1600 bis 1670 2,2 bis 3,4 Millionen Menschen an der Pest; das entsprach 5 – 8 % der Bevölkerung (Livi-Bacci 1999: 110). Nicht zuletzt infolge der schweren Pestausbrüche von 1596 / 1602 und 1647/52 sank die Bevölkerung Spaniens im Zeitraum von 1590 bis 1650 um zwei von 8,5 Millionen Einwohner (van Dülmen 1982: 22). Die Bevölkerung ganz Italiens, die um
56
Das Zeitalter der Pest
1600 etwa 13,3 Millionen betragen hatte, schrumpfte auf 11,5 Millionen um 1650 (Beloch 1961: 354). In den am stärksten betroffenen italienischen Städten starben während der Epidemien von 1630/31 und 1656/57 ein Viertel bis die Hälfte der Einwohner (Cipolla 1988: 162 f.). London kostete die Epidemie von 1563 wahrscheinlich mehr als ein Drittel seiner Einwohnerschaft (Slack 1986: 62), im Jahr 1665 starben dann mindestens rund 100.000 Menschen direkt, weiteren 30.000 kosteten Folgeerkrankungen das Leben. Das entsprach gut einem Viertel der Stadtbevölkerung (Münch 2009: 102). Im Königreich Neapel starben an der Epidemie von 1656 900.000 von 4,5 Millionen Einwohnern, in Nord- und Mittelitalien 1630/31 1,1 von 4 Millionen. Noch im Zuge der letzten großen Pestepidemie in der Geschichte Europas von 1720/21 fielen ihr die Hälfte der Einwohner von Marseille und Aix en Provence zum Opfer (Livi-Bacci 1999: 111 f.). An den „Rändern“ Europas traten auch noch im 18. und 19. Jahrhundert Pestepidemien auf, in Messina 1743, in Moskau 1770/72, in Malta 1813, auf dem Balkan 1828/29 und 1841 (Mauelshagen 2005: 261). Ihr Verbreitungszentrum verlagerte sich jedoch nach Asien. Im Zeitraum von 1894 bis 1938 forderten Pestepidemien z. B. auf dem indischen Subkontinent rund 12,5 Millionen Tote (Arnold 1993: 200 – 239). Hinsichtlich ihrer demografischen Wirkung lassen sich drei verschiedene Arten von Pestepidemien in der europäischen Bevölkerungsgeschichte unterscheiden. Die justinianische Pest und der „Schwarze Tod“ zählen zur ersten Kategorie. Sie trafen schockartig auf nicht immunisierte Bevölkerungen, die auch keine wie immer gearteten adäquaten Schutzmaßnahmen ergriffen. Dem Typus der Folgeepidemie gehören die nach 541 bis 544 und 1348 bis 1353 auftretenden Epidemien an, die u. a. bei der ersten Epidemie verschont gebliebene Landstriche heimsuchten. Die dritte Kategorie der Pestepidemien trat vor allem im 15. und 17. Jahrhundert vermehrt auf. Diese Epidemien konnten ähnlich hohe Opferzahlen verursachen wie die erste und zweite Kategorie, blieben jedoch lokal begrenzter. Dazu mag beigetragen haben, dass bei dieser Kategorie von Pestepidemien nicht immer effiziente, aber vergleichsweise rigide Abwehrmaßnahmen von den zuständigen Obrigkeiten ergriffen wurden.
Das Zeitalter der Pest
57
Sieht man von der ersten Welle der justinianischen Pest und des „Schwarzen Todes“ ab, waren die demografischen Verluste einer Pestepidemie nach etwa zehn Jahren wieder aufgeholt. Der demografische Aufschwung mancher deutscher Städte im späten 15. Jahrhundert ist dafür ein gut dokumentiertes Beispiel (Sprandel 1987: 31). Für Florenz und sein Umland lässt sich der Aufholprozess sogar relativ genau beziffern. Dort lebten um 1480/90 rund 180.000 Einwohner, im Jahr 1552 etwa 285.000. Das boomende London der 1660er Jahre benötigte dank starken Zuzugs nur zwei bis drei Jahre, um sich von der Great Plague demografisch zu erholen (Mauelshagen 2005: 238). Es gab allerdings neben den großen mittelalterlichen Wellen auch in der frühen Neuzeit schwere Pestausbrüche mit sehr langfristigen demografischen Folgen, vor allem auf der dicht besiedelten Apenninen-Halbinsel. Dazu zählte die peste di San Carlo 14 der Jahre 1576 bis 1578 in Mailand, die Pestepidemien der frühen 1630er-Jahre in Oberitalien und die Pest in Rom und Neapel um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Demografische Schocks derartiger Dimension provozierten Verhaltensänderungen, die keineswegs auf die Seuchenprävention beschränkt blieben. Angesichts der insgesamt geringen Lebenserwartung war vor allem das Heirats- und Wanderungsverhalten betroffen. Das durchschnittliche Heiratsalter sank nach den Epidemien dank verbesserter ökonomischer Chancen für die Überlebenden, um dann wieder anzusteigen (Lynch 2003: 45 f.). Quantifizierbare Daten für dieses charakteristische Muster sind allerdings nur spärlich vorhanden. Beispielsweise heirateten in der Stadt Prato im Jahr 1372 Frauen im Schnitt mit 16, im ländlichen Prato sogar mit nur 15 Jahren. Ein Jahrhundert später lag das Heiratsalter jedoch bei 21 bzw. 19,5 Jahren (Herlihy / Klapisch-Zuber 1985: 87). Ein ähnlicher Anstieg des Heiratsalters lässt sich auch im englischen Hochadel verfolgen (Hollingsworth 1974: 365). Nicht immer beruhte er auf den Folgen der Pest. Es ist bei diesen beobachteten Anstiegen nicht immer klar, ob
14 Benannt nach dem späteren Heiligen Karl Borromäus (Carlo Borromeo) (1538 – 1584), Erzbischof von Mailand, der sich während der Epidemie besondere Verdienste bei der Fürsorge für die Pestopfer erwarb.
58
Das Zeitalter der Pest
es sich um eine Rückkehr zur Normalität nach dem einmaligen Schock des „Schwarzen Todes“ oder aber auch schon um einen langfristigen Trend zu späterer Heirat handelte. Infolge des „Schwarzen Todes“ erfuhren auch Binnenmigrationen eine Intensivierung, unmittelbar und mittelbar. Unmittelbar fehlte es nach den verheerenden Wirkungen der Epidemien in den Städten an Arbeitskräften. Mittelbar sorgten Agrarkrise, Wandel der Zunftverfassung und ein erster, durch Renaissance und Reformation ausgelöster Säkularisierungsschub für eine Mobilisierung breiter Schichten. Ein erster Höhepunkt nicht nur im Handwerk, sondern auch bei vazierenden Soldaten, fahrendem Volk und anderen mobilen Unterschichten war vermutlich im 16. Jahrhundert erreicht, welches ja durch ein erhebliches Bevölkerungswachstum gekennzeichnet war. Neben die traditionellen Wanderungen des Gesindes an fremde bäuerliche oder gutsherrliche Höfe trat nun auch jene der Lehrlinge, Gesellen und Dienstboten in städtische Haushalte. Die interurbane Gesellenwanderung erlebte seit dem 15. und 16. Jahrhundert ihre volle Entfaltung. Auch Fernwanderungen zählten nun öfter je nach Größe der Städte und der Spezialisierung und Innovationsfreudigkeit des jeweiligen Gewerbes zum Gesellenleben (Schulz 2010: 244 f.). Pestepidemien waren auf der Basis des vorbakteriologischen medizi nischen Wissens nicht erklärbar und daher auch schwer zu bekämpfen. Die Übertragbarkeit der Seuche war jedoch schon vielen Zeitgenossen bewusst. Obrigkeitliche Maßnahmen der Pestbekämpfung setzten im Jahr 1377 in Ragusa (Dubrovnik) mit der Einrichtung der ersten Quarantäne ein, 1423 wurden die ersten Pesthäuser in Venedig zur Isolierung der Kranken errichtet (Bulst 2005: 156). Ab Mitte des 16. Jahrhunderts verdichteten sich die Methoden der Pestbekämpfung in den italienischen Territorien zu einem System, das im 17. Jahrhundert in ganz Europa Nachahmung fand (Benedictow 2006: 394). Das italienische Modell wurde allerdings nicht einfach übernommen. Pestspitäler spielten nördlich der Alpen eine ungleich geringere Rolle, hier wurde die Isolierung der Kranken in Privathäusern bevorzugt (Dinges 1995: 83). Wie am Beispiel der seit dem 16. Jahrhundert gebauten Pesthospitäler im deutschsprachigen Raum gezeigt wurde, sorgte diese Einrichtung im Rahmen ihrer begrenzten Aufnahmekapazitäten durchaus für eine gewisse Milderung der letalen
Das Zeitalter der Pest
59
Wirkungen der Pest. Überraschendweise waren die Letalitätsraten in den Spitälern zum Teil geringer als bei „Hauskranken“. Vor allem die Behandlung der Beulenpest in den Spitälern scheint eine gewisse Wirkung nicht verfehlt zu haben (Ulbricht 2004b: 120 – 123). Wie sehr aber selbst noch im wirtschaftlich hoch entwickelten Nordwesteuropa die Sanitätsbehörden hilflos den Ausbruch schwerer Pestepidemien gegenüberstanden, veranschaulichen neben vielen anderen die zeitgenössischen Augenzeugenberichte von John Evelyn und Samuel Pepys aus dem London des Jahres 1665. Die Pestspitäler quollen nach kurzer Zeit vor Kranken über, die über infizierte Häuser verhängte Quarantäne scheiterte am Hunger der Insassen. Einzig die massenhafte Tötung von Ratten – ohne Kenntnis von deren tatsächlicher Rolle bei der Übertragung der Krankheit – trug möglicherweise zum Abflauen der Epidemie bei, kam aber für viele schon zu spät, da der Pesterreger über die Rattenflöhe bereits auf Menschen übertragen worden war (Münch 2009: 103 – 110). Als eine Konsequenz aus den fatalen Seuchenausbrüchen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden jedoch die Frühwarnsysteme weiter verbessert, und auf die Nachricht von Seuchenausbrüchen hin wurde der Handels- und Personenverkehr konsequenter unterbunden. Das gelang vor allem in peripheren Grenzregionen mit einiger Effizienz. Im Bereich der Habsburgermonarchie erfüllte der im Jahr 1728 eingerichtete cordon sanitaire 15 an der Militärgrenze diese Aufgabe, der den Seucheneintrittskorridor gegenüber dem Balkan und dem Russischen Reich vom übrigen Europa bis zu einem gewissen Grad abriegelte (Lesky 1957). Auch die seit dem 18. Jahrhundert verbreitete Versiegelung der innerstädtischen Böden durch Pflasterung, durch die die Rattenpopulationen reduziert wurden, trug unzweifelhaft zur Pestbekämpfung bei. Ihr völliges Verschwinden aus dem außerosmanischen und außerrussischen Europa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts kann dadurch allerdings kaum erklärt werden (Osterhammel 2009: 278). Zu sehr bot der internationale Handelsverkehr Übertragungswege, die durch die Einrichtung von cordons sanitaires, das sollten die Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts nachdrücklich unter
15 Zone, in der aus Seuchengebieten kommende Personen isoliert wurden.
60
Das Zeitalter der Pest
Beweis stellen, nicht völlig in den Griff zu bekommen waren. Lediglich die weitestgehende Abschottung eines insularen Landes vom internationalen Handelsverkehr erwies sich, wie die Bevölkerungsgeschichte Japans belegt, unter den damaligen hygienischen Bedingungen als ohne Einschränkungen erfolgreich. Japan war von keiner einzigen Pestepidemie betroffen. Dessen Bevölkerungswachstum fiel daher in der frühen Neuzeit für vortransitorische Verhältnisse sehr hoch aus (Linhart 2008: 338). Im Großen und Ganzen blieb der Lernprozess jener Obrigkeiten und Behörden, denen die medizinische Polizey 16 oblag, angesichts der in Wellen auftretenden Pest allerdings viel zu lückenhaft (Dinges 1995: 83) und ihre administrativen und technischen Möglichkeiten viel zu begrenzt, um das Verschwinden der Pest erklären zu können. Vieles spricht, ebenso wie schon für die Mitte des 8. Jahrhunderts, für eine Mutation des Erregers (Sallares 2007: 245 – 254). Der erhebliche Einfluss der Pestepidemien auf den Verlauf der vormodernen Bevölkerungsgeschichte Europas und nicht nur dieses Kontinents verweist auf jene Abhängigkeit von biologischen Rahmenbedingungen menschlicher Existenz, die auch im Industriezeitalter keineswegs völlig verschwunden, aber doch deutlich in den Hintergrund getreten ist. Dass diese aus ökonomischen und damit human bestimmten Einflussgrößen nur bedingt erklärt werden können, ist zwar heute wesentlich klarer, als dies zu Zeiten von Malthus erkennbar gewesen wäre. Diese Erkenntnis ist aber auch noch heute keineswegs common sense, wie der beharrliche Versuch, zu ökonomistisch inspirierten demografischen „Generaltheorien“ der vorindustriellen Welt zu gelangen, nachhaltig beweist.
16 Ein in der frühen Neuzeit propagiertes und etabliertes System obrigkeitlicher polizeilicher, seuchenpräventiver, gesundheits- und wohlfahrtspolitischer Maßnahmen.
61
6.
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
Das frühmittelalterliche Europa war ein sehr dünn besiedelter Kontinent. Nach der justinianischen Pest und den folgenden Seuchenwellen galt das eingeschränkt selbst für den mediterranen Raum mit seinen antiken Handelszentren. Dennoch lebte in Südost- und Südeuropa noch immer die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Kontinents. Allmählich begann sich jedoch im fränkischen Kernraum, im heutigen Nordfrankreich, den Beneluxländern und Südwestdeutschland, ein weiteres demografisches Zentrum zu bilden. Mit den florierenden Städten und Landstrichen der Antike hatte dieses freilich noch wenig gemein. Das karolingische Reich dürfte zu etwa 40 % aus kaum bewohnten Waldgebieten bestanden haben (Verhulst 2002: 11). Noch viel punktueller war die Besiedlung in Nord-, Mittel- und besonders in Ost(mittel)europa. Für das Gebiet des späteren Großpolen geht etwa eine Schätzung von einer Bevölkerungsdichte unter einer Person pro km2 um das Jahr 500 aus, um 900 waren es gerade einmal drei Personen (Barford 2001: 89 ff.). Ganz im Gegensatz zu den asiatischen (Groß-)Reichen mangelte es in Europa also nicht an Land, sondern zunächst an Menschen, die das Land kultivierten. Die Kultivierung der landwirtschaftlich genutzten Fläche erfolgte durch vergleichsweise primitive Anbaumethoden. Dazu zählte die Feldgraswirtschaft: Durch Rodung, auch Brandrodung, wurde Ackerland gewonnen, ein Jahr bewirtschaftet und dann ein weiteres Gebiet gerodet. Besonders verbreitet war Brandrodung in den slawisch besiedelten Gebieten Osteuropas, wo sie zum Teil auch noch bis in die frühe Neuzeit praktiziert wurde. Das ursprünglich gerodete Ackerland wurde je nach klimatischen Bedingungen mehrere Jahre – bis zu 10 bis 15 – nicht bebaut. Im mediterranen Raum war die Zweifelderwirtschaft verbreitet. Die Hälfte des Ackerlandes wurde eingesät, nach der Ernte
62
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
verbrannte man die Stoppeln und unterpflügte die Asche als Dünger. Dann lag der Boden ein Jahr brach und die zweite Hälfte wurde eingesät und geerntet. Im Mittelmeerraum blieb dies auch in der Folge die dominante Anbauform (Van Houtte 1980: 42 f.). Seit dem 8. Jahrhundert nahm jedoch vom karolingischen Zentralraum zwischen Seine, Mosel und Rhein eine Entwicklung ihren Ausgang, die als frühmittelalterliche Agrarrevolution bezeichnet wird, auch wenn dieser Begriff die tatsächlichen Veränderungen überbetont. Sie beruhte auf der Einführung der Dreifelderwirtschaft, zunächst in günstigen Lagen in Nordfrankreich, England, Deutschland und Flandern, und auf einigen technischen Innovationen. In der Dreifelderwirtschaft wechselte im Jahresrhythmus die Aussaat von Sommer- (Gerste, Hafer) zuerst mit Wintergetreide (Roggen, Weizen) und dann mit der Brache, die nunmehr im Gegensatz zur Zweifelderwirtschaft lediglich ein Drittel des Ackerlandes umfasste. Durch Fruchtwechsel, Ausbringung von Stallmist und Beweidung der Brache durch das Vieh wurde die Fruchtbarkeit des Bodens bewahrt. Zusätzlich sorgte der vermehrte Einsatz von Pferden unter Verwendung des Kummets für den effizienteren Energieeinsatz, was ebenso zu Steigerungen der landwirtschaftlichen Erträge beitrug. Die Zäumung mit dem Kummet erhöhte die Zugkraft von Pferden wahrscheinlich um das 4- bis 5Fache (Braudel 1985: 372). Ochsen blieben allerdings nach wie vor die wichtigsten Zugtiere. Die Verwendung des Kummets wurde durch den nun weit verbreiteten Einsatz des eisernen asymmetrischen Wendepflugs, der auch für schwere Böden geeignet war, erforderlich. Dieser Pflug riss die Erde nicht bloß wie der Hakenpflug auf, sondern stürzte sie um, was für die bessere Ausnützung der Felder, eine leichtere Unkrautbeseitigung und den verbesserten Wasserhaushalt der Felder sorgte (Sandgruber 1995: 18 f.). Eisen war jedoch teuer, was den Hakenpflug noch lange unentbehrlich machte. Als besonders geeignet erwiesen sich für die Dreifelderwirtschaft in der zentralen Zone ihrer Verbreitung der Anbau von Roggen (als Brotgetreide) und Hafer, der nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als Pferdefutter diente. Für das Mahlen des Getreides kamen ab dem 9. Jahrhundert vermehrt bereits in der Antike bekannte, aber nun technisch verbesserte Wassermühlen zum Einsatz. Damit war der Weg für eine weit stärker als
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
63
anderswo auf Brot basierende Grundnahrung in Europa gewiesen, die durch das Fleisch der in die Dreifelderwirtschaft integrierten Viehzucht ergänzt wurde (Mitterauer 2003a: 17 – 28). Nun fehlte es etwa auch in China oder im islamischen Bereich nicht an vergleichbaren Innovationen, sie gingen allerdings in eine andere Richtung. In beiden Großregionen wurden die Erträge aus der Landwirtschaft primär durch Verbesserungen in der Bewässerungstechnik erreicht. Dazu kam im islamischen Raum die Einführung neuer Kulturpflanzen im intensivierten Gartenbau. In China leitete der Übergang zum Nassfeld-Reisanbau auf der Basis einer besonders ertragreichen Reissorte, des Champa-Reises, eine Agrarrevolution ein. Die dicht besiedelte Bewässerungskultur Chinas konnte auf ein vergleichsweise großes Potenzial an Arbeitskräften zurückgreifen, die bei Sonnenenergiesystemen neben dem Einsatz von Nutztieren die wichtigsten „Maschinen“ darstellten. Wiewohl alle drei Kulturräume in der Folge anfällig für Agrarkrisen und die daraus resultierenden Hungersnöte blieben, bestanden jedoch zwei wesentliche Unterschiede. Nur in Europa gingen Ackerbau und Viehzucht eine derartige Verschränkung miteinander ein, die die Agrarwirtschaft für Krisen resistenter machte (Mitterauer 2003a: 29 – 34), und zudem stand hier noch ausreichend gutes Ackerland zur Verfügung. Die weiten, extensiv genutzten Steppengebiete Asiens boten dafür nach dem Stand der mittelalterlichen Agrartechnologie noch lange keinen Ersatz. Ein erster demografischer Aufschwung in Europa setzte schon in der späten merowingischen und frühen karolingischen Epoche ein. Durch die in merowingischer Zeit begonnene und zur Hochblüte des Karolingerreiches um 800 wieder verstärkt aufgenommene fränkische Siedlungsbewegung, vor allem gegen Osten, wurde sehr dünn besiedeltes Land neu erschlossen. Gleichzeitig machte auch die slawische Landnahme Fortschritte. Aus den Angaben des Polyptychon von Saint- Germain-des-Prés ergibt sich für den Villikationskomplex des Klosters eine vergleichsweise hohe Bevölkerungsdichte von 26 Personen pro km2. Allerdings lebten die Menschen in Siedlungsinseln, vermutlich weil es zu gefährlich war, weit auseinander zu wohnen (Herlihy 1987: 10 f.). Die Dimensionen dieses ersten Bevölkerungsanstiegs sollten allerdings nicht überschätzt werden. Kriege und in deren Gefolge oder auch nur
64
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
aufgrund klimatischer Ungunstlagen ausgebrochene Hungersnöte sorgten für regelmäßige Rückschläge. So suchten schwere Hungersnöte zentrale Teile des Karolingerreichs unter anderem in den Jahren 784, 792/93 und 805/06 heim. Im 9. Jahrhundert ist eine ganze Serie von Hunger, Kälte- und Naturkatastrophen vergleichsweise gut dokumentiert (Verhulst 1965: 175 – 189; Behringer 2007: 96). Kriegerische Einfälle taten ein Übriges. Es sei etwa in diesem Zusammenhang nur auf die Bildung eines „Danelag“ – Lebensgebiet und Ausgangsbasis für Raubzüge dänischer Wikinger – in England oder an die verheerende Wirkung der Schlacht von Pressburg im Jahr 907 erinnert, die den ostösterreichischen Raum hinsichtlich seiner Siedlungsentwicklung um fast ein Jahrhundert zurückwarf. Aus der alten wurde in diesem Teil Mitteleuropas vorerst eine neue „Awarenwüste“.17 Im 10. Jahrhundert setzte in weiten Teilen des eurasischen Kontinents eine Phase ausgesprochen günstiger klimatischer Bedingungen ein, die bis etwa 1200 andauerte. Sie wird auch als das mittelalterliche Klima optimum bezeichnet (Mauelshagen 2010: 63). Wie sich unter anderem aus Untersuchungen an Jahresringen von Kiefern in Nordeuropa und an Schweizer Gletschern belegen lässt, war diese Periode durch viele warme Sommer und milde Winter bei einer Verringerung der Niederschlagsmenge gekennzeichnet. Diese Verringerung wirkte sich für die östlichen Steppengebiete allerdings nachteilig aus, was nicht zuletzt zum Mongolensturm des 13. Jahrhunderts beitrug (Van Houtte 1980: 11 f.). Dank des warmen Klimas dehnten sich beispielsweise die Wanderungen der Wikinger, die vom späten 8. bis zum 10. Jahrhundert die Normandie, die Britischen Inseln und Sizilien verheert und in weiterer Folge besiedelt hatten, weiter nach Island, die Shetland- und Orkney-Inseln, später sogar nach Grönland aus. Wie die Siedlungsgeschichte eindrucksvoll belegt, entstanden in weiten Teilen Europas Tausende von neuen Dörfern, Burgen und auch eine Vielzahl von Städten. Da gerade die Städte jedoch
17 Der Begriff bezeichnet die von den Awaren vom ausgehenden 6. bis zum ausgehenden 8. Jahrhundert kontrollierte und dominierte pannonische Tiefebene und deren angrenzende Zonen.
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
65
primär von landwirtschaftlicher Überschussproduktion „lebten“, muss der landwirtschaftliche Output erheblich gestiegen sein. Das demografische Wachstum beruhte wahrscheinlich in erster Linie auf einem Rückgang der Mortalität. Nun hat es auch in der hochmittelalterlichen Expansionsphase Seuchenausbrüche gegeben, und im Zeitalter der Kreuzzüge wurden sogar bisher nicht bekannte Krankheiten wie die Lepra aus dem Nahen Osten eingeschleppt. Auch Typhus-, Ruhr- und Pockenepidemien traten auf. Dazu kamen die endemisch verbreitete Tuberkulose und die Malaria, die damals bis zur Loire und auch weit in slawisches Siedlungsgebiet vorgedrungen war, was auf die warmen Witterungsbedingungen dieser Phase der europäischen Bevölkerungsgeschichte verweist. Auch großräumige Hungersnöte blieben ein ständiger Begleiter der Menschen. Sie erreichten im 12. Jahrhundert eine besondere Häufigkeit (Curschmann 1970: 38 – 41). Die prekäre materielle Situation eines Teils der Bevölkerung im dichter besiedelten Westen wird durch die Zahl der Armen deutlich, die ab dem 12. Jahrhundert in die Höhe schnellte (Mollat 1984: 58 – 67). Die hochmittelalterlichen Hungersnöte führten allerdings zu keinem Bruch im langfristigen Bevölkerungswachstum, da sie, wie mittelalterliche Skelettserien belegen, nicht von langer Dauer waren. Ihnen dürften primär Altersgruppen, die ohnehin hohe Sterblichkeit aufwiesen und die sich nicht im Reproduktionsalter befanden – Säuglinge und Kleinkinder sowie Alte –, zum Opfer gefallen sein (Grupe 1996: 30 f.). Den zu vermutenden Rückgang der Mortalität im langfristigen Vergleich begünstigte unzweifelhaft das Ausbleiben der Pestepidemien. Weiters gibt es Anzeichen dafür, dass sich der durchschnittliche Ernährungszustand der Bevölkerung verbesserte – man denke nur an die literarisch persiflierte Schilderung des reichen Bauern in der hochmittelalterlichen Schwankliteratur. Auch anthropometrische 18 Untersuchungen an Skeletten stützen dieses Bild (Kirchengast / Winkler 1991: 208 – 210).
18 Messungen der Körpergröße, im Fall moderner, nicht archäologischer Untersuchungen auch des Körpergewichts.
66
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
Die Beschleunigung des demografischen Wachstums im 11., 12. und 13. Jahrhundert, mit einem Wachstumshöhepunkt zwischen 1150 / 1200 und 1250 / 1300, lässt sich durch eine Fülle quantifizierbarer historischer Quellen belegen: aus Steuerverzeichnissen, durch siedlungsgeschichtliche und archäologische Materialien etc. Um 1300 war in einigen Teilen Europas der Anteil der unter 21-Jährigen wahrscheinlich auf 50 % gestiegen und jener der unter 14-Jährigen auf ein Drittel (Goodich 1989: 6). Ein solch junger Altersaufbau ist nur durch starkes demografisches Wachstum erklärbar. Das hochmittelalterliche Bevölkerungswachstum nahm drei charakteristische Formen an: Verstädterung, Binnenausbau und (Ost-)Kolonisation. Die Verstädterung hatte ihren Schwerpunkt in Italien, den Niederlanden, Nordfrankreich und dem Deutschen Reich. Die ApenninenHalbinsel war schon zur Zeit des Römischen Imperiums stark urbanisiert gewesen. Die Versorgung der Städte im Imperium Romanum erforderte überregionale Arbeitsteilung, denn die städtische Bevölkerung war auf Getreideimporte aus Nordafrika und anderen fruchtbaren Teilen des Reiches angewiesen. Mit dem Vorstoß der Vandalen nach Nordafrika und vollends der arabischen Expansion im 7. und 8. Jahrhundert war es damit vorbei. Die geschrumpften Stadtbevölkerungen der verbliebenen antiken Städte bedurften ohnehin kaum mehr des Fernhandels, jedenfalls nicht für die Nahrungsmittelversorgung. Schon in der karo lingischen Epoche begann jedoch in einer größeren Zahl der bestehenden civitates 19 der Städteausbau in bescheideneren Dimensionen erneut. Er diente vorrangig dem militärischen Schutz und ließ dadurch alte Stadtkerne wieder zusammenwachsen. Dies trifft auch auf manche Fernhandelszentren des Nordens und Ostens zu. Bereits im 11. Jahrhundert war das Netz dieser noch kleinen Städte vor allem in Italien recht dicht. In Italien wie in Nordwesteuropa erhielten Städteausbau und Städtegründungen durch spezialisierte gewerbliche Produktion, vor allem der Textilgewerbe, einen starken Auftrieb. Mit zeitlicher Verzögerung setzte der
19 (Burg-)Siedlungen, (Burg-)Städte.
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
67
Städteboom schließlich auch in Mitteleuropa ein. Während es zu Beginn des 12. Jahrhunderts im Deutschen Reich vielleicht etwa 50 Städte gab, waren es zur Mitte des 13. Jahrhunderts rund 1.000 und um 1300 3.000 (Engel 1993: 38). Großstädte mit mehr als 50.000 Einwohnern lagen jedoch weiterhin fast ausschließlich im mediterranen Raum. Um 1200 waren das unter Ausklammerung Konstantinopels: Cordoba, Granada, Sevilla, Palermo, Venedig, Florenz, Mailand, Genua, Siena, Neapel und Saloniki. Weiter im Norden gehörten lediglich Paris und Köln zu dieser Größenklasse (Bairoch / Batou/Chèvre 1988). Was den direkten Beitrag der Städtegründungen zum hochmittelalterlichen Bevölkerungsboom begrenzte, war die unterdurchschnittliche Fertilität der städtischen Bevölkerungen und die durch die Bevölkerungsdichte und unhygienische Verhältnisse bedingte Übersterblichkeit. Größere städtische Bevölkerungen reproduzierten sich vor dem 19. Jahrhundert nur in Ausnahmefällen (Russell 1983: 30; Galley 1998: 158), und selbst dann nur für kurze Perioden, wenn durch starke Zuwanderung in der Gründungsphase oder im Gefolge schwerer Seuchen ein besonders hoher Anteil der Bevölkerung im reproduktiven Alter stand und Heiraten erleichtert wurden. In der Regel fand Stadtwachstum auf Kosten des flachen Landes statt. Es bedurfte des inneren Landesausbaus in Form von Siedlungsgründungen auf der Meso- und einer „Verzellung“ (Robert Fossier) innerhalb der Siedlungen auf der Mikroebene. Dieser Gründungsboom verlief fast noch beeindruckender wie jener der Städte. Von 8.000 Siedlungen, die in Italien gegründet wurden, stammten etwa 2.700 aus vorrömischer oder römischer Zeit, 1.100 wurden im Frühmittelalter gegründet, im 11. und 12. Jahrhundert, am Höhepunkt des hochmittelalterlichen Siedlungsbooms, waren es etwa 2.000, im 13. Jahrhundert dann 886 und im 14. Jahrhundert nur noch 217 (Livi-Bacci 1999: 46). In der Moselregion existierten um das Jahr 800 etwa 100 Dörfer, bis zum Jahr 1237 war ihre Zahl jedoch schon auf 1.180 angewachsen (Lamprecht 1886: 163). Verstädterung und Binnenkolonisation sorgten für eine Vervielfachung der Bevölkerungszahl. In Frankreich kann die Einwohnerzahl um das Jahr 1328 auf etwa 15 Millionen geschätzt werden. Das war wohl das Doppelte bis Dreifache wie 400 Jahre zuvor (Herlihy 1987: 10). In ähnlichem
68
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
Maße gilt das für England. Dessen Bevölkerung war nach einer neueren Schätzung von den Zeiten des „Domesday Book“ aus dem Jahr 1086 bis in das Vorfeld des Ausbruchs des „Schwarzen Todes“ von rund 1,4 auf 4,2 Millionen angewachsen (Hinde 2003: 25). Das hochmittelalterliche Bevölkerungswachstum war derartig ausgeprägt, dass die Bevölkerungsdichte in kleineren Teilen der Niederlande, Italiens und Englands heutige Dimensionen erreichte. Die Siedlungsdichte im deutschsprachigen Raum ging sogar über die heutige hinaus, wenngleich die Siedlungen, vor allem die Städte, natürlich weitaus kleiner waren. Während in West- und Südeuropa das städtische Bevölkerungswachstum an gewisse Grenzen stieß und in der Kolonisation der Iberischen Halbinsel ein neues Ziel fand (Claude 1975) oder gar die Grenzen des Kontinents im Zuge der Kreuzzüge überschritt, entwickelte sich im noch wenig urbanisierten und dünn besiedelten Ostmitteleuropa als Teil des mittelalterlichen Landesausbaus die „deutsche“ Ostkolonisation. Sie war insofern nicht wirklich rein deutsch, weil sie nicht nur von Rhein-, sondern auch von Niederländern getragen wurde, aber auch, weil sie zwar teils als Eroberung von den Grenzmarken des Deutschen Reiches ausging, teilweise aber durch einheimische slawische Fürsten initiiert wurde (Henning 1991: 352 f.). Sie konnte auch auf eine erhebliche Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion im slawischen Europa, die im Zeitraum von ca. 500 bis 1000 stattgefunden und im 10. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt erlebt hatte, aufbauen (Henning 2005: 41 – 59). Ihren Höhepunkt erlebte sie zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert. Entlang der Grenzgebiete des Deutschen Reiches zwischen Elbe, Saale und Oder, Böhmerwald, Enns und Leitha wurde Land gerodet, erobert und wurden bestehende slawische Siedlungen zurückgedrängt. Manchmal bestanden diese auch unverändert weiter. Die Ostgrenze dieser Siedlungsbewegung verschob sich im 12. Jahrhundert nach Holstein, Mecklenburg und Brandenburg, im 13. Jahrhundert nach Pommern, Schlesien und Nordmähren, im 14. Jahrhundert nach Preußen. Von der Ostkolonisation nicht erfasst wurden Böhmen, das Hinterland Pommerns und die Lausitzen. In Summe dürften höchstens rund 400.000 Erstkolonisten nach Osten gezogen sein. Das entsprach rund 7 % der Bevölkerung des Deutschen Reiches (Kuhn 1973: 228; Higounet 1990: 98 f.). In einzelnen Territorien entstand aus
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
69
der Zuwanderung unter günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen und dem Geburtenplus eine enorme demografische Dynamik. Beispielsweise dürfte sich die Bevölkerungszahl des dünnbesiedelten Sachsen im 12. und 13. Jahrhundert verzehnfacht haben (Schlesinger 1975: 25). Wie sehr durch die Ostkolonisation Mittel- und Ostmitteleuropa zu einer demografischen Wachstumskernzone verschmolz, lässt sich anhand grober Schätzungen verdeutlichen. Demnach lebten im Ostfränkischen Reich im 9. Jahrhundert etwa 2,5 – 3 Millionen Menschen, im 11. Jahrhundert einschließlich der eroberten Gebiete im Osten bereits rund 5 – 6 Millionen, im 12. Jahrhundert 7 – 8 und um 1300 bereits 13 – 15 Millionen (Kellenbenz 1980: 509). In den dichter besiedelten slawischen und baltischen Gebieten Ostmitteleuropas bildeten die Neusiedler jedoch nur eine Minderheit, die sich auf die von der altslawischen Besiedlung kaum erfassten Waldgebiete konzentrierte. Am Ende der Kolonisationsperiode stellten die Neusiedler in diesem Teil Europas maximal ein Fünftel der Bevölkerung. Immerhin trug diese Siedlungsbewegung dazu bei, dass sich die Bevölkerungsdichte in diesem Gebiet vom 9. bis zum 14. Jahrhundert in Summe etwa verdoppelte (Henning 1991: 356). Ihre Folgewirkung war ein Ausgleich der Siedlungsdichten in den folgenden Jahrhunderten. So vergrößerte sich die Bevölkerung Groß- und Kleinpolens und Masowiens von der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zum Jahr 1578 um das Fünffache, jene Masowiens allein jedoch um das Zwölffache (Kuhn 1973: 210). Ein wichtiges Wanderungsmotiv bildeten die attraktiven Ansiedlungsbedingungen, die im Gegensatz zu der sich steigernden Feudalquote und der durch Realerbteilung bewirkten Zunahme von kleinbäuerlichen Betrieben im Ausgangsgebiet standen: vier Jahre Abgabenfreiheit, verkaufbare und vererbbare Güter, Bereitstellung von Kapital durch den Lokator (Dorfgründer), der die Siedler anwarb und die Vermessung vornehmen ließ, sowie freie Wahl des Ackerlandes. Der „Schwarze Tod“ bereitete der hochmittelalterlichen demografischen Expansion Europas jedoch ein vorläufiges Ende. Die „Krise des Spätmittelalters“ war im Bereich der Siedlungsentwicklung durch das Phänomen der Wüstungen gekennzeichnet. Siedlungen wurden aufgegeben, weil die Bevölkerungsverluste der Pestepidemien die Agrarkonjunktur drückten und eine Landflucht zur Folge hatten. Längerfristig
70
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
gewichtiger waren die schwierigen spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Klimaverhältnisse. Schließlich kam auch Ereignissen wie dem südwestdeutschen Städtekrieg und den Hussitenkriegen Bedeutung zu (Abel 1955: 86 – 112; Behringer 2007: 139 f.). Von rund 17.000 Siedlungen, die um das Jahr 1300 auf dem Gebiet Deutschlands in seinen Grenzen von 1937 existierten, bestanden etwa 4.000 Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr (Rösener 1996: 63 f.). In England wurden nach 1300 mehr als 4.000 verlassene Dörfer identifiziert (Beresford 1987). Die frühe Neuzeit sah dann erneut große Binnenkolonisationsphasen. Im niederländischen Raum wurden zwischen ca. 1550 und 1650 162.000 ha anbaufähiges Land dem Meer abgerungen. In diesem Zeitraum betrug der Bevölkerungszuwachs in den Niederlanden etwa 600.000. Auch die Binnenkolonisationsbewegung in Richtung Osten fand ihre Fortsetzung. Zwischen dem Ende des 17. Jahrhunderts und 1786 wurden 430.000 Menschen in Preußen angesiedelt. Zwischen 1689 und dem Ende des 18. Jahrhunderts wanderten rund 300.000 – 500.000 Menschen aus dem Deutschen Reich in die Länder der ungarischen Krone aus (Livi-Bacci 1999: 41, 48; Fenske 1978: 204). In Relation zur Gesamtbevölkerung entsprach die Siedlungsbewegung deutscher Kolonisten im 18. Jahrhundert, einschließlich der noch bescheidenen Überseewanderung, ziemlich genau jener im 12. Jahrhundert. In beiden Jahrhunderten wanderten im langjährigen Durchschnitt etwa 2 % der Bevölkerung des Altsiedelgebietes jährlich ab (Kuhn 1973: 229). Die größte Binnenkolonisationsbewegung im Europa der frühen Neuzeit fand im zaristischen Russland statt. Mit dem russischen Vordringen in die südliche Ukraine gelangten schon in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts bis zu Beginn des 18. Jahrhunderts etwa 350.000 Migranten, teils zwangsweise, teils als Flüchtlinge, aus Zentralrussland in die damals südliche, dem Osmanischen Reich systematisch abgerungene Peripherie (Hoerder 2002: 311). Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das infolge der Kriege mit dem Osmanischen Reich öde Land, die Provinz Novorossija, systematisch besiedelt. Ukrainische und russische Bauern, orthodoxe Serben als Wehrbauern und durch Vergünstigungen angelockte ausländische Siedler formten ein multiethnisches Gemisch. Durch ein Manifest Zarin Katharinas II. aus dem Jahr 1763 wurde neu
Die hochmittelalterliche Expansionsphase (ca. 1000 – 1300)
71
erobertes Land zur Besiedlung freigegeben und nach der Annexion des Krim-Chanats im Jahr 1783 unter Generalgouverneur Potemkin die Besiedlung verstärkt vorangetrieben. Noch im Jahr 1745 zählte man im russischen Expansionsgebiet lediglich 22.400 steuerpflichtige Männer, 1782 193.500, 1827 870.000 und 1858 1.332.000. Im Zeitraum von den 1820er-Jahren bis 1858 war es zunehmend nicht mehr die Zuwanderung, sondern die hoch positive Geburtenbilanz der Neusiedler, die die Bevölkerung sprunghaft ansteigen ließ (Brandes 2007: 1063 – 1065; Golczewski 2007: 335 f.). Bis in die Zeiten von Thomas Robert Malthus standen in Europa also große Landreserven zur Besiedlung zur Verfügung, die schon nach wenigen Generationen so ertragreich bewirtschaftet werden konnten, dass sie eine rasch wachsende Bevölkerung ernährten. Freilich galt das nicht für den dicht besiedelten Nordwesten, für Mitteleuropa und Teile Südeuropas.
73
7.
Das European Marriage Pattern
Zu jenen Charakteristika, die eine genuin europäische Bevölkerungs geschichte konstituieren, zählt aufseiten der Fertilität ein sich im Lauf des Mittelalters herausbildendes und in Teilen des Kontinents verbreitendes spezifisches Heiratsmuster, das sich erheblich von anderen europäischen und außereuropäischen Pendants unterscheidet und in der Literatur irreführend auch als European Marriage Pattern bezeichnet wird. Darunter wird ein Heiratsmuster verstanden, welches durch späte Heirat und einen relativ hohen Anteil lebenslang Unverheirateter gekennzeichnet ist. Die Bezeichnung European Marriage Pattern geht auf einen Aufsatz von John Hajnal zurück, der die geografische Verbreitung dieses Heiratsmusters zum Gegenstand hatte, welches nach seiner These und den von ihm vorgelegten Daten westlich einer von Triest nach St. Petersburg gedachten Linie vorzufinden war (Hajnal 1974; Hajnal 1983). Empirische Studien haben aber gezeigt, dass hinsichtlich des Anteils lebenslang Unverheirateter die „Hajnal-Linie“ weiter westlich gezogen werden muss, da der mediterrane Raum mit Ausnahme Italiens und die baltischen Staaten dem osteuropäischen Muster zuzuordnen waren (Rothenbacher 2003: 34). Die von Hajnal gewählte Begrifflichkeit (europäisch!) wurde wegen ihrer politischen Implikationen zu Recht kritisiert. Darüber hinaus wurde auch die Existenz des Musters an sich aufgrund der Vielfalt der von der Forschung identifizierten Familienformen in West- und Osteuropa bestritten (Szołtysek 2011). Mit Bezug auf seine demografischen Charakteristika hat sich die Kritik an Hajnals Modell allerdings kaum bestätigt, abgesehen von der Tatsache, dass es ab dem zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts Auflösungserscheinungen zeigte (Coale / Treadway 1986: 53; Watkins 1986). Die politisch brisante Begrifflichkeit des Modells sorgt aber selbst, was die gegenwärtige Verortung von Fertilitätsmustern betrifft, für erregte demografische Debatten unter ostmitteleuropäischen Experten, wie
74
Das European Marriage Pattern
das Beispiel der Tschechischen Republik zeigt (Steinführer 2011: 310 f.). Weniger missverständlich kann von einem nord, west- und mitteleuropäischen, also unter Anführungszeichen „europäischen“ Heiratsmuster gesprochen werden, welches sich vom mediterranen, osteuropäischen und einer Vielzahl außereuropäischer Muster gravierend unterscheidet. Während das European Marriage Pattern, wie bereits erwähnt, durch ein hohes durchschnittliches Erst-Heiratsalter und hohe Anteile lebenslang Unverheirateter gekennzeichnet war und außereuropäische Heiratsmuster dem diametral entgegenstehen, nimmt das mediterrane und osteuro päische eine Zwischenstellung ein. Was den Unverheiratetenanteil angeht, sind beide aber näher bei außereuropäischen Mustern anzusiedeln. Der Einfluss der Verbreitung dieser Muster auf die Fertilität war vor dem Aufkommen innerehelicher Geburtenkontrolle erheblich, da bedingt durch die gesellschaftliche Stigmatisierung lediger Mütter und deren Kinder sowie durch deren ökonomische Schlechterstellung das uneheliche Fertilitätsniveau wesentlich unter dem ehelichen lag und das Heiratsalter somit einen wesentlichen fertilitätsregulierenden Faktor darstellte. Wie kam es nun zur Verbreitung dieses Heiratsmusters? Um die Mitte des ersten Jahrtausends existierte in Europa eine Vielzahl von Familienformen, unter denen zwei Generationen umfassende Kern- und Kleinfamilien durchaus keine Seltenheit waren, allerdings temporär erweitert und jedenfalls eingebettet in großfamiliale Verwandtschafts- und Rechtsverbände. Diese konnten in das Leben einzelner Familienmitglieder eingreifen, bei Wiederverheiratung einer Witwe oder wenn die Ehre der Sippe, des Clans gefährdet schien (Goetz 1989: 271). Die über die männliche Linie definierten Verbände besaßen dabei die ungleich größeren Rechte als jene der weiblichen, die gleichwohl im Einflussbereich des germanischen Rechts bestimmte Ansprüche geltend machen konnten, sodass von kognatischen 20 Sippen gesprochen werden kann (Modzelewski 2011: 143, 160). Aus noch zu erläuternden Gründen kam es im Lauf des Mittelalters in weiten Teilen Nord, West- und Mitteleuropas, im Lauf
20 Verwandtschaftssysteme, die die Kinder den Familien beider Elternteile zurechnen.
Das European Marriage Pattern
75
der frühen Neuzeit auch in Teilen Ostmitteleuropas (Szołtysek 2011: 15, 17 f., 21, 30), zu einer Erosion dieser Familienverhältnisse. Eine wichtige Rolle in diesem Prozess spielte eine tief greifende Veränderung der Agrarverfassung. Unter Abkehr von extensivem Getreideanbau und extensiver Viehwirtschaft entstanden im karolingischen Kernraum große Domänen mit einigen wenigen Fronhöfen und einer Vielzahl von Bauernwirtschaften (Verhulst 2002). Diese karolingische Villikation hatte ihre Basis in der Hufe bzw. dem Mansus, einer in ihrer Größe variierenden Einheit bebaubaren Landes, die für die Versorgung einer Familie, einschließlich der zu leistenden feudalen Abgaben, ausreichen sollte. Die Bewirtschaftung der Hufe erfolgte in einer zuvor nicht praktizierten spezifischen, im weitesten Sinn familialen Haushalts- und Arbeitsorganisation (Landsteiner 2011: 188). Die mit Zustimmung des Grundherren weitergebbare Hufe bewirtschaftete eine coresident domestic group, die sich um die gattenzentrierte Familie gruppierte, jedoch aus Mitgliedern einer größeren Hausgemeinschaft zusammensetzte. Die Weitergabe von Hufen als Familienbesitz war keineswegs garantiert (Elmshauser / Hedwig 1993: 506). Der Grundherr hatte jedenfalls kein Interesse an der Weitergabe der Hufe an eine Mehrgenerationenfamilie oder an mehrere Erben, weil dies die Leistungsfähigkeit durch Güterteilung beeinträchtigen konnte. Die grundherrliche Zustimmung zur Weitergabe der Hufe wurde daher nach Maßgabe des Arbeitskräftebedarfs auf den Eigengütern und der erwarteten Leistungsfähigkeit der „Familien“ gegeben oder verweigert. In Warteposition befanden sich Söhne und Töchter von Mansusbauern. Sie arbeiteten temporär am Fronhof. Erst mit der Selbstständigkeit als Hausherr oder Hausfrau durch Hofübergabe konnten sie ihren familiären Status ändern (Mitterauer 2003a: 70 – 79). Eine Konsequenz für die untertänige Bevölkerung war die hohe Abhängigkeit von grundherrlichen Entscheidungen, im besonderen Maß bei leibrechtlich abhängigen Unfreien. In ihrem Fall entschied ausschließlich der Grundherr über Verheiratung und Wiederverheiratung, was die Erstheirat in der Regel verzögerte, die Witwenheirat dagegen beschleunigte (Mitterauer 2003b: 232 f.) Die Basis für ein fertilitätsreduzierendes Heiratsmuster war damit bereits in karolingischer Zeit gelegt. Nach einem Güterverzeichnis von
76
Das European Marriage Pattern
St. Viktor in Marseille waren 27 % der darin angeführten Erwachsenen unverheiratet (Herlihy 1987: 11). Eine durchschnittliche Haushaltsgröße von etwa fünf bis sechs Personen, wie sie für eine ganze Reihe fränkischer Grundherrschaften, auch im Rheinland, und den mittelitalienischen Raum belegt wurden, deutet bereits auf das Vorherrschen von Kleinfamilien hin (Toubert 1997: 93 f.). Unter Berücksichtigung der Unverheirateten erbrachte eine Untersuchung ausgewählter Quellen für den ostfränkischen Raum ein Verhältnis von 1.136 Erwachsenen zu lediglich 1.146 Kindern (Inama-Sternegg 1879: 514 f.). Auch wenn man zu Recht davon ausgehen muss, dass die karolingischen Güterverzeichnisse Kinder ungenügend erfassten, weil sie nur am abgabenleistenden Teil der Bevölkerung interessiert waren (Elmshäuser / Hewdig 1993: 29), deutet ein solches Verhältnis auf nicht allzu frühe Heirat und einen beträcht lichen Teil Unverheirateter hin. Die fertilitätsreduzierende Wirkung dieses kernfamilialen Familientyps blieb freilich noch beschränkt, zum einen durch die Verbreitungszone der karolingischen Villikation, zum anderen durch die vorerst wenig ausgeprägte Stigmatisierung illegitimer Geburt. Schließlich mangelte es den Grundherren im dünn besiedelten Europa auch an der Motivation, die Fertilität ihrer Untertanen wesentlich zu beschränken. Bei der karolingischen Villikation als Organisationsform blieb es jedoch nicht. In einem Prozess, der sich über Jahrhunderte erstreckte, kam es zu einer Angleichung des Rechtsstatus der überwiegenden Mehrheit der bäuerlichen Bevölkerung, der auch als „Verbäuerlichung“ der Unfreien und „Vergrundholdung“ der freien Bauern bezeichnet worden ist (Lütge 1963: 32 – 35). An seinem Ende stand ein bis zu einem gewissen Grad einheitlicher Stand bäuerlicher Untertanen, während die Fronhöfe verschwanden, die Grundherren jedoch Einfluss auf die Weitergabepraxis behielten (Landsteiner 2011: 189). Damit rückte die Funktionalität der Arbeitsorganisation des bäuerlichen Haushalts noch mehr in den Mittelpunkt von Heiratsverhalten und Vererbungspraxis, nicht nur vonseiten der Grundherren, sondern auch vonseiten der bäuerlichen Familienstrategien. Gleichzeitig fand eine Desintegration kollektivistischer, „barbarischer“ Herrschaftsstrukturen statt, und zwar nicht nur in der ehemals karolingischen Kernzone, sondern auch im „karolingischen
Das European Marriage Pattern
77
Sukzessionsgebiet“ (Modzelewski 2011: 432). Am Ende dieses Prozesses deckte sich das Verbreitungsgebiet der karolingischen Hufenverfassung in ihrer weiterentwickelten Form mit jenem des European Marriage Pattern (Mitterauer 2003a: 72). Außerhalb des Verbreitungsgebiets dieses Heiratsmusters lagen, abgesehen von den östlich der Hajnal-Linie gelegenen Gebieten, nicht von ungefähr Süditalien und Sizilien, die im Mittelalter lange Zeit byzantinisch geblieben waren, das maurische (Süd-)Spanien, das ebenfalls vom karolingischen Einfluss freie Irland und westlich der von Triest nach St. Petersburg reichenden Hajnal-Linie gelegene Teile Finnlands. In diesen Teilen Europas fand der Prozess der „Vergetreidung“ nicht oder nicht in dem Ausmaß statt wie in der karolingischen Kernzone (Mitterauer 2003a: 72). Einen zumindest ebenso grundlegenden Einfluss auf die Etablierung des European Marriage Pattern wie die geänderte Agrarverfassung hatte die Christianisierung weiter Teile Europas in seiner lateinischen Form. Das spätantike Christentum als Stadtreligion traf auf soziale Verhältnisse, für welche patrilineare Familienformen zunehmend dysfunktional waren. Die seit dem 4. Jahrhundert von der Kirche propagierte Inzestund Endogamiefeindlichkeit geriet daher bald in Gegensatz zur traditionellen Praxis römischer Familien (Oesterdiekhoff 2002: 79 f., 86 – 89). (Kelto-)römische und germanische Traditionen, die den Ahnenkult, den Sippenverband und die Polygamie kannten (Goody 2002: 71 – 86), die daraus erwachsene Praxis des Brautkaufs, der Munt und der Muntehen bekämpfte die Kirche nachdrücklich. Die christliche Ehe beruhte theologisch letztlich auf einem partnerschaftlichen Verständnis des Verhältnisses von Ehefrau und Ehemann, auch wenn sie de facto nicht an der patriarchalen Realität rüttelte. Dies begünstigte die Verbreitung eines gattenzentrierten Familientyps. Diesen kennzeichnet eine Zuordnung der Kinder zur Abstammungsfamilie beider Elternteile, was erbrechtlich die Weitergabe von Besitz, anders als beispielsweise in Osteuropa, auch über die Frau oder Witwe ermöglichte (Mitterauer 2003a: 78). Weiters zählten auch ein in der Regel geringer Altersunterschied der Ehegatten und die Präsenz von nicht verwandtem ledigem Gesinde in der Position „sozialer Kinder“ zu den Merkmalen dieses Familientyps.
78
Das European Marriage Pattern
Mit der Verbreitung christlicher Gemeinden schwand die sakrale Bedeutung der Familie und Verwandtschaft. Dadurch verlor auch die eheliche Fertilität ihre überhöhte Bedeutung, die sie etwa im Islam besitzt. Asketische, zölibatäre Lebensformen finden sich schon im spätantiken Mönchstum. Seit dem 4. Jahrhundert waren die hohen Weihen mit der Ehe unvereinbar, ebenso das Leben in Klostergemeinschaften als Mönch oder Nonne, und seit dem 7. Jahrhundert war die Ehelosigkeit der Geistlichkeit allgemein anerkannt, wenngleich bei Weitem noch nicht voll durchgesetzt. Dazu trug erst die Gregorianische Reform entscheidend bei. Die Reformation, die das protestantische Europa, welches den Zölibat ablehnte, vom katholischen schied, setzte der Größe des zölibatär lebenden Bevölkerungsteils jedoch wieder Grenzen. Der mit der Reformation erfolgte Säkularisierungsschub erfuhr im Zeitalter der Aufklärung und der Französischen Revolution eine erhebliche Verstärkung. Im späten 18. Jahrhundert zählten in den deutschsprachigen katholischen Gebieten nur noch rund 0,5 % der Bevölkerung zu den Personen geistlichen Standes, in den böhmischen Ländern und Galizien 0,2 %. In Frankreich zu Zeiten Colberts waren es 1,3 %, am Vorabend der Revolution 0,6 %. In Italien und Spanien betrugen die entsprechenden Anteile 2 – 3 % bzw. 1,5 %. In einzelnen südeuropäischen Städten blieben katholische Geistliche in der Bevölkerung jedoch eine sehr präsente Bevölkerungsgruppe. Zum Vergleich: Um 1990 gehörten 0,2 – 0,3 % der Bevölkerung in Deutschland, Österreich und Italien dem geistlichen Stand an (Hersche 2006: 251 – 253, 1080 – 1090). Neben der freiwilligen Wahl des geistlichen Standes erzwangen auch Vererbungsstrategien der Oberschicht den Eintritt in das Kloster oder manchmal auch nur lebenslange Ehelosigkeit außerhalb kirchlicher Institutionen, und dies im Laufe von Mittelalter und früher Neuzeit in steigendem Maß. Schon im Frühmittelalter sorgten Familienstrategien für einen erheblichen Kreis von in der familia 21 ohne Familie lebenden Familienmitgliedern beiderlei Geschlechts (Fichtenau 1994: 173 f.). Der Anteil der lebenslang Ledigen in der englischen Oberschicht des
21 Hausgemeinschaft.
Das European Marriage Pattern
79
Spätmittelalters lag unter 10 %, in der frühen Neuzeit jedoch bei bis zu 30 %, und im Mailänder Adel im 17. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei 50 % und darüber. Aber auch im Genfer Bürgertum und unter Ärzten und Chirurgen im Großherzogtum Toskana lag er im 16. und 17. Jahrhundert bei 15 – 20 %. Was die gesamte Bevölkerung betrifft, kam den restriktiven Heirats- und Vererbungspraktiken der Oberschicht angesichts ihres sinkenden demografischen Gewichts freilich immer geringere Bedeutung zu (Cipolla 1988: 153). Lebenslange Ehelosigkeit beschränkte sich jedoch in der Zone des Europan Marriage Pattern nicht nur auf die Geistlichkeit und Teile der Oberschicht. Einer namhaften Minderheit der bäuerlichen Knechte, Mägde und städtischen Dienstboten blieb Heirat ein Leben lang verwehrt. Deren Anteil nahm seit dem ausgehenden Mittelalter erheblich zu. Lebenslang unverheiratet gebliebene Frauen waren im Florenz des 15. Jahrhunderts unter der weiblichen Bevölkerung noch selten anzutreffen (2 %), im 16. Jahrhundert vervielfachte sich dieser Wert auf 11 – 13 % (Lynch 2003: 46). Im 17. und 18. Jahrhundert dürften in ausgewählten Salzburger Orten ein Viertel bis ein Drittel der Bevölkerung von Ehe losigkeit betroffen gewesen sein (Cerman 1997: 343, 345), im späten 19. Jahrhundert im Alpenraum mehr als die Hälfte der heiratsfähigen Männer (Ehmer 1991: 127 f.). Der lebenslangen Ehelosigkeit von Knechten oder Mägden entsprach in der städtischen Sozialstruktur jene von Dienstmädchen, Kammerdienern oder Handwerksgesellen. Die Verhängung von De-facto-Zölibaten perpetuierte sich sogar bis in das Industriezeitalter. Beispielsweise galt in der Habsburgermonarchie für einen großen Teil der weiblichen Staatsbeamten als Einstellungserfordernis Ehe- und Kinderlosigkeit. Dieses Gebot wurde erst 1917 und 1918 gelockert und durch das Gesetz vom 5. Februar 1919 für einen Großteil der Beamtinnen in der neugegründeten Republik Österreich aufgehoben. Durch eine im Jahr 1934 in Kraft tretende Verordnung wurden jedoch Beamtinnen, die mit besser verdienenden Ehegatten verheiratet waren, gezwungen, den Dienst zu quittieren. Österreich war kein Einzelfall – in ganz Europa drohte verheirateten weiblichen Angestellten im Zuge der Kampagnen gegen „Doppelverdienerinnen“ die Entlassung (Wikander 1998: 162 f.). Viele gingen dieses Risiko nicht ein und blieben ledig. Es ist nicht übertrieben,
80
Das European Marriage Pattern
auch dieses gesellschaftliche Phänomen als Bestandteil eines europäischen Habitus zu bezeichnen. In der Zone des European Marriage Pattern blieben unter der Geburtskohorte der um 1800 geborenen Frauen etwa 30 % lebenslang unverheiratet, und zwar gleichgültig, ob sie aus katholischen oder protestantischen Ländern stammten (Rothenbacher 2003: 37). In Frankreich waren von den Geburtskohorten der 1820er-Jahre bis zu jenen der Zwischenkriegszeit konstant zehn und mehr Prozent der Frauen und Männer im Alter von 50 Jahren ledig (Segalen 1990: 146). Im interkulturellen Vergleich hat Europa bis in die Gegenwart einen vergleichsweise hohen Anteil Unverheirateter (Malanima 2010a: 50 – 52). Demografisch von noch größerer Bedeutung war jedoch die „europäische“ Praxis später Heirat und Familiengründung. Sie hatte spätantike Vorbilder, zumindest was das Heiratsverhalten der Männer anbelangt. Das durchschnittliche Heiratsalter der Römer war im Imperium Romanum mit 25 Jahren vergleichsweise hoch (Krause 2003: 31). Viele Männer innerhalb des römischen Kulturkreises mussten erst auf den Tod des Vaters warten, ehe sie heiraten konnten. Die Bevorzugung des Erstgeborenen, die Primogenitur, spielte hingegen in der Spätantike keine Rolle, und sie sollte auch noch im Feudalismus keine durchgängige Praxis werden (Goody 2002: 87 f.). Das Heiratsalter der römischen Frauen war jedoch niedrig, im Schnitt 17 – 18 Jahre, aber auch 12- bis 13-jährige verheiratete Mädchen waren nicht ganz ungewöhnlich, vor allem in der Oberschicht (Krause 2003: 30). Frühe Heirat der Mädchen bzw. Frauen kennzeichnete auch in der neuen, aus römischem Senatorenadel und gentiler 22 Königfamilie zusammengesetzten Oberschicht der Nachfolgereiche das Heiratsverhalten. Auch abseits der Oberschicht prägten das frühgermanische Europa patrilineare Verwandtschaftssysteme, die besonders früher Heirat förderlich waren (Wemple 1981: 2). Ein langobardisches Gesetz aus dem 8. Jahrhundert verbot beispielsweise die Heirat von Mädchen vor dem vollendeten 12. und von Knaben vor dem vollendeten 13. Lebensjahr, was ein gewisses Indiz darstellt, dass dies nicht nur vereinzelt vorkam (Fasoli
22 In der Spätantike im Zuge von Wanderungsbewegungen sich herausbildende, ursprünglich multiethnische „Stämme“ (=gentes).
Das European Marriage Pattern
81
1980: 410). In karolingischer Zeit waren die Bräute im Durchschnitt lediglich 14 – 15 Jahre alt (Malanima 2010a: 53). Die Schwierigkeiten der Kirche, den Zölibat im Zuge der Gregorianischen Reform durchzusetzen, verweisen auf die noch vergleichsweise schwache Verankerung der Ehe als legitimer Ort der Fortpflanzung. Dennoch ist es erstaunlich, dass es im Einflussgebiet des European Marriage Pattern kirchlichen und weltlichen feudalen Gewalten nach und nach gelang, patrilineare Traditionen, die die frühe Heirat im Familienclan begünstigten, mehr und mehr zu beseitigen, während dies in Osteuropa und in den Randzonen des Kontinents nicht der Fall war. Eine mögliche Erklärung scheint in einem Zusammenwirken römischer, germanischer und christlicher Einflussfaktoren zu suchen zu sein. Den christianisierten Mansusbauern wurde Ahnenkult und Endogamie 23 aus religiösen Gründen verwehrt. Dies gelang auch darum, weil die Rechtsstellung der Frau nach germanischen Traditionen verhältnismäßig stark war und das Klosterleben eine außerfamiliäre Alternative bot. Die größte Bedeutung scheint jedoch gehabt zu haben, dass die politischen und religiösen Umbrüche von Spätantike und Frühmittelalter – „Völkerwanderung“, gentile Nachfolgereiche, Invasionen – einen kulturellen Scherbenhaufen hinterließen, der im Gegensatz zu Osteuropa oder auch Irland oder Finnland die Zerschlagung patrilinearer Clanstrukturen durch die Grundherren in wenigen Jahrhunderten ermöglichte, während deren Erosion andernorts erst durch das Einsickern der westlichen Zivilisation im 19. und 20. Jahrhundert vonstattenging (Oesterdiekhoff 2002: 98). Dieses „andere Europa“ kannte zunächst keinen Feudalismus westlicher Prägung, sondern tributäre „Fürstenrechtsverfassungen“, die im „barbarischen“ Erbe wurzelten. In Polen, den böhmischen Ländern und Ungarn forderte bis in das Hochmittelalter eine Oberschicht Tribut, aber sie griff kaum in die kollektivistischen lokalen Traditionen ein, die mit großer Beharrungskraft verteidigt wurden (Modzelewski 2011: 434 – 436). Diese mochten die Handlungsoptionen des Einzelnen drastisch eingrenzen, die Fertilität beschränkten sie nicht. Im Gegenteil:
23 Heirat innerhalb einer bestimmten sozialen oder ethnischen Gruppe.
82
Das European Marriage Pattern
In vielen dieser Gesellschaften bestand ein erheblicher kollektiver Druck zur frühen Heirat, die ja im Früh- und Hochmittelalter ohnehin auch in der ehemals franko-römischen Welt noch vorherrschte. Dort zeigten sich besonders während der hochmittelalterlichen demografischen Wachstumsphase Veränderungen. Robert Fossier hat aufgrund der sich vom 11. zum 13. Jahrhundert deutlich verkleinernden Haus größen spekulativ auf die Verbreitung kleinerer Familien und damit späterer Heirat geschlossen (Fossier 1997: 132). Die stärksten Impulse zum Aufschub von Heirat kamen aus den rasch wachsenden Städten. Im städtischen Gewerbe waren Neolokalität und die Heirat erst nach dem Freiwerden einer Meisterstelle mit der Herausbildung und rechtlichen Fixierung von Zunftverfassungen bald die Norm. In den Städten ging das durchschnittliche Heiratsalter der Frauen daher schon im ausgehenden Mittelalter gegen 20 Jahre, das der Männer lag zwischen 25 und 30 Jahren (Lynch 2003: 45 f.). Wann in der Zone des European Marriage Pattern späte Heirat zur allgemeinen Praxis in Stadt und Land wurde, ist jedoch zeitlich nicht genau zu bestimmen. Vielleicht nicht von ungefähr thematisierte der Florentiner Leon Battista Alberti in seinem Buch Della Famiglia („Vom Hauswesen“) den in seiner engeren Heimat beobachteten Wandel des Heiratsverhaltens. Nach Alberti heiratete die junge Männergeneration ganz im Gegensatz zu früher nun nicht vor dem 25. Lebensjahr (Alberti 1986: 138). Diese Behandlung des Heiratsalters bei Alberti, einem Mann, der den gesellschaftlichen Wandel im Italien der Frührenaissance bewusst miterlebte, dürfte nicht zufälligen Charakters sein. Nach den von John Hajnal gesammelten Fallstudien kann kaum ein Zweifel bestehen, dass ab dem 16. Jahrhundert in der Kernzone des European Marriage Pattern viele Männer und Frauen erst mit 25 und mehr Jahren heirateten (Hajnal 1974). Im norditalienischen Raum war späte Heirat beider Geschlechter noch im 16. Jahrhundert eher selten, in Venedig und der Toskana im 18. Jahrhundert aber bereits üblich (Goody 2002: 151). Im 19. Jahrhundert betrug das Erstheiratsalter westlich der Hajnal-Linie etwa 26 Jahre bei den Bräutigamen und 24 Jahre bei den Bräuten. Diese Werte wurden zum Teil in der Kernzone des European Marriage Pattern, in Großbritannien, Frankreich, dem deutschsprachigen Mitteleuropa und Skandinavien, noch erheblich überschritten (Livi-Bacci 1999: 135).
Das European Marriage Pattern
83
Im 18. Jahrhundert kam es zu bedeutsamen Veränderungen innerhalb der Kernzone des European Marriage Pattern. Es entwickelte sich eine Lohnarbeits- und eine bäuerliche Variante des Musters, wobei erstere durch ein vergleichsweise niedriges Erstheiratsalter geprägt war. In England förderte der Einzug des Kapitalismus in die Landwirtschaft freie Lohnarbeit, die mit einem Rückgang des hohen durchschnittlichen Erst-Heiratsalters um zwei bis drei Jahre verbunden war. In Frankreich ging dieses dagegen in etwa im selben Ausmaß nach oben. Ein ähnlicher Anstieg fand auch in der Toskana, in Flandern und im deutschsprachigen Mitteleuropa statt. Dieser Anstieg kann zumindest in Mitteleuropa als Bewältigungsversuch des ökonomischen Wandels gesehen werden. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen der unterbäuerlichen Schichten an der Wende zum Industriellen Zeitalter und von Gesellen und Kleinmeistern im städtischen Handwerk provozierten den Aufschub von Heirat (Ehmer 1991: 16, 232 – 234). Der Rückgang des Erst-Heiratsalters in den durch Heimarbeit im Verlag gekennzeichneten protoindustriellen Zonen stand diesem Trend nur temporär entgegen. In vielen dieser Zonen stieg das Heiratsalter mittelfristig wieder an. Das traf auch teilweise auf das kontinentale Industrieproletariat zu. Die Auflösung traditioneller sozialer Bindungen sorgte im frühindustriellen proletarischen Milieu dafür, dass sich mehr und mehr werdende Väter der Eheschließung entzogen oder in Konkubinaten lebten (Seccombe 1995: 50 f.; Rosenbaum 1990: 427). Die Verbreitung von Illegitimität in der Zone des westeuropäischen Heiratsmusters unterlag auch erheblichen mentalitätsgeschichtlichen Einflüssen. In Frankreich und Kärnten, dem „Jamaika Europas“ (Mitterauer 1983: 23), besaßen hohe Illegitimitätsraten eine bis in die frühe Neuzeit zurückreichende Tradition, die sich aus einer antigegenreformatorischen und zum Teil auch antikirchlichen Haltung erklärt. Im diametralen Gegensatz dazu bestand in Irland trotz hohem Erst-Heiratsalter kaum Illegitimität, da dort der Katholizismus eine positiv besetzte identitätsstiftende Funktion besaß (Gestrich 2003: 507). Eine gewisse Konvergenz des Erst-Heiratsalters innerhalb der Zone des European Marriage Pattern trat erst mit dem Übergang zur Hochindustrialisierung ein. Nun glichen sich das Heiratsalter in England und Mitteleuropa wieder an (Ehmer 1991: 18).
84
Das European Marriage Pattern
Das Gesinde- und Dienstbotenwesen in der Zone des European Marriage Pattern lieferte in Form der life-cycle servants einen konstanten Beitrag zum hohen Erst-Heiratsalter. Nach Untersuchungen in 63 englischen Landgemeinden lag der Anteil der Gesindepersonen in der frühen Neuzeit und im frühen 19. Jahrhundert unter den 15- bis 24-Jährigen bei etwa 60 %. Ganz ähnlich war die Situation in Skandinavien und Flandern. Auch in Österreich setzte sich das Gesinde primär aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen. Untersuchungen der Altersschichtung des Gesindes in österreichischen Städten und Gemeinden erbrachten für die frühe Neuzeit und das 19. Jahrhundert fast durchwegs eine Dominanz der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen, und zwar im Ausmaß von 60 bis 70 % (Mitterauer 2009: 64 – 69). Nun war es nicht so, dass Knechte und Mägde keine sexuellen Beziehungen unterhalten hätten (Sieder 2004: 95 – 126), die auch zu unehelichen Geburten führten. An die ehelichen Kinderzahlen reichten sie jedoch selbst in jenen Regionen, in denen Illegitimität sehr verbreitet war, bei Weitem nicht heran, dazu fehlte den Unverheirateten die ökonomische Basis. Eine Zone, in der sich west- und osteuropäisches Heiratsmuster trafen und überschnitten, war die Habsburgermonarchie. Während in den österreichischen Alpenländern bereits im 17. Jahrhundert Ledigenquoten der 25- bis 29-Jährigen um 50 % keine Seltenheit waren, traf das auf Böhmen nicht zu. Allerdings kam es auch in den böhmischen Ländern im 18. Jahrhundert zu einer Verschlechterung der Heiratschancen und zum Anstieg des durchschnittlichen Heiratsalters, das allerdings unter dem in der Zone des European Marriage Pattern verbreiteten blieb. Grundsätzlich unterschieden sich die österreichischen und böhmischen Länder durch die Länge des Gesindedienstes und die Vererbungspraxis. Diese Unterschiede bedingten einen differierenden Umgang mit im Haushalt lebenden Familienangehörigen. Diese mussten in den Alpenländern, in denen die Hofübergabe an einen Erben vorherrschte, den Hof verlassen oder ehelos bleiben, mit entsprechenden Konsequenzen für die Fertilität, während sie in Böhmen, aber auch im Königreich Ungarn verheiratet im Haushalt verblieben, auch wenn dieser schon an die Erbengeneration übergeben worden war. Von für die eheliche Fertilität eher untergeordneter Bedeutung war dabei, ob der Hof an den ältesten Sohn (Anerbenrecht)
85
Das European Marriage Pattern
oder an andere Erben übergeben wurde, was durchaus vorkam (Sieder 2011: 336). „Die Praxis der späten Besitzübergabe und die gesindeabhängige Wirtschaftsweise der ländlichen Ökonomie im Alpenraum steht in Böhmen einer relativ frühen Übergabe und einem verbreiteten Inwohnerwesen, das Verehelichung auch ohne Hausbesitz ermöglicht, und der Bildung komplexer Familien – also einem fehlenden Zusammenhang von Verehelichung und Haushaltsgründung – in einzelnen Regionen Ungarns gegenüber“ (Cerman 1997: 341). Letzteres begünstigte besonders frühe Heirat. Beispielsweise waren im slowakischen Brzezno im Zeitraum von 1787 bis 1869 und im ungarischen Besence im Zeitraum von 1787 bis 1895 etwa 50 % der Frauen schon vor dem Erreichen des 20. Lebensjahres verheiratet. Zwar kam es auch in Ungarn und der Slowakei im 18. und frühen 19. Jahrhundert zu einem Anstieg des Heiratsalters um ein bis zwei Jahre (Cerman 1997: 336 f., 346), doch änderte das an dem Differenzial im Vergleich zu den Alpenländern wenig. Auch noch in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie schwankte das durchschnittliche Heiratsalter im Reproduktionsalter in den Kronländern der österreichischen Reichshälfte erheblich. Besonders hoch war es in den Alpenländern, besonders niedrig im Nord- und teilweise auch im Südosten. Eine Mittelstellung nahmen die böhmischen Länder und der slowenische und istrische Raum ein. Kronland
1881/82
1910/1911
Niederösterreich
29,0
28,1
Oberösterreich
30,1
28,9
Salzburg
30,8
28,7
Steiermark
29,6
28,7
Kärnten
29,9
28,6
Tirol
29,4
28,0
Vorarlberg
30,2
28,3
Böhmen
26,6
26,3
Mähren
26,9
26,6
Schlesien
26,8
26,5
86 Kronland
Das European Marriage Pattern 1881/82
1910/1911
Galizien
24,9
25,3
Bukowina
24,7
24,5
Krain
27,9
26,9
Triest
27,5
27,2
Görz und Gradisca
26,3
25,5
Istrien
26,0
24,6
Dalmatien
27,1
24,2
österreichische Reichshälfte
26,7
26,4
Tabelle 6 Durchschnittliches weibliches Heiratsalter in der österreichischen Reichshälfte 1881/82, 1910/11
Eine rein ökonomische, aus der Arbeitsorganisation im ländlichen Raum abgeleitete Erklärung der Unterschiede im Erstheiratsalter in Ostmitteleuropa reicht allerdings nicht aus. Forschungen zur Haushaltsstruktur im frühneuzeitlichen Böhmen lassen einen recht hohen Anteil von Kernfamilien erkennen, die nur zum kleineren Teil mit Gesinde und anderen Familien Haushalte bildeten (Szołtysek 2011: 14 f.). Demnach dürfte bis in das 20. Jahrhundert auch die Tradierung einer Praxis früher Heirat als Bestandteil einer gemeinslawischen (und magyarischen) Vorlage eine größere Rolle gespielt haben (Modzelewski 2011: 443 f.). Eine indirekte Bestätigung dafür liefert noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs das im Vergleich zu den übrigen Landesteilen vergleichsweise überdurchschnittliche Heiratsalter in deutsch- oder gemischtsprachigen Wohngebieten im agrarisch geprägten Südböhmen und Südmähren, in den westungarischen Komitaten und in Siebenbürgen (Rumpler / Seger 2010: 101). Besonders niedrig war traditionell das Erstheiratsalter in Südosteuropa. In Bulgarien heirateten Frauen und teilweise auch Männer im Durchschnitt mit 20 Jahren. Dieses besonders niedrige Erstheiratsalter erklärt sich hinsichtlich der familiären Arbeitsorganisation aus der verbreiteten Brandrodung, der Viehzucht in der Puszta und der Weidewirtschaft mit der Haltung von Schafen und Ziegen in den gebirgigen Teilen des Balkans. Diese Ökotypen verlangten die Zusammenarbeit einer größeren
Das European Marriage Pattern
87
Zahl erwachsener Männer ohne Einbeziehung weiblicher Arbeitskräfte. Eine strikte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung war die Folge (Goody 2002: 154 – 156). Wie bereits am böhmischen Beispiel gezeigt, wäre es allerdings auch in diesem Fall verkürzt, den mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund auszuklammern. Trotz der Verbreitung von Geldwirtschaft und Lohnarbeit überlebten patrilineare Familienformen in Osteuropa über den Adel hinaus bis in das beginnende Industriezeitalter (Mitterauer 1990: 183; Mitterauer 1992: 227 – 229), obwohl sie für die gewandelten sozioökonomischen Rahmenbedingungen zunehmend keine Funktionalität mehr besaßen. Global betrachtet waren patrilineare Familien seit der Neolithischen Revolution die Regel. Traditionelle, auf Pflugbau basierende Agrargesellschaften neigten zur Übernutzung natürlicher Ressourcen. Die daraus resultierenden häufigen Kriege beförderten eine ausgeprägte Männerherrschaft. Dementsprechend war kein Platz für Zölibate. Fast alle Mitglieder dieser Gesellschaften heirateten, und das in der Regel früh und unabhängig von ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit. Dies führte zu „verausgabenden“ demografischen Regimen mit hoher Fertilität bei gleichzeitig hoher Kinder- und Müttersterblichkeit (Oesterdiekhoff 2002: 39, 44 f., 63). Die Persistenz dieses Musters zeigt sich bis in die Gegenwart. Der Anteil lebenslang unverheirateter Frauen in der Dritten Welt war und ist mit 1 – 3 % minimal (Grigg 1980: 239). Auch durch rigide bevölkerungspolitische Maßnahmen gelang es nur bedingt, die Praxis früher Heirat zu unterbinden. In der Zwischenkriegszeit lag das Erstheiratsalter chinesischer Frauen bei 14 – 18 Jahren, und trotz des ab den 1970er-Jahren vom kommunistischen Regime gesetzlich festgelegten Mindestheiratsalters stieg es lediglich bis auf 22 Jahre an, um seit der in den 1980er-Jahren eingeleiteten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Liberalisierung bereits wieder etwas zu sinken (Cartier 1997: 279, 301). Fertilitätsbremsen bestehen jedoch auch in Gesellschaften mit patrilinearer Familientradition. Die Funktion des hohen Heiratsalters übernahm in China, Japan und Indien und auch in einigen anderen außereuropäischen Kulturen der Infantizid. Nach einer Fallstudie kamen im chinesischen Liaoning im Zeitraum von 1792 bis 1840 unter Ein-KindFamilien auf 100 Mädchen 576 Knaben (Lee / Wang 1999: 42). Solche
88
Das European Marriage Pattern
Geschlechterproportionen sind nur aus einer weit verbreiteten Praxis des gezielten Kindsmords von weiblichen Säuglingen, der im ersten Lebensjahr nicht tabuisiert war, erklärlich. Eine Fortsetzung fand diese Form der Fertilitätsbeschränkung im ausgehenden 20. Jahrhundert in der gezielten Abtreibung weiblicher Föten. Die in der Volksrepublik China seit den späten 1970er-Jahren forcierte Ein-Kind-Politik motivierte vor allem Ehepaare aus dem ländlichen China zu solch einer Strategie, die durch verbesserte Pränataldiagnostik zusätzlich begünstigt wurde. Die gegenwärtige Geschlechterproportion 24 bei der Geburt kletterte dadurch auf 120 – 120 neugeborenen Knaben stehen in der Volksrepublik China 100 Mädchen gegenüber, weltweit kommen jedoch nur etwa 105 Knaben auf 100 Mädchen (UN 2009). In Südchina erfüllte zuvor auch die gesindeähnliche Stellung der „Kinderbräute“ in den Familien des Ehemanns und die Praxis, junge Eheleute oft erst nach drei bis fünf Jahren nach der Eheschließung zusammenleben zu lassen, die Funktion einer ehelichen Fertilitätsbremse (Cartier 1997: 280). Insgesamt kann die späte Eheschließung bis in die Gegenwart als eine (west-)europäische Besonderheit gelten, wenngleich sie an der Jahrtausendwende etwa auch in Osteuropa, Lateinamerika und Nordafrika zunehmend anzutreffen ist. Als moderne Variante des European Marriage Pattern ist die Verbreitung von Einpersonenhaushalten und des Zusammenlebens ohne Trauschein seit den 1960er Jahren in den skandinavischen Ländern, seit den 1970er-Jahren auch in anderen Teilen West- und Mitteleuropas zu sehen. Die überdurchschnittliche Verbreitung solcher Lebensformen deckt sich mit dem geografischen Muster des traditionellen „europäischen“ Heiratsmusters. Der einzige wesentliche Unterschied zum älteren Muster besteht in dem Verlassen des elterlichen Haushalts, das nun mit dem Wegzug in eine eigene Wohnung verbunden ist, während in der Vergangenheit Gesinde-, Lehrlings- oder Dienstbotenstatus zumeist das Leben in einem fremden Haushalt erzwangen (Gestrich 2003: 401 f.). Die Persistenz dieses spezifischen Heiratsmusters wird auch dadurch unterstrichen, dass im mediterranen Raum nach wie vor
24 Anzahl der Knaben (Männer) bezogen auf 100 Mädchen (Frauen).
Das European Marriage Pattern
89
uneheliche Kinder und Konkubinate seltener als in West- und Mitteleuropa sind (Goody 2002: 147). Seine demografische Wirkung erzielte das (west)europäische Muster in der Vergangenheit durch sexuelle Askese und Stigmatisierung illegitimer Geburt, rezent durch Kontrazeptiva und Abtreibung (Oesterdiekhoff 2002: 40, 69). Allerdings verweist der substanzielle und kontinuierliche Anstieg illegitimer Fertilität seit Mitte der 1960er-Jahre darauf, dass nach und nach in ganz Europa die Eheschließung im Zeichen eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels an Bedeutung verloren hat. Zeichen einer gewissen Konvergenz innerhalb Europas sind unverkennbar.
91
8.
Der Demografische Übergang in Europa
Nach der demografischen Boomphase des Hochmittelalters sollte es bis in das 19. Jahrhundert hinein dauern, ehe das demografische Wachstum Europas sich wieder deutlich von jenem Asiens und Afrikas abhob, wenngleich das Russische Reich, Amerika und Australien als europäische Außenposten in dieser Phase sogar eine noch wesentlich größere demografische Dynamik entwickelten. Da Europa, wie schon in der frühen Neuzeit, ein Auswanderungskontinent blieb, ja die überseeische Auswanderung im „langen 19. Jahrhundert“ (1800 – 1913) ihren Höhepunkt erlebte, erklärt sich das überdurchschnittliche Wachstum demografisch ausschließlich aus dem Auseinandergehen der Schere zwischen den Lebendgeborenen und den Sterbefällen. Geburtenüberschüsse in Europa waren freilich kein Spezifikum des 19. Jahrhunderts. Als dauer hafteres, nicht durch Mortalitätskrisenunterbrochenes Phänomen waren sie freilich neu. Mit Ausnahme von England und Frankreich trat die dauerhafte Öffnung der Schere nicht vor dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein und hielt etwa ein halbes Jahrhundert an. Dieser Prozess war eingebunden in einen grundlegenden Wandel der Fertilität und Mortalität, die von „vormodernen“ hohen Niveaus auf „moderne“, niedrige sanken. Der dem zugrunde liegende Umgestaltungsprozess wird in der Literatur auch als Demografischer Übergang oder als Demografische Transition bezeichnet. Einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit wurde der Begriff des Demografischen Übergangs nach 1945 vor allem aus dem entwicklungspolitischen Diskurs bekannt. Die empirische Verallgemeinerung der demografischen Geschichte der Industrieländer schien ein brauchbares Modell für den weiteren Verlauf des Wandels in den Ländern der Dritten und Vierten Welt zu liefern. In den Industrieländern war es zu einem Rückgang der Sterbe- und – verzögert – der Geburtenrate gekommen,
92
Der Demografische Übergang in Europa
der verblüffende Ähnlichkeiten zeigte. Auf diesen Ähnlichkeiten beruhen auch die Kernaussagen der sogenannten „Transformationstheorie“, als welche sie zuweilen fälschlich bezeichnet wird: •• Vormoderne Populationen sind durch hohe Sterberaten und Geburtenraten und geringes Wachstum gekennzeichnet. •• Während des sogenannten „Demografischen Übergangs“ öffnet sich die Schere zwischen Geburten- und Sterberate, wobei zunächst die Sterberate, in weiterer Folge die Geburtenrate auf ein niedriges Niveau fallen. Der time lag zwischen dem Fallen der Sterbeund Geburtenrate verursacht eine Phase hypergeometrischen (exponentiellen) natürlichen Bevölkerungswachstums während des Übergangs. •• Sowohl vor als auch nach dem Übergang differieren Geburtenund Sterberate nur wenig, ein annähernder Gleichgewichtszustand in Form geringer durchschnittlicher Wachstumsraten besteht. Eineinhalb Jahrhunderte nach Malthus hatte die Demografie also wieder ihre Meistererzählung! Indes, Versuche, das beschriebene Modell in Richtung einer demografischen Generaltheorie weiterzuentwickeln – sogar unter Einbeziehung des dritten demografischen Prozesses, der Migra tion –, scheiterten. Die Zusammenhänge zwischen Mortalitäts- und Fertilitätsentwicklung, ganz abgesehen von der Migrationsgeschichte, erwiesen sich als wesentlich komplexer, als dies auf den ersten Blick schien. Empirisch hat sich die Interpretation des Geburtenrückgangs als notwendige direkte Reaktion auf gestiegene Lebenschancen von Säuglingen, die die Verbindung zwischen Mortalitäts- und Fertilitätstransition herstellen, nicht bestätigt. Es lassen sich zahlreiche Beispiele bringen, die einen deutlichen Rückgang der Säuglingssterblichkeit lange vor jenem der Fertilität dokumentieren. Am deutlichsten wird das am schwedischen Beispiel. In weiten Teilen Schwedens sank die Säuglingssterblichkeit während des 19. Jahrhunderts mehr oder minder kontinuierlich, während ein nachhaltiger Fertilitätsrückgang nicht vor dem letzten Viertel des Jahrhunderts einsetzte und erst in den Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs an Dynamik gewann (Chesnai 1992: 544, 546, 581). Nur bedingt bestätigt hat sich auch die
Der Demografische Übergang in Europa
93
auf homöostatischen 25 Systemvorstellungen beruhende Annahme, vorund posttransitorische Bevölkerungen würden sich in einem Gleichgewichtszustand befinden. Für erstere wurde dies eindrucksvoll durch zahlreiche historisch-demografische Arbeiten, im Besonderen zur englischen und französischen Bevölkerungsgeschichte, widerlegt, für letztere durch die demografische Entwicklung in den Industriestaaten in den letzten Jahrzehnten. Zwar kann rezent von einem ähnlich niedrigen Niveau der Geburten- und Sterberaten gesprochen werden, der kontinuierliche Anstieg der Lebenserwartung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in vielen Industrie- und Entwicklungsländern und das zeitverzögerte Sinken der Fertilität ist jedoch mit dem Bild eines Gleichgewichts kaum vereinbar, eher mit dem eines „zweiten Übergangs“. Im Gegensatz zur Situation vor der demografischen Transition würde eine Fortschreibung des Trends der gegenwärtigen Fertilität und Mortalität in den Industrieländern nicht zu einem annähernd stabilen Zustand, sondern zu einem dauerhaften Schrumpfen der Ausgangsbevölkerung führen (Livi-Bacci 1992: 131). Am Ende eines „zweiten Demografischen Übergangs“, wenn die Verwendung dieses Begriffs überhaupt sinnvoll ist, dürften dauerhaft schrumpfende Bevölkerungen mit hohem Lebenserwartungsplateau und Reproduktionsraten deutlich unter dem Reproduktionsniveau stehen (Birg 1996: 58 f.). Während der Übergang von einem hohen zu einem niedrigen Fertilitäts- und Mortalitätsniveau unbestritten ist, wurde mit Bezug auf das in der „Transitionstheorie“ behauptete verallgemeinerbare Zusammenspiel von Mortalität und Fertilität auch der postulierte Ablauf der Transition an sich infrage gestellt. Als Gegenbeispiele dienten England und Frankreich. Während es in Frankreich schon im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einem merklichen Rückgang der Fertilität kam, war das englische Bevölkerungswachstum im späten 18. und im 19. Jahrhundert wesentlich vom Anstieg der Fertilität und nicht vom Rückgang der Mortalität bestimmt. Simon Szreter und Thomas Sokoll (Sokoll 1992: 420) haben daraus den radikalen Schluss gezogen, dass die Idee einer demografischen
25 Selbstregulierend, einem Gleichgewicht zustrebend.
94
Der Demografische Übergang in Europa
Transition, ja selbst die einer Fertilitätstransition keinen wie immer gearteten Erklärungswert besitzt und einen „modernisierungstheoretischen Mythos“ darstellt (Szreter 1993; Sokoll / Gehrmann 2003: 203). Im Sinn einer mechanistischen Auslegung des Modells war diese Aussage unzweifelhaft zutreffend. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das, was Szreter und andere als Beginn eines grundlegenden demografischen Wandels ansehen, nicht noch unter vortransitorische Schwankungen zu subsumieren ist, wenngleich eine sinkende Tendenz der Sterblichkeit seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, jedenfalls aber ab etwa 1820 in Teilen Europas nicht geleugnet werden kann. Der langfristig sinkende Trend der Sterberaten in skandinavischen Ländern wie Schweden gibt dafür ein Beispiel. Er war allerdings auch in diesen Ländern nicht dauerhaft und wurde im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, das als Periode höchster „sanitärer Not“ bezeichnet werden kann, unterbrochen. Insofern steht die Behauptung, der demografische Übergang hätte bereits im späten 18. Jahrhundert eingesetzt, auf sehr wackeligen Beinen. Vielmehr erweist sich das französisch-englische Paradox – in Frankreich fand der demografische Übergang vor der Industriellen Revolution, in England die Industrielle vor der demografischen Revolution statt (Chesnai 1992: 321 – 343) – als einseitig ökonomistische Betrachtung eines wesentlich komplexeren Veränderungsprozesses. 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0
Geburtenrate Sterberate
5,0
80 19
70 19
60
50
19
40
Grafik 2 Demografischer Übergang in Italien 1862 – 1980
19
19
30 19
20 19
10
00
19
19
90 18
80 18
70
60
18
18
18
50
0,0
Der Demografische Übergang in Europa
95
Jedenfalls bleibt das verblüffende, nicht zu leugnende Phänomen erklärungsbedürftig, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nach und nach in allen Teilen Europas ein durch einen massiven und anhaltenden Rückgang der Mortalität getriebenes Wachstum einsetzte – im Fall von England und Wales allerdings nahezu in einer parallelen Bewegung der Fertilität –, welches durch einen mehrere Jahrzehnte verzögerten, aber ebenso nachhaltigen Rückgang der Fertilität schließlich immer mehr reduziert wurde und in der Zwischenkriegszeit, in einigen Ländern auch erst im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts, in einen Zustand „moderner“ demografischer Verhältnisse mit niedrigen Geburten- und Sterberaten überging. Die Synchronizität dieser Transition verblüfft auch insofern, als die vortransitorischen regionalen Differenziale erheblich waren. Während in den west- und nordeuropäischen Ländern die Sterberaten um 1870 bei rund 25 lagen, was einer durchschnittlichen Lebenserwartung nahe bei 40 Jahren entsprochen haben dürfte, waren in den übrigen Teilen des Kontinents Sterberaten rund um 35 die Regel (Chesnai 1992: 54 f.). Ein Vierteljahrhundert später, um 1900, war die Sterberate in den west- und nordeuropäischen Ländern auf Werte zwischen 15 und 20 gefallen, in den übrigen auf 20 bis 25. Lediglich Spanien und Russland hinkten mit Raten knapp um 30 noch nach. Da mit Ausnahme Frankreichs die Geburtenrate bis zur Jahrhundertwende bei Werten um 30 und darüber verharrte, war dies der Zeitraum mit dem höchsten natürlichen Bevölkerungswachstum im Demografischen Übergang. Der fallende Trend der Mortalität setzte sich auch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – unterbrochen durch die Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahre – unvermindert fort. In den 1930er-Jahren war ein posttransitorisches Niveau der Sterberate um 10 bis 15 bereits weit verbreitet. Nach der Jahrhundertwende setzte jedoch auch ein dauerhafter Rückgang der Geburtenraten ein, der sich vor allem in der Zwischenkriegszeit beschleunigte. Da der Anteil der Bevölkerung im „Heirats- und Gebäralter“ durch die vorangegangenen starken Geburtskohorten noch entsprechend hoch war, erreichten die Geburtenraten in den 1930er Jahren mit einigen Ausnahmen jedoch zumeist nicht ganz das niedrige Niveau der Sterberaten (Chesnai 1992: 522 – 527, 562 f.).
96
Der Demografische Übergang in Europa
40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0
Geburtenrate Sterberate
5,0
35
30
19
25
19
20
19
20
19
15
19
10
19
05
19
00
19
95
19
90
18
85
18
80
18
75
18
70
18
65
18
60
18
55
18
18
18
50
0,0
Grafik 3 Demografischer Übergang in Frankreich 1850 – 1939
Aus der Analyse der Veränderungen der Geburten- und Sterberaten lassen sich die Auswirkungen der verschiedenen Phasen der Transition auf das Bevölkerungswachstum ableiten. Da die beiden Raten vom Altersaufbau der jeweiligen Bevölkerungen abhängen, sind Geburten- und Sterberate jedoch nur sehr grobe Indikatoren der zugrunde liegenden demografischen Prozesse der Fertilität und Mortalität. Das stellt so lange kein größeres Problem dar, wie alle verglichenen Bevölkerungen einen ähnlich jungen Altersaufbau aufweisen. Wie das eine Berechnung für England und Wales exemplarisch zeigt, war dies in Europa bis Anfang des 20. Jahrhunderts der Fall. Der Verlauf der Kurven der Geburtenund der Gesamtfertilitätsrate 26 unterschied sich bis dahin kaum (Hinde 2003: 221). Danach traf das jedoch nicht mehr zu. Gerade ab diesem Zeitraum stehen jedoch mit der Lebenserwartung und der Gesamtfertilitätsrate altersaufbauunabhängige Indikatoren für viele europäische 26 Die Gesamtfertilitätsrate (Total Fertility Rate) gibt die durchschnittliche Zahl an Kindern an, die ein bestimmter Geburtsjahrgang an Frauen nach Abschluss seiner reproduktiven Phase unter der im Beobachtungsjahr gemessenen altersspezifischen Fertilität aufweist, wenn von der Sterblichkeit der Frauen bis zum Ende dieser Phase abgesehen wird.
97
Der Demografische Übergang in Europa
Länder zur Verfügung, die eine präzise Rekonstruktion des Mortalitätsund Fertilitätsrückgangs erlauben. 40,0 35,0 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0
Geburtenrate Sterberate
5,0
35
30
19
25
19
20
19
20
19
15
19
10
19
05
19
00
19
95
19
90
18
85
18
80
18
75
18
70
18
65
18
60
18
55
18
18
18
50
0,0
Grafik 4 Demografischer Übergang in Schweden 1850 – 1939
Um 1870 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt in Europa nur in den nordischen Ländern sowie England und Wales bereits über 40 Jahren, in den übrigen Ländern zumeist um 35 und darunter. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs waren diese Lebenserwartungen auf Werte zwischen 45 und 55 angestiegen. In Dänemark, Norwegen und Schweden lagen sie sogar noch einige Jahre darüber (Leonard / Ljungberg 2010: 111). Dieser Aufwärtstrend setzte sich auch in der Zwischenkriegszeit fort. Nun waren Lebenserwartungen zwischen 55 und 65 Jahren und damit posttransitorische Niveaus erreicht. Der Rückgang der Fertilitätsraten folgte mit dem charakteristischen time lag. Die Gesamtfertilitätsrate lag um 1870 durchwegs noch über 5, auch in den entwickelten Industriestaaten. Eine Ausnahme bildete lediglich Frankreich mit einem Wert von 3,5. Um 1900 hatte sich daran noch wenig geändert. In den nord- und westeuropäischen Ländern waren die Gesamtfertilitätsraten jedoch schon unter 4, in Frankreich sogar unter 3 gesunken. In der Zwischenkriegszeit pendelten die durchschnittlichen Kinderzahlen in Nord- und Westeuropa bereits nur mehr knapp unter dem für die vollständige Reproduktion
98
Der Demografische Übergang in Europa
einer Bevölkerung notwendigen Wert von rund 2 (Livi-Bacci 1999: 178; Chesnai 1992: 543 – 549). Im krisengeschüttelten Deutschland und in Österreich wurde das volle Reproduktionsniveau sogar um 30 und mehr Prozent unterschritten (Kirk 1946: 55 f.). In weiten Teilen Süd- und Osteuropas hatten sich die durchschnittlichen Kinderzahlen jedoch noch nicht in diesem Ausmaß gesenkt. Dort kam es erst im dritten Viertel des 20. Jahrhunderts zu einem entscheidenden Rückgang der Fertilität. Wenn man nach den Gründen der demografischen Transition im Zeitraum von ca. 1870 bis 1930/50 fragt, so wird zunächst einmal klar, dass eine einfache Korrelation der demografischen mit der ökonomischen Entwicklung keine ausreichende Erklärung liefert. Der von der Lebenserwartung mitbestimmte Stand des Human Development Index als Wohlstandsindikator entsprach vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs keineswegs immer dem Ranking des Bruttosozialprodukts pro Kopf. Besonders deutlich wird das am Beispiel der skandinavischen Länder. In ihnen war der Anstieg der Lebenserwartung gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits sehr fortgeschritten, während sie noch vergleichsweise rückständige Ökonomien darstellten. Andererseits war das wilhelminische Deutschland ökonomisch bereits nahe an den Hauptkonkurrenten Großbritannien herangerückt, während der Human Development Index ein erhebliches Defizit an „biologischem Lebensstandard“ erkennen lässt (Leonard / Ljungberg 2010: 112). Dennoch blieb der wirtschaftliche und technologische Entwicklungsgrad eines Landes in Form von Sozialinvestments, die je nach nationaler Tradition eine kleinere oder größere Rolle spielten, nicht ohne Einfluss auf Tempo und Verlauf der demografischen Transition. Das wird schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts deutlich. Der wichtigste Faktor, der den Mortalitätsrückgang und damit das Aufgehen der Schere zwischen Geburten- und Sterbefällen anfangs bestimmte, war die sogenannte sanitary revolution (Szreter 1988; Szreter 2004). Darunter sind in einer ersten Phase Investitionen in die öffent liche Ver- und Entsorgung zu verstehen. Ausgehend von Großbritannien bildete sich auch auf dem Kontinent in vielen Ländern ein sanitary movement aus Politikern, Medizinern, Technikern und Philanthropen, die die Bekämpfung der hohen Sterblichkeit durch Modernisierung der
Der Demografische Übergang in Europa
99
öffentlichen Infrastruktur, in erster Linie der (Trink-)Wasserversorgung und der Entsorgung, vorantrieben. Die sanitäre Revolution setzte um 1850 zuerst in Großbritannien, dann in den USA und erst später in Kontinentaleuropa, um 1930 auch in einigen Ländern der Dritten Welt wie Brasilien, dem Iran und Ägypten ein (Easterlin 1997: 161 f.; Fraser 2003: 66 – 78). Im Zuge dieser Revolution entstanden in den großen Städten nach und nach zentrale Ver- und Entsorgungssysteme. Die alten Hausbrunnen und ungenügend filtrierten Flusswasserleitungen lösten Zentralwasserleitungen ab, die Senkgruben wurden durch große Teile des Stadtgebiets erfassende Kanalsysteme ersetzt. Im Zeitraum von 1860 bis 1890 wurden nach einer Stichprobe von 21 quer über den Kontinent verteilten Städten Europas in 14 zentrale Wasserleitungen errichtet (Juuti / Katko 2005). Während in den größeren Städten der Vorsprung Großbritanniens gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer geringer wurde, blieb er in den kleineren Gemeinden erheblich. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs besaß nahezu jede Gemeinde mit mehr als 2.000 Einwohnern in England und Wales eine zentrale Wasserversorgung, im Deutschen Reich im Jahr 1907 lediglich ein Drittel davon (Hennock 2000: 280 – 283). Wenn die Qualität des zugeleiteten Wassers hoch war oder die Filtriersysteme effizient funktionierten, trat mit der Inbetriebnahme dieser Systeme schlagartig eine deutliche Besserung der sanitären Bedingungen und ein damit verbundener Rückgang der Sterblichkeit ein. Ein frühes Beispiel moderner Wasserversorgung stellte das Longdendale-Projekt in Manchester dar. Diese Wasserleitung versorgte die boomende Industriestadt mit Quellwasser aus den Pennines Hills (Hassan / Wilson 1999: 45 f.). Dort, wo die Qualität des zugeleiteten Wassers zunächst zu wünschen übrig ließ, wie in München oder Hamburg, stellte sich der Effekt erst mit Verzögerung und nach entsprechenden Adaptierungen ein (Münch 1993; Evans 1990). Mit dem Fortschreiten der Assanierung 27 der Großstädte (Weigl 2005) minimierte sich oder verschwand der urban penalty. Zugleich verbesserten sich wohl auch die sanitären Verhältnisse in vielen Kleinstädten, obwohl es dazu
27 Modernisierung kommunaler Ver- und Entsorgungssysteme.
100
Der Demografische Übergang in Europa
noch an ausreichenden Studien fehlt. In der zweiten Phase der sanitären Revolution stand die Reform der öffentlichen Gesundheitspolitik und damit in Verbindung der Wandel der privaten Hygienestandards auf der Basis verbesserter Wohnbedingungen im Mittelpunkt (Floud 2011: 270 – 275). In ihr fand der sanitäre „catching up“-Prozess seine Fortsetzung. Nun profitierten überproportional Säuglinge und Kleinkinder von den getroffenen Maßnahmen, einer der Hauptgründe für den beträchtlichen Anstieg der Lebenserwartung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ganz Europa. Gleichzeitig sank, nicht zuletzt durch öffentliche Wohlfahrtspolitik unterstützt, die Infektionssterblichkeit auch bei Erwachsenen gravierend. Da jedoch auch die Sterblichkeit in den ländlichen Regionen, die von der sanitären Revolution zunächst wenig berührt wurden, auf breiter Basis sank, dürften auch Faktoren abseits der sanitären Revolution den Mortalitätsrückgang mitbestimmt haben. Wie Robert Fogel überzeugend gezeigt hat, kommt dafür eine deutliche Verbesserung des Ernährungs zustandes vor dem ausgehenden 19. Jahrhundert kaum in Frage, weder in Europa noch in den USA (Fogel 2004: 1 – 19). Im Gegenteil: Für große Teile der europäischen Bevölkerung ist im 18. Jahrhundert und in einem langen Zeitraum des 19. Jahrhunderts von einer Verschlechterung der Ernährungssituation auszugehen (Montanari 1993: 175). Wie sich anhand des Indikators der durchschnittlichen Körpergröße für Großbritannien, Schweden, die Habsburgermonarchie und Bayern zeigen ließ, verschlechterte sich der Ernährungszustand der nach 1760 Geborenen. Ein säkularer Aufwärtstrend über das Ausgangsniveau hinaus trat nicht vor 1850 ein. Das hatte verteilungspolitische Gründe. Selbst in Großbritannien waren die Reallohngewinne der Masse der Arbeitnehmer bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sehr limitiert, in Kontinentaleuropa stagnierten die Reallöhne während der Frühindustrialisierung (Pamuk / van Zanden 2010). Während der Phase der Proto- und Frühindustrialisierung trat trotz steigenden Wirtschaftswachstums eine Verschlechterung der materiellen Verhältnisse in den Unterschichten ein, ein Phänomen, das als Early Industrial Growth Puzzle bezeichnet wird. Relativ wenigen Industrialisierungsgewinnern stand ein wachsendes Heer von Modernisierungsverlierern in Form eines Agrar- und Industrieproletariats gegenüber, welches
Der Demografische Übergang in Europa
101
selbst im Fall von Realeinkommenszuwächsen unter hoher Arbeitsbelastung und miserablen ökologischen Bedingungen litt. Anthropometrische Befunde aus vielen Ländern zeigen, dass selbst der Ernährungszustand der Proletarier um 1900, in England um 1860, nicht viel besser war als jener der Unterschichten in Stadt und Land um 1790 (Komlos 1998a: 167 – 169; Komlos 1998b). Das Phänomen des Early Industrial Growth Puzzle traf allerdings die Bevölkerungen später Industrienationen weniger ausgeprägt als jene der industriellen Vorreiter (Osterhammel 2009: 265). Insofern bildete es einen der Gründe, dass der Demografische Übergang im engeren Sinn auch in England nicht wesentlich früher eintrat als anderswo. Selbst im Fall der englischen Realeinkommen, deren Anstieg ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts außer Frage steht und alle relevanten Bevölkerungsgruppen betraf, scheinen die indirekten Effekte des Wirtschaftswachstums in Form sanitärer, gesundheitspolitischer Maßnahmen bei Weitem überwogen zu haben, während substanzielle Verbesserungen des Ernährungszustandes der Bevölkerung vorerst ausblieben (Hinde 2003: 217 f.). Immerhin zeigen anthropometrische Studien zur Körpergröße von Rekruten in einigen sozialpolitisch fortgeschrittenen Ländern Nordwesteuropas wie den Niederlanden, Dänemark, Schweden und Norwegen einen erkennbaren Aufwärtstrend ab den 1880er- und 1890erJahren, was auf eine verbesserte Ernährungssituation ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hindeutet. In England und Wales stieg der durchschnittliche Kalorienverbrauch pro Kopf im Zeitraum von etwa 1850 bis 1910 um etwa 20 %. Auch in einer ganzen Reihe anderer europäischer Länder bestand ein klarer Aufwärtstrend. Anthropometrische Zeitreihen für Italien und Frankreich lassen freilich erkennen, dass in größeren Teilen Europas frühestens am Beginn des 20. Jahrhunderts, eher jedoch erst in der Zwischenkriegszeit von einem positiven Einfluss der Ernährung auf den Mortalitätsverlauf die Rede sein kann (Floud 1994: 13 f., 16 – 19; Floud 2011: 160, 235, 267). Weniger die konsumierten Quantitäten, sondern mehr die Einführung neuer Konservierungsmethoden in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, die die Qualität der angebotenen Nahrungsmittel merklich verbesserten, dürften dabei entscheidend gewesen sein. Qualitative Verbesserungen der Ernährung
102
Der Demografische Übergang in Europa
lassen sich vor allem am schrumpfenden Anteil der starchy staples 28 (vor allem Kartoffeln) an der konsumierten Gesamtkaloriemenge festmachen. Deren Anteil sank von rund 70 % im 19. Jahrhundert auf 40 – 50 % in der Zwischenkriegszeit und 30 – 40 % um 1960. In Südeuropa war er jedoch substanziell höher (Grigg 1995: 253). Über den Einfluss des medizinischen Fortschritts auf den Mortalitätsrückgang hat sich seit den 1970er-Jahren eine wissenschaftliche Debatte entspannt, die noch keineswegs entschieden ist. Zweifellos wurden die Fortschritte der Medizin in der Vergangenheit unzulässig heroisiert. Wohl hatte die im Jahr 1798 vom englischen Arzt Edward Jenner bekannt gemachte Kuhpockenimpfung, die die zuvor in außereuropäischen Kulturen schon Jahrhunderte verbreitete riskantere Inokulation mit milder menschlicher Pockenlymphe ablöste, die Bekämpfung der damals bei Kleinkindern am stärksten verbreiteten Infektionskrankheit befördert und damit den wichtigsten Beitrag für den Rückgang der Mortalität vor dem eigentlichen Einsetzen der demografischen Transition in den 1870er-Jahren geleistet. Selbst ihre Vorläuferin, die Inokulation, könnte im Übrigen zum demografischen Wachstum des 18. Jahrhunderts beigetragen haben, nicht jedoch in Europa, sondern in China, wo sie viel verbreiteter war. Wie jedoch unter anderem die bis in die 1870er-Jahre niedrige Lebenserwartung in weiten Teilen Europas belegt, sollte die Wirkung der Pockenimpfungen nicht überschätzt werden. Erst die Einführung von Massenimpfungen unter Neugeborenen und Schülern gegen Ende des 19. Jahrhunderts sorgte für einen nachhaltigen, von der verheerenden Pockenpandemie der Jahre 1869/71 noch einmal unterbrochenen Erfolg bei der Immunisierung der Bevölkerung (Mercer 1990: 73, 154). Ein weiterer betraf die Diphterie. Die Krankheit, die temporär die häufigste Todesursache unter Kindern bildete, verlor dank der ab dem Jahr 1894 zur Verfügung stehenden Serumtherapie innerhalb weniger Jahrzehnte ihren Schrecken (Porter 2003: 441 – 443). Die Therapie beruhte auf passiver Immunisierung und zählte zu den großen Anfangserfolgen der Bakteriologie. Eine Schutzimpfung wurde erst in
28 Billige Magenfüller aus Getreide oder Feldfrüchten.
Der Demografische Übergang in Europa
103
den 1920er-Jahren entwickelt (Pammer 2009: 51). Dennoch waren das nur Einzelerfolge. Größere Bedeutung kam dem Einfluss von Medizinern in der Prävention und bei der Expertise sanitärer Projekte zu. Reformer wie der deutsche Arzt Rudolf Virchow verkörperten jene zunehmende Verschränkung zwischen medizinischer Wissenschaft und Gesundheits- und Sozialpolitik, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine weitere Intensivierung erfahren sollte. Medizinische Deutungsmacht wurde durch die Erkenntnisse der Bakteriologie ab den 1880er-Jahren auf eine kaum umstrittene wissenschaftliche Basis gestellt. Durch die Sozialmedizin entstand zudem eine neue medizinische Teildisziplin mit großer Nähe zur Gesundheitspolitik. Sie propagierte, zunehmend erfolgreich, eine breite Medikalisierung der Unterschichten, die sich in der Zwischenkriegszeit zu einem – wenn auch noch sehr lückenhaften – Wohlfahrtssystem verdichtete. Kurativ hatte die Medizin jedoch vor der massenhaften Verbreitung von Antibiotika ab den 1940er-Jahren wenig zu bieten. Allerdings sorgte die Kenntnis von Sepsis und Asepsis für eine erhebliche Verbesserung der Überlebenschancen von Müttern und Neugeborenen bei Spitalsgeburten, wie generell bei chirurgischen Eingriffen, was den Mortalitätsrückgang der Säuglinge ab 1900 mitbestimmte. Wie schon beim Verschwinden der Pest ist auch ein Einfluss mikrobiologischer Prozesse auf den Mortalitätsrückgang während der Demografischen Transition mit zu bedenken. So dürfte sich die Virulenz der Tuberkulose oder des Scharlachs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abgeschwächt haben. In England nahm die Tuberkulose- und Scharlachsterblichkeit unabhängig von der Bevölkerungsdichte in allen Teilen des Landes, auch in den äußerst rückständigen, signifikant ab (Woods / Shelton 1997: 114; Hinde 2003: 210 f.). Umstritten ist nach wie vor, was den gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden synchronen Rückgang der Fertilität in vielen europäischen Ländern auslöste. Unzweifelhaft erfasste der Wunsch nach einer Beschränkung der Familiengröße nach der Jahrhundertwende breite urbane Gesellschaftsschichten, im und nach dem Ersten Weltkrieg auch teilweise kleinstädtische und ländliche kulturelle Milieus. Dabei spielten, wie am britischen Beispiel gezeigt werden konnte, regionale Milieus, Einflussfaktoren wie die residential
104
Der Demografische Übergang in Europa
stability und self-fullfilling definitions of respectability eine erhebliche Rolle. Nach Simon Szreter gewannen innerhalb dieses Faktorenbündels die erwarteten Kosten der Kinderaufzucht zentrale Bedeutung (Szreter 1997). Und tatsächlich begannen angesichts der gestiegenen Lebenserwartung und der größeren Planbarkeit des eigenen und des Lebens der Kinder Kostenüberlegungen auch in den Mittel- und Unterschichten Einfluss auf das generative Verhalten zu nehmen. Besonders in jenen Milieus, in denen Frauen nicht von einer Kooperation der Männer bei der Familienplanung ausgehen konnten, bedurfte es der Verbreitung „neuer“ kontrazeptiver Mittel und steigender relativer weiblicher Erwerbseinkommen (Galor 2011: 132-135). Wie der kanadische Sozialhistoriker Edward Shorter plausibel machen konnte, kam es zumindest im großstädtischen Milieu zu einer wahren Abtreibungsrevolution (Shorter 1984: 217 – 255). Dank der Erkenntnisse der Bakteriologie waren Abtreibungen nunmehr mit mechanischen und chemischen Methoden leichter durchzuführen, und zumindest das Sterberisiko der Schwangeren sank deutlich. In der Zwischenkriegszeit nahm schließlich auch die Zahl der Ärzte und Hebammen, die Abtreibungen vornahmen, deutlich zu, weil sich trotz Illegalität durch die medizinische und soziale Indikation mancher Abtreibungen eine gewisse Grauzone öffnete und nur wenige illegale Abtreibungen tatsächlich gerichtsanhängig wurden. Die Existenz einer postulierten Abtreibungsrevolution wird jedoch von manchen Wissenschaftlern bezweifelt und demgegenüber die im späten 19. Jahrhundert einsetzende mentale Modernisierung herausgestrichen. Demnach hätten bewusste sexuelle Enthaltsamkeit, auch in der Ehe, sowie die zunehmende Verbreitung des coitus interruptus und neuerer kontrazeptiver Methoden wie Scheidenspülungen, Pessare, Kondome u. Ä. den Fertilitätsrückgang befördert (Jütte 2003: 219 – 236). Modernes kontrazeptives Wissen, wie die 1929 bekannt gemachte Knaus-OginoMethode 29, eröffnete überdies neue, wenngleich unsichere Optionen. Die Mentalitätsthese wird allerdings durch den Babyboom im nationalsozialistischen Deutschland, nach dem „Anschluss“ auch in Österreich, und
29 Auf den Menstruationszyklus aufbauende kontrazeptive Methode, benannt nach den Medizinern Kyasaku Ogino und Hermann Knaus.
Der Demografische Übergang in Europa
105
den in ganz Europa stattfindenden Babyboom der 1950er- und 1960erJahre empirisch relativiert. Offensichtlich erzwangen Weltkriege und Weltwirtschaftskrise eine Beschränkung der Geburtenzahlen deutlich unter dem von den betroffenen Paaren als wünschenswert erachteten Niveau der angestrebten Familiengröße. Auf die Entstehung von Wohlstandsgesellschaften reagierten die Nachkriegsgenerationen dann auch zunächst mit einem Babyboom. Erst ab etwa Mitte der 1960er-Jahre begann sich ein tief greifender mentaler Wandel abzuzeichnen, der zu einer Hinterfragung des bürgerlichen Familienmodells führte. Dieser Wertewandel hätte jedoch zu keinem derartig deutlichen und nachhaltigen Fertilitätsrückgang („Pillenknick“ 30) geführt, wenn nicht auch neue, sichere kontrazeptive Mittel in Form der „Antibabypille“ zur Verfügung gestanden wären. Der Entwicklung kontrazeptiver Technologien muss demnach hohe Bedeutung für den Fertilitätsrückgang zugemessen werden, wobei die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert steigende Nachfrage vonseiten der Betroffenen keineswegs geleugnet werden soll. Parallel zu den großen Veränderungen der Mortalität und Fertilität fand jedoch auch im Bereich der Wanderungsbewegungen ein Wandel statt, den man als Transition bezeichnen kann und der auf einen gemeinsamen Modernisierungszusammenhang des großen Wandels von Mortalität, Fertilität und Migration verweist. Migrationen hatten schon lange vor dem Industriezeitalter einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf Fertilität und Mortalität. Durch Wanderungsbewegungen wechselten großteils Menschen im heiratsfähigen Alter ihren Wohnsitz. Gesindewanderung oder aber auch Handwerksmigration zählten zu integrativen Bestandteilen des European Marriage Pattern, und sie waren auch außerhalb von dessen Verbreitungszone in Europa gebräuchlich. Migranten litten an der Übersterblichkeit in den mittelalterlichen, frühneuzeit lichen und frühindustriellen Städten und waren gleichzeitig über die Einschleppung infektiöser Krankheiten ihre Mitverursacher. Zuwanderer, besonders wenn sie aus anderen Kulturkreisen kamen, unterschieden sich
30 Rückgang der Geburtenzahlen infolge der Einführung und Verbreitung der „Pille“.
106
Der Demografische Übergang in Europa
häufig im generativen Verhalten von der jeweiligen Geburtsbevölkerung, auch wenn meist nach einigen Generationen die Fertilitätsdifferenziale geringer wurden oder zur Gänze verschwanden. Aus seiner Beschäftigung mit Wirtschaft und Gesellschaft spätmittelalterlicher Städte hatte der der „historischen Schule“ zuzurechnende Ökonom Karl Bücher bereits vor dem Ersten Weltkrieg auf gravierende Veränderungen des Wanderungsgeschehens hingewiesen. Nach Bücher kam es in der Geschichte zu einer mehr oder minder linearen Zunahme örtlicher Fixierungen. In einer ersten Kulturstufe dominierten seiner Ansicht nach Wanderungen mit steter Ortsveränderung (Nomaden, Wanderhandel, Vagantentum), in einer zweiten Wanderungen mit temporärer Umsiedlung (Gesellenwanderung, Chancenwanderung von Beamten, Bildungswanderung von Schülern, Studenten), in einer Zwischenstufe periodische Wanderungen (Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, Baugewerbe, Rauchfangkehrer etc.). In der dritten Stufe führten schließlich Wanderungen primär zu einer dauerhaften Umsiedlung. Nach Bücher fand also eine Migrationstransition hin zu einer immer sesshafteren Bevölkerung statt (Hahn 2008: 45 – 49). Bücher stand damit vorerst noch ziemlich allein, erschien es vielen seiner Zeitgenossen doch, als ob immer mehr Menschen wanderten. Nicht explizit auf Bücher Bezug nehmend zeigte Steve Hochstadt in einem wichtigen, in den 1980er-Jahren erschienenen Beitrag, dass der Gegensatz vorindustrielles versus industrielles Migrationsverhaltensparadigma nicht aufrechtzuerhalten ist. Durch zahlreiche Beispiele aus der deutschen Bevölkerungsgeschichte konnte er belegen, dass die vorindustrielle Gesellschaft durch eine hohe, wenn auch nicht immer bezifferbare Wanderungsintensität gekennzeichnet war. Über eine detaillierte Analyse der Migration in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte er eine „deskriptive Generalisierung“ des historischen Wanderungsgeschehens. Nach dieser kam es zwar im Industriezeitalter zu einem Anstieg der Migrationsraten bis vor dem Ersten Weltkrieg. Diesem Anstieg folgte allerdings ein jäher Rückgang in den 1920er-Jahren, der sich fortsetzte (Hochstadt 1999: 218). Seitdem befinden sich zumindest die alten Industrieländer – abgesehen von Kriegszeiten – in einer posttransitorischen Phase niedriger Migrationsintensität. Die von Hochstadt vorgenommene Generalisierung hat sich auch global bestätigt.
Der Demografische Übergang in Europa
107
Während im Zeitraum von 1815 bis 1914 rund 660 Personen pro einer Million der Weltbevölkerung freiwillig die Grenzen ihres Heimatlandes zwecks Wohnsitzwechsels überschritten, waren es von 1945 bis 1980 nur 215 (Amsden 2001: 21). Global fand der Bruch zu einem posttransito rischen Migrationsregime jedoch etwas später, in den 1940er-Jahren statt. Wie am Beispiel Chinas gezeigt wurde, entstand danach auch in weiten Teilen Asiens eine immobilere Gesellschaft, zumindest was die internationale und interkontinentale Wanderung betrifft (McKeown 2008). Ein Zusammenhang zwischen Migrationstransition und der Transition der Mortalität und Fertilität lässt sich also primär in der spät- und posttransitorischen Phase des Demografischen Übergangs feststellen. Lebenserwartung und Stabilität der Arbeitsbeziehungen nahmen am Übergang zur „Hochindustrialisierung“ erheblich zu. Dies förderte die dauerhafte Niederlassung am Arbeitsort und individuelle Familienplanung. Nicht nur die Überlebensverhältnisse und das generative Verhalten, sondern auch Wanderungen unterlagen in der Geschichte obrigkeitlichen, staatlichen Einflussnahmen. Als Conditio sine qua non erwiesen sich in der Migrationsgeschichte institutionelle Rahmenbedingungen, die Migration überhaupt erst zuließen, denn Migranten stellten in der Regel Minderheiten dar, die in einer Zielpopulation nur überleben konnten, wenn sie zumindest toleriert wurden oder sich gewaltsam Zugriff auf bestimmte Ressourcen verschafften. Änderungen dieser Rahmenbedingungen wurden historisch häufig durch politische Zäsuren bestimmt, die den Lauf der Migrationstransition nachhaltig beeinflussten. Sie folgten nicht notwendigerweise den aus gesellschaftlichem und ökonomischem Wandel resultierenden Trend des Migrationsgeschehen (Moch 1997: 43). Eine in der europäischen Migrationsgeschichte besonders herausragende Zäsur bildete der Erste Weltkrieg. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs endete in Europa ein jahrzehntelang vergleichsweise liberales Migrationsregime. Dass es nahezu schlagartig nach Ende des Ersten Weltkriegs zu einer starken Einschränkung der Migrationsbewegungen kam, hatte vor allem arbeitsmarktpolitische Gründe. Viele der neu gegründeten Nationalstaaten schützten ihre Arbeitsmärkte, installierten restriktive Visa-Regimes und Ausländerbeschäftigungspolitiken. Damit war eine Entwicklung eingeleitet, die bis in die Gegenwart nachhaltige Wirkungen
108
Der Demografische Übergang in Europa
auf das Wanderungsgeschehen ausübt. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wuchs der Einfluss von staatlichen Migrationspolitiken enorm. Deren negativste Form waren ohne Zweifel die großen Zwangswanderungen. Man hat das 20. Jahrhundert in Europa daher auch das Jahrhundert der Vertreibungen genannt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs in Nord, West- und Mitteleuropa die internationale Arbeitsmigration über Ländergrenzen hinweg erneut in Schwung, ohne dabei allerdings bei Weitem die Dimensionen der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu erreichen. Die in Europa im 19. und 20. Jahrhundert implementierten nationalen Migrationspolitiken sind als spezifische Form von Bevölkerungspolitiken zu betrachten, die über die bloße Kontrolle von Bevölkerungsbewegungen hinaus ethnische Homogenisierung und rassenpolitische Ziele verfolgten. Grenzen dieser Politiken zeigten sich selbst in autoritären Gesellschaften langfristig dort, wo ihnen säkulare gesellschaftliche Veränderungsprozesse entgegenstanden. So gelang es beispielsweise dem nationalsozialistischen Regime bis Ende der 1930er-Jahre trotz massiver bevölkerungspolitischer Maßnahmen nicht, die Fertilitätsraten der „arischen“ Bevölkerung weit über das volle Reproduktionsniveau zu heben. Eine Gesamtfertilitätsrate von 2,24 (in Westdeutschland) im Zeitraum 1936/40 (Chesnai 1992: 549) entsprach nicht den Erwartungen der Machthaber, auch wenn sie als Erfolg verkauft wurde (Burgdörfer 1942: 79 – 101). Warum aber kam es überhaupt zu demografischen Transitionen und warum in Europa und seinen Außenposten weit früher als in anderen Teilen der Welt? Wie bereits angedeutet, trug ein heterogenes Bündel von technologischen, sozioökonomischen und mentalen Veränderungsprozessen zum säkularen Rückgang von Mortalität, Fertilität und Migration bei. Einen im Zusammenhang mit dem demogra fischen Wandel bedeutsamen Faktor bildete ohne Zweifel im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine drohende Krise des Energie- und damit des Versorgungssystems, zumindest in den ökonomisch fortgeschrittenen Teilen des Kontinents. Dank des ursprünglich relativ hohen Fleischkonsums in Europa bestand jedoch die Möglichkeit der Substitution. Aufgrund des niedrigen energetischen Wirkungsgrads bei der Verwandlung von Futter in Fleisch konnten bei Verzicht auf Fleisch acht Mal
Der Demografische Übergang in Europa
109
so viele Menschen ernährt werden. Daher sank der Fleischverbrauch in der frühen Neuzeit kontinuierlich und drastisch. Gleichzeitig stieg der Verbrauch pflanzlicher Nahrungsmittel, vor allem des Brotes, ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch der Kartoffelkonsum (LiviBacci 1999: 69 – 71; Abel 1981). Trotz des substitutiven Effektes blieb die Versorgungslage im proto- und frühindustriellen Europa angespannt, hielt die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion gerade einmal mit dem demografischen Wachstum mit (Malanima 2010: 186 – 191; Federico 2009: 16 – 18). Eine ganz ähnliche Situation bestand im Chinesischen Reich. Auch in China wurde der demografische Spielraum enger. Nach groben Schätzungen verdoppelte sich die Bevölkerung allein im 18. Jahrhundert (Schottenhammer 2011: 333). Dies führte in China wie in Europa zu einer Plünderung der Energiereserven. Europa und China litten zusehends unter ökologischen Problemen (Pommeranz 2000: 211 – 242). Der Brennstoffverbrauch in China war jedoch pro Kopf wesentlich niedriger als in Europa, der Einsatz der Tiere in der Landwirtschaft erheblich geringer. Im 18. Jahrhundert übertraf die eingesetzte Gesamtenergie in der Landwirtschaft in Europa mit ca. 15.000 Kcal pro Kopf und Tag jene in außereuropäischen Gesellschaften mit 5.000 bis 10.000 (Malanima 2010a: 107 f.) erheblich. Europa stand vor einer größeren unmittelbaren Herausforderung. Jenes „innovative Milieu“, welches in Europa letztlich den Einsatz fossiler Energieträger, der Dampfkraft, künstlicher Düngemittel u. v. m. in Gang setzte, rekrutierte sich im erheblichen Maß aus den Ingenieurwissenschaften, und genau diesen kam auch bei der sanitary revolution große Bedeutung zu. Dass die sanitäre der Industriellen Revolution um mehr als ein halbes Jahrhundert nachhinkte, weist jedoch auch auf das lange Zeit mangelnde Investment in die öffentliche Gesundheit hin, nicht nur beim industriellen Vorreiter Großbritannien. Die demografische Transition in Europa war jedoch auch aus einem anderen Grund keineswegs ein reines Produkt der Industriellen Revolution. Ohne auf die vorangegangene, von der Aufklärung beförderte Entmoralisierung des medizinischen Weltverständnisses wäre sie nicht umsetzbar gewesen. Es fehlt zwar an vergleichenden Untersuchungen zur Stadthygiene außerhalb Europas, doch unzweifelhaft hinkten Asien, Afrika und Lateinamerika
110
Der Demografische Übergang in Europa
diesbezüglich hinterher. Der europäische Einfluss machte sich zwar bald auch in den Kolonien bemerkbar. Nach 1870 fanden britische Sanitätstechnologien z. B. auch in indischen Städten Anwendung (Osterhammel 2009: 263 – 265, 292). Aber dieser Einsatz blieb angesichts der sanitären Gesamtproblematik mehr punktuell, auch weil es in den ländlichen Regionen der Kolonien noch lange an den mentalen Voraussetzungen einer sanitary revolution fehlte. Der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Asien und anderen Teilen der Dritten Welt einsetzende Demografische Übergang beruhte nur bedingt auf einer endogen entwickelten sanitären Reform. Er konnte sich bereits mit seinem Einsetzen auf die teilweise Verfügbarkeit moderner westlicher Medizin stützen. Das beeinflusste auch sein Tempo. Die Steigerung der Lebenserwartung von 40 auf 60 Jahre dauerte in Europa etwa sieben Jahrzehnte, in den Entwicklungsländern lediglich 35, und zwar von ca. 1950 bis 1985. Die Lebenserwartung bei der Geburt liegt gegenwärtig in Ländern der Dritten Welt bei 65 Jahren. Das ist ein Niveau, welches in Europa gerade einmal zu Beginn der 1950er-Jahre, also nach Ende des Demografischen Übergangs, erreicht worden ist (Livi-Bacci 1999: 215; Münz / Reiterer 2007: 324 f.). Auf diesen mangelnden endogenen Charakter des Wandels der Überlebensverhältnisse ist es auch zurückzuführen, dass der Fertilitätsrückgang in der Dritten Welt vergleichsweise verzögert und zum Teil bis heute nicht einsetzte oder stark bevölkerungspolitisch induziert war, wie etwa durch die Ein-Kind-Politik in China. Diese Politik wurde in China im Übrigen erst zu einem Zeitpunkt implementiert, als die Lebenserwartung bereits geraume Zeit ein posttransitorisches Niveau erreicht hatte (Livi- Bacci 1992: 179; UN 2009). Zu berücksichtigen ist bei einem kontinentalen Vergleich auch das unterschiedliche Ausgangsniveau der Fertilität. In Europa lag die Gesamtfertilitätsrate an ihrem Höhepunkt bei Werten von vier bis fünf (Livi-Bacci 1999: 178), in der Dritten Welt bei sechs und auch noch deutlich darüber. Noch heute beträgt der entsprechende Wert für West- und Zentralafrika rund sechs (Münz / Reiterer 2007: 324 – 328). Im Gegensatz zum ersten Demografischen Übergang stützte sich der in den Industrieländern zu beobachtende zweite Übergang, was den Anstieg
Der Demografische Übergang in Europa
111
der Lebenserwartung betrifft, auf jene technophysio evolution, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre volle Entfaltung erlebte. Der parallele Anstieg der Lebenserwartung und anthropometrischer Indikatoren in der westlichen Welt verweisen auf den Einfluss erheblich verbesserter Ernährungsbedingungen und medizinischer Versorgung. Eine evolutionäre Veränderung fand seit den späten 1960er-Jahren auch im Bereich des generativen Verhaltens statt. Sie beruhte auf einer sexuellen Revolution, die sich auf neue, massenhaft verbreitete Kontrazeptiva und einen erheblichen mentalen Wandel stützte. Das Überschwappen dieser Evolutionen auf die Schwellenländer und manche Oberschichten der Dritten Welt verweist auch hier auf einen gemeinsamen Modernisierungszusammenhang, der freilich nicht einer simplen „Europäisierung“ oder „Amerikanisierung“ entspricht. Dazu divergieren Heiratsverhalten, Ernährungsgewohnheiten, soziale Sicherungssysteme und vieles mehr doch zu stark.
113
9.
Der epidemiologische Übergang
Vor dem großen Wandel der Überlebensverhältnisse im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Lebenserwartung der Menschen in Europa gering. Für das Früh- und Hochmittelalter belegen archäologische Befunde in Jahren, in denen keine schwere Seuche ausbrach, eine durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt zwischen 25 und 32 Jahren. War das Kindesalter einmal überstanden, erreichten die Menschen im Durchschnitt ein Lebensalter von rund 45 bis 50 Jahren (van Houtte 1980: 21). Die kurzfristigen Schwankungen der Lebenserwartung waren jedoch ganz erheblich. In Pestjahren konnte die durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt weit unter 20 Jahre fallen (Alter 1983). Das heißt natürlich nicht, dass eine Pestepidemie keine Erwachsenen überlebt hätten, sondern dass manche Pestepidemien Säuglinge und Kinder besonders stark betroffen haben. Es gibt allerdings Hinweise aus merowingischer und fränkischer Zeit, dass gerade im Frühmittelalter auch vergleichsweise höhere Lebensalter nicht selten erreicht wurden. So wurde für ein Sample von 35 frühmittelalterlichen Gräberfeldern aus verschiedenen Teilen Mitteleuropas eine durchschnittliche Lebenserwartung von 28 Jahren errechnet (Donat / Ulrich 1971: 234 – 265), was zwar nicht für allzu günstige Überlebensbedingungen, aber doch für die epidemiologischen Vorteile einer geringen Bevölkerungsdichte spricht. Deren Einfluss wird auch durch andere Befunde bestätigt. Wohl nicht ganz zufällig kam es in Ungarn von der Zeit der magyarischen Landnahme im 10. bis zum 12. Jahrhundert während einer Phase rascher Bevölkerungszunahme zu einem Rückgang der Lebenserwartung von etwa 33 auf 26 Jahre. Ebenso sank im demografisch boomenden hochmittelalterlichen England unter Grundbesitzern zwischen der Zeit um 1250 und dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts die Lebenserwartung von 35 auf 27 Jahre merklich (Russell 1983: 27). Ingesamt kann von einem stabil hohen, in einer
114
Der epidemiologische Übergang
gewissen Schwankungsbreite sich bewegenden Niveau der Mortalität in der Vormoderne ausgegangen werden. Eine temporäre Ausnahme bildete das elisabethanische England, wo die Lebenserwartung sogar knapp über 40 Jahre kletterte (Wrigley / Schofield 1989: 528). Die niedrige Lebenserwartung bei der Geburt im vormodernen Europa resultierte zu wesentlichen Teilen aus der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit. Aufgrund der hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit hatten auf dem ungefähren Gebiet des späteren Frankreichs zwischen dem 5. und 8. Jahrhundert rund 20 % der Ehepaare keine direkten Erben (Goody 2002: 60). Die Säuglingssterblichkeit betrug im Allgemeinen 15 bis 20 %, schwankte aber zeitlich und regional erheblich. In Polen lag sie im Frühmittelalter vielleicht bei 22 %, in Ungarn zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert bei 13 bis 18 %, in Zentralschweden jedoch bei 50 % (Russell 1983: 27). Im norwegischen Fröson in Jämtland lag im Zeitraum von 1050 bis 1350 die Sterblichkeit der unter 7-Jährigen bei 50 % (Youngs 2006: 24). Dieses hohe Niveau der Säuglings- und Kindersterblichkeit blieb in der frühen Neuzeit bestehen. Beispielsweise lag die Säuglingssterblichkeit im Zeitraum von 1621 bis 1699 in Fiesole in der Toskana bei rund 30 % (eigene Berechnungen nach Cipolla 1988: 306 f.), in England in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei 20 %, in London jedoch über 30 % (Mercer 1990: 77; Landers 1993: 190). Wie bereits erwähnt, kam es bereits im 18. Jahrhundert in einigen Teilen Europas, vor allem in England und den skandinavischen Ländern, zu einem ersten merkbaren Anstieg der Lebenserwartung, der jedoch noch nicht den Charakter einer großen Umwälzung trug. Für England im Zeitraum von 1726 bis 1751 wurde ein Wert von 35 Jahren berechnet, für Schweden von 1751 bis 1755 von 38 Jahren. Hingegen lag die Lebenserwartung in Frankreich im Durchschnitt der Jahre von 1740 bis 1749 bei lediglich 25 (Maddison 2001: 29). Mit dem Ansteigen der Lebenserwartung verbunden war ein Rückgang der jährlichen und saisonalen Schwankungen, der neben mikrobiologischen Ursachen nicht zuletzt auf verbesserter Versorgungssicherheit beruhte. Rückläufigen Schwankungsbreiten der Sterberaten in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ging ein entsprechender Rückgang der Getreidepreise seit Ende des 17. Jahrhunderts voraus. Hungerperioden wurden seltener (Malanima 2010a: 59 f.).
Der epidemiologische Übergang
115
Im 18. Jahrhundert unterschieden sich diesbezüglich die wirtschaftlichen Kernzonen Europas und Asiens noch kaum (Pomeranz 2000: 36 – 40). Um 1820 war in Westeuropa im Durchschnitt eine Lebenserwartung von 36 Jahren erreicht, in den USA von 39. Während zu Japan und China, mit Ausnahme des Säuglingsalters, bis in das ausgehende 19. Jahrhundert kein gravierender Unterschied bestand, tat sich zu weiten Teilen der übrigen Welt erstmals ein Bruch auf, denn in Afrika und Asien wird die Lebenserwartung im gleichen Zeitraum auf lediglich rund 23 Jahre geschätzt (Maddison 2001: 30; Campell / Lee/Bengtson 2004: 65 – 67). Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts trat jedoch ein säkularer Anstieg der Lebenserwartung in ganz Europa und seinen Außenposten ein, der eine große Schere zu den übrigen Teilen der Welt öffnete. Um 1910 lag die Lebenserwartung in Schweden, England, Holland, Frankreich und Deutschland bereits um 50 Jahre oder darüber (Livi-Bacci 1999: 177). Die asiatischen Länder mit Ausnahme Japans waren bereits weit zurückgefallen. Zum Vergleich: In Taiwan betrug die Lebenserwartung um 1906 28 – 29 Jahre (Campell / Lee 2004: 296). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war in den meisten europäischen Ländern ein großer Sprung in der Lebenserwartung nicht nur bei der Geburt, sondern auch im Erwachsenenalter zu beobachten: ein Sprung um etwa zwanzig Lebensjahre. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte zwar eine Fortsetzung des Aufwärtstrends, jedoch mit einem Altersgewinn von „nur noch“ rund zehn Jahren. Das ist insofern bemerkenswert, als die Realeinkommensentwicklung und die Veränderung der Bildungschancen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den größeren Sprung hätten erwarten lassen (Kaelble 2007: 103). Grob gesprochen pendelte die Lebenserwartung in den meisten europäischen Ländern um 1950 zwischen 65 und 70, am Beginn des neuen Jahrtausends war ein Wert von rund 75 erreicht. In Nord, Süd- und Westeuropa bewegte sich der Wert jedoch schon bei rund 78 – 79 Jahren; nur in Osteuropa hinkte die durchschnittliche Lebenserwartung mit 69 Jahren deutlich nach, was offensichtlich auf die Lebensbedingungen im „realen Sozialismus“ und die Transformationskrise zurückzuführen war. Es bestand nun ein nichtlinearer Zusammenhang zwischen Sozialprodukt pro Kopf und Lebenserwartung (Livi-Bacci 1992: 112; Münz / Reiterer 2007: 330 – 335).
116
Der epidemiologische Übergang
Eine Möglichkeit, sich den Hintergründen des säkularen Mortalitätsrückgangs analytisch zu nähern, bietet das Modell des epidemiologischen Übergangs. Dieses in den frühen 1970er-Jahren von Abel Omran ent wickelte Konzept unterscheidet drei Phasen des Wandels: •• Das Zeitalter der Seuchen und Hungersnöte: Es ist durch hohe Sterblichkeit mit erheblichen Fluktuationen (saisonal und im langfristigen Verlauf ) gekennzeichnet. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt zwischen 20 und 30, maximal bei 40 Jahren. Epidemiologisch spielen epidemisch auftretende Infektionskrankheiten wie Pest, Typhus, Ruhr, als später Ausläufer auch die Cholera, eine zentrale Rolle. •• Das Zeitalter der rückläufigen Epidemien: Die Sterblichkeit nimmt ab, die Lebenserwartung steigt auf rund 50 Jahre an. Epidemien werden seltener und durch endemische Infektionskrankheiten (vor allem die Lungentuberkulose) abgelöst. Bei Kindern behalten epidemisch auftretende Infektionskrankheiten als Todesursache ihre Bedeutung, wie etwa Pocken, Diphterie, Scharlach, Masern, gastrointestinale Infekte. •• Das Zeitalter der degenerativen und gesellschaftlich verursachten Krankheiten: Die Sterblichkeit pendelt sich auf niedrigem Niveau ein, die Lebenserwartung erreicht 70 Jahre und mehr. Infektionskrankheiten werden zu einem marginalen Faktor (Tuberkulose, Aids, Grippe). Die mit Abstand wichtigsten Todesursachengruppen bilden die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs (bösartige Neubildungen) (Spree 1998: 10 – 12). Der zeitliche Rahmen für die transitorische Phase 2 des Modells wird in Europa etwa durch den Zeitraum von 1820/70 bis 1930 abgesteckt. Omrans Modell hat sich im Wesentlichen als zutreffende Beschreibung des epidemiologischen Wandels erwiesen, auch wenn gewisse Adaptierungen und Einschränkungen zu machen sind. Diese betreffen vor allem die späte Phase 1, die in Europa und seinen Außenposten in der zweiten Hälfte des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusiedeln ist. Für diese Phase spielten Epidemien eine geringere Rolle als das nach Omrans etwas holzschnittartigem Phasenmodell zu erwarten wäre. Das
Der epidemiologische Übergang
117
Auftauchen der Cholera ab den 1830er-Jahren in Europa verweist allerdings darauf, dass Omran mit seiner Periodisierung nicht ganz falsch lag. Die späte Phase 1 gehört demnach noch dem Zeitalter der Epidemien an, kann aber als „Übergang vor dem Übergang“ betrachtet werden. Der überragende Einfluss der großen Seuchenzüge auf die Überlebensverhältnisse in der Phase 1 des epidemiologischen Übergangs lässt sich anhand einer Überschlagsrechnung quantifizieren. Bei einer Geburtenrate von 30 und einer Lebenserwartung von 30 entspricht jedes Jahr zusätzlicher oder geringerer Lebenserwartung 1 % mehr bzw. weniger der Wachstumsrate. Diese betrug im Schnitt von 1550 bis 1800 nur 3 Promille. Sterblichkeitsschwankungen hatten demnach einen enormen Einfluss auf die Bevölkerungsentwicklung (Livi-Bacci 1999: 119), wenn man bedenkt, dass die Lebenserwartung während des Ausbruchs von Pestepidemien oder anderen schweren Seuchen unter 20 sank. Das Auf und Ab der Pestwellen und das anderer epidemisch auftretender Infektionskrankheiten in Phase 1 des epidemiologischen Übergangs lässt sich aus der ökologischen Beziehung zwischen parasitären Mikroorganismen und ihrem Wirt erklären. Durch den Tod bzw. die Immunität des oder der Befallenen kann die Generationenfolge der Mikroorganismen abreißen. Sinkt die Bevölkerungsdichte oder die Dichte der Überträgerpopulation (z. B. der Ratten) unter eine bestimmte kritische Grenze, führt das zum Ende der Epidemien. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit gehörten unablässige kleinere und größere Kriege zum Alltag der Menschen. Dementsprechend zählten neben der Pest mit der Ruhr und dem Fleckfieber zwei Kriegsseuchen par excellence zu den großen Killern. Bei Ruhrerkrankungen werden die Erreger mit dem menschlichen Stuhl ausgeschieden und durch fäkale Kontamination übertragen. Angesichts der hygienischen Bedingungen, unter denen Soldaten und Zivilbevölkerung litten, boten sich für diese Krankheit während der Kriegszüge ideale Ausbreitungsmöglichkeiten. Die Ruhr wurde daher auch im frankophonen Raum als „Krankheit der schmutzigen Hände“ bezeichnet (Winkle 1997: 339). Das von Kleiderläusen übertragene Fleckfieber trat vermutlich erstmals bei der Belagerung von Granada 1489/90 im größeren Maßstab auf und war ein ständiger Begleiter der Heere am italienischen Kriegsschauplatz
118
Der epidemiologische Übergang
in den 1520er-Jahren. Mit dem Aufkommen stehender Heere verbreitete es sich im 18. Jahrhundert auch vermehrt in Soldatenlagern, Kasernen, Gefängnissen und anderen größeren Anstalten (Vasold 1991: 159). Die schwersten Epidemien entstanden jedoch nach wie vor im Gefolge von Kriegszügen. Ein besonders heftiger Ausbruch des Fleckfiebers begleitete die Armee Napoleons 1812/13 nach Russland. Die Seuche kostete die Armee wesentlich mehr Opfer als die unmittelbaren Kriegshandlungen (Winkle 1997: 618 – 669). Nach dem Ausbleiben der Pestepidemien rückten im 18. Jahrhundert die Pocken an die erste Stelle der epidemisch auftretenden Infektionskrankheiten. Bei den Pocken handelt es sich um eine durch Tröpfchen infektion von Mensch zu Mensch verbreitete schwere akute Virusinfektion. Sie gefährdete vor allem das Leben von Kleinkindern, obwohl sie auch für Erwachsene lebensgefährlich sein konnte. Pockenepidemien sind schon im Frühmittelalter nachzuweisen. Gut dokumentiert ist etwa eine Pockenepidemie der Jahre 580/81 bei Gregor von Tours. Es dauerte allerdings bis in das 16. Jahrhundert, ehe von einer kontinentweiten Verbreitung gesprochen werden kann, und erst im ausgehenden 17. Jahrhundert wurden die Pocken zum Killer Nummer eins (Hopkins 2002: 24 – 32). Im 18. Jahrhunderts suchten sie in 5- bis 10-jährigen Wellen die europäischen Bevölkerungen heim. An Pocken Verstorbene machten in Epidemiejahren häufig 10 – 20 % der Sterbefälle aus. In Schottland beispielsweise entfiel Ende des 18. Jahrhunderts wahrscheinlich rund ein Sechstel der Todesfälle auf die Pocken (Lancaster 1990: 381). Insofern leisteten die durch die Gesundheitsbehörden nach 1800 durchgeführten massenhaften Pockenimpfungen einen nicht unerheblichen Beitrag zum Rückgang der Sterblichkeit. Der Widerstand der zu impfenden Unter tanen, die der Impfung aus Unwissen misstrauisch bis ablehnend gegenüberstanden, und das löchrige administrative System trugen allerdings dazu bei, dass der erste große Erfolg der medizinischen Forschung zu keiner Ausrottung der Pocken führte. Im Gegenteil: Wenn die Immunität nicht mehr bestand, konnten sie sich zu einer verheerenden Pandemie ausweiten, die Erwachsene und Kinder im gleichen Maß betraf. Noch von 1869 bis 1871 kostete eine im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges verbreitete Pockenpandemie 200.000 Zivilisten in Frankreich und mehr
Der epidemiologische Übergang
119
als 180.000 in Deutschland das Leben (Winkle 1997: 894). Während jedoch in England und Preußen nach dieser Pandemie die Pockensterberaten rasant auf ein sehr niedriges Niveau sanken, dauerte es in der Habsburgermonarchie noch bis in die späten 1880er-Jahre, ehe auch hier ein ähnlicher Rückgang einsetzte (Hopkins 2002: 92). Mit der Zurückdrängung der Pockensterblichkeit nach Einführung der Kuhpockenimpfung schien es, als ob der epidemiologische Übergang dank Erfolgen der Seuchenprävention in die transitorische Phase eingetreten wäre, in der endemische Infektionskrankheiten als Todesursache vorherrschten. Die asiatische „Hydra“, die Cholera, sollte die Gesundheitsbehörden jedoch noch einmal eines Besseren belehren. Zum Zeitpunkt ihres ersten Auftretens in den unter russischer Oberhoheit stehenden persischen Provinzen am Kaspischen Meer im Jahr 1823 erhielt diese bisher in Europa unbekannte Krankheit die Bezeichnung „morgenländische Brechruhr“. Vorerst blieb Russland und damit Europa verschont. Die erste Cholerapandemie ebbte noch in diesem Jahr ab. Während der zweiten, von 1827 bis 1838 währenden Pandemie kehrte sie 1829 nach Orenburg am östlichen Abhang des Ural zurück und fand nun auch ihren Weg nach Europa. Es folgten die Pandemien der Jahre 1840 – 1860, 1865 – 1875, 1881 – 1896 und 1899 – 1922. Mit dem letzten Ausbruch in der Sowjetunion im Jahr 1922 verschwand sie aus der europäischen Bevölkerungsgeschichte (Dettke 1995: 1 – 7, 26 – 56). Der bakterielle Krankheitserreger der Cholera entwickelt sich bei feuchtwarmen Temperaturen bevorzugt in stehenden Gewässern oder Brackwasser. Die Infektion des Menschen erfolgt immer über den Mund, sei es durch den Genuss infizierter Lebensmittel, die Berührung von verseuchten Gegenständen, vor allem aber durch das Trinkwasser, in das die Erreger über die Ausscheidungen Infizierter gelangen. Herbstliche Regenfälle, die zu einer Keimverdünnung führen, und ein Temperaturabfall beenden die Epidemien zumeist (Winkle 1997: 153 f.). Besonders günstige Ausbreitungsmöglichkeiten fand die Cholera durch die zunehmende weltweite Vernetzung des internationalen Handels. Ihre furchtbarste Wirkung entfaltete sie in Europa daher gerade in den überbevölkerten Großstädten, die als Handelszentren einen entsprechenden Umschlag asiatischer Waren aufwiesen. Durch zentrale, aber noch ungenügend filtrierte und
120
Der epidemiologische Übergang
desinfizierte Wasserleitungssysteme fand die Cholera in den demografisch rasch wachsenden Städten die größte Zahl ihrer Opfer, und dies nicht nur in Europa. In ihrem Ursprungsgebiet, im damals weitgehend britisch dominierten und verwalteten Indien, forderte sie im Zeitraum von 1817 bis 1865 schätzungsweise etwa 15 Millionen Opfer und von 1865 bis 1947 weitere 28 Millionen (Arnold 1993: 161). Im Gegensatz zum indischen Subkontinent traten Cholerasterbefälle in Europa im 20. Jahrhundert nur noch sehr selten auf. So schrecklich der Ausbruch von Choleraepidemien für den Einzelnen gewesen sein mag, so lag die Cholerasterblichkeit doch um ein Vielfaches unter jener der Pestepidemien. Selbst die schwersten Choleraepidemien kosteten maximal 6 – 7 % der Bevölkerung das Leben. Zumeist lag die Sterblichkeit jedoch deutlich darunter: in Hamburg im Jahr 1892 im Zuge der schwersten Epidemie bei rund 1,3 %, in London im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht über 0,7 %, ebenso in der ungarischen Reichshälfte der Habsburgermonarchie im Jahr 1873 (Evans 1990: 375 f.). Das Zeitalter der vorherrschenden Seuchen war jedoch keines, welches endemische Infektionskrankheiten ausgeklammert hätte. Jene, die den Seuchentod nicht starben, litten oft viele Jahre an Infektionskrankheiten, die zum Tod führten. Nicht nur in der europäischen Bevölkerungsgeschichte kam dabei zunächst der Malaria die größte Bedeutung zu. Unter Malaria wird ein durch Protozoen ausgelöstes Wechselfieber verstanden, welches von der weiblichen Anophelesstechmücke in mehreren Stufen übertragen wird. Während der ersten Stufe kommt es zu einer ungeschlechtlichen Vermehrung in den Leberzellen des Menschen. Von dort schwärmen die Überträger in das Blut aus und zerstören rote Blutkörperchen in mehreren Schüben. Durch den Teilungsprozess der Erreger können sich diese schließlich geschlechtlich vermehren. Diese „Gameten“ werden durch den Saugakt der Mücke befruchtet und gelangen über die Speicheldrüse der Mücke wieder in den Menschen, bei dem sie Fieberschübe und ein Schwellen der Milz verursachen (Winkle 1997: 707 f.). Die Malaria war vor allem, aber keineswegs ausschließlich, in den Sumpfgebieten und küstennahen Zonen Südeuropas verbreitet, die sich mit dem Niedergang des Weströmischen Reiches rasch ausdehnten (Ruffié / Sournia 1987: 155). In der mediterranen Welt zählte sie in der
Der epidemiologische Übergang
121
Folge, wenn auch kleinräumig sehr unterschiedlich, zum fixen epidemiologischen Bestandteil des Krankheitsgeschehens. Eine Quantifizierung der Malariasterblichkeit ist allerdings kaum möglich, subsumierten doch zeitgenössische Sterbeverzeichnisse unter der Todesursache „Fieber“ lediglich ein unspezifisches Symptom, welches auf Malaria, aber genauso auf zahlreiche andere Infektionen zutrifft. Zudem bildete die Malaria häufig nicht die unmittelbar zum Tod führende Erkrankung, was eine Zuordnung zusätzlich erschwert. Einen gewissen Hinweis auf die Wirkung der Malaria gibt die Übersterblichkeit in stark verseuchten Zonen wie der südlichen Toskana. Dort lag in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Sterbealter um 5 – 6 Jahre unter jenem der übrigen Teile der Toskana (Livi-Bacci 1999: 189). Der Höhepunkt der Malariadurchseuchung wurde unzweifelhaft vom 17. bis zum 19. Jahrhundert erreicht, nicht zuletzt durch die nun häufigeren Kontakte mit der außereuropäischen Welt. Nun drang die Malaria nahezu in alle Teile Europas vor, wenngleich sie in den kälteren Klimazonen niemals jene Bedeutung erlangte, die sie beispielsweise in Italien besaß. Malariaprävention in Form einer allgemeinen Verbesserung der hygienischen Verhältnisse, aber auch durch die Verbreitung von Moskitonetzen, begünstigte ihr allmähliches Abflackern gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa (Ruffié / Sournia 1987: 155, 161 f.). In Südeuropa blieb sie jedoch endemisch. Noch während des Ersten Weltkriegs kostete die Malaria am griechischen Kriegsschauplatz die Truppen der Mittelmächte und der Entente erhebliche Verluste. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden 1945/46 über 600.000 Malariafälle in Rumänien registriert. Ab den 1960er-Jahren traten jedoch Malariasterbefälle in Europa nur noch ganz vereinzelt auf (Lancaster 1990: 170 – 172). Zum größten Killer der zweiten Phase des epidemiologischen Übergangs entwickelte sich aber eine Krankheit, die schon seit dem Mittelalter endemisch in Europa war und als „Schwindsucht“ in den zeitgenössischen Sprachgebrauch einging – die Tuberkulose (Tbc). Man unterscheidet bei ihr im Wesentlichen zwei Infektionsreservoire: den offentuberkulösen Menschen als Verbreiter des Mycobacterium tuberculosis und das perlsüchtige Rind als Verbreiter des Mycobacterium bovis. Die weitaus häufigste Form ist die Lungentuberkulose, die durch Tröpfcheninfektion übertragen wird. Wird ein Mensch infiziert, bilden sich am
122
Der epidemiologische Übergang
Ansiedlungsort in der Lunge Knötchen (Tuberkel). Um diese entsteht ein Entzündungsherd gemeinsam mit den Lymphknoten. Bei 90 % der Infizierten heilt der Primärkomplex zwar aus, indem der Tuberkel abgekapselt wird und verkalkt. Nach der Erstinfektion bilden sich Antikörper. Bei ungenügender Immunität geht die Tbc jedoch in die Lymphe und ins Blut über. In den befallenen Organen entstehen verkalkte Herde, in denen Tuberkelbakterien überleben können, was in weiterer Folge zur Einschmelzung des Lungengewebes mit Kavernen führt. Das ist die typische offene Tbc der Erwachsenen (Winkle 1997: 83 f.). Gefördert wurde die Verbreitung der Tuberkulose durch unhygienische Wohnverhältnisse, schlechte Arbeitsbedingungen und Unterernährung. Sie war also eine klassische Erkrankung und Todesursache der Armen und fand in den beengten Wohnverhältnissen der wachsenden Großstädte des Industriezeitalters die größte Zahl ihrer Opfer. Geografisch lag das Tuberkulosezentrum im 18. und frühen 19. Jahrhundert in den dichtbesiedelten Zonen West- und Nordeuropas. Besonders ausgeprägt war die Tuberkulosemortalität in den Metropolen London und Stockholm. In der schwedischen Hauptstadt lag die Mortalitätsrate der Lungentuberkulose 31 zwischen 1750 und 1830 bei 800. Das war die höchste Rate einer Großstadt über eine derartig lange Periode. In der Folge verlagerte sich das Zentrum der Tuberkuloseverbreitung nach M ittelund Osteuropa. In den 1860er-Jahren lag die Mortalitätsrate in Wien und Budapest in einem mit Stockholm ein halbes Jahrhundert davor vergleichbaren Bereich (Puranen 1991: 110). Auf Länderebene waren in den 1870er-Jahren Spitzenwerte der todesursachenspezifischen Sterberate um 350 bis 400 zu registrieren. Die österreichische Reichshälfte lag nun mit den nord- und westeuropäischen Ländern gleichauf. Bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann die Tuberkulosesterblichkeit erheblich zu sinken, nicht jedoch in der Donaumonarchie, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs das weltweite Zentrum der Tuberkulosemortalität bildete (Dietrich-Daum 2007: 106). Nach einem kurzfristigen Anstieg während des Ersten Weltkriegs und unmittelbar danach (Dietrich-Daum
31 Sterbefälle an Tuberkulose bezogen auf 100.000 der Bevölkerung.
Der epidemiologische Übergang
123
2007: 234) setzte sich jedoch der Rückgang der Tbc-Sterblichkeit fort. In den späten 1930er-Jahren hatte sich die Tbc-Sterblichkeit beispielsweise in England und Wales bereits auf rund ein Viertel der Ausgangswerte um die Mitte des 19. Jahrhunderts reduziert. Eine marginale Größe wurde sie im Krankheitsgeschehen dort und anderswo in Europa jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Lancaster 1990: 87). Angesichts der großen Bedeutung der Tuberkulose hatte der Rückgang der gesamten Sterblichkeit der Infektionskrankheiten den größten Anteil am Übergang von der zweiten in die dritte Phase des epidemiologischen Übergangs. Betrachtet man so unterschiedliche Länder wie England und Italien im Zeitraum von 1870/80 bis 1950, dann trug dieser mit etwa 40 – 43 % zum Gesamtrückgang der Sterblichkeit bei. Immerhin weitere 13 – 15 % des Rückgangs in diesen beiden Ländern kamen von den HerzKreislauf-Erkrankungen und 25 – 30 % von nicht infektiösen sonstigen Erkrankungen (z. B. Lungenerkrankungen, Urogenitalerkrankungen etc.). Etwa 7 – 10 % des Rückgangs beruhten auf der sinkenden Diarrhösterblichkeit 32 und 7 % auf nicht infektiösen Säuglingskrankheiten. Hingegen nahm die Krebssterblichkeit in dieser Übergangsphase sogar leicht zu (Livi-Bacci 1992: 110). Eine entsprechende Berechnung für Preußen bzw. Deutschland für den Zeitraum von 1876 bis 1938 belegt, dass in Mitteleuropa neben den Infektionskrankheiten auch dem Rückgang der Sterblichkeit bei Krankheiten der Verdauungsorgane und dem Rückgang der Säuglingssterblichkeit größeres Gewicht zukam (Spree 1998: 24, 31). Den größten Beitrag zum Anstieg der Lebenserwartung leistete natürlich der enorme Rückgang der Infektionssterblichkeit und jener nicht infektiöser Erkrankungen der Atmungs- und Verdauungsorgane von Kindern. Unter Jugendlichen und Erwachsenen waren es ebenfalls die jüngeren Altersgruppen von etwa 15 bis 40 Jahren, wo dieser Rückgang – und hier vor allem jener der Lungentuberkulosesterblichkeit – ganz erheblich ausfiel (Caselli 1991: 82). Am Ende des epidemiologischen Übergangs stand die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in allen Industrie- und Schwellenländern
32 Sterblichkeit an nicht infektiösen Durchfallerkrankungen.
124
Der epidemiologische Übergang
verbreitete Dominanz der Herz-Kreislauf- und Krebssterblichkeit, auf die 60 und mehr Prozent der Sterbefälle entfielen. In entwickelten Sozial staaten wie in Schweden oder Österreich sind gegenwärtig sogar Anteile von 70 % festzustellen. Aber auch junge Industrienationen wie China mit einem Anteil von 52 % und Brasilien mit 47 % zählen bereits zu jenen Ländern, in denen diese „Alterskrankheiten“ das Todesursachenpanorama dominieren. Im Jahr 2004 entfielen weltweit 43 % der weiblichen und 40 % der männlichen Sterbefälle auf diese degenerativen Krankheiten (WHO 2004; WHO 2008). Während jedoch der Rückgang der Sterblichkeit der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wenngleich er wesentlich schwächer als jener der Infektionskrankheiten ausfiel, einen nicht unerheblichen Beitrag zur weiterhin steigenden Lebenserwartung leistete, fiel der Rückgang der Krebssterblichkeit, wenn er überhaupt eintrat, nur marginal ins Gewicht. Das Modell des epidemiologischen Übergangs hat sich in seiner Deskription des Wandels der Pathozönose 33 in den letzten drei Jahrhunderten als durchaus zutreffend erwiesen. Es darf aus diesem Übergang freilich keineswegs auf einen „Sieg“ der Medizin, ja der Menschheit über die Infektionskrankheiten geschlossen werden, wie ihn BakteriologieApologeten des frühen 20. Jahrhunderts erwartet hatten. Die nach wie vor erhebliche Infektionsmorbidität verweist auf einen permanenten Wettlauf zwischen Pharmakologie und Erregern, der von Ersterer niemals dauerhaft zu gewinnen ist. Ein besonders drastisches historisches Beispiel dafür lieferte die „Spanische Grippe“34. Während auf der Basis von Erkenntnissen der Bakteriologie die reduktive Biomedizin die Ausbreitung von „Kriegsseuchen“ im großen Maßstab im Ersten Weltkrieg verhinderte, kostete die Grippepandemie, die von einem zuvor unbekannten Grippevirus ausgelöst wurde, in den Jahren von 1918 bis 1919 in Europa rund 2,3, weltweit 25 – 40 Millionen, ja möglicherweise sogar noch mehr Menschen das Leben, und damit mehr, als während des
33 Krankheitsspektrum einer Bevölkerung in einem bestimmten Zeitraum. 34 Zeitgenossen gingen irrtümlich davon aus, dass diese Pandemie von Spanien ihren Ausgang nahm.
Der epidemiologische Übergang
125
Weltkriegs an Kriegsopfern zu beklagen waren (Vasold 2009: 126 f.). Die Grippepandemie von 1918/19 änderte das Verständnis von Epidemien grundlegend, weil sie die Notwendigkeit der Einbeziehung quantitativer und kausaler Strukturen aus den physikalischen Wissenschaften, insbesondere der Ökologie, in das epidemiologische Denken vor Augen führte (Mendelsohn 2007: 280). Wiederholungen solcher epidemischer Schocks wie jenem der „Spanischen Grippe“ sind bis in die Gegenwart keineswegs ausgeschlossen, womit ein Bogen von der justianischen Pest über die Cholera bis zum Ebolavirus und den Ehec-Bakterien gespannt ist. Es stellt sich nun die schon bei der Behandlung des Rückgangs der Sterblichkeit im Rahmen des Demografischen Übergangs angeschnittene Frage, welche Faktoren den epidemiologischen Wandel wesentlich bestimmt haben. Schon im 18. Jahrhundert war es wie bereits erwähnt zu einem „Übergang vor dem Übergang“ gekommen. Epidemische Infektionskrankheiten wie die Pest, denen ohne große Unterschiede Alt und Jung zum Opfer fielen, traten nun kaum mehr auf, während besonders Kinder an Pockenepidemien besonders zu leiden hatten. Diese Veränderungen des Todesursachenspektrums sind wohl in erster Linie mikrobiologisch durch eine Mutation des Pesterregers zu erklären. Maßnahmen der medizinischen Policey kam eine unterstützende Wirkung zu, wie die Persistenz kleinerer Pestepidemien im sanitär rückständigen Osmanischen und Russischen Reich im 19. Jahrhundert zeigen sollte. Sie waren aber nicht ausschlaggebend, denn cordons sanitaires und gepflasterte Straßen in den Großstädten konnten bekanntlich den Ausbruch von Choleraepidemien mehr als ein Jahrhundert nach den letzten schweren Pestepidemien in West-, Mittel- und Südeuropa nicht verhindern. Der merkliche Rückgang der Sterblichkeit blieb im 18. Jahrhundert nicht zufällig im Wesentlichen auf Nordwesteuropa beschränkt (Caselli 1991: 68 f.). Dort lag die Kernzone des ökonomischen und demografischen Wachstums, dort war die landwirtschaftliche Produktivität am höchsten. Die Aussaat-Ernte-Relation für Getreide lag in England und den Niederlanden im 16. Jahrhundert bei ca. eins zu sieben, in Mittelund Osteuropa jedoch nur bei eins zu vier. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war wieder eine Steigerung der Relation vor allem in England, Belgien und den Niederlanden, aber auch in Deutschland
126
Der epidemiologische Übergang
festzustellen (Malanima 2010a, 169 – 173). Diese Steigerung verhinderte vielfach Ernährungskrisen des alten Typs. Als Begründung für den frühen Sterblichkeitsrückgang kommt sie jedoch kaum in Frage, da es aufseiten der Unterschichten keine Hinweise auf eine deutliche Hebung des Lebensstandards gibt, nicht einmal beim industriellen Vorreiter England (Taylor 1975). Den Preis des demografischen Wachstums bezahlte die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Form rückläufigen Fleischkonsums. Zwei Drittel bis drei Viertel des Tagesbedarfs an Kalorien wurde in Form von Brot konsumiert. Kalorien aus Getreideprodukten waren vergleichsweise billig, noch billiger kamen nur solche in Südeuropa aus Wein und Öl. Der Pro-Kopf-Verbrauch an Fleisch, der in Deutschland in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf 100 Kilo pro Jahr und mehr angestiegen war, sank in der Folge bis auf 14 Kilo zu Beginn des 19. Jahrhunderts, um erst seit dem späten 19. Jahrhundert bis in die 1960er- und 1970erJahre wieder auf das spätmittelalterliche Niveau anzusteigen. In Italien lag der Fleischverbrauch pro Kopf und Jahr im Durchschnitt der Jahre von 1861 bis 1870 bei lediglich 13 Kilo (Livi-Bacci 1999: 71). Insgesamt spricht vieles dafür, dass der durchschnittliche Ernährungszustand von Europäern bis weit in das 19. Jahrhundert sich von jenem der asiatischen Länder kaum unterschied (Pomeranz 2000: 38 f.). Im Gegenteil – noch in den ersten beiden Dritteln des 18. Jahrhunderts war die bäuerliche Bevölkerung in China mit hoher Wahrscheinlichkeit besser genährt als jene in den entwickelten Teilen Europas. Die genauen Umstände des frühen Mortalitätsrückgangs in England liegen noch im Dunkeln. Ein gewisser Einfluss eines größeren Hygienebewusstseins in den Ober- und Mittelschichten gemeinsam mit der Wirkung der Pockenimpfung ist nicht auszuschließen (Hinde 2002: 199 – 202). Diese Faktoren könnten auch für die skandinavischen Länder von Bedeutung gewesen sein. In diesem Raum war es vor allem der Rückgang der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit, der einen temporären Rückgang der Gesamtsterblichkeit begünstigte. Der äußerst geringe Urbanisierungsgrad kam den skandinavischen Ländern dabei zugute (Malanima 2010b: 260). Eine Stadt wie Stockholm war jedoch genauso eine „Todesfalle“ wie viele andere größere Städte in Europa auch, ja sogar eine besonders schlimme (Söderberg / Jonsson/Persson 1991).
Der epidemiologische Übergang
127
Wie Simon Szreter am Beispiel Englands zeigen konnte, war die Verschlechterung des „biologischen Lebensstandards“ während der Frühindustrialisierung in erheblichen Ausmaß verschärfter Verteilungsungleichheit geschuldet (Pamuk / van Zanden 2010: 233). Im Vergleich zum Produktionssektor hinkten soziale und sanitäre Investitionen hinterher. Dies verursachte gerade in den rasch wachsenden Industriestädten die vier Ds: disruption, deprivation, disease, death (Szreter 1997). Ein drastisches Beispiel für die fatale Wirkung der Verteilungsproblematik war Irland. Im Jahr 1845 brach in Irland die größte Hungersnot seiner Geschichte (Great famine) aus. Diese verschaffte dem Typhus ideale Ausbreitungsbedingungen. Von 8,5 Millionen Iren starb eine Million. Die Katastrophe wäre vermeidbar gewesen, hätte die britische Regierung auf laissez-faire verzichtet und Getreidehilfsmittel nach Irland verschifft. Die britischen Kapitalisten hatten daran aber kein Interesse, versprach dies doch keinen Profit (Osterhammel 2009: 302 f.). Wie bereits angeführt, lässt sich das Eintreten in die zweite Phase des epidemiologischen Übergangs vorrangig aus den Wirkungen der sanitary revolution erklären, die von England aus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weite Teile Europas erfasste. Die Verbesserung der Verund Entsorgung in den großen Städten beseitigte den urban penalty und ließ auch Typhus, Cholera- und Ruhrsterblichkeit rasch und erheblich sinken. Nicht nur die Übertragungswege wurden dadurch unterbunden, sondern auch die hygienischen Bedingungen in den Haushalten besserten sich dadurch erheblich. Schon bevor Assanierungsprojekte im großen Stil Wirkung zeigen konnten, kam es jedoch zu einem ersten Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit, der vor allem mikrobiologischen Ursachen geschuldet sein könnte, obwohl dafür ein eindeutiger Beweis noch nicht vorliegt. Ein solcher dürfte allerdings schwerfallen, da gerade bei der Tuberkulosesterblichkeit ein komplexer Zusammenhang von mikrobiologischen und sozialen Faktoren vorliegt, der sich analytisch schwer trennen lässt (Mercer 1990: 157; Dietrich-Daum 2007: 345). Als große Lehrmeisterin der Stadthygiene erwies sich die Cholera. Es war der Schock der Choleraepidemien, der zur Triebkraft der sanitary revolution in Europa wurde. Hinter den entsprechenden Bemühungen zur Überwindung der sanitären Not standen staatliche, später auch
128
Der epidemiologische Übergang
kommunale Behörden, wobei sich die Strategien je nach politischem Umfeld – marktwirtschaftlich liberal oder obrigkeitlich –, aber auch nach der spezifischen Problemlage und den vorhandenen Ressourcen, kaum jedoch hinsichtlich ihrer Ziele unterschieden (Baldwin 1999). Da auch prominente und einflussreiche Wissenschafter wie der Münchner Reformer Max von Pettenkofer von der schließlich unhaltbaren und falschen Miasmentheorie ausgingen, nach der sich Seuchen wie die Cholera durch Bodendämpfe verbreiteten, blieben Rückschläge vorprogrammiert. Das Ende der Choleraepidemien kam erst mit dem Aufstieg der Bakteriologie, die eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage der Seuchenprävention und bekämpfung lieferte. In einer klassischen Studie über die letzte große Choleraepidemie in Hamburg konnte Richard Evans zeigen, dass die preußischen Umlandgemeinden Hamburgs von dieser Epidemie kaum betroffen waren, da sie sich an die Anweisungen des Reichsgesundheitsministeriums in Berlin unter der Führung des Bakteriologen Robert Koch hielten, während das wirtschaftsliberale Stadtregiment in Hamburg diese ignorierte – mit fatalen Konsequenzen (Evans 1990). Trotz hart näckiger Widerstände lokaler Lobbys verbreitete sich jedoch das Wissen über Asepsis und Desinfektion in den europäischen Ländern nach der Jahrhundertwende vergleichsweise rasch (Riley 2001: 113). Fortschritte der Bakteriologie unterlagen allerdings hinsichtlich ihrer praktischen Wirkung noch gravierenden Beschränkungen. Der Erreger der Tuberkulose wurde 1883/84 von Robert Koch identifiziert, heilbar war sie damit aber noch lange nicht. Es spricht daher auch für die Verbesserung der allgemeinen hygienischen Bedingungen und in einigen industriell fortgeschrittenen Ländern ebenso des Ernährungszustandes, dass der Rückgang der Tuberkulosesterblichkeit sich auch im späten 19. und dann vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts kontinuierlich fortsetzte. Der nach 1900 und damit vergleichsweise spät einsetzende Rückgang der Säuglingssterblichkeit beruhte teilweise auf gesundheitspolitischen Maßnahmen, die auf Erkenntnissen der Bakteriologie beruhten. Es wäre allerdings völlig verfehlt, ihn auf diese Maßnahmen einseitig zu reduzieren. Kindersterblichkeit beruhte in Europa bis dahin nicht nur auf materiell und hygienisch schlechten Pflegebedingungen. Ein einzelnes
Der epidemiologische Übergang
129
Kinderleben zählte auch noch im späten 19. Jahrhundert nicht viel. In manchen Regionen war das einem Infantizid nahekommende „Himmeln“35 unerwünschter Kinder sehr verbreitet, in anderen kam uneheliche Geburt einem Todesurteil gleich. Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurden drei Viertel der in Mailand geborenen unehelichen Kinder und ein Drittel der ehelich Geborenen ausgesetzt (Goody 2002: 118). Im späten 19. Jahrhundert wandelte sich jedoch der Umgang auch mit sozial benachteiligten Säuglingen, was ihre Überlebenschancen, nicht unbedingt ihren gesellschaftlichen Status, nachhaltig verbesserte. Ehelich und unehelich geborene Säuglinge profitierten nun von verbesserten hygienischen Bedingungen, die vor allem einen Rückgang gastrointestinaler und anderer Infekte bewirkten. Die Pasteurisierung der Milch seit den 1890er-Jahren, die Hospitalisierung der Geburt unter aseptischen Bedingungen, die Verbreitung hygienischer Grundsätze in der Säuglingspflege sowie erste Erfolge mit Impfungen (Pocken, Diphterie) erhöhten innerhalb weniger Jahrzehnte die Überlebenschancen der Neugeborenen um ein Vielfaches. Zudem sorgte auch der Geburtenrückgang für verbesserte Aufzuchtbedingungen, da wenige Kinder natürlich leichter zu versorgen und zu betreuen waren als viele. Schließlich scheint sich auch die Gefährlichkeit einiger Erreger (Scharlach, Masern) ohne menschliches Zutun vermindert zu haben. Während noch um 1900 in weiten Teilen Europas mit Ausnahme des Nordwestens 20 und mehr Prozent der Neugeborenen das erste Lebensjahr nicht überlebten, waren es um 1925 nur noch zwischen 6 und 12 %; in Osteuropa lag dieser Wert allerdings noch höher. Zur marginalen Größe verkleinerte sich die Säuglingssterblichkeit jedoch erst in den Wohlstandsgesellschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nachdem um 1950 die Sterblichkeit vielfach bereits unter 10 % gesunken war, fiel sie bis etwa 1975 auf ein bis drei Prozent. Dazu trugen nicht zuletzt enorme Fortschritte in der Medikation bei. Der globale Transfer neu entwickelter Medikamente und medizinischer Technologien begünstigte auch den rasanten Rückgang der Säuglingssterblichkeit in anderen Teilen der Welt. In Lateinamerika waren um die
35 Das Herbeiführen des Todes eines Säuglings durch bewusste Vernachlässigung.
130
Der epidemiologische Übergang
Mitte des 20. Jahrhunderts Säuglingssterberaten unter 10 % bereits häufig, ebenso in Teilen Asiens um 1975 (Chesnai 1992: 57 – 75). In den letzten Jahrzehnten kam schließlich Fortschritten in der Pränatalmedizin eine gewisse Rolle für den weiteren Rückgang der Säuglingssterblichkeit zu. Noch um 1900 war mit Ausnahme der Pocken- und Diphterieimpfung der Einfluss der Medizin auf den epidemiologischen Übergang sehr beschränkt. Lediglich der Einsatz von Chinin, Digitalis, Opium und Aspirin hatte eine erprobte und verlässliche Wirkung. Einen echten Durchbruch erlebte die medizinische Forschung mit der Entwicklung und dem Einsatz von Antibiotika, die im größeren Maßstab nach 1945 erfolgten. Nun war es möglich, Infektionskrankheiten auch mit medikamentöser Hilfe zu heilen. Der weitere Anstieg der Lebenserwartung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erklärt sich aus einem kaum gewichtbaren Mix der Wirkung von Biopolitiken 36, der Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen und individueller Präventionsstrategien. Schon in der Zwischenkriegszeit etwa scheint das Vitaminbewusstsein gestiegen zu sein. Es fehlte damals der Durchschnittsbevölkerung allerdings an materiellen Mitteln, um sich ausreichend gesund ernähren zu können. Dies sollte sich etwa ab Mitte der 1950er-Jahre fundamental ändern. Nun wurde allerdings nach und nach Überkonsum und damit Übergewichtigkeit zum gesundheitspolitischen Thema. Auch im Zeitalter der „Wohlstandserkrankungen“ stellte sich innerhalb der Industrieländer keine einfache Korrelation zwischen Bruttosozialprodukt und Lebenserwartung ein. Während in der Gegenwart Lebenserwartung und Pro-Kopf-Einkommen in den ärmeren Ländern eindeutig hoch positiv korreliert sind, lässt sich das innerhalb der Gruppe der reichsten Industrieländer nicht sagen. Innerhalb dieser Ländergruppe entscheidet vielmehr das Ausmaß sozialer und ökonomischer Ungleichheit über den Rang innerhalb der Lebenserwartungspyramide. Dementsprechend weisen Länder mit geringer Einkommensungleichheit wie
36 Staatliche (öffentliche) Gesundheits- und Sozialpolitiken, die auf eine Kontrolle der körperlichen Entwicklung zielen.
Der epidemiologische Übergang
131
Japan oder Schweden innerhalb der reichen Industriestaaten die höchste durchschnittliche Lebenserwartung auf, während etwa die USA mit ihrer ausgeprägten Einkommensungleichheit in dieser Gruppe von Ländern zu jenen mit der niedrigsten Lebenserwartung zählen. Ein Spiegelbild ergibt sich bei der Verteilung der Säuglingssterblichkeit, die mit der Einkommensungleichheit hoch positiv korreliert ist. Ähnliches trifft auch auf die Mortalität der Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu (Wilkinson / Pickett 2010: 102 – 104).
133
10. Der social und der gender gap Die Analyse des epidemiologischen Wandels bietet wichtige Einsichten zur Erklärung der historischen Sterblichkeitsverhältnisse. Gleichwohl bleiben bestimmte Aspekte dabei ausgespart. Das statistische Konstrukt der durchschnittlichen Sterblichkeit oder Lebenserwartung erlaubt, die großen Veränderungen der Mortalitätstransition auf wesentliche Einflussfaktoren zurückzuführen. Über die Verteilung von Überlebenschancen nach Ständen, Klassen oder Schichten ist damit allerdings nichts gesagt. Tatsächlich war in den europäischen Gesellschaften und nicht nur in ihnen eine mit Bezug auf die soziale Hierarchie flache Verteilung der Lebenserwartungen in keiner Phase der Bevölkerungsgeschichte gegeben, und selbst in der Gegenwart ist die Ungleichheit vor dem Tod nicht unbeträchtlich. Dieser social gap durchlief in der europäischen Bevölkerungsgeschichte drei Phasen: 1. eine etwa bis Mitte des 18. Jahrhunderts reichende Phase erheb licher differenzieller Sterblichkeit, die aber nicht eindeutig einem Ober-Unterschichten-Schema zugeordnet werden kann; 2. die volle Entfaltung und der Höhepunkt des social gap im Zeitraum von etwa Mitte des 18. bis zum dritten Viertel des 19. Jahrhunderts; 3. eine Phase sich verkleinernder sozialer Unterschiede, die bis in die Gegenwart reicht (Woods / Williams 1995). Wenn es auch an Daten in entsprechender Breite mangelt, so kann kein Zweifel bestehen, dass schon im Mittelalter die Lebenserwartung der Oberschicht vereinzelt um und über 40 Jahre lag und damit deutlich über dem Durchschnittswert. Dennoch war auch das Leben der feudalen Oberschicht durch zahlreiche Gefährdungen gekennzeichnet, sodass ein eindeutiger social gap keineswegs immer gegeben war. Wie eine Fallstudie zeigt, unterschied sich beispielsweise in den Jahren von 1280
134
Der social und der gender gap
bis 1340 die Lebenserwartung der englischen Oberschicht von jener der Unfreien kaum (Russell 1983: 26). Das lag unter anderem an der hohen Kindersterblichkeit in allen Bevölkerungsschichten. Im Zeitraum von 1330 bis 1479 starb ein Drittel der Mitglieder herzoglicher Familien in England vor dem fünften Geburtstag (Hollingworth 1974: 360). Dazu trug unter anderem die Pest bei, die im Verlauf jener Epidemien, die dem ersten Ausbruch des „Schwarzen Todes“ folgten, häufig viele nicht immunisierte Kinder aus allen Teilen der Gesellschaft zu ihren Opfern zählte (Youngs 2006: 25 f.). Es gab aber auch große Unterschiede in der Lebenserwartung mittel alterlicher Populationen. Im 15. Jahrhundert erreichten Londoner Kaufleute im Durchschnitt ein Alter von 50 und mehr Jahren, ebenso Mitglieder der bäuerlichen Oberschicht in den Midlands und Bewohner italienischer Städte wie Florenz, Verona, Vicenza oder Padua. War das Erwachsenenalter einmal erreicht, konnte zwischen Wohlhabenden und Armen ein social gap von 20 Jahren bestehen. Einem eindeutigen sozialen Gradienten lassen sich die Mortalitätsdifferenziale aber nicht zuordnen. Die Lebenserwartung wohlhabender Bauern und Aristokraten unterschied sich kaum (Youngs 2006: 26 – 28). Deutlich überdurchschnitt liche Lebenserwartungen wurden in der frühen Neuzeit aber für kleine Elitepopulationen festgestellt. So lebte im 17. Jahrhundert die Genfer Oberschicht im Durchschnitt um 17,5 Jahre länger als die Unterschicht. Im frühneuzeitlichen Genf war das vor allem auf die hohe Kindersterblichkeit der Unterschicht zurückzuführen, denn bei den Erwachsenen reduzierte sich der social gap zwischen Ober- und Unterschicht auf acht Lebensjahre (Perrenoud 1978: 138 f., 141). Der diffuse soziale Gradient hatte mit den allgegenwärtigen sanitären Missständen zu tun, die mehr lokal denn sozial differierten. Die hygie nischen Bedingungen waren verglichen mit der Antike selbst in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Herrscherhäusern oft äußerst mangelhaft, das Waschen des Körpers zumindest teilweise tabuisiert, Seife und Asche wohl nur in Teilen der Bevölkerung im Gebrauch. Abtritte gab es in besseren Haushalten im mediterranen Raum; im germanischen Bereich kamen sie erst langsam auf. Mit dem Aufkommen des Städtewesens wurden die Bedingungen ab dem Hochmittelalter nur scheinbar
Der social und der gender gap
135
besser. Die Ausstattung der städtischen Häuser mit Abtritten und bescheidenen Formen der Kanalisation nahm zwar zu, aus der Infiltration der Hausbrunnen durch die meist in nächster Nähe befindlichen Abtritte entstand jedoch ein neues gesundheitliches Gefährdungspotenzial. Kein Wunder, dass etwa die Lebenserwartung erwachsener Angehöriger der englischen Aristokratie vom Hochmittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nicht zunahm und dass im Vergleich des 16. mit dem 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogar ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen war (Lancaster 1990: 8). In dieser Phase lag die Lebenserwartung der englischen Aristokratie sogar recht deutlich unter jener mancher ländlicher Bevölkerungen (Johansson 1991: 144). Die Angehörigkeit zur englischen Oberschicht blieb auch in der Folge bis weit in das 19. Jahrhundert hinein keine Garantie für eine überdurchschnittliche Lebenserwartung. Exzessiver Ernährungsstil, Suchtmittelmissbrauch und physische Trägheit sorgten unter manchen Angehörigen der Aristokratie und des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums für einen ungesunden Mix, der ihre Lebenserwartung auf das Niveau von Taglöhnern und armen Landleuten drückte (Razzell / Spence 2006). Von größter Bedeutung für das Auseinandergehen des social gap im frühen Industriezeitalter erwies sich der Aufstieg „sozialer Krankheiten“ wie der Tuberkulose zu den großen Killern und das zunehmende Hygienebewusstsein in der gehobenen Mittel- und der Oberschicht. Es war daher gerade das 19. Jahrhundert, in dem sich die Unterschiede der Lebenserwartung von „Arm“ und „Reich“ – etwa gemessen an der Sterblichkeit männlicher Berufstätiger – massiv ausweiteten und zur kaum durchbrochenen Regel wurden (Riley 2001: 140). Der Höhepunkt der sozialen Ungleichheit vor dem Tod dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit im zweiten und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts erreicht worden sein, wie das an französischen und englischen Beispielen gezeigt wurde (Kaelble 1983: 148). Dies lag einerseits an der nun weit unterdurchschnittlichen Säuglingssterblichkeit der Eliten (Woods / Williams 1995: 130 f.), andererseits kam kumulativen Schädigungen infolge miserabler Arbeitsbedingungen des Proletariats erhebliche Bedeutung zu. Beispielsweise lag in England und Wales die Sterberate der 45- bis 65-jährigen Männer im Durchschnitt der Jahre von 1860/61 bis 1871 bei 24 auf 1.000 Berufsträger,
136
Der social und der gender gap
unter Rauchfangkehrern jedoch bei 43 und unter Taglöhnern bei 40, während sie unter Beamten und Kirchenmännern lediglich 17 betrug. Besonders schlecht waren die Überlebenschancen von Arbeitern, die mit Schwermetallen zu tun hatten (Haines 1991: 182 – 187). Aber nicht nur die Arbeitswelt beeinflusste den social gap. Ein analytisch kaum zu trennendes Bündel religiös oder kulturell vermittelter Hygienevorstellungen, eines spezifischen Umgangs mit gesundheitlichen Risiken und einer überdurchschnittlichen Einbindung in soziale Netze spielte eine von der sozialen Ungleichheit unabhängige Rolle, wie etwa die weit unterdurchschnittliche Gesamt, Tuberkulose- und Säuglingssterblichkeit unter vielen jüdischen Teilpopulationen erkennen lässt (van Poppel / Schellekens/Liefbroer 2002: 283 f.). Social gaps bestanden innerhalb dieser Teilpopulationen, bei denen es sich häufig um Minderheiten handelte, aber ebenso wie unter der Gesamtbevölkerung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat jedoch eine merkliche Verkleinerung des social gap ein. Die standardisierten Sterberaten der Taglöhner und Hilfsarbeiter im Erwerbsalter übertrafen um 1910 in England und Wales den Durchschnitt um rund 30, um 1950 aber dann nur noch um 20 % (Haines 1991: 187 – 190). Mit einer gewissen Zeitverzögerung griff die sanitary revolution auch auf der Ebene der privaten Haushalte und ebnete allmählich die Mortalitätsdifferenziale ein. Ein Übriges taten die schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen der Zwischenkriegszeit, von denen auch erhebliche Teile des Bürgertums massiv betroffen waren. Die Langzeitfolgen der sozialen Investments des Zeitraums von ca. 1870 bis 1918, aber auch soziale Reformen nach 1918 kamen nun überproportional den Unterschichten zugute (Riley 2001: 37 f.). Die ersten beiden Drittel des 20. Jahrhunderts waren daher durch eine Annäherung der Lebenserwartungen sowohl innerhalb der Bevölkerungsschichten bestimmter europäischer Industrieländer als auch im regionalen Vergleich geprägt. Im Zuge dieses Prozesses verschwand der urban penalty nahezu, was direkt mit den Langzeitwirkungen der sanitary revolution in Verbindung zu bringen ist. Die großen Assanierungsprojekte – Bau zentraler Wasserleitungen und Kanalisationsnetze – wurden zunächst ja fast ausschließlich in den Großstädten umgesetzt. Wie das Beispiel Deutschlands zeigt, bestand jedoch weiterhin in den höheren Altersstufen
Der social und der gender gap
137
urbane Übersterblichkeit (Spree 1981: 246 – 253). Beeinträchtigungen des Gesundheitszustands durch das Großstadtleben blieben also in geringerem Ausmaß bestehen. Im Allgemeinen sorgte der zukunftsgerichtete Umgang mit dem eigenen Körper durch gestiegene berufliche Sicherheit und sinkende manuelle Anforderungen an die Erwerbstätigen für eine Annäherung der Lebenserwartungen (Kaelble 1983: 166). Erst in den letzten Jahrzehnten mehren sich Hinweise auf ein erneutes Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich hinsichtlich der Lebenserwartung in Europa. Beispielsweise dokumentierte eine auf sehenerregende britische Studie, dass die soziale Ungleichheit vor dem Tod im Zeitraum von ca. 1930 bis 1970 eine merkliche Verschärfung erfuhr (Townsend / Davidson 1992: 58 – 62). Diese hat sich auch in der Folge nicht nur in Großbritannien fortgesetzt. Es liegt auf der Hand, dies mit der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit in den europäischen Industriegesellschaften in Verbindung zu bringen. Die Zusammenhänge sind allerdings komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Es sind zunehmend gesundheitsrelevante Verhaltensstile, die sich weniger Klassen oder Schichten, sondern eher soziokulturellen Milieus zuordnen lassen, die für die Erklärung des social gap die größte Relevanz besitzen (Dinges / Weigl 2011: 195 f.). Differenzielle Sterblichkeit bestand und besteht jedoch nicht nur zwischen den jeweiligen sozialen Schichten, sondern auch ausgeprägt zwischen den Geschlechtern. Unter dem sogenannten gender gap wird die auf der Makroebene seit Mitte des 18. Jahrhunderts beobachtete (Floud 2011: 250 f.) höhere Lebenserwartung von Frauen gegenüber jener der Männer verstanden. Dabei handelt es sich um ein relativ rezentes Phänomen. Im Frühmittelalter scheint im Allgemeinen die Lebenserwartung der weiblichen Bevölkerung unter der der männlichen gelegen zu haben. Dies belegen unter anderem archäologische Untersuchungen aus Skandinavien und England (Youngs 2006: 28 f.). Nach den Grabungsbefunden von rund 100 Friedhöfen aus allen Perioden des Mittelalters in verschiedenen Teilen Europas lag die Lebenserwartung von Frauen im Durchschnitt um etwa fünf Jahre unter jener der Männer (Russell 1983: 25). Auch für die Toskana im Spätmittelalter wurde auf der Basis schriftlicher Quellen weibliche Übersterblichkeit festgestellt (Herlihy / Klapisch-Zuber 1978: 83).
138
Der social und der gender gap
Im Lauf der frühen Neuzeit traten offensichtlich Veränderungen der geschlechtsspezifischen Überlebensverhältnisse ein. Während archäologische Befunde noch bis etwa Mitte des 17. Jahrhunderts eine höhere Lebenserwartung der männlichen Bevölkerung belegen (Gehrmann 1984: 72), kippte der gender gap in der Folge zugunsten der Frauen. Untersuchungen für Frankreich und Schweden bestätigen dies nachdrücklich (Vallin 1991: 63 – 65). Besonders ausgeprägt war der Überlebensvorteil bei Frauen der Mittel- und Oberschicht (Johansson 1991: 141 f.), während, wie am Beispiel der Genfer Bevölkerung im 18. Jahrhundert gezeigt werden konnte, in der Schicht der ungelernten „Arbeiter“ ein Überlebensvorteil der männlichen Bevölkerung vorerst bestehen blieb (Tabutin / Willems 1998: 23). Das Zeitalter der Proto- und Frühindustrialisierung zeitigte widersprüchliche Wirkungen auf den gender gap. In den industriellen Hochburgen Großbritanniens nivellierten die geschlechtsübergreifend miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen den Unterschied in der Lebenserwartung von Frauen und Männern (Johnson / Nicholas 1998: 238 – 251, 246 – 250). Bei den industriellen Nachzüglern hingegen ging der gender gap im 19. Jahrhundert teilweise sehr weit zuungunsten der Männer auseinander. Exemplarisch kann das durch einen Vergleich der geschlechtsspezifischen Sterberaten in Glasgow und Stockholm belegt werden. In der ersten Hälfte der 1820er-Jahre bestand im relativ rückständigen Stockholm eine deutlich höhere Sterblichkeit der männlichen Bevölkerung, während sich die Sterblichkeit der weiblichen Bevölkerung in Glasgow und Stockholm kaum unterschied. Der gender gap in Stockholm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprach demnach einer besonders ausgeprägten Variante des non-industrial urban type (Söderberg / Jonsson / Persson 1991: 183). Der gender gap zugunsten der weiblichen Bevölkerung betraf jedoch im 18. und 19. Jahrhundert keineswegs alle Altersgruppen. Zwar bestand im urbanen Schweden von der Mitte des 18. Jahrhunderts an, dem frühesten Zeitpunkt, an dem Registerdaten zur Verfügung stehen, ausnahmslos in keiner Altersgruppe weibliche Übersterblichkeit, und im ländlichen Schweden trat sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts nur vereinzelt in einigen jüngeren Altersgruppen auf (Fridlizius 1988: 266 – 268).
Der social und der gender gap
139
Die schwedischen Verhältnisse sind für Europa zur damaligen Zeit allerdings noch nicht verallgemeinerbar. Mit Ausnahme der Säuglinge und der Kleinkinder bestand im übrigen Europa im Kinder- und Jugendalter tendenziell eher weibliche Übersterblichkeit. In England ist sie in diesen Altersgruppen schon für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts nachweisbar, in Frankreich und Dänemark in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im Zeitraum von ca. 1800 bis 1930 bestand sie durchwegs in Europa. Besonders betroffen war die Altersgruppe der 5- bis 14-jährigen Mädchen. Ihren Höhepunkt erlebte diese Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Tabutin / Willems 1998: 17, 21 f., 24 – 27). Weibliche Übersterblichkeit blieb jedoch nicht auf das Kinder- und Jugendalter beschränkt. Im England der 1820er- bis 1850erJahre bestand sie in der Altersgruppe der 10- bis 40-Jährigen (Johansson 1991: 145). Auch in anderen Teilen Europas war eine höhere Sterblichkeit der Frauen in der reproduktiven Periode nicht selten (Alter / Manfredini / Nystedt 2004: 333 – 338). Mit dem Übergang zur Hochindustrialisierung kam jedoch das „Geschlechterparadoxon“ zur vollen Entfaltung. Trotz weiterhin bestehender gesellschaftlicher Diskriminierungen und häufigerer Erkrankungen lebten Frauen nun zunehmend deutlich länger als Männer (Danielsson / Lindberg 2001: 61 f.). Schon vor dem Ersten Weltkrieg lag die Lebenserwartung europäischer Frauen im Schnitt um rund zwei bis drei Jahre über jener der Männer. Im Lauf des 20. Jahrhunderts ging in den Industrieländern die Schere zwischen männlicher und weiblicher Lebenserwartung dann noch weiter auseinander. Der zeitliche Ablauf und die Dimension des gender gap unterschieden sich jedoch nicht unerheblich. Nach dem skandinavischen Muster verharrte der gender gap noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts auf einem Wert von rund 2,5 Jahren, um dann im dritten Viertel des Jahrhunderts auf 3 – 4 Jahre anzusteigen. In großen Teilen Mittel- und Westeuropas kam es zu einem sehr kontinuierlichen Anstieg. In Südosteuropa, aber auch in Finnland und dem europäischen Teil der Sowjetunion, also in Ländern mit vergleichsweise geringem Bruttosozialprodukt pro Kopf, war der gender gap zunächst sehr gering und nahm vor allem ab den 1930er-Jahren erheblich zu. Diesem europäischen Muster folgend gab es in einigen der ärmsten Länder der Welt
140
Der social und der gender gap
bis zu Beginn des neuen Jahrtausends eine leicht höhere Lebenserwartung der Männer. Das Jahr 2006 dürfte mit einiger Wahrscheinlichkeit jenes Jahr gewesen sein, in dem erstmals in allen Staaten der Erde die weibliche Lebenserwartung bei der Geburt jene der männlichen übertraf (Barford 2006: 808). Erst in den letzten beiden Jahrzehnten ist es in Europa dann wieder zu einer leichten Verringerung des gender gap in manchen hoch entwickelten Industriestaaten gekommen. An der großen Schere zwischen weiblicher und männlicher Lebenserwartung hat das freilich noch nichts Wesentliches verändert. Wie einschlägige Untersuchungen belegen, lässt sich der gender gap aus einer Kombination von biologisch-genetischen und verhaltensbestimmten Faktoren erklären. Der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den jeweiligen Leitbildern von Männlichkeit kam dabei ganz erhebliches Gewicht zu (Dinges 2008: 113 – 117). Im Mittelalter scheinen die miserablen hygienischen Bedingungen bei der Geburt und die hohe Arbeitsbelastung vieler Frauen außerhalb der Oberschicht die weibliche Übersterblichkeit bestimmt zu haben (Youngs 2006: 28 f ). Überanstrengung und Unterernährung weiblicher Arbeitskräfte in der Landwirtschaft waren die Regel. Nach ungarischen Untersuchungen kamen nach der magyarischen Landnahme bei den 14- bis 40-Jährigen 120 – 130 Männer auf 100 Frauen, während zuvor unter der awarischen Bevölkerung eine ausgeglichene Geschlechterproportion in dieser Altersgruppe geherrscht hatte. Dies deutet darauf hin, dass die agrarische Lebensweise mit der damit verbundenen schweren Arbeitsbelastung von Frauen in ihrer reproduktiven Phase, gemeinsam mit den hygienischen Bedingungen bei der Geburt, den gender gap in Richtung erhöhter Frauensterblichkeit öffnete (Van Houtte 1980: 22). Anthropometrische Untersuchungen weisen insbesondere auf eine relative Benachteiligung der weiblichen Bevölkerung während der hochmittelalterlichen Expansionsphase und im 14. Jahrhundert hin (Guntupalli / Baten 2009: 49 f.). Nach Ende der reproduktiven Phase bestand jedoch im Mittelalter kein Unterschied hinsichtlich der ferneren Lebenserwartung von Frauen und Männern (Russell 1983: 25). Das Geburtsrisiko im vormodernen Europa war tatsächlich erheblich. Vom Mittelalter bis in das 18. Jahrhundert starben rund 1,2 – 1,3 % der Gebärenden (Gehrmann 1984: 74 f.). Aufgrund der großen Zahl an
Der social und der gender gap
141
Schwangerschaften entstand daraus während eines Frauenlebens ein ganz erhebliches Sterberisiko, auch in der materiell privilegierten Oberschicht. Selbst unter Frauen der deutschen Herrscherfamilien im „fruchtbaren Alter“ starben 11 % an Geburtskomplikationen (Lancaster 1990: 9). Die Bedeutung der Müttersterblichkeit 37 für den gender gap nahm jedoch tendenziell ab. In Berlin sank sie von den 1720er bis in die 1780er Jahre von 1,1 % auf 0,7 %, in Edinburgh in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von 1,4 % auf 0,6 % (Creveld 2003: 307, 316 f.). Um 1900 lag die Müttersterblichkeit im westlichen Europa schon um 0,5 % und darunter (Loudon 1992: 542 – 550, 553 – 559, 564 – 567). Ihr kam nun für die Erklärung des gender gap kaum mehr Bedeutung zu (Weigl 2007: 26 – 29). Im Zuge der Kommerzialisierung der Landwirtschaft kam es im 19. Jahrhundert zu einer massiven Zunahme von Lohnarbeit, von der weibliche Arbeitskräfte besonders negativ betroffen waren. Bei sinkender weiblicher Beschäftigung in der Landwirtschaft erhielten Frauen immer häufiger die prekären Jobs. Besonders unter Arbeiterinnen in den landwirtschaftlichen Großbetrieben, wie etwa am Beispiel Ostpreußens gezeigt werden konnte (Lee 1984: 234 – 255), war die Übersterblichkeit ausgeprägt. Sie blieb auch nach dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts feststellbaren Rückgang der Müttersterblichkeit auf dem Land bestehen (Imhof 1981: 153; Imhof 1979: 487 – 510). Generell lässt sich feststellen, dass agrarische Gesellschaften mit einer Lebenserwartung von weniger als 45 Jahren häufig auch in Altersgruppen außerhalb des reproduktiven Alters weibliche Übersterblichkeiten aufweisen (Alter / Manfredini / Nystedt 2004: 355 f.). Mit höherer Lebenserwartung und Urbanisierung verschwinden jedoch weibliche Übersterblichkeiten in allen Altersgruppen. Demnach dürfte eine besonders ausgeprägte Diskriminierung von Frauen in agrarischen Gesellschaften bestanden haben und in der Dritten Welt weiter bestehen. Epidemiologisch war weibliche Übersterblichkeit in bestimmten Altersgruppen neben der Müttersterblichkeit vor allem auf die Tuberkulose
37 Sterbefälle von Gebärenden, die auf Geburts- oder Nachgeburtskomplikationen zurückzuführen sind, pro Geburt.
142
Der social und der gender gap
zurückzuführen, was auf die ökonomische Benachteiligung von Frauen in den Unterschichten verweist. Die Tuberkuloseübersterblichkeit betraf nicht nur Mädchen und junge Frauen – Tuberkulose wurde auch als „Jungmädchenkrankheit“ bezeichnet –, sondern auch vom Arbeitsprozess und den Lebensumständen zermürbte Arbeiterinnen. Beispielsweise bestand im Zeitraum von 1838 bis 1844 in den englischen Industriestädten mit 20.000 und mehr Einwohnern in den Altersjahrgängen 25 – 34 und 35 – 44 weibliche Übersterblichkeit (Söderberg / Jonsson/Persson 1991: 177 – 194; Woods / Shelton 1997: 107, 109). Weibliche Übersterblichkeit in Industriestädten blieb allerdings primär auf die Frühindustrialisierungsperiode beschränkt. Schon in den 1860er-Jahren findet sie sich in England und Wales bis auf wenige Ausnahmen nur noch in ländlichen Gebieten (Woods / Shelton 1997: 138). In ländlichen Regionen mit hohem Hilfsarbeiteranteil und – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – unterdurchschnittlicher Gesamtsterblichkeit sorgte fast ausschließlich die Lungentuberkulose für weibliche Übersterblichkeit (Anderson 1990: 19). Das traf auch auf andere europäische Länder zu (Johansson 1991: 150 f.). Wie eine Studie über Stockholm im Zeitraum von 1750 bis 1850 belegt, bestand ein Zusammenhang zwischen der sich vergrößernden männ lichen Übersterblichkeit im Erwachsenenalter und der Transformation der krisenhaften urbanen Ökonomie. Von den nach Stockholm strömenden Arbeitsmigranten waren viele gezwungen, in der Schattenwirtschaft ihr Auskommen zu suchen: ständig von Arbeitslosigkeit bedroht und unter einem höheren Armutsrisiko stehend als in den ländlichen Bezirken Schwedens (Söderberg / Jonsson/Persson 1991: 64, 119). Im Vergleich zu den erwachsenen Männern waren die Folgen der relativen Rückständigkeit der schwedischen Wirtschaft für die weiblichen Erwerbstätigen, insbesondere in den Städten, weniger gravierend. Für diese Schwedinnen spielte der traditionelle Dienstmädchenberuf nach wie vor eine erhebliche Rolle, aber auch außerhalb des Dienstmädchenberufs dürften Frauen in den rückständigen Ökonomien in der Regel weniger harte Arbeitsbedingungen als Männer vorgefunden haben. Der Anteil der in den urbanen Zonen und Agglomerationen lebenden und arbeitenden Menschen nahm bekanntlich im Industriezeit alter immer mehr zu, ein Trend, der sich auch in den modernen
Der social und der gender gap
143
Dienstleistungsgesellschaften fortsetzt. Was die moderne außeragrarische Arbeitswelt betrifft, kann kein Zweifel bestehen, dass sich verglichen mit den Zeiten des Pauperismus die Arbeits- und Lebensbedingungen von Männern und Frauen in den entwickelten Industriestaaten deutlich angenähert haben. Arbeitsunfälle wurden seltener, durch Staub und Dämpfe verursachte Berufskrankheiten verloren an Bedeutung. Insgesamt profitierten Frauen von der Tertiärisierung jedoch mehr als Männer, die in bestimmten Risikoberufen nach wie vor weit überproportional vertreten sind (Creveld 2003: 140). Kumulative Wirkungen der Arbeitswelt auf Mortalitätsdifferenziale sind jedoch angesichts der Dominanz degenerativer Erkrankungen mit ihren komplexen Ursachen schwer statistisch nachzuweisen. Zu den verhaltensabhängigen Faktoren in und außerhalb der Arbeitswelt zählten dem historischen Wandel unterworfene Leitbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit. Bezeichnenderweise betraf der männliche Überlebensvorteil im Mittelalter nicht die Oberschicht (Creveld 2003: 333). In den herzoglichen Familien Englands kamen im Zeitraum von 1330 bis 1479 Männer auf eine Lebenserwartung von 24, Frauen jedoch auf eine von 33 Jahren. Ohne Berücksichtigung gewaltsamer Todesfälle schrumpfte der gender gap auf zwei Jahre, und nach dem Kleinkindalter hatten sogar die Männer im Hochadel die höhere Lebenserwartung (Hollingworth 1974: 358 – 360). Männliche Übersterblichkeit in den adeligen Oberschichten im Mittelalter erklärt sich demnach aus den Risiken des adeligen Kriegshandwerks, was die Nachteile des Geburtsrisikos bei Frauen mehr als kompensierte. Im Zeitalter moderner Volksarmeen beschränkte sich diese Übersterblichkeit nicht bloß auf adelige Kriegsmänner und auf Söldner, sondern betraf nun erhebliche Teile der gesamten männlichen Bevölkerung. Bei einer Generationenbetrachtung büßten etwa die 1890 geborenen deutschen Männer infolge der beiden Weltkriege im Schnitt 4,4 Lebensjahre ein, während die Lebenserwartung des entsprechenden Jahrgangs deutscher Frauen lediglich um 0,4 Jahre zurückging. In den besonders betroffenen männlichen Jahrgängen der beiden Weltkriege in Deutschland und Frankreich überlebten rund 30 % die beiden Weltkriege nicht (Höhn 1984: 129 – 131). Hinsichtlich gesundheitsrelevanter alltäglicher Konsumgewohnheiten spielte der überdurchschnittlich ausgeprägte Suchtmittelmissbrauch bei
144
Der social und der gender gap
Männern eine traditionell große Rolle (Biraben 1984). Beispielsweise war es unter anderem der massive Anstieg des männlichen Alkoholkonsums, der im Zeitraum von etwa 1830 bis 1860 die Zahl der Todesfälle aufgrund von Alkoholvergiftung und damit den gender gap in Schweden zuungunsten der Männer in die Höhe trieb (Sundin / Willner 2004: 192 – 194). Eine Wiederholung fand dieser Effekt während der Transformationskrise in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken – dort wuchs der gender gap in den 1990er-Jahren nicht zuletzt aufgrund steigenden Alkoholismus in der männlichen Bevölkerung auf 10 und mehr Jahre. Exzessiver Wodkakonsum unter Männern ließ deren durchschnittliche Lebenserwartung teilweise erheblich sinken. Den größten Einfluss auf männliche Übersterblichkeit in den Industrieländern hatte aber der Nikotinkonsum (Johansson 1991: 157 f.). Nach einer rezenten Studie können schätzungsweise zwei Drittel aller geschlechtsspezifischen Mortalitätsdifferenziale dadurch erklärt werden (Klotz 1998: 77 f.). Bis in das frühe 20. Jahrhundert war das Rauchen eindeutig männlich konnotiert, die Relation von Raucherinnen und Rauchern sehr ungleichgewichtig (Dinges 2011: 28). Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts war es dann auch die Anpassung des weiblichen an das männliche Rauchverhalten, die wesentlich zu einer gewissen Verkleinerung des gender gap in einigen Industrieländern beitrug. Wie auch rezente Befunde aus der deutschen Gesundheitsforschung belegen, ist die Verkleinerung des gender gap seit den 1980er-Jahren zu fast 50 % auf eine Annäherung der Sterblichkeit von Lungenerkrankungen, die mit dem Nikotinkonsum hoch korreliert ist, zurückzuführen. Während der Rückgang der Sterblichkeit dieser Todesursachengruppe der männlichen Bevölkerung ein leichtes Plus an Lebensjahren bescherte, kompensierte bei den Frauen der Rückgang der Sterblichkeit von nicht malignen Lungenerkrankungen lediglich den Anstieg der Lungenkrebssterblichkeit (Weiland 2006: C875 f.). Untersuchungen von Gemeinschaften mit sehr ähnlichen Lebensbedingungen von Männern und Frauen belegen jedoch auch eine biologische Komponente des gender gap. Nach nahezu übereinstimmenden Ergebnissen von Studien unter Allgemein- und Klosterbevölkerungen wurde sie mit rund ein bis zwei Jahren beziffert (Luy 2002: 424). Wenn man allerdings den Einfluss biologischer Faktoren auf das Rollenverhalten mit
Der social und der gender gap
145
berücksichtigt, ist dieser Faktor erheblich größer (Ritzmann 2001: 70). Am eindeutigsten sind genetisch-biologische Faktoren, die den gender gap beeinflussen, bei Säuglingen belegbar, denn bei Säuglingen und Kleinkindern fallen anerzogenes geschlechtsspezifisches Verhalten als Begründung für die Übersterblichkeit von Knaben weg. Auf ein biologisch vorgegebenes Ungleichgewicht deutet schon der historisch wie gegenwärtig global belegbare Knabenüberschuss bei der Geburt, dem eine höhere Sterblichkeit männlicher Säuglinge im ersten Lebensjahr gegenübersteht. Gleichwohl kann das gesamte Ausmaß der Knabenübersterblichkeit im ersten Lebensjahr nicht ausschließlich auf biologische Faktoren, wie etwa das Fehlen eines zweiten X-Chromosoms, welches die Anfälligkeit, an Infektionen zu sterben, reduziert, zurückgeführt werden. Es besteht selbst in dieser Altersgruppe ein bisher noch nicht eindeutig geklärtes Zusammenspiel genetischer und sozialer Einflüsse (Waldron 1998: 64 – 83). In historischen Populationen lag die Sterberate männlicher Säuglinge in Europa ohne Ausnahme höher als die weiblicher Babys (Tabutin / Willems 1998: 38). Eine deutlich höhere Knabensterblichkeit ist etwa schon für das Tudor-England belegt (Wrigley / Schofield 1989: 248 f.). Im 19. Jahrhundert lag die Übersterblichkeit der Knaben bei rund 20 % (Birg 1996: 259). Sie sank zwar in der Folge, doch blieb die männliche Übersterblichkeit im Säuglingsalter bis in die Gegenwart weiter bestehen. Angesichts der im 20. Jahrhundert dramatisch gesunkenen Säuglingssterblichkeit in allen Industrieländern hat diese auf den gender gap allerdings zurzeit nur noch einen marginalen Einfluss. Was die differenzielle Sterblichkeit der Geschlechter mit Bezug auf degenerative Erkrankungen anlangt, existieren konkurrierende naturwissenschaftliche Theorien, die einen Basisvorteil der weiblichen Bevölkerung mit zunehmendem Alter zu begründen suchen. So könnte die Hormonsubstitution in der Postmenopause das Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen bei Frauen deutlich senken (Eickenberg / Hurrelmann 1997: 129). Auf der anderen Seite beschleunigen Androgene 38 Stoffwechsel prozesse und tragen so bei Männern mit zunehmendem Alter zu einem
38 Sexualhormone mit virilisierender Wirkung.
146
Der social und der gender gap
stärkeren Verschleiß bei. Diese Aussage wird durch Untersuchungen der Lebenserwartung von Kastraten gestützt, die eine merklich höhere Lebenserwartung als vergleichbare männliche Populationen besitzen (Luy 2002: 423). Nach einer anderen Theorie besitzen Körperzellen im weiblichen Organismus eine größere Zellteilungshäufigkeit als ihre männlichen Pendants, was einen biologischen Vorteil im Alterungsprozess darstellt (Birg 1996: 88).
147
11. Die „stille Revolution“ Die europäische Bevölkerungsgeschichte war wie die aller anderen globalen Kulturräume durch ein hohes vortransitorisches Fertilitätsniveau gekennzeichnet, welches sich freilich durch das späte Heiratsalter in der Zone des European Marriage Pattern in gewissen Grenzen hielt. Da spätestens seit dem Spätmittelalter eine illegitime Geburt in großen Teilen Europas für ledige Mütter und deren Kinder mit einer erheblichen Stigmatisierung verbunden und zudem die ökonomische Situation der Betroffenen in der Regel prekär war, sorgte späte Heirat in jenen Teilen des Kontinents, in denen sie weit verbreitet war, für eine Limitierung der Fertilität. Allerdings führte eine Erhöhung des Heiratsalters nicht unbedingt zu einer proportionalen Reduktion der Fertilität, da sich bei später heiratenden Frauen die Geburtenfolge, soweit das biologisch möglich war, altersmäßig verschob (Lachiver 1978: 203 f.). Für eine Begrenzung der Fertilität sorgten auch tradierte Stillpraktiken und die temporäre Tabuisierung des ehelichen Geschlechtsverkehrs nach der Geburt eines Kindes oder in der Fastenzeit (Livi-Bacci 1999: 143 f.). Auch biologische Einflussgrößen im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Unterernährung spielten eine Rolle. So verhinderte die sogenannte Hungeramenorrhöe 39 die Empfängnis in Perioden schwerer Unterernährung (Le Roy Ladurie 1978). Chronische Unterernährung von Frauen sorgte auch für seltenere Ovulationen und ein vergleichsweise hohes Alter beim Eintreten der ersten Regelblutung in der Pubertät (Menarchealter) (Komlos 1994: 29 – 31). Einen anderen fertilitätsreduzierenden biologischen Faktor stellte die Gonorrhoe 40 dar (Le Roy Ladurie 1978: 151).
39 Temporäres, durch Hunger verursachtes Ausbleiben der Menstruation. 40 Bakteriell ausgelöste Geschlechtskrankheit.
148
Die „stille Revolution“
Die Wirkung dieser „Fertilitätsbremsen“ sollte jedoch nicht überschätzt werden. Abgesehen von Zeiten höchster Not (Kriege, Seuchenausbrüche u. Ä. m.) war das Fertilitätsniveau im vormodernen Europa hoch. Die Geburtenrate dürfte im Mittelalter und in der frühen Neuzeit im Schnitt bei 40 oder knapp darüber gelegen haben. Das entsprach einem Rhythmus der Lebendgeburten von rund 2,5 Jahren (Mols 1983: 40). Geburtenraten in italienischen Städten für das 16. und 17. Jahrhundert zeigen eine große Bandbreite von ca. 35 – 50, was auch als Reaktion auf Bevölkerungsverluste durch schwere Pestepidemien gedeutet werden kann (Cipolla 1988: 305 f.). Höheren Fertilitätsniveaus in ländlichen Regionen standen geringere in den Städten gegenüber, deren Bevölkerungsanteil freilich noch so gering war, dass er auf die Gesamtentwicklung wenig Einfluss hatte. Für England und Wales zeigt die am weitesten zurückreichende rekonstruierte Zeitreihe der Reproduktionsraten von der Mitte des 16. bis in das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts durchschnittliche Kinderzahlen von vier bis sechs (Wrigley / Schofield 1989: 230). Das englische Fertilitätsniveau wurde übertroffen von jenem in großen Teilen Osteuropas. Dort ermöglichte das niedrige durchschnittliche Heiratsalter längere reproduktive Phasen ehelicher Fertilität. Solche großräumigen Unterschiede der vortransitorischen Fertilität bestanden bis in das ausgehende 19. Jahrhundert. Die Gesamtfertilität im späten zaristischen Russland war etwa doppelt so hoch wie jene in England und Wales, und selbst die eheliche Fertilität lag um rund 50 % über dem englischen Wert, und das obwohl die Fertilität in England bis dahin für westeuropäische Verhältnisse als ausgesprochen hoch zu bezeichnen ist (Coale / Tredway: 90, 137). Noch in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre kamen in der Sowjetunion im Durchschnitt 5,2 Kinder auf eine Frau – berücksichtigt man einen gewissen Anteil Kinderloser, ein sehr hoher Wert (Chesnai 1992: 543).
149
Die „stille Revolution“ Länder/Provinzen
Zeitraum
Geburtenrate
Sterberate
England und Wales
1770 – 1795
37
27
Frankreich
1770 – 1795
38
35
Lombardei
1770 – 1795
40
38
Schweden
1770 – 1795
33
28
Norwegen
1770 – 1795
31
25
Finnland
1770 – 1795
40
28
heutiges Österreich
1787/1792
34
33
Niederösterreich
1785/1795
38
35
1768
34
32
Tirol
1787/1792
30
27
Vorlande
1789/1791
40
31
Steiermark
1785/1789
30
31
Krain
1787 – 1792
36
32
Görz
1788/1789
39
39
„Tschechische“ Länder
1785/1795
44
32
1769
48
38
1781/1782
48
41
Oberösterreich
österr. Schlesien Königreich Ungarn
Tabelle 7 Vortransitorische Geburten- und Sterberaten in Europa (ca. 1770 – 1790)
Ähnlich wie die Kurve der Sterbefälle unterlag auch jene der Geburten nicht unbeträchtlichen Schwankungen, die in Summe allerdings nicht jene extremen Zacken der Mortalität aufwiesen. Wie Malthus richtig beobachtet hatte, sorgten Missernten, militärische Bedrohungslagen und die Wirkung von Seuchen für kurz- und mittelfristige Veränderungen des generativen Verhaltens in Form von preventive checks 41, aber auch, und das durchaus häufiger, von hoher Geburtenfreudigkeit nach dem Ende solcher Krisen. Langfristige Veränderungen des generativen Verhaltens, die den Rahmen der vortransitorischen Verhältnisse sprengten, traten vergleichsweise
41 Antizipierende vorbeugende Einschränkungen der Fertilität.
150
Die „stille Revolution“
spät ein. Den Anfang eines Fertilitätsrückgangs auf breiter Ebene machte Frankreich. Hier wurde ab der Zeit der Französischen Revolution in größerem Ausmaß Geburtenkontrolle betrieben, und zwar bei Weitem nicht nur von kleinen, privilegierten Bevölkerungsgruppen. Nach einer Fallstudie über die Pariser Region deutete noch in der zweiten Hälfte des 17. und im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts – abgesehen von den üblichen Schwankungen und regionalen Unterschieden – nichts auf Geburtenbeschränkung in der Ehe bei der stabilen Bevölkerung 42 hin. Sie wurde also allenfalls von Migrantinnen und Migranten praktiziert. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch der Revolution trat die Geburtenbeschränkung in der Ehe lediglich im höheren reproduktiven Alter auf. Nach 1789 kam es aber zum großen Wandel. Nun sank die eheliche Fertilität nach und nach in allen Altersgruppen, in allen untersuchten Regionen, in den Städten und auf dem Land sowie in allen Berufsschichten. Während zuvor verheiratete Frauen am häufigsten in einem Rhythmus von zwei Jahren Kinder zur Welt brachten, verlängerte sich dieser auf vier und mehr Jahre. Jung verheiratete Frauen, die vor der Revolution, wenn sie die Geburten überlebten, im Schnitt zehn Kinder gebaren, kamen nun „nur“ noch fünf (Lachiver 1978). Wie eine vergleichende Analyse nach groben Kriterien in 80 europäischen Bevölkerungen im Zeitraum von 1675 bis 1825 belegt, blieb Frankreich kein Einzelfall. Ansätze einer Geburtenbeschränkung finden sich um 1800 in allen untersuchten städtischen und in 60 % der länd lichen Regionen (Pfister 1985: 16). Auf die gesamte Fertilitätsentwicklung hatte das vorerst jedoch nur in Frankreich merkbaren Einfluss. Der Fertilitätsrückgang setzte sich dort auch nach 1814/15 kontinuierlich fort (Armengaud 1986: 147). Daher lag die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau um 1850 mit 3,4 bereits relativ niedrig. Im übrigen Europa setzte ein breiter Rückgang der Fertilität in der Regel erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein. Noch um 1870 waren mit Ausnahme von Frankreich durchschnittliche Kinderzahlen zwischen rund 4 und 5,5 die Regel.
42 Sesshafte Bevölkerung unter Ausklammerung von ab- und zuwandernden Personen.
Die „stille Revolution“
151
Erst drei Jahrzehnte später war der Fertilitätsrückgang bereits fast überall in Europa spürbar, und im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sollte er seinen Durchbruch erleben. Um 1910 bekamen Engländerinnen und Französinnen im Schnitt weniger als drei Kinder, in Deutschland waren es noch 3,5, in Italien 4,3 (Livi-Bacci 1999: 178). Der dauerhafte Fertilitätsrückgang in Europa beruhte auf dem Zusammenspiel von Veränderungen der ehelichen und unehelichen Fertilität. Dabei bestanden regional erhebliche Unterschiede. Simon Szreter hat sieben verschiedene Muster unterschieden: das englische, osteuropäische, mediterrane, niederländisch-schweizerische, mitteleuropäische, frankoskandinavische und das irische. Das Spektrum reicht dabei von der Fertilitätstransition in England und den schottischen Lowlands, die auf einer sinkenden ehelichen Fertilität und Heiratshäufigkeit beruhte, zu anderen Mustern in den übrigen westeuropäischen Ländern, in denen zwischen der sinkenden ehelichen Fertilität und der Nuptialität entweder keine oder eine negative Korrelation bestand. Das mitteleuropäische Muster kennzeichnete sinkende eheliche Fertilität bei zunehmender Nuptialität, während etwa in Schweden bis in die 1930er-Jahre die Heiratshäufigkeit mehr oder minder konstant blieb (Szreter 1999). Insgesamt lässt sich anhand der Verheiratetenquote 43 zeigen, dass sich das Heiratsregime während des Fertilitätsrückgangs in den meisten europäischen Ländern nicht allzu sehr veränderte und daher aus diesem keine zentrale Erklärung der Transition abgeleitet werden kann. So war die Verheiratetenquote in einigen Ländern, in denen die Transition spät einsetzte, sehr unterschiedlich: in Irland konstant niedrig, in Portugal auf einem mittleren und in Ungarn auf einem sehr hohen Niveau. Während der Fertilitätstransition änderte sich an diesen nationalen Unterschieden der Heiratshäufigkeit nichts Wesentliches (Rothenbacher 2002). Die eigentlich entscheidenden Veränderungen fanden entsprechend in der Ehe statt, und zwar mit Ausnahme von Frankreich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zwischen etwa 1880 und 1910 sank die eheliche Fertilität in vielen euro päischen Ländern um 30 % und mehr. Ausnahmen bildeten lediglich die
43 Heiratende pro Bevölkerung im Alter von 15 bis 49 Jahren.
152
Die „stille Revolution“
Länder an der Peripherie wie Russland, Irland und Spanien, in denen ein 10%iger Rückgang der ehelichen Fertilität erst in den 1920er-Jahren zu beobachten war (Coale / Treadway 1986: 38). Der kollektive Schock des Ersten Weltkriegs und die politisch und ökonomisch krisenhafte Zwischenkriegszeit sorgten dafür, dass sich bereits um 1930 eine Kernzone Europas mit niedriger Fertilität an und unter der Grenze des für die volle Reproduktion der Bevölkerung notwendigen Niveaus bildete. Sie reichte von Großbritannien über die nordeuropäischen und baltischen Länder nach Böhmen, Mähren, Schlesien, in die deutschsprachigen Länder bis nach Nord- und Mittelitalien und Frankreich. Das „Epizentrum“ des „Geburtentiefs“ der Zwischenkriegszeit lag vor der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland und Österreich (Kirk 1946: 54 Figure 18). Berlin und Wien erhielten von dem den Nationalsozialisten nahestehenden zeitgenössischen Demografen Friedrich Burgdörfer sogar den Titel „unfruchtbarste Großstädte der Welt“. Tatsächlich erreichte die Nettoreproduktion 44 in Wien Mitte der 1930er-Jahre mit einem Wert von 0,26 einen Tiefststand, der erst in jüngster Zeit in Peking und anderen chinesischen Großstädten noch unterschritten wurde (Terrell 2005: 52). Mit anderen Worten: Die genannten Städte wären mittelfristig ohne Berücksichtigung der Wanderungsbewegungen auf rund ein Viertel ihrer Ausgangsbevölkerung geschrumpft. Aber auch andere mittel- und nordeuropäische Großstädte wiesen in der Zwischenkriegszeit sehr niedrige Fertilitätsniveaus auf. Das Geburtentief der Zwischenkriegsjahre und in den von Nazideutschland besetzten Gebieten während des Zweiten Weltkriegs erwies sich allerdings zunächst noch als extremer Ausreißer nach unten. In den späten 1940er- und in den 1950er-Jahren waren in Europa Gesamtfertilitätsraten um 2,5 verbreitet, in großen Teilen Osteuropas, in den Niederlanden, Irland und auf der Iberischen Halbinsel lagen die Raten sogar um 3. Der Babyboom der 1960er-Jahre prolongierte dieses Fertilitätsniveau
44 Die Zahl der Mädchengeburten pro Frau berechnet nach der Methode der Gesamtfertilitätsrate, jedoch unter Berücksichtigung der weiblichen Überlebenswahrscheinlichkeit bis zum Ende der Reproduktionsperiode.
Die „stille Revolution“
153
bzw. hob im Fall jener Länder, die zuvor niedrige Fertilitätsniveaus hatten, das Niveau noch einmal an. Das um 1900 bestehende Ausgangsniveau wurde jedoch nirgendwo erreicht. Während zur Jahrhundertwende der Mittelwert der Fertilität in Europa bei 33 % des Maximums (gemessen an der Fertilität der Hutterer, einer religiösen Gemeinde, die keine Geburtenbeschränkung praktiziert) lag, waren es um 1960 22 % (Coale / Treadway 1986: 57). Seit den 1970er-Jahren sank die Fertilität schließlich kontinuierlich und deutlich unter das Reproduktionsniveau, zum Teil mit Verzögerung in einigen osteuropäischen Ländern (Chesnais 1992: 549 f.). Die Transformationskrise in Osteuropa nach 1989 tat dann ein Übriges, dass nunmehr der gesamte Kontinent sich nicht mehr voll reproduziert. Am Beginn des 21. Jahrhunderts lag die Zahl der Kinder pro Frau im europäischen Durchschnitt nur noch bei 1,4, wobei Nord- und Westeuropa, mit Frankreich an der Spitze, mit Werten von 1,7 und 1,6 eine vergleichsweise überdurchschnittliche Fertilität aufwiesen, während etwa in Italien und Spanien sehr niedrige Werte zu verzeichnen waren (Münz / Reiterer 2007: 330 – 335). Das regionale Verteilungsmuster der Fertilität in Europa hat sich in den letzten Jahrzehnten also diametral verändert. Vorreiter früher ehelicher Geburtenkontrolle waren gesellschaftliche Schichten, in denen der familiäre Besitztransfer eine große Rolle spielte. Manchmal handelte es sich dabei um religiöse oder ethnische Minderheiten. Sie waren auf die Städte konzentriert. Beispielsweise zeigt ein Vergleich von Frauen in Florenz und dem ländlichen Santo Spirito für das Jahr 1427, dass die in der Stadt Lebenden zwar bis zu einem Alter von 22 Jahren mehr Kinder hatten, dann aber jene auf dem Land. Das spricht für eine Tradition der ehelichen Geburtenbeschränkung durch stopping bei bestimmten urbanen gesellschaftlichen Gruppen (Herlihy 1987: 18 f.). In Teilen der Aristokratie kam es vom 17. auf das 18. Jahrhundert zu einem Rückgang der Fertilität, besonders deutlich in der französischen Hocharistokratie, wo sich die Fertilität im 18. Jahrhundert im Vergleich zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehr als halbierte. Aber auch in der florentinischen und Mailänder Aristokratie und unter den europäischen Herrscherfamilien war der Rückgang im Ausmaß von durchschnittlich etwa einem Kind merklich. Da das Erst-Heiratsalter der Frauen in den erwähnten Schichten in der Regel niedrig bis durchschnittlich war, deutet
154
Die „stille Revolution“
das auf eine bewusste Beschränkung der Kinderzahl, nicht vorrangig durch späte Eheschließung, sondern durch Änderung des generativen Verhaltens in der Ehe. Ab dem 18. Jahrhundert sank auch die Fertilität in der Bourgeoisie in Genf und Rouen und in einem Teil bisher untersuchter jüdischer Gemeinden. In Rouen zog allmählich auch die übrige städtische Bevölkerung, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sogar das Proletariat mit, was auf einen „trickle down“-Effekt innerhalb des städtischen Milieus verweist (Livi-Bacci 1986). Den Bevölkerungsgruppen, die frühe Geburtenkontrolle praktizierten, war gemein, dass sie nach Erreichen einer bestimmten erwünschten Kinderzahl die Fertilität zu kontrollieren begannen (Pfister 1985: 19, 112). Damit wurde also der entscheidende Schritt von spacing – dem temporären Aufschub, der dem malthusianischen preventive check entspricht – zum stopping getan. Im Allgemeinen kann jedoch vor dem späten 19. Jahrhundert, in Frankreich etwa ein Jahrhundert früher, nicht von einer verbreiteten ehelichen Geburtenkontrolle ausgegangen werden. Bei der nun einsetzenden Fertilitätstransition setzte sich die Tendenz zu „trickle down“-Prozessen fort, wiewohl spezifische „Kulturen“ der Geburtenbeschränkung – bürger liche, proletarische, bäuerliche – und nicht zuletzt Fertilitätsdifferenziale erhalten blieben. Aufgrund des frühen Fertilitätsrückgangs in Frankreich war dort schon bei den im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts geschlossenen Ehen die Kinderzahl verschiedener sozialer Schichten recht nahe aneinandergerückt. Während hohe Angestellte, Kleriker und Akade miker im Schnitt auf 3,5 Kinder kamen, waren es bei Arbeitern um die 4, bei Hilfsarbeitern 4,3. Bei um 1910 deutlich höherem Fertilitätsniveau in England und Wales waren die Fertilitätsdifferenziale zwischen den sozialen Schichten stärker ausgeprägt. Auch auf den Britischen Inseln waren Angestellte und Intelligenz Vorreiter, Hilfs- und Landarbeiter sowie Bergleute Nachzügler der Geburtenbeschränkung. Aber selbst die zuletzt angeführten Gruppen hatten unter den von 1891 bis 1896 geschlossenen Ehen weniger Kinder als die Vorreitergruppen aus den in den 1860er Jahren geschlossenen Ehen. Auch in Deutschland betraf der Geburtenrückgang alle Schichten, und zwar im Ausmaß von rund 50 %. So kamen auf in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre geschlossene Ehen von in der Landwirtschaft tätigen Männern 3,4, auf jene von männlichen
155
Die „stille Revolution“
Angestellten jedoch nur 1,8 Kinder. Die Kinderzahl der in der Landwirtschaft Tätigen entsprach nun jener der Angestellten, die um die Jahrhundertwende geheiratet hatten. Die Rangfolge, welche von den in der Landwirtschaft Tätigen über Arbeiter zu Beamten und Angestellten führte, blieb hingegen völlig unverändert, was auf weiterhin bestehende kulturelle und mentale Unterschiede hinweist. Eine ähnliche soziale Abstufung des Fertilitätsrückgangs findet sich auch in jenen Regionen, in denen er spät einsetzte, beispielsweise in Sizilien. Dort reduzierten zuerst die Landadeligen, später die vermögenden Handwerker und Gewerbetreibenden und schließlich die Landarbeiter bewusst die Familiengröße (Schneider / Schneider 1992). Frankreich Stellung im Beruf
England und Wales
Eheschließungsjahr
Eheschließungsjahr
1881 und früher
1881 –1891
Veränderung in %
1861 –1871
1891 –1896
Veränderung in %
freie Berufe, Kleriker, hohe Angestellte
3,5
2,9
-18,4
5,9
2,9
-51,4
Händler, niedrige Angestellte, Geschäftsinhaber
3,7
3,2
-11,9
6,3
3,3
-47,3
Facharbeiter
3,8
3,2
-15,6
7,1
4,1
-41,9
Arbeiter
4,1
3,4
-17,2
6,9
4,1
-40,6
Hilfsarbeiter
4,3
3,7
-14,3
7,4
4,8
-35,0
Textilarbeiter
5,0
4,1
-17,3
6,7
3,6
-46,5
Bergleute
5,7
4,8
-15,9
8,3
5,6
-32,9
Landarbeiter
4,2
3,8
-11,5
7,3
4,6
-36,2
Tabelle 8 Durchschnittliche Kinderzahl von im Jahr 1906 in Frankreich und 1911 in England und Wales bestehenden Ehen nach Beruf des Familienvorstands
156
Die „stille Revolution“ Stellung im Beruf
Eheschließungsjahr
Veränderung in %
1904 und früher
1920 – 1924
Landwirtschaft
5,5
3,4
-37,7
nichtlandwirtschaftl. Bevölkerung
4,5
2,1
-53,6
Selbstständige *
4,0
1,9
-52,7
Beamte **
3,5
1,8
-48,3
Angestellte
3,4
1,6
-51,9
Arbeiter
4,7
2,4
-48,7
dar. Eisen- und Metall arbeiter
4,3
2,1
-51,3
Bauarbeiter
5,2
2,9
-45,2
selbstständige Berufslose ***
4,7
1,6
-66,1
Gesamt
4,7
2,3
-51,4
* Einschließlich mithelfende Familienangehörige ** Einschließlich Berufssoldaten *** Rentiers
Tabelle 9 Durchschnittliche Kinderzahl von im Jahr 1939 bestehenden Ehen in Deutschland (Gebietsstand 31.12.1937) nach Beruf des Familienvorstands
Auch wenn die Persistenz von Fertilitätsdifferenzialen eher für die Deutung des Fertilitätsrückgangs als Adaption an geänderte sozioökonomische Rahmenbedingungen denn für die Diffusion eines bürgerlichen Kleinfamilienmodells spricht, lässt sich beides wohl nicht eindeutig trennen (Haines 1992: 224). Die Befunde Simon Szreters für Großbritannien deuten jedenfalls auf ein komplexes Ineinandergreifen fertilitätsmindernder Faktoren in lokalen Milieus unter dem Einfluss geänderter sozioökonomischer Rahmenbedingungen auf der Mikro- und Makroebene hin (Szreter 1997: 310 – 366). Auch in Frankreich spielten diese lokalen Milieus für den Fertilitätsrückgang offensichtlich eine wichtige Rolle. Wie sonst wäre es zu erklären, dass um 1910 die durchschnittliche Kinderzahl von Bäuerinnen der Gironde und dem Umland von Bordeaux nur noch von jener der Pariserinnen unterschritten wurde (Dienel 1995: 28 f.)? Jedoch sind auch Diffusionsprozesse nachzuweisen. Nicht nur was seine demografischen Merkmale betrifft, gewann das bürgerliche Kleinfamilienmodell vom Wirtschaftsbürgertum und der Bürokratie ausgehend auch für die Handwerkerfamilie an Attraktivität, deren traditionelle Form durch die Emanzipation der Gesellen aus dem Meisterhaushalt sich langsam
Die „stille Revolution“
157
auflöste, was zu einer innerfamilialen Emotionalisierung und Pädagogisierung der Handwerkerfamilie beitrug (Sieder 1987: 124). Auf einem ähnlichen Prozess beruhte auch die Entstehung der respectable working class family, die mental in mancher Hinsicht weiterhin Welten vom bürgerlichen Wertekodex trennten. Eine Erklärung für die bis in das späte 19. Jahrhundert anhaltend hohe Fertilität in den Unterschichten liefert der Mangel an biografischer Planbarkeit. Weder gab es einen relevanten intergenerationellen Vermögenstransfer, noch war die eigene Lebenszeit und die der Nachkommen kalkulierbar. Mit dem Übergang zur Hochindustrialisierung besserten sich jedoch die Lebensbedingungen von Arbeiterinnen und Arbeitern so weit, dass sich zunächst vor allem in der Facharbeiterschaft mit der „ordentlichen Arbeiterfamilie“ ein dem bürgerlichen Familienmodell demografisch ähnliches, wenn auch von seiner ideologischen Grundlage sich unterscheidendes Kleinfamilienmodell etablieren konnte. Seinen endgültigen Durchbruch erlebte dieses Modell allerdings erst in der Zwischenkriegszeit. Eine über das Proletariat hinausreichende Verallgemeinerung fand dieses Familienbild im Konzept des „guten Ehemanns“, der sich durch ein verantwortungsbewusstes, kooperatives generatives Verhalten auszeichnen sollte (Gillis / Tilly / Levine 1992: 7). Wie eng vorerst die Erlangung von basic commodities mit der Einschränkung der Familiengrößen in immer umfangreicheren Teilen der europäischen Gesellschaften verknüpft war, sollte sich nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg im Babyboom der 1950er- und 1960er-Jahre erweisen: Mit steigendem Wohlstand nahmen die Fertilitätsraten wieder deutlich zu, und es wurde ein durchaus traditionelles Zwei- und Drei-Kind-Familienideal realisiert. Entscheidende mentalitätsgeschichtliche Veränderungen setzten erst wieder Mitte der 1960er-Jahre ein. Der mit dem Begriff der 68er-Generation umschriebene Umbruch führte nicht eigentlich zu einem Funktionsverlust, sondern zu einem Funktionswandel der Familie in Europa. Funktionen der Kernfamilie gingen bis zu einem gewissen Grad an öffentliche Institutionen wie Kinderkrippe und -garten, Schule und Altenheim über. Neben das bürgerliche Familienmodell und das angesichts des sektoralen Strukturwandels an Bedeutung verlierende der respectable
158
Die „stille Revolution“
working class family traten in der oberflächlich nivellierten Mittelstandsgesellschaft „Lebensabschnittsbeziehungen“, „Patchwork“-Familien 45 und die Zunahme alleinerziehender Personen. Die Verbreitung solcher Familienformen tat ein Übriges, um die Fertilitätsraten rasch zu senken. Wie bereits im Abschnitt über das European Marriage Pattern ausgeführt, spielte bis in das 19. Jahrhundert das Heiratsregime für die Höhe des Fertilitätsniveaus eine zentrale Rolle. Das war allerdings nicht immer so. Im Frühmittelalter wirkten wohl Polygamie und vereinzelt praktizierte Polyandrie in der germanischen und slawischen Frühzeit fertilitätssteigernd. Auch im christlichen Europa blieb Polygamie verbreitet, wenngleich im Wesentlichen auf die Oberschicht beschränkt (Krutzler 2011: 315 – 322). Nach und nach gewannen jedoch die Kirchen Einfluss auf das Heiratsverhalten und setzten diesen Eheformen ein Ende. Die Höhe der Gesamtfertilität wurde nun mehr und mehr von der ehelichen Fertilität bestimmt. Für vormoderne Ehepaare bestanden angesichts der unsicheren eigenen Lebenszeit allenfalls temporäre Gründe, die Geburt von Kindern zu planen, ja zu verhindern (McLaren 1978: 27). Da kontrazeptive Methoden in der Ehe kaum praktiziert wurden, lagen die Gründe für regionale und schichtspezifische eheliche Fertilitätsdifferenziale in biologischphysiologischen und in kulturellen Faktoren. Selbst wenn man hochaggregierte Daten zum Maßstab nimmt, divergierte die innereheliche Fertilität regional erheblich. Massimo Livi-Bacci kam auf der Basis vorhandener altersspezifischer ehelicher Fertilitätsraten zu dem Schluss, dass beispielsweise eine im Alter von 25 Jahren heiratende Frau im 17. und 18. Jahrhundert unter Ausklammerung ihrer Sterblichkeit während der reproduktiven Lebensphase in Schweden und England im Durchschnitt mit 5,4, in Italien jedoch mit 6,4 und in Flandern mit 7,1 Kindern zu rechnen hatte (Livi-Bacci 1999: 145). Zu den Bedingungen, die für eine verbreitete Geburtenkontrolle erfüllt sein mussten, zählte ein entsprechendes Bewusstsein für die Selbstbestimmtheit der eigenen Existenz im Zuge eines in der Renaissance einsetzenden Säkularisierungsprozesses. Der in Frankreich schon in weiten
45 Familien mit Kindern unterschiedlicher Ehen oder Lebensgemeinschaften.
Die „stille Revolution“
159
Teilen des 18. Jahrhunderts und dann vollends durch die Französische Revolution ausgelöste Säkularisierungsschub bildete den ideologischen Rahmen für die frühe Beschränkung der Fertilität. Unter den ökonomischen Motiven spielte die hohe Bevölkerungsdichte des Landes wohl eine gewisse Rolle. Im vergleichsweise dicht besiedelten, aber agrarisch geprägten Frankreich brachte die Aufteilung von Land viele Bauern familien an den Rand der ökonomischen Katastrophe. Geburtenbeschränkung linderte dieses Problem. Diese spezifischen Bedingungen für den Geburtenrückgang waren jedoch vorerst nur in Frankreich gegeben. Der in Gesellschaften unterschiedlicher ökonomischer Entwicklungsstufen, Reproduktionskulturen und Fertilitätsniveaus europaweit einsetzende Rückgang der Fertilität im späten 19. und im 20. Jahrhundert beruhte schließlich auf einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Faktoren. Der Ausbau nationaler Bildungssysteme, die Entstehung von Konsumgesellschaften und die Verbreitung internationaler Massenmedien schufen ein gesamtgesellschaftliches Umfeld, welches den ehelichen Fertilitätsrückgang auf breiter Basis ermöglichte und beförderte (Watkins 1992). Unter vortransitorischen Verhältnissen wirkte vor allem sexuelle Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe als fertilitätsbegrenzend. Niedrige frühneuzeitliche Illegitimitätsraten geben ein beredtes Zeugnis, dass Männer und Frauen gezwungen waren, ihre außerehelichen sexuellen Wünsche zu kontrollieren (Persson 2010: 52). Die Stigmatisierung von Illegitimität war zwar immerhin groß genug, um uneheliche Fertilität zu limitieren, doch stieß die normative Kontrolle des generativen Verhaltens im 19. Jahrhundert durch den durch die Industrielle Revolution ausgelösten sozioökonomischen Umbruch zusehends an Grenzen. Staatliche und kommunale Obrigkeiten schufen daher mit der Möglichkeit zur Abschiebung unehelicher Säuglinge in Findelanstalten ein – wenn auch untaugliches – Ventil. Verbreitete Konkubinate im Proletariat sorgten zudem dafür, dass Illegitimität zusehends ihre Bedeutung als preventive check verlor. Seit dem 18. Jahrhundert scheint neben sexueller Enthaltsamkeit vorerst vor allem in Frankreich der coitus interruptus als „neue“ kontrazeptive Technik im größeren Maßstab praktiziert worden zu sein. Auf dessen Verbreitung beruhte der frühe Fertilitätsrückgang nicht nur in
160
Die „stille Revolution“
Frankreich, sondern mehr als ein Jahrhundert später auch in vielen agrarischen Gesellschaften, aber auch im urbanen Milieu Italiens. Als Methode hatte er allerdings den nicht unerheblichen Nachteil, dass er auch unter der männlichen Bevölkerung, besonders bei den Ehemännern, akzeptiert sein musste (Gillis / Tilly / Levine 1992: 5). Eine vergleichsweise geringe Rolle spielte zunächst die Abtreibung. Heftige einschlägige Anklagen in spätmittelalterlichen Predigten lassen zwar erahnen, dass Abtreibungen praktiziert wurden (McLaren 1990: 115), doch dürfte es sich angesichts der hohen Risiken, die mit traditionellen Abtreibungsmethoden verbunden waren, noch kaum um ein Massenphänomen gehandelt haben. Dafür spricht auch die weiterhin hohe durchschnittliche Fertilität. Es ist müßig zu überlegen, ob die Nachfrage nach effizienteren Methoden der Geburtenbeschränkung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jene technologische Revolution auslöste, die der Arbeiterschaft und in weiterer Folge auch Teilen der ländlichen Bevölkerung die Chance gab, das bürgerliche Kleinfamilienmodell umzusetzen, oder ob diese vorerst exogene Entwicklung erst langsam der Geburtenkontrolle nutzbar gemacht wurde. Jedenfalls setzte um 1880 so etwas wie eine „Abtreibungsrevolution“ (Shorter 1984: 202) ein, die sich auf neue instrumentelle Abtreibungsmethoden, aber auch auf neue Produkte der chemischen Industrie stützte. Sie fanden zunächst in erster Linie in den Großstädten Verbreitung, wo der städtische Markt einen entsprechenden Absatz und die notwendige Anonymität garantierte. Dies war einer der Gründe, dass sich während der ganzen Fertilitätstransition eine inverse Beziehung zwischen der Größe der Städte und dem (ehelichen) Fertilitätslevel entwickelte (Sharlin 1986: 254). Simon Szreter hat allerdings darauf hingewiesen, dass sich der Fertilitätsrückgang im späten 19. Jahrhundert nahezu überall in Europa feststellen lässt, und daraus den Schluss gezogen, dass er nichts mit dem Aufkommen billiger und wirksamer Verhütungsmethoden zu tun haben könne (Szreter 1997). Insofern müssen coitus interruptus und sexuelle Enthaltsamkeit weiterhin eine gewisse Rolle gespielt haben, in England wahrscheinlich sogar eine dominante (Szreter 1999: 167 f.). Aber der Schritt zur Abtreibung als bewusster Form der Geburtenkontrolle war nunmehr wohl nicht mehr groß, zumal die Abtreibung oft nur als unvermeidliche Ergänzung des coitus interruptus gesehen wurde (Ehmer 1981: 468).
Die „stille Revolution“
161
Nachdem schon in den Vorkriegsjahren die Abtreibungsraten 46 allem Anschein nach rasch angestiegen waren, erreichte in den 1920er- und 30erJahren die „Abtreibungsepidemie“ in allen Industrieländern ihren Höhepunkt (Loudon 1992: 109 – 121; Shorter 1984, 239; Brookes 1988: 2 – 7). Wenn auch der deutschsprachige Raum besonders stark von dieser Entwicklung betroffen war – temporär vielleicht noch übertroffen von der Sowjetunion –, fiel der Anstieg auch in anderen Ländern ganz beträchtlich aus. Unter anderem wird das aus der Statistik der Müttersterblichkeit deutlich, die sich in Ländern mit entwickelten Gesundheitssystemen in hohem Maße auf das Risiko septischer Aborte reduziert und daher bedingt als Indikator für das Ausmaß der Abtreibungen gelten kann. In Stockholm entfielen beispielsweise im Jahr 1926 mehr als die Hälfte aller Müttersterbefälle auf diese Todesursache (Loudon 1992: 118 f.). In der Zwischenkriegszeit dürfte die demografische Wirkung der Abtreibungsepidemie das Ausmaß der natürlichen Reproduktion überschritten haben (Shorter 1984: 218 – 220). Beispielsweise in Moskau kamen um das Jahr 1930 auf 1.000 Einwohner rund 35 Abtreibungen, während sich die Geburtenrate um 20 – 25 bewegte (Burgdörfer 1942: 35). Nach konservativen Schätzungen für Deutschland lag die Zahl der Abtreibungen auf 1.000 Einwohner zumindest um 50 % des Niveaus der Geburtenrate (Hubbard 1983: 115). Die Moskauer Daten besitzen dabei das höchste Gewicht, da der Schwangerschaftsabbruch in Russland im Oktober 1917 legalisiert worden war und daher statistisch zumindest die Untergrenze der Zahl der Abtreibungen erfasst wird. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählten (ehemals) kommunistische Länder Osteu ropas zu jenen mit den mit Abstand höchsten Abtreibungsraten. Um die Jahrtausendwende erreichte die Abtreibungsrate in Ländern wie der Russischen Föderation, der Ukraine, Weißrussland, Rumänien, Bulgarien, Estland und Lettland das Niveau der Geburtenrate oder übertraf dieses sogar um 30 % und mehr (Russland, Weißrussland). In der Mehrzahl der europäischen Länder lag es jedoch lediglich bei 15 – 30 % der Geburtenrate, was darauf hinweist, dass in diesen Ländern Abtreibung
46 Abtreibungen auf 1.000 Lebendgeborene.
162
Die „stille Revolution“
von den betroffenen Frauen eher als selten notwendiges „letztes Mittel“ in Betracht gezogen wurde. Land
1980
2000
Albanien
225,1
409,9
Österreich
.
30,4
1307,1
1301,0
Belgien
.
119,8
Bosnien/Herz.
.
347,9
Bulgarien
1217,4
833,0
Kroatien
701,1
172,2
Tschechische Republik
448,2
380,8
Dänemark
407,3
233,5
Estland
1598,7
975,2
Finnland
238,4
192,6
Deutschland
289,7
175,5
Griechenland
61,0
174,5
Ungarn
544,0
607,1
Island
115,5
228,7
Italien
324,2
248,1
Lettland
.
851,4
Litauen
873,2
476,1
Moldawien
1188,5
704,8
Niederlande
117,5
131,7
Norwegen
265,1
247,1
Polen
.
0,4
Portugal
.
4,8
1035,6
1099,5
Russische Föderation
.
1411,1
Serbien
.
573,7
Slowakei
427,9
334,9
Slowenien
607,3
463,6
.
160,3
Schweden
359,4
342,5
Schweiz
215,0
156,9
Mazedonien
671,8
389,2
.
1127,5
224,0
290,7
Weißrussland
Rumänien
Spanien
Ukraine Großbritannien
Tabelle 10 Abtreibungsrate in europäischen Ländern 1980 – 2000
Die „stille Revolution“
163
Wenn auch die im Jahr 1929 bekannt gemachte Knaus-Ogino-Methode eine bedingte Alternative zu herkömmlichen Kontrazeptionsmethoden darstellte, veränderte erst die im Lauf der 1960er-Jahre auf den Markt kommende „Antibabypille“ das Angebot an Kontrazeptiva grundlegend. Schon Ende der 1960er-Jahre zählte die „Pille“ zu einem der wichtigsten Verhütungsmittel, gerade zu einem Zeitpunkt, als die Fertilitätskurve in vielen westlichen Ländern rasant nach unten ging (McLaren 1990: 240). Insofern kann sehr wohl von einem „Pillenknick“ gesprochen werden, obwohl dieser in der (demografischen) Forschung skeptisch bis ablehnend beurteilt wird, weil ihm ein Fertilitätsrückgang schon Mitte der 1960erJahre voranging (Segalen 1990: 214 f.). Tatsächlich deutet dies auf einen Bewusstseinswandel vor der massenhaften Verbreitung der Antibabypille. Dabei wird aber übersehen, dass dieser frühe Rückgang das hohe Fertilitätsniveau der Babyboomjahre als Ausgangspunkt hatte und keineswegs in allen Industrieländern spürbar war. Wie auch immer – in den 1970erJahren, in denen nach und nach die Nebenwirkungen der Pille bekannt wurden, trat dazu eine neue Pluralität an kontrazeptiven Methoden, die von Sterilisierung, der Pille und der Verwendung von Intrauterinpessaren bis zum konventionellen Kondom reichte (McLaren 1990: 252). In den folgenden Jahrzehnten verbreiteten sich moderne wie traditionelle kontrazeptive Methoden in Europa und der außereuropäischen Welt rasant, wobei eine inverse Beziehung zum jeweiligen Fertilitätsniveau besteht. Um die Jahrtausendwende praktizierten in Europa durchschnittlich rund 70 % der Frauen im gebärfähigen Alter kontrazeptive Methoden, im subsaharischen Afrika jedoch weniger als 30 % (Haub 2011).
165
12. Europas Wandel vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent und die „dritte demografische Transition“ Wie auf allen anderen Kontinenten blieb auch in Europa die demografische Entwicklung von Außenwirkungen nicht unberührt. Was für den Einfluss der Binnenmigration auf Fertilität, Heiratsverhalten und Sterblichkeit gesagt wurde, gilt in ähnlicher oder zum Teil noch erheblich verstärkter Form für transkontinentale Wanderungen. Bei diesen Wanderungen bestand in der Regel ein besonders ausgeprägter cultural gap zwischen Zuwanderern und Geburtsbevölkerung, und durch Wanderungen ausgelöste epidemiologische Effekte fielen häufig viel erheblicher aus, als das bei Binnenwanderungen auf dem europäischen Kontinent, zumal bei Nahwanderungen, der Fall war. Transkontinentale Wanderungen erfüllten zudem bis zu einem gewissen Grad die Funktion eines Bevölkerungspuffers, auch wenn sie sich in der Regel im Vergleich zu den Binnenwanderungen in relativ bescheidenen demografischen Größen abspielten. Beispielsweise lag der Anteil der Überseemigranten an allen Wanderungsbewegungen in Österreich-Ungarn Ende des 19. Jahrhunderts bei 15 – 20 % (Fassmann 2007: 38), und das obwohl sich gerade in der Spätphase der Donaumonarchie diese zu einem ganz bedeutenden Auswanderungsland entwickelte. Welchen im Lauf der Bevölkerungsgeschichte gravierend veränderten Einfluss transkontinentale Wanderungen in der europäischen Bevölkerungsgeschichte hatten, wird allein daraus klar, dass sich Europa vom spätantiken und frühmittelalterlichen Einwanderungs- zum neuzeitlichen Auswanderungskontinent wandelte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erneut zum Einwanderungskontinent mutierte. Seit den Anfängen der europäischen Bevölkerungsgeschichte bildeten transkontinentale Wanderungsbewegungen einen ihrer fixen Bestandteile,
166
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
wiewohl in den Köpfen der Migranten so etwas wie Europa gar nicht existierte. In der spätrömischen Welt hatten mehrere größere Wanderungssysteme bestanden. Das zweifellos bedeutsamste war jenes des Mittelmeer- und Schwarzmeerraums. In diesem Raum der lateinischen und byzantinischen Christenheit, der islamischen Welt und der jüdischen Gemeinden bestanden enge Wanderungsverflechtungen, die aus dem Handel (einschließlich des Menschenhandels) die größten Triebkräfte erfuhren. Der mediterrane Sklavenhandel brachte zentralasiatische, nordafrikanische und schwarzafrikanische Sklaven nach Südeuropa und europäische auf die Iberische Halbinsel und nach Nordafrika. Im Frühmittelalter wurde dieser Bevölkerungsaustausch jedoch einseitig. Aus dem transalpinen Europa wurden Sklaven in größerer Zahl auf die Iberische Halbinsel, nach Südfrankreich, aber auch nach Konstantinopel und Venedig verschleppt und dort in größerer Zahl in den oströmischen und arabischen Raum verkauft. In der karolingischen Epoche expandierte der Sklavenhandel erheblich, wahrscheinlich weil vom letzten Ausbruch der frühmittelalterlichen Pestwellen in den Jahren 745 bis 752 Nordafrika und die arabische Halbinsel sehr stark betroffen waren, Europa hingegen nur wenig. Auf der Route nach Marseille und Cordoba, über die Alpen und auf der Donauroute gelangten vor allem versklavte (Angel-)Sachsen und Slawen in die Zielgebiete (McCormick 2001: 738 – 740, 752 – 754, 759 – 777). Vom 9. bis 11. Jahrhundert wurden Sklaven hauptsächlich in der Zone östlich der Weichsel und nördlich und westlich des Dnjepr gefangen und von dort bevorzugt in den arabischen Raum verkauft (Heather 2011: 509). Während die Sklaventransporte für die politische Landkarte Europas wenig Bedeutung hatten, veränderte die „Völkerwanderung“ in dieser Beziehung den Kontinent nachhaltig. Seit dem späten 4. Jahrhundert lösten Wanderungsbewegungen der Hunnen, später der Awaren, aus den zentralasiatischen Steppen einen folgenreichen Dominoeffekt aus, der zu großräumigen Bevölkerungsverschiebungen am ganzen Kontinent beitrug. Von der Peripherie drangen gentile Gruppen als Invasoren in das römische Reichsgebiet ein. Nach dem Zusammenbruch des Hunnenreiches nutzten zunächst germanische Bevölkerungsgruppen das Macht- und Siedlungsvakuum. Bei ihrem Vorstoß über den römischen
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
167
Limes bildeten sie allerdings nur Minderheiten von wenigen Prozent der Bevölkerung. Man geht davon aus, dass die zugewanderten gentes maximal eine Million Menschen umfassten gegenüber rund 16 Millionen Romanen (Russell 1983: 22). Die Langobarden erlangten in den von ihnen ab dem Jahr 568 besetzten Gebieten Italiens einen Bevölkerungsanteil von immerhin vielleicht 5 – 8 % (Geary 2002: 137). Selbst die Angeln, Sachsen und Jüten stellten maximal ein Viertel der Bevölkerung im ehemaligen Britannien (Ward-Perkins 2000: 318). Weiter im Norden und Osten löste die slawische die germanische Landnahme ab. Außerhalb des ehemaligen Imperium Romanum und in dessen Randzonen erlangten die Zuwanderer die kulturelle Hegemonie über die einheimische Bevölkerung, in demografisch durch die „Völkerwanderung“ ausgedünnten Zonen wohl auch die Bevölkerungsmehrheit. Für einen späten Ausläufer dieser Wanderungsbewegungen, die magyarische Landnahme in der pannonischen Tiefebene, lässt sich der Anteil der Invasoren sogar einigermaßen genau beziffern. Man schätzt, dass etwa 100.000 Magyaren zuwanderten, während die ansässige, großteils slawische Bevölkerung rund 150.000 – 250.000 Einwohner umfasst haben dürfte (Kristó 2007: 18). Während die durch die Kreuzzüge ausgelösten Bevölkerungsbewegungen letztlich Episode blieben, veränderten die überseeischen Entdeckungen Grundsätzliches. Europa wurde zu einem Auswanderungskontinent, auch wenn die Dimensionen der Auswanderung sich noch in bescheidenen, dem vormodernen Stand der Transporttechnologie geschuldeten Grenzen hielten. So dürften im Zeitraum von 1601 bis 1776 ca. 650.000 Auswanderer die Britischen Inseln Richtung Amerika verlassen haben (Wende 2008: 60), die Mehrheit von ihnen als Kontraktarbeiter (Bade 2000: 127). Bis etwa 1820 waren rund 2 Millionen Europäer, vor allem Spanier, Portugiesen und Briten, nach Lateinamerika und in die Karibik ausgewandert, vergleichsweise wenige im Vergleich zu den 7,5 Millionen Sklaven, die aus Afrika in diesen Weltteil verschleppt wurden (Maddison 2001: 37). Den Charakter einer transkontinentalen Massenwanderung, und zwar der größten der Moderne, gewann die überseeische Wanderung von Europäern erst im 19. Jahrhundert. Die Fernwanderungen jenseits des Sklavenhandels wuchsen nun im 19. Jahrhundert wesentlich schneller als
168
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
die Weltbevölkerung (Osterhammel 2009: 250). Ab den 1820er-Jahren verdichteten sich ältere transkontinentale Wanderungsströme von Europa nach Amerika zu einem „integrierten hemisphären System“ (Hoerder 2002: 331). Im Zeitraum von 1820 bis 1950 gelangten rund 55 Millionen Europäer in Form von freiwilliger Wanderung in die Überseeländer, davon allein 33 Millionen in die USA (Nugent 1992: 29 f.). In Relation zur Herkunftsbevölkerung war am Beginn der Auswanderungsperiode der Anteil der Briten, Iren und Norweger an den Emigranten am höchsten. Mit deutlichem Abstand folgten Italiener, Portugiesen und Spanier (Chesnai 1992: 163 f.). Die Auswanderung nach Übersee war jedoch keine Einbahnstraße. Beispielsweise kehrten von den vielleicht 22 Millionen Briten und Iren, die im Zeitraum von 1815 bis 1914 nach Übersee emigrierten, ca. 30 – 40 % in die Heimat zurück (Wende 2008: 134). Von den polnischen Emigranten in die USA kehrten vor dem Ersten Weltkrieg rund 35 % zurück, nach dem Krieg in das nun wieder eigenständige Polen weitere etwa 100.000 (McCook 2009: 167). Die Zahl der Emigranten nach Übersee im „langen 19. Jahrhundert“ wuchs exponentiell. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Auswandererzahlen vergleichsweise bescheiden. Im Zeitraum von 1800 bis 1830 emigrierten rund 50.000 Europäer pro Jahr, von 1846 bis 1850 steigerte sich die Zahl auf rund eine Viertelmillion. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Anstieg, allerdings mit zeitlichen Brüchen, immer weiter fort. Im Durchschnitt der Jahre 1906/15 betrug die Zahl der jährlichen Auswanderer 1,3 – 1,4 Millionen. Damit war der Höhepunkt der europäischen Überseeemigration erreicht. Nach 1918 bewirkten Zuwanderungsbeschränkungen einen Rückgang auf etwa das Niveau um 1870 (Bade 2000: 142 – 144). Der enorme Anstieg wurde vor allem von süd- und osteuropäischen Migranten nach den USA bestimmt, während zuvor Briten, Deutsche und Skandinavier dominiert hatten (Bade 2000: 159). Die transkontinentale Auswanderung richtete sich jedoch nicht nur nach Westen. Mit steigender Tendenz wanderten im Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs insgesamt rund sechs Millionen Russen nach Sibirien aus. Um 1910 war jeder zehnte Bewohner Sibiriens ein Zuwanderer der ersten Generation (Hoerder 2002: 319 f.).
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
169
Während die technologische Vorraussetzung der Massenemigration des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Erfindung des Dampfschiffs und der Eisenbahn war, hatte sie ihre Basis im Bevölkerungswachstum Europas vor und während der ersten demografischen Transition. Als diese im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts nach und nach abgeschlossen war, verkleinerte sich die Zahl potenzieller Migranten erheblich. Es bedurfte allerdings zunächst migrationspolitischer Maßnahmen, um die Überseewanderung der Europäer drastisch zu senken. Schon während des Ersten Weltkriegs begannen die großen Einwanderungsländer, ihre Migrationspolitik restriktiver zu gestalten. Eine erste Zäsur bildete der 1917 erlassene Schreib- und Lesetest für über 16-jährige Zuwanderer in die USA (literacy bill). In den 1920er-Jahren wurde ein Quotensystem eingeführt, welches die Zuwanderung weiter drosselte (Hahn 2011: 276). Die im Jahr 1921 festgelegten und 1924 revidierten Quoten senkten den Zustrom der Einwanderer auf rund ein Viertel des langfristigen Durchschnitts der Jahre 1856 bis 1924 (Fassmann 2007: 42). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Kanada und Australien neue Hauptziele der Europäer. Bis 1965 wanderten 1,5 Millionen Europäer nach Kanada aus. Seit den 1950er-Jahren startete auch Australien ein Einwanderungsprogramm. Im Jahr 1958 erleichterte der Migration Act die Einwanderungsbedingungen. Von 1945 bis 1985 gingen etwa 5 Millionen Emigranten nach Australien, davon vor allem Italiener, Deutsche, Griechen und Polen. Allmählich verschob sich das Schwergewicht der Einwanderung in den westlichen Außenposten jedoch weg von den Europäern. In den 1990er-Jahren kamen etwa 40 % der kanadischen Einwanderer aus dem asiatischen Raum, 11 % aus der Karibik (Hahn 2007: 95 – 99). Schon einige Jahrzehnte zuvor war es zu einem großen Bruch in der Geschichte der transkontinentalen Wanderungsbewegungen aus und nach Europa gekommen. Nach den unmittelbaren Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs wurde Europa allmählich zum Zuwanderungskontinent. Noch in den 1950er-Jahren war der Wanderungssaldo 47 des Kontinents mit rund 2,7 Millionen im Minus, in den 1960er-Jahren
47 Die Differenz zwischen Ein- und Auswanderungen im betrachteten Zeitraum.
170
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
nahezu ausgeglichen. Dann stieg er von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an. In den 1990er-Jahren betrug er ca. +4 Millionen (Fassmann / Münz 1996: 29). Der Wandel zum Einwanderungskontinent nahm nach dem Zweiten Weltkrieg vorerst von den auseinanderbrechenden „Mutterländern“ der europäischen Kolonialreiche seinen Ausgang. Am größten war der Bruch in der britischen Migrationsgeschichte. Großbritannien, ursprünglich ein klassisches Auswanderungsland – in den 1980er-Jahren lebten rund 3,2 Millionen Briten im Ausland, davon eine Million in Australien, 0,8 in Kanada und 0,6 in den USA – wandelte sich zum Einwanderungsland par excellence. Mit dem Zerfall des britischen Empires strömten Bürger des Commonwealth, die seit 1948 die britische Staatsbürgerschaft und jene der Kolonien hatten, mehr oder minder ungehindert nach Großbritannien. Während noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts lediglich eine halbe Million Engländer und Waliser ihren Geburtsort nicht in Großbritannien hatten, waren es 1951 nahezu zwei und 1961 3,5 Millionen. Das Einwanderungsgesetz für Commonwealth-Bürger von 1962 und das Einwanderungsgesetz von 1971 versuchten allerdings den Zuzug zu beschränken (Coleman 1996: 54 f ). Dennoch konnte die restriktive Einwanderungsgesetzgebung den Zustrom nur bedingt stoppen. Von den im New Commonwealth geborenen Einwanderern kam etwa ein Drittel nach 1971 (Coleman 1996: 71). Nach Frankreich waren schon im Ersten Weltkrieg Zuwanderer aus den Kolonien gekommen, vor allem aus dem Maghreb, aus Indochina, Madagaskar und China. Nach 1945 nahm die Zuwanderung aus den Kolonien weiter zu. Im Jahr 1954 lebten 2,4, 1968 3,4 Millionen ethnische Ausländer in Frankreich (Tribalat 1996: 94 – 96). Um 1990 stellten Nordafrikaner algerischer, marokkanischer und tunesischer Herkunft die größte Gruppe (Kaelble 2007: 245). Während die ehemaligen großen westeuropäischen Kolonialmächte in erster Linie Migranten vom indischen Subkontinent, Südostasien, Nordafrika und der Karibik anzogen, kamen im Zuge der seit Mitte der 1950er-Jahre anlaufenden sogenannten Gastarbeiterwanderung auch auf anderem Weg außereuropäische Arbeitsmigranten, großteils aus der Türkei, nach Europa. Auf der Basis bilateraler Abkommen, und dadurch zunächst staatlich streng reguliert, erhofften die Herkunftsländer Know-how, Devisen und die Entlastung des heimischen Arbeitsmarkts,
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
171
die Zielländer temporäre, billige Arbeitskräfte, die im sekundären Segment des Arbeitsmarktes 48 eingesetzt wurden. Die Türkei schloss in den 1960er-Jahren Abkommen mit der BRD, Österreich, Belgien, den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz und Australien (Hunn 2002: 151). Es blieb jedoch nicht bei dieser hochgradig institutionalisierten Form von Zuwanderung. In der Folge bildete sich ein System transnationaler Netzwerke, der Kettenwanderungen und des Familiennachzugs, welches ursprünglich von staatlicher Seite weder von den Entsende- noch von den Aufnahmeländern intendiert war (King 1998: 268 f.). Im Jahr 2005 lebten etwa 2,3 Millionen türkische Staatsbürger in den Ländern der EU-27, davon allein 1,8 Millionen in Deutschland (Fassmann 2007: 51). Aber nicht nur die westeuropäischen kapitalistischen Ökonomien entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Einwanderungsländern. Auch innerhalb der Sowjetunion kippte die Wanderungsbilanz, obwohl Wanderungsbewegungen dort einer noch stärkeren Regulierung als im Westen unterlagen. Während noch in den 1960erJahren die russische Teilrepublik einen negativen Wanderungssaldo von 1,1 Millionen aufwies, war dieser in den 1970er-Jahren bereits klar positiv, und in den 1980er-Jahren betrug er +1,8 Millionen. Sowjetrepubliken mit ausgeprägt positiver Wanderungsbilanz waren auch die Ukraine und die baltischen Länder (Polykov / Ushkalov 1995: 492). Im Zeitraum von 1975 bis 1990 wanderten ca. 2,6 Millionen Sowjetbürger aus den transkaukasischen und zentralasiatischen Republiken in die Russische Republik zu. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und einer allmählichen wirtschaftlichen Konsolidierung zählte um die Jahrtausendwende die Russische Föderation zu den größten Einwanderungsländern weltweit (Hofmann 2007: 112, 116). Mit der außereuropäischen Zuwanderung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts strukturell verbunden war eine dauerhafte Unterschichtung. Von Einheimischen eingenommene niedrige soziale Positionen
48 Das sekundäre Segment des Arbeitsmarkt ist durch schlechte Bezahlung, hohe Arbeitsplatzfluktuation und geringe Qualifikationsansprüche an die Arbeitnehmer gekennzeichnet.
172
Vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent
wurden von diesen aufgegeben und von Migranten besetzt. Dadurch entstand ein subkultureller Dauerzustand. Gastarbeiter waren in hohem Maße bereit, dead end jobs zu übernehmen, da der Aufenthalt auch von den Betroffenen selbst als temporär gedacht war. Die Folgen dieses zweckrationalen Verhaltens gingen jedoch weit über die Sphäre des Arbeitsmarktes hinaus. Auf ein Spar- und Rückkehrziel orientierte target earners akzeptierten Arbeits- und Lebensbedingungen, die sie „zu Hause“ nicht akzeptiert hätten. Migranten dieses Typs befanden sich auch in ihrer Selbstwahrnehmung außerhalb der Sozialstruktur ihrer Arbeitswelt, die mit ihrer privaten Lebenswelt nichts zu tun hatte. Das führte zu Verfestigungen von Rückorientierungen auf traditionelle Wertbezüge mit den demografischen Folgen hoher Endogamie und im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung deutlich überdurchschnittlicher Fertilität. Im Zeitraum von 2004 bis 2007 schätzte das nationale Statistikamt des Vereinigten Königreichs die Gesamtfertilitätsrate der in England und Wales lebenden Mütter und im Königreich Geborenen auf 1,7 – 1,8, die der im Ausland Geborenen auf rund 2,5 (UK 2011). Im selben Jahr hatten in Österreich österreichische Staatsbürger eine Rate von 1,29, ausländische Staatsbürger von 1,89, darunter türkische Staatsbürger von 2,69 zu verzeichnen (Statistik Austria 2010: 26). Der Demograf David Coleman hat in diesem Zusammenhang von einer „dritten demografischen Transition“ in Europa gesprochen. Tatsächlich verweisen konstante, gravierende Fertilitätsdifferenziale zwischen „nicht westlichen“ Zuwanderern oder Personen mit einem solchen Migrationshintergrund und Einheimischen in Ländern wie Frankreich, den Niederlanden, Schweden, England und Wales auf Verfestigungen eines traditionellen generativen Verhaltens bei Teilpopulationen der Migranten (Coleman 2006: 407). Inwieweit es sich dabei um ein dauerhaftes gesamteuropäisches Phänomen differenzieller Fertilität handelt, wird freilich erst die nähere Zukunft zeigen.
173
13. Europa und die Welt an der Jahrtausendwende An der Schwelle zum zweiten Jahrtausend ist Europa ein demografisch kaum mehr wachsender Kontinent. Während noch in den 1960er-Jahren die Erste und Dritte Welt wuchsen, entfällt gegenwärtig nahezu das gesamte globale Wachstum auf Entwicklungs- und Schwellenländer. Angesichts des jungen Altersaufbaus der Bevölkerungen in den Ländern der Dritten Welt wird dieses Wachstumsgefälle noch geraume Zeit bestehen bleiben. Langfristig beginnt sich jedoch schon ein anderes Szenario abzuzeichnen. In großen Teilen Asiens und Lateinamerikas sinken die Fertilitätsraten seit den 1970er-Jahren. In Lateinamerika und Asien hat sich die Gesamtfertilitätsrate seit 1950 mehr als halbiert und liegt gegenwärtig bei rund 2,5. In Hongkong, Taiwan, Südkorea und Japan unterschreitet diese Rate bereits den Durchschnitt der europäischen Länder. Im Gegensatz dazu lassen sich in bestimmten Teilen der Dritten Welt kaum Veränderungen des generativen Verhaltens erkennen. Auf dem afrikanischen Kontinent ist die Zahl der Kinder pro Frau von 6,7 um 1950 auf 5,1 im Jahr 2005 nur verhältnismäßig wenig gesunken. In einigen Ländern ist die Gesamtfertilitätsrate mit 7 – 8 sehr hoch, darunter in Niger, Mali und Somalia (Münz / Reiterer 2007: 114 – 118; UN 2010: 6 – 9). Demografisch kann durchaus von einer „Teil-Verwestlichung“ der globalen Bevölkerungsentwicklung gesprochen werden. Wachsende Teile der Weltbevölkerung dürften sich in den nächsten Jahrzehnten hin zu posttransito rischen Verhältnissen mit hoher durchschnittlicher Lebenserwartung und stabil niedriger Fertilität unter dem Reproduktionsniveau bewegen. Ein Wohlstandsgefälle zu den „Übrigen“ ist damit vorprogrammiert. Künftige kontinentale und transkontinentale Wanderungen in Form von Arbeitsmigration und Flüchtlingsbewegungen erklären sich nicht einfach aus diesen Differenzialen, aber sie stecken bis zu einem gewissen Grad den Rahmen für die demografische Zukunft ab. Der Anteil der im
174
Europa und die Welt an der Jahrtausendwende
Ausland Geborenen bewegte sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in vielen westlichen Ländern um 10 – 15 %. Deutlich geringer war er in Dänemark und Finnland und den neuen ostmitteleuropäischen EU-Ländern, deutlich höher in den Kleinstaaten Schweiz und Luxemburg (OECD 2011). Diese Wanderungen und die überdurchschnittliche Fertilität bestimmter, meist außereuropäischer Migrantengruppen sorgten dafür, dass das Wachstum der europäischen Bevölkerungen noch nicht in einen Schrumpfungsprozess übergegangen ist. Dies alles wird den kontinuierlich sinkenden Anteil Europas an der Weltbevölkerung nicht aufhalten, ihn allerdings bremsen. Die Frage ist aber nicht, wann ein Schrumpfungsprozess eintritt – er ist mit großer Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren –, sondern wie stark sich die Belastungsquoten 49 der europäischen Bevölkerungen erhöhen und damit das in den europäischen Industrieländern etablierte Sozialstaatsmodell unter Druck gerät. Diesen Druck versucht man seitens der Europäischen Union mit einer Strategie, die soziale Frage, Geschlechterfrage und demografische Frage verknüpft, abzuschwächen. Sie zielt letztlich auf eine EU-weite Durchsetzung der „Zwei-Verdiener-Familie“. Nicht zu Unrecht hat man dieser Strategie ihre rein ökonomische Orientierung vorgeworfen (Kahlert 2011: 373 f.). Aber selbst wenn man diesen Kritikpunkt ausgeklammert, kann es sich bestenfalls um ein kurz- und mittelfristig wirksames Modell handeln, denn die Steigerung der Erwerbsquoten 50 beider Geschlechter im höheren Alter hat offensichtlich ihre marktwirtschaftlichen und biologischen Grenzen. In der sehr weiten Perspektive des 21. Jahrhunderts stellt sich dieses Problem freilich nach und nach auch außerhalb Europas, derzeit schon in Japan mit einem Anteil der 65-Jährigen und Älteren von 23 % (Europa 16 %) (UN 2010: 8), in einigen Jahrzehnten auch in China und anderen jungen Industrieländern, die schon geraume Zeit einen raschen „ageing“Prozess erleben. Sobald dieser Prozess globale Dimensionen annimmt, ist
49 Das Verhältnis der Personen im Nichterwerbsalter (unter 15, über 60/65 und mehr Jahre) zu denen im Erwerbsalter (15 bis unter 60/65) bezogen auf 100. 50 Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung einer bestimmten Altersgruppe.
Europa und die Welt an der Jahrtausendwende
175
der Bogen der europäischen Bevölkerungsgeschichte wieder geschlossen und Europa kein demografischer Sonderfall mehr. Oder doch? Bei genauerem Hinsehen findet gegenwärtig keine simple demografische Europäisierung statt. Niedrige Fertilität in China ist beispielsweise nicht das Produkt verzögerter biografischer Entscheidungen, wie schon so lange in der europäischen Geschichte, sondern des stopping nach erreichter Wunsch-Familiengröße. Die altersspezifische Fertilitätsrate der 20- bis 24-jährigen Chinesinnen ist gegenwärtig etwa dreimal so hoch wie in Westeuropa, die der 30- bis 34-Jährigen jedoch in Westeuropa um etwa 50 % höher (UN 2009). Verwestlichung findet statt, aber nationale, regionale und lokale demografische Kulturen besitzen eine große Beharrungskraft und sorgen für höchst eigenständige Transformationen, die über den Weg transkontinentaler Wanderungen ihren Einfluss auf das künftige demografische Gesicht Europas, diese Prognose sei gewagt, nicht verfehlen werden.
177
14. Verzeichnis der Quellen der Tabellen, Grafiken und Abbildungen Tabelle 1 (S. 22): Biraben 1980; Mc Evedy / Jones 1978; Malanima 2010a: 14, 18; UN 2009, 2010: 6 Tabelle 2 (S. 38): Helleiner 1967: 20 – 24; Mattmüller 1987: 4; Straka 1961: 40 f. Tabelle 3 (S. 40): Maddison 2007, 376; eigene Berechnungen Tabelle 4 (S. 45): Malanima 2010a: 20, 23; Maddison 2003: 160, 164 f.; McEvedy/ Jones 1978: 171, 183; Scharping 2005: 2 Tabelle 5 (S. 55): Herlihy / Klapisch-Zuber 1985: 65 – 70, 73 f. Tabelle 6 (S. 86): Österreichische Statistik 5/1, 2 – 15, 138 – 151; 92/1, 2 – 7; NF 8/1, 4 f. Tabelle 7 (S. 149): Chesnai 1992: 518 f., 556 f.; Cipolla 1974: 576; Sandgruber 1993: 629; Grossmann 1916: 404 f.; Goehlert 1880: 53, 63; Goehlert 1879a: 63; Zwitter 1936: 44; Dickson 1987: 438 f.; Klein 1990: 183; Goehlert 1879b: 231; Dányi 2007: 201, 204 f.; eigene Berechnungen Tabelle 8 (S. 155): Haines 1992: 197 – 199, 214 Tabelle 9 (S. 156): Familien im Deutschen Reich 1943: 62 – 81; eigene Berechnungen Tabelle 10 (S. 162): UNECE Statistical Database Grafik 1 (S. 31): Dickson 1987: 439 Grafik 2 (S. 94): Rothenbacher 2003, Chesnai 1992: 527, 530, 563, 566 Grafik 3 (S. 96): Rothenbacher 2003 Grafik 4 (S. 97): Rothenbacher 2003 Abbildung 1 (S. 17): Wiener Stadt- und Landesarchiv: Totenbeschreibamt, B1: Totenbeschauprotokoll Band 1
179
15. Literaturverzeichnis Mit * bezeichnete Werke werden als Basislektüre empfohlen. Abel, Wilhelm, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg, Berlin 31978. Abel, Wilhelm, Stufen der Ernährung. Eine historische Skizze (Kleine VandenhoeckReihe 1467), Göttingen 1981. Abel, Wilhelm, Die Wüstungen des ausgehenden Mittelalters (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 1), Stuttgart 1955. Alberti, Leon Battista, Vom Hauswesen (Della Famiglia), München 1986. Alter, George, Plague and the Amsterdam Annuitant : A New Look at Life Annuities as a Source for Historical Demography. In: Population Studies 37 (1983), 23 – 41. Alter, George, Manfredini, Matteo, Nystedt, Paul, Gender Differences in Mortality. In: Bengtsson 2004, 327 – 357. Amsden, Alice H., The Rise of “the Rest”. Challenges to the West from Late-Industrializing Economies, Oxford 2001. Anderson, Michael, The social implications of demographic change. In: F. M. L. Thompson (Hg.): The Cambridge Social History of Britain 1750 – 1950. Bd. 2: People and their environment, Cambridge 1990, 1 – 70. Armengaud, André, Die Rolle der Demographie. In: Fernand Braudel, Ernest Labrousse (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich im Zeitalter der Industrialisierung 1789 – 1880, Bd. 1, Frankfurt/M. 1986, 126 – 173. Arnold, David, Colonizing the Body. State Medicine and Epidemic Disease in Nineteenth Century India, Berkeley 1993. *Bade, Klaus J., Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 2000. * Bade, Klaus J. [u. a.] (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn, München 2007. Baillie, M. G. L. Dendrochronology raises questions about the nature of the AD 536 dust-veil event. In: The Holocene 4 (1994), 212 – 217. Bairoch, Paul, Batou, Jean, Chèvre, Pierre, La population des villes européennes. Banque de données et analyse sommaire des résultats 800 – 1850 (Publication du centre d’histoire économique internationale de l’université de Genève 2), Genève 1988.
180
Literaturverzeichnis
Baldwin, Peter, Contagion and the State in Europe, 1830 – 1930, Cambridge 1999. Banister, Judith, China’s Changing Population, Stanford 1987. Barford, Anna [u. a.], Life expectancy: women now on top everywhere. In: British Medical Journal 332 (2006), 808. Barford, P. M., The Early Slavs: Culture and Society in Early Medieval Eastern Europe, London 2001. Baten, Jörg, Heights and Real Wages in the 18th and 19th Centuries. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2000/1, 61 – 77. Behringer, Wolfgang, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit zur globalen Erwärmung, München 2007. Beloch, Karl Julius, Bevölkerungsgeschichte Italiens, Bd. 2, Berlin 21965, Bd. 3, Berlin 1961. * Benedictow, Ole J., The Black Death 1346 – 1353. The Complete History, Woodbridge-Rochester (NY) 2006. * Bengtson, Tommy [u. a.], Life under Pressure. Mortality and Living Standards in Europe and Asia, 1700 – 1900, Cambridge (Mass.), London 2004. Beresford, Maurice W., The Lost Villages of England, Gloucester 1987. Biraben, Jean-Noel, An Essay Concerning Mankind’s Evolution. In: Population, Selected Papers, Dec. 1980, Tab. 2. Biraben, Jean-Noel, Volksseuchen und allgemeiner Gesundheitszustand. In: Putz / Schwarz 1984, 213 – 234. * Birg, Herwig, Die Weltbevölkerung. Dynamik und Gefahren, München 1996. Boyer, G. R., Malthus Was Right after All: Poor Relief and Birth Rates in Southeastern England. In: Journal of Political Economy 97 Nr. 1 (1989), 93 – 114. Brandes, Detlef, Ukrainische und russische Siedler in Neurußland. In: Bade 2007, 1063 – 1065. Brandes, Wolfram, Die Pest in Byzanz nach dem Tode Justinians (565) bis 1453. In: Meier 2005, 201 – 224. Braudel, Fernand, Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Der Alltag, München 1985. Brookes, Barbara, Abortion England 1900 – 1967, London, New York, Sydney 1988. Bulst, Neithard, Der „Schwarze Tod im 14. Jahrhundert. In: Meier 2005, 142 – 161. Burgdörfer, Friedrich, Geburtenschwund. Die Kulturkrankheit Europas und ihre Überwindung in Deutschland (Beihefte zur Zeitschrift für Geopolitik 14), Heidelberg, Berlin, Magdeburg 1942. Burguière, Andre [u. a.] (Hg.), Geschichte der Familie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1997. Burke, Peter, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001. Campell, Bruce M. S., Physical Shocks, Biological Hazards, and Human Impacts: The Crisis of the Fourteenth Century Revisited. In: Simonetta Cavaciocchi
Literaturverzeichnis
181
(Hg.), Le interazioni fra economia e ambiente biologico nell’Europa preindustriale secc. XIII – XVIII, Firenze 2010, 13 – 32. Campell, Cameron, Lee, James Z., Mortality and Household in Seven Liadong Populations 1749 – 1909. In: Bengtsson 2004, 293 – 324. Campell, Cameron, Lee, James Z., Bengtsson, Tommy, Economic Stress and Mortality. In: Bengtsson 2004, 61 – 84. Cartier, Michel, Der lange Marsch der Familie in China. In: Burguière 1997, 269 – 303. Caselli, Graziella, Health Transition and Cause-Specific Mortality. In: Schofield / Reher/Bideau 1991, 68 – 96. * Cerman, Markus, Mitteleuropa und die „europäischen Muster“. Heiratsverhalten und Familienstruktur in Mitteleuropa, 16.–19. Jahrhundert. In: Josef Ehmer, Tamara K. Hareven, Richard Wall (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt/M., New York 1997, 327 – 346. Cerman, Markus, Matusiková, Lenka, Zeitlhofer, Hermann, Projekt „Socialni struktury v Cechach“. Rozbor pramenu s pouztim pocitace. In: Archivni casopis 49 (1999), 107 – 128, 171 – 190. Cerman, Markus [u. a.] (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft. Europa 1000 – 2000 (VGS Studientexte 2), Innsbruck, Wien, Bozen 2011. * Cipolla, Carlo, Before the Industrial Revolution. European Society and Economy, 1000 – 1700, London 21988. Cipolla, Carlo M., Four Centuries of Italian Demographic Development. In: D. V. Glass, D. E. C. Eversley (Hg.), Population in History. Essays in Historical Demography, London 1974, 570 – 587. * Chesnai, Jean-Claude, The Demographic Transition. Stages, Patterns, and Economic Implications. A Longitudinal Study of Sixty-Seven Countries Covering the Period 1720 – 1984, Oxford 1992. Claude, Dietrich, Die Anfänge der Wiederbesiedlung Innerspaniens. In: Schlesinger 1975, 607 – 656. Coale, Ansley, Treadway, Roy, A Summary of the Changing Distribution of Overall Fertility, Marital Fertility, and the Proportion Married in the Provinces of Europe. In: Coale / Watkins 1986, 31 – 181. * Coale, Ansley, Watkins, Susan Cotts (Hg.), The Decline of Fertility in Europe. The Revised Proceedings of a Conference on the Princeton European Fertility Project, Princeton 1986. Coleman, David, Großbritannien und die internationale Migration: Die Bilanz hat sich geändert. In: Fassmann / Münz 1996, 53 – 88. * Coleman, David, Immigration and Ethnic Change in Low-Fertility Countries: A Third Demographic Transition. In: Population and Development Review 32 (2006), 401 – 446. Coleman, David, Schofield, Roger (Hg.), The State of Population Theory. Forward from Malthus, Oxford, New York 1988.
182
Literaturverzeichnis
Connelly, Matthew, Fatal Misconception. The Struggle to Contral World Population, Cambridge (Mass.), London 2008. Creveld, Martin, Das bevorzugte Geschlecht. München 2003. Curschmann, Fritz, Hungersnöte im Mittelalter. Ein Beitrag zur deutschen Wirtschaftsgeschichte des 8. bis 13. Jahrhunderts, Aalen 1970 (Reprint der Ausgabe Leipzig 1900). * Danielson, Maria, Lindberg, Gudrun, Differences between men’s and women’s health: The old and the new gender paradoxon. In: Piroska Östlin [u. a.], Gender Inequalities in Health. A Swedish Perspective, Cambridge (Mass.) 2001, 23 – 66. Dányi, Dezsó, Die Bevölkerung Ungarns im dritten Drittel des Jahrhunderts. In: Gyula Kristó [u. a.], Historische Demographie Ungarns (896 – 1996) (Studien zur Geschichte Ungarns 11), Herne 2007, 193 – 216. Dettke, Barbara, Die asiatische Hydra. Die Cholera von 1830/31 in Berlin und den preußischen Provinzen Posen, Preußen und Schlesien (Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 89), Berlin, New York 1995. Dickson, P. G. M., Finance and Government under Maria Theresia 1740 – 1780, Bd. 1, Oxford 1987. Dienel, Christiane, Kinderzahl und Staatsräson. Empfängnisverhütung und Bevölkerungspolitik in Deutschland und Frankreich bis 1918 (Theorie und Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft 11), Münster 1995. Dietrich-Daum, Elisabeth, Die „Wiener Krankheit“. Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose Österreich (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32), Wien, München 2007. Dinges, Martin, Medizin- und gesundheitsgeschichtliche Paradigmen zur geschlechterspezifischen Ungleichheit seit ca. 1750. In: Dinges / Weigl 2011, 8 – 49. Dinges, Martin, Pest und Staat: Von der Institutionengeschichte zur sozialen Konstruktion? In: Martin Dinges, Thomas Schlich (Hg.), Neue Wege in der Seuchengeschichte (Medizin in Gesellschaft und Geschichte Beiheft 6), Stuttgart 1995, 71 – 103. * Dinges, Martin, Veränderungen der Männergesundheit als Krisenindikator? Deutschland 1850 – 2006. In: L’Homme 19 (2008), 107 – 123. Dinges, Martin, Weigl, Andreas (Hg.), Gesundheit und Geschlecht (Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 22/2), Innsbruck, Wien Bozen 2011. Dinges, Martin, Weigl, Andreas, Männergesundheit als Forschungsthema der Sozial- und Kulturwissenschaften. In: Dinges / Weigl 2011, 191 – 199. Donat, P., Ullrich, H., Einwohnerzahlen und Siedlungsgröße der Merowingerzeit. In: Zeitschrift für Archäologie 5 (1971), 234 – 265. Easterlin, Richard A., Growth Triumphant. The Twenty-First Century in Historical Perspective, Ann Arbor 1997. * Ehmer, Josef, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1800 – 2000 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 71), München 2004.
Literaturverzeichnis
183
Ehmer, Josef, Frauenarbeit und Arbeiterfamilie in Wien. In: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), 438 – 473. Ehmer, Josef, Die Geschichte der Familie: Wandel der Ideale – Vielfalt der Wirklichkeit. In: Elisabeth Vavra (Hg.), Familie. Ideal und Realität, Horn 1993, 5 – 21. * Ehmer, Josef, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 92), Göttingen 1991. * Ehmer, Josef, Migration und Bevölkerung. Zur Kritik eines Erklärungsmodells. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 27 (1998), 5 – 29. Ehmer, Josef, Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 20), Frankfurt/M., New York 1994. Eickenberg, Hans-Udo, Hurrelmann, Klaus, Warum fällt die Lebenserwartung von Männern immer stärker hinter die der Frauen zurück? Medizinische und soziologische Erklärungsansätze. In: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 17 (1997), 118 – 134. Elmshäuser, Konrad, Hedwig, Andreas, Studien zum Polyptychon von Saint-Germain-des-Prés, Köln, Weimar, Wien 1993. Engel, Evamaria, Die deutsche Stadt des Mittelalters, München 1993. Evans, Richard J., Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den CholeraJahren 1830 – 1910, Reinbek bei Hamburg 1990. Fasoli, Gina, Wirtschafts- und Sozialgeschichte Italiens von 535 bis zum Anfang des 10. Jahrhunderts. In: Jan A. van Houtte (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2, Stuttgart 1980, 397 – 428. Fassmann, Heinz, Europäische Migration im 19. und 20. Jahrhundert. In: Kraler 2007, 32 – 53. Fassmann, Heinz, Münz, Rainer, Europäische Migration – ein Überblick. In: Fassmann / Münz 1996, 13 – 52. * Fassmann, Heinz, Münz, Rainer (Hg.), Migration in Europa. Historische Entwicklung, aktuelle Trends, politische Reaktionen, Frankfurt/M., New York 1996. Federico, Giovanni, Feeding the World: An Economic History of Agriculture, Princeton 2009. Fehring, Günter P., Beitragsmöglichkeiten der Archäologie zu Fragen der Bevölkerungsentwicklung und ihren Voraussetzungen im Mittelalter. In: Hermann / Sprandel 1987, 79 – 90. Fenske, Hans, Die deutsche Auswanderung. In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 76 (1978), 183 – 220. Fichtenau, Heinrich, Lebensordnungen des 10. Jahrhunderts. Studien über Denkart und Existenz im einstigen Karolingerreich, München 21994. Floud, Roderick, The Heights of Europeans since 1750: A New Source for European Economic History. In: John Komlos (Hg.), Stature, Living Standards,
184
Literaturverzeichnis
and Economic Development. Essays in Anthropometric History, Chicago, London 1994, 9 – 24. * Floud, Roderick [u. a.], The Changing Body. Health, Nutrition, and Human Development in the Western World since 1700, Cambridge 2011. * Fogel, Robert William, The Escape from Hunger and Premature Death, 1700 – 2100. Europe, America, and the Third World, Cambridge 2004. Fossier, Robert, Die Epoche des Feudalismus (11. bis 13. Jahrhundert). In: Burguière 1997, 125 – 158. Fraser, Derek, The Evolution of the British Welfare State. A History of Social Policy since the Industrial Revolution, Basingstoke 32003. Fridlizius, Gunnar, Sex-Differential Mortality and Socio Economic Change. Sweden 1750 – 1910. In: Anders Bränström, Lars-Göran Tedebrand (Hg.), Society, Health and Population during the Demographic Transition, Stockholm 1988, 237 – 272. Galley, Chris, The Demography of Early Modern Towns: York in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Liverpoll Studies in European Population 6), L iverpool 1998. Galloway, P. R., Basic patterns in annual variations in fertility, nuptiality, mortality and prices in pre-industrial Europe. In: Population Studies 42 (1988), 275 – 304. Galor, Oded, Unified Growth Theory, Princeton-Oxford 2011. Geary, Patrick J., Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen, Frankfurt/M. 2002. Gehrmann, Rolf, Übersterblichkeit der Frauen als historisch-demographisches Problem. In: Putz / Schwarz 1984, 71 – 83. Geiss, Imanuel, Großwetterlagen Mitteleuropas – klimatische und historisch-politische. In: Bayerische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Natur und Mensch in Mitteleuropa im letzten Jahrtausend (Rundgespräche der Kommission für Ökologie 32), München 2007, 15 – 34. Gestrich, Andreas, Neuzeit. In: Gestrich / Krause/Mitterauer 2003, 364 – 652. * Gestrich, Andreas, Krause, Jens-Uwe, Mitterauer, Michael, Geschichte der Familie (Kröners Taschenausgabe 376), Stuttgart 2003. * Gillis, John R., Tilly, Louise A., Levine, David (Hg.), The European Experience of Declining Fertility, 1850 – 1970. The Quiet Revolution, Cambridge (Mass.), Oxford 1992. Gillis, John R., Tilly, Louise A., Levine, David, The Quiet Revolution. In: Gillis / Tilly / Levine 1992, 1 – 9. Glaser, Rudolf, Klimageschichte Mitteleuropas. 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, Darmstadt 2001. Glass, D. V., Numbering the People: the Eigteenth-Century Population Controversy and the Development of Census and Vital Statistics in Britain, Farnborough 1973. * Glass, D. V., Eversley, D. E. C. (Hg.), Population in history. Essays in historical demography, London 1974.
Literaturverzeichnis
185
Goehlert, Vincenz, Die Entwicklung der Bevölkerung der Steiermark. In: Statistische Monatsschrift 5 (1879a), 59 – 64. Goehlert, Vincenz, Die Entwicklung der Bevölkerung von Tirol und Vorarlberg. In: Statistische Monatsschrift 6 (1880), 52 – 64. Goehlert, Vincenz, Zur Bevölkerungs-Statistik der ehemaligen österreichischen Vorlande. In: Statistische Monatsschrift 5 (1879b), 229 – 231. Goetz, H.-W., Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters. In: Lexikon des Mittelalters 4, München Zürich 1989, 270 – 274. Golczewski, Frank, Ukraine. In: Bade 2007, 333 – 356. Goodich, Michael E., From birth to old age: the human life cycle in medieval thought, 1250 – 1350, Lanham, London 1989. Goody, Jack, Geschichte der Familie, München 2002. Grantham, George, Contra Ricardo: On the macroeconomics of pre-industrial economies. In: European Review of Economic History 1999, 199 – 232. Grigg, David, The nutritional transition in western Europe. In: Journal of Historical Geography 21 (1995), 247 – 261. Grigg, David, Population Growth and Agrarian Change, Cambridge 1980. * Grigg, David, The Transformation of Agriculture in the West, Oxford 1992. Großmann, Henryk, Die Anfänge und geschichtliche Entwicklung der amtlichen Statistik in Österreich. In: Statistische Monatsschrift NF 21 (1916), 331 – 423. Grupe, Gisela, Umwelt und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter. In: Bernd Hermann (Hg.), Mensch und Umwelt im Mittelalter, Wiesbaden 1996, 24 – 34. Guntupalli, Aravinda, Baten, Jörg, Measuring Gender Well-Being with Biological Welfare Indicators. In: Bernard Harris, Lina Gálvez, Helena Machado (Hg.), Gender and Well-Being in Europe. Historical and Contemporary Perspectives, Farnham, Burlington 2009, 43 – 58. Hahn, Sylvia, Arbeitsmigrationen. In: Markus Cerman [u. a.], Wirtschaft und Gesellschaft in Europa 1000 – 2000 (VGS Studientexte 2), Innsbruck, Wien, Bozen 2011, 264 – 278. Hahn, Sylvia, Migration – Arbeit – Geschlecht. Arbeitsmigration in Mitteleuropa vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (Transkulturelle Perspektiven 5), Göttingen 2008. Haines, Michael R., Conditions of Work and the Decline of Mortality. In: Schofield / Reher/Bideau 1991, 177 – 195. Haines, Michael R., Occupation and Social Class during Fertility Decline: Historical Perspectives. In: Gillis / Tilly/Levine 1992, 193 – 226. * Hajnal, John, European marriage patterns in perspective. In: Glass / Eversley 1974, 101 – 143. Hajnal, John, Two kinds of pre-industrial household formation systems. In: Richard Wall, Jean Robin, Peter Laslett (Hg.), Family forms in historic Europe, Cambridge 1983, 65 – 104.
186
Literaturverzeichnis
Hassan J. A., Wilson, E. R., Water for Manchester. In: The European Cities and Technology Reader. Industrial to Post-Industrial City, London 1999, 45 – 50. Hatcher, John, Plague, population and the English economy, 1348 – 1530. In: Michael Anderson (Hg.), British population history. From the Black Death to the present day, Cambridge 1996, 9 – 93. Haub, Carl, Kontrazeption weltweit. In: Online Handbuch Demografie des BerlinInstituts für Bevölkerung und Entwicklung. http://www.berlin-institut.org/ fileadmin/user_upload/handbuch_texte/pdf_Haub_Kontrazeption_weltweit. pdf (2011). Heather, Peter, Invasion der Barbaren. Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus, Stuttgart 2011. Helleiner, Karl F., The Population of Europe from the Black Death to the Eve of the Vital Revolution. In: E. E. Rich, C. H. Wilson (Hg.), The Cambridge Economic History of Europe 4, Cambridge 1967, 1 – 95. Henning, Friedrich-Wilhelm, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Mittelalter und der frühen Neuzeit (Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands 1), Paderborn [u. a.] 1991. Henning, J., Ways of Life in Eastern and Western Europe. In: Florin Curta (Hg.), East Central and Eastern Europe in the Early Middle Ages, Ann Arbor 2005, 41 – 59. Hennock, E. P., The urban sanitary movement in England and Germany, 1838 – 1914: a comparison. In: Continuity and Change 15 (2000), 269 – 296. * Herlihy, David, Outline of Population Developments in the Middle Ages. In: Herrmann / Sprandel 1987, 1 – 23. Herlihy, David, Der schwarze Tod und die Verwandlung Europas, Berlin 2007. Herlihy, David, Klapisch-Zuber, Christiane, Tuscans and Their Families: A Study of the Florentine Catasto of 1427, New Haven, London 1985. * Herrmann, Bernd, Sprandel, Rolf (Hg.), Determinanten der Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, Weinheim 1987. Hersche, Peter, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Tl. 1 – 2, Freiburg, Basel, Wien 2006. Higounet, Charles, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter, München 1990. * Hinde, Andrew, Englands Population. A History Since the Domesday Survey, London 2003. * Hochstadt, Steven, Migration in Preindustrial Germany. In: Central European History 16 (1983), 195 – 224. * Hochstadt, Steve, Mobility and Modernity. Migration in Germany, 1820 – 1989, Ann Arbor 1999. * Hoerder, Dirk, Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millenium, Durham, London 2002. Hoerder, Dirk, Geschichte der deutschen Migration. Vom Mittelalter bis heute (Becksche Reihe 2494), München 2010.
Literaturverzeichnis
187
Hofmann, Martin, Regulierte Migration, Expansion und Modernisierung – Migrationsgeschichte der CIS-Region. In: Kraler 2007, 101 – 120. Höhn, Charlotte, Generationensterbetafeln versus Periodensterbetafeln. In: Putz / Schwarz 1984, 117 – 143. Hollingworth, T. H., A demographic study of the British ducal families. In: Glass / Eversley 1974, 354 – 378. Hopkins, Donald R., The Greatest Killer. Smallpox in History, Chicago, London 2002. Hubbard, William H., Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, München 1983. Hummel, Diana, Der Bevölkerungsdiskurs. Demographisches Wissen und politische Macht (Forschung Politikwissenschaft 108), Opladen 2000. Hunn, Karin, Assymetrische Beziehungen: Türkische „Gastarbeiter“ zwischen Heimat und Fremde. Vom deutsch-türkischen Anwerbeabkommen bis zum Anwerbestopp (1961 – 1973). In: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), 145 – 172. Imhof, Arthur Erwin, Aspekte der Bevölkerungsentwicklung in den nordischen Ländern 1720 – 1750, Tl. 1 – 2, Bern 1976. Imhof, Arthur E. (Hg.), Biologie des Menschen in der Geschichte. Beiträge zur Sozialgeschichte der Neuzeit aus Frankreich und Skandinavien (Kultur und Gesellschaft 3), Stuttgart, Bad Cannstatt 1978. * Imhof, Arthur E., Einführung in die Historische Demographie, München 1977. Imhof, Arthur E., Die Übersterblichkeit verheirateter Frauen im fruchtbaren Alter. Eine Illustration der „condition féminine“ im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 5 (1979), 487 – 510. Imhof, Arthur E.: Women, Family and Death: Excess Mortality of Women in Childbearing Age in Four Communities in Nineteenth-century Germany. In: Richard J. Evans, W. R. Lee (Hg.), The German Family. Essays on the Social History of the Family in Nineteenth- and Twentieth-Century Germany, London, Totowa 1981, 148 – 174. Inama-Sternegg, Karl Theodor von, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1879. Jahn, Thomas, Wehling, Peter, Gesellschaftliche Naturverhältnisse – Konturen eines theoretischen Konzepts. In: Karl-Werner Brand (Hg.), Soziologie und Natur. Theoretische Perspektiven (Soziologie und Ökologie 2), Opladen 1998, 75 – 93. Jankrift, Kay Peter, Brände, Stürme, Hungersnöte. Katastrophen in der mittelalterlichen Lebenswelt, Ostfildern 2003. Jankuhn, Hermann, Einführung in die Siedlungsarchäologie, Berlin, New York 1977. Johansson, S. Ryan, Welfare, mortality, and gender. Continuity and change in explanations for male/female mortality differences over three centuries. In: Continuity and Change 6 (1991), 135 – 177.
188
Literaturverzeichnis
Johnson, Paul, Nicholas, Stephen, Male and Female Living Standards in England and Wales, 1812 – 1857: Evidence from Criminal Height Records. In: Komlos / Cuff 1998, 238 – 251. Jones, Eric Lionel, Das Wunder Europa. Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 72), Tübingen 1991. Jütte, Robert, Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart, München 2003. Juuti, P. S., Katko, T. S., Water, Time and European Cities. History Matters for the Futures. http://www.watertime.net/Docs/WP3/WTEC.pdf (2005). Kaelble, Hartmut, Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert. Eine Bilanz, Göttingen 1983. Kaelble, Hartmut, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007. Kahlert, Heike, Die vergangene Zukunft des Europäischen Sozialmodells im Spiegel des demographischen Wandels. In: Petra Overath (Hg.), Die vergangene Zukunft Europas. Bevölkerungsforschung und -prognosen im 20. und 21. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2011, 373 – 403. Kellenbenz, Hermann, Bevölkerungsbewegung, Landesausbau und Ostsiedlung. In: Jan A. van Houtte (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2, Stuttgart 1980, 508 – 518. Kellenbenz, Hermann, Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1350 – 1650. In: Hermann Kellenbenz (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 3, Stuttgart 1986, 1 – 387. King, Russell, From guestworkers to immigrants. Labour migration from the Mediterranean periphery. In: David Pinder (Hg.), The new Europe: economy, society, and environment, Chicester 1998, 263 – 279. Kirchengast, Sylvia, Winkler, Eike-Meinrad, Populations- und schichtspezifische Körperhöhenunterschiede in Österreich von der Römerzeit bis zum Barock. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 121 (1991), 203 – 220. Kirk, Dudley, Europe’s Population in the Interwar Years, Princeton 1946. Klein, Kurt, Geburten und Sterbefälle in Niederösterreich am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 54/55 (1990), 177 – 188. Klotz, Theodor, Der frühe Tod des starken Geschlechts. Unterschiede im Gesundheits- und Krankheitszustand von Männern und Frauen (Forum „Männergesundheit“ 1), Göttingen 1998. Klotz Theodor, Hurrelmann, Klaus, Eickenberg, Hans-Udo, Der frühe Tod des starken Geschlechts. In: Deutsches Ärzteblatt 95 (1998), A460 – 464. Komlos, John, Ernährung und wirtschaftliche Entwicklung unter Maria Theresia und Joseph II. Eine anthropometrische Geschichte der Industriellen Revolution in der Habsburgermonarchie, St. Katharinen 1994.
Literaturverzeichnis
189
* Komlos, John, Modernes ökonomisches Wachstum und der biologische Lebensstandard. In: Eckart Schremmer (Hg.), Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beiheft 145), Stuttgart 1998a, 165 – 197. Komlos, John, Shrinking in a Growing Economy? The Mystery of physical Stature during the Industrial Revolution. In: Journal of Economic History 58 (1998b), 779 – 802. Komlos, John, Cuff, Timothy (Hg.): Classics in Anthropometric History, St. Katharinen 1998. * Kraler, Albert [u. a.], Migrationen. Globale Entwicklungen seit 1850, Wien 2007. Krause, Jens-Uwe, Antike. In: Gestrich / Krause/Mitterauer 2003, 21 – 159. Kristó, Gyula, Die Bevölkerungszahl Ungarns in der Arpadenzeit. In: Gyula Kristó [u. a.], Historische Demographie Ungarns (896 – 1196) (Studien zur Geschichte Ungarns 11), Herne 2007, 9 – 56. Krutzler, Gerald, Kult und Tabu. Wahrnehmungen der Germania bei Bonifatius (Anthropologie des Mittelalters 2), Wien, Berlin 2011. Kuhn, Walter, Vergleichende Untersuchungen zur mittelalterlichen Ostsiedlung (Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart 16), Köln, Wien 1973. * Kunitz, Stephen, Speculations on the European Mortality Decline. In: Economic History Review, Sec. Ser. (1983), 349 – 364. Lachiver, Marcel, Eheliche Fruchtbarkeit und Geburtenbeschränkung in der Pariser Region. In: Imhof 1978, 199 – 218. Lamprecht, Karl, Deutsches Wirtschaftsleben im Mittelalter. Untersuchungen über die Entwicklung der materiellen Kultur des platten Landes auf Grund der Quellen zunächst des Mosellandes, Bd. 1/1, Leipzig 1886. * Lancaster, H. O., Expectations of Life. A Study in the demography, Statistics, and History of World Mortality, New York [u. a.] 1990. Landers, John, Death and the metropolis. Studies in the demographic history of London 1670 – 1830 (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 20), Cambridge 1993. Landsteiner, Erich, Landwirtschaft und Agrargesellschaft. In: Cerman 2011, 178 – 210. Lee, James, Wang Feng, One Quarter of Humanity. Malthusian Mythology and Chinese Realities, Cambridge 1999. Lee, J. J., Aspects of Urbanization and Economic Development in Germany 1815 – 1914. In: Philip Abrams, E. A. Wrigley (Hg.), Towns in Societies, Cambridge [u. a.] 1978, 279 – 293. Lee, R., Anderson, M., Malthus in State Space: Macro Economic-Demographic Relations in English History, 1540 – 1870. In: Journal of Population Economics 15 (2002), 195 – 220.
190
Literaturverzeichnis
Lee, W.R., The Impact of Agrarian Change on Women‘s Work and Child Care in Early-Nineteenth-Century Prussia. In: J.C. Fout (Hg.), German Women in the Nineteenth Century. A Social History, New York 1984, 234 – 255. Le Roy Ladurie, Emmanuel, Die Hungeramenorrhöe (17.–20. Jahrhundert). In: Imhof 1978, 147 – 166. Leonard, Carol, Ljungberg Jonas, Population and living standards, 1870 – 1914. In: Stephen Broadberry, Kevin H. O’Rourke (Hg.), The Cambridge Economic History of Modern Europe, Bd. 2, Cambridge 2010, 108 – 129. Lesky, Erna, Die österreichische Pestfront an der k. k. Militärgrenze. In: Saeculum 8 (1957), 82 – 106. Linhart, Sepp, Erster Schritt zur Errichtung eines Imperiums. Japan. In: Bernd Hausberger (Hg.), Die Welt im 17. Jahrhundert, Wien 2008, 311 – 339. * Little, Lester K. (Hg.), Plague and the End of Antiquity. The Pandemic of 541 – 750, Cambridge 2007. * Livi-Bacci, Massimo, A Concise History of World Population, Cambridge (Mass.), Oxford 1992. * Livi-Bacci, Massimo, Population and nutrition. An essay on European Demographic History (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 14), Cambridge 1991. *Livi-Bacci, Massimo, Europa und seine Menschen, München 1999. Livi-Bacci, Massimo, Social-Group Forerunners of Fertility Control in Europe. In: Coale / Watkins 1986, 182 – 200. * Loudon, Irvine, Death in Childbirth. An International Study of Maternal Care and Maternal Mortality 1800 – 1950, Oxford 1992. Lucassen, Jan, Lucassen, Leo, Migration, Migrations History, History: Old Paradigms and New Perspectives. In: Jan Lucassen, Leo Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Bern [u. a.] 1997, 9 – 38. Lunn, Peter, Nutrition, Immunity and Infection. In: Schofield / Reher / Bideau 1991, 131 – 145. Lütge, Friedrich, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1963. * Luy, M., Die geschlechtsspezifischen Sterblichkeitsunterschiede – Zeit für eine Zwischenbilanz. In: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 35 (2002), 412 – 429. Lynch, Katherine A., Individuals, Families, and Communities in Europe, 1200 – 1800. The Urban Foundations of Western Society (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 37), Cambridge 2003. Maddicott, John, Plague in Seventh-Century England. In: Little 2007, 171 – 214. Maddison, Angus, Contours of the World Economy, 1 – 2030 AD. Essays in MacroEconomic History, Oxford 2007. Maddison, Angus, The World Economy. A millennial perspective, Paris 2001.
Literaturverzeichnis
191
Maddison, Angus, The World Economy: Historical Statistics, Paris 2003. * Malanima, Paolo, Europäische Wirtschaftsgeschichte 10.–19. Jahrhundert (UTB 3377), Wien, Köln, Weimar 2010a. Malanima, Paolo, Urbanization. In: Stephen Broadberry, Kevin H. O’Rourke (Hg.), The Cambridge Economic History of Modern Europe, Bd. 2, Cambridge 2010b, 235 – 263. Malthus, T.R., Versuch über das Bevölkerungsgesetz oder eine Betrachtung über seine Folgen ... (Bibliothek der Volkswirtschaftslehre und Gesellschaftswissenschaft 2), Berlin 21900. Malthus, Thomas Robert, An essay on the principle of population and A summary view of the principle of population, hg. Antony Flew, Hamondsworth 1985. Mattmüller, Markus, Bevölkerungsgeschichte der Schweiz, Tl. 1/1 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 154), Basel, Frankfurt/M. 1987. Mauelshagen, Franz, Klimageschichte der Neuzeit 1500 – 1900, Darmstadt 2010. * Mauelshagen, Franz, Pestepidemien im Europa der Frühen Neuzeit (1500 – 1800). In: Meier 2005, 237 – 265. McCook, Brian, Becoming Transnational: Continental and Transatlantic Polish Migration and Return Migration, 1870 – 1924. In: Annemarie Steidl [u. a.] (Hg.), European Mobility. Internal, International, and Transatlantic Moves in the 19th and Early 20th Centuries (Transkulturelle Perspektiven 8), Göttingen 2009, 151 – 173. McCormick, Michael, Origins of the European Economy. Communications and Commerce AD 300 – 900, Cambridge 2001. McCormick, Michael, Toward a Molecular History of the Justinian Pandemic. In: Little 2007, 290 – 312. * McEvedy, Colin, Jones, Richard, Atlas of World Population History, Harmondsworth 1978. McKeown, Adam M., Melancholy Order: Asian Migration and the Globalization of Borders, New York 2008. McLaren, Angus, Birth Control in Nineteenth-Century England, New York 1978. * McLaren, Angus, A History of Contraception. From Antiquity to the Present Day, Oxford, Cambridge (Mass.) 1990. McNeill, John R., Blue Planet. Die Geschichte der Umwelt im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M., New York 2003. McNeill, William H., Seuchen machen Geschichte. Geißeln der Völker, München 1978. * Meier, Mischa (Hg.), Pest. Die Geschichte eines Menschheitstraumas, Stuttgart 2005. Mendelsohn, J. Andrew, Von der „Ausrottung“ zum Gleichgewicht. Wie Epidemien nach dem Ersten Weltkrieg komplex wurden. In: Philipp Sarasin [u. a.] (Hg.), Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870 – 1920, Frankfurt/M. 2007, 239 – 281.
192
Literaturverzeichnis
* Mercer, Alex, Disease Mortality and Population in Transition. EpidemiologicalDemographic Change in England since the Eighteenth Century as part of a Global Phenomenon, Leicester, London, New York 1990. Milward, Robert, Baten, Jörg, Population and living standards, 1914 – 1945. In: Stephen Broadberry, Kevin H. O’Rourke (Hg.), The Cambridge Economic History of Modern Europe, Bd. 2, Cambridge 2010, 232 – 263. * Mitchell, B. R., European Historical Statistics 1750 – 1970, London, Basingstoke 1978. Mitterauer, Michael, Familie und Arbeitsteilung. Historisch-vergleichende Studien (Kulturstudien 26), Wien, Köln, Weimar 1992. Mitterauer, Michael, Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen (Kulturstudien 15), Wien, Köln 1990. Mitterauer, Michael, Ledige Mütter. Zur Geschichte unehelicher Geburten in Europa, München 1983. Mitterauer, Michael, Mittelalter. In: Gestrich / Krause / Mitterauer 2003b, 160 – 363. Mitterauer, Michael, Sozialgeschichte der Familie. Kulturvergleich und Entwicklungsperspektiven (Basistexte Wirtschafts- und Sozialgeschichte 1), Wien 2009. Mitterauer, Michael, Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003a. Moch, Leslie Page, Dividing Time: An Analytical Framework for Migration History Periodization. In: Jan Lucassen, Leo Lucassen (Hg.), Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives, Bern [u. a.] 1997, 41 – 56. Moch, Leslie Page, Moving Europeans. Historical Migration Practices in Western Europe. In: Robin Cohen (Hg.), The Cambridge Survey of World Migration, Cambridge 2010, 126 – 130. Modzelewski, Karol, Das barbarische Europa. Zur sozialen Ordnung von Germanen und Slawen im frühen Mittelalter (Klio in Polen 13), Osnabrück 2011. Mollat, Michel, Die Armen im Mittelalter, München 1984. * Mols, Roger, Die Bevölkerung Europas 1500 – 1700. In: Carlo M. Cipolla, K. Borchhardt (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart, New York 1983, 5 – 49. Montanari, Massimo, Der Hunger und der Überfluss. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, München 1993. Münch, Paul, Pest und Feuer. Die Londoner Doppelkatastrophe 1665/66. In: Historische Zeitschrift 288 (2009), 93 – 122. Münch, Paul, Stadthygiene im 19. und 20. Jahrhundert. Die Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallbeseitigung unter besonderer Berücksichtigung Münchens, Göttingen 1993. Münz, Rainer, Reiterer, Albert F., Wie schnell wächst die Zahl der Menschen? Weltbevölkerung und weltweite Migration, Frankfurt/M. 2007.
Literaturverzeichnis
193
Nugent, Walter, Crossings. The Great Transatlantic Migrations, 1870 – 1914, Bloomington 1992. OECD, International Migration Outlook 2010, Paris 2011. Oesterdiekhoff, Georg W., Familie, Wirtschaft und Gesellschaft in Europa. Die historische Entwicklung von Familie und Ehe im Kulturvergleich (Der Europäische Sonderweg 6), Stuttgart 22002. Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 22009. Österreichische Statistik 5, 92, NF 8, hg. k. k. statistische Zentralkommission, Wien 1884, 1913 – 1914. Overath, Petra, Einleitung: Bevölkerungsprognose und das Antlitz Europas im 20. und 21. Jahrhundert. In: Overath 2011, 7 – 26. Overmans, Rüdiger, Kriegsverluste. In: Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumreich, Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn [u. a.] 22009, 663 – 666. Overmans, Rüdiger, 55 Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs? Zum Stand der Forschung nach mehr als 40 Jahren. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen 48/2 (1990), 103 – 121. Pammer, Michael, Diphterie, Scharlach und Keuchhusten im 19. und 20. Jahrhundert. In: Historicum (Sommer 2009), 48 – 59. Pamuk, Şevkat, van Zanden, Jan-Luiten, Standards of Living. In: Stephen Broadberry, Kevin H. O’Rourke (Hg.), The Cambridge Economic History of Modern Europe, Bd. 2, Cambridge 2010, 217 – 234. Parker, Geoffrey, The Global Crisis of the seventeenth century reconsidered. In: American Historical Review 113 (2008), 1053 – 1079. Perrenoud, Alfred, Die soziale Ungleichheit vor dem Tod in Genf im 17. Jahrhundert. In: Imhof 1978, 118 – 146. Persson, Karl Gunnar, An Economic History of Europe. Knowledge, institutions and growth, 600 to the Present, Cambridge 2010. Pfister, Christian, Brázdil, Rudolf, Social vulnerability to climate in the „Little Ice Age“. An example from Central Europe in the early 1770s. In: Climates of the Past 2 (2006), 115 – 129. Pfister, Ulrich, Die Anfänge der Geburtenbeschränkung. Eine Fallstudie (ausgewählte Zürcher Familien im 17. und 18. Jahrhundert) (Europäische Hochschulschriften III / 256), Bern, Frankfurt/M., New York 1985. Polyakov, Alexei, Ushkalov, Igor, Migrations in Socialist and Post-Socialist Russia. In: Robin Cohen (Hg.), The Cambridge Survey of World Migration, Cambridge 1995, 490 – 495. Pomeranz, Kenneth, The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton, Oxford 2000. Porter, Roy, Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Heidelberg, Berlin 2003.
194
Literaturverzeichnis
Puranen, Bi, Tuberculosis and the Decline of Mortality in Sweden. In: Schofield / Reher / Bideau 1991, 97 – 117. Putz, Friedrich, Schwarz, Karl (Hg.), Neuere Aspekte der Sterblichkeitsentwicklung, Wiesbaden 1984. Rainer, Bettina, Bevölkerungswachstum als globale Katastrophe. Apokalypse und Unsterblichkeit, Münster 2005. Razzell, Peter, Spence, Christine, The Hazards of Wealth: Adult Mortality in PreTwentieth-Century England. In: Social History of Medicine 19 (2006), 381 – 405. Reulecke, Jürgen, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt/M. 1985. * Riley, James C., Rising Life Expectancy: A Global History, Cambridge 2001. Ritzmann, Iris, Die Frage nach dem „kleinen Unterschied“ vor dem Tod und seinen Hintergründen – von der göttlichen Ordnung zur chromosomalen Determination. In: Bull. Soc. Suisse d’Anthrop. 7/2 (2001), 51 – 71. Rödel, Walter G., „Statistik“ in vorstatistischer Zeit. Möglichkeiten und Probleme der Erforschung frühneuzeitlicher Populationen. In: Kurt Andermann, Hermann Ehmer (Hg.), Bevölkerungsstatistik an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit (Oberrheinische Studien 8), Sigmaringen 1990, 9 – 25. Rosenbaum, Heidi, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 51990. Rösener, Werner, The Agrarian Economy, 1300 – 1600. In: Bob Scribner (Hg.), Germany. A New Social and Economic History, Bd. 1, London [u. a.] 1996, 63 – 83. Rosental, Paul-André, Von der historischen Demographie zur sozialen und politischen Bevölkerungsgeschichte in Frankreich nach 1945. In: Historical Social Research 31/4 (2006), 7 – 33. * Rothenbacher Franz, The European Population, 1850 – 1945, Houndmills 2002. Ruffié, Jacques, Sournia, Jacques, Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit. Stuttgart 42000. Rumpler, Helmut, Seger, Martin (Bearb.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918. Bd. 9, Tl. 2: Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial- und Infrastrukturen. Nach dem Zensus von 1910, Wien 2010. * Russell, J. C., Die Bevölkerung Europas 500 – 1500. In: Carlo M. Cipolla, K. Borchardt (Hg.), Europäische Wirtschaftsgeschichte. The Fontana Economic History of Europe, Bd. 1 (UTB 1267), Stuttgart, New York 1983, 13 – 43. Sallares, Robert, Ecology, Evolution, and Epidemiology of Plague. In: Little 2007, 231 – 289. Sandgruber, Roman, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Wien 1995. Sandgruber, Roman, Österreich 1650 – 1850. In: Ilja Mieck (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Bd. 4, Stuttgart 1993, 619 – 687.
Literaturverzeichnis
195
Scharping, Thomas, Bevölkerungsgeschichte und Bevölkerungspolitik in China: Ein Überblick. In: Kölner China-Studien Online 3/2005. www.china.uni-koeln. de/papers. Schlesinger, Walter (Hg.), Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Reichenau-Vorträge 1970 – 1972 (Vorträge und Forschungen 18), Sigmaringen 1975. Schlesinger, Walter, Zur Problematik der Erforschung der deutschen Ostsiedlung. In: Schlesinger 1975, 11 – 30. Schmid, Josef, Der Wettlauf zwischen Storch und Pflug. In: Parviz Khalatbari, Johannes Otto (Hg.), 200 Jahre Malthus (Materialien zur Bevölkerungswissenschaft 96), Wiesbaden 1999, 81 – 86. Schneider, Jane, Schneider, Peter, Going Forward in Reverse Gear: Culture, Economy, and Political Economy in the Demographic Transitions of a Rural Sicilian Town. In: Gillis / Tilly/Levine 1992, 146 – 174. * Schofield, Roger, Reher, David, Bideau, Alain (Hg.), The Decline of Mortality in Europe, Oxford 1991. Schottenhammer, Angela, Blütezeit eines Reichs. China. In: Bernd Hausberger, Jean-Paul Lehners (Hg.), Die Welt im 18. Jahrhundert, Wien 2011, 327 – 353. Schuenemann, Verena J. [u. a.], Targeted enrichment of ancient pathogens yielding the pPCP1 plasmid of Yersinia pestis from victims of the Black Death. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 108 (August 2011, 1 – 7). http://www.pnas.org/content/early/2011/08/24/1105107108. full.pdf+html Schulz, Knut, Handwerk, Zünfte und Gewerbe. Mittelalter und Renaissance, Darmstadt 2010. Seccombe, Wally, Weathering the Storm. Working-Class Families from the Industrial Revolution to the Fertility Decline, London, New York 1995. Segalen, Martine, Die Familie. Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Frankfurt/M., New York, Paris 1990. Sharlin, Allan, Urban-Rural Differences in Fertility in Europe during the Demographic Transition. In: Coale / Watkins 1986, 234 – 260. * Shorter, Edward, Der weibliche Körper als Schicksal. Zur Sozialgeschichte der Frau, München 1984. Sieder, Reinhard, Haus, Ehe, Familie und Verwandtschaft. In: Cerman 2011, 322 – 345. Sieder, Reinhard, Die Liebe der Ledigen auf dem Land. Intime Beziehungen der Dienstboten um 1800. In: Reinhard Sieder, Die Rückkehr des Subjekts in den Kulturwissenschaften, Wien 2004, 95 – 126. Sieder, Reinhard, Sozialgeschichte der Familie, Frankfurt/M. 1987. Sieferle, Rolf Peter, Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt. Studien zur Naturtheorie der klassischen Ökonomie, Frankfurt/M. 1990.
196
Literaturverzeichnis
* Sieferle, Rolf Peter, Kulturelle Evolution des Gesellschaft-Natur-Verhältnisses. In: Marina Fischer-Kowalski [u. a.] (Hg.), Gesellschaftlicher Stoffwechsel und Kolonisierung von Natur. Ein Versuch in Sozialer Ökologie, Amsterdam 1997a, 37 – 53. Sieferle, Rolf Peter, Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997b. Sieferle, Rolf, Unsicherheit, Risiko und Ruinvermeidung. In: Winiwarter / Wilfing 2002, 151 – 196. Slack, Paul, Metropolitan government in crisis: the response to plague. In: A. L. Beier, Roger Finlay (Hg.), London 1500 – 1700. The making of the metropolis, London, New York 1986, 60 – 81. Söderberg, Johan, Jonsson, Ulf, Persson, Christer, A stagnating metropolis. The economy and demography of Stockholm 1750 – 1850 (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 13), Cambridge 1991. Sokoll, Thomas, Historische Demographie und historische Sozialwissenschaft. In: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), 405 – 425. * Sokoll, Thomas, Gehrmann, Rolf, Historische Demographie und qualitative Methoden. In: Michael Maurer (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7, Stuttgart 2003, 152 – 229. Sprandel Rolf, Grundlagen einer mittelalterlichen Bevölkerungsentwicklung. In: Herrmann / Sprandel 1987, 25 – 35. Spree, Reinhard, Der Rückzug des Todes. Der epidemiologische Übergang in Deutschland während des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Historical Social Research 23/1 – 2 (1998), 4 – 43. Spree, Reinhard, Zu den Veränderungen der Volksgesundheit zwischen 1870 und 1913 und ihren Determinanten in Deutschland (vor allem in Preußen). In: Werner Conze, Ulrich Engelhardt (Hg.), Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert. Lebensstandard und Lebensgestaltung deutscher Arbeiter und Handwerker (Industrielle Welt 33), Stuttgart 1981, 235 – 292. Statistisches Reichsamt (Bearb.), Volkszählung. Die Familien im Deutschen Reich. Die Ehen nach der Zahl der geborenen Kinder (Statistik des Deutschen Reichs 554), Berlin 1943. Statistik Austria (Hg.), Demographisches Jahrbuch 2009, Wien 2010. Steinführer, Annett, Konstruktionen des demografischen Wandels in der tschechischen Republik 1990 – 2008. Oder: Von der Unmöglichkeit eines neutralen Konzepts. In: Overath 2011, 297 – 319. Straka, Manfred, Die Bevölkerungsentwicklung der Steiermark von 1528 bis 1782 auf Grund der Kommunikantenzählungen. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 52 (1961), 3 – 53. Sundin, Jan, Willner, Sam, Health and Vulnerable Men. Sweden: From Traditional Farming to Industrialisation. In: Hygiea Internationalis 4/1 (2004), 175 – 203.
Literaturverzeichnis
197
Szołtysek, Mikołaj, The genealogy of Eastern European difference: an insider’s view (MPIDR Working Paper WP 2011 – 014), Rostock 2011. Szreter, Simon, Falling fertilities and changing sexualities in Europe since c. 1850: a comparative survey of national demographic patterns. In: Franz X. Eder, Lesley Hall, Gert Hekma (Hg.), Sexual Cultures in Europe. Themes in sexuality, Manchester, New York 1999, 159 – 194. * Szreter, Simon, Economic Growth, Disruption, Deprivation, Disease and Death: On the Importance of the Politics of public Health for Development. In: Population and Development Review 23 (1997), 693 – 728. Szreter, Simon, Health, Economy, State and Society in Modern Britain: The LongRun Perspective. In: Hygiea internationalis 4/1 (2004), 205 – 227. * Szreter, Simon, The idea of demographic transition and the study of fertility change: a critical intellectual history. In: Population and Development Review 19 (1993), 659 – 701. Szreter, Simon, The importance of social intervention in Britain’s mortality decline c.1850 – 1914: a reinterpretation of the role of public health. In: Social History of Medicine 1 (1988), 1 – 37. Tabutin, Dominique, Willems, Michel, Differential Mortality by Sex from Birth to Adolesence: The Historical Experience of the West (1750 – 1930). In: United Nations 1998, 17 – 52. Tantner, Anton, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie (Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit 4), Innsbruck, Wien, Bozen 2007. Taylor, Arthur J. (Hg.), The Standard of Living in Britain in the Industrial Revolution, London 1975. Terrell, Heather Kathleen Mary, Fertility in China in 2000: A County Level Analysis (Thesis Univ. of Texas), 2005. Toubert, Pierre, Die karolingischen Einflüsse (8. bis 10. Jahrhundert). In: Burguière 1997, 89 – 124. Townsend, Peter, Davidson, Nick, Inequalities in Health: The Black Report, London 1992. Tribalat, Michèle, Die Zuwanderung von Ausländern nach Frankreich. In: Fassmann / Münz 1996, 89 – 117. Ulbricht, Otto, Einleitung. Die Allgegenwärtigkeit der Pest in der Frühen Neuzeit und ihre Vernachlässigung in der Geschichtswissenschaft. In: derselbe (Hg.), Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2004a, 1 – 63. Ulbricht, Otto, Pesthospitäler in deutschsprachigen Gebieten in der Frühen Neuzeit. Gründung, Wirkung und Wahrnehmung. In: derselbe (Hg.), Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2004b, 96 – 132.
198
Literaturverzeichnis
UK, National Statistics, Estimated Total Fertility Rates for UK born and non-UK
born women living in England and Wales. http://www.ons.gov.uk/ons/publications/re-reference-tables.html?edition=tcm%3A77 – 39695, (2011). * United Nations (UN), Too young to die: genes or gender? New York 1998. United Nations, World Population Prospects: The 2008 Revision; World Population Data Sheet 2010, New York 2009, 2010. United Nations Economic Commission for Europe (UNECE), UNECE-Database. U. S. Census Bureau, Historical Estimates of World Population. http://www.census. gov/ipc/worldhis.html, 2011. Van Dülmen, Richard, Entstehung des frühneuzeitlichen Europa 1550 – 1648, Frankfurt/M. 1982. * Van Houtte, Jan A., Europäische Wirtschaft und Gesellschaft von den großen Wanderungen bis zum Schwarzen Tod. In: Jan A. van Houtte (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 2, Stuttgart 1980, 1 – 149. Van Poppel, Frans, Schellekens, Jona, Liefbroer, Aart C., Religious differentials in infant and child mortality in Holland, 1855 – 1912. In: Population Studies 56 (2002), 277 – 289. Vallin, Jacques, Mortality in Europe from 1720 to 1914. Long-Term trends and changes in Patterns by Age and Sex. In: Schofield / Reher/Bideau 1991: 38 – 67. Vasold, Manfred, Pest, Not und schwere Plagen. Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute, München 1991. Vasold, Manfred, Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg, Darmstadt 2009. Verhulst, A. E., Karolingische Agrarpolitik. Das Capitulare de villis und die Hungersnöte von 792/93 und 805/06. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 13 (1965), 175 – 189. Verhulst, Adrian, The Carolingian Economy, Cambridge 2002. Vries, Jan de, European Urbanization 1500 – 1800, Cambridge (Mass.) 1984. Waldron, Ingrid, Sex Differences in Infant and Early Childhood Mortality: Major Causes of Death and Possible Biological Causes. In: United Nations 1998, 64 – 83. Walter, John, Schofield, Roger, Famine, disease and crisis mortality in early modern society. In: Walter / Schofield 1991, 1 – 73. * Walter, John, Schofield, Roger (Hg.), Famine, disease and the social order in early modern society (Cambridge Studies in Population, Economy and Society in Past Time 10), Cambridge 1991. Ward-Perkins, Brian, Why did the Anglo-Saxons not become more British? In: English Historical Review 115 (2000), 513 – 533. Watkins, Susan Cotts, Demographic Nationalism in Western Europe, 1870 – 1960. In: Gillis 1992, 270 – 290. Watkins, Susan Cotts, Regional Patterns of Nuptiality in Western Europe, 1870 – 1960. In: Coale / Watkins 1986, 314 – 336.
Literaturverzeichnis
199
Weigl, Andreas, Assanierung. In: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 1, Stuttgart, Weimar 2005, 711 – 715. Weigl, Andreas, Der „gender gap“ ein Industrialisierungsphänomen? Komparatistische Anmerkungen zu einer schwedischen Fallstudie. In: Martin Dinges (Hg.), Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel ca. 1800 – ca. 2000 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte Beiheft 27), Stuttgart 2007, 23 – 40. Weiland, Stephan K. [u. a.], Zunahme der Lebenserwartung. Größenordnung, Determinanten und Perspektiven. In: Deutsches Ärzteblatt 103 (2006), C874–C879. Wemple, Suzanne Fonay, Women in Frankish Society: Marriage and the Cloister, 500 – 900, Philadelphia 1981. Wende, Peter, Das britische Empire. Geschichte eines Weltreichs, München 22008. WHO, The Global Burden of Disease 2004 Update, Genf 2008. WHO, Previous estimates 2000 – 2002, 2004. Wikander, Ulla, Von der Magd zur Angestellten. Macht, Geschlecht und Arbeitsteilung 1789 – 1950, Frankfurt/M. 1998. * Wilkinson, Richard, Pickett, Kate, Gleichheit ist Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind, Berlin 3 2010. Winiwarter, Verena, Wilfing, Harald (Hg.), Historische Humanökologie. Interdisziplinäre Zugänge zu Menschen und ihrer Umwelt, Wien 2002. Winkle, Stefan, Geißeln der Menschheit. Kulturgeschichte der Seuchen, Düsseldorf, Zürich 2 1997. Winkler, Helmut, Malthus. Krisenökonom und Moralist (Geschichte & Ökonomie 4), Innsbruck, Wien 1996. * Woods, Robert, Shelton Nicola, An Atlas of Victorian Mortality, Liverpool 1997. Woods, Robert, Williams, Naomi, Must the gap widen before it can be narrowed? Long-term trends in social class mortality differentials. In: Continuity and Change 10 (1995), 105 – 137. Wrigley, E. A., Explaining the Rise in Marital Fertility in England in the „long“ Eighteenth Century. In: E. A. Wrigley, Poverty, Progress, and Population, Cambridge 2004, 317 – 350. * Wrigley, E. A., Schofield, R. S., The Population History of England 1541 – 1871, Cambridge 1989. * Youngs, Deborah, The Life Cycle in Western Europe, c. 1300 – c. 1500, Manchester, New York 2006. Zwitter, Fran, Prebivalstvo na slovenskem od XVIII. stoletja do današnjih dni (Razprave znanstvenega društva v ljubljani 14 historični odsek 5), Ljubljana 1936.
201
Register A Abort, septischer 161 Abtreibung 88, 89, 104, 160, 161 Abtreibungsepidemie 161 Abtreibungsrate 161 Abtreibungsrevolution 41, 104, 160 Abtritte 135 Ackerfläche 28 Adomnán, Chronist 51 Afrika 47, 91 Agrargesellschaften 32, 35, 87 Agrarkonjunktur 69 Agrarkrise 58 Agrarproduktion pro Kopf 28 Agrarrevolution 28, 62, 63 Ägypten 50, 99 Ahnenkult 77, 81 Aids 116 Aix en Provence 56 Alberti, Leon Battista 82 Alkoholismus 144 Alkoholkonsum 144 Alkoholvergiftung 144 Alm, Almen 52 Alpenländer 84, 85 Alpenraum 79, 85 Altenheim 157 Anerbenrecht 84 Angestellte 154 Anophelesstechmücke 120 Anthropometrik 65, 101, 140 Antibabypille 42, 105, 163 Antibiotika 42, 103, 130
Apenninen-Halbinsel 54, 57, 66 Arbeiter 138, 155 Arbeitsintensität 33 Arbeitsmarkt, sekundäres Segment 171 Arbeitsmigranten 142, 170 Arbeitsmigration 108, 173 Arbeitsunfälle 143 Asepsis 103, 128 Asien 24, 45, 47, 63, 91, 107, 115, 130, 173 Aspirin 130 Assanierung 99, 127, 136 äthiopisches Hochland 50 Aufklärung 78, 109 Ausländerbeschäftigungspolitik 107 Aussaat-Ernte-Relation 125 Australien 28, 31, 43, 91, 169, 170, 171 Awaren 64, 140, 166 Awarenwüste 64 B Babyboom 42, 104, 152, 157, 163 Bakteriologie 102, 103, 104, 124, 128 Balkan 39, 56, 59, 86 baltische Staaten 73, 152, 171 basic commodities 157 Bayern 100 Beamte 106, 136, 155 Beda Venerabilis, Chronist 51 Belastungsquote 174 Belgien 125, 171 Beneluxländer 61 Bergleute 154
202
Berlin 128, 141, 152 Berufskrankheiten 143 Bevölkerungsdichte 32, 45, 51, 52, 61, 63, 67, 68, 69, 103, 113, 117, 159 Bevölkerungspolitik 108 Bevölkerungspuffer 165 Bevölkerungswachstum, exponentiell (geometrisch) 92 Bildungswanderung 106 Binnenausbau 66 Binnenkolonisation 70 Binnenwanderungen 165 Biopolitik 130 Blutvergiftung 50 Böhmen 30, 53, 68, 84, 86, 152 Böhmerwald 68 Bordeaux 156 Brandenburg 68 Brandrodung 61, 86 Brasilien 99, 124 Brautkauf 77 Brennstoffverbrauch 109 Britannien 167 britisches Empire 170 Brotgetreide 45, 62 Bruttosozialprodukt 130 Bruttosozialprodukt pro Kopf 98, 139 Bücher, Karl 106 Budapest 122 Bulgarien 86, 161 Burgdörfer, Friedrich 152 Burgund 51 Bürokratie 156 C Champa-Reis 63 Chancenwanderung 106 China 47, 63, 107 Chinin 130 civitates 66 coitus interruptus 104, 159, 160
Colbert, Jean-Baptiste 78 Commonwealth 170 Cordoba 67, 166 cordon sanitaire 59, 125 coresident domestic group 75 cultural gap 165 D Dampfkraft 109 Dampfmaschine 46 Dampfschiff 169 Danelag 64 Dänemark 13, 97, 101, 139, 174 dead end jobs 172 Demografischer Übergang 91, 95, 101, 110 Deutsch-Französischer Krieg 118 Deutschland 53, 55, 61, 70, 136 Diarrhö 123 Dienstmädchen 142 Digitalis 130 Diphterie 102, 116, 129 Diphterieimpfung 130 Doppelverdienerinnen 79 Dreifelderwirtschaft 62 Dreißigjähriger Krieg 38 dritte demografische Transition 172 Düngemittel, künstliche 109 Dünger 32, 62 dust-veil-event 50 E Early Industrial Growth Puzzle 100 Ebolavirus 125 Edinburgh 141 Ehec-Bakterien 125 Einkommen-Pro-Kopf 130 Einkommensungleichheit 130 Einpersonenhaushalte 88 Eisenbahn 169 Eiweiß, tierisches 45
Emigrationsrate 47 Emotionalisierung, innerfamiliale 157 Endogamie 77, 81, 172 Energiebilanz 46 Energie, fossile 46 Energieträger, fossile 109 England 11, 18, 19, 26, 29, 30, 37, 39, 46, 51, 53, 55, 62, 64, 68, 70, 83, 91, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 101, 103, 113, 114, 115, 119, 123, 125, 126, 127, 134, 135, 136, 137, 139, 142, 143, 145, 148, 151, 154, 158, 160, 172 Enns 68 Entente 121 Enthaltsamkeit, sexuelle 104, 159, 160 Entwicklungshilfe 29 Entwicklungspolitik 29 Epidemiologie 33 Erdgas 46 Erdöl 46 Erkrankungen, degenerative 33, 143 Erkrankungen, kardiovaskuläre 145 Ernährung 32, 47, 101 Ernährungszustand 33, 46, 65, 100, 126 Ernteausfälle 30 Ernteerträge 39 Erster Weltkrieg 39, 40, 41, 86, 92, 97, 98, 99, 103, 106, 107, 108, 121, 122, 124, 139, 152, 168, 169, 170 Erst-Heiratsalter 74, 83, 84, 153 Erwerbsquote 174 Estland 161 Evans, Richard 128 Evelyn, John 59 Expansion, arabische 66 F familia 78 Familie, gattenzentrierte 75, 77 Familienform, patrilineare 77, 87
203
Familiennachzug 171 Feldgraswirtschaft 61 Filtriersystem 99 Findelanstalten 159 Finnland 13, 28, 53, 77, 81, 139, 174 Flandern 62, 83, 84, 158 Fleckfieber 117 Fleischkonsum 108, 126 Fleischverbrauch pro Kopf 126 Flüchtlingsbewegungen 173 Flusswasserleitungen 99 Fogel, Robert W. 47 Fortschritt, medizinischer 102 Fortschritt, technologischer 31 Fossier, Robert 67, 82 Frankreich 15, 30, 37, 51, 53, 55, 61, 62, 66, 67, 78, 80, 82, 83, 91, 93, 94, 95, 97, 101, 114, 115, 118, 138, 139, 143, 150, 151, 152, 153, 154, 156, 158, 159, 170, 171, 172 Französische Revolution 78, 150, 159 Fronhof 75 Fürstenrechtsverfassungen 81 G Galizien 78 Gameten 120 Gartenbau 63 Gastarbeiterwanderung 170 Geburtenbeschränkung 150, 153, 154, 159, 160 Geburtendepression 41 Geburtenkontrolle 74, 150, 153, 154, 158, 160 Geburtenrückgang 129, 154, 159 Geburt, illegitime 147 Geburtsbevölkerung 42, 106, 165 Geburtsrisiko 140 gender gap 133, 137, 138, 139, 140, 141, 143, 144 Genf 79, 134, 138, 154
204
Genua 67 Gerste 62 Gesamtfertilitätsrate 96, 97, 108, 110, 152, 172, 173 Geschlechterparadoxon 139 Geschlechterproportion 88, 140 Gesellen 58, 83, 156 Gesellenwanderung 58, 106 Gesinde 77, 84, 86, 88 Gesindewanderung 105 Gesundheitssystem 161 Getreidepreis 30, 114 Gironde 156 Glasgow 138 Gonorrhoe 147 Granada 67, 117 Gregorianische Reform 78, 81 Gregor von Tours 118 Grenzböden 31 Grippe 32, 116, 124 Grönland 52, 64 Großbritannien 31, 37, 39, 82, 98, 99, 100, 109, 137, 138, 152, 156, 170 Großer Sprung (1958/62) 47 Grundherr 75 H Habsburgermonarchie 14, 59, 79, 84, 100, 119, 120 Hafer 62 Hajnal, John 73, 82 Hajnal-Linie 73, 77, 82 Hakenpflug 62 Hamburg 99, 120, 128 Handwerksmigration 105 Han-Dynastie 49 Hausbrunnen 99, 135 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 54, 66, 67, 68, 70, 99 Heimarbeit 83
Heiratsalter 29, 39, 57, 80, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 147, 148 Heiratsregime 151, 158 Heiratsverhalten 76, 80, 111, 158, 165 Herz-Kreislauf-Erkrankungen 116, 123, 124, 131 Hochstadt, Steve 106 Holstein 68 Homogenisierung, ethnische 108 homöostatisches System 93 Hormonsubstitution 145 Hospitalisierung 129 Hufe (Mansus) 75 Human Development Index 98 Hundertjähriger Krieg 37 Hungeramenorrhöe 147 Hunger, Hungersnöte 24, 28, 29, 30, 38, 46, 52, 59, 64, 147 Hunnen 166 Hussitenkriege 37, 70 Hutterer 153 Hygienebewusstsein 135 I Illegitimität 83, 84, 159 Illegitimitätsrate 83, 159 Immunisierung 42, 50, 102 Immunsystem 33 Indochina 170 Industrialisierungspolitik 47 Industriegesellschaft 35, 43 Industrielle Revolution 43, 159 Industriestaaten 41, 93, 97, 131, 140, 143 Infantizid 87, 129 Infekte, gastrointestinale 116, 129 Infektionskrankheiten 32, 35, 116, 117, 118, 119, 120, 123, 124, 125, 130 Inokulation 102 Intrauterinpessare 163 Inzest 77
Iran 99 Irland 28, 39, 77, 81, 83, 127, 151, 152 Island 13, 53, 64 Italien 32, 37, 38, 55, 68, 73, 77, 160, 167 J Jahrtausendhochwasser (1342) 52 Jahrtausendwinter (1709) 30 Japan 43, 45, 48, 60, 87, 115, 131, 173, 174 Jenner, Edward 102 Jungmädchenkrankheit 142 justinianische Pestwelle 36, 54 K Kaffa (heute Feodossija) 53 Kaloriemenge 102 Kanalisation 135 Kanalisationsnetze 136 Kanalsystem 99 Kärnten 83 Karolinger 36 karolingisches Reich 61, 63 Kartoffelkonsum 109 Kastraten 146 Katalonien 55 Katharina II., Zarin von Russland 70 Kearns, Gerry 39 Kern- und Kleinfamilie 74 Kettenwanderung 171 Kinderbräute 88 Kindergarten 157 Kinderkrippe 157 Kindersterblichkeit 114, 128, 134 Kinderzahl, Beschränkung der 154 King, Maurice 29 Kleiderläuse 117 Kleinfamilie 40, 76 Kleinfamilie, bürgerliche 156, 160 Kleinmeister 83
205
Klimaanomalien 52 Klimageschichte 7, 10, 33 Klimaoptimum, mittelalterliches 64 Knaus-Ogino-Methode 104, 163 Koch, Robert 128 Köln 67 Kolonialreiche, europäische 170 Kolonien 19, 42, 110, 170 Komitate, westungarische 86 Komlos, John 47 Kommerzialisierung der Landwirtschaft 141 Kondom 104, 163 Konkubinat 89, 159 Konservierungsmethoden 101 Konstantinopel 51, 53, 67, 166 Konsumgesellschaft 159 Kontamination, fäkale 117 Kontraktarbeiter 167 Körpergröße, durchschnittliche 100 Krankheiten der Verdauungs organe 123 Krebs 116 Kreuzzüge 65, 68, 167 Krim-Chanat 71 Krise des Spätmittelalters 69 Krisenmortalität 35 Kuhpockenimpfung 102, 119 Kummet 62 Kunstdünger 28 L Landarbeiter 154 Landflucht 69 Landreserven 32, 45, 71 Lateinamerika 88, 109, 129, 167, 173 Lausitzen 68 Lebensabschnittsbeziehungen 158 Lebenserwartung 40, 42, 43, 47, 57, 93, 95, 96, 97, 98, 100, 102, 104, 107, 110, 111, 113, 114, 115, 116, 117,
206
123, 124, 130, 133, 134, 135, 137, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 146, 173 Lebensstandard, biologischer 47, 98, 127 Ledigenquoten 84 Leitbilder 143 Leitha 68 Lepra 65 Lettland 161 Liaoning 87 life-cycle servants 84 Limes 167 literacy bill 169 Loire 65 Lokator (Dorfgründer) 69 London 56, 57, 59, 114, 120, 122 Longdendale-Projekt 99 Luftverschmutzung 47 Lungenentzündung 50, 53 Lungenerkrankungen 123, 144 Lungenkrebs 144 Lungenpest 50 Lungentuberkulose 116, 121, 122, 123, 142 Luxemburg 174 Lymphknoten 49, 122 M Madagaskar 170 Maghreb 170 Magyaren 36, 167 Mähren 68, 152 Mailand 57, 67, 129 Malaria 65, 120 Mali 173 Malta 56 Manchester 99 Manufaktur 39 Marseille 56, 76, 166 Masern 116, 129 Masowien 69
Mecklenburg 68 Medikalisierung 40, 103 medizinische Policey 125 medizinische Polizey 60 Mehrgenerationenfamilie 75 Meiji-Revolution 43 Menarchealter 147 Mesopotamien 49 Messina 53, 56 Methoden, kontrazeptive 158, 163 Midlands 134 Migration Act 169 Migrationstransition 106, 107 Milieu, soziokulturelles 137 Missernten 149 Mitteleuropa 36, 37, 38, 52, 55, 67, 71, 82, 83, 89, 108, 123 Mittelmächte 121 Mönchstum, spätantikes 78 Mongolensturm 36, 64 Monokulturen 45 Mortalitätskrise 48, 91 Mosel 62 Moselregion 67 Moskau 56, 161 München 99, 186 Munt 77 Muntehe 77 Müttersterblichkeit 87, 141, 161 Mycobacterium bovis 121 Mycobacterium tuberculosis 121 N Nahrungsmittelangebot 30 Napoleon 118 napoleonische Kriege 39 Nassfeld-Reisanbau 28, 63 Neapel 56, 57, 67 Neolithische Revolution 21, 32, 87 Neolokalität 82 Nettoreproduktion 152
207
Netzwerke, transnationale 171 Niederlande 68 Niger 173 Nikotin 144 Nomaden 106 Nordafrika 32, 53, 66, 88, 166, 170 Nordamerika 28, 31 Norwegen 114 Novorossija (Provinz) 70 Nuptialität (Heiratshäufigkeit) 151 O Oder 68 Omran, Abel 116 Opium 130 Orenburg 119 Osmanisches Reich 70 Österreich 41, 53, 78, 79, 84, 98, 104, 124, 152, 165, 171, 172 Ostfränkisches Reich 69, 76 Ostkolonisation 36, 68 Ostmitteleuropa 68, 86 Ostpreußen 32, 141 Ottonenzeit 36 Ovulation 147 P Pädagogisierung 157 Padua 134 Palermo 67 pannonische Tiefebene 32, 167 Parasiten 32 Paris 16, 32, 67 Pasteurella pestis 49 Pasteurisierung 129 Patchwork-Familie 158 Pathozönose 124 Peking 152 Pelusium 50 Pepys, Samuel 59 Pessar 104
Pest 32, 36, 37, 38, 39, 43, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 65, 69, 103, 113, 116, 117, 118, 120, 125, 134, 148, 166 Pest, Great Plague (1665) 57 Pest, peste di San Carlo (1576-78) 57 Pestspitäler 58 Pettenkofer, Max von 128 Pillenknick 42, 105, 163 Pocken 33, 65, 116, 118, 125, 129, 130 Pockenimpfung 102, 118, 126 Pockenpandemie 102, 118 Polen 61, 69 Polyandrie 158 Polygamie 77, 158 Pommern 68 Portugal 151 positive checks 30 Postmenopause 145 Potemkin, Grigori Alexandrowitsch 71 Pränataldiagnostik 88 Prato 57 Preußen 68, 70, 119, 123 preventive checks 154, 159 Primogenitur 80 Protozoen 120 Puszta 86 Python-Effekt 48 Q Quarantäne 58 R Ragusa (Dubvronik) 58 Ratten 49, 50, 52, 59, 117 Rauchfangkehrer/Schornsteinfeger 136 Realeinkommen 31, 101, 115 Reallöhne 30, 100 Reformation 15, 58, 78 Renaissance 58, 158 Reproduktionsverhalten 29
208
reproduktive Phase 96, 140 respectable working class family 157, 158 Rhein 62, 68 Rheinland 76 Roggen 62 Rom 57 Romanen 167 Rouen 154 Ruhr 65, 116, 117, 127 Rumänien 121, 161 Russell, J. C. 36 Russische Föderation 161, 171 Russische Republik 171 Russisches Reich 39, 59, 91, 125 Russland 24, 28, 36, 70, 95, 118, 119, 148, 152, 161 S Saale 68 Sachsen 69, 167 Saloniki 67 sanitary movement 98 sanitary revolution 48, 98, 109, 127, 136 Santo Spirito 153 Sarazenen 36 Säuglingssterblichkeit 92, 114, 123, 128, 131, 135, 145 Säuglings- und Kleinkinder sterblichkeit 126 Scharlach 116, 129 Schattenwirtschaft 142 Scheidenspülung 104 Schlacht von Pressburg 64 Schlesien 68, 152 Schottland 53, 118 Schottland, Lowlands 151 Schule 106, 157 Schwarzer Tod 37, 38, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 68, 69, 134
Schweden 13, 92, 94, 97, 100, 101, 114, 115, 124, 131, 138, 142, 144, 151, 158, 172 Schwellenländer 9, 47, 48, 123 Schwindsucht 121 Seine 29, 62 Senkgrube 99 Sepsis 103 Serben 70 Serumtherapie 102 Sevilla 67 sexuelle Revolution 111 Shorter, Edward 104 Siebenbürgen 86 Siedlungsbewegung 36, 63, 68, 70 Siedlungsdichte 69 Siedlungsexpansion, hochmittel alterliche 43, 65, 140 Siena 54, 67 Sippe 74 Sippe, kognatische 74 Sizilien 64, 77, 155 Skandinavien 13, 20, 82, 84, 88, 94, 98, 114, 126, 137 Sklavenhandel 166 Slawen 166, 167 Slowakei 85 social gap 133, 134, 135, 136, 137 Sokoll, Thomas 93 Somalia 173 Sonnenenergie 45 soziale Kinder – Siehe Gesinde Sozialmedizin 103 Sozialprodukt pro Kopf 115 Sozialstaatsmodell 174 spacing 154 Spanien 124 stabile Bevölkerung 150 Städtegründungsphase 36 Stadthygiene 109, 127 starchy staples 102
Sterilisierung 163 Stigmatisierung 74, 76, 89, 147, 159 Stillpraktiken 147 stopping 153, 175 St. Petersburg 73, 77 Suchtmittelmissbrauch 135, 143 Südböhmen 86 Südkorea 48, 173 Südmähren 86 südwestdeutscher Städtekrieg 70 System, integriert hemisphäres 168 Szreter, Simon 93, 104, 127, 151, 156, 160 T Taiwan 48, 115, 173 target earners 172 technophysio evolution 47, 111 Teuerungskrise 30 Transformationskrise 42, 115, 144, 153 trickle down-Effekt 154 Triest 73, 77 Tröpfcheninfektion 50, 118, 121 Tschechische Republik 74 Tuberkelbakterien 122 Tuberkulose 32, 65, 103, 116, 121, 122, 123, 127, 128, 135, 141 Türkei 42, 170 Typhus 65, 116, 127 U Überbevölkerungsdiskurs 29 Übergewichtigkeit 130 Überlebensverhältnisse 39, 107, 110, 113, 117, 138 Überseewanderung 7, 46, 70, 169 Übersterblichkeit, Knaben 145 Übersterblichkeit, männliche 143 Übersterblichkeit, weibliche 139, 142 Ukraine 70, 161, 171 Unfreie 75, 76, 134
209
Ungarn 36, 81, 85, 113, 114, 151, 165 Unterernährung 30, 33, 122, 140, 147 Unterschichtung 171 Ural 119 Urbanisierung 19, 141 Urbanisierungsgrad 126 urban penalty 39, 99, 127, 136 Urogenitalerkrankungen 123 USA 28, 99, 100, 115, 131, 168, 169, 170 V Vandalen 66 Verbäuerlichung 76 Vergetreidung 77 Vergrundholdung 76 Verhalten, generatives 26, 40, 104, 107, 159, 172, 173 Verheiratetenquote 151 Verlag, Verlagswesen 39, 83 Vermögenstransfer, intergene rationeller 157 Verona 134 Verstädterung 66, 67 Verteilungsungleichheit 127 Vertreibungen 108 Verwandtschaftssystem, patrilinear 80 Verzellung 67 Vicenza 134 Villikation, karolingische 75, 76 Virchow, Rudolf 103 Völkerwanderung 81, 166 W Wanderhandel 106 Wanderungen, transkontinentale 165, 168, 169, 173 Wanderungssaldo 169, 171 Wasserleitungen 99, 136 Wassermühlen 45, 62 Wasserversorgung 32, 99 Weichsel 166
210
Weidewirtschaft 86 Weißrussland 161 Weizen 62 Weltwirtschaftskrise 105, 157 Wendepflug 62 Wien 8, 122, 152 Wikinger 36, 64 Wirkungsgrad, energetischer 108 Wirtschaftsbürgertum 156 Wirtschaftsgeschichte 33 Wohlfahrtsgesellschaft 42 Wohnbedingungen 32, 100 X X-Chromosom 145
Y Yersinia pestis 49, 53 Z Zentralwasserleitungen 99 Zivilopfer 41 Zölibat 79, 87 Zoonosen 32, 35 Zwangswanderung 108 Zweifelderwirtschaft 61, 62 Zweiter Weltkrieg 41, 121, 152, 157, 169, 170 Zwei-Verdiener-Familie 174
ROLF WALTER
WIRTSCHAFTSGESCHICHTE VOM MERKANTILISMUS BIS ZUR GEGENWART (UTB 3387 M)
Dieses Standardwerk wird nunmehr in fünfter, aktualisierter Auflage vorgelegt. Es behandelt die deutsche Wirtschaftsgeschichte vom Zeitalter des Merkantilismus bis zur unmittelbaren Gegenwart. In chronologischer Reihenfolge werden die wesentlichen Grundzüge der Wirtschaftsgeschichte ebenso strukturiert wie prägnant dargelegt. Die Darstellung bietet den umfangreichen Stoff in geraffter und selektierter Form. Jedem Kapitel folgen zur Vertiefung und Ergänzung Literaturempfehlungen sowie eine Reihe von Kontroll- und Wiederholungsfragen. Als Lehr- und Studienbuch richtet sich das Werk vorwiegend an Studierende und Lehrende in den Fächern Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Volks- und Betriebswirtschaft sowie Geschichte. 5., AKTUAL. AUFLAGE 2011. 356 S. 43 S/W-ABB. U. ZAHLR. GRAFIKEN. BR. 150 X 215 MM | ISBN 978-3-8252-3387-7
böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar
A XEL BORSDORF, OLIVER BENDER
ALLGEMEINE SIEDLUNGSGEOGR APHIE
Früher war alles ganz einfach: An der Mauer endete die Stadt, dahinter begann der ländliche Raum. Heute ist der Siedlungsraum viel komplexer: Megacities wachsen immer weiter, Dörfer werden zu suburbanen Wohnräumen, und auch die früher zentralen Funktionen des Handels und der Dienstleistungen wandern in das Umland ab. Es ist erstaunlich, dass dieser Prozess noch nicht in ein Lehrbuch Eingang gefunden hat. Keines der vielen hervorragenden Stadtgeographie-Bücher behandelt die Strukturen, Prozesse und Probleme des gesamten Siedlungsraumes. Die neue „Siedlungsgeographie“ soll dieses Desideratum erfüllen. Es werden die Grundlagen zum Verständnis und zur Analyse des gesamten, von Menschen besiedelten Raumes bereitgestellt und mit zahlreichen instruktiven Abbildungen veranschaulicht. 2010. 448 S. BR. 106 GRAF. U. TAB. 150 X 215 MM. ISBN 978-3-8252-3396-9
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar